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Full text of "Vierteljahrsschrift für musikwissenschaft"

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Vierteljahrsschrift 


MUSIKWISSENSCHAFT. 

Herauagegebeu  von 

Friedrich  Chrysander,  Pliilipp  Spitta 
Guido  Adler. 

Siebenter  Jahrgang 
FieU  12  Maik. 


Leipzig 

Shndc.  and  Verl&g'  toil.  fireitlropf  mid-Hattal'''- 
1891. 


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270368 


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Alk  R^ekie^  wsbMondere^as  der  Übemtxmih  vorMalten. 

j<-.  i'-jT   Jnuj    j«'.'.  .''..v      r-  i   •;..>  1«/    ;;i("^   ;' .i," 


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Inhalt. 


I.  Selbständige  Abhandlungen. 

Seitd 

Friedrich  Chrysander. 

Eine  Klavier-Phantasie  von  Karl  Philipp  Emanuel  Bach  mit  nachträglich 
-von  Gerstenberg  eingefügten  Oesangsmelodien  zu  zwei  verschiedenen 
Texten 1 

Heinrich  Welti. 

Gluck  und  Calsabigi ,    .    .    .       26 

Johannes  Bolte. 

Johann  Valentin  Meder. 43 

Kichard  Wallaschek. 

Ober  die  Bedeutung  der  Aphasie  für  den  musikalischen  Ausdruck    .    .       53 

Kudolf  Westphal. 

Die  Arifltoxenische  Khythmuslehre 74 

Paul  Eickhoff. 

Eine  aus  dem  Mittelalter  überlieferte  Melodie  zu  fioratius  Illg,  nebst 
dem  Bruchstück  einer  dolchen  zu  Ulis 108 

Max  Seiffert. 

J.  P.  Sweelinek  und  seine  direkten  deutschen  Schüler 145 

1.  Jan  Pieters  Sweelinck  in  Amsterdam 151 

2.  Samuel  Scheidt  in  Halle 186 

3.  Melchior  Schildt  in  Hannover 220 

4.  Heinrich  Seheidemann  in  Hamburg. 227 

5.  Jacob  Prätorius  in  Hamburg,  Paul  Siefert  in  Danzig 239 

Peter,  Wagner. 

Über  die  iMindjidmfitli^e  Überlief eruog  des  Diälogua  Doinni  Oddoni«  .     261 

£rn8t  Radecke. 

Das  deutsche  weltliche  lied  in  der  Lautenmusik  des  XVI.  Jahrhunderts    285 

Friedrich  Chrysander. 

Ludovioo  Zaceoni  &ls  Lehrer  des  Kunstgesanges 337 

L  Die  Gorgia.  Über  die  Ausführung  der  Koloraturen  und  den  Gebrauch 
der  modernen  Passagen     ....;......; 341 

Max  Seiffert. 

Paul  Siefeart  <! 58^*^1 666.)  Biogra))hS9ohe  Skisze.  (MH  Siefetts  Bildnis«.}     397 

Johannes  Bolte.  ^ 

Nochmals  Johann  Valentin  Meddr  ....         455 

Edu-ä;td  Jacobs.  ■     •    '   a-  •••    -i    •'  '    >" 

Heinrich  Pipegrop  (Baryphonus) 45f 

Benedikt  Widmann.        .  '-'^        .     •■  ' 

Johann  Andreas  Herbst.    Neue  biQgraphische  Beitcäge. 464 

eräiann  Gehrmann.         -  i  .  ,         >  >        .   .  . 

Johann  Gottfried  Walther  als  TheorptÜLer.     ^   .    .  /   •  ; 468 

Wilhelm  Niessen. 

Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Ol  od  jus 579 


IV  Inhalt. 


IL  Kritiken  und  Referate. 

Fr.  Aug.  Gevaert.  Seite 

Les  origines  du  chant  liturgique  de  l'^glise  latine 116 

Otto  Fridolin  Fritzsche. 

Glarean,  sein  Leben  und  seine  Schriften 123 

Dr.  jur.  Arthur  Prüfer. 

Untersuchungen  über  den  außerkirchlichen  Kunstgesang  in  den  evan- 
gelischen Schulen  des  16.  Jahrhunderts 126 

Julien  Tiersot. 

Histoire  de  la  chanson  populaire  en  France 131 

Herbert  Spencer. 

The  ongin  of  Music 142 

Kaspar  Jacob  Bischoff. 


ipa 
Harmoniölehre. ". .     267 

Oaetano  Gaspari. 

Catalogo  della  Biblioteca  del  Liceo  Musicale  di  Bologna 274 

Emil  Bohn. 

Die  musikalischen  Handschriften  des  XVI.  und  XVfl!  Jahrhunderts  in 

der  Stadtbibliothek  zu  Breslau ..,....,.;,.     277 

A.  Bertolotti. 

Musici  alla  Corte  dej  Gonzaga  in  Mantova  dal  secolo  XV  al  XVHI     .     278 

Carl  Stumpf. 

Tonpsychologie.    Band  H ^    •    •     429 

Johannes  Fressl. 

Die  Musik  des  baiwarischen  Landvolkes,  vorzugsweise  im  Königreiche 
Baierti.     I.  Theil :   Instrumentalmusik  .  .    .    . '.    .     440 

Alfred  Tobler. 

Kühreihen  oder  Kühreigen,  Jodel  und  Jodellied  in  Appenzell    .,  .    .    .     444 

Joachim  Steiner. 

Grundzüge  einer  neuen  Musiktheorie 659 

Josef  Sittard.  .  ' 

Zur  Geschichte  der  Musik  und  des  Theaters:  am'  Württembergischen 
Hofe.    Nach  Originalquelkn  .   .   .  .....   ;    .   .    .    .    . 666 

Christian  Bartsch. 

Dainn  Balsai.  Mdodieeni  litauiseher  Volkslieder,  gesammelt  und  mit 
Textübersetzung,  Anmerkungen  und  Einleitung  im  Auftrage  der  Li- 
tauischen. Litterarischen  Gesellschaft  herausgegeben:    ,   *-  >   -   *.  •:  •    -    •   ^^^ 

Johann  Lewalter.  •       ,  ;    . 

Deutsche  Volkslieder.  In  Niederhessen  aus  dem  Munde  des.  Volkes 
gesammelt,  mit  einfacher.  Klavierbegleitung,  geschichtlichen  \ind:  ver- 
gleichenden Anmerkungen  herausgegeben.    I.  Heft  ,    .   ♦    .   -    ,    ,   •    •   •     ®^^ 

Otto  Kade. 

Die  filtere  Pi^ssions^^omposition  IÜ9  Eum  J^)ire.  IßßL.F^te^  Heft  .    .  ;.     677 

IIL  Notizep,     .       .,   ,. 

Die  Wiener  Hofkapellmeister-Ordnung  vor  300  Jahren  .    .    ..«./,,.■.  450 

Sperontes.  .-.   •  ••:'•'.[  '  n/ 

Zu  Sweelincks  Lehrbuch.  —  Gaudeamus  igitur  .    .    .  ,.   ...•,,/...;.     679 

iV;  Mtisiliälisciie  Biibliograp%^,, .',,.'.. -/.^^^^^  682 
V.  Nameir^  tiha  äachtefeiöteP'  .   :  V'^';/  ; '.    692 


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9 


Eine  Klavier-Phantasie  von  Karl  Philipp  Emanuel 

Bach  mit  nachträglich  von  öerstenberg  eingef&gten 

Gesangsmelodien  zn  zwei  verschiedenen  Texten. 

Von 

Friedrieh  Chrysander. 


Die  Überschrift  zu  der  nachfolgenden  Mittheilung  hätte  auch 
anders  gefaßt  werden  können.  Wollte  man  der  Bedeutung,  welche 
dem  Gerstenberg'schen  Versuche  nicht  abzusprechen  ist,  gerecht 
werden,  so  könnte  der  Titel  lauten:  i^Die  Ausdeutung  eines  Instru- 
mental-Musikstückes aus  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts«  — 
oder  auch:  »Ein  praktisches  Beispiel  von  dem  Verhältniß  des  Gesanges 
zu  der  Instrumentalmusik  aus  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhun- 
derts« —  oder  noch  allgemeiner:  »Ein  praktisches  Beispiel  von  dem 
Verhältnis  des  Gesanges  zu  der  Musik  der  Instrumente  aus  dem  Be- 
ginne der  Periode  desVorherrschens  der  Instrumentalmusik«.  Letzteres 
würde  trotz  der  unbestimmten  Zeitangabe  dennoch  das  Bezeichnendste 
sein,  denn  um  die  veränderte  Stellung,  welche  die  beiden  Hauptorgane 
der  Musik  durch  die  veränderte  Gesammtrichtung  erhalten  haben^ 
handelt  es  sich  hier  eigentlich.  Aber  das  Alles  ist  als  Erläuterung 
zweckdienlich,  jedoch  als  Titel  ungee^et,  weil  es  der  sachlichen 
Deutlichkeit  entbehrt. 

Die  »Fantasia«  von  Ph.  E.  Bach,  welche  die  Grundlage  zu 
Gerstenberg's  Text -Experimenten  bildet,  wurde  vom  Komponisten 
schon  1753  veröffentlicht.  Sie  gehört  zu  den  achtzehn,  in  »sechs 
Sonaten  a  vereinigten  Probestücken,  die  Bach  als  Beilagen  des  ersten 
Theils  von  seinem  »Versuch  über  die  wahre  Art  das  Ciavier  zu 
spielen c  (Berlin,  1753)  herausgab,  hatte  also  von  Anbeginn  einen 
didaktischen  Zweck.  Gemeint  ist  das  letzte  Stück  in  der  letzten 
Sonate,  welches  Bach  mit  Fingersatz  reich  garniert,  übrigens  aber 
Seite  20—21  seines  Exempelbuches  in  derselben  Weise  ohne  Takt- 
striche gedruckt  hat,  wie  es  hier  unten  folgt. 

1891.  1 


•    ••      »  , - 

•  •'•  '»-Fäedrich  Chrysander, 


•  ■ 

•  •• 


•  • 


^,  GeÄunie'Zeit  später  machte  der  Dichter  Heinrich  Wilhelm  vo7i 
^*erf£sjibi§rg  den  Versuch,  dieses  Klavierstück  mit  Gesang  zu  ver- 
biiiHen.  Wir  hören  davon  zuerst  17S3,  also  dreißig  Jahre  nachdem 
Druck  der  »Fantasia«,  und  zwar  durch  C.  F.  Gramer.  In  einer  aus- 
führlichen Recension  der  vierten  Sammlung  Bach'scher  Elaviersonaten, 
die  1783  »im  Verlage  des  Autors«  erschienen  war,  spricht  Gramer 
zuletzt  auch  über  die  Originalität  und  den  musikalischen  Reichthum 
der  beiden  Phantasien,  welche  in  dieser  Sammlung  enthalten  sind. 
Hierbei  äußert  er  Folgendes: 

»Und  wer  vermag  überhaupt  zu  sagen,  wie  weit  auch  aus  jenen 
Gesichtspunkten,  die  ich  der  Kürze  halber  die  Rousseauischen  nennen 
will,  betrachtet,  sie  noch  ihren  eigenthümlichen  großen  und  frappanten 
Werth  haben,  und,  wie  Er  sich  ausdrückt,  mi  principe  d'imitation 
in  sich  enthalten  können?  Es  kommt  hierbey  alles  nur  auf  die  Becep- 
tivität  der  Phantasie  an,  die  sich  an  die  Vergleichung  macht;  und 
es  wäre  zu  wünschen,  daß  der  mit  Commentarien  zu  spai-same  Künstler 
uns  nur  mit  einer  kleinen  Deduction  darüber,  wie  ers  einst  bey  einer 
andern  Gelegenheit  that,  an  die  Hand  ginge,  um  ihm  vielleicht 
manches  Bestimmte  dabey  nachempfinden  zu  können.  Die  zweyte 
dieser  Phantasien  z.  E.  weis  ich,  hat  er  zu  seinem  Vergnügen  an 
einem  Tage  verfertigt,  wo  ihn  ein  verdrießlicher  Rheumatismus  plagte, 
und  er  pflegt  sie  daher  scherzend  gegen  seine  Freunde  die  Phantasie 
in  tormentie  zu  nennen,  nach  der  Analogie  der  berühmten  Gemähide 
des  hochseligen  Königs  von  Preußen  ^  Ich  würde  es  niemand  ver* 
denken,  der  hierauf;  fußend,  sich  eine  ganze  Theorie  der  Gicht- 
schmerzen daraus  abstrahiren  wollte,  in  dem  weit  ausschweifenden, 
beym  zweyten  Ansätze  so  gleich  so  original  in  die  Seeundquartsexte 
ausweichenden  Laufe  ihre  herumfliegende  Pein,  in  den  kleinern 
stoßenden  Stellen  ihre  Stiche,  den  Eindruck  des  Aergers  auf  die  Seele 
etc.  leibhaftig  gewahr  würde.  Doch  das  sind  Grillen!  sagt  ein  ernst- 
hafter Leser.  Mags  denn  drum  seyn!  Das  aber  darf  ich  hierbey 
nicht  vergessen  anzuführen,  daß  einer  unserer  ersten  deutschen 
Dichter,  der  auch  im  Gebiete  der  Music  mit  überschauendem  Geiste 
wandelt,  einen  Versuch  gemacht  hat,  einer  andern  nicht  minder  vor- 


1  »Man  weis  nämlich,  daß  dieser,  und  gemeiniglich  mit  blauer  Farbe,  Ge- 
mählde  verfertigte,  wenn  ihn  das  Podagra  plagte,  und  auf  sie  denn  schrieb:  In 
dohrihus  pinxit  Fridericus,  Er  machte  zuweilen  den  Spaß  damit  die  Schmeicheley 
seiner  Hofleute  zu  deconcertiren,  indem  er  sie  {fragte,  was  sie  wohl  werth  wären? 
und  wenn  sie  denn  unter  vielen  Bücklingen  einen  sehr  hohen  Preis  nannten,  zur 
Antwort  sab:  £r  solls  dafür  haben,  —  Sis  er  endlicli  einmal  auf  einen  Schlauem 
gerieht,  der  ihm  in  tiefer  Devotion  auf  seine  Frage:  Was  hHH  Er  das  Stück  wohl 
werth?  versezte:   O  Ihro  MajevUit^  es  ist  unschätzbar. 


Eine  KlaTier-Phantasie  von  Karl  Philipp  Emanuel  Bach  etc. 


txeflichen  Phantasie  von  Bach,  die  in  seinen  Probesonaten  befindlich 
ist,  so  gar  Worte  zum  Singen  unterzulegen.  Er  hat  hierzu  den  be- 
rühmten Monolog  im  Hamlet  über  den  Selbstmord  gewählt,  und  ich 
gestehe,  daß  ich  nichts  vortreflicheis,  als  diese  Unterlegung  kenne,  an 
Kraft  und  origineller  Wahrheit.  Möchte  ich  doch  seine  Erlaubniß 
erhalten,  sie  einst  bekannt  zu  machen!  Denn  ich  glaube  gern,  daß 
nach  meiner  bloßen  Erzählung  es  den  Clavierspielem  unbegreiflich 
seyn  muß,  wie  dieß  bei  dem  Umfange  einer  mit  solcher  Schnelligkeit 
durch  alle  Gebiete  der  Octaven  schweifenden  Phantasie  nur  einmal 
möglich  gewesen  seyc.^ 

Gerstenberg  gab  die  Erlaubniß  zur  Veröffentlichung  seines  Ex- 
perimentes nur  zögernd,  so  daß  Gramer  dasselbe  erst  nach  vier  Jahren 
(1787)  in  einem  Sammelwerke,  »Florat  betitelt,  herausgeben  konnte. 
Damals  hatte  das  Stück  aber  nicht  bloß  denjenigen  Text  erhalten, 
welcher  oben  angeführt  wird  —  Hamlet's  Monolog  — ,  sondern  noch 
einen  zweiten,  den  Gerstenberg  also  wohl  erst  später  hinzugefügt 
hat.  Über  Entstehung,  Sinn  und  Zweck  dieses  Veisuches  sind  wir 
durch  Gramer  genau  unterrichtet.     Ei  schreibt  in  seiner  Flora: 

»Diese  höchst  originale  musikalische  Idee  bedarf  vielleicht  mehr 
als  irgend  ein  Stück  der  Flora  eines  Gommentars.  Sie  kam  wenig- 
stens einem  unserer  größten  Tonkünstler  —  ich  nenne  ihn  —  Schulzen 
[Johann  Abraham  Peter  Schulz]  als  ein  höchst  merkwürdiges  Meteor 
vor;  und  so  wagte  ichs  ihren  Urheber,  der  vielleicht  befürchtet,  daß 
nur  Wenige  sie  verdauen  dürften,  um  ihre  Bekanntmachung  zu  bitten. 
Er  gestand  sie  mir  halb  ungern  zu.  Ihre  Genesis  ist  folgende.  Es 
war  gestritten  worden,  ob  auch  bloße  Instrumentalmusik,  bey  der  ein 
Künstler  nur  dunkle  leidenschaftliche  Begriffe  in  seiner  Seele  liegen 
gehabt,  einer  Analyse  in  hellere  bestimmtere  fähig  seyn  sollte? 
Gerstenberg,  und  auch  Er  nur  der  einzige  Mann  dazu,  versuchte 
es,  und  nahm  zu  der  Probe  gerade  ein  Schwerstes,  was  sich  nur 
denken  läßt,  die  bekannte  Bachische  Glavierphantasie ,  deren  Ver- 
fasser sichs  wohl  nie  hatte  träumen  lassen,  dass  der  ungebundene 
Flug  seiner  erhabenen  Einbildungskraft  zum  Einschlage  eines  poeti- 
schen Gewebes,  und  zur  Darstellung  der  Empfindungen  eines  Ge- 
sangstückes fähig  wäre.  Aus  allen  den  nicht  einmal  in  Tacte  und 
Khythmen  zwangbaren  Schwüngen  und  Sprüngen  dieses  durch  alle 
Gefilde  der  Modulation  einherziehenden  Wolkengebildes,  hub  sein 
plastischer  Genius,  gleich  dem  lesbischen  Tragelaph,  hier  einen]  Fuß, 
dort  einen  Arm,  hier  eine  Nase,  und  wieder  ein  Auge  heraus,  und 


1  a  F.  Cramer,  Magazin  der  Musik  (Hamb.  1783)  I,  S.  1252—1254. 

1* 


Friedrich  Cluygander, 


sezte  Euch  so  diese  Gestalt  tiefer  Empfindung  zusammen,  die  freylich 
nicht  einem  Jeden  gleich  anschaulich  seyn  dürfte,  aber  den  Weisen 

belohnen  wird,  wenn  er  sich  die  Mühe  nimmt,  sie  zu  —  studiren. 

Und  nicht  genug  an  Einer  Gestalt!  —  Aus  ganz  verschiedenartigen 
Phrasen  dieser  Phantasie,  bildete  Er  eine  doppelte  sogar;  und  knetete 
so  künstlich  am  widerstrebenden  Stoffe,  daß  er  die  zwiefache  Situation, 
Hamlet,  der  über  den  Selbstmord  raisonnirt,  und  die  des  Socrates, 
der  im  Begriff  steht,  den  Gfiftbecher  zu  trinken,  für  den  verwunderten 
Hörer  auspunctirte.  Mögen  die  eingeschränkten  Theoristen,  denen 
zur  Zeit  noch  verborgen  ist,  daß  viel  Gesang  im  Himmel  und  auf 
Erden  tönt,  von  dem  kein  Wort  in  ihren  Compendien  steht,  sich 
diese  Erfahrungswahrheit  daraus  nehmen,  und  die  Erfindung,  wenn 
sie  das  kann,  ihrer  Zirbeldrüse  wohlbekommen! 

»Doch!  ohne  Scherz  geredt;  ich  glaube  sehr  fest,  daß  dieser 
excentrische  Versuch  zu  den  wichtigsten  Neuerungen  gehört,  auf  die 
je  ein  Kenner  verfallen  ist;  und  daß  er  einem  denkenden  Künstler, 
der  sich  nicht  immer  unter  Sclaverey  des  Hergebrachten  schmiegt, 
eine  Wünschelruthe  seyn  mag,  manche  tiefliegende  Goldader  in  den 
geheimen  Schachten  der  Musik  zu  erspähen,  indem  er  durch  die 
That  selbst  beweißt,  was  für  ganz  andre  Effecte  noch  aus  dieser 
dithyrambischen  Verbindung  von  Instrumental-  und  Vocalmusik  re* 
sultiren  können,  als  bey  der  bisherigen  in  eigensinnige  Formen  und 
Rhythmen  eingezwängten  möglich  sind.  Schulz,  der  zuerst  auch  hier 
Licht  sah,  und  in  verschiednen  Gesangstücken  die  Tactstriche»  und 
das  willkührlich  angenommene  Joch,  das  sie  mit  sich  führen,  ab- 
warf; wäre  der  Mann  sie  zu  nutzen. 

»Ich  brauche  übrigens  wohl  nicht  zu  erinnern,  daß  man  das 
Stück  nicht  etwa  als  Duett  zu  betrachten  habe,  sondern  als  zwey 
ganz  von  einander  verschiedene  Capriccios.  Man  spielt  die  Phan- 
tasie auf  dem  Claviere;  und  singt  entweder  die  eine  oder  die  andre 
Poesie.  Schwerlich  werden  Sänger  oder  Spieler  fertig  genug  seyn, 
hier  vom  Blatte  spielen  zu  können.  Die  Phantasie  und  der  Gesang 
wollen  einstudirt  seyn.c^ 

Hier  folgt  nun  das  ganze  Stück,  genau  so  wie  es  in  Cramer's 
»Flora«  Seite  19  bis  27  gedruckt  ist. 


1  Flora.  Erste  Sammlung.  Enthaltend:  Compositionen  für  Gesang  und  Klavier 
von  Or&ven,  Oluck,  Bach,  Adolph  Kunzen,  F.  L.  Ae.  Kunzen,  Beiehardt,  Schwa- 
nenberger.  Herausf^egeben  von  C  F.  Cramer.  Kiel,  bey  dem  Herau^ber,  und 
Hamburg,  in  Commission  bey  der  Hofmannisehen  Buchhandlung,  1787.  (äXU  und 
7ö  Seiten  obl.  FoHo.)     S.  XII—XIV. 


Eine  Klayier-Phantasie  Ton  Karl  Philipp  Emanuel  Bach  etc. 


Sokrates. 


Fhantarid  Ton  G.  F.  £.  Baoh, 

mit  doppelt  untergelegtem  Text  von  Gerstenberg. 
AJUgro  moderato. 
9,  t?  1^ 


Hamlet. 


Fantasia. 


das  ist,  das  ist  die  große  Fra  -  ge^ 


das  ist 


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Friedrich  Ghrysander, 


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sung  na    -    he     Stun  -  de. 


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die    gro    -  ße     Fra   -  ge. 

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Eine  Klavier-Phantasie  von  Karl  Philipp  Emanuel  Bach  etc. 


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Schwarzer        Traum! 


den  Schwung  des  Lichts, 


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Un-sterblichkeit  stialt  von  dir  aus, 


Geist,  du 


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Ihn  trSumen,  ha  t  den  Won-ne-tiaum  I 


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Friedrich  Chrysander, 


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der    oft  im  Thal,       wo     ich   dich   such- 


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wo  Tücke  lauscht ! 


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Unsterblichkeit 


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ins  Herz  mir  lis  -  pel- 


die  Bosheit  lacht! 


die  Unschuld  weint ! 


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Eine  Klavier-Phantasie  von  Karl  Philipp  Emanuel  Bach  etc. 


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O  du,  die  in  mir  jauchzt,  o      mei    -     -    ne  See-  le! 


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O  nein !  o    nein !  erwünschter  wfirs  dir,  See  -  le. 


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du  bist  unsterblich, 


du  bist  un- 


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ins  Nichtgeyn    hinab  zu 


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sterb-lich. 


Ich    soll       den  Lichtquell  ^  trin    -      -    ken      am 


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schlummern !  ins    Licht    gum  Seyn  er    -    wa    -_^  -    chen !     zur 

^*  Largo. 

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Friedrich  Chrysander, 


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himm  -  lischenOestad:       o    Heil  mir! 


Un  -  sterb-lich  -  keit,      Un- 


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Wonn'  hinaufwärts  schaun:  o    See  -  le ! 


Die  Un- schuld  sehn,     die 


^  sterb  -  lieh-  keit, 


Un    -    sterb  -  lieh -keit       aus     sei-nem 


Dul    -    de  -  rinn. 


wie        sie         em  -  por        ins     Le-ben 


Wr=^\  r;  iijj^^ 


vol  -  len  Sil 


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berstrom !  ach,  wo      das  Lied  der    Ster     -     ne 


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bläht  der  £ 


wig- keit!  Sie    al   -    le  sehn,  die     uns  ge- 


Eine  KlaTier-Fhantasie  von  Karl  Philipp  Emanuel  Bach  etc. 


11 


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tönt,     da,     da  .   Un  -  sterb-lich  -  keit,     Un  -  sterb-lich  -  keit     aus 


k  t>  r    c_.fa^^ 


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liebt,  nicht  mehr  von    uns     be  -  weint !  hoch  tönts,  hoch    tönts     im 


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Strom.    Qe  -  dank ; 


Stral    des  Lichts  in    mir!     o 

H»      t     K    i     i     r; 


»'  sehn!  dann  Stürzt,  ach!        der     Ent  -  zu  -  ckung  Fül  -  le, 

p^  7^^     ^~lX   r- — li     <P 


ach!        der     Ent  -  zu  -  ckung  Fül  -  le, 


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Friedrich  Chrysander, 


Stral  dos  Lichts  in    mir,  ach 


ich      er    -   lie 


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der    Ent-gfl-ckungFül  -  le,  die    Hirn- mels  -  thrä 


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Eine  Klavier-Phantasie  Ton  Karl  Philipp  Emanuel  Bach  etc. 


13 


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den  grossen  Tod 


des  letzten  Seyns ! 


Friedrich  Chrysander 


Eine  Klavier-Phantasie  von  Karl  Philipp  Emanuel  Bach  etc.  |5 


Dieses  meikwürdige  Experiment  war  für  alle  Betheiligten  nichts 
weniger  als  eine  Spielerei;  es  war  eine  durchaus  ernste  Angelegen- 
heit, und  wie  sehr  sie  darin  Recht  hatten,  ist  am  besten  dadurch 
bewiesen,  daß  wir  es  noch  heute  ebenso  betrachten.  Man  kann  sogar 
behaupten,  erst  jetzt  sei  die  Zeit  gekommen,  derartige  Versuche  vom 
Standpunkte  der  Entwicklung  der  Musik  aus  zu  verstehen  und  ihnen 
damit  eine  höhere  Berechtigung  zuzuschreiben;  denn  diejenige  Wand- 
lung in  der  Tonkunst,  die  damals,  allseitig  angebahnt,  mit  Macht  her- 
vortrat und  bereits  nach  einigen  Jahrzehnten  die  gesammte  Musik  be- 
.  herrschte,  ist  jetzt  zum  Abschluß  gekommen,  nämlich  zu  jenem  greif- 
baren Resultat,  von  welchem  aus  der  ganze  zurückgelegte  Weg  sich 
bequem  übersehen  läßt. 

C.  Ph-  E.  Bach  starb  am  14.  December  1788,  er  hatte  also  noch 
das  Vergnügen,  Gerstenberg's  Versuche  nicht  nur  handschriftlich,  son- 
dern endlich  auch  in  gedruckter  Gestalt  kennen  zulernen.  Ohne  Zweifel 
machten  sie  ihm  Vergnügen,  aber  es  wird  uns  nicht  erzählt,  daß  er 
bei  diesem  Austifteln  irgendwie  sich  betheiligt  hätte.  Solches  konnte 
auch  nicht  wohl  der  Fall  sein,  [denn  ihn  mußte  das  Unternehmen 
bei  allem  Interesse  doch  immer  fremdartig  berühren;  aus  zwei 
Gründen. 

Zunächst  verfuhr  er  selber  ganz  anders,  wenn  er  Worte  in  Musik 
setzte.  Hielt  er  doch  in  vokalen  Neuerungen  nicht  einmal  Schritt 
mit  den  Modernsten  seiner  Tage,  einem  Schulz,  Mozart,  Reichardt 
und  Andern.  Nun  brachte  Gerstenberg,  der  Dichter,  hier  Worte 
nicht  eigentlich  m,  sondern  vielmehr  unter  Musik,  deren  Töne  er 
auf  die  Texte  rhythmisch  herab  träufeln  ließ  —  ein  wunderliches 
Experiment  für  unsern  Bach,  welcher  sich  bewußt  war,  im  Wesent- 
lichen nach  einer  Weise  zu  arbeiten,  die  Gramer  als  ,,Sclaverei  des 
Hergebrachten"  betitelt. 

Sodann  konnte  er  nicht  vergessen  haben,  wie  seine  „Fantasia" 
vor  etwa  dreißig  Jahrer  entstanden  war.  Sie  entstand  nicht  als  etwas 
unerhört  Neues  und  Freies  im  Gegensatze  zu  einer  vermeintlich  streng 
formellen  Kompositionsweise  der  früheren  Zeit,  sondern  bildete  sich 
aus  dieser  auf  durchaus  natürlichen  Wegen,  freilich  nur  imter  den 
Händen  eines  genialen  Künstlers.  Das,  was  er  aus  dem  Vaterhause 
mitbrachte,  war  die  Grundlage  seiner  Virtuosität,  aber  seine  eigent- 
lichen Vorbilder  fand  er  in  Berlin.  Hier  waren  besonders  die  Opern 
voll  von  jenen  Sätzen,  welche,  wenn  auch  taktgemäß  aufgezeichnet, 
doch  in  der  Ausführung  ganz  frei  verliefen ,  modulationsreich  imd 
ohne  festen  Halt  nach  Takt  und  Tonart.  Hauptsächlich  waren  dies 
jene,   in  den  Partituren  als   accompagnirte  Recitative   bezeichneten 


]g  Friedrich  Chr}'8ander. 


Tummelplätze  für  die  auBeroTdentlichsten  Leistungen  der  großen 
Sänger.  Diese  vokalen  Feuerwerke,  unter  steter  Betheiligung  des 
Orchesters,  waren  denn  auch  zumeist  die  Nährquellen  solcher  Klavier- 
Phantasien;  sie  boten  ihnen  die  scharfen  Accente,  die  ausdrucks- 
volIenTöne,  die  wuchtigen  Harmonien,  die  bunten  Figuren,  die  üppige 
und  feine  Modulation,  alles  frei,  unerwartet,  sprunghaft  das  Fernst- 
liegende verbindend,  wie  ein  Kind  des  Augenblicks  erscheinend  und 
auch  am  nächsten  Tage  bei  einer  andern  Aufführung  wieder  anders 
gestaltet.  Das  waren  Phantasien  von  einer  so  zu  sagen  körperlichen 
Wirklichkeit.  Von  diesen  entlehnte  er  nicht  die  Form,  die  vielmehr 
in  klaviermäßigem  Gewände  längst  vorhanden  und  auch  mit  allen 
erdenklichen  Freiheiten  bereits  vor  Ph.  E.  Bach,  ja  bereits  vor  seinem 
Vater  J.  S.  Bach*)  durchgebildet  war.  Aber  die  nicht  aus  irgend 
einem  Instrumenten-Spiel  sich  ergebenden  Accente,  das  Nachdrück- 
liche einzelner  Töne,  eine  hart  bis  an  die  Grenze  des  Wortes  ge- 
führte Deutlichkeit  —  alles  das  war  hauptsächlich  ein  Widerschein 
gesanglicher  Exclamationen,  insofern  fremdartigen  Elanges  auf  dem- 
jenigen Instrumente,  auf  welchem  es  ertönte ,  und  reizte  daher  zum 
Errathen  der  etwa  zu  Grunde  liegenden  Bedeutung.  Bei  der  vokalen 
Atmosphäre,  in  welcher  Bach's  instrumentales  Gebilde  entstand,  er- 
scheint Gerstenberg's  gesangliche  Ausdeutung  demnach  in  einem 
neuen  Lichte,  da  sie  gleichsam  als  eine  Hervorhebung  des  ursprüng- 
lichen Impulses  angesehen  werden  kann.  Bach  selber  wird  die 
Sache  freilich  etwas  anders  betrachtet  und  sich  daran  erinnert  haben, 
daß  die  Sänger  in  jenen  Tagen,,  wo  er  empfängniß-freudig  ihren 
erstaunlichen  Kundgebungen  lauschte,  die  Führer  waren  und  nicht 
die  Geführten,  sobald  sie  zu  Worte  kamen.  Auch  konnte  er  Gramer 
sagen,  daß  derselbe,  um  sein  Verlangen  nach  einer  taktstrichlosen 
Musik  zu  befriedigen,  nicht  nöth^  hatte,  auf  Neuerungen  zu  warten, 
welche  ,,die  Taktstriche  und  das  willkürlich  angenommene  Joch, 
das  sie  mit  sich  führen^S  abwerfen  würden,  sondern  daß  dergleichen 


^  Wenn  Oounod  su  dem  Cdur-Präludium  im  ersten  Theü  des  Wohlt.  Klaviers 
eine  Oesangmdodie  mit  Aye  Maria-Text  schrieb,  so  ist  das  etwas  gans  anderes, 
als  Gerstenberg^s  Experiment.  Gounod's  Produkt  ist  bekanntlich  populär  geworden,  — 
so  sehr,  daß  die  Violoncell-Melodie ,  welche  er  zu  dem  zweiten  (Cmoll-)Prftludium 
setzte,  von  einem  findigen  Londoner  Verleger  (Hopkinson)  ebenfalls  in  ein  Aye  Maria 
verwandelt  wurde,  freilich  ohne  den  gehofiten  klineenden  Erfolg  zu  erzielen.  Da- 
gegen ist  die  Popularität  des  Cdur-Ave-Maria  (im  Verlage  von  B.  Schott's  Söhnen 
m  Mainz  erschienen)  eine  so  außerordentliche  und  Jahrzennte  hinduroh  sich  gleich 
bleibende,  daß  dieses  Musikstück  dadurch  ebenfalls  einen  Anspruch  auf  allge- 
meinere Bedeutung  erlangt  hat  und  charakteristisch  bleiben  wird  für  das  Musik- 
empfinden unserer  Zeit.  Dem  singenden  Publikum  bieten  die  Verleger  es  in  neun 
verschiedenen  Ausgaben,  und  dem  spielenden  für  alle  möglichen  Instrumente  in 
dreiundzwanzig.    Das  sagt  genug. 


Eine  Klavier-Phantasie  von  Karl  Philipp  Emanuel  Bach  etc.  |7 


doit,  wohin  es  gehört,  von  jeher  gel](räuchlich  gewesen  sei,  früher 
sogar  mehr  als  damals.  Aber  bei  alledem  muß  nachdrücklich  betont 
weiden,  daß  Ph.  E.  Bach's  Klavierkompositionen  durchsetzt  sind  mit 
Zügen,  welche  das  Wort  zur  Deutung  herbei  rufen.  In  dieser  Hin-- 
sicht  sind  dieselben  noch  bei  weitem  nicht  hinreichend  untersucht 
und  gewürdigt.  Es  ist  das  aber  gerade  diejenige  Seite,  mit  welcher 
dieser  große  Künstler  in  die  Zukunft  hineinragt.  Er  war  Lehrer 
und  Vorbild  der  bedeutendsten  Komponisten  aus  der  jüngeren  Gene- 
ration seiner  Tage,  nicht  bloß  technisch  nach  Kunstform  und  Spiel- 
weise, sondern  auch  inhaltlich,  denn  das,  was  wir  Poesie  des  Klavier- 
Spiels  und  der  Klavierkomposition  nennen,  geht  großentheils  auf 
PhiUpp  Emanuel  Bach  zurück. 

Der  musikalisch  feinsinnige  Gerstenberg  wandte  sich  daher  an 
den  rechten  Meister,  an  den  einzigen  in  der  That^  der  ihm  damals 
eine  solche  Fülle  von  Anlegungen  gewähren  konnte.  Im  übrigen 
ging  er  mit  seinen  Freunden  eigne  Wege,  und  sie  fragten  nicht 
darnach,  ob  das  auch  noch  Bach's  Wege  waren.  Die  Neuerung, 
welche  sie  boten,  konnte  nicht  vollständiger,  die  Umkehrung  des 
bisherigen  Verhältnisses  nicht  gründlicher  sein.  Die  Instrumental- 
musik war  von  jeher,  wenn  zu  ihr  gesungen  wurde,  gesangbegleitend 
gewesen;  hier  behandelte  man  sie  nun  als  gesangerzeugend.  Was 
sich  daraus  ergab,  ist  lehrreich:  wir  werden  es  einzeln  aufeählen. 

1 .  Wenn  der  Gesang  auf  solche  Weise  aus  Instrumenten  her- 
ausgeholt wird,  so  ist  damit  noch  nicht  gesagt,  daß  er  imgesanglich, 
d.  h.  von  der  menschlichen  Stimme  schwer  vorzutragen  sein  müßte, 
denn  solches  läßt  sich  durch  eine  sorgliche  Melodisirung  recht  gut 
vermeiden,  während  mancher  Vokalsatz,  der  auf  dem  normalen  Wege 
der  Komposition  entstand,  in  den  Singweisen  eine  instrumentale 
Factur  erhalten  hat.  Durch  aufmerksame  rhythmische  Verbindung 
von  Worten  und  Tönen  kann  sogar  eine  sehr  annehmbare  musikalische 
Deklamation  erzielt  werden;  freilich  auch  nichts  weiter  als  musi- 
kalisch-malerische Deklamation  oder  Recitation:  der  eigentliche  Gesang 
bleibt  aus  dem  Spiele. 

2.  Das  Ungesangliche ,  ja  Gesangswidrige ,  welches  mit  diesem 
Verfahren  unzertrennlich  verknüpft  ist,  liegt  in  der  Umkehrung  des 
natürlichen  Verhältnisses.  Alles  Gesungene  ist  hier  gebunden  an 
eine  fremde  Tonbewegung,  nichts  ist  frei,  nicht  einmal  die  De- 
klamation. Einem  solchen  Zwange  wird  man  sich  nur  unterwerfen, 
wenn  etwas  dafür  einzutauschen  ist,  wodurch  die  angelegten  Fesseln 
vergoldet  werden.  Indem  man  sich  auf  den  Boden  eines  solchen 
Instrumentalstückes  stellte,  glaubte  man  gleichsam  ein  zauberhaftes 
Heich  zu  betreten,  und  in  gewissem  Sinne   war  dies  auch  der  Fall. 

1S91.  2 


Ig  Friedrich  Chrysander, 


Oder  um  deutlicher  zu  reden :  Eine  längst  vorhandene  Schwierigkeit 
liess  sich  auf  diese  Weise  scheinbar  am  leichtesten  heben.  Bei  der 
Entstehung  der  Oper  war  es  einer  der  Hauptzwecke,  den  deklama- 
torischen oder  recitativischen  Gesang  zur  Geltung  zu  bringen,  und 
seine  Formung  verursachte  zugleich  eine  der  größten  Schwierig- 
keiten. Den  treffenden  Ton  für  das  einzelne  Wort,  auch  für  eine 
zusammen  hängende  Reihe  von  Sätzen  fand  man  schon,  aber  unendlich 
schwer  wurde  es,  unter  Bewahrung  des  recitativischen  Charakters  eine 
Gesammtform  zu  gewinnen,  welche  eine  gesättigte  musikalische  Ein* 
heit  darstellte.  Die  meisten  Scenen  dieser  Art  in  den  früheren 
Opern,  soweit  sie  sich  über  das  bloße  Secco-Kecitativ  erhoben,  waren 
mehr  oder  weniger  formlos.  Nimmt  man  nun  einen  Instrumental- 
satz, der  musikalisch  ebenso  reich  wie  einheitlich  gestaltet  ist,  und 
fügt  in  diesen  die  Wort-Accente  ein,  so  ergiebt  sich  unzweifelhaft 
ein  Gebilde,  welches  das  enthält,  was  den  meisten  seiner  Vorgänger 
fehlte  —  eine  musikalische  oder  stimmungsvolle  Einheit. 

3.  Was  aufgegeben  werden  mußte,  um  letztere  zu  erlangen, 
wurde  gering  geachtet,  weil  das  daflir  Gewonnene  gerade  das  Er- 
strebte war.  Man  wollte  Deklamation,  aber  eine  solche,  die  von 
einer  selbständigen  bedeutungsvollen  Musik  getragen  und  gleichsam 
verklärt  wurde.  Ohne  daß  die  Betheiligten  sich  völlig  klar  darüber 
geworden  wären,  war  ihre  Tendenz  auf  sceuiache  Vorgänge  gerichtet, 
auf  Bühnen-  oder  dramatische  Musik;  denn  für  gewöhnlichen  Gesang 
blieb  das  Experiment  fruchtlos,  aber  für  die  musikalische  Bühne  war 
es  ein  Fingerzeig  von  großer  Bedeutung.  Grameres  Worte,  nach 
welchen  Gerstenberg's  rexcentrischer  Versuch  eine  Wünschelruthe 
sein«  möge,  «manche  tiefliegende  Goldader  in  den  geheimen  Schachten 
der  Musik, zu  erspähn,  indem  er  durch  die  That  selbst  beweist,  was 
für  ganz  andere  Effekte  noch  aus  dieser  dithyrambischen  Verbindung 
von  Instrumental-  und  Vokalmusik  resultiren  können,  als  bei  der  bis- 
herigen, in  eigensinnige  Formen  und  Rhythmen  eingezwängten  möglich« 
sei  —  diese  enthusiastischen  Ausdrücke  müssen  wir  heute  ansehen 
als  eine  Ahnung  des  Zukünftigen,  als  prophetischen  Hinweis  auf 
das,  was  später  in  verschiedenen  Formen  und  zu  verschiedenen  Zeiten 
verwirklicht  wurde.  Deßhalb  sagte  ich  vorhin  (S.  15),  daß  dieses 
Gerstenberg-Cramer'sche  Wagniß  erst  von  unserm  heutigen  Stand- 
punkte aus  recht  gewürdigt  werden  könne. 

4.  Es  waren  die  namentlich  durch  Rousseau  und  Gluck  ange- 
regten Gedanken  und  Wünsche,  welche  diejenigen  Männer  bewegten, 
die  wir  hier  am  Werke  sehen.  Sie  trugen  nun  diese  Gedanken 
weiter,  sie  machten  eine  Anwendung  davon,  an  welche  die  ersten 
Urheber   noch    nicht    gedacht  hatten.      Das   gesungene   Wort  sollte 


r 


Eine  KlaTier-Phantasie  Ton  Karl  Philipp  Emanuel  Bach  etc.  1 9 

nicht  bloß  durch  eine  ausdrucksTolle  Begleitung  getragen  werden, 
sondern  es  sollte  in  seinen  Tönen  aus  dem,  was  die  Instrumente 
sagten,  geradezu  heryorgehen:  dies  war  das  Neue  in  dem  hier  be- 
sprochenen Verfahren. 

5.  Nun  begnügte  sich  Gerstenberg  nicht  mit  einer  einzigen  Ge- 
sangmelodiOy  sondern  er  brachte'  aus  der  gewählten  Instrumental- 
Unterlage  zwei  verschiedene  Melodien ,  oder  yielmehr  einen  Gesang 
zu  zwei  verschiedenen  Worten  zu  Stande.  Die  Meinung  dabei  war, 
erkennen  zu  lassen,  welch  ein  vielseitiger  Beichthum  in  einer  rechten 
Instrumentalmusik  vorhanden  sei ;  und  die  enthusiastischen  Freunde 
erkannten  das  auch  wirklich.  Aber  lehrte  der  doppelte  Text  zu 
denselben,  nur  deklamatorisch  verschieden  geformten  Tönen  nicht 
noch  etwas  anderes? 

Was  gleich  gut  auf  verschiedene  Worte  paßt,  muß  seiner  Natur 
nach  mehrdeutig  sein.  Was  mehrdeutig  ist,  kann  nichts  Bestimmtes 
ausdrücken.  Was  aber  in  erster  Linie  mit  Rücksicht  auf  deutlichen 
und  entschiedenen  Ausdruck  gewählt  ist,  das  erfordert  vor  allem 
Bestimmtheit,  denn  davon  hängt  alles  weitere  ab.  Der  Hauptzweck, 
zu  dessen  Gunsten  die  frühere  Gesangsform  aufgegeben  und  eine 
gesanglich  formlose  Deklamation  an  ihre  Stelle  gesetzt  wurde,  konnte 
daher  nicht  erreicht  werden;  denn  wo  mehrere  Texte  möglich  sind 
—  und  möglich  sind  hier  nicht  nur  die  beiden  Gerstenberg'schen, 
sondern  noch  zehn  andere  — ,  da  hebt  der  eine  den  andern  auf 
Der  Fehlschluß,  den  man  machte  hinsichtlich  des  zu  erzielenden 
Ausdrucks,  lässt  sich  hieraus  deutlich  erkennen. 

6.  Da  war  also  der  Preis,  welcher  gezahlt  werden  mußte,  ein 
zu  hoher.  Dieser  Preis  besteht  nicht  bloß  in  der  rein  gesanglichen 
Melodie  als  solcher;  er  begreift  noch  etwas  mehr  in  sich,  nämlich 
die  höhere  Gesangskunst  überhaupt.  Mit  dieser  ist  es  schlechter- 
dings vorbei,  wenn  das  hier  dargelegte  Verfahren  zum  Princip  er- 
hoben wird.  Ein  Sänger  von  guter  Schule  wird  Gerstenbergs  De- 
klamationen natürlich  besser  vortragen,  als  ein  Stümper ;  aber  singen 
lernen  oder  durch  die  Ausführung  solcher  Musik  eine  gesangliche 
Vollkommenheit  erreichen  kann  man  nicht  mehr.  In  dieser  Hin- 
sicht ist  Natur  in  Unnatur  verwandelt.  Es  ist  das  Recht  des  Ge- 
sanges, zu  herrschen  sowie  er  auftritt.  Verbirgt  er  sich  zeitweilig  in 
dem  Helldunkel  der  Begleitung,  so  geschieht  es  mit  bei^uBter  Ab- 
sicht, um  einen  bestimmten  Ausdruck  zu  erreichen,  nicht  aber  in 
Abhängigkeit  von  einer  fremden,  instrumentalen  Tonbewegung.  Das 
Lebenselement  des  Gesangsorganes ,  in  welchem  dieses  athmet  und 
gedeiht,  ist  die  zusammen  hängende  Modulation,  nicht  zusammen 
hängend  durch    irgend  welche  akkordliche  Harmonie,    sondern  reii^ 

2* 


20  Friedrich  Ohrysander, 


melodisch  ohne  alle  Bücksicht  auf  harmonische  Stützen.  Die  haupt- 
sächlichsten Solo-Instrumente  besitzen  dasselbe  Privilegium,  aber  die 
Singstimme  geht  ihnen  hierin  weit  voran.  Es  ist  ihr  eigenstes  Reich, 
mit  dessen  Einbuße  sie  den  Halt  und  allen  Anspruch  auf  Selbst- 
ständigkeit verliert,  denn  das  hier  Preisgegebene  kann  sie  bei  ihrem 
begrenzten  Tongebiete  und  der  vergleichungsweise  nur  mäßigen 
Kraftentfaltung  nirgends  wieder  einbringen.  So  lange  daher  noch 
Gesang  in  höherer  Vollkommenheit  besteht  und  etwas  gilt,  wird  man 
derartige  Experimente  als  unberechtigt  abweisen. 

Es  bleibt  ihnen  also  nur  die  eine,  bereits  oben  unter  2  bis  4 
geschilderte  Position,  nach  welcher  das  Instrumentalbild  ein  bequemes 
Mittel  abgiebt,  der  Scene  einen  gewissen  musikalischen  Gesammtton 
zu  verleihen.  Und  zu  einem  solchen  Zwecke  war  bewußt  oder  im- 
bewußt  der  ganze  Versuch  auch  unternommen. 

Dies  führt  uns  nun  direkt  in  unsre  Gegenwart,  denn  das,  was 
bei  Gerstenberg  so  zu  sagen  nur  erst  «Gleichniß«  war,  ist  jetzt 
»Ereigniß«  geworden,  um  mit  Goethe  zu  reden.  Die  musikalische 
Scene  wird  in  der  heutigen  Musik,  namentlich  in  der  Opernmusik, 
gestaltet  durch  eine  InstTumental-Kewegung,  in  welche  die  Personen 
möglichst  deutlich  und  nachdrücklich  hinein  singen  oder  intervall- 
mäßig hinein  sprechen  —  beide  Ausdrücke  sind  hier  gleichbedeutend. 
Wir  erhalten  dadurch  einen  ununterbrochenen  musikalischen  Fort- 
gang und  hierin  die  Möglichkeit,  ganze  große  Scenen,  ja  im  weiteren 
Verfolg  ganze  Werke  und  sogar  ganze  Cyclen  von  verschiedenen 
Werken  insoweit  einheitlich  zu  verknüpfen.  Die  hiermit  gegebenen 
Mittel  des  musikalischen  Ausdruckes  oder  der  musikalischen  Gestal- 
tung sind  auch  besonders  von  Rieh.  Wagner  bereits  vollständig  be- 
nutzt, weil  bei  ihm  die  Musik  der  Instrumente  nicht  nur  die  Scene 
in  ihren  mannigfachen  dramatischen  und  decorativen  Wechseln 
illustrirt,  sondern  auch  die  auftretenden  Personen  mit  möglichst  be- 
zeichnenden musikalischen  Motiven  durch's  Leben  leitet.  Das  alles 
ist  konsequent  entwickelt,  sowohl  ideell  aus  dem  Grundgedanken 
der  Sache  wie  auch  historisch  aus  einer  musikalischen  Richtung 
oder  Bewegung,  von  welcher  wir  in  dem  oben  mitgetheilten  Beispiel 
einen  der  ersten  Anfänge  erblicken.  Deßhalb  konnte  daraus  auch 
ein  Ganzes  entstehen  von  erprobter  Gesammtwirkung ,  angesichts 
dessen  es  nicht  richtig  ist,  einzelne  Theile  aus  jenem  Ganzen  heraus 
zu  heben  und  für  sich  zu  kritisiren,  worin  die  Opponenten  Wagner's 
es  hauptsächlich  versehen  haben. 

Vielleicht  wird  von  Einigen  bezweifelt,  daß  dem  Experimente 
Gerstenberg's  eine  so  weitreichende  Bedeutung  beigelegt  werden 
könne,  wie  hier  geschehen  ist,  weil  es  sich  dabei  doch  nur  um  ein 


Eine  XlaTier-PhantaBie  von  Karl  Philipp  Emanuel  Bach  etc.  21 


entlehntes  Musikstüd^  handle.  Aber  solche  Bedenken  sind  ohne 
Grund.  Denn  nicht  darum  handelt  es  sich  hier,  ob  das  Musikstück 
von  einem  Andern  erborgt  oder  ob  es  ein  selbst  komponirtes  sei, 
sondern  lediglich  darum,  daß  es  eine  instrumentale  Komposition  dar- 
steUt,  in  welche  nun  auf  eine  pathetische  Art  hinein  gesungen  wird. 
Es  handelt  sich  darum,  einen  gemeinsamen  Instrumentalgrund  und 
damit  einen  Gesammtton  für  ein  ganzes  Werk  zu  gewinnen,  sei  es 
auch  noch  so  umfassend.  Und  könnte  solches  geschehen  durch  An- 
schluß an  eine  bereits  vorhandene  Musik,  so  würde  das  in  der  Sache 
keinen  Unterschied  machen.  Gewissermaßen  läßt  sich  hier  derjenige 
Tonsetzer  als  Beispiel  anführen,  welcher  zur  Zeit  auf  diesem  Gebiete 
tonangebend  ist.  Im  a Fliegenden  Holländer«  hat  es  mir  schon  vor 
beinahe  vierzig  Jahren  und  seither  immer  wieder  ein  besonderes 
Vergnügen  gemacht,  bei  jenen  Stellen  zu  verweilen,  die  wie  Theile 
einer  Beethoven'schen  Symphonie  klingen,  nicht  etwa  durch  Ent- 
lehnung der  Motive,  sondern  in  der  Stimmung ^  Entwicklung,  Fort- 
bewegung und  im,  Ausdruck.  Wagner  hat  auch  immer  betont,  seine 
Musik  sei  aus  der  Beethoven'schen  geschöpft  und  nach  dieser  ge- 
bildet, was  unbedingt  richtig  ist.  Man  hat  es  zwar  bestritten  durch 
den  Hinweis  auf  seine  Abhängigkeit  von  Weber,  Hellini,  Meyerbeer 
und  Anderen,  aber  mit  Unrecht,  denn  diese  Abhängigkeit  betrifft 
außer  Kühnen-Effekten  nur  die  Bildung  der  Cantilene,  die  von  Hause 
aus  schwach  bei  ihm  war.  Aber  sein  musikalischer  Lebensquell, 
oder  das  Arsenal,  aus  welchem  er  seine  Waffen  holte,  war  und  blieb 
Beethoven,  ohne  den  sein  Musikdrama  niemals  das  geworden  wäre, 
was  es  wurde.  Es  ist  daher  auch  keine  Übertreibung,  zu  sagen,  daß, 
nachdem  Beethoven's  Musik  die  bewegende  Macht  der  Zeit  geworden 
war,  eine  Weiterführung  und  Neubildung  auf  Grund  derselben,  wie 
wir  sie  in  Wagner  erhalten  haben,  unter  günstigen  Verhältnissen 
über  kurz  oder  lang  erfolgen  mußte,  daß  also  die  Erscheinung 
Beethoven's  diejenige  von  Wagner  mit  geschichtlicher  Nothwendig- 
keit  hervor  gerufen  hat.  Nur  um  dieses  recht  stark  zu  betonen, 
sage  ich,  Beethoven^s  Verhaltniß  zu  Wagner  sei  dem  von  Philipp 
Emanuel  Bach  zu  Gerstenberg  gleich,  insofern  beide  instrumentale 
Vorlagen  lieferten  von  einem  so  vollen  und  eigenthümlichen  musi- 
kalischen Glßhalte,  daß  dadurch  eine  programmartige  Ausdeutung 
nahe  gelegt  und  die  Möglichkeit  geboten  wurde,  in  sie  hinein  zu 
singen,  zu  dichten,  zu  declamiren  und  zu  dramatisiren.  Gegen  die 
Möglichkeiten  aber,  welche  sich  in  dieser  Hinsicht  bei  Beethoven 
finden,  ist  das  von  Bach  Gegebene  winzig  zu  nennen,  denn  sehr 
leicht  ließen  sich  Beethoven'sche  Instrumentalstücke  in  ganze  Scenen 
und  Handlungen  umsetzen.     Hätte  Wagner  passenden   Ortes  solche 


22  Friedrich  Chrysander, 


Symphonieklänge  direkt  benutzt,  so  würde  das  zwar  seiner  Originalität 
Abbruch  gethan,  im  übrigen  aber  die  hier  besprochene  Sache  in 
nichts  geändert  haben.  Er  konnte  freilich  so  etwas  x^e  unternehmen, 
da  sein  YerhältniB  zu  BeethoTen  kein  handwerksmäßiges  war,  son- 
dern ein  künstlerisches,  ein  ideales,  welches  sich  in  selbständigen 
Bildungen  aussprach,  wie  es  bei  den  vielfach  erweiterten  und  kom* 
plicirten  Mitteln,  die  ihm  nöthig  waren,  der  Fall  sein  mußte.  Aber 
um  die  Sache  in  ihrem  genetischen  und  technischen  YerhältniB  recht 
deutlich  zu  machen,  wäre  zu  wünschen,  daß  sich  auch  für  Beethoven 
ein  Gerstenberg  fände ,  der  Symphoniesätze  von  ihm  in  Handlung 
umdichtete,  dabei  die  charakteristischen  Themen  in  personelle  Leit* 
motive  verwandelte,  Leid  und  Freude,  Jubel  und  Wehklage  von  Ein- 
zelnen wie  von  Mengen  erschallen  ließe  mit  Aktionen  von  größter 
Mannigfaltigkeit  und  im  Finale  zugleich  von  einer  so  herzbrechen- 
den Gewalt,  daß  vielleicht  nur  noch  das  jüngste  Gericht  als  letzt- 
mögliche Steigerung  übrig  bliebe. 

Man  fragt  vielleicht,  warum  hier  statt  Wagner  nicht  ein  anderer 
Komponist  zum  Vergleich  herbei  gezogen  sei,  etwa  Schubert,  dessen 
Gesang  offenbar  in  Beethoven's  Musik  das  Heimathsrecht  besitzt  und 
der  auch  zu  dem  Bach -Gerstenberg' sehen  Gesangstück  formverwandte 
Beispiele  liefern  könnte.  Aber  daraufkam  es  hier  nicht  an,  sondern 
die  Absicht  war  nur,  in  möglichst  gerader  und  langer  Linie  die  Ent- 
wicklung zu  zeigen,  und  da  haben  wir  keinen  bessern,  als  Wagner. 
Er  hat  die  Konsequenzen^  welche  nun  einmal  zur  Entwicklung  stan- 
den, am  kühnsten  oder  wenn  man  will,  am  rücksichtslosesten  ge- 
zogen; an  eine  bisher  nicht  in  dem  Maße  stattgefundene  »dithy- 
rambische Verbindung  von  Instrumental-  und  Vokalmusik«,  um 
Grameres  treffenden  Ausdruck  zu  gebrauchen,  hat  er  fest  geglaubt 
und  die  »Wünschelruthe«  zur  Hand  genommen,  um  »manche  tief- 
liegende Goldader  in  den  geheimen  Schachten  der  Musik  zu  er- 
spähen« und  »durch  die  That«  zu  beweisen,  daß  »noch  ganz  andre 
Effekte«  dadurch  gewonnen  werden.  Auch  erblickt  er  mit  Gramer 
die  »bisherigen«  Musik  weisen  »in  eigensinnige  Formen  und  Rhythmen 
eingezwängt.«  Und  an  seinem  in  Begeisterung  gebornen  Werke  hat 
sich  dann  auch  wieder  der  Enthusiasmus  der  Zeitgenossen  entzündet. 
Alles  das  ist  ein  begreiflicher  und  in  dieser  Art  nothwcTndiger  Vor- 
gang.    Wagner  ist  daher  für  uns  hier  der  rechte  Mann. 

Halten  wir  nun  den  formlos -dithyrambischen  oder  pathetisch- 
deklamatorischen Gesang  noch  im  allgemeinen  gegen  die  ältere 
formell  geschlossene  Weise,  —  nicht  in  erschöpfender  Betrachtung, 
sondern  nur  leichthin  vergleichend  — ,  so  leitet  der  erstere  seine 
Berechtigung  hauptsächlich  daraus  her,  daß  er  in  nachdrücklicherer 


Eine  Klavier-Phantasie  von  Karl  Philipp  Emanuel  Bach  etc.  23 


Betonung  dem  Dichterworte  folgen  und  dadurch  einen  bestimmteren, 
mehr  persönlich  charakteristischen.  Ausdruck  erreichen  könne.  Der 
Beifall,  den  diese  Weise  seit  geraumer  Zeit  findet,  scheint  so  etwas 
auch  zu  bestätigen.  Dennoch  liegt  eine  gewisse  Täuschung  zu 
Grunde. 

Diejenige  Weise  und  Stufe  des  Gesanges,  welche  wesentlich  als 
dramatische  Declamation  oder  malerische  Betonung  anzusehen  ist, 
besitzt  verhältnißmäBig  die  geringste  Mannigfaltigkeit.  Ihre  mu- 
sikalischen Mittel  müssen  bei  dem  Ausdruck  verschiedener  Worte 
wesentlich  die  gleichen  bleiben,  und  was  sich  gleicht,  das  ist 
insofern  mehrdeutig  (s.  S.  19).  Wie  demonstrativ  das  Dichterwort 
auch  betont  werde,  wie  vernehmlich  es  dadurch  den  Hörern  in 
die  Ohren  dringe,  musikalisch  ist  ihnen  nichts  Besonderes  damit 
gesagt,  denn  mit  demselben  Recht  und  derselben  Deutlichkeit  wird 
bei  andern  Worten  derselbe  Tonapparat  in  Bewegung  gesetzt.  Nur 
in  den  Instrumenten  spinnt  sich  ein  musikalisches  Gewebe  fort. 
Wo  aber  die  Handlung  oder  die  Bühnen-Situation  eine  solche  ist, 
daB  kein  fesselndes  Gewebe  entstehen  kann  und  dennoch  eine 
breitere  Wort-Darlegung  stattfindet,  da  haben  wir  jene  musikalischen 
Oeden,  die  den  Werken  dieser  Art  ein  früheres  Ende  bereiten  wer- 
den, als  sonst  der  Fall  sein  würde.  Wie  leicht  wäre  über  solche 
öde  Strecken  hinweg  zu  kommen,  wenn  man  sie  nicht  deklamatorisch 
durchschreiten,  sondern  mit  Hülfe  eines  »in  eigensinnige  Formen 
und  Rhythmen  eingezwängten«  Gesanges  überfliegen  wollte!  In  der 
Kunst  oder  auf  dem  Gebiete  des  Idealen  hängt  das  Bestimmtere  des 
Ausdrucks  immer  an  dem  Grade  der  künstlerischen  Gestaltung  und 
steigt  oder  fällt  mit  diesem.  Je  selbständiger,  je  vollendeter  und  in- 
sofern allgemein  gültiger  ein  Gesang  sich  gestaltet,  desto  geeigneter 
wird  er  für  einen  ganz  bestimmten  Ausdruck,  der  damit  zugleich 
ein  Idealausdruck  geworden  ist.  Auf  diese  Weise  einen  sich  zwei 
anscheinend  divergirende ,  in  der  praktischen  Musik  auch  oft  genug 
auseinander  strebende  Theile:  ideale  Allgemeingültigkeit  und  Be- 
stimmtheit des  Ausdrucks.  — 

Weiter  wollen  wir  diese  Betrachtungen  hier  nicht  fortsetzen, 
da  sie  wegen  der  Rücksichtnahme  auf  einen  einzelnen  Fall  auch 
bei  der  größten  Ausführlichkeit  doch  immer  mehr  oder  weniger  ein- 
seitig bleiben  müssen.  Aber  zum  Schlüsse  soll  noch  das  angefügt 
werden,  was  Gerstenberg  und  Bach  in  Bezug  auf  den  oben  behan- 
delten Gegenstand  äußern. 

Gbrstenberg  veröffentlichte  im  Jahre  1770  im  zweiten  Bande 
der  »Briefe  über  Merkwürdigkeiten  der  Litteratura   einen*  größeren 


24  Friedrich  Chrysander, 


Au&atz  »Ueber  Recitativ  und  Arie  in  der  italienischen  Sing-Kom- 
poeitiontt.  Die  Tendenz  desselben,  ist  aus  den  vier  Fragen  ersichtlich, 
welche  er  an  die  Spitze  seiner  Abhandlung  stellt.     Sie  lauten: 

»1.  Ob  nicht  die  Natur  des  Gesanges  darin  bestehe,  daß  er  die 
Worte,  deren  er  sich  als  Zeichen  bedient,  in  Tongemälde  der  Empfin- 
dung verwandelt; 

2.  Ob  nicht  hieraus  folge,  daß  Deklamation  in  keinerlei  Be- 
deutung Gesang  heißen  könne,  so  lange  sie  ihre  Worte  nur  als 
Zeichen,  und  nicht  als  solche  Gemälde  vorträgt: 

3.  Ob  nicht  also  auch  das  Kecitativ,  welches  seine  Grundsätze 
aus  der  Deklamation  herleitet,  von  einer  ganz  andern  Natur,  als  der 
Gesang  sei.     Und  wenn  alles  das  folgt: 

4.  Ob  in  Werken,  die  eigentlich  darauf  angelegt  sind,  daß  sie 
eine  Welt  nachahmen,  wo  Alles  durch  Gesang  ausgedrückt  wird,  so 
heterogene  Theile,  als  Recitativ  und  Arie,  nicht  eine  schlechte  Kom- 
position geben  ?u  ^ 

Mit  der  Deklamation,  die  »ihre  Worte  nur  als  Zeichen  vorträgt«, 
meint  er  die  zu  seiner  Zeit  aufgekommene  melodramatische  Behand- 
lung; diese  verwirft  er.  Bach  war  ebenfalls  gegen  das  Melodram. 
Wenn  man  bedenkt,  daß  Gerstenberg  dies  um  1770  schrieb,  wo 
Gluck  in  Norddeutschland  noch  unbekannt  war,  und  daß  er  mit 
seiner  Forderung  von  d Tongemälden  der  Empfindungen,  unter  Be- 
seitigung von  »Recitativ  und  Arie«,  über  das  Melodram  hinweg  weit 
in  die  Zukunft  blickte,  so  muß  man  ihn  als  einen  der  frühesten 
und  zugleich  selbständigsten  Zeugen  für  eine  beginnende  neue  Rich- 
tung ansehen.  Und  daß  dieser  sich  bildende  neue  Glaube  mehr  ein 
theoretisch -poetischer,  als  ein  musikalischer  war,  kann  Gerstenberg 
ebenfalls  bezeugen. 

C.  Ph.  E.  Bach  veröffentlichte  seine  »Fantasia«,  wie  schon  er- 
wähnt,  als  Übungsstück  zum  ersten  Theil  seiner  Klavierschule.  War 
er,  wie  Gramer  bedauernd  äußert,  »mit  Commentarien  zu  sparsam«, 
so  werden  wir  das  um  so  mehr  mit  Interesse  lesen,  was  er  als  Kom- 
ponist selber  über  sein  Produkt  zu  sagen  hat.  Er  schreibt:  »Wir 
haben  oben  angeführt,  daß  ein  Cla^ieriste  besonders  durch  Fantasien, 
welche  nicht  in  auswendig  gelernten  Passagen  oder  gestohlenen  Ge- 
dancken  bestehen,  sondern  auis  einer  guten  musikalischen  Seele  her« 
kommen  müssen,  das  Sprechende,  das  hurtig  überraschende  von 
einem  Affecte  zum  andern,  alleine  vorzüglich  vor  den  übrigen  Ton- 
Künstlern   ausüben   kan:    Ich  habe   hiervon   in   dem  letzten  Probe- 


*   (terstenhergs   Vermischte   Schriften  in   drei  Bänden.    vAltona   1815 — 181G  ; 
III,  353—354. 


Eine  Klavier-Phantasie  von  Karl  Philipp  Emanuel  Bach  etc.  25 


Stück  eine  kleine  Anleitung  entworfen.  Hierbey  ist  nach  der  ge- 
wöhnlichen Art  der  schlechte  Tact  vorgezeichnet,  ohne  sich  daran 
zu  binden,  was  die  Eintheilung  des  Gantzen  betrift;  aus  dieser  Ur- 
sache sind  allezeit  bey  dieser  Art  von  Stücken  die  Abtheilungen  des 
Tactes  weggeblieben.  Die  Dauer  der  Noten  wird  durch  das  vor- 
gesetzte Moderato  überhaupt  und  durch  die  Yerhältniß  der  Noten 
unter  sich  besonders  bestimmt.     Die  Triolen  sind  hier  ebenfalls  durch 

ff  ^^^ 

die  blosse  Figur  von  drey  Noten  zu  erkennen.  Das  Fantasiren  ohne 
Tact  scheint  überhaupt  zu  Ausdrückung  der  Affecten  besonders  ge- 
schickt zu  seyn,  weil  jede  Tact-Art  eine  Art  von  Zwang  mit  sich 
führet.  Man  siebet  wenigstens  aus  den  Kecitativen  mit  einer  Be- 
gleitung, daß  das  Tempo  und  die  Tact- Arten  oft  verändert  werden 
müssen,  um  viele  Affecten  kurtz  hinter  einander  zu  erregen  und  zu 
stillen.  Der  Tact  ist  alsdenn  oft  bloß  der  Schreib- Art  wegen  vor- 
gezeichnet, ohne  daß  man  hieran  gebunden  ist.  Da  wir  nun  ohne 
diese  Umstände  mit  aller  Freyheit,  ohne  Tact,  durch  Fantasien  dieses 
auf  unserm  Instrumente  bewerckstelligen  können,  so  hat  es  dieser- 
wegen  einen  besondem  Vorzug. «  (Versuch,  erster  Theil,  S.  109 — 110 
der  2.  Auflage  von  1759.) 

Das  ist  anscheinend  rein  technisch  und  didaktisch  gehalten, 
überschreitet  nirgends  eine  fachmusikalische  Grenze,  zeigt  also,  daß 
der  Autor  in  seiner  engeren  Heimath  auskömmlichen  Raum  fand, 
und  gewährt  dennoch  einer  freien  Auslegung  den  weitesten  Spiel- 
raum. So  verfährt  ein  Künstler,  bei  welchem  Geist  und  Maßhalten 
im  Gleichgewicht  stehen.  Die  »gute  musikalische  Seeletr  war  seine 
bewegende  Kraft,  und  wo  diese  waltet,  da  gedeiht  Kunstwürdiges 
in  allen  Formen  und  Weisen. 

Philipp  Emanuel  Bach  mußte  begreiflicher  Weise  etwas  zurück 
treten,  nachdem  sein  großer  Vater  in  neuerer  Zeit  so  glänzend  her- 
vor kam.  Aber  er  ist  dabei  allzu  sehr  in  den  Hintergrund  gedrängt, 
und  es  wäre  ein  schöner  Erfolg  dieses  kleinen  Aufsatzes,  wenn  der- 
selbe dazu  beitragen  könnte,  die  Aufmerksamkeit  auch  wieder  mehr 
auf  Sebastian's  geistreichen  Sohn  hin  zu  lenken. 


Gluck  nnd  Calsabigi. 

Von 

Heinrich  Welti. 


Gluck  oder  Calsabigi?  Wer  von  den  beiden  war  es,  der  die 
ersten  Anregungen  zu  r>Orfeo  ed  Euridicea  gab  und  die  charakte- 
ristischen Grundzüge  der  neuen  Opern  Schöpfung  feststellte? 

Mit  dieser  ebenso  schwierigen  als  wichtigen  Frage  sollten  natur- 
gemäß alle  Biographen  Gluck's  beginnen,  wenn  sie  sich  anschicken, 
das  große  Kapitel  von  den  Anfängen  der  sogenannten  Opemrefor- 
mation  zu  schreiben.  Daß  der  verdiente  Anton  Schmid,  der  einzige 
unter  den  vielen  Gluckbiographen,  der  sich  um  eine  quellenmäßige 
Erforschung  dieses  Künstlerlebens  bemühte,  das  nicht  gethan  hat, 
liegt  sowohl  an  der  ihm  eigenen,  heute  veralteten  Auffassung  der 
Pflichten  eines  Geschichtsforschers,  als  im  Besondem  an  den  außer- 
ordentlichen Hindernissen,  die  sich  der  Lösung  gerade  dieser  Streit- 
frage entgegenstellen. 

Der  schriftliche  Nachlaß  Gluck's  ging  bekanntlich  zum  größten 
Theil  bei  einem  Brande  seines  Hauses  in  Flammen  auf;  ob  und  wo 
sich  die  Papiere  seines  Textdichters  erhalten  haben,  ist  unbekannt 
und,  bei  dem  unstäten  Leben  Calsabigi's,  schwer  zu  ermitteln.  Man 
kann  also  kaum  hoffen,  daß  es  gelingen  werde,  für  die  Darstellung 
des  Verhältnisses  zwischen  Dichter  und  Tonsetzer  eine  völlig  sichere 
Grundlage  zu  gewinnen.  Dagegen  läßt  sich  aus  gedruckten,  bis- 
her theils  übersehenen,  theils  nicht  genügend  ausgebeuteten  Quellen 
eine  Reihe  von  Schlüssen  ziehen,  die  wohl  geeignet  sind,  einen 
etwas  deutlicheren  Begriff  von  den  fraglichen  Dingen  zu  geben. 
Als  ein  wenn  auch  nothdürftiger  Ersatz  für  die  zur  Zeit  fehlenden 
authentischen  Urkunden  dürfen  sie  sowohl  auf  Beachtung  als  auf 
Kachsicht  hoffen. 

Es  liegen  zwei  wichtige  Aussagen  über  das  Verhältniß  der  beiden 
Männer  zueinander  und  zur  Opemreform  vor;   die  eine  von  Gluck, 


Oluck  und  Calsabigi.  27 


die  andere  von  Calsabigi,  aber  beide  aus  einer  späteren  Zeit  als  der 
ihres  gemeinschaftlichen  Schaffens.  Trotzdem  kann  der  Bericht 
Gluck's  als  durchaus  sachgemäßes  und  entscheidendes  ZeugniB  gelten, 
denn  er  ist  zweifelsohne  aus  freien  Stücken  und  ohne  alle  Neben- 
absichten erstattet.  Er  findet  sich  in  einem  Briefe  des  Tondichters 
an  den  Herausgeber  des  r^Mercure  de  France«  und  lautet^.  nJe  me 
ferois  encore  un  reproche  pltis  sensible  si  je  consentois  ä  me  laisser 
attribuer  linvention  du  nouveau  genre  cTopira  itdlien  dont  le  succh  a 
justiße  la  ientative :  c*est  ä  M.  de  Cahabigi  qtien  appartient  le  prin- 
cipal  merite;  et  si  ma  mmiqtse  a  eu  quelqu'  eclat  je  crois  devoir  re- 
eannoitre  que  c^est  ä  lui  que  J^en  suis  redevable,  puisque  c^est  lui  qui 
nia  mis  ä  portee  de  developper  les  ressources  de  man  art.  Cet  auteur 
plein  de  genie  et  de  talenty  a  suivi  une  route  peu  connue  des  Italiens  dans 
ses  poemes  dOrphee,  d'Alceste,  et  de  Paris.  Ces  ouvrages  sont  rem- 
pUs  de  ces  situations  heureuses ,  de  ces  traits  terribles  et  pathitiques 
qui  fournissent  au  compositeur  le  moyen  d^exprimer  de  grandes  passions, 
de  creer  une  musique  inergique  et  touchante,  Quelque  talent  qyiait  le 
compositeur^  il  ne  fera  jamais  que  de  la  musique  midiocre^  si  le  poete 
n^ezcite  pas  en  lui  cet  enthousiasme  sans  lequel  les  productions  de  tous 

les  arts  sont  faibles   et  languissantes «     Mit  diesen,   stellenweise 

an  die  Sprache  seiner  berühmten  Vorreden  anklingenden  Worten, 
welche  1773  im  Februarstücke  des  französischen  Mercurs  zu  allge- 
meiner Kenntniß  gebracht  wurden,  gesteht  Gluck  seinem  Textdichter 
unumwunden  das  Hauptverdienst  an  der  Reformation  der  Oper  zu* 
Er  bestätigt  damit  nur,  was  er  in  Bezug  auf  Alceste  schon  im  Jahre 
1769,  in  der  Vorrede  zur  Partitur  dieser  Oper  gesagt  hatte,  als  er 
ausdrücklich  erklärte  2:  nPer  buona  sorte  si  prestava  a  maratiglia  al 
mio  disegno   il  libretto,   in  cui  il  celebre   autore  imaginando  un  nuovo 

piano  per  il  drammatico «,    eine   Aussage,    die    nur  durch   ein 

unbegreifliches  Versehen  dahin  gedeutet  werden  konnte,  daß  »der 
berühmte  Verfasser  der  Alceste,  Herr  von  Calzabigi,  meinen  Plan 
eines  lyrischen  Dramas  durchführte«,  wie  Antoü  Schmid  und 
seine  zahlreichen  Nachschreiber  Gluck  behaupten  lassen  3.  Gluck 
hat  dies  nicht  geschrieben,  sondern  auch  hier  anerkannt,  daß  der 
Librettist  es  gewesen,  der  einen  neuen  Grundplan  für  das  Drama 
ersonnen  habe. 

Schwerer  fällt   es,    den  Werth  zu   bestimmen,  der   dem  Bericht 


1  Memoires  pour  servir  ä  fhxBtoire  de  la  r Solution  opMe  dans  la  tnusiqtte 
par  M.  le  Chevalier  Gluck,     A  Naples,  et  se  trouve  ä  Paris  1781  p,  8/. 

2  Alceste,  tragedia,   messa  in  musica  dal  Signor  Cavagliere  Cristoforo  Gluck, 
In   Vienna,  nelia  stamperia  aulica  di  Giovanni  Tmnmaso  de  Trattnern,  1769.  p.  8. 

*  VgL  meinen  Aufsatz :  Zwei  Vorreden.    Grenzboten  1888  p.  269  ff. 


28  Heinrich  Welti. 


Calsabigi's  beigemessen  werden  darf.  Derselbe  stammt  aus  dem 
Jahre  1784,  wurde  mithin  22  Jahre  nach  den  Ereignissen  abgefaßt 
und  zwar  offenbar  in  einem  Augenblick  der  Erbitterung  und  des 
Unmuthes  über  Gluck.  Schon  Gustave  Desnoiresterres,  der  in  seinem 
yerdiensty ollen  Buche  y>Glt6ek  et  Piccinnin  (Paris  1872)  die  wichtige 
Urkunde  zuerst  wieder  zur  Kenntniß  brachte,  hat  daher  seine  Folge-* 
rungen  nur  mit  großer  Vorsicht  gezogen  U.  Zunächst  ist  der  Anlaß 
festzuhalten,  der  Calsabigi  die  Feder  zu  seiner  Erklärung,  die  man 
auch  eine  »Enthüllung«  nennen  könnte,  in  die  Hand  zwang. 

Nach  dem  großen  Erfolge  des  »Orphee«  und  der  ))Alceste(f  auf 
der  französischen  Bühne,  wandte  sich  1778  Gluck,  so  erzählt  Calsa- 
bigi in  seinem  Briefe  an  den  y^Mercure  de  France  (tj  *^vieder  an  seinen 
italienischen  Textdichter,  mit  der  Bitte  um  ein  neues  Buch.  Calsa- 
bigi sandte  ihm  eine  »Semiramis((,  die  anfänglich  dem  Tondichter 
wohlgefiel,  dann  aber  mit  Kücksicht  auf  Schwierigkeiten  der  Be- 
setzung bei  Seite  gelegt  wurde.  Darauf  machte  sich  der  rührige 
Italiener  auf  Gluck's  Betreiben  an  die  dramatische  Bearbeitung  des 
Danaidenstoffes  und  sandte  auch  dieses  Drama,  an  dem  er,  wie  aus 
einem  jüngst  veröffentlichten  Briefe  an  den  Bologneser  Montefani 
hervorgeht,  Ende  Juli  1778  noch  arbeitete,  im  November  nach 
Paris,  wo  der  Ritter  eben  zu  den  Vorbereitungen  für  die  Aufführung 
seiner  tauridischen  Iphigenie  erwartet  wurde.  Von  da  ab  hörte 
Calsabigi  nichts  mehr  über  das  Schicksal  seines  Werkes  bis  ihm  im 
Frühling  1784  das  Textbuch  zu  Salieri's  »les  Danaidesa  in  die  Hände 
kam,  in  dessen  »Avertissement«  au  lesen  stand:  r^On  nous  a  corn- 
munique  vn  manuscrit  de  M,  Calzahigi^  auteur  de  VOrphee  et  de 
tAlceste  italiens^  dont  nous  nous  sommes  beaucoup  aides«.  Gluck  hatte 
also  ohne  Wissen  und  Willen  des  Dichters  die  Tragödie  nicht  nur 
umarbeiten  lassen,  sondern  sie  auch  einem  anderen,  noch  wenig  er- 
fahrenen Tonsetzer  zur  Komposition  abgetreten.  Keine  Frage,  daß 
Calsabigi  die  besten  Gründe  hatte,  über  Ghick  sehr  ungehalten  zu 
sein.  Das  Schreiben,  das  er  unterm  Datum  des  25.  Juni  1784  von 
Neapel  aus  an  den  Herausgeber  des  »Mercure  de  France  a  erließ,  ist 
denn  auch  begreiflicher  Weise  in  etwas  erregtem  Tone  gehalten  und 
verräth  namentlich  in  seinem  zweiten  Theile  nicht  nur  den  erbitterten 
Verfasser,  sondern  auch  einen  in  seiner  Eitelkeit  gekränkten  Mann. 
Der  Umstand,  daß  der  y)Mercurea  in  einem  vorhergehenden  Berichte 
über  die  Danaiden  Gluck  als  den  »  createur  de  la  musique  dramatigue  a 
bezeichnet  hatte,  giebt  Calsabigi  den  willkommenen  Anlaß,  über 
seinen  Antheil  an  dem   Reforraationswerke  Zeugniß   abzulegen.     Er 


>  A.  a.  O.  p.  351  ff. 


Oluck  und  Calsabigi.  29 


geht  dabei  von  den  Anschauungen  aus«  die  ihn  vor  26  Jahren,  also 
um    1759    beschäftigten,    und   beseichnet    dieselben    durch    folgende 
Lehrsätze:     »J'ai  pense^  .  .  .  que    la  seule  musique  convenable  ä   la 
poesie  dramatique  et  surtout  pour  le  dialogue   et  pour    les  airs  que 
nous  appeions  nd'azione«,   etoit  celle  qui  approeheroit  davantage  de  la 
declamation  naturelle^   animier   energique\   qtie   la  declamation  n' etoit 
elle-mSme    qu'une    mtisique  imparfaite:    qiian  pourrait   la   noter    teile 
quelle  estf  fi  nous  amons  trotive  des  signes  en  assez  grand  nombre  pour 
marquer  tant  de  tons,   tant  dinflexions^    tant  d'SclatSf  d'adoucissemens, 
de  nuances  variees,  potir  aifisi  dire^   ä  Vif^ni^   qtion  donne  ä  la  voix 
en   deolamant.     La  musique^  sur  des    vers   quelconqueSj   n^etant  dotic, 
d' apres  mes  idees,   qu^une  declamation  pbts  savante,  plus  etudiSe,   et 
enrichie  encore  par  Vharmonie    des    accompagnemens ,  j^imaginai  que 
c  etoit  lä  taut  le  secret  pour  composer  de  la  musique  excellente  pour 
un  dramey   que  plus  la  poesie  etoit  serree,   energique^  passionnee,   tou-- 
ckantey  harmonieuse,    et  plus  la  musique  qui  chercheroit  ä  la  bien  ex- 
primer f    ä apres   sa   veritable   declamation^    seroit   la  musique  vraie  de 
cette  poesie,  la  musique  par  excellence «.     Mit  dieser  Anschauung  vom 
Werthe    eines  Operntextes   und  von    der  Bedeutung   der    Dichtung 
als  MutterschoB  der   Musik,    aus   dem  das  Zauberwort   des   genialen 
Tonsetzers   die    im  Keime  bereits   vorhandene   Melodie    zum  Leben 
rufe,  kam  Calsabigi,  wie  er  erzählt,   1761  nach  Wien.    Der  Intendant 
Graf  Durazzo,  dem  er  seine  Orpheusdichtung  vorgelesen,  bat  ihn,  die- 
selbe dem  Theater  zu  übergeben.    T>J'y  consentis«  berichtet  Calsibigi 
weiter,  » ä  la  condition  que  la  musique  en  seroit  faite  ä  ma  fantaisie, 
II  menvoya  M.  Gluck^    qui,  me  dit-ü  (Durazzo)  se  prSteroit  ä  touf.u 
Hier  schaltet  der  Briefschreiber  die  Bemerkung  ein,   daß  Gluck  da- 
mals keineswegs  zu  den  ersten  Meistern  seiner  Kunst  gezählt  worden 
sei    lind    daß    Haße,    Buianello,    Jomelli   und    Perez   mehr   galten. 
»iYm/  ne  conoissoit  la  musique  de  declamatioft,  comme  Je  Vappelle\  et 
pour   M.    Gluck,   ne  pronongaut  pas  bien  notre  langue,  il  auroit  ete 
tmpossible  de  declamer  quelques  vers  de  suite.    Je  luißs  la  lecture  de 
mon  Orphee,  et  lui  en  declamai  plusieurs  morceaux  ä  plusieurs  reprises, 
lui  indiquant  les  nuances  que  je  mettois  dans  ma  declamation^   les  sus- 
pe/isi&fiSj    la  lenteur,    la  rapidite,    les  sons  de  la  voix   tant 6t   charges 
tant6t  affoiblis  et  negliges  dont  je  desirois  qti il  ßt  usage  pour  sa  com- 
Position,    Je  le  priai  en  mSme  temps  de  bannir  i  passaggi,  le  cadenze, 
i  ritomelli  et  tout  ce  qu'on  a  mis  de  gofhique,  de  barbare ^   d! extrava- 
gant dans  notre  musique.     M.   Gluck  entra  dans  mes  vuesc^.     Da  es 
aber  dem  Tonsetzer  schwer  fallen  mußte,   den  Eindruck  der  Dekla- 
mation,   die  Schattirungen    im  Vortrage    des   Dichters   festzuhalten, 
sann  Calsabigi  auf  ein  Mittel,  seinen  Willen  und  seine  Auffassung 


30  Heinrich  Welti, 


sicher  zum  Ausdruck  bringen  zu  lassen.  »«Tis  cherchaistf  fährt  er 
forty  lides  eignes  pour  du  moina  marquer  les  traita  les  plus  saillans, 
Ten  inventai  quelquea^uns ;  je  les  plagai  dans  les  interligneSy  taut  le  long 
dOrphee.  C^est  sur  un  pareil  manuscrüj  accompagne  de  notes  ecrites 
aux  etidroiis  oü  les  signes  ne  donnoient  qu^une  intelligence  ificompldte, 
que  M,  Gluck  composa  sa  tnusique.  J'en  ßs  d^autant  depuis  pour 
Alceste,  Cela  est  ii  vrai  que  le  succes  de  celle  d!Orphee  ayant  ete 
indecis  aux  premidres  representations^  Jf.  Gluck  en  rejetoit  la  faute 
sur  moiv.  Ebenso  habe  er,  erzählte  Calsabigi,  zu  »Semiramis«  und 
zu  den  »Danaiden«  eingehende  Vorschriften  und  Erläuterungen  für 
Gluck  geschrieben,  die  er  wohl  eines  Tages  veröffentlichen  könnte, 
und  beschließt  dann  diesen  wichtigsten  Theil  seines  Berichtes  mit 
der  Folgerung:  »J^ esper e  que  vous  conviendrez.  monsieur,  d^aprds  cet 
expose,  que  st  M,  Gluck  a  ete  le  cr^ateur  de  la  tnusique  drafnatiquCj 
il  ne  Va  pas  creee  de  rien.  Je  lui  ai  foumi  la  mattere  ou  le  chaos  si 
vous  voulez;  Vhonneur  de  cette  creation  notis  est  donc  commune. 

Es  hält  ziemlich  schwer,  in  diesen  Darlegungen  Dichtung  und 
Wahrheit  von  einander  zu  scheiden,  doch  dürfte  selbst  bei  der 
strengsten  Kritik  ein  Übergewicht  der  letzteren  über  die  erstere  fest- 
zustellen sein.  Zweifelhaft  erscheint  die  von  Calsabigi  so  stark  be- 
tonte Unkenntniß  des  italienischen  Sprachgebrauches,  und  damit  die 
unbedingte  Noth wendigkeit  der  vom  Dichter  erfundenen  Hülfs- 
mittel  zur  Erzielung  einer  natürlichen  Deklamation,  denn  Gluck 
hatte  im  Jahre  1761  bereits  20  italienische  Opern  komponirt  und 
dabei  schon  öfter  Proben  sinngemäßer  und  feiner  Wortbetonung  ge- 
geben. Dagegen  ist  es  durchaus  glaubhaft,  daß  der  Textdichter, 
der,  wie  wir  sahen,  von  der  Grundbedeutung  und  Rolle  der  Dichtung 
in  der  Oper  eine  sehr  hohe  Meinung  hatte,  alle  Sorgfalt  verwendete, 
damit  seine  Verse  auch  trotz  der  Musik  ordentlich  zur  Geltung 
kamen,  und  daß  er  deshalb  sein  Manuskript  mit  Zeichen  versah, 
welche  die  Auffassung  und  richtige  Wiedergabe  seiner  Worte  er- 
leichtern sollten.  Ein  Theil  dieser  Bemerkungen  ist  uns  allem  An- 
scheine nach  in  den  Bandnoten  erhalten^  welche  den  Abdruck  des 
»Orfeotf  in  der  Neapeler  Ausgabe  von  Calsabigi's  Werken  begleiten*; 
es  sind  Weisungen  wie  für  einen  Schauspieler,  bald  den  Ton  zu  er- 
höhen, bald  ihn  zu  mäßigen,  hier  zu  beschleunigter,  dort  zu  lang- 
samer Rede.  Vergleicht  man  diese  Glossen  mit  dem  musikalischen 
Texte  Gluck's,  so  wird  man  alsbald  gewahr,  daß  der  Tonsetzer  den 
Andeutungen  des  Dichters,  wenn  auch  nicht  immer,  so  doch  öfter 
entsprochen  hat.    So  hat  z.  B.  Calsabigi  zum  dritten  Chorsatze  seiner 


*  Poesie  e  Prose  diverse  di  Ranieri  de  Calsabigi  \    Napoli   1793.  /.  p.  1 — 29. 


Gluck  und  Calsabigi.  3  l 


Furien  (Orfeo  II.  1)  die  Bemerkung  »Raddolcito  e  con  espressione  di 
qtuüche  compatimentody  zum  vierten:  ncon  maggior  dolcezzavj  zum 
fünften  (le  porie  siridano):  nsempre  piü  raddolcitov^  was  Gluck  durch 
Steigerung  der  Ausdrücke  in  den  dynamischen  Vorschriften :  » Un 
poco  lento «,  dann  » sotto  voce,  un  poco  lento «,  schließlich :  » lento «  be- 
folgt. Ebenso  läßt  sich  bei  Einzelheiten  in  der  Gestaltung  der 
Recitative  eine  Übereinstimmung  mit  den  Anweisungen  des  Dichters 
feststellen;  so  in  der  ersten  Scene  des  dritten  Aktes,  wo  dem  Finger- 
zeig »con  sorpresa^  durch  die  harmonische  Fortschreitung  der  Be- 
gleitung, dem  Wunsche  Tncon  fretta^  durch  einen  bewegteren  Rhyth- 
mus Genüge  gethan  wird. 

Doch  das  sind  lauter  Kleinigkeiten,  und  wenn  sich  in  Orfeo. 
Alceste  und  Paride  noch  viel  mehr  Stellen  nachweisen  ließen,  in  denen 
Gluck  möglicherweise  durch  Calsabigi's  Vorschrift  zu  seiner  Art  der 
Betonung  und  Rhythmisirung  gekommen  ist,  als  sich  in  der  That 
nachweisen  lassen,  so  wäre  das  noch  kein  zureichender  Grund  zu 
dem  anmaßlichen  Hintergedanken,  der  aus  den  Enthüllungen  des 
gekränkten  Dichters  hervorlugt.  Tausend  und  aber  tausend  feine 
Bemerkungen  schaffen  noch  kein  lebensfähiges  Kunstwerk  und  Orfeo 
wäre  trotz  aller  unmittelbaren  und  mittelbaren  Verdienste  des  Dich- 
ters das  unsterbliche  Meisterwerk  nicht  geworden,  wenn  nicht  Gluck*s 
Schöpferodem  dem  Gebilde  des  Poeten  Wärme  und  Leben  einge- 
flößt hätte. 

Auffällig  erscheint  es  auch  und  spricht  nicht  eben  für  die  über- 
mäßige Bedeutung  der  deklamatorischen  Zeichen  Calsabigi^s,  daß  in 
einem  anderen,  zweifelsohne  von  ihm  inspirirten.  vielleicht  sogar  von 
ihm  selbst  geschriebenen  anonymen  Bericht  über  die  Entstehung  des 
Orpheus,  in  keiner  Weise  diese  wichtige  und  geheimniß volle  Zei- 
chensprache erwähnt  wird.  Dieser  Bericht  ist  in  der  Abfertigung 
enthalten,  die  ein  Anhänger  und  genauer  Kenner  Calsabigi's,  seines 
Lebens  und  seiner  Werke,  dem  Stefano  Arteaga  für  die  in  dessen  »/e 
rivoltmoni  del  teatro  musicale  italianoa  (1785)  ausgesprochene  schroffe 
und  ungeschickte  Beurtheiluug  zu  Theil  werden  ließ.  Dieselbe  er- 
schien 1790  zu  Venedig  unter  dem  satirischen  Titel:  »Riposta  \  che 
ritrovd  casualmente  \  nella  gran  cittä  di  Napoli  \  il  Licenziato  \  Don 
Santigliano  \  di  Gilblas,  y  Guzman,  y  Tormes,  y  Alfarace  \  Dis- 
cendente  per  linea  patemay  e  materna  da  tutti  \  qiiegli  insigni  Perso- 
naggi  delle  Spagne;  \  Alla  critica  ragionatissima  \  delle  Poesie 
Drammatiche  del  C.  d^  Calsabigi)  fatta  \  del  Baccelliere  D,  Stefano 
Arteaga  suo  illustre  compatriotto « .  Im  5.  und  besonders  im  8.  Kapitel 
dieser  Schrift,  das  den  Anfang  der  eigentlichen  Erwiderung,  bildet, 
wie  sie  ai^eblich  von  einem  neapolitanischen  Freunde  Calsabigi's  ver- 


32  Heinrich  Welü, 


faßt  und  von  dem  mythischen  Don  Santigliano  ans  Licht  gezogen  wurde, 
wird  die  Sachlage  so  dargestellt:  Das  Wiener  Publikum  begann  sich 
bei  den  einförmigen  Dramen  des  Metastasio  zu  langweilen,  der  In- 
tendant, welcher  in  dem  Schöngeist  Calsabigi  einen  Dramatiker  wit- 
terte, bat  denselben  um  allfällige  Dramenmanuskripte.  Calsabigi  gab 
dem  höheren  Wunsche  nach,  schrieb  »Orfeo«  und  wählte  Gluck 
zum  Tonsetzer  seines  Dramas  (p.  42).  Gluck  hatte  zuvor  schon 
seit  30  Jahren  zu  Metastasianischen  Dramen  Musik  geschrieben,  doch 
war  dieselbe  nach  dem  Urtheile  des  Ungenannten  nur  mittelmäßig 
gewesen,  mit  Ausnahme  einiger  weniger  Arien,  in  welchen  er  Dank 
seinem  Genie  dahin  gelangt  war,  eine  erhabene  Melodie  oder  Har- 
monie zu  ersinnen.  i)Fu  dunque,<t  folgert  der  Anonymus  weiter,  y>ü 
Calsabigi  che  ßtialmente  inspird  a  Gluck  mia  musica  maraviffliosa  anche 
sopra  una  pessima  (nach  Arteaga's  Urtheill)  poesia,  quando  ßyiallora 
non  ne  aveva  scriita,  che  della  tolgare  sopra  i  Drammi  divini  (nach 
Arteaga!)  e  la  Celeste  Poesia  del  3/.«  • 

Auch  hier  begegnet  uns  wieder  die  bestimmte  Aussage,  daß 
Calsabigi  es  gewesen,  der  Gluck  zum  Tonsetzer  seiner  Oper  gewählt 
habe,  eine  Behauptung  die  trotzdem  recht  anfechtbar  erscheint,  da 
sie  durchaus  dem  damaligen  Brauche  widerspricht  und  offenbar  dazu 
dienen  soll,  den  Textdichter  als  den  ersten  und  eigentlichsten  gei- 
stigen Urheber  der  Opemreform  zu  erweisen.  Auch  mit  der  Be- 
gründung, die  der  Ungenannte  für  obigen  Satz  liefert,  hapert  es  ein 
wenig,  obwohl  ihr  die  Bemerkung,  »es  weiß  Jedermann  genau<!r  vor- 
ausgeschickt wird.  Nach  dem  heutigen  Stand  der  Gluckforschung 
wenigstens  wird  die  Nachricht,  daß  sich  Metastasio  und  Gluck  ge- 
genseitig verachteten,  nur  mit  Vorsicht  aufzunehmen  sein,  obwohl 
man  dem  Schreiber  durchaus  Glauben  beimessen  darf,  wenn  er  er- 
zählt, die  Anschauung  der  beiden  Männer  wäre  damals  eine  schnur- 
gerade entgegengesetzte  gewesen.  Gluck  habe  die  ausgeklügelten 
Empfindungen,  die  politischen,  philosophischen  und  moralischen  Sen- 
tenzen, die  Gleichnisse,  die  Wortspiele  und  die  kleinen,  manierlichen 
Leidenschaften  des  Metastasio  gehaßt  und  für  einfache,  natürliche 
Empfindung,  für  große,  glühende  Leidenschaften  im  Höhepunkt  ihrer 
KraSft  und  ihrer  theatralischen  Wirksamkeit  geschwärmt.  So  mag  es 
wohl  gewesen  sein,  wie  ja  auch  der  Wortlaut  der  Vorrede  zu  Alceste 
ähnlich  klingt. 

Uns  ist  an  der  Darstellung,  wie  sie  in  Obigem  der  Ungenannte 
giebt,  vor  allem  das  Eine  wichtig:  sie  weist  nachdrücklich  und  aus- 
führlich darauf  hin,  daß  auch  Gluck  innerlich  mit  dem  Wesen  der 
alten  opera  seria  Metastasianischen  Zuschnittes  fertig  war  und  ein 
neues  Vorbild  für  das  gesungene  Drama  im  Geiste  trug,  als  Calsabigi 


'f 


Gluck  und  Calsabigi.  33 


mit  seinem  Oifeotexte  an  ihn  herantrat.  Damit  ist  jedenfalls  die 
Gleichberechtigung  der  Ansprüche,  die  Textdichter  und  Tondichter 
anf  die  Reform  der  Oper  erheben,  anerkannt. 

Wie  Gluck  zu  seiner  reformatorischen  That  gedrängt  wurde  und 
unter  welchen  Einflüssen  der  Gedanke,  das  Bild  des  neuen  Kunst- 
werkes in  ihm  klar  wurden,  das  gehört  in  ein  anderes  Kapitel. 
Grenug,  daß  hier  betont  werde,  daß  Grund  und  Ursache  der  Gluck'- 
sehen  Neuerung  vor  allem  aus  dem  Entwickelungsgang  der  Oper  und 
aus  der  Eigenart  der  Begabung  wie  dem  geistigen  Wesen  des  Refor- 
mators zu  begreifen  sei. 

Dagegen  ist  hier  der  Ort,  nach  den  geistigen  Strömungen  zu 
forschen,  die  Calsabigi  um  das  Jahr  1761  zu  demselben  Standpunkt 
führten,  auf  dem  Gluck  &ich  befand,  und  der  Entwickelimg  nachzu- 
gehen, die  den  italienischen  Finanzmann  und  Schöngeist  aus  einem 
der  größten  Verehrer  zum  schlimmsten  Gegner  Metastasio's  machten. 

Werfen  wir  zu  diesem  Zwecke  einen  Blick  auf  Leben  und  Werke 
des  Orfeodichters !  Leider  kann  es  bloß  ein  flüchtiger  Blick  sein, 
denn  nur  spärliche  Kunde  über  Schicksale  und  Wirken  dieses  Dichters, 
der  zu  den  vielen  abenteuerlichen  Gestalten  in  der  Litteraturge- 
schichte  des  18.  Jahrhunderts  gehört,  ist  auf  uns  gekommen  ^  Ra- 
nieri  de'  Calsabigi  (so  und  nicht  Calzabigi  schrieb  er  sich  stets)  er- 
blickte im  Jahre  1715  zu  Livorno  das  Licht  der  Welt.  Ueber  seine 
Jugend,  Studien  u.  s.  w.  wissen  wir  nichts,  bekannt  ist  nur,  daß  er 
Geschäftsmann  wurde,  dabei  aber  doch,  wie  aus  seiner  Zugehörig- 
keit zur  Akademie  von  Cortona  erhellt,  den  schöngeistigen  und  litte- 
rarischen Dingen  eine  rege  Theilnahme  widmete.  Die  erste  an  die 
Oeffentlichkeit  gelangte  Frucht  dieser  Bemühungen  war  eine  um- 
fängliche Abhandlung  über  die  Dichtungen  des  Metastasio,  die  er 
einer  von  ihm  im  Jahre  1755  besorgten  Ausgabe  des  kaiserlichen 
Hofpoeten  vorausschickte.  Von  Paris  aus,  wo  er  diese  echte  und 
gerechte  Akademikerarbeit  veröffentlicht  hatte,  kam  er  1761  als  An- 
gestellter der  niederländischen  Rechnungskammer  nach  Wien.  Hier 
schuf  er  im  Verein  mit  Gluck  »Orfeo  ed  Euridice«  (1762),  »Alceste« 
(1767)  und  »Paride  ed  Elena«  (1770).     Seine  Verdienste   fanden   die 


1  Die  landläufigen  Lexika  und  musikalischen  Handbücher  übergehen  ihn 
alle;  auch  unter  den  biographischeh  Nachschlagswerken  der  Italiener  findet  sich 
nur  eines,  das  seiner  gedenkt:  die  ^Biografia  degli  Italiani  illustri  nelle  scienze, 
Uttere  ed  arti  del  secolo  18,  e  de'  cantemporanei,  cofnpilata  da  Letter ati  italiani  di 
ogni  protfincia  e  publicati  per  cura  del  profeasore  Emüio  de  Tipaldo.  Venezia  1834. 
Im  3.  Band  dieses  lObändigen  Werkes  findet  sich  (p.  149  f.)  eine  kleine  von  dem 
bekannten  Bibliographen  B.  Oamba  verfaßte  Lebensbeschreibung  des  Calsabigi, 
der  wir  unsere  Angaben  entnehmen. 

1891.  3 


34  Heinrich  Welti, 


gebührende  Würdigung  durch  Verleihung  des  Hofrathstitels  und  die 
Bewilligung  einer  Pension  von  2000  Gulden.  Aus  diesen  günstigen 
Verhältnissen  wurde  er  durch  den  Befehl  der  Kaiserin  Maria  The- 
resia,  seiner  frühern  Gönnerin  vertrieben,  weil  er  in  einen  Theater- 
skandal zu  eng  verwickelt  gewesen  war.  Er  wandte  sich  nach  der 
Heimath  zurück  und  1778  sehen  wir  ihn  von  Pisa  sich  um  die  Insce- 
nirung  der  »Alceste«  für  Bologna  bemühen.  Lang  war  aber  auch  in 
der  Toscana  seines  Bleibens  nicht.  Sein  berühmtes  kritisches  Schrei- 
ben an  Alfieri  zeigt,  daß  er  schon  17S3  in  Neapel  weilte.  Hier  be- 
schloß Calsabigi,  nachdem  er  mit  einem  Staatslotterieprojekt  verge- 
bens wieder  zu  Vermögen  zu  kommen  gehofft  hatte,  im  Oktober  1795 
seine  Tage. 

Calsabigi's  Dichtungen  und  Schriften  ei^chienen  in  zwei  Ausga- 
ben, erstens  1774  zu  Livorno  in  zwei  Bänden,  die  nach  Gamba  dra- 
matische und  lyrische  Gedichte,  Uebersetzungen  aus  Milton  und 
Thomson  sowie  die  Dissertation  über  Metastasio  enthalten,  zweitens 
1793  zu  Neapel  in  zwei  Bänden  unter  dem  Titel  r)Poeste  e  Prose  di^ 
vei'se  dt  Raniet-i  de^  CahabigU,  Nur  diese  zweite  Ausgabe  ist  uns  zu 
Gesichte  gekommen;  aus  ihrem  Inhalt  und  den  anderen  nachweis- 
baren Arbeiten  desselben  Verfassers  läßt  sich  das  folgende  chrono- 
logische Verzeichniß  der  Werke  Ranieri  de'  Calsabigi's  herstellen: 

1754:  Dissertazione  dt  Ranieri  efe'  Calsabiffi,  delV  Academia  di 
Coriona^  suUe  poesie  drammatiche  del  Sig,  Abafe  Piedra 
Metastasio, 
1762:  Orfeo  ed  Euridice,  azione  teatrale  per  musica, 
1767:  Alceste,  tragedia  per  musica, 
1770:  Paride  ed  Elena^  dramma  per  mtisica, 
1778:  Ipermestra  o  le  Danaidij  tragedia  per  musica, 
1783:  Letter a  di  R.  de  C,  a   Vittorio  Alfieri  sulle  qicattro  sue 

prime  tragedie  (Napoli,  20  Agosto  1783), 
1784:  Risposta  del  consigliere   di  S,   M,  Imperiale  R.   de'   C, 
alla  lettera  scritta  gli  del  conte  Alessandro  Pepoli  (Napoli^ 
15,  Marzo  1784,) 
1793:  Elmra,  tragedia  per  musica  (komponirt  von  Paisiello.) 
1794:  Elfrida^  tragedia  per  musica  (komponirt  von  Paisiello.) 
1794:  Lettera  del  consiglier    de*    Cahabigi  a  S,   E,    il  sigfior 
conte  Alessandro   Pepoli  nel  trasmettergli  la   sua  nuova 
tragedia  intitolata  Elfrida. 
Außerdem  ergiebt  sich   aus  den  jüngst  von  Corrado  Ricci  ver- 
öffentlichten  Briefen  Calsabigi's    an   Antonio  Montefani^,    daß    der 

1  Ricci,  C,  J  teatri  di  Bologna  nei  secoli  17  e  18.  Bologna  1888  p.  631  ff. 


Gluck  und  Calsabigi.  35 


Dichter  um  1778  eine  ungedruckte,  wie  wir  wissen,  für  Gluck  be- 
stimmte »Semiramidea  im  Pulte  liegen  hatte  ^  und  daß  er  bereits 
früher  unter  dem  Titel  n  Opera  seria,  commedia  per  musicat  eine 
Satire  auf  die  Schäden  und  Mißbräuche  der  italienischen  Opern- 
biihne  geschrieben^.  An  anderer  Stelle ^  wird  gelegentlich  erwähnt, 
daß  zwei  Dramen  Calsabigi's:  nOntariofi  und  y^Arnitia  die  besondere 
Anerkennung  Metastasio's  &nden  imd  in  Melzi's  d  Dizionario  di  opere 
anonime  e  pseudonime«  wird  unserm  Dichter  die  Urheberschaft  eines 
Sendschreibens  über  den  Horazkommentar  des  Abate  Galiani  (178S) 
sowie  ein  Festspiel  i>il  sogno  d^Olimpia^  i^'^^'^)  zugeschrieben.^ 

Neben  diesen  Arbeiten  darf  ihm  ferner  mit  großer  Wahrschein- 
lichkeit auch  die  oben  genannte  y>Ripo8tafi  vom  Jahre  1790  gegen 
die  Kritik  Stefano  Arteaga's  zugesprochen  werden.  Diese  in  seinem 
Interesse  und  zu  seiner  Vertheidigung  abgefaßte  Streitschrift  verräth 
eine  so  genaue  Kenntniß  aller  Einzelnheiten  aus  dem  Wiener 
Künstlerleben  von  1762,  daß  man  mit  Fug  an  Calsabigi  als  ihren 
Verfasser  denken  darf.  Einem  Unbetheiligten  oder  Fernerstehenden 
wären  nach  einem  Verlauf  von  fast  30  Jahren  alle  die  Klein^keiten 
und  Kleinlichkeiten  dieses  Theaterkrieges  keinesfalls  so  gegenwärtig 
gewesen  wie  dem  Verfasser  der  nRipostaa.  Auch  bekundet  dieser 
Anonymus  eine  so  umfassende  Kenntniß  aller  gegen  Calsabigi 
gerichteten  Angriffe,  wie  man  sie  nur  bei  dem  angegriffenen 
Autor  selbst  vermuthen  kann,  und  in  seiner  Entgegnung  eine  Ge- 
reiztheit, die  am  natürlichsten  durch  den  persönlichen  Antheil  erklärt 
wird.  Zudem  decken  sich  die  Anschauungen,  die  Don  Santigliano 
den  ungenannten  neapolitanischen  Vertheidiger  Calsabigi's  aussprechen 
läßt,  zum  Theil  bis  auf  Wendungen  und  Beispiele  mit  den  Aus- 
führungen des  Letzteren  in  der  Dissertazione,  sowie  in  seinem  Brief 
an  den  Grafen  Pepoli  (1794).  Besonders  auffallig  und  beweiskräftig 
erscheint  es  aber,  daß  die  i^Bipostaa  gegenüber  dem  Unverständniß 
der  Italiener  für  die  Reformarbeit  Gluck-Calsabigi's  sich  auf  die 
feinere  Greschmacks-  und  Geistesbildung  der  Wiener  beruft^,  wie 
dies  Calsabigi  einem  erst  neulich  zu  Tage  geforderten  Briefe  zufolge 
schon  1778  in  einer  vertraulichen  Mittheilung  an  Montefani  gethan 
hatte  ^.  Es  kann  also  kein  Zweifel  sein,  daß  der  Verfasser  der 
9 Sipostat ^  der  im   7.   Kapitel  selbst  seines  Besuches  bei  Calsabigi 


1  a.  a.  O.  p.  634. 

«  a.  a.  O.  p.  637. 

'  Biposta  p.  48. 

<  Melsi  II.  p.  87;  IIL  p.  76. 

'  Riposta  p.  48. 

•  Rieei  a.  a.  O.  p.  636. 

3» 


36  Heinrich  Welti, 


Erwähnung  thut,  in  nahen  oder  nächsten  Beziehungen  zu  demselben 
gestanden  hat.  Das  wenig  gekannte,  von  den  italienischen  Biblio- 
graphen nicht  verzeichnete  und  auch  von  Melzi  in  seinem  groBen 
Werke  über  anonyme  und  pseudonyme  Schriften  nicht  erwähnte 
Buch  gewinnt  also  für  uns  den  Werth  einer  autobiographischen 
Au&eichnung. 

Aus  allen  diesen  Schriften  und  Dichtungen  tritt  uns  als  Haupt- 
zug der  geistigen  Persönlichkeit  ihres  Verfassers  zuerst  eine  außer- 
gewöhnlich reiche  und  weit  umfassende  Bildung  entgegen.  Calsabigi 
ist  in  erster  Linie  ein  Vertreter  und  Besitzer  jener  hochgesteigerten, 
feinen  Geisteskultur  des  18.  Jahrhunderts;  aus  ihr  erwachsen  erst 
seine  schöpferischen  Fähigkeiten.  Er  ist  vor  allem  Schöngeist  — 
das  Wort  im  besten  Sinne  gebraucht  — ,  dann  Kritiker  und  Ästhe- 
tiker, und  erst  als  letzte  Entwickelungsstufe  seiner  Begabung  erscheint 
in  ihm  der  Dichter.  Seine  Dichtungen  sind  nicht  Schöpfungen  einer 
starken  Natur,  eines  dichterischen  Urtriebes  und  eines  in  Leiden- 
Schaft  erregten  Willens,  sondern  Erzeugnisse  einer  feinen  Überlegung 
und  einer  leichtbeweglichen,  an  der  Theaterwirkung  geschulten 
Phantasie.  So  sind  denn  seine  sämmtlichen  Dramen  nicht  Neu- 
schöpfungen, sondern  Umarbeitungen  älterer  Dramen  und  Stoffe, 
Umgestaltungen  im  Sinne  einer  neueren,  geläuterten  Kunstanschau- 
ung und  einer  gereifteren  Bühnenkenntniß.  Kann  uns  letztere  als 
die  Frucht  der  langjährigen  Beobachtung  und  eindringender  ästhe- 
tischer und  dramaturgischer  Studien  Calsabigi's  gelten,  so  ist  dagegen 
erstere  zunächst  nur  eine  Folge  der  allgemeinen  Wandlung  im  Geistes- 
leben der  Zeit.  Freilich  bleibt  es  dabei  Calsabigi's  Verdienst,  die 
Nothwendigkeit  dieser  Wandlung  vermöge  seiner  tiefen  und  um- 
fassenden Bildung  als  einer  der  ersten  empfunden  und  erkannt  zu 
haben,  wie  es  seinem  Geiste  zur  Ehre  gereicht,  sich  allzeit  jene 
Frische  und  Schmiegsamkeit  gewahrt  zu  haben,  die  einzig  dazu  be- 
fähigen, unter  den  Führern  und  Förderern  des  künstlerischen  Lebens 
zu  wirken.  Und  damit  ist  zum  Bilde  Calsabigi's  der  zweite  Haupt- 
zug geliefert,  denn  nichts  kennzeichnet  seine  Art  und  seine  Wirk- 
samkeit nächst  der  ihm  eigenen  großen  literarischen  Bildung  so 
sehr  als  diese  bis  in  sein  hohes  Alter  bewahrte  Schwungkraft  des 
Geistes.  Man  darf  dieselbe  wohl  bewundernswürdig  nennen,  wenn 
man  sieht,  mit  welcher  Jugendlichkeit  und  Vorurtheilslosigkeit  sich 
noch  der  Siebzigjährige  an  die  Prüfung  und  Vertheidigung  der 
Dramen  Vittorio  Alfierrs  macht  und  wenn  man  erwägt,  wie  weit  ab 
diese  Kunstwelt  von  den  Zielen  seiner  Jugend  liegt. 

Calsabigi's  geistiger  Entwickelungsgang  fuhrt  vom  gezierten 
Marinismus   Metastasio*s    zum  herben  und   nüchternen  Klassizismus 


Gluck  und  Calsabigi.  3*^ 


Vittorio  Alfieri's.  Auf  dem  Wege  dahin  schuf  der  geistreiche  und 
gewandte  Mann  jene  Dramen,  welche  für  die  Geschichte  der  Musik 
80  bedeutungsvoll  wurden,  weil  sie  dem  Genius  Gluck's  Grundlage 
imd  Mittel  zu  einer  Umgestaltung  der  alten  Oper  boten.  Ein  Rück- 
blick nach  den  Anfangen  seiner  literarischen  Thätigkeit  und  ein 
Ausblick  nach  seinen  letzten  Idealen  können  uns  daher  am  besten 
lehren,  wie  weit  Calsabigi's  Antheil  an  dem  Reformationswerke  ein 
unmittelbarer,  wie  weit  bloß  ein  mittelbarer,  d.  h.  nicht  in  seiner 
nisprünglichen  Absicht  gelegener  war. 

Den  besten  AuüschluB  über  Calsabigi's  Stellung  zur  alten  » opera 
teriat  oder,  wie  die  Dichter  zu  schreiben  pflegten,  ndramma  per 
musicat  giebt  die  weitschweifige  Abhandlung,  mit  der  er  die  im 
Jahre  1755  zu  Paris  gedruckte  Ausgabe  der  ji  Poesie  del  Signor  Abate 
Pietro  Metastasio€  eröffnete.  Es  ist  dies  eine  wahre  Lobrede  auf 
den  kaiserlichen  Hofpoeten,  und  Calsabigi  durfte  sich  später  ohne 
Übertreibung  berühmen,  den  Ruf  seines  Gegners  wie  kein  anderer 
gefordert  zu  haben.  Thatsächlich,  meint  die  uMipostaa^  sei  Metastasio 
erst  durch  die  vom  Orfeo-Dichter  besorgte  Ausgabe  und  jene  184 
Seiten  lange  ästhetische  Dissertation  in  Frankreich  zu  Namen  und 
Ansehen  gekommen. 

Unser  Ästhetiker  beginnt  mit  der  Versicherung,  daß  diese, 
wie  aus  der  T^Riposta^^  hervorgeht,  auf  Metastasio's  Betreiben  ver- 
&Bte  Untersuchung  vornehmlich  unternommen  worden  sei,  um 
die  vielen  schlechten  italienischen  Tragödienmacher  an  dem  großen 
Vorbild  über  das  Drama  aufzuklären,  und  um  den  Fremden  zu 
beweisen,  daß  sie  mit  Unrecht  'das  italienische  Theater  mißachten. 
Denn  die  Gedichte  des  Metastasio  seien  zwar  in  erster  Linie  als 
Operndichtungen  zu  betrachten,  aber  auch  ohne  den  Schmuck  der 
Musik  seien  es  wahre,  vollkommene  und  herrliche  Tragödien,  die 
den  Vergleich  mit  den  berühmtesten  Dramen  aller  andern  Nationen 
nicht  zu  scheuen  brauchten.  Ja,  er  vermißt  sich  sogar  nachzu- 
weisen, daß  die  Vollendung,  zu  der  sich  die  Musik  erhoben  habe, 
mm  »großen  TheiU  auf  das  Verdienst  des  Mestastasio  zurückzuführen 
sei,  da  der  Reiz,  die  Zartheit  und  die  Erhabenheit  der  Poesie  für 
die  Musik  unerläßlich  seien.  Diese  letztere  sei  nicht  im  Stande, 
Empfindungen  zu  err^en  und  Theilnahme  zu  erwecken  ohne  die 
Unterstützung  der  Dichtkunst,  welche  in  dem  Winsal  der  Töne  als 
Führerin  diene,  um  uns  Schritt  für  Schritt  empfänglicher  zu  machen 
für  die  Eindrücke,  welche  mit  Hülfe  der  Musik  lebhafter  und  stärker 
gemacht  werden  sollen,  als  es  die  einfache  Deklamation  vermöchte. 


Eipoflta,  p.  47. 


38  Heinrich  Welti, 


Deutet  in  dieser  Darlegung  das  dem  Metastasio  und  der  zeitgenössi- 
schen Musik  gespendete  Lob  höchster  Vollkommenheit  durchaus  auf  eine 
völlige  Anerkennung  der  alten  Oper,  so  weist  doch  die  der  Dichtung 
grundsätzlich  zugedachte  Rolle  auf  die  kommende  Entwicklung  hin. 

Noch  deutlicher  tritt  diese  Anschauung  zu  Tage  in  den  Erwä- 
gungen, mit  denen  Calsabigi  den  Schluß  seines  Aufsatzes  einleitet. 
Hier  schreibt  er:  »Vergeblich  wird  sich  der  Tonsetzer  abmühen, 
Zärtlichkeit,  Mitleid,  Schrecken  zu  erwecken,  wenn  er  unpassende, 
ungefüge,  gesuchte,  schwülstige  und  nichts  sagende  Worte  in  Musik 
zu  bringen  hat.  Es  ist  für  den  Musiker,  der  mit  seiner  Kunst  Furcht 
oder  Liebe  malen  soll,  nicht  genügend,  daß  der  Dichter  Pluto  oder 
Cupido  sprechen  läßt  und  daß  er  die  Handlung  in  die  Unterwelt 
oder  in  das  Herrscherreich  der  Venus  verlegt.  Wenn  dieser  nicht 
zuerst  die  verschiedenen  Eindrücke  jener  beiden  Gefühle  in  sich 
empfunden  hat,  wenn  dieser  nicht  zuerst  von  Furcht  befangen  oder 
von  Liebe  erfüllt  war;  wenn  es  ihm  nicht  gelungen  ist,  jene  Ge- 
müthsbewegungen  in  seine  Verse  übergehen  zu  lassen;  wenn  seine 
Ausdrucksweisen  dabei  nicht  folgerichtig  verschiedener  Farbe  sind, 
dann  wird  auch  der  Musiker  nicht  die  dem  Vorwurfe  entsprechende 
Musik  finden,  und  da  er  durch  nichts  sich  bewegt  fühlt,  während  er 
komponirt,  weil  auch  den  Dichter  nichts  bewegte  als  er  schrieb, 
wird  er  Zusammenhangs-  und  wirkungslose  Tonhäufungen  hervor- 
bringen: ähnlich  jenem  ausgezeichneten  Kupferstecher,  der,  gezwungen 
seinen  Grabstichel  nach  einer  schlechten  Zeichnung  zu  führen,  trotz 
aller  künstlerischen  Bemühungen  es  nicht  verhindern  konnte,  daß 
man  auf  seinem  Stiche  allzeit  die  Fehler  des  Zeichners  wahrnahm. 
Wohl  giebt  es  Leute,  welche  meinen,  die  Musik  sei  unabhängig  von 
der  Dichtung  und  mit  der  Vortreffiichkeit  seiner  Tonsätze  könne 
der  Musiker  die  Fehler  des  Gedichtes  wett  machen « * ,  allein  diese 
Ansicht  ist  irrig. 

Diese  Stelle,  welche  besonders  bedeutsam  ist,  weil  sie  zur  Er- 
läuterung des  Verhältnisses  zwischen  Musik  und  Poesie  einen  ähn- 
lichen Vergleich  herbeiicieht  wie  Gluck  in  seiner  berühmten  Vorrede 
zu  »Alcestetf,  zeigt  uns  Calsabigi  bereits  ganz  auf  neuen  Pfaden.  Mit 
solchem  Verlangen  nach  starker  Innerlichkeit,  nach  Wahrhaftigkeit 
der  Dichtung  war  der  Lobredner  Metastasio's  weit  über  den  Schaf- 
fenskreis des  kaiserlichen  Poeten  hinausgeschritten  und  hatte  sich 
aus  dem  Ziergarten  des  verfeinerten  Marinismus  in  die  freie  Natur 
gewagt.  Ja,  an  dem  Vergleiche  mit  dem  Kupferstecher  sieht  man 
auch,  daß  Calsabigi's  Gedanken  selbst  über  das  Ziel  hinaus  schössen, 


i  Metastasio:  Poesie,  Torino  1757.  I.  p.  196. 


Gluck  und  Calsabigi.  39 


das  in  der  Folge  Gluck  bei  der  Schöpfung  seiner  Opern  im  Auge 
behielt.  Aus  dem  Sendschreiben  an  Alfieri  wird  sich  deutlich  erge- 
ben, daß  Calsabigi^s  Schaffen  im  letzten  Grunde  andern  Endzwecken 
galt;  er  ging  darauf  aus,  in  seiner  Sprache  eine  Tragödie  zu  schaffen, 
die  den  Meisterwerken  des  Altertums  oder  der  klassischen  Tragödie 
der  Franzosen  ebenbürtig  sei,  und  dabei  wurde  er  einer  der  Refor- 
matoren der  Oper.  Die  Musik  galt  ihm  beim  Drama  als  etwas  so 
Nebensächliches  und  Untergeordnetes,  daß  er  1778,  als  es  sich  um 
die  Aufführung  der  »Alceste«  in  Bologna  handelte  ',  gegenüber  Antonio 
Montefani  immer  nur  von  »quesfo  nuovo  gener e  dt  Dramma  da  me 
infrodottw  sprach  und  der  musikalischen  Schöpfung  Glucks  kaum 
Erwähnung  that.  Selbst  als  die  Sache  schief  ging,  yersuchte  Cal- 
sabigi nicht,  den  jVIißerfolg  mit  der  dem  italienischen  Geschmacke 
wenig  entsprechenden  Musik  Glucks  zu  bemänteln,  sondern  nahm 
auch  hier  die  Verantwortung  ganz  auf  seine  Schultern  indem  er 
schrieb:  ^prevedo  la  caduta  del  mio  drammav.  Aus  einem  solchen 
Satze  spricht  nicht  Eitelkeit  sondern  Ueberzeugung. 

Nach  den  musikalischen  Anschauungen  zu  folgern,  welche  die 
Dissertazione  offenbart,  mußte  es  übrigens  dem  Refoimationswerke 
nur  frommen,  wenn  der  Textdichter  sich  nicht  in  die  Angelegen- 
heiten des  Tonsetzers  mischte.  Indem  er  die  Arie,  die  ihm  als  Er- 
satz für  das  lyrische  Chorelement  der  antiken  Tragödie  gilt,  lob- 
preist, ja  sogar  ihre  Verwendung  als  Abschluß  der  Scenen  billigt  ^, 
indem  er  ferner  die  musikalische  Dürftigkeit  des  Seccorecitativs  als 
naturgemäß  verteidigt  3,  steht  Calsabigi  auf  einem  andern  Standpunkt 
als  Gluck,  der  bekanntlich  gerade  in  der  reicheren  Ausgestaltung  des 
Secitativs  ein  Mittel  suchte,  um  den  grellen  Abstand  zwischen  Secco 
und  Arie,  jenen  auffälligen  Unterschied  in  der  Ausdrucksweise,  aus- 
zugleichen und  für  sein  Werk  eine  stilistische  Einheit  zu  schaffen. 
Wie  wenig  Calsabigi  von  der  künstlerischen  Bedeutung  dieses  für 
die  Opemreform  so  wichtigen  Grundsatzes  durchdrungen  war,  zeigte 
später  die  von  ihm  selbst  überlieferte  Thatsache^,  daß  er  in  seine 
letzte,  1794  von  Paisiello  in  Musik  gesetzte  Oper  ^EUrida«  sprechende 
Personen  einführte,  also  die  von  Gluck  25  Jahre  früher  so  dringend 
verlangte  und  schwer  errungene  stilistische  Einheit  des  Kunstwerkes 
gänzlich  preisgab.  Es  dürfte  also  den  thatsächlichen  Verhältnissen 
vollkommen  entsprochen  haben,  daß  Gluck,  als  er  sich  anschickte, 
die  Grundzüge  der  Opernreform  darzulegen,  unbeschadet  der  Anerken- 

1  Kicci.  a.  a.  O. 

2  Metastasio  Poesie  p.  17  ff. 
»  a.  a.  O.  p.  183  ff. 

*  PbeBte  e  Prose  diverse  di  R,  d^  C.  //.  p.  167  ff. 


40  Heinrich  Welti, 


nung'Calsabigi's,  in  erster  Linie  von  seinen  Absichten  und  Grund- 
sätzen sprach  und  erst  an  zweiter  Stelle  bezeugte,  daB  das  Textbuch 
seinem  Vorhaben    aufis  Herrlichste  zu  Statten    gekommen   sei. 

Dagegen  sind  es  wohl  Calsabigi^s  Ausfuhrungen  über  den  Vor- 
theil,  der  sich  für  einen  neuen  dramatischen  Grundplan  aus  den 
Einrichtungen  der  französischen  »troff edie  lyrtqtie«  ziehen  ließe,  die 
erst  Gluck's  dramaturgische  Absichten  und  Ahnungen  zu  einem  be- 
stimmten Gedankenbild  der  reformirten  Oper  klärten.  Man  beachte 
nur,  was  Calsabigi  über  das  Opemdrama  Quinault-LuUy's  schreibt 
und  welche  Folgerung  er  an  seine  Betrachtungen  knüpft ;  man  wird 
darin  unschwer  Keimpunkte  künftiger  Entwickelung  finden.  So 
schließt  er  seine  Darlegung  mit  den  Worten^:  »Wenn  aber  einmal 
derselbe  Grundplan  mit  den  Forderungen  der  Wahrscheinlichkeit 
sich  vereinigen  ließe,  wenn  einmal  rein  menschliche  Handlungen  dar- 
auf sich  abwickelten,  mit  Ausschluß  aller  heidnischen  Götter,  alles 
Teufels-  und  Zauberwesens,  kurz  alles  dessen,  was  über  Menschen- 
kraft hinausgeht,  dann  würde  zweifelsohne  aus  dem  zahlreichen  Chor, 
dem  Tanz,  der  mit  Musik  und  Poesie  meisterlich  zusammengestimm- 
ten Dekoration  ein  äußerst  erfreuliches  Ganzes  entstehn,  in  welchem 
die  lebhaften  Sinne  des  Zuschauers  von  der  Mannigfaltigkeit  und 
Pracht  der  Gegenstände  angezogen  würden,  während  zu  gleicher  Zeit 
sein  Geist  von  der  Theilnahme  an  der  Handlung  und  von  der  Fein- 
heit der  Dichtung  erregt  und  sein  Herz  von  Klängen  der  Musik  in 
Entzückung  hingerissen  wäre.  Diese  verschiedenen  Linien  müßten 
aber  alle  auf  die  Handlung  als  ihren  Mittelpunkt  zulaufen  und  darin 
sich  verlieren  und  untergehn:  sie  dürften  nicht  Hauptsache  sondern 
müßten  Nebensache  sein;  sie  dürften  den  Zuschauer  nicht  von  der 
Sache  abziehen,  sondern  müßten  es  sich  angelegen  sein  lassen,  ihn 
zu  seinem  Vergnügen  wieder  dazu  zurück  zu  fuhren;  sie  dürften  ihm 
nicht  Fremdartiges  sondern  Geeignetes  vorführen  und  allzeit  müßte 
sowohl  in  Bezug  auf  den  Dichter  wie  auf  den  Tonsetzer  die  be- 
rühmte Vorschrift  des  Horaz:  nDenique  sit,  quodvis,  simplex  dun^ 
taxat  et  unuma  im  Auge  behalten  werden,  die  für  alle  dramatischen 
Pläne  Geltung  hat«. 

In  diesen  Worten,  die  soweit  abfuhren  von  der  Aufgabe,  die 
sich  der  Verfasser  mit  der  Dissertation  ursprünglich  gestellt  hatte, 
liegt  im  Kerne  bereits  das  dramaturgische  Programm  der  neuen 
Kunst.  Jedenfalls  bestätigen  sie  die  Angabe  der  «Riposta^ff  daß 
Galsabigi  schon  während  der  Abfassung  der  Dissertation  r>neU  intemo 
suo  di  opposte  idee<k  gewesen  sei,  was  freilich  mehr  für  den  Geschmack 

*  Metastasio  Poesie  p.  CCIX. 
2  Riposta.  p.  47. 


Oluek  und  Calsabigi.  4f 


und  die  ästhetischen  Erkenntnisse  des  schlauen  Italieners  spricht  als 
für  seine  Ehrlichkeit  und  Wahrheitsliebe.  Immerhin  aber  bleibt  es 
sehr  bemerkenswerth,  daB  sich  aus  der  Untersuchung  über  Metastasio, 
welche  in  ihren  letzten  Abschnitten  einen  entschiedenen  Überdruß 
an  der  schönen  Redegewandtheit  des  Wiener  Hofpoeten  verräth, 
feststellen  läBt,  wie  schon  im  Jahre  1755  dem  feinen  Kopfe  Calsa- 
bigi's  die  Möglichkeit  eines  neuen,  besseren  dramaturgischen  Planes 
fiir  die  italienische  Bühne  vorschwebte.  Daß  ihm  diese  Einsicht 
eben  über  der  Beschäftigung  mit  den  Operngedichten  des  Metastasio 
und  über  ihrer  Veitheidigung  gegen  französische  Vorwürfe  gekom- 
men war,  scheint  ebenso  zweifellos  wie  die  Thatsache,  daß  er  die 
Gtund-  und  Ecksteine  zu  seinem  dramatischen  Bau  gerade  aus  dem 
Bezirke  der  Quinault'schen  ^  troff Sdte  lyriquea  herholte,  deren  Prunk- 
and  Prachtgebäude  sein  Heerruf  für  Metastasio  stürzen  sollte.  Die 
Knfiigung  von  Chor  und  Tanz  in  den  Plan  der  Oper,  die  gerade 
den  »Orfeoc  tot  den  landläufigen  italienischen  Operngedichten  Me- 
tastasianischen  Zuschnittes  besonders  auszeichnet,  ist  bereits  in  der 
Dissertation  vorgesehen  und  daher  wohl  Calsabigi's  ebenso  unbe- 
strittener Antheil  am  Reformationswerk  wie  das  Bestreben  nach  einer 
einheitlichen  und  einikchen,  natürlich  geführten  Handlung. 

Wie  Calsabigi  über  den  Begriff  und  das  Wesen  der  dramatischen 
Handlung  dachte,  ist  aus  der  Dissertation  nicht  recht  zu  ersehen, 
denn  seinen  sehr  klaren  und  verständigen  Auseinandersetzungen  über 
die  tctmdottaa  im  Allgemeinen  steht  eine  umfängliche  Lobpreisung 
der  Metastasianischen  ^candotta^  gegenüber,  die  seine  theoretischen 
Darl^ungen  schwer  verdächtigt.  Sechs  Jahre  später,  bei  der  Ab- 
fiiflsung  von  »Orfeo  und  Euridice«,  sehen  wir  ihn  allerdings  seinen 
früheren  Forderungen  in  Bezug  auf  die  Führung  der  Handlung  nach 
Vermögen  nachleben,  allein  es  kann  nicht  unbedingt  behauptet 
werden,  daß  darin  nur  die  praktische  Durchfuhrung  der  dramatur- 
gischen Lehrsätze  der  Dissertazione  zu  erblicken  sei,  da  Calsabigi 
in  andern  Punkten,  z.  B.  in  der  Verwendung  eines  deits  ex  machina 
zur  Lösung  des  dramatischen  Ejiotens  seine  früheren  theoretischen 
Darlegungen  Lügen  straft.  Wahrscheinlicher  bleibt,  daß  der  Ver- 
fasser der  Dissertation  sich  dem  französischen  Operndrama,  das  er 
schon  1755  mit  so  viel  Bewunderung  und  Aufmerksamkeit  charak- 
terisirte,  im  Laufe  der  Jahre  noch  mehr  näherte  und  seine  eigenen 
Ansichten  unter  dessen  Einfluß  zur  Reife  ;brachte.  Die  Vorzüge, 
die  Calsabigi's  »Handlung«  vor  der  Metastasio's  kennzeichnet,  sind 
mit  den  Ausdrücken:  Einfachheit  und  Einheit  kurz  und  treffend 
hervorgehoben;   für  »Orfeo«   und  »Paride«  hat  Philipp   Spitta*,   für 

>  Allgemeine  musikalische  Zeitung  1S80,  XV.  p.  657  ff.,  G73  ff. 


42  Heinrich  Welti,  Gluck  und  Calsabigi. 


»Alceste«f  Karl  von  Winterfeld*  diese  Vorzüge  durch  Veigleichung 
mit  früheren  dieselben  Stoffe  behandebiden  Operngedichten  klar 
dargelegt.  Ebenso  belehrend  ist  eine  Vergleichung  der  Ipermestra 
des  Metastasio  mit  den  »Danaidiv  des  Calsabigi,  wie  sie  schon  die 
j)Ripo8taa  angestellt  hat  2.  Die  treffendste  Darlegung  des  Begriffes, 
den  sich  der  Textdichter  Gluck's  vom  Wesen  des  Dramas  und  von 
der  Beschaffenheit  der  d  Handlung«  machte,  giebt  das  Sendschreiben 
an  Vittorio  Alfieri  vom  20.  August  1783.  In  diesem  Schriftstück  •"*, 
das  Calsab^  auf  der  Höhe  seiner  Bildung  und  im  Vollbesitz  seiner 
fein  geschulten  geistigen  Kräfte  zeigt,  folgt  auf  eine  bewundernde 
Charakteristik  Shakespeare's,  des  »Eschilo  inglesecc  und  eine  beinahe 
unbedingte  Anerkennung  der  französischen  Tragödie,  der  nur  eine 
genauere  Nachahmung  der  Natur  und  Befreiung  vom  Zeitgeschmack 
zur  Vollkommenheit  fehle,  nachstehendes  dramaturgisches  Glaubens- 
bekenntniß  * :  Ich  glaube,  daß  die  Tragödie  nichts  anderes  sein  soll, 
als  eine  Reihe  von  Bildern.  .  .  .  Eine  Tragödie  ist  um  so  fesselnder 
und  vollkommener,  als  sie  weniger  wortreich  und  dagegen  bewegter 
und  malerischer  ist,  so  daß  sie  der  Einbildungskraft  reichen  und 
anziehenden  Stoff  für  die  Malerei  darböte.  Die  Handlung  ist  also 
im  Drama  die  Hauptsache  (Horaz,  ars  poetica  v.  ISO  f.),  nicht  die 
Bede,  das  Zuviel  der  Bede,  Deklamation  und  Auseinandersetzung 
mithin  von  Übel.  Man  soll  demgemäß  den  Plan  einer  Tragödie 
zimmern  als  Reihenfolge  scenischer  Bilder,  welche  die  Rede  be- 
schränken auf  das  geringe  Maß  des  Unerläßlichen,  das  dazu  dient, 
die  Personen  zu  charakterisiren  und  sie  in  jene  malerischen  Situa- 
tionen zu  bringen,  welche  die  Gemüther  der  Zuschauer  treffen  und 
erschüttern  sollen.  So,  meint  Calsabigi,  wird  man  eine  dramatische 
Handlung  am  besten  eingetheilt  haben  und  die  lebenswahrste,  an- 
ziehendste und  rührendste  Tagödie  schaffen.  Danach  lässt  sich  be- 
greifen, wie  Calsabigi  auf  einem  Irrweg  nach  der  hohen  Tragödie 
zum  Mithelfer  bei  der  Reformation  der  Oper  werden  konnte. 


1  Winterfeld.    Zur  Geschichte  heiliger  Tonkunst  IL  p.  308  ff. 

2  Riposta.  p.  95—121. 

3  Le  opere  dt   Vittorio  Alfieri^  Padova  1809  I  p,  99—168. 
*  a.  a.  O.  p.  124—130. 


Johann  Valentin  Meder. 

Neue  Mittheilungen 
von 

Johannes  Bolte. 


So  ziemlich  alles,  was  bisher  über  den  Kapellmeister  Johann 
Valentin  Medei  bekannt  ist,  verdanken  wir  der  fleissigen  Feder 
Mattkesons.  der  in  der  „Grundlage  einer  Ehrenpforte",  1740,  S.  218 
bis  223  aus  vier  Briefen  Meders  an  den  Stralsunder  Organisten  Chri- 
stoph  Raupaeh  vom  Jahre  1707 — 1709  mehreres  über  sein  Leben 
beibringt.  Auf  ihn  gehen  die  kurzen  Notizen  von  Gerber,  F6tis  u.  a. 
zurück.  Mir  gab  die  Beschäftigung  mit  der  älteren  Theatergeschichte 
von  Danzig  kürzlich  Anlass,  nach  Meders  Schicksalen  zu  forschen, 
and  ich  hatte  das  Glück,  über. das  in  Riga  aufbewahrte  handschrift- 
liche Material  von  Herrn  Anton  Buchholtz  in  Riga  die  eingehendste 
Auskunft  zu  erhalten ;  für  diese  liebenswürdige  Unterstützung  auch  an 
dieser  Stelle  zu  danken  ist  mir  eine  angenehme  Pflicht. 

Johann  Valentin  Meder  wurde,  wie  mir  Herr  Kirchenrath  und 
Superintendent  Germann  freundlichst  aus  dem  Wasunger  Kirchen- 
buche mittheilt  1,  1649  als  Sohn  des  Kantors  Johann  Erhard  Meder 
und  seiner  Frau  Anna  zu  Wasungen  a.  d.  Werra  geboren  und  am 
3.  Mai  d.  J.  getauft.  Er  war  der  jüngste  von  fünf  Brüdern,  die 
sämmtlich  den  Beruf  ihres  Vater  ergriffen  2.  Drei  derselben  werden 
in  den  genealogischen  Sammlungen  des  verstorbenen  Dr.  August 
Buchholtz  3  angeführt :  Maternus  Meder,  Organist  in  Meiningen  (nahm 
um  1680  die  Wasunger  Orgel  ab),  Johann  Friedrich  Meder,  getauft 
am  9.  Oktober  1639,  gest.  am  29.  Dezember  1689  als  Kantor  in  Wa- 
songen^,  und  Johann  Nicolaus  Meder,  Kantor  in  Salzungen.     Unser 


^  »Johannes  Valentinus  Meder  Dn.   Johannis  Erhardi  Mederi  Cantoris  filius 
baptisatas  3  Majo  1649«. 

2  Mattheson  S.  221. 

3  Rigaer  Stadtbibliothek.  M.  37  ff.  (nach  Sehweder  und  Jakobikiichenbuch). 
*  Wasunger  Kirchenbuch. 


J 


44  Johanne«  Bolte. 


Johann  Valentin  begab  sich  (ufn  1665?)  nach  Leipzig,  um  dort  Theo- 
logie zu  studieren  1,  wurde  aber  dann,  da  er  von  der  Natur  mit 
einer  feinen  Stimme  begabt  war,  die  er  nach  seiner  eigenen 
Aussage  bis  ins  40.  Lebensjahr  behielt,  von  fürstlichen  und  anderen 
hohen  Personen  beiderlei  Geschlechts  gedrängt,  die  Musik  als  sein 
Hauptwerk  zu  erkiesen^.  Als  Sänger  an  irgend  einem  fürstlichen 
Hofe  3  lebte  er  im  Verkehre  mit  Italienern  und  lernte  die  ihm  aus 
Rom  zugeschickten  Kantaten  von  Giacomo  Carissimi  und  Marcantonio 
Cesti  kennen^.  Auch  durch  eigene  Kompositionen  muß  er  sich 
damals  hervorgethan  haben ;  sonst  wäre  es  nicht  zu  begreifen,  daß  er 
im  Jahre  1687,  nachdem  er  früher  ähnliche  Einladungen  zweier 
Fürsten  abgelehnt,  zum  städtischen  Kapellmeister  nach  Danzig  be- 
rufen wurde*.  Hier  gründete  er  1688  einen  Hausstand,  und  zwar 
scheint  er,  da  er  1694  den  Archidiakonus  Michael  Strauss  (f  1699) 
seinen  Schwager  nennt,  eine  [Schwester  desselben  geheirathet  zu 
haben.  Seine  äußeren  Verhältnisse  waren  ziemlich  beschränkt,  wie 
sich  aus  einem  unangenehmen  Streite  ergiebt,  den  er  1694  vor  dem 
Gerichte  des  Baths  mit  dem  Bürger  Georg  Weyer  auszufechten 
hatte  ^.  Er  hatte  nämlich  1692  die  beiden  Stiefkinder  des  Genannten, 
Bosina  und  Johann  Rautenberg-,  in  Logement  und  Kost  genommen 
und  wurde  beschuldigt,  die  Sonntagskleider  der  Kinder  versetzt  zu 
haben.  Seine  amtliche  Thätigkeit  bot  ihm  Gelegenheit,  eine  Reihe 
von  geistlichen  Kantaten  zu  den  kirphlichen  Festtagen,  auch  wohl 
zu  Hochzeiten  und  Begräbnissen  zu  komponieren.  Diese  Arbeiten, 
die  er  nach  seiner  eigenen  Aeusserung  bei  seinem  Fortgange  aus 
Danzig  dort  zurückliess,  scheinen  untergegangen  zu  sein;  nur  zwei 
1687  und  1688  geschriebene  und  dem  Rathe  dedicierte  Motetten  für 
zwölf  Stimmen  in  drei  Chören  sind  noch  auf  dem  Rathsarchive  ^ 
vorhanden.  Gedruckt  ist  von  seinen  Kompositionen  nur  eine,  die 
ich  jedoch  nicht  gesehen  habe:  »Capricci  a  due  Violini  col  Basso 
per  l'Organo.    Danzig  1698  fol.«     Andere  Gelegenheitskompositionen 


^  Aug.  Buchholtz  a.  a.  O. 

2  Mattheson  S.  221. 

8  WahrBcheinlich  war  es  einer  der  kleinen  Höfe  von  Mitteldeutschland.  In 
Fürstenaus  Buch  Zur  Geschichte  der  Musik  am  Hofe  zu  Dresden  (1861)  wird  Meders 
Name  nicht  genannt.  Eine  Bemerkung  Meders  in  einer  Supplik  an  Graf  Dahlberg 
vom  5.  Juli  1700  scheint  zu  beweisen,  daß  er  Bremen  besucht  und  die  Musik- 
auffahrungen  im  Dom  gehört  hat. 

*    Zuerst  Carissimis  Jüngstes  Gericht:  '»Suonerai  [1.  Suonerä]  fultitna  trombaa. 
Mattheson  S.  219  f. 

^  Löschin,  Beiträge  zur  Geschichte  Danzigs  1,  38  (1837).  Doch  ist  das,  was 
hier  über  einen  kurzen  Aufenthalt  Meders  in  Danzig  bemerkt  wird,  irrig. 

^  Danziger  Bathsarchiv,  Supplik.  1694,  März. 

7  G.  Döring,  Zur  Geschichte  der  Musik  in  Preußen  1852  S.  197. 


Johann  Valentin  Meder.  45 


entstanden  bei  Besuchen  fürstlicher  Pereonen,  so  bei  der  Durchreise 
des  brandenburgischen  Kurfürsten  Friedrich  III.  durch  Dansig  am 
1.  Juli  1690,  wo  Meder  während  der  Tafel  Beine  vortreffliche  Musik« 
auifiihrte^,  und  bei  dem  feierlichen  Einzüge  des  neuen  polnischen 
Königs  August  des  Starken  am  18.  März  1698,  wo  Meder  diesen 
mit  dem  Gesänge  eines  achtstrophigen  Liedes  begrüsste,  dessen  Text 
auch  unter  das  Volk  yertheilt  wurde  ^.  Freundschaftlichen  Verkehr 
pflegte  der  protestantische  Kapellmeister  zehn  Jahre  hindurch  mit 
dem  feingebildeten  Abte  Michael  Anton  Hacky  im  nahe  gelegenen 
Kloster  Oliva,  einem  Schüler  Marcantonio  Cestis,  der  ihn  einst  mit 
Cestis  Kantate  sO  cara  Ubertä,  chi  mi  ti  toglie«  zu  überraschen  ge- 
dachte, worauf  ihm  Meder  entgegnete,  dies  sei  seit  zwölf  Jahren  ein 
Lieblingsstück  von  ihm  3.  Ein  besonderes  Interesse  beanspruchen 
Heders  Versuche,  in  Danzig  deutsche  Opern  aufzuführen,  nachdem 
Hamburg  und  Leipzig  mit  der  Gründung  ständiger  Opembühnen  vor- 
angegangen waren  ^.  In  der  zweiten  Hälfte  des  Novembers  1695 
brachte  er  in  der  hölzernen  Bude,  welche  die  Schauspielertruppe  der 
Wittwe  Veiten  während  des  Dominikmarktes  zu  ihren  Vorstellungen 
benutzt  hatte,  eine  von  ihm  in  Musik  gesetzte  Oper  Nero  zur  Dar- 
stellung. Den  Text  und  auch  einige  Melodien  entnahm  er  der  zwei 
Jahre  zuvor  in  Leipzig  gegebenen  gleichnamigen  Oper  N.  A.  Strungks, 
der  wiederum  ein  von  Carlo  Pallavicino  komponiertes  italienisches 
Libretto  von  Giulio  Cesare  Corradi  (Venezia  1679]  benutzt  hatte.  Das 
Textbuch  hat  sich  erhalten: 

NERO  I  in  einer  |  OPERA  I  Oder  |  Sing -Spiel  |  Ehemalen  in  Leipzig  |  vorge- 
stellt, I  Mit  I  Eines  Hoch-Edlen  und  Hochweisen  |  Rahts  |  Dieser  Löbl.  Stadt 
Dantsig  |  Hochgeneigter  Venvilligung  |  vom  neuen  aufgeführt )  Im  Jahr  1695.  {| 
DANTZIG  I  Gedruckt  durch  EdL  Raths  und  des  Gymnasii  |  Buchdruckern  Johann- 
Zacharias  Stollen.  |  56  S.  A^.  (Danziger  Stadtbibliothek.) 

Welche  Wirkung  dies  Werk  in  Danzig  hervorrief»  ist  nicht  über- 
liefert. Gross  war  der  Erfolg  schwerlich ;  denn  der  Bath  schlug  1696 
und  1698,  als  Meder  um  die  Erlaubniß  zu  einer  Wiederholung  des 
Nero  und  cur  Aufführung  einer  «neuen  Materie«  einkam,  die  Gesuche 


i  Döniiff  S.  68. 

2  »Freudiger  Willkomm,  womit  den  allerdurchlauchstigsten  . . .  Herrn  Augustum 
den  Andern  ...  in  einer  vollständigen  Harmonia  allerunterthänigst  begrüßen  wollen 
Job.  Valentin  Meder,  Capellmeister.  Dantsig,  gedruckt  bey  Johann-Zaoharias  Stollen  «<. 
Eine  Abschrift  in  Bflerela  Danziger  Chronik  (Berliner  Mscr.  boruss.  qu.  97,  S. 
356—360). 

3  Medert  EniUnng  bei  Mattheaon  S.  220  wird  ergftnet  durch  eine  im  Rigaer 
RathMTchiTe  befindUohe  Supplik  des  früheren  Olivaer  Organisten  Georg  Weitsen- 
mflUer  an«  Melsaek  in  Ermehindan  den  Rigaer  Rath  (Ende  1718  oder  Anfang  17] 9). 

*  Oenaaeres  Über  die  Opern  Meders  in  einem  demnächst  erscheinenden  Buche  - 
IKe  deatsche  Bübne  des  17.  Jahrhunderts. 


4  g  Johanne«  Bolto. 


trotz  der  beweglichen  Klagen  des  Bittstellers  über  seinen  bedrängten 
Zustand  rundweg  ab.  In  seiner  Noth  entschloß  sich  dieser,  dem 
der  zu  erwartende  Gewinn  lockend  vorschwebte,  zu  einem  gewagten 
Schritte.  Er  führte  jene  neue  Oper  in  dem  dicht  bei  Danzig  ge- 
legenen, aber  nicht  unter  Danziger  Oberhoheit  stehenden  Städtchen 
Schottland  während  des  Oktobers  1698  auf.  Das  Textbuch  trägt 
den  Titel: 

Die  wieder  verehligte  |  COELIA  |  In  einem  Sing-Spiel  |  Auff  |  Einem  im  Bischöff- 
liehen  Schottland  |  bey  Dantsig  hiezu  ersehenen  |  Schauplatz  |  Toi^estellet  ||  Im 
Jahr  1698.  |  36  S.  40.  (Petersburg.  Kaiserl.  Bibliothek.) 

Der  Danziger  Bath  jedoch  vermerkte  die  Umgehung  seines  Ver- 
botes übel  und  untersagte  Meder  bei  Verlust  seines  Dienstes ,  die  Oper 
außerhalb  der  Stadt  weiter  zu  präsentieren.  Wahrscheinlich  wurde 
diese  Angelegenheit  die  Veranlassung,  daß  Meder,  der  selbst  über 
die  Heftigkeit  seines  Mali  hypocondriaci  klagt,  im  folgenden  Jahre 
1699  Danzig  verließ  und  über  Königsberg^  nach  Riga  ging,  wo  er 
schon  brieflich  Verbindungen  angeknüpft  hatte.  Sein  Nachfolger 
in  Danzig  wurde  Maximilian  Freislich,  der  mit  einer  Empfehlung 
seines  Bruders  aus  Franken  zu  ihjn  gekommen  und  ein  Jahr  lang 
von  ihm  unterrichtet  worden  war 2.  In  Riga  fand  er  jedoch  nicht 
so  bald  die  gehoffte  Anstellung,  da  mehrere  seiner  Gönner  starben 
und  der  nordische  Krieg  ausbrach.  Der  schwedische  Generalgouvemeur 
Graf  Erik  Dahlberg,  an  den  er  sich  am  5.  Juli  1700  mit  einem  Ge- 
suche^ um  Beschäftigung  an  der  Schloß-  oder  Jakobikirche  wandte, 
ernannte  ihn  freilich  zum  Kapellmeister,  doch  blieb  das  wohl  ein 
blosser  Titel.  Erst  am  30.  November  desselben  Jahres  übertrug  ihm 
der  Rigaer  Rath,  der  ihm  schon  am  23.  Dezember  1699  für  die  De- 
dikation  einer  Weihnachtsmusik  30  Rthl.  Carol.  hatte  auszahlen 
lassen,  die  interimistische  Leitung  des  Kirchenchores  an  den  Fest- 
tagen, bis  am  13.  September  1701  Job.  Georg  Andrea  als  ordent- 
licher Direktor  chori  musici  eintrat.  Meder  erhielt  für  diese  drei- 
vierteljährige Thätigkeit  am  29.  Nov.  1701  100  fl.^.  Er  konnte  auch 
den  Verlust  um  so  eher  verschmerzen,  als  er  am  20.  März  1701  den 
freigewordenen  Organistenposten  am  Dom  bekommen  hatte  ^),  den  er 
bis   zu    seinem    Tode    verwaltete.      In   dem    damals   ziemlich   regen 


1  Hier  ließ  er  bei  einem  guten  Freunde  zwei  geschriebene  Bände  mit  Regeln, 
wie  man  gebundene  Fugen  oder  Kätselgesänge  machen  solle,  Eurück.  Mattheson  S.  2]  9. 

2  Mattheson  S.  218. 

3  Original  in  Aug.  Buchholtz'  genealogischen  Sammlungen.    VgL  Mattheson 
S.  221. 

«  Rigaer  Stadtarchiv,  Rathsprotokolle  »Publica«  52,  103.  442.  53,  278.  346. 
400.  470. 

5  Publica  53,  38. 


Johann  Valentin  Meder.  47 


Musikleben  Bigas  scheint  Meder  keine  unbedeutende  Rolle  gespielt 
la'  haben.  Neben  den  kirchlichen  Festen ,  zu  denen  er  eine  grosse 
Anzahl  von  Musikstücken  schrieb,  gaben  die  Siege  Karls  XII.  Anlaß 
zu  allerlei  Aufführungen.  Die  glückUche  Landung  des  Königs  am 
9.  Juli  1701  feierte  er  zu  Anfang  September  mit  einer  Musik,  die 
Morgens  in  der  Peterskirche  und  Mittags  im  Dome  gespielt  wurdet 
Das  Programm  beginnt:  »AufF  die  erlangten  Sieges  Palmen  erfolgen 
die  Lob-  und  Dank-Psalmen«  ^.  Die  BathsprotokoUe  berichten  ferner, 
dass  er  am  28.  November  1702  für  ein  beim  Dankfeste  in  der 
Peterskirche  aufgeführtes  Konzert  10  Rthl.  erhielt,  daß  er  am 
12.  August  1703  in  einem  Actus  musicus,  «was  von'Anfang  der  feind- 
lichen Blocquade  bis  zur  Kecuperirung  der  Dünamünder  Schanze 
passiret»,  darstellte  und  daß  er  am  26.  April  1707  den  Friedens- 
schluss  mit  Sachsen  auf  gleiche  Weise  begingt.  Er  selbst  erwähnt 
eine  grosse  Kantate  auf  den  Tod  der  verwittweten  Herzogin  Hedi^Tg 
Sophie  von  Holstein-Gottorp,  der  Schwester  Karls  XII,  (f  22.  Dez. 
1708),  die  er  in  Hamburg  drucken  lassen  wollte],  und  erzählt  von 
Aufführungen  der  gedruckten  Kantaten  Keisers  und  l^ronners  im 
Kreise  von  Dilettanten,  unter  denen  sich  Mademoiselle  Schwartz 
auszeichnete.  Von  seinen  Trauermusiken  berichtet  er  z.  B.,  dass  er 
in  einem  solchen  Tombeau  eine  Klavierkomposition  Frobergers,  »Me- 
mento  mori«,  für  Violinen  gesetzt  habe  anbringen  müssen^.  Das 
Textbuch  einer  andern  ist  betitelt:  ))Der  Melpomene  Klag-Lied  Über 
den  in  der  blutigen  Action  auff  Lutzoffs-Holm  bey  Riga  den  9.  July 
1701  erlittenen  Tod  des  Hm.  Magnus  Benedictus  von  Hellmersen  ver- 
mittelst eines  bew^lichen  Trauer-Marches  vorgestellet  von  J.  V.  Mo- 
dere^. Auch  eine  neue  Oper  mit  Ballet  »Die  befreiete  Andromeda« 
vollendete  er.  Vornehmen  Musikliebhabern  ertheilte  er  daneben  Un- 
terricht und  setzte  schon  seine  Hoffnung  auf  eine  Kapellmeisterstelle 
am  Stockholmer  Hofe^. 

Aber  die  steigende  Kriegsnoth  und  die  Eroberung  Rigas  durch 
Peter  d.  Gr.  im  Jahre  1710  machte  solchen  Aussichten  ein  rasches 
Ende.  In  den  RathsprotokoUen  ^  stossen  wir  nun  auf  Klagen  Meders 
über  die  Einquartierung  und  Bitten  um  Auszahlung  des  rückständigen 
Gehaltes  (1712,   1713)    und   um  Reparatur    der  Orgel  (1717).      Eine 


^  Publica  53,  265.  271. 

'  M.  Rudolph,  Rigaer  Theater-  und  Tonkünstler-Lexicon  S.  155  (1889). 
'  Publica  55,  382.  56,  528.  61,  321.  —  Ebenda  58,  150.  60,  55  steht,  daß  er 
21.  Sept.  1704  und  8.  Man  1706  dem  Rathe  Kompositionen  überreichte. 
«  Mattheson  S.  220. 
»  Rudolph  S.  155. 
«  Mattheson  8.  221. 
'  Publica  68,  437.  69,  229.  72,  381.  412.  434. 


4S  Johannes  Bolte. 


letzte  Eintragung^  verräth  uns,  dafi  er  Ende  Jali  1719  gestorben 
ist.  Am  31.  Juli  d.  J.  nämlich  wird  dem  Soiine  Meders  Erhard 
Nicolaus  das  Gresuch  «um  freie  Glocken  bei  Beerdigong  seines  un- 
längst verstorbenen  seel.  Vaters«  bewilligt,  »en  regard  derselbe  so  viele 
Jahre  bei  der  Kirche  gedieneta.  Im  Todtenregister  der  damals  leider 
sehr  mangelhaft  geführten  Kirchenbücher  ist  sein  Name,  wie  mir 
Herr  Anton  Buchholtz  schreibt,  nicht  aufzufinden,  ebensowenig  in 
den  Protokollen  des  Waisengerichts,  das  zugleich  Nachlaßbe- 
hörde war. 

Dagegen  hat  sich  auf  dem  Stadtarchiv  eine  Eingabe  des  er- 
wähnten SohneSf  *der  als  Sekretär  am  Wendenschen  Landgericht  an- 
gestellt war^,  vom  Ende  des  Jahres  erhalten,  die  den  ganzen  musi- 
kalischen Nachlass  Meders  genau  veizeichnet  und  daher  wohl  einen 
Abdruck  an  diesem  Orte  verdient.  Ob  sich  in  Biga  von  diesen 
Kirchenkompositionen  noch  etwas  vorfindet,  habe  ich  bisher  noch  nicht 
in  Erfahrung  bringen  können.  Um  so  lieber  wird  man  hier  Matthesons 
Urtheil  über  Meders  Kompositionen  hören:  j^Yon  Verfertigung  starker 
Kirchenstücke  hat  er  am  meisten  Wesens  gemacht.  Was  uns  davon 
zu  Gresichte  kommen,  ist  in  Wahrheit  mit  solcher  Gründlichkeit,  mit 
solchem  großen  Fleiße  und  mit  nicht  mindrer  Anmuth  ausgearbeitet, 
daß  es  nicht  ohne  sonderbares  Vergnügen  anzuhören.  Vor  andern 
verdient  der  Mann  deswegen  gelobt  zu  werden,  daß  er  seines  großen 
Alters  ungeachtet,  bei  kräucklicher  Leibesbeschaffenheit,  dennoch  in 
seiner  Composition  sich  nach  dem  Geschmack  der  heutigen  niedlichen 
Ohren  zu  bequemen  und  die  neue  oratorische  Schreibart  mit  Nach- 
druck anzubrigen  jederzeit  für  seine  Schuldigkeit  und  Ergötzung  ge- 
halten hat.« 


Supplik  des  Notars  Erhard  Nicolaus  Meder 
prod.  et  lect.  in  Senatu  d.  21.  Nov.  17193. 

Magnifici 

Hoch  Edelgeborene,  Gestrenge,  Großmannveste,  Hochgelehrte  und  Hochweise 
Herren  Bürger  Meister  und  sfimbtl.  H  H.  Rathsverwandten ,  Hochgeneigte  und 
Hochgeehrte  Herren  1 1 ! 

Gott  zu  Ehren  componirte  und  in  die  Music  gesetzte  Psalmen  und  Lobge- 


«  Publica  75,  301. 

2  £r  war  zu  Danzig  am  8.  März  1689  geboren  und  starb  1744  am  8.  Okt.  — 
Am  5.  Sept.  1703  ersuchte  sein  Vater  den  Rektor  des  Rigaer  Lyceums,  ihn  zu 
entlassen,  da  er  ihn  zu  einem  Danziger  Bekannten  senden  wolle.  Sein  Sohn 
Friedrich  Valentin  M.  (1714 — 1769)  wurde  Pastor  zu  Arrasch.  Von  dessen  Tochter 
Beata  Elisabeth  (1753 — 1827),  die  den  Pastor  Gustav  Bergmann  heirathete,  stammt 
der  berühmte  Berliner  Chirurg  Ernst  von  Bergmann  ab. 

3)  Der  Rathsbeschluß  (Puolica  75,520)  lautet:    »Es  werden  die  offerlrte  Musi- 
calien  mit  Dank  angenommen,  will  E.  E.  Rath  wegen  der  Gage  des  seel.  Capell- 


Johann  Valentin  Meder.  ^Q 


siQge  können,  nach  absterben  des  Maitre  nicht  beßer  alß  zu  denen  Kirchen,  wo 
des  Allerhöchsten  Ehre  gepriesen  wird  y  employret  werden.  Gleichwie  nun  mein 
Seel.  H.  Vater  Capell  Meister  Johann  Valentin  Meder  vomehml.  zu  componirung 
geistlieher  MusicaUen  ein  Belieben  getragen,  und  dadurch  seinen  betrübten  Zu- 
stand, in  welchem  er  sich  jederzeit  notorie  befunden  gesehen,  versüßet :  also  habe 
auch  nicht  nur  Ich  selbsten  gleich  nach  seinem  Seel.  Hintritte  mich  entschlossen, 
seine  geistliche  Musicalia  denen  Kirchen  dieser  hochwehrtesten  Stadt  zu  widmen, 
sondern  bin  auch  aus  deßen  eigenen  Manuscriptis  erinnert  worden,  sothane  Sachen 
lieber  zu  Qottes  Ehren  und  seiner  Kirchen  anzuwenden  alß  in  frembde  Hände 
gerathen  zu  laßen.  Ich  hätte  zu  Erfüllung  dieses  Vorsatzes  meine  Schuldigkeit 
gleich  erwiesen,  wie  meinen  Seel.  Vater  beerdigen  laßen,  bey  welchem  E.  Hoch 
Edl.  und  Hochweiser  Kaht  auf  mein  demühtigstes  Ansuchen  das  freye  Glocken 
Spiel  hochgeneigt  verstattet,  und  dahero  sothane  geneigte  deference  mit  gehor- 
samsten Bank  erkenne,  wann  nur  meine  function  verstattet  hätte,  damahls  mich 
alhie  zu  verweilen  und  die  Musicalia  durchzusehen.  Nunmehro  aber,  da  zu  Durch- 
sehung der  Sachen  einige  Zeit  anwenden  können,  habe  ich  selbige  vermöge  bey- 
liegenden  Cathalogi  denen  Kirchen  dieser  hochwehrtesten  Stadt  zu  dediciren  keine 
Gelegenheit  weiter  versäumen  wollen.  In  solcher  Absicht  nun  überreiche  nicht 
nur  die  Musicalia  zum  Besten  der  Kirchen ,  sonder  wünsche  auch  dabey ,  daß  der 
große  Gott  diese  gantze  hochwehrteste  Stadt  beständig  mit  glücklicher  florirung, 
Friede  und  Vergnügen  bekröhne,  und  änbey  die  Gnade  verleihen  wolle,  Ihm  vor 
solche  Wohlthaten  in  denen  Häusern,  wo  seine  Ehre  gepriesen  wird,  nechst  dem 
Choral  auch  mittelst  der  edlen  und  Gott  wohlgefälligen  Music  Lob  und  Dank 
sagen  zu  können.  Wann  auch  nechst  deme  E.  Hoch  Edl.  und  Hochweisen  Bähte 
XU  eröffnen  genöthiget  werde,  wie  meine  Eltern  wegen  des  bedaurenden  Zustandes, 
in  welchem  mein  Seel.  Vater  so  wohl  vor,  alß  auch  nach  der  Pest  bekandter  maßen 
sieh  befunden,  andere  Mittel  aufnehmen  und  sich  in  Schulden  von  150  rthL  stecken 
mäßen,  zu  deren  Entrichtung  Ich,  dafeme  nicht  die  marque  einer  kindlichen  Un- 
danekbarkeit  hervorblicken  laßen  und  einen  üblen  Nachklang  erwecken  will,  ange- 
halten werde,  zu  Hebung  dieser  Last  aber  kein  ander  moyent ,  alß  meines  Seel. 
Vaters  bey  £.  Edl.  Stadts-Kasten  stehendes  nnd  weit  über  300  rthl.  sich  er- 
streckendes salarium,  welches  dem  Hn«  Eltisten  Meiners  bekandt  ist  und  von  dem- 
selben auf  E.  Hoch  Edl.  und  Hochw.  beliebiges  befragen  attestiret  werden  kan, 
zu  erfinden  vermag :  alß  nehme  zu  demselben  die  Zuflucht,  implorire  also  E.  Hoch 
Edl.  und  Hochw.  Kaht  gantz  gehorsamst,  es  geruhe  derselbe  mir  die  grace  zu 
erweisen,  und  hochgeneigt  zu  verfügen,  daß  mir  meines  Seel.  Vaters  restirendes 
salarium  außgezahlet  werden  möge,  damit  so  wohl  die  von  meinen  Eltern  gemachte, 
alß  auch  nach  deren  Tode  ihrentwegen  causirte  Unkosten  contentiren  könne.  Vor 
sotfaanerhocbgeneigten  deference  werde  jederzeit  in  verbundensten  respect  verharren 
E.  Hoch  Edl.  und  Hoch  weisen  Rahts 

gehorsamster  Diener 
Erhard  Nicola:  Meder. 

Cathalogus 

deren  von  dem  Seel.  Capell  Meister  Johann  Valentin  Meder  nachgelaßenen  geist- 
liehen Musicalien,  welche  zu  Gottes  Ehre  denen  Kirchen  der  Kayserl.  Stadt  Riga 


meisters  Meder  beym  Stadtkasten  nicht  nur  nachsehen  lassen,  sondern  auch  mithin, 
venn  der  Stadtkasten  zu  guten  Mitteln  gediehen,  H.  Imploranten  darauff  etwaß 
za  reichen  bedacht  seyn.« 

1S91.  4 


g0  Johannes  Balte. 


6.  rl. 


gewidmet  und  1719  d.  18.  Nov.  £.  Hoch  £dl.  und  Hochweisen  Rahte  mittelst  Be- 
gleitung einer  submissen  Sehrifft  übergeben  worden  von  dessen  Sohne  Erhard 
Nicolas  Meder,  des  Kavserl.  Land  Grts  Wendischen  Creyses  Notario. 

Partituren. 
Nr.     1.  Missa  ex  Gmol. 

2.  Die  Rrohn  unsers  Haupts  ist  abgefallen. 

3.  Magnificat. 

4.  Welt  ade!  Ich  bin  dein  müde. 

5.  Missa  ex  B  dur  au  ff  2  chöre. 
1.  H.  Jesu  Christ,  wahr  Mensch  und  Gott. 

Jesus  ist  mein  Heil  und  Leben. 
Wenn  mein  Stündlein  Torhanden  ist. 

7.  Dixit. 

8.  Der  herrliche,  doch  mit  Tränen  vermengte  Sieg  des  streitbaren  Helden 
Jephta  von  Gilead  über  die  Kinder  Ammon,  laut  der  Beschreibung  im 
Buch  der  Richter  Cap.  11. 

9.  Siehe  doch,  o  du  bekümmerte  Seele,  pro  festo  Pentecostes. 

10.  Veni,  sancte  Spiritus. 

11.  Missa  Jubilaea  a  20. 

12.  Gott  du  bist  derselbe  mein  König., 

13.  Ich  habe  einen  guhten  Kampff  gekämpffet  ä  14. 

14.  Missa  ex  F  dur  a  16. 

15.  Concertino  —  aria,  Das  ist  meine  Freude,  daß  ich  mich  zu  Gott  halte. 

16.  Missa  ä  6. 

17.  Gott  sende  dein  Licht  von  deinem  heil.  Himmel. 

18.  Auff,  aufF  mein  Hertz  mit  Freuden.     Auff  Ostern. 

19.  Welche  Wunder,  welche  Thaten,  pro  festo  Pentecostes. 

20.  Pro  Festo  Ascensionis  Christi.     Cantata:  Der  Sieges-Held  fähret  auff. 

21.  Dialogus  inter  Legem,  Peccatorem  et  Christum. 

22.  Ein  Artzt  ist  uns  gegeben. 

23.  Herr  wo  bleibstu  so  lange .^ 

24.  Was  mein  Gott  will. 

25.  Fröhlig  soll  mein  Hertze  springen. 

26.  Ich  habe  einen  guten  Kampff  gekämpfft.  ^  10. 

27.  Wer  ist  so  starck,  alß  wie  der  Tod. 

28.  Christ  ist  erstanden. 

29.  Schmücke  dich  o  liebe  Seele. 

30.  Die  Liebe  Gottes. 

31.  Missa. 

32.  Dialogus  inter  animam  et  Christum. 

33.  Diversi  Hymni. 

34.  Die  Passion. 

35.  Die  Passion,  in  Dantzig  componiret. 

36.  Actus  Musicus  de  passione  et  morte  Jesu  Christi;    componirt  Higae  170U 

37.  Actus  musicus  de  passione  Jesu  Christi,  componirt  1716. 

Partien. 

Nr.     1.0  herber  Apffel  biß. 

2.  Gott,  warum  verstössestu  uns  so  gar? 

3.  Weg,  weg  du  irdisches  Reich. 

4.  Herr  hadere  mit  meinen  Haderern. 


Johann  Valentin  Meder.  5I 


Nr.    5.  Dialogufl  von  David  und  Absolon. 

Ö.  0  Jesu  du  mein  Trost.     Heil.  Communion  Music. 

7.  Wenn  mein  Stündlein  verbanden  ist. 

8.  Wach  auff  mein  Hertz  und  freue  dich. 

9.  Domine  salvum  fac  Regem. 

10.  Gelobet  sey  der  Herr.    Pro  Festo  S.  Johannis. 

11.  Gott  hat  dir  o  Zion. 

12.  Wachet  auff  ruffet  uns  die  Stimme. 

13.  Die  starckcn  bedürffen  des  Arztes  nicht. 

14.  Jauchtzet  ihr.    Pro  Festo  visitationis  Mariae. 

15.  Missa  ä  12. 

16.  Du  o  schönes  Welt  Gebäude. 

17.  Selig  sind  die  Todten. 

18.  Posita  in  medio.    Pro  Festo  Paschalos  [!] 

19.  Herr  zeige  mir  deine  Herrlichkeit,  cum  Partitura  musica  luctuosa. 

20.  Jesu  meine  Freude. 

21.  /Auff  meinen  lieben  Gott. 
IWo  soll  ich  fliehen  hin.' 

22.  Festo  Pentecostes.     Gott  heiliger  Geist. 

23.  Pro  Adventu  Christi.    Erfreue  dich  Seele. 

24.  Hertzlich  thut  mich  verlangen,  cum  partitura. 

25.  Gott  du  bist  derselbe  mein  König. 

26.  Dominica  1°^»  Adventus  Christi  in  Dialogo :  Ach !  daß  die  Hülffe  auß  Zion  etc. 

27.  Missa  ex  £. 

28.  Missa  a  9. 

29.  Missa  ex  a  :|4: 

30.  Mit  Fried  und  Freud,  contrapunct. 

31.  Kindlich  groß  ist  das  gottselige  Geheimniß. 

32.  Brun  Quell  aller  Gühter. 

33.  Starck  mich  mit  deinem  Freuden  Geist. 

34.  Gelobet  seystu  Jesu  Christ 

35.  W^enn  mein  Stündlein  verbanden  ist. 

36.  Der  Löwe  vom  Stam  Juda  etc.  cum  Partitura. 

37.  Ventte  justi. 

38.  O  Jesu  Christ,  meins  Lebens  Licht. 

39.  O  Jesu  Christ,  wahr  Mensch  und  Gott 

40.  Wer  ist  der,  so  von  £dom  kommet.    Pro  Adventu  Christi. 

41.  Musica  pro  solennl  actu  inaugurationis  Ministri  Ecclesiae  cum  Partitura. 

42.  O  wie  selig  seyd  ihr  doch  ihr  frommen. 

43.  Wenn  mein  Stündlein  verbanden  ist 

44.  Neu-Jahrs-Andacht 

45.  Hodie  natus  est 

46.  Ich  bin  ja  Herr  in  deiner  Macht 

47.  O  Wunder!  Gott  auß  Gott  entsproßen. 

48.  Herr  unser  Herrscher. 

* 

49.  O  Traurigkeit 

50.  O  höchster  Gott 

51.  O  Ihr  Christen  seyd  erfreuet 

52.  Mag  ich  Unglück  nicht  wiederstehn. 

53.  Es  woU  uns  Gott  gnädig  seyn. 

54.  Ein  Artzt  ist  uns  gegeben. 

4* 


52  Jo^annefl  Bolto. 


Nr.  55.  Erbarm  dich  mein  o  Herre  Qott 

56.  Herr  Jesu  Christ  du  höolistes  Quht 

57.  Missa  ex  E'. 

58.  Ich  hab  mein  Sach  Qott  heimgestelt 

59.  Magnificat  ex  A  ^. 

60.  Magnificat  ex  E^. 

61.  Magnificat  &  15. 

62.  Gantata.    Herr  wo  bleibstu  so  laitge. 

63.  Magnificat  ä  6. 

64.  Festo  Pentecostes.    Was  fOr  Sausen,  was  für  Brausen. 

65.  Missa  ex  E^ 

66.  Unser  keines  lebt  ihm  selber. 

67.  Descende  dilecte  mi. 

68.  Hei  mihi  Domine. 

69.  Lobet  den  Herren  alle  Heiden. 

70.  Qui  sitit,  veniat. 

71.  O  Lamm  Gottes,  ex  G^  #. 

72.  Pro  Festo  Annunciationis  Mariae.    Siehe  meine  Jungfrau. 

73.  Bestelle  dein  Hauß. 

74.  Warum  toben  die  Heiden. 

75.  Renovamini  Spiritus  mentis  yestrae. 

76.  Exultemus,  gaudeamus. 

77.  lo  plaudite,  olaudite. 

78.  Affice  Medicum. 

79.  Patrem  della  Messa  sopra    O  Traurigkeit. 

80.  Missa,  Requiem. 

81.  Sage,  was  hilfft  alle  Welt. 

82.  Potestis  bibere  calicem. 

83.  Also  hat  Gott  die  Welt  geliebet. 

84.  Nascitur  Immanuel. 

85.  Missa  euero  [?]  Kyrie. 

86.  Te  natum  celebrent. 

87.  Seelig,  seelig  sind  die  Frommen. 

88.  Neu-Jahrs-Music,  mittelst  des  Psalms:  Nun  danket  alle  Gott. 

89.  O  Traurigkeit,  o  Hertzeleid. 

90.  Der  Tod  hat  zwar  verschlungen. 

91.  Musica  electitia  German:  neue  Kühr-music  zn  4  chören  k  3. 

92.  Cantata,  Herr  wo  bleibstu  so  lange.    Partitura. 


über  die  Bedeatung  der  Aphasie  fQr  den 
musikalischen  Aosdrack. 


Von 

Richard  Wallaschek. 


Ein  großer  Theil  jener  Streitfragen,  welche  die  Musikwissenschaft 
noch  heute  beschäftigen,  läßt  sich  schließlich  auf  die  merkwürdige 
Thatsache  zurückführen,  daß  der  musikalische  und  sprachliche  Aus- 
druck, obwohl  physiologisch  getrennte  Prozesse,  doch  im  Gesang  zu 
emer  einheitUchen  Leistung  verbunden  sind.  Indem  wir  nun  diese 
Eigenthümlichkeit  physiologisch  untersuchen,  wollen  wir  zunächst 
den  Sprachvorgang  für  sich  betrachten,  soweit  dies  zur  Herstellung 
einer  Analogie  mit  dem  musikalischen  Ausdruck  nöthig  ist,  um  dann 
zur  Charakterisirung  des  letzteren  selbst  überzugehen. 

»Sprechen  heißt  verstehen,  sowohl  sich  selbst  als  andere.  Wir 
sprechen  erst  dann,  wenn  wir  unsere  Gefühle  und  Anschauungen  be^ 
greifen  und  begriffliche  Vorstellungen  mit  denen  anderer  Personen 
auszutauschen  vermögen,  gleichgiltig  ob  dies  durch  Geberde  oder 
Laut  geschieht.  Zu  diesem  Verständniß  schlagen  Interjektionen  und 
Nachahmung  die  Brücke  ^a  Diesen  Interjektionen  gehen  als  erste 
hörbare  Äußerung  inneren  Lebens  überhaupt  Empfindungsrefle^e 
voraus  (Niesen,  das  erste  LaUen  des  Säuglings],  die  erst  in  weiterer 
Entwickelung  zum  Affekt-  oder  Gefählsreflex  (Interjektion)  führen, 
der  eine  vorhergegangene  innere  Wahrnehmung  voraussetzt.  Dieser 
Gefuhlfflreflex  (z.  B.  der  Schmerzensschiei)  ist  zunächst  nur  ein  i>aku- 
stischesc  Bild,  wie  Kußmaul  sagt»  d.  h.  er  zeigt  an,  daß  irgend  etwas 
in  uns  vorgeht,  ohne  daß  diese  Anzeige  als  solche  beabsichtigt  wäxe« 
IKe  Quelle  dieses  akustischen  Effekts  beim  G'^fühlsreflex  ist  eben  das 
Gef&hl,  das  t.  B.  den  Frosch  veranlaßt  zu  quaken,  er  ist  nicht  etwa 


1  Kutoaul :  Die  Störungen  der  Sprache  in  Ziemßen's  Handbuch  d.  spec.  Path. 
TL  Ther.  XIL  Anhang.  Leipzig  1877,  pag.  7. 


54  Richard  Wallaschek, 


eine  Leistung  des  Gehörorgans  * ,  für  das  er  eben  so  wenig  bestimmt 
ist,  als  er  von  dessen  Eindruck  ausgeht,  obgleich  das  in  späteren 
entwickelteren  Stadien  hinzukommen  kann.  In  diese  Beihe  gehören 
die  meisten  Lautäußerungen  der  Thiere,  in  die  wir  in  der  Regel 
viel  zu  viel  Zweckbewußtsein  verlegen,  das  ist  das  Stadium,  in  dem 
auch  beim  Menschen  artikulirter  Sprachlaut  und  musikalischer  Ton 
in  innigster  Verbindung  stehen,  ohne  daß  man  deshalb  jetzt  schon 
von  Musik  oder  Sprache  reden  könnte,  weil  wir  es  eb^i  nur  mit 
Reflexen  zu  thun  haben.  Der  weitere  Schritt  ist  nun  der,  daß  wir 
bestrebt  sind  mit  dem  akustischen  Bild,  als  dem  Effekt  des  Gefiihls- 
reflexes.  Anderen  zu  zeigen,  was  es  bedeutet;  dann  erzeugen  wir  es 
aber  auch  nicht  mehr  als  bloßen  Reflex  und  erreichen  unsere  Absicht 
am  schnellsten  und  sichersten  dadurch,  daß  wir  in  dem  akustischen 
Bild,  das  wir  geben,  oder  dem  entsprechenden  Zeichen,  einen  Zweck 
nachahmen  (Weisen  der  Thüre.).  Die  erste  Verständigung  ist  jeden- 
falls die  Geberde,  dann  die  Sprache  in  akustischen  Bildern,  welche 
die  Onomatopoiie  und  Lautmetapher  zur  Nachahmung  benützen. 
Sie  ersetzt  ein  spezielles  Uebereinkommen  über  die  Bedeutung  der 
Laute,  obgleich  auch  ein  solches  früh  genug  durch  tägliche  Gewohn- 
heit zu  Stande  kommt,  namentlich  bei  schriftlicher  Verständigung, 
wo  die  Knotenschrift  der  vdlden  Völkerschaften  (die  doch  nur  auf 
Uebereinkommen  beruht)  der  Bilderschrift  vorangeht.  Erst  in  diesem 
Stadium  bekommen  die  Laute  ihre  Bestimmtheit,  erst  jetzt  entsteht 
die  e^entliche  Sprache  mit  dem  Verständniß  als  Ursache  und  Wir- 
kung 2.  Verstehen  ist  demnach  ein  intersubjektiver  Vorgang,  die 
Mittel  zu  dessen  Realisierung  wachsen  und  verändern  sich  propor- 
tional zum  Zweck. 

Mit  diesem  entwickelten  Sprachvorgang  können  nun  gewisse 
krankhafte  Aenderungen  vor  sich  gehen,  die  uns  hier  deshalb  inter- 
essiren,  weil  in  ihnen  alle  Sonderprozesse  blosgelegt  werden,  aus 
denen  unser  Verständigungsprozess  zusammengesetzt  ist.  Sie  lassen 
sich  nach  folgenden  Hauptgruppen  unterscheiden: 

1.  Störungen  der  Sprache: 

^  Kußmaul  a.  a.  O.  pag.  53. 

^  Eine  andere  Theorie  Max  Müiler's,  nach  welcher  die  Sprache  durch  Be- 
grifffibildting  entstanden  sei,  ist  von  Lubbock,  Taylor,  Wilson,  s&mmtliohen  hier 
üitirten  Ärzten  mit  so  überzeugendem  ethnologischen  und  physiologischen  Material 
widerleg^  worden,  daß  Müller  schließlich  selbst  diese  Thatsaohen  zugab,  jedoch 
mit  der  Bemerkung,  die  oben  erwfihnte  Spraohableitung  gebe  nur  phonetische 
Typen,  keine  Wurzeln,  von  denen  sich  Derivata  bilden  lassen.  Lubbook  wider- 
legte (Origin  of  Civilisation)  auch  diese  Behauptung,  während  Taylor  (PrimitiTe 
Culture)  hinzufügt,  die  Menschen  hätten  nicht  sprechen  gelernt  um  künftigen 
Etjrmologen  Wurzeln  zu  verschaffen,  sondern  um  sich  zu  verständigen. 


über  die  Bedeutung  der  Aphasie  für  den  musikalischen  Ausdruck.         55 


a}  Dei  Patient  versteht  alles,  kann  aber  selbst  nicht  odei  nur 
mangelhaft  sprechen  (motorische  Aphasie). 

b)  Patient  kann  sprechen ,  versteht  aber  nicht  alles  oder  nur 
mangelhaft  (sensorische  Aphasie  oder  Worttaubheit).  Da 
in  diesem  Falle  die  sensorisehen  Prozesse  nicht  mehr  in- 
takt sind,   tritt  Yerbalamnesie  oft  damit  in  Verbindung  auf. 

c)  Patient  kann  sprechen,  gebraucht  aber  unrichtige  Worte, 
die  er  correkt,  oder  richtige  Worte,  die  er  mangelhaft  aus- 
spricht (Ataxie  oder  Paraphasie)  z.  B.  pagnecham  statt  cham- 
pagne, 

d)  Patient  kann  nur  nachsprechen^  (Verbal- Amnesie).  Dieser 
Verlust  des  Wortgedächtnisses  geht  immer  vom  Besonderen 
zum  Allgemeinen ;  man  verliert  früher  das  »ja«  als  das  »nein«. 

Diese  Fälle  beweisen,  daß  »die  Feinheit  des  Gehörs  und  die  Ver- 
bindung des  Wortbildes  mit  dem  entsprechenden  Gedanken  ver- 
schiedene Dinge  sind^«.  Am  deutlichsten  zeigt  sich  das  in  dem 
Falle,  wo  Patient  das  Wort  wiederholen  konnte,  die  Buchstaben  sah 
und  doch  nicht  verstand^.  Auffallend  ist  ferner,  daß  Patienten  mit 
motorischer  Aphasie  in  der  Kegel  nicht  lesen  können,  oft  selbst  das 
nicht,  was  sie  selbst  geschrieben  habend. 

2.  Störungen  im  schriftlichen  Ausdruck: 

a)  Patient  kann  nicht  schreiben  (Agraphie). 

b)  Patient  kann  schreiben,  schreibt  aber  unrichtige  Worte  und 
Buchstaben  (Paragraphie  oder  ataktische  Agraphie). 

c)  Patient  kann  nur  nachschreiben  (richtig  oder  mangelhaft). 
Solche  Kranken  schreiben  Gedrucktes  in  Schreiblettem  oder 
in  Drucklettern  ab,  je  nachdem  nebst  dem  Verständniß  des 
Schriftzeichens  auch  die  Erinnerung  zwischen  gedruckten 
und  geschriebenen  Lettern  geblieben  ist  oder  nichts.  (Am- 
nestische Agraphie). 

3.  Störungen  im  Verständniß  von  Schriftzeichen: 

a)  Patient  kann  nicht  lesen  ( Alexie) .  Dies  kommt,  wie  wir  gesehen 
haben,  oft  in  Verbindung  mit  motorischer  Aphasie  vor  (sog. 


1  »The  patient  cannot  think  of  a  word«  wie  W.  R.  Gowers  sagt.  Beispiele 
in  seinen:  Lectures  on  the  Diagnosis  of  Diseases  of  the  Brain.  London  1885 
pag.  128;  auch:  A  Manual  of  Diseases  of  the  Nervous  System.  London  1886. 
Im  folgenden  ist  mit  der  Seitenzahl  das  ersteie  Werk  citirt.' 

s  Kußmaul  a.  a.  O.  pag.  102. 

'  Ooiren  a.  a.  O.  pag.  137. 

^  Beispiel  bei  Hughlin gs- Jackson :  Brain,  a  Journal  of  Neurology.  London 
1S7»;  VoL  I,  pag.  319. 

5  Beispiel  bei  Oowers  a.  a.  O.  pag.  134. 


56  Richard  Wallaschek. 


relative  Alexiej ;  außerdem  giebt  es  noch  eine  absolute  Alexie, 
deren  Folge  auch  Agraphie  ist;  in  diesem  Falle  besitzen  die 
Schriftzeichen  keinerlei  Vorzug  vor  den  übrigen  optischen 
Erinnerungsbildern  (der  Kranke  beißt  z.  B.  in  die  Seife)  ^ 
b)  Patient  kann  lesen,  verwechselt  aber  die  zu  lesenden  Worte 
oder  Silben  oder  Buchstaben  (Paralexie),  trotzdem  er  manch- 
mal noch  ganz  gut  buchstabiren  kann,  ein  Beweis,  daß 
Buchstabiren  und  Lesen  nicht  identische  Prozesse  sind. 
4.  Störungen  im  mimischen  Ausdruck: 

a)  Patient  findet  nicht  die  entsprechende  Geberde  zur  Ver- 
ständigung. Er  kann  z.  B.  nicht  jemand  zu  sich  winken. 
(Amimie). 

b)  Patient  kennt  die  Geberde,  verwechselt  aber  ihre  Bedeutung, 
(Paramimie) ;  er  nickt  mit  dem  Kopf  um  zu  verneinen,  hebt 
2  Finger  empor,  um  4  auszudrücken  (auch  ataktische  Amimie 
genannt). 

c)  Patient  kann  die  entsprechende  Geberde  nicht  selbst  her- 
vorbringen, wohl  aber  nachmachen  (amnestische  Amimie). 
Die  Bewegungen  eines  Clarinettisten,  die  Patient  unmittelbar 
imitirte,  war  er  später  nicht  fähig  aus  eigenem  Antrieb  oder 
auf  Geheiß  zu  wiederholen. 

Alle  diese  Fälle  beweisen  zunächst,  daß  unser  Gedankenausdruck 
aus  drei  verschiedenen  Prozessen  zusammengesetzt  ist,  die  vnx  deshalb 
erwähnen,  weil  auf  musikalischem  Gebiete  eine  dementsprechende 
Analogie  zu  finden  ist.  Diese  Prozesse  sind:  1.  der  sinnUche  Ein- 
druck des  Objekts,  2.  der  entsprechende  Gedanke,  3.  seine  Verbin- 
dung mit  einem  intersubjektiven  Verständigungsmittel  (Laut,  Schrift- 
zeichen oder  Geberde)  und  die  Äußerung  dieses  Mittels.  Das  be-<- 
weist  aber  weiter,  daß  ein  Denken  im  Sinne  der  Erhöhung  unserer 
Intelligenz  nicht  gefordert  werden  kann  durch  einseitige  Ausbildung 
unseres  Sprechprozesses  (Philologie) ,  sondern  nur  in  Verbindung  mit 
Gedanken,  die  sich  au  den  unmittelbaren  sinnlichen  Eindruck  der 
Objekte  anschließen.  Dann  erst  sind  alle  drei  Prozesse  vereinigt  2. 
Auch  dafür  werden  wir  —  mutatis  mutandts  —  auf  musikalischem 
Gebiete  Analogien  finden. 

^  Näheres  Über  Beispiele  bei  C.  Wemicke:  Der  aphasische  Symptomencom- 
plex.  Breslau  1S74,  pag.  137.  Kußmaul  a.  a.  O.  pag.  199.  Oogol:  Beitrag  zur 
Lehre  von  der  Aphasie.  Breslau  1873.  Diss.  —  Man  beachte  die  Ahulichkeit 
dieser  und  ähnlicher  Symptome  der  Aphasie  im  weitesten  Sinne  mit  den  Erschei- 
nungen des  Hypnotismus. 

*  Eine  Erziehung  aber  in  Sprachen,  die  nicht  zur  Konversation  bestimmt 
sind,  fördert  natürlich  noch  weniger  das  Denken,  sondern  nur  den  obigen  3.  Theil. 
So  bekommen  wir  eine  Art  Papagei-Wissenschaft  statt  Bildung. 


über  die  Bedeutung  der  Aphasie  für  den  musikalischen  Ausdruck.         57 

Das  merkwürdigste  bei  den  oben  erwähnten  Fällen  ist  nicht  nur, 
dafi  Patient  imitiren  kann,  was  ihm  spontan  auszudrücken  nicht  ge- 
lingt, sondern  daß  ein  solcher  Ausdruck  oft  automatisch  und  als  6e- 
fohbreflex  gelingt  ^  selbst  wenn  er  weder  spontan  noch  imitativ 
möglich  ist.  Die  automatischen  und  Gefühlsreflexe  sind  also  eine 
Tom  Gedankenausdruck  yerschiedene  Erscheinung ,  eine  Selbststän- 
digkeit, die  für  den  Charakter  des  musikalischen  Ausdruckes ,  wie 
sich  zeigen  wird,  von  großer  Wichtigkeit  ist.  Das  Beispiel  von  dem 
aphatischen  Mädchen,  das  dem  behandelnden  Arzt  sagt :  nI  can't  say 
^no^  nr9^  obgleich  sie  ^no'  allein  willkürlich  nicht  sprechen  kann^ 
Yom  sprachlosen  Idioten,  der  im  Fieberdelirium  zu  sprechen  begann  2, 
Tom  Professor  der  Jurisprudenz,  der  automatisch  abstrakte  juristische 
Vorträge  hält,  ohne  sonst  »seinen  Regenschirm  verlangen  zu  können ^cr, 
▼om  Arzt,  der  bewußtlos  dennoch  zur  bestimmten  Zeit  seinen  Pa- 
tienten richtig  zu  ordiniren  anfängt  etc.  bestätigen  dies  für  die 
1.  Gruppe«  Das  Aifektwort  erhält  sich  länger  als  die  Gedanken- 
sprache. In  der  2.  Gruppe  giebt  es  Personen,  die  noch  immer  ihren 
Namen  unterschreiben,  obgleich  sie  längst  nicht  mehr  schreiben 
können.  In  der  mimischen  Gruppe  ist  sogar  ein  schlagendes  Beispiel 
von  einem  Bewußtlosen,  der  sich  täglich  vollkommen  rasirt^.  —  Kurz 
Beweise  genug,  die  die  Selbstständigkeit  automatischer  Äußerungen 
kennzeichnen. 

Zur  Erklärung  dieser  Thatsache,  daß  die  Bildung  von  Begriffen 
in  andern  Gehimpartien  und  auf  andern  Bahnen  vor  sich  geht,  als 
der  Ausdruck  von  Gefühlen  und  die  automatischen  Prozesse,  hat  die 
Lokalisationstheorie  einen  sehr  bequemen,  jedoch  immer  mehr  be- 
strittenen, Aufschluß  gegeben.  Seit  Vulpian^s  r>loi  de  suppleance^y 
nach  welchem  alle  Theile  der  Großhirnrinde  dieselben  Funktionen 
übernehmen  können,  und  der  genau  entgegengesetzten  Lehre  Hitzig's 
hat  man  auf  verschiedene  Art,  zuletzt  dahin  zu  vermitteln  gesucht, 
daß  eine  Lokalisation  nur  nach  2  Hauptgruppen  erfolgt,  nach  moto- 
rischen und  sensorischen,  Bewegungs-  und  Empfindungsvorstellungen  ^ ; 


1  Ooviera  a.  a.  O.  126. 

*  The  Lancet  1871,  voL  II,  pag.  430. 

>  Tiousseau  in  Bulletin  de  VAead.  Imp.  de  M6decine  Tom.  XXX,  1864—65, 
pag.  654.  Dieser  Band  enthält  überdies  die  ganse  berühmte  Diskussion  .über 
Aphasie,  die  1865  in  der  Akademie  gehalten  wurde,  und  die  zugleieh  einen  Über- 
hßek  aber  die  gesammten  Streitfragen  gewährt.  Eine  andere  berühmte  Diskussion 
&&d  186S  auf  dem  Annucd  meeting  of  the  British  Association  zu  Norwieh  statt 
Btteaunn  charakterisirt  ihr  Resultat  mit  den  Worten :  Tot  homines,  tot  sententiae 
(a.  a.  O.  pag.  99) . 

4  >The  Brainc  V9I.  11,  pag.  354  u.  f. 

5  Oudden:  Gesammelte  Abhandlungen,  herausgegeben  von  Orashey  1889. 


58  Richard  Wallaschek, 


außeidem  haben  die  erst  vor  wenigen  Wochen  publicirten  Unter- 
suchungen Brown-Sequard's  *  festzustellen  gesucht,  daß  jede  Hemi- 
sphäre im  Stande  ist,  willkürliche  Hewegungen  auf  beiden  Seiten  des 
Körpers  zu  erzeugen,  und  von  ihnen  sensorische  Prozesse  aufzu- 
nehmen, so  daß  wir  zwei  große  Nervencentren  besitzen,  in  demselben 
Sinne  als  wir  2  Augen,  2  Ohren  etc.  haben.  Doch  gibt  auch  er  zu, 
was  vor  ihm  schon  Gowers,  Hughlings-Jackson  und  Kussmaul  beob- 
achtet haben,  daß  beim  Sprechen  das  hintere  Dritttheil  der  dritten 
linken  Stirnwindung  (sog.  Broca'sche  Region)  thatsächlich  am  meisten 
eingeübt  wird 2,  womit  aber  nicht  gesagt  ist,  daß  die  rechte  Hemi- 
sphäre nicht  supplementär  einzutreten  vermöge.  Das  letztere  geschieht 
meistens  bei  Kindern,  die  selten  permanente  Aphasie  davontragen, 
da  sie  leicht  ein  rechtsseitiges  Sprachcentrum  für  Sprechen,  Lesen 
und  Schreiben  einüben^,  aber  auch  bei  Erwachsenen,  die  mit  dieser 
neuen  Einübung  und  Aufiiahme  neuer  Eindrücke  oft  ein  ganz  neues 
Ego  bekommen  können.  Eine  Genesung  kann  das  alte  l^o  wieder 
hervorrufen,  und  beide  Zustände  können  nun  mehrere  Male  wechseln, 
so  daß  ein  doppeltes  Ich- Bewußtsein  entsteht,  von  denen  eines  das 
andere  nicht  kennt  (Periodische  Aphasie)^.  Doch  abgesehen  von 
diesen  Komplikationen  ist  uns  die  Funktion  einer  einzigen  Hemi- 
sphäre beim  Sprechen  deshalb  wichtig,  weil  der  ungestörte  Verlauf 
emotionaler  und  automatischer  Prozesse  trotz  Störung  des  Gedanken- 


1  The  Forum.     New-York.  August  1890.  —  vol.  IX,  pag.  627. 

2  Damit  hängt  entwioklungsgescfaichtlich  die  Thatsache  zusammeiii  daß  die 
3.  linke  Stirnwindung  bei  Mikrocephalen  außerordentlich  unvollkommen  entwickelt 
ist,  wie  Marshall  in  Untersuchungen  über  das  Gehirn  einer  Buschmannsfrau,  zweier 
Idioten  europäischer  Abstammung  und  mehrerer  anderer  Idioten-Gehirne  gezeigt 
hat  (Philo«.  Transactions  vol.  154;  1864,  pag.  501 — 555).  Dasselbe  gilt  vom  Ge- 
hirn der  Affen  (vide  Carl  Vogt  bei  Batemann:  On  aphasia  pag.  168).  Man  ist 
nun  noch  weiter  gegangen  und  hat  versucht  zu  zeigen,  daß  eine  Reizung  der  en&- 
sprechenden  Gehimpartien  bei  den  Vögeln  den  Stimmapparat  in  Aktion  setzt; 
gerade  dadurch  aber  scheint  mir  die  Vermuthung  wahrscheinlich,  daß  diese  Stimm- 
äußerung der  Vögel  nichts  specifisch-musikalisches  ist,  denn  die  Entwickelung  der 
obengenannten  Partien  führt  wohl  zur  Ermöglichung  des  menschlichen  Sprachlautes, 
hat  aber  mit  dem  musikalischen  Ausdruck  nichts  zu  thun.  Deshalb  scheint  es 
mir  auch  etwas  übereifrig  zu  sein,  aus  den  primären  Himanschwellungen  (dem  ent- 
wickelungsgeschichtliohen  Vorstadium  der  späteren  Großhirnwindungen)  bei  Bienen 
und  Ameisen,  auf  deren  musikalisches  Talent  schließen  zu  wollen,  wie  dies  be- 
reits geschehen  ist. 

3  Zahlreiche  Beispiele  bei:  A.  Claus:  Aphasie  bei  Kindern  im  Jahrbuch  für 
Kinderheilkunde.  Neue  Folge,  XVII  Bd.  pag.  369  u.  400,  S.  Wilks:  Cases  of 
Disease  of  the  Nervous  System  in  Guy's  Hospit.  Reports;  3.  series,  voL  XVII, 
pag.  156. 

^  Beispiele  bei  Batemann:  On  aphasia  pag.  44;  Ribot,  Diseases  of  the  Me- 
mory pag.  99 — 125. 


Über  die  Bedeutung  der  Aphasie  für  den  musikalischen  Ausdruck.         59 


aasdrucks  in  Folge  der  Erkrankung  einer  Hemispkäie  beweist,  daß 
diese  letzteren  stets  von  beiden  Hemisphären  ausgehen,  und  weil  diese 
Funktion  überdies  wichtig  ist  bei  Ausfuhiung  bestimmter  willkür- 
licher Bewegungen,  die  beim  Spielen  musikalischer  Instrumente  eine 
80  groBe  Rolle  spielen.  An  diese  letztere  Thatsache  hat  Wilks  einige 
interessante  Fragen  geknüpft^.  Zunächst  stellt  er  fest,  daß  bei  der 
Einübung  eines  Armes  für  eine  bestimmte  Bewegung  nicht  der 
Muskel  oder  Nerv  des  Armes  oder  das  Gehirn  als  solches,  sondern 
ein  bestimmtes  Nervencentrum  eingeübt  wird,  j> woraus  folgt,  daß 
gerade  so  wie  (z.  B.  beim  Violinspielen)  die  beiden  Arme  für  ver- 
schiedene Bewegungen  eingeübt  sind,  der  eine,  um  den  Bogen  zu 
handhaben,  der  andere,  um  die  Saiten  zu  streichen,  so  die  beiden 
Seiten  des  Gehirns  eingeübt  werden  müssen,  um  eine  gewisse  Be- 
wegung auszuführen.«  j»Da  die  beiden  Hände  beim  Spiel  nicht  ver- 
wechselt  werden  können,  so  beweist  dies ,  daß  jede  Seite  des  Gehirns 
speziell  für  die  ihr  eigenthümliche  Bewegung  eingeübt  worden  sein 
muß.«  Dieses  Beispiel  beweist  mir  nun  freilich  immer  nur,  daß 
jede  Hand  blos  eine  bestimmte  Bewegung  gelernt  hat,  ohne  etwas 
darüber  auszusagen,  woher  diese  Beweguug  geleitet  wird ;  doch  hätte 
Wilks  als  passenderes  Beispiel  den  Klavierspieler  anführen  können, 
dessen  beide  Arme  dieselben*  Bewegungen  ausführen,  dem  es  aber 
nicht  ohne  besondere  Übung  gelingt,  mit  der  rechten  Hand  den 
Baßschlüssel,  und  mit  der  linken  den  Violinschlüssel  zu  spielen. 
Selbst  ohne  ein  »Übergreifen«  der  Hände  kann  der  Anfänger,  der  ge- 
wohnt ist,  primo  zu  spielen,  nicht  ohne  weiteres  den  secondo  im  Baß- 
schlüssel spielen,  nicht  weil  er  die  Baßnoten  etwa  nicht  lesen  kann 
er  kann  dies  ganz  gut  für  die  linke  Hand  allein),  sondern  —  wir 
können  hier  Wilks  citiren  — :  »Der  Grund,  warum  die  linke  (oder 
rechte)  Hand  nicht  unverzüglich  der  Aufforderung  des  Gedankens 
folgen  konnte,  war  einfach,  weil  sie  dazu  nicht  geübt  wurde,  und 
deshalb  unfähig  war  es  zu  thun.«  Es  scheint  überhaupt,  daß  die 
meisten  Menschen  —  wie  Brown-Söquard  mit  Recht  bemerkt  hat  — 
nur  eine  Gehimpartie  für  Erlernung  der  Handbewegungen  einüben 
und  alle  anderen  motorischen  Elemente  ganz  unbenutzt  lassen.  Mit 
jeder  Hand  selbstständig  zu  handeln  ist  nicht  allen  Menschen  ohne 
weiteres  mißlich,  und  die  Übung  musikalischer  Instrumente  beweist 
das  täglich.  Schon  das  einfache  Beispiel  mit  der  rechten  Hand  der 
Brust  entlang  auf-  und  abzugleiten,  und  zu  gleicher  Zeit  mit  der 
linken  senkrecht  darauf  zu  schlagen  ist  manchen  Menschen  unmög- 
Uch,  und  ich  habe  bemerkt,   daß   Leute,    die  ein  Musikinstrument 


1  Guy's  Hospital  Keports.    Neue  Serie  XVII.  pag  158. 


g()  Richard  Wailaschek, 


spielen,  dies  viel  leichter,  oft  ohne  weiteres  ausführen  können,  als 
andere,  die  keine  instrumentale  Vorübung  haben. 

Noch  eigenthümlicher,  als  auf  dem  Gebiete  der  Instrumental- 
musik, ist  die  Thätigkeit  des  Gehirns  beim  Singen  in  Anspruch  ge- 
nommen, und  gerade  hier  geben  uns  die  Fälle  Ton  Aphasie  einen 
neuen  Aufschluß  über  die  Natur  der  musikalischen  Äußerungen  über- 
haupt. Es  zeigt  sich  nämlich,  daß  sie  auf  denselben  Bahnen  und 
mit  Hilfe  derselben  Gehirnpartien  ausgeführt,  beziehungsweise  vor- 
bereitet werden^  wie  die  automatischen  und  Gefühlsäußerungen.  Zur 
Bestätigung  dieser  Ansicht  dienen  die  folgenden  Krankheitsbilder, 
deren  Betrachtung,  wie  wir  sehen  werden,  auch  noch  in  anderer  Be- 
ziehung für  die  Musikwissenschaft  wichtig  ist. 

Sehr  häufig  wird  namentlich  bei  Kindern  die  Bemerkung  ge- 
macht, daß  sie  trotz  Aphasie  ganz  gut  singen  können ;  sie  äußern  in 
solchen  Fällen  gewöhnlich  nur  ein  Wort,  oder  eine  oder  mehrere 
Silben  (Jackson  in  The  Lancet  23.  Sept.  1871.  Vol.  2.  pg.  430). 
Ein  Aphasischer  sang  Tutres-nettemenU  die  ganze  Marseillaise  und  Pa- 
risienne  nur  mit  der  Silbe  ntcmty  der  einzigen,  die  er  hervorbringen 
konnte  ^  ein  anderer  sang  ein  Lied,  das  er  während  Beiner  Krank- 
heit korrekt  komponirt  und  niedergeschrieben  hatte,  während  er  sich 
auf  dem  Klavier  begleitete  (Knoblauch:  Über  Störungen  der  musika- 
lischen Leistungsfähigkeit  in  Folge  von  Gehirnläsionen.  Heidelberg 
Dissert.  1888.  pg.  8).  Häufig  ist  in  solchen  Fällen  die  Textaussprache 
auf  die  wenigen  Worte  und  Silben  beschränkt,  die  man  überhaupt 
noch  gebrauchen  kann. 

Aber  auch  ein  Gesang  ohne  Textaussprache  kommt  bei  Apha- 
sischen  vor.  Ein  Sjähriger  Knabe,  der  nur  »J7er&«  und  i^Eleanora 
sagen  konnte  und  im  Alter  von  7  Monaten  j» Wasser  im  Gehirne 
hatte,  konnte  ebenfalls  singen,  obgleich  er  den  diesbezüglichen  Bitten 
Jackson^s  gegenüber  unerbittlich  blieb.  Sein  Vater  aber  berichtete, 
i>daß  er  die  Noten  der  Melodien  ganz  korrekt  wiedergiebt,  doch  dabei 
keine  Worte  ausspricht.  Der  Arzt,  der  ihn  außerhalb  des  Spitals  be- 
handelte, berichtet,  daß  er  den  Knaben  mehrere  Melodien  habe 
singen  hörenu.  Es  kann  freilich  auch  der  Stimmverlust  (Aphonie) 
mit  Sprechverlust  zusammenfallen,  obgleich  das  nach  Jackson  selten 
vorkommt.  JiFast  alle  Patienten,  welche  die  Sprache  verloren  haben, 
können  einige  Worte  äußern,  wie  xja«  oder  Jineimr,  und  sie  behalten 
die  f%higkeit,  den  Ton  der' Stimme  zu  verändern«  (Lancet  pg.  431). 

^  J.  Falret:  Aphasie,  Aph^mie,  Alalie  im  Dlctionnaire  encyclop^dique  des 
Sciences  M^dicales  von  A.  Dechambre.  Paris  1866.  V.  Band,  pag.  620.  —  Falret 
hat  sich  überdies  die  Mühe  genommen  am  Schluß  des  Artikels  die  ganse  Literatur 
über  Aphasie  von  1585 — 1866  zusammensustellen. 


Über  die  Bedeutung  der  Aphasie  für  den  musikalischen  Ausdruck.        ß\ 


Zahlreich  sind  ferner  die  Fälle,  wo  der  Patient,  trotz  Aphasie, 
mm  Gesang  Worte  ausspricht,  die  er  sonst  nicht  auszusprechen  oder 
selbst  nachzusprechen  im  Stande  ist.  Ein  10 jähriger  Knabe,  der  nur 
»heren  und  »ihereit  und  »/  toon^h  zu  sagen  im  Stande  war,  konnte  zum 
Gesang  und  nur  zum  Gesang  auch  andere  Worte  sprechen,  wie: 
«Joseph  Mary,  Maggie  May,  Not  for  Joet  (Lancet  a.  a.  O.).  Ein 
Offizier  sang  korrekt  den  Text  des  ersten  Verses  der  Marseillaise, 
obgleich  er  sonst  nur  npardn  und  »^  sprechen  konnte  (Grasset  bei 
Knoblauch  a.  a.  O.).  Ein  anderer  Patient  (Gowers  a.  a.  O.  pg.  126) 
sprach  in  der  ganzen  Zeit,  vom  Beginn  der  Krankheit  bis  zu  seinem 
Tode,  nur  tyes^  und  »no«,  einmal  sagte  er  imingn^  als  der  Hausarzt 
ihm  good  moming  wünschte.  Eines  Tages  begann  einer  der  Patienten 
im  Hospital  zu  singen:  )>/  dreamt  that  I dwelt  in  marhle  hallsa.  Der 
sprachlose  Patient  stimmte  ein  und  sang  den  ersten  Vers  mit  dem 
anderen  Patienten,  und  dann  den  zweiten  Vers  allein,  indem  er 
jedes  Wort  korrekt  ausspracht  Ein  6 jähriges  Mädchen,  das  mit 
«rechtsseitiger  Hemiplegie  mit  Betheiligung  der  rechten  Gesichts- 
hälfte und  Aphasie«  behaftet  war,  »konnte  anfangs  gar  nicht  sprechen, 
später  sagte  es  »Mama«,  scheint  auch  einzelne  Worte  nachgesprochen 
zu  haben  und  konnte  das  Liedchen :  >> Weißt  du,  wie  viel  Sternlein 
stehen«  u.  s.  w.  singen,  ohne  den  Text  des  Liedes  hersagen  oder 
einzelne  Worte  desselben  willkürlich  sprechen  zu  können«.  Von 
einem  2  Monate  späteren  Stadium  heißt  es:  «Spontan  bringt  sie 
nur  das  Wort  »Mammea  hervor;  sie  vermag  einzelne  Worte  nachzu- 
sprechen, aber  nur  schlecht  und  unvollkommen.  Ihr  Liedchen: 
«Weißt  du  u.  s.  w.«  singt  sie,  wenn  man  es  anfängt,  mit  richtiger 
Melodie  wie  ein  aufgezogenes  Uhrwerk  ab ;  bleibt  sie  einmal  stecken, 
80  vermag  sie  nicht  fortzufahren  oder  von  neuem  zu  beginnen, 
^mmtliche  Worte  des  Textes,  von  denen  sie  kein  einziges  spontan 
sprechen  kann,  werden  beim  Singen  korrekt  artikulirt.a  (Nähere  aus- 
führliche Krankengeschichte  bei  Knoblauch  a.  a.  O.  4). 

Nicht  genau  beobachtet  ist  ein  Fall,  wo  der  Patient  Verbalam- 
nesie  hatte  und  von  dem  es  heißt :  j)Was  er  an  Gesängen  und  Ge- 
beten gewußt,  hatte  er  meistens«  (also  doch  nicht  ganz)  »vergessen« 
(AUg,  Zeitschr.  für  Psychiatrie  Tom.  VI  1849,  pg,  690). 

Eine  weitere  Betrachtung  ähnlicher  Beispiele  ergiebt,  daß  wir  auch 
in  rein  musikalischer  Beziehung  verschiedene  Gruppen  von  Störungen 
unterscheiden  können,  die  denen  der  Aphasie  (im  weitesten  Sinne  des 
Wortes)  parallel  laufen  und  die  wir  einem  passenden  Vorschlag 
Knoblauches  folgend  »Amusieu  nennen  wollen.     Diese  sind: 

1  Die  Sektion  ergab  eine  Embolie  der  Arteria  ceiebri  media  und  eine  Zer> 
itörung  der  ganzen  motorischen  Sprachregion  der  linken  Hemisphäre. 


g2  Richard  Wallaschek, 


1«  Störungen  des  gesanglichen  Ausdrucks: 
aj  Motorische  Amusie.  Patient  kann  nicht  mehr  singen.  !Es 
scheint,  daß  diesbezügliche  Fälle  in  der  Theatergeschichte 
öfter  vorkommen,  wo  bei  Sängern  oft  plötzlich  ein  theil- 
weises  oder  gänzliches  Unvermögen  zu  singen  eintrat,  doch 
sind  sie  nicht  immer  sorgfältig  beobachtet  und  mitgetheilt. 
Ein  genau  überlieferter  Fall  ist  folgender:  'i>Une  de  mes 
mal<ide8y  assez  bonne  musicienne^  retrouvait  parfaitement  ses 
noteSj  pouvait  meme  ecrire  de  la  musique^  en  composer;  eile 
reconnaissait  un  air^  lorsqvüelle  Ventendait^  mais  eile  etait 
incapable  de  le  fredonnera   (trällern)  ^ 

b)  Sensorische  Amusie  oder  Tontaubheit.  Patient  hört  keine 
Töne  mehr  oder  unterscheidet  sie  nicht.  Die  übrige  Ge- 
hörsempfindung kann  dabei  intakt  bleiben  oder  mehr  als 
normal  entwickelt  sein;  Patient  kann  manchmal  selbst 
singen,  wenn  auch  meist  unrichtig.  .Die  Wahrnehmung 
des  Rhythmus  und  der  Schallstärke  verschafi't  sogar  eine 
Art  Vergnügen  an  der  Musik.  Es  ist  bisher  nicht  voll- 
kommen entschieden,  ob  ein  Fall  von  Tontaubheit,  wie 
Grant  Allen  einen  berichtet  hat*-^,  wirklich  auf  eine  Abnor- 
mität in  den  Nervencentren  zurückzuführen  und  deshalb 
an  dieser  Stelle  zu  erwähnen  ist.  Grant  Allen  selbst  ist  der 
Ansicht,  daß  er  sich  eher  durch  einen  Fehler  der  peripheren 
Organe  erklären  läßt,  doch  hat  Edith  8imcox  ihren  eigenen 
ähnlichen  Fall  einem  Defekt  in  den  Nervencentren  zuge- 
schrieben. 

c)  Paramusie.  Patient  kann  singen,  gebraucht  aber  unrich-> 
tige  Töne  und  Intervalle.  Von  einem  solchen  Falle  heißt 
es:  Patient  war  nicht  im  Stande  »Heil  dir  im  Siegerkranz« 
korrekt  vor-  und  nachzusingen,  obgleich  er  musikalisch 
war  und  einem  Gesangverein  angehörte.  »Nicht  bessere 
Erfahrungen«,  berichtet  Käst  weiter,  »machte  ich  mit  Gesang- 
buchmelodien selbst  der  allergeläufigsten  Art  ('Eine  feste 
Burg'  u.  s.  w.).  Immer  zeigte  es  sich,  daß  der  Rhythmus 
der  Melodie  stets  richtig  getroffen  und  jede  Note  nach  ihrenx 
Werthe  richtig  gehalten  wurde,   dagegen  durchaus  unrich- 


^  Proust:  Arch.  gön^ral  de  M6d.  VI.  ser.  tom.  XIX.  pag.  3t0;  vgl.  auch 
Knoblauch  a.a.O.  pag.  19  u.  K.ußmaul  a.  a.  O.  pag.  181;  Stumpf,  Tonpsych.  X^ 
pag.  282  ist  infolge  des  Kußmaul'schen  Übersetzungsfehlers  in  der  Erklärung  irre« 
geführt  worden,  weshalb  ich  es  vorzog  den  Fall  im  Urtext  zu  citiren;  Kibot  Dis. 
of  the  memory  pag.  145. 

«  Mind  1878,  pag.  157  u.  403;  Edith  Simcox  ebenda,  pag.  401. 


über  die  Bedeutung  der  Aphasie  für  den  musikalischen  Ausdruck.        g3 


tige  Töne   und  falsche   Intervalle   zu  Tage  kamen  —  und 
dies   —   trotzdem  Patient   sich  offenbar   seiner    schwachen 
musikalischen    Leistung     bewußt    und    daher    nicht    ohne 
Schwierigkeit  zu  weiteren  Experimenten  zu  bewegen  war. 
Es   wurde  nun  der  Versuch  gemacht^  ihn  Töne  nachsingen 
zu    lassen,    und    hierbei    gleichzeitig    eine  sehr  erhebliche 
Störung  konstatirt,    obwohl  Patient   die   Unrichtigkeit    der 
von  ihm  proferirten  Töne  erkannte  und  seinen  Unmuth  über 
ihr  Mißrathen  kundgab.     Wurde  der  Versuch  derart  modi- 
ficirt,    daß  Patient  mir  Töne  angab,   die  ich  nachzusingen 
hatte,   so  entgingen  dem  Kranken  selbst  geringe  Abweich- 
ungen nicht  ein  einziges  Mal    (es  war  also  motorische  Pa- 
ramusie),   immer  korrigirte  er  mit  lautem  «nein,   nein«   und 
gab  erst  dann  seine  Zustimmung  zu  erkennen,   wenn   der 
richtige  Ton  getroffen  war.     Vorgesungene  Weisen  und  Lied- 
anfänge erkannte  er  gut  und  machte  Äußerungen  der  Un- 
zufriedenheit, wenn  ihm  bekannte  Lieder  verstümmelt  vor- 
gesungen wurden.      In  der  Kenntniß  der  Notenschrift  ist 
Patient  nicht  genügend  vorgeschritten,  um  eine  zuverlässige 
Prüfung   in  dieser  Richtung  bestehen   zu  können.      Auch 
spielt  er  kein   musikalisches  Instrument.    (Käst  »Über  Stö- 
rungen   des   Gesangs    und    des    musikalischen   Gehörs   bei 
Aphasischen.«     Münchener  med.  Wochenschr.  1885,  No.  44, 
pg.  624,  citirt  nach  Knoblauch.).  —  Nicht   zu  verwechseln 
sind  diese   Fälle  mit  Aphonie.     nAphonia  implies    defect  in 
ihe  larynx  itselfm  (Jackson  a.  a.  O.  u.  insbes.  A.  Dechambre 
in  Dict.  enc,  pg.  644  mit  Literatur), 
d.  Wahrscheinlich  giebt  es  auch  eine   musikalische    Amnesie, 
entsprechend    der    Verbalamnesie,    wo   Patient    nur    nach- 
singen kann.    Für  diese  meine  Vermuthung  kenne  ich  jedoch 
noch  kein  Beispiel. 
Wie  sehr  alle   diese  Fälle   von  motorischer  Amusie   unabhängig 
sind  von  Aphasie,  d.  h.  wie  sehr  der  musikalische  Ausdruck  und  die 
Erfindung  ihren  eigenen,  von  Vorstellungen  (nicht  von  Gefühlsreflexen) 
unabhängigen  Weg  geht,  beweist  vor  allem  ein  Fall,  den  Dr.  Lasegue 
beobachtet  hat,   und  den  Trousseau  [Bulletin  de  VAcademie  Royale 
de  Medecine  vol.  1865,  pg.   647   und  659)  Falret   (a.  a.  O.  620)   und 
Jackson  (a.  a.  O.  pg.  431)  mittheilen.     Patient  konnte  weder  sprechen 
noch  schreiben,  und  doch  schrieb  er  eine  ihm  vorgesungene  Melodie 
korrekt   nieder.     Aus    dieser    selbstständigen   Erhaltung    des  Noten- 
tchreibens    folgt,    daß    es   wohl  auch   selbstständig   verloren   gehen 
kann.     Wir  hätten  dann 


ß4  Hiehard  Wallascliek, 


2.  eine  rein  musikalische  Agraphie  und  vielleicht  auch 
Paxagraphie  und  amnestische  Agraphie.  Jackson  vermuthet,  daß  es  auch 
möglich  sein  müßte ,  daß  ein  Patient  nicht  Worte,  wohl  aber  Musik 
lesen  kann  [Lancet,  pg.  431);   dann  müßte  es  auch 

3.  eine  musikalische  Alexie  und  Paralexie  geben,  und 
schheßlich  giebt  es  thatsächlich  auch 

4.  ein  bloßes  Unvermögen  zuspielen  (musikalische  Amimie 
luid  Paramimie).  Einen  Fall  hierzu  erzählt  Finkeinburg  (Berliner  klin. 
Wochenschr.  No.  37  und  38,  1870,  pg.  450).  Ein  holländischer  Lehrer , 
Geiger,  wurde  von  einer  sich  allmählich  steigernden  Schwäche  der  linken 
Hand  befallen,  zu  der  später  auch  aphasische  Störungen  traten.  Dann 
bemerkte  er,  »daß  er  die  Noten  nur  mit  großer  Schwierigkeit  und  häufi- 
gen Verwechslungen  zu  lesen  und  zu  spielen  vermochte Nach 

dem  Gehör  wußte  er  Melodien  auf  der  Geige  mit  wenig  verminderter 
Fertigkeit  wiederzugeben,  nicht  aber  auf  dem  Klavier,  indem  ilini 
häufige  Verwechslungen  der  Tasten  unterliefen,  welche  er  zwar  sofort 
heraushörte  und  verbesserte,  die  sich  aber  bei  Wiederholung  des- 
selben Stückes  doch  jedesmal  zu  seinem  großen  Verdrusse  wieder- 
holten. Nach  dem  Gehör  Noten  niederzuschreiben  vermochte  er 
nicht.«  Es  ist  leider  nicht  gesagt,  inwieweit  er  diese  letztere  Fähig- 
keit, die  ja  durchaus  nicht  selbstverständlich  ist,  früher  kannte.  Es 
liegt  somit  musikalische  Paramimie  in  Verbindung  mit  musikalischer 
Paralexie,  Paragraphie  (?)  und  Paraphasie  vor.  Wie  weit  Patient 
singen  konnte,  ist  leider  auch  nicht  gesagt.  Zu  bemerken  sind  die 
Linksseitigkeit  der  Lähmung  und  die  nach  der  Obduktion  offenbare 
Läsion  der  rechten  Hemisphäre;  merkwürdig  ist  die  Paraphasie  trotz 
unversehrter  linker  Hemisphäre.     War  Patient  vielleicht  linkshändig? 

Außerdem  giebt  es  Beispiele,  die  beweisen,  daß  auch  das  musi- 
kalische Gedächtniß  sich  unter  Umständen  eine  gewisse  Selbst- 
ständigkeit bewahrt.  »Manche  Idioten ,  die  sonst  für  alle  anderen 
Eindrücke  unempfänglich  sind,  haben  eine  außerordentliche  Empfäng- 
lichkeit für  Musik  und  sind  im  Stande  ein  Lied,  das  sie  einmal  ge- 
hört haben,  zu  behaltena  (Ribot  a.  a.  O.,  pg.  132).  »Ein  Bursche, 
der  in  Folge  eines  schweren  Schlages  auf  den  Kopf  3  Tage  bewußtlos 
dalag,  fand,  als  er  zu  sich  kam,  daß  er  alle  Musik  verlor,  die  eo: 
gelernt  hatte  {»lost  all  the  musica)  obgleich  sonst  nichts  anderes  aus 
ihm  herausgeschlagen  wurde«.  (Carpenter:  Mental  Physiology,  4  ed., 
London  1876,  pg.  443).  Allerdings  ist  das  bloße  Nicht-erinnern- 
können  noch  keine  Amusie,  sondern  musikalische  Amnesie,  und  wenn 
wir  obigen  Bericht  ganz  wörtlich  nehmen,  so  müssen  wir  auch  an- 
nehmen, daß  der  Bursche  vielleicht  sogar  in  der  Lage  war,  sich 
weitere  Musik  anzueignen;  dennoch  ist  eine  solche  Selbstständigkeit 
des  Gedächtnisses  für  Musik  allein  immerhin  auffallend. 


über  die  Bedeutung  der  Aphasie  für  den  musikdischen  Ausdruck.        g5 

Eine  vollständige  Analogie  zwischen  Aphasie  und  Amusie  ist 
Torläufig  noch  Hypothese,  insofern  als  diesbezügliche  Fälle  fiii  alle 
Gruppen  isolirt  nicht  bekannt  sind.  Zweite  und  dritte  Gruppe  fehlen. 
Es  steht  aber  durch  die  bisherigen  Beispiele  schon  fest,  daß  der 
musikalische  Ausdruck  unabhängig  vom  begrifflichen  ist;  wie  weit 
sich  das  auf  das  beiderseitige  Lesen  und  Schreiben  miterstreckt,  ist 
deneit  noch  zu  wenig  beobachtet.  Wir  wissen  femer,  daß  unter  dem 
Eindruck  Ton  Aphasie  manche  Kranke  die  Kompositionsfähigkeit 
behalten  und  die  Komposition  schreiben  können,  andere  mit  der 
Notenschrift  auch  ihr  Kompositionstalent  verlieren.  Das  merkwür- 
digste ist,  daß  die  künstlerische  Thätigkeit  überhaupt,  nicht  nur  die 
musikalische,  diese  Selbstständigkeit  besitzt.  Interessante  diesbezüg- 
liche Bemerkungen  hat  Trousseau  gemacht.  [Bulletin  de  VAccidemie 
Imperiale  de  medecine.  Tom.  XXX.  1864,  1865,  pg.  653).  Ein 
Graveur,  der  an  Paraphasie  litt,  also  sprechen  konnte,  aber  unrichtig 
aussprach  und  unrichtige  Worte  gebrauchte,  war  nicht  mehr  im 
Stande,  in  derselben  Weise  wie  früher  Zeichnungen  zu  entwerfen. 
»Je  Tinmte  alors  ä  dessiner  une  herg^e,  et  il  crayonne  qtcelque  chose 
dinforme  et  gut  n^avait  rien  d'humain,  Voilä  donc  un  dessinateur  qui, 
entre  auires  pertes  que  son  intelligence  a  faites ,  a  perdu  la  memoire 
du  dessin^  comme  taut  ä  Iheure  un  finander  avait  perdu  celle  des 
chiffres,iL  Falret  bemerkt,  daß  unter  den  Aphasischen,  welche  auch 
nicht  schreiben  können,  aber  ihr  Zeichentalent  behalten 
haben,  es  solche  giebt,  welche  aus  dem  Gedächtnisse  zeichnen,  und 
solche,  die  blos  abzeichnen  können  (a.  a.  O.,  pg.  620).  Es  scheint 
also  auch  beim  Zeichnen  ähnliche  Gruppen  von  Störungen  zu  geben 
wie  bei  Aphasie  und  Amusie,  und  die  Yermuthung  liegt  nahe,  daß 
zwischen  Schreiben  und  Zeichnen  ein  Unterschied  besteht,  der  — 
analog  dem  von  Sprechen  und  Singen  —  in  letzter  Linie  auf  dem 
Ton  Vorstellungen  und  Gefühlen  beruht. 

Einen  weiteren  Beleg  für  die  Unabhängigkeit  des  musikalischen 
vom  begrifflichen  Ausdruck  liefern  die  Beispiele  von  Musik  bei 
Idioten,  deren  verhältnißmäßig  richtiger  Gesang  trotz  Störungen 
der  Sprache,  intakt  bleibt.  Selbst  stumme  Idioten  können  manchmal 
im  Affekt  Töne  von  verschiedener  Höhe  hervorbringen  ^  Ja  so  ver- 
schieden ist  der  Prozeß  des  Ausdrucks  beim  Singen  und  Sprechen, 
daß  Musik  selbst  den  Stotterern  die  fehlerlose  Aussprache  ermöglicht. 

Alle  diese  Fälle  nun  geben  uns  in  mehrfacher  Beziehung  zu  denken : 

1.  Mag  die  Beobachtung  und  Erklärung  obiger  Beispiele  noch 
so  viel  zu  wünschen  übrig  lassen  und  das  Gebiet  der  Hypothese  hier 


1  Kußmaul  a.  a.  O.  pag.  222,  Claus  a.  a.  0.  p.  370. 
1891. 


gg  Kichard  Wallagchek, 


noch   so  groß  sein,    eines  ist  gewiß,   daß  analog  dem  Sprachprozeß 
auch  der   musikalische  Ausdruck  aus  physiologisch   trennharen  Ele- 
menten besteht,  die  selbstständig  erworben  werden  und  verloren  gehen 
können,   die  aber  nur  alle  vereinigt  den  vollen  musikalischen  Aus- 
druck  ergeben.      Diese   sind:     1.  Der  sinnliche  Eindruck    (Gehörs- 
eindruck]   des  Tones  und  die  in   der  Erinnerung  festgehaltene  Vor- 
stellung desselben.     2.  Verbindung  des  Tones  mit   einem  Notenbild, 
3.  dem  Ausfuhrungsapparat.     Beim  Singen   nun   muß  das  Notenbild 
mit  der  Vorstellung  des  Tones  verbunden  werden,  beim  Spielen  eines 
Instrumentes  kann  die  zweite  oder  selbst  die  erste  Gruppe,  ja  selbst 
beide  können  wegfallen,  obgleich  eine  Vereinigung  aller  drei  Prozesse 
vom  musikalischen  Standpunkt  aus  wünschenswerth  ist.  Eine  im  eigent- 
lichen Sinne    musikalische  Übung  wird   stets    alle   drei  Prozesse 
enthalten  müssen,    und  um  deren  vereinte  Funktion  nachweisen  zu 
können,  wird  es  nöthig  sein,    auch  Gruppe  eins  und  drei  zusammen 
zu  üben,  das  heißt  nach  dem  Gehör  zu  spielen  (selbstgedachtes  oder 
gehörtes),    ferner  Gruppe    eins  und  zwei  zu  üben,    d.  h.    nach  dem 
Gehör  schreiben  und  umgekehrt  vom  Blatt  singen  zu  lernen.     Die 
Verbindung  der  Gruppe  zwei  und  drei  ist  schon  ein  bloßes  Surrogat 
des  vollen  Ausdrucks,   auf  das  sich  dennoch  die  meisten  Musikdüet- 
tanten  mangels  Befähigung  oder  besseren  Wissens  beschränken.     Nur 
in  Verbindung  mit  den   obengenannten  Übungen  hat  diese   letztere 
Kombination    einen   unleugbaren  Werth    für  die    musikalische  Auf- 
führung.    Ganz  unmusikalisch  aber  ist  es,  musikalische  Übungen  auf 
Gruppe  drei  allein  zu  beschränken ;  das  ist  aber  leider  der  häufigste  Fall 
des  modernen  Musikunterrichtes,  geisttödtende  Skalen  und  Übungen 
auswendig  einzulernen,  ohne  die  Fühlung  mit  dem  lebendigen  Kunst- 
werk konstant  aufrecht  zu  erhalten.     Je  nach  der  Individualität  des 
Schülers   mag  der  praktische  Unterricht  hie   und  da   ausnahms- 
weise die  Noth wendigkeit  ergeben,   eine   oder  die  andere  der  ele- 
mentarsten Bewegungen   für  sich  allein  zu  üben,   darüber  hinaus 
sich  einzulassen    hat    vom    musikalischen    Standpunkt    keinen  Sinn. 
Das  Auswendigüben  von  Skalen  und  stereotypen  Etüden  ist  nur  eine 
Übung  des  Ausführungsapparates,  die,   für  sich   allein    vollkommen 
zwecklos,   ihren  Werth  erst  durch  beständige  Verbindung   mit  dem 
lebendigen  Kunstwerk  oder  wenigstens  mit  dem  Notenblatt  bekommt. 
Diese  Verbindung  zu  vernachlässigen  kann  für  den  Fortschritt   nur 
hinderlich  sein,  weshalb  wohl  gerathen  ist,  nicht  zu  schwere  Sachen 
zu  üben,   um  nicht  zu  lange   beim  Alten   zu  bleiben,    und  die  Ver- 
bindung mit  neuen  Noten  oder  Gehörseindrücken  zu  verlieren.     Wer 
das  außer  Acht  läßt,  der  vergißt,  daß  man  bei  gewissen  mechanischen 
Übungen  weder  Musik  übt  noch  Klavier  spielen  lernt,  sondern  einfach 


Über  die  Bedeutung  der  Aphasie  für  den  musikalischen  Ausdruck.         g^ 

die  Hand  bewegt.  Diesen  Zweck  würden  andere  Bewegungen  in 
weit  gesundheitsförderlicherer  Weise  erreichen.  Manche  Schulsysteme 
gehen  sogar  so  weit,  eine  Dehnung,  Streckung,  eine  Art  Massage 
der  Hand  nach  anatomisch-physiologischen  (?)  Prinzipien  vorzuschreiben, 
und  durch  allerlei  Kunststücke  die  Schule  recht  lang  und  das  System 
recht  umständlich  zu  machen.  Die  Kunst  profitirt  davon  nichts, 
obgleich  mancher  andere  Profit  dabei  herauskommen  mag.  Was 
hilft  aber  dem  so  Geübten  die  Bewegung  der  Hand,  wenn  er  sie  im 
entscheidenden  Moment  nicht  mit  Notenbildern  oder  Tonvorstellungen 
in  Verbindung  zu  bringen  weiß'?  Er  kann  nicht  lesen  und  nicht 
hören,  er  erkennt  nicht  gleich,  daß  er  eine  Bewegung  auszuführen 
hat,  die  ihm  vielleicht  für  sich  ganz  geläufig  ist,  und  steht  so  im 
praktischen  Effekt  auf  einer  Stufe  mit  dem,  der  sie  nie  gelernt,  aber  wenig- 
stens Zeit  und  Mühe  erspart  hat.  Das  System  dieser  Schule  ist  genau  so, 
als  wollte  man  Jemand  vernünftiger  reden  lehren,  indem  man  ihm 
die  larynx  massirt.  In  ähnlicher  Weise  wie  noch  heute  manche 
Musiklehrer  mit  todten,  mechanischen  Übungen  die  musikalische 
Ausbildung  bestenfalls  zurückhalten  (wenn  nicht  für  alle  Zeiten  un- 
möglich machen)  haben  seinerzeit  unsere  Schulmeister  in  ihrem 
Unterrichts-vSystemff  zuerst  Monate  lang  buchstabiren  gelehrt,  bevor 
sie  lesen  lehrten.  Sie  wußten  nicht,  daß  Leute,  die  lange  nicht  mehr 
lesen  können,  noch  ganz  gut  buchstabiren  können  (wie  die  Fälle  bei 
Aphasie  gezeigt  haben),  daß  also  Lesen  und  Buchstabiren  ganz  ver- 
schiedene Dinge  sind.  So  haben  sie  es  glücklich  zu  Stande  gebracht 
mit  ihrem  »System«  dem  Lesenlernen  positiv  entgegenzuarbeiten. 
In  ähnlicher  Weise  wird  ja  auch  bis  auf  den  heutigen  Tag  der  Prozeß 
des  Denkens,  durch  das  ausschließliche  Studium  eines  todten  Sprach- 
mechanismus, der  alle  Verbindung  mit  dem  täglichen  Leben  verloren 
hat,  positiv  unterdrückt,  statt  es  durch  lebendige  Anschauung,  Be- 
lehrung am  unmittelbar  sinnlichen  Eindruck  zu  fordern.  Ich  fürchte, 
daß  so  auch  die  musikalische  Ausbildung  in  vielen  Fällen  unterdrückt 
wird  zu  Gunsten  einer  einseitigen,  aber  systematischen  Handtumübung. 
Ich  möchte  dabei  durchaus  nicht  mißverstanden  werden  und  erlaube  mir 
daher,  zur  Vermeidung  unrichtiger  Auffassungen  ausdrücklich  zu  wieder- 
holen, daß  ich  nicht  alle  Übungen  überhaupt  vermieden  sehen  möchte, 
wir  sollen  und  müssen  üben,  aber  am  lebendigen  Kunstwerk, 
von  dem  soviel  als  möglich  kennen  zu  lernen  für  unsere  musikalische 
Ausbildung  gerade  so  wichtig  ist,  wie  für  die  Förderung  unseres  Wissens 
die  Anschauung  der  Natur ;  viel  richtiger  jedenfalls,  als  das  anstrengende, 
musikalisch  unerfreulich  Durchüben  von  Schulmeister-Übungen  ^ 

*  Wie  oft  hören  wir  sagen,  wer  die  Schule  von  X.  durchgespielt  hat,  ist  ein 

5* 


gg  Richard  Wallaschek, 


2.  Aus  dem  Umstände,  daß  der  Text  eines  Liedes  sich  zusammen 
mit  der  Melodie  als  Gefühlsäußerung  erhält,  wenn  der  Gedanken- 
ausdruck längst  verloren  gegangen  ist,  läßt  sich  ein  weiterer  Schluß 
auf  das  Wesen  des  Textes  überhaupt  ziehen,  das  denn  auch  bereits 
Yon  verschiedenen  Seiten  charakterisirt  wurde. 

Falret  erinnert  daran,  daß  man  manchmal  einen  analogen  Fall 
im  normalen  Zustande  beobachtet.  r>  Certainea  personnes,  habiiuees  ä 
chanter  des  romances,  ne  se  rappellent  lea  paroles  qtien  les  chatUant 
et  ne  peuvent  plus  les  retrouver  lorsqu^eÜes  veulent  se  bomer  ä  Ics 
reciter.ü  Die  Erfahrung  kann  jeder  an  sich  selbst  machen;  ein  Ge- 
dicht von  Heine  zu  sprechen  fällt  unendlich  schwer,  selbst  wenn 
man  es  unzählige  Male,  aber  nur  als  Text  zu  Schumann's  Musik 
auswendig  gesungen  hat.  Man  kann  das  in  der  Regel  nur  vermit- 
telst einer  komplizirten  Operation,  indem  man  sich  das  ganze  Lied 
sammt  Melodie  vorstellt,  aber  nur  die  Worte  laut  spricht,  wobei  es 
leicht  unterlaufen  kann,  daß  man  unwillkürlich  in  den  Tonfall,  gewiß 
aber  in  den  Rhythmus  der  Melodie  verfallt.  Nur  dadurch,  daß  sich 
Gefühlsäußerungen  und  Vorstellungsausdruck  auf  verschiedenen 
Bahnen  vollziehen,  und  die  Musik  zu  den  ersteren,  die  Sprache  zu 
den  letzteren  gehört,  erkläre  ich  mir  eine  Erscheinung,  die  mir  längst 
angefallen  ist.  Wenn  ich  eine  neue,  mir  vollständig  unbekannte 
Oper  im  Klavierauszug  mit  Text  spiele  und  dabei  die  Gesangspartie 
leise  mitsinge  (sammt  Text) ,  so  habe  ich  keine  klare  Vorstellung 
von  dem  Gang  der  Handlung,  auch  wenn  ich  mich  noch  so  sehr 
bemühe  genau  zu  lesen.  Ich  muß  stets  zu  diesem  Zweck  den  Text 
für  sich  allein  lesen.  Auch  wenn  ich  eine  Oper  zum  ersten  Male 
höre,  merke  ich,  daß  ich  einer  besonderen  Aufmerksamkeit  bedarf^ 
um  den  Sinn  der  gesungenen  Worte,  und  einer  anderen,  um  den 
Verlauf  der  Musik  zu  verfolgen.  Erst  bei  näherer  Bekanntschaft  mit 
dem  Werk  genügt  dieselbe  Aufmerksamkeit  für  alle  Vorgänge.  Die 
Praxis  der  Sänger  weiß  längst,  daß  derjenige,  der  den  Text  einer 
Arie  oder  nur  einzelne  Worte  vergißt,  die  Melodie  mitvergißt,  und 
daß  es  ungemein  schwer  ist,  im  entscheidenden  Moment  ein  anderes 
Wort  zu  substituiren ;  das  erfordert  eben  einen  Gedanken,  dessen 
Entstehung  und  Äußerung  sich  auf  andern  Bahnen  vollzieht  als  der 
Gefühlsausdruck  der  Musik.  In  der  Oper  genügt  der  Souffleur  der 
Worte  für  die  Erinnerung  an  den  ganzen  musikalischen  Zusammen- 
hang, d.  h.  die  Sänger  hören  und  sprechen  die  Worte  nicht  als  Ge- 
dankenausdruck,   sondern    als    bloße   Modifikation   der    Artikulation 

Tollkommener  Künstler.  Als  ob  es  wirklich  auf  eine  Anzahl  Handbewegungen 
ankäme.  Daß  der  so  Geübte  weder  lesen  noch  musikalisch  auffassen  gelernt  hat, 
scheint  dabei  übersehen  zu  werden. 


Ober  die  Bedeutung  der  Aphasie  für  den  musikalischen  Ausdruck.        g9 

(wie  das  do  re  mi) .  Deshalb  hat  Gowers  meiner  Ansicht  nach  toII- 
ständig  Recht,  wenn  er  im  Anschluß  an  die  oben  mitgetheilten  Falle 
sagt:  »In  der  Vokalmusik  werden  die  Worte  hauptsächlich  benützt 
als  Unieistiitzung  [vehicles)  für  den  Ton.  Die  (willkürlichen)  Inten- 
tionen, welche  die  Worte  formell  übertragen,  sind  kaum  je  wirklich 
als  solche  ausgedrückt«  (Gowers  a.  a.  O.  122).  »Nicht  einer  hat  die 
Absicht,  die  Gedanken  auszudrücken,  die  in  den  Worten  des  Liedes 
enthalten  sind.  Die  Worte  werden  automatisch  gebraucht,  und  diese 
automatische  Äußerung  muß  bewirkt  worden  sein  durch  die  rechte 
Hemisphäre«  (a.  a.  O.  127).  Was  für  den  Ausdruck  gilt,  gilt  auch 
für  das  Hören.  Allerdings,  wir  können  auch  ein  Lied  im  Text  ver- 
stehen, durch  die  indirekte  komplizirte  Operation,  daß  wir  die  Worte 
für  sich,  getrennt  nachbetrachten.  Das  ist  weder  leicht,  noch  von 
Tomherein  möglich,  eine  gleichzeitige  Würdigung  der  Musik  und  des 
Textes  gelingt  schwer  und  verlangt  Übung.  In  fremden  Sprachen, 
die  man  nicht  so  genau  beherrscht,  ist  das  Textverständniß  immer 
mit  einer  Einbuße  an  musikalischem  Genuß  verbunden.  Allerdings 
können  wir  auch  den  Inhalt  des  gesungenen  Textes  auszudrücken 
beabsichtigen,  dann  aber  muß  die  Musik  zum  recitativischen  Aus- 
druck herabsinken,  oder  es  muß  ihr,  wie  in  der  Oper,  die  ganze 
Darstellung  zu  Hilfe  kommen.  Vom  Spiel  versteht  man  mehr  als 
vom  Text.  Man  versuche  aber  einmal  den  Inhalt  eines  Oratoriums 
zu  erzählen,  ohne  den  Text  gelesen  zu  haben.  Wir  sprechen  und 
hören  anders,  wenn  wir  singen  und  wenn  wir  reden,  und  nicht  die 
Tongebung  allein,  sondern  auch  der  dem  musikalischen  Ausdruck 
zu  Grunde  liegende  Nervenprozeß  hindert  oder  erschwert  die  deutliche 
Aussprache  und  deren  Verständniß,  sofern  nicht  beides  eigens  geübt 
ist.  Ebensowenig  als  wir  durch  das  Worte-Sprechen  beim  Gedanken- 
ausdruck schon  auch  das  Textsprechen  beim  Singen  lernen,  können 
wir  mit  Erwerbung  oder  Verlust  des  letzteren  das  erstere  erwerben 
oder  verlieren.  Knoblauch  bemerkt  im  Anschluß  an  Gowers:  »Es 
ist  nicht  zn  leugnen,  daß  diese  von  Gowers  aufgestellte  Ansicht 
etwas  Wahrscheinliches  an  sich  hat;  indessen  läßt  sie  die  Frage 
offen :  Auf  welchen  Bahnen  der  rechten  Hemisphäre  vollzieht  sich 
das  Singen  artikulirter  Textworte?  Auf  welchem  Wege  und  an 
welcher  Stelle  findet  eine  Vereinigung  des  musikalischen  Tones  mit 
dem  artikulirten  Worte  statt?  i«     (a.  a.  O.  pg.  10).     Zu  diesem  Zwecke 


^  Diesbexügliche  sehematische  Aufzeichnungen  der  muthmaßlichen  Bahnen,  auf 
welchen  der  musikalische  Ausdruck  und  die  Auffassung  verlaufen,  finden  wir  u.  a. 
beiBaginsky  Berliner  kL  Wochenschr.  1871,  36,  37;  Wemicke  a.  a.  O.;  Kußmaul 
a.  a.  O.  182;  Gowers  a.  a.  O.  pag.  130;  Spamer  Arch.  f.  Psych.  VI,  pag.  531, 
lidiüieim,  Deutsches  Axch.  f.  kl.  Med.  XXVI,  207. 


70  Richard  WaUaschck, 


hat  Knoblauch  eine  Erweiterung  des  Lichtheim'schen  Schema's  ver- 
sucht. Mir  hat  jedoch  die  Erklärung  von  Gowers  nicht  den  Eindruck 
gemacht,  als  ob  sie  die  obigen  Fragen  offen  lieBe.  In  den  ange- 
führten Beispielen  sangen  nämlich  die  Aphasischen  immer  nur  die 
Worte,  die  sie  zur  Melodie  ursprünglich  gehört  hatten,  nicht  zu  jeder 
beliebigen  oder  zu  einer  bestimmten  Melodie  jeden  beliebigen  Text. 
Die  Erklärung  ist  hier  dieselbe  wie  beim  automatischen  Ausdruck, 
bei  dem  sich  annehmen  läßt,  daß  durch  häufige  Wiederholung  eines 
von  der  linken  Hemisphäre  ausgehenden  Ausdrucksprozesses  auch  die 
rechte,  wenn  auch  nur  für  den  automatischen  Gebrauch  nur  formell 
eingeübt  wird,  was  sich  dann  auch  abwickelt,  wenn  die  rechte  aus 
andern  (musikalischen)  Gründen  und  in  Folge  einer  Läsion  der  linken 
Seite  allein  zu  funktioniren  beginnt.  Ob  diese  Vermuthung  richtig 
ist,  müßte  eine  genauere  Betrachtung  der  Fälle  ergeben,  wobei  ins- 
besondere zu  beachten  wäre,  inwieweit  der  Patient  schon  vorher  mit 
Text  und  Musik  eines  während  der  Aphasie  reproducirten  Liedes 
vertraut  war.  Die  Hoffnung  auf  genauere  und  zahlreichere  Beob- 
achtung solcher  Fälle  ist  aber  leider  der  einzige  Trost,  mit  dem  jede 
Abhandlung  über  obiges  Thema  schließt.  Indeß,  wie  immer  die 
Antwort  ausfallen  möge,  das  eine  läßt  sich  jetzt  schon  sagen,  daß 
von  einer  eigentlichen  Einheit  zwischen  der  Melodie  und  dem  Text- 
verständniß  nicht  die  Rede  sein  kann,  da  der  musikalische  Ausdruck 
sich  dieselbe  Unabhängigkeit  vom  Gedankenausdruck  bewahrt  hat 
wie  die  Affektsprache.  Daraus  folgt  weiter,  daß  die  musikalische 
Behandlung  eines  Textes  immer  nur  in  Form  eines  Kompromisses 
geschehen  kann,  dessen  praktische  Durchfuhrung  meiner  Ansicht 
nach  von  unseren  großen  Meistern  längst  gelöst  ist,  wenn  auch  theo- 
retische Bedenken  noch  immer  nicht  zur  Ruhe  gelangen.  Wer  bei 
diesem  Kompromiß  im  Großen  und  Ganzen  besser  herauskommt,  das 
wird  man  daraus  ersehen  können,  daß  die  emotionelle  Erregung  eine 
kräftigere ,  auf  weitere  Nervenpartien  sich  erstreckendere,  ist.  »Sie 
verbreitet  sich  darum  gewöhnlich  nicht  bloß  auf  die  höheren  und 
niederen  cerebralen  Bewegungscentra ,  sondern  auch  auf  die  spi- 
nalen und  sogar  auf  die  sympathischen  Ganglien  der  Eingeweide« 
(Kussmaul  pg.  60).  Doch  wir  dürfen  nicht  übersehen,  daß  aller- 
dings in  gewissen  Fällen  eine  fast  vollständige  Vereinigung  von 
Musik  und  Poesie  zu  einem  Gesammtausdruck  stattfinden  kann,  dann 
nämlich  wenn  der  Text  in  der  Hauptsache  selbst  nichts  anderes  ist 
als  bloßer  Gefiihlsausdruck.  Ich  sage  in  der  Hauptsache,  denn  die 
Sprache  —  das  Mittel  des  Gedankenausdrucks  —  kann  nie  voll- 
ständig darauf  verzichten  bestimmte  Gedanken  auszudrücken;  aber 
diese  Rolle  kann  dem  Gefuhlsausdruck  gegenüber  so  gering  sein^  daß 


Ober  die  Bedeutung  der  Aphasie  für  den  musikalischen  Ausdruck.         71 


sie  praktisch  kaum  in  Frage  kommt.  Diesen  Charakter  nun  zeigt 
die  lyrische  Poesie,  und  so  scheint  mir  in  der  That,  daß  in  vielen 
unserer  klassischen  und  modernen  Lieder  das  Problem  des  poetisch- 
musikalischen Gesammtausdrucks  längst  gelöst  ist. 

3.  Auch  für  den  Charakter  des  musikalischen  Ausdrucks  selbst 
ergiebt  sich  aus  dem  obigen  der  Beweis,  daß  er  ein  Gefuhlsausdruck 
ist,  da  er  mit  diesem  überall  steht  und  fällt.  Es  scheint  allerdings 
auf  den  ersten  Blick  sonderbar,  den  Beweis  hierfür  soweit  herholen 
zu  müssen,  indeß  ist  er  nicht  ferner  hergeholt,  als  die  sonderbare 
Ansicht  der  Formalästhetiker,  die  auch  den  Kunstgenuß  als  theore- 
tisches Begreifen  ansehen,  und  auch  in  der  Musik  einen  Kausal- 
zusammenhang zwischen  ihr  und  dem  Gefühl  zwar  nicht  immer  gleich 
offen  leugnen,  aber  ein  Gefallen  »an  sich«  mit  unzähligen  Klauseln 
durchdrücken.  Aber  eben  weil  Musik  Gefuhlsausdruck  ist,  geht  sie 
zwar  immer  von  einem  bestimmten  Gefühl  aus,  kann  dasselbe  aber 
in  einer  bestimmten  Qualität  nicht  erregen;  sie  erreicht  wohl  daß 
wir  mitfühlen,  bestimmt  aber  nicht  was  wir  fühlen,  da  eine  solche 
Bestimmung  ein  Verständniß  voraussetzt,  das,  an  bestimmte  Vor- 
stellungen geknüpft,  wie  wir  gesehen  haben,  auf  andern  Bahnen  und 
in  andern  Partien  zu  Stande  kommen  müßte  als  der  Gefuhlsausdruck. 
Hehr  als  einmal  konnten  wir  mit  Bestimmtheit  darauf  hinweisen, 
daß  Verständniß  (Erregung  von  Vorstellungen  und  Begriffen)  und 
Gefühl  in  physiologisch-anatomischer  Beziehung  selbstständigen  Pro- 
zessen unterliegen.  Deshalb  geht  die  Gefühlstheorie  zu  weit,  wenn 
sie  mit  der  Gefühlserregung  auch  eine  bestimmte  Vorstellung  und 
ein  daran  sich  knüpfendes,  eng  begrenztes,  spezifisches  Gefühl  mit 
entstehen  läßt.  Gerade  das  letztere  ist  bei  Gefühlserregung  ausge- 
schlossen. So  bestätigt  sich,  was  ich  schon  vor  Jahren  bezüglich 
der  musikalischen  Erregung  ausgesprochen  habe :  die  Musik  und  alle 
Kunst  gefällt  uns,  wir  nennen  sie  schön,  wenn  sie  uns  begeistert, 
uns  emotionell  erregt,  wobei  aber  die  spezielle  Art  der  Erregung  des 
Gefühls  uns  selbst  überlassen  wird.  Sie  giebt  dem  Spiel  unserer 
Phantasie  nur  den  Stoß,  nach  welchem  es  sich  nun  in  seiner  rein 
subjektiven  Weise  weiter  entwickelt.  So  kann  ich  weder  den  Formal- 
noch  den  Gefühlsästhetikem  vollständig  Recht  geben,  und  ich  be- 
dauere, daß  ich,  wie  ich  aus  Kritiken  ersehen,  wenn  überhaupt  be- 
achtet, so  vollständig  mißverstanden  worden  bin,  daß  der  eine  mich 
als  Formalist  betrachtet ,  der  andere  meine  umständliche  Rückkehr 
zur  Gefiihlsästhetik  bedauert.  Keines  von  beiden  ist  richtig.  Der 
Formalist  sagt:  das  Kunstwerk  gefällt  wegen  gewisser  Formen,  die 
als  solche  (»an  sicha)  absolut  gefallen;  der  Gefühlsästhetiker  sagt: 
es  gefallt,  weil  es  dieses  oder  jenes  bestimmte  Gefühl  ausdrückt  und 


'J2  Eiohard  Wallaschek, 


auszudrücken  beabsichtigt.  Ich  glaube,  daß  weder  die  Möglichkeit 
eines  solchen  Ausdrucks,  noch  eine  diesbezügliche  Absicht  künstle- 
risch ist,  und  das  Kunstwerk  gefallt  allerdings,  weil  wir  fühlen 
(phantasiren,  begeistert  sind),  aber  nicht,  weil  wir  gerade  das  oder 
jenes  (Freude,  Schmerz)  fühlen;  was  wir  fühlen,  ist  subjektiv  ver- 
schieden, und  muß  es  sein,  wenn  die  Kunst  nicht  eine  Erregung  von 
Vorstellungei;!  sein  soll,  ein  Verständniß,  dessen  Erzeugung  Sache  der 
Wissenschaft  ist.  Der  Psycholog  wird  sagen,  man  könne  ja  nur  ein 
konkretes  Gefühl  erregen,  und  nur  in  unserer  Abstraktion  existire 
es  für  sich  allein  ohne  Verbindung  mit  einer  bestimmten  Vorstellung; 
wer  es  veranlassen  will,  muß  alles  mit  erzeugen,  was  zu  seiner  Wirk- 
lichkeit nöthig  ist,  also  auch  eine  bestimmte  Vorstellung.  Ich  glaube 
der  Künstler  kann  die  Wahl  der  Vorstellung,  mit  der  das  zu  erre- 
gende Gefühl  verbunden  werden  soll,  der  Individualität  des  Be- 
schauers selbst  überlassen,  und  die  psychologische  Forderung  ist  ebenso 
erfüllt  wie  die  ästhetische.  In  ähnlicher  Weise  kann  ja  auch  das 
Werk  des  Gelehrten  einen  emotionalen  Effekt  zur  Folge  haben,  ob- 
gleich es  selbst  nur  einen  bestimmten  Gedankenkreis  erweckt  und 
zu  erwecken  beabsichtigt,  wobei  es  dem  Leser  überlassen  bleibt, 
etwaige  Gefühle  in  seiner  Weise  damit  zu  verbinden.  Aber  der  emo- 
tionale Effekt  des  Kunstwerkes  unterscheidet  sich  von  dem  des 
wissenschaftlichen  Werkes  dadurch,  daß  im  ersteren  Falle  die  indi- 
viduelle Gefühlsassociation  alles  ist,  worin  die  künstlerische  Wirkung 
besteht,  während  sie  im  letzteren  hinzukommen  oder  wegbleiben  kann, 
ohne  den  wissenschaftlichen  Werth  zu  ändern.  So  sind  denn  andere 
Bahnen  im  menschlichen  Aufnahmeapparat  für  die  Empfangnahme 
des  wissenschaftlichen  und  andere  für  die  des  künstlerischen  Werkes 
bestimmt.  Daraus  erhellt  aber  auch,  wie  sehr  die  Mittheilung  eines 
Programms  bei  Orchester-Kompositionen  den  psychologischen  Apparat 
verfehlt,  denn  ein  Programm  wendet  sich  an  das  Verständniß  be- 
stimmter Vorstellungen,  das  etwas  ganz  anderes  ist,  als  die  emotionale 
Erregung.  Ein  Programm  soll  sich  aus  der  Individualität  des  Be- 
schauers selbst  heraus  entwickeln.  Gewiß  hat  jeder  Künstler,  auch 
der  Musiker  sein  Programm  (wie  ich  glaube,  und  wie  es  die  Forma- 
listen leugnen),  aber  der  Fehler  des  Musikers  ist,  es  in  allen  Theilen 
verständlich  machen  zu  wollen ;  denn  ebenso,  wie  er  erst  Künstler 
ist,  wenn  außer  seinem  Verständniß  und  weit  über  dasselbe  hinaus 
die  emotionale  Erregung  zu  Stande  kommt,  hat  der  Beschauer  erst 
einen  künstlerischen  Genuß,  wenn  er  emotional  erregt  ist,  ganz 
abgesehen  von  der  Qualität  der  Vorstellungen,  die  er  dabei  hat. 
Nicht  das  subjektive  Bestehen  eines  Programmes  überhaupt  ist  der 
Fehler,    sondern  seine  objektive  Festsetzung,  und  das  ist  es,   worin 


über  die  Bedeutung  der  Aphasie  für  den  musikalischen  Ausdruck.         73 

ich  dem  Formalisten  und  dem  Gefuhlsästhetiker  Unrecht  gebe:  der 
erstere  will  überhaupt  keine  Beziehung  zu  einem  Programm,  er 
spricht  von  selbstständiger  musikalischer  Schönheit  (Schönheit  an 
sich,  nicht  durch  Association),  der  letztere  verlangt  die  objektive 
Bestimmtheit,  wo  ich  die  Association  dem  subjektiven  Belieben  des 
Individuums  überlasse.  Das  allein  scheint  mir  der  Psychologie  des 
Gefühls  zu  entsprechen,  insbesondere  wenn  man  die  Unabhängigkeit 
des  Vorstellungsausdrucks  vom  Gefuhlsausdruck  bedenkt,  mit  welch' 
letzterem  die  Musik  zugleich  auftritt.  So  wenig  aber  ist  Musik  Über- 
tragung bestimmter  Vorstellungen,  daß  sie,  wie  wir  an  den  Krank- 
heitsbildem  der  Aphasie  sehen,  nur  das  Klangbild  der  Worte 
zuläBty  mit  denen  sie  zugleich  auftritt.  Mag  die  spekulative  Ästhetik 
noch  so  leidenschaftlich  behaupten,  daß  der  bloßen  Instrumental- 
musik eine  Bestimmtheit  zukomme,  die  derjenigen  der  Sprache 
nicht,  oder  nur  wenig  nachstehe,  die  physiologische  Beobachtung 
wird  dieser  Theorie  immer  einen  Strich  durch  die  Rechnung 
machen,  ebenso  wie  der  Formalästhetik,  die  ihr  auch  den  Gefuhls- 
ausdruck rauben  will.  Allerdings  ist  ein  Associationsprozess  nicht 
bei  allen  Individuen  gleich,  und  das  ist  es,  was  eine  Verständigung 
über  diesen  Punkt  zu  erschweren  scheint.  Bei  Manchen  krystallisirt 
er  sich  gleichsam  um  eine  bestimmte  Vorstellung  herum,  die  sie  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  festztihalten  in  der  Lage  sind,  Andere  sind 
sich  eines  solchen  Kernes  nicht  bewußt,  und  so  sehr  sie  sich  durch 
Musik  angeregt  und  begeistert  fühlen,  verläuft  ihre  Antheilnahme 
doch  in  einer  so  weit  verzweigten  Association,  daß  nichts  anderes 
im  Bewußtsein  zurückbleibt,  als  die  Thatsache  eines  »ungehemmten 
Flusses  von  Associationen«  —  das  Gefühl  des  Wohlgefallens.  Das 
scheint  mir  auch  der  spezifisch  musikalische  Weg  zu  sein,  während 
der  erstgenannte  auch  andern  Künsten  eigen  ist.  Doch  glaube  ich, 
wir  sollten  auch  in  diesem  Falle  den  Unterschied  festhalten,  den 
Grant  AUen  so  treffend  charakterisirt  hat.  wenn  er  sagt,  Musik  und 
Poesie  haben  die  höhere  Art  der  Wirkung  gemein,  es  ist  der  emo- 
tionale Effekt,  doch  geht  er  in  beiden  von  einem  verschiedenen  Grund- 
prozess  aus,  einem  akustisch  sensorischen  in  dem  einen,  einem  intel- 
lektuellen im  andern  Fall.  Machen  wir  nun  in  der  Musik  diesen 
Anfangspunkt  auch  zu  einem  intellektuellen  (durch  ein  gegebenes 
Pn^amm),  dann  zerstören  wir  ein  eigentlich  musikalisches  Element. 


n 


Die  Aristoxenische  Bhythmuslehre. 


Von 

Rudolf  WestphaL 


Silbendauer  der  gesungenen  und  der  gesagten  Verse. 

Der  Ausgangspunkt  der  Aristoxenischen  Rhythmik  muß  fiir  uns 
die  Unterscheidung  eines  für  die  gesungene  (melischej  und  eines  für 
die  gesagte  (recitirte,  deklamirte)  Poesie  zur  Erscheinung  kommenden 
Rhythmus  sein.  Mit  ausdrücklichen  Worten  werden  zwar  diese  zwei 
Arten  des  Rhythmus  von  Aristoxenos  nicht  unterschieden,  aber  dem 
sorgsamen  Forscher  kann  es  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  Aristoxenos 
diese  beiden  Arten  statuirt.  Es  giebt  nach  ihm  zwei  verschiedene 
Arten  der  Stimme,  eine  (piovr]  ÖLaavrjixaTiyirj  und  eine  (pwvr]  atßv€xr>g 
—  so  heißt  es  bei  ihm  im  Anfange  seiner  ersten  IStheiligen  Har- 
monik — ,  jene  ist  die  menschliche  Singstimme,  diese  die  Sprech- 
stimme, jene  bewegt  sich  in  Intervallen,  wir  hören  sie,  wenn  wir 
singen  oder  wenn  wir  auf  einem  musikalischen  Instrumente  spielen 
(Vokalstimme  und  Instrumentalstimme),  ein  jeder  Ton  (jede  gesungene 
Sylbe  und  jeder  Instrumentalton)  erscheint  uns  als  ein  Moment  der 
Ruhe  (rjQSfila),  welche  irgend  eine  [meßbare]  Zeitdauer  hat,  und  so 
lange  anhält,  bis  die  Stimme  in  ihrer  Bewegung  zu  einer  andern  Ton- 
stufe fortschreitet.  Die  fpcjvr]  owexrjs  dagegen,  die  Sprechstimme, 
erscheint  als  kontinuirliche  Bewegung,  die  zwar  auch  verschiedene 
höhere  und  tiefere  Intervallstufen  zur  Erscheinung  kommen  läßt, 
aber  so,  daß  auf  keiner  von  ihnen  eine  längere  (meßbare)  Zeit  ver- 
weilt wird,  sondern  daß  die  eine  Sylbe  sich  rasch  an  die  folgende 
anreiht,  und  nur  beim  leidenschaftlichen  Sprechen  im  Pathos  der 
Rede,  auf  bestimmten  Sylben,  denen  man  einen  besonderen  logischen 
oder  pathetischen  Nachdruck  geben  will,  länger  verweilt  wird. 
Aristoxenos  spricht  es  zwar  nicht  ausdrücklich  aus,  aber  wir  dürfen 
die  Stelle  dreist  so  interpretiren,  daß  in  der  d^crarf^uorr^xr/  q)a}vrjy  der 
Singstimme,  die  aufeinander  folgenden  Sylben  eine  meßbare  Zeitdauer 


Die  AristozeniBche  Rhythmuslehre.  75 

haben,  in  der  (poivrj  avvBxriSj  der  Sprechstimme,  aber  nicht.  Sein 
Sats,  daß  die  Länge  stets  den  doppelten  Zeitumfang  der  Kürze  habe, 
gilt  also  bloB  für  die  Silben  des  gesungenen  Verses,  nicht  aber  für 
die  Sylben  des  gesprochenen  Verses,  denn  diese  sind  nicht  meßbar. 
Aus  Aristoxenos'  Schriften  hat  Fabius  Quintilianus,  sei  es  unmittel- 
bar, sei  es  mittelbar,  den  Satz  entlehnt,  longam  duorum  temporumj' 
brevem  unius  temporü  esse  syllabam,  doch  das  Mittelalter,  welchem 
Quintilian  als  Schulbuch  galt,  und  ebenso  die  moderne  Zeit,  hat 
den  Satz  des  Quintilian  mißverstanden,  wenn  es  ihn  auf  die 
Sprechstimme  bezogen  hat  und  in  ihm  die  Norm  finden  zu  müssen 
glaubte,  nach  welcher  die  Alten  ihre  Verse  recitirt  hätten  und  wel- 
cher auch  wir  Modernen  folgten,  wenn  wir  unsere  Verse  beim 
Recitiren  und  Deklamiren  vortrügen.  So  hat  sich  denn  bis  auf  den 
heutigen  Tag  der  Glaube  erhalten,  daß  wir  die  Länge  doppelt  so 
lang  als  die  Kürze  sprächen,  während  dies  doch  nachweislich  nicht 
der  Fall  ist.  Es  ist  ein  großes  Verdienst  des  bekannten  Wiener 
Physiologen  E.  Brücke,  daß  er  dieses  in  seiner  Schrift:  Die  physio- 
logischen Grundlagen  der  neuhochdeutschen  Verskunst  (1875)  über 
allen  Zweifel  festgestellt  hat.  In  dieser  lehrreichen  Schrift  heißt 
es  S.  22 : 

9  Obgleich  kaum  Jemand,  der  mit  dem  Gegenstande  einigermaßen 
vertraut  ist,  bestreiten  wird,  daß  die  zeitlichen  Abstände  der  Vers- 
accente  bestimmten  Gesetzen  unterworfen  sind,  so  habe  ich  mich 
doch  durch  direkte  Messungen  davon  überzeugt,  weil  sich  aus  der 
Regelmäßigkeit,  beziehungsweise  Gleichheit,  Wahrheiten  erschließen 
lassen,  die  vielleicht  nicht  Jedermann  ohne  Weiteres  einzuräumen 
geneigt  sein  würde.  Ich  bediente  mich  zu  diesen  Messungen  einer 
sieh  mit  gleichmäßiger  Geschwindigkeit  drehenden  Kymographion- 
Trommel*,  auf  der  ich  mit  einer  Kielfeder  jede  Hebung,  oder  die 
jedesmal  vom  Iktus  getroffene  Silbe  markirte,  während  ich  iambische 
Verse,  Hexameter,  alcäische  und  sapphische  Strophen  recitirte. 
Gleichzeitig  wurden  die   Signale  eines  Metronoms  auf  elektrischem 


>  »Das  Kymographion  wurde  im  Anfange  der  vierziger  Jahre  von  C.  Ludwig 
konstruirt,  um  damit  den  Druck  zu  verzeichnen,  den  das  Blut  auf  die  Wandungen 
der  Adern  ausübt.  Es  besteht  aus  einer  cylindrischen  Trommel  aus  Messing,  deren 
Oberfläche  mit  Papier  überkleidet  ist  und  die  durch  ein  Uhrwerk  mit  gleichmäßiger 
Geschwindigkeit  gedreht  wird.  Ein  Schreibapparat,  der  sich  unter  Einfluß  des 
Blutdruckes  hebt  und  senkt,  verzeichnet  darauf  durch  auf-  und  absteigende  Kurven. 
Die  ELymographion-Trommel  ist  seitdem  von  Physiologen  vielfältig  zu  messenden 
Bestimmungen  benutzt  worden.  Das  Instrument,  mit  welchem  ich  arbeite,  war  nach 
eigenen  Angaben  meines  Freundes  Ludwig  und  unter  seiner  Aufsicht  vom  Mecha- 
Ulkus  Schortmann  in  Lindenau  bei  Leipzig  ausgeführt  worden.« 


76  Rudolf  Westphal, 


Wege  auf  diese  Trommel  übeitiagen,  um  den  Beobachter  Yon  etwai- 
gen Änderungen  im  Gange  des  Instrumentes  in  Kenntniß  zu  setzen. 
Die  kleinen  Differenzen,  welche  gefunden  wurden,  konnten  nicht  in 
Zusammenhang  gebracht  werden  mit  dem  Gehalte  der  Sylben  und 
mußten  zurückgeführt  werden  auf  die  für  das  Ohr  verschwindenden 
Unregelmäßigkeiten  im  Recitiren  und  Markiren,  a 

Auf  S.  29  sagt  E.  Brücke: 

A  Der  unbefangenen  Beobachtung  wird  es  sogleich  auffallen,  daß 
den  Längenverhältnissen  der  Silben  keineswegs  die  Zahlen  1  und  2 
wirklich  zu  Grunde  liegen,  daß  yielmehr  die  Sylben  ihrer  natürlichen 
Dauer  nach  sehr  verschieden  sind,  und  daß  man  sie  eben  nur  gröb- 
lich in  2  Haufen,  in  lange  und  kurze  abgetheilt  hat.  Das,  was  man 
weder  in  dem  einen,  noch  in  dem  andern  mit  Sicherheit  unterbringen 
zu  können  schien,  warf  man  in  einen  dritten  zusammen,  in  den  der 
mittelzeitigen.  Ich  kann  hinzufügen,  daß  die  Dauer  der  kürzesten 
zu  den  längsten  nach  direkten  Messungen,  die  ich  mit  dem  Kymo- 
graphion  vorgenommen  habe,  keineswegs  in  dem  Verhältnisse  von 
1  :  2  steht.  Die  kürzsten  Silben  werden  von  den  längsten  weit  mehr 
als  um  das  Doppelte  übertroffen,  während  sich  andererseits  zwischen 
langen  und  kurzen  keine  bestimmte  Grenze  ziehen  läßt.« 

Aristoxenos  und  das  klassische  Alterthum  kannte  noch  keine 
dem  Kymographion  ähnliche  Instrumente  zur  Bestimmung  des  Sylben- 
werthes.  Aristoxenos  gehört  zu  denen,  von  welchen  £.  Brücke  sagt, 
sie  seien  unbefangene  Beobachter.  Hätte  sich  Aristoxenos  eines  ge- 
nauen Mittels  zur  Werthbestimmung  der  gesprochenen  Sylben  be- 
dienen wollen  und  wäre  das  griechische  Alterthum  bereits  mit  dem 
Gebrauche  unserer  Taschenuhren  bekannt  gewesen,  so  hätte  auch 
Aristoxenos,  wie  der  Verfasser  dieses  Aufsatzes  es  gemacht  hat,  eine 
Sekunden-Uhr  zur  Hand  genommen  und  die  Frage  aufgeworfen, 
wie  viele  Zeit  gebraucht  man,  um  die  Kürzen  ta  ti  tu  auszusprechen, 
und  wie  viel  Zeit  für  das  Aussprechen  der  Längen  tä  ti  ta  (der  Grieche 
hätte  sich  der  Solmisationssilben  ra  rt  to  und  zä  rl  rw  bedient; 
Anonym.  6).  So  würde  er  mit  der  Beantwortung  dieser  Fragen  vielleicht 
schneller  zu  Stande  gekommen  sein  als  der  Verfasser  dieses  Aufsatzes, 
der  für  diese  Untersuchung  an  einem  Julitage  die  Abendzeit  von 
6 — 7  Uhr  und  am  folgenden  Tage  die  Morgenstunden  von  4 — 6  Uhr  ge- 
braucht hat.  Das  Ergebniß,  zu  welchem  ich  bei  dieser  der  physiologi- 
schen Methode  des  Prof.  £.  Brücke  entgegenstehenden  rein  mechanischen 
Methode  gelangt  bin,  ist,  denke  ich,  nicht  weniger  vollständig  richtig, 
und  jeder,  welcher  mit  einigem  Geschick  und  einiger  Genauigkeit 
dasselbe  Verfahren  einschlägt,  wird  zu  keinem  anderen  Resultate 
gelangen.   Mein  Mitarbeiter  an  der  allgemeinen  Metrik  der  Griechen, 


Die  AristoxeniBche  RhjthmuBlehre.  77 

Professor  Hugo  Gleditsch,  macht  mir  brieflich  die  ganz  richtige 
Bemerkung:  »Von  der  Richtigkeit  Deiner  Meinung,  daß  in  ge- 
sprochenen Versen  die  Länge  nicht  das  Doppelte  der  Kürze  ist,  bin 
ich  überzeugt.  Ich  glaube  im  gesprochenen  Verse  sind  die  Kürzen 
in  ihrem  Zeitmaße  sehr  verschieden  und  daher  nicht  leicht  —  außer 
im  einzelnen  Falle  —  meßbar,  ebenso  auch  die  Länge:  Meine 
Gleichung  ist  nicht  wie  1:2,  wie  man  früher  annahm,  sondern  wie 
1  :  20,000  und  darüber,  genau  1  :  26,000.  Die  einzelne  Länge  ist  mit- 
hin beim  Sprechen  20,000 mal  länger  als  die  einzelne  Kürze!  (?)  Wer 
hätte  gedacht,  daß  der  Unterschied  zwischen  gesprochener  Kürze 
und  Länge  ein  so  enormer  ist!  Ja,  jene  mißverstandene  Schulregel 
Quintilian's,  die  dieser  aus  Aristoxenos  entlehnt  hat,  ist  so  irrig,  wie 
nur  etwas  sein  kann.  Auch  mein  jetziger  Gegner,  Herr  Heinrich 
Weil  in  Paris,  der  fleißige  Durchforscher  der  Aristoxenischen  Rhyth- 
mik, um  die  er  sich  durch  treffliche  Erklärungen  große  Verdienste 
erworben  hat,  die  Hauptveranlassung,  daß  meine  griechische  Metrik 
so  schnelle  Anerkennung  bei  den  Philologen  gefunden,  ist  in  grobem 
Irrthum  befangen,  wenn  er  vermeint,  auch  die  heutigen  Franzosen 
sprächen,  ebenso  wie  die  griechischen  Redner,  die  Längen  und 
Kürzen  in  der  Weise  aus,  daß  sich  durch  sie  das  Verhältniß  1  :  2 
e^äbe.  Bleiben  wir  vorläufig,  bis  andere  Berechnungen  veröfient- 
licht  werden^,  dabei,  daß  sich  die  gesprochene  Kürze  zur  ge- 
sprochenen Länge  nicht  wie  1  :  2,  sondern  wie  1  :  20,000  (?)  und  da- 
rüber verhält,  und  entsagen  wir  dem  bisher  angenommenen  Satze 
als  einer  der  größten  Irrlehren,  von  welchen  sich  der  leichtgläubige 
Geist  der  im  Allgemeinen  nicht  gern  denkenden  Menschen  hat  ge- 
fangen nehmen  lassen! 

Das  zweite  Buch  der  Aristoxenischen  Rhythmik  oder  die 
Lehre  vom  Rhythmus  des  gesungenen  Verses. 

Von  der  rhythmischen  Stoicheia  des  Aristoxenos  liegt  uns  nur 
das  zweite  Buch  vor.  Was  in  dem  uns  verloren  gegangenen  ersten 
Buche  enthalten  war,  habe  ich  in  den  Fragmenten  und  Lehrsätzen  der 
alten  griechischen  Rhythmiker  (1864)  zu  ermitteln  versucht.  Jeden- 
£bl11s  war  dort  auch  von  rov  Qvd-fiov  TtXslovg  q)VGeig  die  Rede,  auf  die 
sich  der  Anfang  des  erhaltenen  zweiten  Buches  bezieht.  »Es  giebt 
mehrere  Arten   [cpvaetq)  des  Rhythmus;    worin    eine  jede  derselben 


1  Es  wäre  wohl  zu  wünschen,    daß  sich  Herr  Heinrich  Keimann  dieser  Auf- 
gabe recht  bald  annimmt. 


78  Rudolf  Westphal, 


besteht,  das  ist  im  Vorausgehenden  gesagt  worden  —  von  demjenigen 
Rhythmus,  der  die  Musik  zum  Träger  hat. 

Mit  den  im  Eingange  des  zweiten  Buches  der  rhythmischen 
Stoicheia  von  Aristoxenos  gebrauchten  Worten:  »Sri  tov  Qv&fiov 
TtXeLovg  Blalq>iaeLg  ist  seine  erste  IStheilige  Harmonik  §  42  zu  Ter- 
gleichen:  STteiöq  TtXeiovg  eial  (pvoeig  tov  (fArOvamov)  fxikovg.  Es  ge- 
hört dieser  §  42  zum  V.  Abschnitt  der  ersten  Harmonik,  welcher 
dem  Prooimion  zufolge  die  Überschrift  fuhren  muß  tcsqI  fiikovg 
VTCodrjXüJTiov  Ttal  tvthjtsop  oiav  %%^i  (pijaiv  xh  xara  iiovatyiriv^.  Da- 
her die  von  mir  in  den  Handschriften  fehlende  Ergänzung  rov  [fiov- 
aixov)  fxilovg  durchaus  nothwendig  ist.  Das  ixovoixhv  fiiXog  —  so 
sagt  hier  die  Aristoxenische  Harmonik  —  soll  seinem  Begriffe  nach, 
worin  seine  (piotg  besteht,  im  Umriß  zu  erläutern  versucht  werden. 
Vorher  ist  schon  bemerkt  worden,  daß  die  Bewegung  der  Stimme 
hier  eine  diastematische  ( Singstimme}  sein  muß,  so  daß  das  fiovaiTcbv 
fiekog  von  dem  Xoyüdsg  fieXog  verschieden  ist.  Es  giebt  nämlich 
auch  ein  Xoywdeg  fieXogj  welches  je  nach  den  verschiedenen  Wort- 
accenten  in  einem  Fortschreiten  von  höheren  zu  tieferen  Tonstufen 
besteht.  Beim  Sprechen  ist  ja  das  Heben  und  Senken  der  Stimme 
etwas  in  der  Natur  der  Sprache  Begründetes. 

Es  ist  etwas  der  Aristoxenischen  Doctrin  Eigenthümliches, 
daß  auch  das  Sprechen  seiner  bald  höheren,  bald  tieferen  Accente 
wegen  als  fiiXog  angesehen  wird,  als  eine  Art  des  ^iXog^  welche 
sich  dadurch  von  dem  fxovoLxbv  fiiXog  unterscheidet,  daß  in  diesem 
sich  die  aufeinander  folgenden  Tonstufen  durch  die  Eigenthümlich- 
keit  der  riqrif.ua  (Ruhe,  Stätigkeitj  kennzeichnen,  während  im  XoyCbdeg 
^iXog  die  Silbendauer  nicht  meßbar  ist. 

Sagt  nun  Aristoxenos  im  Anfange  des  zweiten  Buches  seiner 
Rhythmik,  es  gebe  mehrere  q){faeig  rov  ^v-d-fioVj  jetzt  solle  der  ir  rfj 
fiovoiTif]  raTTÖfievog  Qv-d'fiög  behandelt  werden,  so  müssen  wir  auf 
die  beiden  (pvaeig  rov  fiiXovg  zurückblicken,  auf  das  fiovacTtbv  (likog 
und  das  XoyG)6eg  fiiXog,  Das  Wort  fxovamdv  ist  zwar  ein  umfassen- 
der, auch  die  Orchestik,  Rhythmik  und  das  Melos  in  sich  ein- 
schließender Begriff,  hier  aber  in  b  iv  fiovamf]  rarröfisvog  ^v&fiög 
kann  nichts  anderes  als  fiovacxbr  (liXog  gemeint  sein.  Nach  dieser 
Erklärung  bezieht  sich  Alles,  was  Aristoxenos  im  zweiten  Buche 
seiner  rhythmischen  Stoicheia  über  den  Rhythmus  vortragt,  nicht 
auf  den  qv&ixög  des  XoyCjÖBg^  sondern  des  fiovacubv  fiikog,  nicht  auf 
den  ^vd-fiög  des  gesagten,  sondern  des  gesungenen  Verses.  Vom 
Rhythmus  des  gesagten  oder  gesprochenen  Verses  scheint  Aristoxenos 
im  ersten  Buche  seiner  Rhythmik  manches  vorgetragen  zu  haben, 
wenigstens  würde  hierher  gehören,   was  Aristoxenos  nach  Dionysios 


Die  Aristozenische  Rhythmuslehre.  79 

über  die  Natur  der  Sprachlaute  und  wohl  an  keiner  anderen  Stelle^ 
als  in  der  ßhythmik  Buch  I  gelehrt  hat.  Andererseits  scheint  aber 
das  erste  Buch  der  Aristoxenischen  Rhythmik  auch  Manches  auf  den 
^v&fiög  des  f.iovoi7Lov  ^iXog  Bezügliches  enthalten  zu  haben.  So  die 
Lehre,  daß  die  Länge  immer  das  Doppelte  der  in  derselben  Kompo- 
sition ohne  Wechsel  des  Tempos  vorkommenden  Kürze  ist,  eine 
Regel,  wovon  sich  aber  Ausnahmen  theils  aus  der  Rhythmik  des  Ari- 
stoxenos  ergeben  (die  als  Chronos  alogos  stehende  Länge),  theils  aus 
den  notirten  Hymnen  des  Mesomedos  und  Dionysios  folgern  lassen 
(die  als  aus-  und  als  inlautende  Katalexis  eines  Verses  stehende 
Länge,  welche  nicht  das  Doppelte,  sondern  das  Dreifache  und  Vier- 
fache der  Kürze  sein  kann). 

Der  Aristoxenische  Chronos  protos. 

Wie  Psellos  in  seinen  rhythmischen  Prolambanomena  aus  dem 
Werke  des  Aristoxenos  excerpirt,  lehrten  die  Vorgänger  des  Aristo- 
xenos,  »das  dem  Rhythmus  als  Maßeinheit  zu  Grunde  liegende  ist 
die  Silbe  er.  Schon  vor  Aristoxenos  beschäftigte  man  sich  in  den 
Musikschulen,  besonders  in  den  Musikschulen  Athens  mit  dem 
Rhythmus.  Darüber  belehrt  uns  Piaton  an  verschiedenen  Stellen 
Zuerst  trug  der  Lehrer  seinen  Schülern  bei  der  Lehre  vom  Rhyth- 
mus ein  Kapitel  vor,  in  welchem  er  die  Natur  der  Sprachlaute 
{aroixBia)  aus  einander  setzte,  also  die  Sylben  behandelte;  erst  dann 
g;ing  er  zu  den  Rhythmen  über.  Diese  alten  athenischen  Musik- 
lehrer  wie  Dämon  waren  es,  welche  den  Satz  aufstellten,  daß  die 
Sylbe  die  kleinste  Maßeinheit  sei,  nach  welcher  der  Rhythmus  ge- 
messen werde.  Aristoxenos  aber  widersprach  ihnen.  Die  Sylbe, 
sa^e  er,  ist  kein  konstantes  Maß ;  sie  hat,  mag  sie  lang  oder  kurz 
sein,  bald  diese,  bald  jene  Zeitdauer,  immer  aber  ist  im  gesungenen 
Verse  die  Kürze  die  Hälfte  von  der  Länge.  Daher  bedarf  es  für 
den  Rhythmus  eines  ideellen  Zeitmaßes,  welches  zwar  häufig  genug 
mit  der  kurzen  Silbe  zusammenfällt,  aber  doch  auch  von  dieser  ver- 
schieden sein  kann.  Aristoxenos  benennt  dieses  ideelle  kleinste - 
Zeitmaß  des  Rhythmus  mit  dem  erst  von  ihm  aufgebrachten  Namen 
Chronos  protos  d.  i.  Primärzeit.  Eine  rhythmische  Zeitgröße,  welche 
das  Maß  des  Chronos  protos  hat,  wird  mit  dem  in  der  Aristoxeni- 
schen Rhythmik  zwar  nicht  vorkommenden,  doch  sicher  von  Aristo- 
xenos herrührenden  Namen  Chronos  monosemes  genannt;  die  da^ 
zweifache  Größenmaß  derselben  in  sich  begreifende  heißt  Chronos 
disemos  (zweizeitige  rhythmische  Größe),  die  das  dreifache  Größen- 
maß des  Chronos  protos  umfassende  heißt  Chronos  trisemos  (dreizeitige 


80  Rudolf  Westphal, 


A  y 


ihythmische  Größe),  und  so  fort  bis  zum  Chronos  pentekcdeikosisemos 
(25 zeitige  rhythmische  Größe],  der  größten  rhythmischen  Zeitdauer, 
deren  Aristoxenos  gedenkt. 

Wird  diese  rhythmische  Zeitgröße  durch  eine  einzige  Silbe  dar- 
gestellt, so  ist  sie  nach  Aristoxenos  ein  Chronos  asynthetos  kata 
Rhythmopoiias  Chresin.  Der  Anonymus  Bellermanni  überliefert  folgen- 
des Verzeichniß  der  Sylben  mit  den  für  sie  bei  den  alten  Musikern 
gebräuchlichen  Notenzeichen : 

Chronos  disemos  — 

Chronos  trisemos  ! — 
Chronos  tetrasemos 
Chronos  pentasemos 

Hierzu  die  gleichwerthigen  Pausenzeichen  [xQdvot  xevol) : 

Chronos  kenos  monosemos  ^A ,  genannt  Xelfi^aj 
Chronos  kenos  disemos         -^ ,  genannt  TtQÖgd-eaigj 
Chronos  kenos  trisemos 
Chronos  kenos  tetrasemos 

Unter  den  Pausenzeichen  hat  das  1  zeitige  den  Namen  Xet^i^a, 
ein  diesen  Namen  andeutendes  Lambda  a.  Bei  den  längeren  Pausen 
wird  über  das  Leimmazeichen  das  Zeichen  des  entsprechenden  Noten- 
werthes  gesetzt.  Die  Namen  Xeifxfxa  und  nQog&eacg  überliefert  Ari- 
steides.  Der  Anonymus  Bellermanni  sagt  §  3  =  §  85 :  Saa  oiv  ijroi 
dl  ipdfjg  ^  fielovg  x^Q^-S  OTcyfifjg  (Accentzeichen)  fj  xP^^^v  Tcagd  riat 
yQdq>€Taij  fj  fiaycQäg  diXQ^'^ov — ,  ^  rp4;cpdrov  i— ,  fi  TerqaxQivov  I — J, 
^  TtevraxQdvov  LJ-J  ,  ra  (xev  Iv  (^dfj  yiexv^iva  liyerai,  rix  ök  iv  /nikei 
fiövip  xaleirac  dcaxprjka(prjiÄaTa,  Hiemach  ständen  die  rhythmi- 
schen Zeichen  des  Größenwerthes  in  allen  Vokal-  und  Instrumental- 
Kompositionen,  außer  etwa  in  Solfeggien  und  ähnlichem.  Dies  wird 
aber  durch  die  erhaltenen  Musikreste  der  Griechen  nicht  bestätigt. 
In  den  Resten  der  Instrumentalmusik  finden  sie  sich,  nicht  aber  in 
den  Resten  der  Vokalmusik,  wo  vielmehr  der  Vortragende  insbe- 
sondere aus  der  metrischen  Beschaffenheit  des  Worttextes  den  Rhyth- 
mus zu  erkennen  hat. 

Werden  auf  eine  Note  mehrere  Töne  gesungen,  so  nennt  man 
dies  dem  Aristoxenos  zufolge  XQ^^S  f^tc'KTÖg,  ebenso  auch  wenn 
mehrere  auf  einander  folgende  Silben  auf  derselben  Tonstufe  stehen. 

Den  Taktstrich  der  Modernen  kannten  die  Alten  nicht;  sie  be- 
zeichneten die  durch  den  Iktus  hervorzuhebenden  Noten  durch 
einen  darüber  gesetzten  Punkt  {ariy^rj)  oder  Doppelpunkt  ('und"), 
den  letzteren  wohl  bei  gewichtvollerem  Iktus. 


Die  Aristoxenische  Khythmuslehre.  gj[ 


Die  Theorie  der  modernen  Musik  lehrt  nichts  vom  Chronos 
protos.  In  ihrer  Praxis  spielt  er  eine  wichtige  Bolle.  Sie  hat  für 
denselben  in  ihrer  Notenschrift  eine  vierfache,  auch  wohl  fiinffkche 
Bezeichnung:  sie  schreibt  ihn  entweder  als  Achtel*,  oder  als  Viertel-, 
oder  als  halbe  Note,  selten  als  Sechszehntel.  Wählen  wir  die  Sechs- 
zehntel-Schreibung,  so  steht  unser  moderner  ^/]e-Takt  genau  analog 
dem  Aristoxenischen  Ttovg  e^dar]fiog  iv  köyqi  lLa(i)j  ^^^^^  ^yxa-T^^^^ 
dem  Aiistoxenischen  Ttovg  dcodexdarj^og  ev  X6y(^  Xaip.  Wählen  wir  die 
Achtel-Schreibung,  so  wird  der  P/^-T^ikt  mit  dem  Aristoxenischen 
:i(wg  ۤdarj(j.og  iv  Xiytp  ia(pj  der  ^*/g-Takt  dem  Aristoxenischen  Ttovg 
iiadBxaarjfiog  iv  löyqf  ia(p  identisch  sein.  Kurz  beim  trochäischen 
Rhythmus  bezeichnet  unsere  Taktvorzeichnung  in  ihrem  Zähler  die 
in  einem  Takte  enthaltene  Anzahl  der  Chronoi  proioi,  während  der 
Nenner  besagt,  ob  wir  den  einzelnen  Chronos  protos  als  Sechszehntel- 
oder als  Achtel-Note  ausdrücken.  Dies  ist  jedoch  nur  dann  der 
Fall,  wenn  der  Rhythmus  der  betreffenden  Komposition  der  trochä- 
ische, nicht  wenn  er  der  daktylische  oder  ionische  ist.  Denn  bei 
daktylischem  Rhythmus  beruht  unsere  Taktvorzeichnung  auf  der- 
jenigen, welche  in  unserer  mittelalterlichen  oder,  in  unserer  Mensural- 
Musik  gebräuchlich  war,  wo  man  die  Mensur,  d.  i.  Takt,  dadurch 
bezeichnete,  daß  man  dem  Tempus  imperfectum  als  Vorzeichen  den 
Halbkreis,  entweder  durchstrichen  oder  undurchstrichen  gab  C  (^. 
Ist  der  Rhythmus  der  betreffenden  Komposition  derjenige,  welchen 
man  im  Alterthum  den  ionischen  nannte,  so  bedeutet  die  im  Nenner 
f  enthaltene  Zahl  nicht  den  Chronos  protoSj  sondern  den  Chronos  di- 
semos.  Dann  fällt  der  moderne  ^/^-Takt  mit  dem  Aristoxenischen 
Ttovg  k^aarjfiog  iv  Xöyif  d&7tXaai(p  zusammen,  denn  die  Achtel-Noten 
bezeichnen  alsdann  die  ;^^()^0(  dlarj^oi.  Man  wird  sich  mit  dem 
hier  Vorgetragenen  unschwer  befreunden  können,  wenn  man  dem 
Verständniß  sich  nicht  unmuthig  widersetzen  will. 

Taktarten. 

Aristoxeuos  unterscheidet  für  die  griechische  Rhythmik  im  Äll- 
goneinen  drei  Taktarten,  die  er  köyoc  Ttodixol  nennt:  1)  den  Xdyog 
hog  oder  day(,%v^L%6g,  die  gerade  Taktart.  2)  den  köyog  dcTtXaatog  oder 
ioußi'AÖg,  die  ungerade  Taktart.  3)  den  Xöyog  f]f.u6ktog  oder  Ttaiiovcnög, 
die  uns  Modernen  weniger  geläufige  funftheilige  ungerade  Taktart,  die 
rieh  z.  B.  in  Boieldieu's  weißer  Dame  Cavatine  I  1 1  findet,  freilich 
nicht  als  funfiseitiger  Takt  notirt,  sondern  als  eine  Kombination  der 
Stheiligen  und  der  2theiligen  Taktart.  Das  Alterthum  hatte  sich 
den  5theiligen  Takt  zu  viel  größerer  Geläufigkeit  gebracht  als 
luisere  moderne  Musik.     Ein  antikes  Beispiel  giebt  der  Anonymus 

1S91.  6 


82  Rudolf  Westphal, 


Bellermanii's.  Die  Griechen  hatten  aber  zwei  verschiedene  ungerade 
Taktarten,  die  3theilig  ungerade  und  die  5theilig  ungerade  Takt- 
art, jene  durch  den  hemiolischen  oder  iambischen  Takt,  diese  durch 
den  päonischen  Takt  repräsentirt.  Die  hemiolische  Taktart  ist  ein- 
mal durch  den  3  zeitigen  lambus  oder  Trochäus,  sodann  durch  den 
6  zeitigen  lonikus  dargestellt. 

Für  die  3  Taktarten  des  Alterthums  sind  die  Namen  Xöyog  laog, 
köyog  diTtXaaiog,  Idyog  fj^iöXiog  deshalb  (vielleicht  erst  von  Aristo- 
xenos  selber)  gewählt,  weil  man  damit  das  VerhältniB  bezeichnen 
wollte,  in  welchem  die  beiden  Takttheile,  der  schwere  und  der 
leichte,  zu  einander  standen.  Beim  geraden  Takte  im  VerhältniB 
des  Gleichen,  denn  der  schwere  hat  den  gleichen  Umfang  wie  der 
leichte,  z.  H.  dem  aus  einem  2zeitigen  schweren  und  einem  gleich 
großen  leichten  Takttheile  zusammengesetzten  4  zeitigen  Versfüße. 

Beim  dreitheilig-ungeraden  Takte  im  VerhältniB  des  Doppelten, 
denn  der  schwere  Takttheil  ist  das  Doppelte  des  leichten,  z.  B.  beim 
3  zeitigen  Trochaeus. 

Beim  5  theilig-ungeraden  Takte  im  VerhältniB  des  Anderthalb- 
fachen 3  :  2  wie  z.  B.  im  5  zeitigen  paeonischen  Versfuße  -^-,  wo 
auf  den  schweren  Takttheil  3 ,  auf  den  leichten  2  Chronoi  protoi 
kommen. 

Die  Namen  daktylische,  iambische,  paeonische  Taktart  sind  wohl 
voraristoxenisch ;  sie  sind  dem  Metrum  entlehnt,  welches  fiir  die 
Takte  das  häufigste  war,  daktylisches;  iambisches,  paeonisches  Me- 
trum. Wir  Modernen  würden  es  vorgezogen  haben,  wenn  die  Alten 
die  Namen  daktylisch,  trochäisch,  paeonisch  gewählt  hätten,  weil  es 
Benennungen  gewesen  wären,  in  welchen  jedes  Metrum  mit  dem 
schweren  Takttheile  anlautete.  Die  Alten  sagen  aber  nicht  trochäische, 
sondern  iambische  Taktart,  denn  nicht  das  trochäische,  sondern  das 
iambische  Metrum  ist  von  den  beiden  Metren  der  diplasischen  Takt- 
art das  häufigste. 

Zu  bemerken  ist  noch,  wie  schon  oben  angedeutet,  daß  man 
mit  dem  Namen  iambische  Taktart  zugleich  die  ionische  verstand. 
Werden  doch  beim  ionischen  Versfuße  die  beiden  Takttheile  in  dem- 
selben Verhältnisse  stehen,  wie  im  3 zeitigen  iambischen  oder  tro- 
chäischen Versfüße. 

Leichter  und  schwerer  Takttheil. 

Arifltoxenos  hat  für  leichten  und  schweren  Takttheil  den  ge- 
meinsamen Namen  xqdvog  Ttoöixög  oder  arj^elov  tcoöiköv.  Den 
leichten  Takttheil  —  diesen  stellt  Aristoxenos  in  den  allgemeinen 
Erörterungen  über  den  Gegenstand   stet«  dem  schweren  voran,   eine 


Die  Aristoxenische  Hhythmuslehre.  g3 


Manier,  die  auf  die  Späteren,  auf  die  lateinischen  -Metriker,  von 
nicht  glücklichem  Einflüsse  war  —  den  leichten  Takttheil  nennt 
Aristoxenos  äv(o  xqövog,  den  schweren  TfLaTto  xQ^^9i  »Auf-  und  Nie- 
derschlag«. Für  iVw  xqdvog  sagt  er  auch  ÜQaig,  für  xävco  xQÖvog 
gebraucht  er  noch  nicht  wie  die  Späteren  das  Wort  d'iatg,  sondern 
Tiehnehr  das  Wort  ßaaig]  an  das  Takttreten  denkend.  Wie  kommt 
eiy  daß  man  im  Alterthume  nicht  wie  bei  uns  dem  3theilig-ungeraden 
Takte  drei  Taktschläge,  sondern  nur  zwei  gab,  einen  Niederschlag 
und  einen  halb  so  langen  Aufschlag?  Man  wird  leicht  bemerken, 
da£  auch  die  modernen  Dirigenten  beim  Taktiren  im  3theilig  un- 
geraden Takte,  wenn  das  Tempo  ein  rasches  ist,  nicht  anders  ver- 
fahren als  die  Griechen:  sie  geben  alsdann  jedem  Versfüße  nur 
zwei  Taktschläge.  Wenn  sie  auf  jeden  Einzeltakt  der  ungeraden 
Taktart  drei  Taktsohläge  kommen  lassen,  so  ist  das  Tempo  ein  sehr 
gemessenes,  oder  wie  man  wohl  sagen  kann,  dann  ist  der  Versfuß 
nicht  der  trochäische,  sondern  ein  ionischer,  dem  freilich  die  grie- 
chischen Taktdirigenten  auch  nur  zwei  Semeia  podika,  das  eine 
doppelt  80  lang  als  das  andere,  zukommen  ließen. 

Ein  jeder  einfache  Takt  erhielt  bei  den  Alten,  soweit  wir  aus 
ihrer  rhythmischen  Überlieferung  ersehen,  immer  nur  zwei  Takt- 
schläge, einen  Auf-  und  einen  Niederschlag.  Aber  wie,  wenn  der 
Takt  kein  einfacher  oder  Einzeltakt,  sondern  ein  aus  mehreren  Ein- 
seltakten kombinirter  oder  zusammengesetzter  war?  Aristoxenos  hält 
die  Eintheilung  von  TtöÖBQ  äaifvO-sroi  und  rcödeg  aivd-eroi  aufs  ge- 
naueste fest.  Ilovg  iaivd-BTog  ist  nach  ihm  der  einzelne  Versfuß, 
navg  aifvO-erog  ist  die  Kombination  mehrerer  Versfüße  zu  einem 
größeren  Takt^anzen,  welches  die  Metriker  -aCoXov  nennen.  Das  sagt 
uns  die  Aristoxenische  Definition: 

Ol  (J*  iaiv^Bxot  TÜv  awd'irwv  dia(piQovai  t(J)  ^eJ/  diaiQsla&ac  eig 
7i6dag,  r€iv  avvd'irutv  diaiQOVfi^vcov.  An  einer  andern  Stelle  heißt  es 
bei  ihm :  twv  dh  Ttodwv  ol  ^Iv  Iv.  dvo  XQ^^^  aiyASivTat  rov  tb  Spco 
xal  rov  -ACLTCDy  ol  dk  iyc  tqicjp,  8i)o  [idv  rdv  Üvco,  ivbg  de  rov  vAtco 
fi  if  kvog  nhv  rov  Svco,  d^öo  de  rwv  yMru}.  ol  dh  i'K  vsrraQCüv,  8i)o  fuv 
xw  Svof^  d'Oo  dk  TÖv  xario. 

"Ort  liiv  oiv  e§  evhg  xQ^'^ov  novg  ovy,  &v  sirj  rpavsQÖVj  iTteiörjTtsQ 
tv  orjfABlov  oi  tcolbI  dcalQBaiv  XQ^^ov,  &vbv  öiaigiaBcog  Ttohg  ov  öotcbI 
ylvBad-ai.  Tov  dh  XafußdvBiv  rhv  nödcc  tcXbIcj  twv  8io  arifiBia  ra 
üv/id-ri  Twv  Ttodiüv  ahtatBOv,  Ol  yag  ilarrovg  tüv  vtodwvj  bvtvbqI- 
XrjTtrov  rfj  aladijaBi  rö  iniyB&og  BxovTBgj  BvaivoTtroL  bIoi  'i^al  diä  rCov 
dÄ)  arj^Bicov  ol  ök  fiBydloi  roivavTlov  TtBTtövd-aaiy  dvaTteQllrjTtvov  yaq 
rij  alaS^atv  rh  itiyBd-og  'ixovTBg,  tvXbiövujv  öiovvat  atjUBlcov^  87tcog 
dg  TtJiBiia  fi^Qr^  öiaiQBd-hv  tb  rov  <5Xov  rvoöbg  ftiyB&og  BvavvoTtrorBQOV 

6* 


84  Kudolf  Westphal, 


10 


ylvrjzai.  /dia  zl  dk  oi  ylvetaL  nkelcj  arjfxeia  xibv  t€tt6q(ov^  olg  b 
7tovg  x^^iT^cti  'Aaxa  xrjv  avxov  dvva^uv^  {jarsQOp  deix^r^oerai. 

Also  die  kleineren  Ttödeg  (das  sind  offenbar  die  einzelnen  Vers- 
fiiBe)  haben  ein  jeder  nur  zwei  arjfjieicc  TtodcxA,  einen  Auf-  und  einen 
Niederschlag.  Die  größeren  Ttööeg  [das  müssen  doch,  wie  zuerst  von 
H.  Weil  nachgewiesen  ist,  die  von  Aristoxenos  sogenannten  Jtddeg 
aivd^STOL  sein),  haben  entweder  drei  oder  yier  Taktschläge,  ohne 
Zweifel  die  tripodischen  Takte  drei  Taktschläge,  die  tetrapodischen 
vier  Taktschläge.  Die  Stelle  der  Rhythmik,  in  welcher  Aristoxenos 
gezeigt  haben  will,  weshalb  ein  Takt  nie  mehr  als  vier  Taktschläge 
erhalten  kann,  liegt  nicht  mehr  vor. 

Also  bis  zum  tetrapodischen  Takte  oder  Kolon  wird  jeder  der 
Versfüße,  aus  welchen  er  kombinirt  ist,  als  Semeion  podikon,  als 
leichter  oder  schwerer  Takttheil  angesehen  und  hiernach  von  dem 
griechischen  Musikdirigenten  mit  Taktschlägen  markirt. 

H.  Weil  und  W.  Baumgart   über  Ausdehnung   der  Takte. 

Derselbe  Forscher,  welcher  die  Identität  der  (xeydXot  7t6deg  des 
Aristoxenos  mit  den  aiv^STOt  Ttödsg  nachgewiesen,  macht  in  derselben 
Arbeit  auf  eine  aus  der  Aristoxenischen  Rhythmik  stammende 
Überlieferung  der.Psellianischen  Prolambanomena  aufmerksam,  worin 
es  heißt: 

^ij^ea&ai  dk  (paivovxav  ^  fikv  la^ißuAov  yivog  fiex^t  tov  <}x- 
T(oiiaidB'Kaaiifj,ov  fueyed-ovgj  äaze  yivead-ai  xbv  fi^yiarov  Ttdöa 
i^aTtXäawv  xov  ekaxlorov,  tb  dk  danTvkiiibv  fiixQ^  ^ov  inTiaide- 
TLaaifjl^oVj  rb  de  Tcaixavmbv  (iixQ''  ^^^  TtevTsnaui'KOOaaifjfiov. 
Ai^BTav  de  i^cl  TtXeiövcJV  z6  re  iafißcTcbv  yivog  xal 
tb  Ttaciüvtubv  rov  daxtvltycov,  8tL  tzXbLooi  arjfieioig 
i^dregov  aixCiv  XQV'''^^' 
Man  hat  bestritten,  daß  diese  Stelle  des  Psellos  aus  Aristoxenos 
stamme,  vgl.  Weyhe. 

Mir  scheint,  wie  Herrn  H.  Weil  und  W.  Baumgart,  der  Aristo- 
xenische  Ursprung  nicht  angezweifelt  werden  zu  können. 

Aus  den  im  Obigen  gesperrt  gedruckten  Schlußworten,  aus  denen 
wir  erfahren,  daß  die  größten  nödeg  der  iambischen  und  daktylischen 
Taktart  dem  Megethos  nach  hinter  dem  größten  Ttoig  der  päoni> 
sehen  Taktart  zurückstehen,  hatte  H.  Weil  die  Folgerung  gezogen, 
daß  unter  den  nööeg  mit  vier  Semeta  die  nach  Aristoxenischer  Auf- 
fassung zur  päonischen  Taktart  gerechneten  pentapodischen  Takte 
zu  verstehen  seien,  daß  dagegen  die  tetrapodischen  Takte  nur  zwei 
Semeia  hätten.  Auch  noch  in  der  zweiten  Auflage  der  Roßbach- 
Westphal'schen  Metrik  war  diese  Ansicht  ausgesprochen. 


Die  Aristoxenische  Rhythmuslehre.  §5 


ThesU         Arsis 
Tetrapodie    — ^-^  — v-^-'  |  _v-^v>  —\^\j 
Pentapodie  — ^^  — ww  -v-a^  _.\.yo  _v.>^ 

Unser  scharfsinniger  Freund,  Dr.  Haumgart  in  Breslau  erhob 
dagegen  einen  berechtigten  sachlichen  Einwand.  Er  wies  nach,  daß 
wenn  bei  den  Griechen  das  Taktiren  nicht  eine  bloße  Spielerei  ge- 
wesen, unmöglich  Aristoxenos  die  Ansicht  vertreten  haben  könne, 
daß  ein  tetrapodischer  Takt  nach  2  Takttheilen  vom  Dirigenten  zu 
markiren  sei,  die  pentapodischen  dagegen  nach  4  Takttheilen.  Baum- 
gart vermuthete,  jene  in  Rede  stehenden  Worte  des  Psellianischen 
Fragmentes  seien  ein  der  Aristoxenischen  Darstellung  ursprünglich 
fremder  Zusatz,  in  welchem  nXeLovai  arjiiBloig  nicht  yoi}  Takttheilen, 
sondern  im  nichtaristoxenischen  Sinne  an  Stelle  von  xqdvot  nQwroi 
gebraucht  sei,  Aristeides  u.  a.  hätten  in  diesem  Sinne  das  Wort 
ar^fieia  gebraucht. 

Die  dritte  Auflage  meiner  griechischen  Rhythmik  erkannte  das 
Zwingende  der  Baumgart'schen  Polemik,  faßte  die  fraglichen  bei 
Psellos  überlieferten  Worte,  wie  Baumgart  wollte,  als  ein  zum  Texte 
hinzugekommenes  Glossem,  in  welchem  die  Worte  ev  r<J)  ikaxiffTM 
noii  ausgefallen  seien. 

Ai^tcat  dl  ijtl  Ttlstöviov  t6  re  iafißtyibv  yivoq  ytal  rb  Ttauovixbv 
Tov  öaxrvkixov,  Bn  ßv  T(p  ikaxiorq)  Ttodl)  Ttkeioai  arif.ie(oig  (=  ;f^eivo£4; 
TTQfaroig)  €'Ä<iteQOV  adrwv  x?^^^^- 

Daß  der  uns  handschriftlich  überlieferte  Text  auch  des  Aristo- 
xenos von  späteren  Interpolationen,  welche  aus  Glossemen  entstanden 
sind^  nicht  frei  blieb,  habe  ich  in  meiner  deutschen  Übersetzung 
und  Erläuterung  des  Aristoxenos  1883  nachgewiesen. 

Ich  glaube  meine  Auffassung  in  der  griechischen  Rhythmik 
dritter  Auflage  genügend  dargethan  zu  haben,  daß  ich  die  betreffende 
Interpretation  H.  WeiVs  und  der  beiden  ersten  Auflagen  der  Roß- 
bach-WestphaVschen  Metrik  verlassen  müsse. 

Monopodische  und   dipodische  Basen. 

^Bairoiuv  rä  fxezQa  xara  jtöda  ^  Tiaric  dcrtodlavd  —  sagen  die 
Schollen  zu  Hephaistion  —  auch  »ßalverai  y.a^  eva  nöda  \]  •KctTa 
itnodlav»^  r>Percutitur  versus  et  per  singulos  pedesy  percuiitur  per 
dtpodiamm  sind  Termini  technici  der  lateinischen  Metriker.  Von  dem 
Verbum  ßaivuVj  ßalvead-ai  ist  das  Substantivum  ßdaig,  von  percu- 
titur  ist  das  Substantivum  percussio  abgeleitet. 

Fabius  Quintilianus  IX,  §  4,  51  sagt  von  den  Rhythmikern: 
Tempora  etiam   animo  metiuntur^    et  pedum  et  digitarum  ictu 
intervaUa  signant  quibusdam  notis,  atque  aestimantj  quot  breves 


86 


Rudolf  Westphal, 


illud  spatium  habeat,     Inde  retgaarif^oi,   TtivTäarmot^  deinceps 

longiores  ßunt  percusstones. 
Hiernach  ist  percussto  die  Bezeichnung  eines  %q6vog  TsrQAarjfiog 
z.  B.  — ,  eines  xQ^^og  TtevTdatifiog  z.  B.  -  ^  -,  eines  XQ^og  If craij- 
fiog  z.  B.  -v^-v^,  eines  XQ^^^S  dxTdarjf,iog  z.  B.  -v^^-v^vj,  also 
theils  monopodischer ,  theils  dispodischer  XQ^^''  nodixol.  Unter 
Festhaltung  dei  Identität  der  Termini  percmsio  und  ßaatg  ergiebt 
sich  folgende  Übersicht  der  ßdaeig  nach  den  von  Quintilian  herbei- 
gezogenen Rhythmikern: 


BacBic  ( PtrctU8i<me9)  fxovo7to6ix(U, 


•-lv>v> 


nByxaGfjfjios  -1  ^  — 


BuCBis  (Percussiones)  dmodixai. 


Die  Theorie  der  Metriker  nimmt  an :  ^Mdvov  rh  öaTirvXixbv 
ßalvei  xarcc  ^lovoTtoöiav  Schol.  Heph.  p.  180  W.  Doch  ist  das  un- 
genau. Es  läBt  sich,  wie  in  unserer  Metrik  nachgewiesen  ist;  die 
Generalregel  vielmehr  so  fassen:  Die  piixqa  der  TtQwrrj  &vxi7tdd'Bta 
werden  je  nach  der  Ausdehnung  des  Kolons  bald  nach  ßaa^vg  fiovo^ 
jtoöixal,  bald  nach  ßdasig  dirtodixai  gemessen;  die  fiizga  der  dewi^a 
ävTiftdd^eca  [Paeonen^  Jonici)  stets  nach  ßdaeig  inovoTtodixal.  Freilich 
wird  bei  den  Metrikern  das  Wort  ßdacg  vorwiegend  von  der  ßdaig 
diTtoöiTcifl  gebraucht  z.  B.  Hephaest  schol. 

In  diesem  Sinne  findet  sich  das  Wort  auch  bei  Marius  Victor, 
p.  47  K.  angewandt: 

Nam  graeco   sertnone   duorum  pedum  copulatio   ßdaig  dicitury 

veluti  quidam  gressus  pedum  j  qui  si  eiusdem  generis  i.  e.  pares 

Jugati  ftterintj  öiTtodiav,  aut,  ut  quidam^  ravTOTtodlaVj  sin  dis- 

pares  ut  trochaeus  cum  iamho,  avtvyLav  efficiunt,  in  qua  Sgaig 

unum,  alterum  &iaig  pedem  obiinebit. 

Bei  Marius  Yictorinus   ist  das  Wort  Sgacg  und  d'iacg  entweder 

im  alten  rhythmischen   Sinne   des  Aristoxenos,  oder  so   gebraucht, 

daß  jeder  anlautende  Takttheil,   und  sei  es  auch  ein  schwerer,   als 

Arsis  bezeichnet  wird,  jeder  nachfolgende   als   Thesis  (s.  oben).      Es 

hängt  dies  ganz  von  den  Quellen  ab,    die  der  jedesmaligen  Stelle 

des  Marius  Victorinus   zu  Grunde  liegend     Woher  die  vorliegende 

1  Der  hier  bei  Marius  vorkommende  Ausdruck  a^aig  es  9ubkUio  ist  im  Ari- 
stoxenischen  Sinne  zu  fassen,  wenn  die  betreffende  Stelle  aus  der  nämlichen  Quelle 
wie  Atilius  Fortunatianus  p.  286  K.  stammt:  Fiunt  (in  trtmetro  iambico)  . .  .  pedes 
quinque,  quae  loca  imparia  quidam  vocant;  in  desinentibus  eero  t.  e.  in  depositio» 
nibus,  quae  loca  paria  appellant,  non  nisi  a  hrevibus  incipiunt  Dieselbe  Stelle  über 


Die  Aristoxenische  Rhythmuslehre.  §7 


Stelle  über  die  ßaaig  stammt,  lassen  wii  dahin  gestellt.  Doch  wird 
man  jedenfalls  nicht  im  Unrechte  sein,  wenn  man  dort  Arsis  und 
Thesis  im  Aristoxenischen  Sinne  von  schwachem  und  starkem,  nicht 
im  späteren  Sinne  von  vorausgehendem  und  nachfolgendem  Takt- 
theile  &Bt. 

Bildet  die  Dipodie  einen  selbständigen  Takt,  wie  Aristoxenos 
sagt  —  ein  selbständiges  dipodisches  Kolon,  wie  die  Metriker  sagen, 
—  so  hat  sie  der  vorliegenden  Angabe  über  die  ßaaig  zufolge  zwei 
Takttheile,  eine  Arsis  und  eine  Thesis 


!Ls^     _v> 


oder  in  umgekehrter  Ordnung  der  Takttheile 


-LW       £w 


aqcis   d-iaig 

Die  Dipodie  kann  aber  auch  den  Bestandtheil  eines  tetrapodischen 
Kolons  bilden,  z.  B.  die  zweite  Hälfte  des  katalektischen  Tetrametron 
trochcdkon: 


!L\j      ±\j         !Lkj      ± 


d-ia,  äga.     d-ia.  üqu. 

ßagcg  diTC.    ßaaig  dlrt. 
oder  mit  Umkehrung  der  Takttheile  : 


_1  w     Z\^        _1  v^      £ 


ßaa.  $L7to6,  ßaa.  diTCod. 

Vermuthlich  ist  es  dieses  Schlußkolon  des  trochäischen  Tetra- 
metrons, welches  Marius  Victorinus  so  oder  vielmehr  dessen  Quelle^ 
im  Sinne  hat.  Es  ist  dies  aus  den  Schlußworten  der  Stelle  zu  fol- 
gern: nquamquam  in  his  nannumquam  ayllaba  pro  integro  pede  in 
ultima  dumtaxat  verms  parte  accepta  proprium  impleat  thesin, « 

Hiernach  ist  es  eine  so  gut  wie  direkte  Überlieferung  der  rhyth- 
misch-metrischen Wissenschaft,  daß  die  Tetrapodie  zwei  ßdaeig  dt- 
noii%aiy  zwei  dipodische  Percussiones  hat,  von  denen  eine  jede  den 


die  perctusianM  des  iambischen  Trimeters  kommt  der  Sache  nach  in  derselben  Weise 
aaeh  bei  Terentianus  Maurus  2249,  bei  Priscian  als  Fragment  des  Asmonius,  bei 
Rufin  als  Fragment  des  Caesius  Bassus,  bei  Priscian  als  Fragment  des  Juba  vor. 
Der  lateinische  Metriker  Juba  hatte  bezaglich  der  Ausdrücke  agais"  und  ^iaic  die 
Aristoxenisehe  Auffassung,  nicht  diejenige,  w siehe  den  vorangehenden  Takttheil 
als  oQciff,  den  nachfolgenden  als  ^iaig  auffaßt 

*  Spät  komme  ich  dasu,  der  vortrefflichen  Arbeit  des  Herrn  Dr.  Hahn  in 
Breslau  über  die  Quellen  des  Marius  Victorinus  das  gebührende  Lob  zu  spenden, 
vas  eigentlich  schon  in  der  dritten  Auflage  meiner  griechischen  Bhythmik  hätte 
geschehen  müssen,  wenn  es  nicht  anderweitig  verhindert  worden  wäre.  Ich  habe 
dem  Herrn  Dr.  Hahn  gar  vieles  zu  verdanken. 


gS  Eudolf  Westphal, 


einen  der  beiden  trochäischen  Versfüße  zur  ÜQaigt  den  anderen  znr 
d'iacg  hat.  Angesichts  dieser  bei  den  alten  Metrikem  erhaltenen 
Darlegung  sind  wir  gezwungen,  die  Ansicht  H.  Weil'»,  die  Tetra- 
podie  habe  zwei  Semeia,  eine  Thesis  und  eine  Arsis,  zu  verlassen 
und  statt  ihrer  der  aus  der  Theorie  der  ßäaig  diTtodr/.rj  folgenden 
Auffassung  Baumgart's  uns  anzuschließen: 

Die  Tetrapodie  hat  vier  Semeia, 

nämlich  zwei  ügaei^  und  zwei  -d-iaeig 
ÜQaigj  '3'iaig,  ÜQaig,  -S'eaig, 
oder  in  umgekehrter  Ordnung  der  Takttheile: 

^iaig,  ixQaig^  -S-iacg^  ÜQaig. 

So  spricht  die  positive  rhythmische  XJberlieferung,  welche  in  der 
den  Namen  des  Marius  Victorinus  tragenden  Kompilation  enthalten 
ist,  gegen  die  Interpretation,  welche  H.  Weil  von  der  aus  Aristo- 
xenos  stammenden  Stelle  des  Psellos  gegeben  hat,  daß  die  Tetrapodie 
zwei  Semeia,  die  Pentapodie  dagegen  vier  Semeia  habe ;  sie  spricht 
für  die  Auffassung  Baumgart's,  daß  in  der  Stelle  des  Psellos  das 
Wort  ariiteiov  auf  einem  von  einem  Späteren  herrührenden  Glosseme 
beruhe,  welches  sich,  wie  es  oben  (S.  85)  geschehen  ist,  glücklicher- 
weise als  solches  erkennen  läßt.  Bleiben  wir  bei  dem  Satze,  daß  es 
die  Lehre  des  Aristoxenos  sei,  in  dem  aus  mehreren  Versfüßen  zu- 
sammengesetzten Takte  ist  ein  jeder  der  einzelnen  Versfuße  als  Takt- 
theil  zu  fassen. 

Einer  noch  nicht  bei  Aristoxenos  vorkommenden,  aber  wohl 
von  den  alten  Metrikern  uns  überlieferter  Klassifikation  der  nödeg 
in  die  Ttödeg  Tijg  rtQwzrjg  dvTiTta&elag  und  die  Ttööeg  rfjg  devri^ag 
ävTiTtad-eiag  zufolge  sollen  die  3-  und  4  zeitigen  Ttödeg  der  ersten 
Kategorie,  die  5-  und  6 zeitigen  Ttödeg  denen  der  zweiten  Kategorie 
angehören,  diese  Klassification  läßt  sich  mit  der  von  Aristoxenos  an- 
gegebenen Ausdehnung  der  verschiedenen  einfachen  und  zusammen- 
gesetzten Takte  in  Verbindung  bringen  und  außerordentlich  verein- 
fachen. Von  der  ersten  Kategorie  können  die  Versfüße  bis  zum 
dipodischen,  tripodischen,  tetrapodischen,  pentapodischen,  hexapodi- 
schen  novg  aivd^exog,  von  denen  der  zweiten  Kategorie  aber  bloß 
bis  zum  dipodischen,  tripodischen  Jtovg  G'Ovd-erog  zusammengesetzt 
werden.  Von  dem  3  zeitigen  und  4  zeitigen  Versfuße  (dem  Daktylus, 
Anapäst,  Trochäus,  lambus)  giebt  es  also  Dipodien,  Tripodien,  Te- 
trapodien, Pentapodien,  Hexapodien,  von  den  Päonen  und  lonici 
aber  bloß  Dipodien  und  Tripodien,  keine  Tetrapodien,  Pentapodien 
und  Hexapodien.  Aristoxenos  stellt  dies  folgendermaßen  dar:  Die 
Ttödeg,  welche  auch  eine  Qv&fioTtoila  avvexr}g  bilden  können,  gehören 


Die  Aristoxenische  Kh^thmuslehre.  39 


der  daktylischen,  iambischen  und  paeonischen  Taktart  an.  Ein  Ttoi)^ 
anderer  Taktarten  (die  Psellianischen  Prolambanomena  zählen  zu 
diesen  anderen  Taktarten  die  nodeg,  deren  Takttheile  im  Verhältniß 
von  3 : 4  und  1  :  3  stehen,  die  epitritischen  und  tiiplasischen  Ttodeg, 
offenbar  nach  Aristoxenos'  Darstellung,  was  auch  Weyhe  in  seiner 
Arbeit  dagegen  einwenden  mag)  ein  solcher  Ttovg  kann  nur  einzeln 
unter  andere  Ttödeg  eingemischt  sein,  nie  aber  können  mehrere  epi- 
tritisohe  oder  triplasische  Takte  auf  einander  in  einer  avvexv^  Qvd-- 
fiOTcoiia  auf  einander  folgen.  Die  Takte  der  geraden,  ungeraden 
und  fünftheilig-ungeraden  Taktart  aber  können  zu  folgenden  Kola 
[zusammengesetzten  Takten)  zusammentreten,  die  der  daktylischen  bis 
zum  16  zeitigen  Takte,  die  der  iambischen  bis  zum  IS  zeitigen  Takte, 
die  der  päonischen  bis  zum  25  zeitigen  Takte.  Hieraus  ergiebt  sich 
die  folgende  Aristoxenische  Taktskala: 

3 zeitig:    ^  J  ^'    iambischer  Takt. 

4  zeitig:    J  J  j  J    daktylischer  Takt. 

5 zeitig:    jTJj]    paeonischer  Takt. 

6zeitig:    J  J  j    J  J  J    iambischer  Takt. 
J^   J^   J^i    ionischer  Takt. 

8 zeitig:    J"77]    STTä    daktylischer  Takt. 
9 zeitig:    J  j  j    J  J  J    J  J  J    iambischer  Takt. 


I    I 
ä  ä  ä 

I  I  I 


Jjj    J  J  J    ionischer  Takt. 


12 zeitig:    J  j  J  J  J  J   J  J  j  J  j  j    iambischer  Takt. 

J  j  j  j  J  j    J  J  J  J  J  J    ionischer  Takt. 

000       000 
III        111 

15 zeitig:    JJJ    JJJ   J  J  J    JJJ   J  J  J   iambischer  Takt. 

16 zeitig:    /JT3    JT7]    JT7#    J77^    daktylischer  Takt. 
ISzeitig:     rn     rTj    JTl     rn     rjl     m    iambischer  Takt. 
J  J  J  J  J  J    J  J  J  J  J  J    J  J  J  J  j  j    ionischer  Takt. 

\  \  \   rrr  ^  t  t 


25  zeitig:    JJJJJ    J  J  J  J  J    J  J  J  J  J    JjjJ'  J    J  J  J  J  J    paeoni- 
scher Takt. 


90  Rudolf  Westphal, 


Wir  fügen  hinzu,   daß  der  8 zeitige   daktylische  Takt  durch  die 

Chresis  der  Rhythmopoiie  auch  die  Form  J  J  J  J  annehmen  kann, 
d.  h.  aus  zwei  Spondeioi  diploi  bestehen  kann^  der  4  zeitige  auch  in 

der  Form  J   J,  d.  i.  als  Orthios  oder  Trochaios  semantos,  der  5  zeitige 

auch  in  der  Form  des  Paion  epibatos  J  J  J  J,  Taktformen,  auf 
welche  die  Äristoxenische  Rhythmik  in  der  Skala  der  Takte  keine 
Rücksicht  nimmt. 

Wir  machen  weiter  darauf  aufmerksam,  daß  andere  als  die  von 
Aristoxenos  aufgestellten  Taktmegethe  in  der  ^vO'f.WTtoila  avvex^Q  nicht 
vorkommen  können,  daß  daher  alle  katalektischen  Dipodien,  Tri- 
podien,  Tetrapodien,  Pentapodien,  Hexapodien  z.  B.  -v-/-^-^-, 
-wv^_v^v^_ww_  u.  s.  w.  einen  anderen  als  den  in  den  Sylben  an- 
gegebenen rhythmischen  Werth  haben  müssen.  Sie  haben  stets  das 
rhythmische  Megethos  des  entsprechenden  akatalektischen  Kolons, 
sei  es  wie  Aristeides  angiebt,  durch  Hinzufügung  einer  Pause,  sei  es 
wie  aus  den  Musikbeispielen  des  Anonymus  folgt  durch  Verlängerung 
der  im  katalektischen  Auslaute  erscheinenden  langen  Sylbe  zu  einer 
3  zeitigen  oder  4  zeitigen.  Also  jedes  katalektische  Kolon  hat  nach 
Aristoxenos  den  gleichen  Zeitwerth  wie  das  entsprechende  aka- 
talektische. 

Übersicht  der  unzusammengesetzten  und  der  zusammen- 
gesetzten Takte. 

Trochäische  und  iambische  Takte. 

Monopodie:  Tiohg  r^Lar^^iog  iovv&erog 

-  ^  3  zeitiger  Trochäus 
^-  3  zeitiger  lambus 


ä  4 

Dipodie:  7iovg  i^aarn^iog  avvd-BTog  Iv  i»6y(fi  laqi 
-  ^  -  ^  6  zeitige  trochäische  Dipodie 
^  T  ^  ~  6  zeitige  iambische  Dipodie 


^  4  ä      ä  4  0 

Tripodie:  Tcovg  ivveüarjfiog  Iv  Idyii)  diitlaoUf 

-  ^  -  ^  -  ^  9  zeitige  trochäische  Tripodie 
^-^-^-  9 zeitige  iambische  Tripodie 


4  ä       4  4  4       4  4  4 

Tetrapodie:  Ttovg  re%Qdarjf.iog  avv&erog  Iv  "koyi^  Xoi^ 
__w_w-w->^  12 zeitige  trochäische  Tetrapodie 
^  -  ^  -  ^  -  ^-  12  zeitige  iambische  Tetrapodie 


Aristoxenische  Rhythmaslehre.  91 

Pentapodie:  Ttovg  ^cevTsxaidsTcdaq^og  aiv^ezog  Iv  köyq)  ii^ioXLt^ 
-^->--^-^-^  1 5 zeitige  trochäische  Pentapodie 
w«w_^-v-/_^_  15 zeitige  iambische  Pentapodie. 

Hexapodie:   novg  dTcrionaidendarifiog  avv&BTog  iv  k6y(fi  dtJtXaaU^ 
-' —  ^ ^^ ^\j -yj ^\j  18 zeitige  trochäische  Hexapodie 
^-^-^-^-^-^-  18 zeitige  iambische  Hexapodie. 

Daktylische  und  anapästische  Takte. 

Monopodie:  Tcovg  TBxqäari^iog  iaiv&evog  iv  Xöyq)  loip 

-wvy  4  zeitige  daktylische  Monopodie 

^^-  4 zeitige  anapästische  Monopodie 

^^^^^^^^^ 
ä  ä  0  ä 

Dipodie:  Ttovg  durdarj/Äog  oin^d-evog  iv  X6y(p  Xa(p 

8  zeitige  daktylische  Dipodie 
-  8  zeitige  anap'istische  Dipodie 


—  ^  v/  —  «^  v-/ 
\^-  \J  ^  \J  \J 


4444    0444 

Tripodie:  Ttovg  dcjöexäarjinog  aiv&etog  iv  Xöytp  di7tXaal(p 

12  zeitige  daktylische  Tiipodie 
"  12  zeitige  anapästisohe  Tripodie 


^  w  —  s-/  w  —  w  \> 


4  4  4      0  4  4  4      4  0  4  0 

Tetrapodie:  novg  ii^i^aiös'Aaarjiiog  aip&etog  iv  X6y(p  Xoiff 
-^^-^^-^^-^^  16 zeitige  daktylische  Tetrapodie 

-  10  zeitige  anapästische  Tetrapodie 


>^   V^ —    V>Vw/    —    \J  \^    .^    \J    \^ 


4       4  4  4  4       4  4  0  4       4  4 

Pentapodie:  novg  dxoaiaäarjinog  a{fp&STog  iv  Xöyif  fji^uoXiap 
.  ws^_v^v^_v.v^_wv^_v^v-/  20  zeitige  daktylische  Pentapodie 

-  20  zeitige  anapäsUsche  Pentapodie 


>^    —    «wV-'  —  \J  \^'  ^  \J  \^  '<J  \^ 


40      4444      4444      4004      4444 

Fär  die  nödeg  äo'öv&eroi  und  aiv^Btoi  r^g  öevxiqag  &vri7ta&€lag 
wird  die  Aristoxenische  Skala  die  Megethe  folgender  Taktgrößen 
ergeben. 

Päonische  Takte. 

Monopodie:  Ttovg  Ttevraarjfiog  &ovv&€tog  iv  X6y(i)  fi/iioXlip 

-^-  5 zeitige  päonische  Monopodie. 

Dipodie:  Ttohg  dexaarj^tog  aiv&erog  iv  i.6yiff  Xat^ 
-w  —  v./«  10  zeitige  päonische  Dipodie 


0  4^0       4di^0 


92  Rudolf  Westphal, 


Tripodie:  Ttoifg  7tsvT€ycaid€Käar]fiog  cöyd-erog  iv  Xöyq)  diTclaaiq) 
-^  —  ^  —  ^ -  15 zeitige  päonische  Tripodie. 

Es  kommt  nach  Aristoxenos  hierzu  noch  die  päonische 

Pentapodie:  Ttovg  Ttevveycaiei^oadarjuog  aivS-erog  ev  Xöyi^  fjf.iio)ii(p 
_^  —  \j  —  v^«-w  —  v^_  25 zeitige  päonische  Pentapodie 

RSB       R=SP       PEB       nsm       PEqn 

äääää      0  ä  ä  ä  ä      ä  4  0  d  ^      4  4  4  4  4      44444 

Ionische  Takte. 

Den  einzelnen  ionischen  Versfuß  schreiben  wir  in  der  Form  des 
MolossuS;  ohne  daß  zwischen  der  mit  der  Thesis  und  der  mit  der 
Arsis  anlautenden  Form  des  Versfußes  unterschieden  zu  werden 
braucht. 

Monopodie:  novg  i^aarjfiog  aaiv&erog  iv  köyct)  diTtkaoLt^ 

6  zeitige  ionische  Monopodie 

Tripodie:  Ttohg  d-Ktw^aiöeyMOrjuog  avvd-exog  hv  köyq)  dl/ckaaicp 
1 8  zeitige  ionische  Tripodie 

ITTTP,  JT^T,  FTiTTi 

Die  Diairesis  der  Takte  in  Chronoi  podikoi. 

Die  sämmtlichen  von  Aristoxenos  als  für  die  ovvexrig  QV&fi07toua 
zugelassenen  rhythmischen  Megethe  sind  der  Anzahl  nach  19,  theils 
äaiv&€TOi,  theils  avv^eroc  Ttödeg,  Aristoxenos  will  für  die  Ttödsg  die 
diafpoqai  auseinandersetzen.     Diese  sind: 

1.  ^lacpoqa  '/mtcc  f.iiyed'og 

2.  ^lacpoQic  'Aara  yivog 

3.  /^tacpoqh  tojv  ^rjvßv  xai  rwv  äXöycov 

4.  ^caq)OQa  Tiara  avv&eaiv 

5.  Jiacpoqa  xara  dcaiQsacv  Ttoiav 

6.  Jia^poqa  xara  rb  ox^f-icc 

7.  Jia(poQa  xaror  drrld'eaiv. 

Von  diesen  7  diacpoQal  giebt  Aristoxenos  bei  einer  vorläufigen 
Aufzählung  kurze  Definitionen,  die  uns  um  so  werth voller  sein 
müssen,  als  die  Ausführung  dieses  Gegenstandes  in  den  Handschriften 
der  Rhythmik  uns  nicht  überkommen  ist.  An  dieser  Stelle  soll  die 
4.  und  die  7.  Diaphora  so  gut  es  gehen  will,  behandelt  werden. 
Was  Aristoxenos  von  der  Diaphorai  tcov  ttoöijv  sagt,  gilt  ebenso  gut 


Die  Aristoxenische  Rhythmuslehre.  93 

fiir  die  imzusammengesetzten  wie  für  die  zusammengesetzten  Takte. 
Von  der  Diairesis  heißt  es  dort : 

Durch   Diairesis  werden  sich   (zwei  einfache)  Takte   von   ein- 
ander unterscheiden,  wenn  ein  und  dasselbe  Taktmegethos  in 
ungleiche  fUgr]  ^Takttheile)  zerfällt.    Und  zwar  sind  die  Takt- 
theüe  ungleich,   sowohl  durch  die  Zahl  der  Takttheile,   wie 
durch  die  GröBe  der  Takttheile,  oder  (nur)   durch  den   einen 
dieser  beiden  Faktoren. 
Wie  verhält  sich  dies  nun  beim  zusammengesetzten  Takte? 
Zur  Erläuterung  gab  die  Theorie   der  griech.  Rhythmik   dritter 
Aufl.  folgende  Auseinandersetzung: 

i.  Das  6  zeitige  Megethos  ist  zwei  Takten  gemeinsam 

a.  dem  6  zeitigen  lonicus 

,    zwei    ungleiche    Takttheile:    ein   4  zeitiger    und    ein 

2  zeitiger 

b.  der  6  zeitigen  trochäischen  Dipodie 
-^-^,  zwei  gleiche  3 zeitige  Takttheile. 

2.  Das  10  zeitige  Megethos  ist  zwei  Takten  gemeinsam,   nämlich 

a.  der  10  zeitigen  päonischen  Dipodie 

-  ^  —  ^  -,  zwei  gleiche  5  zeitige  Takttheile 

b.  dem  10  zeitigen  Paion  epibatos 

-, -, — ,  -    vier  Takttheile  (Aristeides),    drei    2  zeitige    und 
ein  4  zeitiger. 

3.  Das  12  zeitige  Megethos  ist  drei  Takten  gemeinsam,  nämlich 

a.  der  12  zeitigen  daktylischen  Tripodie 
«wv^-ww-w^^  aus   drei   gleichen    4 zeitigen    Taktth eilen 
bestehend 

b.  der  12  zeitigen  ionischen  Dipodie 

, ,  aus  zwei  gleichen  6  zeitigen  Takttheilen  bestehend, 

c.  der  12  zeitigen  trochäischen  Tetrapodie 
-v-'-v^^-v^-w^-v^-w^   aus  vier  gleichen  3 zeitigen  Takt- 
theilen bestehend. 

4.  Das  I5zeitige  Megethos  ist  zwei  Takten  gemeinsam,  nämlich 

a.  der  15  zeitigen  päonischen  Tripodie 

—  ^ w_  -v-^-,   aus  drei  gleichen   5 zeitigen  Takttheilen 

bestehend, 

b.  der  15  zeitigen  trochäischen  Pentapodie 

- '-'-^-^-^-^,    aus   fünf  gleichen    3zeitigen   fiiQrj    be- 
stehend. 

5.  Das  18 zeitige  Megethos  ist  zwei  Takten  gemeinsam,  nämlich 
a.  der  18  zeitigen  ionischen  Tripodie, 

,  aus  drei  gleichen  Gzeitigen  [.liQri  bestehend, 


94  Rudolf  Westpha], 


b.  der  18  zeitigen  trochäischen  Hexapodie 

-^-^  -w_v>  _w-v^^    aus  drei    gleichen   6 zeitigen   fiiQr^ 
bestehend. 
So  verstatten  von  den  für  die  awexrjs  ^v&fiOTtoua   19  verschie- 
denen Megethe  das  6  zeitige,  das  lOzeitige,  das  12  zeitige,  das  15  zei- 
tige, das  18  zeitige  je  eine  zweifache  oder  dreifache  Diairesis   ver- 
schiedener i^iiqj]  (Takttheile  oder  Oijiiteia). 

Von  jeder  der  19  Taktgrößen  steht  es  fest,  daß  sie  —  sei  es  ein 
einfacher,  sei  es  ein  zusammengesetzter  Takt  im  Sinne  des  Aristo- 
xenos  ist.  Doch  hier  scheint  sich  ein  Widerspruch  zu  ergeben. 
Nach  der  vorstehenden  Ausfuhrung  der  Diairesis  zerfallen  die  zu- 
sammengesetzten Takte  entweder  in  2  fisQr],  oder  in  3  fiigt],  oder  in 
4  fi€Qr]j  oder  in  5  iuqt],  oder  in  6  fiegrj.  Nach  der  oben  ange- 
führten ausdrücklichen  •  Erklärung  des  Aristoxenos  kann  ein  Takt 
niemals  in  mehr  als  4  fiiQtjy  leichte  oder  schwere  Semeia  zerfallen. 
Wenn  Aristoxenos  sagt: 

^ca  vi  de  oJj  yivBtai  Ttkeloß  arj^isia  zwp  zeTTagiov^  olg  b  Ttoh^ 
XQfjvat  xara  r^v  aifxov  dvvafuVj  Vareqov  deixB-fioeTat^ 

so  liegt  darin  die  ausdrückliche  Erklärung  von  Seiten  des  Aristoxenos, 
daß  ein  Takt  höchstens  vier  Taktschläge  nöthig  habe,  daß  aber  kein 
Takt  vorkomme,  welchem  fünf  oder  sechs  Taktschläge  zu  geben  seien. 

Jene  Tcödeg  also,  welche  hiernach  Aristoxenos  aus  fünf  oder  sechs 
fxiQrj  bestehen  läßt,  erhalten  beim  Taktiren  nicht  fünf  oder  sechs 
Taktschläge;  sie  werden  abweichend  von  dem  bei  Dipodien,  Tripo- 
dien,  Tetrapodien  eingehaltenen  Verfahren,  nicht  so  taktirt,  daß  auf 
jeden  einzelnen  Versfuß,  welcher  in  dem  ganzen  zusammengesetzten 
Takte  enthalten  ist,  je  ein  Taktschlag  kommt. 

Aber  wie  soll  hier  taktirt  werden?  So  daß  die  Pentapodie,  daß 
die  Hexapodie,  obwohl  sie  der  Theorie  nach  als  ein  einheitlicher 
Ttovg  avvd-eTog  aufgefaßt  ist,  in  der  Praxis  des  Taktirens  jene  (die 
Pentapodie)  als  ein  Verein  von  fünf  selbständigen  monopodischen 
Ttödeg  äaiv&eroi,  diese  (die  Hexapodie)  als  ein  Verein  von  drei 
selbständigen  dipodischen  nödeg  durch  das  Taktschlagen  markirt 
wird.  Wir  erhalten  hiermit  für  die  griechische  Taktlehre  zwei  Kate- 
gorien von  Takten.  In  die  eine  Kategorie  gehört  der  bloß  theore- 
tische Takt  (die  Pentapodie  und  die  Hexapodie),  in  die  andere  Kate- 
gorie der  Takt,  der  auch  in  der  Praxis  als  einheitlicher  rrovg  mit 
2,  3,  4  ari^iela  beim  Taktschlagen  zu  markiren  ist  (Monopodie,  Dipo- 
die,  Tripodie,  Tetrapodie).  Auch  die  Metriker  überliefern,  daß  die 
Pentapodie  aus  5  Ttödeg  besteht,  daß  die  Hexapodie  ein  Trimetron 
ist,  welches  aus  3  Dipodien  zusammengesetzt  ist. 


Die  Aristoxenische  Rhythmuslehre.  95 


Pentapodie : 

V4  gTTrs  I JT7Z I  sTTZ  I  mi  I  n 

Hexapodie  oder  Trimetron: 

Aß  JT3    JT3  I  JTd    J0Z  I  #"    #73 ' 

Gerade  so  würden  auch  die  Modernen  ihre  pentapodischen  und 
hexapodischen  (trimetrischenj  Kompositionen  taktiren,  nicht  aber 


V4    ^40S      4V4     ^___^       p.^-,«-^..« 

'V16  /73    JTJ    üTS    /T3    /TS    #73 

Man  vergleiche  Gluck's  Taurische  Iphigenie^  ersten  Eingangs- 
Gesang  in  der  Ouvertüre,  Mozart's  Hochzeit  des  Figaro,  Gesang  beim 
gleichzeitigen  Marsche  im  4  zeitigen  daktylischen  Takte. 

Diairesis  in  Chronoi  Rhy thmopoiias  idioi. 

Nachdem  Aristoxenos  im  §  1 9  seiner  Rhythmik  vorläufig  erörtert 
hat,  daß  der  Takt  entweder  2  oder  3  oder  4  Taktschläge  erhalte, 
fährt  er  fort: 

Durch  das  Vorgetragene  soll  man  sich  aber  nicht  zu  der  irrigen 
Meinung  verleiten  lassen,  als  ob  ein  Takt  nicht  in  eine  größere  An- 
zahl von  niqri  als  4  zerfalle.  Vielmehr  zerfallen  einige  Takte  in  das 
Doppelte  der  genannten  Zahl,  ja  in  ihr  Vielfaches.  Aber  nicht  an 
«ich  zerfallt  der  Takt  in  eine  solche  größere  Anzahl  von  [liqri  (als 
im  §  17  angegeben  ist),  sondern  die  Rhythmopöie  ist  es,  die  ihn  in 
derartige  Abschnitte  zerlegen  heißt.  Die  Vorstellung  hat  nämlich 
auseinander  zu  halten: 

einerseits  die  das  Wesen  der  Takte  wahrenden  Semeia, 

andrerseits  die  durch  die  Rhythmopöie  bewirkte  Diairesen. 
Und  dem  Gesagten  ist  hinzuzufügen,  daß  die  Semeia  eines  jeden 
Taktes,  überall  wo  er  vorkommt ,  stets  dieselben  bleiben,  sowohl  der 
Zahl  als  auch  dem  Megethos  nach ;  daß  dagegen  die  aus  der  Rhyth- 
mopöie hervoj^ehenden  Diairesen  eine  reiche  Mannigfaltigkeit  zu- 
lassen.    Auch  dies  wird  in  dem  weiterhin  Folgenden  klar  werden. 

Die  ausführliche  Darstellung  dieses  Gegenstandes  ist  in  dem 
handschriftlichen  Texte  des  Aristoxenos  nicht  mehr  erhalten.  Da- 
gegen finden  sich  in  den  Excerpten  des  Psellos  folgende  darüber  han- 
delnde Paragraphen  (§  8). 

Von  den  Chronoi  sind  die  einen  podikoi,  die  anderen  sind 
Chronoi  Rhythmopoiias  idioi.  Chronos  podikos  ist  derjenige,  wel- 
cher das  Megethos  eines  Takttheiles  hat,  des  leichten  oder  des 
schweren,  oder  des  ganzen  (unzusammengesetzten)  Taktes. 


96  Rudolf  Westphal, 


Chronos  Bhythmopoiias  idios  ist  derjenige,  welcher  an  Aus- 
dehnung hinter  diesem  Megethos  zurückbleibt  oder  darüber  hinausgeht. 
Und  es  ist  der  Rhythmus,  wie  gesagt,  ein  System  aus  den 
Chronoi  podikoi,  von  denen  jeder  bald  ein  leichter,  bald  ein  schwerer 
Takttheil,  bald  ein  ganzer  Takt  ist.  Rhythmopoiie  dagegen  wird 
sein,  was  aus  Chronoi  podikoi  und  Chronoi  Rhythmopoiias  idioi 
besteht. 

Hierher  gehört  noch  ein  anderes  Psellianisches  Fragment  10: 
Ttäg  ök  b  diaiQO'Ofievog  elg  Ttlelo)  &qtd-i.ihv  'Aal  elg  iXarTCj  dcaigelTai. 
Man  hat  hier  übersetzt:  jeder  in  eine  größere  Zahl  getheilte  Takt 
wird  auch  in  eine  kleinere  Anzahl  eingetheilt.  Man  mag  aber  über- 
setzen, wie  es  beliebt,  jedenfalls  geht  so  viel  Sachliches  daraus  her- 
vor: ein  jeder  Takt  wird  zugleich  in  Chronoi  podikoi  und  in  Chronoi 
Rhythmopoiioi  idioi  getheilt.  Die  Diairesis  in  Chronoi  podikoi  ist  nicht 
ausreichend,  es  muß  gleichzeitig  auch  noch  die  Diairesis  in  Chronoi 
Rhythmopoiias  idioi  hinzukommen.  Der  griechische  Rhythmiker  sagt 
7t äg  Tto'ög:  jeder  Takt  hat  diese  zweifache  Diairesis  nothwcndig. 

Eine  andere  Stelle  über  die  Chronoi  Rhythmopoiias  idioi  ist  uns 
in  der  dritten  Harmonik  des  Aristoxenos  §  9  erhalten. 

Allgemein  zu  reden,  es  bedingt  die  Rhythmopöie  viele  und 
mannigfaltige  Bewegungen,  die  Takte  aber,  durch  welche  wir 
den  Rhythmus  bezeichnen,  stets  einfache  und  konstante  Be- 
wegungen. 
Am  wichtigsten  ist  die  in  der  Aristoxenischen  Rhythmik  a.  a.  O. 
enthaltene  Angabe: 

fiSQl^ovTai  yccQ   evcot  zcov  tcoöwv  sig  dutXäaiov  tov  elQri^evov 
aQi&fiov  xai  elg  TiokkaTtXaatov,  .  .   JäkX^  :oi  xa^'  aitbv  b  nohg 
elg  rb  Ttkeov  tov  elgrj^ievov  Ttkifjd'ovg  fiegiCeraij  &XJ!  iitb  Tvjg 
^vd-piOTtoUag  diaigelrai  rag  roiavtag  diaiQeaetg. 
Nach  Aristoxenos'  eigner  Aussage  ist  also  für  einige  Takte  die 
Anzahl   der  Chronoi  Rhythmopoiias  idioi  so  groß,  daß  dieselbe  die 
jedesmalige   Anzahl  der  2,   3,  4    /^örot    Tcodixol   um    das  Zweifache 
oder  um  das  Vielfache  übersteigt,  daß  mithin  die  Anzahl  der  xqövoi. 
QV&fjiOTtoUag  tdioi  entweder  2.  2,  2.  3,  2.  4  =  4,  6,  8  oder  z.  B.  3.   2, 
3.  3,  3.  4  =  6,  9,  12  betragen  würde. 
Im  Einzelnen  ergiebt  sich  hieraus: 

Für  den   Ttoifg  6}iTaar]f,iog,    welcher  2  x^dvoi  nodt-Kol  (ßaoeigj 
percusstones)  hat,  wird  sich  die  kleinere  Ani^ahl  der  xQ^^oc 
Qvd'fiOTtouag  idtoi  auf  2  mal  2  =  4  herausstellen. 
2  xQ^^oi  Ttodmol  I  ^eaig    U  ägaig 

4  XQ'  Q'^^'  'i-SiOi       12  3  4 


Die  Aristoxenische  Hhythmuslehre.  97 

In  der  daktylischen  Dipodie  bildet  jeder  der  beiden  Daktylen 
einen  x^6vog  nodcKÖg,  der  eine  die  S'iaig,  der  andere  die  Hqüig. 

Von  den  4  xqdvo^  ^vd-fiOTtoilag  idioi,  von  den  4  Zeitabschnitten, 
in  welche  die  daktylische  Dipodie  von  Seiten  der  durch  die  Bhyth- 
mopoiie  geschehenden  Diairesen  zerfallt,  wird  eine  jede  mit  den 
beiden  Semeia  eines  jeden  der  beiden  Daktylen  d.  i.  mit  der  2  zei- 
tigen 'S'iüig  und  der  ebenso  groBen  &^aig  des  4  zeitigen  Daktylus 
fusammenfallen . 

Die  größte  Zahl  der  xqövoi  ^&(i07toUag  tdtoi  wird  bei  der 
8  zeitigen  daktylischen  Dipodie  nicht  das  Zweifache  der  Anzahl  ihrer 
2  yifiövoi  TtodiTCol,  nicht  das  öiTtläawvj  sondern  ein  TdoXkanXiaiov 
ifi^fiaVj  bilden. 

2  XQ^^^''  ^odiTcol    I.  &iaig 


_  v-/  ^ 


n.  äQOcg 

—  ^  y^ 

5  6  7  8 


8  X9'  ^v&^.  Ulol     12  3  4 

Bei  dieser  Anzahl  der  xQOVOc  ^v&fÄortoilag  idioi  im  Ttovg  ^xrdai;- 
flog  fallt  ein  jeder  derselben  mit  dem  x^oVog  Ttqwrog  zusammen, 
welche  im  Ttohg  di^rdarj/Äog  enthalten  sind.  Man  vergleiche  hierzu 
die  Seite  87  angezogene  Stelle  des  Fabius  Quintilianus  IX,  4,  51. 
Quintilian  hat  in  seinem  Berichte  das  Taktschlagen  von  Seiten  der 
Bhythmiker  im  Auge,  und  berichtet  von  den  percussiones  dxjiai/jfioij 
bei  deren  Taktiren  man  die  einzelnen  xQovoi  TtQCJvot  gezählt  habe. 

Für  den  Ttohg  i^darjfiog  avvd^Btog,  dessen  xQ^^^'^  ^^^^^^^  ^^^ 
je  einem  Trochäus  bestehen,  wird  sich. die  Anzahl  der  in  ihm  ent- 
haltenen xQ^o^  QV&fiOTtoUag  idioi  auf  das  Doppelte  seiner  2  XQ^"*^^^ 
Ttoiixoi  tflarjfioi  herausstellen. 

2  xQ^^<^^  Ttoötxol    I.  &iacg 


I  -^ 

I  \^  \y  \^ 


6  x9-  ^v^f^'  idcot         1  2  3 


IL  ä^aig 

\J  \^  \J 

4  5  6 


Denn  Trochäus  (und  lambus)  wird  man  niemals  nach  dem  fiiye&og 
der  atjfiela  des  einzehien  Versfußes  (abwechselnd)  nach  einem  2  zei- 
tigen und  1  zeitigen  taktirt,  sondern  stets  die  3  xQ^'^^'-  ^^^'^oi  des 
einzelnen  Versfußes  gezählt  haben.  Fabius  Quintilianus  a.  a.  O. 
schweigt  von  TQlarjfioipercussiones  aus  dem  vorher  angeführten  Orunde : 
die  Trochäen  und  lamben  waren  meistens  zu  tetrapodüschen  und 
hexapodischen  (trimetrischen)  Takten  verbunden. 

Im  Ttovg  i^aarjfiog  äavvd^eTog,  der  ionischen Monopodie  haben 
die  beiden  xqovol  TtodcTiol  ungleiches  Megethos,  der  eine  ist  4  zeitig, 

1891.  7 


98 


Rudolf  Westphal, 


der  andere  2  zeitig.  Neben  der  Diairesis  in  die  beiden  xqovoi  reo- 
61x01  (von  ungleicher  Zeitdauer)  hatte  der  taktirende  Dirigent  stets 
(vgl.  oben)  auch  die  xqovov  Qv&fiOTtoUag  idcoc  zu  markiren.  Die  Zahl 
der  in  einem  Takte  enthaltenen  x^ovoi,  ^v&^OTtoUag  idioc  ist  ent- 
weder der  ndcTtXaaiogv  oder  der  j^TtollaTtlaaiogt  i^i&fiog  Beiner 
XQovoL  TtodvKol,  Der  i>7toXXa7tkdaiog(x  äQi&fiog  kann  entweder  das 
Dreifache  oder  das  Vierfache  seiner  Chronoi  podikoi  sein.  Im  ersteren 
Falle  würden  sich  bezüglich  des  Ttovg  i^darjfiog  io'öv&eTog  den 
2  XQ^^^''  ^oÖLTCol  gegenüber  für  die  xQ^'^oi  ^v&fiortouag  idioi  die 
Zahl  3  mal  2  =  6  ergeben. 


2  %poi/06  TtodvAoL    I.  d^iaig 


\j  \j  \^\j 


1     2 
6  xQ'   ^y^f*'  idiot      12  3  4 


II.  tcQCcg 


3 
5  6 


Für  den  Tvoijg  dioöexdaijfiogj  die  ionische  Dipodie,  ergiebt 
sich  hieraus  bei  ebenfalls  nur  2  xQ^voc  TtodiTLoi  eine  Zwölfzahl  von 
XQOVoc  ^vd'^ionoUag  Höloc 


2  xQ^voc  TtodtrAoL    I.  d^iatg 


\j  \j  \j  \j  \j  \^ 


6  XQ'  ^y^'  liioc  1       2       3 
12  XQ-  }y^'  'iSwL  12  3  4  5  6 


II.  &Qöi,g 


4      5  6 

7  8  9  10  11  12 


Es  giebt  somit  größere  und  kleinere  x?^^^^  ^vd-fiOTVoUag  Xdcov:  die 
größeren  sind  xQovoi  dlarjfioi  von  je  2  zeitigem  Megethos,  die  kleineren 
sind  xQ^voL  TtQWToc  von  1  zeitigem  Megethos.  Für  den  daktylischen 
Ttovg  dxrdarjfiog  sind  im  Vorausgehenden  sowohl  die  4  zweizeitigen 
wie  die  8  einzeitigen  ;fprf^ot  ^v&fi07toUag  idiot  angegeben;  für  den 
ionischen  novg  e^aarjfiog  äavvd-evog  sind  die  3  zweizeitigen  %ßoro6 
Qvd^l.i07toUag  und  die  12  einzeitigen  x^^'^^^  ^v&fiOTtoäag  angegeben; 
für  die  trochäische  Dipodie  (den  Ttoifg  i^darifiog  aivd-STog)  nur  die 
6  einzeitigen.  Unter  Zugrundelegung  der  Aristoxenischen  Angaben 
dürfen  wir  folgende  Tafel  der  dipodischen,  tripodischen  und  tetra- 
podischen  Takte  ihres  Megethos  und  die  Anzahl  ihrer  Chronoi  podikoi 
und  ihrer  2  zeitigen  und  1  zeitigen  Chronoi  Rhythmopoiias  idioi  auf- 
stellen (die  pentapodischen  und  alle  paeonischen  Takte,  sowie  die 
hexapodischen  (trimetrischen)  Takte  dürften  ausgelassen  werden): 


Die  Aristoxenische  Rhythmuslehre. 


99 


1   "" 

Zusammengesetzte  Takte 

1 

i 

Megethos 

der 

ganzen 

Takte 

Zahl  der 

Chronoi 

podikoi 

Zahl  der 

2  zeitigen 

Chronoi 

Rhyth- 

mopoiias 

Zahl  der 

1  zeitigen 

Chronoi 

Rhyth- 

mopoiias 

jiTotfg  aW'9'eTOQ  dcfiSQrjg  Iv  Xoytfi  ia(p 
1    txochäische  Dipodie 

daktylische  Dipodie 

ionische  Dipodie 

6  zeitig 

8  zeitig 

12  zeitig 

2 
2 
2 

i 
4 
6 

6 

8 

12 

Iloifg  cöv-d-erog  TQi^€Qf}g  Iv  Xoyf^ 

1    trochäische  Tripodie     .... 
daktylische  Tripodie 

ionische  Tripodie 

1 

9  zeitig 
12  zeitig 
18  zeitig 

3 
3 
3 

6 
6 
9 

9 
12 
18 

\Jlovg     aivd-BTog    TeTQaf.ie^rig    iv 

1    tiochäische  Tetrapodie .... 
1    daktylische- Tetrapodie.    .    .    . 

12  zeitig 
16  zeitig 

4 
4 

6 

8 

12 
16 

Aus  dieser  Tabelle  ist  ersichtlich,  wie  Aristoxenos'  dritte  Har- 
monik §  9  zu  verstehen  ist:  JfiXov  ^  Sn  aal  al  rwv  dtaiQioBiov  ve 
aal  axfjf^otTiov  6ia<poQal  Tteqii  ^ivov  tl  fiiye^og  yiyvovrai,  yca&olov  i* 
ütcuv  fi  iihv  QV&^OTtoUa  TtoXXhg  %al  7tav%odanhg  xtvelrat  ^i/ir^aug^ 
Ol  ih  Ttödeg  olg  ar]fiacv6fi€&a  Tohg  ^v^fiohg  ScTclag  re  xal  Titg  avritg 
itL  Der  jtovg  aifpd'STog  dcf^sQiqg  und  revQafieQrjg  iv  X6y(fi  Xaip,  der 
Tcobg  vQtiiBQ^g  iv  "koyi^  öi7tkaal(p,  diese  sind  ol  Ttodsg  olg  arjf^acvo- 
(ndix  Tot/g  ^'d'^ovg,  diese  sind  es,  welche  stets  ctTtXag  t€  xal  rceg 
airig  xivifiaeig  haben,  von  2-  oder  von  3-  oder  von  4  zeitigen  Vers- 
fiiBen  dargestellt  werden:  ein  jeder  von  ihnen  hat,  er  mag  vorkom- 
men, wo  er  will,  immer  nur  entweder  2  oder  3  oder  4  Takttheile, 
stets  nur  Takte  von  2  oder  3  oder  4  xQovoi  TtodcKol.  Ihnen  gegen- 
über sagt  Aristoxenos  »fj  fikv  ^v&iiOTtoua  TtoXXhg  %al  TtavTodaTtitg 
nivrjaeig  xi/uelract.  Damit  meint  er  die  XQ^^^''  ^^^  ^V'S'fiOTtoUag  iSioi, 
welche  auf  diese  Ttodsg  kommen:  je  nach  der  metrischen  Form  der 
Versfüße,  welche  die  Bestandtheile  des  Taktes  bilden ,  und  je  nach- 
dem die  xQOVOc  ^vx^fiOTCoUag  entweder  1  zeitige  oder  2  zeitige  sind, 
kommen  auf  den  vtovg  aivd-Bzog  TQifieQrjg  bald  9,  bald  6,  bald  12, 
bald  18  xQovoi  ^v&^orcouag.  In  der  That,  das  sind  »TtoXXai  xat 
nav%odaTtal  mvijäug«. 


j^QQ  Rudolf  Westphal, 


Es  darf  nicht  unbemerkt  bleiben,  wie  sich  das  von  Aristoxenos 
und  Fabius  Quintilian  beschriebene  Taktverfahren  der  Alten  ssum 
Taktverfahren  der  Modernen  verhält.  Kompositionen  in  3  zeitigen 
und  4  zeitigen  Versfüßen  werden  bald  nach  einfachen,  bald  nach  zu- 
sammengesetzten Takten  dirigirt.  Die  zusammengesetzten  Takte  der 
modernen  Musik  haben  entweder  2  oder  3  oder  4  Hauptbewegungen 
des  Dirigirens  den  2  oder  3  oder  4  xq6voi  7todi%ol  des  Aristoxenos 
genau  entsprechend.  Der  Dirigent  markirt  hier  durch  weites  Aus- 
holen mit  der  ganzen  Länge  des  Armes.  Ist  der  Rhythmus  ein  nicht 
zu  schneller,  so  hält  es  der  Dirigent  für  nothwendig,  auf  jede  »Haupt- 
bewegung«  auch  noch  eine  bestimmte  Anzahl  von  »Nebenbewegungen«, 
die  er  durch  den  Unterarm  vom  Ellenbogen  bis  zur  Hand  ausfuhrt, 
kommen  zu  lassen.  Diese  »Nebenbewegungenc  des  modernen  Dirigirens 
kommen  mit  demjenigen  überein,  was  Aristoxenos  xqovoi  xfig  ^vd'fjio^ 
Ttoclag  Xötoi  nennt. 

Quintilian  berichtet  von  den  alten  Rhythmici  »pedum  et  digüorum 
ictu  intervaUa  signant  qvibusdam  noiisn.  Darf  man  annehmen,  daB 
bei  den  Alten  mit  dem  pedum  ictu  die  x^ovoi  Ttodcnoly  mit  digitorum 
ictu  die  xQ^^''  ^v-^-fiOTtoUag  markirt  worden  seien?  Es  ist  wohl 
kaum,  anders  möglich,  denn  Quintilian  sagt  etj  nicht  aut,  das  Mar- 
kiren mit  dem  Fuße  war  gleichzeitig  mit  dem  Markiren  vermittels 
der  Finger.  Dann  würden  die  rhythmischen  Hauptbewegungen  bei 
den  Alten  durch  Auftreten  mit  dem  Fuße,  die  rhythmischen  Neben- 
bew^ungen  mit  der  Hand  ausgeführt  worden  sein.  Es  wird  sich 
schwerlich  eine  Stelle  bei  den  Alten  finden  lassen,  welche  hierüber 
genaue  Auskunft  gäbe. 

Die  gleiche  Zeitdauer  heterogener  Versfüße,  hergestellt 
durch  Wechsel  der  rhythmischen  dyiayaL 

Unter  dem  Terminus  technicus  Metton  verstehen  die  Alten  das- 
selbe wie  unter  Periode.  Es  giebt  2-  und  mehrgliedrige  Perioden 
=  dikoUsche,  trikolische  und  längere  Metra.  Bis  zu  4  Kola  kann 
eine  Periodos  enthalten,  sagt  der  römische  Metriker  Marius  Victo- 
rinus,  welcher  eine  Zusammenstellung  aus  seinen  metrischen  Schriften 
gegeben  hat.  Seiner  Qualität  nach  ist  das  Metron,  sagt  Hephaistion, 
entweder  ein  gleichförmiges  oder  ein  ungleichformjiges.  Das  gleich- 
formige  heißt  bei  ihm  fiir^ov  f^oroeidegj  aus  Versfüßen  desselben 
^löog  lurqixov  bestehend:  das  daktylische  aus  lauter  Daktylen,  das 
anapästische  aus  lauter  Anapästen  u.  s.  w.  Das  ungleichförmige  ist 
entweder  ein  gemischtes  (genannt  ifxoioeidig  und  ärrcTtad-ig)  oder 
ein  episynthetisches.  In  dem  gemischten  Metron  besteht  das  einzelne 
Kolon  aus  einer  Mischung  heterogener  Versfüße,  von  denen  das  eine 


♦  -    • 


Die  Aristozenisehe  Rhythmusltiliif :  - . .  \Q\ 


->^^^ 


aus  diesen,  das  andere  aus  jenen  Versfüßen  besteht.  Jedes ,jeinzQ][ne 
Kolon  des  episynthetischen  Metrons  ist  ein  ungemischtes.*  Ji* ^^ 
wenigstens  der  häufigste  Fall,  daß  die  Kola  eines  Metron  episyit- 
theton  den  ungemischten  Versfüßen  der  4  zeitigen  oder  der  3  zeitigen 
Taktart  angehören. 

In  den  gemischten  Metra  der  geraden  und  der  ungeraden  Takt- 
art werden  4-  und  3  zeitige  Versfuße  zu  einer  metrischen  Einheit  ver- 
bunden, obwohl  die  metrische  Theorie  der  Alten  vielfach  annimmt, 
daß  in  den  meisten  gemischten  Metra  die  Versfuße  je  in  4  Sylben 
zu  zerlegen  sind,  wodurch  auch  Jonici  und  Choriamben  als  Bestand- 
theile  eines  gemischten  Metrons  genannt  werden.  Boeckh  hat  hier 
bereits  das  Richtige  erkannt.  Der  Haupttypus  der  gemischten 
Metra  sind  die  von  den  Alten  sogenannten  Logaöden,  von  denen  die 
Alten  sagen,  daß  in  ihnen  die  Daktylen  oder  Anapaesten  mit  Tro- 
chäen oder  lamben  gemischt  seien,  und  nach  den  Logaöden  bezeichnet 
Boeckh  auch  die  übrigen  gemischten  Metra  als  logaödische. 

Daß  nun  in  den  gemischten  Metra  die  einzelnen  heterogenen 
Veisfiiße,  die  ihrer  äußeren  Form  nach  dem  4  zeitigen  und  dem 
3  zeitigen  yivog  Ttod&v  angehören,  einen  und  denselben  Rhythmus 
haben,  hat  bereits  Boeckh  nach  dem  Vorgange  Apel's  gelehrt.  Eben 
60  verhalte  es  sich  mit  den  Metra,  welche  Hephaistion  (lixqa  iTtir- 
avv&era  nennt,  in  denen  verschiedene  Kola  aus  4  zeitigen  Versfußen 
mit  Kola  aus  3  zeitigen  Versfußen  miteinander  verbunden  sind.  Seit 
Boeckh  vrird  wohl  Niemand  sein,  welcher  darüber  anders  denkt. 

Wie  Boeckh  nun  im  Einzelnen  sich  die  rhythmische  Gleich- 
stellung der  Daktylen  und  Trochäen,  der  Anapaeste  und  lamben 
dachte,  darauf  braucht  hier  nicht  eingegangen  zu  werden.  In  den  von 
ihm  sogenannten  logaödischen  Metren  nahm  er  anfänglich  nach  Apel  an, 
daß  hier  ein  Verhältniß  wie  in  der  modernen  Musik  zwischen  den  Dak- 
tylen und  Trochäen  bestehe  ^/g  J  J^  ( J  ^  ').  Er  meinte,  daß  dieser 
3 zeitige  Daktylus  es  sei,  welcher  bei  Dionysios  der  kyklische  Fuß 
genannt  werde,  da  im  vorliegenden  Takte  -  ^  ^  Jj^  J  der  Länge  der  3- 

fache  Zeitumfang  der  darauf  folgenden  Kürze  gegeben  ist.  Deshalb 
verließ  Boeckh  in  seinen  Metra  Pindari  den  ApeFschen  Standpunkt 
and  versuchte  sich  mit  dem  Satze  des  Aristoxenos  (s.  oben)  auf  seine 
Weise  zurecht  zu  setzen,  indem  er  lehrte:  nicht  dem  völligen  rhyth- 
mischen Werthe  nach  bei  den  Griechen  gleichgestellt,  sondern  so, 
daß  der  Daktylus  ein  rhythmisches  Verhältniß  von  2  :  2,  der  Tro- 
chäus seinen  koyog  nodvKoq  2 :  1  bewahrt  habe.  Diese  gleiche 
Zeitdauer  2  ungleicher  Versfuße  sei  durch  die  öivafiiQ  &yu}yfjg^ 
durch   einen  Wechsel   des   rhythmischen    Tempos   bewirkt  worden. 


••     •   • 


•  •      • 


.    *  •  •   •  •  • 


1 02  ••*'.*•  *••  *•  Rudolf  Westphal, 


•   •     •   • 


•      «  *    * 

•    •   •  • 


Dii,e*/n(f4enfe 'Musik  gestattet  sicli  eine   willkürliche  Zerfällung  der 
/jygiyi  *fvS-fi07toUag    idiotj   daher   sind  uns    Versfuß  -  Schemata    wie 

*•"-  •J.T5  J  ^I^^chaus  geläufig,  Daß  moderne  Worttexte  in  den  verschie- 
densten Taktformen  vom  Komponisten  gesetzt  werden,  kommt  häufig 
genug  vor.  Es  giebt  nur  wenige  Beispiele,  daß  die  christlich-modeme 
Musik  dasselbe  Verfahren  wie  die  Griechen  eingeschlagen  hätte. 
Dies  ist  von  J.  S.  Bach  in  dem  Z)dur-Präludium  des  zweiten  Theiles 
seines  wohltemperirten  Klaviers  geschehen.  Wie  der  große  Bach  rhyth- 
misirt  —  wie  Professor  Ph.  Spitta  mich  belehrte,  fand  er  selbst  bei 
Bach  keine  Parallele  dieser  Rhythmisirung,  wenigstens  nicht  so,  daß 
dieselbe  schon  in  der  Taktvorzeichnung  angemerkt  sei.  Wir  setzen 
den  ersten  Vers  jenes  Bach'schen  Präludiums  her,  welcher  beiläufig 
gesagt,  in  einem  Metron  gehalten  ist,  welches  nach  der  Nomenclatur 
Hephaistion's  ein  Metron  episyntheton  zu  nennen  sein  vnirde.  Wir 
geben  zugleich  die  griechischen  Termini  an,  mit  denen  die  einzelnen 
Versfüße  des  zusammengesetzten  Taktes  zu  bezeichnen  sein  würden: 
alle  Veränderungen,  die  wir  uns  der  Schreibung  Bach's  gegenüber 
erlauben,  sollen  lediglich  dazu  dienen,  die  Vergleichung  Baches  mit 

der  griechischen  Rhythmik  instructiver  zu  machen. 

*^     ""  '^  «* 

"i 


^fTfjH-t^a^^^ 


:  aqatSi    ßoi<fi^»     ^QfftSt      ßaais;'      '  ft^<yif,  ßaai^,       aQ<ri£,     ßacig 

Die  hier  vodiegende  seltene  Taktvorzeichnung  (aus  dem  ^-  und 
dem  ^^l^-T^iiAe  kombinirt]  hat  den  Namen  der  gemischten.  Die 
Griechen  würden  hier  etwa  den  Terminus  ^v&fiol  nLOtvoi  gebraucht 
haben.  Jeder  Takt  soll  zugleich  ein  vierfüßiger  ^-Takt  und  ein 
vierfüßiger  ^^/^-Takt  sein.  Obgleich  diese  Taktvorzeichnung  zu  den 
allerseltensten  gehört,  wird  doch  jeder  nur  einigermaßen  mit  den 
Taktverhältnissen  bekannte  Musiker  das  Präludium  in  dem  von 
Bach  vorgezeichneten  Rhythmus  richtig  ausführen.  Der  erste  Takt 
ist  so  groß  wie  der  zweite,  kommt  in  der  Zeitdauer  mit  ihm  genau 
überein.  Nach  der  griechischen  Nomenclatur  zerfällt  der  erste  Vers 
in  4  X90V01  Ttodtxol^  2  Ügaeig  und  2  ßdaeig ;  der  zweite  nicht  minder. 
Wir  haben  das  gleiche  Megethos  und  haben  auch  dieselbe  Anzahl 
gleich  großer  fii^rj  oder  /^o^ot  TtodtxoL  Der  Unterschied  besteht 
•darin,  daß  die  der  ersten  aus  TQlarifxoi  noSeg,  die  der  zweiten  aus 
reTQdarjfj,oi  Ttoäeg  bestehen,  allgemein  zu  reden:  sie  haben  ver- 
schiedenes metrisches  Schema.  In  unserem  Beispiele  sind  die 
beiden  Bach'schen  Takte  gleich  groß,  sie  haben  auch  dieselbe  Anzahl 


Die  Aristoxenische  Rhytbmuslehre.  }Q3 


von  XQOPOC  Ttoöixoi;  aber  die  X9<>'^^^  ^v&fiOTtoäag  Ydcoi,  in  welche  die 
Xi^opoi  Ttoäixoi  zeifallen,  sind  in  dem  einen  der  beiden  Takte  ändeie 
ab  in  dem  andern :  in  dem  einen  bildet  ein  jeder  einen  iambischen, 
in  dem  andern  einen  daktylischen  Versfuß,  und  dies  ergiebt  freilich 
eine  ungleiche  diaigsaig  ^vS-fi07toäag.  Wird,  wie  Fabius  Quintilianus' 
Bericht  lautet,  nach  XQ^^^'^  nQwroc  gezählt,  so  müssen  die  Chronoi 
protoi  der  iambischen  Versfüße  kürzer  sein,  als  die  daktylischen. 

Das  rhythmische  Beispiel  der  Bach'schen  Musik  kann  für  uns 
ein  altgriechisches  Beispiel  vertreten.  Bach  ist  der  christlich-moderne 
Meister  der  Rhythmik  wie  der  Harmonik;  bei  ihm  finden  sich  nicht 
nur  die  zahlreichsten  rhythmischen  Formen,  zahlreicher  als  bei  allen 
Nachfolgenden:  daktylische  Tetrapodien  und  Tripodien,  welche  letz- 
lere  man  außer  bei  Bach  nur  im  Scherzo  der  neunten  Symphonie 
BeethoYen's  nachweisen  kann,  während  sich  bei  Bach  Beispiele  davon 
IUI  Genüge  finden  (vgl.  des  Verfassers  Allgemeine  Theorie  des  musi- 
kalischen Rhythmus  seit  J.  S.  Bach  1880  4.  XL VII  u.  s.],  sondern 
auch  sonst  ist  die  Bach'sche  Rhythmopöie  ein  Beweis,  daß  dieser 
große  Meister  den  Meistern  der  griechischen  Rhythmik  durchaus 
kongenial  war.  Wir  haben  dies  besonders  bei  Gelegenheit  des 
Gebrauches  des  anapästischen  Tetrametrons  nachgewiesen. 

Gehen  wir  wieder  zur  antiken  Rhythmik  zurück.  Aristoxenos 
sagt  in  seiner  7  theiligen  Harmonie  §  9 :  es  giebt  in  der  Harmonik 
etwas  Konstantes  und  etwas  Variabeles.  Dasselbe  sei  auch  in  der 
Rhythmik  der  Fall: 

TL&kiv  Iv  roig  ^vd-fiolg  noXXh  rotavd^  bqü^iev  yiyvöfieva'  xai 
yaq  iiivovrog  rov  Xöyov  xa^'  bv  didtQLavaL  ra  yivt]  rix  fieyi&r] 
%LVtlxai  Twv  Ttodcjv  dth  t^^   Tfig    äywyfjg  diva^uv^    xa2   xwv 
fAsysS-wv  fxe^ovrary  ivofxoioi  ylyvovrai  ol  Ttodeg'  aal  ainh  rb 
liiysd-og  Ttoda  tb  divazai  xai  ovtvylav. 
Wir  lesen  bei  Dionys.  comp.  verb.  11 :  'üf  fiev  Tts^ij  Xi^ig  oiderbg 
hofiarog   oOre    ^ijfjiaTog   ßiaZerai   rovg    xQovovg    oijve'  lABTaxL'd'riaLVy 
6iX  oYag  7taQelkr]q)e  rfj  q>iaBt  T&g  avkXaßag  rag  ze  pia%qixg  Y,al  vitg 
ß^ax^lag   zotaixag    q>vldTreL     ^H  dk   ^qv&fAtxrj   xal    fiovainrj   fiBra-- 
ßalXovoiv  ctdrag  fiBiovaai  xal  ai^ovaai,  üars  TtoXXaxig  Big  %h  ^Bvav- 
xia  fiBTaxco^eiv  ov  yaq  xcäLg  avXXaßalg  &7tBi&wovai  rohg  xqovovg^ 
iUit  ToZg  xQ^o^  ^^^  avXXaßag.    Die  Prosarede  nimmt  die  Sylben- 
quantitat,  wie  sie  durch  die  Sprache  an  sich  gegeben  ist,   ohne   die 
Längen  und  Kürzen  in  ein  aus  ihrer  sprachlichen  Natur  nicht  fol- 
gendes Zeitmaß  einzuzwängen,  sie  bestimmt  die  Zeitdauer  nach  der 
natürlichen  Sylbenbeschaffenheit.  Die  Rhythmik  und  die  Musik  (also 
der  gesungene  Vers)  aber  bestimmt  die  Sylben  nach  dhronoi  d.  i. 
Zeitmaßen /welche  aus  dem  Begriffe   des  Rhythmus  folgen,  sie  ver- 


104  Rudolf  Westphal, 


ändert  die  natüiliche  Fiosodie  der  Längen  wie  der  Kürzen,  indeni 
sie  diese  bald  über  die  gewöhnliche  Sylbendauer  hinaus  ausdehnt 
(das  sind  die  %q6voi  Tca^exTsrafiivoi  des  Aristeides),  bald  in  ihrem 
Zeitumfange  verringert;  oft  gehen  sogar  Längen  und  Kürzen  in  ein- 
ander über  d.  h.  Länge  und  Kürze  erhält  den  gleichen  Zeitumfang. 
Im  17.  Kapitel  redet  Dionysios  von  einer  //ax^cr  Tslela  (der 
gewöhnlichen  2  zeitigen  Länge)  und  einer  verküirzten  fiax^a.  Lidern 
wir  die  Ausdrücke  fieiovaaij  ad^avea&ac  und  rskela  aufnehmen, 
werden  wir  die  von  Dionysios  angedeuteten  Sylbenwerthe  der  Rhyth- 
mik folgendermaßen  bezeichnen  können: 

fianqii  fiefieLWfiipr]  ßqaxela  fi€fiei(Ofiivr]. 

Die  Worte  ȧarc  nollomig  eig  Ivavtla  ^Braxioqeivn  finden  ihre 
Bestätigung  durch  Longin  proleg.  ad  Hephaist.  §  6  und  Marius 
Victor,  p.  5  K. 

Longin.  Mar.  Victor. 

jJiag)iqei  ^v&fiov   rb  fiirqoVy    fi  Differt  autem  rhythmus  a  metrOy 

TÖ    iihv   fiirqop   TtSTtrjyorag   ^ex^i  quod  metrum  certo   numero  sylla- 

roijg  xQ^'^^^Si  barum  ac  pedum  ßnitum  sit, 

b    dk    j^v&f^bg  £tg  ßoiXexat,  eX%Bt  rhythmus  autem  .  .  ut  volet  pro- 

%ohg  xQovovg^  trahit  temporay 

TtoXXaxig   yovp   aal    zbv   ßqaxi^  ita   ut    breve    tempus   plerumque 

Ttoul  fiaxqov,  longum  effidat^  longatn  contrahat. 

Dasselbe  ist  auch  bei  Diomedes  p.  468  Keil  zu  lesen; 

Rhyihmi  certa  dimensione  temporum  terminantur  et  pro  nostro 
arbitrio  [=  ut  volet  Victor.^  &g  ßoHerac  Longin]  nunc  brevius  arctari 
[=s  longam  contrahat],  nunc  longius  proveht  [=s  protrahit  ten^ora]  possunt. 

Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  daß  dies  Alles  nur  aus  einem  ge- 
meinsamen griechischen  Originale  herstammt.  Unter  den  x^oi/oe  des 
Longin  und  den  tempora  des  Victorinus  sind  die  Sylbenzeiten  zu 
verstehen.  Bei  Diomedes  heißt  es  rhythmi  statt  tempora,  aber  dies 
ist  wohl  nur  auf  Rechnung  des  flüchtigen  Excerpirens  zu  setzen. 
Im  Originale  war  sicherlich  das  protrahi  auf  tempora  bezogen,  welche 
unmittelbar  vorher  (dimensione  temporum)  erwähnt  worden.  Wie  der 
Rhythmus  es  erheischt  (pro  nostro  arbitrio)  nimmt  er  bald  Dehnungen, 
bald  Kürzungen  der  Silben  vor,  oft  verkürzt  er  die  Kürze  und  ebenso 
die  Länge.    Das  ist  es,  was  wir  aus  dem  Berichte  der  Metriker  erfahren. 

Sind  wir  hier  durch  das  Vorkommen  einer  verkürzten  Länge 
und  einer  verlängerten  Kürze  belehrt,  so  lernen  wir  an  einer  anderen 


Die  Aristoxenische  Bhythxnuslehre.  ;|05 

Stelle  des  Mariiis  Victoiinas  p.  49  K.,  daß  in  der  metrifichen  Poesie 
auch  eine  verlängerte  Länge  und  eine  verkürzte  Kürze  gebräuch- 
lich war. 

Musici  qui  iemparum  arhürio  syüabas  cammittunt  in  rhythmieü  mo- 
dulalianibus  aut  lyricis  cantiontius  per  circuitum  longius  extentae  pro-^ 
mmiiatioms  tarn  hngü  longwres,  quam  ruraus  per  correptionem 
hrevwres  bretilms  proferunt. 

Dasselbe  ist  auch  in  dem  kurz  vorhergehenden  Satze  gesagt: 

Musici  non  omnes  inter  se  longae  aut  breves  pari  meneurae  com- 
mitterej  si  quidem  et  hrevi  bretfiarem  et  longa  longiorem  dicant  posse 
i^Uahamßeri. 

Dies  ist  der  von  Quintilian  aufgenommene  Aristoxenische  Satz 
über  die  Sylbendauer. 

Befände  sich  in  Bellermann's  Sammlung  der  griechischen  Ge- 
sangwerke  ein  Lied,  wie  der  mit  der  rhythmischen  Zuschrift  ^v&fibg 
iiaöenäorifAog  versehene  Hymnus  auf  die  Muse,  welcher  nicht  in 
rLjthmisch-gleichen,  sondern  in  ungleichen  YersfüBen  gehalten  wäre, 
80  würden  wir  nach  griechischen  Quellen  ein  Verzeichniß  der  ver- 
schiedenen Sylbenlängen  entwerfen  können.  So  aber  muß  Bach  an 
Stelle  der  Griechen  eintreten.  Es  Hegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß 
bei  den  Griechen  die  Sylbenwerthe  des  gesungenen  Verses  keine 
anderen  sein  konnten,  als  in  den  betreffenden  Versen  Baches: 


pts   L.y^^ 


_       ^      w  —      \-/      \«/  _ 

11/j   li/a   ■  IV2  V4    »/4       IV2  8/4    3/4        3 

Zu  dem  im  Anonymus  Bellermanni  überlieferten  Verzeichnisse 
der  Sylbenwerthe,  welche  in  den  metrischen  Versen  des  gleichförmi- 
gen Metrons  vorkommen,  dürfen  wir  jetzt  noch  folgende  Sylbenwerthe 
-der  in  den  Metra  episyntheta  gehaltenen  Verse  hinzufügen : 

LJ — I   5  zeitig 

! 1  4  zeitig 

! —   3  zeitig 
—  2  zeitig 


106  Rudolf  W  estphal, 


Diese  vom  Anonymus  überlieferten,  nebst  der  1  zeitigen  Kürze 

^  1  zeitig 
sind  rationale  Sylben.   Außer  den  genannten  Sylben  entsprechen  die 
in    den    der    Komposition    Bach's    vorkommenden    den    irrationalen 
Sylben  der  Griechen:  * 

-  22/3  zeitig 

-  2  V2  zeitig 

-  IV2  zeitig 
^  IY2  zeitig 
^  IV2  zeitig 
^     ^4  zeitig 

Für  die  Doppelkürze,  welche  bei  den  äolischen  Lyrikern  als 
Anfangsfuß  eines  gemischten  Metrons  vorkommt : 

^  IV2  zeitig 
^  2  zeitig. 

Folgende  werden  nach  antiker  Anschauung  irrationale  syllabae 
longis  longiores  sein: 

-  22/3  zeitig 

-  27, zeitig 

-  IV«  zeitig 

die  letztere  hat  zugleich  die  Funktion  als  leichter  Takttheil  des  an- 
tiken Choreios  alogos. 

Alle  die  vorstehenden  rationalen  und  irrationalen  Längen  können 
wir  auch  in  der  modernen  Musik  hören  (bis  auf  die  5  zeitige  Länge) 
in  jener  Komposition  des  großen  Meisters  J.  S.  Bach,  welche  diesem 
unbewußt  sich  an  den  Aristoxenischen  Satz  des  griechischen  Sylben- 
gesetzes  gehalten  hat. 

Den  rationalen  und  irrationalen  Längen  der  griechischen  und 
Hach'schen  Metra  stehen  4  verschiedene  Kürzen  zur  Seite: 

^  IV2  zeitig 

^  1%  zeitig 

^     1  zeitig 

^  V4 zeitig, 
die  1  zeitige  eine  rationale,  die  IV2  zeitige,  1^/3  zeitige,  ^4 zeitige  eine 
irrationale  Kürze. 

Trotz  ihrer  dreifachen  Zeitdauer  hat  die  Kürze  stets  die  Funktion 
des  Chronos  protos,  die  1  zeitige  wie  die  ^3*"  ^^<1  V4  zeitige.  Es  ge- 
schieht, wie  Aristoxenos  sagt:  »öthc  rrjv  Tfjg  äycjyfjg  SivapLiv^,  wenn 
sie  bald  eine  1  zeitige,  bald  eine  1 1/2  zeitige,  bald  eine  IV3  zeitige,  bald 
eine  V4  zeitige  ist,  wenn  mit  einem  Worte  im  Schema  des  zusammen* 
gesetzten  Taktes  die  einzelnen  Versfüße,  aus  denen  es  besteht,  ihren 


Die  Aristoxenische  Rhythmuslehre.  }Q7 

jedesmaligen  Xoyog  7todiy,6g  konstant  festhalten,  während  das  Zeit- 
megethos  derselben  ein  verschiedenes  ist.  Das  ist  der  Grund,  wes- 
halb Aristoxenos  im  Abschnitte  vom  Chronos  pro  tos  (§  11)  auf  den 
Abschnitt  Tom  Taktschema  verweist:  nSv  öh  tqotvov  XrjxpeTat  tovtov 
^  ala&rjaigj  (pavcQOv  ^earav  iTtl  %(üv  Tcodvaüv  axfl^oiT^fJi^Vfi^,  Hat  nun  in 
einem  aus  4  daktylischen  und  4  trochäischen  Versfüßen  bestehenden 
Metron  das  einzelne  die  Hälfte  bildende  Kolon  die  Bezeichnung  rcovg 
üi^y^ETog  ixxaidenaarjfiogj  wie  das  aus  dem  daktylischen  Ttotjg  oifv&eTog, 
oder  wird  es  mit  einem  anderen,  die  Chronos  protos-Zahl  bezeichnen* 
den  Namen  genannt?  Dies  ist  uns  nicht  überliefert ;  wir  kennen  die 
Aristoxenische  Nomenclatur  bloß  für  die  aus  gleichen,  aber  nicht  für 
die  aus  ungleichen  Versfüßen  bestehenden  Kola  der  gemischten  und 
epiBynthetischen  Metra. 


Eine  aus  dem  Mittelalter  überlieferte  Melodie 
zn  Horatius  m  9,  nebst  dem  Bmchstfick  einer 

solchen  zn  Ulid. 


Von 

Paul  Elckhoff. 


In  Teuffels  römischer  Litteratargeschichte  (4.  Aufl.)  steht  §  23 811 : 
i)Zu  einzelnen  Oden  (des  Hoiatius)  sind  auch  Melodien  erhalten,  zum 
Beweise,  daB  man  in  den  Klöstern  Horaz  gelegentlich  gesungen  hat ; 
s.  OreUi-Baiters  Ausgabe  2,  S.  915.  Kirchner,  Novae  quaest.  Hör.  37c. 

Hier  ist  übergangen  die  bei  Coussemaker,  Uhistoire  de  tharmome^ 
PI.  XXXyni  lithographierte,  in  einer  Hs.  des  10.  Jahrh.  zu  Fra- 
neker  (Holland)  in  Neumenschrift  erhaltene  Melodie  zu  Od.  I  33, 
wozu  Coussemaker  das.  Tradttctions  Nr.  14  eine  Umschreibung  in 
heutige  Noten  giebt.    Vgl.  auch  S.  102  das.  ^ 


1  Der  hervorragendste  Kenner  der  Neumenschrift,  der  Benediktiner  Dom 
Pothier  zu  Solesmes  (bei  SabU  D^p.  Sarthe),  urtheilt  über  diese  Übertragung:  »X« 
mareeau  d^Horace  donnd  par  M,  de  Couasemakery  pl  XXXVIII  Nr.  S  est  4galement 
en  notation  ä  poinU  auperposiB.  lei  la  hauteur  relative  des  points  fCest  pas  oheerv^e 
avec  le  mSme  9oin  (wie  die  erste,  von  Coussemaker  aus  dem  Manuscript  von  Mont- 
pellier wiedergegebene  Melodie),  et  la  müodie  ne  se  retrouve  pa»  ailleurs;  la  tra- 
auctüm,  eane  itre  imposeible  absolument,  e$t  diffieile,  et  M.  de  Couesemaker  me 
semble  avoir  donrU  twU  ä  faxt  a  cötS,  La  premihre  chose  ä  ekereher,  dana  un  ca» 
semblable,  est  le  tnode  du  moreeau;  il  faut  le  ekereher  parmi  Us  modes  anciens  et 
le  ekereher  d'abord  far  la  phrase  jinale,  M.  de  Coussemaker  prend  le  mode  mqfeur 
des  modemeSf  premüre  invraisemolancef  et  il  se  trouve  ohligiy  ä  la  phrase  JtnaU, 
de  traduire  la  divis  qui  est  appos^e  au  eUmaeus  eomme  Hont  la  eantinuattan  du 
climacus  lui  mime,  deuxihne  tnvraisemblanee,  pour  ne  pas  dire,   impossibiUU;   cor 

quelle  que  soit  le  elef  et  le  mode,  je  ne  pense  pas,  que  Von  puisse  traduire  /*  *  • .  2 

autrenunt  que  par  t^  ^  ^  ^  ^  ^  Mime  avec  de,  dom^Se»  rigoureueemmt  mtfß- 

santes  on  peut  se  tromper  trh  faeüement,  Mais  si  Von  ne  possSde  d'autres  donnies 
que  les  neumes  simples  in  campo  aperto  trouvis  dans  um  seul  manuscrit,  ex- 
primant  une  milodte  qui  ne  se  rencontre  pas  aiüeurs,  dlors  il  n'y  a  pas  de  traduction 
certaine  possible.  .  .« 


Eine  aus  dem  Mittelalter  überlieferte  Melodie  su  Horatius  m  9  etc.       ][09 

Die  oben  angesogene  Stelle  in  Kirchners  ^Novae  quaestiones 
Horatianae.  Leipzig  1847«  lautet  vollständig  S.  37  unten:  »•»  wm-- 
nuüü  catrmmibus  notarum  musicarum  signa  in  vodbtts  mperscripta  esse 
MaUur,  ut  III  od.,  9  et  IIU  (die  Zahl  der  Ode  fehlt).  Die  Bede  ist 
hier  von  der  bei  Kirchner  ab  wodex  bibliotheeae  senaUniae  Lipsiensü 
saec.  XI  memiranaceus  foL  fnediocri,  Bep.  I,  Nr.  6  c  bezeichneten 
Handschrift. 

Eine  genaue  Untersuchung  der  zu  diesem  Zwecke  Ton  der  Leip* 
viger  Stadtbibliothek  bereitwilligst  nach  der  Hamburger  übersandten 
Handschrift  ergab,  daS  wohl  an  vielen  Stellen  einzelne  Abkürzungs- 
leiehen  stehen,  auch  Accente  über  der  Interjection  o  sowie  über  einigen 
Yocativen,  Neumen  aber  nur  Blatt  18  a  unten  rechts  über  den  vier 
Zeilen  der  ersten  Strophe  von  IH  9  i^Doneo  ffrutus  eram  tibin  usw« 
and  der  letzten  Hälfte  der  vierten  Zeile  der  zweiten  Strophe  des- 
selben Gedichts  {»clarior IluU)  hier  natürlich  solche,  die  denen  an 
der  entsprechenden  Stelle  der  ersten  Strophe  gleich  sind,  sodann 
noch  Blatt  19  a  über  HI  13  Str.  1,  Zeile  1 :  »O  fons  Bandusiae,  splen^ 
didiar  vitron.  Die  Hs.  enthält  also  zu  den  beiden  schon  veröffent- 
lichten aus  dem  Mittelalter  stammenden  Horazmelodien  eine  dritte 
und  von  einer  vierten  den  Anfang.  Ihre  Überlieferung  veranschau- 
licht folgende,  nicht  ganz  die  Größe  der  Hs.  erreichende  Nach- 
bildung, die  nach  einem  Lichtdruck  angefertigt  Ist,  welchen  die 
Firma  Strumper  &  Co.,  Hamburg-Ühlenhorst,  in  den  Bäumen  der 
Hamburger  Stadtbibliothek  angefertigt  hat. 


onft.  qrjc  «ram  ridf  ftmf  \>ix\jim\c^  fplmcfcor  u'^" 

K  ec  quilflua.  povter  hnuhx  amM^        p  ^  j^^^^  ^x^^^V^ 

y  yy  ^  -y^  A  -^ 

i  f4tu  uunti    |vy?"  hzanoi*,  C  ut  ronf  tunruLt  comih^ 

-,  *^/.  ^  y. 

R  omana  atcrnv  cmamor  tT/^*  " 

Über  die  Zeit  der  Aufzeichnung  ist  nichts  Genaues  festzustellen. 
Kirchner  setzt  (s.  o.}  die  Hs.  ins  elfte  Jahrhundert ;  die  Schriftzüge 
weisen  dagegen  auf  das  zwölfte.     Die  Hs.  nicht  später  anzusetzen 


\\Q  Paul  Eickhoff, 


verbietet  das  oft  unter  die  Linie  gehende  r,  vgl.  Wättenbach  lat. 
Palaeograpliie  S.  58;  von  Ansetzung  in  frühere  Zeit  hält  zurück  der 
wenn  auch  noch  sehr  geringe,  so  doch  schon  vorhandene  Ansatz 
beim  /  in  der  Mitte  des  Striches  (Wattenbach  S.  59)  und  der  öfters 
angewandte  Bindestrich  (Wattenbach  S.  87).  In  das  zwölfte  Jahr- 
hundert und  zwar  in  den  Anfang  desselben  setzte  die  Handschrift 
nach  übersandtem  Lichtdruck,  auf  an  ihn  gerichtete  Anfrage  freund- 
lichst Auskunft  ertheilend,  der  Vorstand  des  Kg\,  PreuBischen  Staats- 
archivs zu  Osnabrück  Dr.  F.  Philippi.  Über  die  Herkunft  der  Hs, 
ist  auf  der  Leipziger  Stadtbibliothek  nichts  bekannt. 

Bei  dieser  verhältnismäßig  späten  Niederschrift  der  Melodien, 
die  also  nicht  vor  1100,  möglicher  Weise  aber  später  geschehen  ist, 
ist  auffällig,  daß  sie  ohne  Anwendimg  eines  Liniensystems  gesche- 
hen ist,  welches  doch  damals  schon  längst  in  Gebrauch  war.  Die 
Ursache  ist  einfach,  wie  die  Nachbildung  zeigt,  daß  die  Neumen  in  die 
Hs.  erst  eingetragen  sind,  als  der  Text  schon  niedergeschrieben  war, 
ohne  daß  der  Schreiber  für  spätere  Eintragung  der  Melodie  Platz 
gelassen  hätte.  Beim  Nachtragen  der  Melodie  war  dann  der  Zwischen- 
raum zwischen  den  Zeilen  für  die  Anbringung  eines  aus  mehreren 
Linien  bestehenden  Systems  zu  eng,  ja  es  fehlte  an  Platz,  ixm  die 
verschiedene  Höhe  der  Töne  durch  höhere  oder  niedrigere  Verzeich- 
nung der  Neumen  anzudeuten. 

Die  Grestalt  der  Neumen  ist  ungefähr  dieselbe  wie  in  den  ältesten 
erhaltenen  Denkmälern  der  Neumenschrift,  z.  6.  in  der  durch  Lam- 
billotte  lithographisch  wiedergegebenen  Hs.  359  der  St.  Galler  Stifts- 
bibliothek und  in  der  um  das  Jahr  1000  geschriebenen  Hs.  339  der- 
selben Bibliothek,  welche  in  den  ersten  zwei  Jahrgängen  der  zu 
Solesmes  erscheinenden  »Paleographie  nmsioale^  jetzt  durch  Licht- 
druck vervielfältigt  ist.  Lideß  kommt  diese  Gestalt  der  Neumen 
auch  in  späterer  Zeit  noch  vor,  als  man  gewöhnlich  sich  schon  an- 
derer Formen  derselben  bediente,  wie  Taf.  I  bei  Riemann,  Studien 
zur  Geschichte  der  Notenschrift,  zeigt. 

Die  Auflösung  der  Neumen,  beziehentlich  die  Bestimmung  und 
Benennung  der  einzelnen  Zeichen  erhellt  aus  folgender  Darstellung: 

Od.  m9  Str.  1. 

Virga   PodatnB  Yirga  Ancus  Pnnctas  Virga  Punctns  Yirga. 

Do  -  nee    gra-tus      e  -  ram     ti  -  bi 

Yirga  Yirga  Pnnctus       ^Pes  stratus  1  Pnnetns  Pnnctns  Yirga  Panctns  Yirga  Yirga  Panctns  Punctns 

nec  quis-quam  po     -     ti    -    or     bra  -  chi  -  a    cari--  di  -  dae 


^  Der  hier   so   bezeichneten    Neume    entspricht   in    den    Neumentafeln    am 


Eine  aus  dem  Mittelalter  überlieferte  Melodie  zu  Horatius  III  9  etc.       \[[ 


Tirgft  Viiga  Yiiga       Virg»  Jftceng  Pes  stratnt  Pet  stratns  Virg» 

cer  -  ui  -  d        iu  -  ve  -  nis         da  -  bat 

Tilg»  Tiif»  Pvnetiis       Podatnt  PodatvB  Yirgs  Virg»  Virg»  Panctnt  Podatxu        Virga       Jacens 

flexas  sttbblpnnctis 

Per-sa-rum         vi  -  gu  -  i     re-ge     be   -    a     -     ti    -    or. 


1119,  Str.  2,  Z.  4  zweite  Hälfte. 


Virga  Virga  Panctns       Podatas       Virga       Jacens 

snbbipnnctis 

cla  -  ri  -  or  I     -     li    -    a  ^ 


III  13,  Str.  l,  Z.  1. 

Tuga   Pnnctns    Punctns    Virga    Pnnctns    Virga    zwei  Pes    Pnnctns    „:„i.x.o  Virga    Virga    Pnnetns 

et  Virga                                     *       stratua                      nichis2  » 

0     fons     Ban  -  du   -   si   -   ae,  spien  -  di   -    di  -  or      vi  -  tro  3. 


Will  man  diese  Verzeichnung  durch  moderne  Choralnotenschrift, 
die  noch  immer  besser  ist  ak  die  mit  der  schwanzlosen  Y4  Note  ^, 
wiedergeben,  so  muß  zuvörderst  daran  erinnert  werden,  daß  bei  dem 
Mangel  an  Linien  in  der  Hs  die  genaue  Bestimmung  der  Tonhöhe 
(nach  der  Intervallgröße)  unmöglich  ist,  daß  also  der  Gang  der 
Melodie  in  die  Höhe  und  Tiefe  nur  in  gewissem  Maße  genau  be- 
stimmt werden  kann.  Dasselbe  gilt  von  der  Bestimmung  des  Noten- 
werthes  (Zeitdauer)  für  die  einzelnen  Noten.  Eine  Festsetzung  nach 
den  einfachen  Verhältnissen  und  in  den  im  Verhältniß  zu  einander 
festen  Maßen  unserer  jetzigen  Notenschrift  kennt  die  Neumenschrift 


meifiten  Schubiger,  Die  Sängerschule  St.  Gallens,  Monumenta  U,  Neume  17, 
Figur  1  und  2. 

^  So  muß  statt  iüa,  wie  die  Hs.  hat,  geschrieben  werden. 

'  Diese  Silbe,  über  der  Zeile  nachgetragen,  hat  keine  Neume.  Sollte  nicht 
der  zweite  Pes  sirattts  über  Spien  dem  ersten  di^  dessen  Punctus  dem  zweiten 
inkommen? 

3  Die  vorstehende  Auflösung  der  Neumen  hat  der  Benediktiner  Fr.  Pothier  im 
Kloster  Solesmes  zu  prüfen  die  Oüte  gehabt.  Er  schreibt:  »Za  distinction  dea 
nemncB,  teÜe  que  vous  avez^aite,  me  parait  honne,  sauf  toutefois  sur  le  mot  spien- 
didior,  ou  Je  vois  deux  virga  sirata  plutöt  que  deux  pes  stratus.  Jenecrois 
pas  nan  phUf  qu'il  soü  bien  aappeler  le  punctum  aM(mg4  de  ve  dans  juvenis  une 
tirga  jacens.  Les  auieurs  moaemes,  qut  sont  aU4s  chsrcher  dans  Aribon  la  quali- 
Jication  de  jaeenSf  ont  Mf  mal  %nsp%r4s,  La  tente  d* Aribon  n'est  pas  claire,  il  est 
probahlemefU  ironfuSf  en  taut  cas,  c'est  vouloir  amener  aomme  ä  plaisir  la  confusion 
dms  la  classißcattan  des  neuntes  que  d'appeler  virga  un  eigne,  qui  est  certainement 
un  punctum,  La  confusion  est  plus  frande  encore,  quand  les  auteurs  surdits  itablis- 
ant  une  relatitm  enire  la  soidisant  vtrga  jacens  d' Aribon  et  la  virga  plana  apposita 
de  Gui  d'ArezM.  Ce  nest  pas  malheureusement  le  seul  exemple  d'erreur  ou  de  la 
confusion,  qui  une  fois  lande  dans  le  public  se  perpHue,  quoi  qiCon  puisse  dire 
tntHiie.  La  virga  jacens  est  une  des  chimbres,  qui  ont  la  vitt  dure.v 


112 


Paul  Eickhoff, 


nicht,  wie  sie  der  durch  sie  wiedergegebene  Gregorianische  Choral 
nicht  besitzt.  *  Also  das  Auf-  und  Absteigen  der  Melodie  ist  nur  an- 
nähernd richtig^  und  die  Note  "i  ist  nicht  länger  als  m,  dagegen  diese 
länger  als  ^,  die  nur  Durchgangsnote  ist.  Demnach  bedeuten  die 
Zeichen  der  Hs: 


m  9,  1 


5 


"^ 


5 


Do  -  nee       gra    -    tus  e    -    ram      ti    -    hi 


5 


'     *  B  "^ 


ntc     quis-quam      po    -     ti  -   or     hra  -  cht  -  a      ean  -  d%  -  dae 


;^E5 


Cer  -    vi   -    ei       ju    -    rc     -     nia 


da 


hat 


Per  -  ia    rum       vi   -   gu   -    i         re  -  ge       he  -   a  ^   ti  -    or. 


m  9,  2,  4, 
zweite  H&lfte. 


*»?: 


ela   '  ri   -    or 


li     - 


in  13,  1     ^ 


O     foM  Ban  -  du  -  si  -  ae    eplen  -  di  -    di  -  or       vi   -    iro 

In  Betreff  des  Rhythmus  ist  die  Frage  zu  beantworten,  worauf 
derselbe  sich  gründet.  Denn  wenn  auch  die  Neumenschrift  nur  den 
freien,  den  rhetorischen  der  Prosa  nahe  kommenden  Gesangsrhythmus 
verzeichnet,  so  kann  derselbe  bei  metrischen  oder  rhythmischen 
Texten  doch  so  gehalten  sein,  daß  er  einem  mensurirten  Rhythmus 
mit  oder  ohne  Takt  nahe  kommt  und  man  schließen  kann,  ein  solcher 
sei  gebraucht  worden,  habe  aber  durch  die  mangelhafte  Notenschrift 
nicht  wiedergegeben  werden  können.  Für  die  Annahme,  daß  ein 
taktloser,  aber  mensurirter  Rhythmus  gebraucht  sei,  spricht  der 
Umstand,  daß  um  das  Jahr  1000  Guido  von  Arezzo  in  seinem  Micio- 
logus  Cap.  15  schreiben  konnte:  ^Metricos  autem  cantus  dico  (im  Ge- 
gensatz zu  prosaici  cantus) ,  quia  saepe  ita  canimus,  ut  quasi  versus 
pedibus  scandere  videamur,  sicut  ßt,  cum  ipsa  metra  canimus^.  Im 
Mittelalter  ist  also  schon  geübt  worden,  was  in  der  Zeit  des  Wieder- 
auflebens der  klassischen  Studien  Musiker  wie  Tritonius,  Hofhaimer 


Eine  aus  dem  Mittelalter  überlieferte  Melodie  zu  Horatius  III  9  etc.        j^  ]  3 

— -— ^  ^^•^-^  ■       -      .  -  ■  — 

(▼gl.  Jahrg.  1887  der  Yierteljahrsschrift  f.  Musikwissenschaft,  S.  26  ff., 
1890  S.  309  ff.)  und  OlthoY  u.  a.  (Jahrg.  1889  ders.  S.  290,  1890 
S.  466]  versucht  haben;  man  sang  metrische  Gesänge  genau  ent- 
sprechend dem  metrischen  Bau  des  Textes.  Daß  eine  gewisse  Mög- 
lichkeit, metrischen  Rhythmus  eines  Gesanges  durch  die  Neumen- 
Schrift  wiederzugeben,  vorhanden  war,  bezeugt  derselbe  hochberühmte 
Musiker ,  indem  er  schreibt  (a.  a.  O.) :  liNon  autem  parva  similttudo 
est  metris  et  cantibus  (den  litui^schen  Gesängen  des  gregorianischen 
Chorals),  cum  et  neumae  loco  smtpedum  et  distinctiones  (Abtheilungen 
Ton  Silben,  deren  Zahl  der  der  Silben  der  metrischen  Verse  ungefähr 
gleichkommt,  wie  z.  B.  die  beiden  Distinktionen  aus  der  Ostersequenz 
iViciimae  paschali^:  itJUors  et  mta  dtiello  —  Conßixere  mirando^n  je 
sieben  Silben  enthalten,  die  entsprechende  Betonung  haben]  loco  vor- 
suumy  utpote  ista  neuma  dactylico,  illa  vero  spondaico^  ill,a 
iambico  metro  decurreretj  et  distinctionem  nunc  tetrametram  {mit  yiei 
Hebungen)  nunc  pentametram ,  alias  quasi  kezametram  cemesa  .  •  .  . 
Prüft  man  in  Bezug  hierauf  die  Melodie  zu  HI  9  und  das  Bruchstück 
der  zu  IQ  13,  so  scheint  sie  mehr  nach  Art  der  Melodieen  des  gre- 
gorianischen Chorals  gebildet  zu  sein.  In  diesem  kommt  es  oft 
genug  Yor,  daß  Silben,  die  wenig  Ton  haben,  mit  mehreren  Noten 
YCTsehen  werden;  so  hat  auch  -tus  in  der  ersten  Zeile  von  III 9 
drei  Noten,  de^l.  -ft-  in  der  vierten.  Das  ist  in  der  neueren 
Musik  nicht  gebräuchlich,  und  in  den  Hymnen  des  Dionysius  und 
Mesomedes,  den  einzigen  erhaltenen  Resten  antiker  Melopoeie,  haben 
nur  lange  Silben  mehrere  Noten  über  sich,  sowohl  in  der  Arsis  als 
in  der  Thesis;  die  Stelle  des  Aristoxenus,  welche  Bellermann,  die 
Hymnen  des  Dionysius  und  Mesomedes,  S.  61  und  62  anzieht,  besagt 
nur,  daß  eine  Silbe  mehrere  Töne  tragen  könne,  nicht  aber  auch, 
daß  das  mit  kurzen  Silben  im  schlechten  Takttheil  der  Fall  sei. 

Spricht  somit  dieser  Umstand  für  die  Entstehung  der  Melodie 
im  Mittelalter  und  scheint  ihre  Bildungsweise  der  Art  des  grego- 
rianischen Chorals  zu  entsprechen,  so  tritt  ein  anderer  Umstand  für 
älteren  Ursprung  und  Beziehungen  zum  klassischen  Alterthum  ein. 
Als  um  1500  zu  den  horazischen  Oden  des  dritten  Asklepiadeischen 
Metrums  oder  später  zu  einer  in  dem  letzteren  gehaltenen  Umdich- 
tQng  eines  Psalms  yon  Buchanan  Melodieen  gemacht  wurden,  setzten 
alle  Tonsetzer,  yon  Celtis,  anderen  Humanisten  oder  der  damaligen 
klassischen  Bildung  überhaupt  beeinflußt,  nur  zwei  Zeilen;  man  ver- 
gleiche nur  den  Satz  des  Tritonius: 


1891.  ^  8 


114 


Paul  Eickhoff, 


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(dessen  Weithe  der  Bequemlichkeit  wegen  auf  ein  Viertel  ihies  Werthes 
gekürzt  sind),  oder  die  nach  Rhythmus  und  Zeilenzahl  genau  so 
gebildeten  von  Senfl  und  Hofhaimer  und  den  Satz  von  Olthoy  oder 
einem  andern  (Ausg.  1600,  S.  42). 


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3: 


Dagegen  hat  die  Melodie  der  Leipziger  Handschrift,  wie  der  erste 
Blick  zeigt,  nicht  für  Zeile  3  und  4  der  Ode  dieselben  Töne  wie  für 
Zeile  1  und  2,  sondern  verschiedene,  und  die  zweite  Hälfte  von  ZeUe 
4  dieselben  wie  die  von  Zeile  S. 

Dieser  Thatbestand  läßt  freilich  verschiedene  Erklärung  zu. 
Das  nächste,  worauf  man  kommt,  ist,  daß  der  Tonsatz  ein  vierzeiliger 
ist,  der  die  Strophe  als  solche  wiedergiebt,   daß   also  ihr  Setzer  sich 


Eine  aus  dem  Mittelalter  überlieferte  Melodie  zu  Horatius  III  9  etc.        \\^ 

des  Tieizeiligen  Baues  der  aus  nur  zwei  verschiedenen  Versarten  be- 
stehenden Strophe  bewußt  gewesen  ist,  während  dies  yom  Anfang 
des  Wiederauflebens  der  klassischen  Studien  an  bis  zur  Wiederent- 
deckung des  yierzeiligen  Baues  der  Strophen  aller  horazischen  Oden 
durch  Meineke  und  Lachmann  im  Jahre  1845  unbekannt  geblieben 
ist  IndeB  hat  die  Annahme  etwas  Mißliches,  falls  die  Melodie  einem 
mittelalterlichen  Tonsetzer  zugeschrieben  wird;  denn  diesem  eine 
solche  Kenntniß  zuzutrauen  oder  eine  bis  1100  fortdauernde  Über- 
lieferai^  aus  dem  Alterthume  anzunehmen,  wird  schwerlich  jemand 

?sneigt  sein.  Die  andere  Erklärung  des  Thatbestandes  ist,  daß  der 
onsetzer  um  1100  die  Melodie  nach  Art  der  Sequenzen  gebildet 
habe,  deren  zeilenähnliche  Abschnitte  häufig  nach  Silbenzahl  und 
Melodie  ein  Schema  wie  abcdcdcd  aufweisen,  so  daß  dann  die 
Wiederkehr  derselben  Töne  in  Zeile  8  das  dritte  Vorkommen  der- 
selben wäre,  nicht,  wie  bei  strophischer  Komposition,  das  zweite. 
Das  letztere  ließe  sich  auch  denken,  wenn  man  annähme,  der  Ton- 
setzei des  Mittelalters  habe  nach  Analogie  der  zahlreichen  vierzeiligen 
Hymnenstrophen  zu  der  Horazischen  Ode  die  Melodie  gebildet ;  aber 
dagegen  läßt  sich  sagen,  daß  im  Mittelalter  der  Unterschied  zwischen 
den  rhythmischen  auf  den  WoTtton  gebauten  Hymnen  und  den  me- 
trischen Oden  sehr  wohl  bekannt  gewesen  ist. 

Noch  ist  zu  erwähnen ,  daß  auf  eine  Bestimmung  der  Melodie 
binsichtlich  ihrer  Zugehörigheit  zu  einer  der  mittelalterlichen  bezw. 
alten  Tonarten  verzichtet  werden  muß ,  weil  die  UnvoUkommenheit 
ihrer  Yeizeichnung  durch  die  Neumenschrift  die  Stellung  der  Halb- 
töne nicht  ersehen  läßt,  auch  die  differentiae  tonarum  keinen  Auf- 
jBchlttß  geben. 

Daß  die  Melodie  sonstwo  verzeichnet  ist,  ist  zum  mindesten  sehr 
unwahrscheinlich.  Das  Metrum  ist  im  Mittelalter  nicht  beliebt  ge- 
wesen, so  daß  eine  anderweitige  Behandlung  desselben  zur  Yerglei- 
chung  nicht  herangezogen  werden  kann. 

Über  das  kleine  Bruchstück  einer  Melodie  zu  Ode  HI  13  ist 
nichts  zu  sagen. 


8* 


Kritiken  und  Referate. 


1 .  Fr,  Äug,  Gevaert,  Les  origines  du  chant  lituigique  de  leglise 
latine.  Etüde  d'histoire  musicale.  Gand,  librairie  de  Ad.  Hoste,  1890. 
gl.  8.  92  Seiten. 

2.  Dom  Germain  Mortn,  Les  veritables  origines  du  chant 
Gr^gorien  ä  propoe  du  livre  de  M.  Gevaert  »Les  origines  du  chant 
liturgique  de  T^glise  latine  c  —  Extrait  de  la  Revue  B^n^dictine  de 
•Maiedsous.  Bureau  de  la  Revue  B6n.  abbaye  de  Maredsous  par  Namur. 

1.  Am  27.  Oktober  vorigen  Jahres  hielt  Gevaert,  Direktor  des  Brüsseler  Kon- 
servatoriums ,  in  der  Sitzung  der  Akademie  eine  Rede  über  den  Ursprung  des 
liturgischen  Gesanges  in  der  abendländischen  Kirche,  die,  von  belgischen  und 
fransösichen  Zeitungen  nachgedruckt,  großes  Aufsehen  machte.  Unter  obigem 
Titel  hat  sie  der  Verfasser  mit  dem  erforderliehen  wissenschaftlichen  Apparat  er- 
scheinen lassen.  In  einem  ziemlich  umfangreichen  Anhange  antwortet  er  auf  die 
ersten  Angriffe,  welche  von  P.  Germain  Morin  in  der  JRevue  henSdictine  auf  seine 
Thesen  gemacht  wurden.  Der  Gegner  hat  seitdem  in  drei  weiteren  Artikeln  ge- 
.antwortet,  über  die  unten  noch  zu  sprechen  sein  wird.  In  deutschen  Zeitschriften 
wurde  Gtevaerf  s  Rede  in  abweisendem  Sinne  erwähnt.  [Literar.  Rundschau,  literar. 
Handweiser,  Gregoriusblatt  etc.) 

Entschieden  äußert  sich  gegen  Gevaert  P.  Grisar,  der  wohl  als  einer  der 
bedeutendsten  Kenner  der  Geschichte  Gregorys  L  zu  erachten  ist;  er  nennt  das 
System  G.'s  eine  aprioristische  Konstruktion  (Zeitschr.  f.  kath.  Theol.  1890  p.  37S). 
Da  die  Streitfrage  von  Bedeutung  ist  und  noch  öfter  zur  Verhandlung  kommen 
dürfte,  scheint  uns  ein  eingehendes  Referat  angezeigt. 

Die  Abhandlung  G.'s  zerfällt  in  zwei  Theile ;  der  erste  ist  negativ  und  sucht 
zu  beweisen,  dass  das  römische  Antiphonar  nicht  von  Gregor  L  herrühre,  dass  man 
also  ohne  Grund  diesen  Papst  zum  Urheber  der  römischen  Choralmelodien  gemacht 
habe;  d«r  zweite  arbeitet  positiv  und  will  aus  dem  Zustand  des  Antiphonars  und 
mittelst  geschichtlicher  Nachrichten  ein  historisch  richtiges  Bild  vom  allmählichen 
Entstehen  des  Antiphonars  entwerfen. 

Die  Ansicht ,  daß  Papst  Gregor  I.  an  das  römische  Melodienbuch  die  letzte, 
vollendende  Hand  angelegt  habe,  beruht  nach  G.  auf  der  Erzählung  des  römischen 
Diakons  Johannes,  der  in  seiner  um  882  fertig  gestellten  Biographie  Gregorys  be- 
richtet, dieser  Papst  habe  die  bestehenden  Melodien  gesammelt,  überarbeitet  und 
ergänzt,  sie  in  ein  Buch,  antiphonarium  genannt,  gesammelt,  zu  ihrer  Ausführung 
beim  päpstlichen  Gottesdienste  die  schola  cantorum  eingerichtet  imd  die  Knaben 
selber  noch  in  seiner  Krankheit  vom  Bette  aus  im  Gesänge  dieser  Melodien  unter- 
richtet. Von  diesem  Bericht  ist  nach  Gevaert  nichts  haltbar;  der  Berichterstatter 
ist  ihm  ein  ganz  unzuverlässiger  Zeuge  —  »um  nicht  mehr  zu  sagen«;  Gevaert 
legt  nahe,  ihn  für  einen  Fälscher  zu  halten.     Er  ist  auch  ein  zu  später  Zeuge; 


Fr.  Aug.  OeTaert,  Les  origines  du  chant  liturgique  de  l'^glise  latine.  etc.     ]^ }  7 


das  absolute  Schwaigen  der  dazwischen  liegenden  Jahrhunderte  verr&th  seinen 
Bericht  als  Legende.  Die  Biographen  und  Lobredner  Gregorys  wissen  nichts  davon. 
Ja,  aas  Oregor's  Leben  und  Regierungshandlungen  geht  hervor^  dass  er  für  den 
kiiehliehen  Qesang  kein  Interesse  hatte;  denn  in  seinen  vielen  Briefen,  in  denen 
er  sieh  über  alles  ausspricht,  was  sein  Hers  bewegt,  ist  nie  vom  Qesange  die  Rede 
and  auf  einer  römischen  Synode  tritt  er  streng  und  herb  dagegen  auf,  dass  ein 
Diakon  oder  Priester  in  der  Kirche  singe.  Endlich  kann  das  Oregor's  Namen 
tragende  Antiphonar  nicht  von  Gregor  stammen,  da  es  mit  dem  zu  Gregorys  Zeit 
l^flltigen  Kalender  und  Festkreis  nicht  harmonirt,  vielmehr  auf  die  Mitte  des 
aehten  Jahrhunderts  hinweist  Die  Abfassung  des  Antiphonar  ist,  so  schließt  der 
erste  Theü  der  Abhandlung,  einem  andern  Papste  Gregor,  wohl  dem  dritten  dieses 
Namens  Busuweisen. 

Um  gegenüber  den  vermeintlich  irrigen  Anschauungen  auf  sichern  Boden  zu 
kommen,  unterscheidet  Gevaert  einen  Zeitabschnitt,  in  dem  ein  ganz  einfacher, 
syllabiacher  Gesang  entstand,  von  dem  wir  noch  viele  Antiphonen  im  römischen 
Tagesofßeium  haben,  und  einen  anderen  nachfolgenden,  in  dem  die  Meßges&nge 
aus  der  einfachen  Modulation  in  die  jetsige  reiche  umgegossen  wurden.  Die  erste 
Periode  Ifißt  Gevaert  mit  dem  Jahre  425  beginnen  und  552,  vor  der  Besetzung 
Rom's  durch  die  Byzantiner  schließen.  Auf  sehr  interessante  Weise  wird  der 
muthmaßliche  Zustand  des  gottesdienstlichen  Gesanges  mit  den  damaligen  Zeit- 
und  Kulturverhältnissen  in  Zusammenhang  gebracht  und  aus  einer  Umbildung 
anderer  Künste  und  ihrer  Hereinbeziehung  in  christliche  Ideenkreise  auf  eine 
Venibeitung  der  alten  heidnischen  Musik  und  Verwendung  im  christlichen  Gottes- 
dienste, sowie  auf  eine  Umgestaltung  der  antiken  Tonarten  in  die  Choralmodie 
geschlossen.  Die  griechischen  vofjtoi,  die  gesetzmäßigen,  stehenden  Formeln  der 
altgriechischen  Melodik  werden  in  der  Ghoralmelodie  vermuthet;  die  Zahl  der  den 
Antiphonen  zu  Grunde  gelegten  melodischen  Typen  wird  auf  böil&ufig  50  ange- 
geben. Bei  dieser  Gelegenheit  verspricht  der  Verfasser,  sobald  ihm  die  Zeit 
erianbe,  eine  gründliche  Studie  über  die  in  den  einfachen  römischen  Antiphonen 
Teiborgenen  griechisch-römischen  modi  oder  vofxoi  zu  schreiben,  ein  Vorsatz,  den 
wir  mit  Freuden  begrüBen. 

In  der  Zeit  des  traurigsten  Verfalls  der  römischen  Weltherrschaft  ertönt, 
indem  alles  geistige  Leben  sich  in  der  Kirche  sammelt  und  in  ihrem  prachtvoll 
nch  entwickelnden  Kulte  sieh  wiederspiegelt,  eine  tröstende  Stimme,  die  Stimme 
des  in  reicher  melodischer  Kunst  sieh  entwickelnden  liturgischen  Gesanges.  Die 
Zeit  bricht  an,  da  die  kühnen  melismatischen  Verzierungen,  die  sogenannten 
JnbilatiQnen,  entstehen  (552 — 700).  Der  Einfluß  des  Orients  ist  unverkennbar; 
wir  müssen  ihn  theilweise  von  Ravenna,  dem  Sitze  des  Exarchen,  ausgehend 
denken,  werden  ihn  aber  doch  im  Wesentlichen  den  vor  den  Arabern  nach  Italien 
finehtenden  syrischen  Klerikern  und  Mönchen  zuschreiben  müssen.  Der  liturgische 
Gesang  wird  zur  eigentliehen  Kirnst  mit  festen  Formen  und  Normen,  die  tüchtige 
Singer,  eine  musikalisdie  Theorie  und  eine  Notenschrift  bedingt  Zu  Anfang 
des  siebenten  Jahrhunderts  kann  die  schola  cantortim  entstanden  sein.  Ihre  Vor- 
finde werden  an  der  in  dieser  Periode  vor  sich  gehenden  musikalischen  Um- 
arbeitung der  einfachen  Choralmelodien  Theil  genommen  haben.  Aus  der  sehola 
gingen  zum  Theüe  die  um  Kultus  imd  Gesang  hochverdienten  Päpste  des  achten 
Jahrhunderts  hervor;  das  größere  Verdienst  aber  gebührt  offenbar  den  von  678—752 
regierenden  elf  Päpsten  griechischer  und  besonders  denen  syrischer  Herkunft. 
£s  werden  nun  namhaft  gemacht:  Papst  Agatho,  Leo  II,  Sergius  I,  Gregor  n 
ond  (hegor  III.  Sergius  I  wird,  weil  von  ihm ,  dem  Sohn  eines  Syrers,  das 
Papstbueh  berichtet  atudiotus  et  eapax  in  officio  carUilenae,   ein  besonders  reicher 


]  )  g  Kritiken  und  Referate. 


Antheil  zubemessen.  Er  hat  die  Besponsorien  des  Matutinum  in  die  jetEige 
notenreiche  Form  umkomponirt ;  ihm  kann  man  die  Einweisung  der  römischen 
S&nger  in  die  Theorie  von  acht  Choraltonarten  zuschreiben,  vielleicht  auch  die 
Einführung  der  NeumenschrifL  Gregor  III  schließt  die  Reihe  der  für  den  litur- 
gischen Gesang  th&tigen  Päpste  durch  endgültige  Redaktion  der  offiriellen  Gesang- 
bücher. »In  etwas  weniger  als  drei  Jahrhunderten  ist  die  Arbeit  YoUbracht«.  Das 
befremdliche  Schweigen  der  römischen  Annalisten  über  diese  Vorgänge  erklärt  sich 
zur  Genüge  aus  der  seit  dem  Bilderstreit  und  dem  Schisma  sehr  lebhaften  Ab- 
neigung der  Italiener  gegen  die  Griechen.  »Man  warf  klug  einen  Schleier  über 
das  Andenken  der  orientalischen  Päpste  und  stellte  die  aus  Italien  stammenden  in 
um  so  helleres  Licht«. 

Hiermit  glauben  wir  die  Gedanken  Geyaert's  objektiv  wiedergegeben  zu  haben. 
Man  muß  anerkennen,  daß  er  sich  in  seinen  Stoff  ndt  ungewöhnlicher  Energie 
eingelebt  und  die  fragmentarischen  Notizen,  aus  denen  wir  die  Musikgeschichte 
des  7. — 9.  Jahrhunderts  zusammenstellen  müssen,  geistreich  kombinirt  hat.  Die 
Form  ist  gewandt  und  arbeitet  aus  dem  spröden  Material  ein  glänzendes  Geschichts- 
bild heraus,  das  einnimmt  und  für  die  neue  Auffassung  gewinnt;  besonders  der 
sichere  Ton  fester,  eigener  Überzeugung  wird  den  vertrauensvollen  Leser  zur 
Ansicht  bringen,  daß  gegen  eine]  so  in  die  Augen  springende  Wahrscheinlichkeit 
eine  andere  Ansicht  nicht  aufkonmien  könne.  Aus  diesem  Grunde  müssen  wir 
das  Buch  sogar  für  gefährlich  halten;  es  bereitet  einer  historisch  durchaus  un- 
haltbaren These  den  Weg.  Wir  können  das  Ganze  nicht  anders  als  eine  unter 
Verkennung  der  wirklichen  geschichtlichen  Nachrichten  mit  sehr  großem  Geschick 
aufgebaute  subjektive  Konstruktion  nennen.  Wenn  Johannes  Diakonus  wirklich 
ein  so  ganz  unzuverlässiger  Berichterstatter  ist,  wenn  die  römische  Tradition  gar 
keine  Bedeutung  hat,  wenn  der  hl.  Gregor  I  sich  dem  Gesänge  gegenüber  wirklich 
so  apathisch  verhielt,  und  besonders  wenn  vor  Johannes  Diakonus  Niemand  die  Autor- 
schaft Gregor's  I  bezeugt,  dann  kann  man  gegen  dieselben  Zweifel  erheben.  Aber 
keine  dieser  Bedingungen  sehen  wir  erfüllt,  vielmehr  können,  was  die  Streitfrage 
eigentlich  entscheidet,  eine  ganze  Anzahl  früherer  Nachrichten  zu  Gunsten  Gfregor's 
angeführt  werden.  Dieselben  waren  allerdings  bisher  wenig  bekannt  und  sind  zum 
Theil  noch  ungedruckt.  Der  zweite  Theil  der  Abhandlung,  der  positive  Aufbau, 
besteht  aus  einer  Reihe  von  Vermuthungen,  die  im  Verlaufe  der  Rede  sich  immer 
mehr  zu  geschichtlichen  Angaben  verdichten.  Wir  beanstanden  zunächst  die  Be- 
hauptung, daß  in  einer  ersten  Periode  der  römische  Gesang  in  einer  einfachen, 
syllabischen  Form  entstanden,  die  reiche,  jubiUrende  Melodie  dagegen  damals 
noch  unbekannt  gewesen  sei.  Dieses  successsive  Entstehen  des  reichen  Gesanges 
aus  dem  einfachen  ist  durchaus  nicht  nothwendig  aus  dem  Wesen  der  Sache  zu 
folgern,  widerspricht  auch  unwiderlegbaren  historischen  Belegen,  besonders  dem 
klaren  Zeugnisse  des  Cassiodor  (in  Psalm.  104).  Man  ist  vielmehr  genöthigt  an- 
zunehmen, daß  die  reichen  Melodien  des  gregorianischen  Antiphonars  eine  ab- 
gekürzte Form  der  früheren  Jubilationen  sind  und  daß  gerade  zur  Zeit,  in  der 
Gevaert  die  Komponisten  zur  Schaffung  der  reichen  Melodien  herangereift  glaubt, 
die  Vereinfachung  stattgefunden  hat.  Daß  ein  orientalischer  Einfluß  beim  Entstehen 
der  römischen  Melodien  maßgebend  war,  würden  wir  dem  Verfasser  gerne  glauben, 
wenn  er  irgend  einen  historischen  Grund  dafür  brächte;  daß  er  ihn  in  den  Me- 
lodien herausfühlt,  ist  nicht  ausschlaggebend;  Referent,  der  sich  seit  vielen  Jahren 
berufsgemäß  mit  den  Choralmelodien  in  ihrer  alten  Form  beschäftigt  und  über  ihre 
Herkunft  sich  auch  Gedanken  gemacht,  hat  diese  Wahrnehmung  nicht  gemacht, 
höchstens  an  eine  solche  Möglichkeit  gedacht.  Es  ist  immer  noch  die  Frage,  ob 
die  Jubilationen  ein  eigenes  Produkt  der  christlichen  Zeit  und  nicht  vielmehr  dem 


Fr.  Aug.  Oeyaert,  Les  origines du chant liturgique de l'^glise latine.  etc.     \\(^ 

mttaikaliflehen  Gedanken  nach  ein  Erbstück  aus  der  antiken  Welt  sind.  Diese 
Möglicbkeit  wird  allerdings  vorläufig  Wenigen  einleuchten,  mit  der  Zeit  aber  mehr 
beachtet  werden,  wenn  man  die  Melodien  selber  studirt  und  von  der  Ansicht 
abkommt,  sie  seien  improvisirtes  Figuren-  oder  Schnörkelwerk.  Das  Autorrecht,  das 
Geyaert  dem  Papste  Gregor  genommen,  yertheilt  er  mit  freigebiger  Hand  an  spätere 
Päpste  auf  Grund  gani  unbestimmter  Nachrichten  hin.  Man  muß  bedauern,  daß 
ein  durch  Begabung  und  Tielj  ährige  Studien  vor  Andern  befähigter  Autor  sieh  zu 
einem  solchen  Versuche  verlocken  ließ.  Wenn  aber  ein  Musikschriftsteller  ersten 
Ranges  an  dem  Unternehmen  scheitert,  wird  wohl  die  Aussichtslosigkeit  desselben 
anleugbar  sein. 

CL  übersieht,  daß  ein  Kleriker,  der  den  Bildungsgang  durch  alle  Stufen  und 
Ämter  der  geistlichen  Genossenschaften  (seholae)  Roms  durchzumachen  hat,  ein 
Römer  wird,  daß  ein  fremdes  Element  mit  fremden  Anschauungen  in  diesen  wohl- 
geordneten Körperschaften  als  maßgebend  und  alles  umgestaltend  ganz  undenkbar 
ist  Wenn  ein  von  französischen  Eltern  in  Deutschland  geborener  junger  Mann, 
in  einem  deutschen  Kadettenhaus  erzogen,  mit  der  Zeit  ein  sehr  einflußreicher 
Offizier  in  der  deutschen  Armee  wird,  wie  viele  seiner  Anordnungen,  als  Kriegs- 
minister j.  B.,  würden  wir  seinem  französischen  Ursprung  zuzuschreiben  berechtigt 
sein?  In  ähnlicher,  streng  geregelter  Weise  haben  wir  uns  die  Erziehung  der 
Kleriker  wenigstens  an  den  großen  Kathedralen,  ganz  besonders  aber  in  Rom  zu 
denken.  Ein  kräftiger  Geist  waltete  in  diesen  Körperschaften;  wer  neu  eintritt^ 
wird  mit  den  gemeinsamen  Ideen  erfüllt  oder  als  fremdes  Element  ausgeschieden. 
Wenn  nun  Papst  Sergius,  der  Sohn  eines  aus  Antiochia  stammenden  Vaters,  zu 
Palermo  geboren,  unter  Adeodat  (672 — 676)  in  den  römischen  Klerus  aufge- 
nommen —  wahrscheinlich  war  er  schon  vorher  auf  Sizilien  Kleriker  oder  Mönch 
gewesen  —  14  Jahre  als  Papst  regierte  (687  —  701) ,  wie  viel  von  syrischen  Ideen 
wird  er  dem  römischen  Klerus  beigebracht  haben?  Das  Papstbuch  sagt  von  ihm: 
sUidionu  et  capax  in  officio  cantilenae  priori  cantorum  pro  doctrina  e9t  traditus» 
■Als  fleißiger  und  tüchtiger  Sänger  wurde  er  dem  Vorsteher  der  Sängerschule  zu- 
getheilt,  damit  er  bei  ihm  lerne  (oder  »damit  er  ihn  im  Unterricht  unterstütze?«). 
G.  trägt  kein  Bedenken,  ihm  die  letzte  Überarbeitung  fast  des  ganzen  Graduale 
zuzuschreiben,  die  nach  unserm  Ermessen  mit  einer  Neuschaffung  aller  Gesänge 
ziemlich  gleichbedeutend  ist;  er  glaubt  gleicherweise,  Sergius  habe  die  neuhelle- 
nistische  Musiktheorie  nach  Rom  verpflanzt,  und  während  seiner  Regierungszeit 
sei  die  Neumenschrift  eingeführt  worden.  Das  ist  etwas  viel  syrischer  Einfluss 
auf  einmal ;  ein  Anderer  hätte  aus  dem  einen  Ausdrucke  eapax  in  officio  cantilenae 
nicht  so  viel  herauszulesen  vermocht. 

Die  entschiedenste  Widerlegung  finden  G.^'s  Ansichten  durch  die  syrische  Liturgie» 
Zum  Beweise,  dass  wir  selber  schon  dem  Einfluß  derselben  auf  den  abendländischen 
Gesang  nachzugehen  versucht  haben,  sei  hier  Einiges  über  syrischen  Gesang  mit- 
getfaeik,  das  wir  den  Angaben  des  jetzigen  katholischen  Erzbischofes  von  Mossul 
entnehmen,  eines  in  Rom  gebildeten  und  in  der  Geschichte  der  ostsyrischen  Li- 
turgie sehr  erfahrenen  Gelehrten.  Im  Allgemeinen,  so  versicherte  er  mir  wieder- 
holt, hat  der  syrische  Gesang  mit  dem,  welchen  er  bei  Hochamt  und  Vesper  in 
unserer  Abteikirehe  alltäglich  hörte,  viele  Verwandtschaft.  Er  meinte  damit  die 
Modulation  in  den  Kirchenschlüssen  und  die  freie  Bewegung  der  Melodie  in  un- 
gezwungener-Teztredtation.  Meine  Ordensgenossen,  die  den  Prälaten  oft  singen 
hörten,  waren  nicht  der  gleichen  Ansicht;  ihnen  erschien  das  orientalisch  Sorglose 
in  der  Tonbildung,  das  Klanglose  und  Näselnde  gegenüber  dem  Klangreichen, 
mit  dem  wir  unsere  alten  Choralmelodien  singen^  als  unschön;  die  Weise  aber, 
Stimmung  und  seelische  Bewegung  auszudrücken,  ist  beiden  Gesangsarten  verwandt.^ 


120 


Kritiken  und  Referate. 


Der  erste  wesentliche  Unterschied  besteht  darin,  daß  der  syrische  Gesang  durch- 
weg ein  einfacher  ist.  Die  Melodien  sind  meist  syllabisch,  d.  h.  haben  je  einen 
Ton  auf  jeder  Textsilbe.  Es  giebt  auch  reicher  gehaltene;  doch  reichen  sie 
kaum  an  die  einfachem  unserer  Meßges&nge,  z.  B.  einen  Introitus,  heran.  Jubi- 
lationen,  grössere  Melodien  auf  einer  Teztsilbe,  kennen  sie  gar  nicht.  Die  Anti- 
phonen lerfallen  in  »syrische«  und  »griechische«.  Die  ersteren  sind  sehr  alt  und 
stammen  mindestens  aus  der  Zeit  des  hl.  Ephrem.  Die  »griechischen«  sind  Über- 
setzungen griechischer  Kanones  (Strophen),  die  zu  einer  Zeit  angefertigt  wurden, 
da  die  byzantinische  Liturgie  die  der  Orientalen  fast  überall  schädigend  beein- 
flußte, n&mlich  im  8.  Jahrb.  Die  Antiphonen  sind  mit  Ausnahme  der  »griechischen« 
metrisch ,  die  Verse  mit  Einhaltung  des  Wortaccentes  aus  5  —  10  Silben  gebaut. 
Jedes  der  etwa  70  Schemata  hat  seine  eigene  Melodie  in  allen  8  Kirchentonarten ; 
die  Tonart  ist  in  den  liturgischen  Bachern  angezeigt,  die  Melodie  nicht.  So  hat 
das  gleiche  Metrum  an  Weihnachten  eine  andere,  viel  freudigere  Melodie  als  in 
der  Charwoche.  Von  den  vielen  mir  Yorgesungenen  Melodien  einige  zu  notieren^ 
erwies  sich  als  sehr  schwierig.  Der  Qew&krsmann  versicherte  nicht  sehr  musikalisch 
zu  sein;  und  in  Wirklichkeit  standen  die  Intervalle  bei  ihm  nicht  fest;  was  beim 
ersten  Vorsingen  eine  Terz  gewesen,  erschien  beim  zweiten  Male  als  Quart.  Die 
Melodien  des  ersten  Tones  überschritten  nur  in  Wenigem  den  Umfang  einer 
kleinen  Terz.  Man  kann  sie  den  einfachen  ambrosianischen  Hymnenmelodien  des 
römischen  Psalteriums  vergleichen. 

Oft  verlor  ich  im  Nachschreiben  den  Faden  der  Melodie,  indem  Töne  kamen^ 
die  nach  unserer  Tonleiter  gar  nicht  zu  schreiben  sind.  Man  mag  das  dem  Un- 
geschick des  Nachschreibers ,  einem  Mangel  des  Vorsängers  oder  der  Beschaffen- 
heit der  Melodie  zuschreiben.  Von  einer  Melodie  bin  ich  indeß  sicher,  sie  getreu 
nachgeschrieben  zu  haben.  Wegen  besonderer  Beziehung  zu  einer  römischen 
Ghoialmelodie  lassen  wir  sie  hier  folgen.  Der  Hymnus  stammt  vom  hl.  Ephrem; 
er  wird  noch  allj&hrlioh  an  Weihnachten  unter  grossem  Jubel  des  Volkes  gesungen, 
das  mit  H&ndeklatschen  den  Khythmus  der  Melodie  begleitet  Das  Liedchen  klang, 
als  ich  es  vorsingen  hörte ,  recht  hübsch.  In  Anbetracht  der  Ungeheuern  Stabilität 
in  allen  kirchlichen  und  bürgerlichen  Einrichtungen  der  Ostsyrer  habe  ich  für 
meinen  Theil  keinen  Zweifel,  daß  die  Melodie  mit  dem  Texte  gleichen  Alters  ist. 
An  zwei  Stellen,  churar  und  kulal,  schwankte  mein  Gewährsmann  zwischen  den 
Tönen  f  und  g. 


So  '  no    j'ar  -  eho       du  -  tein      ku  -   leh     kul  -  ehad      vo   *    iho 


chu-rar     ab  -  de     chu-thar  che  -   re       ku-lal    tha^ryo  pu-nak  pa  -  gre 


ar  '  gu  '  no      tub      scho  -  de     b'chu  -  le     ach    dal  -  mal  -  ke. 

Nun  vergleiche  man  damit  die  folgende  römische  Choralmelodie,  die  gleich- 
falls dem  Weihnachtskreis  angehört.  Sie  kommt  nämlich  im  Advent  drei  Mal  zu 
verschiedenen  Texten  vor;  außerhalb  dieser  Zeit  aber  findet  sie  sich  meines  Er- 
innerns  nicht. 


Fr.  Aug.  Geyaert,  Les  origines  du  obant  liturgique  de  TegliBe  latine  etcl^   1 2 1 


Antiphona. 


De    Si-on    ex-i-bit  lex 


Antiphona. 


et  ver-bum  Do-mi-ni       de         Je-ru  -    aa-lem. 
(Am  Mittwoch  der  ersten  Adventswoche.) 


C<m'8tan'ie8  e  -  ato  -  te;    vi-de-bi-tis  au-xi-U-um    Do  -  mini      super  vos. 

(Am  Freitag  der  dritten  Adventswoche.] 

Antiphona. 

t. 


ÖEfe 


Con-8ur-ge,  coti-sur -  ge,    in-du-e-re  for-ti-tu-di-nem  bra  -  chi-i  Do-mi-ni» 

(Am  Dienstag  der  vierten  Adventswoche.) 

Die  Melodie  bildet  etwas  Eigenartiges  im  Gregorianischen  Antiphonar.  Ich 
erinnere  mich  noch  wohl,  wie  sie  mir  in  jüngeren  Jahren  beim  erstmaligen  Singen 
befremdlich  vorkam.  Man  darf  sie  auch  nicht  zu  den  besseren  Weisen  des  Choral- 
buche«  rechnen.  Will  man  einen  Zusammenhang  zwischen  beiden  Melodien  an- 
nehmen, was  nahe  liegt,  so  kann  man  entweder  denken,  daß  der  syrische  und  der 
römische  Tondichter  aus  einem  gemeinsamen  Schatze  musikalischer  Motive  ge- 
schöpft oder  daß  der  römische ,  der  jedenfalls  der  jüngere  ist,  die  orientalische 
Melodie  benützt  habe.  Das  Letztere  scheint  nfther  zu  liegen.  -<-  Auf  solchem 
Wege  könnten  wir  allmälig  zu  klareren  Vorstellungen  über  den  Einfluß  des 
Orientes,  insonderheit  Syriens,  auf  den  abendländischen  Gesang  kommen. 

Wir  erlauben  uns  nicht,  viele  Schlüsse  aus  dem  Gesagten  zu  ziehen.  Wenn 
aber  irgend  etwas  sich  nahe  legt,  so  ist  es  die  Thatsache,  daß  die  Syrer,  wenn 
sie  die  Jubilationen  nicht  kennen  und  nur  einfache  Melodien  haben ,  die  reichen 
Melismen  nicht  nach  Rom  bringen  konnten.  Und  doch  gründete  G.  auf  solche 
Annahme  den  ganzen  positiven  Aufbau  seiner  Hypothese. 

Einen  anderen  Weg,  über  die  Vorgeschichte  der  gregorianischen  Melodien 
za  einem  positiven  Ergebnisse  zu  gelangen,  weist  uns  vielleicht  das  Studium 
des  ambrosianischen  Chorals  und  des  liturgischen  Gesanges  der  Griechen.  Gevaert 
seheint  es  zwar  für  unmöglich  zu  halten,  daß  Jemand  Über  den  Gesang  des  am- 
brosianischen Ritus  im  6.  Jahrhundert  Aufschluß  gebe  (S.  91) ;  er  wird  aber  dem 
Referenten,  dem  der  Text  des  gesammten  mailändischen  Antiphonars  und  gegen 
200  Melodien  desselben  vorliegen,  eine  abweichende  Ansicht  erlauben.  Allerdings 
geht  die  handschriftliehe  Quelle  nicht  über  das  11.  Jahrhundert  hinaus;  die  in 
ihr  enthaltenen  Gesänge  datiren  aber  sicher  aus  einer  vorgregorianischen  Zeit. 
Ist  das  älteste  Sacramentar  der  mailändischen  Kirche  nicht  auch  erst  aus  dem 
9.  Jahrhundert?  und  doch  zählt  es  mit  den  gelasianischen  und  leoninischen  zur 
Vorgeschichte  des  gregorianischen.  Das  ambrosianische  Antiphonar  hat  mit  dem 
römischen  einen  überraschenden  Zusammenhang  und  zeigt  zugleich  einschneidende 
Verschiedenheiten.  Beide  haben  sehr  einfache,  mittlere  und  sehr  notenreiche 
Melodien;  doch  sind  die  reichen  ambrosianischen  gewöhnlich  doppelt  so  groß  an 
Umfang,  an  höheren  Festen  aber  wachsen  die  Jubilationen,  schön  melodisch  gebaut 
und  musikalisch  entwickelt,  zu  einer  uns  ganz  ungewohnten  Ausdehnung.  Bei  vielen 
Melodien  kann  man  fast  Note  um  Note  verfolgen,  wie  der  römische  Bearbeiter 


122    ^  Kritiken  und  Beferate. 


seine  Vorlage  umgestaltet  hat.  Auch  der  geistige  Ausdruck  des  mailändischen 
Gesanges  hat  seine  bedeutsamen  Eigenthümlichkeiten  gegenüber  dem  römischen. 
Vom  mailändischen  Gesang  und  Bitus,  die  offenbar  mit  dem  orientalischen  in 
näherem  Zusammenhang  stehen  als  der  römische,  wird  man  den  Weg  zu  den 
älteren  griechischen  Vorbildern  zu  gewinnen  suchen  müssen.  Allerdings  wird 
dieses  Studium  nicht  geringe  Schwierigkeiten  bieten,  weil  nur  wenige  oder  keine 
eigentlichen  Vorarbeiten  vorhanden  sind.  Wir  kennen  den  liturgischen  Gesang 
der  Griechen  so  gut  wie  gar  nicht,  wissen  nicht,  ob  für  das  Officium  und  die 
Messe  so  ins  Einzelne  gehende  charakteristische  Formen  geschaffen  sind,  wie  wir 
sie  im  römischen  Ritus  in  ungefähr  zehnfacher  Abstufung  haben,  wissen  auch 
nicht,  ob  überhaupt  die  handschriftlichen  Quellen  einen  Einblick  in  frühere  Jahr- 
hunderte gestatten,  weil  bei  den  Griechen  die  neuen  Errungenschaften  sich  nicht 
wie  bei  den  Lateinern,  Lücken  ergänzend,  an  das  Alte  anfügten,  sondern  wie  in 
tropischer  Fruchtbarkeit  aufsprossend  dasselbe  überdeckten  und  verschwinden  mach- 
ten. Die  Übertragungen  griechischer  Choräle  bei  Christ]- Faranikas ,  Anthologia 
graeca  und  bei  Bourgault-Ducoudray  sind  einfach  syllabische  Melodien;  die  Kyrie  aber 
sind,  wie  sie  in  den  offiziellen  Chorbüchern  der  Griechen  stehen,  notenreicher; 
aber  bei  keiner  Art  findet  man  Anklänge  an  Melodien  der  Lateiner.  Der  Melodien- 
schatz der  griechischen  Kirche  ist  übrigens  groß  und  birgt  in  seinem  unerforschten 
Reichthum  vielleicht  die  gewünschten  Bindeglieder.  Auch  kann  man  hoffen,  über 
die  erste  Gestalt  und  Herkunft  der  acht  Choraltonarten,  die  freilich  auf  anderer 
Grundlage  ruhend,  bei  den  Griechen  wie  bei  den  Armeniern  und  Syrern  zu  finden 
sind,  näheren  Aufschluß  zu  erhalten. 

2.  Einer  ersten  vorläufigen  Bekämpfung  Gevaert's  folgten  in  der  Revue  h4n^ 
dietint  drei  weitere  Artikel,  welche  auf  die  Behauptungen  Gevaert's  näher  eingehen 
und  sie  im  Einzelnen  widerlegen.  Obige  Broschüre  ist  ein  Separatabdruck  der- 
selben i.  Im  ersten  Theil  wird  untersucht,  worin  die  gesangliche  Arbeit  Gregor*« 
bestanden  haben  mag,  und  im  Anschluß  an  den  Satz  aus  dem  8.  Jahrhundert 
•monwnenta  patrutn  renovaoit  et  auxü^^  dahin  zu  bestinmien  gesucht,  daß  er  den 
vorher  bestehenden  Gesang,  der  noch  im  jetzigen  ambrosianisohen  erhalten  ist, 
überarbeitete  und  Anderes  ganz  neu  komponirte,  was  wohl  von  den  Alleluja,  Tractus 
und  vielen  Kommunionantiphonen  zu  verstehen  sei.  Im  zweiten  Artikel  werden 
die  alten,  zu  Gunsten  Gregorys  sprechenden  Zeugen  verhört,  der  Diakon  Johannes 
wieder  zu  Ehren  gebracht  und  aus  der  Zeit  vor  ihm  aufgezählt:  Hadrian  II, 
Leo  IV,  Abt  Hildemar,  Walafried  Strabo,  Agobard  von  Lyon,  Amalar,  Hadrian  I, 
Egbert  von  York.  Bezüglich  Egbert's  ist  Gevaert  in  seiner  RepUk  das  Unglück 
begegnet,  daß  er  die  Beweisstelle  verwarf,  weil  sie  aus  einem,  von  anderen  echten 
sehr  verschiedenem  pseudoegbertischen  Werke  stamme;  nun  wdst  sein  Gegner 
nach,  daß  die  von  Gevaert  als  echt  angenommene  Schrift  unecht  und  die  als 
unecht  sammt  ihrer  Beweisstelle  verworfene  allgemein  als  echt  anerkannt  ist.  Der 
dritte  Artikel  prüft  der  Reihe  nach  die  positiven  Behauptungen  Gevaert's  über  die 
Entstehung  der  reichen  Melodien,  die  Verdienste  der  orientalischen  Fäpste  etc. 
Der  Verfasser  schließt  mit  einer  Skizze,  wie  nach  seiner  Auffassung  die  Ent- 
wicklung des  Chorals  vor  sich  gegangen  ist,  wobei  er  neue  Gesichtspunkte  und 
neue  Beweismomente  beibringt.  Der  Bedeutung  der  Sache  wegen  gedenken  wir. 
beide  Broschüren  in  deutscher  Sprache  zu  veröffentlichen. 

Beuron.  F.  AmbrosiUB  Kieple,  0.  S.  B. 


^  Referent  hatte  nur  die  Artikel  der  Retme  zur  Hand. 


Otto  Fridolin  Fritssche,  Glarean,  Sein  Leben  und  seine  Schriften.      ]^23 


Otto  Fridolin  Fritzschey  Glaiean,  Sein  Leben  und  seine  Schriften. 
Fiauenfeld,  Hubei.  1890.  8.  VI  und  136  Seiten.  Mit  einem  Porträt 
Glareans. 

Seit  Heinrich  Sehreiben  Olarean-Biogiaphie»  welche  183.7  zu  Freiburg  i.  Br. 
ersehien,  ist  bis  zu  obigem  Werke  nichts  geschrieben  worden,  was  dem  größten 
Humanisten  der  Schweiz  gerecht  wurde  und  seiner  vollauf  werth  war.  Es  gereicht 
mir  zur  Freude,  sagen  zu  können,  daß  dies  bei  Fritzsch.es  Arbeit  der  Fall  ist. 
Genaue  Sachkenntniß,  fleißige  Sammlungen,  eingehende  Studien  haben  ihm  eine 
Menge  neuen  Stoffes  an  die  Hand  gegeben,  um  das  Bild  seines  Mannes  reicher 
auzsuf&hren,  es  unter  den  Charakterköpfen  seinor  gleichstrebenden  Genossen  sch&rfer 
herrortreten  und  vom  Hintergrunde  der  Zeitbewegung  sich  greifbarer  abheben  zu 
lassen.  Er  steht  zu  seinem  Vorgftnger  nicht  so,  daß  er  ihn  überflüssig  machte. 
Wer  die  unmittelbaren  und  mittelbaren  Quellen  nicht  nachlesen  kann,  aus  denen 
beide  schöpften,  wird  die  reichlichen  Mittheilungen  aus  denselben  bei  Schreiber 
dankbar  annehmen.  Auch  ist  es  anziehend,  die  Darstellungsweise  beider  zu  yer- 
gleichen.  Der  ältere  Biograph  schreitet  mit  bequemer  Gelassenheit  voran,  sein 
Urtheil  ist  von  humaner  Milde.  Der  jüngere  schreibt  gedr&ngt,  ist  weniger  auf 
angenehmen  Fluß  als  sachliche  Fülle  bedacht  und  zögert  nicht,  dem  Bilde,  wo  es 
ihm  nöthig  scheint,  einige  derbe  Schatten  einzusetzen. 

Glarean  war  ein  Mann  von  großen  und  vielfältigen  Gliben.  Als  Fhilolog, 
Historiker,  Geograph,  Mathematiker  und  Musikgelehrter  hat  er  sich  hervorragende, 
zum  Theil  bleibende  Verdienste  erworben ;  als  Lehrer  war  er  bis  zum  hoh^n  Alter 
einer  der  anregendsten  seiner  Zeit.  Fleißig  und  pflichtgetreu ^  sittenstreng,  pa- 
triotisch, reizbar,  rücksichtslos,  streit-  und  schm&hsüchtig,  eitel,  prahlerisch  und 
doch  im  Grunde  bescheiden,  von  groteskem  aber  gesundem  Humor  —  auf  der 
Grundlage  urwüchsiger  Kraft  ein  wunderbares  Gemisch  verschiedenartiger  Charakter- 
eigenschaflen.  Da  er  zu  Reuchlin,  Erasmus,  Pirckheimer,  Beatus  Rhenanus, 
Zwingpli,  Oecolampadius  und  anderen  Führern  der  humanistischen  und  reformato- 
risehen  Bewegung  in  Beziehung  und  mit  einigen  von  diesen  sogar  in  sehr  enger 
Verbindung  stand,  so  führt  sein  Lebensgang  den  Leser  gleichsam  mitten  durch 
die  Wogen  jener  Zeit  Und  dieses  ist  einer  von  den  Gründen,  aus  denen  man 
wünschen  muß,  daß  sich  auch  die  Musikwissenschaft  genauer  um  ihn  kümmert, 
als  bisher  geschehen  ist. 

Wir  neigen,  wenn,  ich  mich  nicht  tausche,  zu  sehr  dahin,  die  kirchlichen 
Bewegungen,  welche  die  allgemeine  Signatur  des  16.  Jahrhunderts  bilden,  ohne 
weiteres  auch  als  die  treibende  Macht  im  Gebiete  der  Tonkunst  anzusehen.  Gewiss 
hinterlassen  sie  in  der  Musikübung  ihre  Spuren.  Aber  stilistisch  tiefeingreifend 
haben  sie  nicht  gewirkt.  Was  den  evangelisch-kirchlichen  Gesang  von  dem  ka- 
tholischen in  dieser  Zeit  unterscheidet,  sind,  künstlerich  angesehen,  Nebendinge. 
Ein  Wesensgegensatz  bildet  sich  erst  vom  17.  Jahrhundert  an  heraus.  Seb.  Bach, 
der  Gipfel  evangelischer  Kirchenmusik,  wurzelt  in  diesem  und  steht  zur  Kunst  des 
16.  Jahrhunderts  in  keiner  unmittelbaren  Beziehung  mehr.  Sie  aber  erhält  ihr 
Gepr&ge  durch  zwei  Dinge:  einmal  durch  nationale  Eigenthümlichkeiten,  dann 
aber  —  und  dies  besonders  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  —  durch  die 
nachwirkenden  Ideen  der  Benaissance-Zeit.  Nachwirkend  allein  konnten  sie  in 
in  der  Musik  zur  Geltung  kommen.  Denn  das  Wesen  dieser  Kunst  sträubt  sich 
gegen  eine  sofortige  Beeinflussung  durch  die  Ideen  der  Zeit.  Was  Palestrinas 
ToQwerke  vor  anderen  groß  macht:  die  Reinheit  der  Linien,  die  Durchsichtigkeit 
des  Gewebes,  der  lichtklare  Klang,  das  verdanken  sie  dem  Segen  der  Antike,  der 


j^24  Kritiken  und  Referate. 


diesem  Künstler  am  reichlichsten  zu  Gute  kam.  Aus  den  Bestrebungen  der 
Gegenreformation  konnten  solche  Eigenschaften  nicht  hervorgehen ;  nur  der  fromme 
Sinn,  mit  dem  er  all  seine  Gaben  andachtsvoll  der  Kirche  zum  Opfer  darbrachte, 
ist  ihr  Geschöpf.  Glarean  nun  bietet  mit  seiner  Persönlichkeit  ein  für  die  Musik- 
geschichte bedeutsames  Beispiel,  wie  kirchlich-reformatorisches  Streben  und  Huma- 
nismus sich  keineswegs  deckten.  Dieser  war  eine  außerkirchliohe ,  man  könnte 
für  die  damaligen  Yerhftltnisse  auch  sagen:  überkirchliche  Macht,  aus  welcher  die 
Kirche  wohl  verjüngende  Kraft  saugen,  der  aber  niemals  ganz  in  ihr  aufgehen 
konnte.  Glarean  wie  sein  Lehrer  Erasmuä  verehrten  Luther,  mißbilligten  aber 
die  Ausschreitungen  der  Lutherischen;  beide  empörten  sich  Über  die  sittliche  Ge- 
sunkenheit  der  Geistlichen  und  wünschten  bessernde  Abhülfe,  aber  die  Grundlagen 
der  Kirche  selbst  wünschten  sie  nicht  angetastet  zu  sehen.  Ihnen  erschien  eine 
Entwicklung  möglich,  in  der  aus  den  alten  Formen  des  Lebens  eine  neue  freie 
Geistesbildung  unter  Hülfe  der  wiedergefundenen  antiken  Bildungssch&tze  sich 
erhöbe  und  die  zerfallenden  mittelalterlichen  Beste  allmählich  in  sieh  aufzehrte. 
Von  dem  wiederbeginneuden  Streit  um  Dogmen  fürchteten  sie  einen  Rückfall  in 
die  kaum  überwundene  Scholastik.  Und  so  wie  sie  dachten  viele,  dachte  vielleicht 
die  Mehrzahl  der  fein  Gebildeten.  Daher  denn  auch  Erscheinungen  wie  Ludwig 
Senfl,  welcher  der  allgemeinen  Kirche  treu  blieb  aber  doch  mit  Luther  vertrauten 
Umgang  pflog,  nichts  seltenes  waren.  Glarean  hatte  nicht  die  Unbefangenheit 
Senfls  und  nicht  die  Schmiegsamkeit  des  Erasmus:  da  die  reformatorisehen  Be- 
wegungen wider  seinen  Sinn  gingen,  wurde  er  in  kurzangebundener  Heftigkeit  ihr 
schärfster  Gegner  und  verfeindete  sich  auch  mit  seinem  langjährigen  Freunde 
Zwingli. 

Das  Dodecaehordon  ist  ein  Werk,  welches  man  ebenfalls  nur  im  Zusammen- 
hange mit  den  humanistischen  Studien  richtig  würdigen  kann.  Diejenigen  irren 
gründlich,  welche  in  ihm  ein  Denkmal  mittelalterlicher  Musiktheorie  sehen.  Viel- 
mehr wird  hier  der  Bruch  mit  dieser,  welcher  in  der  Praxis  schon  lange  sieh 
angebahnt  hatte,  auch  in  der  Theorie  vollzogen.  Die  Ableitung  der  zwölf  Ton- 
arten aus  der  Theorie  des  Alterthums  beruht  freilieh  auf  irrigen  Voraussetzungen; 
den  Unterschied  zvrischen  Octavengattungen  und  Mollskalen  hat  er  so  wenig  erfaßt 
gehabt,  wie  irgend  ein  anderer  Gelehrter  bis  auf  Boeckh.  Immerhin  geht  er  bei 
der  Aufstellung  seiner  Tonarten  gegenüber  dem  mittelalterlichen  System  ganz  radikal 
zu  Werke.  Was  die  Hauptsache  ist,  er  umfaßt  mit  freiem  Blick  das  ganze  Gebiet 
der  Tonkunst,  die  kirchliche  sowohl  wie  die  weltliche.  Der  Modtts  lonieus,  unser 
Dur,  ist  ihm  omnium  tuitatissimtu,  und  dessen  plagale  Art  »wirkt  sehr  anmuthig 
in  Tageliedem  und  Liebesliedem,  lingua  potissimum  Celtica,  qua  HelveUi  utuntur^ 
nee  minus  Germamea  transrhenanai.  Seine  Vorliebe  für  einstimmige  Musik,  seine 
Hochsohätzung  des  Phonascits  gegenüber  dem  Symphoneta,  sein  Eifer  fQr  die  ge- 
simgene  Vorführung  horazischer  und  anderer  Gedichte  des  Alterthums  sind  gleich- 
falls Zeugnisse  für  den  Geist  der  neuen  Zeit.  Mit  den  vierstimmigen  Horazcom- 
positionen  von  Tritonius,  Senfl,  Hofhaimer^,  die  damals  in  Humanistenkreisen 
viel  Beifall  fanden,  war  Glarean  gamicht  zufrieden.  Das  einzig  Genießbare  daran 
sei  der  vierstimmige  Satz,  die  Melodien  taugten  nichts.  Bescheiden  spricht  er  sich 
selbst  'die  Fähigkeit  ab,  gehaltvolle,  eindringliche  Melodien  zu  erfinden ;  aber  die- 
jenigen, welche  er  in  jungen  Jahren  aus  eigner  Eingebung  zu  horazischen  Oden 
gesungen,  hatten  sich  doch  durch  Deutschland  weit  verbreitet,  müssen  also  ihre 
Vorzüge  gehabt  haben.     Auch  die  dorische  Weise,  in  welcher  er  1512  in  Köln 


^  ^Loquor  de  his  qui  hac  tempesiate  in  Hcratij  odae  dedire  quatuor  uoeum 
earminauf  Dodecachord.  S.  179. 


Otto  Fridolin  Fritzsche,  Glarean,  Sein  Leben  und  seine  Schriften.       |25 


seineD  Panegyrieus  auf  Kaiser  Max  vortrug,  wird  demnach  eigne  Erfindung  gewesen 
sein.  Konnte  er  mit  ihm  öffentlich  vor  dem  Kaiser  auftreten,  so  muß  er  auch  zum 
ausübenden  Musiker  Talent  besessen  haben.  Interessant  wäre  es,  über  die  Art  des 
Vortrages  genaueres  zu  erfahren.  Das  G^edicht  besteht  aus  80  Hexametern.  Un- 
möglich können  sie  alle  nach  derselben  Melodie  abgesungen  sein;  vermuthlich  hat 
Gflarean  größere  Versgruppen  zusammengefaßt  Aber  wie?  und  blieb  die  Melodie 
ihnen  gegenüber  immer  die  gleiche,  oder  veränderte  er  sie  der  Uebereinstimmung 
mit  dem  Text  zulieb,  auf  welche  er  ja  ein  großes  Gewicht  legt?  Sang  er  ohne 
Segleitung,  oder,  was  wahrscheinlicher,  zur  Cithara,  d«  h.  Laute?  Wir  stehen  hier 
einer  ganz  eignen  Art  von  Musikvortrag  gegenüber,  die  in  der  Renaissancezeit 
von  Italien  nach  Deutschland  gekonmien  sein  muß.  Glarean  seinerseits  scheint 
unmittelbar  dem  Humanisten  Hermann  von  dem  Busche  nachgeahmt  zu  haben, 
der  1508  ein  Loblied  auf  die  Stadt  Köln  in  ionischer  Tonart  öffentlich  vortrug. 
Jede  weitere  Nachricht  über  das  Wesen  derartiger  Gesänge  würde  sehr  willkommen 
sein.     Vielleicht  ist  Fritzsohe  im  Stande,  sie  zu  geben. 

Ueber  Glareans  Musikliebe  und  Musikübung  erfahren  wir  von  unserem  Ver- 
ÜBSser  noch  manches  neue«  Er  sang  gern  für  sich  und  in  angeregter  Gesellschaft, 
auch  im  Golleg,  wenn  er  die  Oden  des  Horaz  erklärte;  dies  noch  in  höherem 
Alter  und  sicherlich  nach  seinen  im  Dodeoachordon  mitgetheilten  Melodien.  In 
den  Vorlesungen  muß  es  manchmal  humoristisch  hergegangen  sein.  Als  er  am 
2.  April  1554  zum  ersten  Male  über  Sueton  las,  begann  der  Sechsundsechzigjährige 
damit,  daß  er  zu  einer  hypomixolydischen  Melodie  den  Weihnachtsgesang  Gfratea 
nunc  omnes  reddamtu  Domino  Deo  anstimmte  und  dann  den  erstaunten  Hörern 
bewies,  er  sei  nicht  etwa  verrückt  geworden,  sondern  der  Inhalt  dieses  Gesanges 
gehöre  zur  Sache.  Den  Vorgang  erzählt  schon  Schreiber;  Fritzsche  illustrirt  ihn 
und  ähnliches  durch  einen  Bericht  des  Josua  Maler  aus  Zürich:  »Der  alt  Glarean 
• .  •  hatt'  vil  Auditores  von  jungen  angelegten  München,  denen  macht  er  die  besten 
Bossen«  (S.  57).  Seine  Vorlesungen  über  Musik  hatten  gleichfalls  großen  Zulauf 
(S.  118} ;  Liebe  zur  Musik  pflanzte  er  auch  seinen  Pensionären  ein  (S,  76).  Deutschen 
Gemeindegesang  konnte  er  nicht  leiden,  er  war  ihm  zu  roh  (S.  45).  Einige  hand- 
achriftliche  Bemerkungen  über  den  Gesangunterricht  in  den  Schulen,  die  Fritzsche 
(8.72  f.)  mittheilt,  sind  nicht  ohne  Interesse. 

Von  rühmlicher  Sorgfalt  des  Verfassers  zeugen  die  chronologisch  geordneten 
bibliographischen  Nachweise  nnd  Notizen  zu  Glareans  Schriften.  An  dieser  Stelle 
kann  nur  auf  das  hingewiesen  werden,  was  anläßlich  des  Dodeoachordon  zusammen 
getragen  ist  (S.  112 — 118).  Es  wäre  eine  hübsche  Aufgabe,  wenn  einmal  jemand, 
den  Fingerzeigen  folgend,  alle  noch  vorhandenen  handschriftlichen  Aeußerungen 
Glareans  über  Musik  sanunelte,  dazu  diejenigen,  welche  in  seinen  gedruckten  nicht 
musikalischen  vorkommen,  und  den  ganzen  Haufen  übersichtlich  ordnete.  Es  würde 
gewiß  viel  lehrreiches  zu  Tage  kommen.  Die  Bemerkungen,  welche  Glarean  dem 
Exemplare  des  Dodeoachordon  eingeschrieben  hat,  das  er  1549  dem  Abte  von 
Rheinau  übeneichte,  darf  ich  nach  Fritzsche  hier  wiedergeben;  sie  sind  für  die 
Benutzer  des  bekanntlich  nicht  eben  korrekt  gedruckten  Werkes  von  Wichtigkeit. 

Codex  Glareani  manu  emendcUus  in  iis  quae  necessiteu  postulabat,  ut  ad  ßnem 
toÜeU  pemotata  sunt.  CaeUrum  quae  innumera  alia  sunt,  maxime  in  tertio  Itbro, 
ea  xa-9oXt*69^  plaeraque  ita  eorrigi  possunt 

JPausae  in  eantu  mensurali  inaequaUs  spissitudinis  sunt,  quod  perridiculum  est, 

Puncta  in  eodem  jam  dicto  caniu  plaerumque  male  expressa. 

Hotulae  a  punctis  nimium  distantes  ac  remoiae, 

Ligaturae  uhique  hiant,  et  ipsarum  caudae  utraque  ex  parte  male  expressae, 

Vnde  mirus  error  ex  notifiarum  uariatione. 


J26  Kritiken  und  Referate. 


Circuit  ac  Semidrculi  aeqwüi  spissitudine  esse  dehebant.  Sic  autem  noster  per 
o  et  c  expressit,  praeterea  puncto  perperam  saepe  imposita. 

Id  autem  uitiosiseimum  ^  taetum  in  uereuum  margnttbue  distraetum  pessimo 
cantantium  incammodo  ad  alterum  uereum ,  cum  tactu$  ad  cuiueque  uersue  Jinem  m- 
teper  esse  deberet, 

Punctis  nonnunquam  etiam  iunxit  dauern  indtcatortam ,  ut  p.  406  uersu  2  et 
p.  407  uersu  item  2  magna  canloris  pertwbatione.  Vnde  liquet  quam  nihil  prorsus 
hie  librarius  de  hisce  irdellexerit. 

In  Proportionum  exemplis  pausae  signum  pro  unitatis  signo  positum. 

Claues  signatae  appido  pueriles^  idem  de  indicatoriis  dicimus. 

Haee  Olareanus  iam  LXI  egressus  annum 
proprio  manu  scripsit. 

Unter  den  Nachlässigkeiten,  gegen  welche  Glarean  hier  in  humoristischem 
Grimme  eifert,  interessirt  besonders  die  im  achten  Absätze  gerügte.  Denn  dadurch 
wird  bestätigt,  was  sich  aus  der  Beobachtung  sorgfÜtig  hergestellter  Drucke  des 
16.  Jahrhunderts  thatsächlich  ergiebt,  daß  es  Regel  war,  jede  Notenzeile  mit  einem 
Tempus  abzuschließen  und  nicht  innerhalb  eines  und  desselben  Tempus  aus  einer 
Zeile  in  die  andere  überzuspringen.  Mit  dieser  Gewohnheit  hängt  weiter  zusammen, 
daß  man  im  17.  Jahrhundert,  als  zunächst  in  Instrumentalstimmen  Taktstriche  ge- 
bräuchlich zu  werden  anfingen,  sich  das  Setzen  eines  solchen  am  Ende  der  Zeile 
doch  gern  erließ:  hier  Tertrat  dieses  Ende  selbst  den  Taktstrich. 

Der  Verfasser  unseres  Buches  lebt  in  Zürich,  was  er  unter  dem  Vorworte 
hätte  bemerken  dürfen.  Da  er  S.  99,  Z«  10  und  S.  102,  Z.  21  von  der  »hiesigenv 
Stadtbibliothek  spricht,  wird  Yielleicht  mancher  Leser  sich  nicht  gleich  zu  rathen 
wissen  und  etwa  erst  durch  Kombinirung  mit  S.  26,  Z.  15  zur  Feststellung  des 
gemeinten  Ortes  gelangen.  Auffallend  war  mir,  daß  Fritzsche  auf  S.  110  über  die 
Lage  des  Klosters  St.  Qeorg  im  Zweifel  zu  sein  scheint:  JETeregnia  sylua  bedeutet 
hier  den  Schwarzwald.  Noch  einige  andere  kleine  Ausstellungen  ließen  sich  machen; 
aber  es  wäre  imdankbar,  an  Kleinigkeiten  zu  mäkeln,  wo  so  viel  des  Nützlichen 
geboten  worden  ist. 

Berlin.  Philipp  Spitta. 


Dr.  jur.  Arthur  Prüfer^  Untersuchungen  über  den  auBerkirchlichen 
Kunstgesang  in  den  evangelischen  Schulen  dies  16.  Jahrhunderts. 
Inaugural-Dissertation.  Leipzigs  Pöschel  und  Trepte.  1S90.  8.  67  S. 
Text  und  235  S.  Musik. 

Als  ich  im  dritten  Jahrgang  dieser  Zeitschrift  (1887)  in  meinem  Aufsatz  über 
die  Horazischen  Metren  in  Kompositionen  des  16.  Jahrhunderts  die  Meinung  aus- 
sprach, mit  den  dort  angeführten  Odensammlungen  seien  —  »abgesehen  von  aller- 
hand einzelnen  Stücken^  —  die  deutschen  Kompositionen  antiker  Metren  im  16. 

^  Ich  meinte  hiermit  die  einzelnen  Oden  u.  s.  w.,  welche  sich  in  den  Drucken 
des  Tritonius  bei  Oeglin  1507  (Tr.),  bei  Effenolf  1532  (IV.  E.)  und  durch  Nigidius 
1552  (Tr.  N,)y  femer  bei  Senfl  1534  [S,]  und  Hofhaimer  1539  (JET.)  finden.  Da  sie 
für  die  weitere  Forschung  Interesse  gewinnen  könnten,  will  ich  sie  hier  aufführen. 
"Wo  die  Lieder  im  Figuralstil  gesetzt  sind,  füge  ich  »fig.«  hinzu,  alle  anderen  sind 
metrisch. 

Ades  paUr  supreme  (Prudentius)  v.  Senfl:   Tr.  N.  48;  S.  28;  JJ.  44.  Von  Hof- 
haimer: ir.  31. 
Adesie  Musae,  maximi  proUs  Jovis ;  incerti  aut, :   Tr*  N.  37. 


Arthur  Prüfer,  Untersuchungen  über  den  außerkirchl.  Kunstgesang  etc.     ]  27 


Jahrhundert  erschöpft«  und  mit  der  Ausgabe  des  Nigidius  von  1552  scheine  »die 
immerhin  merkwürdige  Erscheinung  in  der  Musik-  und  Schulgesdiichte  des  16. 
Jahrhunderts  ihren  Kreislauf  zu  beschließen«,  ahnte  ich  nicht,  in  wie  erfreulicher 
Weise  weitere  Beobachtungen  und  Entdeckungen  diese  Vermuthung  Lügen  strafen 
sollten.  Ich  dachte  allerdings,  indem  ich  sie  niederschrieb,  zunächst  nur  an  der- 
gleichen Sammlungen  horazisoher  Metren.  Aber  auch  von  solchen  scheint 
es  doch  noch  mehrere  zu  geben.  Ich  finde  die  Notiz,  daß  von  Benedikt  Dncis 
horazisehe  Oden  in  Ulm  1539  gedruckt  worden  seien,  sowie  daß  Goudimel  eine 
Sammlung  horazischer  Oden  1555  bei  Duchemin  in  Paris  habe  drucken  lassen. 
Vielleicht  weiß  Jemand  Auskunft  darüber  zu  geben. 

Der  Sammlung  von  Ducis  könnten  die  einzelnen  Stücke  entnommen  sein,  welche 
sich  Ton  ihm  bei  Nigidius  finden. 

Weit  wichtiger  aber  als  dies  ist  die  Ausdehnung,  welche  die  ganze  Unter- 
suchung weit  hinaus  über  die  horazischen  Metren  genonmien  hat. 

Zunächst  zeigten  die  Psalmen -Kompositionen  des  Statius  Olthofi*,  welche 
Widmann  im  5.  Jahrgang  dieser  Zeitschrift  herausgab,  daß  die  metrische  Musik 
sich  Ton  den  antiken  Dichtungen  aus  über  •  die  moderne  geistliche  Dichtung  in 
antiken  Versmaßen  verbreitet  hatte.  Dann  wurde  ich  selbst  durch  das  Haupt- 
interesse, welches  mich  bei  der  ganzen  Sache  geleitet  hatte,  nämlich  durch  die 
Frage,  ob  und  wie  die  metrischen  Kompositionen  einen  Einfluß  auf  den  evan- 
gelischen Kirchengesang  gewonnen  haben  möchten,  auf  die  Untersuchung  der 
Chorgesänge  des  humanistischen  Dramas  geführt  und  es  zeigte  sich,  daß  auch  hier 
die  metrische  Musik  in  den  lateinischen  Chorgesängen  Fuß  gefaßt  und  sichtlich 
auch  auf  die  Behandlung  der  deutschen  Gesänge  hinübergewirkt  hat.  War  schon 
damit  ihre   weite  Verbreitung  und  ihr  Einfluß  auf  die  allgemeine   musikalische 


Äequam  memento  rebus  in  arduis  (Horaz,  Od.  II  3)  v.  Hofhaimer :  H.  22. 

Ales  diei  nuntiue  (Prudentius)  v.  Senfl:  Tr,  JV.  49;  S.  26, 

Arma  virtfmque  cano  (Virgil  Aen,  1,  1.)  v.  Senfl:  2V,  N.  20;  S.  20.  Von  Hof- 
haimer :  ff.  26.    Von  Benedict  Ducis  Tr,  N.  20  u.  21. 

BetUus  tue  qui  proeul  negotiia  (Horaz  Epod.  2)  v.  Hofhaimer:  JET.  24. 

Care  fater  eummi  residens,  Vetus  melodia.  Tr..N,  47. 

Carmwa  qui  quondam  etc.  (Boetius  I.  1.)  v.  JToa.  Heugelius  (vgL  AUgem.  d.  Bio- 
graphie XII.  325):  Tr.  N,  27.    Von  Christoph  Cuprarius:  Tr.  N.  28. 

Coenabie  hene^  mi  FabuUe,  apud  me  (Catull  13)  v.  Hofhaimer  JJ.  28. 

Coüie  o  HeUconii  (Catull  59)  v.  Greg.  Peschinus  (s.  Allgem.  d.  Biogr.  XXV. 
411):  JT.  45. 

Da  pacem,  domine,  in  diebue  n.  Theod.  Künig ;  fig. :  Tr.  N.  54. 

Dieertissime  JRomuli  nepotum .  (Catull  47)  •  v.  Senfl. :  8,  25.  v.  Bened.  Ducis : 
Tr.  N,  32.  . 

Eeee  bonum,  quam  joeundum  etc.  v.  Senfl:  i9.  21. 

Frequene  adeeio,  parte  grex,  dei  prolee  (Joa.  Camerarius)  v.  Senfl:  Tr.  N.  53; 
S,  31. 

Hone  tua  Penelope  etc.  (Ovid,  Her.  I.)  v.  Senfl:  Tr.  N.  25;  S.  22;  H.  40. 
Von  Bened.  Ducis :  TV.  N.  23  u.  24. 

Harrida- temp^tas  etc.  (Horaz  JEpod.  13)  v.  Hofhaimer:  JB,  34. 

Ingenium  quondam  fuerat  pretiosius  auro:  v.  Tritonius:  Tr.  i  Tr.  E,;  Tr.  N.  29. 

IntaeÜB  opuleniiar  (Horaz  Od.  HL  24)  v.  Hofhaimer:  H.  23. 

Integer  vttae  scelerisque  purus  (Horaz  I,  22)  v.  Senfl:  H.  37. 

Ipse  cum  solus  varios  retraeto  (Herm.  Buschius)  vetus  mehd.:  Tr..N.  30  u.  31. 

iaudate  dominum  (ein  Traktus)  v.  Senfl.,  flg.:   Tr.  JV.  43. 

Livor  tabißcum  malis  venenum:  incerti  aut.-  Tr.  jV.  36. 

Non  usiiata  nee  ienui  ferar  (Horaz  Od.  U.  20)  v. .  Senfl :  JET.  39. 

Nox  erat  ei  coelo  fulgebat-  Luna  sereno  (Hör.  Epod.  15)  v.  Hofhaimer  H.  25. 


\28  Kritiken  und  Referate. 


Entwickelung  bis  zu  gewissem  Grade  erklärt,  so  ist  das  in  nock  viel  höherem 
3faße  der  Fall  durch  das  Ergebnis  der  Untersuchungen,  welche  Dr.  PrQfer  in  der 
Yon  einem  reichen  Notenmaterial  begleiteten  in  der  Überschrift  genannten  Arbeit 
niedergelegt  hat.  Er  weist  darin  nach,  daß  in  verschiedenen  lu  Lehnwecken  der 
Schule  bestimmten  Musikwerken  die  metrische  Kompositionsgattung  eine  wichtige 
Holle  spielt  und  swar  bis  über  das  Ende  des  16.  Jahrhunderts  hinaus.  Nach  Prüfer^s 
Forschung  begegnet  uns  diese  Erscheinung  zuerst  in  den  Melodiös  »ehokuticae  des 
Martin  Agricola;  Wenn  Gerber's  Behauptung,  es  gäbe  eine  erste  Ausgabe  dieses 
.Werkes  von  1512,  richtig  w&re,  dann  hätte  sich  also  die  metrische  Kompositions- 
weise schon  fünf  Jahre  nach  ihrem  ersten  öffentlichen  Auftreten  nach  Sachsen  hin 
übertragen;  denn  die  erste  Ausgabe. des  Tritonius  ist  ja  vom  Jahre  1507.  Das  ist 
an  sich  äußerst  unwahrscheinlich,  auch  könnte  nicht  nur,  wie  schon  Prüfer  bemerkt, 
das  Responsorium  aul»  der  Zeit  der  Belagerung  Magdeburgs,  sondern  es  könnten 
auch  die  Oden  des  Georg  Fabricius,  der  erst  1516  geboren  wurde,  dieser  ersten 
Ausgabe  von  1512  nicht  angehört  haben.  Es  geht  aber  meines  Erachtens  aus  dem 
von  Prüfer  mitgetheilten  Widmungsschreiben  des  Herausgebers  der  ersten  bekann- 
ten Ausgabe  von  1578,  des  Gottsch.  Prätorius,  welches  von  1556,  also  kurz  nach 
Agricola's  Tode  datirt  ist,  ganz  unzweideutig  hervor,  daß  die  von  Prätorius  be- 
sorgte Ausgabe  die  erste  war,  und  daß  sie  soeben  erst  von  Agricola  vorbereitet 
war.  Er  schreibt  nämlich:  In  hunc  igiiur  uwm  non  ita  tnuHis  ab h ine  men- 
sihus  Hymnos  nonnuUos  Martinus  Agricola  ei  ego  eollegirmu,  qttorum  aUi  Jam 
annos  aliquot  tqmd  nostros  in  ueu  fuerunt  alii  vero  videbantur  alioqui  utile$ 
admodum  futuri.  Das  heißt  also  doch,  seit  einigen  Jahren  hatte  Agricola 
den  Gesang  dieser  Oden  mit  seinen  Schülern  bereits  betrieben,  und  eben  kurz  vor 
seinem  Tode  hatte  er  für  die  Zwecke  seiner  Schule  die  vorliegende  Sammlung 
gemeinsam  mit  dem  Herausgeber  zusammengestellt,    Yermuthlich  hat  es  hiemach 

iVoa;  et  tenebrae  et  nubila  (Prudentius)  v..Senfl:  Tr,  N.  50;  S.  27. 

Nübibue  atrie-  (Boetius),  incerti  aui. :  Tr.  N.  38. 

O  crueifer  bone  bicisator  (Prudentius]  v.  Senfl:  Tr.  N.  52;  S.  30. 

O  summe  rerum  conditor  (Ph.  Gundelius;  vgl.  Allg.  d.  Biogr.  X  324)  v.  Senfl: 

Tr.  J^.  51;  Ä  29;  IT.  42.  v.  Hofhaimer:  H.  32. 
Peeti,  nihil  me  (Hör.  Epod.  11)  v.  Hofhaimer:  M.  35. 
JPraedita  vero  (Nie.  Borboniüs)  v.  Joa.  Heugelius:  Tr.  N.  39. 
Prima  dicte  mihi  (Hör.  Epist  L  1)  v.  Hofhaimer:  H.  20. 
Quieumque  Christum  quaeritis  (Prudentius)  v.  Hofhaimer:  H,  30. 
Quid  est  quod  arctum  cingulum  (Prudentius)  v.  Hofhaimer:  H.  29. 
Quid  non  Tenariis  domus  est  v.  Hofhaimer :  S.  46. 
Rectius  vives,  Lieini  neque  alium  (Hör.  Od.  U.  10)  V.  Senfl:   JJ.  36. 
Herum  creator  maxime  (Ph.  Gundelius)  v.  Senfl ;  IT.  43.   v.  Hofhaimer :  H.  33. 
Si  bene  ie  novi  (Hör.  Epist.  I,  18)  v.. Hofhaimer:  H.  21. 
Sinite  partntlos  ad  me  venire,  v.  Ficinus,  flg. :   Tr.  N.  44. 
Si  tecum  mihi,  care  Martialis  (Mart.  V)  v.  Senfl:  JT.  41. 
Tityre  tu  patulae  (Virgil.  Ecl.  .1)  v.  ?  Tr.  iV:  40  u.  41. 
Trojani  belli  scriptorem  (Hör.  Epiat.  I.  2)  v.  Senfl :  JJ.  37, 
Veni  creator  spiritus,  mentes  (Gregor  d.  G.)  incerti  aut.,  flg.:  Tr.  N.  42.     Von 

Joa.  Heupelius,  flg. :  Tr.  K  46. 
Veni  sancte  spiritus,  reple  (Antiphon)  v.  H..  Isaac,  flg. :   Tr,  N.  A\. 
Vitam  quae  faciunt  beatiorem   (Martial  Epigr.  X.  47)   incerti  out.:   Tr,  N.  34 

u.  35.  Von  Senfl :  S.  23.  Von  Hofhaimer :  H.  27. 
Vivamus,  mea  Lesbia  (Catull  5)  v.  Tritonius  ?  Tr. ;   Tr.  E. ;  Von  Bened.  Ducis : 

Tr.  N,  33.  Von  Senfl:  S..24. 
Vivet  Maeonides  (Ovid.  Amor  I.  15,  9)  v.  Joa.  Heugelius  Tr.  N.  26. 
Vos  ad  se  pueri  (Melanchthon)  ine.  out. :   Tr.  N.  45. 


Arthur  Prüfer,  Untersuchungen  über  den  außerkirchl.  Kunstgesang  etc.     J  29 


eine  erste  Ausgabe  Yom  Jahre  1556  oder  57  gegeben,  von  der  die  späteren  nur 
Wiederholungen  sind.  Wir  dürfen  danach  schließen,  daß  in  den  vierziger  Jahren 
des  Jahrhunderts  die  metrischen  Kompositionen  an  den  sächsischen  Schulen  ein- 
gebüigert  waren.  Das  stimmt  ja  auch  mit  anderen  Thatsachen  über  ein.  Denn  in 
der  Zeit  von  1530 — 50  y erbreiteten  sich  die  humanistischen  Dramen  der  ersten 
Periode  mit  ihren  antik  gemessenen  Chorgesängen  über  die  Schulen  Deutschlands 
nnd  bald  nachher  finden  wir  einzelne  metrische  Melodien  für  Kirchenlieder  ver- 
wendet. Was  diese  Tonsätze  für  den  Unterricht  und  Gesang  der  Schuljugend 
empfehlen  mußte,  liegt  auf  der  Hand.  Die  akkordischen  Harmonien  waren  un- 
endlich viel  leichter  zu  singen,  als  die  schwierigen  figuiirten  kontrapunktischen 
Satze,  sie  waren  auch  trotz  ihrer  Starrheit  in  harmonischer  Hinsicht  wirkungsreicher, 
Zugleich  auch,  weü  leichter  faßlich,  volksthümlicher.  In  evangelischen  Gesangbüchern 
der  dreißiger  Jahre  finden  sich  auch  schon  Hturgische  Choräle  in  gleicher  Art  har- 
monisirt  Dazu  kam  dann  noch  der  immer  ausdrücklich  betonte  Vortheil,  daß 
durch  die  so  gesungenen  Oden  und  Hymnen  den  Schülern  die  antiken  Metren 
spielend  geläufig  wurden.  Hand  in  Hand  mit  alle  dem  ging  dann  eben  noch  ihre 
Verwendung  in  den  Chören  des  Schuldramas. 

Wie  nun  die  Melodiae  seholastieae  des  Agricola,  so  sind  drei  andere  Chor- 
werke aus  dem  Ende  des  Jahrhunderts,  welche  Dr.  Prüfer  mittheilt  und  bespricht, 
in  ähnlicher  Weise  dem  Gebrauch  der  humanistischen  Schule  bestimmt,  nämlich 
die  Melodiae  seholastieae  des  Gesius  (erste  Ausgabe  von  1597);  die  Crepundia  sacra 
von  Helmbold  in  Kompositionen  von  Joa.  4  Burck,  Ecoard  und  Nie.  Hermann; 
erste  Ausgabe  von  1577}  und  die  zwei  Bücher  der  ebenfalls  von  Helmbold  ge- 
dichteten und  von  Joa.  k  Burck  gesetzten  Odae  sacrae  (erste  Ausgabe  1578). 

Es  wären  vielleicht  noch  einige  andere  Werke  in  Betracht  zu  ziehen  gewesen. 
Für  den  Gesang  der  Schule  ist  ja  auch  das  klassische  Waltersche  Chorgesangbuch  von 
1524  und  die  1544  bei  Biiaw  gedruckten  »123  Gesänge  für  die  gemeinen  Schulen« 
bestimmt.  Metrisch  komponirte  Gesänge  enthält  allerdings  das  erste  und  meines 
Wissens  auch  das  zweite  Werk  nieht.  Anders  aber  steht  es  ohne  Zweifel  mit 
T^mi  eantiones  cum  melodiis  Mari.  Agricolae  et  P.  Schalreuteri,  Zwickau  1553. 
Es  ist  mir  bisher  leider  nicht  gelungen  dieses  Werk  zu  Gesicht  zu  bekommen. 
Meines  Wissens  findet  sich  aber  in  Leipzig  ein  Exemplar  davon.  Vielleicht  erwirbt 
sieh  Dr.  Prüfer  das  Verdienst  uns  damit  bekannt  zu  machen.  Es  hat  für  die  vorlie- 
gende Betrachtung  offenbar  durch  Agricola's  Betheiligung  daran  doppeltes  Interesse. 
Eine  metrische  Komposition  Schalreuter's  zu  Aufer  immenaam  deus  aufer  iram 
theilt  Zahn  in  den  Melodien  der  D.  ev.  Kirchenlieder  Bd.  I  Nr.  967  mit.  Es  verdiente 
aber  auch  weiter  untersucht  zu  werden,  ob  nicht  wie  die  Buchananschen  Psalmen 
80  noch  andere  der  ziemlich  zahlreichen  Psalmenübersetzungen  in  Odenform  Kom- 
positionen solcher  Art  enthalten. 

Daß  der  Ver&sser  in  seiner  Untersuchung  .die  lyrischen  Kompositionen  von 
den  im  zweiten  Abschnitt  behandelten  Chören  des  Dramas  getrennt  hat,  ist  sehr 
richtig.  In  der  Betrachtung  beider  Abtheilungen  schadet  es  aber  der  Übersicht- 
lichkeit, daß  sie  nicht  chronologisch  geordnet  sind.  Es  handelt  sich  ja  bei  dieser 
ganzen  Erscheinung  um  eine  geschichtliche  Entwicklung,  wie  auch  der  Verfasser 
erkennt  und  des  öfteren  sehr  richtig  im  Einzelnen  ausführt.  Der  Hauptreiz  der 
ganzen  Erscheinung  liegt  sogar  im  Grunde  eben  in  dieser  Entwicklung,  in  den 
Versuchen,  das  metrische  Prinzip  mit  dem  musikalischen  auszugleichen,  die  Starrheit 
der  metrischen  Komposition  durch  figurale  Beimischungen  oder  leichte  rhythmische 
Bewegung  der  Stimmen  zu  mildem  und  in  Fluß  zu  bringen,  und  endlich  als 
Hauptertrag  des  Ganzen  die  harmonisch-akkordische  Behandlung  auf  das  deutsche 
Kirehenlied  zu  übertragen.     Ein  merkwürdiges  Stückchen  nach  dieser  Seite  hin 

1891.  9 


j[30  Kritiken  und  Referate. 


ist  Joachim  d  Burck's  Satz  .über  Vent  »anete  Spiritus  et  emitte,  Nr.  21  der  Cr&pundia 
(Part.  S.  141).  Er  lautet  gunz  und  gar  wie  ein  Choral  im  ausgeglichenen  Rhythmus 
von  heutzutage.   Zahn  theüt  auch  den  ganzen  Satz  als  Kirchenlied  mit:  11  Nr.  3334. 

Far  den  zweiten  Abschnitt  über  die  Chorges&nge  konnte  der  Verfasser  leider 
meine  Arbeit  nicht  mehr  benutzen.  Das  ihm  Torliegende  Material  war  für  eine 
übersichtliche  Erkenntnis  der  Sache  völlig  ungenügend.  Ich  unterlasse  es  indessen 
hierauf  berichtigend  weiter  einzugehen,  da  Dr.  Prüfer  sich  inzwischen  aus  meiner 
Arbeit  selbst  eines  Besseren  belehrt  haben  wird^. 

Im  Übrigen  muß  ich  aber  zunächst  einige  berichtigende  Bemerkungen  machen. 
Über  die  Verfasser  der  Hymnen  im  VTerk  des  Agricola  hat  sich  der  Verfasser  nicht 
genügend  orientirt.  Er  geht  einfach  von  der  Annahme  aus :  Hymnen  ohne  Über- 
schrift seien  dem  Verfasser  der  vorausgehenden  mit  zuzutheilen.  Das  ist  aber  ein 
Irrthum.  Ambrosius  ist  mit  10,  nicht  5  Nummern  vertreten ,  denn  ihm  gehören 
auch  O  lux  heata  trinitaa  (Part  S.  12),  Consora  patemi  luminis  (daselbst),  Te  ludt 
ante  terminum  (Part.  S.  14),  Veni  redemptor  gentium  (Part.  S.  25,  was  der  Ver- 
fasser beim  Zählen  nur  übersehen  zu  haben  scheint)  und  Christe  qui  lux  es  ei  dies 
(Part  S.  27).  Dem  Sedulius  gehört  nur  A  solis  ortus  eardine  (Put.  S.  26).  Vita 
sanetorum  decus  angelorum  (Part.  S.  28)  ist  einjHymnus  des  16.  Jahrhunderts  und 
Festum  nunc  celebre  (daselbst)  ist  von  Rhabanus  Maurus.  Von  Prudentius  sind  nur 
3  Hymnen;  der  ihm  zugeschriebene  Hymnus  O  summe  rerum  c(mditor  (Part.  S.  n( 
ist  von  Phil.  Oundelius  und  Part  S.  11  ist  unter  Qeorgius  Gregor  d.  Gr.,  nicht 
aber  Georg  Fabricius  zu  verstehen,  denn  von  jenem  ist  der  Hymnus  Noete  surgentes 
vigüemus  omnes,  sowie  Veni  creator  spiritus  mentes  (Part  S.  21).  Für  Georg  Fa- 
bricius bleiben  danach  nur  7  Hymnen  nach.  Zu  Vita  sandarum  (Part.  S.  28)  will 
ich  noch  bemerken,  daß  die  Sopranstimme  aus  der  Ghoralmelodie  dieses  Hymnus 
gebildet  ist.    Sie  findet  sieh  bei  Bäumker,  Katholisches  Kirchenlied,  Bd.  I,  No.  271. 

Zu  d«m  Part.  S.  41  ff.  mitgetheilten  Responsorium  Agricolas  meint  der  Ver- 
fasser auf  Seite  25  die  Bezeichnung  Responsorium  sei  dem  Ritus  der  katholischen 
Kirche  entnommen.  Das  ist  zwar  an  sich  sehr  gewiß,  aber  nicht  erst  Agricola, 
sondern  der  evangelische  Gottesdienst  hat  ihn  von  da  übernommen.  Der  Gesang 
der  Responsorien  war  ja  von  der  evangelischen  Kirche  aufgenommen  und  ist  bis 
in*s  vorige  Jahrhundert,  wenn  nicht  länger,  im  Gebrauch  geblieben.  Im  Ritual  der 
Vesper  z.  B.  folgt  das  Responsorium  als  Antwort  (Respons)  auf  die  biblische  Lek- 
tion und  zwar  genau  in  der  hier  vorliegenden  Form.  Es  wird  erst  ganz  sammt  dem 
Versus  gesungen;  dann  wird  das  letzte  Stück  des  Responsoriums  wiederholt,  wes- 
halb es  hier  gleich  beim  ersten  Eintritt  als  repetitio  bezeichnet  ist  (Part  S-  47.) 
In  dem  eben  erschienenen  höchst  lehrreichen  Buch  Herold's  über  die  Alt-Nüm- 
bergischen  (evang.)  Gottesdienste  finden  sich  dne  Menge  solcher  Responsorien  aus 
dem  17.  Jahrhundert.  Ebensowenig  ist  das  Veni  Sande  Spiritus  auf  Seite  90  der 
Partitur  erst  von  Agricola  aus  der  katholischen  Kirche  hergeholt,  wie  der  Verfasser 
auf  S.  29  anzunehmen  seheint  Es  ist  eine  auch  in  der  evangelischen  Kirche  viel 
gesungene  Antiphon  wohl  des  11.  Jahrhunderts >.  Die  bei  Agricola  in  der  Ober- 
stimme liegende  Melodie  ist  wieder  aus  dem  altkirchliohen  Choral  gebildet.  Im 
Antiphonarium  Coloniense  von  1846  (ich  habe  eben  kein  anderes  Antiphonar  zur 
Hand)  findet  sie  sich  z.  B.  auf  Seite  242  als  Antiphon   zu  Nunc  dimittis.    Dies 


1  Für  Reuohlin's  Progytpnasmata  hätte  aber  nicht  die  späte  Ausgabe  von  1516 
benutzt  werden  dürfen,  da  ja  ein  Abdruck  der  ersten  Ausgabe  von  1498  von  H. 
Holstein  vorliegt. 

>  Auf  ihrem  Text  beruht  das  Lied:  »Komm  heiliger  Geist,  Herre  Gott«, 
dessen  Melodie  aber  mit  dem  Choral  der  Antiphon  nichts  gemein  hat. 


Julien  Tiersot,  Histoire  de  la  chanson  populaire  en  France.  |31 


Cantioum  wird  mit  seiner  Antiphon  in  der  katholischen  Kirche  im  Completorium 
und  ward,  so  lange  es  evangelische  Vespern  gab,  in  diesen  gesungen. 

Diese  swei  Stücke,  Responsorium  und  Antiphon,  gehören  also  beiden  Kirchen 
gemeinsam,  dagegen  muß  Ludwig  Senfl,  der  Kapellmeister  Kaiser  Maximilians  und 
Henog  Wühehns  von  Bayern»  den  de»  Verfasser,  wenn  ich  ihn  recht  Terstehe,  auf 
Seite  12  sum  Protestanten  macht,  der  katholischen  Kirche,  troti  seiner  brieflichen 
Frenndachaft  mit  Luther,  belassen  werden. 

Da«  Lied  von  Nicoi  Hermann  Part.  S.  123  stammt  aus  seinen  Sonntags- 
Brangelien  von  1560.  Mit  dem  voraufstehMiden  lateinischen  Text  Pro  eommoda 
uerts  Umperie  hat  aber  Hermann  schwerlich  etwas  zu  thun.  Auch  dies  ist  ein  Re- 
sponsorium mit  RepetUio  und  Vertm,  mithin  ein  kirchlich  Yorgeschriebener  litur- 
gifldier  Text. 

Die  Chöre  sum  Aiax  Lorarias  Part.  S.  196  ff  sind  auch  textlich  merkwürdig. 
In  der  Ubersetzungsliteratur  mögen  zwar  solche  Nachbildungen  antiker  Chorstrophen 
h&ufiger  Torkommen.  Im  fireigedichteten  humanistischen  Drama  ist  mir  vor  dem 
Ccimgnitu  des  Ahodius  Ton  1614  kein  Beispiel  begegnet.  Die  Chöre  sind  sonst 
immer  stiehisch  oder  in  Odenform  gedichtet 

Der  in  der  Part.  S.  230  mil^etheilte  Chorgesang  auf  die  Stadt  Köln  fehlt 
den  früheren  Ausgaben  der  Susanna.  Die  1532  gedruckte  deutsche  hat  überhaupt 
keine  Chöre;  die  lateinische  von  1537  hat  nur  Chöre  an  den  5  Aktschlüssen.  Der 
einleitende'  Chor  ist  ohne  Zweifel  erst  1541  für  die  Aufführung  in  Köln  dort  in 
mtKJorem  urbis  gloriam  hinzugefügt. 

Der  musikalische  Theil  von  Dr.  Prüfers  Arbeit  ist  eine  höchst  dankenswerthe 
Bereicherung  der  musikalischen  Literatur  zur  Kenntniß  des  16.  Jahrhunderts.  Der 
Verfasser  analysirt  in  lehrreicher  Weise  in  seiner  Abhandlung  die  Tonstücke  viel- 
fach im  Einzelnen,  indem  er  auf  ihre  Besonderheiten  aufmerksam  macht.  Auch 
ihre  allgemeine  Bedeutung  für  die  Musikgeschichte  hat  er  in  treffender  und  feiner 
Weise  gekennzeichnet  und  hervorgehoben.  Manches  dieser  Musikstücke  ist  vorn 
wahrer  Schönheit;  den  Chören  des  Aietx  muß  man  sogar  eine  gewisse  Großartig- 
keit zugestehen.  Vor  allem  wichtig  und  anziehend  ist  es  abör  zu  beobachten,  wie 
aus  dem  an  sich  wunderlichen  musikalischen  Experiment  des  Celtis  und  seines 
Schülers  Tritonius  in  allmälicher  Erhöhung  und  Veredelung  etwas  musikalisch 
Besseres  entwickelt  wird  und  wie  durch  die  Übertragung  seiner  charakteristischen 
Eigensehaften  auf  das  geistliche  und  Volkslied  in  folgenreicher  Weise  eine  neue 
Form  des  Chorgesangs  ersteht. 

Schleswig.  R.  "«r.  Ijillelieroii. 


Julien  Tieraoty  Histoiie  de  la  chanson  populaire  en  France.-  Ouvrage 
€ouioiin6  par  Tinstitttt.    Paris  librairie  Plön  1889. 

»Das  Volkslied  bildet  in  der  europ&isch •  abendländischen  Musik  neben  dem 
Gregorianischen  Gesang  die  zweite  Hauptmacht«.  Viel  zu  wenig  ist  dies  Ambros- 
eehe Wort  bisher  gewürdigt  worden ;  zum  Theil,  weil  das  im  Verborgenen  blühende 
Volkslied  sieh  der  Aufmerksamksit  der  Forscher  in  höherem  Maße  entzieht,  zum 
Theil,  weil  die  im  Volkslied  zu  einer  untrennbaren  Einheit  verknüpfte  Poesie  und 
Moflik  als  Beurtheiler  einen  Mann  erfordern,  der  den  Poeten  und  Musiker  in  sich 
vereinigt.  Überblickt  man  die  bisherige  Literatur  des  Volksliedes,  so  findet  man 
es  zumeist  vom  literarhistorischen  Standpunkt  aus  betrachtet,  während  der  mu- 
•tkaüeche  Theil  desselben  bisher  noch  ziemlich  unbeachtet  blieb.    Es  war  daher 

9* 


132  Kritiken  und  Referate. 


ein  glücklicher  Gedanke,  daß  die  Acadimie  des  Beaux-Arts  für  das  Jahr  1885  einen 
Preis  ausschrieb  für  die  Beantwortung  der  Frage  »über  das  französische  Volkslied 
vom  Beginn  des  16.  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung des  musikalischen  Standpunktes  nebst  Bestimmung  der  Bolle,  welche 
es  in  der  weltlichen  und  religiösen  Musik  gespielt  hat«.  Die  Arbeit  eines  Herrn 
Tiersot  erlangte  den  Preis.  Nichtsdestoweniger  fand  es  der  Verfasser,  in  Erwägung, 
daß  das  Volkslied  nicht  nur  in  den  im  Programm  der  Akademie  genannten  Jahr- 
hunderten sondern  namentlich  auch  im  Mittelalter  eine  sehr  bedeutende  Kolle 
gespielt  habe,  zweckmäßig,  die  ganze  Arbeit  einer  nochmaligen  Vermehrung, 
Verbesserung  und  Umarbeitung  zu  unterziehen.  In  dieser  neuen  Gestalt  liegt  das 
preisgekrönte  Werk  Tor.  Seiner  ursprünglichen  Anlage  gemäß  zerfällt  es  in  drei 
Haupttheile,  deren  erster  das  Volkslied  dem  Inhalte  nach  in  Gruppen  sondert, 
während  der  zweite  den  musikalischen  Bau  des  Volksliedes  untersucht  und  der 
dritte  die  Einwirkung  des  Volksliedes  auf  die  kunstmäßige  Musik  bestimmt.  Ein 
reiches  Material  lag  dem  Verfasser  yor:  außer  den  neueren  Sammlungen  für  ein- 
zelne Provinzen  wie  von  Arbaud  (Provence),  Blad^  (Armagnac  und  Agenais),  Bujeaud 
(westliche  Provinzen),  Champfleury  und  Weckherlin  (Nordosten),  Fleury  (Normandie), 
Lootens  (Flandern),  Puymaigre  (Lothringen)  u.  a.  auch  noch  eine  von  Staatswegen 
im  Anfang  der  fanfziger  Jahre  angelegte  Sanunlung  von  Volksliedern  [PoSstsa  po- 
pulaires  de  la  France,  Ms.  der  bibl.  nation.  7  Bde.  Nr.  3338 — 3343).  Wann  wird 
einmal  der  deutsche  Volksliederschatz  von  Amtswegen  einer  ähnlichen  Sorgfalt 
theilhaftig  werden? 

Dem  Inhalte  nach  theilt  Tiersot  das  Volkslied  in  zwölf  Gruppen.  Die  erste 
ist  die  des  erzählenden  historischen  Volksliedes.  Im  Mittelalter  singt 
sie  der  Jongleur  zur  Vielle;  seine  Erbschaft  üben  heute  als  letzte  Nachkonmien 
die  Straßen-  und]  Bänkelsänger  mit  ihren  Kriminalgeschichten.  Die  Stoffe  sind 
theils  geistlich  theils  weltlich ;  unter  den  geistlichen  ist  die  beliebteste  die  Passion, 
die  Stoffe  des  weltlichen  Liedes  sind  ernst,  tragisch,  mit  historischem  Hinte^runde, 
jedoch  ohne  historischen  Bezug.  Les  ciUbritSe  du  peuple  sont  raretnerU  ceUes  de 
rhistoire;  daher  setzen  sich  im  erzählenden  Liede  nur  allgemein  menschliche 
Charaktere  und  Situationen  ab,  während  das,  was  den  Anschein  des  wirklich 
historischen  hat,  bei  näherer  Betrachtung  schwindet.  Den  Namen  des  geistlichen, 
epischen  Liedes,  camplainte,  entsprechend  dem  Planettu  des  9.  Jahrhunderts,  über- 
trägt Tiersot  auch  auf  das  ernste  weltliche  Lied.  Die  metrische  Form  sind  zwei-, 
drei-  und  vierzeilige  Strophen  meist  ohne  Refrain ;  die  Melodien,  oft  nur  mehrfach 
wiederholte  melodische  Formeln,  sind  oft  streng,  ernst  und  alterthümlich,  besonders 
die  bretonischen  GtoerZj  »un  chant  d'Egliee,  crotsi  par  un  ehant  de  ffuerre«.  Die 
Tonalität  ist  sehr  frei,  chromatische  Färbung  häufig. 

Die  zweite  Gruppe  bilden  anekdotenhafte  und  satirische  Lieder  »/^ 
ffenre  essentiellement  franfaie«,  Tiersot  rechnet  hierher  aUe  übrigen  erzählenden 
Lieder  heiteren  Inhalts.  Complainte  und  Chanson  verhalten  sich  zu  einander  wie 
Trauerspiel  und  Lustspiel;  dort  blutdürstige  Tyrannen,  hier  verliebte  Seigneurs; 
dort  rächende  Heldinnen,  hier  bebänderte  Schäferinnen.  Auch  das  Element  des 
Wunderbaren  zeigt  sich  in  verschiedener  Art;  dort  aus  dem  Grabe  erstehende 
Gespenster,  hier  der  Elfentanz  der  reine  Avriüousey  die  Hochzeit  des  Zaunkönigs, 
Den  Hauptinhalt  der  Chansons  bilden  scherzhafte  Liebesabenteuer.  Dem  franzö- 
sischen Geiste  ist  es  eigenthümlich,  alles  von  der  heiteren,  satirischen  Seite  aufzu- 
fassen; darum  sind  auch  hier  der  betrogene  Liebhaber,  der  überlistete  Ehemann 
die  Hauptfiguren.  Aber  während  in  der  Complainte  Mord  und  Tod  das  Ende  ist, 
macht  man  hier  gute  Miene  zum  bösen  Spiel.  Diese  Lieder  sind  sehr  alt,  mehrere 
Chansons  aus  dem  Jeu  de  Rohin  et  de  Marion,   das  Lied  vom  Sir  Garinsy   die  in 


Julien  Tiersot,  Histoire  de  la  chanson  populaire  en  France.  J33 


den  ältesten  mehrstimmigen  Kompositionen  des  Codex  813  der  Bibl.  nat.  Torkom- 
menden  Tenore,  wie  L<me  le  rieu  de  la  fontaine^  Lieder  aus  dem  Codex  von  Mont 
pellier  u.  a.,  also  Stücke  aus  dem  13.  Jahrhundert  gehören  hierher. 

Zum  Unterschiede  von  der  ComplainU  haben  viele  Chansons  einen  Refrain- 
Die  Melodien  sind  frei,   leicht  und  zeigen  gegenüber  den  oft  in  den  Kirchenton 
arten  und  alterthümlichen  Melodiewendungen  sich  ergehenden  Melodien  der  CW- 
plamte   moderne   symmetrische   Phrasirung    und    entschiedenes   Hervortreten   des 
Durcharakters. 

Mit  dem  Beginne  des  ritterlichen  Gesanges  der  Troubadours  und  Trouv^res 
treten  neue  Elemente  der  Poesie,  die  Freude  an  der  Schönheit  der  Natur,  des 
Naehtigallengesanges,  des  Frühlings,  der  Frauendienst,  die  zarteren  Empfindungen 
der  Minne  in  den  Vordergrund.  Aus  diesen  entwickelt  sich  eine  dritte  Gruppe 
sentimentaler  und  doch  naiver,  volksthümlicher  Lieder,  das  Liebeslied,  die 
ckansan  «Tamour,  unter  ihnen  als  bevorzugte  Gattung  das  Schäferlied,  la  pa- 
stintrelU  mit  typischen  Situationen  und  typischem  Verlaufe  des  Dialogs.  Im  Re- 
naisaaneezeitalter  vergröbert  es  sich,  die  Schäfermusik  und  Schäferpoesie  des  17. 
imd  18.  Jahrhunderts  entfernt  sich  ganz  und  gar  von  der  Naturwahrheit  des  Volks- 
liedes. Auch  das  Liebeslied  des  19.  Jahrhunderts  erreicht  nicht  mehr* die  Naivetät 
des  mittelalterlichen:  »La  satire  est  telUment  au  fand  \de  notre  esprit  national, 
fu'elle  eiend  scn  influenee  jusque  sur  nos  chansons  d'amour.  Rarement  an  trouvera 
une  dSelaratian  d'amour  vraiment  sinch'e  et  sans  arrik'e'pensee,  un  aeeord  ahsolu  de 
deux  eoeurs  qui  s'aimenta  Melodisch  ragt  das  Liebeslied  über  die  |andern  Arten 
des  Volksliedes  empor,  weil  gerade  hier  die  Melodie  unmittelbarer  Ausdruck  des 
Gefühls  Bein  solL  Die  musikalische  Charakterverschiedenheit  einzelner  Landschaften 
zeigt  sich  hier  in  hervorstechendster  Weise.  Die  flandrischen  Lieder  sind  trocken, 
halb  psalmodirend,  durchaus  diatonischen  Charakters.  Die  Picardie  hat  fast^'gar 
keine  Volkslieder;  dagegen  ist  die  Normandie  sehr  reich  daran,  doch  fehlt  ihnen 
allen  ein  idealer  Schwung.  Die  bretagnischen  Gwerz  und  Sonn,  die  letzteren  durch 
das  Vorhandensein  eines  Refrains  sich  von  den  ersteren  unterscheidend,  sind  streng, 
rauh  und  hart.  Die  Lieder  der  westlichen  und  mittleren  Provinzen  sind  farblos- 
eharakteristisohe  Lieder  finden  sieh  nur  dort,  wo  die  Volkssprache  vom  Französi, 
sehen  abweicht:  in  Flandern,  der  Bretagne,  in  den  baskischen  Provinzen,  in  Cor- 
sika,  im  Elsaß,  weniger  schon  in  Bearn  und  in  der  Provence.  Die  Lieder  aus 
Berry,  Bourbonnais  und  Nivernais  sind  etwas  roh,  durch  Klarheit  der  Melodie 
zeichnen  sich  die  Touraine,  Anjou  und  Loire  aus,  durch  eine  »graziöse  Melancholie« 
die  Lieder  aus  den  Gegenden  zwischen  Loire  und  Gironde.  Beinahe  gar  keine 
Lieder  finden  sich  in  Beauce,  Maine,  Brie,  OrUannais;  Tanzlieder,  Complaintes 
und  Chansons,  aber  keine  Liebeslieder  in  Ile-de-France,  der  Champagne,  Lothringen 
und  Burgund,  eine  schöne  Zahl  duftiger  Lieder  liefert  Poitou. 

Die  Lieder  des  Südens  weisen  bewegtere  Formen,  meist  im  ^/g  Takt  auf;  be- 
sonders die  baskischen  fallen  auf  durch  die  in  den  übrigen  Gegenden  selten  vor- 
kommende Chromatik,  durch  die  Unregelmässigkeit  von  Tempus  und  Rhythmus, 
durch  Verzierungen  des  Gesanges.  Noch  freier,  leichter,  heiterer  sind  die  meist 
improvisirten  Aubados  und  Serenados  der  Provence.  Wohl  ist  die  Improvisation 
eine  Eigenthümlichkeit  des  Südens;-  doch  zeigt  es  sich,  [daß  diese  Improvisatoren 
meist  ndt  einer  geringen  Zahl  typisch  feststehender ^Ideen,  nach  bereits  bekannten 
Melodien  arbeiten.  Der  Elsaß  endlich  hat  deutsche  Lieder,  mehr  an  tyrolische 
und  schweizerische  anklingend,  denn  an  französische. 

Als  Tanzlieder  dienen,  wie  aus  Zeugnissen  des  16.  Jahrhunderts  hervorgeht, 
verschiedene  Lieder,  Liebeslieder  sowohl,  als  auch  Complaintes ;  die  Musiker  jener 
Zeit  legten  sich  aber  die  Lieder  auf  ähnliche  Weise  zurecht,  wie  heute  Walzer  und 


134  Kritiken  und  Referate. 


Quadrillen  aus  modernen  Opern  zusammengestellt  werden;  rein  instrumentale  Tana- 
melodien  kommen  fast  gar  nieht  vor.  Der  Charakter  der  Tanzlieder  der  einzelnen 
Provinzen  ist  ein  sehr  verschiedener:  die  bretagnischen  sind  fast  unbekannt;  bei 
den  Basken  ist  der  Zortziko  merkwürdig,  ein  lebhaftes  Tanzlied  in  fQnftheiligem 
Takt,  dessen  Rhythmus  durch  ein  Schlaginstrument  markirt  wird;  in  £.am  tanzt 
man  nur  zur  Flöte  und  zum  Tambourin  ohne  Gesang.  Die  gascognisehe  Tanzmusik 
ist  jedoch  ein  Rondeau  ohne  Instrumentalbegleitung;  die  Provence  hat  ab  Spezia» 
lität  die  Farandole,  die  Auvergne  die  Bourr6e,  von  der  es  zwei  Arten  giebt:  die 
Montagnarde  im  ^/g  und  die  eigentliche  Bourr6e  im  ^4  Takt.  Im  Morvan,  im  Jura 
und  in  Savoyen  hat  man  Tanzlieder  in  ungeradem  Takt,  ähnlich  der  auvergnatisehen 
Bourr^e ;  im  Elsaß  ist  der  Walzer  beliebt.  Sonst  tanzt  man  entweder  die  modernen 
Tänze  oder  die  älteren  Courante,  Rigaudon,  Contredanse  und  den  Branle,  der 
nicht,  wie  Coussemaker  behauptet,  ein  langsamer  Tanz  ist,  sondern  in  raschem 
Tempo  in  geradem  Takt  geht  Das  eigentliche  Tanzlied  ist  la  ronde^  ausnahmsios 
mit  einem  Refrain  versehen,  der  oft  aus  bedeutungslosen  Wörtern  besteht  (onoma- 
topoetischer Refrain).  Mitunter  ist  der  Tanz  selbst  Gegenstand  der  Dichtung  oder 
wenigstens  des  Refrains.  Tänze,  die  über  liturgische  Texte  gesungen  werden,  sind 
manchmal,  wie  z.  B.  in  Flandern,  bei  dem  Begräbniß  eines  jungen  Mädchens,  auch 
religiöse  Ceremonien. 

Pas  Wiegenlied,  dessen  erste  Bedingung  Monotonie  ist,  ist  ein  Triimiph 
der  aus  3 — 4  Tönen  bestehenden  melodischen  Formel.  Die  interessanten  Texte 
sind  bis  nun  noch  wenig  gesammelt. 

Chansons  de  m Stier  überschreibt  Tiersot  die  nächste  Gruppe.  Vielerlei 
ist  hier  zusammengefaßt:  die  tausenderlei  Rufe  der  Großstadt,  [les  cria  de  JPiarü), 
Savoyardenlieder,  Kuhreigen,  Lieder,  die  bei  der  Weinlese,  beim  Dreschen  gesungen 
werden,  Lieder,  mit  denen  sich  die  Spitzenklöpplerinnen,  die  Seidenweber  den  Takt 
geben,  Marsch-,  Wander-,  Schiffer-  und  Fischerlieder,  Rufe,  mit  denen  das  Vieh 
angetrieben  wird  (chaneone  ä  grand  vent,  hridagee).  Die  Rufe,  die  Kuhreigen  sind 
bloße  melodische  Phrasen  ohne  musikalische  Durcharbeitung.  Bei  den  übrigen  ist 
es  der  Rhythmus,  der  die  Arbeit  erleichtert ;  daher  sind  die  Texte  erzählender  Art 
(nur  daB  der  Refrain  mitunter  auf  die  eigentliche  Arbeitsthätigkeit  Bezug  nimmt)» 
der  Rhythmus  dagegen  immer  scharf  charakterisirt.  Tiersot  wundert  sich,  daß 
keine  Lieder  der  Tischler,  Zimmerleute,  Sehmiede  vorhanden  sind  und  weist  dabei 
auf  den  Ambosehor  aus  dem  Troubadour  und  das  Schmiedelied  Siegfried's  hin. 
Von  Müllerliedern  kennt  er  nur  ein  einziges,  Jägerlieder  werden  gar  keine,  Marseh- 
und Wanderlieder  nur  sehr  kurz  erwähnt. 

Soldaten-  und  Kriegs lieder  bilden  eine  eigene  Abtheüung.  Die  ältesten 
sind  Lieder  der  Avanturiers  aus  dem  16.  Jahrhundert,  von  Siegel  und  Schlachten 
erzählend,  gleich  den  ähnlichen  deutschen  Landsknechtsliedem ;  die  meisten  dieser 
Lieder  sind  auf  bereits  bekannte  Melodien  gedichtet.  Neue  Soldatentypen  schaffen 
die  Heere  des  17.  Jährhunderts  und  ihre  Lieder  erklingen  bis  zur  großen  Re- 
volution. Diese  und  das  Kaiserreich  bewirken  eine  dritte  Umgestaltung  des  Soldaten- 
liedes ;  die  Soldaten  der  Revolutionsarmee  singen  keine  anderen  Lieder  als  die  das 
ganzd  Volk  singt:  ^  {7a  tra,  die  Carmagnole,  die  Mareeülaiee.  Das  Kaiserreich 
erzeugt  auch  wehmüthige  Lieder  der  Rekruten.  Das  eigentliche  Soldatenlied  ist 
das  zum  Marschieren,  wenn  Trommeln  und  Trompeten  schweigen,  gesungene  Lied. 
Zum  Theil  sind  es  einfache  Wiederholungen  einer  einzigen  Zeile,  zum  Theil  ist  die 
letzte  Zeile  der  Strophe  gleich  der  ersten  der  folgenden  Strophe,  sodaß  das  Lied  ins 
unendliche  wiederholt  werden  kann.  Auch  den  verschiedenen  militärisch«!  Signalen 
pflegt  der  Soldat  Texte  unterzulegen. 

Lieder  zu  Festlichkeiten   und  Jahreszeiten  hat  es  wohl   immer  und 


Julien  Tiersot,  Histoire  de  la  chanson  populaire  en  France.  ]^35 


aberall  gegeben.  Auch  Frankieich  hat  eine  reiche  Menge  davon :  Lieder  su  Beginn 
des  neuen  Jahres,  die  nach  dem  Namen  des  Festes  mit  altkeltischem  Namen 
Affuillaneufk  genannt  werden;  KoUektenlieder  in  der  Fastenseit  mit  ziemlich  mono- 
tonen Melodioi ;  Lieder  mun  1.  Mai  und  bei  der  Pflanzung  des  Maienbaumes. 

Sehr  zahlreich  sind  die  Lieder  zur  Feier  des  Johannisfestes,  das  unter  ver- 
sdiiedenen  Namen  durch  ganz  Frankreich  gefeiert  wird.  Die  normannischen  und 
lothringischen  Lieder  sind  frisch  und  lebhaft,  im  Süden  wird  um  das  Johannisfeuer 
die  Fazandole  getanzt.  Ein  aus  dem  Mittelalter  herüberreichendes  Fest  ist  das 
Eaelsfest,  eine  burleske  Parodie  gottesdienstlicher  Gebräuche  mit  eigenen  Oes&ngen ; 
einzelne  Landschaften  haben  ihre  besonderen  burlesken  Festzüge,  so  Flandern  das 
Fest  des  Biesen  Meuse,  mit  dem  dabei  gesungenen  Reuzlied.  Auch  die  Ernte  und 
einzelne  Heilige,  wie  St.  Blasius,  St  Martin  haben  ihre  eigenen  Lieder.  Nicht 
alle  Feztseitlieder  haben  darauf  bezügliche  Texte ;  auch  gewöhnliche  Complainten, 
Faarandolen  und  Menuets  erhalten  mit  der  Zeit  eine  nur  für  ein  einzelnes  Fest 
bestimmte  Verwendung,  ohne  daß  der  Text  gerade  eine  solche  begründen  würde, 
sodaß  sie  hier  fast  den  Charakter  und  die  Gültigkeit  einer  bloß  instrumentalen 
Melodie  erhalten.  An  die  Festlieder  im  Verlauf  des  Jahres  schließen  sich  Fest- 
lieder für  den  Verlauf  des  menschlichen  Lebens:  Hochzeits-  und  Trauungslieder 
giebt  es  überall  und  meist  werden  alle  einzelnen  Phasen  der  Hochzeitsfeier  durch 
bestimmte  Lieder  und  Tänze  yerherrlicht.  An  die  Hochzeitslieder  schließen  sich 
Todteor  und  Klagelieder.  Nicht  überall  mehr  werden  an  der  Bahre  volksthümliche 
Lieder  gesungen;  die  bekannteste  Gattung  von  Klageliedern  sind  die  korsischen 
t?oeert,  improvisirte,  praesente  cadavere  abgesungene  Leichen-  und  Lobreden. 

Das  Trinklied  ist  nach  Tiersot  keine  Gattung  des  volksthümlichen  Ge- 
sanges; nieht  einmal  bei  Rabelais  sind^  volksthümliche  Trinklieder  citirt;  man 
singt  zur  Unterhaltung  beim  Trinken  Motetten.  Doch  kommen  Trinklieder  als 
Parodien  geistlicher  Lieder  [Laetabundus,  vinum  b<mum  ei  sttave)  vor.  Die  vaudevires 
Olivier  Basselins  sind  ein  Produkt  der  Kunstpoesie  und  die  von  Adam  Billaud 
dazu  komponirten  Melodien  eines  der  Kunstmusik,  ebenso  die  späteren  Lieder  der 
Tdnk-  und  Singgesellschaften  des  18.  Jahrhunderts. 

Das  Vaudeville  ist  im  Gegensatz  zu  den  bisher  behandelten  Volksliedern 
das  »Volkslied  der  Stadt«.  Der  Zusammenhang  mit  Olivier  Basselins  vaudevir&s 
wird  abgewiesen ;  mit  der  Etymologie  Tiersots  vaudeviüe  »  voix  de  viUe  möchte  ich 
mich  jedoch  nicht  einverstanden  erklären.  Nach  den  Citaten  bei  Tiersot  erscheint 
das  Wort  am  firühesten  in  folgenden  Formen  und  Verbindungen: 

1579  Chavtsons  ei  voix  de  vÜU, 

1579  vaudeoiäe, 

1576  cAofWOfw  en  forme  de  Vaux-de-vüle, 

1561  C^ofwoyi«  ei  voix  de  tnüe, 

1560   Vaudeuiles  ei  chansons. 

1507  phmeure  chansons,  iani  de  musique  que  de  vaul  de  ville. 
Diese  letztere  Form,  die  auch  in  der  Lesart  von  1560  unverkennbar  enthalten  ist, 
weist  auf  ein  spätlateinisches  vdUus,  italienisch  vaglio,  statt  vantdust  ein  Deminutiv 
von  vwmus^  Futterschwinge,  hin.  Der  Übergang  von  vullus  in  vatU  wäre  zu  er- 
klären wie  der  von  Oallia  in  Gaule,  saltx  in  saule,  iaipa  in  iaupe,  Damach  müßte 
MM^  de  piUe  bedeuten  »das  in  der  Stadt  Aufgelesene,  Gesammelte«  im  Gegensatze 
zur  viäaneUa,  dem  Dorflied.  Aus  dem  Citat  von  1507  scheint  auch  hervorzugehen, 
daß  vaul  de  vüle  eigentlich  den  Text  im  Gegensatze  zur  Musik  bezeiehnen  soll. 
Das  Vaudeviüe  unterscheidet  sich  von  den  übrigen  Volksliedern  dadurch,  daß  zu 
einer  bekannten  Melodie  ein  neuer  Text  gesungen  wird,  ein  Verfahren,  welches 
durch  die  Bezeichnungen  Modus  OiHnc,  modus  Liebine  u.s.w.  schon  für  das  10.  Jahr- 


J36  Kritiken  und  Referate. 


hundert  belegt  ist.  Diese  ältere  Melodie,  nach  welcher  der  neue  Text  gesungen 
werden  soll,  heißt  timbre.  Die  timbre$  werden  aber  nicht  dem  langathmigen, 
schwerfälligen  Provinzliede  entnonunen,  es  sind  vielmehr  kurze  lebhafte  politische 
Lieder,  vorzüglich  aber  Tanzlieder  und  Opemmelodien.  Das  Vaudeviüe  dringt 
gegen  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  auch  auf  die  Bühne  und  die  mit  derartigen 
Liedern  ausgestatteten  Possen  und  Lustspiele  erhalten  endlich  selbst  den  Namen 
Vaudeviüe. 

Die  Weihnachtslieder,  die  eigentlich  unter  den  Liedern  zu  den  Fest- 
zeiten ihren  Platz  hätten  finden  sollen,  haben  hier  ein  gesondertes  KapiteL  Sie 
waren  früher  viel  zahlreicher;  in  eigentlicher  Übung  sind  sie  heute  fast  nur  mehr 
in  der  Provence  und  in  der  Qascogpie.  Ihre  Form  ist  oft  ein  Dialog  zwischen  den 
Hirten  und  Engeln,  auch  Verkleidungen  der  singenden  Personen  kommen  dabei 
vor,  sodaß  das  Gbtnze  einen  halbdramatisohen  Anstrich  bekommt,  wie  die  Gesänge 
zum  Narren-  und  Eselsfest  des  Mittelalters.  Musikalisch  gehören  die  Weihnachts- 
lieder zu  den  Vaudeviüea,  denn  auch  sie  werden  über  Melodien  weltlicher  Lieder 
gesungen. 

Das  letzte  Kapitel  bilden  religiöse  und  nationale  Volkslieder.  Zu 
den  religiösen  Liedern  rechnet  Tiersot  auch  volksthümliche  Gebete  und  Gedichte, 
welche  nicht  gesungen,  sondern  nur  psalmodirend  gesprochen  werden.  Außerdem 
giebt  es  religiöse  Lieder  mit  timbres  von  weltlichen  Liedern.  Endlich  besitzen 
auch  die  meisten  Provinzen  besondere  Lieder  im  Lokaldialekt,  die  Lokalheiligen 
feiernd.  Die  Melodien  sind  verschiedenartig;  die  Bearner  in  großartigem,  feier- 
lichem Stil,  die  Flandrischen  alltäglich  und  von  weltlichen  Liedern  nicht  verschieden; 
die  schönsten  sind  die  Bretonischen. 

Die  protestantischen  Kirchenlieder  haben  ihren  Ursprung  in  Marofs  Psalmen- 
übersetzung. Auch  diese  werden  vaudevilleartig  anfangs  über  weltliche  Lieder 
und  Tänze  gesungen.  Goudimel  hat  diese  Melodien,  die  übrigens  in  ihrer  Kraft 
und  Schönheit  an  das  protestantische  Kirchenlied  der  Reformationszeit  hinanreichen, 
nur  harmonisirt. 

Bei  der  Frage,  ob  es  patriotische  und  nationale  Volkslieder  gebe,  kommt  die 
Untersuchung  zu  dem  Resultat,  daß  nicht  einmal  »Vive  Henri  IV»,  das  Losungs- 
wort des  französischen  Königthums,  die  offizielle  Nationalhymne  der  Restauration, 
ein  musikalisch  selbständiges  Produkt  ist,  sondern  eine  Chanson  de  la  Cassandre, 
ein  Lied  des  16.  Jahrhunderts,  zum  timbre  hat.  Auch  die  Lieder  der  Revolution 
haben  ähnlichen  Ursprung.  (7a  ira  ist  ein  vtmdeviüe,  dont  la  milodie  mime  4iait 
tomhSe  des  fenStres  des  Tuileries,  die  Carmagnole  ist  ein  Tanzlied«  Das  einzig 
wirklich  nationale  Volkslied  ist  die  Marseillaise,  denn  hier  hat  Rouget  de  Lisle 
wie  ein  alter  Volksdichter  der  allgemeinen  Stimmung  des  Volkes  gültigen  Ausdruck 
im  Text  verliehen  und  auch  die  Melodie  aus  bekannten  und  beliebten  volksthüm- 
liehen  melodischen  Phrasen  zusammengesetzt. 

Der  zweite  Haupttheil  des  Werkes  beschäftigt  sich  mit  der  musikalischen 
Seite  des  Volksliedes.  Voran  geht  eine  Charakteristik  der  antiken,  mittelalterlichen 
und  modernen  Tonarten,  wobei  als  characteristisches  Merkmal  der  modernen  Ton- 
arten der  Tritonus  von  der  4.  zur  7.  Stufe  und  der  Melodieschluß  auf  dem  Grundtone 
erklärt  wird.  Eine  Umwandlung  der  mittelalterlichen  Kirchentöne  im  modernen 
Sinne  erfolgte  durch  die  allmähliche  Einführung  des  £  rotundum  in  dem  5.  und 
6.,  durch  die  Erhöhung  des  F  im  7.  und  8.  Kirchenton.  Werden  auch  diese 
Veränderungen  nicht  immer  durch  die  Schrift  angezeigt,  so  waren  sie  in  der  Praxis 
gewiß  in  Übung.  Durch  diese  Umänderungen  aber  wurde,  wenngleich  mittel- 
alterliche Schriftsteller  dagegen  als  gegen  Entstellungen  der  echten  Lehre  eiferten, 
der  dem  nationalen  Geschmacke  entsprechenden  DurtonsAität  zum  Siege  verholfen. 


Julien  Tiersot,  Histoire  de  la  chanson  populaire  en  France.  ^37 

Schon  im  13.  Jahrhundert  zeigt  sieh  in  Troubadourliedem  das  Überwiegen  der 
DuTtonart;  eine  Untersuchung  der  modernen  Volksliedersammlungen  ergiebt  das 
Resultat,  daß  beiläufig  iwei  Drittel  aller  Volkslieder  in  Dur  gehen.  Woher  diese 
eigenartige  Erscheinung? 

Tiersot  glaubt  die  Ursache  in  dem  Einfluß  der  Ragenversohiedenheit  su 
erkennen,  sodaß  die  keltisch-germanische  Durtonalität  schließlich  die  romanische 
Moütonalität  —  wozu  auch  die  mittelalterlichen  Kirchentonarten  zu  rechnen  sind  — 
▼exdr&ngt  habe.  Wshrend  henrorragende  Theoretiker  die  moderne  Tonalit&t  als 
Produkt  der  Harmonie  auffaßten,  sei  es  jetzt  klar,  daß  diese  schon  lange  in  der 
bloßen  Melodie  bestand,  während  die  aus  dem  caniua  planus  entwickelte  Harmonie 
im  Gegentheil  dem  modernen  Geschmack  durchaus  nicht  entsprochen  habe. 

Der  leitende  Halbton  in  Moll  hat  ebenfalls  schon  vor  der  Harmonie  existirt, 
ist  also  ein  melodisches  Charakteristikon  des  modernen  Moll.  Auch  in  dieser 
Tonart  sind  eine  Menge  Lieder  verfaßt.  Schwierig  sind  die  Untersuchungen  jener 
Tonarten,  wo  der  Leitton  ein  Ganzton  ist  oder  wo  auf  der  siebenten  Stufe  ab- 
wechselnd ein  Ganzton  und  ein  Halbton  auftreten.  Hierher  gehören  zwei  dem 
MoUgeschleehte  angehörige  Kirchentonarten,  der  erste  plagale  und  der  erste 
authentiache  (hypodorische  und  lokrische  ^)  Ton,  beide  mit  kleiner  Septime,  jedoch 
dadnreh  Yon  einander  unterschieden,  daß  der  erstere  eine  kleine,  der  andere  eine 
große  Sexte  enthält.  Beide  werden  häufig  angewendet;  den  hypodorischen  Ton 
findet  man  in  geistlichen  und  weltlichen  Liedern,  in  schriftlich  aufgezeichneten 
und  bloß  durch  die  Tradition  überlieferten  Liedern.  Von  den  als  Beispiel  ange- 
fahrten Liedern  sind  jedoch  L'autrier  S.  62  und  DeUa  la  rivüre  S.  131  zumindest 
zweifelhaft,  da  sie,  indem  die  Melodie  nicht  bis  in  die  Sexte  hinaufgeht,  eben  so 
gut  dem  ersten  wie  dem  zweiten  Kirchenton  angehören  können.  Je  suis  trop  jeunette 
S.  64  gehört  jedoch  wegen  der  großen  Sexte  unzweifelhaft  dem  ersten  Kirohenton 
an.  Dieser  erste  Kirchenton  entspricht  der  griechischen  Lokrisiit  die  im  Alterthum 
wenig  gebraucht  war.  Tiersot  ist  daher  geneigt,  sie  ebenfalls  wie  das  ganze  Dur- 
gesehlecht  für  ein  Produkt  der  im  Mittelalter  neu  auftretenden  Völker  zu  halten. 
Auch  diese  Tonart  ist  im  Volksliede  sehr  beliebt.  Nach  einer  statistischen  Zu- 
sunmenateUung  findet  Tiersot  unter  1389  Volksliedern  843  in  Dur,  378  in  Moll 
(197  modernes  MoU,  117  hypodorisch,  62  im  ersten  Kirchenton,  2  zweifelhafte). 
Die  beiden  antiken  Durtonarten,  die  Hypolydisti  und  die  Jasti  sind  im  Volkslied 
nur  spärlich  yertreten.  Eine  weitere  Eigenthümlichkeit  der  antiken  Melopoeie,  der 
Schluß  auf  der  Mediante  oder  Dominante,  übt  auf  die  Tonalität  des  Volksliedes 
keinen  Einfluß,  solche  Schlüsse  kommen  manchmal  vor,  auch  einigemal  Schlüsse 
auf  der  zweiten  Stufe  der  Tonleiter,  doch  ist  dies  immer  schwierig  zu  erkennen 
und  zu  imterscheiden.  Was  die  Frage  nach  der  Einheit  der  Tonalität  betrifft,  so 
kommt  mitunter  eine  Ausweichung  in  eine  andere  Tonart  vor;  meist  bei  Dur- 
melodien in  die  Oberdominante.  In  Liedern,  welche  Einfluß  moderner  Kunstmusik 
Terrathen,  kommen  auch  regelrechte  Halbschlüsse  vor.  Chromatische  Färbungen 
der  Melodie,  besonders  der  Terz  und  der  Sext,  sehr  selten  der  Quarte,  sind  häufiger 
in  Moll-  als  in  Durmelodien  yorzufinden.  Das  Resultat  der  sehwierigen  Unter- 
suchungen dieses  Kapitels  faßt  Tiersot  folgendermaßen  zusammen: 

1)  Die  Melodien  der  französischen  Volkslieder  sind  der  großen  Mehrzahl  nach 
im  Geiste  der  modernen  Tonalität  erfaßt,  die  aus  dem  Volksliede  ihren  ersten 
Ursprung  hat  und  in  ihm  zum  ersten  Mal  angewendet  wird. 

2)  Doch  finden  sich  auch  antike  und  mittelalterliche  Tonarten  in  ihnen  vertreten. 

3)  Die  typische  Form  der  Melodie  ist  Dur. 

t  Tiersot  wendet  diete  Bezeichnung  durchaus  im  antik-griechischen  Sinne  an. 


J3S  Kritiken  und  Referate. 


4)  Chromatische  Färbungen  der  Ters,  Sext  und  Sept,  sehr  selten  der  Qnarte 
sind  gestattet. 

5)  Der  Schluß  der  Melodie  kann  auch  auf  der  fünften  und  sweiten,  manehmal 
auf  der  dritten  und  sogar  auch  auf  der  vierten  Stufe  der  Tonleiter  stattfinden, 
ohne  die  Tonalitftt  zu  beeinflussen. 

In  rhythmischer  Beisiehung  ist  die  Melodie  vom  Texte  al^ftngig.  Alle  Tolks- 
thümlichen  Lieder  haben  Strophenform.  Die  einfachsten  Strophen  sind  jene,  die 
nur  aus  einer  Verszeile  (richtiger  aus  zwei  gleichen  Verszeilen},  oder  die  aus  einer 
8-  und  einer  6  silbigen  Verszeile  bestehen.  Die  melodische  Formung  besteht  darin* 
daß  die  Melodie  der  ersten  Verszeile  die  Protasis,  die  der  andern  die  Apodosis 
einer  musikalischen  Periode  enthfilt  Dreizeilige  Strophen  findet  man  außer  den 
bretonisohen  Qwerz  selten,  vierzeilige  sehr  h&ufig,  seohszeilige  Strophen  sind  die 
Lieblingsform  der  Complainten.  Li  den  einzeiligen  Strophen  ist  die  melodische 
Form  ABGA  eine  häufig  gebrauchte  alte  Form;  die  sechszeiligen  bestehen  zumeisC 
aus  drei  musikalischen  Perioden,  die  in  den  Formen  ABC,  ABA  und  ABB  anein- 
einander  gereiht  sind.  Achtzeilige  Strophen  kommen  im  eigentlich  französischen 
Volkslied  fast  gar  nicht,  nur  in  den.  fremdsprachigen  Landschaften  (Bretagne,  Baa- 
kenland,  Beam,  Elsaß)  vor,  ihre  musikalische  Form  ist  sehr  mannigfaltig.  Wieder- 
holungen einzelner  Verse  bedingen  auch  die  Wiederholungen  der  melodischen 
Phrase ;  hat  die  Melodie  der  Strophe  mehr  musikaüsche  Kola  als  der  Text  metrisehey 
so  wird  wohl  auch  eine  Verszeile  auf  zwei  verschiedene  Kola  repetirt.  Weehsel 
der  Melodie  ftlr  verschiedene  Strophen  kommt  nur  ausnahmsweise  vor,  ist  aber 
immer  von  großer  Wirkung.  Der  Refrain  hat  meist  eine  besondere,  bemerkens* 
werthe  Melodie;  steht  er,  was  nicht  immer  der  Fall,  am  Ende  der  Strophe,  so 
reicht  sein  Maß  mitunter  über  das  der  eigentlichen  Strophe  hinaus.  Der  Refrain 
nach  dem  Couplet  ist  so  ziemlich  das  einzige,  was  das  Vaudeville  mit  dem  Volks- 
lied gemein  hat;  der  Gegensatz  von  Soli  und  Tutti  ist  im  Volkslied  nicht  über^ 
sehen.  Der  Chor  singt  aber  nicht  nur  den  Refrain,  sondern  vielmehr  die  letzten 
Melodiephrasen;  in  manchen  F&Uen,  wie  z.  B.  bei  einem  Matrosenlied  wechseln 
der  Vorsänger  und  der  Chor  ab.  Gerade  Taktarten  sind  nicht  noihwendig ;  ^4»  Vs* 
s/s  und  besonders  ^1%  sind  die  beliebtesten  Taktarten;  es  wechseln  ^/s  und  ^g;  einmal 
kommen  auch  fünffüßige  Takte  vor;  der  fünftheilige  Takt  ist  sogar  Regel  beim 
baskischen  Zortziko.  Sogar  zum  siebentheiligen  Takt  giebt  es  ein  Beispiel  aus  der 
Bretagne.  Gewisse  ländliehe  Rufe,  Schäferrufe  und  selbst  sehr  alte  Complainlen 
haben  gar  keinen  Rhythmus,  sie  sind  einfach  zu  deklamiren. 

Die  Prosodik  ist  mitunter  sehr  frei ;  es  kommen  hoehtonige  Silben  auf  schwache 
Takttheile  und  umgekehrt.  Das  Volkslied  weiß  sich  jedoch  in  den  folgenden 
Strophen  durch  Auftakte,  leichte  Änderungen  der  Melodie  u..dgL  zu  helfen.  Auch 
Verzierungen  kennt  der  Volksgesang;  Ritardandos  am  Schlüsse  der  Strophe,  Me- 
Usmen  und  Coloraturen,  Vorschläge,  Mordente,  ja  sogar  Triller.  Sie  alle  werden 
erst  während  des  Vortrages,  nach  Bedarf  und  Belieben  improvisirt. 

Nun  ist  die  Untersuchung  soweit  gediehen,  daß  die  Frage  nach  dem  Ursprung 
und  der  Entwicklung  des  Volksliedes  aufjgeworfen  werden  dsürf .  Das  Volkslied  ist 
jene  lyrische  Form,  die  dem  intellektueUen  Stande  der  großen  Masse  des  Volkes 
entspricht.  Bis  zum  16.  Jahrhundert  bildete  das  ganze  Volk  eine  ungebrochene 
Einheit,  von  dieser  Zeit  an  scheidet  sich  der  gebildete,  gelehrte  Stand  von  dem 
»Volke«.  Noch  im  16.  Jahrhundert  tanzt  man  bei  Hofe  zu  Volksliedern;  seither 
erscheint  den  gebildeten  Ständen  die  Kunstmusik  allein  angemessen  und  das  Volks- 
lied bleibt  auf  die  ungelehrten  Kreise  beschränkt  Das  Volkslied  ist  zwar  immer 
Schöpfung  eines  Einzelnen.  Dieser  Einzelne  aber  und  sein  Werk  gehen,  weü  die 
von  ihm  ausgesprochenen  Empfindungen  nicht  individuelle,    subjektive,  sondern 


Julien  Tiersot)  Histoire  de  la  ohanson  populaire  en  France.  j  39 


9oIehe  sind,  die  der  gesammten  Allgemeinstimmung  und  Empfindung  des  ganzen 
Volkes  eigen,  in  der  Allgemeinheit  unter.  Keltische  Barden  und  germanische 
Sfinger  waren  wohl  die  ersten  dieser  yolksthüml^hen  Dichter,  deren  Werke  durch 
mündliche  Tradition  sich  fortpflanzen.  Bis  jetzt  aber  sind,  wenngleich  nur  mehr 
Terlüütnißmäßig  schwache  Triebe  der  Fortentwicklung,  lebendig.  So  lebte  in  der 
Bretagne  noch  im  jetzigen  Jahrhundert  ein  Weber,  Namens  K^rambrun,  der  durch 
die  Ton  ihm  gedichteten  Lieder  berOhmt  war;  so  werden  bis  heute  zu  den  alten 
liedem  noeh  immer  neue  Strophen  hinzugedichtet.  Auch  die  auf  die  freie  schöpfe- 
rische Thfttigkeit  des  Augenblicks  angewiesenen  Improvisationen  der  Bretagne,  die 
baskisefaen  und  proyen9alischen  Serenaden,  die  corsisohen  voceri  zeigen,  daß  die 
dichterische  fijraft  im  Volke  noch  nicht  erloschen  ist  Freilich  ergiebt  sich  daraus 
auch  eine  nach  Zeit  und  Art  sehr  verschiedene  Beweglichkeit  des  Volksliedes,  die 
sich  nicht  nur  in  Veränderungen  der  Texte,  sondern  noch  viel  mehr  in  zahllosen 
Varianten  der  Melodie  offenbart. 

Die  Gemeinsamkeit  gewisser  Typen  des  Volksliedes  ließe  auf  gemeinsamen 
ÜTsprung  noch  vor  der  Trennung  des  arischen  Urvolkes  sehUeßen.  Eine  Recon- 
stroktion  dieser  Urvolkslieder  ist  natürlich  wegen  der  vielen  Wandlungen,  die  sie 
erlitten  haben,  unmöglich;  doch  lassen  sich  gewisse  charakteristische  Züge  immer 
feststellen.  Wenn  man  nun  den  ganz  eigenthümlichen  Charakter  der  bretagnisohen 
Lieder  betrachtet,  so  sollte  man  erwarten,  daß  sie  als  Zweige  des  gemeinsamen 
Stammes  mit  andern  keltischen  Liedem,  mit  waUisisohen,  schottischen,  irischen 
Übereinstimmung  zeigten;  sie  findet  sich  aber  in  weit  geringerem  Maaße  als  man 
erwartet.  Es  ist  also  das  Volkslied  autochthon,  nicht  anders  woher  einge- 
wandert. Nach  dem  unterschiedenen  Charakter  der  Volkslieder  lassen  sich,  gemäß 
den  drei  Faktoren,  die  auf  die  Bildung  der  französischen  Nationalität  eingewirkt 
haben,  auch  drei  entsprechende  Entwicklungsstadien  des  französischen  Volksliedes 
unterscheiden : 

1.  Die  der  keltischen  Urbevölkerung  entstammenden  Lieder,  die  breto- 
nischen Lieder  und  die  chansons  ä  grand  vent  mit  kurzen  noch  ungegliederten  me- 
lodiechen Phrasen  und  eigenthümlicher  Chromatik. 

2.  Die  unter  dem  Einfluß  des  Kömerthums,  des  Provinziallateins  und  der 
ersten  christlichen  Jahrhunderte  entstandenen  mSlodies  romoMs,  die  in  den  Hym- 
nen und  Flposen  des  9.  Jahrhunderts  ihre  Spuren  hinterlassen  haben  —  auch  im 
Umm  peregrinus  der  kirchlichen  Psalmodie  will  Tiersot  Spuren  volksthümlichen 
l^nflusses  erkennen  —  einförmig  rhythmisirt,  psalmodisch  melodisirend,  mit  gleich- 
langen  Verszeilen  ohne  Refrain:  die  Complainten  und  der  größte  Theil  der  nar- 
rativen  Poesie. 

3.  Die  nach  Festsetzung  der  französischen  Sprache  entstandenen  duuuons  und 
rmmmees,  die  eigentlich  charakteristischen  firanzösisohen  Volkslieder  mit  klarer, 
fiEiseher  Melodie  und  Rhyüunisirung,  mit  durchbrechender  Durtonalität,  Strophen 
mit  Refrains:  anekdotische  und  Tanzlieder.  Im  13.  Jahrhundert  steht  diese  Form 
sehon  fest;  was  Adam  de  la  Halle  im  Jeu  de  Robin  et  Marion  bietet,  sind  nicht 
snne  Kompositionen,  sondern  ältere,  von  ihm  aufgenommene  Volkslieder. 

Erst  mit  dem  17.  Jahrhundert  tritt  das  Volkslied  in  den  Ejreis  der  litera^ 
rissen  Beachtung;  das  ist  aber  schon  die  Zeit  des  Niederganges.  Die  schöpfe« 
ris^e  Kraft  des  Volkes  ist  erlahmt,  es  werden  nur  mehr  unter  dem  Einflüsse  der 
Städte  zu  alten  Melodien  neue  Texte  gemacht,  neue  musikalische  Formen  ent- 
stehen nieht  mehr ;  das  Vaudeville,  die  letzte  Entwicklungsstufe  des  Volksliedes, 
dringt  aus  den  Städten  auf  das  Land  und  damit  ist  die  musikalische  Entwicklung 
des  Volksliedes  abgeschlossen. 

Der  dritte  Haupttheil  des  Werkes  untersucht,  welchen  Einfluß  das  Volkslied 


I  ^2  Kritiken  und  Referate. 


Melodie  tritt  im  Sopran  auf  und  damit  hat  der  alte  Kontrapunkt  sein  Ende 
erreicht. 

Die  letBte  große  Umwälzung  erfährt  die  Musik  durch  die  Oper.  Schon  die 
ältesten  liturgischen  Dramen,  die  Mysterien,  weltliche  Komödien,  wie  der  Jtu  de 
Hohin  et  de  Marion  verwenden  weltliche  Lieder ;  auch  in  den  dramatischen  Werken 
des  16.  und  17.  Jahrhunderts  werden,  wo  Gesang  eintritt,  nur  Volkslieder  Ter- 
wendet;  seit  dem  Auftreten  LuUy's  aber,  seit  der  Entwicklung  der  kunstmäßigen 
Opemmusik  schwindet  jede  Spur  des  Volksliedes.  Die  zarten,  gefälligen  Melodien 
Rameaus  Üben  einen  gewissen  Einfluß  auf  das  Volkslied  seiner  Zeit  aus,  werden 
aber  davon  nicht  beeinflußt;  er  knüpft  nicht  an  die  alten  Überlieferangen  an,  er 
ist  durchaus  modern.  Erst  1754  kommt  in  einer  Oper  Mondonvilles  »Daphnie  et 
Aleinutd&ureti  eine  wirkliche  Volksmelodie,  eine  proven9ali8che  Pastourelle,  zum 
ersten  Male  auf  die  Bühne  und  Rousseau  ist  es,  der  mit  seinem  graziösen  Geiste 
den  Ton  des  Volksliedes  wiedergefunden  hat.  Gluck  und  seine  ganze  Schule  ver- 
wenden das  Volkslied  nicht  und  erst  die  nationale  Bewegung  der  Revolution  übt 
ihren  Einfluß  auch  auf  das  Theater  aus. 

Reichlicher  fließt  die  Quelle  des  Volksliedes  in  der  komisehen  Oper.  Eigentlich 
ist  der  Jeu  de  Mohin  et  Marion  das  älteste  Werk  dieser  Gattung;  auch  die  Fewcee 
des  16.  und  17.  Jahrhunderts  enthalten  nur  Volkslieder,  und  was  sich  seit  dem 
Anfang  des  18.  Jahrhunderts  als  komische  Oper  zu  entwickeln  beginnt,  besteht 
seinem  musikalischen  Theile  nach,  fast  ausschließlich  aus  Gesängen,  die  auf  Timbres 
von  Volksliedern  gesungen  werden ;  langsam  nur  wagen  es  die  Zusammensteller 
dieser  komischen  Opern  —  Komponisten  kann  man  noch  nicht  sagen  —  einzelne 
Stücke  eigener  Erfindung  hinzuzufügen.  Erst  mit  Monsigny  und  Philidor  beginnen 
wirklich  komponirte  komische  Opern;  aber  auch  diese  tragen  dem  Charakter  des 
Volksliedes  durch  Anklänge  an  die  alten  volksthümlichen  Tonarten  Rechnung. 
Später  werden  dann  die  Opernarien  selbst  Timbres  von  Vaudevilles. 

Es  ist  ein  prächtiges  Werk,  welches  uns  hier  dargeboten  ist.  Man  muß  nicht 
nur  den  eisernen  Fleiß  und  die  staunenswerthe  Belesenheit  bewundem,  mit  welcher 
dem  Verfasser  das  ungeheuere  Material  aller  Zeiten  zur  Verfügung  steht,  und 
welches  er  mit  Sicherheit  beherrscht;  doppelt  erfreulich  ist  es  auch  zu  sehen,  daß 
der  Verfasser,  obwohl  Franzose,  von  jeder  nationalen  Engherzigkeit  frei  und  mit 
den  Werken  deutscher  Kunst  nicht  nur  vollständig  vertraut  ist,  sondern  ihnen 
auch  die  gebührende  Werthschätzung  zu  Theil  werden  läßt. 

Der  größte  Vorzug  des  Buches  liegt  indessen  noch  wo  anders.  Es  ist  die 
konsequente  Methodik  der  Untersuchung,  die  in  streng  genetischer  Weise  die  historisehe 
Entwicklung  darlegt.  Dadurch  gewinnen  die  neuen  und  überraschenden  Resultate 
über  den  Zusammenhang  der  Stilverschiedenheit  des  Volksliedes  mit  ethnischen 
Verschiedenheiten,  über  den  Ursprung  des  Volksliedes  einen  hohen  Grad  von  Glaub- 
würdigkeit. Es  giebt  nicht  viel  musikhistorische  Werke,  die  mit  einem  gleichen 
Grade  von  historischem  Sinn  geschrieben  sind.  Möge  das  deutsche  Volkslied  bald 
gleicher  Untersuchungen  durch  einen  gleich  gewissenhaften,  geschulten  und  zu  ver- 
läßigen Geschichtschreiber  theilhaftig  werden. 

Kremsier.  Oswald  Koller. 


Herbert  Spencer,  The  origin  of  Music.  Mind,  Okt.  1 890.  S.  449—468. 

Spencer  bekämpft  zuerst  die  Darwin'sche  Lehre  vom  Ursprung  der  Musik 
aus  der  Liebeswerbung  der  Thiere.  Vögel  singen  auch  bei  anderen  Gelegenheiten 
und  aus  anderen  Motiven.  Singen  und  Liebeswerbung  stehen  nicht  im  Kausal- 
verhältniß,  sondern  sind  Wirkungen  einer  gemeinsamen  Ursache,  des  Überschusses 


Herbert  Spencer,  The  Origin  of  Music.  J  43 


an  Lebenskraft.  Die  den  Menschen  sunächststehenden  höheren  Thiere  singen  nicht. 
Unter  den  Liedern  der  Wilden  finden  sich  verh&ltnißmäßig  wenig  Liebeslieder 
und  keines,  welches  auf  den  Zweck  der  Liebeswerbung  yon  Seiten  des  Mannes  zu 
deuten  wäre.  Die  Gründe  scheinen  mir  im  Ganzen  treffend,  aber  nicht  ganz  neu. 
Sodann  vertheidigt  Sp.  seine  eigene  bekannte  (übrigens  auch  keineswegs  originale) 
Theorie,  den  Ursprung  des  Singens  aus  erregtem  Sprechen,  gegen  Gumej,  dem 
er  ungenügende  Kenntniß  der  allgemeinen  Entwickelungsgesetze  Torwirft.  Dafür 
Terstand  sich  aber  Gumey  besser  auf  die  Musik.  Sp.  ignorirt  immer  noch  den 
Hauptpunkt,  daß  Musik  im  engeren  Sinne  auf  die  Verwandtschaftsverhältnisse  der 
Töne  gegründet  ist.  Bei  allen  Ähnlichkeiten  und  Wechselwirkungen  zwischen 
Singen  und  Sprechen  bildet  dieser  Umstand  eine  scharfe  Grenze.  Dann  geht  Sp. 
auf  die  Gründe  des  musikalischen  Vergnügens  näher  ein  und  findet  selbst,  daß 
wesentliche  Züge  der  entwickelten  Musik  aus  seiner  Hypothese  nicht  ableitbar 
sind.  Was  er  hier  vorbringt,  hätte  er  bei  Sully  (Sensation  und  LituitionJ  viel 
besser  durchgeführt  finden  können.  Natürlich  kennt  er  um  so  weniger  meine  aus- 
führliehe Studie  über  ihn  selbst,  Darwin,  Sully  und  Gumey^  Er  schließt  mit  Ci- 
taten  begeisterter  Schilderungen  der  Zigeunermusik,  welche,  wie  er  meint,  jedes 
weitere  Argument  für  seine  Theorie  überflüssigmachen.  »The  origin  of  mime  as 
ihe  developed  language  of  emotion  seems  to  he  no  longer  an  inferenee  hut  simply  a 
deteription  of  tke  faetA  Welcher  Schnitzer !  Langtuige  of  emotion  und  emotional 
language  ist  doch  zweierlei.  Für  die  alte  Trivialität,  daß  die  Musik  Sprache  des 
Gefühls  ist,  bedurfte  es  keiner  seitenlangen  Citate  aus  Reisewerken ;  etwas  anderes 
wird  aber  wirklich  nicht  dadurch  bewiesen. 

München«  G.  Stumpf.^ 


1  Vierteljahrsschrift  für  Musikwissenschaft,  1885,  S.  261—349. 

2  Aus  der  Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologe  der  Sinnesorgane.  Heraus- 
geben von  H.  Ebbinghaus  und  A  König.  Hamburg  und  JLeipzig,  Leopold  Voss.  1890. 


Adressen  der  Heraasgeber: 

Professor  Dr.  Spitta,  d.  Z.  geschäftsführender  Herausgeber,  Berlin^  W. 
Burggrafenstraße  10;  Dr.  Friedrich  Chrysander,  Bergedorf  bei  Hamburg; 
Professor  Dr.  Ghiido  Adler,  Prag,  Weinberge,  Celakoyskygasse  15. 


J.  P.  Sweelinck  imd  seine  direkten  deutschen 

Schüler. 


Von 

Max  Seiffert. 


Die  Entwickelung  der  deutschen  Orgelmusik  im  17.  Jahrh.  voll*- 
lOg  sich  in  dxei  Schulen:  der  süd*,  mittel-  und  norddeutschen. 
Diese  äußerliche  Eintheilung  findet  ihre  Berechtigung  darin,  daß  jene, 
veischiedenen ,  nichtdeutschen  Einflüssen  nachgebend,  in  sich  be* 
sondere  Eigenthümlichkeiten  der  Spieltechnik,  der  Formen  und  des 
Stils  ausbildeten,  welche  als  charakteristische  Merkmale  der  einzelnen 
Schalen  bestehen  blieben.  Dabei  strebte  aber  jede  Richtung  nicht 
in  starrer  Abgeschlossenheit  gegen  die  anderen  ihren  Zielen  nach, 
sondern  stand  vielmehr  mit  ihnen  in  regem  Verkehr.  Wo  immer 
gioBe  Meister  des  Oi^elspiels  auftraten,  welche  ihrer  Kunst  einen 
besonderen  Aufschwung  gaben,  dahin  strömten  von  allen  Seiten 
Schüler  herbei.  Sie  trugen  die  neuen  Errungenschaften  in  die  Hei- 
math zurück  und  förderten  ihrerseits  wieder  neue,  fruchtbare  Ideen 
zur  Reife.  Fast  gleichmäßig,  oder  nur  um  eine  Wellenhöhe  difFe- 
ri^end  stieg  so  das  Niveau  der  verschiedenen  Kunstrichtungen,  bis 
sie  endlich  im  18.  Jahrh.  den  Gipfel  erreichten,  auf  welchem  sie 
Joh.  Seb.  Bach  mit  umfassendem  Blick  zur  höchsten  künstlerischen 
Potenz  vereinigte. 

Von  der  Aufgabe  nun,  deren  Erfüllung  die  Musikgeschichte  zu 
Teilangen  hat,  nämlich  jene  Strömungen  in  ihrem  ganzen  Verlaufe 
SU  verfolgen,  das  dichte,  oft  bunte  Gewebe  von  Beziehungen  aufzu- 
decken und  die  mannigfachen  Verkettungen  in  die  einzelnen  Be- 
standtheile  au&ulöseh  —  davon  ist  bis  jetzt  nur  ein  Theil  geleistet. 
Es  fehlt  vor  allem  noch  das  Wichtigste,  die  Grundlage.  Wegen  der 
Unzugänglichkeit  der  Quellen  besitzen  wir  noch  keine  zusammen- 
hängende Darstellung  der  Anfänge  und  der  weiteren  Entwickelung 
des  italienischen  Orgelspiels,  welches  von  jeher  auf  die  süddeutsche 
Richtung  einen    bedeutenden  Einfluß  ausübte.     In   derselben  Lage 

1891.  *^ 


j^g  Max  Seifert, 


befinden  wir  uns  der  englischen  Viiginalmusik  gegenüber,  deren 
ganze  Technik  von  den  Niederländern  acceptiert  und  nach  Nord- 
deutschland weitergeleitet  wurde.  Als  eine  Folge  dieses  Mangels  ist 
es  anzusehen,  daß  eine  jenen  Beziehungen  nachgehende  Betrachtung 
der  deutschen  Orgelschulen  noch  nicht  angestellt  wurde.  Der  Ver- 
fasser der  Torliegenden  Arbeit  will  es  nun  yersuchen,  die  norddeutsche 
Orgelschule,  und  zwar  zunächst  die  erste  Periode  derselben,  welche 
durch  den  Niederländer  J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen 
Schüler  repräsentirt  wird,  von  dem  gegebenen  Standpunkt  aus  ein- 
gehender zu  prüfen. 

Die  Lücke,  welche  in  unserer  Kenntniß  über  die  Beziehungen 
zwischen  England  und  den  Niederlanden  auf  dem  Gebiete  der  Orgel- 
musik besteht,  muß  hierbei  freilich  offen  bleiben;  sie  wird  nur  durch 
eine  besondere,  gründliche  Arbeit  ausgefüllt  werden  können.  Daß 
jener  Zusammenhang  aber  in  der  That  bestanden  hat,  werden  wir 
im  Verlaufe  der  Arbeit  an  der  Übereinstimmung  gewisser  musika- 
lischer Formen  erkennen.  Die  dadurch  bedii^te  gemeinsame  äußere 
Technik  hat  nun  ein^e  Eigenthümlichkeiten  der  Notation  als  prak- 
tische Konsequenzen  nach  sich  gezogen ,  die  uns  ebenfalls  auf  jene 
Verbindung  hinweisen.  Die  auffallendsten  Erscheinungen  sind  etwa 
folgende : 

1.  Die  englischen  Virginalstücke  sind  auf  zwei  Systemen  zu  je 
6  Linien  notiert*  Die  Niederländer  nehmen  nach  Belieben  6  oder 
5  Linien.  J.  A.  Reincken,  der  Hamburger  Organist,  bedient  'sich 
in  seiner  Bearbeitung  von  Sweelinck's  Lehrbuch^  beim  Abschnitt 
»Von  den  dissonantienti  zweimal  eines  Systems  mit  6  Linien.  In 
Mitteldeutschland  waren  die  6  Linien,  weil  sie  die  Übersicht  er- 
schwerten, nicht  recht  heimisch.  Der  Hallenser  S.  Scheidt  erklärt:' 
»Das  in  dieser  Tabulatur  ein  jeder  Stim  nur  mit  Fünff  vnd  nit  mit 
sechs  Linien  auff  Engel-  ynd  Niederländische  Manier  adomieret^  ist 
der  Ehrliebenden  Deutschen  Organisten  halben,  weil  ich  auch  ein 
Deutscher,  geschehen,  welche  denn  mehrentheil  sich  auff  die  Nieder- 
ländische art  entweder  gahr  nicht,  oder  aber  nicht  recht  gründtlich 
verstehen,  in  deren  sechs  Linien  auff  die  rechte,  vnd  sechs  auff  die 
lincke  Handt  gerichtet,  biß  weilen  auch  die  Parteyen  so  wunderbar- 
lich  vnter  einander  springen,  das  manch  guter  Gesell  sich  nicht 
recht  drein  schicken,  vnd  welches  Dißcant,  Alt,  Tenor  oder  Baß 
sey,  wissen  kan.« 

2.  Ein  Überrest  aus  der  Mensuralnotation  ist  der  Gebrauch  ge- 


1  Vgl.  Abschnitt  1. 

3  TabuL  Nova,  Hamburg  1624,  I,  Vorrede  »An  die  Organisten.« 


J.  P.  Sweelinek  und  seine  direkten  deutschen  Schaler. 


147 


foUtei  Noten  beim  Eintritt  dreizeitiger  Messung,  sowie  eine  eigen- 
thümliche  Auffassung  der  Triole.  Die  Engländer  und  Niederländer 
schreiben  eine  dreizeitige  minima  als  0 .  oder      J  u.  s.  w.    Die  Auf« 

ftssnng  der  Triole  schwankt  zwischen  mittelalterlicher  und  modemer 
Anzehauung  hin  und  her.  Bald  werden  drei  Noten  der  nächst 
niederen  Gattung  unter  Entziehung  von  je  Y12  ihres  Werthes: 


bald  drei  Noten  der  um  zwei  Grade  tieferen  Gattung  unter  Hinzu- 
fagung  von  je  Y24  ihres  Werthes  zu  Triolen  zusammengesetzt: 


fegz&^i 


i^^-4 


Der  letzteren  Auffassung  folgt  noch  D.  Buxtehude  und  Joh.  Seb. 
Bach.^  Die  geschwätzten  Noten  werden  in  Vokalkompositionen  in 
obigem  Sinne  von  Joh.  Stobaeus  und  Joh.  Eccard^  ebenfalls  nord- 
deutschen Meistern,  noch  angewendet.^ 

3.  An  die  Mensuralnotation  erinnert  die  Schreibung  der  Syn- 
kopen. Die  Engländer,  Niederländer,  häufig  auch  die  deutschen 
Orgeltabulaturen,  sowie  Scheidt  in  seinen  beiden  Orgelwerken  zer- 
spalten nicht  Noten,  deren  Geltung  aus  einem  Takt  in  den  andern 
reicht,  durch  den  Taktstrich  in  seine  einzelnen  Theile,  sondern 
schreiben  am  Schluß  des  ersten  Taktes  den  vollen  Werth  der  Note. 
S.  Scheidt  sagt  darüber:^  »Was  im  Ersten  vnd  andern  Parte  dieser 
Tabulatur    wegen    der    Puncten   vnd  Syncopationen   erjnnert,    wird 


^  Dietrich  Buxtehudes  Orgelkompositionen,  hrsg.  von  Fh.  Spitta,  I  S.  X« 

2  C.  y.  Winterfeld,  Der  eyangelisehe  Kirchen gesang,  I  Leipzig  1843,  Beispiele 
S.  144 f.;  U  Leipsig  1845,  Beispiele  S.  32  ff. 

3  Tabul.  Nova,  1621.  III,  Vorrede  »An  den  Musieverständigeh  Leser.^ 

10* 


1*48  ^^^  Seifert, 


der  .  .  Leser  auch  in  diesem  dritten  Theil  zu  observiren  wissen: 
Dann  ich  mit  wissen  vnd  willen  solchs  also  gesetzt,  zum  Theil  w^en 
der  Drucker,  zum  Theil  auch,  das  ein  jeder  verständiger  Organist 
baldt  sehen  vnd  mercken  wirdt,  (so  er  änderst  der  Welschen  Par-« 
titur  berichtet)  das  solcher  Punct  oder  Rest  in  der  Syncopation 
in  das  nachfolgende  vnd  nit  yorhergehende  Tempus  gehört.  Weil 
dann  das  gantze  Werck  den  ehrliebenden  deutschen  Organisten,  so 
sich  gemeiniglich  der  Buchstaben  Tabulatur  gebrauchen,  vnd  nicht 
gewehnet,  solche  Puncten  oder  Syncopationes  zu  theilen,  zu  Dienst 
angefangen.« 

4.  An  Versetzungszeichen  gebrauchen  die  Engländer,  Nieder- 
länder und  Scheidt  |f  und  t^.  Die  Anwendung  dieser  Zeichen  ist 
eine  sehr  einfache :  sie  gelten  nur  für  die  Note,  vor  welcher  sie  stehen ; 
für  die  folgende  noch  gleichzeitig,  wenn  diese  in  derselben  Lage  und 
Stimme  erscheint  wie  die  erste  Note  und  beide  durch  Pausen  oder 
Taktstriche  nicht  von  einander  getrennt  sind.  Sollen  chromatische 
Erhöhungen  oder  die  allgemeine  Verzeichnung  beseitigt  werden,  so 
hebt  k  die  Bedeutung  von  1?  und  [?  die  ▼on^  auf.  Daneben  kennen 
die  Stiederländer  noch  zwei  Arten  von  Vr  iderrufungszeichen :  sie 
schreiben  entweder  den  Tonbuchstaben  vor  die  Note: 


1 


F=fi&l     T 


oder  sie  bedienen  sich  des  Zeichens  x ,  welches  sowohl  ||  als  b  wider* 
ruft.  Die  Einfuhrung  des  }^  scheint  von  Italien  aus  erfolgt  zu  sein. 
Die  subtile  Unterscheidung  der  Wirkung  des  ^  und  j)  bei  den  Italienern 
und  den  von  ihnen  beeinflußten  Süddeutschen'  findet  sich  in  den 
norddeutschen  Orgelwerken  nicht. 

5.  Die  Verzierung  mit  oberem  Hülfston  bezeichnen  die  Englän- 
der durch  zwei  kleine  dicht  am  Notenkopf  quer  durch  die  Cauda 

gezogene  Striche :  ^  z]:  •  Dasselbe  thun  die  Niederländer,  nur  rücken 
sie  die]Striche  mehr  über  oder  unter  das  Liniensjstem.  In  den  deutschen 
Orgeltabulaturen  stehen  die  Striche  vertikal  über  dem  Tonbuch- 
staben: II  .  J.  A.  Reincken  giebt  nach  der  Vorrede  zu  seinem  »jETor- 
iu8  Mtmcus^^  folgende  ytAdmonüio,  Si  quis  forte  ignoraverity  quidnam 
Simplex^  sibi  velit,  is  sciattremul,  siffmficare,  quitnfeme  tonum  feriat: 
quemadmodtim  hae  duae  \\  tremuL  notani,  qui  supeme  tonum  coniingit^ 


.   1  VgL  H.  Schote,  Gesamtausgabe  von  Pb.  Spitta,  I  S.  IX;  Christ  Demant, 
Vierteljahrsschr.  f.  Musikw.  1890.  S.  515  von  R.  Eade. 

'  Als  Publikation  der  »Maatschappiß  neu  ediert  von  J.  C.  M.  van  Kiemsdijk, 
1886. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler. 


149 


6.  Bei  den  Engländern  und  Niederländern  fuhrt  die  Gewöhnung, 
bei  einem  Zusammentreffen  zweier  Stimmen  in  einem  Ton  die  schrift- 
Hohe  Fixierung  durch  doppelte  Streichung  der  gemeinsamen  Note 
zu  erleichtem,  zu  folgenden  Gebilden: 


1^ 


-^ 


* 


^ 


i 


^ 


* 


^9-^ 


^ 


i 


7.  Die  Engländer  und  Niederländer  bezeichnen  eine  Bindung 
durch  einen  einfachen  Strich:  — ,  welcher  der  ersten  der  beiden 
gebundenen  Noten  ziemlich  nahe  steht.  Auch  die  deutschen  Orgel* 
tabulaturen  ersparen  sich  oft  auf  dieselbe  Weise  den  Bindebogen. 

DaB  sich  nun  die  deutsche  Orgelmusik  überhaupt  dem  nieder- 
ländischen Einfluß  zu  Anfang  des  17.  Jahrh.  so  ganz  hingeben  konnte, 
findet  seine  Erklärung  in  dem  damaligen,  eigenthümlichen  Zustande 
derselben.  Nachdem  sie  in  etwa  hundertjähriger  Entwickelung  durch 
Männer,  wie  K.  Paumann,  A.  Schlick,  P.  Hofheimer  und  H.  Buch- 
ner, auf  eine  ziemlich  hohe  Stufe  der  Ausbildung  gebracht  war, 
machte  sich  eine  in  ihren  Ansätzen  schon  früher  bemerkte  Strömung 
um  1550  mit  elementarer  Gewalt  geltend,  welche,  wie  man  gewöhn- 
lich annimmt,  alle  Errungenschaften  der  vergangenen  Kunstblüthe- 
zeit  in  ihren  Wellen  begrub:  die  Periode  der  Koloristen  hub  an.  Es 
ist  wahr,  daß  diese  mit  ihrem  Schaffen  an  die  schon  einmal  gewonnene 
Höhe  nicht  heranreichen,  aber  man  thut  doch  Unrecht  daran,  diese 
Periode  als  eine  Zeit  des  völligen  Verfalls  und  Niedergangs  der 
deutschen  Orgelkunst  anzusehen.  Denn  wenn  sie  es  wäre,  wie  sollte 
man  sich  dann  das  plötzliche  und  stetige  Aufblühen  der  Orgelkunst 
vom  Anfang  des  17.  Jahrh.  an  erklären?  Die  fünf  deutschen  Schüler 
Sweelincks,  selbst  wenn  sie  gemeinsam  in  den  Hauptstädten  Nord- 
deutschlands ihre  Hand  ans  Werk  legten,  wären  doch  nicht  imstande 
gewesen,  einer  fremden  Kunstpraxis' zu  einem  so  durchschlagenden 
Erfolge  zu  verhelfen,  wie  es  durch  diese  Männer  geschah,  wenn  ihnen 
nicht  gewisse  gleichartige  Bestrebungen  entgegenkamen,  welche 
schon  vorher  den  Boden  gelockert  und  empfänglich  gemacht  hatten. 
Und  daß  diese  Bestrebungen  eben  gerade  von  den  Koloristen  aus- 
gingen, darf  man  ihnen  nicht  vergessen.  In  mehrfacher  Hinsicht 
haben  sie  die  deutsche  Orgelkunst  gefordert.  So  sicher  auch  die 
älteren  Meister  die  Art  der  technischen  Behandlung  der  Orgel  durch 


^50  ^^^  Seiffert, 


Trennung  der  beiden  Manuale  und  Verselbständigung  des  Pedals 
klar  Yorgezeichnet  und  eine  Reihe  von  musikalischen  Formen  aus- 
geprägt hatten,^  so  fehlte  ihnen  doch  noch  etwas  Wesentliches,  ein 
selbständiger  Orgelstil.  Ihre  Schreibart  schloß  sich  dem  Wesen  der 
vokalen  Polophonie  an.  Davon  sich  zu  befreien  war  das  Ziel  der 
Koloristen.  Sie  zerstörten  den  durch  die  Mensur  genau  geregelten 
FluB  der  Stimmen,  indem  sie  die  Melodien  mit  Koloraturen  behängten 
und  längere  Töne  in  mehrere  kleinere  zerschlugen.  Dies  Verfahren 
zwang  aber  dazu,  nur  im  Großen  und  Oanzen  der  Folge  von  Zu- 
sammenklängen, wie  sie  die  zu  kolorierende  Vorlage  bot,  gerecht  zn 
werden,  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  die  einzelnen  Töne  der  Zusam- 
menklänge in  jedem  Falle  auch  durch  eine  kontrapunktisch  regel- 
rechte Stimmenfiihrung  erreicht  wurden.  In  Wegfall  kamen  ferner 
die  für  die  Trefbicherheit  beim  Gesänge  existenzberechtig^n  Gresetze 
der  Melodiefortschreitung;  denn  die  Orgel  konnte  nichtdiatonische, 
chromatische  Töne  und  verminderte  oder  übermäßige  Intervalle  be- 
quem intonieren.  Dadurch  wurden  gleichzeitig  die  Grundvesten  der 
Kirchentonarten  stark  erschüttert.  Von  großer  Tragweite  war  zweitens 
die  Hinüberleitung  weltlicher  Elemente  in  die  bisher  nur  kirchliche 
Kunst  des  Orgelspiels.  Die  Tabulaturen  der  Koloristen  sind  nicht 
mehr  für  die  Orgel  allein,  sondern  auch  für  die  übrigen  beweglicheren 
Tasteninstrumente  mitbestimmt.  Die  spezielle  Orgeltechnik  wurde 
so  durch  eine  Fülle  für  sie  neuer  Ausdrucksmittel  bereichert.  Auch 
das  Formengebiet  erweiterte  sich;  neben  kirchlichen  wurden  welt- 
liche Gesänge  koloriert,  deutsche,  französische,  italienische  Lieder  und 
Tänze,  in  welchen  sich  eine  Reihe  von  Formenkeimen  befanden,  die 
später  zur  Ausbildung  gelangten.  Die  Orgelmusik  der  Koloristen- 
periode  befindet  sich  also  in  einem  ähnlichen  Werdeprozeß,  wie  die 
gleichzeitige  kirchliche  Vokalmusik.  Beide  öffnen  ihre  Pforten  der 
weltlichen  Partnerin  und  lassen  sich  von  ihr  durchdringen.  Aber  wäh- 
rend die  vokale  Kunst  sich  erst  mit  dem  Ende  des  17.  Jahrb.  in  eine 
weltliche  und  kirchliche  sonderte  und  letztere  dann  erst  die  ihr  an- 
haftenden weltlichen  Elemente  entweder  umprägte  oder  ausschied, 
geschah  dies  in  der  Orgelmusik  bereits  im  Anfang  des  17.  Jahrh. 
Als  der  Orgel  die  Begleitung  des  Chorals  anvertraut  wurde,  erhielt 
sie  zugleich  damit  den  festen  Kern,  um  den  herum  die  bisher  ge- 
wonnenen, aber  wesenlos  gebliebenen  Formengebilde  sich  zu  aus- 
geprägten Gestaltungen  krystallisieren  konnten.  Nun  begann  die 
Orgelkunst  sich   auf  sich  selbst  zu  besinnen;    sie  schied  die  nicht 


*  Vgl.  Karl  Paesler,  Fundamentbuch  von  Hans  Buchner,   Viertel] ahrsschr.  f. 
Musikw.  1889.  S.  84  ff. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  {  5  { 


umgeformten  weltlichen  Elemente  aus  und  durchdrang  nach  allen 
Seiten  hin  wieder  ihre  kirchliche  Bestimmung.  Die  Klaviermusik 
andererseits,  welche  bisher  auf  die  Orgel  immer  eine  gewisse  Rück- 
sicht zu  nehmen  hatte,  P^9  ^^^^  geworden,  nun  unbekümmert  ihre 
eigenen  Wege. 

Um  die  Wende  des  16.  Jahrb.  machten  sich  in  Deutschland  von 
iwei  Seiten  her  Einflüsse  geltend,  welche  jene  Errungenschaften 
der  Koloristen  höheren  Kunstidealen  dienstbar  machten  und  auf  den 
durch  sie  eingeschlagenen  Entwickelungsgang  belebend  und  fördernd 
einwirkten.  Die  Kunst  der  Venetianer  A.  Willaert,  Cl.  Merulo  und 
der  beiden  Gabrieli  wurde  yorbildlich  für  die  Süddeutschen  H.  L. 
Hassler,  Ch.  Erbach,  U.  Steigleder  u.  a.,  sowie  für  den  Niederländer 
Sweelinck,  dessen  Schüler  sich  über  Norddeutschland  verbreiteten; 
es  entstand  die  süd-  und  norddeutsche  Schule,  deren  Oegensätze  eine 
mitteldeutsche  ausglich.  Den  Samen  spendeten  fremde  Länder ;  daß 
er  aber  auf  fruchtbaren  Boden  fiel,  haben  wir  der  redlichen  Arbeit 
der  deutschen  Koloristen  zu  danken. 


1. 

Jan  Pieters  Sweelinek  in  Amsterdam.    (1562—1621). 

Die  holländische  „Maatschappij  tot  bevordering  der  toonkunst^^ 
hat  es  sich  seit  einer  Reihe  von  Jahren  in  dankenswerther  Weise 
angelegen  sein  lassen,  das  Studium  der  Geschichte  niederländischer 
Tonkunst  durch  Quellenforschimgen  zu  fördern.  Eines  ihrer  ersten 
Ziele  war  es,  die  Lebensumstände  Sweelincks,  ihres  berühmten  Lands- 
mannes, nach  allen  Seiten  hin  zu  ergründen  und  seine  Kompositionen 
durch  Neudrucke  der  Gegenwart  zugänglich  zu  machen.^  Zu  einer 
um&ssenden  kunsthistorischen  Würdigung  seiner  Werke  ist  es  in- 
dessen noch  nicht  gekommen.  Im  folgenden  wollen  wir  es  nun  ver- 
suchen, Sweelincks  künstlerische  Individualität  als  Orgelmeister,  der 
er  ja  in  erster  Linie  war,  zu  betrachten  und  sodann  bis  ins  Einzelne 
hinein  die  Anregungen  nachzuweisen,  welche  die  norddeutsche  Orgel- 
kunst in  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrb.  ihm  verdankt.  Für  diesen 
Zweck  wird  es  wichtig  sein,  auch  auf  die  Lebensgeschichte  der  in 
Betracht  kommenden  Meister  einzugehen.   Wo  der  Verfasser  in  dieser 

>  J.  P.  S.,  Hegina  Coeli,  hrsg,  von  H.  A.  Viotta,  1869,  Einleitung  von  F.  H.  L. 
Tiedeman;  Ztven  Orgelatukken ,  hrsg.  von  R.  Eitner,  1870;  Drie  Madrigalen  van 
C,  Sehuijt,  ttcee  chansons  van  j.  P.  S.^  hrsg.  von  R.  Eitner,  1873;  Acht  zes-stem- 
mige  psalmen,  hrsg.  von  R.  Eitner,  grQndliche  bio-  und  bibliographische  Einleitung 
ton  F.  H.  L.  Tiedeman,  1876;  Zes  vier-stemmige  Psalmen,  hrsg.  von  R.  Eitner,  1883. 


152  ^^^^  Seiflfert, 


Hinsicht  nichts  Neues  bieten  konnte,  hat  er  sich  darauf  beschränkt, 
die  bisherigen  Forschungen  kurz  zusammenzufassen.  Wo  ihm  dagegen 
noch  nicht  verwerthetes  Urkundenmateiial  zur  Verfügung  stand,  da 
ist  auch  dem  biographischen  Theil  ein  größerer  Raum  vergönnt 
worden. 

Jan  Pieters  Sweelinck  wurde  in  der  Zeit  zwischen  dem  28.  April 
und  16.  Oktober  des  Jahres  1562  zu  Amsterdam  geboren  als  Sohn 
des  an  der  dortigen  Alten  Kirche  bestellten  Organisten  Pieter  Swee* 
linck.  Die  erste  musikalische  Ausbildung  erhielt  der  Knabe  bei 
seinem  Vater,  der  ein  nicht  unbedeutender  Musiker  gewesen  sein 
soll,  die  wissenschaftliche  bei  dem  Pfarrer  der  Alten  Kirche.  Im 
Jahre  1573  starb  der  Vater;  was  mit  dem  11  jährigen  Knaben  und 
seinen  anderen  Geschwistern,  deren  er  noch  einige  hatte,  jetzt  ge- 
schah, erfahren  wir  nicht  Vermuthlich  wird  er  fleißig  seine  musi- 
kalischen Studien  fortgesetzt  haben  und  so  zu  einer  gewissen  tech- 
nischen Sicherheit  auf  seinem  Instrumente  gelangt  sein,  welche  ihn 
dann  veranlaßte,  behufs  weiterer  Ausbildung  sich  nach  Italien  zu 
begeben.  Den  äußeren  Anstoß  dazu  scheint  ein  politisches  Ereigniß 
gegeben  zu  haben.  .Am  26.  Mai  1578  wurde  die  römisch-gesinnte 
Regierung  aus  Amsterdam  verjagt;  die  Klöster  wurden  geplündert 
und  die  Hofkirchen  von  den  Reformierten  in  Besitz  genommen. 
Diese  Vorgänge  mögen  bei  Sweelinck  oder  bei  denjenigen  Personen, 
welche  seine  Erziehung  zu  überwachen  hatten,  den  Plan  einer  Studien- 
reise zum  schnellen  Entschluß  haben  reifen  lassen.  Viel  früher 
wenigstens  wird  Sweelinck  nicht  nach  Italien  gereist  sein,  und  auch 
nicht  viel  später.  Da  er  1580  bereits  wieder  in  seiner  Heimath  war 
und  die  Studienzeit,  wie  damals  üblich,  etwa  zwei  Jahre  dauerte,  da 
femer  die  Reise  nicht  in  ein  zu  jugendliches  Alter  verlegt  werden 
darf,  so  müssen  wir  das  Jahr  1578  als  das  Jahr  seiner  Abreise  nach 
Italien  annehmen.  Daß  der  16  jährige  Jüngling  gerade  Venedig  als 
den  Ort  aufsuchte,  wo  er  seinem  künstlerischen  Können  den  letzten 
Schliff  geben  wollte,  muß  man  für  die  Beurtheilung  seiner  späteren 
Wirksamkeit  wohl  beachten.  In  dieser  reichen,  Kunst  liebenden  und 
pflegenden  Stadt  wirkte  der  große  epochemachende  Theoretiker  6. 
Zarlino,  Schüler  A.  Willaerts  und  seit  1564  Nachfolger  Cipriano  de 
Rore^s  als  Kapellmeister  an  S.  Marco.  Zarlino,  welcher  mit  der  an 
niederländischen  Mustern  gebildeten  Kunstfertigkeit  eine  scharfe 
Beobachtung  und  umfassende  Bildung  vereinigte,  wurde  der  specielle 
Lehrer  des  jungen  Sweelinck.  Als  Organist  an  der  ersten  Orgel  zu 
S.  Marco  wirkte  seit  1557  Cl.  Merulo,  der  Meister  der  Toccata;  Or- 
ganist an  der  zweiten  Orgel  war  seit  1566  A.  Gabrieli.  Dessen  Neffe, 
Gio.  Gabrieli,  hatte  bereits  als  1 8 jähriger  Jüngling  1575  eine  Madrigal- 


J.  P,  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  I53 

Sammlung  erscheinen  lassen.  Beide,  Oheim  und  Neffe,  waren  eifrige 
Pfleger  verschiedener  instrumentaler  Formen.  Daß  Sweelinck  mit 
dem  nur  um  5  Jahre  älteren  Gio.  Gabrieli  in  direkte  Berührung 
gekommen  ist,  dürfen  wir  wohl  ebenso  gut  annehmen,  wie  wir  es 
Ton  H.  L.  Hassler,  welcher  1584  nach  Venedig  kam,  wissen.  Die 
Überlieferung  meldet,  Sweelinck  sei  nach  Venedig  gegangen,  um  bei 
Zaihno  die  Komposition  zu  studieren.  Schwerlich  aber  war  dies  allein 
der  Grund.  Oder  wenn  er  es  war,  so  ließ  doch  Sweelinck  gewiß 
nicht  die  Grelegenheit  unbenutzt  vorübergehen,  sich  unter  Anleitung 
der  ersten  Meister  in  der  Orgelkunst  weiter  auszubilden.  Dies  darf 
man  schon  daraus  schheßen,  daß  er  nach  seiner  Rückkehr  1580  die 
inzwischen  seit  dem  Tode  seines  Vaters  von  verschiedenen  Organisten 
Terwaltete  Stelle  sofort  erhielt.  Die  Kirchenvorsteher  mußten  doch 
wohl  die  Erwartung  hegen  dürfen,  daß  der  18jährige  Künstler  im 
Stande  sei,  jenen  wichtigen  Posten  ganz  auszufüllen. 

Von  1580  au  bis  an  sein  Lebensende  wirkte  Sweelinck  in 
Amsterdam.  Er  hatte  sein  gutes  Auskommen,  welches  ihm  gestattete^ 
sich  im  Mai  1590  zu  verheirathen.  Die  in  dieser  Ehe  geborenen 
Kinder  waren  gleichfalls  musikalisch  begabt.  Der  Buf  seiner  großen 
Kunstfertigkeit  verbreitete  sich  bald  durch  die  Niederlande  und  über  ihre 
Grenzen  hinaus.  Es  muß  hier  gleich  bemerkt  werden,  daß  die  vor- 
liegende Arbeit  sich  nicht  auf  Sweelincks  Beziehungen  zu  seinen 
zeitgenössischen  Landsleuten  einlassen  wird.  Diese  Aufgabe  fällt  in 
den  Bereich  derjenigen  Untersuchung,  welche  sich  mit  den  Beziehungen 
der  englischen  Virginalmusik  zu  den  Niederländern  befaßt.  Es  kommt 
hier  nur  darauf  an,  den  Einfluß  der  Virginalmusik  durch  Sweelincks 
Vennittelung  auf  die  norddeutsche  Orgelkunst  nachzuweisen.  In 
England  waren  seine  Instrumentalkompositionen  wohl  geachtet ;  einige 
derselben  wurden  für  werth  befunden,  in  das  Virginalbuch  der  Kö- 
nigin Elisabeth  au%enommen  zu  werden.  >  Mit  dem  berühmten  eng- 
lischen Virtuosen  Dr.  John  Bull  scheint  Sweelinck  in  engerem 
Verkehr  gestanden  zu  haben.  Er  nahm  einen  Kanon  desselben  in 
seine  Kontrapunktlehre '^  auf;  und  als  Sweelinck  am  16.  Oktober  1621 
gestorben  war,  komponierte  Dr.  Bull  bald  darauf,  am  1 5.  Dezember, 
eine  ufantazia  op  de  fuga  van  Mr.  Jan  pietersn,  a  Dieses  Zusammen- 
treffen ist  zu  aufTällig,  um  als  zufällig  gelten  zu  können.  Man  darf 
wohl  annehmen,  daß  Dr.  Bull  auf  einer  seiner  vielen  Kunstreisen 
auch  Amsterdam  berührt  hat;  seit  1613  war  er  übrigens  als  Organist 
in  Brüssel  angestellt.    Von  deutschen  Schülern  kamen  zu  Sweelinck: 


^  VgL. unten  S.  155. 
2  VgL  unten  8.  179  ff. 


J54  ^^^  Seiffert, 


S.  Scheidt  aus  Halle,  M.  Schildt  aus  Hannover,  H.  Scheidemann 
und  J.  Praetorius  aus  Hambu^  und  P.  Siefert  aus  Danzig.  Der 
Verkehr  Ewischen  dem  Lehrer  und  seinen  Schülern  scheint  ein  hen- 
licher  gewesen  zu  sein;  er  dauerte  noch  fort,  als  diese  wieder  in 
ihre  Heimath  zurückgekehrt  waren.  Zwei  Liedbearbeitungen ^  sind 
von  Sweelinck  und  Scheidt  gemeinsam  komponiert;  daraus  hat  man 
geschlossen,  daB  Scheidt  Sweelincks  Lieblingsschüler  gewesen  sei.  Zur 
Hochzeitsfeier  des  J.  Praetorius  verfertigte  Sweelinck  1608  ein  »CVn»- 
ticum  nuptiale^i;^  zu  Ehren  H.  Scheidemanns  schrieb  er  einen  Ka- 
non: i>Ter  eeren  des  vromen  Jonffkmans  Henderich  Sckeyfynan,  van 
Hamhorgk^  is  dit  geschreven  hij  mij  Jan  P,  StoeKnck^  orgamst  tot 
Amsterdam,  op  den  12den  Novemb,  1614,^^^  Die  Hamburger  Stadt- 
bibliothek besitzt  mehrere  Yokalkompositionen  Sweelincks.  Nach 
PreuBen  hin  bestanden  ebenfalls  Beziehungen;  in  den  Stadtbiblio- 
theken zu  Königsberg  und  Danzig  sind  auch  mehrere  Kompositionen 
zu  £nden.  Für  den  Königsberger  Kantor  Job.  Stobaeus  schrieb 
Sweelinck  ein  itCanticum  in  honorem  nuptiarumn,  10.  Juli  1617.^ 
Stobaeus  brachte  diese  Komposition  mit  einem  andern  Text  1638  in 
Danzig  noch  einmal  zum  Druck.^ 

Wir  besitzen  von  Sweelinck  zwei  Bildnisse.  Das  eine,^  mit  der 
Umschrift  versehen:  ^Etatis  44.  ao.  1606,  M.  JO.  PET.  SWEL. 
AMS.  OB.n  zeigt  uns  ein  schönes  männliches  Gesicht,  aus  dessen 
Zügen  Ernst,  aber  auch  Wohlwollen  und  Güte  spricht.  Das  zweite, 
ein  Holzschnitt  aus  dem  Jahre  1624,  ist  mehrfach  al^edruckt.^  In 
der  Unterschrift  wird  Sweelinck  genannt*  »Musicus  et  Organista  toto 
orbe  celeberrimus.  Vir  singulari  modestia  ac  pietate,  cum  in  vita, 
tum  in  morte  omnibus  suspiciendus. «  Charakteristisch  genug  für 
Sweelincks  Ansehen  außerhalb  Hollands  sind  einige  Distichen,  welche 
Plemp  auf  das  zweite  Bild  verfertigte: 

r>Joannes  Petrtis  Swelingius  Amsterodamus^ 
Qui  fuit  organica  Pallas  in  arte  minor. 
Cujus  fama  Italos  tetigit  scdsosque  Britannos^ 
Quique,  Orlande^  tuis  notus  erat  Bavaris. 
Omnibus  ex  terris  peregrinas  traxerat  aures  . . . « 

^  VgL  unten  S.  172.  Möglicherweise  rührt  aber  diese  Zusammenstellung  nur 
vom  Schreiber  her,  der  nach  eigenem  Qeschmaek  auswfihlte. 

2  Exempl.  auf  der  Hamburg.  Stadtbibl. 

>  desgl. 

^  Exempl.  auf  der  Königsberg.  StadtbibL 

B  desgl. 

^  Original  auf  der  Großherzogl.  Biblioth.  su  Darmstadt;  eine  photographische 
Abbildung  desselben  steht  vor  den  »Acht  ZM-stemmigen  PBolmen,»  1876. 

7  VgL  Acht  tea-stemmige  Fsalmenf  Einleitung  S.  38  ff. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schfller.  I55 

Dafi  Plemp  zu  diesem  Lobe  wohl  berechtigt  war,  ist,  wa|  England 
betrifil,  oben .  angedeutet  worden.  Bei  der  Besprechung  von  Swee- 
lincks  Kompositionen  werden  wir  auf  seine  Beziehungen  zu  der 
mit  Frescobaldi  anhebenden  neuen  italienischen  Kunstblüthe  sowie 
txL  dem  südwestlichen  Deutschland  zu  sprechen  kommen.  — 

Nach  diesen  historischen  Bemerkungen  wenden  wir  uns  zur 
konstgeschichtlichen  Würdigung  Sweelincks.  Wir  betrachten  ihn 
zaerst  als  Orgelkomponisten  und  Virtuosen,  sodann  als  Theoretiker 
and  Lehrmeister. 

Die  Quellen  für  unsere  Kenntniß  der  EJavier-  und  Orgelkom- 
positionen Sweelincks  sind  folgende: 

i.  Mscr.  fol.,  Bibliothek  des  grauen  Klosters  in  Berlin:  3  Fan- 
tasien (2  davon  »auf  die  manier  eines  Echo«),  5  Toccaten,  3  Lied- 
bearbeitungen.   Eine  Auswahl  hieraus  veröffentlichte  B.  Eitner.^ 

2.  BIscr.  fol.  191,  Kgl.  BibUothek,  Berlin:  1  Fantasie,  1  Choral-, 
1  Liedbearbeitung.2 

3.  Mscr.  fol.  88S,  Universitätsbibliothek  Lüttich:  1  Echo.» 

4.  Virginalbuch  der  Königin  Elisabeth,  Cambridge :  2  Fantasieen, 
1  Toccata,  1  Choralbearbeitung. 

5.  Mscr.  der  Bibliothek  von  Christ.  Church,  Oxford:  1  Fan- 
tasie.^ 


'  Zeven  Orgehtukken,  1S70  (auch  bei  N.  Simrock,  Berlin,  erschienen).  Bis 
IQ  welchem  Grade  diese  Ausgabe  maßgebend  ist,  hat  bereits  H.  Bellermann  nach- 
gewiesen; TgL  A.  M.  Ztg.  1870.  S.  410  ff.  Folgendes  ist  noch  hinsusufagen. 
Die  anonyme  Liedbearbeitung  »Unter  der  linden  grünem  ist  identisch  mit  Sweelincks 
•AUemande*  im  Mscr.  191.  Über  Scheidts  Antheil  an  den  von  ihm  und  Sweelinck 
gemeinsam  angefertigten  Liedbearbeitungen  h&tte  die  Tabtdat,  Nova,  Hamburg 
1624,  Aufschluß  geben  können;  die  Scheidt'schen  Variationen  sind  dort  wieder- 
gedruckt  Die  anonyme  »cantio  Belgiern  steht  Ttib,  Nav,  L  7.  Die  »Toceaia  S,S,t 
steht  nicht  in  der  Tab.  Nov.,  ist  also  eine  bisher  unbekannte  Komposition  Scheidts ; 
ebenso  die  »Paduana  Hiepania.v 

<  Vgl.  darflber  C.  ▼.  Winterfeld,  Johannes  Gabrieli  und  sein  Zeitalter,  Berlin 
1S34,  II  S.  107 ff;  Ritter,  Zur  Geschichte  des  Orgelspiels,  Leipsig  1884,  I  S.  49. 
Folgendes  ab  Ergänzung :  Den  Inhalt  schrieb  eine  erste  Hand,  von  Fol.  1 — 60  y ; 
der  Rest  sowie  einige  ergänsende  Stücke  und  Bemerkungen  gehören  einer  iweiten 
Hand  an.  Der  zweite  Schreiber  sehrieb  um  1625  und  fertigte  auch  ein  Register 
über  das  Ganze  an,  wo  er  Pietro  Comet  »mio  tnaesiro«  nennt,  dessen  Schüler  er 
«lio  war»  Der  erste  Schreiber,  welcher  anscheinend  ein  Süddeutscher  war  (»Toecada»! 
£ibaehs  und  Oabrielis  Stücke  hat  er  zumeist  geschrieben)  schrieb  also  zu  Anfang 
der  20er  Jahre. 

3  VgL  Ritter,  a.  a.  O.  S.  48  f.  Mir  ist  diese  Hdschr.  nicht  zu  Gesicht  ge* 
kommen. 

*  Sie  ist  der  letzte  Abschnitt  der  im  Virginalbuch  enthaltenen  Fantasie  über 
du  Hezachord. 


156 


Max  Seiffert, 


6.  Mscr.  23,  623,  British  Miiseum,  London:  r^Fantazia  op  de  fuga 
van  Mr.  Jan  pietersn  faecit  Doctor  Bull,    1621.    15,  Decemb,^^ 

Wir  besitssen  also  von  Sweelinck  7  Fantasieen,  6  Toccaten,  2 
Choralbearbeitangen  und  3  Liedbearbeitungen  —  insgesamt  18  voll- 
ständige Stücke.  Dazu  kommt  noch  eine  Reihe  von  Kanons,  über 
deren  selbständige  Stellung  und  Verwendung  im  zweiten  Theil  un* 
serer  Betrachtung  das  Nähere  angegeben  werden  wird. 

Von  den  7  Fantasieen  fehlt  dreien  in  der  Überschrift  jeglicher 
Zusatz;  sie  sind  fugenartig  gebaut,  wie  man  leicht  erkennt.  Drei 
sind  »auff  die  manier  eines  Echo«,  die  letzte  bearbeitet  das  Hexachord. 
Um  zunächst  die  den  drei  ersten  Fantasieen  zu  Grunde  liegende 
Kompositionsform  zu  erläutern,  betrachten  wir  eine  derselben  genauer. 

Die  uFantasia  ä  4.  M.  P,  S,«,^  in  der  phrygisch-transponierten 
Kirchentonart  (A  ^)  stehend,  beginnt  mit  dem  von  der  obersten 
Stimme  allein  vorgetragenen  Thema: 


1 


BE 


t 


■ys — ri — g 


i 


Sf 


■^- 


X 


3 


S 


i  2=^=22: 


"-jw 


Bei  der  Schlußnote  tritt  die  zweitoberste  Stimme  in  der  Unterquinte 
mit  dem  Thema  ein,  wozu  die  Oberstimme  nach  einer  halben  Pause 
eine  sehr  ausdrucksvolle  und  bestimmt  geführte  Gegenmelodie  vorträgt: 


i 


i>  c;  - 


-^- 


--# — ^- 


J^T- 


t=^ 


2^ 


-^9- 


X 


i 


-?v»»- 


■Diese  erscheint  als  ständige  Begleiterin  des  Themas  die  ganze  erste 
Durchführung  hindurch.  Nach  einer  äolischen  Kadenz  folgt  die 
zweite  Durchführung,  in  welcher  sich  aber  eine  neue,  sequenzenmäßig 
gebildete  Gegenmelodie : 


3=fc4^ 


*  Die  »Vereeniging  voor  Noord-Nederlands  Muziekgeschiedenis,«  welche  im  Be- 
sitE  einer  Kopie  dieser  drei  englischen  Handschriften  ist,  hat  mir  durch  die  gütige 
Vermittelung  des  Herrn  J.  C.  M.  van  Riemsdijk  die  Benutzung  derselben  hier  an 
Ort  und  Stelle  ermöglicht  und  mich  dadurch  zu  Dank  verpflichtet. 

2  Mscr.  Fol.  191,  Berlin,  Fol.  74  v.  Die  »  Vereeniging^  besitzt  eine  von  Eitners 
Hand  sauber  angefertigte  Kopie  der  in  dieser  Hdschr.  befindlichen  Stücke  Swee- 
lincks.  Weil  der  Titel  der  Fantasie  unter  der  ersten  Zeile  steht,  so  setzt  Eitners 
Kopie  gleich  mit  der  zweiten  Zeile  ein.  Diese  hebt  aber  mit  einem  Sextakkord  an ; 
Eitner  sieht  sich  also  genöthigt,  den  vermeintlich  fehlenden  Anfang  zu  konjicieren. 
Daß  die  erste  Zeile  den  richtigen  Anfang  bietet,  hat  er  wohl  übersehen.  VgL  die 
Notenbeilagen. 


J,  P.  Sweelinek  und  seine  direkten  deutschen  Schüler. 


157 


mit  dem  Thema  verbindet.  An  den  mit  *  bezeichneten  Stellen 
erlaubt  sich  Sweelinek  eine  kleine  rhythmische  Veränderung:  er 
Terkürzt  die  zweite  Viertel-  zur  Achtelnote  und  punktiert  die  erste 
Viertelnote.  Solche  kleinen  rhythmischen  Änderungen  finden  sich 
sehr  häufig  in  Sweelincks  Kompositionen.  Nach  einem  mit  Hilfe 
der  zweiten  Gegenmelodie  gebildeten  Zwischenspiele,  welches  mit 
einer  phrygischen  Kadenz  abschließt,  beginnt  die  dritte  Durchführung, 
welche  das  Thema  auf  mannigfache  Art  mit  sich  selbst  in  die  Enge 
fahrt.  Wo  die  Engfiihrung  nicht  in  ihre  Rechte  tritt,  zeigt  sich  das 
Bestreben,  die  Kontrapunkte  aus  den  in  der  ersten  und  zweiten 
Durchführung  benutzten  abzuleiten.     Melodien,  wie  diese: 


•#.     42 


1 


t 


-f  (  T  r  rirdg^ 


32: 


-»w- 


eiinnern  deutlich  an  die  erste,  diese: 


1 


^ 


t 


-^\rr  r 


e^^ 


rW 


m 


^ 


t 


__Lj^J_ 


t 


&  ^ 


an  die  zweite  Gegenmelodie.  Über  derartige  motivische  Um-  und 
WeiterbildtLngen  werden  wir  noch  besonders  zu  sprechen  haben. 
Auf  den  durch  eine  phrygische  Kadenz  beschlossenen  ersten  Haupt- 
theil  folgt  der  zweite,  welcher  nicht  sowohl  durch  das  Ineinander-* 
Teiketten  des  Themas  mit  einer  Gegenmelodie  innerhalb  einer  fest* 
gehaltenen  Stimmenanzahl  sein  charakteristisches  Gepräge  erhält,  als 
vielmehr  dadurch,  daß  sich  dem  in  verlängerten  Notenwerthen  ge* 
messen  dahinschreitenden  Hauptthema  glatt  fließende  Rhythmen  bei- 
gesellen, während  mit  jedem  neuen  Einsatz  die  Stimmenanzahl  wächst. 
Die  Gegensätze  prallen  freilich  in  dieser  Fantasie  nicht  so  hart  auf 
einander,  wie  in  anderen  Stücken;  ein  Zwischensatz,  welcher  eine 
fließende  Achtelmelodie: 


HU  <  f  itl^^^mhni^  r  rn  ^ 


-AV- 


gegen  das  nicht  verlängerte  Thema  durch  alle   vier  Stimmen  fuhrt 
tritt  vermittelnd  auf.     Aber   schon   vor   der  äolischen   Kadenz   hebt 
eine  Sechszehntelbewegung   an,    welche   in   verschiedenen   Läufen, 


158 


Max  Seifert. 


Sprüngen  und  Figuren  das  nunmehr  zu  ganzen  Noten  yerlängerte 
Hauptthema  begleitet.  Das  Thema  liegt  zunächst  in  der  Oberstimme 
eines  zweistimmigen  Satzes ,  der  sich  zur  Dreistimmigkeit  erweitert, 
sobald  der  Tenor  das  Thema  aufnimmt.  Bei  dem  nächsten  Einsatz 
desselben  im  Alt  ist  die  Vierstimmigkeit  wieder  erreicht  und  nun 
tritt  an  die  Stelle  der  schweifenden  Figuren  wieder  die  logisch- 
geschlossene motivische  Verknüpfung.     Das  erste  Motiv: 


ij,t>J|J«>y  r  r  FjHf — 


erinnert  uns  wieder  an  die  allererste  Gegenmelodie  Das  zuletzt  im 
Baß  liegende  Thema  wird  durch  kurze  sequenzenartig  verbundene 
Imitationen  der  Oberstimmen  begleitet.  Jene  ranken  sich  an  einer 
kurzen  Melodie  fort: 


m 


^ 


t 


_j_j_ii_ 


Diese  bildet  nun  wieder  den  motivischen  Kern  eines  Zwischenspieles, 
welches  durch  eine  phrygische  Kadenz  zum  Abschluß  gebracht  wird. 
Daran  schließt  sich  ein  Zwischensatz  in  Y4Takt,  mit  dem  Motiv* 


^■z3=jbi 


t 


gebildet,  während  dessen  das  Thema,  zu  punktierten  ganzen  Noten 
verlängert,  einmal  von  der  obersten  Stimme  vorgetragen  wird.  Swe^ 
linck  liebte  es,  in  den  Verlauf  eines  Stimmengewebes  hier  und  da 
Triolen  oder  Sextolen  einzuflechten  und  sie  mit  geraden  Rhythmen 
zu  verbinden;  sie  wirkten  belebend  in  dem  Rahmen  des  Ganzen. 
Besonders  häufig  finden  wir  diesen  Gebrauch  bei  den  englischen 
Virginalisten,  deren  Kompositionen  ihre  Fertigkeit,  die  verschieden- 
artigsten Rhythmen  zu  kombinieren,  in  glänzendem  Lichte  erscheinen 
lassen.^  Ein  solcher  rhythmischer  Wechsel  spielt  bei  Sweelinck 
eine  Hauptrolle  als  Übergang  vom  zweiten  zum  dritten  Haupttheil; 
der  musikalische  Aufbau  wird  durch  den  Wechsel  recht  ohrenfallig 
gemacht,  die  Form  gesteigert  und  der  Kontrast  zum  dritten  Haupt- 
theil verschärft.  Dieser  vereinigt  nun  in  sich  das  Wesen  der  beiden 
ersten  Theile.  Er  geht  aus  von  der  Zweistimmigkeit,  erweitert  sich 
zur  Drei-  und  Vierstimmigkeit  und  bedient  sich  ebenfalls  lebhaften 
Figurenwerks,    aber  er  verbindet  damit  die  Engfuhrung   und  knüpft 


^  Vgl.  A  Qeneral  History  of  Music  von  Charles  Burneyi   III  London   1789. 
S.  115  ff.  stehen  einige  Proben  von  Dr.  J.  BuUs  Technik  in  diesem  Punkte. 


J.  P.  Sweelinek  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.*  ^59 

80  an  den  ersten  Haupttheil  wieder  an.  Höchst  beachtenswerth  ist 
die  Steigerung  im  dritten  Theil.  Das  Thema  wird  zunächst  zu  Vier- 
tehioten  yeikiiizt  und  erscheint  in  dieser  Gestalt  in  einer  Stimme 
auf  mehreren  Tonstufen  unmittelbar  nach  einander.  Zu  Achteln 
yerkürzt,  wird  es  sequenzenartig  und  wechselchörig  verwendet.  Jetzt 
tritt  ein  Wendepunkt  ein:  das  Thema  erscheint  wieder  in  Viertel- 
noten,  wird  jetzt  aber  viel  lebhafter  behandelt.  Es  wird  nicht  mehr 
real  beantwortet,  sondern  muß  sich  die  verschiedensten  Rückungen, 
Dehnung,  Zerlegung  und  Kolorierung  gefallen  lassen,  damit  die  Ab- 
sieht  des  Komponisten  auf  möglichste  Steigerung  verwirklicht  wir4. 
Recht  bemerkbar  macht  sich  in  diesem  Abschnitt  das  Streben  nach 
motivischer  Weiterverarbeitung  eines  gegebenen  Gedankens.  Bevor 
das  zu  Vierteln  wieder  verkürzte  Thema  anhebt,  werden  die  ersten 
3  Noten  desselben  auf  einer  andern  Stufe  von  derselben  Stimme 
antizipiert;  erst  dann  tritt  das  Thema  wirklich  ein.  Dazu  erscheint 
eine  Gegenmelodie: 


\b  i  j  \  jp:~U'^i  ff  r  Mfri^ 


deren  erster  Theil  an  die  S.  157  oben  angegebene  erinnert.  Der 
zweite  Bestandtheil  rührt  aus  dem  chromatischen  Thema  selbst  her; 
er  muß  auch  zu  einem  motivischen  Zwischenspiel  herhalten.  Der 
Schluß  des  dritten  Haupttheils  kehrt  zu  den  ursprünglichen  Werthen 
des  Themas  zurück.  Noch  dreimal  tritt  es  auf,  aber  begleitet  durch 
ruhige  Viertelbewegimg,  die  überdies  durch  Synkopen  noch  gehemmt 
wird.  Mit  einer  Passage  der  linken  und  rechten  Hand  schließt  dann 
die  Kadenz  und  das  ganze  Stück  ab. 

Im  großen  und  ganzen  ebenso  gebaut  sind  die  beiden  anderen 
Fantasieen.  Sie  haben  zwar  in  der  Gruppierung  und  im  inneren 
Aufbau  der  einzelnen  Theile  ihre  Besonderheiten,  aber  sie  lassen 
das  Wesen  der  Form  nicht  verändert  erscheinen.  Da  diese  Kom- 
positionen indessen  nach  anderer  Seite  hin  bemerkenswerth  sind,  so 
müssen  wir  doch  auf  sie  näher  eingehen.  Wenn  wir  dabei  jene 
Besonderheiten  mit  berücksichtigen,  so  geschieht  es  im  Interesse 
einer  vollständigen  Darlegung  von  Sweelincks  Kompositionstechnik. 

Die  zweite  uFantasta,  John  Pietersen  Sweeüng,  Organista  a  Amstel- 
reddi^  in  dorisch-transponierter  Tonart  fG\^)  beginnt  mit  dem  Thema* 

T^        I    J  -Ul-^^J — = 


m 


■?sr-^ 


lar 


->vv»- 


dessen  melodische  Fortsetzung: 


^  Yirginalbuch  der  Königin  Elisabeth  in  Cambridge. 


160 


Max  Seiffert, 


im  ganzen  ersten  Haupttheil  für  die  begleitenden  Kontrapunkte  aus- 
gebeutet wird.  Sweelinck  entwickelt  in  dieser  Fantasie  eine  ganz 
besondere  kompositorische  Kunstfertigkeit,  indem  er  die  Beantwor- 
tungen des  Themas  immer  in  motu  contrario  eintreten  läßt.  Im  zweiten 
Theil  legt  Sweelinck  das  in  seinen  Werthen  verdoppelte  Thema, 
verlängert  um  die  ohne  Pause  sich  anschließende  und  ebenfalls  ver- 
doppelte melodische  Fortsetzung  desselben  zu  Grunde.  Es  fehlt  so- 
dann ein  vermittelnder  Abschnitt  zwischen  dem  ersten  und  zweiten 
Haupttheil,  welch  letzterer  unmittelbar  nach  der  Kadenz  des  ersten 
mit  der  Zweistimmigkeit  beginnt.  Die  Überleitung  zum  dritten  Haupt- 
theil geschieht  anders  als  in  der  vorigen  Fantasie.  Hier  wird  der 
C-Takt  beibehalten;  innerhalb  desselben  erscheint  aber  das  Thema, 
ohne  seine  Fortsetzung,  zweimal  so,  daß  die  einzelnen  Töne  zu 
punktierten  ganzen  Noten  verlängert  sind,  wogegen  die  übrigen 
Stimmen  sequenzenmäßige  Imitationen  des  Themas  ausfuhren. 
Diese  Fantasie  zeigt  uns  den  Meister  des  Kontrapunkts  von  der  besten 
Seite ;  spielend  werden  die  schwierigen  Probleme  gelöst.  Und  es  ist 
kein  schlechtes  Zeichen  für  den  künstlerischen  Geschmack  der  Kö- 
nigin Elisabeth,  daß  sie  gerade  diese  Komposition  Sweelincks  für 
ihrer  würdig  erachtete. 

Das  Thema  dieser  Fantasie  hat  Sweelinck  in  anderer  Wendung 
noch  einmal  zu  einem  Kanon  benutzt; 

Canon  k  4.  J.  R  S.i 


te 


1^ 


-^ — Of- 


s^ 


-Ä?- 


X 


^    ^   iB 


Si  -  ne    Ce  -  re  -  re     et  Bac-cho     fri  -  get   Ve  -  nu8. 

Diesem  Thema  begegnen  wir  auch  bei  anderen  Komponisten.  In 
Klebers  Tabulaturbuch  (1520 — 1524)  steht  eine  nFaniasiaa  eines 
gewissen  ^Cored  Sal.%'^  deren  Thema  lautet: 


Ein  aus  der  Umgegend  von   Salzburg  stammender  Druck   mit   In- 


^  Orig.  auf  der  Hamburg.  Stadtbiblioth.;  mitgetheilt  vor  den  »Ttoee  Charuans^t 
Edit.  der  »Maatschappijaf  1873.  S.  30. 

^  Vgl.  Ritter.  Zur  Gesch.  des  Orgelspiels,  1884,  II  S.  101;  er  yermuthet 
•Conrad.  Salisburgensis.n 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  \^\ 

Btrumentenbildern  ^   stellt  in   Bild   6   eine  Prozessionsfahne   dar,    auf 
welche  hinauf  geschrieben  ist: 

»Canon  in  Vnisono. 


^ 


[Mi]  -  se  -  [re]  -  ri    —    me  -  i.« 

Diese  Melodie  hat  also  dieselbe  Tonfolge  wie  das  Sweelinck'sche 
Thema«  Was  aus  dieser  Thatsache  für  Sweelincks  Beziehungen 
zum  Süden  und  besonders  zum  Südwesten  Deutschlands  zu  folgern, 
weiden  wir  weiter  unten  sehen;  hier  sei  sie  einfach  registriert.  Im 
Jahre  1607  erschien  zu  Hamburg  von  den  zuerst  im  Jahre  1599  eben- 
daselbst herausgegebenen  ^Cantianes  sacrae^  des  Hieronymus 
Fraetorius  eine  »editto  altera^  ab  ipsomet  atictore  aucta  et  correcta^, 
Biese  enthält  eine  sechsstimmige  Motette^  des  Autors  zu  dem  Text: 
MGaudete  omnes  et  laeiamini.a  Piaetoiius  verarbeitet  zu  dem  Worte 
»Gaudetev  das  Thema: 


Gau-de        -        -        -         te. 

welches  er  gleichfalls  immer  in  der  Gegenbewegung  beantworten 
läBt  Praetorius  konnte  zwar  bei  seinem  Aufenthalte  in  ^Mittel- 
deutschland ^  mit  Klebers  Tabulatur  bekannt  geworden  sein,  aber 
das  durchgeführte  Prinzip  der  Gegenbewegung  weist  doch  auf 
nähere  Beziehungen  zu  Sweelinck  hin.  Und  dann  erscheint  uns 
die  Thatsache^  daß  H.  Praetorius  seinen  Sohn  Jakob  zu  Sweelinck 
schickte )  in  einem  ganz  besonderen  Lichte.  Eine  Entscheidung 
darüber,  wer  von  beiden  dem  andern  vorbildlich  gewesen  ist,  ob 
Sweelinck  oder  Praetorius,  ist  aber  vorläufig  noch  nicht  zu  treffen. 
Dazu  müßte  erst  festgestellt  werden,  wann  Sweelincks  Komposition 
entstanden  ist,  und  zweitens,  ob  auch  schon  die  erste  Ausgabe  der 
^Cantiones  aacraea  jene  Motette  enthält.     In  zwei  Theile  zerlegt  er- 


>  Vgl.  Dr.  O.  Fleischer,  »Ein  seltener  alter  Druck  put  Instrumentenbildern,« 
Zeitsehr.  f.  Instrumentenbau,  XI,  S.  131  ff.  Die  Zeit  des  Druckes  ist  meiner  An- 
sicht nach  vom  Verfasser  richtig  als  die  2.  Hälfte  des  16.  Jahrh.  angegeben.  Vgl. 
dagegen  Eitner,  M.  f.  M.  1891,  Heft  3. 

3  Exempl.  in  der  KirchenbibL  2u  Husum;  die  Kenntniß  der  Motette  ver- 
duike  ich  der  Güte  des  Herrn  Gesanglehrers  G.  Schmerberg  2u  Berlin. 

s  Er  hatte  in  Köln  studiert  und  war  dann  in  Erfurt  Stadtkantor  gewesen, 
hl  Mitteldeutschland  wie  auch  in  Stuttgart  waren  seine  Kompositionen  sehr  be- 
gannt; vgl.  Jos.  Sittard,  Zur  Geschichte  der  Musik  und  des  Theaters  am  Würtem- 
bergischen  Hofe,  Stuttgart  1890,  I.  S.  339. 

1891.  11 


162 


Max  Seiffert, 


scheint  das  Fugenthema  in  der   »Fantasia  3,  Toni  di  M.  petro  Gor- 
9ietifj^  des  Brüsseler  Organisten;  es  lautet: 


1 


i 


%> — — ?g- 


-^9- 


:a: 


3z: 


■  *v- 


is: 


und  wird  wiederum  stets  in  der  Gegenbewegung  beantwortet.  Daß 
diese  Übereinstimmung  mit  P.  Cornet  keine  zufällige  ist,  werden 
wir  bald  sehen.  Mehr  an  Cornet  als  an  Sweelinck  lehnt  sich  Sc  hei  dt 
mit  dem  Thema  seiner  -tiFuga  ä  4   Voc  Contraria«'^  an: 


i 


^0 


?s: 


-^- 


-Ä>- 


.JA-. 


in  welcher,  wie  die  Überschrift  andeutet,    die  Gegenbewegung  auch 
durchgängig  festgehalten  wird. 

Der  dritten  r>Fantasia  ä  4.  M,  J,  P.  S,fL^  in  dorischer  Tonart 
liegt  ein  Thema  zu  Grunde,  welches  chromatisch  absteigend  eine 
Quarte  durchläuft: 


g^£ZrT^~f^=^=^ 


X 


f     ''J-po 


-»- 


t 


..A4L 


Wie    in    den    beiden  vorher  besprochenen  Fantasieen  wird  die  me- 
lodische Fortsetzung  des  Themas: 

A.  B. 


SO 


X 


F^^ 


X 


-4^ 


"TK- 


welche  erst  als  Kontrapunkt  zur  Beantwortung  auftritt,  auch  für  die 
weitere  Verarbeitung  des  Themas  festgehalten.  Im  übrigen  bietet 
die  Form  nichts  wesentlich  Neues.  Zu  beachten  ist  nur  noch  eine 
motivische  Umbildung  der  Gegenmelodie  in  ihrer  zweiten  Hälfte  (B) 
in  Takt  181  f.: 


1  Mscr.  Fol.  191.  Berlin,  Fol.  17  v. 

2  Tabul.  Nova,  Hamburg  1624,  II  1. 

3  Zeven  Orgelstukken,  hisg.  t.  R.  Eitner,  S.  20;  mit  Eitners  Versehen,  aber 
in  richtigen  Notenwerthen  bei  Ritter,  a.  a.  O.  II  S.  67. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  163 


Dies  Thema  mit  seinen  drei  Kontrapunkten  spielt  nun  in  der  gleich- 
zeitigen und  späteren  Orgellitteratur  eine  große  Brolle.  Die  chro- 
matische Quarte  wird  entweder  als  Thema  benutzt  oder  sie  ist  im 
Verlaufe  eines  Stückes  die  motivische  Weiterbildung  einer  diatonisch 
durchmessenen  Quarte.  In  der  zweiten  Art  findet  sie  sich  öfter  bei 
Peter  Philips,  dem  Organisten  zu  Soignies;  z.  B.  in  einer  tGaliard^ 
und  in  der  ^Pavana  dolorosat^^  in  welch  letzterer  die  chromatische 
Quarte  au&teigt.     Demgemäß  wird  die  Melodie  B  auch  geändert: 


3=¥ 


^3=i-J4-^-jg^J 


—«>- 


JpS3^^^3^ 


etc. 


Als  festgehaltenes  Thema  erscheint  die  chromatische  Quarte  in  zwei 
anscheinend  niederländischen  Stücken,  denen  leider  die  Autorangabe 
fehlt,  nämlich  in  einem  ^Battelta  und  in  einer  Fantasie.^  In  letz- 
terer wird  die  chromatische  Quarte  sowohl  auf-  wie  absteigend  als 
Thema  benutzt.  Nachdem  verschiedene  motivische  Umbildungen 
von  B  das  Thema  begleitet  haben,  erscheint  endlich  auch  O  fast 
Note  für  Note,  wie  oben  angegeben.  In  der  Fuge^  von  Matthias 
van  den  Gheyn,  Organist  zu  Löwen  im  18.  Jahrh.  wird  auch  die 
chromatische  Quarte  noch  durchgehends  bearbeitet.  Man  ersieht 
aus  diesen  Angaben,  daß  die  von  A  nnd  E  sowohl  auf-  wie  abstei- 
gende chromatische  Quarte  ein  beliebtes  Thema  war  und  daß  sich 
dazu  bestimmte  Gegenmotive  ausgebildet  hatten,  deren  Grenzen  durch 
die  untere  und  obere  Terz  und  Sexte  gegeben  waren.  Daß  diese 
chromatische  Behandlungsweise  durch  Sweelinck  ihren  Eingang  in 
die  norddeutsche  Orgelmusik  fand,  wird  man  erklärlich  finden.  Es 
genüge,  hierfür  ein  Beispiel  nur  anzuführen.  In  der  JtFarUasia  super 
tJo  8on  ferito  cctsso»  Puga  quadruplici.  ä  4  Voc.a  behandelt  S. 
Scheidt^  die  auf-  und  absteigende  Quarte,  indem  er  als  Gegen- 
melodie A  und  C  verbunden  benutzt.  Aber  auch  außerhalb  der 
norddeutschen  Orgelschule  findet  sich   die   gleiche   Anwendung   der 


*  Mscr.  Fol.  191.  Berlin:  »Galiard«  Fol.  8r.;  »Pavana  dolorosa^  Fol.  6r. 
Letztere  ist  nach  Angabe  des  von  der  zweiten  Hand  gefertigten  Kegisters  »Com- 
poUa  in  Frigione  del  P.  P.« 

^  ^BalletU  a.  a.  O.  FoL  78  r.;  die  Fantasie  Fol.  82  y.  ist  voll  von  Zusammen- 
klängen, welche  für  jene  Zeit  frappieren.  Das  Ballet  erinnert  in  seinem  Anfang 
sehr  stark  an  die  erste  Fantasie  Sweelincks  (s.  oben  S.  1 59,  das  chromatische  Motiv 
betreffend).  Die  Fantasie  ist  so  vollendet  und  sicher  in  der  kontrapunktischen 
Stin^mfÜhrung,  daß  ich  sie  wohl  Peter  Philips  zuschreiben  möchte. 

3  Mitgetheilt  Ton  Ritter  a.  a.  O.  II  S.  65. 

*  TahuL  Nova,  Hamburg  1624,  I  2. 


|g4  ^^^  Seiffert, 


Chromatik;  zunächst  bei  6.  Fiescobaldi.^  Fr.  X.  Haberl  nimmt 
nun  in  der  Vorrede  zu  seiner  Ausgabe  Frescobaldis  für  diesen 
das  Verdienst  in  Anspruch,  zuerst  die  Chromatik  in  ausgedehnter 
Weise  in  die  Orgelmusik  überhaupt  eingeführt  zu  haben.  Die 
italienische  GesaDgsmusik  des  16.  Jahrh.  ist  mit  der  Chromatik 
bereits  ganz  vertraut ;  sie  dient  hier  aber  nur  dazu,  dem  Texte,  wo 
es  nöthig  ist,  das  Chroma  zu  geben  und  ihn  so  musikalisch  ent- 
sprechend zu  illustrieren.  Anders  ist  es  bei  der  Instrumentalmusik; 
hier  wird  die  Chromatik,  mit  welcher  sich  der  Begriff  eines  beson- 
deren Affekts  verbindet,  Selbstzweck;  und  in  dieser  Anwendung 
findet  sich  die  Chromatik  bei  den  Orgelmeistern  Italiens  vor  Fresco- 
baldi  nicht;  er  hat  sie  erst  bei  ihnen  eingebürgert.  Diesen  Oe- 
brauch  der  Chromatik  hat  aber  [Frescobaldi  nicht  aus  sich  selbst 
heraus  gefunden,  sondern  er  hat  ihn  von  den  Niederländern  über- 
nommen. Als  er,  noch  ein  Jüngling,  in  Flandern  weilte,  waren 
Männer  wie  Sweelinck,  P.  Philips, '-P.  Cornet  längst  fertige  Meister 
ihrer  Kunst.  In  wiefern  nun  allerdings  die  niederländische  in- 
strumentale mit  der  italienischen  vokalen  Chromatik  Zusammen- 
hang hat,  ist  eine  Frage,  die  hier  nicht  erörtert  werden  kann.  Bei 
Frescobaldis  Schüler,  J.  J.  Froberger,  finden  wir  sogar  das  Swee- 
linck'sche  Thema  in  verkürzter  Fassung  wieder  vor.  Es  bildet  in 
einer  y>  Toccata  t^  den  Grundgedanken  für  ,den  fugierten  Mittelsatz. 
Glücklicherweise  meldet  uns  eine  handschriftliche  Überlieferung' 
Zeit  und  Ort  der  Entstehung  des  Stückes:  nfatto  a  Bruxelles  anno 
1650]  (i  wir  werden  also  wieder  nach  den  Niederlanden  geführt. 
Frescobaldi  und  Froberger  wirkten  nun,  was  die  Chromatik  anlangt, 
wieder  vorbildlich  für  die  süddeutsche  Orgelschule.  Aber  bevor  sich 
hier  ihr  Einfluß  geltend  machte,  war  der  Bruf  von  Sweelincks  Kunst 
schon  bis  hierher  gedrungen.  Der  Augsburger  Organist  Christ. 
Erb  ach  schrieb  eine  y>Canzon  Cromatttcaa^^  in  welcher  er  die  chro- 
matische Quarte  Sweelincks  auf-  wie  absteigend  als  Thema  verar- 
beitet und  dazu  die  melodische  Fortsetzung  A  als  Gegenmelodie 
festhält.  Wir  überspringen  nun  die  große  Reihe  von  süd-  und  nord- 
deutschen Oi^elkomponisten,  welche  hier  noch  zu  nennen  wären, 
und  erwähnen  nur   noch  Joh.  Seb.  Bach.      In  seiner  »Canzona*^ 


1  Auswahl  der  Orgelkompositionen  Frescobaldis,  hrsg.  y.  F.  X.  Haberl,  Leipcig, 
S.  10,  22,  86;  Die  chromatische  Quarte  als  Kontrapunkt  S.  16,  43,  51,  77. 

2  Ritter,  a.  a.  O.  II  S.  225. 

•  Mscr.  der  Pariser   Nationalbiblioth.     Vm  2115;   Fol.  7  im  zweiten  Theil 
desselben;  freundlichst  mitgetheilt  von  Herrn  Dr.  O.  Fleischer  in  Berlin. 

*  Mscr.  Fol.  191.  Berlin,  Fol.  70  v. 

6  Orgelkompositionen,  Ed.  Peters,  IV.  nr.  10. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  |ß5 


▼erarbeitet  er  zunächst  die  chromatische  Quarte;  als  Gegenmelodie 
Terwendet  er  (7  im  ersten  und  B  im  zweiten  Theil.  Wenn  er  die 
Form  von  Frescobaldi  entlehnte,  so  rühren  doch  die  musikalischen 
Grrundgedanken  aus  dem  vererbten  Schatze  der  norddeutschen  Orgel- 
schule her.< 

Es  ist  nunmehr  die  Frage  zu   erörtern,  woher  Sweelinck  seine 
groBe  dreitheilige  Fantasieform  erhalten  hat,  oder,  falls  er  sie  selber 
schuf,  an  welche  bestehenden  Formen  er  anknüpfte.   Die  erste  Frage 
läfit  sich  leicht  beantworten.     Soweit  sich  nach  dem  bisher  zugäng- 
lichen Material  urtheilen  läßt,  so  findet  sich  die  groBe  dreitheilige  Form 
▼er  Sweelincks  Meisterzeit  in  dieser  Vollendung  weder  bei  den  Eng- 
ländern noch  den  Italienern   oder  Niederländern.     Wir  müssen  also 
annehmen,  daß  er  sich  diese  selbst  geschaffen  hat.    Allerdings  waren 
ihm  die  Elemente   dazu   gegeben;    und  an  Versuchen,    dieselben   in 
ähnlicher  Weise  zu  gruppieren,  hat  es  auch  nicht  gefehlt    Die  bei- 
den Hauptfugenformen  bei  den  Italienern,   Ricercare   und  Canzone, 
worden  durch  Niederländer  eingeführt  und  angebaut.     Jaques  Buus, 
Adriano  Willaert   und   durch   sie  beeinflußt,    die   beiden    Gabrieli^ 
haben  das  Wesen  beider  Formen  ziemlich  scharf  ausgeprägt.     Das 
Ricercare  verarbeitet  mehrere  Themata  gegeneinander   in  der  Weise, 
daB  möglichst  wenig  neues  kontrapunktisches  Material  nöthig  wird. 
Die  Canzone   begnügt   sich   dagegen    mit  einem  Thema  und  seiner 
melodischen    Fortsetzung,    stellt   sich    aber    durch    Einfahr ung    der 
Gegenbewegung  oder  durch  leichte  motivische  Umbildung  ein  neues 
Thema   her,   welches  in    einem  besonderen   Abschnitt  für  sich   be- 
handelt  wird.      Im  Ricercare   wendet    A.  |Gabrieli    auch   die    Ver- 
längerung des  Themas  an,  die  einfache  sowohl  wie  die  doppelte ;  wo 
es  angeht,  imitieren  dann  die  übrigen  Stimmen  das  Thema  in  kür- 
zeren  Werthen.     Beide  Formen  vereinigt  Sweelinck  zu  einer  drei- 
theiligen.     Die  Themata  der  drei  Theile  hängen  nach  dem  Prinzip 
der  Canzone  mit  einander  zusammen ;  die  Verarbeitung  der  Themata 
geschieht    dagegen  nach    dem    des  Ricercare.      Allerdings    wird    das 
Wesen  des  letzteren  etwas  gestört.      Denn   Sweelinck   begnügt  sich 
nicht  damit,  immer  dieselben  Kontrapunkte  nur  in  anderer  Verbin- 
dung wieder  vorzubringen,  sondern  er  läßt  auch  hier,  wie  wir  sehen, 
motivische  Weiterbildung  eingreifen.     Während  Haßler  bei  der  Ri- 
cercarform  seines  Lehrers  stehen  blieb,  erweiterte  sie  also  Sweelinck» 
Mit  diesem  Versuch    steht    er    indessen    nicht  allein    da;    mehrere 


1  Blan  vergleiche  Phil  Spitta,  Joh.  Seb.  Bach,  I  Leipzig  1873,  S.  418 ff. 
^  Vgl.  W.  J.  V.  Wasielewski,   Oesch.  der  Instrumentalmusik  im  16.  Jahrh., 
BerHn  1878,  Beisp.  S.  27  ff. 


|gß  Max  Seiffert, 


Niedeiländer  gingen  in  ähnlicher  Richtung  weiter.  Die  ^Fuga  suavisst- 
maa  von  Karl  Luython,^  einem  Zeitgenossen  Sweelincks,  zerfällt 
in  drei  Theile,  welche  gar  nicht,  oder  nur  sehr  lose  zusammenhängen. 
Es  ist  eine*rein  äußerliche  Aneinanderreihung  von  drei  Ricercaren,  deren 
Themata  nicht  motivische  Fühlung  haben.  Einen  dritten  Weg  sehen 
wir  von  dem  Brüsseler  Organisten  Peter  Cornet^  eingeschlagen. 
Das  Thema  erscheint  im  Verlaufe  seiner  Fantasieen  mehrere  Male 
umgebildet;  aber  der  motivische  Zusammenhang  ist  stets  klar  zu  er- 
kennen. Er  liebt  es  auch,  die  Umbildungen  mit  dem  ursprünglichen 
Thema  zusammenzuführen.  Die  Kontrapunkte  werden  dafür  nicht 
motivisch  weiter  verarbeitet.  Diese  Form  finden  wir  in  den  Capricci 
Frescobaldis  wieder.  Was  ihn  von  Cornet  unterscheidet,  ist 
das  Streben  nach  Gegensätzlichkeit  in  dem  Charakter  der  einzel- 
nen Theile.  Er  läßt  Taktwechsel  eintreten  und  prägt  die  Kontra- 
punkte schärfer  aus.  Im  Princip  aber  stimmt  er  völlig  mit  Cornet 
überein.  Wenn  nun  Fr.  X.  Haberl  bemerkt,  daß  Frescobaldi  diese 
mehrtheilige  Fugenform  zuerst  in  die  Orgelliteratur  eingeführt  habe, 
so  trifft  dies  nach  obigen  Andeutungen  für  Italien  zu.  Die  Origi- 
nalität kommt  ihm  aber  nicht  zu;  hierin,  wie  in  der  Anwendung 
der  Chromatik,  steht  er  auf  den  Schultern  der  Niederländer.  — 
Es  ist  sehr  wichtig,  diese  verschiedenen  Abarten  der  großen  Fugen- 
form auch  fernerhin  zu  verfolgen;  man  kann  daran  ermessen,  was 
alles  noch  nöthig  war,  ehe  man  zu  den  einfachen  Gesetzen  der 
modernen  Fuge  gelangen  konnte.' 

1  Vgl  Ritter  a.  a.  O.  H  S.  55. 

2  Vgl  oben  S.  162. 

s  Man  vergleiche  mit   dieser  Darlegung  die  Definition  des  Mich.  Prätorius, 
Synt.  muB.  III  S.  21 : 

T^Fantasia :  Capriccio. 
Wenn  einer  nach  seinem  eignem  plasier  vnd  gefallen  eine  Fugam  zu  tractiren  vor 
sich  nimpt,  darinnen  aber  nicht  lang  immoriret,  sondern  bald  in  eine  andere  fugani, 
wie  es  ihme  in  Sinn  kömpt,  einfället :  denn  weil  ebener  massen,  wie  in  den  rechten 
Fugen  kein  Text  darunter  gelegt  werden  darff,  so  ist  man  auch  nicht  an  die  Wörter 
gebunden,  man  mache  viel  oder  wenig,  man  digredire,  addire,  detrahirej  kehre 
vnd  wende  es  wie  man  wolle.  Vnd  kan  einer  in  solchen  FanioBien  vnd  Caprie- 
den  seine  Kunst  vnd  artißcium  eben  so  wol  sehen  lassen :  Sintemal  er  sich  alles 
dessen,  was  in  der  Music  tollerahile  ist,  mit  bindungen  der  Discordanten,  propor- 
tionibus  ^c.  ohn  einigs  bedencken  gebrauchen  darff;  doch  daß  er  den  modutn  vnd 
die  Ariam  nicht  gar  su  sehr  vberschreite,   sondern  in  terminis  bleibe. 

Fuga:  Ricercar, 

dieweil  in  tractirung  einer  guten  Fugen  mit  sonderbahrem  fieiß  vnd 

nachdencken  aus  allen  winckeln  zusammengesucht  werden  muß,  wie  vnd  vif  mancher- 
ley  Art  und  weise  dieselbe  in  einander  gefügt,  geflochten,  duplirt,  per  directum  et 
indirectum  seu  contrarium,  ordentlich,  künstlich  vnd  anmuhtig  zusammen  gebracht, 
'vnd  biß  zum  ende  hinausgeführt  werden  könne.« 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutsehen  Schüler.  jg7 


Mehrfach  yon  der  festgestellten  Form  abweichend  ist  die  lydische 
Fantasie  über  » Ut  re  mi  fa  sol  la,  ä  4  voci.  Jehan  Petersen  Swelling, 
1612^,^  Der  Komposition  liegt  abwechselnd  das  hexachordum  naturale 
und  molle  zu  Grunde,  welches  bei  jedem  Auftreten  seinem  ganzen 
Umfange  nach  auf-  und  absteigend  benutzt  wird.  Dies  geschieht 
beim  ersten  Haupttheil  in  ganzen,  beim  zweiten  in  halben,  beim 
dritten  in  Viertel-  und  Achtelnoten.  Der  erste  Haupttheil  beginnt 
mit  einem  Gegenthema, 


WVIZ    ^  -pzi-^  ^=g=:  p"    f— ^^ 


-AVi.. 


welches  dreimal  durchgeführt  wird.  Es  wird  aber  nicht  Note  für 
Note  beantwortet,  sondern  wandelt  sich  allmählich  um,  bis  es  endlich, 
noch  vorm  Beginn  des  zweiten  Haupttheils,  ganz  übergeht  in  eine 
neue  Gegenmelodie;  diese  macht  dann  wieder  einer  anderen  Platz. 
Unter  stetiger  Steigerung  der  Kontrapunkte  und  des  Themas  in  ihrer 
Beweglichkeit  gelangt  die  Fantasie  bis  zur  Engführung  in  Achtel- 
noten und  schließt  dann  mit  einer  viertaktigen  Passage  ab.  Die  Be- 
handlung des  Hexachords  war,  wenn  man  yon  den  discantisierenden 
Stücken  des  16.  Jahrh.  absieht,  im  17.  Jahrh.  anscheinend  sehr  be- 
liebt. Dr.  John  BuU^  hat  eine  Reihe  von  Variationen  darüber  ge- 
schrieben. Nach  Frescobaldis  ^  Vorgang  behandelten  das  Hexachord 
noch  Froberger,  G.  Muffat  u.  a.  Von  den  Norddeutschen  ist  S  cheidt 
zu  nennen.  Dieser  benutzte  übrigens  Sweelincks  Gegenthema  als 
Hauptthema  eines  Echo  und  einer  dreistimmigen  Fantasie.^ 

Die  drei  Fantasieen  muff  die  manier  eines  Echo«^  wenden  sich  ganz 
von  der  großen  dreitheiligen  Form  weg;  die  Berechtigung,  den  Namen 
^Fantasiea  zu  führen,  beruht  nur  auf  der  motivischen  Um-  oder 
Weiterbildung,  die  in  ihnen  durchgeführt  wird.  In  der  ersten, 
jonischen  Echofantasie  wird  26  Takte  hindurch  eine  Melodie,  welche 
diatonisch  auf  und  absteigend  eine  Quarte  oder  Quinte  durchläuft, 
von  den  beiden  untersten  Stimmen  kanonisch  vorgetragen.  Vom 
26.  Takt  an  entrollt  sich  nns  sodann  ein  buntes,  oft  wechselndes 
Büd.  Die  Grundmelodie  wird  auf  die  mannigfaltigste  Weise  motivisch 
verändert.  Auf  diesen  in  seinen  Farben  sich  stets  verändernden 
Faden  sind  die  ganzen  perlenden  Echomanieren  aufgereiht.  Anders, 
aber  nicht  minder   geschickt  ist  die  Weiterbildung  in   der  zweiten, 

^  Virginalbuch  der  Königin  Elisabeth. 

2  Vgl.  S.  158.  Anm. 

8  Frescobaldi- Ausgabe  von  Haberl,  S.  74. 

*  Tab.  Nova  U  2  und  6. 

5  Eitners  Ausgabe,  S.  Iff. 


Igg  Max  Seiffert, 


äolischen  Echofäntasie.  Diese  beginnt  mit  einer  diatonisch  eine  Quarte 
durchlaufenden  Melodie,  also  ähnlich  wie  die  erste  Echofantasie;  die 
Melodie  erscheint  übrigens  im  weiteren  Verlaufe  auch  chromatisch 
erweitert.^  Die  innere  Entwickelung  wird  nun  durch  eine  geschickte 
Verkettung  wechselnder  Kontrapunkte  herbeigeführt.  Die  letzten 
kontrapunktischen  Bewegungen  irgend  einer  Stimme  beim  Eintritt 
einer  Kadenz  werden  von  einer  anderen  Stimme  aufgenommen  und 
von  den  übrigen  so  lange  imitierend  weitergesponnen,  bis  sich  auf 
dieselbe  Weise  wieder  eine  andere  kleine  Melodie  in  den  Vorder- 
grund stellt.  Beide  Echofantasien  beginnen  also  zwar  fugenartig, 
die  Fortsetzung  bleibt  aber  nicht  so  kompakt,  sondern  löst  sich  mehr 
oder  weniger  in  die  glitzernden  Echofiguren  auf. 

Auch  zu  dieser  instrumentalen  Form  bekam  Sweelinck  aus  Italien 
die  Anregung.  Das  Echo  wurde  zuerst  in  der  italienischen  Schäfer- 
poesie angewendet;  es  fand  dann  bald  seinen  Weg  nach  dem  Süden 
Deutschlands  und  wurde  hier  ein  beliebtes  Kunstmittel  für  Kom- 
ponisten weltlicher,  und  geistlicher  Lieder.  Sweelinck  übernahm  es 
auch  in  die  instrumentale  Musik.  Die  beiden  von  ihm  ausgeprägten 
Arten  der  Echobehandlung  haben  sich  durch  die  ganze  norddeutsche 
Orgelschule  hindurch  erhalten.  Auf  dem  Grunde  oder  unter  der 
Oberfläche  von  ruhig  fortschreitenden  oder  nur  leicht  bewegten  Har- 
monien ergeht  sich  eine  rhythmisch  lebhafter  gestaltete  Stimme, 
welche  meist  kurze  Melodietheile  zuerst  in  einer  höheren,  dbnn  in 
einer  tieferen  Lage  (oder  umgekehrt)  ausführt.  Längere  oder  kürzere 
Tonfolgen  und  Akkordverbindungen  werden  entweder  ganz  oder  in 
ihrem  letzten  Theile  in  derselben  Lage,  in  welcher  sie  zuerst  er- 
tönten, wiederholt.  Mit  diesen  beiden  Arten  verbindet  nun  Swee- 
linck ein  anderes  Kunstmittel  niederländisch-italienischer  Herkunft, 
die  Wechselchörigkeit  Willaerts.  Ein  zweistimmiger  Satz  wird  von 
2  äqualen  Stimmen  vorgetragen;  am  Schlüsse  setzen  2  andere  Stim- 
men ein,  die  dasselbe  nur  eine  Oktave  tiefer  oder  höher  wieder- 
holen. Eine  andere  Art  ist  es,  wenn  drei  Stimmen  innerhalb  der 
Vierstimmigkeit  einen  Satz  ausführen  und  dieser  in  höherer  oder 
tieferer  Lage  wiederholt  wird,  indeß  die  beiden  Mittelstimmen  ruhig 
weitergehen.  Die  Wechselchörigkeit  war  ebenfalls,  wie  das  Echo, 
in  Deutschland  bald  bekannt  geworden ;  sie  war  durch  die  Koloristen 
sogar  schon  in  die  deutsche  Orgelmusik,  wenn  auch  noch  nicht  als 
selbständiges  Kunstmittel,  eingeführt  worden.  Als  solches  erscheint 
sie  erst  bei  Sweelinck  und  seinen  Schülern.     R.  Eitner^  macht  nun 


1  Vgl  oben  S.  163. 

2  »Hassler  und  Sweelinck,«  M.  f.  M.  IV.  S.  41  ff. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  ]  gQ 

auf  eine  Übereinstimmung  in  diesem  Punkte  zwischen  H.  L.  Hassler 
und  Sweelinck  aufmerksam,  die  nach  dem  Gesagten  nicht  weiter  auf- 
fällig sein  sollte.  Beide  fanden  ihie  musikalische  Ausbildung  an  der 
Stätte,  wo  Willaert  gewirkt  und  die  beiden  Gabrieli  noch  wirkten. 
Von  einer  geistigen  Beeinflussung  beider  Männer  gegenseitig  kann 
schon  gar  nicht  die  Bede  sein.  Zunächst  ist  es  schon  sehr  unwahr- 
scheinlich, daß  sich  beide  persönlich  gekannt  haben ;  Sweelinck  war, 
als  Hassler  1584  nach  Venedig  kam.  bereits  vier  Jahre  lang  in  seiner 
Heimath  ein  angesehener  Organist.  Von  einem  Einfluß  Sweelincks 
auf  Hassler  könnte  man  nur,  wie  wir  später  sehen  werden,  mit  Be- 
zug auf  das  erste  Dezennium  des  17.  Jahrh.  reden;  —  und  damals 
war  doch  Hassler  schon  längst  zu  einer  selbständigen  Meisterschaft 
gelangt.  Die  gemeinsame  Art  der  Ausbildung  ist  ausreichend  und 
allein  zulässig,  um  die  Übereinstimmung  im  Gebrauch  gewisser  Kunst- 
mittel bei  beiden  Männern  zu  erklären. 

Sweelincks  Stellung  zur  zweiten  freien  Orgelform,  der  Toccate, 
erkennen  wir  aus  6  Vertretern^  derselben.  Auch  in  ihnen  ist  er, 
was  die  Form  anlangt,  von  venetianischen  Einflüssen  nicht  frei  ge- 
blieben. Cl.  Merulo  und  A.  Gabrieli  hatten  jeder  in  besonderer 
Weise  die  Toccate  bestimmt:^  ersterer,  indem  er  die  ruhig  fließen- 
den Harmonien  und  die  strömenden  Passagen,  die  gegensätzlichen 
Elemente  der  Toccate,  sich  beide  mehr  durchdringen  ließ,  ohne  doch 
ihren  Gegensatz  aufzuheben;  jener,  indem  er  beide  Gegensätze  durch 
einen  fugierten  Zwischensatz  trennte  und  vermittelte.  In  Merulos 
Art  komponiert  sind  nun  die  ersten  5  Toccaten  Sweelincks.  Breite 
und  volle  Harmonien  gehen  in  schneller  fließende  Melodien  über. 
Wechselchörigkeit,  Sequenzen,  kurzes  imitatorisches  Stimmengewebe, 
echoartige  Wiederholungen,  gebrochene  Intervalle  und  Akkorde:  das 
'  sind  die  einzelnen  Bestandtheile,  aus  deren  buntem  Spiel  sich  auch 
bei  ihm  die  Toccate  zusammensetzt.  Mehr  Gabrieli'schen  Gepräges 
ist  dagegen  die  letzte,  äolische  Toccate.  Nach  einem  motivisch  ge- 
arbeiteten Präludium,  welches  zu  einer  phrygischen  Kadenz  leitet, 
setzt  die  Toccate  mit  einem  fugierten  Satze  ein,  nach  dessen  Schluß 
erst  sich  jene  Toccatenelemente  einfinden. 

Überblickt  man  den  bisherigen  Gang  der  Darstellung,  so  müssen 
wir  zugestehen,  daß  Sweelinck,  was  die  Formen  betrifft,  bei  den 
Venetianern  gelernt  hat.  Bei  ihnen  fand  er  die  Vorbilder  seiner 
Fantasien,    Echos  und  Toccaten.     Ein  Moment  ist  es  aber,   welches 


1  Fünf  befinden  sich  im  Mscr.  des  Grauen  Klosters,  eine  im  Virginalbuch  der 
Königin  Elisabeth ;  drei  der  ersteren  s.  in  Eitners  Ausgabe  S.  32  ff. 

2  Ritter  a.  a.  O.  I  S.  18,  23. 


j  70  Max  Seiffert, 


seinen  Fortschritt  über  jene  hinaus  kennzeichnet,  nämlich  die  Kunst, 
einen  gegebenen  melodischen  Grundstoff  mit  allen  zu  Gebote  stehen- 
den instrumentalen  Mitteln  rhythmisch -motivisch  weiter-  und  um- 
zubilden. Diese  Beobachtung  giebt  uns  überhaupt  das  Mittel  an  die 
Hand,  die  Kompositionen  der  Merulo-Gabrieli'schen  Schule  von  denen 
der  Niederländer  und  deutschen  Schüler  Sweelincks  scharf  zu  unter- 
scheiden. Jene  erscheinen  uns,  weil  sie  der  motivischen  Fortbildung 
entbehren  und  sich  an  der  mannigfaltigen  Kombination  festgehaltener 
Themata  genug  sein  lassen,  wie  ein  klares,  durchsichtiges  und  glattes 
Gewebe;  diese  dagegen  scheinen  auf  den  ersten  Blick  hin  ein  rauhes, 
verworrenes  und  unklares  Gefüge  zu  haben.  Umgekehrt  dazu  aber 
im  Verhältniß  steht  der  innere  musikalische  Werth.  Die  italienischen 
Orgelkompositionen  erfreuen  durch  ihren  Glanz  auf  der  Oberfläche, 
unter  welcher  sich  aber  kein  tieferer  Kern  birgt.  Wer  sich  dagegen 
von  der  rauhen  Außenseite  der  norddeutschen  Orgelmusik  nicht  ab- 
schrecken läßt,  sondern  durch  jene  hindurchdringt,  dem  offenbart 
sich  die  Kraft  der  Empfindung  und  die  Tiefe  des  Gemüths,  welche 
ihr  innewohnen.  Diese  Erwägung  bestimmt  uns  auch,  ein  Ricercare, 
welches  Ritter,  *  der  Autorität  seiner  Vorlage  mit  vollem  Rechte 
folgend,  Gio.  Gabrieli  zuweist,  Eitner^  aber  mit  nichts  beweisen- 
den Gründen  für  Sweelinck  in  Anspruch  nehmen  will,  nicht  als 
Sweelinck'sche  Komposition  anzuerkennen;  weder  Form  noch  Kom- 
positionstechnik spricht  für  Sweelinck. 

Die  Kunst  der  motivischen  Weiterbildung,  welche  Sweelinck 
also  bei  den  Italienern  nicht  lernen  konnte,  fand  er  bis  zu  einem 
hohen  Grade  ausgebildet  vor  in  den  Variationen  der  englischen  Vir- 
ginalmusik.  Die  Variation  war  eine  beliebte  Form  in  der  Hausmusik 
des  16.  Jahrb.  sowohl  bei  Italienern  wie  bei  Deutschen.  Das  vor- 
züglichste Hausinstrument,  die  Laute,  war  aber  natürlich  nicht  im- 
stande, die  Variationen  bis  ins  Einzelne  hinein  charakteristisch  und 
fein  zu  zeichnen.  Die  Koloristen,  welche  den  Gesichtskreis  der  Orgel- 
musik auch  auf  das  weltliche  Gebiet  hin  erweiterten,  führten  ihm 
so  zwar  das  akkordische  harmonische  Element  zu,  jedoch  bestand  die 
Variationstechnik  nur  in  ihrem  Kolorieren.  Allen  Völkern  weit 
vorauf  auf  diesem  Gebiet  waren  schon  im  16.  Jahrh.  die  Engländer. 
Material,  um  dies  Verhältniß  genügend  überblicken  zu  können,  bietet 
Farrencs  Publikation ;  3  es  wäre  nur  zu  wünschen,  daß  endlich  einmal 


1  a.  a.  O.  n  S.  18 f.   aus  Mscr.  Fol.  191  Berlin;  die  erste  Hand  bezeichnet 
Gio.  Gabrieli  als  Komponisten,  ohne  von  der  zweiten  korrigiert  zu  werden. 

2  seine  Kritik  über  Ritters  Werk,  M.  f.  M.  XVII  S.  73 ff. 

3  »X«  tresor  des  pianiste»*  II  Paris   1863,  Heft  1:    »Parthenia  .  .  •  eotnpoaed 
hy  three  famous  Masters:    W,  Byrd,  Dr,  J,  Bull  ^'  O,   Gibbons.» 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  |7J 


alle  Quellen  hierfür  wieder  ans  Licht  gezogen  würden.     Besonders 
zeichneten   sich   die  drei  großen  englischen  Zeitgenossen  Sweelincks 
aus:    "William  Bird    durch    melodischen   Stimmenfluß    und    liehlich- 
innigen   Ausdruck;   Orlando  Gibbons  und  John  Bull  durch  virtuose 
Technik  und  Kraft.     Ihnen  stellt  sich  Sweelinck  ebenbürtig  zur  Seite. 
Wir  kennen  von  Sweelinck  5  Variationsreihen :  3  über  weltliche 
Lieder,   2  über  Choralmelodien.     Zwei  Faktoren  sind  es,  welche  das 
Wesen    der   ersteren  bestimmen:    die   Folge   der  Grundakkorde  und 
die   Umbildung  der  Melodie.     Die    mit    der   Melodie    mitgegebenen 
Harmonien  werden  alle  Variationen  hindurch  festgehalten;^  ein  Prin- 
zip,   welches   in    der  Lautenmusik    und  von   den   Koloristen  streng 
beobachtet  wird,  und  welches  überhaupt  von  jeher  mit  der  Variation 
eng   verknüpft   gewesen    zu    sein    scheint.      Nach    dieser   Richtung 
konnten  also  Sweelincks  Schüler  der  deutschen  Kunst  nichts  Neues 
bringen;  wohl  aber  in  dem  zweiten  Punkte.     Auf  dem  feststehenden 
harmonischen  Grunde  entfalten  sich  die  verschiedenen  Gebilde.     Die 
Melodie   wird    in  mannigfacher    Weise    melodisch    und    rhythmisch 
g^uidert;  ihre  einzelnen  Töne  werden  umspielt.     Letzteres  geschieht 
aber  nicht  nach  der  Koloristen  Art,   so  daß   das  ganze  Figurenwerk 
nur  als   ein   äußerlich  aufgeklebter  Zierrath   erscheint,    sondern   so, 
daß  die  Umspielungen   frische,    lebenskräftige  und  selbständige  Ge- 
danken sind,    welche   motivisch   das  ganze  Stimmengeflecht    durch- 
dringen und  mit  den  Harmonien  innig  verschmelzen.     Die  Koloristen- 
Variationen  rufen  den  Eindruck  hervor,  als  ob  sie  versuchen  wollten, 
die  blendende   Weiße   einer  Marmorstatue  mit    einem   ganz    durch- 
sichtigen Schleier  zu  verdecken.     Ein  ganz  anderes  Gesicht   haben 
die    englischen    und    niederländischen    Variationen.     Man    sieht    die 
plastisch  hervortretenden  Formen  des  harmonischen  Gefuges;    ihnen 
schmißt  sich  jedoch  ein  farbenprächtiges,  viel  gefaltetes  Gewand  an, 
welches    den    Linien    nachgiebig   folgt.     In    der   Gruppierung    folgt 
Sweelinck  dem  Prinzip   der  Steigerung.     Den  Anfang    machen    die 
voller   gesetzten,  mit  Imitationen  ausgestatteten   Variationen,    dann 
folgen  die  lebhafter  gestalteten,  deren  Figuren  sich  in  immer  flüssigere 
Elemente  auflösen.     Die   verschiedenen  Variationen    lassen  sich  im 
einzelnen    auf  zwei  Grundformen   zurückführen,    wir   unterscheiden 
motivische  und  figurierende  Variationen.     Zur  ersten  Gruppe  gehören 
diejenigen,  in  welchen  die  Melodie  freikanonisch  von  zwei  Stimmen 
vorgetragen    wird,    während   die   übrigen  Stimmen   die   harmonische 
Gresamtwirkung  herstellen.     Femer  rechnen   dazu  alle,  in  welchen 


1  Kur  in  seltenen  Fällen  wird  davon  der  motivischen  Arbeit  zu  Liebe  abge- 
wichen. 


172 


Max  Seiffert, 


eine  geschickte  und  zwanglose  Verkettung  oder  Aufeinanderfolge 
wechselnder  Motive  die  Umkleidung  für  den  inneren  Kern  der  Grund- 
akkorde abgiebt.  Als  figurierende  Variationen  können  wir  diejenigen 
bezeichnen,  in  welchen  die  Melodie  durch  allerhand  Figuren,  Lauf- 
werk, gebrochene  Intervalle  und  Akkorde  begleitet  wird  oder  selbst 
in  diese  Elemente  aufgelöst  wird. 

Der  mixolydischen  »Allemande:    Unter  der  linden  grüne  n^  liegt 
die  Melodie  zu  Grunde: 


$ 


T 


♦i- 


e 


£ 


1: 


t=F 


^JJIp.  rüT 


^-^-^-cf 


Text  wie  Melodie  stammen  beide  aus  England.  Hier  sang  man  die 
Melodie  2  zu  dem  Texte :  i^All  in  a  garden  twee  lovers  sai  at  ease.ft  In 
den  Niederlanden  muß  der  deutsche  Text  zu  Anfang  des  17.  Jahrh. 
bekannt  gewesen  sein.  Im  Liederbuch  des  Thysius^  wird  eine 
Allemande  des  Grafen  von  Lingen  »AUemande  Linde  «r  genannt, 
welcher  Name  dem  Schreiber  offenbar  geläufiger  war.  Die  späteren 
Schicksale  des  Textes  und  der  Melodie  nachzuweisen,  ist  die  Auf- 
gabe des  Liedforschers.  Es  genügt  hier  darauf  hinzuweisen,  daß  die 
Melodie,  allerdings  nur  im  ersten  Theil  unversehrt,  sich  erhalten  hat 
zu  dem  Liede:  »Drei  Lilien,  ij,  die  pflanzt'  ich  auf  ein  Grab.«*  Die 
beiden  anderen  Variationen  sind  von  Sweelinck  und  seinem  Schüler 
Sam.  Scheidt,  gemeinsam  komponiert.  Von  letzterem  rühren  her 
die  Variationen  4,  5  und  6  über  die  »englische  Fortuna «r,*  Variation 
2  und  4  über  die  y>Paduana  Hispania«]^  die  übrigen  sind  also  Swee- 

^  Mscr.  Fol.  191  Berlin,  Fol.  10 r;  Mscr.  des  grauen  Klosters;  Tgl.  oben  S.  155. 
Anm.  1.    Eine  Vergleiohung  beider  Vorlagen  ist  wichtig  für  die  Versetsung^zeiohen ; 

beide  haben   in  Takt  5  übereinstimmend  T 

2  W.   Chapell,    Populär  Music  of    the    olden^Time,    1   London,    1855-1857, 

S.  llOff. ;  er  hat  übrigens  in  Takt  5  der  Melodie  Ss. 

^  Tijdschrift   der    Vereeniging    voor   Noord- Nederlands    Muzieckgtsehiedenis, 
J.  P.  N.  Land:  »JJ«<  Luithoek  van  Thysius,^  Deel  II  S.  289  f. 

^  Man  vergleiche  die  Kommersbücher. 

^  Mscr.  des  grauen  Klosters ;  vgl.  ob.  S.  155.  Anm.  1. 

0  ebenda;  s.  Eitners  Ausgabe  S.  48. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  ^73 

linck  zuzuschreiben.  Die  »englische  Fortuna u  war  ein  in  England 
und  außerhalb  desselben  beliebtes  Lied.  Eine  Yirginalbearbeitung 
lieferte  W.  Bird  für  das  Virginalbuch  der  Königin  Elisabeth.^  Ver- 
schiedene Lesarten  der  »Paduana  Htspantm^  theilt  Land  mit;  darunter 
auch  die  Melodie  Sweelincks,  jedoch  nach  Eitners  unkorrekter  Aus- 
gabe. Die  richtige  Lesart  deckt  sich  aber  ziemlich  genau  mit  der 
von  Chappell^  mitgetheilten  Fassung.  Es  ist  beachtenswerth,  daß 
Sweelinck  mit  der  technischen  Behandlungsweise  zugleich  den  melo- 
dischen Stoff  der  englischen  Yirginalmusik  entnahm. 

An  dieser  Stelle  sind  noch  einige  Bemerkungen  über  eine  kom- 
positorische Eigenart  Sweelincks  einzuschalten.  Er  liebt  es  nämlich, 
kleinere  oder  größere  Strecken  von  bestimmten  Tonfolgen  und  -Ver- 
bindungen ein  oder  mehrere  ^Male  auf  verschiedenen  Tonstufen 
nach  einander  zu  wiederholen,  also  Sequenzen  zu  bilden.  Eitner^ 
bemerkt  i^hierzu:  »Bei  den  Orgelstücken  tritt  die  Vorliebe  für  Se- 
quenzen sehr  hervor  und  seine  Nachfolger  haben  nicht  versäumt, 
gerade  dieses  billige  Hilfsmittel  bis  zum  Überdruß  zu  kultiviren.a 
Vom  Standpunkte  eines  modernen  Musikers  aus  mag  dies  Urtheil 
wohl  berechtigt  sein,  das  17.  Jahrh.  dachte  aber  über  die  »Billigkeit« 
offenbar  anders.  Die  Italiener  führten,  wie  die  Wechselchörigkeit 
und  das  Echo,  so  auch  die  Sequenzen  ein,  um  den  Text  musikalisch 
lebendiger  zu  illustrieren;  so  gewöhnte  man  sich,  .mit  den  Sequenzen 
den  Begriff  eines  gesteigerten  Affects  zu  verbinden.  Aus  der  Vokal- 
musik gelangten  jene  auch  [^in  die  Übertragungen  der  Koloristen, 
wurden  aber  damit  noch  nicht  selbständige,  instrumentale  Ausdrucks- 
mittel. Dies  geschah  anscheinend  erst  durch  die  Anregung  der 
engUschen  Virginalmusik.  Das  englische  und  schottische  Volkslied 
jener  Zeit  braucht  zum  Aufbau  seiner  Melodie  nur  sehr  geringe 
Mittel.  Sie  setzt  sich  zusammen  aus  wenigen  Melodiestückchen,  die 
mannigfach  mit  einander  kombiniert  und  wiederholt  werden.  Es 
war  natürlich,  daß  sich  die  Virginalbearbeitungen  der  einfachen 
musikalischen  Struktur  anpaßten  und  daß  überall  da,  wo  gleiche 
Melodietonfolgen  eintraten,  sich  auch  gleiche  Harmoniefolgen  ein- 
stellten,  welche    dann   in    den    Variationen    die  Wiederholung    von 


^  Charles  Bumey,  A  General  History  of  Mustc,  III  London,    17S9,  S.  118. 

*  Tijdächrift  der  Vereenig,  v.  N.-Nederl.  Muzickgeschied.,  Deel  II  1885,  S.  312. 
Eine  kleine  Bezichtigung  möge  hier  Platz  finden.  Eitner  theilt  als  Titel  mit: 
•Paduana  et  Hispania,  M,  J.  P.  S,  S,  O. ;«  Land  konjiciert  daraus:  »Faduana  de 
Hispania.9  Im  Mscr.  des  grauen  Klosters  steht  aber  ganz  deutlich:  »Paduana 
Ritpania,  M.  J,  P.  S,  et  S.  S,  O.« 

»  Populär  Musie  of  the  olden  time,  I  London  1855-1857,  S.  240  f. 

*  Vorrede  zu  seiner  Ausgabe,  S.  VI. 


174  Max  Seifltert, 


Figuren  mit  sich  brachten,  welche  aus  dem  Akkompagnement 
entsprangen  und  sich  der  instrumentalen  Technik  anpaßten.  Hier 
war  also  das  Kunstmittel  der  Sequenzen  ein  rein  instrumentales 
und  Sweelinck  vermittelte  es  durch  seine  Schüler  an  die  norddeutsche 
Kunst.  Wenn  spätere  Meister  alle  bis  dahin  vorhandenen  Kunst- 
mittel mit  Auswahl  zu  benutzen  und  jedes  geschmackvoll  an  seine 
richtige  Stelle  zu  setzen  verstanden,  so  darf  man  dies  noch  nicht 
vom  Anfang  des  17.  Jahrh.  verlangen.  Die  Meister  dieser  Periode 
leisteten  das  Ihrige,  indem  sie  das  neue,  noch  ungewohnte  Kunst- 
mittel für  ihre  Technik  geschmeidig  zu  machen  suchten. 

Die  beiden  Choral  Variationen  sind  über  ein  ^^Da  pacema^  und 
über  die  Melodie  des  3.  Psalms^  komponiert.  Letztere  ist  die  noch 
heute  zu  dem  Liede:  »Wenn  wir  in  höchsten  Nöthen  sein«  übliche 
Melodie;  sie  hat  bei  Sweelinck  eine  etwas  abweichende  Fassung: 


'  ^    f^    S^       ^       ^' 


■Sh 


■f- 


■^         ^         ^ ^ <9 


3^_^_25- 


X 


—^'  r^  <g         ^- 


Die  Behandlung  beider  Melodien  ist  prinzipiell  verschieden  von  der 
weltlichen  Liedvariation.  Die  Melodie  bleibt  in  allen  Variationen 
unverändert;  nicht  sie,  sondern  ihr  kontrapunktisches  Gewand  wird 
variiert.  Damit  ist  gleichzeitig  ausgesprochen,  daß  die  begleitenden 
Kontrapunkte  zu  den  einzelnen  Melodietönenen  nicht  immer  wieder 
dieselben  Harmonien  andeuten,  wie  bei  der  Liedvariation,  sondern 
daß  sie  ihren  Standpunkt  möglichst  wechseln.  Das  Formenprinzip 
der  Choralvariation  ist  es  also,  den  der  Melodie  innewohnenden  har- 
monischen Keichthum  durch  die  begleitenden  Stimmen  möglichst 
allseitig  zu  erschließen  und  zu  entfalten.  Denselben  Gesichtspunkt 
hatte  die  Entwickelung  der  deutschen  Orgelmusik  von  K.  Paumann 
an  im  Auge.  Die  höchsten  Bresultate,  welche  hier  erzielt  wurden, 
finden  wir  bei  H.  Büchner.^  Hier  machte  aber  die  Entwickelung 
Halt ;  sie  kam  nicht  über  den  vokalen  Stil  hinaus.  Auf  demselben 
Wege  waren  dagegen  die  Engländer  dazu  gelangt,  die  begleitenden 
Kontrapunkte  zu  abgerundeten  instrumentalen  Figuren  und  Motiven 
zu  verdichten. 4     Dasselbe  ist  bei  den  Niederländern  der  Fall.     Peter 


1  Mscr.  Fol.  191.  Berlin.  Fol.  26  v. 

2  Yirginalbuch  der  Königin  Elisabeth.. 

3  Karl  Paesler,  Fundamentbuch  von  Hans  Buchner,   Yierteljahrsschr.    f.  M. 
1889,  S.  84  ff. 

^  Proben  aus  John  BuUs  Variationen  über   das  Hexachord  und  ein  Miserere 
bei  Charles  Burnev,  a.  a.  O.  S.  115  ff. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  ilb 


Coxnet^  hat  eine  Choralbearbeitung  hinterlassen,  deren  erster  Ab- 
schnitt den  Choral  motettenartig  durchfuhrt.  Der  letzte  hält  zu  der 
Melodie  eine  Gegenmelodie  fest,  welche  Yop  den  Begleitstimmen 
motettenartig  durchgeführt  wird.  Sweelincks  j>Da  pacem«^  in  wel- 
chem die  Melodie  viermal  auftritt,  ist  in  der  Form  dem  zweiten 
Haupttheil  einer  Fantasie  nachgebildet.  Ausgehend  von  der  Zwei- 
stimmigkeit,.  erweitert  sich  der  Satz  beim  zweiten  Einsetzen  der  Me- 
lodie zur  Drei-,  beim  dritten  zur  Vierstimmigkeit.  Zu  Anfang  führt 
die  zweite  Stimme  gemessene  und  einfache  Begleitungsfiguren  aus, 
die  sich  dann  allmählich  in  der  Lebendigkeit  steigern.  Sowie  aber 
die  Dreistimmigkeit  erreicht  ist,  macht  sich  immer  mehr  die  imitie- 
rende und  motivische  Schreibart  geltend.  In  dem  dritten  Abschnitt 
befindet  sich  ferner  ein  dreizeitig  gemessener  Zwischensatz.  Von  der 
Fantasieform  abweichend  ist  dagegen  die  Bildung  der  Kontrapunkte. 
Diese  imitieren  namentlich  in  den  Einsätzen  die  Anfangsnoten  der 
Choralmelodie;  bevor  die  Melodie  zum  vierten  Male  ertönt,  wird  sie 
motettenartig  durch  ein  aus  ihr  gebildetes  Motiv  in  den  drei  Begleit- 
stimmen  eingeleitet.  Der  dritte  Psalm  wird  in  5  selbständigen,  von 
einander  getrennten  Variationen  behandelt;  die  ersten  beiden  sind 
zwei-,  die  anderen  dreistimmig,  —  eine  Anlehnung  an  die  Fantasie- 
form liegt  also  nicht  vor.  Die  1.  und  4.  Variation  zeigen  motivische 
Anlehnung  an  die  Choralmelodie;  die  übrigen  drei  figurieren  ganz 
frei  in  der  Art,  wie  es  John  Bull  auch  thut.  Wir  finden  also  bei 
Sweelinck  wohl  einige  Ansätze  zu  späteren  Formen  der  Choral- 
bearbeitung vor,  zu  völliger  Klarheit  ist  aber  bei  ihm  noch  keine 
ausgeprägt.  Diesen  Fortschritt  in  der  Kunstentwickelung  zu  machen, 
blieb  seinen  deutschen  Schülern  und  vor  allem  Scheidt  vorbehalten. 
Man  unterschätzt  ihr  Verdienst  auf  diesem  Gebiet,  wenn  man  das 
Unheil  Eitners^  als  richtig  unterschreibt,  welcher  von  Scheidt  und 
damit  zugleich  von  seinen  Mitschülern  sagt:  »Nirgends  geht  Scheidt 
über  sein  Vorbild  hinaus,  meistens  erreicht  er  seinen  Meister  nicht.« 
Wir  haben  bis  jetzt  von  Sweelincks  Orgel-  und  Klaviermusik 
gesprochen,  ohne  die  Grenzen  und  die  Berechtigung  dieser  Bezeich- 
nung näher  nachzuweisen.  Wenn  wir  dies  jetzt  nachholen,  so  ist 
zunächst  zu  bemerken,  daß  uns  die  Überlieferung  keine  direkte  Aus- 
kunft irgend  welcher  Art  ertheilt.  Auf  indirektem  Wege  werden 
wir  jedoch  genügende  Klarheit  erhalten.  Wir  haben  gesehen,  daß 
Sweelinck  sich  aus  Italien  die  Fantasie-,  Echo-  und  Toccatenform 
mitbrachte,   daß  er  sie  aber  durchdrang  mit  Ideen,   welche  ihm  die 

»  Mscr.  Fol  191  Berlin,  Fol.  28r.ff.    Mitgetheilt  bei  Ritter,  a.  a.  0.  II  S.  63  f., 
aber  ungenau  in  den  Verzierungen. 

*  Acht  tes-stemmige  Psalmen^  Einleitung  von  F.  H.  L..  Tiedeman,  S.  24 i 


176  ^*^  Seiffert, 


englische  Yirginalmusik  eingegeben  hatte.  Die  Form  verdankte  er 
Italien ;  den  Inhalt  aber,  den  er  hineinströmen  ließ,  England.  Es 
liegt  für  uns  nahe,  hior  auch  die  Antwort  auf  die  Frage,  welche  wir 
gestellt,  zu  holen.  Die  Hauptrepräsentanten  der  Tasteninstrumente 
in  England  waren  die  Orgel  und  das  Yiirginal,  ein  spinettartiges 
Instrument.  Der  Ton  des  letzteren  hat  zwar  immittelbar  nach  dem 
Anschlage,  wozu  ein  gewisser  nachhaltiger  Druck  des  Fingers  er- 
forderlich ist,  etwas  Spitzes,  Hartes  und  Durchdringendes  an  sich. 
Dies  verliert  sich  jedoch  sehr  schnell  und  macht  einem  sanften  und 
weichen  Nachhall  Platz.  So  kommt  es,  daß  breite  Akkorde  dem 
Yirginal  eine  mächtige  Klangfülle  entlocken,  daß  diese  aber  durch- 
sichtig genug  ist,  um  die  musikalische  Struktur  des  Gehörten  nicht 
völlig  zuzudecken.  Das  Instrument  eignet  sich  also  für  eine  poly- 
phone, akkordliche  und  passagenartige  Behandlungsweise  ebenso  gut 
wie  die  Orgel.  Diese  hat  dem  Virginal  gegenüber  zwar  den  Vor- 
theil  größerer  Tonfülle,  dafür  aber  andererseits  den  Nachtheil 
größerer  Schwerfälligkeit.  Es  ist  nun  bezeichnend,  daß  die  Eng- 
länder ihre  Kompositionen  vor  allem  dem  Yirginal  zuwiesen.  Die 
Orgel  begünstigte  nicht  eben  die  Neigung  für  flüchtige,  hin  und 
her  streifende  Passagen,  für  das  Spiel  gebrochener  Intervalle  und 
Akkorde;  alles  dies  war  aber  der  Spielweise  des  Yirginals  adäquat. 
Spielte  man  nun  ein  für  das  Yirginal  komponiertes  Stück  auf  der 
Orgel,  so  ist  klar,  daß  man  dazu  nicht  der  Hilfe  des  Pedals  benöthigt 
war,  welches  jedem  Yirginal  fehlte.  Ausgeschlossen  war  es  freilich 
nicht,  daß  hier  und  da  ein  Baß  ton,  um  der  Harmonie  ein  festeres 
Fundament  zu  geben,  vom  Pedal  mitgehalten  wurde.  Aber  das 
Pedalspiel  war  dann  doch  kein  obligates  —  und  so  blieb  es  auch  in 
England  bis  in  die  Mitte  des  17.  Jahrh.  hinein.  Aus  diesem  Ghrunde 
hat  Ritters^  Ansicht,  daß  nicht  das  Yirginal,  sondern  die  Orgel  den 
englischen  Klavierstil  bestimmt  hätte,  für  uns  wenig  Wahrscheinlich- 
keit. Wären  die  englischen  Komponisten  wirklich  von  der  Orgel- 
technik ausgegangen,  so  wäre  das  Yirginal  ohne  ein  Pedal  nicht  im 
Stande  gewesen,  dasjenige  wiederzugeben,  was  die  Orgel  mit  ihren 
größeren  Hilfsmitteln  zu  leisten  vermochte.  So  müssen  wir  also  für 
England  dasselbe  schließen,  was  wir  von  Italien  bis  über  Frescobaldis 
Zeit  hinaus  wissen,  daß  nämlich  die  großen  Orgelmeister  ihre  virtuose 
Technik  nur  auf  die  Manuale  beschränkten.  Auch  für  die  deutschen 
Koloristen  kam,  sowie  sie  ihre  Tabulaturen  dem  Klavier  geöffnet 
hatten,  das  obligate  Pedal  der  vorhergehenden  Meister  in  Wegfall. 
Wir  dürfen  nun  wohl  annehmen,   daß  Sweelinck   in   der  Spiel- 


1  a.  a.  O.  I  S.  45. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutaohen  Schüler.  j^77 

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technik  der  Orgel  dem  Gebrauche  der  Engländer  folgte,  daß  er 
demgemäB  dem  Pedal  keine  obligate  Behimdlung  zu  Theil  wer- 
den lieB;  sondern  es  nur  hier  und  da  verwendete,  um  etwa  einem 
in  der  Tiefe  erscheinenden  Fugenthema  mehr  Nachdruck  oder 
breiten  Akkorden  durch  Unterstiit^ng  des  tiefsten  Tones  mehr  Fülle 
la  geben.  Ein  Herausgeber  Sweelinck'scher  Kompositionen  müfite 
sich  also  mit  Vorsicht  für  die  Stellen  zu  entscheiden  wissen,  wo  er 
den  Eintritt  des  Pedals  yorschreiben  darf.  Eitner  hat  nun  in  seiner 
Ausgabe  durchweg  obligates  Pedal  angenommen.  In  unangemessener 
Weise  wird  so  der  schwankende  Charakter,  welcher  den  Kom- 
positionen anhaftet,  gänzlich  zerstört.  Auch  der  musikalische  Bau 
der  Kompositionen  selbst  hat  darunter  zu  leiden.  Kontrapunkte, 
welche  innig  zusammengehören,  sollen  halb  vom  Pedal  ausgeführt 
werden,  weil  hier  gerade  nur  Viertelnoten  zu  leisten  sind;  die  andere 
Hälfte,  welche  in  Achtelnoten  weitergeht,  muß  dann  rasch  das  Ma- 
nual wieder  übernehmen.  Und  andererseits  werden  dem  Pedal  die 
kühnsten  Sechszehntelpassagen  zugemuthet.  Dazu  bemerkt  Eitner^ 
noch:  »Die  heutigen  Organisten  werden  wohl  Respekt  vor  den  alten 
Virtuosen  erhalten,  und  wenn  die  Kompositionen  auch  nicht  im 
Entferntesten  mit  den  Schwierigkeiten  der  Seb.  Bach'schen  Orgel- 
Stacke  zu  vergleichen  sind,  so  verrathen  sie  inmierhin  schon  eine 
bedeutende  Technik.a  Der  sei.  Seb.  Bach  würde  den  nöthigen 
Respekt  auch  nicht  haben  vermissen  lassen,  wenn  er  gesehen  hätte, 
was  Sweelinck  schon  geleistet  haben  soll.  Müssen  wir  schon  bei 
Stücken,  deren  Charakter  dem  kirchlichen  Geist  nicht  widerspricht 
und  welche  sich  zwanglos  in  den  Gang  des  Gottesdienstes  einfügen 
ließen,  die  Annahme  eines  obligaten  Pedals  als  inkorrekt  bezeichnen, 
80  müssen  wir  die  Existenzberechtigung  desselben  überhaupt  be- 
streiten bei  Stücken,  welche  mit  der  Kirche  absolut  nichts  zu  thun 
haben.  Seine  Fantasien,  Echos,  Toccaten  und  Choralvariationen 
mag  Sweelinck  zur  Einleitung  oder  am  Schlüsse  des  Gottesdienstes 
in  der  Kirche  haben  höien  lassen;  auf  keinen  Fall  that  er  dies  mit 
den  weltlichen  Liedvariationen,  dagegen  mußte  sich  der  Geist  der 
Kirche  auflehnen.  Hierauf  weist  schon,  die  verschiedenartige  Be- 
handlung des  Liedes  einer-  und  des  Chorals  andererseits  hin ;  Scheidt 
wird  uns  später  diese  Ablehnung  bekräftigen.  Wir  halten  also  daran 
fe8t,  daß  Sweelincks  Liedvariationen  für  das  Spinett  ausschließlich, 
die  übrigen  noch  für  die  Orgel  mit  bestimmt  sind  und  daß,  falls  letztere 
das  ausföhrende  Instrument  war,  das  Pedal  nur  gelegentlich,  nicht 
obligat  zur  Anwendung  kam. 


^  Ausgabe  der  Kompositionen,  S.  V. 
1891.  12 


178  Max  Seiffert, 


Was  uns  sonst  über  Sweelinck  als  Virtuosen  überliefert  wird, 
ist  recht  wenig.  Einstmals  soll  er  sich  dazu  haben  drängen  lassen, 
was  er  sonst  nicht  gern  mochte,  seinen  Freunden  etwas  vorzuspielen. 
Da  habe  er  denn  25  Variationen  über  das  Lied  »Z^an  lusteliken  Mey 
is  nu  in  zyf'nen  tijdt^  improvisiert. ^  Mag  die  Anzahl  übertrieben  sein, 
etwas  bestätigt  uns  doch  diese  Erzählung,  was  wir  durch  die  Be- 
trachtung der  Kompositionen  bereits  wissen:  daß  Sweelincks  Stärke 
auf  dem  Gebiete  der  Variation  lag.  Diese  drückte  seinem  ganzen 
künstlerischen  SchaiFen  ihr  Gepräge  auf.  Wir  erfahren  femer  noch, 
daß  Sweelinck^  einmal  vom  Käthe  seiner  Vaterstadt  als  Sachverstän- 
diger beauftragt  wurde,  zum  Geschenk  für  eine  höhere  Persönlich- 
keit ein  Glavicymbel  anzukaufen.  — 

Wir  wenden  uns  nunmehr  zum  zweiten  Theil  unserer  Betrach- 
tung uud  suchen  Sweelincks  Wirksamkeit  als  Theoretiker  und  Lehrer 
zu  kennzeichnen.  Unsere  älteren  Lexicographen  berichten,  daß 
Sweelinck  die  nJsiüutioni  harmonichet  Zarlinos  übersetzt  habe,  und 
A.  Werkmeister^  sagt  bei  der  Aufeählung  seiner  Quellen  für  die 
Darstellung  des  doppelten  Kontrapunkts:  »Im  Teutschen  weiß  ich 
auch  keine  Autares,  als  das  wenige,  was  Herbst  geschrieben,  dann 
ein  Manuscriptj  so  in  Niederländischer  Sprache  und  aus  derselben 
ins  Hochteutsche  versetzet,  welches  doch  aus  dem  Zarlino  mehren- 
theils  genommen  ist.«  Von  Sweelincks  Werk  besitzen  wir  weder 
ein  gedrucktes  Exemplar  noch  ein  Autograph,  sondern  zwei  Manu- 
skripte, deren  Titel  den  Inhalt  als  von  Sweelinck  herrührend  be- 
zeichnen. Es  gilt  festzustellen,  in  wie  weit  wir  dieser  handschrift- 
liehen  Überlieferung  trauen  dürfen.  Es  braucht  kaum  noch  gesagt 
zu  werden,  daß  hier  nicht  auf  alle  theoretischen  Einzelheiten  ein- 
gegangen werden  kann;  das  würde  uns  zu  tief  in  die  Geschichte  dei 
Theorie  der  Musik  hineinziehen.  Wir  wollen  nur  Sweelincks 
Thätigkeit  auf  diesem  Gebiete  skizzieren  und  dabei  mitnehmen, 
was  für  seine  Kompositionen  und  seine  Unterrichtsmethode  etwa  noch 
beaohtenswerth  sein  wird. 

Auf  der  Hamburger  Stadtbibliothek  befinden  sich  unter  den 
Signaturen  »N.  D.  VI.  nr.  5383  und  5384a  zwei  Quartbände,  deren 
erster  den  Titel  trägt: 

iCamposiion  (1)  Kegeln 

Herrn 

M:  Johan  Peterssen 

Sweling 

^  Acht  zes-stemmige  Psalmen,  Einleit.  v.  Tiedeman,  S.  16. 

2  Tijdachriß,  Deel  II,  Swedinckiana,  J.  C.  M.  t.  Riemsdijk,  8.  201. 

^  Hannonologia  Musica,  Frankfurt  und  Leipzig,  1702,  S.  110. 


J.  P.  Sveelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  179 


Gewesenen 
Yoinehmen  Organisten  in 
Ambsterdam.  c 

•  ■ 

Nr.  5384   eiweist  sich  dem  Titel  nach  als  eine  Überarbeitung  von 
BL  5383;  dieser  lautet: 

*/.  N.  D.  J.  CA.  Erster  unt  Anderter  theil,  seehr  Nöthiger, 
iint  Nützlicher  lehren  unt  unterrichtungen  Von  der  Compositian, 
welche  anienglich  Von  dem  weltberühmten  musieo  Yndt  arffcmisten, 
Johannes  Peiri  Schweeling,  der  alten  Kirchen  zu  Amsterdam  hooch- 
geachten  Organisten^  ist  herauß  gegeben  unt  an  den  tach  gebracht, 
hemacher  aber,  Von  Etzl:  Andern,  in  Ettwaß  Vermehrt,  unt  Erwei- 
tert worden.«  Der  Schreiber  des  zweiten  Manuskripts  nennt  sich 
^ber:  »Johan  Adam  Beincken  gehört  diß  buch  zu,  unt  haet  EB 
mit  Eigener  hant  geschrieben,  soo  geschehen  1670.«  Der  Inhalt  von 
nr.  5383  ist  kurz  dieser: 

S.       2  ff.  Die  verschiedenen  Kon-  und  Dissonanzen. 

12  ff.  Verbindung  von  beiden,  2 stimmiger  Kontrapunkt, 
Note  gegen  Note  und  mit  gemischten  Noten;  der 
cant.  firm,  ist  gegeben  oder  frei  erfunden. 

54  ff.  Kadenzen. 

60  ff,  Auflösung  der  Dissonanzen. 

87  ff.  3-,  4-,  5-  und  6 stimmige  Kadenzen. 

90        Hymnus:    Vexüla  regis  prodeunt, 

-  116  ff.  Die  8  Kirchentöne. 

-  128  ff.  4 stimmige   Beispiele,  in   denen  der  Charakter  der 

Tonarten  nach  ihren  melodischen  Hauptwendungen 
scharf  ausgeprägt  wird.* 
'    160  ff.  Die  12  aus  der  Oktave  abgeleiteten  toni. 

-  177  ff.  Gebundener  und  ungebundener  Kanon. 

-  187  ff.  Doppelter  Kontrapunkt.  . 

-  217  ff.  8  dreistimmige  Kanons  nher  j>Veni  creator  spirittts.v 
"   241        3 stimmiger  Kanon  über  »O  Mensch,  bewein'  dein 

Sünde  groß,  ff  )>/.  P.  Sweling.^ 

-  263        4  stimmiger  Kanon  von  »A,    fVillar.n 

'   269        5 stimmiger   Kanon    über  »Wenn    wir   in    höchsten 
Nöthen  sein.« 

-  273        5  stimmiger    Kanon    über    denselben    Choral     von 

»Doctor  BtdLü 
Hieifor.  sind  benutzt  worden  die  capp.  29,  38,  42  f.,  51 — 56,  58  f., 
61  f.,  65  f.   aus  dem   3.  Buch  von  Zarlinos   »Istitutioni  harmonichea. 


1  Von  R.  Eitner  mitgetheüt,  M.  f.  M.  IIl  S.  133  ff. 

12* 


ISO  ^^^^  Seiffert, 


Nicht  daselbst  zu  finden  sind  die  Kanons  von  Sweelinck,  RuU,  die 
4  stimmigen  Tonartenbeispiele,  der  Kanon  über  »Wenn  wir  in  höchsten 
Nöthen  sein«  und  die  8  ELanons  über  »Veni  creator  spiritus^t  um  von 
kleineren  Beispielen  ganz  abzusehen.  Wir  müssen  nun  die  Frage 
beantworten,  ob  diese  Erweiterungen  von  Sweelinck  oder  von  dem 
Schreiber  der  Handschrift  herrühren;  in  letzterem  Falle  wäre  das, 
was  Sweelinck  zuzuschreiben  ist,  nur  ein  pures  Excerpt  aus  Zarlino 
gewesen.  In  diesem  Falle  würde  dann  weiter  die  Fra^e  sein,  ob 
der  Schreiber  im  Stande  war,  selbst  die  Erweiterungen  hinzuzufügen, 
oder  ob  er  sie  aus  anderen  Quellen  schöpfte.  Nun  erschien  1624  zu 
Berlin  Johann  Crügers  nat/fwpsis  musices^  (2.  Aufl.  1630),^  welche 
dieselben  5-  und  6 stimmigen  Kadenzen,  dieselben  4 stimmigen  Bei- 
spiele für  die  transponirten  wie  nichttransponirten  Kirchentöne  (do- 
risch, hypodorisch,  phrygisch,  hypophrygisch,  mixolydisch,  hypomixo- 
lydisch),  den  Kanon  über  »O  Mensch,  bewein'  dein  Sünde  groBa  und 
die  beiden  über  »Wenn  wir  in  höchsten  Nöthen  sein«  enthält  wie 
Mscr.  nr.  5383.  Wenn  aber  Job.  Crüger  nicht  alle  Tonartenbeispiele 
giebt,  ferner  die  Angabe  der  Komponisten  (John  Bull,  Sweelinck) 
unterläßt  und  dann,  statt  die  Melodien  nach  ihrem  Textanfang  zu 
bezeichnen,  sie  nur  nthemafi  nennt,  so  können  wir  daraus  schließen, 
daß  Crüger  jene  Stücke  nicht  selbst  schuf,  sondern  sie  aus  einer 
vollständigeren  Quelle  schöpfte.  Da  sich  bis  jetzt  noch  keine  bessere 
hat  auffinden  lasseii,  als  nr.  5383,  so  steht  die  Annahme  frei,  daß 
dies  für  Job.  Crüger  die  Vorlage  gewesen  ist.  Damit  sind  gleich- 
zeitig Anhaltepunkte  gewonnen,  um  die  Entstehungszeit  von  nr.  5383 
zu  bestimmen.  Nach  dem  Titel  war  Sweelinck  bereits  todt;  das 
Mscr.  müßte  also  zwischen  1621  und  1624,  dem  Erscheinungsjahi 
•  der  »8f/nopsisi(,  entstanden  sein.  Wir  werden  aber  durch  nichts  zur 
Annalmie  gezwungen,  daß  Crüger  nur  die  Hamburger  Kopie  von 
Sweelincks  kurzgefaßtem  Lehrbuch  benutzt  haben  muß;  wir  können 
die  Bekanntschaft  mit  jenen  Stücken  auch  auf  andere  Weise  erklären. 
Sweelincks  Lehrbuch  scheint  nämlich  abschriftlich  bei  seinen  Schü- 
lern weitergelebt  zu  haben,  welche  es  dann  jedenfalls  auch  zu 
Unterrichtszwecken  benutzten.  Ein  Schüler  von  Paul  Siefert  in 
Danzig,  Christopher  Bernhard,  hat  mehrere  theoretische  Abhandlun- 
gen geschrieben,  welche  in  manchen  Zügen  auf  Sweelinck  zurück- 
weisen. Bernhard  war  später  freilich  Stadtkantor  in  Hamburg  imd 
konnte  hier  das  Mscr.  5383  kennen  lernen;  aber  der  grundlegende 
Unterricht  Sieferts  hatte  doch  wohl  bestimmender  gewirkt.  S.  Scheidt 
soU^  einen  ritraciatus  de  oompositionea  verfaßt  haben,   dessen  Gliede- 

1  Exemplar  der  seltenen  ersten  Ausgabe  auf  der  kgL  BiblioUi.  Berlin. 
3  Matthesons  Ehrenpforte,  Hamburg  1740,  S.  106. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  \g\ 

rang  in  zwei  Theile  auch  eine  Hinneigung  zu  Sweelincks  Arbeit 
venath.  Von  irgend  einem  Schüler  also  konnte  sich  Crüger  eine 
Kopie  verschaffen.  Etwa  von  Scheidt  durch  Yermittelung  des  Mich. 
PraetoriuB,  dessen  i^Syntagma  mustcumfn  für  Crüger  auch  stärk  her- 
halten mufite.  Crüger  konnte  ja  auf  einer  seiner  vielen  Reisen  mit 
irgend  einem  Schüler  Sweelincks  in  Verkehr  getreten  sein.  Drittens 
wären  direkte  Beziehungen  zu  Sweelinck  selbst  nicht  undenkbar, 
schon  wenn  man  den  lebhaften  politischen  und  kommerziellen  Ver- 
kehr zwischen  Holland  und  Brandenburg  damals  mit  in  Betracht 
zieht.  Dazu  kommt,  daß  Sweelincks  Name  in  Berlin  durch  eine 
Ausgabe  seiner  Psalmen  hierselbst  (1616  und  1618)^  wohl  bekannt 
war.  Ist  eine  von  diesen  Möglichkeiten  eingetreten,  so  folgt  daraus, 
daB  nicht  der  Hamburger  Schreiber  erst,  sondern  schon  Sweelinck 
jene  Erweiterungen  vornahm.  Letzteres  ist  auch  für  den  Fall,  daß 
Crüger  doch  das  Hamburger  Mscr.  benutzte,  aus  inneren  Gründen 
wahrscheinlicher.  Einen  Kanon  von  Dr.  Bull  aufzunehmen,  hatte 
Sweelinck  bei  seinen  Beziehungen  zu  England  viel  mehr  Grund,  als 
der  Schreiber  der  Kopie;  femer  kehren  in  den  Kanons  gewisse 
Wendungen  wieder,  denen  wir  in  den  Orgelkompositionen  bereits 
begegnet  sind.  Aus  all  dem  Gesagten  ziehen  wir  also  den  Schluß, 
daß  nr.  5383  eine  Kopie  von  Sweelincks  Lehrbuch  ist.  Dieses 
entnimmt  den  Stoff  aus  Zarlino,  ordnet  ihn  aber  selbständig  an  und 
erweitert  ihn.  Dem  Verfasser  kommt  es  nicht  darauf  an,  eine  Ent^ 
Wickelung  Schritt  für  Schritt  zu  geben  und  jeden  Fortschritt  durch 
breite  Ausführungen  zu  begründen,  vielmelur  ist  nur  das  für  den 
anmittelbaren  praktischen  Gebrauch  Nöthige  zusammengestellt.  Nicht 
viel  Worte,  sondern  Beispiele  erläutern. 

•Auf  S.  280  ff.  des  Mscr.  5383  schließt  sich  an  das  eben  Be- 
spiochene  ein  Abschnitt  über  den  doppelten  Kontrapunkt  an,  welcher 
hier  noch  einmal,  aber  in  instrumentalem  Sinne  durchgenommen 
wird.  Es  ist  nicht  ganz  sicher,  ob  dieser  Abschnitt  noch  zu  dem 
Ton  Sweelinck  entworfenen  knappen  Lehrplan  hinzugehört  oder  bloß 
ein  Nachtrag  des  Schreibers  ist.  Zu  dem  Bilde,  das  wir  uns  von 
Sweelinck  gezeichnet,  würde  der  Zug  wohl  passen,  daß  er  auch  in 
der  Theorie  dem  Ausdruck  gab,  was  er  in  der  Praxis  geleistet 
hatte.  Er  gab  der  norddeutschen  Orgelmusik  ein  selbständiges  in- 
strumentales Gepräge ;  dieses  spiegelt  sich  wieder  in  jenem  Abschnitt. 
Eührt  dieser  aber  nicht  von  Sweelinck  her,  so  müssen  wir  ihn  einem 
Manne  zuschreiben,  der  sein  Schüler  gewesen  war  und  auf  dem  von 
ihm  gewiesenen  Weg  weiter  vorging.  Und  das  kann  dann  nur  H. 
Scheidemann  gewesen  sein. 

1  Vgl.  die  Einleitung  von  Tiedeman,  1876,  S.  64  ff. 


n 


1S2  ^A^  Seiffert, 


Auf  S.  354  ff.  folgt  nämlich  wieder  ein  neuer,  von  einer  zweiten. 
Hand  geschriebener  Abschnitt  mit  der  Überschrift:  v/.  N.  D^  J.  C 
A.  Jean  Adam  JReincken:  Musica  Amums.  ob  schon  die  weldt  ver- 
gehet, Musica  doch  bestehet.!  Reincken  erklärt  die  daran  sich  an- 
schließenden Regeln  als  eine  »folge  derer  Contrapunct  ahrten,  da 
hiefom  von  gedacht,  doch  mehrentheils  durch  andere  exempelen  voor- 
gesteldt.«  Was  folgt,  ist  auch  thatsächlich  nur  eine  Reproduktion 
des  eben  genannten  instrumentalen  Abschnittes  mit  einigen  eigenen 
Zusätzen.  Vergleicht  man  nun  Reinckens  Handschrift  hier  mit  der 
im  Mscr.  5384  vom  Jahre  1670,  so  ergiebt  sich,  daß  zwischen  beiden 
ein  Zeitraum  von  etwa  30  Jahren  liegt.  Den  letzten  Theü  von 
Mscr.  53^3  schrieb  Reincken  noch  als  ganz  junger  Mann;^  die  Züge 
sind  hier  sehr  sorgfaltig  und  noch  nicht  so  ausgeschrieben  wie  im 
Mscr.  5384.  Reincken,  welcher  1621  zu  Deventer  geboren  wurde 
und  in  jungen  Jahren  nach  Hamburg  kam,  wurde  hier  der  Schüler 
Scheidemanns,  später  sein  Nachfolger.  Von  ihm  kann  er  nur  das 
Mscr.  5383  erhalten  haben. ^ 

Mscr.  5384  ist  nach  dem  bereits  mitgetheilten  Titel  eine  mehr- 
fache Überarbeitung  des  ursprünglichen  Lehrbuches.  Hauptsächlich 
unterscheidet  es  sich  von  diesem  durch  die  offene  Gliederung 
in  2  Theile;  Sweelinck  hatte  den  Stoff  fortlaufend  und  zusammen- 
hängend behandelt.  Im  Nachwort  zum  ersten  Theil  sagt  Reincken: 
jiDüseß  voorgeschriebene  trc^täpen  Von  der  Music,  ist  voor  denjenigen 
Nützlich,  soo  da  einen  guten  Anfang  zur  Composition  begehren  zu 
machen,  soo  sie  dan  hierinnen  waß  foort  gebracht  haben,  werden 
sie  leicht  sehen  können  waß  ihnen  noch  fohlt,  soo  sie  dan  daß  gelück 
haben  können,  daß  Ihnen  daß  zuhanden  kömpft,  waß  man  sonderlich : 
Arcana  geheimnisse  oder  Handtgriffe  der  wahren  wißenschafft  der 
Composition  Nennen  mach  wie  diseß  Buch  In  nachfolgendem  Trtictaet 
guten  theilß,  benachrichtigen  kan,  soo  Eß  anderß  Jemant  für  Augen 
kömpft,  der  die  Application  oder  die  schlüßelein,  zu  Allen  und  Jeden 
Cappittelen  Recht  weiß  zu  gebrauchen.  Wer  diseß  haet,-  der  kan  viele 
thuen,  midt  weinich  mühe,  daer  sich  andere  über  Verwundem  müBen 
und  wen  manniger  die  zeidt  seines  lehbens  sich  zerarbeitete  und  ser- 
plagte  so  wirdt  Er  doch  Nichteß  gewißeß  treffen.«    In  der  Vorrede  zum 


1  Vgl.  Eitner  in  Tiedemang  Einleitung  '1876)  S.  51,  welcher  Mscr.  6383  noch 
nach  5384  ansetzt  Die  Orthographie  Reinckens  ist  nicht  die  um  die  Mitte  des 
17.  Jahrh.  allgemein  übliche,  sondern  ihre  Eigenthümlichkeiten  erklSren  sich,  wie 
die  mitgetheilten  Proben  zeigen,  zur  Genüge  durch  seine  Herkunft. 

2  Bewiesen  würde  diese  Vermuthung  erst,  wenn  man  Schriftstücke  von  Scheide- 
manns Hand  mit  Mscr.  5383  Tcrgleichen  würde.  Leider  haben  sich  solcher  trotz 
angestellter  Nachforschungen  nicht  auffinden  lassen. 


J.  P.  Sweelinok  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  |g3 

2.  Theil  sagt  Reincken :  a AlBda  seint  Von  Yielerley  ahrt  fugen  soo  ge- 
bunden als  auch  ungebunden,  soo  Tirohl  in  unisono,  alß  in  der  quarty 
qtdniy    und  octava,  alß  auch  von  den  Consequentzen,   oder  auch  Imi- 
taiioneny  alß  auch  von  dehnen  Contrapuncten^  soo  wohl  Einfache  alB 
die  soo  man  sonst  pfleget  gedoppelte  Contrapuncten  zu  nennen,   soo 
wol  In  motu  Hede  (!)   alß  In  motu  Contrario ,  soo  wol  midt  2,   alß 
midt  3  und  4  Stimmen,  auch  nicht  allein  auffEinerley,  sondern  auiF 
iwey,  drey,  und  mehrerley  ahrten  Yoor  gestellet,  umb  den  begierigen^ 
lerlinck  2U  Veranlaeßen,  Ein   mehreß  vnd  Neyeß,  dahinzu  zusuchen 
und  zu  Erfinden.      Solcheß    alleß    ist  Erfunden  Von    dehnen   zwey 
YooTtrefflichen  Kunsdern    alß  Erstlich  Von    den  gaer  großem   und 
Ruhmwürdigen  siffnor.  Josep/o  Zarlino  Vnd  den  zu  seiner  Zeit  un- 
vergleichlichen Mag:  Johanee  Petri  Swelingky  Organist  zu  Amsterdam 
Von    der   alten   Kirchen,    disen   beiden    trefflich  Männern   haet   die 
Nachweldt  £ß    billig    zu    dancken,    waß  von  der   Composition  und 
dehrer  sonderlichen  Hantgriffen,   In  disen  volgenden  Regelen  ist  ab^ 
ge£aBet.  c  Von  Wichtigkeit  sind  nun  für  uns  einige  Stellen,  in  denen 
Reincken  über  die  Art  des  Unterrichtens  und  über  die  Behandlung* 
und  Ausfuhrung  gewisser  Kompositionsgattungen  spricht.      Was  er 
da  sagt,    ist,    nach  dem  gewählten  Ausdruck  zu  schließen,    in  der 
Haunburger  Schule  seit  langem  üblich  gewesen.     9 Man  pfleget  die 
lernenden  der  Composition  Nach  dehme  sie  Etwaß  per/ect  worden, 
anzuführen  die  Setzung  Eineß  Contrapuncts  gegen  Einen  Chorael :  a 
2 :  Item  wen  sie  etwa  Ein  oder  2  oblighen  wie  Eß  die  Italianer  Nen- 
nen, dagegen  fuhren  Können,  weiter  anzuführen  zu  den  fugen,  und 
besonderß,    daß    sie    solche  Ins    kurtze   Imitiren    oder   kurtz   hinter 
Einander  herbringen  können. :  Eß  ist  hier  aber  nicht  alle  zeidt  Nöhtich, 
daß  die  Nachfolgende  Stimme,  der  Ersten  Ihre  intervallen,  soo  directe 
imd  gäntzlich  Nachfolge,  wie  sie  sein  solte«     Alß  dise  ist  directe  und 
Eigentlich  Mit   allen    intervaUen,    der   voorgehenden  imitirett    Wie 
solche   kanonischen  Choralbearbeitungen   ausgeführt   werden  sollen, 
darüber    ertheilt  folgende  Stelle  Auskunft:    aln  Contrapuncten    oder 
sonsten  (1)  über  oder  gegen  Einen  Chorael .  .  .  nimbt  man  gern  die 
Nehgesten  Parteyen  zusammen  Alß  In  Einem  bicinio  Alt  und  discant, 
Tenore  und  Alty  Bass  und  Tenor,     Nicht  soo  wohl  Alt  und  Boss, 
Jedoch  lieber  alß  Bass  und  Discant.     NB.    Diseß  ist  Eigentlich  zu 
verstehen,  soo  Eß   auffß   Ciavier  oder  derogleichen  Instrumenta  ge^ 
meinet  oder  Aber  Im   singen  Alter  Motetischen  Stylus  ist.     Woo  es 
aber  Concerten,  oder  auff  andern  Instrumenta  gerichtet  ist,  kann  man 
Bass   und   discant  Im    singen  Alß    auch  In   instrumental  Music  Ein^ 
Comeityn   oder  Chormessiges  duldaen    oder  fagott   und  dei^leichen 
zusammen  setzen.«     Die  Kanons  von  Sweelinck  sind  also  nicht  bloß 


Ig4  ^^  Seiffert, 


als  kontxapunktische  Übungsstücke  aufiEufisissen ,   sondern  zu  den  fiir 
Orgel    und   Klavier    bestimmten   Choralvariationen    hinzuzurechnen. 
Praktischen  Zwecken  dienten  also  auch  die  Kanons  bei  Scheidt   im 
ersten  Theile  seiner  Tabul.  Nova,    Das  Höchste  auf  diesem  Gebiete 
leistete  dann  später  Joh.  Seb.  Bach.     Der  kanonischen  Behandlung 
werden    nun    von  Reincken    gewisse  Freiheiten    eingeräumt:    »Man 
pfleget  auch  2 ,   oder  Mehr  fugen  zusammen  zu  führen  und  zinraer 
Nicht  cantinuirlich   sondern    auch  wohl  Einzelnen   auch  wohl  EinB 
umbß  andere   und  dann  auch  Etzliche   mahl  zusammen  und  gegen 
Einander,  welcheß  soo  viel  kunstlicher,  Item.     Ein  Jede  absonderlich, 
und  per  se  in  imitaiione  hinter  Einander  her  soo    kurtz   alß   sichs 
schicken,  und  thuen  wil  laJBen,  wo  nicht  gantz  directe  doch  Accommo-- 
dabei,    Nuhr  pfl^et   man   solche   zusammen   zu  Accammodiren  ^e 
sichß  am  besten  schicken  wil,  alsoo   daß  Eine  Stimme  oder  parteyj 
der  Anderen  zu  Hülffe  kömpt,  quarten  und  dei^leichen  Verhüten  und 
Vergüten  hilfft,  und  Endert  man  auch  Ettwa  Eine  oder  andere  Nota 
iet  fuffa:  oder  punct:  oder  Verlengert  sie  sunst  oder  Verkürtzet  sie 
etc\  dsdB  sichs  zusammen  Enüich  fügen  oder  schicken  Muß.«     Die- 
selben  Freiheiten   gestattet  sich  Sweelinck  im   3.  Haupttheil  seiner 
großen  Fantasieen  in  vollstem  Maße.^ 

Das  Tonsystem,   welches  Sweelinck  mit  seinen  Kompositionen 

umfaßt,  erstreckt  sich  von  C  bis  a.  Die  in  diesem  Raum  vorkom- 
menden chromatischen  Töne  sind: 

Fis,  fis,  fis,  ffs. 

B,  b,    b.    — 

—  eis,  eis,  eis. 

—  gis,  giß.— 
■"""  es,  es,  es. 

Als  Grundton  zu  Dreiklängen  werden  von  ihnen  nur  B  und  Es  be- 
nutzt. Fisj  Oisy  Gis  und  Dis  (»  Es)  werden  nur  als  Terzen  zu  D, 
A,  E  und  £r  verwendet.  Nach  der  i?- Seite  hin  bezeichnet  der  Drei- 
klang mit  großer  Terz,  auf  £«  die  äußerste  Grenze,  nach  der  j^- Seite 
der  auf  H. 

Die  Kirchentonarten,  deren  Charakter  Sweelinck  in  seinem 
Lehrbuch  noch  im  alten  Sinne  scharf  ausprägte,^  erscheinen  in  sei- 
nen Kompositionen  (wir  sehen  hier  von  den  mehr  vokal  gehaltenen 
Kanons  ab),  durch  moderne  Elemente  stark  zersetzt.     Wir  findei|: 

dorisch:  2 mal. 
^  dorisch  transponiert:  4 mal. 

1  Man  vergleiche  hierzu  Prätorius'  Definition,  8.  oben  S.  166.  Anm.  3. 

2  S.  oben  S.  179. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  }gg 


phrygisch  transponiert:   Imal. 

lydisch  (i?):  Imal. 

mixolydisch*  3  mal. 

äolisch:  3  mal. 

jonisch:  3 mal. 
Der  dorische  Charakter  ist  in  einem  Falle  ziemlich  rein  erhalten  -^ 
B  wird  nur  beim  Hinneigen  zu  F  gesetzt;  in  dem  andern  wird 
er  aber  durch  die  Anwendung  der  Chromatik  ^Uizlich  zerstört  In 
den  transponierten  dorischen  Stücken  ist  die  Neigung  zu  Es^  der 
Ueinen  Sexte,  ziemlich  stark.  Phrygisch  ist  {gleichfalls  durch  Chro-> 
matik  stark  zersetzt.  Lydisch  und  Jonisch  sind  fast  ganz  unser  Dur\ 
ebenso  mixolydisch,  obwohl  sich  hier  das  F  noch  öfter  bemerklich 
macht;  Äolisch  andererseits  entspricht  ziemlich  unserm  Moll.  Wir 
sehen  also,  wie  deutlich  Swedinck  dem  modernen  Dur*  und  Moll- 
system zustrebt.  Lydisch,  Mixolydisch,  Jonisch  und  Äolisch  brauch- 
ten nicht  viel  geändert  zu  werden;  und  die  kleinen  Änderungen 
nahm  auch  schon  eine  altere  Zeit  Tor.  Aber  gerade  die  Tonarten, 
die  durch  ihre  besonderen  Eigenthümlichkeiten  dem  modernen  System 
den  energischsten  Widerstand  entgegensetzten.  Dorisch  und  Phrj^gisch, 
worden  durch  Chromatik  auf  das  Niveau  der  anderen  Tonarten  ge- 
bracht. Diese  Beobachtung  werden  wir  auch  bei  Sweelincks  Schülern 
machen  können. 

Noch  eine  SchluBbemerkung  über  die  beiden  Hamburger  Manu-- 
skripte!  Eitner  äußert  bei  der  Besprechung  derselben  den  Wunsch, 
daB  die  Maatschappij  eine  Herausgabe  veranstalten  möge.  Falls 
dies  geschehen  sollte,  macht  er  den  Vorschlag,  beide  Bücher  in 
einander  zu  verarbeiten,  weil  sie  sich  gegenseitig  ergänzten.^  Es 
wgre  zu  wünschen,  daß  dieser  Weg  nicht  betreten  wird.  Aus  den 
obigen  Ausführungen  geht  klar  hervor,  was  Sweelincks  Eigenthum 
in  beiden  Handschrifben  ist  und  daß  sich  in  ihnen  eben  zwei  ver- 
schiedene Lidividualitäten  aussprechen.  Sweelincks  Art  ist  knapp 
und  gedrungen,  sie  beschränkt  sich  auf  die  nöthigsten  Worte;  an 
der  Hand  von  Beispielen  lehrt  er.  Ganz  anders  geht  Beincken  vor. 
Er  setzt  die  Beispiele  in  Worte  um,  erklärt  mit  aller  Umständlich- 
keit und  vermehrt  die  ganze  Darstellung  durch  die  Mittheilung 
eigener  Erfahrungen.  Dies  zeigen  uns  die  oben  mitgetheilten  Stellen'; 
außerdem  stellt  er  bei  jeder  Gelegenheit  Vergleiche  an  zwischen 
»der  ahen  Componüten  gegebenen  Kegeln«  und  der  »itzigen  Neuen 
ahrt  Composition,^  Wollte  man  nun  beide  Werke  in  einander  ver- 
arbeiten, so  würde  man  damit  nur  die  Eigenart  eines  jeden  gänzlich 


1  VgU  Tiedemans  Einleitung  (1876)  S.  53.] 


\g^  Max  Selffert. 


zerstören.  Korrekt  ist  ein  Neudruck  dieser  Manuskripte  nur  dann, 
wenn  er  die  Darstellungen  beider  Männer  unvermengt  neben  ein- 
ander darbietet.  Ferner:  es  ist  Sweelinck  gewiß  als  ein  Verdienst 
anzurechnen,  daß  er  Zarlinos  Errungenschaften  direkt  seinen  Schülern 
vermittelte  und  daß  er  sie  anregte,  sich,  ebenfalls  über  die  Theorie 
ihrer  Kunst  klare  Rechenschaft  abzulegen;  aber  die  »ungeheure 
Tragweite,«  welche  Eitner  Sweelincks  Lehrbuch  beilegt,  müßte  nian 
erst  nachweisen.  Im  Ghrunde  genommen,  that  doch  Sweelinck  nichts 
anderes,  als  was  jeder  Meister  that.  Er  stellte  sich  die  Lehren  seines 
Meisters  zusammen  und  benutzte  sie  als  Leitfaden  für  den  Unterricht 
seiner  Schüler;  und  diese  machten  es  wiederum  so.  Eine  ungleich 
wichtigere  Aufgabe  wäre  es  zunächst,  Sweelincks  Orgel-  und  Klavier- 
kompo^itionen  vollständig  und  kritisch  bearbeitet  erscheinen  zu  lassen.. 
Dadurch  würde  einem  viel  größeren  Forschungskreis  der  Boden  ge- 
sichert und  geebnet  werden.  Denn  auf  dem  Gebiete  der  Lustrumen- 
talmusik  hat  Sweelinck,  wie  man  nun  wohl  mit  vollem  Rechte 
sagen  darf,  zusammenfassend,  weiterbildend  und  anregend  gewirkt. 
Zwar  kann  man  den  Gelüsten  gegenüber,  ihn  als  »Gründer  der  Li- 
strumentalmusikff  hinzustellen,  nicht  streng  genug  betonen,  daß 
Englands  Kunst  es  war,  in  deren  Anschauungen  Sweelinck  großge- 
zogen wurde,  und  hier  die  Wurzeln  seiner  Kunst  liegen,  daß  ferner 
Italien  den  fruchtbaren  Boden  gewährte,  auf  welchem  sich  der  kräf- 
tige Trieb  reich  entwickeln  und  entfalten  konnte.  Wenn  er  aber 
die  künstlerischen  Bestrebungen  beider  Nationen  in  sich  vereinigte,  zu 
einem  einheitlichen  Granzen  verschmolz  und  mit  den  neuen  Keimen 
den  des  Sämanns  harrenden  Boden  der  norddeutschen  Orgelkunst 
befruchtete,  so  hat  er  sich  dadurch  eine  epochemachende  Stellung  in 
der  Geschichte  der  Orgelmusik  errungen. 


Samuel  Scheidt  in  Halle.     (1587-1654). 

Samuel  Scheidt^  wurde  nach  dem  unter  seinem  Bild  an  der 
Moritzorgel  in  Halle  befindlich  gewesenen  Distichon^  im  Jahre  1587 
zu  Halle  geboren,  wo  sein  Vater,  Konrad  Scheidt,  als  Salinenmeister 
lebte. 3  Wessen  Unterricht  den  Grund  zu  der  musikalischen  Aus- 
bildung des    jungen  Samuel   legte,    erfahren   wir   nicht.     Vielleicht 

^  So  schreibt  er  sich  selbst,  nicht  Scheid. 

2  Walther,  Lexikon,  Sp.  548  f.  -  - 

3  O.  Kade,  M.  f.  M.  X,  S.  145  ff. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  \^'J 

leitete  sie  der  Vater.  Denn  in  der  Familie  scheint  die  Musik  ein 
lieber  Grast  gewesen  zu  sein :  wir  dürfen  dies  wenigstens  daraus  ent- 
nehmen, daß  ein  Bruder  Samuels,  Gottfried  Seh.,  sich  ebenfalls 
kompositorLSch' bethätigte.^  Seine  künstlerische  Vollendung  suchte 
und  fend  aber  S.  Scheidt  bei  dem  berühmten  Sweelinck  in  Amsterdam. 
Ztt  ihm  begab  sich  Scheidt,  wie  Ritter^  annimmt,  »um  das  Jahr  160S 
wenn  nicht  früher;  wann  er  zurückkehrte,  ist  noch  weniger  zu  be-* 
stimmen,  c  Die  äußersten  Zeitgrenzen  lassen  sich  aber  doch  angeben. 
In  dem  Begleitschreiben  zu  dem  Dedikationsexemplar  seiner  Tabulatura 
Nova,  welches  er  am  22.  Dez.  1624  an  den  Kurfürsten  Johann  Georg  I. 
T.  Sachsen  richtete,^  sagt  Scheidt,  daß  er  sich  in  der  »bestallung«  seines 
Herren^  des  Fürsten  und  Administrators  Christian  Wilhelm,  nn  das 
15.  Jahr  erhalten.«  Da  er  demnach  seit  etwa  der  Mitte  des  Jahres  1609 
im  Amt  war,  so  muß  er  spätestens  1607  abgereist  sein;  aus  anderen 
Gründen  that  er  dies  aber  wahrscheinlich  schon  früher.  Daß  er 
gerade  Sweelinck  aufsuchte,  läßt  sich  wohl  erklären.  Süddeutsch- 
lands  Orgelmusik  nahm,  zwar  wieder  einen  Aufschwung  —  neue  feste 
Formen  zusammen  mit  einer  bestimmten  Art  instrumentaler  Technik 
wurden  hier  durch  Haßler,  Chr.  Erbach  u.  a.  gepflegt.  Wenn  er 
keinen  von  diesen  Meistern  aufsuchte,  so  li^  der  Grund,  was  Haßler 
betrifit,  wohl  darin,  daß  dieser  schon  zu  kränklich  war,  um  sich  noch 
der  Lehrthätigkeit  voll  hingeben  zu  können;  die  andern  Vertreter 
aber  der-  süddeutsch-italienischen  Bichtung  waren  mehr  oder  weniger 
mit  Scheidt  gleichalterig.  Dazu  kommt  noch  ein  anderer  Umstand. 
HaUe,  an  der  Hauptverkehrsstraße  von  den  südlichen  Handels- 
städten einerseits  und  Tom  Kurfürstenthum  Sachsen  andererseits 
nach  den  norddeutschen  Hansestädten  hin  gelegen,  mußte  also  vom 
Süden  und  Norden  immer  neue  Anregungen  empfangen.  Haßler, 
der  einen  neuen  deutschen  Stil  geschaffen  hatte,  befand  sich  schon 
längere  Zeit  auf  der  Höhe  seines  Ruhmes.  Wir  können  annehmen, 
daß  Scheidt  mit  dessen  Bichtung  schon  vertraut  war,  bevor  er  nach 
BoUand  ging*  Von  Norden  her  machte  sich  aber  zu  Anfang  des 
17.  Jahrh.  eine  Strömung  bemerkbar,  welche,  bezeichnend  genug, 
von  England  ausgeht.     Englische  Musik  und  Musiker  beginnen  jetzt 


1  Die  beiden  Brüder  komponierten  auf  den  Tod  ihres  Tielleieht  erst  kürzlich 
Terstorbenen  Vaters  Stücke:  Cantiones  aacrae,  1620,  nr.  33  u.  35:  vLesaum  hunc  in 
chiktm  Conradi  Seheidt  Pigarchae  (vulgo  fontium  Magiatri)  in  Salinia  Sazonicia 
parentia  opiimi  et  desiderätiaaimi  moeatua  author  appoauita;  »Parodia  in  obitutn 
parentia  optime  de  ae  meriti  deeantata  a  Gadofredo  Scheidt,  authoria  jVatreA 

2  a.  a.  O.  I  S.  183. 

3  0.  Kade,  M.  f.  M.  X,  S.  145  ff.;  ebenfalls  mitgetheilt  bei  La  Mara,  Musikei^ 
briefe,  I  Leipzig  1886,  S.  97  ff.,  aber  unterm  22.  Okt.  (?) 


2gg  •      Max  Seiffert, 


in  Deutschland  einen  großen  Einfluß  auszuüben.  An  den  Fürsten- 
höfen, z.  B.  in  Dresden,  Stuttgart,  Wolfenbüttel,  in  Städten  wie 
Hamburg,  waren  englische  Instrumentisten  begehrte  und  angesehene 
Leute.  Männer,  wie  Michael  Frätorius,  Valentin  Hausmann  u.  a. 
ließen  englische  Kompositionen  in  Deutschland  nachdrucken.^  Auf 
diesem  Wege  drang  nun  der  Buhm  Sweelincks  durch  Deutschland 
und  nach  Halle,  als  der  eines  Mannes,  welcher  wie  Haßler  die  Unter- 
weisung der  großen  Yenetianer  Meister  genossen,  welcher  aber  mit 
den  hier  gewonnenen  Errungenschafiten  die  Technik  der  englisch- 
niederländischen  Kunst  vereinigte.  Hier  konnte  Scheidt  also  noch 
etwas  Neues  kennen  lernen;  und  daß  er  die  richtige  Quelle  auch 
fand,  wissen  wir.  Spätestens  1609  kehrte  er  zurück  und  trat  in  der 
Mitte  dieses  Jahres  in  den  Dienst  des  Administrators  Christian  Wil- 
helm ein. 

Halle ^  war  im  16.  Jahrh.  der  Sitz  eines  Erzbischofes  gewesen, 
welchen  das  Magdeburger  Domkapitel  jedesmal  zu  wählen  hatte. 
Nachdem  sich  dieses  aber  1561  zur  evangelischen  Lehre  bekannt, 
jppostuliertev  es  nun  nicht  mehr  katholische  Erzbischöfe,  sondern  welt- 
liche protestantische  »AdminiBtratorenc  als  Regenten  des  Landes.  Dem 
ersten  Administrator  und  späteren  Kurfürsten  von  Brandenburg, 
Joachim  Friedrich,  folgte  159S  dessen  Sohn  Christian  Wilhelm,  für 
welchen  aber  in  Anbetracht  seiner  Jugend  das  Domkapitel  bis  1608 
die  Regierung  führte.  In  diesem  Jahre  nahm  er  selbst  die  Zügel 
in  die. Hand;  in  die  Anfangszeit  seiner  Regierung  fiel  also  die  An- 
stellung des  22jährigen  Samuel  Scheidt.  Man  hat  bisher  geglaubt, 
Scheidt  hätte  sein  ganzes  Leben  hindurch  als  »Organist  und  Kapell- 
meister« gewirkt;  über  den  Ort,  an  welchem  er  seine  Pflichten  zu 
erfüllen  hatte,  war  man  gänzlich  im  Unklaren.  Unsere  Untersuchung 
wird  alle  Angaben  in  erheblicher  Weise  modifizieren. 

Scheidt  selber  nennt  sich  auf  dem  Titelblatt  seiner  »Cantiones 
S€u^ae%  Hamburg  1620,  ausdrücklich  nur  nOrffanista^y  auf  dem  Titel- 
blatt des  ersten  Theils  seiner  ^»Geistlichen  Concertec,  Hamburg  16 12, 
sowie  in  der  Tabulatura  Nova,  Hamburg  1624,  »Orffanista  et  Capellae 
Magister,fi  in  seinen  späteren  Werken  dagegen  nur  »fT«  (Htdiensis) 
oder  nCt  (Capellmeister).  Die  Sachlage,  die  sich  hieraus  schon  ziem- 
lich deutlich  ergiebt,  gewinnt  noch  an  Klarheit  durch  folgende  No- 


1  Jahrb.  d.  Vereins  f.  niederdeutsche  Sprachforschung,  1887,  J.  Bolte,  das 
Liederbuch  des  P.  Fabricius,  8.  66.  Es  ist  übrigens  beachtenswerth,  daß  V.  Hauss» 
mann  sich  im  Besitz  Ton  S.  Scheidts  Kompositionslehre  [ygl.  S.  180)  befand. 

2  Die  Mittheilungen  über  die  politischen  und  kirchlichen  Verhfiltnisse  in  HaUe 
Terdanke  ich  den  freundlichen  Nachricht^'n  des  Herrn  Dompredigers  H.  Alberts. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  |g9 

tuen.  Der  Wolfenbüttelei  Kapellmeister  Michael  Prätorius^  wurde 
Yon  Christian  Wilhelm  des  öfteren  dazu  in  Anspruch  genommen,  in 
Halle  die  Kirchenmusik  su  leiten.  Da  ihm  die  nöthigen  ausführen- 
den ELräfte  fehlten ,  so  wandte  er  sich  an  den  Kurfürsten  Johann 
Geoi^  I.  y.  Sachsen  mit  der  Bitte,  ihm  auszuhelfen.  Dies  geschah 
im  zweiten  Jahrzehnt  des  17.  Jahrh.  Femer  berichtet  uns  der  Hallen- 
ser Chronist  Joh.  Christoph  v.  Dreyhaupt:^  »Die  Orgel  (zu  St.  Moritz) 
hat  der  gelehrte  und  damahls  berühmte  Orgelmacher  zu  Halle,  Esaias 
Beck  ao.  1569  zuerst  verfertiget,  selbige  haben  die  Kirchenväter  ao. 
1624  in  der  Woche  Trinüatis  (23.— 30.  Mai)  abtragen  und  die 
«oietzo  (1755)  annoch  vorhandene  samt  dem  groBen  Schüler-Chor, 
unter  direction  des  damahligen  berühmten  Ertzbischofflichen  Capell- 
meisters  Samuel  ScheidSy  der  vorher  etliche  Jahr  bey  dieser  Kirche 
Organist  gewesen,  auch  selbst  ein  ansehnliches  dazu  verehret,  durch 
den  Oigelmacher  Johann  Compenium  erbauen,  und  durch  den  Kunst- 
mahler  NicoL  Rossmann  mit  biblischen  Figuren  und  andern  Bil- 
dern zieren  lassen,  welche  am  14.  Febr.  1625  bey  einer  Brautmesse 
zum  erstenmahl  gebraucht  worden.«  Scheidt  war  somit  von  1609  bis 
Trinitatis  1624  Organist  an  der  Moritzkirche  und  das  »Vermächtnis,« 
von  welchem  spätere  Lexikographen  berichten,  bestand  aus  einem 
ansehnlichen  Beitrag  zum  Bau  der  neuen  Orgel,  welcher  nach  seiner 
Leitung  vor  sich  ging.  Die  Stelle  eines  Erzbischöflichen  Kapell- 
meisteia  scheint  im  zweiten  Jahrzehnt  des  17.  Jahrh.  nicht  besetzt 
gewesen  zu  sein,  so  daB  sich  Christian  Wilhelm  genöthigt  sah,  Mich. 
Prätorius  des  öfteren  nach  Halle  zu  berufen.  Im  Jahre  1620  dedi- 
zierte  Scheidt  seine  im  Stil  des  Prätorius  komponierten  ibCantionee 
Mcraet  dem  Administrator,  welcher  mit  Anbruch  des  30jährigen 
Krieges  Halle  verlassen  hatte,  um  gegen  die  Kaiserlichen  zu  kämpfen. 
Scheidt  wurde  infolgedessen,  und  zwar  wohl  nach  1620,  zum  Kapell- 
meister ernannt;  die  Probe  für  seine  Brauchbarkeit  hatte  er  ja  ab- 
gelegt. Bis  zum  Mai  1624  hatte  er  also  den  doppelten  Dienst  als 
Oi^anist  und  Kapellmeister  zu  verrichten.  Nach  dieser  Zeit  war  er 
dann  bis  zu  seinem  Tode  nur  Kapellmeister.^  Als  solcher  mußte  er 
in  der  Hofkirche  aufwarten.     Es  muß  hier  festgestellt  werden,   ob 

1  LaMara,  Musikerbriefe  I,  Leipzig  1886,  S.  57  ff.,  M.  Prätorius  schreibt  aus 
Haue,  den  30.  April  1616. 

2  »Besebreibung  des  Saal-Creyses  Halle,«  I  Halle  1755.  S.  1084.  Diese  wich- 
tige Noti2  verdanke  ich  der  freundlichen  Mittheilung  des  Herrn  Dr.  Fleischer  in 
Berlin. 

3  Aktenm&ßige  Belege  ließen  sich  in  den  Archiven  zu  Halle  nicht  finden. 
Vielleicht  würde  sie  eine  Nachforschung  im  Magdeburger  Dom  zu  Tage  fördern, 
da  1742  die  Regierung  von  Halle  nach  Magdeburg  verlegt  wurde  und  hierher  auch 
die  Akten  wanderten. 


]  90  ^^^  Seiffert, 


die  damalige  Hofkirche  mit  dem  heutigen  Dom  oder  mit  der  Monte- 
kirche  identisch  ist.  Beim  Wegzuge  des  Kardinals  Albrecht  aus  Halle 
1541  war  der  Dom  zugeschlossen  worden  und  er  stand  leer,  bis  ihn 
1589  der  erste  Administrator  Joachim  Friedrich  reinigte  und  2ur 
lutherischen  Hof  kirche  weihte.  Als  nun  Christian  Wilhelm  1626 
geächtet  und  1628  ^  vom  Domkapitel  wegen  dauernden  Entferntseins 
seines  Fürstenamtes  entsetzt  worden  war,  begehrte  der  Kaiser  das 
Erzbisthum  für  seinen  Sohn.  Kaiserliche  Truppen  besetzten  Halle 
und  der  Dom  wurde  auf  kurze  Zeit  wieder  katholisch.  Bis  1628 
und  nach  dem  Wegzuge  der  kaiserlichen  Truppen  sind  aber  die 
lutherischen  Gottesdienste  im  Dom  fortgesetzt  worden.  Die  Hof- 
kirche und  der  jetzige  Dom  sind  also  identisch. 

In  dieses  Bild  passen  die  Einzelzüge,  die  wir  den  Vorreden  von 
Scheidts  Werken  entnehmen,  sehr  wohl  hinein.  Er  sagt:^  »Ob  es 
wol  nicht  ohn,  das  ich  guten  Leuten  mit  solchen  ynd  dergleichen 
Psalmen,  Fugen,  Tocaien.  Echo,  Passomezerij  Canonen  vnd  andern 
Weltlichen  Liedern  .  .  .  auch  wol  vber  Land  gedienet,  viel  meiner 
discipel  auch  solche  wider  meinen  willen,  vnter  die  Leute  gebracht.^ 

Ist  doch  in  diesem  Werck  alles mit  mehrern  vartationibus  — 

ougiretM  Ferner:^  ^Negociis  Aulicis  distentus,  DisciptUos  Phüamusos^  id 
passtm  per  literas  hinc  inde  a  me  petenies,  privatim  insiituere  et  w^ 
formare  non  possum.ii  Als  Organist  unterrichtete  Scheidt  viele  Schü- 
ler, viele  instruierte  er  durch  übersandte  Kompositionen.  Dazu  fand 
er  aber  nicht  mehr  die  nöthige  Zeit,  als  sich  die  Last  seiner  Arbeit 
durch  die  Übernahme  der  Kapellmeisterthätigkeit  verdoppelte.  Um 
nun  doch  allen  Wünschen  Rechnung  zu  tragen,  entschloß  er  sich, 
seine  Orgelkompositionen  gedruckt  erscheinen  zu  lassen.  In  der 
ersten  Hälfte  des  Jahres  1624  kam  zu  Hamburg  die  Tahidatura 
Nova  in  3  Theilen  heraus.  Dies  Werk,  welches  Scheidts  Laufbahn 
als  Organist  würdig  beschloß,  trug  seinen  Namen  durch  ganz  Deutsch* 
land  hin. 

Wie  sehr  sich  Scheidt  bewußt  war,  hiermit  den  deutschen  Or- 
ganisten einen  ganz  neuen  Weg  erötfhet  zu  haben,  beweisen  die 
Worte  des  Begleitschreibens,  welches .  er  dem  Dedikationsexemplar 
an  Kurfürst  Johann  Georg  L  mitgab:^  «Und  demnach  meine  bishero 
gepflogene  art  und  manier  vff  der  orgel  und  instrument  zu  schlagen, 
nicht  wenigen  beliebet,  begehret  und  gesucht  worden,  insonderheit, 


1  Bitter  a.  a.  O.  I  S.  184  giebt  1638  an. 

^  Tab.  Nov.  I  »an  den  guthertzigen  Musicverstendigen  Leser.« 

3  Wir  denken  an  das  Mscr*  des  grauen  Klosters. 

*  Tab.  Nov.  IL  Dedikation. 

5  Vgl.  S.  187.  Anm.  3. 


J.  P.  Sweelinck  und  Beine  direkten' deutschen  Schüler.  ^91 


däB  sich  bis  dato  niemandt  teutschei  Nation  unterfangen,  welcher 
emtzige  cardion  in  orgehi  oder  Instrumententabulatur  hette  bringen 
wollen,   als  habe  ich  solche   meine  art  und  manier  in  öffentlichen 

Druck  ausgehen  zu  lassen kein  bedenken  haben  können« 

(Halle,  22.  Dez,  1624).  Der  Kurfürst  be&hl  seinem  Kapellmeister 
Heinrich  Schütz,  darüber  an  den  Kammersekretär  Bericht  zu 
erstatten.  Schütz  schrieb  nun  am  ^0.  Dez.  1624:  »Nachdem  der- 
selbe wegen  Samuel  Scheidten  Capelmeister  zu  Halle  eingeschickten 
musicalischen  Sachen  eigendtlichen  Bericht  und  darüber  mein  Judicium 
begehret,  als  füge  ich  Ihme  dienstfreundtlichen  zu  wissen,  daß 
jetziges  Werk  .  .  .  seyen  Sachen  für  Oiganisten  auff  die  Niederlän- 
dische art,  gar  wol  zu  hören  .  .  .  Über  dieses  aber  weis  mein  grosg. 
L  Cammersecretair  sich  vielleicht  noch  zu  erindern,  da  berürter  Samuel 

i       Scheidt  noch  zwei  andere  opera  vordem  eingeschickt,   daB  von  ohb- 

I  gefahr  das  Schreiben,  als  ich  einst^n  zum  Aufwarten  gang,  von  der 
Knaben  einem  verloren  worden.  Dieselben  opera  aber  seindt  .  .  .  nicht 
dediciret,  sondern  nur  praesentiret  w^orden,    seindt  auch  noch   für- 

I  banden,  aber  bis  dato  (weil  noch  kein  recompens  darauf  gefallen) 
noch  nicht  in  den  Cataiogum  der  Bücher  gebracht  worden.«  Auf 
den  Vorschlag  einer  gewissen  Abfindungssumme  entschied  der  Kur- 

'  fürst  am  1.  Jan.  1625,  »dem  Capellmeister  zu  Hall  Samuel  ASbA^ie/^an 
einen  Becher  von  25Yq  Reichsthaler  Werth  hinwieder  verehren  zu 
lassen.«  Unter  den  beiden  schon  früher  eingeschickten  Werken 
können  nur  die  i>Cantiones  sacrae^it  1620,  und'  der  erste  Theil  der 
»Geistlichen  Concertea  verstanden  sein.  DaB  sich  Schütz  mit  einer 
gewissen  Wärme  der  Sache  Scheidts  annahm,  findet  seine  Erklärung 
.in.  der  persönlichen  Bekanntschaft,  die  beide  bei  einer  früheren  Ge- 
legenheit mit  einander  gemacht  hatten.  Scheidt  sagt:^  TuCerte  quam 
dm  vivcgm,  meminero,  quanta  ammi  voluptate  beatam  illam  animam 
Michadem  Praetorium^  Henricum  Schuzium  et  me  .  ,  ,  in  aula  illustri 
Birutkina  in  consessu  Principum  et  Moffnatum  Dei  summi  taudes  con- 
citmentes  audierisu  (Halle,  18.  Sept.  1621).  Die  drei  Meister  hatten 
also  einmal  gemeinschaftlich  in  Baireuth  eine  Kirchenmusik  aufge- 
fiihrt.  Michael  Praetorius,  welcher  erst  vor  kurzem  im  Jahre  1621 
gestorben  war,  muß  auch  in  Halle  öfter  mit  Scheidt  zusammenge- 
kommen sein.^  Daß  er  sich  für  die  Niederländische  Instrumental- 
komposition interessierte,   zeigen    seine  Worte :^  »Ynd   ob  ich  zwar 

^  Erster  Theil.  der  Oeistliehen  Konzerte,  Dedikation  in  der  Tenor-  und  Oe- 
neralbaßstimme. 

«  Vgl  oben  S.  189.     .  . 

^  Syniagma  musieutn^  .Wolfenbüttel  1619,  in  S.  23  unter  »Tocaia;^^  vgl.  dazu 
8.  188. 


192  ^^  Seiffert, 


viel  herrliche  Tocaten  von  den  Yomembsten  Italiänischen  vnd  Nie- 
derländischen Organisten  zusammen  bracht,  auch  Selbsten  nach  mei- 
ner Einfalt  vnd  Wenigkeit  etliche  darzu  gesetzt,  in  Drillens  dieselbige 
in  Druck  zu  publiciren:  So  habs  ich  doch  noch  zur  Zeit . .  .  nicht 
zu  Werck  richten  woUen.c  Daß  dieser  Verkehr  nicht  bloB  ein  äußer- 
licher war,  sondern  auch  auf  die  Kompositionsthätigkeit  Scheidts 
einen  gewissen  Einfluß  ausübte,  ist  bereits  angedeutet.^  Es  wäre 
eine  lohnende  Aufgabe,  Scheidts  Yokalkompositionen  nach  dieser 
Richtung  hin  einer  näheren  Prüfung  zu  unterziehen.  Nicht  ohne 
Einfluß  mag  femer  die  Bekanntschaft  mit  dem  Quedlinburger  Stadt- 
kantor, Heinrich  Baryphonus,  gewesen  sein,  welcher  seinerseits 
ebenfalls  mit  Michael  Praetorius  und  Heinrich  Schütz  in  Verbindung 
stand.2  Andreas  Werckmeister  berichtet  uns:^  »Der  berühmte  Sa- 
muel Scheit  schreibet  an  Baryphonum,  anno  1651.  den  26.  Januar 
also :  Es  ist  jetzo  eine  so  närrische  Music,  daß  ich  mich  verwundern 
muß,  da  gilt  falsch  imd  alles,  da  wird  nichts  mehr  in  acht  genom- 
men, wie  die  lieben  Alten  von  der  Camposition  geschrieben.  Es  soll 
eine  sonderliche  hohe  Kunst  seyn,  wenn  ein  hauffen  Consonantien 
unter  einander  laujQTen.  Ich  bleibe  bey  der  reinen  alten  Composüiony 
und  reinen  Kegeln.  Ich  bin  oflt  aus  der  Kirche  gangen,  daß  ich 
die  Bergmanieren  nicht  mehr  anhören  wollen.  Ich  hoffe,  es  soll 
die  neue  falsche  Müntze  abkommen,  und  neue  Müntze  wieder  nach 
dem  alten  Schrot  und  Korn  gemüntzet  werden.« 

Wie  weit  und  nach  welchen  Richtungen  hin  sich  sonst  die  Ver- 
bindungen Scheidts  erstreckten,  erkennen  wir  aus  den  Dedikationen 
seiner  Tabtdaiura  Nova.  Der  erste  Theil  ist  dem  Markgrafen 
Christian  von  Brandenburg  und  dem  Kurfürsten  Johann  Oeorg  L  v. 
Sachsen  gewidmet.  Die  Bekanntschaft  mit  H.  Schütz  ist  bereits  er- 
wähnt. Die  Hohenzollem  standen  zum  Erzbisthum  Magdeburg  in 
einem  besonderen  Verhältniß,  da  immer  einer  der  Markgrafen  zum 
Administrator  ernannt  wurde.  ^  Der  zweite  Theil  ist  den  Senaten 
von  Nürnberg,  Danzig  und  Leipzig  dediziert.  In  Nürnberg  hatte 
Scheidt,  wenn  nicht  persönlich  bekannte,  so  doch  künstlerisch  ihm 
nahestehende  Freunde,  auf  welche  wir  bei  Besprechung  der  Kompo- 
sitionen zurückkommen  werden.  In  Danzig  lebte  Paul  Siefert,  ein 
Mitschüler  Scheidts,   als  angesehener  Organist;  seine  mannigfachen 


1  Vgl.  oben  S.  189. 

>  E«  Jacobs,  Zwei  hanische  Musiktheoretikei  des  16.  u.  17.  Jahrb.,  Viertelj« 
f.  M.  1890,  S.  114. 

3  Cribrum  mttsicum  oder  Musikalisches  Sieb  .  •  .  lum  Druck  befördert  durch 
Johann  Georg  Carlui«  Quedlinburg  u.  Leipzig  1700,  S.  41. 

*  Vgl.  hiersu  oben  S.  188. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  \93 


Berührungen  mit  Mitteldeutschland  sind  bisher  noch  nicht  recht  be- 
achtet worden.  Inwiefern  Leipzig  Scheidts  Kunstübung  nahestand, 
UeB  sich  nicht  ermitteln;  vielleicht  kommt  hier  das  Thomaskantorat 
in  Betracht.  Jedenfalls  erhielt  er  die  einmal  hier  angeknüpfte  Ver- 
bindung aufrecht;  1640  ließ  er  in  Leipzig  den  vierten  Theil  seiner 
Geistl.  Concerte  drucken.  Den  dritten  Theil  der  Tab.  Nov.  widmete 
er  den  Senaten  von  Lübeck,  Hamburg,  Lüneburg  und  Magdeburg. 
In  den  drei  ersten  Städten  wirkten  direkte  und  indirekte  Schüler 
Sweelincks;  auf  Magdeburg  wurde  Scheidt  durch  lokale  Verhältnisse 
hingewiesen. 

Von  Scheidts  späterem  Leben  erfahren  wir  recht  wenig.  In  der 
Dedikation  seiner  »Lieblichen  Krafft-Blümeleina^  an  Joachim  VizlaiF, 
Kiiegsrath  und  Oberst  der  evangelischen  Fürsten  und  Stände,  sagt 
er:  »Dessen  ich  selber  Zeuge  seyn  kann;  mit  was  großer  attention, 
Sie  mich,  als  ich  Ihr  allhier  zu  vnterschiedenen  mahlen  musictret, 
gehöret,  auch  was  großen  Favors  sie  mir  hierob  erweiset,  vnd  sich 
zu  einem  mehren  anerbotten;  Auch  zu  dem  Ende,  ihren  Cammer 
Diener  Zacharias  Eckharden,  mir  in  meine  Institution  vbergeben« 
[Halle,  15.  Aug.  1635).  Als  Probe  des  Lehrerfolges  ist  dem  Werk 
ein  Konzert  des  Schülers  beigefiigt.  Über  die  Persönlichkeit  dieses 
Zach.  Eckhard  geben  die  Lexika  keinerlei  Auskunft.  Folgende 
Notizen  sind  deshalb  nicht  unangebracht.  In  der  Kapelle  zu  Stuttgart* 
lebten  zu  Anfang  des  17.  Jahrh.  vier  Vertreter  des  Namens  »Eckhardt« 
als  Instrumentisten ;  einer  von  ihnen  war  Hoforganist.  Aus  einem 
Elbinger  Aktenstück  theilt  G.  Döring^  folgendes  mit:  »1643  wird 
dei  Bau  der  Orgel  zu  St.  Marien  durch  Meister  Samuel  Werner  be- 
endigt. Die  mit  der  Abnahme  beauftragten  Personen,  unter  denen 
auch  ein  Organist  Zacharias  Eckard  aus  Pr.  Holland,  erklären,  »sie 
wüßten  nicht,  daß  dergleichen  Werk  von  so  viel  Stimmen  in  solch 
kleinem  corpore  in  gantz  Preußen  wäre. er«  Man  könnte  beide  An- 
gaben ganz  gut  vereinigen.  Einer  der  Stuttgarter  Eckhards 
stammte  aus  Pr.  Holland,  schickte  von  hier  seinen  Sohn  Zacharias 
E.  zu  dem  im  Süden  berühmten  S.  Scheidt  und  dieser  wies  seinem 
Schüler  wieder  den  Weg  nach  dem  Norden  hinauf.  Ein  zweiter  uns 
namhaft  gemachter   Schüler*  Scheidts   war  Adam  Krieger,   später 

>  »Liebliche  Krafft-Blümelein,  aus  des  Heyligen  Geistes  Lustgarten  abge- 
brochen .  .  .  CaneertweiBe  mit  zweyen  Stimmen,  sampt  dem  General-BtiQ  com- 
ponirgi.<i    Halle  1635.  ExempL  Kgl.  BibL  Berlin. 

2  Jos.  Sittard,  Zur  Geschichte  der  Musik  und  des  Theaters  am  Württemberg. 
Hofe,  I  Stuttgart  1890,  S.  33,  40,  46,  49. 

3  Zur  Geschichte  der  Musik  in  Preußen,  Elbing  1852,  S.  49. 

^  »Herrn  Adam  Kriegers  .  .  .  Neue  Arien , .  in  6  Zehen  eingetheilet  ...  so 
naeh  seinem  seel.  Tode  erst  zusammengebracht,  und  zum  andemmahl  zum  Druck 

1891.  13 


]94  ^^  Seiffeit, 


Hoforganist  in  Dresden.  Da  dieser  1637  geboren  wurde,  so  kann 
er  nur  während  der  letzten  Lebensjahre  des  Meisters  dessen  Unter- 
richt genossen  haben.  Am  19.  Juni  1642  wandte  sich  Scheidt^  an 
Herzog  August  v.  Braunschweig,  ihm  Kompositionen  anbietend, 
welche  Scheidt  9  nicht  in  Druck  will  kommen  lassen,  darmit  sie  nicht 
gemein  (werden).«  Diese  Motivierung  zwingt  uns  nicht  durchaus 
dazu,  pekuniäre  Verlegenheiten  vorauszusetzen.^  Er  kann  auch  die 
Absicht  gehabt  haben,  dem  Herzog  persönlich  eine  angenehme  Freude 
zu  bereiten,  indem  er  ihm  allein  die  Kompositionen  dedizierte  und 
sie  nicht  durch  den  Druck  jedermann  zugänglich  machte.  Jener 
Brief  enthält  übrigens  die  einzige  Stelle,  aus  der  wir  schließen 
dürfen,  daB  Scheidt  eine  Familie  besaß;  er  redet  dort  von  den 
«Seinigen.« 

Fast  am  Schlüsse  seines  Lebens  kehrte  Scheidt  wieder  zur 
Orgelmusik  zurück.  Im  Jahre  1650  erschien  von  ihm  als  das  Werk 
eines  gereiften  und  geläuterten  künstlerischen  Geschmackes  zu  Gör- 
litz ein  Tabulaturbuch  mit  100  Chorälen.  Er  widmete  das  Buch 
dem  Bürgermeister  und  Bath  der  Stadt  Grörlitz,  bewogen  durch  tdie 
genugsam  verspürte  Benevolenz  und  Wolgewogenheit  gegen  meine 
wenige  Person,  und  dann  das  sonderbahre  Verlangen  nach  dieser 
musicalischen  Arbeit,  welche  Sie  in  dero  berühmten  Stadt  und  Weich- 
bilde zum  Druck  zu  befördern  sich  groBgünstig  belieben  lassen«  (Halle, 
Sonntag  Cantate  [22.  April]  1649). 

Einige  Jahre  später  erreichte  die  bedeutsame  Thätigkeit  Scheidts 
ihr  Ende;  er  starb  am  Charfreitag  den  24.  März  1654.^  Zu  seinem 
Andenken  wurde  sein  Bild  an  der  Moritzorgel  aufgehängt.  Der 
Chronist  Joh.  Christ,  v.  Dreyhaupt^  berichtet:  «An  Epitaphiis  und 
Bildern  sind  in  dieser  (Moritz-)  Kirche  befindlich  ...  an  der  Oi^el 
das  Bild  des  Capellmeisters  {Samuel  Scheids.t  Darunter  befanden 
sich  Distichen,  welche  Walther^  mittheilt: 

Haec  est  effigies  Samuelis  Scheidiif  acumen 
Ingenii  cujus  nuttaßgura  capit, 

befördert  irorden,«  Dresden  1676|  Vorrede  in  der  /  voee.    Vgl.  Becker,  N.'Ztsohr« 
f.  M.,  Jahrg.  31,  S.  205. 

1  Fr.  Cbrysander,  Jahrb.  f.  musilu  Wissensch.,  I  S.  158  ff. 

2  Ritter  a.  a.  O.  I  S.  184. 

>  Witte,  diar.  biogr.,  giebt  den  24.  Mai  an;  ebenso  Walther,  Lexikon,  Sp. 
548  £;  G.  Y.  Winterfeld,  der  evangeL  Kirchengesang,  II  Leipsig  1845,  8.  611,  den 
25.  Mftrz;  ebenso  Becker,  a.  a.  O.;  Ritter  a.  a.  O.  den  14.  Mfirz.  Maßgebend  sind 
obige  Distichen.  An  der  Hand  yon  den  sehr  praktischen  »Kalender -Tabellen« 
Dr.  F.  Müller's,  Berlin,  O.  Reimer  1885,  gelangen  wir  zu  obigem  Datum. 

«  Vgl.  oben  6.  189,  Anm.  2. 

5  Lexikon,  Sp.  548  £. 


J.  P.  SweeUnck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  \9b 


Musicus  hie  quantus,  vocale  et  chroma  vibratum 
Ecstaticis  digitis^  Organa,  scripta  docent. 
Defunctus  in  Domino  die  cruc^xi  Salpatoris  Anno  M.DC.LIV. 

aetatis  LXVII.t 

Scheidts  Fertigkeit  als  Orgelspieler  preisen  auch  die  Worte,*  welche 
•einsten  eine  hohe  Fürstliche  Person  von  seinem  (A.  Kriegers)  Lehr- 
meister Herr  Samuel  Scheiden  zu  Halle  gesprochen:  Ach  schade 
und  immer  schade,  daß  diese  Hände  dermaleinst  verfaulen  sollen. er 
Recht  bezeichnend  ist  ferner  ein  Lobgedicht  bei  Joh.  Rud.  Ahle,^ 
welches  uns  die  damals  berühmtesten  deutschen  Musiker  aufzählt: 
»Es  hat  S  im  Abc,  was  Music  thut  anlangen. 
Wie  bekantlich  ist,  bißher  allen  Preiß  fast  eingefangen; 
Schütze,  Schein,  Scheid,  Schop,   Schild,   Schnitze,   Seil'  und  letzlich 

Scheidemann, 

Diese,  diese,  deucht  mich  gantz,  solten  füglich  schwimmen  oben. 
Diese  sinds,  die  hochhertraben  mit  gedachter  Himmelskunst; 
Diesen  Achten  allen  bleibt  diese  Zeit  der  Preiß  und  Gunst,  er 
Scheidts  virtuose  Meisterschaft  im  Orgelspiel   wird  ferner  hervorge- 
hoben in  den  Distichen  unter  seinem  Bilde  in  der  Tahulatura  Nof>a: 

»In  effigiem  Samuelis  Scheiti  Musicorwn  principis. 
Hie  nie  est  Samuel  cuius  vultum  aenea  cernis 

Sckeitius  organici  gloria  prima  chori. 
O  numeris  natam  liceat  quoque  sculpere  mentem, 

Pegaseas  liceat  sculpere  posse  manus, 
Nil  tibi  laudo  virum,  sat  cum  tibi  publica  laudant 

Scripta:  sat  artißcem  nobile  laudat  opt^A 
feiner  von  G.  Endermann  in  der  Görlitzer  Tabulatur: 
nNon  sunt  artißces  hoc  tantumßne  creati, 

Ut  sint  artißces^  praetereaque  nihil. 
Artem  qui  callet,  pariter  coryfungit  et  usum, 

Hunc  reor  artificis  nomen  habere  meri. 
Scheitius  ante  omnes  hoc  unus  praesiat  utrumque, 

Illius  ergo  latis  altius  ire  nequit.t^ 

Jenes  Bild  in  der  Moritzkirche  ist  mit  dem  Abbruch  der  alten  und 
Bau  einer  neuen  Orgel  im  Jahre  1840   abhanden   gekommen.     Ein 

1  Vgl  oben  S.  193,  Anm.  4. 

'  »Neu-gepflaxuster  ThOringiseher  Lustgarten,«  Erster  Theil,  Mühlhausen  1657, 
90X  prima,  swdtes  Lobgedioht 

^  Vgl.  Ritter  a.  a.  O.  I  S.  208  »die  Vokalkompositionen  zunächst»  nicht  seine 
Orgelwerke,  machten  ihn  zn  einem  der  berühmten  drei  S:« 

13* 


196 


Max  Seiffert, 


Halleschei  Kunsthändler  besaß  nun  zwar  vor  einiger  Zeit  zwei  aus 
der  Moritzkirche  stammende  Oelbilder,  deren  eines  den  Pfarrer  Se- 
ring  (Ende  des  16.  Jahrh.j  darstellte;  das  andere  hätte  dem  Äußeren 
nach  wohl  zu  Scheidt  passen  können.  Indessen  ergab  eine  sach- 
kundige Prüfung,  daß  dies  zweite  Bild  erstens  stümperhaft  gemalt 
sei,  was  für  Scheidt  keine  besondere  Ehre  gewesen  wäre,  und  daß 
es  zweitens  seine  Entstehung  dem  vorigen  Jahrh.  verdanke.  Jenes 
Oelbild  muß  sonach  als  verschollen  gelten.  Einen  Ersatz  dafür  aber 
bietet  die  Tabulatura  Nova,  Auf  der  Rückseite  des  Titelblatts  zum 
ersten  Theil  derselben  zeigt  uns  ein  Holzschnitt  Scheidts  Bild,  wel- 
ches besonders  anziehend  ist  durch  die  unter  einer  hohen,  freien 
Stirn  uns  voll  und  wohlwollend  anblickenden  Augen.  Die  Brust 
ziert  eine  Münze  an  einer  Ehrenkette. 

Wenn  wir  uns  nun  anschicken,  Scheidts  Bedeutung  als  Orgel- 
meister  an  der  Hand  seiner  Kompositionen  näher  zu  untersuchen, 
so  ist  zunächst  zu  bemerken,  daß  auf  eine  genauere  bibliographische 
Beschreibung  seiner  Orgelwerke  hier  verzichtet  werden  kann,  da  eine 
solche  des  öfteren  gegeben  worden  ist.*  Femer  werden  wir  zwar 
die  beiden  Tabulaturbücher  für  sich  gesondert  betrachten,  nicht  aber 
auch  die  drei  Theile  des  ersten.  Vielmehr  werden  wir  denselben 
Weg  einschlagen,  wie  bei  der  Besprechung  Sweelincks,  nämlich  die 
der  Form  nach  zusammengehörigen  Stücke  herauszunehmen  aus  den 
einzelnen  Theilen  und  zusammenzustellen.  Die  Tabulatura  Nova 
enthält  3  Fantasieen,  2  Fugen,  2  Echos,  9  Liedvariationen,  18  Cho- 
ralvariationen, 1  Choralfantasie,  1  Choraltoccata,  1  Kyrie,  9  Magni- 
ficat,  12  Kanons.  Dazu  kommt  1  Toccate  und  1  Liedbearbeitung 
aus  dem  Mscr.  des  grauen  Klosters.^ 

Mit  dem  Namen  nFantasian  bezeichnete  Sweelinck,  wie  wir 
sahen,  eine  große  dreitheilige  Fugenform  und  gleichzeitig  noch  das 
Echo.  Scheidt  trennt  die  Namen  Fantasie,  Fuge  und  Echo;  wir 
wollen  zusehen,  nach  welchem  Prinzip  er  dies  thut.  Der  äolischen 
^)Fantasia  super  aJo  son  ferito  cassoy>  Fuga  quadruplici.  ä  4  Vool 
(I.  2.)  liegen  4  Themata  zu  Grunde: 


1. 


2. 


i 


I 


^=^=g^=fg=? 


SE 


-^- 


:^ 


3: 


~:w 


1[T-rr-^=^ 


5 


_!_. 


-^ — »*♦*- 


1  C.  T.  Winterfeld,  Ev.  Kirchenges.;  E.  Bohn,  Katalog  der  beiden  Breslauer 
Bibliotheken;  E.  Vogel,  Wolfenbütteler  Katalog;  Ritters  Angaben  sind  nicht 
gans  korrekt. 

^  s.  oben  S.  155.  Anm.  1. 


J.  P.  Sweeliuck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler. 


197 


3. 


4. 


■^r,     -    rl^J    \fj    ^ 


M 


-Of- 


-AV- 


^L_ty    -    ^\f~^^Y^' 


-i— J 


In  der  Verarbeitung  derselben  sucht  Scheidt  die  Inkonsequenzen 
SweeUncks  und  Luythons^  zu  vermeiden  und  die  Vorzüge  beider 
Männer  zu  vereinigen.  Im  ersten  Haupttheil  der  Fantasie,  deren 
Formenumrisse  dieselben  wie  bei  Sweelinck  sind,  läßt  er  die  Kontra- 
punkte nicht  sich  motivisch  weiterbilden,  sondern  fuhrt  statt  dessen 
die  drei  Gegenthemata  ein,  welche  ricercarmäßig  in  einander  ver- 
webt werden.  Im  zweiten  Haupttheil  wird  nicht  durch  das  Wachsen 
der  Stimmenanzahl  und  durch  die  zunehmende  Beweglichkeit  der 
Kontrapunkte  in  Sweelincks  Art  eine  Steigerung  bewirkt-  Das 
Thema  wird  zunächst,  wie  es  auch  Sweelinck  thut,  durch  Ver- 
knüpfung mit  den  drei  Gegenthemen  erweitert  und  das  Ganze  zu 
ganzen  Noten  verlängert.  Daran  hängt  nun  aber  von  vornherein 
ein  Komplex  von  drei  Stimmen,  die  sich  gegenseitig  fortwährend 
imitieren.  Die  Melodiefiguren  sind  frei  oder  mit  Anlehnung  an  ir- 
gend einen  Bestandtheil  des  Themas  gebildet;  sie  gehen  durch  ge- 
schickte Verkettung  in  einander  über  oder  bilden  sich  motivisch 
weiter.  Der  dritte  Haupttheil  bringt  dann  die  Engführung  und 
Verkleinerung  aller  Themata,  Scheidt  nimmt  also  nicht  einen  ein- 
zigen Faden,  auf  den  er  die  verschiedensten,  wenn  auch  innerlich 
zusammenhängenden  Dinge  aufreiht,  sondern  mehrere  durch  ihre 
Farben  kontrastierende  Fäden,  welche  er  nie  aus  den  Händen  ver- 
liert und  welche  er  mit  erstaunlicher  Kunstfertigkeit  zu  drehen 
und  zu  wenden  weiß,  um  immer  wieder  neue  Farbenwirkungen  zu 
erzielen. 

Über  den  Ursprung  der  verarbeiteten  vier  Themata  sind  die  An- 
gaben Ritters*^  nicht  korrekt.  »Jb  son  ferito  ahi  lassoa  sind  die  An- 
fangsworte einer  Motette  Palestrinas,  welche  durch  eine  Nürnberger 
Au^abe^  auch  in  Deutschland  bekannt  wurde.  Aus  dieser  Motette 
stammen  nicht  alle  4  Themata,  sondern  nur  das  erste;  mit  den 
übrigen  hat  es  eine  eigene  i^ewandniß.  Die  chromatischen  Motive 
hat  Scheidt  von  Sweelinck  entlehnt;  auch  Christ.  Erbach  benutzte 
sie*     Diesem  Augsburger  Meister  begegnen  wir  hier  wiederum  und 

1  Vgl.  oben  S.  165  f. 

2  a.  a.  O.  S.  190;  korrekt  dagegen  die  C.  v.  Winterfelds,  Ev.  Kirchengea., 
IS.  611  ff. 

^  oGemma  musicalis  selectisstnuis  varii  styli  Cantiones  .  . .  conttnens  .  .  .  studio 
^  opera  Fridertd  Ltndneri  Lignicensis  ...  I  Noribergae  .  .  .   /öÄ5.« 
♦  Vgl.  oben  S.  163  f. 


198  ^^^  Seiflfeit, 


mit  ihm  dem  Nürnbeigei  H.  L.  Haßler.  Erb  ach  schrieb  ein 
äolisches  Ricercar  i^sopra  le  fuge  Jo  son  ferif  hat  lasso  ^  Vestiva 
colli <i,^  in  welchem  er  zu  Thema  1.  einen  frei  erfundenen  Kontra- 
punkt durchgehends  festhält.  Haßler  komponierte  ein  in  der  hand- 
schriftlichen Vorlage^  nicht  näher  bezeichnetes  Stück,  ein  Ricercar  in 
der  Form,  wie  wir  sie  bei  A.  Gabrieli  fanden,  •*  welchem  Thema  1  und  2 
zu  Grunde  liegt.  Hinter  diesem  scheinbar  nur  zufälligen  Zusammen- 
treffen bergen  sich  indes  einige  tiefere  Beziehungen,  welche  uns 
wieder  auf  Sweelinck  zurückfiihren.  Daß  Sweelincks  Name  im 
Südwesten  Deutschlands  wohl  bekannt  sein  konnte,  dürfen  wir  aus 
dem  lebhaften  Verkehr,  welcher  im  17.  Jahrh.  zwischen  den  großen 
südwestdeutschen  Handelsstädten  und  den  Niederlanden  bestand, 
schon  im  voraus  vermuthen.  Dazu  gesellen  sich  nun  Anzeichen 
einer  gewissen  gegenseitigen  künstlerischen  Einwirkung.  Ein  Fugen- 
thema Sweelincks  findet  sich  bereits  in  Klebers  Tabulaturbuch;^  ein 
mit  Erbachs  Kompositionen  vertrauter  Süddeutscher^  fertigte  in  den 
Niederlanden  eine  Handschrift  an,  die  mehrere  Kompositionen  Swee- 
lincks der  Nachwelt  erhalten  hat.  Ein  anderer  Süddeutscher^  sam- 
melte Kompositionen  berühmter  süddeutscher  Meister  vom  Anfang 
des  17.  Jahrb.;  Sweelinck  und  Scheidt  sind  außerdem  noch  hier 
vertreten.  Der  Schreiber  war  anscheinend  einer  jener  »brieflichen«' 
Schüler  Scheidts.  Zu  beachten  ist  hier  auch  der  Umstand,  daß  man 
Sweelincks  Oelbild  in  Darmstadt^  gefunden ;  es  mag  früher  irgend  einem 
deutschen  Schüler  desselben  gehört  haben.  Mattheson^  erzählt  ein- 
mal von  Praetorius  und  Scheidemanu,  daß  sie  Sweelincks  «gemahltes 
Ebenbild  mit  zu  Hause  brachten  vnd  in  ihren  besten  Kammern  auf- 
stellten.« Was  nun  Haßler  anlangt,  so  ist  auch  hier  nicht^^  ein 
Einfluß  Sweelincks  durch  Scheidt  auf  ihn  nachzuweisen.  Das  Pa- 
lestrina'sche  Thema  konnte  er  durch  die  Nürnberger  Ausgabe  längst 
kennen,  und  das  2.  Thema  hat  er  in  ähnlicher  Weise  bereits  1601 
benutzt:** 


1  Mscr.  Fol.  191.  Berlin,  Fol.  46  v. 

2  ebendort,  Fol.  71  v. 

3  Vgl.  oben  8.  165. 
*  Vgl.  oben  S.  160  f. 

^  Vgl.  S.  155.  Anm.  2. 

6  Vgl.  S.  155.  Anm.  1. 

7  Vgl.  S.  190. 

8  Vgl.  S.  154. 

^^  Grundlage  einer  Ehrenpforte,  Hamburg  1740,  S.  331. 

10  Vgl.  S.  168  f. 

11  »Lustgarten  Neuer  Teutscher  Gesänge.  . .  Nürnberg  1601,«  nr.  8:  »Mir  träumt 
in  einer  nacht,«  XV.  Publikation  der  Gesellsch.  f.  Musikforsch,  hrsg.  F.  Zelle.  S.  6. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler. 


199 


& 


n=^ 


3z: 


^ 


5 


«- 


^s 


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1^ 

Andererseits  aber  braucht  auch  Scheidt  nicht  das  zweite  Thema  erst 
Ton  HaBler  zu  haben.  Es  war  ein  in  der  niederländischen  Lauten- 
musik, welche  auch  Sweelinck  pflegte,^  bekanntes  Thema.^  In  an- 
derer Besiehung  läßt  sich  jedoch  eine  Einwirkung  Haßlers  auf 
Scheidt  nicht  verkennen.  Sie  zeigt  sich  in  dem  konsequenten  Fest- 
halten von  kleinen  kontrapunktierenden  Melodieen,  welches  wir  in 
dem  Maße  bei  Sweelinck  noch  nicht  finden,  ferner  in  der  gesteiger- 
ten Anwendung  von  Wechselchörigkeit,  endlich  in  dem  Gebrauch 
gewisser  rhythmischen  Figuren,  die  von  allen  Stimmen  kurz  nach 
einander  imitiert  werden.  Hierher  gehört  namentlich  die  beliebte 
Frottolenfigur : 

nj  nj  nj 

Von  Erbach  dagegen  dürfen  wir  annehmen,  daß  er  ebenso,  wie  er 
das  chromatische  Thema  Sweelincks  nach  Scheidts  Vorbild  bearbei- 
tete, auch  das  Palestrina'sche  durch  Scheidt  angeregt  sich  vor- 
nahm. Auf  die  Posteriorität  Erbachs  läßt  auch  die  Bezeichnung 
tsopra  le  fugen  schließen.  Es  ist  übrigens  nicht  unmöglich,  daß 
Scheidt  sowohl  Haßler  als  Erbach  persönlich  gekannt  hat.  Wenn  er 
Ton  Halle  aus  doch  Kunstreisen  machte  und  so  nach  Baireuth  kam,^ 
so  war  es  von  dort  bis  nach  Nürnberg  und  Augsburg  eben  kein  zu 
großer  Weg  mehr. 

Die  äolische  nFanUisia  ä  3  Voc.a  (II.  6)  mit  dem  Thema: 


U.8.W. 


i 


I 


li  fl  fi 


t 


-*- 


t 


^m 


-»*v- 


verändert  in  anderer  Weise  die  Sweelinck*sche  Fantasieform.  Die 
drei  Haupttheile  sind  zwar  da,  aber  ihr  innerer  Aufbau  gestaltet 
sich  anders.  Im  ersten  Haupttheil  vermissen  wir  die  Sonderung  in 
drei  Durchfuhrungen;  der  zweite  bringt  das  Thema  in  ganzen,  halben 
und  Viertelnoten,  dann  wieder  aufsteigend  in  halben  und  ganzen 
Noten.     Statt  der  Engführung  im  dritten  Haupttheil  steht  nach  den 

^  Vgl.  Einleitung  Tiedemans  (1876)   S.  48  f.   und  R.  Eitner,   M.  f.  M.  IX 
8.  59  f. 

2  Tif'dsehriß,  Deel  II 1886,  J.  P.  N.  Laud,  *Het  Luithoek  van  Thysius,  S.  162, 
165  f. 

>  8.  oben  8.  191. 
*  Vgl.  oben  S.  167. 


200  ^^  Seiffert, 


sequenzenartigen  Wiederholungen  des  Themas  in  Viertelnoten  ein 
aus  dem  zweiten  Abschnitt  des  Themas  motivisch  gebildeter  Satz,  in 
dessen  Verlaufe  das  ursprüngliche  Thema  nur  zweimal  und  dazu 
rhythmisch  verändert  auftaucht.  Die  kontrapunktierenden  Stimmen 
bewegen  sich  in  Melodieen  und  Figuren,  die  weder  motivisch  um- 
gebildet, noch  in  einander  verkettet  werden ;  eine  folgt  zwanglos  der 
andern.  Aber  die  Gegensätzlichkeit  der  Figuren  zum  Thema  wird 
doch  erreicht. 

Der  nFantasia  super  Vt.  Re.  Mi,  Fa.  Sol.  La,  ä  2.  3.  8f  4.  Voc.^ 
(L  4)  1  liegen  zu  Grunde  die  beiden  Hexachorde  auf  G  und  C,  die 
in  ihrem  ganzen  Umfange  auf-  und  absteigend  verwendet  werden. 
Die  große  Dreitheilung  läßt  sich  auch  hier  nicht  verkennen;  der 
erste  Haupttheil  nimmt  allerdings  mit  seinen  278  Takten  gegen  3S 
des  zweiten  einen  übermäßig  großen  Raum  ein.  Die  erste  Durch- 
führung des  ersten  Haupttheils  ist  zweistimmig,  die  zweite  drei-,  die 
dritte  vierstimmig.  Der  zweite  Haupttheil  verlängert  das  Thema  zu 
Breves;  der  dritte  entspricht  völlig  der  bekannten  Form.  In  dieser 
Fantasie  liegt  vor  uns  ein  Stück  rfundamentum  organüandin  aus  dem 
17.  Jahrb.,  an  welchem  man  den  gemachten  Fortschritt  so  recht  er- 
kennen kann.  Die  Figuren  und  Gegenmelodien  sind  so  eingerichtet, 
daß  sie  möglichst  bis  zu  dem  jedesmaligen  Höhepunkt  des  Hexachords 
von  den  begleitenden  Stimmen  sequenzenartig  festgehalten  werden 
können;  beim  Umschlag  tritt  dann  entweder  eine  leichte  motivische 
Änderung  oder  vollständige  Gegenbewegung  ein.  Während  man  bei 
ähnlichen  Stücken  der  Meister  des  15.  und  16.  Jahrh.  ihre  Unsicher- 
heit dem  Tonmaterial  gegenüber  herausmerkt  an  der  Art,  wie  sie 
sich  mit  Hilfe  von  gewissen  Regeln  von  einem  Tone  zum  andern 
forthelfen,  so  erkennt  man  hier,  daß  inzwischen  bis  zum  17.  Jahrh. 
eine  Wandlung  zur  Beherrschung  des  Tonmaterials  eingetreten  ist, 
und  zwar  nicht  zum  geringen  Theile  von  den  Koloristen  vorbereitet. 
Statt  der  immer  wieder  ausweichenden  und  sich  fortziehenden  vokalen 
Gegenmelodien  stehen  hier  instrumentale,  in  die  knappe  Form  von 
charakteristischen  Figuren  gegossene.  Und  diese  werden  nicht  will- 
kürlich bunt  durcheinander  gewürfelt,  sondern  konsequent  festge- 
halten und  umgebildet.  Die  Figuren  und  Melodien,  welche  wir  bei 
den  Niederländern  verstreut  finden,  —  es  lassen  sich  hier  bis  ins 
Einzelne  hinein  Nachweise  liefern  —  hat  nun  Scheidt  in  einem 
klaren  Bilde  vorgezeichnet  und  somit  seinen  deutschen  Organisten 
die  fremde  Technik  übermittelt.  Diese  historische  Stellung  Scheidts 
muß  man   bei  der  Beurtheilung  dieser  Fantasie  im   Auge  behalten; 


1  Vgl.  oben  S.  167. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler. 


201 


mit  dem  Prädikat:    »eine  trotz  allen  Figuren > Aufwands   ermüdende 
Studie«^  ist  es  nicht  abgethan. 

In  dei  ersten  Fantasie  erweitert  also  Scheidt  Sweelincks  Fan- 
tasieform, indem  er  auf  dessen  Wegen  weiterschreitet;  in  den  beiden 
andern  schlägt  er  dagegen  Nebenpfade  ein.  Er  nimmt  sich  die  Um- 
risse der  Form,  verwischt  aber  innerhalb  derselben  die  feineren  Zeich- 
nungen. Die  Grenzen,  welche  bei  Sweelinck  wegen  des  überreichen 
Inhalts  die  Tendenz  haben,  sich  nach  außen  zu  erweitern,  rückt 
Scheidt  mehr  aneinander;  er  nähert  sich  somit  wieder,  wenn  man 
Yon  dem  immer  noch  großen  Umfang  absieht,  der  einfachen  drei- 
theiligen  Fuge.  Ganz  strikte  wird  dagegen  die  Sweelinck'sche  Form 
durchgeführt  iu  den  beiden  »Fugen«  von  Scheidt.  Die  dorisch-trans- 
ponierte  nFuga  ä  4  Voc.   Contrariaik  (IL  1)  hat  zum  Thema: 


m 


e 


3?= 


s>- 


M 


X 


-^' 


X 


die  mixolydische  TuFuga  ä  4  Voca  (II.  3) : 


Eine  kleine  Änderung  in  der  Haltung  des  dritten  Haupttheils  der 
eisten  Fuge  bewirkt  zwar  auch  eine  andere  Gruppierung  im  zweiten ; 
dies  geschieht  aber  nur  zum  Yortheil  für  die  Form.  Aus  dem  dritten 
Haupttheil  entfernt  nämlich  Scheidt  die  Engfuhrung,  statt  dessen 
läBt  er  noch  einmal  das  vollständige  Thema  in  der  Oberstimme  in 
seinen  ursprünglichen  Werthen  erscheinen  und  läßt  es  durch  breite 
Harmonieen  von  den  übrigen  Stimmen  begleitet  werden  —  den  An- 
satz hierzu  fanden  wir  bereits  bei  Sweelinck.  Indem  der  Schluß 
noch  einmal  ganz  sichtbar  zum  Anfang  zurückgreift,  erhalt  die  Form 
eine  schöne  Abrundung.  Die  Engführung  kommt  dafür  in  den  zweiten 
Haupttheil  und  erscheint  dort  mitten  in  der  Verlängerung,  über- 
haupt tritt  die  Gruppierung  der  drei  Haupttheile  bei  Scheidt  viel 
deutlicher  auf  als  bei  Sweelinck.  Auch  in  der  Einzelbehandlung 
zeigt  sich  die  fortgeschrittene  Zeit,  in  welcher  der  Schüler  lebt.  Die 
Kontrapunkte  haben  bei  ihm  ein  schärferes  rhythmisches  Gepräge, 
sie  stützen  und  heben  so  den  Eindruck  des  Themas  und  ordnen  sich 
ihm  unter.  Bei  Sweelinck  ist  dies  noch  nicht  in  dem  Maße  der 
Fall;  die  Gegenmelodieen  sind  oft  viel  zu  gleichartig  in  ihrem  Aus- 
sehen und  verdrängen  das  Thema  aus  der  Machtstellung,  welche  ihm 


1  lütter  a.  a.  O.  I  S.  191. 

2  Vgl.  oben  S.  162. 


202  M*^  Seiffert, 


gebührt.  Wo  Verkettung  oder  Umbildung  der  Kontrapunkte  ein- 
tritt, da  läßt  Scheidt  jedes  einzelne  Gebilde  eist  zur  vollen  Wirkung 
kommen,  fuhrt  es  durch  alle  Stimmen  hindurch,  während  Sweelinck 
eine  gewisse  Hast  zeigt,  zu  etwas  Neuem  zu  gelangen. 

Scheidts  größere  Entschiedenheit  sowohl  in  der  Behandlung  der 
Form  als  auch  in  der  Wahl  und  Durchführung  seiner  musikalischen 
Ausdrucksmittel  zeigt  sich  auch  bei  der  Echoform,  die  er  von  der 
Fantasie  lostrennt.  Das  erste  von  den  beiden  äolischen  Echos  (II.  2} 
wird  durch  einen  fugierten  Satz  mit  dem  Thema: 


eingeleitet,  geht  aber  nach  einmaliger  Durchführung  desselben  zur 
Echobehandlung  »ad  mantcale  duplex  forte  8f  lenev  über.  Mehrere 
Akkordfolgen  oder  Tonverbindungen  erklingen  zuerst  auf  einem  stär- 
keren Manual;  das  ganze  oder  nur  das  letzte  Stück  wird  unmittel- 
bar darauf  in  derselben  Tonhöhe,  nur  auf  einem  schwächeren  Manual 
wiederholt.  Das  zweite  Echostück  »sinisira  manu  semper  in  eodem 
manuali  permanente  j  dextra  vero  Cantus  Varianten  beginnt  ohne  Ein- 
leitung. Bei  beiden  Stücken  ist  also  Wechselchörigkeit  ausge- 
schlossen, welche  Sweelinck  noch  mit  dem  Echo  verbindet. 

Von  den  beiden  Toccaten  wird  die  eine  bei  den  Choralbearbei- 
tungen besprochen  werden.  Die  andere,^  in  dorisch-transponierter 
Tonart,  ist  nur  von  geringem  Umfang,  aber  sie  bringt  die  Form  in 
voller  Abrundung  genügend  zum  Ausdruck.  Den  Anfang  und  Be- 
schluß bilden  breite  und  volle  Harmonieen,  welche  einen  lebhafter 
gehaltenen  Mittelsatz  umgeben.  Durch  das  Ganze  zieht  sich  als 
leitender  Faden  die  Melodie: 


i 


lEE^E^^E^^^ 


-w — 

Die  10  Liedvariationen  sind  über  Lied-  oder  Tanzmelodieen 
komponiert,  deren  Beliebtheit  sich  zum  Theil  noch  nachweisen  läßt. 
Über  die  nPavana  Hispania^d^  y^Fortuna  Afiglicav  (IL  8)^  und  die 
nCantio  Belgicaa  (I.  7)  ^  ist  in  diesem  Sinne  bereits  gesprochen  wor- 
den. Die  y>Cantio  Gallica:  Est  ce  Mars^  (I.  11)  war  in  den  Nieder- 
landen bekannt  zu  dem  Text:    ulsser   ijemant  uijt    Oost- Indien  ge- 

1  Vgl  oben  S.  199. 

^  Mscr.  des  grauen  Klosters ;  Tgl.  oben  S.  155.  Anm.  1.    S.  die  Notenbeilagen. 

3  Vgl.  oben  S.  173. 

*  Vgl.  oben  S.  173. 

ß  Vgl.  oben  S.  155.  Anm.  1. 


J.  P.  Sweelinok  und  seine  direkten  deutschen  Schüler. 


203 


hörnern,  ^  In  Deutschland  sang  man  zu  der  Melodie  ein  6strophiges 
lied  mit  dem  Anfang:  »Ehrlich,  freundlich  und  schön  dabei«. ^  Die 
drei  Fassungen  der  Melodie  weichen  in  einzelnen  Punkten  von  einan- 
der ab;  diejenige  bei  Scheidt  lautet: 


\^  ^rri^^^^ 


<p- 


3?: 


azipii^ 


Die  Melodie  der  nAllemande.  Also  stehU,  also  gehts^  (IL  11)  gehört 
zu  einem  12strophigen  Gedicht,  dessen  erste  Strophe  mit  sList  und 
Neid«,  dessen  zweite  mit  »Also  gehts«  anfängt.  Die  Melodie  wird 
bald  mit  dem  Textanfang  der  ersten,  bald  mit  dem  der  zweiten  Strophe 
zitiert.  Sie  findet  sich  noch  in  einer  Auricher^  und  in  einer  Dresdener 
Handschrift.^     Die  Melodie  lautet  bei  Scheidt: 


i 


i 


j=t 


-^h- 


t 


s 


m 


I 


iju-r  r  rTT^^^S 


t=± 


-«- 


-^^m 


-^- 


und  in  der  Dresdener  Handschrift: 


i 


ä 


E 


X=3t 


-}»■ 


^^^ 


-Ä>- 


gj^^ß^J^y^ 


Die  übrigen  Melodieen  nachzuweisen,  war  dem  Verfasser,  zur  Zeit 
nicht  möglich. 

In  der  Variationstechnik  Scheidts  macht  sich  nach  verschiedenen 
Seiten  hin  ein  Fortschritt  gegen  Sweelinck  bemerkbar.  Die  Anord- 
nung der  Stücke  folgt  dem  Sweelinck'schen  Prinzip  der  Steigerung, 

^  Oud  Nederlandsche  Liederen  uti  den  »NederlandUchen  Gedmckclanchi  van 
Adriamu  Valerius  (1626).  Publikation  der  MaaUchappij,  hrsg.  von  Dr.  A.  D.  Loman, 
1871.  nr.  10. 

2  Mscr.  saec.  XVII.,  kgl.  Staatsarchiv  Aurich,  nr.  6.  (vgl.  M.  f.  M.  VI.  S.  Iff. 
Friedlander).  Aurich  als  eifrige  Pflegestätte  der  Kunst  preist  Phil.  v.  Zesen  in 
einem  «Lob-  und  fireuden-lied  auf  die  mit  der  taht  und  nahmen  goldstrahlende 
Ost  FriesUche  Hof- Stadt  Aurick«  (s.  dessen  »dichterisches  Bösen-  und  Liljenthal,« 
Hamburg  1670,  S.  278). 

3  a.  a.  O.  nr.  17. 

*  Mscr.  Dresd.  M.  297,  S.  57,  in  französ.  Lautentab. 


204  ^^^  Seifert, 


die  einzelnen  Fonuengebilde  gestalten  sich  jedoch  chaiakteristischer. 
I>ie  Figuren,  mit  welchen  Scheidt  am  Anfang  die  Melodiefortschritte 
umspielt,  hält  er  fest  und  bestimmt  dadurch  auch  die  Führung  der 
begleitenden  Stimmen,  welche  jene  Figuren  in  gerader  oder  umge- 
kehrter Bewegung  fortwährend  imitieren.  Von  den  beiden  Haupt- 
grundsätzen, welche  bei  der  Variation  eines  weltlichen  Liedes  zu 
befolgen  sind,  steht  bei  Scheidt  derjenige  der  unveränderten  Grund- 
harmonieen  voran.  In  den  ersten  Variationsabschnitten  lehnt  er  sich 
noch  an  die  Hauptmelodieschritte  an:  je  weiter  er  sich  aber  vom 
Anfang  entfernt,  desto  freier  macht  er  sich  von  ihnen,  betont  die 
Harmoniefolgen  und  läßt  eine  reiche,  ungezwungene  Figuration  sich 
darüber  ergehen.  Zum  Schlüsse  aber  kehrt  er  wieder  zum  Anfange 
zurück.  Die  ursprüngliche  Melodie  erscheint  ziemlich  rein,  nur  in 
der  proportio  tripla;  der  Charakter  einer  solchen  Schlußvariation 
nähert  sich  deutlich  dem  der  Gigue.  Die  Quelle,  aus  welcher  Scheidt 
dies  neue  Formenprinzip  schöpfte,  liegt  nicht  allzu  fem.  An  die 
deutschen  Tanzlieder  im  C-Takt  schließt  sich  gewöhnlich  ein  »Nach- 
tantztf  in  der  proportio  tripla  an,  welcher  seinen  melodischen  Grund- 
stoff dem  ersten  Theil  entnimmt.  Daß  durch  die  Verbindung  mit 
dem  deutschen  Tanzliede  die  Variationsreihen  ein  geschlosseneres  Ge- 
füge erhalten  als  bei  Sweelinck,  läßt  sich  nicht  verkennen.  Sweelinck 
paßt  sich  ferner  in  seinen  Variationen  genau  der  Spielweise  des  Vir- 
ginals  an;  seine  Polyphonie  ist  nur  eine  scheinbare,  eine  umspielende. 
Die  Stimmenanzahl  beschränkt  oder  erweitert  sich  innerhalb  eines 
AbscHnittes  willkürlich,  je  nachdem  es  die  Ausfüllung  der  Harmonie 
fordert.  Man  kann  nicht  sagen,  daß  eine  bestimmte  Stimme  pausiere 
und  nachher  wieder  einsetze.  Es  tritt  häufig  einmal  eine  Stimme 
ein,  welche  den  melodischen  Gesang  einer  andern  übernimmt  und 
fortsetzt;  das  Stimmengewebe  ist  eben  ein  ganz  lockeres.  Scheidt 
dagegen  hält  an  der  einmal  gewählten  Stimmenanzahl  fest  und  ver- 
stärkt so  den  straffen  Zug,  den  er  auf  andere  Weise  schon  in  seine 
Variationen  hineingebracht  hat.  Aus  der  strengeren  Behandlungs- 
weise  bei  Scheidt  resultieren  nun  auch  strengere  Einzelformen,  in 
welchen  die  Anwendung  des  doppelten  und  dreifachen  Kontrapunktes, 
sowie  beider  Arten  der  Wechselch örigkeit  einen  Austausch  der  Stim- 
men zu  Stande  bringt. 

Die  Choralvariation  war  bei  Sweelinck  dadurch  von  der  Lied- 
variation prinzipiell  unterschieden ,  daß  sie  die  Melodie ,  nicht  aber 
auch  die  Harmonie  unverändert  beibehielt.  Besondere  Formen  fanden 
sich  bei  ihm  nicht  ausgeprägt;  die  Figuration  wurde  nur  an  einzel- 
nen Stellen  durch  Ansätze  von  motettenartigen  Einleitungen  unter- 
brochen.    Auf  dieses  von  Sweelinck  also  nur  spärlich  angebaute  Feld 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  205 


leitet  nun  Scheidt  den  ganzen  breiten  Strom  weltlicher  Variations- 
technik hinüber  und  aus  dem  so  befruchteten  Boden  sprieBt  nun 
äppig  eine  reiche  Fülle  zum  Theil  neuer  Formen  empor.  Daß  Scheidt 
es  erst  war,  welcher  die  bisher  getrennten  Gebiete  vereinigte,  muß 
man  bei  der  Beurtheilung  seiner  Choralvariationen  wohl  beachten. 
Aus  der  eben  erst  vollzogenen  innigen  Verschmelzung  erklärt  sich 
manches,  was  uns,  wenn  wir  von  Werken  späterer  Meister  auf  Scheidt 
zurückblicken,  als  ein  Mangel  desselben  erscheinen  könnte.  Die  ein- 
zelnen Gebilde  sind  ihrer  Form  nach  noch  nicht  so  scharf  ausge- 
prägt, wie  es  bei  späteren  Meistern  der  Fall  ist.  Aber  als  Glieder 
einer  Kette  von  Variationen  sind  sie  genügend  von  einander  unter- 
schieden durch  die  Wahl  des  jedesmaligen  Ausdrucksmittels.  Als 
eine  spätere  Zeit  das  fesselnde  Band  der  Variation  gelöst  hatte,  da 
konnten  die  einzelnen  Glieder  ihren  vorher  etwas  eingeengten  Spiel- 
raum je  nach  Bedürfnis  erweitern  und  ihre  Form  bis  in  die  letzten 
Konsequenzen  ausprägen.  Dafür  hat  aber  Scheidt  etwas  anderes  ge- 
leistet, was  für  die  spätere  Zeit  von  großer  Bedeutung  war.  Die 
Choralbearbeitungen  halten  die  Melodie  unverändert  fest  und  suchen 
auch  eine  möglichst  große  Abwechselung  in  den  Zusammenklängen 
zu  erreichen.  Aber  der  ganzen  kontrapunktischen  Kunst  haftet  ein 
Wesen  an,  das  von  jetzt  an  die  norddeutsche  Schule  nicht  verläßt, 
sich  vielmehr  immer  noch  steigert:  die  kontrapunktierenden  Motive 
sind  ein  Ausfluß  einer  logisch  verlaufenden  Folge  von  Harmonieen; 
die  Harmonieen  sind  nicht  mehr  das  zufällige  Produkt  von  zusam- 
mentreffenden,  in  sich  selbständigen  Melodieen.  Damit  hat  Scheidt 
die  Koloristenperiode  zu  dem  Ziele  gefuhrt,  welchem  sie  nachgestrebt 
hatte,  und  zur  Entwickelung  der  norddeutschen  Orgelkunst  auf  dieser 
neuen  Grundlage  den  ersten  Schritt  gethan. 

Daß  bei  Scheidt  eine  Änderung  in  der  Auffiassung  der  Form  ein- 
getreten ist,  erkennen  wir  auch  an  dem  Wechsel  der  Bezeichnung. 
Das  weltliche  Lied  in  seinen  vei-schiedenen  Gattungen  war  ursprüng- 
lich dazu  bestimmt,  je  seinem  Zweck  entsprechend  gesungen,  gefiedelt 
oder  gepfiffen  zu  werden.  Auf  Tasten-  oder  Zupfinstrumente  über- 
tragene Lieder  und  Tänze  sind  also  als  bereits  abgeleitete  Produkte 
anzusehen,  und  sie  sonderten  sich  von  ihren  ursprünglichen  Vorbil- 
dern dadurch  noch  mehr  ab,  daß  sie  eine  innige  Verbindung  mit  der 
Variationsform  eingingen.  So  erklärt  es  sich  zur  Genüge,  daß  die 
Engländer  und  Niederländer  schon  die  mehrstimmige  Behandlung 
einer  Melodie  am  Anfange  einer  Reihe  als  erste  Variation  bezeich- 
neten, nicht  als  Thema.  Losgelöst  von  d«m  Texte  konnte  die  Lied- 
variation rein  musikalischen  Gesetzen  nachgehen  und  so  zur  Ent- 
wickelung bestimmter  charakteristischer  Listrumentalformen  gelangen. 


206  ^"  Seiffert, 


Denselben  Ausgangspunkt  nimmt  die  Ghoialyariation ;  sie  löst  die 
Melodie  ebenfalls  vom  Text  ab  und  gestaltet  mit  ihr,  wenn  auch 
nach  anderen  Prinzipien,  gewisse  Formen.  Wie  es  nun  öfter  in  der 
Musikgeschichte  geschehen  ist,  daß  sich  auf  einem  gemeinsamen 
Untergrunde  zwei  Formengebilde  neben  einander  aufbauen,  welche 
sich,  nachdem  sie  einen  gewissen  Höhepunkt  der  Entwickelung  er- 
reicht, gegenseitig  ausgleichen,  um  dann  gestärkt  mit  desto  größerer 
Entschiedenheit  nach  zwei  entgegengesetzten  Richtungen  weiter  zu 
streben,  so  ist  es  auch  hier  der  Fall.  Lied-  und  Choralvariation  in 
ihrer  Sonderstellung  neben  einander  sehen  wii  bei  Sweelinck ;  Scheidt 
vereinigt  das  Wesen  beider  Formen  und  steigert  so  ihre  Entwickelungs- 
fähigkeit.  Die  Liedvariation  acceptiert  sofort  ein  für  die  Instrumen- 
talmusik sehr  geeignetes  Formenprinzip  und  entläßt  dafür  aus  sich 
heraus  die  fester  gefugten  Gebilde,  welche  sich  nunmehr  die  Choral- 
variation aneignet.  Diese  dagegen  wird  durch  andere  Umstände 
veranlaßt,  den  großen  Schatz  von  neuen  Ausdrucksmitteln  nicht  in 
rein  instrumentalem  Sinne  auszubeuten,  wie  es  die  Lied  Variation 
thut,  sondern  ihn  anzuwenden,  um  zunächst  den  harmonischen  Reich- 
thum  der  Melodie  und  sodann  die  kirchliche  Bedeutung  des  Chorals 
überhaupt  zum  Ausdruck  und  zur  Entfaltung  zu  bringen.  Infolge- 
dessen macht  bei  der  Choralbearbeitung  die  »Variation  dem  wersus^i 
Platz.  Und  wenn  sich  Scheidt  in  der  Anzahl  der  wersustt  derjenigen 
der  Textstrophen  nahe  hält,  so  ist  damit  deutlich  die  Annäher iing 
zum  Ursprung  ausgesprochen. 

Um  nun  übersehen  zu  können,  was  Scheidt  auf  dem  Gebiet  der 
Choralvariation  geleistet  hat,  werden  wir  nicht  die  Yariationsreihen 
als  Ganzes  ins  Auge  fassen,  —  denn  die  aus  dieser  Anordnung  sich 
ergebenden  Konsequenzen  haben  wir  bereits  betrachtet  — ,  sondern 
werden  uns  wiederum  die  gleichartigen  Gebilde  in  Gruppen  ordnen 
und  zusammenstellen.  Und  zwar  wird  es  zu  diesem  Zweck  genügen, 
die  vierstimmigen  Stücke  allein  vorzunehmen.  In  ihnen  sind  sämt- 
liche Formen  vertreten:  dazu  noch  in  so  klarer  Fassung,  wie  wir  sie 
bei  den  zwei-  und  dreistimmigen  Stücken  nicht  finden.  Hier  mußte 
manchmal  eine  Verschmelzung  mehrerer  Formenprinzipien  die  durch 
die  geringere  Stimmenanzahl  beschränkten  Ausdrucksmittel  vermehren 
helfen;  eine  strenge  Gruppierung  ließe  sich  also  hier  nicht  immer 
durchfuhren. 

1.  Akkordische  Satzweise  ist  angewendet  im  letzten  Vers  des 
nKyrien  und  der  9  »Magnificatt  (TU:  1.  12;  2.  6;  3.  6;  4.  6;  5.  6; 
6«  6;  7.  6;  8.  6;  9.  6;  10.  6).  Hierher  sind  zu  rechnen  die  beiden 
»modi,  pleno  Organa  ludendi,^  obwohl  sie  im  vokalen  Stil  geschrieben 
sind.     (III|:  19;  20.) 


J.  P.  8weelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  207 


2.  Die  akkoidische  Satzweise  wiid  durch  kolorierende  Figuren 
belebt,  sei  es,  dafi  die  Melodie  allein  koloriert  erscheint  (1:  3.  9), 
oder  daß  die  begleitenden  Stimmen  sich  ebenfalls  mehr  oder  weniger 
an  der  Koloratur  betheiligen  (I:  5.  12;  II:  4.  2;  9.  8),  oder  daß 
endlich  die  obenliegende  Melodie  mit  den  beiden  Mittelstimmen  in 
ruhigen  Harmonieen   dahingeht,    während    der  Baß    sich   in  allerlei 

:en  austobt  (I:  5.  11;  II;  9.   7). 

3.  Die  Melodie  beginnt  in  einer  Stimme  und  geht  gleichmäßig 
weiter.  Die  nacheinander  einsetzenden  Begleitungsstimmen  imitieren 
sich  gegenseitig  kleine  Motive  nach,  welche  hier  und  da  sich  die 
ersten  Noten  der  einzelnen  Choralzeilen  verkürzen  und  sich  in  der 
bekannten  Sweelinck'schen  Manier  um-  oder  weiterbilden  (I:  5.  3; 
12.  6;  11:  7.  3;  7.  4;  III:  4.  4;  7,  5;  10.  2;  11.  5;  13.  5;  14.  2; 
14.  4). 

4.  Bevor  der  Choral  beginnt,  setzen  die  übrigen  Stimmen  mo- 
tettenartig mit  einer  frei  erfundenen  Melodie  ein,  die  sie  bis  zur  mo- 
tivischen Weiterbildung  festhalten  (I:  3.  2;  III:  7.  4;  11.  2;   13.  4). 

5.  Bevor  der  Choral  beginnt,  setzen  die  übrigen  Stimmen  mo- 
tettenartig mit  einer  motivisch  aus  der  ersten  Zeile  gebildeten  Me- 
lodie ein;  sie  kontrapunktieren  aber  frei  weiter,  sobald  der  Choral 
erklingt.  Nur  hin  und  wieder  werden  auch  die  anderen  Zeilen  so 
eingeleitet.  Die  Zwischenspiele  entwickeln  sich  sonst  motivisch  aus 
den  Kontrapunkten  selbst.  Würde  man  die  Einleitung  und  die 
Zwischenspiele  streichen,  so  erhielte  man  einen  einfachen  akkordi- 
schen Satz  mit  bewegteren  Mittelstimmen.  Die  kontrapunktische 
Kunst  ist  also  noch  nicht  tief  in  den  Grund  des  harmonischen  Bo- 
dens eingedrungen;  sie  berührt  nur  eben  die  Oberfläche.  (I:  1.  1; 
3.  1;  5.  1;  12.  1;  II:  5.  1;  7.  1;  7.  5;  9.  1;  HI:  4.  2;  7.  2;  11.  3; 
U.   4;   12.  3;  13.  3;   15.  2;   16.  4;   18.  3). 

6.  Die  erste  Choralzeile  wird  motettenartig  eingeleitet,  aber  nicht 
mit  Hilfe  der  Zeile  allein,  sondern  unter  Hinzunahme  einer  freien 
Gegenmelodie,  die  so  lange  festgehalten  wird,  bis  motivische  Weiter- 
bildung eintritt  (I:  5.  2;  H:  5.  2;  7.  2;  9.  2;  III:  1.  5;  1.  10;  2.  2; 
2.  3;  2.  4;  2.  5;  3.  2;  3.  5;  4.  3;  4.  5»;  6.  2 ;  6.  3;  6.  5;  7.  3; 
8.  2;  8.  3;  8.  4;  15.  3;  18.  4). 

7«  Der  Choral  wird  von  zwei  Stimmen  nacheinander  vorgetragen, 
erst  von  der  höheren,  dann  von  der  tieferen;  so  concertieren  Tenor 
und  Baß  (II:  5.  5;  7.  9;  9.  6;  HI:  5.  5;  8.  5;  9.  5;  10.  5;  14.  5; 
18.  6),  Alt  und  Tenor  (IH:  9.  4).  Für  den  Anfang  sind  die  bisher 
beschriebenen  Arten  der  Einleitung  (s.  nr.  3,  4,  5  und  6]  maß- 
gebend. 

8.  Die  kanonische  Behandlung  ist  doppelter  Art.     Die  Melodie 


208  ^^^  Seifert, 


liegt  im  Baß  und  beginnt,  wenn  die  übrigen  Stimmen  da  sind.  Can- 
tus  und  Tenor  vollführen  einen  Kanon  in  der  Oktave,  der  Alt  fiillt 
die  Harmonie  aus  (III:  9.  5;  13.  7;  16.  7).  Andererseits  nimmt 
Scheidt  nur  die  erste  Choralzeile  und  spinnt  sie  melodisch  frei  weiter. 
Dieses  Produkt  wird  von  allen  vier  Stimmen  im  » Canon  contrarius  in 
vorgetragen  (I:  Canon  nr.   1,  2,  3,   10). 

9.  Die  Choralmelodie  wird  nicht  von   einer  Stimme   allein  vor- 
getragen, von  wo  aus  sie  das  ganze  Gebilde  beherrscht,  sondern  sie 
durchzieht  alle  Stimmen ;  ihre  einzelnen  Abschnitte  werden  motetten- 
artig verarbeitet.     Der  Komponist  bindet  sich   hier   auch   nicht   an 
die  eigentliche  Geltung  der  Melodietöne,  sondern  verkürzt  und  ändert 
wie  es  die  gewählte  Form  erheischt  (III:   1.  1,  2,  3,  4,  6,  8,  9,  11 
2.    1;  3.   1;  4.   1;   5.   1;  6.    l;  7.    1;    8.    1;  9.   1;   10.    1;    12.   1;   13.    1 
14.   1;   15.    1;   16.   1;   17;   18.    1). 

10.  Die  Choralfantasie  ist  mit  der  motettenhaften  Behandlung 
nicht  identisch  (I.  13),  sondern  vereinigt  mit  dieser  noch  zwei  andre 
Arten.  Zunächst  wird  jede  Zeile  durch  Verkürzung  der  Werthe  zu 
einer  motettenartigen  Verarbeitung  tauglich  gemacht;  daran  schließt 
sich  eine  wechselchörige  Durchführung  der  nunmehr  in  ihren  ur- 
sprünglichen Werthen  wieder  auftretenden  Zeile:  den  Beschluß 
macht  dann  ein  mehr  akkordischer  Satz,  in  dessen  Oberstimme  die 
Melodie  meist  liegt.  Ahnlich  gebaut  von  den  zweistimmigen  Stücken 
ist  II:  5.  3. 

11.  Die  Choraltoccata  über  »In  te.  Domtne,  speraviv  (II.  12)^  be- 
nutzt in  geschickter  Weise  die  einzelnen  Schritte  und  Wendungen 
der  Melodie,  um  durch  Verkürzung  und  Umbildung  derselben  für 
den  Aufbau  geeignete  Motive  herzustellen.  Die  Form  ist  die  von 
Sweelinck  her  bekannte.  Sie  beginnt  mit  getragenen  Harmonien, 
die  allmählich  in  immer  leichtere  Figuren  übergehen.  Zweimal  macht 
Scheidt  einen  fugierten  Zwischensatz. 

Als  eine  Folge  von  Scheidts  reformierender  Gestaltung  der  Lied- 
und  Choralvariation  ist  es  anzusehen,  daß  wir  bei  ihm  zuerst  nach 
der  langen  Koloristenperiode  Klavier-  und  Orgelmusik  wieder  zu 
unterscheiden  haben.  Direkt  betont  er  diesen  Unterschied  zwar 
nicht;  aber  man  liest  ihn  aus  seinen  Worten  leicht  heraus.  Den 
ganzen  dritten  Theil  der  Tab,  Nov.^  sowie  die  Choralbearbeitungen 
der  ersten  beiden  Theile  verweist  er  mit  nackten  Worten  auf  die  Orgel, 
wie  wir  sehen  werden.  Über  die  Toccaten,  Fantasieen,  Fugen  und 
Echos  äußert  er  sich  nicht.     Wir  werden   wohl  nicht  weit  das  Ziel 


^  Die  Melodie  gebraucht  Scheidt  auch  für  I:  Canon  nr.  10,  welcher  sich  eben- 
falls unter  seinem  Bilde  (Titelblatt  der  Tab,  Nov.)  befindet. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler. 


209 


verfehlen^  wenn  wir  annehmen,  daß  er  ihnen  den  schwankenden 
Charakter;  welchen  sie  bei  Sweelinck  hatten ,  nicht  nahm.  Die  welt- 
lichen Liedvariationen  und  Tänze  erfordern  aber  zu  ihrer  Ausführung 
nur  das  ELlavier.  Scheidt  hatte  sich  eine  Spielmanier  angeeignet, 
über  welche  er  am  Schlüsse  des  ersten  Theils  der  Tab.  Nov.  S. 
262  sagt: 


NB. 


Wo  die  Noten,  wie  allhier;  zusammen  gezogen  seind,  ist  solches 
eine  besondere  art  ,  gleich  wie  die  Yiolisten  [mit  dem  Bogen 
schleiffen  zu  machen  pflegen.  Wie  dann  solche  Manier  bey  für- 
nehmen Yiolisten  Deutscher  Nation,  nicht  vngebräuchlich,  gibt  auch 
auf  gelindschlägigen  Orgeln,  Regalen,  Clavicymbeln  vnd  Instru- 
menten, einen  recht  lieblichen  vnd  anmuthigen  concentunij  derent- 
wegen ioh  dann  solche  Monier  mir  selbsten  gelieben  lassen,  vnd 
angewehnet.  a  DaB  er  die  Orgel  hier  mit  erwähnt,  hat  seinen  Grund ; 
er  wendet  die  r^imitatio  Vioüsticaa  auch  in  Choral  Variationen  an. 
Eine  andere  Spielmanier ^  findet  sich  in  der  5.  Variation  über  «Ach 
du  feiner  Reuter  a  (I.  10).  Das  Stück  ist  ein  r^Bicimum  imitatione 
Tremuia  organi  duobus  digitis  in  una  tantum  clave  manu  tum  dextra, 
tum  simstra.^  Von  einer  »tmitatton^  kann  doch  nur  die  Rede  sein, 
wenn  die  Orgel  nicht  dasjenige  Instrument  ist,  für  welches  das  Stück 
bestimmt  ist.  An  dieser  Stelle  macht  Scheidt  übrigens  auch  Finger- 
flatzangaben : 

3234   3232   3234    32  3  2 


S 


4— t- 


■+— f 


m 


2  123   2121   2121    2121®* 


^^  '^h  jTrrtTrrTffrr^ 


Wie  nun  die  Choralbearbeitungen  auf  der  Orgel  ausgeführt  werden 
sollen,  darüber  belehrt  uns  Scheidt  ausführlich  am  Schlüsse  des  dritten 
Theils  der  Tab.  Nov.  in  einem'  Nachwort: 

»An  die  Organisten. 
Diese  Magnificat  vnd  Hymnos,  wie  auch  in  meinem  1.  vnd  2.  theil 
etzUche  Psalmen  zu  finden,  kan  ein  jeder  Organist  welcher  ein  Orgel 
mit  zwei  Ciavier  vnd  Pedal  hat,  sie  sein  im  Discant  oder  Tenor  ab- 
sonderlich auff  dem  Rückposetif  mit  einer  scharfFen  Stimme  (den 
Choral  desto  deutlicher  zu  vernehmen)  spielen.  Ist  es  ein  Bicinium 
vnd  der  Choral  im   Discant,    so    spielet    man    den   Choral  mit  der 

'  Sie  findet  sich  berelta  bei  den  Virginalkomponisten  und  Sweelinck. 
1891.  14 


210 


Max  Seiffert, 


Rechten  Hand  auff  dem  Ober  Ciavier  oder  Werck,  vnd  mit  der 
Lincken  Handt  die  2.  Partes  auff  dem  Rückposetif.  Ist  der  Choral 
im  Discant  mit  4.  Parteyen,  so  spielet  man  den  Choral  auff  dem 
Rückposetif  mit  der  rechten  Handt,  den  Alt,  Tenor  auff  dem  Ober 
Clavir  oder  Werck  mit  der  Lincken  Handt,  vnnd  den  Baß  mit  dem 
Pedal.  Ist  der  Choral  im  Tenor,  so  spielet  man  den  Choral  auff  dem 
Rückposetif  mit  der  Lincken  Handt  vnd  die  andern  Partein  auff  dem 
Ober  Clavir  oder  Werck  mit  der  rechten  Handt,  den  l^aß  mit  dem  Pedal. 
Den  Alt  kan  man  auch  absonderlich  spielen  mit  4.  Partein  auff 
dem  Rückposetif,  aber  man  muß  den  Discant  auff  dem  Ober  Clavir 
nehmen  mit  der  Rechten  Handt,  den  Tenor  vnd  Baß  auff  dem  Pedal 
zugleich  2  stimmen,   aber   es  muß  sonderlich  darzu  Componirt  sein, 

das  der  Tenor  nicht  höher  als  c  den  man  das  d  auff  den  Pedalen 
seiden  findet  vnd  auch  nicht  weit  von  einander  setzet,  nur  ein  8. 
oder  5.  oder  3.  den  man  solches  sonsten  mit  den  Füssen  nicht  wol 
erspannen  kan. 

N.  B.  Aber  diese  Manier,  ist  die  schönste,  vnd  zum  aller  be- 
quemsten zu  thun,  den  Alt  auff  dem  Pedal  zu  spielen,  der  Handtgrieff 
vnd  Vortheil  aber,  ist  an  den  Registern  vnd  Stimwerck  in  der  Oi^el, 
das  man  dieselben  wol  zu  disponiren  weiß,  von  4.  vnd  8.  Fuß  Ton. 
S  Fuß  Ton  muß  stets  auff  dem  Posetif  sein.    Vnd  4.  Fuß  Ton  im  Pedal. 

Exempel  den  Choral  auf  dem  Pedal  zu  spielen. 
Diese  3.  Stimmen,  als  Cantus^  Tenor,  Bassus,  werden  auff  dem  Rück- 
posetif gespielet,  einer  Stimme  von  8.  Fuß  Ton  etc. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  211 


Stimmen  von  4.  Fuß  Thon  im  Pedal  schai-ff: 

4  Fuß  Octaf  Zimmel 

—  Gedackt  Zimmel 

—  Cornet  Baß  und  dergleichen  etc. 
Wenn  solche  4.  Füssige  Stimmen    gezogen    werden,    so    kompt    der 
Alt  recht  in  seinen  Thon. 


Exempel  [fc^' 


--ö»  -■ 


-<5» 5-2 ^^ 


25^ 


Etzliche  Register    oder    Stimwerck    zuziehen   wenn    man    einen 
Choral  auff  2  Clavir  spielen  wil,  solchen  deutlich  zuvernehmen. 

Im  Werck. 

Grob  Gedact.  8.  Fuß  Thon. 

Klein  Gedact.  4.  Fuß  Thon. 

Diese  beide  zusammen.  Oder  Principal  allein  von  8  Fuß  Thon,  vnd 

andre  Stimmen  mehr  nach  eines  jeden  gefallen. 

Jm  Rückposetif  scharffe  Stimme  den  Choral  deutlich  zuvernehmen. 
Quinta  dehn  oder  Gedact  8.  Fuß  Thon, 
Klein  Gedact  oder  Principal  4.  Fuß  Thon 
Mixtur  oder  Zimmel  oder  super  octaf , 
Diese  Stimmen  zusammen,  oder  andre  nach  eines  jeden  gefallen. 
Im  Pedal  den  Choral  deutlich  zuvernehmen. 
Vntersatz  16.  Fuß  Thon.  Posaunen  Baß.  8.  oder  16.  Fuß  Thon, 

Dulcian  Baß,   8.  oder  16.  Fuß, 
Schalmei, 
Trommete, 
Baur  Flöte, 
Cornet : 
vnd  andere,  welche  in  kleinen  vnd  grossen  Orgeln  genugsam  zu  finden 
Welches  ich  jedoch  nur  allein  denen   zugefallen  wil  gesetzet  haben, 
welche  solche  Manier  noch  nicht  kündig,   vnd  gleichwol  beliebung 
daran  haben  möchten,  andern  Fiirnemen  vnd  verstendigen  Organisten 
aber  solches  nach  ihrem  Humor  zu  dirigtren  heimgestellt  sein  lassen. » 
Die  Disposition   der  unter  Scheidts  Direktion  1624/25    erbauten 
Moritzorgel  in  Halle  ist  nun  folgende:^ 
»Im  Brustwerck: 

Principal  8  Fuß,  Gedackt  4  Fuß, 

Quintaden  16  Fuß,  Octave  2  Fuß, 

Octave  4  Fuß,  Mixtur  3  fach, 

Gedackt  8  Fuß,  Trompete  8  Fuß. 

Quinte  3  Fuß, 


*  Joh.  Christ.  V.  Dreyhaupt  a.  a.  O. 


/ 


14* 


212  ^lax  Seiffert, 


Im  Rück-Positiv: 

Principal  4  Fuß,  Octave  2  Fuß, 

Gedackt  8  Fuß,  Spitzflöte  1  Fuß, 

Quintaden  8  Fuß,  Mixtur  3  fach, 

Quinte  3  Fuß,  Krumhom  8  Fuß, 

Gedackt  4  Fuß,  Schallmey  4  Fuß. 

Gemshom  2  Fuß, 
Im  Pedal: 

Subbaß  16  Fuß,  Spitzflöte  1  Fuß, 

Principal  8  Fuß,  Posaune  16  Fuß, 

Oktave  4  Fuß,  Cornet  2  Fuß. 

Nebenzüge :  Stern,  Tremulant,  Sperr- Ventil,  Calcantenglocke.   Es  hat 
aber  dieses  Werck  noch  kurtze  Octaven. « 

Bei  den  Angaben  über  die  Ausführung  der  Choralbearbeitungen 
sind  die  dreistimmigen  Stücke  nicht  berücksichtigt  worden.  Betrachtet 
man  sich  nun  diese  näher,  so  findet  man,  daß  Scheidt  darüber  auch 
nicht  gut  hätte  Vorschriften  machen  können,  ohne  sich  auf  weit- 
schweifige Erörterungen  einzulassen.  Er  überließ  es  dem  Geschmack 
und  Verstand  eines  Jeden,  zu  beurtheilen,  wo  das  Pedal  am  Platze 
ist  und  wo  nicht.  Liegt  etwa  die  Melodie  im  Baß  und  die  beiden 
oberen  Stimmen  figurieren  dagegen,  so  kann  hier  das  Pedal  die 
Melodie  übernehmen;  ebenso  kann  es  sein,  wenn  die  Mittelstimme 
die  Melodie  führt  und  nicht  die  Grenzen  des  Pedals  nach  oben 
überschreitet.  Das  Pedal  würde  man  aber  nicht  anwenden,  wenn 
die  Melodie  im  Diskant  liegt  und  die  beiden  luiteren  Stimmen  in 
parallelen  Figuren  sich  ergehen ;  hier  wäre  das  Spielen  mit  getrennten 
Manualen  angebracht.  Die  Ausführung  der  vierstimmigen  Choral- 
bearbeitungen kann  sich  femer  auch  nicht  unter  allen  Umständen 
nach  Scheidts  Angaben  gerichtet  haben;  wir  haben  hier  nr.  2  der 
Choralbearbeitungsformen  im  Auge.  Die  erste  Art  derselben  kann 
wohl  mit  getrennten  Manualen  und  Pedal  vorgetragen  werden,  nicht 
aber  die  beiden  andern.  In  der  zweiten  Art  liegen  die  beiden  Mittel- 
stimmen manchmal  so  weit  auseinander,  daß  sie  von  einer  Hand 
unmöglich  gespielt  werden  können;  hier  kann  nur  ein  Manual  und 
höchstens  noch  das  Pedal  zur  Ausführung  herangezogen  werden. 
Aber  auch  das  Pedal  muß  man  auslassen  bei  der  dritten  Art:  die 
Sprünge  und  Figuren,  die  hier  der  Baß  auszufahren  hat,  sind  nicht 
pedalmäßige. 

Ein  Vergleich  der  Registriningsangaben  mit  der  Orgeldisposition 
zeigt,  daß  Scheidts  Bestreben  mehr  darauf  gerichtet  war,  die  Töne 
der  Choralmelodie  aus  dem  begleitenden  Stimmengewebe  möglichst 
scharf  hervorstechen  zu  lassen,   als  darauf,    die  Klangfülle  charakte- 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  SchOler.  213 


ristisch  abzutönen  und  die  Farben  allmählich*  in  andere  überzuleiten 
Wo  er  einen  Wechsel  eintreten  läßt,  da  geschieht  er  plötzlich  und 
unvermittelt  zu  einem  bestimmten  musikalischen  Effekt,  beim  Echo. 
Sonst  finden  sich  nicht  die  geringsten  Anzeichen  dafür,  daß  Scheidt 
inmitten  eines  Stückes  andere  Register  eingeschaltet,  das  Manual 
gewechselt  und  dadurch,  wenn  auch  noch  so  vermittelt,  den  FluB 
der  Stimmen  unterbrochen  hatte. 

Das  Tongebiet,    auf   welchem  sich  die  Klavierstücke   bewegen, 

reicht  von  C  bis  H.  Die  chromatischen  Töne  innerhalb  desselben  sind: 

Fis,    fis,   fis,   fis. 

Gis,  gis,  gis.  — 

B,      b,     b.     — 

—      eis,  eis,  eis. 

*"""      eSj    es,    es. 
Die  Anwendung  der  Chromatik  ist  dieselbe  wie  bei  Sweelinck. '    Das 
Orgelmanual    hat    denselben    Umfang   und    dieselben    chromatischen 

Töne,  nur  kommt  hier  noch  gis  hinzu.    Daß  die  tiefen  Oktaven  kurze 
waren,  bestätigt  uns  die  Disposition.     Das  Pedal   reicht  von  D   bis 

c^  und  hat  alle  Tasten  mit  Ausnahme  von  Es. 

Was  die  Tonalität  anbelangt,  so  gebraucht  Scheidt  —  wir  sehen 
hierbei  von  dem  n  Kyrie  a  und  den  9  i^MagnificaH  ab^  — 

dorisch :  7  mal, 

dorisch  transponiert:  9  mal, 

phrygisch:  3  mal. 

äolisch :  5  mal, 

mixolydisch :  7  mal, 

ionisch:  5  mal. 
Die  Chromatik  spielt  in  der  Tab,  Nova  dieselbe  Rolle  wie  bei  Swee* 
Unck;  sie  dient  dazu,  um  ein  sonst  diatonisch  verlaufendes  Motiv 
weiterzubilden,  oder  sie  erscheint  als  durchgeführtes  Motiv.  Die 
Tonarten,  in  welchen  sie  vorkommt,  sind  Jonisch,  Aolisch  und 
Phrygisch.  Im  übrigen  läßt  sich  hier  dieselbe  Hinneigung  zum 
modernen  Dur  und  Moll  konstatieren,  wie  bei  Sweelinck. 

Bevor  wir  die  Tabulatura  Nova  ganz  verlassen,  müssen  wir  noch 
einige  Andeutungen  über  die  äußere  Anordnung  und  den  kirchlichen 
Zweck  des  dritten  Theils  derselben  machen.  Zwischen  dem  3.  und 
4.  Abschnitt   des  » Kyrie  dominicalen  (III.  1)    macht  Scheidt  die  Be- 

1  Vgl.  oben  S.  184. 

2  Vgl.  oben  S.  210. 

3  Vgl.  C.  von  Winterfeld,  Ev.  Kirchenges.,  II  S.  617,  der  sie  bespricht. 


214  ^^ax  Seiffert. 


merkung:  n Gloria  canit  pastor((\  zu  dem  »Psalmus  Jesus  Christus  unser 
Heylandt«  (III.  18)  setzt  er  hinzu  Jtsub  communione«  und  dem  zweiten 
n31odus  pleno    Organo  pedalitei^a   (III.  20)    legt  er    ein  nt  Benedicatntis 
suh  finem  Condoms   Vespertinae  ludi  solitaa  zu  Grunde.      Beachtens- 
werth  ist  es   nun,    daß    auch    die    übrigen    hier   enthaltenen  Stücke 
eine  ganz  bestimmte  Stellung  innerhalb  des  Gottesdienstes  einnahmen. 
Die  katholische  Liturgie  war  ihrem  Wesen  nach  unverändert  in  der 
protestantischen  beibehalten  worden.     Auch  hier  wurden  Sequenzen, 
Antiphonen,  Kesponsorien,  Hymnen  etc.  gesungen.     An  der  Ausfuh- 
rung derselben  betheiligten  sich  der  Geistliche,  Chor,  die  Gemeinde 
und  Orgel.     Zum  Gemeindegebrauch  dienten  Gesangbücher,  die  jene 
katholischen  Melodieen  enthielten,   in   denen   sich  aber  mit  der  Zeit 
die  Anzahl  der  Hymnenübersetzungen,  wie  sie  von  Luther  begonnen, 
zusehends  mehrt.    Die  Reihenfolge   der  einzelnen  Liturgietheile  war 
in  Norddeutschland   wohl   ziemlich    die    gleiche.     Von   der  Ordnung 
des  Lüneburger  Gottesdienstes^   weicht  die  in  Hamburg^   wenig  ab. 
Vergleichen   wir  damit   den  3.  Theil   der  Tahxih  Nova,  so  entspricht 
die  Reihenfolge  der  hier  enthaltenen  Stücke  dem  dortigen  Gebrauche. 
Den  Anfang  machen  )) Kyrie«  und  nMa ff nificatjd  den  Beschluß  nBene- 
dicamus.a     In  der  Mitte  stehen  die  nHymni  de  tempore^n    Eine  Lüne- 
burger Verordnung  von  1649^  zahlt  als  nllymni  de  tempore  ^^^  auf: 
))Adventus:  Nun  kom  der  Heyden  Heyland. 
Nativitatis:  Christum  wir  sollen  loben  schon. 
Epiphanias .  Waß  fürchstu  feind  Herodes. 
Quadragesim. :  Christ  der  du  bist  tag  und  licht. 
Paschatos :  Heut   triumphiret  Gottes  Sohn :    oder   Erschienen   ist  der 

herrlich  tag:  oder  Christ  lag  in  Todesbanden. 
Pe7itecostes :  Kom   heiliger  Geist :    oder  Kom  Gott   schöpffer   heiliger 

Geist. 
Trinitatis:  Der  du  bist  drey  in  Einigkeit.« 
Die  Tab.  Nov,  III  enthält  nach  den  r>Maffnificat<s: 
y^Hyjnnus  de  adventu  JJomini'.    Vcni  lledemptor  gentium. 
H.  de  nativitate  Christi:  A  Solis  ortus  cardine. 
H.  Ckriste  qui  lux,  Christe  der  bist  tagk  vnd  licht. 
Vita  Sanctorum  Decus  Angelorum. 
Veni  Creator  Spiritus. 
0  Lux  beata  TrinitasM 
Die  nun  folgenden  » Credo  iii  unum  Deum «  und  » Jesus  Christus  unser 

^  Johann  Seb.   Bach   als   Schüler    der  Partikularschule    zu   St.   Michaeli«  in 
Lüneburg.     "W.  Junghans,  Programm,  Lüneburg  1870.  S.  14  ff. 

2  »Cantica  Sacraa  .  .  .  Franciscus  Elerus,  Hamburg  1588.  Vorrede. 

3  Junghans  a.  a.  O.  S.  16. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  215 

Ilevlandtd  gehören  in  die  »Missaa  hinein.  Die  Ordnung  derselben 
ist,  nachdem  die  Einleitung  vorbei  ist,  diese :^  »Finita  conciofie  cani- 
tur  a  populo  Wy  gelöuen.  aliquando  Symbolum  Nicenum  velj  Liiania, 
Exhortatioßt  ad  communicaturos  a  Ministro  Ecclesiae  ad  altare,  Deinde 
ab  eodem  canitur  praefatio,  Sanctus  latine,  velj  Esaia  dem  Prophe- 
ten, etc.  Oratio  Dominica  canitur  a  Ministro ^  Deinde  Verba  Coenae 
Domini,  Suh  Communione^  Agnus  Dei  etc,  et  st  multi  sunt  communi- 
caturij^  addatur  Jesus  Christus  vnser  Heilandt,  vel,  Godt  sy  gelauet, 
etc.«  Mit  dem  III.  Theil  seiner  Tab.  Nov.  schließt  sich  also  Scheidt 
eng  dem  Verlaufe  des  Gottesdienstes  an.  Dieser  Theil  ist  somit  ein 
lichtiges  Orgelbuch,  während  die  ersten  beiden  Theile  Klavier-  und 
Oi^elmusik  nebeneinander  in  sich  aufnahmen.  Erklärt  wird  diese 
Gemeinschaft  durch  die  lange  Praxis  der  Koloristen;  die  innere 
Trennung  der  Klavier-  und  Orgelmusik  wird  aber  dadurch  nicht 
au%ehoben,  denn  die  Organisten  brachten  sich  erst  »in  die  gemeine 
Buchstaben  Tabulatur, «  was  sie  spielen  wollten.  Und  sie  werden  zu 
beurtheilen  gewußt  haben,  was  in  die  Kirche  gehört  und  was  nicht. 
Wir  kommen  nunmehr  zu  der  Besprechung  des  zweiten  Orgel- 
werks von  Scheidt;  dies  ist  ein  n Tabulatur-Bnch  Hundeit  geistlicher 
Lieder  und  Psalmen  .  .  .  Für  die  Herren  Organisten,  mit  der 
Christlichen  Kirchen  und  Gemeine  auff  der  Orgel,  desgleichen  auch 
zu  Hause,  zu  spielen  und  zu  singen,«  Görlitz  1650.  Über  die 
Stellung  der  Orgel  zum  Gemeindegesang  und  über  das  VerhältniB 
seiner  Choralsätze ^  zu  denen  anderer  Meister  spricht  sich  Scheidt 
in  der  Dedikation  folgendermaßen  aus:  d Sonderlich  aber  so  ist  nun- 
mehr von  vielen  Jahren  bey  Christlichen  Versammlungen  gebräuch- 
lich, daß  nicht  nur  in  Lateinischer  Sprach  die  Psalmen  Königs 
Davids,  die  Hymnen  oder  Lobgesänge  der  alten  Kirchen,  auff  Moteten, 
Madrigalien  und  Concerten  Manier  von  alten  und  neuen  Componisten 
aufgesetzt,  mit  menschlichen  Stimmen,  Orgeln  und  allerley  Instru- 
menten figuriret  und  musiciret.  sondern  auch  in  der  Teutschen 
Mutter-Sprach  obgedachte  und  andere  Lobgesänge,  des  Herrn  Lutheri 
und  vieler  gottseliger  Männer,  choraliter  gesungen,  und  die  so  kost- 
baihch  verfertigte  künstliche  Orgel-  und  Pfeiffen-Wercke  darzu  ge- 
braucht und  mit  eingespielet  werden,  nicht  ohne  sonderbare  Erbauung 
der  Einfaltigen,  auch  Ermunterung  und  mehrer  Andacht-Erweckung 
aller  gegenwertigen  Kirchen-Glieder;  dannenhero  unterschiedene  be- 
hihmte  Musici,   solchen  löblichen  Zweck   desto  mehr  zu  befördern, 

*  »Cantica  Sacra,(i  Fr.  Eier.  Vorrede. 
^  Man  verbessere  Ritter  a.  a.  O.  I  S.  195,  2. 

3  welche  wiederum  »die  Herren  Organisten  und  Music  Liebhaber  —  leicht- 
lich  in  die  gewöhnliche  Tabulatnr  absetzen  .  .  .  können.« 


216  Max  Seiffert, 


die  Teutschen  Christlichen  Lieder  und  Lobgesänge  mit  vier  Stimmen 
in  Noten  abzusetzen  ihnen  mehrmal  haben  angelegen  seyn  lassen  .  .  . 
mit  vier  Stimmen,  mit  solchen  Bässen  und  Mittel-Parteyen,  etliche 
mehr,  als  einmal,  und  zwar  dergestalt  componiret,  als  weder  von 
anderen  deren  Arbeit  ich  zur  Hand  gehabt,  noch  von  mir  selbsten 
vorher  geschehen,  solche  Compositionen  auch,  wie  andere  mehr,  vor 
vielen  Jahren  in  die  Noten  gebracht.« 

Ehe  es  dazu  kommen  konnte,  daß  der  Gemeindegesang  in  der 
Kirche  allgemein  üblich  wurde,  mußte  sich  zweierlei  ereignen. 
Erstens  mußte  ein  Instrument  zur  Stelle  sein,  welches  geeignet  war, 
die  Gemeinde  zu  fuhren  und  zu  stützen,  und  sodann  mußte  die 
polyphone  Mensuralmusik  zu  Gunsten  einer  akkordischen  Satzweise 
weichen,  in  welcher,  allen  verständlich,  die  Melodie  den  obersten 
Platz  einnahm.  Die  Ansätze  dieser  allmählichen  Überleitung  und 
Umwandlung  reichen  über  ein  Jahrhundert  zurück.  Von  Conrad 
Celtis,^  einem  der  Hauptbegründer  des  Humanismus,  ging  eine  An- 
regung aus,  die  zunächst  für  die  Musikübung  des  16.  Jahrh.  von 
großer  Wichtigkeit  werden  sollte.  Tritonius  zuerst,  dann  Michael, 
Senfl  und  Hofheimer  komponierten  die  Oden  des  Horaz,  sowie 
andere  carmina^  in  einer  ganz  neuen  Art,  welche  mit  der  wesentlich 
deklamatorischen  Natur  des  gregorianischen  Gesanges  ein  ziemlich 
geregeltes,  dem  Metrum  entsprechendes  Längen verhältniß  der  Töne 
vereinigte;  die  Melodie  lag  immer  in  einer  der  Mittelstimmen  des 
naturgemäß  einfach  akkordischen  Satzes.  Zunächst  beeinflußt  davon 
wurden  die  Chorgesänge  des  lateinisch-deutschen  Schuldramas,^  wel- 
ches sich  sehr  rasch  durch  Deutschland  und  andere  Länder  ver- 
breitet hatte  und  an  den  Schulen  eifrig  gepflegt  wurde.  Durch  die 
Kantoren  nun,  in  deren  Händen  die  Pflege  des  Schulgesanges  und 
gleichzeitig  auch  die  des  kirchlichen  Chorgesanges  lag,  fand  eine 
Einwirkung  jener  metrischen  Musik  unmittelbar  auf  die  kirchliche 
statt.  Man  übersetzte  nunmehr  auch  die  Psalmen  metrisch  und 
komponierte  sie  demgemäß  (Goudimel,  Olthof,  Lobwasser).  Hier 
setzte  nun  eine  Bewegung  ein.  die  sich  schon  seit  einiger  Zeit  fühl- 
bar gemacht  hatte.  Durch  den  Einfluß  des  weltlichen  Liedes,  wie  es 
aus  Italien  nach  Deutschland  gekommen  war,  verlegte  man  die  Me- 
lodie aus  dem  »tenora  in  die  oberste  Stimme.  Indem  sich  nun  mit 
diesem  neuen  Prinzip  die  einfache  akkordische  Satzweise  verband, 
so  war  damit  der  Boden  gewonnen,  auf  welchem  das  protestantische 
Kirchenlied  sich  rasch  entfalten  konnte.     Ein  Gemeindegesang  war 


1  Vgl.  R.  V.  Liliencron,  Vierteljahrsschr.  f.  M.  III  S.  26fr. 

2  Vgl.  R.  v.  Liliencron,  Vierteljahrgschr.  f.  M.  VI.  S.  309  ff. 


J.  P.  Sweelinck  und  aeine  direkten  deutschen  Schaler.  217 


freilich  nar  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  möglich,  so  lange  es  ein 
Cesangschor  war,  an  dessen  einfachen  akkordischen  Satz  sich  der  Ge- 
meindegesang anlehnen  konnte.  Sang  die  volle  Gemeinde  mit,  so 
mußte  diese  Massen  Wirkung  den  Chor  erdrücken;  da  der  Chor  nicht 
sur  Geltung  kommen  konnte,  gewährte  er  also  auch  dem  Gemeinde- 
gesang nicht  die  nöthige  Stütze.  Sang  nicht  die  volle  Gemeinde 
mit,  sondern  wie  es  früher  öfter  geschehen  sein  mag,  nur  der- 
jenige, welcher  etwa  aus  dem  Gesangbuch  die  Melodie  verfolgen 
konnte,  dann  war  die  Gemeinde  kein  selbständiger  Faktor  mehr 
neben  dem  Chor,  dessen  Wirkung  sie  weder  beeinträchtigte  noch  er- 
höhte. Hier  trat  die  Orgel  helfend  ein.  Sie  konnte  in  Bezug  auf 
Vielstimmigkeit  den  Platz  des  Chores  einnehmen,  aber  sie  war  auch 
selbst  bei  der  größten  Entfaltung  des  Gemeindegesanges  im  Stande, 
sich  ihm  gegenüber  als  gleichberechtigter  Faktor  zu  behaupten.  Und 
dies  ist  der  Gesichtspunkt,  von  dem  aus  wir  die  Werke  der  Choral- 
setzer des  17.  Jahrh.  betrachten  müssen.^  Bei  Lucas  Osiander  (1586) 
ist  noch  ein  Chor  der  Führer  der  Gemeinde.  In  dem  Hamburger 
Melodeyen-Buch  (1604)  tritt  die  Orgel  zum  ersten  Male  auf;  sie  wird 
aber  noch  mit  einem  Singechor  vereinigt,  was  sich  jetzt  noch  öfter 
zeigt,  oder  wechselt  mit  ihm  ab  (Gese  1607,  Hassler  1608).  Die 
Oigel  befindet  sich  hier  also  noch  in  einer  ganz  untergeordneten 
Stellung;  nicht  ihre  Technik,  sondern  die  Rücksicht  auf  den  Gesang 
des  Chors  und  der  Gemeinde  ist  bei  der  Komposition  maßgebend. 
Jetzt  nahm  aber  die  Orgelmusik  einen  gewaltigen  Anlauf.  Das 
Stieben  der  Koloristen  hatte  ihre  Bewegimgen  von  den  Schritten 
der  Vokalmusik  frei  gemacht,  an  ihre  Stelle  trat  der  Choral;  um 
ihn  als  festen  Kernpunkt  gruppierten  sich  die  inzwischen  aus  den 
Niederlanden  herbeigeholten  neuen  Formenkeime.  Und  nun  war 
die  Orgel  stark  genug,  um  neben  den  Gemeindegesang  als  über- 
legener Genosse  hinzutreten.  Sie  ist  jetzt  das  herrschende  Instrument. 
Auf  diesem  Höhepunkt  befindet  sich  Scheidts  GörUtzer  Tabulaturbuch. 
Seine  Choralsätze  sind  aufzufassen  als  konsequente  Fortsetzung  der 
Prinzipien,  auf  welchen  die  Tab.  Nov,  beruht,  und  als  erste  Schritte 
in  der  Richtung  derjenigen  Entwickelung,  welche  zu  den  Choral- 
sätzen Joh.  Seb.  Bachs  führt. 

Es  verlohnt  sich  der  Mühe,  dies  Urtheil  durch  die  Erläuterung 
einzelner  Punkte  noch  anschaulicher  zu  machen.  Wie  die  protestan- 
tische Kirche  hinsichtlich  der  liturgischen  Ordnung  des  Gottesdienstes 
an  die  Traditionen  der  katholischen  Kirche  anknüpfte,  so  that  sie 
es  auch  in  der   äußeren  Anordnung  der  Gesangbücher.     Dem  alten 


>  Vgl.  Ritter  a.  a.  O.  S.  193  ff. 


218  ^ax  Seiffert, 

Gebrauch  folgend,  gruppierte  man  die  Lieder  nach  der  Reihenfolge 
der  Feste  des  Kirchenjahres.  So  geschieht  es  auch  bei  den  nCanttca 
Sacraa  (15S8)  von  Franz  Eier.  Der  größte  Theil  (53)  der  hier  ent- 
haltenen Lieder  findet  sich  mit  denselben  Melodieen  (nur  wenige 
haben  einer  anderen  Platz  gemacht)  und  fast  in  derselben  Reihen- 
folge bei  Scheidt,  der  somit  auch  dem  alten  Usus  sich  anschließt. 
Scheidt  behält  femer  die  alte  rhythmische  Fassung  der  Choral- 
melodien bei,  die  wir  fast  übereinstimmend  im  Hamburger  G-esang- 
buch  wiederfinden.  In  der  rhythmischen  wie  in  der  melodischen 
Fassung  des  Chorals  mußte  sich  Scheidt  natürlich  nach  dem  Gebrauche 
richten,  wie  er  sich  in  seiner  Gemeinde  herausgebildet  hatte.  An 
der  Art,  wie  nun  Scheidt  die  rhythmischen  Melodien  harmonisch 
behandelte  im  Gegensatz  zu  den  älteren  Meistern,  zeigt  sich  ganz 
deutlich  die  veränderte  Stellung  der  Orgel  zur  Gemeinde.  Die 
Choralsätze  der  älteren  Periode  sind  einfach  akkordisch ;  der  Wechsel 
der  Harmonieen  wird  durch  die  Fortschritte  der  Melodie  herbeigeführt. 
Eine  solche  Satzweise  war  nöthig,  da  ein  Singechor  in  erster  Linie 
zur  Ausführung  in  Betracht  kam.  Wenn  ein  Zusammenwirken  von 
Chor  und  Gemeinde  überhaupt  möglich  sein  sollte,  so  mußten  die 
rhythmischen  Verhältnisse  der  l^egleitstimmen  sich  nach  denen  der 
Oberstimme  regeln,  damit  in  jedem  Moment  alle  sich  gleichzeitig 
dem  Gemeindegesang  anpassen  konnten.  Sobald  aber  die  Orgel  ihre 
Selbständigkeit  durchgesetzt  hatte,  brachte  sie  Leben  und  Bewegung 
in  die  starren  Massen  der  Akkorde.  Die  neueren  Melodieen,  welche 
einem  bestimmten  Taktmaß  folgen,  wie  z.  B.  die  in  3 zeitigem  Takte 
und  einige  liedmäßig  gehaltene  im  C-Takt  (nr.  9.  10.  15.  etc.).  ge- 
statten freilich  den  begleitenden  Stimmen  nicht  viel  freie  Bewegung, 
wohl  aber  die  älteren  rhythmischen.  Soll  die  Behandlung  derselben 
orgelgemäß  sein,  so  darf  sie  die  Harmoniefolgen  nicht  an  die  rhyth- 
misch wechselnden  Schritte  der  Melodie  binden;  denn  die  Orgel  ist 
ihrer  Natur  nach  nicht  im  Stande,  jene  rhythmischen  Verhältnisse  so  klar 
zu  legen,  wie  es  wohl  ein  Chor  vermag.  Einfachheit  und  namentlich  Ein- 
heitlichkeit der  rhythmischen  Verhältnisse  ist  für  sie  erforderhch.  Diesen 
Anforderungen  kommen  Scheidts  Choralsätze  getreuhch  nach.  Die  har- 
monischen Unterstimmen  sind  bei  den  rhythmischen  Chorälen  nicht  im 
geringsten  an  die  Melodie  gebunden.  Sie  entfalten  sich  frei;  ihre  Bewe- 
gungen sind  geregelt  nur  durch  den  vorgeschriebenen  C-Takt,  nicht 
durch  die  wechselnde  Rhythmik  der  Melodie.  Diese  mag  noch  so  sehr 
durch  Synkopen  Rückungen  erfahren,  die  darunter  liegenden  Har- 
monieen schreiten  weiter  in  ruhigem  Fluß.  Man  darf  nun  ja  nicht 
meinen,  daß  dies  Verfahren  der  Orgel  den  Gemeindegesang  eher 
störte  als  stützte.     Die  Orgel  —  ganz  abgesehen  davon,  daß  die  Ge- 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  219 

meinde  doch  gewohnt  war,  rhythmisch  zu  singen  —  hatte  ja  ein 
Mittel,  jene  scheinbar  nicht  zu  vereinigenden  Gegensätze  gleichwohl 
einander  zu  nähern.  Die  rechte  Hand  spielte  die  Melodie  auf  dem 
scharf  registrierten  Riickpositiv,  die  linke  die  beiden  Mittelstimmen 
auf  dem  Oberwerk,  das  Pedal ^  den  Baß.  So  leuchtete,  allen  sicht- 
bar, die  Melodie  durch  das  zartere  Gewebe  der  Unterstimmen  hin- 
durch und  diese  wiederum  machten  durch  ihre  einfache  Zeichnung 
den  rhythmischen  Wechsel  der  Melodie  anschaulich.  Dabei  konnte 
die  Orgel  ihre  eigene  Technik  zur  Geltung  bringen,  sowohl  hinsicht- 
lich der  Spielweise,  als  auch  der  Schreibart. 

Schon  oben^  bemerkten  wir,  daß,  wenn  man  bei  den  motetten- 
artig eingeleiteten  Choralbearbeitungen  der  Tab.  Noca  Vorspiele  und 
Zwischenspiele  striche,  ein  rein  akkordischer  Satz  übrig  bliebe,  dessen 
Fortschritte  nur  durch  eine  scheinbare  Polyphonie  verdeckt  würden. 
Man  kann  dies  namentlich  bei  denjenigen  Stücken  bemerken,  in 
denen  der  Choral  im  Diskant  liegt.  Den  Grund  für  diese  eigenartige 
harmonische  Polyphonie  fanden  wir  in  dem  Verschmelzen  des  poly- 
phonen Wesens  der  Choralvariation  mit  dem  akkordlichen  Wesen  der 
Liedvariation.  In  den  Choralsätzen  der  Görlitzer  Tabulatur  zieht 
nun  Scheidt  die  letzte  Konsequenz  aus  dem  1G24  begonnenen  Ver- 
fahren. Die  Choräle  folgen  demselben  Prinzip;  nur  haben  die  Aus- 
drucksmittel, die  damals  noch  eine  gewisse  Zurückhaltung  an  den 
Tag  legten,  an  Bestimmtheit  des  Auftretens  zugenommen.  Die  Be- 
gleitung von  Melodieen  in  den  Kirchentonarten  bewahrt  in  der  Tab, 
Nov.  noch  —  abgesehen  natürlich  von  den  Stücken,  in  welchen 
Scheidt  ausgesprochenermaßen  die  Chromatik  durchführen  will  — 
das  Wesen  derselben,  wenn  sie  auch  hier  und  da  nicht  vor  Tönen 
zurückschreckt,  die  außerhalb  der  Tonarten  gelegen  sind;  dadurch 
bleibt  jenen  Stücken  wenigstens  im  ganzen  der  Charakter  der  dorischen 
etc.  Tonart  gewahrt.  Die  Görlitzer  Tabulatur  dagegen  macht  von 
der  Chromatik  den  weitgehendsten  Gebrauch ;  diese  wirkt  hier  gerade 
bei  den  charakteristischsten  Kirchentonarten,  Dorisch,  Phrygisch,  gänz- 
lich destruierend  und  wir  stehen  hart  an  der  Grenze  des  modernen 
Dur-  und  Mollsystems.  Dazu  gesellt  sich  eine  große  Reihe  von  har- 
monischen und  kontrapunktischen  Kühnheiten,  die  uns  zeigen,  wie 
souverain  die  Orgel  damals  über  ihre  musikalischen  Ausdrucksmittel 
verfugen  durfte.  Zur  Zeit  der  TabuL  Nova  mußte  sich  die  Orgel 
jene  erst  aneignen,  jetzt  steht  sie  über  ihnen.  Aus  der  reichen  Fülle 
jener  Besonderheiten  seien  ein  paar  herausgegriffen: 

'  Vgl  oben  S.  210.    Das  Pedal  reicht  hier  übrigens  von  C  bis  c  und  hat  sämt- 
liche chromatischen  Töne  mit  Ausnahme  von  Cis  und  Es. 
2  Vgl.  8.  207. 


220  ^**  Seiffert, 


1)  Die  überaus  häufige  Anwendung  des  Dreiklangs  mit  über- 
mäßiger Quinte  in  der  Sextakkordlage. 

2)  Der  uneingeschränkt  freie  Eintritt  der  Dominantseptime. 

3)  Der  unvorbereitete  Eintritt  des  verminderten  Septimenakkordes. 

4)  Der  kühne,  oft  überraschende  Gebrauch  von  Nebennoten,  deren 
oft  mehrere  zusammengeführt  werden. 

5)  Die  Anwendung  von  Durchgangsnoten  zu  Vorhalten. 

6)  Ein  Vorhalt  wird  durch  eine  Pause  unterbrochen,  nach  der- 
selben frei  eingeführt  und  dann  erst  aufgelöst. 

In  dieser  Richtung  geht  von  nun  an  die  Entwickelung  des  Choral- 
satzes weiter ;  die  Orgel  ist  das  Instrument,  nach  dessen  Eigenart  dieser 
sich  richten  muß.  35  Jahre  nach  dem  Erscheinen  der  Görlitzer  Ta- 
bulatur  wurde  der  Mann  geboren,  welcher  die  Entwickelung  zum 
Abschluß  und  zur  höchsten  Vollendung  bringen  sollte.  In  seinen 
Choralsätzen  vereinigt  sich  die  tiefe  Innigk^t  des  harmonischen  Em- 
pfindens mit  der  größten  Freiheit  des  kontrapunktischen  Gestaltens. 
Scheidt  ist  der  Begründer,  Bach  der  Vollender.  — 

Überblicken  wir  nun  am  Schlüsse  unserer  Darstellung  noch  ein- 
mal Scheidts  Wirksamkeit  als  Orgelmeister,  wie  sie  in  seinen  beiden 
Tabulaturbüchern  vor  uns  liegt,  so  muß  es  uns  mit  Befriedigung  er- 
füllen, zu  sehen,  wie  gewissenhaft  Scheidt  seine  Lebensaufgabe  ge- 
löst hat.  Tief  in  sich  aufgenommen  hat  er  die  Kunst  seines  Lehrers ; 
er  ist  aber  dabei  nicht  stehen  geblieben,  sondern  er  hat  die  einzelnen 
Richtungen  weiter  verfolgt  und  ein  ganz  neues  Gebiet  erschlossen, 
welches  die  Quelle  einer  ungeahnten  reichen  Entwickelung  werden 
sollte.  An  der  starken  Orgelmusik  gewann  die  kirchliche  vokale 
Kunst,  die  an  den  Folgen  des  30jährigen  Krieges  darniederlag,  ihren 
festen  Halt;  von  ihr  gestützt,  konnte  sie  sich  wieder  erholen.  Orgel- 
meister waren  es,  die  jene  ihrer  Vollendung  durch  Seb.  Bach  ent- 
gegenführlen. 


3. 

MeleUor  SchUdt  in  Hannover.     (1592—1667). 

Was  unsere  Lexikographen  über  Schiidts  Lebensgeschichte  zu 
berichten  wissen,  beschränkt  sich  auf  wenige  dürftige  Notizen,  und 
diese  sind  zum  größten  Theil  noch  unrichtig.  Zum  Glück  haben 
sich  einige  Kirchenbücher  und  Urkunden  erhalten,  die  uns  dasjenige, 
was  sie  bieten,  wenn  auch  nicht  in  reichlichem  Maße,  so  doch  wenig- 
stens in  unzweifelhafter  Form  bieten. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  221 


In  Hannover  wie  auch  in  Wolfenbüttel  waren  zu  Anfang  des 
17.  Jahih.  verschiedene  Vertreter  des  Namens  Schildt  als  Organisten 
thätig.  Gleichwohl  ließen  sich  Geburtsort  und  -jähr  von  Melchior 
Schildt  ^  aus  Taufakten  nicht  ausfindig  machen.  Denn  diese  reichen 
an  der  Marktkirche  zu  Hannover  nur  bis  1613,  an  der  Hauptkirche 
m  Wolfenbüttel  nur  bis  1612  zurück.  Das  erste  Dezennium  des 
17.  Jahrb.  wäre  aber  der  späteste  Zeitraum,  innerhalb  dessen  M.  Schildt 
geboren  sein  könnte.  Die  Auskunft,  welche  uns  die  Taufregister 
versagen,  gewähren  uns  nun  in  ausreichender  Weise  spätere  Urkun- 
den. In  einer  später  näher  besprochenen  Urkunde  von  1660  erklärt 
Schildt  selbst,  daB  er  1655,  obwohl  schon  im  63sten  Lebensjahre 
stehend,  einen  gewissen  Entschluß  gefaßt  habe.  Daraus  geht  also 
hervor,  daß  er  1592  geboren  ist;  bei  diesem  Thatbestande  mußte 
freflich  eine  Durchsuchung  der  Taufregister  resultatlos  verlaufen. 
Die  Geburtsstadt  war  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  Hannover.  Dieser 
Stadt  vermachte  er,  wie  wir  später  sehen  werden,  bedeutende  Sum- 
men für  wohlthätige  Zwecke.  Die  Zeitgrenzen  für  seinen  Aufenthalt 
bei  Sweelinck  liegen  ziemlich  weit  auseinander;  die  Möglichkeit 
desselben  erstreckt  sich  auf  den  Zeitraum  von  1608 — 1621.  Genauere 
Angaben  lassen  sich  bis  jetzt  wenigstens  darüber  nicht  machen.  Besser 
unterrichtet  werden  wir  über  Schiidts  Thun  vom  Jahre  1623  an.  In 
diesem  Jahre  wurde  er  als  Nachfolger  von  Christoph  Seile  Organist 
an  der  Hauptkirche  B.  M.  V.  in  Wolfenbüttel;  hier  wirkte  er  bis 
1626.*  In  diesem  Jahre  folgte  ihm  hier  sein  Bruder  Ludolph  Schildt, 
welcher  das  Amt  von  1626  bis  1630  und,  nachdem  inzwischen  Delphin 
8tnmck  von  1630  bis  1632  den  Dienst  versehen,  zum  zweiten  Male 
Yon  1632  bis  1637  verwaltete.  Wohin  Melchior  Schildt  1626  seinen 
Aufenthalt  verlegte,  erfahren  wir  leider  nicht;  erst  von  1629  an  tritt 
er  wieder  in  unseren  Gesichtskreis,  er  wurde  nämlich  1629  als  Or- 
ganist an  der  Marktkirche  (SS.  Jacobi  &  Georgii]  zu  Hannover  an- 
gestellt.^ Seine  Vorgänger  in  diesem  Amte  waren  gewesen:  Anton 
Schildt  (Vater  von  Melchior  und  Ludolph?)  von  1593  bis  1621; 
Ludolph  Schildt  von  1621  bis  1626,  worauf  er  sich  nach  Wolfen- 
hüttel  begab;  Anton  Schildt  zum  zweiten  Male  von  1626  bis  1629. 
Dem  letzteren  folgte  dann  also  1629  Melchior  Schildt,  der  nun  bis 
an  sein  Lebensende  hier  in  Hannover  wirkte.     Es  ist  erfreulich,  daß 


1  So  schreibt  er  sich  selbst,  nicht  Schild. 

'  Geschichte  der  alten  Orgel  in  der  Hauptkirche  B.  M.  V.  in  Wolfenhüttel 
Sehnar  Müller,  Braunschweig  1877,  S.  8. 

>  Kirchliche  Nachrichten  aus  der  Stadt  Hannover  Ton  1533-1883,  Wilhelm 
Höpfoer,  Hannover  1883,  8.  39  f. 


222  ^**  Seiffert, 


wenigstens  über  die  Zeit  seines  hauptsächlichsten  Wirkens  verschie- 
dene Dokumente  uns  Aufschluß  geben.  ^ 

Anton  Schildt  erhielt  sein  letztes  »Deputat«  für  das  Osterquartal 
1629  mit  20  Gulden-  ausbezahlt.^  Das  Gehalt  für  das  Johanms- 
quartal  wurde  aber  bereits  an  den  Nachfolger,  Melchior  Schildt,  ver- 
abfolgt, der  demnach  im  Juli  d.  J.  etwa  sein  Amt  in  Hannover  an- 
getreten haben  wird.  Wenn  man  es  für  nöthig  befand,  das  Gehalt 
Melchior  Schiidts  auf  vierteljährlich  45  Gulden  zu  erhöhen,  so  wird 
der  Grund  dafür  darin  gelegen  haben,  daß  jener  schon  eine  berühmte 
Persönlichkeit  war.  Er  hatte  außerdem  eine  Dienstwohnung  umd, 
der  Sitte  jener  Zeit  gemäß,  wahrscheinlich  auch  Nebeneinkünfte  an 
Naturalien  und  Emolumenten;  näheres  ließ  sich  jedoch  darüber  nicht 
ermitteln.  Die  Besoldung  von  jährlich  180  Gulden  hat  M.  Schildt 
bis  zu  seinem  Tode  gehabt. 

Am  26.  Nov.  1640  verheirathete  sich  M.  Schildt  mit  Margarethe 
Cassel.^  Diese  war  die  Tochter  des  Pastors  Cassel  zu  Lenthe  bei 
Hannover  und,  bevor  sie  die  eheliche  Verbindung  mit  Schildt  ein- 
ging, bereits  zweimal  verheirathet  gewesen.^  Aus  diesen  beiden  vor- 
aufgegangenen Ehen  stammte  gewiß  das  ansehnliche  Vermögen, 
welches  sie  in  die  dritte  Ehe  mit  M.  Schildt  hineinbrachte.  Daß 
dieser  selbst  aber  auch  nicht  ohne  Vermögen  war,  beweisen  spätere 
Urkunden.  Da  die  Ehe  kinderlos  blieb  —  die  Taufregister  beweisen 
wenigstens  nicht  das  Gegentheil  — ,  so  beschlossen  beide,  ihr  Ver- 
mögen zu  frommen  Stiftungen  zu  verwenden.  Schon  vor  seiner  Ver- 
heirathung,  im  Jahre  1645,  hatte  M.  Schildt  dem  Armen-  und  Waisen- 
haus in  Hannover  ein  Kapital  von  400  Gulden  geschenkt. <^  Am 
S.  JuU  1652  errichtete  er  sodann  mit  seiner  Ehcfran  eine  gemein- 
schaftliche Stiftung,  welche  nach  dem  Tode  beider  Eheleute  ins 
Leben  treten  sollte.     Die  Stiftung  wurde  dotiert: 

1]  mit  einem  Kapitale  von  3000  Thir.,  1652  bei  der  freien  Stadt 
Lübeck  belegt,  welches  unter  dem  Namen  »Schildt-Cassersches  Stipen- 
dium« verwaltet  und  mit  seinen  jährhchen  Zinsen  von  150  Thlr.  für 
Darme  studirende  Knaben  auf  Universitäten«  verwandt  werden  sollte ; 


1  Ich  möchte  es  an  dieser  Stelle  nicht  unterlassen,  Herrn  Stadtk&mmerer 
E.  Behre  in  Hannover  für  die  liebenswürdige  Bereitwilligkeit,  mit  welcher  er  sieh 
der  Durchsicht  der  oben  besprochenen  Aktenstücke  unterzogen  hat,  nochmals  meinen 
verbindlichsten  Dank  auszusprechen. 

2  1  Quid.  ^  20  Mariengroschen,   1  Thaler  »  36  Mgr. 

3  Kirchenregister  der  Marktkirche. 

^  Trauregister,  von  1612  an  geführt. 

^  Privatnaehrichten  zufolge. 

^  Diese  und  die  folgenden  Urkunden  werden  bei  der  Marktkirehe  aufbewahrt 


I  J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  223 


2)  mit  einem  Kapitale  von  500  Thlr.,  laut  Obligation  bei  »Herr 
Johann  Niemann,  Jiürger  und  Handelsmann  binnen  Hamburg«  be- 
legt, dessen  jährliche  Zinsen  von  25  Thlr.  an  die  Patronen  und  Pro- 
visoren des  Armen-  und  Waisenhauses  am  Steinthore  zu  Hannover 
auf  »dessen  Unkost«  gezahlt  werden  sollten ; 

3)  mit  einem  Kapitale  von  600  Thlr.,  laut  Obligation  bei  dem 
Rathe  der  Stadt  Hannover  belegt,  von  dessen  jährlichen  Zinsen 
(30  Thlr.)  die  durch  die  Stifter  ernannten  Administratoren  und  Exe- 
kutoren  10  Thlr.  empfangen  sollten.  Das  Übrige  sollte  aber  unter 
die  armen  Currendenschüler  »zu  zweien  Zeiten«  vertheilt  werden. 

Margarethe  Schildt  starb  nun  nach  7  jähriger  Ehe  im  Februar 
1653.*  Für  den  Fall  des  Todes  des  einen  und  der  Wiederverhei- 
rathung  des  andern  Ehegatten  war  im  genannten  Legat  keine  nähere 
Bestimmung  getroffen  worden.  M.  Schildt  selbst  dachte  auch  wohl 
zunächst  nicht  an  eine  Wiederverheirathung;  denn  am  17.  Juni  1654 
belegte  er  bei  der  freien  Stadt  Lübeck  wiederum  md  pias  causasa 
ein  Kapital  von  2000  Thlr.  Erst  in  seinem  63sten  Lebensjahre,  dem 
dritten  Jahre  nach  dem  Tode  seiner  Frau,  fühlte  er  sich  »durch 
podagraische  Flüsse  an  Haupt,  Händen  und  Füßena  und  durch  den 
Mangel  an  gehöriger  Pflege  veranlaßt,  wieder  zu  heirathen.  Am 
12.  Juli  1655  führte  er  «Jungfer  Use  Margarethe  Scher«  (Scheer)  zum 
Traualtar.  2     In  dieser  Ehe  wurden  ihm  4  Kinder  geboren  :3 

»1656,     7.  May.  Sophie  Margarethe. 

1657,  14.  Sept.  Melcher  Cordt. 

1662,  27.  Febr.  Anna  Catharine. 

1664,  17.  May.  Ilse  Margarethe.« 
Die  älteste  Tochter  starb  aber  schon  1659.*  Nunmehr  trat  M.  Schildt 
dem  Gedanken  näher,  wie  er  die  Vergünstigungen  des  obigen  Stipen- 
diums seinen  Kindern  zuwenden  könne,  um  wenigstens  ihre  Zukunft 
zu  sichern,  falls  er  stürbe.  In  der  Osterwoche  des  Jahres  1660  er- 
richtete M.  Schildt  eine  als  zweite  Dotation  bezeichnete  Urkunde 
bezüglich  des  bei  der  freien  Stadt  liübeck  belegten  Kapitals  von 
2000  Thlr.  Er  ordnete  darin  an,  daß  die  jährlichen  Zinsen  von 
100  Thl.  25  Jahre  lang  zu  seiner  Kinder  Unterhalt  und  Erziehung 
verwandt  werden  sollten.  Nach  Ablauf  dieser  Zeit  sollten,  der  ur- 
sprünglichen Bestimmung  entsprechend,  von  den  100  Thlrn.  24  Thlr. 
an  die  beiden  untersten  Schulkollegen  ^  gezahlt,   64  Thlr.  unter  arme 

*  Sterbelisten  von  1611  an  geführt. 
2  Trauregister. 

^  Taafregister. 

*  Sterbelisten. 

^  an  der  alten  Stadtschule,  dem  spateren  Lyceum. 


224  M"  Seiffert, 


»Bettlägerige,  Lahme,  Blinde  und  Krippeiu  vertheilt  und  12  Thlr. 
zu  den  Administrationskosten  verwandt  werden.  In  demselben  Jahre, 
1660,  »uff  Pfingsten«  errichtete  M.  Schildt  sodann  eine  als  Zusatz 
und  Nachtrag  zu  der  Stiftung  vom  8.  Juli  1652  bezeichnete  Urkunde. 
Er  erklärt  hierin,  daß  sein  und  seiner  verstorbenen  Frau  gesamtes 
Kapitalvermögen  im  Betrage  von  6322  Thlr.  8  mgr.  y>ad  pias  causas 
verordnet«  sei,  beklagt  mit  vielen  wehmüthigen  Worten,  daß  dieses 
seinen  Kindern  entzogen  werde;  dadurch  fühle  er  sich  in  seinem 
Gewissen  sehr  bedrängt.  Er  verordnet  nun,  daß  von  den  jährlichen 
Zinsen  (205  Thlr.)  des  gesamten  Stiftungskapitals  der  Betrag  von 
145  Thlr.  zur  Alimentation  seiner  Eander  verwandt  werden  solle. 
Für  das  Stipendium  sollen  zunächst  nur  jährlich  50  Thlr.  zurück- 
gelegt werden.  Demnächst  soll  sein  Sohn  »Melchior  Curdt  Schiiten«, 
wenn  derselbe,  wie  er  hoffe,  die  Universität  beziehen  und  Theologie 
studieren  würde,  das  Stipendium  8  Jahre  lang  erhalten.  Von  den 
übrigen  Modalitäten,  Eventualitäten  u.  s.  w.  der  umfangreichen  und 
weitläuftigen  Schriftstücke  können  wir  hier  absehen.  Die  Stiftungen 
sind  übrigens  noch  gegenwärtig  in  Wirksamkeit.  Daß  der  Stamm- 
halter dem  Wunsch  des  Vaters  entsprach,  erfahren  wir  durch  Walther  :* 
»Der  Sohn  hat  zu  des  Vaters-Lebzeit  studiret,  und  ist  nachgehends 
Rittmeister;  die  Tochter  aber  an  einen  Amtmann  verheyrathet  worden«. 

Als  Todesjahr  M.  Schiidts  ist  bisher  immer  1668  genannt  wor- 
den, diese  Angabe  ist  aber  unrichtig.  Die  letzte  Gehaltszahlung^ 
erfolgte  für  das  Johannisquartal  1667  mit  45  Gulden.  Zu  Michaelis 
1667  erhielt  »die  Witwe«  das  Gnadenquartal  mit  36  Gulden.  Die 
Sterbelisten  bekunden,  daß  M.  Schüdt  am  22.  ijai  1667  gestor- 
ben ist.  38  Jahre  hat  er  der  Kirche  als  Organist  gedient  und  ein 
Alter  von  75  Jahren  erreicht.  Es  folgte  ihm  im  Amte  Andreas 
Kniller.  Eine  Vermuthung  sei  hier  noch  ausgesprochen,  betreffs  der 
Thätigkeit  M.  Schiidts  in  den  Jahren  1626—1629.  Es  liegt  nahe 
anzunehmen ,  daß  er  in  dieser  Zeit  an  der  alten  Stadtschule  als 
Schulkollege  beschäftigt  war.  Weil  er  aus  persönlicher  Erfahrung 
die  dortigen  Verhältnisse  kannte,  bedachte  er  in  einer  seiner  Stiftungen 
auch  die  beiden  untersten  Lehrer  »zur  Verbesserung  ihres  Gehaltes«.^ 

Von  M.  Schiidts  Kompositionen  sind  nur  4  auf  uns  gekommen, 
2  Orgel-  und  2  Klavierstücke.  Die  beiden  Choralbearbeitungeu : 
»Hertzlich  lieb  hab  ich   dich  o  mein  Herr.  Ad  manuale  duplexn  und 


^  Lexikon  Sp.  552.  »Zu  des  Vaters-Lebzeit«  kann  er  unmöglich  studiert 
haben;  der  Vater  starb  1667,  Melchior  Curt  hätte  also  als  lOj ähriger  Knabe  schon 
studieren  müssen. 

2  Kirchenregister. 

3  Vgl  oben  S.  223. 


r 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schiller.  225 


•Allein  Gott  in  der  Höhe  sey  Ehr«  ^  bewegen  sich  in  uns  von  Scheidt 
her  bekannten  Formen;  die  innere  Ausgestaltung  derselben  ist  aber 
eine  besondere.  Der  erste  Choral  löst  die  in  der  obersten  Stimme 
liegende  Melodie  in  Figuren  auf;  die  begleitenden  ünterstimmen 
gehen  dagegen  in  ruhigen  Harmonieen.  Die  Ausfuhrung  auf  der 
Orgel  geschieht,  wie  es  auch  Scheidt  vorgeschrieben  hat:  die  kolorierte 
Melodie  ist  auf  dem  Rückpositiv ,  die  tiefste  Stimme  auf  dem  Pedal 
zu  spielen;  die  Mittelstimmen  übernimmt  das  Oberwerk.  Vergleicht 
man  aber  die  musikalischen  Ausdrucksmittel  Schiidts  mit  denen 
Scheidts  in  derselben  Form,  so  fällt  bei  Schildt  ein  gewisser  Fort- 
schritt auf.  Er  fuhrt  in  die  Choralbearbeitung  auch  die  echoartige 
Wiederholung  von  Akkorden  ein;  Scheidt  benutzt  dort  nur  die  von 
Figuren  einer  Stimme.  Femer  importiert  Schildt  zwei  Elemente  aus 
derToccate:  gebrochene  Akkorde,  deren  einzelne  Töne  so  lange  aus- 
gehalteu  werden,  bis  durch  das  Eintreten  des  letzten  von  ihnen  der 
Akkord  vollständig  zum  Erklingen  kommt.  Scheidt  verwendete  diese 
Manier  in  seiner  Choraltoccata;  bei  Sweelinck  findet  sie  sich  noch 
nicht.  Letzterer  gebraucht  dagegen  öfter  das  zweite  Element,  von 
welchem  sich  wieder  Scheidt  fernhält:  das  weite  Ausschweifen  einer 
Stimme  über  das  ganze  Manual  hinweg,  wodurch  der  Zusammenhang 
der  übrigen  Stimmen  in  ihrem  akkordischen  Fluß  für  kurze  Zeit  auf- 
gehoben wird ;  sowie  das  Heruntersteigen  der  obersten  Stimmen  unter 
die  begleitenden.  Schildt  macht  davon  am  Zeilenende  öfter  Gebrauch. 
Schiidts  Chromatik  bewegt  sich  in  den  allermeisten  Fällen  nur  inner- 
halb der  beiden  Quarten  A — D  und  E — A,  Die  toccatenartige  Coda 
von  Schiidts  erster  Choralbearbeitung  durchläuft  am  Anfang  1  ^2  Oktave 
vollständig  chromatisch.  Der  zweiten  Choralbearbeitung  liegt  nicht 
die  einfache,  sondern  die  durch  eine  kleine  Achtelfigur  noch  leb- 
hafter gestaltete  Melodie  zu  Grunde.  Bevor  die  Oberstimme  mit  den 
einzelnen  Choralzeilen  beginnt,  wird  sie  von  den  Unterstimmen  moti- 
visch eingeleitet.  Dies  geschieht  aber  in  einer  Weise,  wie  wir  sie 
bei  Scheidt  noch  nicht  gefunden  haben.  Die  einzelnen  Stimmen 
setzen  nicht  motettenartig  mit  ihrem  Zeilenmotiv  ein;  sondern  der 
Satz  ist,  die  Einleitung  der  ersten  Zeile  ausgenommen,  von  An- 
fang an  dreistimmig  und  erweitert  sich  beim  Eintritt  der  Melodie 
zur  Yierstimmigkeit.  Charakteristisch  ist  es,  daß  die  Komposition 
nicht  beim  Schlußton  des  Chorals  ihr  Ende  erreicht,  sondern 
daB  sich  daran  noch  ganz  frei  4  Takte  toccatenartiger  Figuren  an- 
schließen. 

1  Mscr.  Fol.  K.  N.  209,    Stadtbibliothek  Lüneburg,   vgl.   darüber  W.  Jung- 
hans, a.  a.  O.  S.  31  ff.   S.  die  Notenbeilagen. 

1891.  15 


226  ^^*^  Sdffert, 


Die  beiden  Klavierkompositionen  ^  sind  Variationen  über  ein 
Lied  «Gleich  wie  daß  feuwr«  und  über  den  Tanz  »Paduana  Lfigrimcß. 
Die  erste  Melodie  war  vom  Verfasser  nicht  nachzuweisen ;  die  zweite 
stammt  von  John  Dowland  her,  weicht  aber  bei  Schildt  von  der  durch 
Land  2  mitgetheilten  Fassung  ab.  Die  Variationstechnik  ist  im  Ver- 
gleich zu  Scheidt  glatter  und  abgerundeter.  Die  Figuren  sind  flüs- 
siger ;  durch  ihre  Geschmeidigkeit  fließen  die  Harmonieen  vermittelter 
in  einander  über. 

Was  den  Tastenumfang  der  Instrumente  betrifit,  so  gestattet  die 
geringe  Anzahl  der  Kompositionen  keinen  verbindlichen  Schluß.  Die 
Kirchentonarten  sind  in  diesen  nicht  eigentlich  mehr  vertreten.  Die 
erste  Choralbearbeitung  steht  in  cdur,  die  zweite  in  fdur.  Von  den 
weltlichen  Stücken  verleugnet  allerdings  weder  das  erste  den  dorischen 
(g  [;);  noch  das  zweite  den  äolischen  Charakter  gänzlich. 

Es  ist  sehr  zu  bedauern,  daß  wir  von  dem  Schaffen  dieses  Swee- 
linck'schen  Schülers,  der  anscheinend  auch  seine  eigenen  Wege 
weiterging,  augenblicklich  nicht  zahlreichere  Überreste  besitzen;  um 
so  mehr,  als  wir  erfahren,  daß  er  ein  zu  seiner  Zeit  berühmter  Mann 
gewesen  ist.^  Die  Familie,  welcher  er  angehörte,  hat  mehrere  Ge- 
nerationen hindurch  Organisten  unter  ihren  Mitgliedern  gehabt.  Ein 
Gerdt  (Kurt)  Schildt  starb  1569  als  Organist  an  der  Agidienkirche 
in  Hannover;^  von  den  oben  genannten  Männern  genoß  Anton  Schildt 
eine  gewisse  Berühmtheit,  da  er  als  11.  unter  den  53  Organisten 
sich  befand,  welche  die  Orgel  zu  Groningen  zu  prüfen  hatten.'^  Von 
Melch.  Schildt  berichtet  uns  noch  Walther,  ^  »daß  man  von  ihm  ge- 
sprochen: Er  könne,  nachdem  es  ihm  gefallig,  spielen,  daß  man 
lachen  oder  weinen  müsse:  hat  die  Gnade  gehabt,  daß  Hertzog 
Christian  Ludwig  ihn  öffters  in  seinem  Wagen  nach  Hofe  holen 
lassen.« 


^  Handschriftlicher  Adnex  zu  G.  VoigÜänders  Oden  1642,  kgl.  Bibl.  Kopen- 
hagen; mitgetheilt  yon  Hortense  Panum,  M.  f.  M.  1888,  S.  27,  35  ff. 

2  Tijdschriß  v,  N.  Ned.  Muziekgeschied.,  Deel  II  1887,  8.  309. 

3  Vgl.  oben  S.  195. 

*  Vgl.  Höpfner,  a.  a.  O.  S.  40. 

*  A.  Weickmeieter,  ^Organum  Gruningense  redivivum^vi  Quedlinburg  u«  Aschen- 
Icben  1705,  §.  11. 

6  Lexikon,  Sp.  552. 


J.  P.  S-weelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  227 


4. 

Heinrich  Seheidemanii  in  Hamburg  (159?— 1663.) 

Der  Brand  Hamburgs  1842  hat  der  Musikgeschichte  übel  mit- 
gespielt; werth volle  Dokumente  nnd  Notenscbatze  haben  dabei  ihren 
Untergang  gefunden.  Was  ihm  entronnen  ist,  besteht  meist  aus  zu- 
sammenhangslosen Nachrichten.  Es  ist  ein  glücklicher  Zufall  zu 
nennen,  daß  sich  darunter  auch  einige  über  H.  Scheidemann  ^  be- 
finden, die  in  seine  Lebensverhältnisse  etwas  mehr  Klarheit  hinein- 
bringen. 

Heinrich  Scheidemann  wurde,  wie  die  späteren  Lexikographen 
berichten,  um  1600  als  Sohn  des  O^anisten  an  der  St.  Katharinen- 
kirche  zu  Hamburg  Hans  Scheidemann  geboren.  Auf  Kosten  dieser 
Kirche  soll  er  im  Jahre  1616  nach  Holland  gegangen  sein,  um  bei 
Sweelinck  sich  in  der  Musik  weiter  auszubilden.  Als  um  1625  Hans 
Scheidemann  starb,  soll  ihm  sein  Sohn  im  Amte  gefolgt  sein.^  Die 
Richtigkeit  dieser  Nachrichten  läßt  sich  nicht  mehr  kontrollieren. 
Die  Taufregister  der  Katharinenkirche  beginnen  erst  mit  dem  Jahre 
1614;  die  Rechnungsbücher,  welche  über  die  Reise  nach  Holland 
Auskunft  geben  könnten,  heben  mit  ihren  Angaben  erst  Michaelis 
1629  und  die  Sterbelisten  gar  erst  1783  an.  Das  Bestallungsbuch 
aber,  in  welches  die  Kontrakte  oder  Ltistruktionen  eingetragen  wur- 
den, spricht  bis  zum  Jahre  1631  überhaupt  nicht  von  einem  Orga- 
nisten. Wir  müssen  also  jene  Angaben  auf  Treue  und  Glauben  hin- 
nehmen. Nur  die  Richtigkeit  des  Geburtsjahrs  und  der  Zeit  des 
holländischen  Aufenthalts  dürfen  wir  anzweifeln.  Am  15.  Nov. 
1614  schrieb  Sweelinck  zu  Ehren  des  »vromen  Jongkmans«  Heinrich 
Scheidemann  einen  Kanon.'  Diese  Thatsache  und  der  hier  gewählte 
Ausdruck  beweisen,  daß  Scheidemann  nicht  allein  schon  vor  1616 
mit  Sweelinck  bekannt  war,  sondern  daß  auch  schon  der  Unterricht 
bei  demselben  wahrscheinlich  1614  zu  Ende  war.  Zum  Abschied 
mag  Scheidemann   von  seinem   Lehrer  den  Kanon   erhalten  haben. 


1  Für  die  zeitraubende  und  mahevolle  DurchfoTSchung  aller  Aktenstücke 
nach  Notixen  über  Scheidemann  sowie  für  die  Mittheilung  der  gefundenen  Re- 
sultate bin  ich  Herrn  F.  G.  Schwencke,  Organist  an  St  Nikolai  in  Hamburg, 
Bu  besonderem  Danke  verpflichtet. 

2  Gerber,  Alt.  Lexik.,  ü  Sp.  418  f.;  Signale  für  die  musikalische  Welt,  Leipzig 
1870.  S.  817. 

3  Vgl.  oben  S.  154. 

15» 


228  ^*^  Seiffert, 


Dann  ist  aber  das  Geburtsjahr  noch  weiter  zurück  zu  verlegen, 
wenigstens  bis  1596. 

Am  27.  Sept.  1631  wird  Scheidemann  zum  ersten  Male  in  den 
Rechnungsbüchern  erwähnt;  unter  diesem  Datum  steht  die  Notiz: 
ytHenrico  Scheidema7m,  dem  Organisten,  weil  ihm  in  seiner  Krank- 
heit viel  auf  Apotheker  und  Doctoren  gegangen,  verEhrt  6  ^^..^ 
Er  muß  also  1631  oder  auch  schon  1630  von  einer  schweren  Krank- 
heit heimgesucht  gewesen  sein.  Zu  seinem  Organistenamte  über- 
nahm nun  Scheidemann  im  Jahre  1633  noch  die  Funktionen  eines 
Kirchenschreibers.  Den  Amtseid  als  solcher  legte  er  nach  dem  Be- 
stallungsbuch am  10.  Juli  1633  ab.  Über  das  Gehalt,  welches  er 
bezog,  geben  zwei  große  Rechnungsbücher,  die  Jahre  1640  bis  1664 
enthaltend,     genügende    Auskunft.      Er    bezog    als    vierteljährliches 

Gehalt.           212  ^.  8  y.?: 

Johanni  Zulage  wegen  der  Rechnung    ...  40     -  — 

Michaelis,  zum  Ochsen   (zur  Küche)      ...  80     -  — 

Weihnacht,  Opfergeld 9     -  — 

auf  Neijahr 9-  — 

10  Sack  Kohlen  in  natura  geliefert. 

Ostern  Pasch-Semmel 9     -  — « 

Die  Höhe  des  letzten  Postens,  für  den  sich  auch  die  Bezeichnung 
»Proben«  oder  »Pröven«  findet,  variierte  sehr.  Im  Rechnungsjahr 
1651/52  betrug  sie  18  c%.,  in  den  Jahren  1659/60  und  1660/61  nur 
6  J%'.,  durchschnittlich  etwa  immer  10  ^.  Dazu  kamen  im  Jahre 
1649  zuerst  noch 

»wegen  der  Bier-Accise 24  ^ 

für  Papier 6     -.« 

Diese  für  damalige  Verhältnisse  günstige  pekuniäre  Lage  setzte  nun 
Scheidemann  in  den  Stand,  sich  ein  eigenes  Heim  zu  gründen;  am 
Sonntag  Trinitatis  (1.  Juni)  1634  wurde  er  mit  Maria  Bökels  »pro- 
clamirt.ö2  Der  Ehe  entsprossen  5  Knaben  und  4  Mädchen;^  es  wur- 
den getauft: 

»1635.  Febr.   18:  Elisabeth. 

1636.  Aug.    16:  Henrich. 

1637.  Oct.       5:  Catharina. 

1639,  Sept.   29:  Margaretha  Maria. 


1  Trauregister. 

2  Taufregister. 


k 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  229 


1642.  Jun.  20:  Julius  Johan. 

1644.  Apr.  4:  Anna  Maigaretha. 

1646.  Dec.  21:  Johan  Henrich. 

1649.  Oct.  24:  Daniel  David. 

1652.  Jul.  8:  David.« 

Aus  dem  Vorkommen  des  Namens  »David«  darf  man  wohl  schließen, 
daß  jener  David  Scheidemann,  welcher  an  der  Herausgabe  des  »Ham- 
burger Melodeyen-Buch«  (1604)  betheiligt  war,  ein  Oheim  Heinrich 
Scheidemanns  väterlicherseits  war.  Mattheson^  berichtet:  "H.  S.  ließ 
seinen  Sohn  die  Medicin  studiren,  darin  er  auch  Doctor  wurde«; 
welcher  der  5  Söhne  es  war,  konnten  wir  nicht  feststellen. 

»Ao.  1636  zur  Zeit  des  Organisten  Hinrich  Scheidemann  ist  die 
Brust  (an  der  Katharinenorgel)  von  dem  Orgelbauer  Fritsch  verfer- 
tigt mit  folgenden  Stimmen:  1.  Principal  8  Fuß,  2.  Octava  4  Fuß, 
y>.  Quintatön  4  Fuß,  4.  Waldpfeife  2  Fuß,  5.  Scharf  7 fach,  6.  Dul- 
eian  16  Fuß,  7.  Regal  8  Fuß<(.2  Daß  diese  Vergrößerung  auf 
Scheidemanns  Anregung  vorgenommen  wurde,  dürfen  ^vir  wohl  daraus 
scUießen,  daß  er  einige  Jahre  später  als  Sachverständiger  zur  Prü- 
fiing  der  Marienorgel  nach  Lübeck  berufen  wurde.  Dies  geschah 
kuTz  vor  Michaelis  1641,  bevor  dort  Franz  Tunder  sein  Amt  antrat. 
Scheidemann  kam  »auf  der  Herren  Vorsteher  begehren«  herüber, 
»die  grosse  örgell  zu  beschlagen,  dafür  ihme  ist  verehret  50  ^r, 
was  ehr  an  fuhr  Von  Vnd  nach  Hamburgk  auch  in  seiner  Herbergen 
Veraehrett  thut  20  J^.a,^  Scheidemann  war  also,  ebenso  wie  Scheidt 
und  auch  wohl  Schildt,  des  Orgelbaues  wohl  kundig. 

Von  Schülern,  welche  Scheidemann  im  Orgelspiel  ausbildete, 
wird  uns  zunächst  Werner  Fabricius  genannt.  Dieser  war  am 
^0.  April  1633  zu  Itzehoe  geboren,  kam  noch  jung  nach  Hamburg,  wo 
ihn  Th.  Seile,  der  Stadtkantor,  liebgewann.  »Auch  die  übrigen  Pro- 
fessores  unterrichteten  den  gut  begabten  Knaben  mit  Vergnügen, 
besonders  Heinrich  Scheidemann  mit  seiner  kunstreichen  Manuduction 
anf  dem  Clavir«.*  Fabricius  war  später  Organist  an  St.  Nikolai  in 
Leipzig  und  mit  H.  Schütz  besonders  befreundet.  Die  Lehrzeit  des 
Fabricius    in   Hamburg    mag   etwa   um    1650   anzusetzen   sein.      Ein 


^  Ehrenpforte,  S.  332.  Anm.  2. 

'  H.  Sehmahl,  Nachrichten  über  die  Entstehung,  Vergrößerung  und  Ueno- 
virnng  der  Orgel  der  St.  Catharinen  -  Kirche  in  Hamburg,  Hamburg  1869,  S.  6; 
^^'  S.  4  f.  die  ganze  Orgeldisposition. 

3  C.  Stiehl,  M.  f.  M.  XVIII.  S.  122. 

*  Leichensermon  auf  Fabricius,  M.  f.  M.  VII.  S.  181. 


230  ^^  Seiffert, 


zweiter  Schüler  war  Matthias  Weckmann,  welcher  vorher  von 
Gio.  Gabrieli  im  Singen  unterrichtet  worden  war.  Auf  Vorschlag  von 
H.  Schütz  gewährte  ihm  Johann  Geoi^  I.  von  Sachsen  jährlich 
200  Thlr.,  um  bei  Jakob  Praetorius  das  Orgelspiel  zu  studieren. 
»Da  er  femer  das  Glück  hatte,  den  angenehmen  Scheidemann  zu 
St.  Cathaxinen  zu  hören,  und  dessen  Vespern  zu  besuchen,  gab  ihm 
solches  Anlaß,  die  prätorianische  £rnstha£ftigkeit  mit  einer  scheide- 
mannischen  Lieblichkeit  zu  mäßigen;  und  also  viele  galante  Erfin- 
dungen einzuführen«.  ^  Da  nun  Weckmann  sogleich  nach  seiner 
Kückkehr  aus  Hamburg  nach  Dresden  als  Hoforganist  angestellt 
wurde  und  als  solcher  schon  1637  in  den  Akten ^  genannt  wird,  so 
müssen  wir  etwa  1635  bis  1637  als  seine  Lehrjahre  in  Hamburg  an- 
nehmen. Im  Jahre  1654  starb  der  Organist  an  St.  Jakobi,  Ulrich 
Cernitz.  Zum  Probespielen  wurde  auch  M.  Weckmann  aus  Dresden 
berufen;  bei  dieser  Gelegenheit  kam  Scheidemann  noch  einmal  mit 
ihm  in  Berührung,  da  er  mit  zu  den  Kunstrichtern  gehörte.  ^ 

Daß  Scheidemann  als  hochgeachteter  Organist  zu  allen  Musikern 
Hamburgs  mehr  oder  weniger  lebhafte  Beziehungen  hatte,  ist  eigent- 
lich selbstverständlich.  Besonders  deutlich  für  uns  treten  diejenigen 
zu  Thomas  Seile,  Johann  Schop  und  Jakob  Prätorius  hervor. 
Thomas  Seile  war  Stadtkantor  und  hatte  die  Kirchenmusiken  zu  leiten : 
Johann  Schop,  als  Violinist  der  Stadt  Hamburg,  hatte  ebenfalls 
mehrfach  amtlich  mit  Scheidemann  zu  thun.  Zu  einem  intimeren, 
mehr  freundschaftlichen  Verkehr  gestalteten  sich  aber  diese  Be- 
ziehungen wohl  deshalb,  weil  sie  im  Hause  von  Johann  Rist,  dem 
Pastor  zu  Wedel,  den  vereinigenden,  gesellschaftlichen  Mittelpunkt 
fanden.^  Hier  versammelten  sich  die  Organisten  und  Kantoren, 
welche  Joh.  Bist  dadurch  näher  getreten  waren,  daß  sie  zu  seinen 
geistlichen  Liedersammlungen  die  Melodien  komponiert  hatten.  Rist^ 
selbst  erzählt  uns:  »da  fand  sich  in  meiner  Kirche  eine  schöne  und 


(  Mattheson,  Ehrenpforte,  S.  394  f. 

^  Kgl.  Hauptstaatsarohiy  zu  Dresden,  Loc.  8297,  Bl.  19  und  22,  enth&lt  anter 
dem  31.  Juli  1637  einen  Paßbrief  fflr  »Matthes  Weckmann,  kursächs.  Musicw 
und  Organist«  nach  Hamburg.  Er  sollte  aus  Hollstein  und  Dänemark  Musikgegen- 
stände  des  Kurfürsten  holen.  Nach  freundlicher  Mittheilung  des  Herrn  Archiv- 
raths  Dr.  Th.  Distel  in  Dresden. 

3  Mattheson,  Ehrenpforte,  S.  396  f. 

*  Vgl.  Dr.  Th.  Hansen,  Johann  Rist  und  seine  Zeit,  Halle  1872,  der  leider 
nur  die  für  die  Musiker  'wichtigen  Stellen  übergeht 

^  »Die  Terschmähete  Eitelkeit  und  die  y erlangete  Ewigkeit.«  .  •  .  Lüneburg 
1658,  Vorrede. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  231 


wohlklingende  Orgel,  worauf  mit  Zuziehung  unterschiedlicher  Kunst- 
reicher Musicanten,  Saitenspieler  und  Singer  aus  der  Nachbar  schafft, 
als  von  Hambui^,  Stade  und  anderen  nahegelegenen  Ohrten,  manches 
herrliches  Stüklein  zum  Lobe  Gottes  und  Erwekkung  einer  wahren 
Christi.  Andacht  von  uns  ist  gemachet.  ...  In  meinem  geringen 
Hüttlein  hatte  ich  femer  meine  Haußmusik,  da  wir  gemeinigUch 
nach  Essens  Gott  dem  Herrn  ein  Lobopffer  zubringen,  uns  nebenst 
den  lebendigen  Stimmen,  auch  der  Geigen,  Lauten,  Flöhten,  In- 
struments oder  Clavicimbel  und  anderer  mehr  mit  solcher  Lust  ge- 
braucheten,  daß  wir  aller  anderen  Ergetzlichkeit  leicht  dabei  ver- 
gessen«. Für  Rist  komponierte  Scheidemann  die  Melodien  zum 
5.  Theil  der  »Neuen  Himmlischen  Lieder«  (Lüneburg  1651);  Rist 
bezeichnet  diese  Kompositionen  als  »Sehr  anmuhtig  gesetzt«.  Von 
Scheidemann  rühren  ferner  die  Melodien  her  zu  folgendem  Werke 
Rists:  »Die  verschmähete  Eitelkeit  und  die  verlangete  Ewigkeit(( 
■  Lüneburg  1658) ;  ihnen  giebt  Rist  das  Prädikat  »so  herrlich  gesetzet«. 
Rist,  welcher  Scheidemann  in  der  Vorrede  zu  den  »Neuen  Himm- 
lischen Liedern«  (1651)  »dieser  hochlöblichen  Statt  (Hamburg)  fur- 
trefflichen  Arionc  nennt,  preist  ihn  in  der  Vorrede  zu  dem  zweiten 
Werke  (1658)  als  »sonderbahre  Zierde  unseres  gantzen  Deutschlands 
und  der  wahren  Evangelischen  Kirchen«.  Rist  besuchte  seine  Freunde 
auch  in  Hamburg  selbst;  bei  ihnen  fand  er  seine  Zuflucht,  als 
schwedische  und  dänische  Kriegshorden  sein  kleines  Pfarrdorf  schwer 
heimsuchten  und  brandschatzten.  So  geschah  es  zuletzt  im  Oktober 
des  Jahres  1658;^  die  »bewegliche«  Kirchenmusik  seiner  »edlen« 
Freunde  erquickte  und  tröstete  sein  bekümmertes  Herz. 

Sehr  besucht  waren  immer  die  Vespergottesdienste  in  der  Katha- 
rinenkirche,  so  oft  Scheidemann  und  Schop  sich  miteinander  hören 
heßen;  die  Lobgedichte  von  Georg  Neumark  ^  und  Ph.  v.  Zesen^ 
legen  Zeugnis  davon  ab.  Beachtenswerth  ist  noch  eine  zeitgenössische 
Charakteristik  Scheidemanns  und  Prätorius ,  »des  alten  wohlgeübten 
Hamburgischen  Jubal«.  Rist  nennt  die  Melodien  des  Jak.  Prätorius 
(4.  Theil  der  »Neuen  Himmlischen,  Lieder«,  1651)  »beweglichst  ge- 
setzet«, die  von  Scheidemann  dagegen  »Sehr  anmuhtig  gesetzt«.    Aus- 


1  Joh.  Rist,  »Bas  alleredehte  Leben  der  ganzen  Welt,«  1663,  S.  158 ff.;  vgl. 
Dr.  Th.  Hansen,  a.  a.  O,  8.  160  f.;  ferner  »Hütarica  ei  Memorahüia  ...  So  sich 
über  das  Lutherische  Gesang -Buch  .  .  .  begeben  und  zugetragen.«  .  .  .  Hrsg.  t. 
Phil.  Schmidt,  Altenburg  1707,  S.  580  ff. 

2  »Poetisch-  vnd  Musikalisches  Lustwftldchen,«  Hamburg  1652,  S.  222. 

3  »Dichterische  Liebesflammen'«  Hamburg,  1651,  S.  5S. 


232  ^^"  Seiffert, 


fuhrlicher  schildert  die  Verschiedenheit  der  Charaktere  Mattheson:^ 
'Diese  beide  wurden  also  von  einem  Meister  unterrichtet,  und  hatten 
täglichen  Umgang  mit  einander;  dennoch  waren  ihre  Gemüths- 
Neigungen  gar  nicht  gleich.  Prätorius  bezeigte  sich  immer  sehr 
gravitätisch  und  etwas  sonderbar;  nahm  seines  Lehrherm  hohes  Wesen 
an;  und  liebte  die  äuserste  Nettigkeit  in  allem  seinen  Thun,  wie 
der  Holländer  Gewohnheit  ist.  Scheidemann  hing^en  war  freund- 
licher, und  leutseeliger ,  ging  mit  jedermann  frey  und  frölich  um, 
und  machte  nichts  sonderliches  aus  sich  selber.  Sein  Spielen  war 
eben  der  Art;  hurtig  mit  der  Faust,  munter  und  aufgeräumt:  in  der 
Composition  wohl  gegründet;  doch  nur  mehrentheils  so  weit,  als  sich 
die  Orgel  erstreckte.  Seine  Sätze  liessen  sich  leicht  spielen.  .  .  . 
Schultzens  Sachen  fielen  schwerer  zu  spielen,  und  wiesen  mehr  Arbeit, 
worin  er  vor  allen  andern  was  voraus  hatte». 

Als  Scheidemanns  Todesjahr  ist  bisher  immer  1654  ang^eben 
worden ;  die  Unrichtigkeit  desselben  hätte  man  aber  schon  an  mehre- 
ren Punkten  erkennen  können.  Scheidemann  ist  noch  1655|^  bei 
der  Wahl  Weckmanns  zum  Organisten  betheiligt;  1658  wurden  seine 
Lieder  für  Rists  Werk  gedruckt;  dieser  spricht  aber  von  Scheide- 
mann keineswegs  wie  von  einem  schon  seit  4  Jahren  Toten.  Dazu 
kommt  ein  anderes  Moment.  Nachfolger  von  Scheidemann  war  Joh. 
Ad.  Reincken;  als  Jahr  seines  Amtsantrittes  wird  1660  angenom- 
men.^ In  einem  1718  aufgesetzten  Memorial^  sagt  aber  Reincken, 
daß  er  »nunmehro  60  Jahr  hiesiger  St.  Catharinenkirche  in  Ham- 
burg als  Organist  treulich  und  unverdrossen  gedienet,c  er  muB  ako 
bereits  1658  die  Stelle  bekommen  haben.  Wenn  nun  Scheidemann 
1654  wirklich  gestorben  ist,  so  müßte  doch  Reincken  schon  früher 
eingetreten  sein.  Glücklicherweise  klären  nun  die  Rechnungsbücher 
noch  die  ganze  Sachlage  auf.  Das  letzte  Yierteljahr^ehalt  erhielt 
Scheidemann  Weihnachten  1662;  das  Gehalt  für  das  Osterquartal 
1063  bekam  die  »Witwe«.  Scheidemann  muß  demnach  zu  Anfang  des 
Jahres  1663  gestorben  sein.  Maria  Scheidemann  bezog  auch  von 
Ostern  1663  bis  Weihnachten  1664  das  volle  Gehalt  weiter.  Hält 
man  damit  Reinckens  Angabe  zusammen,  so  gelangt  man  zu  dem 
Schlüsse,  daß  J.  A.  Reincken  seit  165S  Scheidemann  adjungiert  war. 


1  Ehrenpforte,  S.  329. 

2  Signale  für  die  musiktilisehe  Welt,  Leipzig  1870,  S.  865. 

3  ebendort  S.  818. 

*  Zeitung  fQr  Literatur,  Kunst  und  Wissenschaft  des  Hamburgischen  Corre- 
spondenten,  1889,  nr.  10,  F.  G.  Schwencke,  »J.  A.  Reincken,«  S.  75. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  233 


Job.  Rist^  berichtet  uns  übrigens,  daß  es  Gott  >^gefällig  gewesen^  in 
disem  1663.  Jahr,  unterschiedliche  öhrter,  zufoderst  auch  die  weltbe- 
rühmte Stadt  Hamburg,  mit  klebenden  Seuchen  und  beschwehrlichen 
Krankheiten  heim  zu  suchen«.  Es  ist  wohl  anzunehmen,  daß  durch 
sie  Scheidemann  dahingerafft  wurde.  Das  Verhalten  der  Kirchenvor- 
steher zu  Scheidemanns  Witwe ,  die  nunmehr  mit  ihren  wenn  auch 
schon  zum  Theil  erwachsenen  Kindern  allein  stand,  zeugt  von  der 
großen  Ächtung,  deren  sich  der  Verstorbene  zu  erfreuen  hatte.  Be- 
?or  das  Gnadenjahr  ablief,  richtete  die  Witwe  am  15.  Aug.  1664 
ein  Schreiben  an  den  Kirchenvorstand  mit  der  Bitte  um  eine  Pen- 
sion. »1664,  15.  Oct.  ist  der  Wwe.  des  Heinrich  Scheidemann,  in 
Betrachtung  ihres  sei.  Mannes  geleisteten  Dienst  mit  seiner  weitbe- 
rühmten Orgelkunst,  die  Zeit  ihres  Lebens  50  ^  von  der  K.  St. 
Cath.  als  freiwillige  Gabe  zu  genießen,  zugesicherter.  Es  wird  dem 
aber  hinzugefugt:  «auch  soll  sich  in  künftigen  Zeiten,  Niemand  der 
Nachfolger  dieses  zu  einem  praejudicato  bedienena.  Am  23.  Febr. 
1665  ist  dann  der  Witwe  »auf  nochmaliges  bittliches  Ersuchen  oben- 
stehende freiw^iUige  Gabe  bis  auf  100  äi^.  verbessert  worden,  welches 
sie  mit  dankbarem  gemühte  erkennt«.  In  einem  y^Haur-Contrach 
vom  29.  April  1667  erhielt  sie  100  ^.  jährlich  zur  Wohnung  von  der 
Kirche  zugesichert.  Über  Reinckens  Stellung  im  Jahre  1664  und 
1665  erfahren  wir  ebenfalls  Näheres.  Unter  der  Rubrik  »Mangelei 
Ausgaben«  ist  die  Auszahlung  von  31  J>^.  8  ^  an  Reincken  als 
halbjährliche  »Beliebung«  verzeichnet.  Die  Kosten  für  seine  Stell- 
vertretung bezahlte  also  nicht  die  Witwe.  Zu  Weihnachten  1664 
erhielt  er  aber  wohl  seine  definitive  Anstellung.  Denn  am  20.  Dez. 
d.  J.  werden  ihm  120  ^,  gezahlt,  »weil  die  Wwe.  Scheidemann 
noch  die  vollen  4  Quartale  ausgenossen  hat,«  und  im  Neuen  Jahre 
1665  auch  die  Nebeneinkünfte,  »Pasch-Semmel«  u.  s.  w. 

Ein  Bild  des  »berühmten« ^  Heinrich  Scheidemann,  einen  1652 
zu  Nürnberg  gefertigten  Holzschnitt,  erwähnt  Gerber ;3  dem  Ver- 
fasser ist  es  nicht  gelungen,  einen  Fundort  nachzuweisen.  — 

Was  nun  die  Orgelkompositionen  Scheidemanns  anlangt,  so  hat 
uns  ein  gütiges  Geschick  18  an  der  Zahl  erhalten,  dazu  noch  l  Kla- 
Tierkomposition.     Es  sind: 

1.  »Vater  Vnser  im  Himmelreich,  2  claviefa. 

2.  »Jesu  Du  wollest  Vns  weisen«. 


^  »Neue  Hoch-heilige  Paßions- Andachten,«  Hamburg  1664,  Bedikation. 
-  Vgl.  oben  S.  195;  Josef  Sittard,  Geschichte  des  Musik-  und  Concertwesens 
in  Hamburg,  Altona  u.  Leipzig  1890.  S.  9 ff. 
^  Altes  Lexikon,  Anhang. 


I 

1 


234  ^^^  Seiffert, 


3.  j»In  dich  hab  ich  gehoffet  Herr«. 

4.  AKom  Heyligei  Geist.  2  Ciavier  pedalitent. 

5.  »Nun    bitten    wir    den    heiligen    Geist.      2    Clavier 

pedal,(i 

6.  uToccata  2  Clavier  pedaliter^. 

7.  f>Fuga9. 

8.  »Godt  sey  Gelobet  Vnd  gebenedeyet«. 

9.  "»Alleluia  2  Clavier  pedalitera.  ^ 

10.  »Benedicam  Domino  Orlandusv, 

11.  »J9tb  no6f«  Maria  quid  vidisti  in  via.      Auff  2    Cla- 

vier ti, 

12.  »^    5.    Surrexit    Pastor    Bonus,    Or.    d.    Las:      Auff 

1   Claviem. 

13.  »De   ore  prudentis  Procedit  mel  a  5.   Orldi:   lassust. 

14.  »Maria    Dixit   ad   Angelum    auf   ein    Clavier    Peda- 

liiert,'^ 

15.  TuBenedicam  Hier:  Praet:  Manucditerv.^ 

16.  »Canzon^^ 

17.  »Mensch  wiltu  lehben  säliglich«.    4  Verse.  ^ 

18.  »Lobet  den  Herren,  ad  duplex  manualev. 

19.  »Englische  Mascarada  oder  Jüden-Tantz«.^ 

Was  uns  zunächst  in  diesem  Verzeichnis  auffällt,  das  sind  die 
kolorierten  Stücke,  7  an  der  Zahl,  welchen  Kompositionen  von  Or- 
landus  Lassus  und  Hieronymus  Prätorius  zu  Grunde  li^en.  Wir 
erkennen  hier  an  Beispielen  ganz  deutlich,  wie  Sweelincks  Schüler 
die  Bestrebungen  der  Koloristen  nur  fortsetzten  und  deren  Aus- 
drucksmittel  durch  die  englisch-niederländischen  erweiterten  und  ver- 
mehrten.    Scheidemanns  kolorierte  Stücke   folgen   dem  Prinzip  der 


1  In  »MBcr.  Fol.  K.  N.  208,«  Stadtbibliothek  Lüneburg  (vgl.  W.  JunghsoB. 
a.  a.  O.  S.  30  ff.)  stehen  die  Stücke  1—9;  die  folgenden  in  pMscr.  Fol.  K.  N.  209;« 
die  Toccate  steht  in  beiden  Büchern. 

2  Am  Schluflse  steht  die  Zeitangabe:  f^Coü.  Anno  1637  d.  3.  Martiu8.it 

3  Eine  Kopie  der  Stücke  1 — 15  hat  mir  Herr  Prof.  Spitta  gütigst  sur  Ver- 
fügung gestellt. 

*  Am  Schlüsse  steht:  »Anno  1657  d.  10.  7*^  Äcrift«.« 

s  9 Anno  1648  Hodie  29.  Novemb.« 

6  Vgl  Hortense  Panum,  M.  f.  M.  XX  S.  29;  s.  oben  S.  226  Anm.  1.  Ge- 
nannte Dame  war  so  liebenswürdig,  für  mich  in  Kopenhagen  eine  Kopie  herstellen 
zu  lassen. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  235 


Koloristen,  die  langen  Noten  werden  in  kleinere  zerlegt  und  die 
kürzeren  noch  umspielt.  Hier  sind  aber  die  Figuren  organisch  mit 
dem  Ganzen  verbunden,  ihre  Imitation  beschäftigt  alle  Stimmen. 
Dazu  kommt  als  zweiter  Fortschritt  die  Ausnützung  der  Orgeltech- 
nik.  Zwei  Manuale  und  das  Pedal  sind  beschäftigt.  Innerhalb  eines 
Stückes  wechseln  erstere  sehr  häufig  mit  einander  ab,  und  zwar  nicht 
bloß  bei  den  beiden  Arten  des  Echos,  sondern  auch  —  und  das  tritt 
uns  bei  Scheidemann  zum  ersten  Male  entgegen  —  bei  der  Wechsel- 
chörigkeit.  In  der  Freiheit  der  Orgelbehandlung  geht  Scheidemann 
noch  einen  Schritt  über  Schildt  hinaus.  Dieser  ließ  nur  am  Zeilen- 
ende etwa  die  Oberstimme  einen  toccatenartigen  Gang  nach  unten 
nehmen,  während  die  anderen  Stimmen  einen  Akkord  in  höherer 
Lage  dagegen  aushielten.  Bei  Scheidemann  kommt  es  jetzt  öfter 
vor,  daß  die  Baßstimme  nicht  zugleich  die  tiefste  ist,  sondern  viel- 
mehr eine  Zeitlang  die  nächsthöhere  übersteigt.  Es  steigert  sich  also 
die  Freiheit  des  Pedals  gegen  die  Manuale  und  die  der  letzteren 
unter  einander. 

In  den  freien  Formen  der  Fuge,  Canzone  und  Toccate  zeigt  sich 
Scheidemann  wesentlich  von  Frescobaldi  beeinflußt,  dessen  Musik 
g^en  die  Mitte  des  Jahrhunderts  hin  im  Nordwesten  Deutschlands 
zu  wirken  begann.  Die  Entstehung  der  Canzone  im  Jahre  1657  ist 
ja  bezeugt;  bei  den  übrigen  macht  der  innere  Aufbau  die  Annahme 
einer  ähnlich  späten  Entstehungszeit  wahrscheinlich.  Scheidemann 
hat  weder  die  große  Fantasieform  Sweelincks,  noch  auch  dessen 
Toccatenbehandlung  acceptiert.  Naher  auf  die  Form,  wie  sie  Scheide- 
mann anwendet,  einzugehen,  verbietet  der  Zweck  der  Arbeit;  diese 
Untersuchung  gehört  in  die  Betrachtung  der  zweiten  Periode  der 
*  norddeutschen  Orgelmusik.  Es  genügt  zu  konstatieren,  wie  weit 
Sweelincks  Einfluß  gereicht  hat. 

Von  Scheidemanns  Choralbearbeitungen  hält  noch  eine  an  Swee- 
lincks Form  fest  (nr.  17).  Sie  besteht  aus  4  Versen,  deren  je  zwei 
aber  ineinander  übergehen  und  zusammengehören.  Der  letzte  wird 
toccatenartig  mit  einem  freien  Figurenwerk  beschlossen,  ähnlich  wie 
es  Schildt  that.  Das  Merkwürdige  ist  nur,  daß  sich  zu  diesem  Zweck 
hier  erstens  der  bisherige  dreistimmige  Satz  zum  vierstimmigen  er- 
weitert und  daß  mit  dem  Eintritt  des  Pedals  zweitens  die  linke  Hand 
nach  dem  Oberwerk  geht,  während  die  rechte  auf  dem  Rückpositiv 
bleibt.  Die  äußerliche  Trennung  fällt  aber  ganz  weg  bei  nr.  18; 
hier  sind  zwei  Variationen  eng  miteinander  verknüpft.  Für  unsere 
folgende  Betrachtung  wollen  wir  sie  indessen  auseinanderhalten.  Auf 
diese  Weise  ei^iebt  sich  uns  eine  neue  Grundform,  welche  bei  Schildt 
und  Scheidemann  vermischt  mit  anderen  auftaucht,  welche  aber  in 


236  ^^^^  Seiffert, 


der  zweiten  Periode  sich  mit  in  den  Vordergrund  des  Interesses  der 
norddeutschen  Organisten  drängt.  Die  Formen,  in  denen  sich  Scheide- 
manns Choralbeavheitungen  bewegen,  sind  diese: 

1.  Die  Choralmelodie,  in  der  obersten  Stimme  liegend,  erscheint 
koloriert,  während  die  übrigen  Stimmen  mehr  oder  weniger  nur  das 
harmonische  Fundament  abgeben  (nr.  2);  dasselbe  Verfahren  kennen 
Scheidt  und  Schildt.  Diese  Grundform  der  weltlichen  Liedvariation 
läßt  nun  aber  Scheidemann  viel  tiefer  noch  in  die  Orgelmusik  ein- 
dringen. 

2.  Die  nicht  kolorierte  Melodie  in  der  Ober-  oder  Unterstimme 
wird  durch  frei  gebildetes  Figurengewebe  der  Begleitstimmen  dra- 
piert (nr.  17,  2;  17,  4);  vgl.  Scheidt.  Die  Melodie  wird  nur  durch 
kurze  Pausen  am  Zeilenende  unterbrochen. 

3.  Motettenartige  Einleitung  mit  Hilfe  des  Chorals  und  einer 
freien  Gegenmelodie  vor  dem  Beginn  der  ersten  Zeile  und  kurze 
Zwischenspiele  (nr.  8;  17,   1);  vgl.  Scheidt. 

4.  Der  Choral  liegt  im  Diskant  und  wird  vor  dem  Beginn  der 
einzelnen  Zeilen  von  den  übrigen  Stimmen  motivisch  und  motetten- 
artig eingeleitet.  Die  Melodie  erscheint  aber  koloriert;  sie  sondert 
sich  so  noch  schärfer  von  dem  Stimmengewebe  ab  (nr.  5) ;  vgl.  Schildt. 

5.  Es  beginnt  eine  motivisch  aus  dem  Choral  gebildete  motetten- 
artige Einleitung;  alternierend  setzt  die  Unter-  und  Oberstimme  ein 
mit  der  Choralmelodie.  Sie  wird  vom  Diskant  bald  in  eigentlichen 
Werthen,  bald  koloriert  voi^etragen  (nr.  4) ;  vgl.  Scheidt. 

6»  Die  in  der  Oberstimme  liegende  gänzlich  kolorierte  Melodie 
beginnt,  die  Begleitstimmen  setzen  später  ein.  Während  der  kurzen 
Pausen  am  Zeilenschluß  wird  die  nächste  Zeile  von  irgend  einer 
Stimme  im  voraus  angedeutet  (17,  3).  Scheidemann  vereinigt  somit 
die  nur  kolorierende  oder  nur  motettenartig  einleitende  Behandlungs- 
weise  in  eins. 

?•  Nach  motivisch -motettenartiger  Einleitung  beginnt  der  kolo- 
rierte Choral  in  der  Oberstimme.  In  den  kurzen  Pausen  am  Zeilen- 
ende tritt  nicht  regelmäßig  Imitation  der  folgenden  Choralzeile  ein 
(18,  1).  Hauptsächlich  unterscheidet  diese  Form  sich  von  der  eben- 
besprochenen durch  die  Klaviermäßigkeit  des  Satzes.  Form  6  hält 
die  einmal  gewählte  Stimmenanzahl  fest;  Form  7  dagegen  bedient 
sich  einer  lockeren  Polyphonie.  Die  Stimmen  treten  je  nach  dem 
Bedürfnis  der  Harmonie  ein.  Das  ist  also  ganz  wie  die  Behandlung 
eines  weltlichen  Liedes,  wenn  man  von  der  Einleitung  absieht. 

8.  Die  Melodie,  in  der  Oberstimme  liegend  und  koloriert,   wird 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  237 


nicht  ununterbrochen  vorgetragen,  sondern  durch  echoartigen  Wechsel 
der  beiden  Manuale  etwas  zerstückelt  [18,  2);  vgl.  Schildt. 

9.  Die  Choralfantasie;  vgl.  Scheidt.  Scheidemann  verkürzt  aber 
die  Choralmelodien  nicht  zu  Motiven,  die  sich  vielfach  in  einander 
verweben  und  fortbilden  ließen,  sondern  beläßt  die  einzelnen  Noten 
in  ihrer  Geltung.  Von  den  drei  Elementen,  die  Scheidt  bei  dieser 
Form  benutzte,  schließt  Scheidemann  die  Wechselchörigkeit  aus  und 
statt  der  einfach  akkordischen  Satzweise  koloriert  er  die  Melodie  in 
der  Oberstimme  und  läßt  den  Satz  auf  zwei  Manualen  ausfuhren. 
>r.  1;  3). 

Vergleicht  man  die  Choralbearbeitungen  Scheidts  mit  denen 
Scheidemanns,  so  zeigt  sich,  daß  beide  zwar  auf  einer  gemeinsamen 
Basis  stehen,  welche  durch  Vereinigung  der  akkordischen  Lied- 
Variation  mit  der  kontrapunktischen  Choralvariation  Sweelincks  her- 
gestellt ist,  daß  sie  sich  aber  dadurch  unterscheiden,  auf  welches 
von  beiden  Formprinzipien  sie  den  größeren  Nachdruck  legen.  Im 
Vordergrunde  steht  bei  Scheidt  die  Kontrapunktierung  der  unver- 
änderten Melodie  durch  rhythmisch  bewegtere  Figuren,  welche  die 
zu  Grunde  liegenden  Akkorde  arabeskenartig  umschlingen.  Scheide- 
mann löst  von  dem  akkordischen  Untei^runde  vorzugsweise  die  Ober- 
stimme los,  falls  sie  die  Choralmelodie  vorzutragen  hat,  und  um- 
kleidet sie  mit  allen  Figuren,  welche  ihm  die  Variationstechnik  an 
die  Hand  giebt.  Indem  nun  ferner  Scheidt  an  der  einmal  vorgeschrie- 
benen Ausfuhrungsart  festhält,  Scheidemann  dagegen  die  Mannig- 
faltigkeit der  Orgelbehandlung  zur  Geltung  zu  bringen  sucht  durch 
Wechsel  und  verschiedenartige  Mischung  der  Manuale  unter  einander. 
80  ist  der  Charakter,  welchen  die  Kompositionen  erhalten,  je  nach- 
dem mehr  vokal  oder  instrumental.  Daß  der  instrumentale  Zug  bei 
*  den  mehr  nach  Norden  zu  lebenden  Schülern  Sweelincks  (Schildt, 
Scheidemann]  im  Zunehmen  begriffen  ist,  wollen  wir  fiir  unsere  fer- 
nere Darstellung  im  Auge  behalten. 

Die  eine  Liedvariation  besteht  aus  zwei  unmittelbar  verbundenen 
Einzel  Variationen. '  Neues  läßt  sich  über  die  Formbehandlung:  nicht 
sagen.  Die  Melodie  erscheint  entweder  koloriert,  oder  sie  wird  durch 
Figurenwerk  begleitet.  Der  Satz  ist  klaviermäßig;  auf  strengere  Ein- 
zelformen stoßen  wir  nicht.  Interessant  sind  hier  noch  einige  Finger- 
satzangaben : 


^  Die  Melodie  verläuft  anders  als    die  von  Land  mitgetheiltc ,   Tijdschrift, 
Beel  III,  S.  53  f. 


238 


Max  Seiffert, 


t  3i|  3  4  3  2|  5 


Was  die  Tonalität  anlangt,   so  hält   sich  Scheidemann  in  den 
bescheidenen  Grenzen,  wie  Scheidt  in  seiner  Tab,  Nova,  Er  wendet  an: 

dorisch:  4 mal. 
dorisch  transponiert:   1  mal. 
phrygisch:  Imal. 
lydisch:  3  mal. 
mixolydisch;  3  mal. 

—  von  den  kolorierten  Stücken  sehen  wir  natürlich  ab.  Chroma- 
tische Gänge  wendet  Scheidemann  nur  einmal  an  (nr.  6)  und  zwar 
ebenfalls  auf  dem  Grunde  einer  ruhenden  Harmonie.  Dagegen 
finden  häufiger  chromatische  Einzelfortschreitungen  statt. 

TJber  den  Tastenumfang  der  Orgel,    welchen  Scheidemann  fiir 
seine  Kompositionen  in  Anspruch  nimmt,   läßt  sich  nur  sagen,  daß 

das  Pedal  von  C  bis  c,  das  Manual  bis  a  reicht.  Bei  dem  beschränkten 
Gebrauch  der  Chromatik  läßt  sich  vorläufig  nicht  bestimmen^  wie 
weit  die  Obertasten  reichten.  Es  steht  indessen  zu  erwarten,  daß 
wir  später  mit  Hilfe  der  diplomatischen  Kritik  noch  mehrere  Kom- 
positionen als  von  Scheidemann  herrührend  bezeichnen  dürfen.  In- 
dem wir  dann  gleichzeitig  seine  Beziehungen  zu  Frescobaldi  zu  unter- 
suchen haben,  werden  wir  wenigstens  ein  ftnnähemdes  Bild  von  der 
Wirksamkeit  des  Hamburger  Meisters  erhalten,  der  die  Eigenart  seines 
holländischen  Lehrers,  noch  in  anderer  Weise  als  Scheidt  und  Schildt, 
in  der  deutschen  Orgelmusik  zur  Geltung  brachte. 


J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler.  239 


o. 


Jakob  Prätorius  in  Hamburg,  Paul  Siefert  in  Danzig. 

Von  Paul  Siefert  ist  bis  jetzt  keine  Oigelkomposition  zum  Vor- 
schein gekommen.  Er  kommt  also  für  unsere  Darstellung  nicht  in 
Betracht.  Dagegen  ist  eine  Reihe  von  zum  Theil  eigenhändigen 
.Vktenstücken  Sieferts  erhalten,  die  uns  die  eigenartigen  musikalischen 
Verhältnisse  Danzigs  in  hellem  Lichte  zeigen.  Auf  jene  näher  ein- 
zugehen, wird  das  Ziel  einer  kleinen  Spezialuntersuchung  sein. 

Noch  trauriger  steht  es  mit  unserer  Kenntnis  über  Jakob  Prä- 
torius. Trotz  Eitners^  und  Schwenckes^  Bemühungen  gelingt  es 
nicht,  sämtliche  Differenzpunkte  aufzuklären.  Da  nun  ferner  die 
Kirchenakten  selber  hartnäckig  die  Auskunft  verweigern,  welche  sie 
über  Scheidemann  gnädig  gewährten,  so  wäre  es  vergebliche  Mühe, 
durch  Kombinationen  und  Konjekturen  die  Lücken  ausfüllen  zu 
wollen  und  so  einer  etwaigen  %meuerten  Quellenuntersuchung  den 
Weg  zu  verdunkeln.  Wir  beschränken  uns  also  auf  ein  paar  kurze 
Worte  über  Prätorius'  bis  jetzt  einzige  Orffeikomposition,  eine  Choral- 
bearbeitung »Christum  wir  sollen  loben  schon«. ^  Der  Choral  liegt 
im  BaB,  die  einzelnen  Töne  sind  zu  ganzen  Noten  gedehnt.  Bevor 
jede  Zeile  einsetzt,  wird  sie  von  den  Oberstimmen  eingeleitet.  Dies 
geschieht  aber  in  verschiedener  Weise.  Am  Anfang  steht  eine 
motettenartige  Einleitung,  aus  der  ersten  Zeile  gebildet.  Die  zweite 
ZeUe  wird  motivisch  verkürzt  und  so  von  den  Oberstimmen  nach 
einander  vorgetragen.  Bevor  die  dritte  Zeile  im  Baß  ertönt,  wird 
sie  einmal  im  Tenor,  dann  im  Diskant  zu  Gehör  gebracht  unter  Be- 
gleitung von  zwei  frei  gebildeten  Motiven.  Die  letzte  Zeile  wird 
durch  ganz  freie  Figuren  eingeleitet.  Das  Stück,  in  phrygischer  Ton- 
art stehend,  nimmt  einen  durchaus  ruhigen  und  gemessenen  Verlauf, 
der  gegen  die  Lebendigkeit  und  »Hurtigkeit«  Scheidemanns  sehr  grell 
kontrastiert. 


1  B.  Eitner,  Jakob  Fr.  und  seine  Familie,  M.  f.  M.  III  S.  65 £P,  sucht  mit 
bibliographischen  Mitteln  zur  Klarheit  zu  gelangen. 

«  F.  G.  Schwencke,  Signale  für  d.  musik.  Welt,  Leipzig  1870,  S.  801—803, 
S65,  benutzte  angeblich  aus  alten  Akten  stammende  Nachrichten. 

'  Mscr.  FoL  K.  N.  209.  Lüneburg.  S.  die  Notenbeilagen. 


240  ^*^  SeiflFert, 


Überschauen  wir  hier  am  Schlüsse  der  ersten  Periode  der  nord- 
deutschen Orgelmusik  im  17.  Jahrh.  den  Entwickelungsgang,  den 
diese  genommen  hat,  so  muß  freilich  der  halbmythische  Nimbus, 
welcher  unsere  Meister  bis  jetzt  in  den  musikgeschichtlichen  Dar- 
stellungen umgeben  hat,  schwinden.  Sweelincks  Kunst  war  eng  ver- 
knüpft mit  der  der  Engländer  und  Italiener,  sie  war  ein  einheitliches 
Produkt  beider.  Bei  ihm  fanden  seine  deutschen  Schüler,  welche 
in  den  Kunstanschauungen  der  Koloristen  aufgewachsen  waren,  ein 
höher  entwickeltes  Stadium  derselben  vor.  Sie  kehrten  in  ihre  Hei- 
math zurück,  erfüllt  von  den  neuen  Ideen,  die  jeder  in  seiner  Weise 
für  die  Kunst  weiter  zu  entwickeln  sich  bestrebte.  Sollte  es  aber 
dem  Verfasser  gelungen  sein,  jenes  Halbdunkel  durch  ein  anschau- 
licheres und  lebenswarmes  Bild  jener  Zeit  und  jener  Männer  ersetzt 
zu  haben,  so  wäre  dies  der  beste  Lohn,  welchen  er  für  seine  Arbeit 
selbst  erwartete. 


Drnckfehler« 

S.  188»  Zeile  5  von  unten:  lies  1622  statt  1612. 
-    196,      -      2     -      oben:     -     Fering  statt  Sering. 


241 


Mnsik-  Beilag^en/^ 

1. 

J.  P.  Sweelinok,  Fantasia  k  4.         („,„,  ,„i  ^^^  j^y^^  ,„i  ,^  ^^ 


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fladliehe  Verteiinng^seiehen  n.  8.  w.  sind  durch  Klammem  kenntlich  gemacht. 


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(Mscr.  des  Graaen  Klosters.) 


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3. 

Melchior  Schildt,  Hertilieh  lieb  hab  ieh  dich  o  mein  Herr, 

ad  manuale  duplex. 

(K.  N.  209.  Lünebarg.  Stadibibliotk) 


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tf  elcfaiOT  Schildt,  Allein  Gott  in  der  Hohe  «e;  Ehr. 

(K.  N.  20e.  Lüneburg.  StKdtbibllolk.) 


258 


5, 

Jakob  Prätorius,  Christum  wii  sollen  loben  schon. 

(K.  N.  209.  Lttnebarf .  Stadtbiblioth.) 


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260 


über  die  handschriftliche  Überlieferung 
des  Dialogus  Domni  Oddonis. 

Von 

Peter  Wagner. 


Dem  Dialogus  de  Musica  des  Oddo,  wie  ihn  Gerbert  Script.  I. 
252 ff.  abdruckt,  liegen  folgende  Handschriften  zu  Grunde:  1]  ein 
Corf.  San.  Blasianus;  2)  ein  Cod,  San.  Emmeranensis ;  3)  ein  Cod. 
ÄEbnantensis ;  4)  ein  Cod.  Vtennensts.  Die  Stadtbibliothek  in  Trier 
besitzt  nun  in  einem  Sammelband,  der  die  Signatur  1923  trägt,  neben 
Traktaten  theologischen,  philosophischen  u.  s.  w.  Inhaltes  auch  eine 
Handschrift  aus  dem  14.  Jahrb.,  welche  denselben  Dialogus,  aber 
nur  von  Gerb.  254b,  Zeile  5  an,  enthält.  Zuerst  hat  auf  diese  Hand- 
schrift aufmerksam  gemacht  P.  Bohn  in  den  Monatsheften  für  Musik- 
geschichte 1880,  No.  2.  Derselbe  begnügte  sich  aber  damit,  einige 
Varianten  aus  derselben  anzugeben.  Im  Folgenden  soll  der  Versuch 
gemacht  werden,  ihren  Werth  für  die  Herstellung  des  originalen 
Textes  des  Dialogus  festzustellen. 

Es  wird  jedoch  vorher  nöthig  sein,  einiges  über  die  Gerbertschen 
Handschriften  zu  bemerken,  soweit  dies  durch  das  von  Gerbert  mit- 
getheUte  handschriftliche  Material  ermöglicht  ist.  Wir  beginnen 
mit  dem 

Cod.  San.  Blasianus.     Derselbe  hat  nicht,  wie  die  übrigen  Codd. 

den  Titel:   Dialogus,    sondern   überschreibt:    Inciptt  Musica   Domni 

Oddonis,  vielleicht  aus  dem  Grunde,  weil  in  dieser  Handschrift  auf  den 

Dialogus  unmittelbar  ein  andrer  Traktat  folgt,   (der  auch  von  Gerbert 

265  ff  mitgetheilt  ist)  und  zwar  ohne  Titel.     Musica  wäre  demnach 

i       ia  dem  Cod.  San.  Blas,  der  Gesamttitel  für  die   beiden  dem  Oddo 

I      lugeschriebenen  Abhandlungen.     Gerbert  stützt  sich  in  seiner  Aus- 

I       gäbe  vorzüglich  auf  diesen  Cod.  und  dies  mit  Recht,  denn  er  ist  wohl 

der  älteste,  nach  Gerbert  stammt  er  aus  dem  12.  Jahrh.    Er  bietet  auch 

im  Ganzen  den  echten  Text. 

Nur  singuläres  Interesse    kommt  den  andern   Codd.   zu.     (Ihre 

1S91.  18 


262  ^®*®^  Wagner, 


Lesarten  sind  von  ^Gerbert  unter  dem  Texte,  Auslassungen  und  Zu- 
sätze auch  innerhalb  des  Textes  angegeben).  So  ist  offenbar  Cod, 
Admont,  (XIII.  Jahrh.)  vielfach  interpoliert.  Darauf  deutet  schon 
der  Titel:  Incipit  dialogus  de  Musica  arte  Domni  Ottonis  primi  Clu-- 
niacensis  coenobü^  quem  Enchiridion  appellavit^  ob  brevitatem  viiae  hin. 
Die  Attribute,  welche  der  Dominus  Oddo  hier  erhält,  sind  —  ihre 
Richtigkeit  zugegeben  —  nur  deshalb  hinzugefugt  worden,  weil  der 
Schreiber  das  Bedürfniß  hatte,  über  den  Autor  mehr  zu  sagen,  als 
die  anderen  wußten.  Die  Frage,  welche  Bewandtniß  es  mit  dem 
»Endiridion«  hat  (vergl.  auch  den  Schluß  des  Dialogus  im  Admont.) 
kann  ich  mit  den  mir  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  nicht  lösen. 
Schon  früh  muß  der  Dialogus  diesen  Titel  erhalten  haben,  wenn 
anders  er  es  ist,  auf  den  Guido  am  Schlüsse  seiner  Epistola  ad 
Michaelem  Monachum  (Gerb.  II.   50b)  hinweist. 

Spätere  Zusätze  sind  die  im  Admontensis  sich  findenden  Hexameter, 
welche  die  Finales  und  den  Ambitus  der  einzelnen  Modi  angeben. 
Gerbert  hat  sie  unter  dem  Texte.  Wohl  ein  Magister  hat  sie  zu  Nutz 
und  Frommen  seiner  Schüler  gemacht.  Daß  sie  ursprünglich  nicht 
zum  Dialogus  gehören,  geht  auch  daraus  hervor,  daß  sie  nicht  immer 
mit  diesem  übereinstimmen.  So  erlaubt  der  Dialogus  für  den  sextus 
modus  (Gerb.  261  rechts  unten)  ein  Hinaufgehen  zur  undectma; 
der  entsprechende  Hexameter  im  Admont  erlaubt  nur  den  Ton  c. 
Ebenso  sind  die  Zusätze  zur  Monochordeintheilung  (S.  254  a)  späteren 
Ursprungs.  Der  erstere  mit  Tonos  autem  omnes  beginnende  ist  über- 
flüssig, da  von  der  novenaria  divisio  schon  vorher  die  Kede  war;  der 
zweite  mit  ideoque  una  earum  beginnende  ist  erklärende  Bemerkung 
eines  Schreibers.  Über  die  beiden,  bei  Gerb.  S.  262  und  263  rechts 
unten  angeführten  Varianten  werden  wir  gleich  noch  zu  reden  haben. 

Die  anderen  Handschriften  Gerberts  sind  ohne  besondere  Be- 
deutung. 

Nun  zu  der  Trierer  Handschrift;  ich  bezeichne  sie  mit  Cod, 
Trev,  Wie  eingangs  bemerkt,  enthält  sie  nur  den  zweiten  Theil  des 
Dialogus,  die  Lehre  von  den  Modi. 

Geschrieben  ist  sie  von  einem  außerordentlich  flüchtigen  Schrei- 
ber. Viele  Endungen  sind  falsch  geschrieben,  manche  Worte  stehen 
zweimal,  andere  sind  ausgelassen;  zuweilen  scheint  es  auch,  als  ob 
der  Schreiber  seine  Vorlage  selbst  nicht  habe  lesen  können.  Nicht 
selten  fehlt  das  M  (magister)  oder  D  (discipulus).  An  einigen  Stellen 
finden  sich  Zusätze,  die  auf  den  ersten  Augenblick  als  späteren  Ur- 
sprunges zu  erkennen  sind.  So  fügt  z.  B.  die  Handschrift  bei  Er- 
wähnung der  Finales  und  der  durch  sie  gekennzeichneten  Modi,  so 
oft   ein   griechisches  Wort,   wie   deutei^us^   tritus   u.  s.  w,  vorkommt, 


über  die  handschriftliche  Überlieferung  des  Dialogus  Domni  Oddonis.   263 


jedesmal  hinzu:  i.  e,  secundttSy  teriius  u.  s.  w.  wenn  dieselbe  Erklärung 
auch  schon  vorher  gegeben  war. 

Von  allen  bekannten  Handschriften  des  Dialogus  unterscheidet  sich 
Cod,  Trev.  durch  consequente  Umstellung  von  Worten  oder  Wort- 
Terbindungen.  Hält  man  die  Lesart  des  Cod.  Trev.  neben  die  Ger- 
bertsche,  so  wird  man  kaum  einen  längeren  Satz  finden,  in  dem  nicht 
irgend  etwas  umgestellt  ist.  Besonders  gilt  dies  vom  Yerbum.  Bei 
Greibert  steht  es  meist  am  Ende  der  Sätze,  in  Cod.  Trev.  meist  in 
der  Mitte.  Häufig  bezieht  sich  die  Umstellung  auch  auf  Substantiv 
und  dazu  gehöriges  Adjektiv.  Hier  mag  auch  erwähnt  werden,  daß, 
wenn  Grerbert  einen  Satz  mit  einer  der  Conjunktionen  vero,  autem, 
sedu.  s.  w.  beginnt,  der  Cod.  Trev.  fast  regelmäßig  eine  der  anderen 
hat.  Ich  glaube  nicht  zu  übertreiben ;  wollte  ich  alle  einzelnen  Bei- 
spiele fiir  die  Umstellung  anfuhren,  so  müsste  ich  den  ganzen  Dialogus, 
soweit  ihn  Cod.  Trev.  bietet,  abschreiben.  Damit  jedoch  der  Leser 
sich  eine  Vorstellung  von  dem  Umfange  machen  kann,  in  welchem 
diese  Umstellung  zutrifft,  setze  ich  einen  beliebigen  Passus  aus  Gerbert 
her  und  füge  die  Lesart  des  Cod.   Trev.  bei. 


Gerb.  I,  258a,  Zeile  7  von  unten: 

At  vero  in  humiUoribus  cantibtiSy 
ut  in  secundo,  quarto  et  sexto,  et 
octavo,  nulla  depositio  alicuius  vocis 
anteßnem  invenietur,  qtcae  adfinem 
ipwm  secundum  sex  praediotas  con- 
sonantias  non  iungatur.  Elevatio 
vero  eorum  afine  secundum  easdem 
comonanticts  ad  quinque  voces  pro- 
greditur.  Aliquando  autem  ad 
sextam  usque  .procedit.  In  quibus 
autem  vocibus  omnium  modorum 
cantus  secundum  praesentem  usum 
ioepius  incipianty  in  eorum  for- 
mtdis  pervidebis. 


Cod.  Trev. 

Sed  in  humilioribtis  cantibus  nulla 
depositio  alicuius  vocis  invenietur 
anteßnem,  quae  non  iungatur  ad 
ipsum  finem  secundum  sex  prae- 
dictam  (!)  consonantia  (!)^  ut  in 
secundo,  quarto,  sexto,  octavo  tono. 
Sed  elevatio  eorum  progreditur  a 
fine  ad  quintam  vocem  secundum 
easdem  consonantias.  Sed  ali- 
quando procedit  usque  ad  sextam 
vocem.  Sed  in  quibus  vocibus  can- 
tus omnium  modorum  saepius  inci- 
piat  secundum  praesentem  usum, 
pervidebis  in  formis  eorum. 


Wie  zu  ersehen,  hat  Gerbert  im  letzten  Satz  des  Passus  das 
'^ ori  formula,  Cod.  Trev.  forma;  bei  Aufzählung  der  einzelnen  Modi 
und  Beschreibung  ihres  Ambitus  dagegen  spricht  Cod.  Trev.  von  den 
formulae  modorum,  Gerbert  nennt  ^\e  formal. 

Mit  dieser  Umstellung  steht  Cod.  Trev.  allein  da.  Was  die  Um- 
stellung des  Verbum  angeht,  so  könnte  man  vielleicht  an  die  Eigen- 
lieit  der  neueren  Sprachen  gegenüber  den  antiken  denken,  welch 
«rstere   das  Verbum  meist  in  die  Mitte  stellen;   der  Mönch  aus  dem 

IS* 


264  Peter  Wagner, 


Kloster  St.  Matthias  bei  Trier  (aus  dem  der  gaaze  Sammelband  laut 
Bemerkung  auf  der  ersten  Seite  desselben  stammt),  der  diese  Hand- 
schrift verfertigte ,  war  vielleicht  ein  Franzose,  oder  schrieb  von  einer 
in  einem  französischen  Kloster  hergestellten  Handschrift  ab. 

Verwandt  mit  Cod,  Trev,  ist  Cod.  Admontenais.  Dies  geht  aus 
folgendem  hervor:  Bei  Gerbert  262a  heißt  es  vom  modus  septimus: 
Notandum  est  autem^  quodsi  ei  prima  nona  h  concedaiur^  nihil  res  tat, 
nisi  ut  a  sexta  ad  eam  diatessaron  fiat,  eritque  per  omnia  primus  etc. 
Cod.  Adm.  fiigt  hinter  nihil  restat  fiisi  einiges  hinzu,  so  daß  der  Satz 
folgenden  Wortlaut  hat:  nihil  restat,  nisi  ut  a  duodecima  e  ad  eam 
diatessaron  fiat  et  ad  semitam  (!)  contrahatur,  eritque  per  omnia  pri^ 
mus.  Cod.  Trev,  dagegen  schreibt:  mhil  restat,  nisi  duodecima  e 
contrahatur  semitonio,  ut  diatessaron  fiat  ad  eam  i,  eritque  per  omnia 
primus.  Was  die  Lesart  des  San.  Blas,  nisi  ut  a  sexta  ad  eam  dia- 
tessaron fiat  angeht ,  so  giebt  sie  keinen  rechten  Sinn ;  wenigstens 
ist  nicht  einzusehen,  warum  die  eventuell  entstehende  Quarte  f — b 
ein  Hinderniß  sein  sollte,  das  i  in  !^  zu  vertiefen.  Richtig  ist  wohl 
die  Lesart  des  Cod.  Admont.  und  des  Trev.  Ihr  Sinn  ist  klar;  ge- 
meint ist,  daß  bei  Einführung  des  b  unter  Umständen  des  Tritonus 
b — e  wegen  letzterer  Ton  um  einen  Halb  ton  vertieft  werden  muß. 
So  entsteht  eine  Leiter  gabcdefg;  um  den  Triton  zu  ver- 
meiden, wird  jedoch  das  e  in  es  vertieft.  Dadurch  wird  aber  nicht 
der  Charakter  der  Leiter  geändert,  ebensowenig,  wie  ein  sporadisches 
b  statt  h  die  Tonalität  des  primus  altericrt.  Mit  Recht  kann  also 
der  Autor  von  obiger  Tonreihe  sagen,  sie  sei  per  omnia  primus.  Die 
ursprüngliche  Lesart  wird  gelautet  haben :  nihil  restat,  nisi,  ut  a  duo- 
decima e  ad  eam  (b)  diatessaron  fiat,  »e«  (so  statt  des  e()  semitonio  con- 
trahatur, wie  Cod.  Adm.  nahe  legt.  Die  Lesart  des  Cod.  Trev,  ist 
wieder  durch  Umstellung  entstanden. 

Daß  durch  unsere  Interpretation  der  Ton  es  gestattet  wird,  darf 
nicht  abschrecken;  denn  noch  andere  nicht  minder  auffällige  Dinge 
stehen  in  unserem  Dialogus,  die  noch  gar  nicht  genug  gewürdigt 
sind.  Ich  verweise  nur  auf  die  Intervallangabe  des  Quintus  modus, 
von  dem  es  in  allen  Handschriften  heißt:  habebit  ergo  per  ordinem 
tonos  duos  et  semitonium,  ac  deinde  ires  tonos  et  ultimum  semitonium 
in  suo  fine.  Hier  wird  also  für  den  Quintus  der  Ton  b  als  wesent- 
lich erklärt.  Dem  entsprechend  hat  auch  Cod  Trev.  in  dei/ormula 
quinti  modi  nicht  b,  sondern  einfach  K 

Noch  ein  anderesmal  stimmt  Cod.  IVev.  mit  Cod.  Admont. 
überein,  bei  der  Antiphonenangabe  zum  octavus  modus  (Gerb.  263a). 
Cod.  Admont.  und  Trev.  haben  andere  Antiphonen  als  Cod.  San. 
Blas.;  nämlich 


Über  die  faandBchriftliche  Überlieferung  des  Dialogus  Domni  Oddonis.   265 


Cod,  Admont, 
für  C:  no8  qui  vivimus;  dum  ve- 
nerit  Paraclttus; 

-  D:  Spiritus  Domini; 

-  E:  ornaverunt  fadem; 

-  F:  j'ucuhdare; 

-  G:  in  üla  die\ 

-  a:  completi  sunt; 

-  c:  ecce  ancüla  Domini, 


Cod.  Trev. 
dum  venerit  Paraclitus: 

virgines  Domini; 

hodie  Maria  virgo\ 
Spiritus  sanctus; 
completi  sunt; 
ecce  ancilla  Domini, 


Nur  beim  octavus  modus  führt  Gerbert  aus  dem  Cod,  Admont. 
andere  Antiphonen  an;  Cod.  Trev.  weicht  auch  bei  den  andern  modi 
Ton  den  Antiphonenangaben  Gerberts  ab.  Ich  möchte  aus  dei  Über- 
einstimmung des  Cod.  Admont.  mit  Cod.  Trev.  beim  octavus  modus 
Teimuthen,  daß  auch  bei  den  anderen  modi  beide  Cod.  übereinstim- 
men, d.  h.  daß  in  Cod.  Admont.  auch  für  die  modi  außer  dem  octavus 
theilweise  andere  Antiphonen  genannt  seien,  als  die  bei  Gerbert  an- 
gefahrten. Übrigens  sind  in  Cod.  Trev.  sämtliche  Antiphonenanfänge 
mit  darüber  gesetaten  Buchstaben  notiert,  deren  Steigen  und  Fallen 
die  Bewegung  der  Melodie  angiebt.    Bei  Gerbert  fehlen  sie  überall. 

Zwei  Interpolationen  hat  Cod.  Trev.  Die  erste  zu  Gerb.  261a, 
Zeile  19.  Hinter  secundi  erit  modi  wird  hinzugefugt:  Ita:  ndrcum- 
dantes;  Deus  meus,  ad  te  de  luce  vigilo;  assumpsit  Jesus  discipulos 
suos^.  Et  plures  aliae.  Es  ist  dies  aber  sicher  eine  Interpolation, 
denn  im  ganzen  Dialogus  werden  Antiphonen  erwähnt  nur  bei  den 
Principia  der  einzelnen  modi.  Nur  an  einer  Stelle,  Gerb.  261a, 
Zeile  12  und  13  finden  sich  zwei  Antiphonen  angeführt,  ohne  daß  von 
den  Principia  die  Rede  ist;  aber  auch  diese  sind  interpoliert  (Cod. 
Trev.  hat  sie  übrigens  nicht),  denn  von  den  im  Zusammenhang  an- 
geführten Fällen  wird  ohne  ersichtlichen  Grund  nur  dieser  eine  durch 
Beispiele  erläutert. 

Einen  zweiten  Zusatz  bringt  Cod.  Trev.  zu  id.  Zeile  21.  Dort 
lautet  das  Ganze:  Sed  nos  magis  secuti  sumus  communem  usum  et 
sonoriiatem  cantuum ,    i^quia  bona  sonoritas  ac  necessitas  frangit  regu- 

lOITlff. 

Bei  den  formen  modorum  (Cod.  Trev.  nennt  sie,  wie  oben  be- 
merkt, permanent  /ormulae)  fehlen  in  Cod.  Trev.  die  Intervallbe- 
zeichniuigen  t  VLnd  s]  ebenso  am  Ende  des  Dialogus  die  Worte:  quod 
fnonsirat  haec  ßgura^  mit  der  darauffolgenden  Tabelle. 

Einen  besonderen  Werth  hat  Cod.  Trev.  deshalb,  weil  er  an 
emigen  Stellen  allen  anderen  Handschriften  gegenüber  die  richtige 
Lesart  bewahrt  hat.     Es  sind  das  folgende: 


266 


Peter  "Wagner. 


Cod,  Trev.i 
ad  quintam  vocem; 


aucttia 
comprobari 
Unde 
itaque  quae 


Geibeit : 
258a    letzte    Zeile:    ad    quinque 

voces  (cf.  S.  258  b,  Zeile  1:  ad 

sextam  vocem). 
260b,  Zeile  5   von  unten:   acuto 
261  b,  Zeile  15:  reprobare 
262b,  Zeile  7:   Unum 
263  b,  Zeile  1 1  von  unten :  quae  ita    \ 

Als  bemeikenswerthe  Variante,  ebne  sie  für  echt  erklären  zu 
wollen,  führe  ich  an:  S.  262a,  Zeile  7  hat  Gerbert:  Sed  hoc  inveniri 
maztme  in  antiphonia  raro  contingiU  wo  Cod.  Trev.  hat:  Sed  hoc  de- 
cachordum  raro  contingity  invenitur  maxitne  in  antiphonis. 

Cod.  Trev,  nimmt,  das  haben  die  vorausgegangenen  Ausführungen 
ergeben,  innerhalb  der  bekannten  Handschriften  des  Dialogus  eine 
singulare  Stellung  ein;  gewisse  Dinge  unterscheiden  ihn  vor  allea 
anderen  Handschriften;  er  scheint  auf  eine  Handschrift  zurückzu- 
gehen, die  mit  keiner  der  bekannten  wenigstens  direkt  etwas  zu  thun 
hat.  Er  bildet  gewissermaßen  eine  Familie  für  sich.  Ist  seine  Ver- 
sion auch  vielfach  entstellt,  zuweilen  interpoliert,  so  hat  er  dennoch 
an  einigen  Stellen  die  bessere  Lesart  erhalten ;  und  letzterer  Umstand 
dürfte  wohl  meine  Bemerkungen  über  ihn  rechtfertigen. 


Kritiken  und  Referate. 


Kcispar  Jacoh  Bxschoff^  Haimonielehre.  Mainz,  J.  Diemer,   1890. 
YI  und  475  Seiten  gr.  8.     Mit  über  1200  Noten-Beispielen. 

Das  Buch  Bischoffs  zerfällt  in  zwei  Hauptpartieen  von  sehr  ungleichem  Schnitt 
und  aehr  ungleichem  Werth:  eine  Einleitung  von  etlichen  20  Seiten,  und  den 
ganzen  übrigen  Rest.  Die  Einleitung  ist  so  merkwürdig,  daß  ich  den  Leser  längere 
Zeit  bei  ihr  aufhalten  muß.  Sie  enthält  Alles  das,  was  der  Verleger  in  seinem 
Prospect  »neue  Bahnen«  nennt.  Referent  gesteht  seine  angeborene  Abneigung  gegen 
diese  Spitzmarke  ein,  und  glaubt  in  Folgendem  zeigen  zu  können,  daß  die  Stimme 
der  Natur  ihn  auch  diesmal  nicht  irre  geleitet  hat. 

Bisehoff  beginnt,  wie  schon  Mancher  vor  ihm,  mit  Bildung  des  Dominant- 
Septaccordes  aus  den  Theiltönen.  Wenn  dies  nun  auch  das  Ziel  überschießt,  in- 
d^n  nicht  blos  der  Dreiklang  als  Basis  aller  Harmonie  und  Tonart  heraus- 
geschält wird,  so  freuen  wir  uns  doch,  dem  Verfasser  als  ehrlichem  Harmoniker 
zu  begegnen.  Ist  es  auch  falsch,  daß  die  Natur-Sept,  der  Ton  »',  im  harmonischen 
Systeme  als  Orundton  der  Unterdominante  zu  verwenden  sei  —  leider,  will  ich  hin- 
zusetzen, da  er  wunderbar  klingt  ^  so  war  doch  zu  hoffen,  daß  der  Verfasser  auf 
diesem  Wege  fortschreiten  würde;  ja  auch  er  selbst  hat  das  ursprünglich  gehofft, 
denn  er  schließt  den  ersten  Satz  mit  dem  richtigen  Worte :  »All'  unsere  Tonkunst 
beruht  hierauf«. 

Nun  aber  verläßt  er  schon  zu  großer  Überraschung  des  Lesers  den  kaum  be- 
tretenen Weg,  und  fahrt  so  fort: 

•Schon  2000  Jahre  vor  unserer  Zeitrechnung  war  dieser  von  der  Natur  gegebene 
Accord  den  Ägyptern  bekannt.  So  schön  derselbe  in  den  sich  nach  und  nach  auf- 
reihenden Tönen  erklingen  mag,  immerhin  bleibt  er  ein  Accord,  der  das  Verlangen 
nach  einem  darauffolgenden  anderen  Accorde  in  uns  erregt,  nach  einem  Accorde, 
der  das  »Hangen  und  Bangen«  des  ersten  Accordes  zu  einem  Ziele  der  Befriedigung 
fOhre.  Die  Natur  gab  uns  auch  nicht  den  geringsten  Anhaltspunkt,  dieses  Sehnen 
nach  einer  Auflösung  zu  stillen«. 

»Es  war  dem  menschlichen  Scharfsinne  vorbehalten,  die  Lösung  aufzufinden, 
die  so  lange  unterbleiben  mußte,  als  verbindende,  dem  Wesen  des  Naturaccordes 
entsprechende  Töne  zwischen  den  Klärigen  desselben  nicht  gefunden  waren.  Das 
Auffinden  dieser  Zwischentöne  nun  ist  das  unsterbliche  Verdienst  des  altgriechischen 
Volkes,  dem  man  ohne  Übertreibung  die  Erfindung  unserer  heutigen  Tonkunst  zu- 
sehreiben könnte«. 

.  Danach  schiene  es  nun ,  als  ob  die  Ägypter  blos  aus  den  Tönen  des  Domi- 
nant-Septaccordes  ihre  Melodien  gebildet ,  also  nur  eine  vierstufige  Terzreihe  zur 
Verwendung  gehabt  hätten ;  ihre  Melodien  müßten  danach  eine  vergnügliche  Ähn- 
lichkeit mit  dem  »Jodler«  gehabt,  und  allerdings  wie  ein  sehnsüchtiges  Fragezeichen 


268  Kritiken  und  Referate. 


geklungen  haben.  Die  Pyramidengräber  sind  dunkel,  und  die  Hierogl^rphen 
schweigen,  darum  kann  man  über  die  Musik  der  Ägypter  frischweg  behaupten, 
was  man  für  gut  findet. 

Diese  Annahme  ist  aber  psychologisch  wie  historisch  ebenso  falsch,  wie  die 
Behauptung,  daß  die  Griechen  (wann?)  durch  Ausfüllung  der  Lücken  die  Ä^jrpter 
Tom  Hangen  und  Bangen  befreit,  und  so  gleich  die  ganze  siebenstufige  Tonreihe 
entdeckt  haben  sollen.  Warum  haben  aber  die  Griechen,  die  für  ihren  Scharf- 
sinn belobt  werden,  so  bald  darauf  die  siebenstufige  Skala  wieder  aufgegeben,  um 
sie  erst  viel  später,  und  recht  mühsam  aus  Zusammenfügung  von  Tetrachorden, 
neu  zu  bilden?  Ich  will  sonst  ihre  unsterblichen  Verdienste  ^-  gerade  um  die 
Entwickelung  der  Tonkunst  —  gewiß  nicht  schmälern:  in  diesem  Falle  jedoch 
hätten  sie  ihre  Sache  auffallend  schlecht  gemacht. 

In  den  oben  angeführten  Sätzen  giebt  es  noch  Einiges,  was  unser  Bedenken 
erregt  So  z.  B.  kann  ich  nicht  Tcrstehen,  warum  die  gütige  Natur  die  Mensch- 
heit so  lange  mit  dem  unaufgelösten  Septaccorde  im  Stich  gelassen  hätte»  Ist 
denn  das  Auffinden  des  Auflösungs-Accordes  nicht  auch  eine  Gabe  der  Natur? 
Und,  giebt  uns  denn  diese  Auflösung  wirklich  alle  sieben  Stufen?  Ich  bringe 
es  hierbei  nur  auf  sechs.  Und  was  soll  es  heißen,  den  menschlichen  Scharfisinn 
in  einen  solchen  Gegensatz  gegen  die  Natur  zu  stellen?  Auf  der  Titelvignette 
des  Buches  ist  doch  deutlich  zu  lesen:  i>Natura  magistra  magistrorumt.  Danach 
hätte  der  Verfasser  handeln  sollen. 

Zögernd  folgen  wir  ihm  nun,  denn  wir  fühlen  uns  unsicher  unter  seiner  Lei- 
tung. Der  gute  wenn  auch  nicht  ganz  richtige  Anfang  ist  nun  YöUig  aufgegeben, 
und  wir  sehen,  wie  er  wieder  bei  den  »alten«  Griechen  einsetzt,  um  uns  im  besten 
Falle  eine  Tonreihe,  gewiß  aber  kein  Harmonie- System  zu  geben. 

Er  fährt  fort: 

»Den  alten  Griechen  gelang  es,  eine  Tonreihe  aus  stufenweise  aufeinander- 
folgenden Tönen  im  Bahmen  des  Naturaccordes  herzustellen.  Aus  den  vier  Tönen 
desselben:  CEGB  entwickelten  sie  ihre  enharmonische  (d.  h.  in  der  Harmonie, 
im  Accorde  bleibende)  Tonleiter:  CdEfGaB^. 

Hier  begegnet  uns  wieder  ein  starker  Irrthum:  Die  »alten«  Griechen  haben 
in  ihrer  Jugend  blos  Tetrachorde  und  deren  Zusammenfügung,  aber  keine  Reihe 
gekannt,  die  mit  dem  ausgestopften  Sept-Accord  identisch  wäre.  Auch  fingen  sie 
bekanntlich  mit  den  dorischen  Tetrachorden  E  F  G  A  —  HC  DE  an,  die  wir  heute 
die  phrygische  Tonart  nennen.  Dieser  Irrthum  wird  für  unseren  Autor  noch  sehr 
verhängnißYoU  werden.  Auch  ist  meines  Wissens  die  Definition  des  Wortes  »en- 
harmonischa  sehr  willkürlich.  In  dem  Sinne  des  Autors  bleibt  jede  der  yersohieden 
gebildeten  Tonreihen  der  Griechen  innerhalb  irgend  eines  Accordes,  da 
wir  —  seiner  Methode  uns  anschließend  —  nun  umgekehrt  auch  überall  die  aus- 
stopfenden Töne  wieder  weglassen  könnten. 

Ich  übergehe  eine  etwas  dunkle  Stelle,  als  deren  Ergebniß  wir  zu  unserer 
Überraschung  plötzlich  »das  Grundgesetz  aller  harmonischen  Fortschreitung  V:I 
(Dominante  zu  Tonica)  in  unumstößlicher  Weise  für  alle  Zeiten«  finden,  und  er- 
tappe den  Autor  sofort  im  nächsten  Absatz  bei  einer  offenbaren  Zerstreutheit. 
Hier  sagt  er:  »Als  man  den  Umfang  der  enharmonischen  Tonart  erweiterte  durch 
Wiederholung  des  ersten  Tetrachordes  über  dem  zweiten«  .  .  Also  doch  Tetra- 
chorde? Gab  er  uns  nicht  gleich  beim  ersten  Auftreten  der  alten  Griechen  auf 
der  Bildfläche  die  ganze  siebenstufige  Skala?  Sehen  wir  aber  weiter:  •  •  . 
»und  durch  Erfindung  eines  hinzugefügten  Tones  (proslambanomenos)  —  zwischen 
dem  letzten  Tone  des  zweiten  Tetrachordes  und  dem  Anfangstone  des  um  eine 
Octaye  höher  liegenden  ersten  Tetrachordes  —  die  Härte  der  Tonfortschreitung  zu 


Kaspar  Jacob  BischofT,  Hannonielehre. 


269 


mildeni  suchte,  so  war  ^amit  schon  600  Jahre  v.  Chr.  eine  Tonleiter  geschaffen,  wie 
sie  Tollendeter  nicht  hätte  gefunden  werden  können«. 

Der  Proslambanomenos  soll  das  erste  »obere«  mit  dem  zweiten  »unteren«  Tetra- 
ehorde  lu  verbinden  haben,  das  w&re  also  bei  Bischoff  der  Ton  H\ 


:^. 


-^- 


-^- 


-b 


». 


k 


ä 


22: 


-^- 


-SL 


und  offenbar  in  allen  Lagen  und  Octaven  sich  wiederholend.  Technische  Aus- 
drücke sollten  stets  nur  in  jenem  Sinne  verwendet  werden,  welcher  ihnen  in  spe- 
eieller  Anwendung  gegeben  worden  ist.  Es  ist  unvermeidlich,  daß  durch  späteres 
Zurückgreifen  auf  den  objectiven  Wortsinn  oft  große  Verwirrung  hervorgerufen 
werde.  Übersetzen  wir  nun  auch  »Proslambanomenos«  mit  »hinzugefügter  Ton«,  so 
wild  unt«r  diesem  Namen  doch  nur  ein  ganz  bestimmter  Ton  gemeint,  näm- 
lich der  unter  das  zweite,   nach  der  Tiefe  versetzte,  dorische  Tetrachord  ange- 


fügte Ton  A  ^ 


In  höheren  Octaven  wiederholt  sich  zwar  dieser  Ton, 


dann  aber  als  Familienglied  eines  der  verschiedenen  Tetrachorde,  nicht  mehr 
unter  dem  Namen  Proslambanomenos,  was  dann  ja  auch  gar  keinen  Sinn  mehr 
hätte.  Auch  giebt  der  Schritt  vom  Proslambanomenos  zum  tiefsten  Ton  des 
nichstgelegenen  Tetrachordes,  H,  einen  Ganzton,  und  keinen  Halbton.  Ich  glaube, 
es  schwebte  dem  Autor  eine  dunkle  Erinnerung  an  das  genui  durum  und  das 
^enus  moüe  vor;  das  erstere  giebt  bekanntlich  JT  im  zweiten  unverbundenen 
Tetraehord: 


|3E 


'^- 


-ö»- 


g        g 


-ö"- 


3: 


das  zweite  B  im  zweiten  verbundenen  Tetrachord: 


'.SL 


-g>       ^-^=       <g 


tzs: 


jsl 


In  der  Folge  drückt  der  Autor  seinen  Wunsch  deutlicher  aus:  jeder  der  beiden 
Tetrachorde  soll  vor  dem  Anfangston  einen  Leitton  haben,  also : 


9'-^ 


ISC 


^— fcz 


und:    P=l!?^ 


-^^ 


-^ — ö. 


So  freundlich  dies  auch  für  das  obere  Tetrachord  gedacht  ist,  so  muß  ich  doch 
gleich  bemerken,  daß  es  die  Wahl'zwischen  den  beiden  ganz  ebenmäßig  gebildeten 
Tetrachorden  erschwert.  Eines  muß  doch  das  vorherrschende  sein,  wo  wir  dann 
auch  die  Tonic  a  zu  suchen  hätten.  In  der  Hitze  des  »Heureka«  läßt  uns  aber 
der  Autor  mit  Beantwortung  dieser  berechtigten  Frage  im  Stich,  und  fährt  fort: 
■Auf  dieser  Tonleiter:  f  g  a  b  h  c  d  e  f«  (nun  plötzlich  kleine  Buchstaben!)  »von 
dem  Verfasser  die  »harmonische«  genannt,  ist  das  Harmonie-(Accorde-)  System  des 
Torliegenden  Werkes  aufgebaut«.  Und  nun  in  gesperrter  Schrift:  »Das  Riesen- 
gebäude unserer  modernen  Tonkunst  beruht  einzig  und  allein  auf  diesem,  vor 
zwei  und  einem  halben«  (hier  also  schon  genauer  bestimmte  Zeitangabe!)  »Jahr- 
tausend gelegten  Grundstein.  Daß  der  Weiterbau  auf  diesem  Grundsteine  unter- 
blieb« (»zeigt,  daß  die  Sache  falsch  war«  würde  unser  Einer  sagen;  aber  nein:) 
"lag  in  dem  verlockenden  Reiz  für  Mathematiker  und  Metaphysiker«,  (wäre  der 


270  Kritiken  und  Referate. 


einfache  »Phygiken  nicht  eher  am  Platze?)  »welcher  sich  denselben  in  der  Berech- 
niing  der  Töne  des  Naturaccordes  darbot«. 

Die  »Metaphysikei«  und  Mathematiker  kämen,  wenn  das  wahr  wäre,  in  ein 
recht  schlechtes  Licht;  diese  Intriganten  hätten  dann  nur  den  traurigen  Trost 
der  Schadenfreude,  wenn  es  ihnen  wirklich  gelungen  wäre,  die  Entwickelung  der 
Kunst  aufzuhalten ,  oder  auf  falsche  Bahnen  zu  leiten.  Die  Evolutions  -  Theorie» 
auf  die  Entstehung  und  Fortbildung  der  Kunst  angewandt,  zeigt  uns  aber  im 
Gegentheile,  daß  im  Kampfe  um  die  Wahrheit  alle  sterile  Grübelei  von  selbst  und 
ohne  Schaden  für  das  lebendige  Wachsthum  der  Kunst  abstirbt. 

Leider  läßt  sich  nun  auch  Bischoff  durch  diesen  Reiz  verlocken ,  und  taucht 
aus  einer  kurzen  Untersuchung  mit  Zuhülfenahme  der  bekannten  Bruchzahlen  mit 
dem  seltsamen  Ergebniß  wieder  an  die  Oberfläche  auf,  daß  der  Unterschied  zwi- 
schen großem  und  kleinem  Ganzton  ein  böser  Schwindel  sei,  obgleich  er  die 
natürliche  Terz,  wohl  ohne  es  zu  ahnen,  an  dieser  Stelle  noch  acceptirt.  »Es 
überkommt  den  Verfasser  ein  eigenthümliches  Gefühl,  wenn  er  —  von  theoretischen 
Werken  abgesehen  —  sogar  in  Gesangschulen  von  einem  großen  und  einem  klei- 
nen ganzen  Ton  u.  s.  w.  sprechen  hört,  nachdem  die  moderne  Wissenschaft  schon 
längst  die  Tonleiter  in  zwölf  gleiche  halbe  Töne  eingetheilt  (1^2,   2*2  u.  s.  w.)  und 

die  Berechnung  « '.  q    q  .'  f a  ^'  ^'  ^-  ^^®  ungenau  verworfen  hat«.    Ich  will  keine 

Kritik  in  der  Kritik  schreiben,  lasse  daher  jene  Vertreter  der  »modernen«  Wissen- 
schaft ungeschoren,  die  zu  diesem  elenden  Resultat  gelangen  konnten.  An  Bischoff 
aber  habe  ich  mich  zu  halten,  der  auf  solcher  Grundlage  ein  Harmonielehrbuch 
verfaßt  hat. 

Neue  Bahnen!  Neu  -  Orthographie !  Neu  -  Claviatur !  Zwölfstufige  Skala!  so 
tönt's  von  allen  Seiten,  als  ob  blos  im  Neuen  das  Heil  lägel  Jede  Wahrheit  ist 
neu  und  alt  zugleich,  und  fällt  wie  eine  Frucht  im  Herbst  vom  selben  Baume, 
welcher  im  Frühling  blühte.  Was  in  unseren  Tagen  ein  Hauptmann,  ein  Helm- 
holtz  gefunden,  ist  in  seinem  innersten  Kern  nichts  Neues;  sie  gaben  gewisser- 
maßen zur  alten  Wahrheit  nur  die  klare  Definition,  und  auch  das  nur,  weil  die- 
selbe eben  reif  geworden  war.  Allerdings  ist  dabei  nicht  zu  übersehen,  daß  sie 
von  heißer  Wahrheitsliebe  und  allen  größten  Fähigkeiten ,  sie  zu  bethätigen ,  er- 
füllt waren. 

Was  Bischoff  von  den  Gesangschulen  sagt,  ist  mir  —  mit  wenigen  Ausnah- 
men —  ganz  neu,  erfüllt  mich  aber  mit  freudiger  Hoffnung  für  die  Zukunft:  ja, 
der  Sänger  ist  der  einzige  Vertreter  einer  reinen  Melodie,  und  eine  Gruppe  von 
Sängern  die  einzigen  Vertreter  einer  reinen  Harmonie.  Warum  soU  man  ihnen 
zu  dem,  was  ihre  Natur  fordert,  nicht  die  Ausbildungsmittel  an  die  Hand  geben? 
Der  Verfasser  ist  ein  zu  gewiegter  Musiker,  als  daß  er  nicht  den  Wohlklang  des 
reinen  Dreiklanges  im  Chor  empfunden  haben  «sollte.  Hätte  er  doch  einmal  ver- 
sucht, den  Raum  zwischen  Grundton  und  natürlicher  Terz  des  reinen  Dreiklanges 
mit  zwei  gleichgroßen  Secund-Intervallen  auszufüllen,  und  dann  mit  diesem 
gefundenen  Verbindungstone  die  Gegenprobe  als  Quint  des  Oberdominantdrei- 
klanges gemacht,  ich  glaube,  wir  hätten  an  ihm  einen  der  eifrigsten  Vorkämpfer 
für  Zugrundelegung  der  reinen  natürlichen  Stimmung  bei  allen'  harmonischen  Unter- 
suchungen gewonnen. 

Ein  sehr  musikalischer  Hörer  kann  jederzeit  mit  einem  sehr  musikalischen 
Sänger  folgendes  ebenso  überzeugende  wie  schlichte  Experiment  machen:  er  lasse 


f^g^ 


ihn  die  Tonreihe  7!fk      ^ — ^    ^   -— —   singen,   natürlich  ohne  Begleitung,  und 


Kaspar  Jacob  BischofT,  Harmonielehre.  271 


gebe  ihm  auf,  sich  das  eine  Mal  die  Harmonisirung 


dr\      ^    -g      ^      ^  --     das  andere  Mal:    jfrc      ^      ^    wej 


-^. 


dabei  su  denken.  Der  S&nger  ist  nicht  im  Stande,  beidemale  den  Ton  a  in  gleicher 
Höhe  KU  singen,  und  wollte  er  seinen  Zuhörer  einmal  betrügen —  denn  dieser  er- 
kennt natürlich  sofort  die  Wendung,  welche  jener  im  Sinne  hat  —  so  merkt  dieser 
die  unnatürliche  Anstrengung,  und  entlarvt  den  versuchten  Betrug.  Dasselbe  läßt 
sich  auch  mit: 


^^=^^    und:    j}r-g-^ 


IS" 

erreichen.    Die  Dinge,  von  denen  ich  rede,  sind  also  wirklich  da ;  Jeder  kann  die 
Probe  versuchen,  und  Herrn  Bischoff  bitte  ich  allen  Ernstes  darum. 

Lange  und  dornenvoll  ist  der  Weg,  der  nun  endlich,  auf  Seite  24,  zum  be- 
klagenswerthen  Resultat  führt,  daß  die  Cdur-Tonleiter  durch  das  ganze  umfang- 
reiche Werk  den  Ton  jP<>,  oder^«  —  man  kann  dies  natürlich  nicht  unterschei- 
den —  als  modulatorischen  Pfahl  im  Leibe  mit  sich  führen  wird.  Gut  ist's  nur, 
daß  der  Verfasser  am  Anfange  dieses,  unsere  letzten  Hoffnungen  so  grausam  ver- 
nichtenden, Absatzes  diese  Äußerung  thut:  »Auf  welche  Weise  die  enharmonische 
Urtonart  der  Griechen,  nach  beinahe  2000j ihrigen  Verirrungen  (!),  wieder  zur 
Grundlage  unserer  modernen  Musik  wurde,  soll  hier  nicht  erörtert  werden«.  So 
geht  wenigstens  dieser  Kelch  an  uns  vorüber. 

Referent  ist  der  übernommenen  Verpflichtung  redlich  nachgekommen,  und  hat 
das  Buch  aufmerksam  durchgelesen.  Für  seine  Person  fand  er  auch  viel  Gutes  ja 
Vortreffliches,  sobald  der  sichere  Boden  der  Praxis  einmal  betreten  war.  Da  zeigte 
es  sieh  zu  seiner  Freude,  daß  der  Verfasser  als  guter  vielseitig  gewandter  und  um- 
sichtiger Musiker  und  Lehrer  der  Aufgabe,  ein  brauchbares  Lehrbuch  zu  s/ihreiben, 
ToUst&ndig  gewachsen  gewesen  wäre.  Ist  ihm  aber  die  Lösung  dieser  Aufgabe  ge> 
lungen?  Könnte  ich  dies  Buch,  selbst  nach  Ausscheidung  der  einleitenden  Capitel, 
Collegen  und  Schülern  ohneweiteres  empfehlen?  Leider  nein;  denn  es  fehlt  jene 
Schlichtheit  der  Methode,  welche  allein  ein  Lehrbuch  brauchbar  machen  kann.  Ich 
hatte  voriges  Jahr  die  Freude,  im  Harmonie-Lehrbuch  Piel's  einem  solchen  Werke 
zu  begegnen.  Im  Vergleiche  zu  dem  Bischoff'schen  ist  es  nicht  ausgeführter  als  etwa 
ein  Leitfaden  oder  ein  Katechismus,  und  doch  weitaus  werthvoller. 

Von  Anderem  zu  schweigen,  ist  es  namentlich  die  ganz  merkwürdige  Verwen- 
dung der  Sequenz,  als  Basis  der  Methode,  welche  meine  Bedenken  erregt.  Wo 
immer  wir  das  Buch  in  seinem  Verlaufe  aufschlagen,  sehen  wir  die  Beispiele 
durch  alle  Tonarten  modulirend  die  geforderte  Accord -Verbindung  oder  Vor- 
halt-Bildung etc.  in's  Unendliche  wiederholen.  Die  Wirkung  davon  vergleiche 
ich  jenem  Schwindel,  der  uns  in  einem  Spiegel-Saale  erfaßt.  Der  viel  wichtigeren 
Accord  -  Gruppirung  innerhalb  Einer  Tonart  wird  nur  ein  knapper  Raum  zuge- 
messen; der  Verfasser  geht  hierin  auch  nicht  weit  über  die  bekannten  Gadenz- 
Ordnungen  hinaus.  Ist  es  aber  nicht  richtiger,  das  Bild  der  einfachen  Tonart 
^is  in  den  kleinsten  Zug  auszuführen,  und  dann  erst  die  Brücken  zu  anderen  Ton- 
arten aufzusuchen?  Ich  fürchte  sehr,  daß  die  Impfung  der  Cdur-Tonart  mit  dem 
^<^fährlichen  Fis  daran  die  Hauptschuld  trägt,  daß  der  Verfasser  sich  so  früh  schon 
Jn  dem  Wirbel  aller  Tonarten  verliert     Wenn  Bischoff  nicht  auf  eine  ihm  ganz 


272  Kritiken  und  Keferate. 


€igenthümliche  Weise  diesen  Ton  den  »uralten«  Griechen  extrahirt  hätte,  und  sein 
Werk  nicht  vor  Erscheinen  meines  Aufsatzes  »Tonalität«  im  Octoberhefte  1890 
dieser  Zeitschrift,  veröffentlicht  worden  wäre,  so  fühlte  ich  dabei  eine  ganz  beson- 
dere Unruhe,  die  dem  schlechten  Gewissen  nahe  verwandt  wäre. 

Liegt  auch  bei  Bischoff  der  Einführung  des  Fis  in  die  Cdur-Tonart  wahr- 
scheinlich ein  dunkles  Gefühl  für  Vorhandensein  des  übergreifenden  Systems  xu 
Grunde,  so  ist  dieses  doch  ganz  falsch  verstanden,  und  in  dieser  Anwendung 
höchst  bedenklich,  da  es  in  die  Reihe  der  primären  Tonart-Bildung  ge- 
stellt wird.  Da  Bischoff  temperirt  denkt,  so  ergiebt  bei  ihm  jede  Einfügung  des 
Fia  in  die  Accorde  von  Cdur  eine  wirkliche  Modulation,  kein  Übergreifen.  Jeder 
Dur-  und  Moll-Dreiklang,  dem  er  bei  Construction  der  Tonart,  mit  oder  ohne  FU. 
begegnet,  hat  für  ihn  nothwendig  den  Rang  einer  Tonica;  so  erscheint  auf  seiner 
Liste  sogar  h-d-ßs  als  leitereigen  in  Cdur.  Wo  dieser  Accord  zur  Verwendung 
kommt,  verschweigt  er  zwar;  er  läßt  sich  aber  nicht  von  seiner  Liste  streichen. 

Sehr  merkwürdig  ist  sein  Kampf  gegen  die  melodischen  Neben-Accorde  der 
Molltonart,  z.  B.  d-ßs-a  oder  h-d-ßs  in  a-moU.  Er  gestattet  die  Erhöhung  der 
0.  Stufe  nur  bei  gleichzeitiger  Erhöhung  der  4.,   also  ^  mit  dis,  und  bekämpft 


die  Verbindung:: 


O' 


iä 


^Ö 


aufs  Nachdrücklichste,  ohne  sich  aber  auf 


eine  Motivirung  einzulassen.  Das  glaube  ich  gerne ;  wo  anders  wäre  eine  Begrün- 
dung zu  finden,  als  in  der  Weichlichkeit  und  Wehleidigkeit  unserer  Zeit,  welche 
seltsamerweise  gegen  unlogische  Harmonie- Verbindungen  weniger  empfindlich  ist, 
als  gegen  brave  tonale  »Härten«. 

Sehr  verwirrend  ist  überdies  seine  Terminologie;  der  Verfasser  ist  jedoch  hierbei 
in  manchen  Fällen  in  Schutz  zu  nehmen:  er  konnte  nicht  anders,  da  jede  Idee, 
auch  die  verkehrteste,  ihre  Oonsequenz  hat.  So  spricht  er  von  großer  und  kleiner 
Quinte  und  Quarte,  nennt  f-h  zuerst  eine  unreine  Quarte,  später  eine  große  Quarte, 
und  stallt  Seite  3S  den  Satz  auf,  daß  die  Dur -Tonart  weder  verminderte  noch 
übermäßige  Intervalle  kenne.  Die  Motivirung  lese  man  dort  nach.  Den  ganzen 
Kern  seines  Lehrgebäudes  finden  wir  auf  Seite  40  wie  auf  zwei  erzenen  Gesetzes- 
tafeln eingegraben,  und  zwar  links :  Gesetze  der  Accordverbindungen,  rechts :  Ge- 
setze der  Stimmführung.  Durch  das  ganze  Werk  beruft  er  sich  auf  diese  Para- 
graphen. Natürlich  ist  hier  zum  größten  Theile  wirklich  Richtiges  zu  finden; 
es  kostete  mir  aber  keine  geringe  Mühe  diesen  aufgehäuften  Stoff  zu  meinem 
eigenen  Verständniß  zu  sichten  und  zu  ordnen.  Sind  doch  in  diesen  Qesetzes- 
Bündeln  die  allerverschiedensten  Disciplinen  in  Eins  vereinigt,  als  ob  eine  Lehre 
dann  an  Klarheit  gewönne,  wenn  die  so  wohlthuende  Decentralisation  einer  starren 
Centralisation  zu  liebe  aufgegeben  würde!  Das  gliche  einem  Versuche,  unter 
Einer  Disziplin  Griechisch,  Lateinisch  und  Italienisch,  als  eine  Einheit,  zu  lehren. 

Die  Eintheilung  des  Stoffes  erregt  meine  Bedenken  im  höchsten  Grade.  Ich 
glaube,  daß  auch  Bischoff  erst  bei  Verfassung  dieses  Buches  dazu  kam,  die  ver- 
schiedenen Disziplinen  der  Harmonie  -  Lehre  in  so  seltsamer  Anordnung  durch- 
einander zu  mengen.  Vorhalte  und  Durchgangsnoten  erscheinen  schon  Seite  42, 
Appoggiaturen  und  Wechselnoten  Seite  43.  Die  Lehre  des  Dreiklangs  beginnt 
sofort  mit  moduiirenden  Sequenzen  durch  den  Quintenzirkel;  Chromatische  und 
Durchgangsnoten,  »herum-  oder  durchlaufende«  Noten,  Wechselnoten,  Alles  tritt 
früher  vor  die  geblendeten  Augen  des  Schülers,  als  die  Cadenzen,  welche  erst  auf 
Seite  115  etwas  Ruhe  in  das  bunte  Treiben  des  Vorausgehenden  bringen.  Auf 
Seite  155  ungefähr  befindet  sich  der  Leser  jedoch  wieder  in  12  Tonarten  auf  einmal, 
und  lernt  doch  erst  im  dritten  Theil,  auf  Seite  221  die  Septimenaccorde  zum  ersten 


I 


Kaspar  Jacob  Bischofif,  Hannonielehre.  273 


}ii\e  kennen.  Also  ein  fortwährendes  [Schwanken  zwischen  tonalen  und  modu- 
htorischen  Capiteln,  was  meines  Erachtens  das  Verstandniß  der  Tonart  in  ihren 
feinsten  Krfiften  sehr  erschweren  muß.  Im  dritten  Theile  werden  die  Septaccorde 
nach  ihrer  Zusammensetzung  einzeln  vorgenommen,  und  dabei  stets  ihre  Vieldeu- 
tigkeit zur  Sprache  gebracht,  bevor  die  Eindeutigkeit  eines  jeden,  sein  Platz  inner- 
halb  der  Tonart,  gehörig  festgestellt  ist.  Di^s  verwirrt  nur,  statt  zu  befestigen. 
Ein  Schüler,  der  den  Reigen  aller  Haupt-  und  Nebenharmonien  innerhalb  der  ein- 
fachen Tonart  zu  einem  festgezeichneten  Bilde  sich  zusammenschließen  sah,  wird  nicht 
in  die  Versuchung  fallen,  eine  zuföllige  Mehrdeutigkeit  als  Gleichwerthigkeit  auf- 
lufassen.  Im  Gegentheile :  er  wird  den  Qleichklang  als  solchen  gering  zu  schätzen 
lenen,  da  für  ihn  das  ganze  Wesen  des  Accordes  in  neuer  Umgebung  ein  anderes 
werden  muß,  selbst  wenn  er  aus  ganz  denselben  Tönen  sich  zusammensetzt.  Eine 
Aecordlehre,  welche  all  diese  Nebenproduete  der  Tonart  schematisch  nach  der  Ver- 
theilung  großer  und  kleiner  Intervalle  im  Accord  aufreiht,  wäre  überhaupt  in  die 
Elementar -Lehre  zu  verweisen;  in  der  Harmonielehre  hat  die  Wichtigkeit 
der  Fundamente  die  Reihenfolge  zu  bestimmen. 

Gegen  Ende  des  Werkes  greift  er  wie  in  einem  cyklischen  Traume  auf  seinen 
Froslambanomenos  zurück,  giebt  uns  sogar  eine  altgriechische  Melodie  seiner  Er- 
findung zum  Besten,  mit  vollgriffigen  Accorden  der  Leyer  und  »Cythare«  [nicht 
jedes  griechische  Wort  schreibt  sich  mit  y!)  begleitet,  und  mit  Nachspielen  der 
Flöten  in  lieblichen  volksthümlichen  Terzgängen  ausgeschmückt  Da  finden  wir 
die  Stelle : 


l^ös 


nrr^ 


9^ 


und  nun  weiß  ich  mit  einem  Male,  »warum  ich  bo  traurig  bin:  ein  Märchen  ai  s 
alten  Zeiten,  das  will  ihm  nicht  aus  dem  Sinn«.  Den  Ton  h  erklärt  er  als  Pros- 
lambanomenos ;  die  Art  wie  er  ihn  hier  und  in  der  sich  daranschließenden  Skalen- 
begleitung behandelt,  degradirt  ihn  jedoch  zu  einem  ganz  gewöhnlichen  chro^ 
matischen  Durchgangstone,  was  die  ganze  Arbeit  seines  umfangreichen  Werkes 
einlach  aufhebt. 

Die  dem  Text  mit  großem  Luxus  eingedruckten  Beispiele  sind  zumeist  richtig 
und  oft  sogar  gut,  wenn  auch  stets  zu  reichlich  ausgeführt.  Läßt  sich  ihnen  auch 
nicht  der  Vorwurf  einer  gewissen  weichlichen  Manierirtheit  ganz  ersparen,  so  ver- 
liugnet  doch  der  Verfasser  hier  seine  langjährige  Praxis  als  Musiker  und  Lehrer 
keineswegs.  Daß  Manches  mit  unterläuft,  was  nicht  schön  ist,  sondern  blos  der 
Consequenz  eines  Lehrsatzes  sein  Leben  verdankt,  will  ich  nicht  allzuscharf  tadeln . 
Von  dieser  Sorte  könnte  ich  aus  anderen  Lehrbüchern  eine  viel  größere  Emdte 
halten.  Eine  sonderbare  Gewohnheit  haftet  ihm  an,  nämlich  eine  Phrase,  in  wel- 
cher irgend  eine  Harmonie-Verbindung  gezeigt  werden  soll,  zweimal  hintereinander 
lu  wiederholen;  ist  das  bei  mündlichem  Unterrichte  am  Claviere  ganz  empfehlen s- 
▼erth,  um  den  Gehörsinn  des  Schülers  zu  wecken,  so  macht  es  doch  das  gedruckte 
^erk  aber  Gebühr  anwachsen,  und  stört  durch  unnütze  Zerreißung  des  Textes 
sebe  Übersichtlichkeit  —  Ich  glaube,  zur  allgemeinen  Charakterisirung  des  Werkes 
und  seines  Verfassers  genug  gesagt  zu  haben.  Das  Buch  wird  große  Verbreitung 
finden,  dafür  sprechen  viele  Anzeichen;  ob  ganz  zum  Heil  für  unsere  Jugend, 
muß  ich  im  Allgemeinen  doch  bezweifeln,  wenn  auch  viel  Gutes  und  Richtiges 
darin  enthalten  ist.  Es  wird  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  bald  in  die  Hände 
fallen,  wenigstens  den  Lehrern  unter  ihnen.  Die  sollen  dann  selbst  urtheilen,  ob 
si^  den  praktischen  Theil  des  Werkes  verwenden  können,  woran  ich  sie  gewiß 
nicht  hindern  wilL     Ich  selbst  würde  mich  dieses  Leitfadens  beim  Unterricht  nicht 


274  Kritiken  und  Referate. 


bedienen,  und  zwar  aus  einem  gans  positiven  Gründe,  der  aber  mit  der  verfehlten 
Einleitung  desselben  nichts  zu  thun  hat. 

Ich  habe  an  mir  selbst  die  Erfahrung  gemacht,  daß  ein  Lehrbuch  dann  am 
brauchbarsten  ist,  wenn  es  sich  darauf  beschränkt,  den  wohldefinirten  Stoff  in 
strammer  Methodik  und  in  scheinbar  kühlem  Vortrage  zu  geben.  Das  Werk  von 
Bischoff  jedoch  muthet  mich  an  wie  das  Stenogramm  eines  begeisterten  Schülers, 
der  nicht  nur  die  Lehre ,  sondern  auch  die  Persönlichkeit  des  verehrten  Lehrers, 
mit  allen  seinen  Lieblings- Sprüchwörtem,  heißen  Ausfällen,  momentanen  Ein- 
fällen, ja  sogar  seinen  in  der  Hitze  oft  recht  mangelhaften  Styl,  auf  die  Nachwelt 
bringen  möchte.  Ein  gutes  Lehrbuch  sei  wie  ein  indifferenter  aber  wohlgefügter 
Orund  auf  welchen  jeder  Lehrer  die  Blüthe  seiner  eigenen  Natur  einweben  könne. 
Gewiß  ist  im  mündlichen  Unterricht  die  persönliche  Kraft  des  Lehrers  Alles;  als 
Leitfaden  in  der  Hand  Vieler  nützt  es  aber  gar  nichts,  wenn  das  Buch  den  Zauber 
persönlicher  Aussprache  —  die  doch  immer  auf  Wechselrede  basirt  sein  sollte  — 
nachzumachen  sich  bemüht 

Zum  Schluße  —  da  ich  gerade  von  der  Persönlichkeit  des  Verfassers  sprach  — 
möchte  ich  doch  an  die  Herren  Verleger  die  Bitte  richten,  künftig  solchen  Erschei- 
nungen nicht  wieder  das  Bildniß  des  Verfassers  beizulegen.  Wenn  der  Referent 
sich  auch  von  jedem  Gedanken  an  die  Person  freihält,  so  zuckt  seine  Hand  doch . 
ohnedies  bei  mancher  Äußerung,  die  er  thun  muß,  wenn  ihm  aus  der  Schaar  der 
Leser  plötzlich  das  enttäuschte  oder  gar  erzürnte  Gesicht  des  Verfassers  vorschwebt, 
der  ja  ganz  menschlicher  Weise  ohnedies  geneigt  ist,  ein  abfälliges  Urtheil  mit 
einem  feindlichen  zu  verwechseln.  Kann  er  nun  gar,  wie  hier,  in  das  edle  Antlitz 
eines  gereiften  Mannes  blicken,  der  am  Abend  seines  Lebens  die  Frucht  jahre- 
langen Bemühens,  das  Werk  vieler  und  ausdauernder  Liebe  (und  gewiß  auf  dringend- 
sten Wunsch  seiner  Verehrer)  sammelt  und  zu  Buch  bringt,  so  möchte  der  Re- 
ferent alle  Wahrhaftigkeit  am  liebsten  wegsperren,  und  dem  warmen,  lebendigen 
Menschen,  der  in  der  Feme  sich  kränkt,  die  Hand  reichen,  um  ihn  zu  versöhnen, 
und  ihm  recht  deutlich  zu  machen,  daß  der  Kampf  gegen  Meinungen  kein  Kampf 
gegen  Brüder  sei.  Mit  dem  vortrefflichen  Musiker  und  tüchtigen  Lehrer  ver- 
stünde er  sich  dann  gewiß  aufs  Beste;  glaubt  er  doch  bestimmt,  daß  alles  Übel: 
dieser  fatale  Proslambanomenos  und  die  ganze  folgende  Irrfahrt,  nur  von  dem 
«Buch«  kam. 

Berlin.  H.  v.  Heraogenberg, 


Gaetano  Gaspari,  Catalogo  della  Biblioteca  del  Liceo  Musicale 
ili  Bologna  .  .  .  compiuto  e  pubblicato  da  Federico  Parisini.  Vol.  I. 
Bologna,  Libreria  Romagnoli  dair  Acqua,   1890.  XXXIX  und  417  S. 

gr.  80. 

In  der  Nununer  7  des  IX.  Jahrgangs  (16.  Febr.  1851)  der  Gazzetta  Musicale 
dt  Milano  kündigte  der  verdienstvolle  Konservator  an  der  Estensischen  Bibliothek 
zu  Modena,  Angelo  Catelani,  das  Erscheinen  einer  Ntwva  Bibltograßa  della  Mu- 
aica  von  Oaetano  Qaspari  an.  Catelani,  der  lebhafte  Beziehungen  zu  Qaspari  unter- 
hielt, mußte  ohne  Zweifel  in  die  Manuskripte  seines  Freundes  näheren  Einblick 
gethan  haben.  Sein  Artikel,  in  welchem  er  Gaspari's  Arbeit  eine  opera  grandio$a 
e  d'immensa  faiica  bezeichnet,  empfiehlt  dieselbe  mit  warmen  Worten  und  weiß  in 
geeigneter  Form  das  Interesse  weiterer  Kreise  dafür  zu   erwecken.     Es  mag  hier 


Gaetano  Oaspari,  Catalogo  del  Liceo  Musicale  di  Bologna.  275 


onerftitert  bleiben ,  weßhalb  Gatelani's  Lob  allzu  vorzeitig  gekommen  ist;  die  zu 
erwartende  Publikation  verzögerte  sich  nfimlich  von  Jahr  zu  Jahr  und  erschien 
erst,  nachdem  nahezu  40  Jahre  seit  ihrer  ersten  Ankündigung  verflossen.  Die  vor- 
liegende Arbeit  ist  nämlich',  trotz  ihres  veränderten  Titels,  keine  Andere  als  die 
von  Catelani  in  seiner  Anzeige  vom  Februar  1851  gemeinte  Nuodo  Bibliograßa 
ieOa  Musica,  Leider  hat  Gaspari  die  Veröffentlichung  seiner  Arbeit,  der  er  seine 
ganze  Kraft  gewidmet,  nicht  mehr  erlebt.  Am  31.  März  1881  ist  er  gestorben, 
und  es  war  erst  seinem  Amtsnachfolger  vergönnt,  das  Resultat  seines  rastlosen 
Eifers  und  seiner  peinlichen  Gewissenhaftigkeit  der  gelehrten  Welt  zu  überliefern. 

Wenn  ich  Gaspari's  Catalogo,  wie  oben  geschehen,  mit  einer  neuen  Musik- 
bibliographie identifizirt  habe,  so  soll  damit  schon  von  vom  herein  die  hohe  Achtung 
ausgesprochen  sein,  welche  ich  dem  Werke  entgegenbringe.  Gaspari  hat  mehr  als 
einen  trockenen  Katalog  einer  einzelnen  Bibliothek  veröffentlicht:  Er  hat  nicht 
allein  das  Wissenswertheste  und  geschichtlich  Wichtigste  aus  den  Dedikationen 
und  Vorreden  der  beschriebenen  Werke  ausgezogen  und  mitgetheilt,  er  hat  auch 
seine  reichen  Erfahrungen  aus  dem  Gesamtgebiete  der  einschlägigen  Litteratur 
hineingetragen  und  somit  für  die  Musikwissenschaft  ein  Werk  von  höchster  Be- 
deutung geliefert  Gaspari  hat  das  Glück  gehabt,  mehr  aU  40  Jahre  in  der  be- 
rühmten Bibliothek  des  Bologneser  »Liceo  musicale«  arbeiten  zu  dürfen;  25  Jahre 
lang  war  er  sogar  der  Vorsteher  nnd  Leiter  derselben.  Was  er  in  dieser  bevorzugten 
Stellung  für  die  Musikgeschichte  leisten  konnte,  davon  giebt  die  Ordnung  jener 
Bibliothek  auf  Schritt  und  Tritt  das  glänzendste  Zeugniß,  das  beweist  ferner  jede 
Seite  des  vorliegenden  Katalogs.  Der  Verfasser  dieser  Zeilen  hat  fast  sämtliche 
größeren  Musikbibliotheken  Europas  aus  eigner  Anschauung  kennen  gelernt;  man 
viid  daher  seinem  Urtheile  wohl  trauen  dürfen,  wenn  er  rückhaltslos  anerkennt, 
daß  die  Bibliothek  des  »Liceo  musicale«  zu  Bologna  mit  Fug  und  Hecht  die  Be- 
deutendste und  Reichste  der  ganzen  Welt  genannt  zu  werden  verdient.  Sollte 
Jemand  darüber  entgegengesetzter  Meinung  sein,  so  wird  ihn  ein  Blick  in  den 
veröffentlichten  Catalogo  eines  Besseren  belehren. 

Der  erste  Band  umfaßt  den  theoretischen  und  litterarischen  Theil  der  Biblio- 
thek. Er  enthält  Beschreibungen  der  Werke  älterer  und  neuerer  Zeit,  vornehmlich 
aus  dem  XVL  und  XVII.  Jahrhundert.  Kenner  alter  Musikdrucke,  die  an  Selten- 
heiten ersten  Banges  genugsam  gewöhnt  sind,  werden  über  die  Reichhaltigkeit 
des  aufgespeicherten  Materials  in  hohem  Maße  erstaunen  und  dem  zielbewußten 
Sammelfleiße  der  Gründer  und  Beförderer  der  Bibliothek  —  ich  nenne  nur  Bottri- 
gari,  die  PP.  Martini,  Mattei  und  den  Cav.  Gaetano  Gaspari  —  aufrichtigen  Dank 
aussprechen.  .Die  theoretischen  Werke  aus  älterer  Zeit  sind,  wie  es  scheint,  mit 
Vorliebe  gesammelt  worden,  während  die  Litteratur  der  neueren  und  jüngsten  Zeit 
nicht  so  reichhaltig  vertreten  ist.  Dieser  Mangel,  der  offenbar  in  nicht  genügen- 
der pekuniärer  Unterstützung  begründet  ist,  sollte  so  bald  als  möglich  beseitigt 
Verden;  denn  nur  dann  wird  sich  die  wahrhaft  großartige  Sammlung  für  die  Zu- 
kunft auf  der  Höhe  der  Bedeutung  halten  können,  die  sie  jetzt  unbestritten 
einnimmt 

Der  innere  Zusammenhang  des  Bestandes  einCr  Bibliothek  mit  der  Beschrei- 
bung derselben  möge  mich  rechtfertigen,  wenn  ich  mich  vielleicht  allzu  lange  hier 
mit  ausschließlich  die  Bibliothek  betreffenden  Dingen  aufgehalten  habe.  Sie  er- 
seheinen mir  indessen  zu  wichtig,  um  übergangen  zu  werden,  sie  kennzeichnen 
übrigens,  was  der  Leser  von  dem  Catalogo  erwarten  darü 

Die  Eintheilung  des  Buches  folgt  der  systematischen  Ordnung.  Man  kann 
über  eine  solche  Vertheilung  des  Stoffes  streiten  und  der  Meinung  sein ,  daß  die 
^"^  Abschnitte,  in  die  nunmehr  das  Ganze  zerfällt,  der  Übersicht  weit  eher  schaden 


276  Kritiken  und  Referate. 


als  nützen.  Damit  soll  durchaus  nicht  gesagt  sein,  daß  ein  derartiges  Zerpflücken 
in  kleine  und  kleinste  Unterabtheilungen  nicht  seine  volle  Berechtigung  habe» 
wenn  einmal  das  Vorhandene  nach  systematischem  Prinzip  zergliedert  werden  aolL 
Jedenfalls  aber  dürften  dann  die  ominösen  »Miscellanee«  und  »Libri  diyersi«  keine 
Sonderabtheilungen  bilden,  sondern  irgendwo  —  natürlich  nur  in  bestimmt  charak- 
terisirte  Orte  —  eingereiht  werden.  Leider  hat  dies  der  Herausgeber  des  Katalogs 
unterlassen  und  ist  dadurch  in  den  leicht  begreiflichen  Fehler  der  öfteren  Wieder- 
holung und  Einordnung  eines  und  desselben  Buches  in  verschiedene  Fächer  ver- 
fallen. Man  findet  s.  B.  Hugo  von  Keutlingen's  »Flores«  auf  S.  181  und  S.  225, 
das  eine  Mal  unter  »Metodi  di  Canto  fermo«,  das  andere  Mal  unter  »Trattati  di 
Musica«. 

Auffallend  ist  ferner  die  willkürliche  Übersetzung  namentlich  deutscher  Titel 
ins  Italienische,  während  zahlreiche  andere  fremdsprachliche  Bücher  ihrem  Ori- 
ginaltitel nach  aufgeführt  werden.  So  erscheinen  z.  B.  Anton  Schmid's  »Petruccia 
(S.  24).  Bellermann's  »Mensuralnoten«  und  Brambach's  »Reichenauer  Sängerschule« 
(S.  28)  mit  italienischen  Titeln!  Weßhalb  der  Herausgeber  diese  Inkonsequenz 
beliebt  hat,  ist  nicht  recht  einzusehen.  Noch  viel  weniger  aber  läßt  sich  die  mehr- 
fach inkorrekte  Wiedergabe  von  Dedikationsbriefen ,  Vorworten  u.  s.  w.  recht- 
fertigen. Hier  wäre  ein  genauerer  Vergleich  mit  den  betreffenden  Originalien  wohl 
am  Platze,  in  einigen  Fällen  sogar  höchst  noth wendig  gewesen. ^  Dadurch  wären 
denn  auch  die  vielen,  vielen  Druck-  oder  Korrektorfehler  ^,  die  oft  recht  störend 
wirken,  vermieden  oder  wenigstens  auf  das  zulässige  Maß  herabgedrückt  worden. 
Der  Herausgeber  hat  es  femer  unterlassen,  sich  mit  den  Regeln  der  Wortab- 
theilung fremder  Sprachen  bekannt  zu  machen  und  hat  auf  diese  Weise  oft  reeht 
komisch  wirkende  Wortbildungen  geliefert.  So  lesen  wir  z.  B.  auf  S.  237  (Mu- 
sicus]  handg-riffen  y  S.  340  (Ritter)  das  Wort  Orgeh-pieU  etc.  Dies  sind,  ich  ge* 
stehe  es  gern,  im  Grunde  genommen  Kleinigkeiten,  die  gegen  die  vielen  Vorzüge 
des  Buches  kaum  ins  Gewicht  fallen  und  den  hohen  Werth  desselben  gewiß  nicht 
vermindern,  die  aber  doch  auf  alle  Fälle  beseitigt  werden  mußten. 

Der  Musikgelehrte,  besonders  der  -Historiker  und  -Bibliograph,  wird  Gaspari's 
Catalogo  als  ein  überaus  werthvoUes  Hilfsmittel  für  seine  Studien  begrüßen   und 


^  Man  vergleiche  z.  B.  Jahrgang  V,  S.  565  (Separatabzug  S.  105  ff.)  dieser 
Zeitschrift  mit  S.  77  des  Catalopo.  Es  heißt  nicht  Sperando  che  nel  medesimo 
tempo,  aiccanie  spesso  sono  som%ghanU\  cost  suole  auuenire  .  .  .  sondern  ssperando 
nel  medesimo  tempo,  si  come  spesso  in  somiglianti  casi  suole  auuenire«,  nicht 
e  della  piü  cara  cosa  sondern  »ed  h  la  piü  cara  cosa«,  nicht  paträ  restare  apptsgatC 
sondern  »potran  restare  appagati«,  nicht  voglian  sapere  sondem  »voglin  sapere«, 
nicht  facienda  raggione  sonaern  »facendo  ragione«,  nicht  tratiauan  me  sondern 
»trattauan  di  me«,  nicht  mi  h  pottUo  mai  riusctre  sondern  »mi  h  potuto  mai  venir 
fatto«,  nicht  ia  tnia  volontä  ristrinsero  via  sondern  »la  mia  voglia  ristrinsero 
vie«,  nicht  quanto  meglio  aurehbero  sondern  »auanto  meglio  aurebbon«,  nicht 
fuor  del  dovero  sondern  »fuor  del  douere«,  nicnt  le  scuoU  delf  intendersi  Boudem 
»le  scuole  dell' intendenti«  u.  s.  w. 

'^  So  erschien  z.  B.  Saverio  Mattei's  auf  S.  87  citirtes  Werk  nicht  1875  son- 
dern 17  85;  S.  93  (Riva)  sollte  es  performers  heißen  stsitt  p/rfortners;  S.  105 
(Evangelisches  Gesang- Buch)  Haus  statt  Flaus;  S.  116  (Zeile  1  und  2)  Kirch- 
lichen Musikschule  statt  Kirchlithen  Mtisiksthuls ;  S.  11t)  (Gerber)  Säender 
für  Soenger;  S.  131  (Delmotte)  Lassus  für  Lassos;  S.  219  (Gallucci)  Margarita 
für  Murgarita;  S.  264  (Weber)  Tonsetzkunst  für  Tonsetkunst;  S.  289  (Sechterj 
am  für  au;  S.  310  (Spieß)  Musicalischer  für  Musicarischer ;  S.  311  (Zeile  7; 
der  für  dev  etc. 


Emil  Bohn,  Die  musikalisol^en  Handschriften.  277 


sehr  bald  gewahr  werden,  daß  das  Bueh  sowohl  durch  die  Fülle  der  Torhandenen 
Werke  als  auch  durch  die  Art  der  Besehreibung  zu  den  besten  Biblioihekskata- 
log^  gehört,  die  bisher  in  die  Öffentlichkeit  getreten  sind.  Lebhaften  Dank  hat 
sich  Herr  Prof.  Federieo  Parisini  um  die  Herausgabe  des  Ganzen  erworben.  Wer 
jemals  ähnliche  Arbeiten  publicirt  hat,  weiß  auch  die  Mühen  zu  schätzen,  die  bei 
einem  derartigen  Werke  zu  überwinden  sind.  Prof.  Parisini  konnte  seinem  Vor- 
ginger kein  pietätvolleres  Denkmal  setzen  als  durch  die  Publikation  des  Catahgo. 
Die  äußere  Ausstattung  gereicht  der  Verlagsbuchhandlung  Romagnoli  dall'  Acqua 
xur  Ehre,  der  Druck  ist  sauber  und  übersichtlich,  die  mehrfach  Torhandenen  Titel- 
hobsclinitte  und  Notenbeispiele  yerrathen  großen  Fleiß  und  ungewöhnliche  Sorg- 
falt Besondere  Anerkennung  gebührt  endlieh  dem  Municipium  von  Bologna,  welches 
die  gewiß  nicht  geringen  Mittel  bewilligt  hat,  daß  das  umfangreiche  Manuskript 
in  der  yorhandenen  Form  veröffentlicht  werden  konnte.  Möchten  nun  auch,  dahin 
geht  sicher  der  Wunsch  aller  Fachgenossen,  die  Übrigen  beiden  Bände  recht  bald 
vollendet  werden.  Sie  werden  der  Wissenschaft  gewiß  in  gleicher  Weise  herror- 
ragende  Dienste  leisten  wie  der  vorliegende  erste  Theil. 

Berlin.  BmU  Vogel. 


Emü  Bohn,  Die  musikalischen  Handschriften  des  XVI.  und 
Xyn.  Jahrhunderts  in  der  StadtbibUothek  zu  Breslau.  Ein  Beitrag 
xur  Geschichte  der  Musik  im  XVI.  und  XVEE.  Jahrhundert.  Breslau, 
Commissions- Verlag  von  Julius  Hainauer.  1890.  XVI  und  423  S. 
gl.  8«. 

Seit  dem  Jahre  1883,  als  Emil  Bohn  Über  die  älteren  Musikalien  der  Breslauer 
BiUiotheken  in  seiner  »Bibliographie  der  Musik- Druckwerke  bis  1700«  genauen 
und  für  die  geschichtliche  Forschung  so  hochbedeutsamen  Bericht  erstattete,  war 
es  auch  für  die  räumlich  femstehenden  Fachkreise  kein  Qeheimniß  mehr,  daß  die 
Breslau  er  Stadtbibliothek  an  Musikhandschriften  ebenso  reich  wie  an -Druck- 
werken sei,  und  daß  eine  Katalogisirung  und  Veröfifentlichung  jenes  handschrift- 
iichen  Bestandes  einen  gleich  großen  Gewinn  für  die  Musikwissenschaft  bringen 
wflrde.  Mit  dem  vorliegenden  umfangreichen  Werke  hat  der  gesohätate  Verfasser 
einem  wohl  oft  gehegten  Wunsche  der  Fachgenossen  entsprochen  und  uns  nun- 
mehr einen  Überblick  über  den  ganzen  handschriftlichen  Musikschatz  der  Stadt- 
bihliotfaek  der  sehlesischen  Kapitale  unterbreitet.  Hier  auseinandersetzen  zu  wollen, 
welche  Resultate  damit  gewonnen  worden,  das  würde  zu  weit  führen  —  genug, 
Emil  Bohn  war  wie  kaum  ein  Anderer  seiner  Breslau  er  Kollegen  gerade  zu  dieser 
Arbeit  berufen  und  hat  auch  seine  Aufgabe  in  YorzQglichster  Weise  gelöst.  Wer 
nch  einen  Begriff  machen  kann,  wieviel  Geduld  und  Saohkenntniß  nothwendig 
sind,  ganye  Stöße  wirr  durcheinander  liegender  Musikalien  zu  ordnen  und  zahl- 
lose anonyme  Werke  längst  verflossener  Zeiten  ihrem  Autor  zuzuweisen,  der  wird 
Bohn's  Arbeit  gebührend  würdigen  und  nach  Verdienst  anerkennen  können.  Das 
ganze  Buch  bezeugt  in  beredtester  Weise  die  große  Sorgfalt  und  ausgebreitete 
Litteraturkenntniß  seines  Verfassers,  Gaben,  welche  freilich  bei  einem  Bibliographen 
als  nothwendige  Postulate  anzusehen  sind,  die  aber  doch  in  dem  Maße  wie  bei 
Bohn  nur  selten  angetroffen  werden. 

Im  ersten  Theile  des  Buches,  von  S.  1 — S.  194  reichend,  beschreibt  der  Ver- 
Suser  356  Handschriften.    Die  Inhaltsangaben  sind  in  kuner,  doeh  dem  Gegen- 

1891.  19 


278  Siitiken  und  Referate. 


Stande  yöUig  genügender  Form  abgefaßt  Die  übrigen  Abschnitte  enthalten  ausführ- 
liche Verzeichnisse,  die  zur  Erläuterung  des  L  Theiles  dienen  und  das  AufBachen 
einer  jeden,  im  1.  Abschnitte  beschriebenen  Komposition  von  den  verschieden- 
sten (Gesichtspunkten  aus  erleichtem  und  überhaupt  möglieh  machen.  Das  Yer- 
zeichniß  I  giebt  eine  alphabetisch  und  nach  Sprachen  geordnete  Übersicht  über 
die  Textanfänge,  verweist  auf  die  Nummern  der  einzelnen  Handschriften,  bezeichnet 
den  betreffenden  Verfasser  und  enthält  gleichzeitig  die  sehr  werthvoUen  Angaben, 
ob  und  in  welchen  Werken  die  citirten  Stücke  gedruckt  zu  finden  sind  —  An- 
gaben, die  für  kritische  Untersuchungen  äußerst  schätzbares  Material  bieten.  Bei 
anonymen  Werken  hat  Bohn  die  Anfangsnoten  der  Oberstimme  in  recht  praktischer 
Weise  dursh  Buchstaben  angeführt  und  dadurch  ein  bequemes  Mittel  zur  etwaigen 
Bestimmung  einer  solchen  Komposition  gegeben.  Der  ganze  Abschnitt  ist  mit 
großem  Fleiße  und  weit  ausschauender  Sachkenntniß  abgefaßt  und  wird  ähnlichen 
Arbeiten  sicher  recht  willkommene  Fingerzeige  darbieten.  Im  IV.  Verzeichnisse 
(S.  325 — 371)  sind  die  vorkommenden  Autoren  und  die  Textanfänge  ihrer  vorhan- 
denen Werke  genannt,  darauf  folgt  eine  Übersicht  über  die  als  gedruckt  nach- 
gewiesenen Nummern  und  endlich  ein  ausführlicher  Index  zu  Puschmann's  Meister- 
singerbuch. 

Für  die  Übersicht  über  den  Inhalt  der  »Handschriften«  wäre  es  wohl  besser 
gewesen,  das  IV.  Verzeichniß  ganz  an  den  Schluß  zu  stellen.  Man  hätte  dann 
die  Beihe  der  Autoren  und  ihrer  Werke  an  derjenigen  Stelle  gehabt,  wo  man 
dieselbe  zu  suchen  gewöhnt  ist.  Zeitraubendes  Herumsuchen  wäre  erspart  ge- 
blieben. Zu  der  Anführung  der  den  einzelnen  Autoren  zugehörigen  Werke  im 
rV.  Verzeichnisse  konnten  auch  die  Verweise  auf  die  Nummern  der  Handschriften, 
in  welchen  die  angeführten  Stücke  enthalten  sind,  mitgetheilt  werden.  Man  hätte 
nicht  nöthig  gehabt,  aufier  dem  IV.  noch  das  I.  Verzeichniß  einzusehen,  um 
dann  erst  die  Nummer  des  gesuchten  Kodex  zu  erfahren.  Damit  man  mich  recht 
verstehe,  gestatte  man  mir,  ein  Beispiel  anzuführen.  Nehmen  wir  an,  ich  habe 
vor  mir  eine  alte  Handschrift  des  Schütz'schen  Psalms  »Die  mit  Thränen  säen« 
und  möchte  gern  einen  Vergleich  mit  anderen  Handschriften  derselben  Komposition 
anstellen.  Ich  nehme  Bohn's  Werk  zur  Hand.  Im  IV.  Verzeichnisse  finde  ich, 
daß  Breslau  in  der  That  den  gesuchten  Psalm  von  Heinrich  Schütz  besitzt,  er  ist 
auf  S.  364  citirt.  Allein  um  zu  wissen,  in  welchem  Kodex  er  enthalten  ist,  muß 
ich  erst  Verzeichniß  I  nachschlagen  und  erfahre  dann  erst  (auf  S.  267),  daß  ich 
den  Kodex  46  für  meine  weiteren  Untersuchungen  nöthig  habe. 

Die  erwähnte  Ausstellung  ist  übrigens  zu  geringfügig,  um  dem  Werthe  des 
Bohn'schen  Buches  irgend  welchen  Eintrag  zu  thun;  sie  bezieht  sich  auf  rein 
Äußerliches  und  betrifft  nur  die  bequemere  Handhabung  des  Bandes.  Die  Arbeit 
selbst  ist  eine  der  besten  und  fleißigsten,  welche  seit  Jahren  auf  dem  einschlägigen 
Gebiete  erschienen  sind;  sie  sei  hiermit  allen  Lesern  dieser  Zeitschrift  zur  An- 
schaffung und  allen  Herausgebern  ähnlicher  Handschriftenverzeichnisse  zur  Nach- 
ahmung aufs  Wärmste  empfohlen. 

Berlin.  Emil  VogeL 


A.  Bertolotti,  Musici  alla  Corte  dei  Gonzaga  in  Mantova  dal 
secolo  XV  al  XVIII.  Notizie  e  documenti  laccolti  negli  Archivi 
Mantovani.  (Vortitel :)  La  Musica  in  Mantoya.  In  Milano,  appresso 
G.  Ricordi  &  C,  o.  Jahr  (doch  1890).  130  S.  gr.  8«. 


A.  Bertolotti,  Musici  alla  Corte  dei  Gonzaga  in  Mantova.  279 


Das  Erscheinen  dieses  Buches  mag  wohl  ?iele  Leser  der  »Vierteljahrsscfarift 
für  Musikwissenschaft«,  welche  den  italienischen  Publikationen  der  jüngsten  Musik- 
litteratur  Aufmerksamkeit  und  Interesse  schenken,  mit  freudiger  Erwartung  erfüllt 
haben.  Eine  neue  Spezialgeschichte  einer  für  die  Entwicklung  der  Musik  so  be- 
deutsamen Stadt  wie  Mantua,  eine  neue  Schilderung  der  musikalischen  Strömungen 
am  Hofe  des  kunstsinnigen  Fürstengeschlechtes  der  Qonsaga ,  die  mehr  als  zwei 
Jahrhunderte  hindurch  mit  den  größten  Tonmeistern  Europas  in  engem  Verkehr 
gestanden  haben  und  gar  Viele  der  Musikheroen  längere  oder  kürzere  Zeit  hin- 
durch an  Mantua  zu  fesseln  wußten,  ein  solche  neue  Spezialgeschichte  mußte  von 
TOinherein  umso  mehr  hohe  und  gespannte  Erwartungen  erzeugen,  als  eine  ganze 
Reihe,  namentlich  in  dieser  Zeitschrift  veröffentlichter  Vorarbeiten,  besonders  aber 
die  ausgezeichneten  Schriften  eines  Pietro  Oanal  (»Della  Musica  in  Mantova. 
Venesia,  Antonelli,  1881)  und  eines  Stefano  Davari  (vergL  Vierteljahrsschrift  f. 
Muflikw.«  Jahrg.  IV.  S.  528)  bereits  seit  längerer  Zeit  das  Fundament  zu  einer 
Musikgeschichte  Mantuas  gelegt  haben.  Nichts  lag  also  —  so  sollte  man  meinen  — 
für  den  Verfasser  näher,  als  sämtliche  Vorarbeiten  fleißig  zu  benutzen,  ihren 
Werth  nach  Art  eines  gewissenhaften  Historikers  genau  abzuwägen,  etwaige  neu- 
Bufgefimdene  Dokumente  tüchtig  zu  verarbeiten,  in  summa,  auf  der  anerkannt 
soliden  Grundlage  so  vieler  beachten swerther  Mitarbeiter  weiter  zu  bauen.  Leider 
hat  dies  Bertolotti  verschmäht;  er  ist  seinen  eigenen  Weg  gegangen  und  hat  sich 
nicht  einmal  die  Mühe  gegeben,  die  einschlägige  Litteratur,  die  an  Zahl  doch  nur 
gering  ist,  selbst  auch  nur  flüchtig  einzusehen.  Was  er  uns  geliefert  hat,  ist  ein 
bedauemswerthes  Zerrbild,  das  zwar  Manches  geschichtlich  Neue  und  Vieles  an 
sich  Mächtige  enthält,  das  aber  durch  die  ungemein  flüchtige  und  ganz  kritiklose 
Art  der  Verwendung  hervorragender  und  minder  bedeutender  Dokumente  sehr 
iweifelhaften  Werth  repräsentirt,  vor  dessen  allzu  vertrauensvoller  Entlehnung  und 
Benutzung  daher  nicht  eindringlich  genug  gewarnt  werden  kann. 

Nach  meiner  Ansicht  standen  dem  Verfasser  vornehmlich  zwei  Wege  zum  er- 
sprießlichen Ziele  offen:  Die  Arbeit  konnte  entweder  eine  rein  archivalische  Lei* 
stung  sein,  oder,  die  Lösung  der  gestellten  Aufgabe  in  weiterem  Sinne  aufgefaßt, 
eme  musikhistorische.  Im  erstgenannten  Falle  boten  Davari's  treffliche  Studien 
em  leuchtendes  Vorbild,  im  anderen  durfte  Ganal's  Arbeit  als  höchst  nachahmens- 
werthes  Muster  gelten.  In  beiden  Fällen  aber  waren  Genauigkeit  und  Gewissen- 
haftigkeit die  ersten  Erfordernisse,  sobald  es  überhaupt  in  der  Absicht  des  Ver- 
fassers lag,  mit  seinem  Buche  der  wissenschaftlichen  Welt  und  nicht  dem  großen 
Haufen  einen  Dienst  zu  erweisen.  Die  Stellung  des  Autors,  Herr  B.  ist  Direktor 
des  Staatsarchivs  in  Mantua,  bietet  genügende  Gewähr  dafür,  daß  sich  seine  De- 
tailforschungen an  ein  ernstes  Publikum  richten  sollten.  Zu  meinem  Leidwesen 
muß  ich  bekennen,  daß  Bertolotti's  Veröffentlichung  weder  eine  archivalische  noch 
musikhistorische  Leistung  ist.  Der  Verfasser  wollte  zwar,  wie  aus  dem  Ton  des 
Garnen  hervorgeht,  eine  Arbeit  ähnlich  derjenigen  Canal's  bieten,  doch  fehlen  ihm 
dazu  alle  Voraussetzungen ;  er  besitzt  weder  musikhistorische  Durchbildung  noch  die 
nothwendige  Kenntniß  der  einschlägigen  Musiklitteratur.  Sein  ganzes  Wissen  in 
musikkritischen  und  musikgeschichtlichen  Dingen  ist  —  abgesehen  von  den  wenigen 
hierhergehörigen,  in  seiner  Muttersprache  erschienenen  Publikationen  — :  lediglich 
aus  F6tis'  Biographie  universelle  geschöpft,  als  ob  die  Musikwissenschaft  in  den 
Petiten  25  Jahren  geschlafen  oder  sich  dem  dolee  far  niente  hingegeben  hätte  1 

Um  das  oben  ausgesprochene  herbe  Urtheil  zu  begründen,  müßte  ich  das  Buch 
B-'s  sowohl  nach  seiner  archivalischen ,  als  auch  musikgeschichtUchen  Seite  be- 
leuchten. Was  der  Verfasser  in  ersterer  Beziehung  gesündigt  hat,  ist  aber,un- 
libkgst  dnrch   Alessandro   Luzio   im    Oi&male   starieo   della   LetUratura    Italiana 

19* 


280 


Kritiken  und  Räfente. 


(Jahrg.  1891,  S.  98 ff.)  yeröffentliclit  worden;  ieh  darf  also  darauf  Terweisen'  und 
mich  auf  die  munkgeaehiehtliche  Seite  beschränken. 


1  Man  traut  kaum  seinen  Augen,  wenn  man  liest,  wie  fehlerhaft  B.  die  ge- 
fundenen Dokumente  wiedergegeben  hatl  Lusio  sagt  geradezu:  »Fossiamo  aner- 
mare  recisamente  che  nella  riprodnsione  del  B.  nessun  documento  e  un'  esem- 
plasione  accurata  del  teste  in  senso  assoluto  .  .  .«  (1.  c.  S.  99)  Die  unglauhUchsten 
Verdrehungen  und  Verkehrtheiten  tischt  B.  mit  ernster  Miene  auf.  Man  gestatte 
mir,  hier  aus  Lusio's  Kritik  eine  kleine  Blüthenlese  su  halten: 


Original. 

falfeto  (falsetto) 

falso 

exaltanda 

oldeno 

piacere,   che   ye  invito   e   vi  facio  di 

quarta,  e  perch^  ui  aspetto 
mi  portarä 
vero  h 

vivere  e  morire 
in  desiderio 

la  fami^a  et  robbe  sue 
oondursi 
connumerarlo 
Colabaudi 

in  questi  tempi  assai  ociosi 
compiacere 
questo  non  in  dono 
Bapt.  de  Abbatibus 
Tndapaleus 
lo  habbi  earo  per  le  Yirtü  sue  et  per  la 

ereansa  havuta  in  easa  di  quella 
per  satisfare  a  quelH  altri  che  gH  hanno 

seryito  de  dinari  per  poter  perficere 

un  opera  tanto  singulare  al  mondo 
in  unum 
vi  si  ritroTomo 
partito  che  sarö  io 
il  mastro  di  capella  novo 
attendarö  a  serrire 
creparanno  de  inuidia 
dieci  anni 
non  parlo 
acciö  mi  favorisca 
servitio 

{irofessione 
ei 

riputato 
mutate 
incerti 

che  non  si^  renderä  immeritevole 
credendomi 
D.  Camilla  sta  salda 
prostrata 
supplica  della  sua  sicura  protettione 


Bertolotti. 

falexeto  (S.  11) 

falle  (8.  12) 

exaltandola  (S.  13) 

desidereno  (8.  13) 

piacere  e  perche  ui  aspetto  (S.  21; 

ui  portara  (S.  21) 

vuo  e'  (S.  23) 

venire  et  morire  (S.  24) 

mi  desideraria  (S.  24) 

la  famiglia  et  robbe  me  (S.  24 

condurla  (S.  24) 

conumemorarlo  (S.  27) 

Colabardi  (S.  27) 

in  questi  assai  ociosi  (S.  26} 

comprere  (S.  29) 

questi  non  mi  dono  (S.  29) 

Bapt.  de  Abbafr.  (S.  30) 

Tndapalens  (8.  30) 

lo  haobi  caro  di  quelle  (8.  33] 

per  satisfare  a  quelli  altri  e  possa  per- 
ficere un  opera  tanto  magiore  ,'S.  33, 

in  noYum  (S.  40) 

vi  si  trovano  (8.  40) 

per  tale  che  sarö  io  (8.  40) 

il  mastro  di  capella  anco  (8.  40; 

attendarö  a  scnuere  (8.  41) 

mi  paragni  de  inuidia  (8.  41) 

dieoi  giomi  (8.  42) 

ne  pano  (8.  42) 

acui  mi  favorisca  (8.  42) 

Ministro  (8.  44) 

perfettione  (8.  49) 

lui  (8.  50) 

ripetute  (8.  50) 

inutile  (8.  50) 

diuersi  (8.  53) 

cui  si  renderä  meritevole  (8.  89y, 

uedendomi  (S.  100) 

Don  Camillo  sto  saldo  (8.  100) 

prostrato  (8.  100) 

supplico  della  sua  flrma  per  lettere  (8.100) 


Diese  Proben  werden,  wie  ich  glaube,  genügen  I 


A.  Bertolotti,  Muaiei  alla  Corte  dei  Gbnzaga  in  Mantoya.  281 


Bertolotti's  Buch  folgt  der  chronologischen  Ordnung.  Dem  XV.  Jahrhundert 
sind  die  ersten  18  Seiten  eingeräumt,  dem  folgenden  die  Seiten  19--*75  und  endlich 
dem  XVn.  Jahrhundert  der  Rest  des  Werkes.  Was  sunäohst  in  die  Aug^n  fällt, 
ist  die  wenig  sorgfältige  Sichtung  des  gesamten  Materials,  die  geringe  Scheidung 
des  Wesentliehen  Yom  Unwesentlichen  und  die  dadurch  bedingte  Verschiebung  des 
Gänsen  su  Gunsten  des  bei  dem  Thema  in  nebensächlicher  oder  doch  nur  in  imter- 
geordneter  Weise  in  Betracht  kommenden  Stoffes.  Die  ersten  40  Seiten  enthalten 
I.  B.  mehr  Briefe  von  Mitgliedern  der  markgräflichen  Familie,  Ton  Verwandten 
oder  befreundeten  Fürstlichkeiten,  von  Gesandten,  Sekretairen  etc.  als  Yon  Mu- 
sikern. Unwesentliche  Dinge,  Jemand  wird  z.  B.  beauftragt,  irgend  ein  (nicht 
näher  bestimmtes)  Instrument  von  einem  nicht  einmal  namhaft  gemachten  Verfer- 
tiger XU  kaufen,  werden  durch  wörtliche  Wiedergaben  des  betreffenden  Dokuments 
aiisgeseiehnet ,  während  Briefe  hervorragender  Musiker  oft  nur  nebenher  citirt 
werden.  So  sind  die  auf  S.  17  (oben)  und  S.  18  angeführten  Briefe  nur  von  sehr 
geringer  Bedeutung.  Bertolotti  hat  wohl  kaum  einen  Begriff  von  dem  verschieden- 
artigen geschichtlichen  Werthe  der  von  ihm  erwähnten  Männer  gehabt,  denn  sonst 
würde  er  fruchtbare  Komponisten  (wie  Tromboncino,  Gastoldi,  Gagliano  etc.)  nicht 
mit  nur  wenigen  Zeilen  bedacht  und  umgekehrt  Andere  (wie  Fietro  Bono,  Antonio 
Rissi,  Fftles,  Evangelista  dall'  Orto,  Gio.  Maria  Lugharo  etc.)  nicht  durch  aus- 
führüohe  Mittheilungen  von  Briefen  und  facsimilirten  Wiedergaben  ihrer  Namens- 
süge  in  eine  ihnen  nicht  zukommende  hellere  Beleuchtung  gerückt  haben.  Seite  9 
hätte  die  Vermuthung  hinzugefügt  werden  müssen,  daß  unter  dem  eieco  nUraeolosOf 
der  von  München  nach  Mantua  gekommen,  höchst  wahrscheinUoh  Faumann  gemeint 
seL  Wunderlich  klingt  die  auf  S.  12  stehende  Bemerkung  über  Tromboncino: 
Era  adun^ue  non  goitanto  sonatore,  tna  compoaitore  —  als  ob  Über  die  komposi- 
torische Thätigkeit  Tromboncino's  erst  durch  Bertolotti  der  Nachweis  erbracht 
und  nicht  schon  in  den  Inkunabeln  des  Notendruckes  genug  Beweise  davon  yer- 
öffentUcht  worden  wären!  S.  15  wird  ein  Filippo  Lapacino  erwähnt  und  be« 
hauptet,  er  sei  »Sänger,  Organist  und  Autor  von  Frottolen«  gewesen  —  viel- 
leicht ist  damit  Filippo  de  Luprano  (oder  Lurano)  gemeint,  von  dem  sich  in  den 
Petrueci'schen  Drucken  eine  stattliche  Anzahl  Frottolen  befinden.  Unangenehm  be- 
rühren femer  Phrasen  wie  8i  crede  ehe  ,  ,  .  (S.  7),  n  ha  un  »Trattato  dt  numcan 
(S.  7),  si  ha  numoscritta  .  .  .  (S.  60),  Si  hanno  varie  8ue  opere  (S.  61)  etc.  In  den 
meisten  Fällen  ist  unter  dem  »si«  F6tis  zu  verstehen,  den  (wie  ich  schon  oben  be- 
merkt habe)  Bertolotti  nach  Herzenslust  ausschreibt  und  doch  in  ihm  geeignet  er- 
seheinenden Fällen  tüchtig  durchhechelt.  Solchem  unwürdigen  Treiben  ist  auch 
Canal  zum  Opfer  gefallen:  In  den  kleinsten  Dingen,  wo  nur  immer  B.  von  Canal 
und  Anderen  abweicht,  ist  dies  mit  komischer  Emphase  und  seltsamer  Hervor- 
hebung geschehen. 

Den  ersten  Sati  des  2.  Abschnittes  (S.  19)  fCkhre  ich  hier  wörtlich  an,  um  den 
Lesern  dieser  Zeilen  von  der  Urtheilslosigkeit  und  Ignoranz  des  Verfassers  eine 
weitere,  recht  drastische  Probe  zu  geben :  Per  gran  parte  dt  questo  eeeolo  aneora 
regnd  la  musiea  ßamminga,  eioh  queüa  trasformazione  bizzarra,  emgmaiica,  artifi- 
ctale,  ehe  eist  U  feeero  prendere;  ßnch^  sorsero  il  Palestrina  a  rteondarla  euUa  vera 
na  praiieamenie,  ed  aUri  teoretieamenie  con  buoni  libri ,  fta  cui  Vineenzo  Galilei. 
Die  Entwicklung  der  Musik  habe  also  nur  auf  Palestrina  gewartet,  um  die 
»bizarren,  räthseUiaften  und  gekünstelten«  Bahnen  zu  verlassen  und  in  den  einzig 
wahren  Weg  einzulenken!  Mehr  Verkehrtheit  konnte  wohl  schwerlich  in  so 
wenigen  Worten  zum  Ausdruck  kommen.  Ob  Bertolotti  jemals  irgend  eine  Kom- 
position der  alten  Niederländer  gesehen  und  vor  Allem  verstanden  hat,  scheint 
mir  sehr  zweifelhaft.  —  Seite  20  hätte  an  Stelle  von  Vernareoci  Anton  Schmid 


2S2  Kritiken  und  Beferate. 


erwähnt  werden  müssen,  dessen  Buch  über  »Petrucci«  36  Jahre  früher  ersdiien  als 
Vemareccrs  Arbeit. 

Die  Torkommenden  bibliographischen  Angaben  sind,  soweit  sie  sich  auf  alte 
Ausgaben  der  Werke  der  Komponisten  des  XVI.  und  XYII.  Jahrhunderts  besiehen, 
sämüich  aus  F^tis'  berühmtem  Werke  entlehnt  —  natürlich  auch  mit  denselben 
gelegentlichen  Fehlem  und  den  gleichen  Ungenauigkeiten :  Seite  39  wird  von 
Giaches  de  Wert  behauptet,  er  habe  im  Jahre  1558  sein  erstes  Madrigalbueh  in 
Venedig  durch  Oardano  publicirt.  Gemeint  sind  die  fünfstimmigen  Madrigale,  die 
in  der  That  1558  zum  ersten  Male  das  Licht  erblickten,  aber  nicht  durch  Gardano, 
sondern  durch  Girolamo  Sooto^  in  Venedig.  Bei  Erwähnung  des  Komponisten 
Testore  (S.  40)  mußte  bemerkt  werden,  daß  sich  derselbe  auf  dem  (natürlich  aus 
F^tis  entnommenen)  Titel  seines  Madrigalbuches  Guglielmo  Textoris  nennt.  Weß- 
halb  B.  (S.  57)  nicht  den  Titel  der  von  Gioyanelli  besorgten  raceoüa  namhaft 
macht,  ist  schwer  zu  verstehen.  Es  bandelt  sich,  wie  ich  hinzufüge,  um  die  von 
Ant.  Gardano  gedruckten  5  Bücher  des  »Nov.  Thesaurus«.  Alessandro  Striggio  er- 
scheint (S.  59)  als  Strigi,  Marenzio  als  Marenzi  (S.  60),  Ruggiero  Trofeo  als  Tro* 
peo  (S.  63),  Masenelli  (oder  Masnelli)  sogar  als  Macinelli  (S.  64  u.  126) !  Alessandro 
Striggio  (Sohn)  gab  nicht  gemeinhin  le  apere  seines  Vaters  heraus,  wie  B*  auf 
S.  59  und  S.  86  behauptet,  sondern  nur  das  3.  (1596),  4.  (1596)  und  5.  (1597)  Buch 
der  fünfstimmigen  Madrigale  seines  berühmten  Vaters.  Daß  Marc'  Antonio  In- 
gegneri  in  Mantua,  im  Dienste  der  Gonzaga  gelebt  habe,  wird  mit  bedauerns- 
werther  Konsequenz  immer  wieder  (S.  59)  glauben  gemacht,  obgleich  B.  nicht  einen 
einzigen  Beleg  dafür  finden  kann  und  sogar  selbst  zugiebt,  daß  das  Archiv  Gon- 
zaga überhaupt  kein  Ingegneri  betreffendes  Dokument  enthalte.  Der  genannte 
feinsinnige  Meister  des  Kontrapunkts  sagt  ausdrücklich  in  der  Vorrede  zu  Saerth 
rum  Cantümum  cum  quatuor  vocibus  .  .  .  lib.  primtu.  Ven.  ap.  Ang,  Qard.  15S6 
».  .  .  Ego,  qui  tot  iam  annos  Cremon.  Ecdesiae  Musices  chorum  rego  .  •  .a  Die 
Dedikation  ist  »Cremonae,  Kai.  Aprilis  1586«  datirt.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort, 
weitere  Beweise  dafür  anzuführen,  daß  Ingegneri  in  Mantua  selbst  oder  am  Man- 
tuanischen  Hofe  niemals  ein  Amt  bekleidet  habe ;  möge  man  sich  an  dieser  Stelle 
mit  den  obigen  eigenen  Worten  Ingegneri's  begnügen  und  alle  gegentheiligen  und 
immer  wieder  nacherzählten  Behauptungen  ein  für  alle  Male  zurückweisen. 

Falsch  ist  femer  der  dem  Mantuaner  Nicola  Parma  (S.  60)  gewidmete  Passus. 
Das  erste  Buch  der  »Motecta«  desselben  erschien  (»nunc  pr.  in  lucem  edita«)  erst 
1606  bei  R.  Amadino  in  Venedig  und  nicht  schon  dal  1580  al  1586.  S.  61  h&tte 
erwähnt  werden  müssen,  daß  sich  Orazio  Crisci  in  der  Dedikation  von  Sabino's 
2.  Buche  der  sechsstimmigen,  von  Angelo  Gardano  gedruckten  Madrigale 
Schüler  Sabino's  nennt.  Die  auf  derselben  Seite  stehende  »Berichtigung«  zu  La- 
voiz's  Hietoire  konnte  ganz  wegbleiben;  denn  es  dürfte  wohl  keinem  Musikhisto- 
riker einfallen,  Lavoix  als  Autorität  oder  als  eine  Quelle  anzusehen,  welche  der 
Berichtigung  Überhaupt  werth  sei.  —  Der  Abschnitt  über  Benedetto  Pallavicino 
folgt  den  althergebrachten  Angaben.  Wie  ich  schon  vor  4  Jahren  (auf  S.  324  des 
ni.  Jahrgangs  dieser  Zeitschrift)  nachgewiesen  habe,  starb  Pallavicino  nicht  schon 
im  Jahre  1601  (wie  B.  auf  S.  62  und  S.  76  versichert),  sondern  lebte  noch  im 
Herbst  1605.  Ich  füge  dem  a.  a.  O.  Gesagten  hinzu,  daß  sich  Pallavicino  sogar 
noch  im  Frühling  1612  seiner  vollen  geistigen  Frische  erfreut  haben  muß,  da  er 
selbst  im  angeführten  Jahre  das  8.  Buch  seiner  fünfstimmigen  Madrigale  (bei 
Rice.  Amadino)  publizirt  und  die  darin  enthaltene  Dedikation  (an  Francesco  Mo- 


^  Das  Werk  (Alfonso  Gonzaga  dedicirt)  befindet  sich  in  der  obigen  Ausgabe 
compl.  in  der  Münchener  Hofbibuothek. 


A.  Bertolotti,  Musici  alla  Corte  dei  Gonsaga  in  Mantova.  283 


cenigo)  selbst  unterzeichnet ^  Unrichtig  ist  auch»  daß  das  Amt  Perabovi's  (S.  62) 
.aus  dem  Widmungsbriefe  seines  citirten  Madrigalbuches  hervorgehe;  B.  hat  das 
erwümte  Werk  sicher  nie  in  den  H&nden  gehabt,  denn  sonst  hätte  er  gewahr 
Verden  müssen,  daß  unsere  Kenntniß  der  in  Rede  stehenden  Stellung  Peraboyi's 
meht  aus  der  Dedikation,  sondern  aus  dem  Titel  des  betreffenden  Buches  ge- 
schöpft sei.  S.  63  bemerkt  B.,  daß  Qastoldi  im  Jahre  1582  in  Mantua  vierstinunige 
Cansonette,  und  (S.  74)  daß  Orfino  Vittorii  Madrigale  und  Messen  Teröffentlieht 
habe  —  den  Nachweis  ist  er  freilich  schuldig  geblieben«  Was  über  Ruggiero 
Trofeo  (bei  B.  heißt  derselbe  Tropeo)  berichtet  wird,  ist  ganz  unbrauchbar;  es  er- 
aehienen  n&mlich  nicht  aleune  canzoni  desselben  e<m  quelle  del  Bovigo,  nel  1683, 
sondern  erst  im  Jahre  1600  »Canzonette  leggiadre  &  tre  voci«  mit  Kompositionen 
Ton  Oio.  Dom.  RognonL^  Beide  Autoren  waren  Anno  1600  Organisten  in  Mai- 
land. Ruggier  Trofeo  bezeichnet  sich  auf  dem  Titel  des  ersten  Buches  seiner 
sechsstimmigen  Canzonette,  die  1589  bei  Rice.  Amadino  erschienen,  als  »Organista 
deDa  Chiesa  ducale  di  Mantova«. 

Auf  S.  69  finde  ich,  ohne  irgend  welche  Quellenangabe  den  Satz  Claudio 
MaiUeoerdi  eortl  i  natali,  ä  di  16  fnaggio  1667 ,  in  Cremona,  Man  gestatte  mir  die 
bescheidene  Frage  an  Herrn  B.  zu  richten,  woraus  er  das  Datum  vom  15.  Mai 
1567  entlehnt  habe.  Im  Jahre  1885  habe  ich  tagelang  in  den  verschiedensten 
Kirohenarchiven  Cremonas  nach  dem  Taufdokument  Monteverdi's  gesucht,  es  nach 
Tielen  Mühen  gefunden  und  zum  ersten  Male  in  diesem  Organ  veröffentlicht  (vergl. 
Jahrg.  1887,  S.  317  u.S.  427),  ohne  Aufhebens  davon  zu  machen.  Nun  erscheint 
das  wichtige  Datum  bei  B.  wieder  und  auf  S.  78  die  überraschende  Bemerkung : 
So  ehe  ü  signor  E,  Vogel  pubblied  un'  opera  in  tedeseo  eul  Monteverdi^  la  quäle  io 
non  vidi  .  .  .  Ich  überlasse  es  dem  Leser,  aus  den  angeführten  Thatsachen  den 
naheliegenden  Schluß  selbst  zu  ziehen.  Neu  ist  die  auf  S.  74  stehende  Behaup- 
tung, daß  Girolamo  Casati  »maestro  di  eapella  in  Mantova«  gewesen  sein  soll;  er 
war  vielmehr  im  Jahre  1609  Organist  am  Dom  zu  Novara^  und  1625  Organist  an 
der  Kirche  zu  Romanengo  ^  bei  Cremona. 

Um  diese  Kritik  nicht  allzu  sehr  über  den  mir  zugemessenen  Raum  auszu- 
dehnen, muß  ich  mich  im  Folgenden  kurz  fassen.  Die  auf  S.  77  citirte  Oper  des 
Grafen  Scipione  Agnelli  heißt  nicht  Peleo  e  Orti,  sondern  »Feleo  e  Tetide«,  auf 
derselben  Seite  (Zeile  8  v.  u.)  nicht  1618,  sondern  *1617«  und  endlich  (ebenfalls 
auf  derselben  Seite,  Zeile  5  v.  u.)  nicht  Eleonora,  nel  1620,  sondern  »Caterina 
Medici-Oonzaga,  nel  1619«.  S.  78  (letzte  Zeile)  sollte  für  Morl  veno  il  1644  das 
genaue  Datum  vom  »29.  Nov.  1643«  stehen.  Den  auf  S.  82  (Zeile  16  v.  u.)  er- 
wähnten Fassus  korrigire  man  nach  Jahrgang  1887  (Seite  348)  dieser  Zeitschrift. 
Wer  unter  dem  ChiozzoUo,  mastro  di  Capella  (S.  87  u.  S.  124)  zu  verstehen  sei, 
hat  B.  offenbar  selbst  nicht  gewußt  Man  setze  dafür  den  Namen  des  berühmten 
Kapellmeisters  an  S.  Marco,  Giovanni  Croce,  der  aus  Chioggia  gebürtig  war  und 
sich  deßhalb  meist  »il  Chiozzotto«  nannte.  S.  76  und  S.  89  erscheint  ein  Mario  (!) 
da  Qaglianoy  doch  nicht  ein  einziger  Brief  von  ihml    Unrichtig  sind  femer  die 


^  Della  Badia,  16.  IV.  1612.  D.  Bened.  FaUavicino,  Monaco  Camaldolense.  — 
Exempliur  in  Oxford,  Christ  Church. 

'  Das  Werk  ist  dem  Grafen  Fio  Simonetta  gewidmet.  —  Exemplar  in  Ox- 
ford, Ch.  Ch. 

^  Vergl«  Gio.  Ghizzolo's  1.  Buch  der  »Madrigali  et  Arie  per  sonare  et  can- 
tare,  Ven.  (Aless.  Raverii)  1609«.  Exemplare  in  Brüssel  (B.  r.)  und  London  (K. 
College). 

^  Siehe  Bohn's  »Bibliographie«,  S.  90. 


284  Kritiken  und  Referate. 


Andrea  Falconieri  betreffenden,  auf  F^tis  fußenden  bibliographisehen  Angaben. 
Das  1.  Buch  der  Villanellen  Falconieri's  erschien  1616  in  Rom  (bei  Gio.  Batt. 
Robletti),  das  5.  Buch  1619  in  Florenz  (bei  Zanobi  Pignoni).  Von  Qirolamo  Belli 
heißt  es  (S.  95),  er  habe  il  primo  libro  de'  mwi  MadrigaU  dem  Henog  von  Mantua 
gewidmet.  Man  streiche  primo  und  setze  dafür  »secondo  libro  de'  suoi  Madiigali 
ä  sei  Toci«.i  8.  97  (Z.  12  u.  Z.  20}  lese  man  »Guivizzani«,  Gemahl  der  Settimia 
Caccini,  für  C^Wzzant,  auf  der  gleichen  Seite  (Z.  21)  »Effrem«  für  E.  und  >Salo- 
mon  Rossi«  für  A.  Roni. 

Hiermit  schließe  ich  meine  Besprechung.  Der  Leser,  welcher  mir  auf  der 
Wanderung  durch  das  B.'sche  Buch  bis  hierher  gefolgt  ist,  wird  gewiß  nicht  noch 
einmal  ein  zusammenfassendes  Urtheil  verlangen.  Es  thut  mir  leid,  daß  genuie 
an  diesem  Buche  soviel  typographischer  Fleiß  verschwendet  worden  ist.  Das  Er- 
freulichste an  dem  ganzen  Bande  sind  n&mlich  die  faesimilirten  Wiedergaben  der 
Namenszüge  und  sogar  ganzer  Briefe  von  berühmten  und  nnberühmten  Musikern. 
Die  zahlreichen  Portraits,  Instrumentendarstellungen  und  sonstigen  Bildchen  konn- 
ten, da  sie  ohne  Quellenangaben  und  ohne  erkUlrenden  Kommentar  gegeben  sind, 
ganz  wegfallen;  sie  sind,  in  dieser  Form  veröffentlicht,  nichts  als  Spielereien. 

Berlin.  Emil  VogeL 


1  Das  1.  Buch  der  sechsstimmigen  Madr.  (Hrolamo  Belli's  ist  dem  Herzog  voi 
Ferrara,  das  1 .  Buch  der  fünfstimmigen  Madr.  der  Herzogin  von  Ferrara  gewidmet 


Adressen  der  Herausgeber: 

Professor  Dr.  Spitta,  d.  Z.  geschäftsführender  Herausgeber,  BerUn,  W« 
Burggrafenstraße  10;  Dr.  Friedrich  Chrysander,  Bergedorf  bei  Hamburg; 
Professor  Dr.  Guido  Adler,  Prag,  Weinberge,  Celakovskygasse  15. 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik 

des  sechszehnten  Jahrhunderts. 


Von 

Ernst  Badecke. 


In  der  Eutwickelung  der  christlich -abendländischen  Tonkunst 
gelangte  die  Vokalmusik  früher  zu  künstlerischer  Bedeutung  als  die 
Instrumentalmusik.  Während  jene  unter  dem  Schutze  und  im 
Dienste  der  Kirche  seit  dem  frühen  Mittelalter  eine  sorgsame  Pflege 
erfuhr,  und  ihre  praktischen  und  theoretischen  Erzeugnisse  in  zahl- 
reichen, fleißig  geschriebenen  Handschriften  aufbewahrt  wurden, 
während  sie  ferner  im  weltlichen  Liede,  vor  allem  in  Deutschland, 
eine  herrliche  Blüthezeit  erlebte,  lag  diese  ausschließlich  in  den 
Händen  der  nicht  sonderlich  angesehenen,  fahrenden  Spielleute  und 
tänftigen  Stadtpfeifer,  und  keine  schriftlichen  Au£seichnungen  geben 
Kunde,  welcher  Art  ihre  Kunstübung  war.  Erst  mit  dem  Beginne 
des  16.  Jahrhunderts  tritt  sie  auf  den  Plan,  in  der  Zeit  Luthers  und 
der  Humanisten,  in  der  Zeit  der  Entdeckungen  und  Erflndungen. 
Die  Erfindung  des  Notendruckes  erleichterte  die  Verbreitung  der 
Kunstwerke  und  machte  das  Kunstleben  allgemeiner,  indem  sie  die 
einzelnen  Zweige  der  Tonkunst  in  gemeinsame  Beziehungen  zuein- 
ander setzte. 

Reichlicher  als  bisher  fließen  nun  die  Quellen  der  Musikge- 
schichte; und  zahlreiche  Druckwerke  bezeugen,  daß  die  Meister 
in  der  Musik  jetzt  auch  der  Instrumentalmusik  ihr  Interesse  zu- 
wandten. Ein  Blick  auf  die  Werke  jener  Kindheit  der  Instrumen- 
talmusik lehrt,  daß  sie  außer  den  Tänzen,  die  sicher  schon  seit  lange 
in  ihnen  eine  Bolle  gespielt  hatten ,  aus  der  Vokalmusik  ihre  Nah- 
ning  sogen.  Zunächst  waren  es  meist  nur  Übertragungen  von  geist- 
lichen, kirchlichen  und  weltlichen  Gesängen;  ein  eigener  Instru- 
mental-Kompositionsstil  war  noch  nicht  vorhanden,  er  mußte  sich 
eist  bilden. 

Die  Orgel  hielt  sich  naturgemäß  vorzugsweise  an  die  Kirchen- 
mnsik,  die  sich  damals  ihrer  höchsten  Vollendung  näherte,  nachdem 
die  Kunst  der  großen  niederländischen  Meister  sich  über  fast  ganz 
Europa  verbreitet  hatte,  und  fand  namentlich  seit  der  Reformation 
im  protestantischen   Gottesdienst    ein    reiches   Feld  zur  Entfaltung 

1891.  20 


286  Ernst  Radecke, 


Die  andern  Instrumente,  unter  denen  die  Geige,  das  KlaTier  und 
die  Laute  selbständig  hervortraten,  zogen  neben  der  geistlichen 
auch  die  weltliche  Gesangsmusik  in  ihren  Bereich. 

Die  Laute  war  sehr  beliebt;  an  Popularität  scheint  sie  in  jener 
Zeit  sogar  das  Klavier  übertreffen  zu  haben,  wenigstens  in  Italien 
und  Deutschland.  In  Deutschland  war  sie  im  16.  Jahrhundert  das 
eigentliche  Hausinstrument  der  musikliebenden  Dilettanten.  Alle 
Kompositionen  kirchlichen  und  weltlichen  Stils,  die  die  Aufmerk- 
samkeit des  Publikums  auf  sich  zogen,  wurden  für  Laute  übertragen, 
damit  sie  im  Hause  auch  von  einem  einzelnen  oder  wenigen  Aus- 
fuhrenden genossen  werden  konnten.  Bei  der  großen  Bedeutung 
und  Beliebtheit,  welche  das  deutsche  weltliche  Lied  in  jener  Zeit 
hatte,  konnte  es  nicht  ausbleiben,  daß  bald  Bearbeitungen  desselben 
in  den  Lautenbüchern  einen  großen  Raum  einnahmen. 

Das  deutsche  weltliche  Lied  im  16.  Jahrhundert  läßt  sich  scharf 
in  zwei  Gruppen  sondern.  Der  ersten  Gruppe  gehören  die  Lieder 
der  ersten  drei  Yierteljahrhunderte  an.  Sie  bauen  sich  wie  das  Lied 
des  1 5.  Jahrhunderts  auf  einem  Tenor  auf,  dessen  Melodie  meist  von 
Alters  her  im  Volke  beliebt  war;  Cantus,  Altus  und  Bassus  kontra- 
punktieren gegen  diese  Melodie ,  gewöhnlich  unter  Benutzung  and 
Nachahmung  kleinerer  Abschnitte  derselben.  Den  Höhepunkt  dieses 
kontrapunktischen  Liedstiles,  der  durch  die  Zugrundelegung  des 
Volksliedes  ein  ausgesprochen  nationales  Gepräge  erhielt,  bezeichnet 
Ludwig  Senfl.  Nach  seinem  um  1555  erfolgten  Tode  ist  kein  be- 
deutender deutscher  Vertreter  des  kontrapunktischen  Liedstiles  mehr 
aufgetreten;  denn  die  Hofkapellmeister  von  München  und  Dresden, 
Orlandus  Lassus  und  Antonio  Scandelli,  die  auch  mit  Glück  im 
deutschen  Liede  thätig  waren,  gehörten  ihrer  Geburt  nach  dem  Aus- 
lande an.  Mit  Beginn  des  letzten  Viertels  des  Jahrhunderts  trat 
eine  ganz  neue  Liederart  in  Deutschland  auf;  sie  kam  von  Italien. 
Hier  war  auf  die  Pflege  der  Frottole  im  15.  Jahrhundert  die  Aus- 
bildung des  Madrigals  und  seiner  Nebenform  der  Villanelle  im  16. 
Jahrhundert  gefolgt.  Beide  Liedarten  erfreuten  sich  großer  Beliebt- 
heit und  wurden,  in  Deutschland  eingeführt,  auch  dort  sehr  bald 
populär  und  nachgeahmt.  Der  Hauptunterschied  der  Villanelle  und 
des  Madrigals  von  der  alten  deutschen  Liedart  war,  daß  in  ersteren 
die  Melodie  im  Cantus  lag,  wie  es  auch  im  deutschen  Tanzliede  im- 
mer der  Fall  gewesen  war,  während  sie  in  letzterem  vom  Tenor  ge- 
sungen wurde.  Bei  der  Villanelle  war  von  kunstvollem  Kontrapunkt 
keine  Spur,  sondern  Note  für  Note  folgten  die  ünterstimmen  der 
Melodie,  so  daß  sie  eine  Art  akkordlicher  Begleitung  bildeten, 
teilweise    primitivster    Art    mit    vielen    Quintenfolgen.      Die    leichte 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        287 


Ausfiihibarkeit  dieser  Lieder  mag  zu  ihrer  raschen  Verbreitung  bei- 
getragen haben.  Jacob  Regnart  war  der  erste,  der  1576  »kurtzweilige 
teatsche  Lieder  zu  dreyen  Stimmen,  nach  Art  der  Neapolitanen  oder 
Welschen  Yilanellen«  herausgab.  Er  fand  bald  viele  Nachahmer. 
Natürlich  wurde  auch  noch  in  der  alten  deutschen  Weise  weiter- 
komponiert; die  beiden  Formen  beeinflußten  sich  gegenseitig,  so  daß 
eine  Mischung  der  Stilarten  stattfand,  wie  sie  jede  Zeit  des  Über- 
ganges aufweist.  In  Hans  Leo  Hassler  vermählte  sich  die  deutsch- 
nationale  Art  mit  der  italienischen  auf  das  glücklichste;  er  vertiefte 
letztere  und  machte  erstere  eleganter  und  geschmeidiger.  Auch  er 
setzte  die  Melodie  in  die  Oberstimme,  aber  die  begleitenden  Stimmen 
ermangelten  nicht  der  kontrapunktischen  Führung.  Er  ist  zweifel- 
los der  bedeutendste  Komponist  der  zweiten  Gruppe  des  deutschen 
weltlichen  Liedes  im  16.  Jahrhundert. 

Diese  Bewegung  auf  dem  Gebiete  des  deutschen  weltlichen  Lie- 
des spiegelt  sich  getreu  in  den  Lautentabulaturen  jener  Zeit;  bis 
zum  Jahre  1575  finden  sich  außer  den  Tanzliedern  die  beliebtesten 
Lieder  des  kontrapunktischen  Stiles,  von  1576  an  treten  die  Villa- 
nellen  und  die  Lieder  des  Übergangsstiles  in  den  Vordergrund  und 
Terdrängen  die  Lieder  älterer  Art  bald  gänzlich. 

Für  die  Erforschung  der  Lautenmusik  des  16.  und  17.  Jahr- 
hunderts ist  noch  nicht  viel  gethan.  Abgesehen  von  einer  vortreff- 
lichen Abhandlung  über  die  französische  Lautenmusik  des  17^  Jahr- 
hunderts von  Oskar  Fleischer  ^  und  der  interessanten  Veröffentlichung 
und  Besprechung  des  Leidener  Lautenbuches  des  Thysius  von 
J.  P.  N.  Land  2,  die  ein  wichtiger  Beitrag  zur  Geschichte  der  Lie- 
dermelodieen  ist,  beschränkten  sich  die  Forscher  darauf,  die  Ent- 
zifferung der  verschiedenen  Lautennotationen  festzustellen  und  die 
Titel,  Inhaltsangaben  und  Auszüge  aus  den  Vorreden  und  Spielregeln 
der  Lautentabulaturbücher^  zu  veröffentlichen.  Die  Kompositionen 
fui  das  Listrument  sind  bis  jetzt  von  ihnen  noch  keiner  eingehenden 
wissenschaftlichen   Untersuchung  unterzogen  worden;   Ambros^    und 

1  Oskar  Fleischer:  Denis  Gautier,  in  der  Vierteljahrsschrift  für  Musikwissen- 
schaft, 2.  Jahrg.  1886.  Heft  1.    Auch  separat  erschienen. 

^  In  der  Tijdschrift  voor  Noord-Nederlands  Muziekgeschiedenia.  I.  1885. 

^  K.  y.  Siesewetter  in  der  Leipziger  musikal.  Ztg.  Bd.  18.  No.  19  u.  20. 
Bd.  33.  No.  3.  —  A.  W.  Ambros:  Geschichte  der  Musik.  Bd.  HL  2.  Aufl.  1881. 
S.  435—443.  —  C.  F.  Becker:  Die  Hausmusik  in  Deutschland  in  dem  16.,  17.  u. 
IS.  Jhdt  Leipzig.  1840.  S.  51—57.  —  W.  J.  v.  Wasielewski:  Geschichte  der  In- 
strumentalmusik im  16.  Jhdt.  Berlin  1878.  S.  29—49,  S.  109—118,  S.  130—133.— 
Monatshefte  für  Musikgeschichte  hrsg.  v.  Hob.  Eitner:  Jahrgang  1869.  S.  115  ff.; 
1871.  S.  152,  S.  210;  1872.  S.  38,  S.  52,  1876.  S.  6,  S.  119;  1877.  S.  59;  1879. 
S.  211;  1882.  S.  121;  1885.  S.  29;   1886.  S.  101. 

«  Ambros :  Geschichte  der  Musik.  Bd.  H.  2.  Aufl.  1S80.  S.  282— 284,  492— 498. 

20* 


288  'Ernst  Radecke, 


Wasielewski,^  auch  Robert  Eitner^,  machen  Ansätze  dazu,  bleiben 
aber  zu  sehr  an  der  Oberfläche.  Da  die  Fülle  des  Stoffes  sehr  groB 
ist,  macht  sie  dem,  welcher  zuerst  in  eine  Betrachtung  des  Inhaltes 
der  Lautenmusik  eintreten  will^  Beschränkung  zur  Pflicht.  Wir  wen- 
den daher  unsere  Aufmerksamkeit  auf  die  Lautenmusik  des  16.  Jahr- 
hunderts in  Deutschland  und  innerhalb  derselben  wieder  nur  auf  die 
Bearbeitungen  deutscher  weltlicher  Lieder,  die  sich  wie  oben  erwähnt 
so  zahlreich  in  den  Lautenbüchem  finden.  Zu  Grunde  legen  wir 
451  Liederbearbeitungen  für  Laute,  die  aus  nachstehend  verzeichneten 
Druckwerken  und  Handschriften  aus  der  Zeit  von  1507 — 1615  ent- 
nommen sind: 

L  Druckwerke. 

1)  Intabulatura  de  Lauto.  libr.  L  u.  IL  [Auf  der  letzten  Seite]:  Impressum 
Venetiis  Per  Oetavianum  Petrutium  Forosemproniensem.  Cum  privilegio  in- 
victissimi  domisi  Venetiarum Die  ultimo  Martij  1507. 

K.  B.  BerUn.  P.  680. 

2)  Tabulaturen  Etlicher  loblgesang  und  liedlein  uff  die  orgeln  un  lau{ten, 
ein  theil  mit  zweien  stimen  zu  zwicken  1  un  die  drit  dartzu  singe,  etlich  on  ge- 
sank I  mit  dreien,  tö  Amolt  Schlicken  Pfaltzlgravischen  Churfarstliehen  Organiste  | 
Tabulirt  uii  in  den  truck  in  d  ursprungklichen  stat  der  truckerei  zu  Meintz,  wie 
sie  noch  volgt  verordnet.  (Hinten) :  Getruckt  zu  Mentz  durch  Peter  Schöffern.  Uff 
sant  Mattheis  abent.     Anno  1512. 

K.  B.  Berlin.    S.  680.    (Dem  Berliner  Exemplar  fehlt  das  Titelblatt). 

3)  Musica  Teusch  (!)  auf  die  Instrujment  der  grossen  und  kleinen  Oeygen, 
auch  Lautten,  |  welcher  masssn  die  mit  grundt  und  art  jrer  Compo-|sicion  auss 
dem  gesang  in  die  Tabulotur  zu  ord-|nen  und  zu  setzen  ist  |  sampt  verborgner  | 
applieation  und  kunst  |  Darynen  ein  liebhaber  un  anfenger  berurter  Instrument  so 
darzu  lust  und  neygung  |  tregt,  on  ein  sonderliche  Meyster  mensQrlich  durch  täg- 
liche ubung  leichtiich  begreiffen  |  und  lernen  mag,  vormals  im  Truck  nye  und  ytxo 
durch  Hans  Gerle  Lutinist  1  zu  Nurenberg  auszgangen.   |   1532. 

K.  Bibl.  BerUn.  G.  883. 

Musica  Teutsch (etc.  wie  oben) durch   Hans  Gerle  Lute- 

nist  I  zu  Nurenberg  aussgangen.  |  1537.    (2.  Auflage). 
K.  B.  Berlin.    G.  882. 

4)  Musica  und  Tabulatur  |  auff  die  Instrumet  der  kleinen  und  grossen  Geygen, 
auch  Lautten  ....  (etc.  wie  oben)  ....  durch  Hans  Gerle  Lutenist  zu  Nurenberg 
aussgangen.     1546.     (Spätere  vermehrte  Auflage  der  Musica  Teutsch). 

K..  Bibl  BerUn.    G.  884. 

5)  Ein  Newgeordent  künstlich  Lau-{tenbuch,  In  zwen  theyl  getheylt.  Der  erst 
für  die  anfahenden  |  Schuler  die  aus  rechter  kunst  und  grundt  nach  der  Tabulatur, 
sich  one  |  einichen  Meyster  darin  zu  fiben  haben,  durch  ein  leicht  Exempel  dieser  | 

punctlein wohin  man  mit  einem  yede  finger  recht  greiffen  |  sol. 

Weyter,  wie  mä  die  Tabulatur  auch  dis  Men-Isur,  uii  die  gantz  Application  recht 
grundtlich  lernen  uii  versteen  sol. 

Im  andern  theyl  sein  begriffen,  vil  ausserlessner  kunstreicher  stuck,  [  von 
Fantaseyen,  Preambeln,  Psalmen  und  Muteten,  die  von  den  hochberumbjten  un 
besten  Organisten ,  als  einen  schätz  gehalten ,  die  sein  mit  sonderm  fletss  auff  | 
die  Organistisch  art  gemacht  und  colorirt,  für  die  geübten  und  erfamen  di-jaer 
kunst,  auff  die  Lauten  dargeben.  |  Dergleichen  vormals  nie  im  |  Truck,  Aber  yetio 

'  V.  Wasielewski  a.  a.  O. 

2  Monatshefte,  Jahrgang  1869.  S.  115. 


Das  deutsche  veitliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        289 


daich  mich  Hansen  Newsidler  Lutenisten  |  und  Borger  zu  Nürnberg,  öffentlich 
ausseangen.  | 

Mit  Rfim.  Keys,  und  K5ni(^l.  Ma.  freyheit  in  funff  iaren  nit  nach  zu  trucken, 
begnadet  [Auf  dem  letzten  Blatt]:  Oetruckt  zu  Nürnberg  beym  Petreio,  durch  | 
Tenegung  Hansen  Newsidlers  Lutinisten.  |  Anno  1536. 

K.  Bibl.  Berlin.  N.  175. 

6)  Tenor-|  Lautenbuch  vonn  mancherlei  schönen  |  und  lieblichen  stucken  mit 
iweyen  lauten  zusamen  zu  schlagen,  Itabenische  lieder,  Pass'emezi,  Saltarelli, 
Paduane.  Weiter  Frantzösische ,  Teütsche,  |  mit  sampt  |  mancherley  däntzen, 
durch  Hans  Jacob  Wecker  yon  Basel  auffs  aller  fleissigest  auff  zwo  lauten  |  zü- 
samen  gesetzt    Gedruckt  zu  Basel,  durch  Ludwig  Lück,  im  MDLH.  Jar. 

FOrstL  Stolbergsche  Biblioth.  Wernigerode  a./H.    Ue.  273. 

7}  Discant-| Lautten  Buch,  von  mancherley  |  schönen  und  lieblichen  stucken, 
mit  iweyen  Lautten  |  zusamen  zuschlage,  und  auch  sonst  das  mehrer  thevl  |  allein 
für  sich  selbst.  Oute  Teutsche,  Lateinische,  Frantzösische,  Italienisclie  Stuck 
oder  lieder.  Auch  |  vilfaltige  Newe  Tentz,  sampt  mancherley  Fantaseyeii?  |  Recer- 
cari,  Payana,  Saltarelli,  una  Gassenhawer,  |  etc.  Durch  Wolffen  Heckel  yon  Mlin- 
ehen,  Bur-|ger  zu  Strassburg  Auff  das  aller  lieblichst  in  I  ein  yerstendige  Tabula- 
tor nach  geschribner  art  |  aussgesetzt  und  ^usamengebracht,  weliches  yor  nie  also 
f:e-|sehen  worden.  J  Getruckt  zu  Strassburg  durch  Urban  |  Wyss  Rechenmeister, 
m  Jar  M.  D.  L.  VI. 

K.  Bibl.  Berlin.  H.  690. 

8)  Tenor- 1 Lautenbuch  ....  (etc.  wie  oben]  ...  durch  Wolffen  Heckel  ...  zu- 
samengebracht.  |  Getruckt  zu  Strassburg  am  Kommarckt  bey  Christian  Müller, 
Im  Jar,  IM.  D.  L.  XH.     (Spätere  Auflage). 

£.  BibL  BerUn.  H.  695. 

9)  Tabulatur-|buch  auff  die  Lautten,  yon  Moteten,  |  Frantzösischen,  Welschen 
und  Teutschen  Geystlichen  und  |  Weltlichen  Liedern,  sampt  etlichen  jren  Texten, 
mit  Vieren,  Fünffen,  |  und  Sechs  stimen,  dergleichen  yor  nie  im  Truck  aussgangen, 
zu  sondern  |  hohen  Ehren,  und  underdenigsten  wolgefallen,  dem  Durchleuch-| 
tigsten  Hochgebomen  Fürsten  und  Herren  Ott  Hein-|ricnen  Pfaltzgrayen  bey  Rhein, 
des  heyligen  Römischen  |  Reichs  Ertzdruchsessen  und  Churfürsten,  Hcrtzogen  |  in 
Nidem  und  Ober  Bairn,  etc.  Durch  Seba-|stian  Ochsenkhun  jrer  ChurfürsUichenj 
Gnaden  Lutinisten  zusamen  |  ordinirt  und  gelesen. 

Hab  Gott  für  aueen 
Sebastian  Ochsenkun 

Mit  Kaiser.  Malest  Freyheit  begnad  |  nit  nachzutrucken. 

Gedruckt  in  der  Churfdrstlichen  Stat  Heydelberg  |  durch  Johan  Kholen. 

[Auf  dem  letzten  Blatt:]  155S. 

K.  BibL  Berlm.  O.  60. 

10}  Das  Erste  Buch  |  Newerlessner  |  Fleissiger  ettlicher  yiel  |  Schöner  Lauten- 
stück, yon  artlichen  |  Fantaseyen,  lieblichen  Teutschen,  Frantzösischen  |  und  Ita- 
lianischen Liedern,  künstlichen  Lateini-jschen  Muteten,  mit  yier  und  funff  stim- 
men, Auch  I  lustigen  allerhand  Passomezen:  in  die  Teutsche  Tabulatur,  zu  nutz 
und  gefallen  allen  diser  Kunst  |  lehrbegirige ,  für  nämlich  denjenigen,  so  der 
fremb-|den  Welschen  Tabulatur  etwas  unerfahr-|nen  auff  das  yerstandlichest  und 
Tich-jtigeat  zu  samengetragen,  geord-jnet,  und  auch  selber  |  getruckt  |  Durch  Bern- 
hard Jobin   I   Burger  zu  Strassburg.   |   M.  D.  L.  XXH. 

Stadtbibliothek  Breslau.    Mus.  404. 

11}  Teutsch  Lautenbuch  |  Darinnen  |  kunstliche  Mutete,  lieb-|liche  Italiänische, 
Frantzösische,  Teüt-|sche  Stuck,  fröliche  Teutsche  Täntz,  Passoe-|mezo,  Saltarelle, 
und  drei  Fantaseien  Alles  mit  |  fleiss  aussgesetzt,  auch  artlich  und  |  zierlich  Co- 
loriert,  |  durch  |  Melchior  Newsidler,  Bur-|ger  und  Lautenisten  in  |  Augspurg. 

Getruckt  zu  Strassburg,  durch  |  Bemhart  Jobin,  Im  Jar.  |  1574. 

Mit  R5m.  Key.  May.  Freiheit  |  auff  zehen  Jar. 

UerzogL  Bibhoth.  Wolffenbüttel. 

12)  Tabulatura  |  noya  |  Continens  Selectis-|simas  Quasque  Cantiones  ut  |  sunt 


290  Ernst  Radecke, 


Madrigalia,  Mutetae,  PaduTanae  et  |  VilaneUae,  testudini  sie  aptatas,  ut  quilibet 
singulas  |  duplici  modo,  ludere  et  concinere  possit  iam  recens  edita  |  per  |  Oi^orium 
Krengel  Francostenensem  Silesium.  [Folgt  ein  Bild:  Frau  mit  Laute].  Franco- 
fordiae  eis  Viadrum,  in  offi-|cina  Andreae  Eiohom.  1  Anno  |  MDLXXXIIU.  Com 
Gratia  et  Frivilegio  Caesareae  Maiestatis. 
Stadtbibl.  Breslau.     Mus.  414. 

13)  Lautenbuoh  1  Darinn  |  von  der  Ta|bulatur  und  Application  der  Lauten  | 
gründlicher  und  voller  Unterricht:  Sampt  ausserlesenen  Deutd-Ischen  und  Pol- 
nischen Tentzen,  Passamesen,  Oailliarden,  Deudtsehen  Vi-|lanellen,  Neapolitanen, 
und  Phantasieen:  |  Auff  der  Lauten  zu  schlagen  gantz  iTeißig  zugerichtet,  und 
allen  Lieb-|habem  dieser  Kunst  zu  nutz  und  gefallen  in  den  Druck  gegeben  . 
Durch  I  Matthaeum  Waisselium  Bartensteinensem  Borussum. 

[Folgt  ein  Bild:  Frau  mit  Laute]. 

Gedruckt  zu  Frankfurt  an  der  Oder,  durch  Andream  |  Eichorn,  Anno  MDXC1I| 

K.  BibL  Berlin.  W.  70. 

14)  i^lorilegium  |  omnis  fere  |  generis  |  Cantionum  suayissimarum  |  ad  testudinis 
tabulaturam  ac-lcomodatarum,  longe  iucun-  |  dissimum.  |  In  quo  praeter  Fantasias 
Lepidissimas,  |  continentur  diversorum  Authorum  cantiones  selectissimae,  utpote: 
Motetae,  Neapolitanae,  Madrigales  triü,  quatuor,  quinq,  sex  |  vocum.  Item  Passe- 
mezi,  Galiardae,  Alemandi,  Courätes  |  Voltae,  Bransles,  et  eins  generis  Choreae 
variae :  Om-{nia  ad  testudinis  tabulaturam  fideliter  |  redacta,  per  1  Adrianum  Denss.  | 
Indicem  cantionum  et  choraearum  post  praefationem  videre  licebit.  | 

[Darunter  ein  Bild:  Schiff]. 

Coloniae  Agrippinae  1  Excudebat  Gerardus  Greüenbruch.  Anno  redemptionis,  1 
M.  D.  XCN. 

Stadtbibliothek  Breslau.    Mus.  269. 

15)  Flores  Musicae,  |  hoc  est  |  Suayissimae  et  Lepidissimae  Cantio-jnes,  Ma- 
drigalia vulgus  nominat,  |  Una  cum  variis  Payanis,  Paduanis,  Galliardis,  Intra-|dis, 
Fantasiis  et  Choreis,  ex  quam  plurimis  autoribus  Italicis,  |  Gallicis  et  Germanicis 
ma^nÄ  industriä  collectae,  et  nunc  |  primum  ita  descriptae,  ut  testudinis  fidibus  1 
cani  possint  |  per  Joannem  Kudenium  Lipsiensem  11.  stu-|diosum  et  cptXöfjiouaov  i 
Una  veneunt  Matthaei  Reymanni  Toronensis  Noctes  Musicae  per^uam  artifiiciose 
com-{positae ,  in  quibus  yariata  Praeludia  et  Passemezae  cum  Triplis  ac  Ripresis 
ad  notas  |  musicales  dintinctas  tam  in  cantu  B  mollari  quam  B  durali ;  Variae  item 
Fantasiae,  Pa-|yanae,  Galliardae,  et  Choreae  Germanicae  cum  Triplis  |  suis;  ut  ita 
corpus  quoddam  integrum  artis  Musicae  |  studiosi  habeant.  |  Catalogum  horum  om- 
nium  post  Praefationem  inyenies.  | 

[Folgt  ein  Bild:  Crucifix,  darunter  Sf^rkophagl. 
Heidelbergae  |  Typis  Voegelinianis.  |  M.  D.  C. 
Stadtbibl.  Breslau.    Mus.  634. 

16)  Testudo  Gallo-Germanica  |  Hoc  est:  |  Noyae  et  nun- {quam  ante  hac  editaej 
recreationes  Musicae,  ad  testudi-|nis  usum  et  tabulaturam,  tam  Gallicam  |  quam 
Germanicam,  accomodatae:  ex  praestantissimus  hujus  aeyi  et  artis  |  Magistris, 
Italis,  Gallis,  Germanis,  aliisque  collectae,  noyo  typorum  genere,  |  in  gratiam  sua- 
yissimae hujus  artis  amatorum,  nunc  primum  J  in  lucem  productae.  |  In  ouibus 
continentur,  ut  in  sua  cuiusque  |  lingua  appellantur  Praeludia,  Fantasie,  Ricer- 
cari,  Canzoni,  Motete,  Madrigali,  |  Canzonette,  Payane  seu  Paduane,  Passomezi, 
Gagliarde,  Intrade,  Bransles,  Voltes,  |  Alemandes,  Courantes,  et  aliae  yariae  supra- 
dictarum,  aliarumque  |  Nationum  cantiones  et  Choreae.  | 

[Folgt  ein  Bild:    Laute]. 

Peculiari  cura  et  sumptu  |  Georgii  Leopoldi  Fuhrmanni,  ciyis,  chalcographi  et  | 
Bibliopolae  Norici ;  |  Anno  Christi  |  M.  D.  C.  XV. 
Stadtbibliothek  Breslau.     Mus.  330. 

II.  Handschriften. 

1)  Lautentabulaturbach  ohne  Titelblatt  in  deutscher  Lautentabulatur.  Modemer 
Pappeinband  mit  Leinwandrücken.  40.  Hof-undStaatsbibliothek.  München  Mus.  Mss. 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        291 


1512.  Inhalt:  S.  1.  Ein  Lautenkragen  aufgezeichnet.  S.  2 u.  3.  Hegeln  über  die  Men- 
sur. Von  8.  4  ab  folgen  105  Stücke,  die  auf  Blatt  28  durch  Theoretisches  über  die 
Laute  unterbrochen  werden.*  Von  den  105  Stücken  sind  28 :  deutsche  Lieder,  von 
denen  25  weltlieh  sind,  6 :  französische  Chansons ,  40 :  deutsche  und  23 :  welsche 
Tfinze.  4:  Preambeln,  2:  Motetten.  Alles  von  einer  Hand  geschrieben.  Die  Hand- 
schrift stammt  wohl  aus  der  Zeit  um  1540,  da  sie  meist  Lieder  enthält,  die  auch  in 
den  obengenannten  Lautenbüchem  von  Hans  Oerle  und  Hans  Neusidler  gedruckt  sind. 

2)  Lautentabulaturbuch  ohne  Titelblatt,  in  italienischer  Tabulatur  geschrieben, 
in  modernen  Fappband  mit  Leinwandrücken  gebunden.  Folio.  Hof-  und  Staats- 
Bibliothek.  Müncnen.  Mus.  Mss.  266.  Inhalt:  189  Stücke,  und  zwar:  24  Ricercari, 
11  Fantasie,  1  Priambolo,  1  Bataglia,  6  Motetten,  21  Madrigali,  Villanelle,  Villotte, 
58  Chansons,  8  Lieder,  darunter  6  weltliche,  28  Tänze,  25  Stücke  ohne  Bezeich- 
nung. 6  defecte  Stücke  (No.  103.  107.  129.  155.  157.)  Blatt  137/38  ist  in  deut- 
scher Tabulatur  geschrieben.  Verschiedene  Schreiber  sind  erkennbar.  Die  Hand- 
schrift stammt  aus  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts,  da  S.  60  am  Schlüsse 
des  Stückes  No.  83  die  Bemerkung  steht:  Fantasia  auffs  vatter  unser  der  du  bist 
im  himelreich  Anno  1587. 

3)  Handschrift  5102.  BibL  d.  k.  Hochschule  für  Musik  zu  Berlin.  Inhalt: 
9S  Lautenstücke  auf  107  foU.  (bis  91  von  derselben  Hand  paginirt).  FoL  1  fehlt. 
Auf  ihm  stand  wahrscheinlich  der  Titel  und  Passomezo  I.  Die  Handschrift  ist  von 
verschiedenen  Händen  geschrieben.  Die  zweite  Hand  hat  die  erste  ergänzt,  pagi- 
niert und  die  einzelnen  Teile  mit  roter  Tinte  numeriert.  Wo  sie  selbst  fortsetzt, 
sind  auch  die  Anfangsbuchstaben  und  vereinzelt  die  ersten  Takte  mit  roter  Tinte 
geschrieben.  Zum  Einband  sind  2  Fergamentblätter  benutzt ,  deren  Buchstaben 
und  Neumen  schwarz  überstrichen  sind.  Als  Bücken  dient  fein  gepresstes  Leder. 
Das  Papier  ist,  wie  das  Wasserzeichen  beweist,  aus  Dresden.  Auf  der  Vorderseite 
des  Einbandes  oben  IVL;  darunter  ein  Wappen;  darunter  die  Jahreszahl  1588. 
Inhalt:  Hauptsächlich  Tänze,  nur  2  deutsche  weltliche  Lieder. ^ 

4)  Handschrift  in  Duodezformat  der  k.  öffentlichen  Bibliothek  Dresden  Msc. 
M.  297.  Dunkler  Ledereinband.  Auf  dem  Deckel  die  Buchstaben:  B.  K.  S.  S.. 
darunter  1603.  Inhalt:  Liedertezte,  deren  14  Musik  in  französischer  Lautentabu- 
latur  beigegeben  ist.  Diesen  geht  der  Vermerk  voraus :  »Folgen  andere  noch  mehr 
weldtliche  züchtige  Lieder  und  Keimen,  Ein  jeder  auf  seine  darob  verzeichnete 
Mdodey«.* 

5)  Handschrift  der  Herzogl.  Bibl.  Wolfenbüttel  1.  31.  Mus.  nunc  Mss.  1.  S.  7. 
und  1.  3.  2.  Mus.  nunc  Mss.  18.  8.  Zwei  starke  Foliobände  in  rotbraunem  Leder- 
band. Auf  der  äui3eren  Deckelseite  eines  jeden:  P.  H.  A.  1604.  Von  einer  Hand 
vortrefflich  geschrieben;  ursprünglich  mit  Kupferstrichen  geziert,  die  leider  im 
Laufe  der  Jahre  aus  der  Handschrift  entfernt  sind. 

Inhalt  des  ersten  Bandes: 

Erster  thaü  |  Philippi  Hainhoferi  Lautenbucher ,  darinnen  begriffen  |  Gayst- 
liche  Hvmni,  Psalmen,  Slirchengesäng  und  |  lieder,  so  von  vilen  gueten  Maistern 
in  Ita-|lia-|nischer  tabulatur  auf  der  lauten  zu  spilen  aussgesetzt  |  under  Jedliches 
der  tezt  geschrieben  mit  schonen  ku-|pferstuckhen  hin  und  wider  gezieret  und  zur 
nach-.richtung  Volgende  Begister  beygefuegt  |  sein,  so  folio  1.  7.  et  8.  zu  fündenj. 
Anoo  1603. 

Anderer  Thayl  |  Philippi  Hainhoferi  Lautenbucher,  welcher  Muteten,  J  Madri- 
gal], Canzoni,  Vilanelle,  J  Arie,  und  sonst  underschiedliche  weltli-|che  Lieder  In 
sich  helt,  als  aus  volgendem  Kegister  zu  sehen  |  Ist. 

Dritter  Thayl  |  Philippi  Hainhoferi  Lautenbucher  darinnen  begriffen  |  Preludi 


^  Die  Beschreibung  dieser  Handschrift  stammt  von  Herrn  Dr.  Max  Seiffert, 
der  ne  vor  Jahren  vollständig  abgeschrieben  hatte,  und  so  liebenswürdig  war  mir 
seine  Abschrift  zur  Verfügung  zu  stellen. 

2  Herr  Dr.  Bolte,  der  sich  die  Handschrift  hatte  nach  Berlin  kommen  lassen, 
machte  mich  auf  dieselbe  aufmerksam  und  gestattete  mir  gütigst,  eine  Abschrift 
der  Lieder  zu  nehmen. 


294  ^r^Bt  Hadecke, 


16.  Jahrhundeits ,  deren  Lieder  für  Laute  bearbeitet  wurden,  seien 
hier  genannt:  Heinrich  Finck,  Thomas  Stoltzer,  dessen  Lied  nch 
klag  den  Tag  und  alle  Stund«  beispielsweise  in  7  verschiedenen 
Bearbeitungen  vorliegt,  Paul  Hoffheymer,  von  dessen  Lied  »Tröst- 
licher Lieb  ich  mich  stets  ueb«  8  Übertragungen  sich  finden,  Lud- 
wig Senil ,  dessen  Lied  »was  wird  es  doch  des  Wunders  noch«  neun- 
mal vorkommt,  Wolff  Grefinger  u.  a.  Unter  den  Komponisten  der 
zweiten  Periode  finden  sich  Jacob  Begnart ,  dessen  dreistimmige 
Lieder  nach  Art  der  welschen  Villanellen  sich  einer  ungeheuren  Be- 
liebtheit erfreuten,'  wie  der  Umstand  beweist,  daß  die  meisten  derselben 
in  mehrfachen  Bearbeitungen  vorliegen,  Leonhard  Lechner,  Valentin 
Haußmann,  nicht  zu  vergessen  Hans  Leo  Haßler,  der  jener  Zeit  ihr 
charakteristisches  Gepräge  verlieh  und  dem  deutschen  Liede  den  Weg 
wies,  den  es  im  17.  Jahrhundert  zu  gehen  hatte,  wenigstens  was  die 
Mehrstimmigkeit  betrifft,  Gregor  Lange  u.  a.  Eine  vollständige  Auf- 
zählung der  Lieder  mit  Nachweis  ihrer  Komponisten  und  ihrer 
Originale  an  dieser  Stelle  erscheint  nicht  angebracht,  da  sie  den  Zu- 
sammenhang der  Darstellung  allzusehr  unterbrechen  würde;  sie  ist 
daher  als  Anhang  an  den  Schluß  der  Arbeit  gewiesen.^ 

2. 

Die  Art  der  Llederbearbeitnngen  für  Laote. 

1.  Die  Bearbeitungen  der  Lieder  des  älteren,  kontra- 
punktischen Stiles. 

Bei  Eintritt  in  die  Untersuchung,  in  welcher  Weise  die  deutschen 
weltlichen  Lieder  für  die  Laute  bearbeitet  wurden,  wenden  wir  uus 
zunächst  den  Liedern  des  älteren  kontrapunktischen  Stiles,  den  Lie- 
dern Thomas  Stoltzers,  Ludwig  Senfls  und  ihrer  Zeitgenossen  zu. 
Diese  Lieder  waren  meist  vierstimmig  gesetzt,  manchmal  mehrstimmig, 
nie  zwei-  oder  dreistimmig. ^  Ihre  Bearbeitungen  sind  teils  zwei- 
stimmig, häufig  dreistimmig,  teils  vierstimmig  oder  der  Stimmenzahl 
des  Originals  entsprechend.  In  welcher  Weise  geschah  nun  die  Be- 
arbeitung, wie  fand  sich  das  Instrument  mit  der  kontrapunktischen 
Stimmführung  ab,  die  seinem  Bau  und  Charakter  doch  nicht  entsprach, 
was  blieb  von  einem  vierstimmigen  Liede  übrig,  wenn  es  zwei- 
oder  dreistimmig  übertragen  wurde,  herrschte  ein  bestimmtes  Princip, 
nach  dem  arrangiert  wurde?  Die  letzte  Frage  glaube  ich  dahin  bejahen 
zu  können,  daß  innerhalb  der  verschiedenen  Arten  der  Bearbeitungen, 

^  Zu  diesem  Teil  I.  vgL  den  Anhang  S.  35—49:  Alphabetisches  Verzeichnis 
der  Liederbearbeitungen  mit  Nachweis  der  Komponisten  und  Angabe  der  Originale. 

2  Ich  spreche  hier  nur  von  den  Liedern,  die  für  die  von  mir  gesammelten 
Bearbeitungen  in  Betracht  kommen. 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        295 


je  nachdem  sie  zwei-,  drei-  oder  mehrstimmig  waren,  sich  im  Laufe 
des  Jahrhunderts  allerdings  ein  allgemein  feststehender  Brauch  bildete. 
Zweistimmige  Transscriptionen  finden  sich  nur  in  den  Lauten- 
büchem  Hans  Gerles  und  Hans  Newsidlers,  sowie  in  dem  Münchener 
Manuscript  Nr.  1512.  Sie  waren  für  den  Unterricht  bestimmt,  »für 
die  anfallenden  Schuler«  wie  die  Bearbeiter  ausdrücklich  be- 
merken, machen  also  keinen  Anspruch  darauf,  freie  künstlerische 
Leistungen  zu  sein,  und  dürfen  nicht  als  solche  beurteilt  werden. 
Für  den  Forscher  sind  sie  von  Wert.  Ein  Beispiel  erläutert  am 
besten,  wie  die  Bearbeitung  vor  sich  ging ;  gewählt  sei  eines,  das  bei 
Gerle,  Hans  Newsidler  und  im  Münchener  Manuscript  zweistimmig, 
bei  denselben  auch  dreistimmig,  bei  Wolff  Heckel  vierstimmig  vor- 
kommt :  »ich  klag  den  Tag  und  alle  Stunda  in  der  Komposition  von 
Thomas  Stoltzer;  das  Original,  das  hier  auch  Platz  finden  möge,  ist 
zu  finden  in  Georg  Forsters  »Außbund  schöner  teutscher  Liedlein« 
I.  Nr.  33.    Nürnberg  1549. 


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Lautenbearbeitung  bei  Hans  Newsidler:  »Ein  neugeordent  künstlich 
Lautenbuch  etc.«  Teil  I.  Nürnberg.    1536. 


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20 


Hans  Newsidler  hat  sich,  wie  man  sieht,  damit  begnügt,  den 
Tenor  und  den  Baß  des  Stoltzerschen  Liedes  Note  für  Note  zu  über- 
tragen,  jedoch  eine  Quinte  höher.   Diskant  und  Alt  fehlen  einfach. 


1  Ueber  die  Bedeutung  des  Kreuzes  s.  Abschnitt  3,  S.  32  u.  33. 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        297 


Hierdttrch  erreicht  er  zwar,  daß  die  Hauptsache^  die  Melodie  des 
Liedes  im  Tenor,  deutlich  hervortritt;  aber  der  zweistimmige  Kontra- 
punkt anstatt  des  vierstimmigen  nimmt  sich  doch  gar  zu  dürftig  aus. 
Das  Fortlassen  der  oberen  beiden  Stimmen  war  Princip;  es  findet 
bei  allen  zweistimmigen  Bearbeitungen  statt,  für  die  ich  ein  Original 
gefunden  habe.  Daß  durch  diese  mechanische  Verstümmelung  der 
Lieder  der  zweistimmige  Kontrapunkt  nicht  immer  der  beste  war,  da 
doch  eine  Baßstimme,  die  mit  Rücksicht  auf  vierstimmigen  Satz  gut 
erfunden,  nicht  notwendig  in  derselben  Führung  im  zweistimmigen 
Satze  am  Platze  war,  läßt  sich  denken,  scheint  aber  die  ehrsamen 
deutschen  »Lutenisten«  nicht  sehr  gestört  zu  haben.  Die  höhere  Lage 
ist  gewählt,  damit  die  Sangsaiten  die  Melodie  übernehmen  können, 
und  weil  nach  der  damaligen  Beschaffenheit  der  deutschen  Laute  — 
sie  hatte  bekanntlich  elf  Saiten  in  der  RegeL  die  zu  sechs  Chören 
vereinigt  waren  in  der  Stimmung  A-d- g - h-e-ä  —  die  Töne  F und 
(r,  die  im  Baß  des  Liedes  einigemale  vorkommen,  nicht  gespielt 
werden  konnten.  Die  wenigen  x\bweichungen ,  die  beide  Stimmen 
aufif eisen  erUären  sich  aus  dem  Charakter  des  Instruments:  Da  die 
Saiten  desselben  mit  den  Fingern  gerissen  werden,  ist  der  erzeugte 
Ton  von  beschränkter  Dauer,  im  Anfang  stark,  dann  ziemlich  rasch 
▼erklingend ;  verlässt  der  Finger  der  linken  Hand  den  Bund,  weil  er 
in  einer  anderen  Stimme  beschäftigt  wird,  so  ist  es  mit  dem  Tone 
natürlich  vorbei.  Daher  zerlegen  die  »Lutinisten«  längere  Noten  gern 
in  kleinere  Werte,  indem  sie  Tonwiederholung  eintreten  lassen.  So 
zerlegt  im  obigen  Beispiel  Hans  Newsidler  im  dritten  Takte  die 
Semibrevis  mit  einem  Punkt  in  beiden  Stimmen  in  eine  Semibrevis 
und  eine  Minima,  die  punktierte  Minima  im  Baß  des  zehnten  Taktes, 
ebenso  die  punktierte  Minima  im  Tenor  des  19.  Taktes  in  je  eine 
Minima  und  je  eine  Semiminima,  die  aneinandergebundenen  Halben 
auf  der  Grenze  des  19.  und  20.  Taktes  in  ein  Viertel,  das  bis  zum 
Werte  einer  Halben  fortklingend  zu  denken  ist,  und  eine  Halbe. 
Desgleichen  sind  die  Minima  im  Tenor  des  1 1 .  Taktes  und  die  Semi- 
minima  im  Baß  des  20.  Taktes  bis  zu  ihrem  doppelten  Werte  fort- 
klingend zu  denken.    Im  19.  Takte  ändert  Hans  Newsidler  den  Gang 

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des  Basses  in  Viertelnoten  c  d  e  f  dahin  ab ,  daß  er  e-e  f  setzt, 
während  Hans  Gerle  in  seiner  Bearbeitung  die  Noten  des  Originals 
beibehält.  Vielleicht  hatte  ersterer  das  richtige  Gefühl,  daß  seine 
Änderung  für  den  zweistimmigen  Kontrapunkt  eine  Verbesserung  be- 
deutete, vielleicht  aber  schien  es  ihm  für  Anfänger  zu  schwer  zu 
sein ;  denn  es  ist  in  der  That  unbequem  zu  greifen :  das  y  des  Tenors 


298  EfQst  Radecke, 


ist  der  dritte  Bund  der  kleinen  Sangsaite,  das  c  des  Basses  der  dritte 
Bund  des  »GroBbomharts« ,  beide  wären  also  mit  demselben  Finger, 
dem  Ringfinger  zu  greifen;  es  liegen  aber  drei  Cböre  dazwischen. 
Indessen  sehr  groß  kann  die  Schwierigkeit  doch  nicht  gewesen  sein, 
da  auch  Gerle  für  »anfahende  Schuler«  schrieb. 

Im  übrigen  zeigt  des  letzteren  Übertragung  keine  großen  Ab- 
weichungen von  der  Hans  Newsidlers  —  dasselbe  gilt  auch  von  der 
im  Münchener  Manuscript  Nr.  1512  — :  nur  im  10.  Takte,  wo  New- 
sidler  streng  nach  dem  Original  das  h  in  den  drei  ersten  Vierteln 
des  Taktes  festhält,  setzt  Gerle  drei  Viertel  h  c  h\  desgleichen  im 
Baß  des  10.  Taktes  statt  der  punktierten  Minima  g  drei  einzelne 
Viertel  g  f  g*  Die  längere  Note,  welche  zu  schnell  verklingen  würde, 
wird  eben  durch  kleinere  Werte  ersetzt  und,  um  die  Steifheit  der 
Tonwiederholung  zu  vermeiden,  wird  ein  Mittelton  als  Bindeglied 
eingeschoben,  so  daß  eine  kleine  Verzierung  entsteht.  Wir  haben 
hier  den  Anfang  jener  »CoUeraturen  und  Leuffleina,  die  bei  den 
fertigen  Lautenspielem  so  sehr  beliebt  waren.  Sie  dienten  in  erster 
Linie  dazu  Töne  von  großen  Notenwerten,  die  zu  schnell  verklingen 
würden,  durch  kleinere  Noten  auszufüllen.  Dadurch  wurden  die 
Stücke  belebter  und  dem  Wesen  der  Instrumentalmusik  entsprechen- 
der; freilich  entfernten  sie  sich  auch,  wenn  ^hr  stark  koloriert 
wurde,  mehr  vom  Original.  Auch  in  den  Bearbeitungen  von  Ge- 
sangsstücken für  Klavier  und  Orgel  aus  jener  Zeit  finden  sich  solche 
Verzierungen;  ja  hier  scheinen  sie  schon  früher  angewandt  worden 
zu  sein,  da  Hans  Newsidler  in  dem  Titel  zum  zweiten  Teile  seines 
»newgeordent    künstlich  Lautenbuchsa^    ausdrücklich   vermerkt:    »vil 

außerleßne  kunstreiche  stuck ,  die  von  den  hochberämbten 

und  besten  Organisten  als  einen  schätz  gehalten,  die  sein  mit  son- 
derm  fleiß  auff  die  Organistisch  art  gemacht  und  colorirt 
für  die  geöbten  und  erfarnen  diser  kunst  .  .  .  .«  Im  ersten  Teil 
seines  Werkes,  der  für  die  »anfahenden  Schuler«  bestimmt  ist  und 
aus  zwei-  und  dreistimmigen  Stücken  besteht,  verwendet  er  bei 
ersteren  die  Verzierungen  mit  Maß,  jedoch  nur  bei  bekannten 
Stücken:  »hie  folgen  noch  mehr  ettlicher  guter  alter  lieder,  die  noch 
von  menniglich  am  meysten  vor  den  newen  liedern  gelobt  und  ge- 
r&mpt  werden,  die  hab  ich  darumb  gesetzt,  das  sie  vorhin  in  vil 
landen  weyt  und  preit  erkannt  und  vil  dester  leichter  zu  lernen  sind 
weder  die  unerkannten;  hab  sie  auch  mit  leuflein  ein  wenig 
scherpffer  gemacht,  dann  die  vorigen,  dem  schüler  zu  gut,  das 
einer  die  finger  dester  ehe  abriebt  und    inn   gepraucht    pringt«:    bei 


*  Vgl.  oben  das  Verzeichnis  der  Druckwerke  Nr.  5. 


Das  deutsche  weltliehe  Lied  In  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        299 


letiteren  aber  gar  nicht:  »hie  enden  sich  die  newen  liedlein.  Ich 
hab  keins  coleriren  woellen,  dan  sie  sind  an  in  selbs  gut,  wie 
sie  in  noten  sthen,  und  seind  dem  schüler  nützer,  als  wan  sie  col- 
lernt  weren.«^ 

Von  den  übrigen  zweistimmigen  Bearbeitungen,  deren  sich  bei 
Gerle  noch  4,  bei  Hans  Newsidler  noch  IG,  im  Münchener  Manus- 
cript  Nr.  1512  noch  11  finden,  ist  nichts  neues  zu  sagen,  da  bei  ihnen, 
wie  schon  bemerkt  ist,  ein  und  dasselbe  Princip  herrscht.  Verweilen 
möchte  ich  noch  einen  Augenblick  bei  der  Übertragung  des  Liedes 
lieh  weiß  ein  stolze  Möllerin«  von  Ludwig  Senfl,  welche  die  Münchener 
Handschrift  enthält.  In  diesem  Liede  beginnt  nämlich  der  Alt  allein, 
xwei  Breven  später  setzt  der  Baß  ein  und  drei  Minimen  nach  diesem 
der  Tenor.  Der  unbekannte  Bearbeiter  verfährt  nun  folgendermaßen : 
Der  Alt  beginnt  auch  bei  ihm,  wird  aber  nur  so  lange  gespielt  bis 
der  Tenor  eintritt ;  dann  wird  dieser  Note  für  Note  aus  dem  Original 
herübergenommen;  überall  da  aber^  wo  er  länger  pausiert,  vertritt 
üin  der  Alt.  Der  Baß  geht  seinen  Gang  dem  Original  gemäß.  Man 
sieht  auch  hier  waltet  dasselbe  Princip.  Der  Tenor  ist  die  Haupt- 
sache, wo  er  pausiert,  wird  der  Alt  zu  Hülfe  gerufen,  um  einen 
iweistimmigen  Satz  zu  ermöglichen.  Die  durch  dieses  Abwechseln 
des  Tenors  und  Altes  entstehende ,  fortlaufende  Melodie  hat  freilich 
ein  ganz  anderes  Aussehen ,  als  die  ursprüngliche  >  die  sie  in  sich 
schheßt. 

In  der  dreistimmigen  Bearbeitung  desselben  Liedes  tritt  noch 
der  Diskant  hinzu,  so  daß  hier  also  vier  Stimmen  thätig  sind,  der 
Alt  allerdings  nur  hie  und  da  stellvertretend  für  den  Tenor.  Bei 
allen  den  Liedern,  in  denen  der  Tenor  nicht  so  oft  pausiert,  und 
das  sind  weitaus  die  meisten,    fehlt   der   Alt  vollständig.      Der  Dis- 


1  Ich  habe  die  beiden  Stellen  vollständig  citiert,  da  sie  interessant  sind  ive- 
gen  des  Unterschiedes,  der  zwischen  alten  und  neuen  Liedern  gemacht  wird.  Da- 
Bach  waren  1536  alte  beliebte  Lieder:  »Mein  einiges  A.«,  »Zucht  ehr  und  loba, 
»Tröstlicher  lieb«,  »Ach  beb  mit  leid«,  sämmtlich  von  Paul  Hoffheymer;  >0  weib- 
lich Art«  von  Heinrich  Isaac ;  »wol  kumpt  der  May«  von  WolflF  Orefinger.  »Ach 
Küff  mich  leid«,  dessen  Tenor  ich  in  Amt  von  Aichs  Liederbuch  1518  ohne  Nennung 
des  Komponisten  gefunden  habe;  schliesslich  »Ich  stund  an  einem  Morgen«  und 
der  berflhmte  »Tannemack«  (To  Andemacken  up  dem  Rhin),  fOr  welche  beiden  ich 
das  Original  nicht  habe  finden  können;  die  gleichen  Lieder  von  Ludwig  Senfl  bei 
Ott,  Liederbuch  1534  und  1544,  stimmen  nicht  überein  mit  ihnen. 

Zu  den  »newen«  Liedern  gehören:  »Wan  ich  lang  klag«,  »£unt  ich  schön 
reines  werdes  weyb«,  »In  dieser  weit  hab  ich  kein  gelt«,  »On  tugent  freyd  die  leng 
nit  wert«,  »Wer  wenig  behelt«,  »Sie  ist  mein  glück«,  »Lieb  ist  subtil«,  »Diss  fass- 
;iaeht  solt  ich«,  »Mir  würt  intrew  getheylet  mit«,  deren  Komponisten  in  meinem 
Anhang  verzeichnet  sind. 


300  Ernst  Radecke, 


kant  aber  steht  im  VordergTunde  als  diejenige  Stimme,  die  auf  den 
Sangsaiten  gespielt  wird;  der  Tenor  dagegen,  der  als  Trager  der 
Melodie  eigentlich  die  Hauptsache  ist,  tritt  hinter  ihn  zurück.  Wie 
ein  völlig  anderes  Stück  nimmt  sich  ein  Lied  in  dreistimmiger  Be- 
arbeitung verglichen  mit  demselben  in  zweistimmiger  Bearbeitung 
aus,  und  es  bedarf  erst  schärferer  Aufmerksamkeit,  die  gemeinsame 
Abstammung  zu  erkennen. 

Gleich  die  frühesten  deutschen  dreistimmigen  Bearbeitungen, 
die  bis  jetzt  bekannt  sind,  enthalten  in  Arnold  Schlicks  »Tabulator 
etlicher  Lobgesang  und  Liedlein<r,  beweisen,  daß  der  Diskant  in  ihnßu 
zur  Hauptsache  geworden  ist;  denn  er  wird  gesungen,  Tenor  und 
l^aß  werden  dazu  »gezwicktor.  Dies  Faktum  ist  auch  deßhalb  inte- 
ressant, weil  man  daraus  lernt,  daß  schon  neunzig  Jahre  vor  dem 
Auftreten  des  monodischen  Gesanges  dasselbe  Princip  waltete,  näm- 
lich von  einer  Komposition  fiir  mehrere  Singstimmen  einfach  die 
oberste  allein  singen  zu  lassen,  «während  die  unteren  auf  einem  In- 
strument als  Begleitung  dazu  gespielt  wurden. 

Einen  weiteren  Beweis  für  die  Ansicht,  daß  es  bei  dreistimmigen 
Lautenbearbeitungen  von  Liedern  Princip  war,  den  Alt  fortzulassen 
und  die  übrigen  drei  Stimmen  getreu  zu  übertragen,  liefert  die 
Lautentransscription  von  Franciscus  Bossinensis  der  Frottole  i^Afflitti 
spirti  miei  siate  contentü  von  Bartolomeo  Tromboncino,  die  Ambros 
im  zweiten  Bande  seiner  Musikgeschichte'  abdruckt.  Ambros  hat 
nicht  genau  hingesehen,  wenn  er  in  Bd.  HI.  S.  440  von  dieser  be- 
hauptet im  Gegensatz  zu  den  Arrangements  von  Schlick,  es  wurden 
drei  Stimmen  »gezwickter  und  eine  gesungen.  Nein,  man  vergleiche 
und  man  wird  finden,  daß  auch  in  ihr  nur  Tenor  und  Baß  »gezwickt« 
werden  und  der  Alt  nicht  vorhanden  ist.-  Wenn  diese  italienische 
Bearbeitung,  die  noch  drei  Jahre  vor  der  ältesten  deutschen  ver- 
öffentlicht wurde,  dieselbe  Behandlungsart  des  Liedes  aufweist,  ist 
wohl  der  Schluß  gestattet,  daß  ein  festes  Princip  der  Übertragung 
allgemein  bestand;  zumal  da  auch  alle  mir  zu  Gesicht  gekommenen 
dreistimmigen  Lautenlieder  bei  Gerle,  Newsidler  und  in  dem  Münchener 
Manuscript  Nr.  1512  dasselbe  Gesicht  zeigen.  Am  besten  wird 
wiederum  ein  Beispiel  darthun,  wie  transscribiert  wurde.  Der  Ein- 
fachheit halber  bleiben   wir  bei   dem  Liede  «ich   klag  den  Tag  und 


1  Ambros,  Musikgeschichte  Bd.  IL  8.  492 — 495. 

2  Zum  Überfluss  besagt  auch  schon  der  Titel  des  Werkes,  aus  dem  er  die 
Bearbeitung  entnommen  hat,  dass  der  Alt  nicht  mit  übertragen  ist.  Er  lautet, 
wie   ihn  Ambros   selbst  citiert:    Tenor i  e  contrahcusi  tntahulati  col  sopran  in  canto 

ßgurato  per  cantar  e  sonar  col  lauto.    Libro  primo.     Fransisci  Bossinensis  opus. 
Petrucci  1509. 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        3OI 


alle  Stund«  von  Thomas  Stoltzer,  dessen  Original  bereits  oben  be- 
kannt gemacht  ist.  Dreistimmige  Bearbeitungen  enthalten  Gerle, 
Hans  Newsidler  und  das  Münchener  Mauuscript  Nr.  1512,  von  denen 
die  beiden  letzteren  mitgeteilt  sein  mögen  (s.  Musikbeilage  Nr.  t). 
Da  sie  etwas  koloriert  sind,  lassen  sich  an  sie  gleich  die  Bemerkun- 
gen über  die  Coloraturen  anknüpfen. 

Beide  Transscriptionen  stehen  einen  Ton  hoher,  als  im  Original, 
weil  der  Ton  F  nicht  vorhanden  war.  Der  Ton  G  kam  vor,  wenn 
das  Instrument  »in  den  Abzug((  gesetzt  wurde;  hierunter  verstand 
man  das  Herabstimmen  der  tiefsten  Saite,  »des  großen  Bomharts« ,  um 
einen  Ganzton,  so  daB  die  Stimmung  nicht  A^d-g -h-e-äy  sondern 
(r-d^g-h^e-a  war.  Hans  Gerle  bemerkt  hierüber :  »Nun  folgen 
sway  stückleyn,  die  geen  im  abzug,  da  mustu  den  obern  Bumhart 
herabziehen,  das  merck  also,  wie  der  klein  Bumhart  ledig  laut,  also 
muB  die  kleyn  sait  ledig  bei  dem  grossen  Bumhart  lauten,  das  sie 
in  einer  hoch  steen.  Damach  zeuch  den  bumhart  ein  octaff  niderer 
zu  der  klayn  saytten,  so  stehet  die  Lautt  in  dem  abzug,  unnd  wann 
du  ein  stückleyn  siehst,  das  der  schlag  darinnen  steet  einmal  oder 
mer,  So  geet  dasselb  stückleyn  in  dem  abzug.«  Im  Abzug  steht  die 
Bearbeitung  von  »ich  klag  den  tagtt  in  der  Münchener  Handschrift; 
Bhns  Newsidler  aber  vermeidet  denselben,  obwohl  er  dieselbe  Ton- 
art anwendet,  indem  er  jedesmal  g  statt  G  schreibt.  Er  hat  über- 
haupt eine  Abneigung  gegen  das  Herabstimmen  der  tiefsten  Saite, 
denn  er  sagt:  »Auch  sind  etliche  stuck  darin  begriffen,  die  man  wol 
het  mögen  im  abzug  setzen  oder  machen,  hab  ich  dieselben  der- 
maBen  mt  gesetzt,  der  ursach  halben,  wie  mich  anlangt,  hab  jr  auch 
selbs  viel  gesehen  und  gehört,  die  sich  vor  dem  abzug  entsetzt,  und 
Verdruß  daran  gehabt.  Und  an  den  stucken  mit  vier  stymen  der 
gleichen,  und  sagen,  es  komen  in  etlichen  stucken  kaum  drey  oder 
rier  noten,  die  im  abzug  gehn,  warumb  man  die  lauten  von  drey 
oder  vier  noten  wegen  zu  rütten  solt,  es  sey  vil  besser,  man  laB  sie 
bey  jrem  rechte  volkomen  zug.  Dan  allen  liebhabem  diser  kunst 
dienst  und  guten  willen  zu  erzeigen,  sol  möglicher  fleis  an  mir  nit 
erwinden.« 

Der  in  ganzen  und  halben  Noten  dahinziehende  Diskant  des 
Originals  ist  in  beiden  Bearbeitungen  des  öfteren  unterbrochen  und 
umspielt  von  Verzierungen  in  Viertel-  bezüglich  Achtelnoten;  aber 
jeder  Ton  desselben  ist  vorhanden.  Nur  im  19.  Takt  bei  Newsidler 
fehlt  das  Viertel  c  und  die  folgende  Minima  h\  an  derselben  Stelle 
des  Münchener  Manuscripts  fehlt  nur  das  Viertel  c.  Der  Baß  des 
letzteren    stimmt     mit    dem    Gesangsbaß    iiberein,     nur     statt     der 

1891.  21 


302 


Ernst  Iladecke , 


punktierten  Minima  d  mit  folgender  Semiminima  e  steht  der  Viertelgang 
d  eßs  ffj  während  sich  Newsidler  mit  Ton  Wiederholung  auf  d  be- 


1111 

^*  4  G  G 


i      I     I      I       I 

0  4  0  4^ 


gnügt,  statt  d  e  f  g  schreibt  er:  rf  d  etc.;   hiervon,   sowie  von 

dem  schon  erwähnten  Ersetzen  des  G  durch  g  abgesehen  ist  auch 
sein  Baß  getreu  übertragen.  In  der  Mittelstimme  erkennen  wir  den 
Tenor,  die  eigentliche  Melodie.  Diese  ist  also  in  den  Bang  einer 
harmonischen  Füllstimme  herabgedrückt.  Schwerlich  wird  man  sie 
beim  Spielen  deutlich  herausgehört  haben:  freilich  sind  alle  Töne 
des  Originals  vorhanden,  aber  statt  der  Semibreven  und  Minimen  er- 
scheinen Minimen,  Semiminimen,  ja  Fusen.  Und  wenn  man  auch 
annimmt,  daß  die  Töne  länger  fortklangen,  als  das  Mensurzeichen 
angiebt,  so  konnten  sie  doch  schwerlich  die  Dauer  und  Deutlichkeit 
der  gleichen  Töne  des  gesungenen  Liedes  erreichen;  zumal  wenn 
man  bedenkt,  daß  die  Finger  nicht  so  lange  auf  einem  Bund  liegen 
bleiben  konnten,  da  die  Saite  für  andere  folgende  Töne  in  Anspruch 
genommen  wurde  oder  die  Finger  auch  noch  die  Verzierungen  aus- 
fuhren mußten.  Je  weniger  solche  vorhanden  waren,  desto  deutlicher 
konnten  die  einzelnen  Stimmen  wiedergegeben  werden;  je  mehr,  desto 
verwischter  wurde  die  Stimmführung. 

In  den  besprochenen  Beispielen  sind  die  Coloraturen  mit  Maaß  ver- 
wandt; anders  ist  es  in  den  dreistimmigen  Bearbeitungen  HansNewsid- 
lers  im  zweiten  Teile  seines  Lautenbuches.  Hier  wimmelt  es  von  »Leuff- 
lein«.  Die  Verzierungen  bestehen  in  Fiorituren,  unsern  Doppel- 
schlägen ähnlich,  die  in  verschiedener  Schnelligkeit,  in  Vierteln,  Ach- 
teln, Sechszehnteln,  sogar  Zweiunddreißigsteln  ausgeführt  werden,  in 
schnellen  Tonleiterläufen  durch  eine  oder  mehrere  Octaven;  auch 
Ansätze  zum  Triller  finden  sich.  Auf  den  guten  Taktteilen  erscheint 
gewöhnlich  ein  Ton  des  Diskants  mit  seinem  zugehörigen  Akkord 
darunter,  zwischen  ihnen  jagen  die  Passagen  einher,  die  sich  ent- 
weder im  oberen  Bereich  der  Laute  oder  [im  unteren  bewegen,  oft 
aber  auch  vom  Baß  bis  in  die  höchsten  Lagen  hinaufstürmen.  Mit 
Vorliebe  wurden  die  Cadenzen  koloriert.     Die  beliebteste  Form  war 


diese : 


doch  finden  sich  auch  andere  wie 


i3^=i 


Das  deutsche  weltliehe  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        303 

Im  allgemeinen  war  die  Stelle,  an  der  eine  Verzierung  einzu- 
treten hatte,  nicht  fest  bestimmt.  Aus  den  angeführten  Beispielen 
ist  ersichtlich,  daB  es  dem  Belieben  des  Bearbeiters  überlassen  war, 
wo  er  seine  »Leufflein  und  lieblichen  Colleraturen«  anbringen  wollte. 
Am  meisten  schmückte  Hans  Newsidler  seine  Übertragungen  mit 
ihnen.  In  seinem  zweiten  Teile  findet  sich  unter  andern  auch  das 
Lied  sTo  Andernacken  up  dem  Rhina  in  zwiefacher  Bearbeitung,  die 
eine  trägt  den  Zusatz:  Jacob  Obrecht,  die  andere:  Alexander  Agri- 
cola.  Beide  Komponisten  haben  also  das  Lied,  dessen  Melodie  schon 
lange  sehr  bekannt  und  beliebt  war,  mehrstimmig  gesetzt,  und  der 
Lautenist  hat  beide  Sätze  für  sein  Instrument  zurecht  gemacht.  Von 
den  zugrundeliegenden  Liedern  und  ihrer  Melodie  ist  aber  nicht  mehr 
viel  zu  erkennen ;  es  scheinen  schon  mehr  freie  Fantasieen  über  die- 
selben zu  sein ;  schon  ihre  ungeheure  Ausdehnung  weist  darauf  hin. 
Mit  Coloraturen  und  Läufen  sind  beide  wahrhaft  überladen. 

Auch  der  Sohn  des  vorigen  Melchior  Newsidler  kolorierte  gem. 
Maßvoller  sind :  Sebastian  Ochsenkhun ,  Jobin  und  Wolff  Heckel  in 
seinen  Bearbeitungen  für  eine  und  zwei  Lauten.  Alle  vier  haben 
Tier-  und  mehrstimmige  Bearbeitungen.  In  ihnen  trat  also  noch  der 
Alt  des  Originals  hinzu,  und  falls  das  Lied  mehrstimmig  war  die 
Quinta  vox  und  der  Vagans.  Bei  starker  Kolorierung  war  von  diesen 
Mittelstimmen  nicht  viel  zu  sehen,  ohne  dieselbe  jedoch  traten  die 
einzelnen  Akkorde  des  Originals  ziemlich  getreu  hervor,  wie  ein  ein- 
faches Beispiel  aus  OchsenkhunsTabulatur  beweist  (s.MusikbeilageNr.2.). 

Nach  dem  Gesagten  ist  über  die  Art  der  Transscription  Ochsenkhuns 
nicht  mehr  viel  hinzuzufügen.  Im  5.  und  12.  Tatet  sind  die  Kadenzen  in 
die  bei  den  Lautenkadenzen  beliebte  Form  geändert.  Alle  Stimmen 
sind,  sozusagen,  fast  wörtlich  übertragen.  Nur  vom  Alt  fehlen  im 
•1.  Takt  das  g  auf  der  zweiten  Minima,  im  9.  Takt  die  vierte  Minima 
^,  im  11.  Takt  die  dritte  Minima  i",  für  die  allerdings  ein  im  Ori- 
ginal nicht  vorhandenes  h  als  Füllton  eintritt. 

Der  springende  Punkt,  der  bei  allen  drei-  und  mehrstimmigen 
Bearbeitungen  immer  wieder  hervortritt,  ist  eben :  die  Natur  des  In- 
strumentes widerstrebte  der  Polyphonie  und  drängte  auf  akkordische 
Behandlung  hin;  was  man  greifen  konnte  von  den  Stimmen,  spielte 
man,  das  andere  lieB  man  fort  und  suchte  dafür  einen  Ersatz  in 
Verzierungen  geringerer  oder  größererer  Ausdehnung.  Demgemäß  ge- 
staltete sich  die.  Bearbeitung :  die  Zusammenklänge,  wie  sie  die  kon- 
trapunktische Führung  der  einzelnen  Stimmen  ergab,  wurden  mög- 
lichst getreu  übertragen;  der  Diskant,  auf  den  höheren,  äußeren 
Saiten  gespielt,    mußte  ein  Übergewicht  gewinnen  über  den  Tenor, 

21* 


304  ^^^^  Radecke. 


der  die  eigentliche  Melodie  enthielt,^  aber  auf  den  mittleren  Saiten 
gespielt  wurde.  Nächstdem  erfuhr  der  BaB  Berücksichtigung;  Dis- 
kant und  Baß  geben  gewissermaßen  den  Umriß  des  Tonstückes.  So- 
dann kommt  bei  der  Übertragung  der  Tenor  an  die  Reihe ;  man  er- 
innerte sich  augenscheinlich  noch  daran^  daß  er  ursprünglich  das 
Fundament  war,  auf  dem  das  mehrstimmige  Gebäude  aufgeführt 
worden  war.  War  die  Bearbeitung  vierstimmig,  so  wurde  auch  noch 
der  Alt  übertragen,  der  bei  den  dreistimmigen  Transscriptionen  nur 
vorübergehend  als  Vertreter  des  pausierenden  Tenors  auftaucht,  so- 
weit für  ihn  gewissermaaßen  noch  Platz  ist.  Erst  wenn  er  geborgen 
ist,  finden  bei  mehrstimmigen  Arrangements,  Quinta  vox,  Yagans  etc. 
ein  Unterkommen.  Es  wird  also  förmlich  ein  Rangunterschied  zwi- 
schen den  einzelnen  Stimmen  gemacht.  Dieses  vorübergehende  Auf- 
tauchen und  Verschwinden  der  Mittelstimmen  gab  den  Liedern  in 
den  Lautenbearbeitungen  das  Aussehn  von  Melodieen  mit  akkordischet 
Begleitung,  wenngleich  ja  das  kontrapunktische  Gewebe  hier  und  da 
noch  durchblickte,  bald  deutlicher,  bald  unklarer.  Je  vielstimmiger 
die  Übertragimgen  waren,  desto  mehr  kamen  die  Mittelstimmen  zu 
kürz;  ja  oft  wurde  dann  ihre  Lage  nicht  mehr  dem  Original  getreu 
wiedergegeben,  sondern  Versetzungen  in  die  höhere  bezüglich  niedere 
Oktave,  auch  Verdoppelungen  einzelner  Intervalle  zum  Ersatz  für  an- 
dere ausfallende  fanden  statt. 

Innerhalb  dieser,  teilweise  allerdings  sehr  weitgezogenen,  Grenzen 
sind  die  Bearbeitungen  ganz  getreu :  d.  h.  wo  im  Original  alle  Stimmen 
in  Breven  ausruhen,  oder  auch  pausieren,  thun  sie  dies  auch  in  der 
Lautenübertragung;  teilt  man  das  Original  in  Takte,  oder  besser  ge- 
sagt Abschnitte  nach  Art  unserer  Takte,  so  stimmt  ihre  Zahl  —  von 
verschwindenden  Ausnahmen  abgesehen  —  genau  mit  der  Anzahl  der 
Takte  in  der  Lautenbearbeitung  überein.  Auch  die  Tonarten  —  wir 
befinden  uns  bekanntlich  noch  im  Zeitalter  der  Oktavengattungen  — 
werden  streng  gewahrt;  nur  die  Tonhöhe  wird  oft  geändert  zu  Gunsten 
einer  bequemeren  Spielart  auf  dem  Instrument. 

Nach  diesem  Schema,  wurden  auch  die  Liederbearbeitungen  für 
zwei  Lauten  angefertigt.  Jacob  Wecker  scheint  der  erste  gewesen 
zu  sein,  der  solche  in  Deutschland  drucken  ließ.  Vier  Jahre  später, 
im  Jahre  1556,  gab  Wolif  Heckel  in  Straßburg  eine  Sammlung  von 
Stücken  für  zwei  Lauten  heraus,  die  10  deutsche  Lieder  enthält. 
Unter  ihnen  findet  sich  auch  das  uns  bereits  bekannte  »ich  klag  den 
Taga,  das  als  charakteristisches  Beispiel  diese  Art  der  Bearbeitung  ver- 

1  Nur  ausnahmsweise  lag  die  Hauptmelodie  im  Diskant,  z.  B.  in  dem  be* 
kannten  Liede  »Ach  Elslein,  liebstes  Eislein  mein«  von  Ludwig  Senfl,  s.  meinen 
Anhang. 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        305 

anschaulichen  soll  (s.  Musikbeilage  Nr.  3).  Man  sollte  meinen,  daß  auf 
swei  Lauten  alle  Stimmen  des  Originals  bequem  verteilt  werden  konn- 
ten, indem  die  eine  z.  B.  Diskant  und  Tenor,  die  andere  Alt  und  BaB 
wiedergaben.  Dem  ist  aber  nicht  so ,  sondern  auch  hier  waltet  das  Prin- 
rip,  die  äuBeren  Stimmen  zu  bevorzugen,  die  mittleren  mit  Unter* 
biechung  in  akkordischer  Form  wiederzugeben  und  über  das  Ganze 
reichlich  Coloratur  auszugießen.  Häufig  finden  Verdopplungen  statt, 
manchmal  spielen  beide  Lauten  dasselbe. 

Dieser  Bearbeitung,  wie  der  in  Musikbcilage  Nr.  1  aus  dem  Mün- 
chener ManuscriptNo.  1512  mitgeteilten,  ist  noch  eine  Cadenz  in  Achtel- 
läufen von  drei  Takten  angehängt,  um  den  Schluß  wirkungsvoller  zu  ge- 
stalten. Schön  kann  man  sie  nicht  nennen;  sie  ist  nicht  organisch  mit 
dem  Ganzen  verknüpft.  Jedoch  derartige  Schlußformeln  waren  sehr 
beliebt  und  sind  namentlich  in  stark  kolorierten  Stücken  häufig  anzu- 
treffen. In  dem  Lauf  bei  Heckel  und  im  vierten  Takt  seiner  Be- 
arbeitung berührt  die  auffallende  Verwendung  chromatischer  Töne 
eigentümlich,  eis  und  c  unmittelbar  nach  einander;  jedoch  darf 
man  sie  nicht  nach  dem  modernen  harmonischen  Gefühl  beurteilen, 
sondern  unter  dem  Gesichtspunkt  melodischer  Stimmführung.  Hart 
klingt  auch  der  Achtellauf  in  Quarten,  den  beide  Lauten  zusammen 
in  der  ersten  Hälfte  des  7.  Taktes  vollführen;  dergleichen  war  aber 
in  jener  Zeit  nichts  besonderes;  auch  in  Gesangskompositionen  gab 
es  Quartenfolgen. 

Überhaupt  wirken  die  Lautenbearbeitungen  der  Lieder,  die  wir 
hier  einer  Betrachtung  unterzogen  haben,  auf  ein  modernes  Ohr  be- 
fremdend. Da  der  Fluß  der  Stimmführung  oft  unterbrochen  wurde, 
aber  wenn  ein  Akkord  angeschlagen  wurde,  immer  derjenige  genom- 
men wurde,  der  im  Original  an  der  betreffenden  Stelle  stand,  auch 
wenn  andere  dazwischen  ausgefallen  waren,  machen  diese  Transscrip- 
tionen oft  den  Eindruck  des  Zerrissenen  und  Unvermittelten. 

Von  Verwandschaft  gewisser  Akkorde  wußte  man  ja  damals  noch 
nichts,  oder  wenn  man  doch  ein  unbewußtes  Gefühl  dafür  hatte,  wie 
mir  die  gleichzeitigen  Tanzlieder  anzudeuten  scheinen,  so  fand  sie 
keine  Berücksichtigung  in  Liedern,  bei  denen  die  Akkorde  durch 
zufälUge  Zusammenklänge  selbständig  geführter  Melodieen  entstanden. 

2.  Die  Bearbeitungen  der  Lieder  des  unter  italienischem 
Einfluß  stehenden  Übergangstiles  und  der  Tanzlieder. 

Mußten  sich  die  Lieder  des  älteren  kontrapunktischen  Stiles  bei 
Übertragung  für  Laute  mannigfaltigen  Änderungen  unterwerfen, 
konnten  sie  in  ihrer  Eigenart  nur  unvollkommen  wiedergegeben 
werden ,     weil     ihrem    Charakter     das     Wesen     des     Instrumentes 


306  Erast  Radecke, 


widerstrebte,  so  war  dies  nicht  der  Fall  bei  den  Liedern  in  italienisclier 
Villanellenform,  die  Jacob  Regnart  in  Deutschland  einführte.  Es  ist 
daher  nicht  zu  verwundern,  daß  bald  nach  ihrem  Auftauchen  die 
Lautenmusik  sich  ihrer  bemächtigte  und  die  ältere  Gattung  des  deut- 
schen Liedes  bei  Seite  liegen  ließ.  Bis  in's  17.  Jahrhundert  hinein 
behaupteten  Regnarts  Lieder  ihren  Platz,  auch  noch,  nachdem  ein 
Haßler  seine  meisterlichen  Gesänge  hatte  ertönen  lassen.  Die  Ta- 
bulatüren  Krengels  und  des  Waisselius,  die  Handschriften  Hainhofers, 
des  Fabricius  und  des  Naukleros  enthalten  zahlreiche  Bearbeitungen 
derselben.  Der  Umstand,  daß  in  ihnen  die  Melodie  in  der  Oberstimme 
lag  und  nur  von  zwei  unteren  akkordisch  in  völlig  kunstloser  Har- 
monie begleitet  wurde,  gestattete  eine  Übertragung  Note  für  Note. 
Ferner  da  das  Tempo,  in  dem  sie  gesungen  wurden,  belebter  war, 
sich  hauptsächlich  in  Vierteln  und  Achteln  bewegte,  so  brauchte  in 
der  Regel  auch  kein  Ersatz  für  zu  schnell  verklingende  Töne  einzu- 
treten. Daher  verschwanden  mit  einem  Schlage  die  vorher  bis  zur 
Überladung  angewandten  »Leufflein  und  CoUeraturena  so  gut  wie 
gänzlich.  Verzierungen  kleinerer  Art,  in  bescheidenem  Umfange  ge- 
braucht, blieben  indessen  bestehen,  da  sie  eigentlich  für  instrumen- 
talen Stil  unentbehrlich  sind.  Je  nach  dem  Geschmack  der  ver- 
schiedenen Bearbeiter  schließen  sich  die  Transscriptionen  eng  an  das 
Original  an  oder  variieren  dasselbe;  immer  aber  tritt  die  Vorige  in 
ihnen  deutlicher  hervor,  als  in  den  kolorierten  Bearbeitungen  des 
älteren  Liedes.  Der  Grund  hierfür  lag  eben  in  dem  einfachen  har- 
monischen Satzbau,  der  mit  seinem  überwiegenden  Durcharakter 
und  seinem  mehr  oder  minder  unbewußten  Gefühl  für  die  Wechselbe- 
ziehung der  Tonika  und  Dominante,  der  Vorbote  einer  neuen  Zeit  war. 
Viele  Bearbeitungen  des  Waisselius  sind  nichts  weiter  als  noten- 
getreue Übertragungen.  Krengel  liebt  es  hier  und  da,  besonders  an 
den  Schlüssen  der  einzelnen  Teile,  kleine  Verzierungen  und  Schleifen 
anzubringen,  die  aber  den  Fortgang  und  Zusammenhang  des  Ganzen 
nicht  im  mindesten  stören,  Hainhofer  ist  an  vollere  Griffe  gewöhnt, 
er  setzt  manchmal  zu  den  drei  Stimmen  noch  eine  vierte  hinzu,  die 
aber  nichts  weiter  ist,  als  eine  Oktavenverdopplung  des  Basses  oder 
eines  Quint-  oder  Terzintervalles  der  andern  Stimmen.  Fabricius 
giebt  häufig  dasselbe  Lied  in  zwei,  drei,  ja  vier  Bearbeitungen,  unter 
der  Bezeichnung  mlio  modou.  Zuweilen  unterscheiden  sich  zwei  der- 
artige Stücke  fast  nur  durch  die  Wahl  einer  andern  Tonart,  wie  dies 
auch  bei  Krengel  der  Fall  ist,  der  seine  sämmtlichen  Lautenstücke 
in  zwei  verschiedenen  Tonarten  (einzelne  sogar  in  vier)  auf  einander 
gegenüberstehenden  Seiten  abdrucken  läßt.  Oft  aber  bilden  die  fol- 
genden eine  Art  Variation  des  ersten :  Die  in  Vierteln  dahinziehende 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        307 

Melodie  wird  von  kleinen  Achtelfiguren  umspielt,  gelegen tlicli  auch 
die  zweite  oder  die  tiefste  Stimme;  während  der  Baß  als  Fundament 
in  der  Regel  unangetastet  bleibt  in  seinen  Intervallverhältnissen  zur 
Melodie,  ändert  die  Mittelstimme  des  öfteren  ihre  Lage;  war  sie  im 
Original  untere  Sexte  des  Melodie-  und  obere  Quinte  des  Baßtones, 
wird  sie  Unterterz  des  ersteren  und  Oktave  des  letzteren.  Ähnliches 
fanden  wir,  wie  man  sich  erinnern  wird,  auch  bei  den  vier-  und 
mehrstimmigen  Bearbeitungen  der  älteren  Lieder.  Der  Unterschied 
ist  nur,  daß  eine  solche  Lagenveränderung  bei  diesen  den  Charakter 
des  Originals  verwischte,  während  die  mehr  harmonische  Konstruk- 
tion der  neueren  derartige  kleine  Verschiebungen  verträgt,  ohne  daß 
sie  ihre  Physiognomie  einbüßen.  Ein  Beispiel  mag  genügen,  um  das 
bisher  Gesagte  durch  den  Augenschein  zu  verdeutlichen  (s.  Musik- 
beilage Nr.  4). 

Da  das  Lied  bei  Regnart  in  den  sogenannten  Chiavette  steht, 
muß  es  etwa  eine  kleine  Terz  tiefer,  also  in  D  gesungen  werden. 
In  Z>  stehen  auch  zwei  der  mitgeteilten  Bearbeitungen;  bei  der  mitt- 
leren ist  die  Tonart  eine  Quarte  höher  gelegt,  sonst  unterscheidet  auch 
sie  sich  nicht  wesentlich  von  dem  Original.  Wie  man  sieht,  ist  von 
einer  eigentlichen  Variation  bei  diesem  Beispiel  nicht  die  Rede,  es 
finden  sich  nur  kleine  Varianten,  über  die  nach  dem  vorausgeschickten 
nichts  mehr  zu  sagen  ist. 

R^narts  Beispiel  wurde  von  Leonhard  Lechner  und  Gregor 
Lange  nachgeahmt ;  auch  ihre  Lieder  fanden  den  Weg  in  die  Lauten- 
bücher. Ihre  Behandlung  in  denselben  war  natürlich  dieselbe. 
Lechnersche  Lieder  finden  sich  in  dem  Florilegium  von  Denß.  Außer 
der  Lautenbearbeitung  ist  hier  auch  noch  Gesang  gegeben.  Gewöhn- 
lich steht  nur  der  Diskant  und  der  Baß  neben  der  Lautenstimme. 
Vermutlich  wurden  also  nur  sie  gesungen,  das  Dazwischenliegende 
aber  von  der  Laute  übernommen;  da  diese  aber  außerdem  Melodie 
und  Haß   mitspielte,   war  das  Lied  auch  ohne  Gesang  verständlich.^ 

Nur  zwei  von  diesen  Liedern  sind  noch  dreistimmig,  andere  vier- 
und  fiinfstimmig.  Auch  die  fiinfstimmigen  Bearbeitungen  Lechners 
von  den  beliebten  Regnartschen  Villanellen  wurden  für  Laute  über- 
tragen, wie  die  Flores  Musicae  des  Rudenius  beweisen.  Überhaupt 
^e  die  Lieder  durch  die  Mischung  des  kontrapunktischen  und  des 
neueren   Stiles  wieder   mehr    an   Polyphonie    und  Tiefe    gewannen. 


^  £igenthümlich  ist  die  Art ,  wie  das  Florilegium  gedruckt  ist :  links  steht 
die  Lautenmusik ,  rechts  die  Singstimmen,  aber  verkehrt,  so  dass  das  Buch  auf 
den  Tisch  gelegt  werden  mußte ,  damit  Sänger  und  Spieler  einander  gegenüber- 
titzend  zusammen  musicieren  konnten. 


30S  Ernst  Radecke, 


befleißigte  man  sich  auch  auf  der  Laute  wieder  vollerer,  schwierigerer 
Wiedergabe  von  Gesangskompositionen. 

Sieht  man  z.  B.  die  Übertragungen  des  Rudenius  an,  so  muß 
man  schließen,  daß  die  Lautentechnik  damals  auf  sehr  hoher  Stufe 
stand.  Es  sind  nur  vier-  und  mehrstimmige  Kompositionen,  aber  alle 
sind  im  großen  und  ganzen  getreu  wiedergegeben;  ein  voller  Akkord 
reiht  sich  an  den  andern,  sogar  die  Achtelbewegung  entsagt  der 
Doppelgriffigkeit  nicht.  Was  die  Kräfte  des  Instruments  überstieg, 
fiel  natürlich  fort  oder  wurde  anders  arrangiert.  Hierbei  gelten  die- 
selben Gesetze,  die  im  vorigen  Abschnitte- entwickelt  sind,  sie  brauchen 
daher  hier  nicht  wiederholt  zu  werden.  Sechszehntelpassagen  lassen 
sich  als  Ersatz  für  fortgefallenes  auch  hier  und  da  blicken,  über- 
wuchern aber  nicht  die  Konturen  des  Bildes,  sie  geben  ihm  nur 
Farbe. 

Erstaunlich  ist  es  zu  nennen,  daß  Kompositionen  wie  »ach  Fräu- 
lein zarta  oder  »ein  alter  Greiß«  aus  dem  Lustgarten  von  Johann  Leo 
Haßler  in  der  Testudo  Gallo-Germanica  des  Georg  Fuhrmann  sozu- 
sagen wörtlich  übertragen  sind.  Natürlich  steht  statt  einer  Halben 
des  Originals  oft  nur  ein  Viertel  —  ein  Liegenlassen  und  Aneinan- 
derbinden  der  Töne  ließ  doch  dieses  Zupfinstrument  nicht  zu  —  aber 
jeder  Ton  desselben  ist  vorhanden,  die  Stimmführung  läßt  sich  genau 
verfolgen ;  das  Nacheinandereinsetzen  der  Stimmen,  das  Ablösen  einzel- 
ner Stimmgruppen  (z.  B.  das  Wiederholen  der  von  den  Oberstimmen 
gesungenen  Phrase  durch  die  Unterstimmen  in  dem  Liede  »ach  Fräu- 
lein zart«)  u.  a.  fehlt  nicht.  In  derselben  Weise  wurden  auch  die 
Lieder  Valentin  Haußmanns  u.  a.  übertragen.  VoUgrifiige  Akkorde 
waren  in  jener  Zeit  beliebter  als  ausgedehnte  Lauftechnik,  die  früher 
die  Hauptrolle  gespielt  hatten.  Daher  wurden  manchmal  Verdop- 
pelungen vorgenommen  und  die  Mittelstimmen  aus  ihrer  Lage  ge- 
bracht, wenn  das  Instrument  eine  bequemere  erheischte,  wie  wir  das-^ 
selbe  ja  schon  bei  den  Bearbeitungen  der  dreistimmigen  Villanellen 
erwähnten. 

Das  Princip  ist  eben  immer  dasselbe.  Eine  Bearbeitung  unter- 
scheidet sich  von  der  andern  nur  durch  kleine  Abweichungen  tech- 
nischer Art,  die  dem   Geschmack  des  jeweiligen  Autors  entspricht. 

Um  doch  auch  von  dem  größten  Komponisten  jener  Epoche  ein 
Lied  in  Lautenbearbeitung  zu  geben,  will  ich  eines  hersetzen,  das 
durch  seine  Übernahme  in  die  Kirchenmusik  noch  heute  als  einer 
der  schönsten  protestantischen  Choräle*  lebt:  »Mein  Gemüth  ist  mir 
verwirret,  das  macht  ein  Jungfrau  zart«  aus  dem  Lustgarten  Haßlers. 


^  Bekanntlich:  »Herzlich  thut  mich  verlangen.« 


Du  deutiche  weltliche  Lied  in  der  I.autenmuBik  des  16.  Jahrh.        3()9 


Da  das  Original'  allgemein  zugänglich  ist,  stehe  hier  nur  die  Beai- 
bfituDg     Aus  der  Handschrift  M.  297.     K.  Bibl.  Dresden. 


Die  Handschrift  ist  was  die  Mensur  Rnbetrifft  seht  schlecht  und 
finchtig  geschrieben ;  einige  Veibesserungen ,  die  ich  vorgenommen 
babe,  sind  durch  Kreuze  bezeichnet;  andere  auffallende  Stellen  sind 
durch  Fragezeichen  gekennzeichnet.  So  zählt  z.  B.  der  erste  Teil 
statt  sechs  nur  4'/2  Takte,  obwohl  alle  Töne  der  Melodie  vorhanden 
sind.  Im  großen  und  ganzen  sind  Melodie  und  Harmonie  in  ihrer 
Reinheit  gewahrt;  kleine  Verzierungen  sind  in  der  bekannten  Weise 
angebracht. 

Hainhofers  Handschrift  enthält  eine  Anzahl  Haßlerscher  Lieder 
aus  den  neuen  deutschen  Gesangen  zu  4,  5  und  6  Stimmen  von  1596. 
Darunter  befindet  sich  auch:  iiFeiusIieb  du  hast  mich  gefangen«,  und 

'  Ausser  in  der  Neu-Ausgabe  des  Lustgartens,  Ton  Dr.  Zelle.  Publicat.  d. 
(■'  f.  M.  Bd.  lä,  steht  das  Lied  auch  in;  Conimer:  Geistliche  und  weltliche  Lie- 
der »u  3,  *,  5  und  6  Stimmen  aus  dem  XVL— X\'IL  Jahrb.    Berlin.    Trautwein. 


3]^0  Ernst  Radecke, 


zwar  auffallender  Weise  mit  der  Bezeichnung  d  deutscher  Dantz«. 
Nachdem  zuerst  das  Original  getreu  im  zweiteiligen  Takt  übertragen 
ist,  folgt  dasselbe  noch  einmal  als  j»Nachtanza  im  dreiteiligen  Takt. 
Man  kann  daraus  schließen,  daß  das  Lied  sehr  populär  geworden 
war.  Deutsche  Tanzlieder  besitzen  wir  auch  schon  in  Lautenbear- 
beitungen aus  der  Zeit  vor  Eindringen  des  italienischen  Liedes  in 
Deutschland.  Wolff  Heckel  und  Melchior  Newsidler  weisen  eine 
ganze  Reihe  auf.  Li  ihnen  lag  die  Melodie  ebenfalls  in  der  Ober- 
stimme und  wurde  von  den*  unteren  ganz  kunstlos  begleitet.  Was 
die  Tonarten  betrifft,  so  ist  ein  entschiedenes  Vorherrschen  des  ioni- 
schen, das  unserm  Dur  entspricht,  zu  bemerken,  sowie  ein  häufiges 
Gebrauchen  des  Dominantdreiklanges,  der  in  unabweisbare  Beziehung 
zum  Tonikadreiklang  tritt.  So  schließt  oft  ein  Theil,  der  in  der 
Tonika  beginnt,  auf  dem  Dreiklang  der  Quinte.  Oft  entsteht  auch 
eine  seltsame  Mischung  von  (modern  gesprochen)  Moll  und  Dur,  die 
ganz  eigentümlich  anmutet.  Bearbeitet  wurden  die  Lieder  nach  dem 
bekannten  Princip;  es  ist  nichts  neues  hinzuzufügen.  Leider  ist  es 
mir  nicht  gelungen  für  die  Tanzlieder  Originale  nachzuweisen.  Es 
ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  wie  ursprünglich  ohne  Rücksicht  auf 
den  Tanz  erfundene  Lieder  zu  Tänzen  und  Tanzliedern  umgearbeitet 
wurden  (z.  B.  das  oben  erwähnte  Lied  von  Haßler),  so  auch  umge- 
kehrt Instrumentaltänze  durch  Unterlegung  eines  Textes,  der  bereits 
bekannt  war  oder  auch,  wie  Hainhofer  einige  Beispiele  aufweist,  zu 
bestimmtem  Zweck  neu  gedichtet  wurde.  Diese  Tänze  waren  nicht 
immer  deutscher  Herkunft,  auch  Gäste  aus  Italien  wurden  aufge- 
nommen. Gleich  der  erste  Tanz  bei  Hainhofer  ist  ein  solcher  ita- 
lienischer Fremdling.  Sein  Charakter  ist  unzweifelhaft  rein  instru- 
mental und  der  Text  »ich  gieng  bei  eitler  Nachtue  erst  von  Hainhofer 
oder  einem  andern  untergelegt.  Er  trägt  auch  die  Überschrift:  »il 
ballo,  che  si  chiama  la  Spagnoletta«.  Es  ist  ein  reizvolles  Stück  im 
Dreivierteltakt  in  ausgesprochen  moderner  Tonart,  in  der  Art  den 
Stücken  ähnlich,  die  man  heute  mit  »Siciliano«  bezeichnet  (der  Name 
Spagnoletta  weist  allerdings  nach  Spanien).  Von  den  drei  Bearbei- 
tungen für  Laute,  die  Hainhofer  bietet,  ist  die  erste  die  beste.  Sie 
steht  in  ^-moU.  Wie  einen  modernen  Satz  kann  man  sie  in  Perioden 
von  8,  wenn  man  will  4  Takten  teilen.  Die  ersten  8  Takte  werden 
eine  Oktave  tiefer  wiederholt  und  schließen  in  jB-dur,  dann  folgen 
8  Takte,  die  nach  ^-moll  zurückleiten.  Die  neue  Periode  setzt  wie- 
der in  B  ein,  gelangt  nach  4  Takten  zur  Dominante  F  und  führt 
von  ihr  nach  ^-moU  zurück.  Dann  wechseln  zweimal  4  Takte 
i^-dur  mit  4  Takten  ^-moU,  und  das  symmetrisch  gebaute  Stück  von 
48  Takten  ist  zu  Ende. 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahih.        311 


Auch  die  Handschrift  der  k.  HochschiQe  für  Musik  in  Berlin 
weist  eine  Liederbearbeitung  auf,  die  den  Zusatz  hat:  uGalliarda  Dio- 
medüt,  Diomedes  war  ein  berühmter  italienischer  Lautenspieler. 
Seine  Galliarda  ist  ein  von  vornherein  für  Laute  komponiertes  Stück, 
das  erst  in  Deutschland  mit  einem  Text  versehen  wurde,  also  keine 
Bearbeitung  eines  Liedes. 


3. 

Zasanimenfassmig  der  Ergebnisse.    Die  Tonarten.    Die  Stimmnng. 
Ergänzende  Bemerkungen  zur  Lanten-Notation  und  -Teehnik« 

In  Kürze  noch  einmal  zusammengefaßt,  sind  die  Ergebnisse  der 
Untersuchung  folgende  :  Die  zweistimmigen  Bearbeitungen  der  Lieder 
bestehen  durchweg  aus  einfacher  Übertragung  des  Tenors  und  des 
Basses  aus  dem  Original  auf  die  Laute;  sie  kommen  nur  bei  den 
Liedern  des  älteren  kontrapunktischen  Stiles  vor.  Bei  den  dreistim- 
migen Bearbeitungen  derselben  werden  Diskant,  Tenor  und  Baß 
übertragen,  der  Alt  nicht,  es  sei  denn,  daß  er  für  den  pausierenden 
Tenor  eintritt ;  und  zwar  erhält  der  Diskant,  der  ursprüngliche  Kon- 
trapunkt, ein  Übergewicht  über  den  Tenor,  die  eigentliche  Melodie. 
Die  mehrstimmigen  Bearbeitungen  berücksichtigen  Alt,  Quinta  vox, 
Vagans  erst,  wenn  Diskant,  Tenor  und  Baß  ihre  Stelle  gefunden 
haben.  Das  schnelle  Verklingen  der  Töne  wird  Anlaß  einmal  zur 
Tonwiederholung,  zweitens  zur  Entstehung  der  Koloraturen.  Letztere 
erlangen  ein  solches  Übergewicht,  daß  die  Stimmführung  verwischt 
wird.  Durch  das  Auftauchen  und  Verschwinden  der  Mittelstimmen, 
sowie  durch  das  Verändern  ihrer  Lage  erhalten  die  Bearbeitungen 
ein  akkordhaftes  Aussehn.  Durch  das  Bestreben,  die  Oberstimme 
zur  Hauptsache  zu  machen,  und  das  Hindrängen  zu  melodisch- akkor- 
discher Gestaltung  der  lursprünglich  kontrapunktischen  Kompositionen 
hilft  die  Lautenmusik  an  ihrem  Teile  mit,  einen  Umschwung  in  der 
musikalischen  Anschauung  der  Zeit  herbeizuführen .  Die  nach  Deutsch- 
land gebrachte  italienische  Liedform  und  die  mehr  und  mehr  Ein- 
fluß gewinnenden  deutschen  Tanzlieder  begegnen  sich  mit  ihr  in 
gleicher  Absicht.  Daher  werden  sie  gern  von  ihr  aufgenommen  und 
eifrig  gepflegt.  Sie  verdrängen  auch  in  der  Lautenmusik  den  älteren 
Stü.  Sie  werden  möglichst  genau  übertragen;  nur  unwesentliches, 
was  nicht  spielbar  ist,  bleibt  fort.  Die  Vorliebe  für  volle  Akkorde 
beseitigt  die  Übertreibungen   der   Koloratur    älterer    Art.      Kleinere 


3J2        •  Ernst  Radecke, 


Verzierungen,  die  den  harmonischen  Gang  des  Ganzen  nicht  stören, 
bleiben  bestehen  und  sind  der  Ausgangspunkt  für  eine  sich  im  17. 
Jahrhundert  bildende  Art  von  Variationsform;  jedoch  ist  diese  vor- 
läufig noch  nicht  allgemein  üblich.  Es  hat  sich  also  allerdings  ein 
feststehender  und  allgemein  gebräuchlicher  Stil  der  Bearbeitung  ge- 
bildet; aber  zur  Entstehung  eines  eigenen  Kompositionsstiles  ist  es 
durch  den  Einfluß  des  deutschen  weltlichen  Liedes  auf  die  Lauten- 
musik nicht  gekommen.  Immer  bleibt  das  deutsche  Lied  in  ihr  in 
seiner  ursprünglichen  Gestalt,  denn  die  Änderungen  werden  einzig 
durch  die  Technik  des  Instrumentes  bedingt,  es  bleibt  eine  Bearbei- 
tung niederer  Art,  und  fuhrt  nicht  zu  einer  Verarbeitung  im  höheren 
Sinne,  aus  der  neue  Formen  entstehen.  Ein  reiner  Instrumental- 
kompositionsstil scheint  vielmehr  aus  den  Tänzen  sich  entwickelt  zu 

haben . 

Es  dürfte  noch  von  Interesse  sein,  einen  Blick  auf  die  Tonarten, 
in  Bezug  auf  die  alten  Lieder  besser  gesagt  Tonhöhen,  zu  werfen, 
in  welchen  die  Lautenbearbeitungen  der  Lieder  stehen.  Die  Notations- 
zeichen der  Lautenmusik  bezeichnen  ja  allerdings  nur  die  Griffe  auf 
dem  Instrument,  die  je  nach  der  Stimmung  der  leeren  Saiten  höhere 
oder  tiefere  Töne  hervorbrachten.  Da  aber  die  Stimmungen  fest- 
stehende waren,  für  die  deutsche  Notation  A^  d-  g-h-e  -ä^  für  die 
italienische  und  französische  G -c  -f-a-d-g^  so  muß  man  doch 
annehmen,  daß  die  Männer,  welche  Gesangskompositionen  für  Laute 
übertrugen,  sich  bewußt  waren,  in  welcher  Tonhöhe  ihre  Bearbeitung 
erklingen  würde,  und  daß  also  die  Tonhöhe,  welche  wir  erhalten, 
wenn  wir  unter  Zugrundelegung  der  festgesetzten  Stimmung  die  Ta- 
bulatur  in  moderne  Notenschrift  übersetzen,  der  vom  Bearbeiter  be- 
absichtigten gleich  ist.  Die  Spieler  freilich,  großenteils  Dilettanten, 
werden  nicht  immer  genau  gestimmt,  sondern  die  Normalstimmung 
häufig  um  einen  halben,  ja  ganzen  Ton  nach  oben  oder  unten  ver- 
schoben haben,  wodurch  dann  auch  die  Tonart  des  Stückes  eine 
andere  wurde.  Nun  ist  es  auffallend,  daß  nicht  nur  die  Tonarten, 
die  sich  auf  den  diatonischen  Tönen  aufbauen,  vorkommen,  sondern 
auch  sämmtliche  chromatischen.  Für  die  chromatischen  Halb  töne 
gab  es  nur  je  ein  Zeichen ,  gleichviel  ob  sie  durch  Erhöhung  der 
untern  oder  durch  Erniedrigung  der  oberen  Tonstufe  entstanden: 
man  unterschied  also  auch  beim  Spiel  nicht  zwischen  eis  und  de%, 
dis  und  es^  fis  und  ges  etc..  ganz  so  wie  auf  dem  modernen  in  gleich- 
schwebender Temperatur  gestimmten  Klavier.  Die  gleichschwebende 
Temperatur  hatte  man  aber  damals  noch  nicht,  auch  nicht  auf  der 
Laute.  Denn  einmal  wurden  die  Intervalle  der  leeren  Saiten: 
(Quarte  -  Quarte  -  große  Terz  -  Quarte  -  Quarte  rein  gestimmt,  außerdem 


Das  deutsche  weltliche  lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        313 


eigab  eine  an  einet  Laute  der  Berlixfei  Instrumentensammlung  voi- 
genommene  Messung  ^  daß  die  ganze  ungeteilte  Länge  der  Saite 
,'66  cm)  zu  der  durch  den  dritten  Bund  geteilten  Länge  (55  cm)  sich 
verhielt  wie  6:5,  zu  der  durch  den  siebenten  Bund  geteilten  Saite 
(44  cm)  wie  3:2,  d.  h.  daß  die  kleine  Terz  und  die  Quinte  auf  jeder 
Saite  rein  waren,  folglich  auch  die  Differenz  beider  Intervalle:  die 
grofie  Terz  zwischen  dem  dritten  und  siebenten  Bund.  Die  andern 
Bünde  ergaben  untereinander  unreine  Verhältnisse.  Folglich  war 
auch  die  große  Terz,  welche  zwischen  der  leeren  Saite  und  dem 
vierten  Bunde  lag,  unrein.  Man  hatte  also  reine  große  Terzen  und 
unreine,  reine  kleine  Terzen  und  unreine  bunt  durcheinander.  Das 
ist  merkwürdig.  Trotzdem  wurden  die  chromatischen  Halbtöne  nicht 
nur  als  Konsonanztöne,  sondern  auch  als  Tonika  gebraucht,  auch 
die,  welche  auf  den  Tasteninstrumenten  jener  Zeit  wegen  des  soge- 
nannten Orgelwolfs  nicht  zu  benutzen  waren.  ^ 

Immerhin  waren  die  Tonarten  wie  des  oder  cisj  es  oder  dis^  ßs 
oder  ges^  as  oder  ffis,  b  oder  ais,  selten.  Am  häufigsten  waren  a,  ff, 
d,  e  und  c.  War  die  Stimmung  u4-d-^-^Ä -e -5,  so  war  die  Ton- 
art a  sehr  bequem  zu  spielen,  da  die  leeren  Saiten  den  Grundton 
zweimal,  die  Quinte  einmal  enthielten  und  die  übrigen  häufig  vor- 
kommenden Intervalle  auf  den  ersten  Bünden  gespielt  werden  konnten. 
Dementsprechend  war.  g  bei  der  6r-Stimmung  die  bequemste  Tonart. 
Jedoch  war  die  Fertigkeit  der  Spieler  so  entwickelt,  daß  auch  die 
hohen  Lagen,  um  einen  Ausdruck  der  modernen  Violintechnik  zu 
gebrauchen,  nicht  selten  in  Anwendung  kamen. 

Wichtig  sind  für  uns  die  Übertragungen  der  Lieder  für  Laute 
femer  dadurch,  daß  in  ihnen  die  sogenannten  Accidentien  (Erhöhung 
des  Leitetones  etc.)  bestimmt  durch  die  Notenschrift  ausgedrückt 
wurden,  während  sie  in  der  Mensuralnotation  nicht  bezeichnet  wur- 
den. Aus  einer  Vergleichung  einer  Liederbearbeitung  mit  ihrem 
Original  kann  man  also  ersehen,  an  welcher  Stelle  erhöht  oder  er- 
niedrigt wurde.  Indessen  darf  man  hieraus  nicht  mit  Sicherheit 
schHeßen,  daß  die  Accidentien  stets  genau  so  gesungen  wurden,  wie 
die  Tabulatur  der  Bearbeitung  angiebt.  Denn  verschiedene  Bearbeiter 
desselben  Liedes  weichen  zuweilen  in  diesem  Punkte  von  einander 
ab.  Während  z.  B.  bei  einer  Modulation  nach  d  der  eine  schon 
am  Anfang  des  vorletzten  Taktes  c  in  eis  erhöht,  läßt  der  andere 
diese  Erhöhung  erst  auf  dem  letzten  Viertel  eintreten.     Es  gab  also 


^  Zur  Lösung  dieser  Schwierigkeit  bedarf  es  eingehender  fachmännischer 
Untersuchungen  und  Berechnungen,  die  durch  die  obige  Feststellung  der  Thatsache 
Tieüeicht  angeregt  werden. 


314  Ernst  Hadecke, 


hierüber  keine  bestimmten  Ge^tze,  sondern  die  Anwendung  der  Ae- 
eidentien  blieb  dem  Geschmack  und  der  Willkür  des  einzelnen  über- 
lassen. 

Die  meisten  Tabulaturbücher  des  16.  Jahrhunderts  enthalten 
außer  den  Stücken  noch  in  Vorreden  und  Regeln  umständliche  Aus- 
einandersetzungen über  den  Bau,  die  Stimmung,  die  Technik  und  die 
Geschichte  des  Instruments,  von  denen  vieles  heute  schon  wieder 
an's  Licht  gezogen  ist.  Auf  das  bekannte  brauche  ich  daher  nicht 
einzugehen;  jedoch  glaube  ich  einiges  hinzufügen  zu  können,  das 
Anspruch  auf  Neuheit  machen  kann. 

Am  meisten  in  Gebrauch  war  die  Laute  mit  11  Saiten.  Davon, 
daß  ihre  tiefste  in  den  j)Abzuga  gesetzt  werden  konnte,  habe  ich  in 
Teil  II  1 .  schon  gesprochen.  Daneben  gab  es  aber  schon  früh  Lauten 
mit  dreizehn  Saiten,  die  zu  sieben  Chören  vereinigt  waren.  Schon 
Hans  Gerle  giebt  Anweisung,  wie  die  unterste  Saite  zu  stimmen  sei: 
nämlich  eine  Quarte  tiefer  als  die  tiefste  Saite  (GroBbomhart)  der 
Laute  mit  elf  Saiten;  bei  der  ^-Stimmung  als  E.  Jedoch  scheint 
sich  diese  Art  nicht  recht  eingebürgert  zu  haben,  denn  noch  1574 
sagt  Melchior  Newsidler  in  seiner  »Vorred  an  den  günstigen  Leseric 
»Wie  wol  vil  Jar  her  die  Lauten  mit  eilff  Seitten  breuchlich  gewesen, 
so  befind  ich  doch  im  grund,  nachdem  die  Musica  in  kunst  und  lieb- 
ligkeit  hoch  gestigen,  das  man  auff  solchen  Lauten  fast  die  aller 
artigsten  und  lieblichsten  Concor dantzen  oder  griffe  nit  haben  kau, 
derohalben  hab  ich  auff  ein  weg  gedacht,  dadurch  solcher  mangel 
möchte  erstattet  werden.     Ob  nun  wol  die  anzal  der  Saiten,   nach 

eines  jeden  gütduncken  mag  gemehret  werden so    muß 

doch,  wie  in  allen  dingen,  also  hie  auch,  maas  gehalten  werden,  und 
kann  unsere  heuttige  Musica  auff  der  Lauten  noch  mit  einer  Saite 
sampt  ihrer  Octafe  zu  den  vorigen  eilffen  also  ergäntzet  und  perficiert 
werden,  das  eine  Laute  mit  13  Seitten  recht  bezogen,  eines  jeden 
gesangs  Clausein  erreichen  und  voUkömlich  geben  mag.«  Er  stimmt 
die  unterste  Saite  aber  nicht  eine  Quarte  unter  den  GroBbomhart, 
weil  es  wenig  so  tiefe  Stücke  gebe,  sondern  »nur  umb  ein  Secund, 
das  ist  ein  Octafe  von  dem  mittleren  BomhArtlein  niderer,  unnd  das 
auß  folgenden  Ursachen:  Dann  erstlich  find  ich,  das  inn  der  recht 
alten  und  gemeinen  Scala,  welche  aller  alten  uud  newen  Componisten 
einiger  grund  und  Regel  ist,  nit  mehr  dann  ein  Noten  unter  dem 
Gamaut,  auch  fast  alle  die  besten  Kunststück  nit  tiefer  componiert 
seind.  Nun  ist  aber  der  ober  oder  große  Bomhart  auff  einer  gemeinen 
Lauten  mit  eilff  Seitten,  wann  der  lähr  geschlagen  wirt,  das 
rechte  natürliche  Gamaut Sovil  dann  die  Cha- 
rakter    in    der    Tabulatur    belangt,    habe    iqh    den    obersten    oder 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        315 


alten  großen  Bomhart  mit  nachfolgenden  VersalbAchstaben  be- 
schriben,  als  nemlichi  wann  er  soll  lähr  geschlagen  werden  t 
unnd  dann  vom  ersten  Bund  an  einen  nach  dem  andern  also  A  B 
VDEFGHIK.  Den  newen  Bomhart  mit  der  gleichen,  allein 
ist  dieB  der  unterscheid ,  das  ob  einem  jeden  Bflchstaben  ein  strich 
gefunden  wirt,  wie  folget:  A  B  CJJEFGHIK  unnd 
wann  er  soll  lähr  geschlagen  werden  mit  disem  Charakter  angedeuttet 

wirt« Aus  dieser  Stelle  geht  auch  hervor,  daß  die  Laute  zu 

Melch.  Newsidlers  Zeit  10  Bünde  hatte,  und  daß  er,  obwohl  er  in 
deutscher  Tabulator  notierte,  die  Stimmung  G  -c  -f-a-d^  g  an- 
nahm. 

Lauten  mit  Baßchorden,  die  neben  dem  Griffbrett  herliej^en  und 
unter  einander  den  Abstand  einer  Sekunde  hatten,  traten  in  Deutsch- 
land erst  im  17.  Jahrhundert  auf.  Leopold  Georg  Fuhrmann  notiert 
diese  ^Chori  inferiores^,  in  »tabulatura  Germanicaa  mit  7,   8,  9,  10;  in 

•tabulatura  Gallicac  mit:  a  ä  ä.  Unter  letzterer  versteht  er  die  No- 
tationsart, die  wir  die  (mittel-)  französische  nennen,    mit  folgenden 

Mensurzeichen!  ^  J  J  ^ ^^  />,  unter  ersterer  dieselbe  mit  den 
Mensurzeichen  der  deutschen  Notation:  |  P  T  F  p-  Rudenius  hat 
auch  ein  Zeichen,  um  Zweiunddreißigstel  zu  bezeichnen:  ußignum 
hoc  2  posi    p  plerumque  positum  eandem  temporis  quantitatem  noiat, 

ar  ii  lineola  quinque  virgülarum  apposita  situ 

Daß  Gerle  und  Hans  Newsidler  den  Fingersatz  der  linken  Hand 

durch  Punkte bezeichneten   und   »ein  einiges  pünct- 

leini  für  die  rechte  Hand  anwandten,  ist  bekannt.  Für  das  letztere 
hatte  Bernhart  Jobin  eine  noch  einfachere  Bezeichnung:  »Will  der- 
halben  nichts  anders  den  Lautenschläger  (der  vileicht  noch  etwas 
ungeübter)  nun  zum  eingang  verwarnet  haben,  dann  besondere  ge- 
nawe  achtung  in  dieser  Tabulatur   auff  die  schlSg  und  Mensur,    die 

also     /     I  /    I       ^'^  strichen  verzeichnet  und  angedeitet,  zu  geben, 

dieweil  es  im  zu  sonderer  fürdernuß  im  schlagen  mag  gedewen.  Dann 
so  der  eine  strich  an  vorgesetztem  Mensurzeichen  gerad  und  strackh 
hinabgeht ,  soll  er  mit  dem  Daumen  under  sich  geschlagen  werden, 
wo  er  aber  krumb  gestalt  were ,  würd  er  mit  dem  zeigfinger  über 
sich  geschlagen  .   .  .  .« 

In  der  Begel  wurden  die  Finger  der  linken  Hand  gleich  auf- 
gehoben, wenn  ein  neuer  Ton  eintrat;  sollte  ein  Ton  länger  fort- 
Hingen  als  das  Mensurzeichen  angab ,  so  wurde  dieß ,  für  Schüler 
wenigstens,  besonders  bezeichnet:    »Nun  hab  ich  dir«,  bemerkt  Hans 


316 


Ernst  Radecke, 


Newsidler,  »die  clausein  auch  verzaichnet,  da  mustu  alweg  den  zeig- 
finger,  auff  dem  klagen  über  zwerch  stilhalten,  in  dem  bundt,  da  dei 
buchstab  mit  dem  sternlein  «  jnen  stet,  biß  die  clausein  aus  ist, 
also  mustu  in  den  Prcambeln  und  Tentzen  auch  thun,  wenn  ein 
colloratur  in  einem  schlag  ist.« 


z.  B. : 


d.  h.  in  moderner  Notenschrift :  < 


Ein  Schlag  ist  nach  Hans  Gerle  gleich  einer  Semibrevis.  Man 
übersetzt  daher  den  Buchstaben ,  bei  welchem  ein  Stern  steht,  mit 
einer  ganzen  Note.  Der  Umstand,  daß  ein  längeres  Aushalten  eines 
Tones  besonders  angemerkt  wurde,  beweist,  daß  diejenigen  Unrecht 
haben  welche  bei  der  Übersetzung  in  unsere  Notenschrift  den  imteren 
Stimmen  eine  von  der  der  obem  verschiedene  Mensur  geben,  um  der 
sprunghaft  unterbrochenen  Stimmführung  eine  fließende  Gestalt  zu 
verleihen,  so  daß  die  Lautenstücke  ein  modernen  Klavierstücken  ähn- 
liches Aussehen  erhalten.  Derartige  Modernisierungen  sind  un- 
historisch und  unwissenschaftlich  und  verdecken  das  Wesen  der 
Sache.  Das  z  im  obigen  Beispiel  darf  also  nicht  durch  eine  Ganze 
e  übersetzt  werden,  sondern  muß  als  Viertel  e  übertragen  werden, 
wie  das  ä  der  Melodie. 

Wenn  mit  zwei  Lauten  zusammen  musiciert  wurde,  konnten  zwei 
Arten  von  Stimmungen  angewandt  werden:  »In  diesem  Buch«,  be- 
richtet Wolff  Heckel,  »werden  zweyerley  richtung  begriffen.  Die  ersten 
viertzehn  stuck  oder  Lieder  biß  auff  das  flinfftzehend  Lied,  sollen  mit 
zweyen  Lauten  zusammen  geschlagen  werden .  wölche  ein  secund 
vo  einander  gericht  sind,  nämlich  der  Discant  soll  ein  secund  höher 
über  den  Tenor  gericht  werden  ....  Dise  nachvolgende  stuck  alle, 
sollen  mit  zwo  Lauten  züsamen  geschlagen  werden,  wölche  ein  quart 
von  einander  gericht  sind,  nämlich  der  Discant  soll  ein  quart  Aber 
den  Tenor  gezogen  werden.«     Also: 

1 .  Diskantlaute :  A-  d-  ff  -h-e-ä 

Tenorlaute :     G  -  c  -f-  a-d-ff, 

2.  Diskantlaute :  A-d-  ff  -h^e-  ä 
Tenorlaute  :     E-  A^  d-fis-  h-  e. 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        317 


Im  17.  Jahrhundert  musicierte  man  auch  mit  3  oder  4  Lauten 
xusammen,  wie  aus  Notizen  in  der  Handschrift  des  Naukleros  her- 
vorgeht ;  jedoch  kann  die  dort  angegebene  Stimmung  nicht  richtig 
sein,  da  alsdann  die  Tenorlaute  höher  sein  würde  als  Alt-  und  Dis- 
kantlaute.    Es  muß  ein  Schreibfehler  vorliegen. 


Die  zahlreichen  Kegeln  und  die  mannigfachen  Transscriptionen, 
welche  die  deutschen  Tabulaturbücher  aus  dem  16.  Jahrhundert  ent- 
halten, veranlassen  Ambros^  zu  der  Bemerkung,  daß  die  Lautenmusik 
hauptsächlich  Musik  von  und  für  Dilettanten  war  in  jener  Zeit. 
Hierin  kann  man  ihm  im  großen  und  ganzen  beistimmen.  Denn  in 
der  That  war  sie  Hausmusik  der  Liebhaber;  und  die  Bearbeiter 
waren  vielfach  nicht  Musiker  von  Fach,  die  auch  in  anderen  Zweigen 
ihrer  Kunst  hervorragendes  oder  tüchtiges  geleistet  hätten.  Hans 
Gerle  und  Hans  Newsidler  z.  B.  waren  ihres  Zeichens  Instrumenten- 
macher,  Jbbin  war  Notendrucker  und  Musikalienverleger,  Fabricius 
war  Student,  Hainhofer  war  Diplomat.  Die  meisten  Lautenisten  be- 
merken in  ihren  Vorreden  auch  ausdrücklich,  daß  sie  sich  nicht  mit 
den  Meistern  der  Tonkunst  in  eine  Reihe  stellen  können;  sondern 
nur  »aus  sonderlicher  Lib  zu  diser  Kunsta  sich  unterfangen  ihren 
Mitbürgern  eine  Sammlung  beliebter  Musikstücke  darzubieten.  Aber 
gerade  der  Umstand,  daß  ehrsame  Bürger  sich  der  Kunst  befleißigten, 
beweist,  wie  tief  die  Musik  in  jener  Zeit  in  die  Volksseele  einge- 
drungen war;  und  die  Volkstümlichkeit  der  Lautenmusik  läßt  sich 
vergleichen  mit  der  schönen  Blüthe,  welche  das  einfache  Lied  ein 
Jahrhundert  früher  im  Schöße  des  Volkes  erlebt  hatte.  Eine  gewisse 
Nüchternheit  und  Unbeholfenheit  in  Handhabung  künstlerischer  Formen 
läßt  sich  nicht  läugnen.  Aber  Ambros  und  Wasielewski  thun  Un- 
recht, wenn  sie  auf  diese  Musik  mit  Geringschätzung  herabblicken  in 
dem  Gefühle,  wie  herrlich  weit  es  die  Instrumental-Musik  unserer 
Tage  gebracht  habe.  Nicht  mit  unserm  Geschmack  sondern  aus  dem 
Geiste  des  16.  Jahrhunderts  heraus  will  sie  beurtheilt  sein.  Ihre  Be- 
deutung an  sich  und  für  die  Fortentwickelung  der  Tonkunst  glauben 
wir  dargethan  zu  haben.  Welchen  Eindruck  sie  aber  auf  ihre  Zeit- 
genossen machte,  ist  ersichtlich  aus  den  zahlreichen  prosaischen  und 
poetischen  Lobeserhebungen,  die  sich  nicht  nur  in  den  gedruckten 
und  handschriftlichen  Aufzeichnungen  der  Tabulaturbücher,  sondern 
auch  in  den  Werken  der  Schriftsteller  und  Dichter  jener  Tage  fin- 
den.   Daß  ein  Luther   die  Lautenmusik   hochhielt  ist  bekannt.     Im 

»  a.  a.  O. 

1891.  22 


318 


Ernst  Radecke, 


•17.  Jahihundert  schwang  sie  sich  zu  einer  größeren  künstlerischen 
Höhe  auf,  und  ein  Seb.  Bach  und  ein  Haydn  haben  noch  im  18. 
Jahrhundert  für  das  Instrument  geschrieben.  In  Mißachtung  ist  das- 
selbe bei  der  großen  Menge  wohl  namentlich  seit  Matthesons  weg- 
werfendem Urtheil  gekommen,  und  seine  unvollkommene  Mechanik 
und  leichte  Verstimmbarkeit  haben  es  vor  anderen  besser  organisierten 
Instrumenten  in  Vergessenheit  gerathen  lassen.  Aber  wie  im  16.  Jahr- 
hundert das  deutsche  Lied  in  der  Laute  lebendig  war,  so  lebt  diese 
noch  im  19.  Jahrhundert  im  deutschen  Liede  eines  Eichendorff  u.  a. 


Alphabetisohes  Yerzeiolmiss  der  Liederbearbeitungen 

mit  Angabe  der  Komponisten^  und  Nachweis  der  Originale^. 


Liedftnfang. 


Lantonbearbeitang. 


1.  Ach,   ach  wie  brendt  so  un- 

geheuer. . .. 

2.  Ach  Amor  wie  ganz   wider- 

werdig 

3. 
4. 

5.  Ach  ELschen,  liberBule  mein.. 

6.  [Ach]  Elslein,  liebstes  Elslein 

mein 

7.  Das  Elselein. . . 


8.  Ach  Fräulein  zart. . . 


9.  Ach  Gott  wem  soll  ichs  klu 
gen . . . 


Liederbuch  des  Fa- 
bricius.Bibl.Kopen- 
hagen. 

desgl. 

Lautenbuch  d.  Nau- 
kleros.  Bibl.  Berlin. 

Mn8cr.l)resd.M.29T. 

Naukleros. 

Lautenbuch  V.  Hans 
Newaidler  1536  I. 

Musica  Teutsch  von 
Hans  Gerle  1532/37 
1546. 

Testudo  Gallo- Ger- 
manica* von  G.  L. 
Fuhrmann  1615. 

Hans  Newsidler*  I. 


Komponist. 


Ludwg.Senfl. 


Joh.LeoHass- 
1er. 


W.  Grefinger. 


Ausgabe  der  Lied»  ia 
Vokalsatz.' 


lOtt'sLiederh.  1534 
Nr.  37.  Melodie  im 
CantuBbeiOtt:115 
guter  newer  Lied- 
lein 1544.  Nr.  15. 
lassler :  Lustgarten 
neuer  teutscher  Ge- 
sang etc.  Partitur- 
ausg.  V.  Fr.  Zelle. 
65  teutscherLied.ge- 
dr.  bei  Peter  Schöf- 
fer. Nr.  54. 


^  Bei  den  Bearbeitungen,  die  mit  einem  *  bezeichnet  sind,   steht  der  Name  in  der 
Lautentabulatur,  bei  allen  übrigen  habe  ich  ihn  durch  Vergleichung  festgestellt 
'^  Die  Originale  sind  sammtlich  von  mir  durch  Vergleichung  festgestellt 
3  "Wenn  sich  ein  Lied  in  mehreren  Liederbüchern  findet,  begnüge  ich  mich  mit  An- 
gabe eines  einzigen. 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        319 


Liedftsfang. 


10.  Ach  hertziges  Hertz. . 

11. 

11 

13. 

M. 

15. 

16. 

17. 


IS.  Ach  hüff  mich  leid. . . 


19.  Ach  Jupiter 


20. 


21.  Ach  lieb  mit  leyd 

K. 
'  13. 
;  24. 


25. 

26.  Ach  meidlein  rein ,  ich  hab 
allein  mich  dir  eigen  ergeben.. 


27.  Ach  möcht  es  doch  iresein* . . . 

28.  -  • 

29.  _  ♦ 

30.  -  ♦ 

31.  Ach  schönste  Zier, wie  hastu.... 

32.  Ach  Unfall  wes  zeihestu 

33.  (wigstu)  mich.... 
^*  Ach  was  seindt. . . . 

35.  Ach  werde  frucht. . . 


36. 

37. 
3^. 
39. 
40. 
41. 
42. 
43.  Adonis  zart. . . 


Ach  wie  bin  ich  von  hertzen 

betrübt. . 
Ach  wie  hertslich  und  schwer.. 
Ach  woher  kumbt  meim  Uer- 

tien,  jetzundt  so  seltam. . . 
Ade  ich  muß  mich  scheiden.. 


Lantenbearbeitang. 


Komponist. 


Ausgabe  der  Lieder  im 
Vokalsatz. 


FabriciuB. 

Philipp    Hainhofers 

Jjautenbücher.Bibl. 

Wolffenbüttel.1603. 
Fabricius. 
Naukleros. 
desgl. 

Flores  Musicae  von 
Joannes  Rudenius. 

1600. 
llans  Newsidler    I. 


Tenorlautenbuch   v. 

JacobWecker.  1552. 
B.Wernigerode. 

Discant-  und  Tenor- 
Lautenbuch  V.  Wolff 
Heckel.  1556/62. 

Hans  Newsidler  I. 

desgL 

desgl.  IL 

Tabulaturbuch    von 

Seb.  Ochsenkhun 
1558. 

Naukleros. 

Hans  Newsidler  I. 


Tabulatura  nova  von 
Gregor    Krengel. 
1584. 

Rudenius. 
Hans  Newsidler  I. 
desgl.  IL 

Mnscr.  Dresden.  M. 
297. 
Hans  Oerle. 

DreS(l.Mnscr.M.297. 

Rudenius. 
desgl. 
desgl. 

Dresd.Mnscr.M.  297. 
Fabricius. 
desgl. 

Florilegium    von  * 
Adrian  Benss.  1594. 


Leonhard 
Lechner. 


Paul  Hoff- 
heymer. 


Wolff  Gre- 
finger. 


Gregor 
Lange. 


Ludwig  Senfl. 


L.  Lechner. 


Der  erst  und  ander 
Theild.Teutechen 

>  Villanellen    Leo- 
nardi  Lechneri. 
1590.  Nr.  10. 


Tenor  imLiederbuch 
gedr.  b.  Amt  von 
Aich.  1518. 


Oeglins  Liederbuch 
1512.  NeueParti- 

>  turausgabev.Rob. 
Eitner  und  Jul. 
Jos.  Maier.  Nr.  6.*. 

Aussbund. . .  Teut- 
scher  Liedlein  von 
GeorgForster.  1 549. 
I.  62. 

^Greg.  Lange :  Neue 
teutsche  w.  Lieder. 
1598.  Nr. 20 des]. 
Theüs. 


Ott's  Liederbuch. 
1534.  Nr.  86. 


^  Publicationen  der  Gesellschaft  für  Musikforschung.     Bd.  IX 


Lechner :    Teutsche 
Vilanellenk3v.l590. 

Nr.  9. 

22* 


320 


Ernst  Kadecke, 


Liedanfang. 


Lantenbearbeitang. 


Komponist. 


Ausgabe  der  Lieder  in 
Vokalsatx. 


44.  Ainsmahlß  that  ich  spazieren... 

45.  Aide... 

46.  All  ding  mit  radt. . . 

47.  Allein  hab  ich  auserwelt. . . 

48.  Alle  Wacker  Magdlin... 

49.  Magdtlin.... 

5d.  An  banden  hart,  das  ich  nu 
"wart  im  Venusberg  ver- 
schlossen .... 

51.  An    dich   stätiglich    dencket 

mein . . . 

52.  An  die  lieb  bin  ich  geraten... 

53.  Auff  mein  Gesang   u.   mach 

dich  ring. . . . 

54.  Au ser weite. . 

65.  Beschaffens  glück  ist  unver- 
sampt .... 

56.  Betrübe  dich  nicht  so  sehr. . . 

57. 

58.  Bey  dir  Mein  Hertz... 

59. 

60.  Bey  myr  mein  Hertz... 

61.  Bist    du    des    Goldschmidts 

Töchterlein . . . 

62.  Bitt  wollet  mir  ein  Tänslein 

klein  . . 

63.  Crefftige  Liebe... 

64.  Gupido  hat. . . 

65.  Das  du  von  meinetwegen. . . 


66.  Das  Herz  thut  mir  aufsprin- 

gen . . . 

67.  Das  ist  die  Zeit,  die   mich 

erfreut 

68.  Dat  unse  Grete... 

69.  Dein  freundtlichs  gesiebt. . . 

70.  Dein  trawren  macht  daß  ich 

kaum . .  • 


Hainhofer. 
Discant-Lautb.  von 

Heckel. 
Tabalaturbuch    von 

AmoltSchlickl512. 
Fabricius. 
Fabricius. 
Fabricius. 
Mnscr.    5102   d.   k. 

Hochschule  Berlin 

von  1588. 
Rudenius. 

Fabricius. 
Fuhrmann. 


Naukleros. 

Teutsch  Lautenbuch 
V.  Melchior  New- 
sidler.  1574. 

Fabricius. 

desgl. 

Dresd.Mn8cr.  M.297. 

Naukleros. 

Fabricius.* 

Fabricius. 

Hainhofer. 

Fabricius. 
Schlick. 

Rudenius. 


Valentin 
Haussmann. 

Valentin 
Haussmann. 


Valentin 
[Haussmann. 


Hainhofer.' 


K.rengel  (hdstLzuge- 
fügt). 
Dresd  Mnscr.  M.297. 

Gerle.Musica  U.Tab. 
1546. 

Rudenius. 


Regnart- 
Lechner. 

Hassler. 


Neue  artige  u.  liebL 
Täntzek4v.  V.H. 
1598/1600. 

Haussmann :  Venus- 
garten. 1602. 


} Haussmann:  Neue 
liebL  Melodieen. 
159S-1600.Nr.6, 


Oeglin's  Liederbuch 
1512.  Nr  5. 

Regn.-Lechner:  N.l. 
Lieder  ä5  v.  1 5  7  9  Nr. 
18. 

Neue  teutsche  Ge- 
sang von  Hassler. 
1596. 


Heinr.  Finck.    Liederbuch  v.  Hein. 

'   rieh  Finck.    1M6. 

I   Nr.  13.1 
Valentin        Val.  Haussm.  Teut- 
Haussmann.  ;    scheweltLLieda^T. 

I    1597. 


1  Neue  Fartitürausgabe  von  R.  Eitner.    Fublicationen  Bd.  VIII. 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        321 


Liedftnfkng. 


Laiitenb«Arbeitiing. 


Komponist. 


Ausgabe  der  Lieder  im 
Yokalsatz. 


71.  Der  Ehelich  Stand  ist  billig 

gnant. .  • 

72.  Der  hund  mir  vor  dem  liecht 

ambgat . . . 

73.  Der  Pfaffe  mit  den  Stelzen... 

74.  Der  wein   der  schmackt  mir 

also  wol. .  • 

75.  Dich  als  mich  selbst. . . 

76.  Die  allerholdseligstauff  erden 

!  77.  Die  Fisch'  im  wasser  wonen... 
7S.  Die  pronlein  die  da  fließen... 
79. 

81. 

n. 

63. 

M.  Die  schöne  Atalante. . . . 
85. 

86.  Die  weyber  mit  den  flöhen. . . 

87.  [AuffI  Diß  faßnacht  soll  ich 
hoch.. . 

88.  Dort  niden  an  dem  Rheyne . . . 

S9.  Durch  liebeskrafft. . . 

90.  Eilendt  hat  sich  verkehrt. . . 

91.  Ein  Abt  den  wöU  wir  wey- 
hen... 

92.  Ein  adeliches  Bildelein. .  • 

93.  Ein  alter  Greiß... 
^  Ein  freuiein  lebet  uf  dieser 

erdt. . . 

95.  Ein  frölich  Wesen . . . 

96.  Ein  liedlein  zum  Ehren. . . 

97.  Ein  Mägdtlein  sagt  mir  freund- 
lieh zu . . 

98.  Ein  (ge-)trewes  Herz  in  eren 

99.  hab ich  mich  außerweit. ... 
100. 

101.  Eitel  sut  dunck. . . 

102.  Elend  nat  mich  umbgeben. . . 

103.  Ein  meidlein  jung  am  laden 
stundt. .  • 

104.  Entlaubet  ist  der  walde... 

105.  Entlaubt  ist  uns  der  walde. . . 


Ochsenkhun.* 
H.Newsidler  I* 

Fabricius. 

Jobin :  Das  1.  Buch 
newerlesner  Lau- 
tenstück 1572. 

Gerle  1532/37/46. 

Oohsenkhun.* 

Hainhofer. 

Di  scantltb.y  .Heckel. 

Gerle. 

H.  Newsidler    I. 

H.  Newsidler  II. 

Münch.  Mnscr.  Nr. 

1512. 
desgl. 

;  Fabricius.* 
desgl.* 

!  Ochsenkhun.* 
H.  Newsidler  I. 


Ochsenkhun.* 

Fabricius. 
Kudenius. 
Ochsenkhun.* 

Dresd.Mnscr.  M.297. 
Fuhrmann.* 
Mnscr.  5102  d.   K. 
Hoch.  B. 
Heckel  D.  u.T.Ltb. 
Fabricius. 
Fabricius. 

Fabricius. 

desgl. 

Naukleros. 

Fabricius. 

desgl. 

desgl.* 

Münch.  Mnscr.  1512. 
H.  Newsidler  I. 


Ludw.  Senfl. 


Orlandus 
Lassus.* 


Gregor 
Fetschin. 

Ludw.  Senfl. 


Leonhard 
Lechner. 

Ludw.  Senfl. 
Thomas 
Sporer. 

Gregor 
Fetschin. 


Ludw.  Senfl. 


Hassler. 


Meiland. 


I 


Ott'sLiederbueh  von 
1544.  Nr.  9.1 


O.L. :  Teutsche  Lie- 
der mit  5  St.  1583. 

Forster'sLiederbuch 
1549.Nr.ld.LTeils. 


Ott's  Liederbuch 
1534.  Nr.  44. 


} 


L.Lechner:Teutsch. 
Villanellen  ä  3  voc. 
1590.  Nr.  3. 


65  teutsch.  Lieder  ge- 
druckt bey  Peter 
Schöffer.  Nr.  16. 


•Thomas 
Stoltzer. 


Ott'sLiederbueh  von 
1544.  Nr.  23. 

Hassler:  Lustgarten. 


\For8ters    Lieder- 
/  buch.  1549.  L  61. 


1  Neue  Partiturausgabe  von  R.  Eitner.    Publicationen  Bd.  I.  IL  III. 


322 

Ernst  Radecke, 





Lied&nfftDg. 

Lantenbearbeitang. 

Eonponisi. 

Ausgabe  der  Lieder  in 
Yokalsato. 

106.  Es   ist  ein  Bawr  in  Brunn 

Fabricius. 

gefallen... 

107.  Es    solt    ein    Bau  wer    sein 

desgl. 

Haber  sehen... 

108.  Es  sout  ein   meskin    holen 

Gerle,  Musica  u.  Tab. 

Sampson. 

Forsters  Liederbuch 

win. .. 

1546. 

1549.  n.  1. 

109.  Es  taget  for  dem  walde. . . . 

Münch.  Mnscr.  Nr. 
266. 

110.  Es  war  ein  junger  heldt. . . . 

111.  Es  wolt  ein  Fraw  zum  Weine 

Fabricius. 

desgl. 

gehn .... 

112.  Es  wolt  ein  Medlein  wasser 

Münch.  Mnscr.  Nr. 

holen .... 

1512. 

. 

113. 

desgL 

114.  Es  wolt  gu et  reyher  fischen. . . 

Hainhofer. 

115.  Ey  du  lieber  Bottenbueb 

Hainhofer. 

(Imthon:  ein  goldtschmidt 

wolt  ein  Bader  werden). 

116.  Feinslieb  du  hast  mich  ge- 

Hainhofer.* 

Hassler. 

Hassler :  Neue  teut- 

fangen  . . 

sehe  Gesang.  15% 

117.  Fraw  ich  bin  euch  von  hertzen 

Ochsenkhun.* 

L.  Senfl. 

hold... 

118.  Freundtlicher  grüß  mit  büß... 

H.  Newsidler  I. 

0  egiin's  Liederbuch 
1512.  Nr.  14. 

119.  Freundtlicher  Held  ich  hat 

Ochsenkhun.* 

L.  Senfl. 

Ott's    Liederbuch 

erweit. . . 

1544.  Nr.  46. 

120.  Frisch  auf  last  uns  ein  guet 

Hainhofer.* 

Hassler. 

Hassler:  Neueteut- 

glas . . . 

sche  Gesang.  1596. 

121.  Frisch  auff  mein  Hertz... 

Fabricius. 

1 22.  Frölich  will  ich  Singen,  ich 

Naukleros. 

Kanns . . . 

123. 

desgl. 
Kudenius. 

124.  Frölich  will  ich  singen  mit 

lust  zu . . 

125.  Frölich  zu  sein  in  ehren . . . 

Hainhofer.* 

Hassler. 

Hassler:  Neueteut- 
sche  Gesang.  1596. 

126.  Für    eines    hirschen   jagett 

Fabricius. 

Achaeon ... 

127.  Gar  lustig  ich  spazieren  ging 

Hainhofer. 

(Ich  ging  einmal  spazieren 

durch  einen  grünen  waldt. ) 

128.  Gar    lustig     ich    spazieren 

Hainhofer. 

g^^»:-    .       . 

129.  Gar     lustig     ist    spazieren 

Fabricius. 

gehn . . . 

130. 

Naukleros. 

131.  Geliebtes   hertz  wie  thustu 

Fabricius. 

Valentin 

V.    Haussm.    Teut. 

(magstu) . . . 

Haussmann. 

weltl.Lied.ä5. 1594. 
Nr.  23. 

132.  Gesell  wiß  urlawb 

Gerle,  Musica.  1516. 

Matth.  Eckel. 

Forst  Liederb.  1.20. 

1 33.  Glaube  nicht  das  ich  köndt. . . 

Krengel.* 

1       Jacob 
1    Regnart. 

ITricinia  von  Jacob 

i                              134. 

Krengel.* 

}  Regnart  1593.>Y 

• 

• 

J   14. 

^ 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh. 


323 


Liedanfftug. 


Lantenlearbeitang. 


Komponist. 


Aasgabe  der  Lieder  im 
Yokalsatz. 


135.  Glück  mit  der  Zeit. . . 

136.  Gott  behüte  dich. . . . 

137.  Gott  grüß  mir  die  im  grü- 

nen . . . 

13S.  Groß  liebe  thut  mich  zwin- 
gen... 

139.  Gut  gsell  (und)  du  mußt 
wanaem . . . 

140. 

141.  Gut  Singer  und  ein  Orga- 
nist . . . 

141  Ueckerling  u.  Uaberstroh. ... 
1 4  3.  Hebe  das  new  Jar  Gott  geb. . . . 
144.  Hertzi^es  Hertz . . . 
14ö.  Hertzlich  thut  mich  erf  rcwen .. 

146.  Uertzliebstes  pild..    . 

147.  Herziges  Herz,   ach  Enge- 

lin... 
US.  Henlieb  zu  dir  allein . . . 

149.  Hummer  die  Hum . . . 
l&O.  Jauchzen  will  ich. . . 

151.  IcharmcsKcutzlcin  kleine... 

152, 
153. 
154. 


155. 
I    156. 

1      101. 

159. 


Ich   armes    Maydlein    klag 
mich  sehr. . . 


Ich  bin  gen  Baden  zogen. . . 
Ich  bin  zu  lange  gewesen . . . 


160. 

161. 

162. 

163, 

164.  Ich  ging  bey  eitler  nacht. 

165. 

166. 

167.  Ich  ging  einmal  spazieren . . 

16S. 

169. 


Ochsenkhun.* 

Rudenius.* 

Fabricius. 

desgl. 

desgl. 

Hainhofcr. 
Denss.* 


Fabricius. 

Ileckel,   Discantltb. 

Fabricius. 

dcsffl. 

Schlick. 

Hainhofer. 

desgl. 

Fabricius. 
Hainhofer. 

)  Ochsenkhun.* 
fMünch.Mnscr.1512. 
I  desgl. 
Ochsenkhun.* 

Münch.Mnser.  1512. 

desgl. 

\  Krengel.* 

/desgl.* 

Waisselius'  Lauten- 
buch. 

Fabricius. 

desgl. 

desgl. 

desgl. 

Hainhofer. 

desgl. 

desgl. 

Melch.  Newsidler. 

Münch.  Mnscr.  266. 

Lautenbuch  hrsg.  v. 
Chilesotti. 


Caspar 
Ottmair. 
liconh.  Lech- 
ner. 


Leonh.  Lech- 
ner. 


P.  Hoflfhey- 
mer. 


Hassler. 

Hainhofer?  1 

IStcifanMahn 
I  oder  L.  Senil. 

Ludwig 
Senfl. 

Jacob 
Regnart. 


Lechner:  tcutsche 
Vilanellenä3.l590. 
Nr.  1. 


Oeglin's  Liederbuch 
1512.  Nr.  37. 


Hassler:  N.  teutOes. 
1596.  Nr.  13. 

Ph.  Hainhofers  Lau- 
tenbüch.Theiin.1. 

Ott*8  Liederbuch 
1544.  Nr.  59. 

Ott's  Liederbuch 
1544.  Nr.  47. 

!  Regnart :     Tricinia 
1 593.  Nr.  29. 


^  Das  Lied  trägt  in  der  Hds.  den  Zusatz:   Ain  lied  der  J.  Regina  Waiblingerinui 
dem  Namen  nach  zue  ehren  gemacht  durch  J.  H    A. 


324 


Ernst  Radecke» 


Liedanfang. 


Laatenbearbeitang. 


Komponist. 


Ausgabe  der  Lieder  in 
Yokalsata. 


170.  Ich  ging  mir  nachten  abendt 

spat. . . 

171.  Ich  ging  wol  bey  der  nacht... 

172.  Ich  hab  dich  lieb 

173.  Ich  habs  gewagt... 

174.  Ich  habs  gewagt. . . 


175. 

176. 

177. 

178. 
179. 


Ich  hatte  mir  vorgenom- 
men . .  • 

Ich  hct  mir  ein  Endlein 
fürgenommen. .. 

Ich  hört  ein  Jungfraw  kla- 
gen . . . 

Ich  klag  den  tag  und  alle 
stundt. .. 


180. 
181. 
182. 
183. 
184. 
185. 
186.  Ich  reuw  und  klag.... 


187. 

188. 

189. 
190. 

191. 

192. 

193. 

194. 

195. 

196. 
197. 

198. 

199. 


Ich  schrei  und  rueff. . . 
Ich    schell  (schwing)    mein 
hom  ins . . . 

Ich  seg  adiu... 

Ich  stel  leicht  ab  von  sol- 
cher hab . . . 
Ich  stund  an  einem  morgen.. . 

Ich  weiß  ein  frewlein  habsch 
und . . . 

Ich  weiß  ein  hübsch  Jung- 
frewelein . . . 

Ich  weiß  ein  stolze  Mülle- 
rin. . . 

Ich  weiß  mir  ein  hübsch 
Paumjcartelein . . . 

Ich  weiß  mir  eine  schöne 
Müllerin... 

Ich  weiß  mir  ein  Testgebau- 
tes Haus... 


200.  Ich  weiß  mir  gahr  ein  hüb- 

sches Haus . . . 

201.  Ich  weiß  nit  wie  es  kommen 

mag. . 


Fabricius. 

H.  Newsidler. 

Fabricius. 

Fuhrmann.* 

Oerle,  Musica  u.  Tab. 

Rudenius. 

Gcrle. 

Krengel.* 

desgl.* 
Gerle. 

desgl. 

Heckel.  I).  u.  T.Ltb. 

H.  Newsidler  I. 

desgl. 

Münch.Mnscr.  1512. 

desgl. 

M.  Newsidler.* 

Schlick. 
Ochsenkhun.* 

Gerle,M.u.Tab.l546. 
Heckel,  Discantltb. 

Fabricius. 

H.  Newsidler  I. 

Fabricius. 

desgl. 

Münch.Mnscr.  1512. 

desgl. 

Gerle,  Mus.  u.  Tab. 

Heckel,  Tcnorlautb. 

Jobin.* 


Fabricius. 
Ochsenkhun.* 


Hassler. 


Ludw.Senfl. 

Gregor 
Lange. 


Thomas 
Stoltzcr. 


Gregorius 
Brack. 


} 


Ludw.  Scnfl. 


L.  Lechner. 


Valentin 
Haussmann. 


} 


L.  Senfl. 


Antonio 
Scandelli. 


Martin  Zilte. 


Hassler,  Lustgarten. 

Nr.  3. 
Forster'sLiederbuch 

I.  16. 


Ott's  Liederbuch. 
1544.  Nr.  22. 
iNeue  teutsehe  Lie- 
I  der  mit  3  St.yon  G. 
J  Lange.l584.Nr.l9. 


Forster's  Liedcr- 
l  buch.  1549.  I.  33. 


Forster's  Liederbuch 
1540.  L  121. 

lott's  Liederbuch. 
I  1544.  Nr.  57. 

Discant  in  Forster  IL 

27. 
Lechner:     T.   ViIä- 

nell.&3.1590.Nr.21 


V.H.N.  t.  w.Canxo- 
nen.  15%. 


} 


Ott's    Liederbuch 
1544.  Nr.  58. 


A.ScWeltl.deutsch. 
Liedlein  mit  4,5,6 
St.  1578.  Nr.  6. 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh. 


325 


Iiiedftnfang. 


Lanten'bauboitnBi^ 


Konponut. 


Ausgabe  der  Lieder  im 
Yokalsats. 


ttl  lek  für  mich  über  rein.,. 
203.  Ick  Ritte  eines   Mals    zue 

Braunsweich  auß.... 
294.  Idt  is  ein  Boicken  kamen. . 

205.  Jetit  bringt  Sankt  Martin . . . 

M,  Jetst  scheyden  pringtmir. . . 


307.  Im  Meyen.. .. 

20S.  In  dieser  weit  hab  ich  kein 
gelt. . 

209.  In  Gottes  Namen  faren  wir . . . 

210.  In    klein    und    großen    Sa- 

chen. . 

211.  In  liebes  brunst. . . . 

212.  In  rechter  lieb  und  trew. . . 

213.  Ist  keiner  hie,  der  spricht. . . 

lli 
215. 

216.  Jung^raw    dein   schöne   ge- 

217.  JungfraweuerWankelmuth.. 
218. 

219.  Jungfräwlcin  ihr    seid    ge- 

liert.. 

220.  Jungfraw  von  Euretwegen. . . 
221. 

222. 

223.  Jungfirewlein    soll   ich    mit 

euch... 

224.  Junker  Hans. . .  • 

225.  Kein  Adler  in  der  Welt  so 

schön.. 

226.  Kein  ding  auf  erden . .  • 

227.  Kein     großer     freud    mag 

sein... 

228. 

229. 

230.  Kein    Mensch    auf    Erden 
soll... 


231.  Ketterlein  von  Torgaw... 

232.  Kunt  ich  sch6n  reines  wer- 

des  weyb.... 

233.  Liebr  Egel  laß  mich  leben. . 

234.  Liebes  meidlin  gut,  was  hast 

im  mut. . . . 


Naukleros. 
Naukleros. 

Fabricius. 

Ochsenkhun.* 

H.  Newsidler  I. 


Lud.  Senfl. 


Jobin.* 

H.  Newsidler. 


Manch.  Mnscr.  1512. 
Rudenius. 

H.  Newsidler  I. 

desgl. 

Jobin.* 

Krengel.* 

desgl.* 

Hainhofer. 

Krengel.* 

desgl.* 

Rudenius. 

Fabricius. 
Krengel.* 
desgl.* 
Fabricius. 

desgl. 

Manch.  Mnscr.  266. 

Ueckcl,  Discantltb. 
Fabricius. 

KrengeL* 
KreneeL* 
Naukleros. 


Orlandus 
Lassus. 
Paul  Wust. 


Orlandus 

Lassus. 

IHenningius 

jWinstmann. 

Hassler. 

\       Jacob 
/    Regnart. 


} 


Gregor 
Lange. 


Fabricius. 

H.  Newsidler  I. 

Fabricius. 

H.  Newsidler  I. 


Jacob 
Regnart. 

Valentin 
Haussmann. 


L.  Senfl. 


Ott's  Liederbuch. 
1544.  Nr.  49. 

Tenor  im  Lieder- 
buch b.  Amt  von 
Aich.  1518. 

O.  L.:  5  stimm.  Lie- 
der. 1583.  Nr.  26. 

65  teutsoh.  Lieder, 
gedr.  bey  Schöffer. 
Nr.  17. 


Forster'sLiederbuch 
1549.  L  76. 

O.  L.:  5  stimm.  Lie- 
der. 1582.  Nr.  12. 


N.  t.  Gesänge.  1596. 
V.  Hassler. 
\  Regnart:   Tricinia. 
/  1593.  Nr.  26. 


}GregorLange :  Neue 
teutsch.  weltl.  Lied. 
&3v.  1598.  Nr.  13. 


Jricinia.  1593.  Nr. 
'  21  V.  Regnart. 

Val.  Haussm.  Neue 
artige  und  liebl. 
T&ntzei4  v.  1598/ 
1600. 

Oeglin's  Liederbuch 
1512.  Nr.  34. 


326 


Ernst  Radecke, 


Liedanfang. 


Laiitenbearb«itang. 


Komponist. 


Ausgabe  dsr  Ltedor  im 
Yokalsatz. 


235.  Lieb  ist   subtil,    fürt   gfer- 

lich.. . 

236.  Lieb  kann  alles  Überwinden... 

237.  List  und  Neidt. . . 

238.  Lucretia. . . 

239.  Mag    ich    hcrtzlieb    erwer- 

ben .  • . 

240.  Mag  ich  unglück  nicht 


241.  Mag      nicht 
Schoß.. 


aus      Venus 


H.  Newsidler  I.  T.  Sporer. 


242. 

243. 

244. 
245. 

246. 
247. 
248. 
249. 
250. 
251. 

252. 
253. 
254. 
255. 
256. 
257. 
258. 
259. 
260. 
261. 

262. 

263. 

264. 

265. 
266. 
267. 
268. 
269. 
270. 

271. 


Mancher  nach  Reichthumb 
freyet. . . 

Mancher  wünscht  im  gro- 
ßes. .. 

Man  sieht  nun  wohl. . . 

Man  spricht  waz  got  zusam- 
men . . . 

Maria  zart. . . 

Mein  Aup;entro8t. . . 

Mein  einiges  A. 


Mein  Euglein  weinen,  mein 

hertz  muß  seuffzen . . . 
Mein  fleiß  und  muhe... 


Mein  freud  allein. . . . 


Mein    gemüth   ist  mir  ver- 
wirret. . 
Mein  gmut  und  geblut. . . 

Mein     hertz     allzeyt      hat 

groß. . . 
Mein    hertz    hat   sich    mit 

lieb... 


Mein  hertz  hat  ihr  doch . . . 

Mein  hertz  ist  frisch. . . 

Mein  hertz  ist  frisch,  mein 
gmüt  ist. . . 

Mein  hertz  mir  lieb  verkün- 
det. . . 


Fuhrmann. 

Dresd .  Mnscr.M.297 . 

Fabricius. 

Ochsenkhun.* 

H.  Newsidler  L 

Fabricius. 


Kudenius. 

Ochsenkhun.* 

Fabricius. 

Heckel,  Discantltb. 

Schlick. 

Fabricius. 

II.  Newsidler  I. 

desgl.  I. 

desgL  II. 

Fabricius. 

Gerle  1532/37/46. 

Münch.  Mnscr.  1512. 

desgL 

H.  Newsidler  IL 

M.  Newsidler.* 

Ueckcl,  Discantltb. 

Ochsenkhun.* 

Münch.  Mnscr.  1512. 

desgl. 

Dresd.MnscT.M.  297. 

Heckel,D.u.T.  Stb. 

H.  Newsidler  II. 

Heckel,  D.u.T.Stb. 

H.  Newsidler  I. 

desgl. 

Münch.  Mnscr.  1512 

Fabricius. 

desgl. 

M.  Newsidler. 

Fabricius. 


Lud.  Senfl. 

Lud.  Senfl. 

Valentin 
Haussmann. 


Jobst  von 
Brand. 


} 


Paul  Hoif- 
heymer. 


Ludw.  Senfl. 


Heinrich 
Isaac. 

Hassler. 


65 1.  Lied,  gedruckt 
bey  Schöffer.  Nr.40. 


Ott's    Liederbuch. 
1 534.  Nr.  48. 

Forster,  Liederbuch. 
1549.  L  102. 

V.H. :  NeueUebl.Me- 
lodieen  unter  neue  | 
teutsch.  weltL  Text» 
1598/1600.  Nr.  25. 


iForster's   Lieder- 
buch.  1549.L289. 


iForstcr's  Lieder- 
buch. 1549.  L  101. 


[ott's  Liederbuch. 
1544.  Nr.  3. 

Hassler :  Lustgarten. 


JohanWenck. '  Forster's  Liederbuch 
!    1549.  I.  85. 


Forster's   Lieder- 
buch.  1549.  1. 7S. 


Dafi  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        327 


Liedanfang. 


Lautenbearbeitnng. 


Komponist. 


Ausgabe  der  Lieder  im 
Yokalsatz. 


273.  Mein  herts  mit  schmertz. .  • 

173.       ^  - 

2'4.  Mein  junges  Leben  hat  ein 

endt. . . 
275.  Mein  lieb  ist  weg. . . 
27t».  Mein  M.  ich  hab. . . 


277.  Mein     selbs    bin    ich    nit 

gwaltig  mehr... 
278. 
279. 

[280.  ^      - 

2S1.  Metzkin  Isaac. . . . 

282.  Mir  habe  ich  gentzlich  mit 

begier. . 

283.  ^  -       ^ 

281.  Mir  ist  ein  feins  brauns 
Magetlin  gefallen  in  mei- 
nen sin. , . 

285.  Mir  wurd  untrcw  getheylet 

mit. . . 

286.  Mit  großer  begier  zu  dir. . . 

287.  Mit   lieb    bin  ich    umbfan- 

gen.... 

288.  Möcht  es  gesein . . . 

289.  Muß  den  die  Treuwe  mein. . . . 
1290. 

291.  Muß  denn  mein  treuw. . . . 

292.  Nach  lust  hab  ich. . . . 

293.  Nach  meiner  lieb  viel  hun- 

dert Knaben  trachten. . . 
294. 

295.  Nach  willen  dein 

296. 

297. 
298. 
299. 
300.  Nie  noch  nimmer . . . 


Fabricius. 

desgl. 

desgl. 

Schlick, 
desgl. 


Ochsenkhun.* 

desgl.* 

Münch.Mnscr.  1512. 

desgl. 

Schlick. 

Denss.* 

Kudenius. 
M.  Newsidler. 


H.  Newsidler  I. 

Rudenius. 

Hainhofer. 

Schlick. 
Fabricius.2 

Naukleros. 

Fabricius. 
Schlick. 

KrengcL* 

desffl.^ 

Gerle,  1532/37/4H. 
Heckel,  Disc.  u.  Ten. 
Lautb. 

H.  Newsidler.  I. 
desgL  I. 

desgl.  IL 

H.  Newsidler  I. 


Tenor  im  Liederbuch 
gedruckt  bei  Amt 
von  Aich. 


SteffanZirler. 


It  ..1™  G««fl     iForster's  Liederb. 
jLudw.  Senfl.  ,  J  jjj   jO.  1549. 


I 


Lconhard 
Lechner.* 


Mathias      ,  65  t.  Lied.  gedr.  bei 


Qreites. 
Valentin 


Schöffer.  Nr.  11, 
Val.Haussm.  N.  t.  w. 


Haussmann.       L.  ä  5  v.  1 594.  Nr.  1 5. 


{Valentin 
Haussmann. 


Jacob 
Regnart. 


Paul 
Hoffheymer. 


}  Val.Haussm.:  Neue 
lieb.  Melodieen. 
1598/1600.  Nr.  7. 

Tenor  im  Liederbuch 
Amt  von  Aichs. 


J.    Regnart :     Tri- 
cinia.  1593.  Nr.  43. 


Oeglin's    Lieder- 
^  buch.  1512.  Nr.  26. 


Tenor  im  Liederbuch 
von  Arnt  von  Aich. 


*  Dieses  Lied  steht  als  Nr.  12  in  Lechners  »Neuen  lustigen  teutschen  Liedern  nach 
art  der  welschen  Canzonen«,  wie  aus  dem  Verzeichniss  bei  Goedeke:  Grundriß  zur  Ge- 
«ehichte  der  deutschen  Dichtung,  II.  Aufl.  1886,  Bd.  II,  S.  52,  Nr.  6  zu  ersehen  ist. 
£s  Ist  offenbar  dasselbe  wie  die  obigen,  da  es  sonst  nicht  vorkommt  und  Denss  ja 
Leekner  als  Komponisten  angiebt.  Ich  habe  es  jedoch  nicht  vergleichen  können,  daher 
liabe  ich  das  Original  oben  nicht  angegeben. 

2  Fabricius  hat  den  Zusatz :  Caspari  Husmanni ;  das  ist  wohl  ein  Versehen ! 


328 


Ernst  Radeeke, 


Liedanfang. 

t 
LaatenbearlMitiuig.            Komponist. 

1 

Ausgabe  der  Lieder  im 
Tokalsata. 

301.  Nun  bin  ich  einmahl  frey. . . 

WaisseliuB.                 *  \ 

< 

302. 

Fabricius. 

303. 
304. 

desgl. 
Hainhofer. 

>Jac.Regnart. 

Regnart:  Tricinia. 
'  1593.  Nr.  3. 

305. 

Naukleros.* 

306. 

desgl. 

307.  Nun  fall  du  lleiff . . . 

Fabricius. 

308.  Nun  grüß  dich  Qott  du  mein 

Gerle,  1532/37/46.     ,  Sixtus  Diet- 

Forster's    Liedeib. 

Drusserlein. . 

rieh. 

1549.  L  82. 

309. 

Naukleros. 

310.  Nun   hab  ich  all  mein  tag 

Schlick. 

gehört.. 

311.  Nun  hab  ich   doch  einmal 

Fabricius.                    J.  Regnart 

Regnart:  Tricuia. 

erlebt.... 

1593.  Nr.  7. 

312.  Nun  reiff  nun  reiflf  du  küh- 

desgl. 

ler  Tauw.. 

v_/ 

313.  Nur  nerrisch   sein  ist  mein 

H.  Newsidlerl. 

Sixtus  Diet- 

65 t.  Lied,  gedr.b« 
Schöffer.  Nr.  34. 

monier.. 

rich. 

314.  O    auffenthalt    meines    Le- 

Rudenius. 

Hassler. 

N.teut8ch.Gc8,1596. 

bens  .  • . 

Ni-.  6.  Haasler. 

315.  0  du  armer  Judas. . . 

Gerle,  1532/37/46. 

316.  Offt  wünscht  ich  ihr. . . . 

Krengel.* 

1      Gregor 
1     Lange. 

317. 

desgl. 

318.  Ohn    dich    muß    ich    mich 

Denss.* 

Regnart- 

Regnart-Lechner,  N. 

aller  Freuden  massen. . . 

Lechner.         t.L.ä5.v.l579.Nr.l. 

319. 

Krengel.* 

l                        \ 

320. 

Krengel.* 

[Jacob  Reg-     1  Regnart:   Tncinia. 

321. 

Waisselius. 

f  nart.               (   1593,  Nr.  50. 

322. 

Fabricius. 

1 

) 

323.  0  Nachbaur,  lieber  Robert, 

Hainhofer, 

mein . . . 

324.  On  tugent  frcyd   die  lang 

H.  Newsidler  I. 

S.  Dietrich. 

65  t.  L.  gedr.  bei 

nit  wert.. 

Schöffer.  Nr.  49. 

325.  0  Venus  banth... 

Intabul.  de  Lauto. 
1507. 

326.  0  weiblich  art 

H.  Newsidler  I. 

Ueinr.  Isaac.   Forster's  Liederbuch 
1    1549.  L  lOS. 

327.  Pacientiam  muß  ich  han... 

Gerle,  1532/37/46. 

Ludw.   Senfl.    Forster'sLiederbiich 

1549.  L  104. 

328.  Proficiat  jr  lieben  herrcn. . . 

329.  Recht  sehr  hadt  mich  yer- 

M.  Newsidler. 

Naukleros. 

wundet. . 

330. 

Naukleros. 

331.  Regina. . . 

Fabricius. 

332.  Rosina  edler  schaze  mein. . . 

Hainhofer. 

333.  Rosina  wie   war   dein   Ge- 

Fabricius. 

• 

stalt..  . 

1 

334.  Sag,     gib    mir    rath,     zart 

Rudenius. 

Vnl.  Hauss- 

V.H.T.L.^5v.l594. 

schöns  Jungfrewlein 

mann. 

Nr.  17. 

Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        329 


Liedanfang. 


Laotenbearbeitung. 


Komponist. 


Ausgabe  der  Lieder  im 
Yokaleatz. 


}35.  Sagt    mir    Jungfraw    rech- 
ter.... 
»6. 

337.  Schöns    lieb    ich    thu    dir 

klagen... 

338.  Schöns  lieb   mich    krenckt 

der  massen..« 

339.  Seidt    ihr    der    Schwanen- 

dreher. . . 

340.  Sie  acht  vielleicht  mein  trew 

fOr  nicht.. 


Krengel.* 

Krengel.* 
Fabricius.* 

Rudenius. 

Hainhofer. 

Fabricius. 


311.  Sibilla  zart   schöns   frawen   Hainhofer.* 
bildt...  I 

342.  Siehet  ihr  mein  Hertz  (?)        Naukleros. 

343.  Sie  ist  die  sich  heldt. . .       '  Heckel,  Discantltb. 
34i  Sie  ist  mein    glück,    wenn   H.  Newsidler.  I. 

ich  mich  schick.. 

345.  Sih  lieb  ich  muß  dich  las- 

sen.. 

346.  Sih  Paurenknecht,  laß  Trös- 

lein  stehn 

347.  Soll  sieh  den  in  lieb. . . 


348. 
349. 
350. 

351. 
352. 


So     sehaid     ich    nun    mit 

schmerz... 
So  soUtu  doch  mein  Liebgen 

sein . . 
So  wünsch  ich  jr  ein  gute 

nacht. . 


353. 
354. 
355, 
356. 
357. 

358.  Tandemaken . . . 

359.  Tannemack 

3«0. 


Ochsenkhun.* 

desgl.* 

Dresd.Mn8or.M.297. 


Hainhofer. 

Dresd.Mnscr.M.297. 

Fuhrmann.* 


H.  Newsidler  I. 
Ochsenkhun.* 

Fabricius. 

Hainhofer. 

desgl. 

Naukleros. 

desgl. 

Intabul.  d.  L.  1507* 

H.  Newsidler  I. 
desgl.  n.* 


Jacob  Reg- 
nart.* 

laussmann.^ 


Leonh.  Lech- 
ner. 

Johannes 
Mair?3 


P.  Wfist. 
Hans  Kilian. 
Ludw.  Senfl. 


Val.  Hauss- 
mann. 


E.  M.  A.* 

]Mar.  Wolff 
>  od.  Thomas 
j  Stoltzer. 


Francesco 
Spinacino. 

P.  Hoffhey- 
mer. 


} Regnart:  Tricinia. 
1593.  Nr.  44. 


Lechner ,    Teutsche 
Villanellenä3.1590. 

Nr.  7. 


05  t.  Lied.  gedr.  b. 
Schöffer.  Nr.  27. 


Otfs   Liederbuch 

1544.  Nr.  24. 
Haussmann:    Neue 

liebl.  Melod.  159S. 

Nr.  3. 


\Forster's   Liederb. 
/  1549.  I.  130. 


*  Bei  Regnart  beginnt  das  Lied:  »Sagt  mir  Jungfrawe  wohere,  wann  ich  euch  seh, 
mein  hertz  mir  wird  so  schwere«...,  die  Musik  stimmt  aber  mit  den  Bearbeitungen  bei 
Knngel  genau  überein. 

^  Bei  Fabricius  steht :  Gaspari  Husmanni. 

^  Das  Lied  trä^  in  der  Hds.  den  Zusatz:  Johannes  Mairs  Dantz.  Lied  so  Herr 
Joh.  Mair  seiner  budfschafft  Jungfer :  Sibilla  Weissingerin  zu  ehren  componiert. 

*  Elias  Mertelius  Argentinensis. 


330 


Ernst  Radecke, 


Liedanfang. 


Lantenbearbeitnng. 


Komponist. 


Ausgabe  der  Lieder  ia 
VokalnU. 


361.  [To]    Andernaken    up    dem 

Rhin . . . 
362. 
363. 


364. 
365. 
366. 
367. 
368. 
369. 
370. 
371. 
372. 

373. 
374. 
375. 
376. 
377. 
378. 
379. 
380. 

381. 
382. 
383. 
384. 
385. 
386. 
387. 

388. 

389. 


Tröstlicher  lieb  ich  mich . . . 


Und  wer  der  Winter   noch 

so. . . 
Unfall  wan  ist  deins . . . 


Unglück  ist  widerfahren.. 
Ursach  hab  ich  eu  klaeen . . 
Venus  du  und  dein  K.ind . 

Vertrawt  ehliches  Bildt. . . 

Viel  hinderlist... 

Vil  glückh  man  spricht. . . 

Von  edler  art... 


Von  (?)    ehrlos   ist  d. . .  (?) 

[unleserlich] 
Von    godt    ist    myr    nach 

Hertzen  begir. . . 
Von  nöthen  ist,  das  ich  iezt 

trag . . . 


390. 
391. 
392. 
393. 
394.  Wan  ich  den  gantzen  Tag. . . 


395. 

396. 

397. 

398. 

399. 
400. 
401. 


Wan  ich  lang  klag  alle 
tag... 

Wann  ich  des  morgens 
früh. . . 

Was  seltzam  ist  man  auser- 
list. . 

Was  würt  es  doch  des  Wun- 
ders noch . . . 


U.  Newsidler  I. 


desgl. 
desgl. 


IL* 
II.* 


Oerle,  1532/37/46. 
Heckel,D.  u.T.Ltb. 
H.  Newsidler  I. 
desgl.  I. 

desgl.  II. 

M.  Newsidler* 
Oehsenkhun* 
Münch.  Mnscr.  266. 
Oehsenkhun.* 

Heckel,  Discantltb. 

Münch.  Mnscr.  1512. 

desgl. 

Hainhofer. 

Rudenius. 

Waisselius. 

Naukleros. 

Fabricius. 

Schlick. 
Hainhofer. 
Heckel,D.  u.T.Ltb. 
H.  Newsidler  L 
desgl.  I. 

desgl.  IL 

Naukleros. 

Fabricius. 

Waisselius. 

Fabricius. 

desgl. 

Naukleros. 

Hainhofer. 

Fabricius. 

H.  Newsidler  I. 

M.  Newsidler. 

Oehsenkhun. 

Gerle,  1532/37/46. 

HeckeliD.  u.T.Ltb. 
H.  Newsidler  I. 
desgl.  IL 


JacobObrecht 
Alex.  Agri- 
cola. 


Paul  Hoff- 
'  heymer. 


Gregor 

Petsehin. 

Ludw.  Send. 


VjacRegnart. 
Val.   Hauss- 


mann. 


Georg 
Schönfelder. 


.J.  Regnart. 

J.  Regnart. 
H.  Brättel. 


I 


Ludw.  Senfi. 


.Forster's    Liederb. 
1549.  L  123. 


Ott's  Liederb.  1534 

[Nr.  50. 


\Reg^art:   Tricinia. 
/  1593.  Nr.  67. 
Haussmann:    N.  t. 
w.  Canzonen.  1596. 


Forster's    Liederb. 
i  1549.  L  35. 


[Regnart:  Trieinit. 
1593.  Nr.  9. 


Regnart:     Tridnia. 

1593.  Nr.  23. 
65  t.  L.  gedr.  bei 

Schöffer.  Nr.  2ß. 


) 


Forster's  Liederb. 
1549.  L  24. 


Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  16.  Jahrh.        33} 


Lieduifang. 


LaatenlMarlMitiiiig. 


Komponiit. 


Ausgabe  der  Lieder  im 
Yokalaatz. 


Fabricius. 

Hainhofer. 

Schlick. 

Kudenius. 

Krengel.* 

des^l.* 
Waisselius. 
Waisselius. 
Schlick. 


402.  Was  würt  es  doch  deswun-   M.  Newsidler.* 

ders  noch . . . 

403.  -  Wecker  Tenorlautb. 
4<M.                     -                             Manch.  Mnscr.  266. 
4115.                     -                             Münch.  Mnscr.  1512. 

406.  -  !  desgl. 

407.  Was    soll    ich    aber   heben  !  Hainhofer. 

an. . .  (überschrieben :  Zie- 
hen wir  in  Portugal.) 

408.  Was    woUn    wir    auf    den 

abendt. . . 
409, 

410.  W^egwart  dein  art. . . 

411.  W^elcher     Jungfrawen    lieb 

wil  erlangen 

412.  Wenn  ich  gedenk  der  Stun- 

de.. 
411 
414. 

415.  Wenn  ich  der  Zeyt. . . 

416.  Wer  gnad  durch  klaff. . . 

417.  Wer    mir    mein    glück    nit ,  Rrengel(hdschr.hin- 

ffönnt..  I    zug.). 

41S.  Wer  soll  mich  trautelen  (?) '  Fabricius. 
419.  Wer  wenig  behell  und  vil  |  H.  Newsidler  I. 
verthut. .  | 

\  410.  Wer     wird     denn     trösten   Waisselius. 

mich . . . 
I  42j.  Wie  kann  ich  frölich  wer- 
den... 
421  Wie  kannstu  so  listig  sein . . 

423.  Wie  möcht  ich  fröhlich  wer-    M.  Newsidler. 

den ...  I 

424.  Wie   nach    einer    Wasser- !  Dresd.Mnscr.M. 297. 

quelle.. 

425.  Wie  schön    bluet  uns   der 

meyn . . 

426.  Wie  will  (wirdt)  mir  dan  ge- 

schehen . . 
427. 

42S.  Wie  wol  sich  viel  zum  wi- 
derspiel . . 
429.  Willig  und  trew... 


•Ludw.  Senf. 


I-J.  Regnart. 


Forster's  Liederb. 
f  1549.  L  24. 


Heckel,  Tenorlautb. 
Rudenius. 


Fabricius. 

Fabricius. 

Naukleros. 
Rudenius. 


430.  Wiltu  zu  dir  mein  gunst. . . 


GerIe,Musica  u.Tab. 

Rudenius. 

desgl. 


431.  Wil  uns  das  Mägdlein  nim- 

mer haben ...  | 

432.  Wir  lieben  sehr .  Dresd.Mnscr.  M.297. 

433.  Wo  bleibt  dein  Hertz Rudenius. 


J.  Regnart. 


Regnart:   Tricinia. 
1593.  Nr.  55. 


Tenor  im  Liederb.  v. 
AmtvonAich.  1518. 


Regnart:    Tricinia. 
1593.  Nr.  16. 


GeorgForster 

Regnart- 
Lechner. 
Regnart- 
Lechner. 

V.    Hauss- 
mann. 


Forster's  Liederbuch 

1549.  L  42. 
Regn.-Lechn.  N.  t. 

L.ä5.v.l579. 
Regn.-Lechn.  N.t.L. 
ä5.  V.  1579.  Nr.  22. 

Haussmann:  T.w.L. 
ä5.  1594.  Nr.  8. 


332 

Ernst  Radeoke. 

Liedanfang. 

Lantettbeaibeitang. 

Komponist. 

Ausgabe  der  Lied« 
YokftlMti. 

434.  Wo  iemandt  lust  zum  bulen 

Denss.* 

L.  Lechner.  ^ 

hat.. 

■ 

435.  Wol  kumpt  der  May... 

TT.  Newsidler  I. 

1       Wolff 

[Förster'«  Lieder 

436. 

desgl.       I. 

1  Grefinger. 

1  1549.  I.  66. 

437.  Wollauff  gut  Gsell  von  hin- 

Fabricius. 

nen.. 

438. 

desgL 

439.  WoU  auff  mein  junges  Hertz 

desgl. 

440. 

desgl. 

1 

441. 

Naukleros. 

442.  Worumb  seindt  die  Studen- 

Fabricius. 

ten.. 

443. 

desgl. 

444. 

desgl. 

445. 

Dresd.Mnscr.M.  297. 

446.  Wo  soll  ich  hin... 

desgl. 

447.  Wu  Bol  ich  mich  hinkeren 

Gerle,  1532/37/46. 

G.  Vogelhu- 

Forster'sLiederbuch 

ich.. 

ber. 

1549.  U.  57. 

448.  Wyr  trinken  alle  gerne...  ,  Fabricius. 

449.  Zart  schöne  fraw  geaenek. . . 

Heckel,D.  u.T.Stb. 

450. 

H.  Newsidler  I. 

451. 

desgl.      I. 

i. 

452.  Zucht  ehr  und  lob. ...          !  TT.  Newsidler  I. 

\Paul    Hoff- 
/  heymer. 

\  Forster's  Liederb.  i 

/  1549.  I.  30. 

1 

453. 

Manch.  Mnscr.  266. 

1  Nach  Goedeke  Grundriss  IL  Aufl.   S.  52  Nr.  6 ,   findet  sich  dies  Lied  in  »Neue 
teutsche  Lieder  nach  Art  der  welschen  Cansonen«  1586.  Nr.  2. 


Musikbeilagen.  I.  333 

„Ich  klag^  den  Tag  and  alle  stundt'* 

aas  „Ein  newgeordent  künstlich  Lautenbuch*'  Teil  I.  von  Hans  Newsidler.  1586.  Nur  nb erg. 

1) 


,,Ich  klag  den  Tag  und  alle  stundt" 
[im  Abzug]  aas  Manuscript  N9  1512  d.  k.  Staatsbibliothek  München. 


jf « j  j  j;]j3'TO 


<^j;j3J|j^UiiJj^^^^^ 


'  '  *»<  r  die  B'-dfutaiii;  drs  Kreuzes  k.  S  82.93. 


334  n. 

„Ich  armes  Keuzlein  kleine'f  Ludwig  Senfl(?).*)Au8  dem  Liederbudivon  Joh.Ott.  1544. 

Partiturausg^abe  Ton  Eitner  und  Kade 
Pablioationen  der  Oesellsokaft  für  Mnaikforechuig^  Bd.  I.  n.m.  ]I.Bd.  S.158. 


j  ruuuu 

Iji»-    J     rJ      J 


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b: 


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r  r  -J  ii. 

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Ich    ar.  mes 


Keazlein     klei. 


.  nef    wo. 


ich   flie. 


^ 


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ch    ar.mes 


Keuzlein     klei. 


.  ne* 


soU  ich     flie. 


K«'  1»  1*   f^ 


1 


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Ich    ar.  mes 


Reualein     klei . 


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ich  flie. 


1 


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ich    hie. 


Ich    ar.mes      Keuzlein     klei. 


..ne«    wo soll   ich 


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ans? 


bei. 


der  Nadit  so 


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gar     al  .  lei. 

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bei. 


der  Nadit  so 


gar     al. 


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Nacht  so   gar 


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.ne,  bringt  mir. 


gar   man. 


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Orans. 


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lei- 


.ne,  bringt       mir 


gar  man 


.chen 


Qravs. 


.      .      .      .      .ne»  bringt  mir ....- gar   man  ...    chen 

„Ich  armes  Kenzlein  kleine'!  Stefifan  Mahn(?).*> 
Aus  dernnTabolaturbuch  aufPdie  Laatten''  Ton  Seabastian  Ochsenkhnn.  tftS8. 


i)  Ob  Senfl  oder  Mahn  der  Komponist  des  Liedes  ist,  mnss  nnenf s<4ileden  bleiben.  Jedoch 
neige  ich  zu  der  Ansicht,  dass  Forster  Recht  hat.  wenn  er  Senfl  annimmt.  0ch8enkhnn,de8sen 
BfHrbeitunsr  def*  Liedes  später  ist,  kann  sirh  geirrt  haben 


m.  335 

„Ich  kla^  den  tag  und  alle  stundt^ 
Ans  dem  Dueant-  und  dem  Tenor-Lautenbnch  YonWolff  HeckeL  1566. 1582. 


Disoant-; 
Laute. 


Tenor- 
Laate. 


f^^ffp 


Lodovico  Zacconi 

als  Lehrer  des  Kunstgesanges. 

Von 

Friedrich  Chrysander. 


I. 

Über  die  Gorgia  oder  die  Koloratur,  und  über  die  freien 
Verschönerungen  im  Vortrage  des  Gesanges. 

Es  liegt  in  der  Natur  der  Musik  und  erklärt  sich  aus  ihrer  Ent- 
stehung wie  auch  aus  ihrer  Aufzeichnung  durch  Schrift  oder  Druck, 
daB  bei  ihr  stets  etwas  Unausgesprochenes  vorhanden  ist,  was  keine 
Au&eichnung  wiedergeben  kann  und  daher  dem  vortragenden  Vir- 
tuosen allein  überlassen  bleibt.  Hiermit  nach  den  Gesetzen  des 
künstlerischen  Ausdruckes,  im  übrigen  aber  völlig  frei  schalten  und 
walten  zu  können,  war  von  je  her  sein  Privilegium. 

Die  Quelle  hiervon  ist  der  Gesang,  und  zwar  ausschließlich. 
Diejenige  Ansicht,  welche  im  Gesänge  den  Ursprung  aller  Musik 
erblickt,  ist  in  diesem  begrenzten  Sinne  unzweifelhaft  richtig. 

Selbst  aus  den  dunkelsten  Zeiten  fehlt  es  nicht  an  Urkunden, 
welche,  recht  verstanden  und  in  geschichtlichen  Zusammenhang 
gebracht,  beides  beweisen  —  sowohl  den  improvisatorischen  Charakter 
dieses  Gegenstandes  wie  auch  seine  gesangliche  Quelle.  Jene  Zeiten 
Wer  aber  nicht  weiter  berührend,  wenden  wir  uns  sofort  derjenigen 
Periode  zu,  in  welcher  die  Musik  ihre  erste  allgemeine  Aufblüthe 
erlebte,  dem  sechzehnten  Jahrhundert.  Um  die  Mitte  desselben 
mehren  sich  die  Versuche,  das,  was  durch  eine  undenklich  lange 
Praxis  bis  dahin  gereift  war,  in  schriftlichen  Erläuterungen  zu  ver- 
anschaulichen, bis  jene  Versuche  sich  dann  im  letzten  Jahrzehnt  dieses 
Jahrhunderts  zu  formlichen  Lehrbüchern  verdichten.  In  denselben 
ist  die  Praxis  der  Sänger  und  auch  der-Instrumentisten  für  die  Mu- 
sik jener  Zeit  nach  allen  Seiten  hin  vollständig  aufgedeckt.  Das 
einzige,  was  dabei  noch  fehlt,  ist  nur  dies,  daß  es  bekannt  wird. 
Eine  erkünstelte  Blindheit  hat  bisher  verhindert,  die  Augen  offen 
auf  den  Gegenstand  zu  richten.  Sobald  wir  alte  eingewurzelte  Vor- 
urteile als   das  erkennen,   was   sie  sind,   wird  uns  jene  Praxis  kein 

1S91.  23 


33S  ^''  CJhrysander:  Zacconi  über  Qorgia, 

Bäthsel  mehr  sein.  Unsere  Praxis  dieser  älteren  Musik  wird  dabei 
freilich  arg  in's  Wanken  gerathen,  zum  Theil  sogar  dahin  stürzen. 
Aber  was  schadet  das?    Tritt  doch  etwas  Besseres  an  ihre  Stelle. 

Indem  ich  mich  anschicke,  den  Gegenstand  —  zunächst  soweit 
er  das  sechzehnte  Jahrhundert  betrifft  —  im  Zusammenhange  darzu- 
stellen, wähle  ich  zum  Anfange  den  LodOYico  Zacconi»  einen  der 
besten  Sänger  und  Tonlehrer  jener  Zeit.  Seine  Mittheilungen  sind 
zur  ersten  Einfuhrung  in  ein  dunkles  Gebiet,  wo  uns  noch  Weg 
und  Steg  fehlen,  ganz  besonders  brauchbar.  Denn  Zacconi  beleuchtet 
die  Sache  von  allen  Seiten,  prägt  dieselbe  den  Unkundigen  durch 
kräftige  Gedanken  und  eine  schulmeisterliche  Breite  nachdrücklich 
ein  und  formt  seine  vielen  Musikbeispiele  absichtlich  so,  daß  sie  den 
Schülern  als  erste  grundlegliche  Übungen  dienen  können. 

Sein  großes  theoretisches  Werk 

Prattica  di  Musica  vtile  et  necessaria  si  al  Composi- 
tore  per  comporre  1  Canti  suoi  regolamente,  si  anco 
al  Cantore  per  assicurarsi  in  tutte  le  cose  cantabili 
erschien  zuerst  1592  in  Venedig  in  vier  Büchern,  und  sodann  eben 
daselbst  1596  als  bloße  Titel- Ausgabe.  Zacconi,  der  um  die  Mitte  des 
sechzehnten  Jahrhunderts  geboren  wurde,  gab  noch  1622  im  hohen 
Alter  einen  andern  Band  unter  dem  Titel  »Prattica  di  Musica c  her- 
aus, welcher  den  zweiten  Theil  des  Werkes  von  1592  bilden  sollte, 
obwohl  der  Autor  solches  nur  gelegentlich  im  Texte,  aber  nirgends 
auf  dem  Titel  angegeben  hat.  Auch  diese  zweite  Schrift  zerfällt  in 
vier  Bücher. 

Wie  sehr  jener  frühere  Band  von  1592  darauf  berechnet  war, 
auch  den  gesanglichen  Theil  der  Kunstpraxis  darzustellen,  er- 
hellt schon  aus  dem  Titel,  der  den  Sänger  ebenbürtig  neben  den 
Komponisten  stellt.  Verschiedene  Kapitel  des  ersten  Buches  be- 
handeln gesangliche  Verhältnisse,  nicht  in  methodischer  Folge,  son- 
dern meistens  bunt  durch  einander.  Dasjenige  dieser  Kapitel,  welches 
für  uns  einen  ganz  besonderen  Werth  hat,  ist  zum  Glück  weitaus  das 
beste,  ausfuhrlichste  und  geordnetste  von  allen.  Mit  diesem  Kapitel 
die  Darstellung  zu  beginnen,  wird  daher  in  jeder  Beziehung  vor- 
theilhaft  sein. 

Alles  weitere,  was  Zacconi  noch  in  reicher  Belehrung  über  den 
Gesang  mittheilt,  lasse  ich  in  dem  zweiten  Abschnitte  folgen«  Und 
aus  dem  Ganzen  wird  erhellen,  daß  der  außerordentliche  Werth  seiner 
Mittheilungen  ausschließlich  die  Musik  seiner  Zeit  betrifft;  denn  weder 
für  die  Vergangenheit  noch  für  die  in  seinen  Tagen  beginnende  neue 
musikalische  Zukunft  findet  sich  bei  ihm  eine  Ausbeute.     Zacconi 


Koloratur  und  AuBschmüokung  des  Gesanges.  339 


ist  damit  der  beste  Zeuge  der  von  ihm  selber  geübten  Kunstweise, 
an  deren  Erhellung  uns  hier  auch  zunächst  gelegen  sein  muß,  näm- 
lich des  kontrapunktisch-mehrstimmigen  Gesanges. 

Das  erwähnte  Kapitel,  welches  sich  ausschließlich  und  ausfuhrlich 
mit  dem  in  der  Überschrift  genannten  Gegenstande  beschäftigt,  ist  das 
66ste  des  ersten  Buches  (Folio  58  bis  76),  und  der  Verfasser  legt  ein 
solches  Gewicht  auf  den  Inhalt  desselben,  daß  er  dem  Titel  seines 
Buches  die  Bemerkung  beifügt,  es  gewähre  endlich  auch  noch  Beleh- 
rung über  die  Art,  wie  man  eine  Stimme  mit  anziehenden  und  zur 
Zeit  beliebten  Beitönen  ausschmücken  könne.  (Ultimamente  sHnsegna  * 
ü modo  di ßorir  una parte  can  vaghi  et  moderni  accenti.)  Dieses  Ka- 
pitel ist  es,  welches  hier  in  der  Übersetzung  nach  Text  und  Musik 
vollständig  mitgetheilt  wird. 

Außer  den  be^efügten  Anmerkungen  wird  dasselbe  einer  weiteren 
vorläufigen  Erläuterung  nicht  bedürfen,  um  verständlich  zu  sein, 
da  die  Übersetzung  hoffentlich  so  eingerichtet  ist,  daß  sie  zugleich  als 
Erklärung  dienen  kann.  Aber  der  Name,  welchen  Zacconi  dem 
Ganzen  beilegt,  muß  noch  besprochen  werden,  denn  dieser  ist  auf- 
fällig. Unser  Autor  spricht  beständig  von  der  Gorgia^  indeß  nicht, 
um  ein  neu  erfundenes  Wort  einzuführen,  sondern  nur,  um  einen 
alten  passenden  Volksausdruck  zu  erhalten.  Diese  Sangesweise  wird 
vom  Volke  gewöhnlich  Gorgia  genannt,  sagt  er  Seite  338.  Der  Aus- 
sprach deutet  ebenso  wohl  auf  ein  hohes  Alter  des  Namens,  wie 
auf  eine  allgemeine,  in  alle  Schichten  gedrungene  Kenntniß  dieser 
Kunstweise.  Der  Name  ist  später  ungebräuchlich  geworden;  bei 
L.  Penna  (Li  primi  albori  musicali,  Bologna  1684  p.  49)  heißt  er 
Gorga  und  bedeutet  Triller.  Von  den  Lexikographen  wird  sein 
musikalischer  Sinn  wenig  beachtet,  sondern  gorgia  oder  gorga  nur 
als  Schlund  oder  Gurgel  (lat.  guttur]  erklärt;  Castelli  (im  Lexicon 
um  1730)  hat  noch  ntirata  di  gorgia^  ein  Trill  oder  Colloratur  in 
der  Music,  chromata,  artificiosa  modulatio«,  aber  im  «Vocabolario 
degF  Accademici  della  Crusca«  von  1763  findet  man  überhaupt  nichts 
Musikalisches  mehr  unter  gorgia  i).  Der  alte  Sinn  erhielt  sich  noch 
eine  Zeitlang  in  dem  Verb  gorgheggiare^  welches  Castelli  erklärt  als 
«einen  Triller  schlagen,  colorirena,  und  der  Vocabolario  der  Crusca 
von  1763  deutlicher  als  »termine  de  mtmci,  e  vale  ribaitere  cantando 
mezzo  in  gola  i  passag gi  (lat.  vocem  crispare)(t,  womit   auf  die  Kehle 


^j  Die  1840  begonnene  neue  Auflage  des  Vocabolario  der  Crusca,  von  welcher 
der  1.  Band  1863  fertig  war,  ist  bis  1889,  also  in  50  Jahren,  noch  nicht  zum  G  ge- 
kommen. Wer  noch  in  diesem  Jahrhundert  geboren  wird,  hat  daher  keine  Aussicht, 
die  Beendigung  desselben  zu  erleben.  Diesen  thätigen  Akademikern  sollte  auf  der 
nächsten  Weltausstellung  ein  Ehrendiplom  für  besonderen  Fleiß  zugebilligt  werden. 

23* 


340  ^''  (^hiyB&nder:  Zacconi  über  Oor^a, 


als  den  eigentlichen  Sitz  dieser  Passagen-Bildung  hingewiesen  wird. 
Die  Crusca  fügt  zwei  bezeichnende  Beispiele  aus  bekannten  älteren 
Schriften  hinzu.  AUegri  schreibt  (Verona,  1605):  Quando  e  coniatan 
la  novella  d!  Orfeo  poeta  GrecOj  e  dt  lui  dicevano,  che  sottämente  gor- 
gheggiando  dl  dilicato  suon  de  ribechino  diminuito  in  std  bordone,  e  si 
maneva  dietro  gli  animaii  salvatichL  Lorenzo  Lippi  sing^  in  »Malman- 
tue  racquistato«  (Firenze,   1688): 

E  cht  Galeno,  e  il  medico  Avicerma 
In  musica  metiean  le  tnedtcine^ 
'  Perö  se  il  corpo  sempre  a  cht  le  piglia 

Gorgheggia,  e  canta,  nan  e  maraciglia. 
Beide  Citate  sind  lehrreich :  das  erste  vereint  mit  dem  subtilen  Gor- 
gheggiren  der  Stimme  das  Diminuiren  des  Instrumentes;  das  andere 
deutet  auf  die  gegensätzliche  Thätigkeit  des  Halses  (gorgheggiare, 
wobei  nur  Ton  in  Betracht  kommt)  und  des  Mundes  (cantare,  wobei 
Sprachlaute  mitwirken) .  deren  Vereinigung  erst  den  wirklichen  vollen 
Gesang  erzeugt.  In  einer  noch  früheren  Zeit  bezeichnete  man  diesen 
Gegensatz  als  Singen  und  Jubiliren.  Der  Name  Gorgia  weist  also 
geradeswegs  auf  den  ursprünglichen  Sinn  dieses  stimmlichen  Vor- 
ganges und  ist  durch  keinen  andern  völlig  zu  ersetzen.  >) 

Bei  den  wichtigsten  Stellen  der  folgenden  Übersetzung  ist  das 
italienische  Original  mitgetheilt,  und  zwar  in  Zacconi's  Schreibweise. 
Alles,  was  von  der  Übersetzung  in  eckigen  Klammern  steht,  habe 
ich  der  Deutlichkeit  wegen  hinzu  gefügt.  Ferner  habe  ich  die  zahl- 
reichen Musikbeispiele,  welche  bei  Zacconi  ohne  Ordnung  und  Über- 
sicht hinter  einander  gedruckt  sind,  überschriftlich  mit  der  Bezeich- 
nung der  betreffenden  Stimme  versehen,  sowie  mit  Nummern.  Eben- 
falls ist  die  Vorschrift  »Thema«  und  »Ausführung«  von  mir,  wobei 
beide  Notenreihen  genau  und  deutlich  unter  einander  gesetzt  sind; 
über  den  Linien  stehen  jf  t;  [^  als  Wegweiser,  ohne  indess  überall  mit 
Sicherheit  den  richtigen  Halbton  angeben  zu  können.  Durch  alles 
dieses  ist  der  unschätzbare  Werth  und  Nutzen  jener  Beispiele  hoffent- 
lieh  noch  eingänglicher  gemacht. 

Für  mannigfache  Beihülfe  in  dieser  Arbeit  bin  ich  den  Herren 
E.  Langelütje,    E.  Geisler   und  Dr.  Fleischer  zu  Dank   verpflichtet. 


i)  Bei  jedem  Versuche,  der  Bedeutung  und  geschichtlichen  Metamorphose 
musikalischer  Ausdrücke  nachzugehen,  ist  die  Wahrnehmung  zu  machen,  daß 
man  überall  rein  auf  eigene  Hand  arbeiten  muß.  Die  vorhandene  Musik-Literatur 
st  zu  einem  solchen  Zwecke  noch  nicht  einmal  versuchsweise  ausgebeutet  Ein 
Du  Gange  oder  ein  Lexicon  musikalischer  Bezeichnungen,  die  etymologisch,  he- 
grifilich  und  geschichtlich  aus  den  Quellen  entwickelt  wären,  unter  Angabe  der 
Belegstellen,  würde  für  die  Musikwissenschaft  eine  große  Wohlthat  sein. 


Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesanges.  341 


Die  Gorgia. 

über  die  Ausführung  der  Koloraturen  und  den  Gebrauch 

der  modernen  Passagen. 
(Che  stüe  si  tenghi  nel  far  di  gorgia^  e  delT  uso  de  i 

moderni  passaggi.) 

Von 

LodOTico  Zacconi. 


hl  dem  Grade,  ^vie  das  veraltet,  woduich  der  künstlerische 
Gebrauch  die  Dinge  früher  verschönert  hat,  in  demselben  Grade 
werden  durch  emsiges  Studium  wieder  neue  Verschönerungen  gefun- 
den, denn  die  großen  Genies  kommen  immer  auf  neue  Schönheiten. 
Und  fürwahr,  wer  diese  Sache  wohl  in's  Auge  faßt,  der  findet,  daß, 
wie  sehr  Etwas  auch  schon  ein  Mal  verschönert  worden  sein  mag, 
man  dennoch  durch  stetiges  Nachdenken  und  viele  Mühe  neue 
Schönheiten  zu  den  alten  hinzu   fugen  kann. 

Um  mich  aber  nicht  weiter  zu  verbreiten  über  Dinge,  deren  Be- 
schreibung nicht  in  meiner  Absicht  liegt,  unterlasse  ich  es,  von  den 
besonderen  Verschönerungen  zu  reden ,  die  in  Folge  der  Bemühungen 
der  Kunst  und  der  Natur  zu  Stande  gebracht  sind,  und  beschränke 
mich  zu  sagen,  daß  die  Musik  immer  schön  gewesen  ist  und  sich 
noch  stündlich  mehr  verschönert  durch  den  Fleiß  und  das  Studium, 
woniit  die  Sänger  sich  darauf  legen;  die  Musik  erneuert  sich  nicht 
[bloß]  noch  verändert  sie  sich  vermittelst  der  Tonzeichen^  die  stets  die 
gleichen  sind,  sondern  durch  die  Verzierungen  oder  freien 
graziösen  Ausschmückungen  und  Accente  der  Sänger 
macht  man  sie  immer  schöner  erscheinen.  (,  .  .  dirö  che 
la  Mtisica  ^  siata  hella  sempre,  et  ogni  hora  piü  per  la  diltffenza,  et 
per  lo  studio  che  et  /anno  %  cantori  si  abellisce :  la  quäle  non  si  rinoca, 
osi  muia  per  via  delle  ßffure,  che  sempre  le  sono  duna  sorte;  ma  con 
k  ffratie,  et  gtaccenti  la  si  fa  parer  sempre  piü  hella,) 

Diese  Liebreize  (vaghezze)  und  die  Accente  werden  ^ervor  ge- 
bracht durch  das  Zertheilen  und  Brechen  der  Tonfiguren,  so  nämlich, 
daß  man  alle  mal  in  einem  ganzen  oder  halben  Takte  eine  Anzahl 
Ton  Noten  anbringt,  deren  Natur  es  ist,  rasch  vorgetragen  zu  werden. 
Der  Vortrag  derselben  kann  ein  so  großes  Vergnügen  bereiten,  als 


342  '^'-  ^lury Sander :  Zacconi  über  Gorgia, 


ob  wir  wohl  geschulte  Singvögel  hörten,  die  uns  mit  ihrem  Gesänge 
das  Herz  entzücken  und  dauernd  befriedigen. 

Solche  Leute,  welche  die  Fertigkeit  und  Fähigkeit  besitzen,  eine 
so  große  Menge  von  Tönen  im  richtigen  Zeitmaß  und  zugleich  mit 
der  nöthigen  Schnelligkeit  auszufuhren,  haben  unsere  Gesänge  so  an- 
ziehend gemacht  und  thun  es  noch  immer  (fanno  si  vaghe  le  can- 
tilene)^  daß  jetzt  Einer,  der  dieselben  nicht  vorträgt  wie  sie,  den 
Zuhörern  wenig  Befriedigung  gewährt  und  von  den  Sängern  gering 
geschätzt  wird.  Diese  Sangesweise  mit  ihrem  Schmuck  vrird  vom 
Volke  gewöhnlich  »GORGIA«  genannt,  welche  denn  in  weiter  nichts 
besteht,  als  in  einer  Anhäufung  und  Sammlung  von  vielen  Achteln 
und  Sechzehnteln,  die  unter  irgend  einem  Takt-Theilchen  vereinigt 
sind;  und  sie  ist  von  solcher  Natur,  daß  man  wegen  der  Schnellig- 
keit, mit  welcher  so  viele  Töne  zusammen  zu  ziehen  sind,  dieselbe 
weit  besser  durch  das  Gehör  lernt,  als  durch  [ausgeschriebene]  Bei- 
spiele, und  dies  darum,  weil  man  in  die  Beispiele  nicht  jenes  genaue 
Taktmaß  l^en  kann,  wie  es  ein  fehlerfreier  Vortrag  verlangt.  (Questo 
modo  dt  cantare,  et  queste  taghezze  dal  Volgo  communemente  den  chia- 
mala  Gorgia :  la  quäl  poi  non  e  altro  che  un  aggregato,  et  collettume 
dt  motte  Chrome,  et  Semichrome  sotto  quäl  si  voglia  particella  dt  tempo 
colligate :  Et  e  di  tal  natura,  che  per  la  velocita  in  che  si  restringono 
tante  ßgure^  molto  meglio  sHmpara  con  Pudito  che  con  gVessempij:  et 
questo  perchd  negV  essempij  quella  misura,  et  tempo  non  si  pud  porre, 
in  che  le  hanno  a  esset e  senza  diffetto  pronuntiate,)  Sie  beruht  mehr 
auf  Takt  und  Maß,  als  auf  Schnelligkeit,  denn  wenn  man  zu  früh  oder 
zu  spät  am  festgesetzten  Ende  ankommt,  so  hat  die  ganze  Sache 
keinen  Werth  mehr. 

Zwei  Dinge  sind  nöthig  für  den,  der  diese  Profession  ausüben 
will,  nämlich  Brust  und  Kehle;  Brust,  um  eine  so  große  Mannig- 
faltigkeit und  Menge  von  Tönen  bis  zum  vorgeschriebenen  Ende 
auszuhalten ;  Kehle  dann,  um  sie  mit  Leichtigkeit  herzugeben.  Viele, 
die  weder  Brust  noch  Zwerchfell  {ne  petto  neßanchoJhBheiij  müssen 
nach  vier  bis  sechs  Tönen  abbrechen  und  auf  halbem  Wege  endigen, 
oder  wenn  sie  gleichwohl  nicht  aufhören,  sind  sie  doch  so  sehr  mit 
der  Anstrengung  beschäftigt,  aufs  neue  Athem  zu  holen,  daß  sie 
nicht  im  nöthigen  Tempo  bleiben  können.  Andere  wieder,  mit 
mangelhafter  Kehle,  trennen  die  Töne  nicht  stark  genug  von  ein- 
ander ab,  das  heißt,  sprechen  sie  nicht  so  gut  aus,  wie  es  bei  der 
Gorgia  dar  Fall  sein  sollte. 

Einige  pflegen  sie  leicht  zu  haben,  und  das  sind  Jene,  denen 
die  Natur  sie  zeigt  und  darreicht.  Einige  Andere  haben  sie  mit 
Mühe,  und  das  sind  Jene,  welche  sie  nur  durch  anhaltendes  Studium 


Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesanges.  343 


erworben  haben.  (Alcuni  la  sogliano  haver  facile^  et  questi  sono 
qiteUi  che  la  natura  gli  Vinaegna  et  porge :  Alcuni  altri  Vhan  con  fa~ 
ticaj  et  questi  sono  quellt  che  per  lo  studio  grande  n^han  fatto  acquisto.) 
Die  Enteren  werden  immer  mehr  Anmuth  zeigen  und  werden  mehr 
ergötzen,  als  die  Letzteren;  aber  Jene,  denen  die  Natur  sie  gewährt 
und  die  Kunst  sie  anpaßt,  sind  glücklich  vor  allen  Andern  in  dieser 
Profession. 

In  allen  einzelnen  Künsten  macht  derjenige  mit  der  Zeit  großen 
Fortschritt,  welcher  sich  ganz  und  vollständig  damit  beschäftigt.  Aber 
müht  Jemand  sich  in  flieser  Kunst  ab,  so  ist  die  harte  Mühe  alle 
mal  vergeblich,  wenn  die  Natur  ihm  nicht  ein  wenig  hilft.  Daß 
dies  wahr  ist,  sehen  wir  deutlich,  denn  der,  gegen  den  die  Natur  so 
gütig  und  liberal  gewesen  ist,  wenn  er  auch  vom  Gesänge  eigent- 
lich wenig  verstehen  mag,  nimmt  oft  dem  ersten,  in  den  besten 
Kreisen  verkehrenden  Sänger  den  Platz  weg,  und  das  blos  des- 
halb, weil  diese  [natürliche  Begabung]  eine  vor  allen  andern  aus- 
gezeichnete Eigenschaft  des  Sängers  bildet.  Obgleich  nun  jeder  gern 
diese  Liebreize  im  Gesänge  hört,  so  muß  der  Sänger  doch  Acht  dar- 
auf haben,  daß  die  Leute  nicht  über  ihn  lachen  und  deshalb  zu- 
nächst alle  größeren  Fehler  und  jene  abscheulichen  Manieren,  die 
oben  [in  den  vorher  gehenden  Kapiteln]  erwähnt  sind,  sich  abge- 
wöhnen, jenes  zwitschernde  Singen  (gorgheggia)  besonders;  denn  der 
Stümper  wird  von  den  Zuhörern  mehr  beobachtet  und  betrachtet, 
ab  der  geschickte  Sänger,  welcher  sie  durch  einen  schönen,  mit  an- 
muthigen  Manieren  ausgeschmückten  Gesang  ergötzt. 

Wer  die  Gorgia  lernen  will,  der  muß  darauf  bedacht  sein,  sie 
so  gut  wie  möglich  zu  machen,  oder  sie  lieber  ganz  fort  lassen,  wenn 
er  sie  nicht  ordentlich  machen  kann,  weil  es  keine  Sache  giebt,  die 
mehr  des  richtigen  Zieles  und  vollkommenen  Maßes  bedarf,  als 
diese;  denn  jeder  kleine  Fehler  und  Mangel,  wenn  man  ihn  merkt 
und  kennt,  verdirbt  das,  was  sonst  schön  an  sich  ist,  und  anstatt  zu 
gefallen  und  zu  ergötzen,  macht  es  satt  und  überdrüssig,  erregt  Ekel  und 
beleidigt.  Wer  daher  nach  Gebühr  und  Vernunft  seine  Ehre  retten 
will,  der  muß  von  Anfang  an  ängstlich  bemüht  sein,  die  Gorgia  mit 
Grazie  und  gut  zu  machen,    damit  er  nicht  Spott  und  Hohn  erntet. 

Jedes  mal  also,  wenn  der  Sänger  sich  prüfen  will,  ob  ihm  die 
gelernten  Gorgien,  gewöhnlich  Passagen  genannt,  gelingen,  so  thue 
er  dies  zuerst,  wo  er  mit  Andern  in  Kompagnie  singt.  Jene  aber, 
die  keine  Kollegen  zur  Seite  haben,  müssen  sich  prüfen,  ob  alle  ihre 
Töne  auch  eine  vollkommene  Harmonie  bilden,  und  so  viel  müssen 
sie  sich  auf  diese  Art  üben,  daß  sie  sich  nachher  mitunter  können 
öffentlich  hören  lassen.     Aber  weil  der,  welcher  so  verfährt,  über  sich 


.  j 


344  ^''  Cl^Tysander:  Zaoeoni  über  Gorgia, 

selbst  Sichter  sein  muß,  und  ^eil  nun  der  Mensch,  wenn  er  sich 
selbst  beurtheilt,  nur  zu  oft,  um  nicht  zu  sagen  immer,  irre  geht, 
so  ist  es  gut,  um  eine  aufrichtige  und  gerechte  Meinung  zu  ver- 
nehmen, daß  man  sich  bei  treuen  Freunden  erkundigt,  ob  die  Gor- 
gia,  die  man  macht,  Vergnügen  erzeugt  und  ob  sie  gut  tönt;  denn 
Viele  bilden  sich  ein,  sie  machen  zu  können,  leisten  aber  so  gut  wie 
gar  nichts. 

Ich  habe  sogar  Einige  gesehen,  die  mit  dem  Zittern  der  Stimme 
und  mit  dem  Bewegen  des  Kopfes  sich  einbilden,  die  Gorgia  zu 
machen,  und  sie  machen  sie  doch  nicht,  und  wenn  es  ihnen  Jemand 
sagt,  so  zwingen  sie  sich  es  besser  zu  machen,  und  sie  machen  es 
schlechter:  so  daß  die  Zuhörer  noch  lieber  sie  hören  würden,  wenn 
sie  die  Melodien  sängen  wie  sie  dieselben  vorher  gesungen  haben, 
denn  so  schlecht  mag  man  sie  nicht  vortragen  hören. 

Deßhalb  sage  ich,  daß  der  Mensch  vielen  Steinen  des  Anstoßes 
ausweichen  und  vor  vielen  Mißbräuchen  und  Irrthümern  bewahrt 
bleiben  kann,  wenn  er  sich  von  Andern  beurtheilen  läßt  und  gern 
auf  ihre  Meinung  hört. 

Das  Schönste  und  das  Vollkommenste,  was  ein  kunstgerechtes 
Koloriren  erfordert,  ist  Takt  und  Zeitmaß.  Diese  sind  es,  welche 
jene  Gruppen  und  ganzen  Beihen  von  Noten  schmücken  und 
würzen,  und  wer  ohne  Maß  und  Takt  dieselben  dahin  fuhrt,  der 
verdirbt  wieder  das,  was  er  sonst  mit  der  Goi^ia  an  Schönheit  stiftet, 
und  erntet  schließlich  keinen  Dank.  (La  piü  beüa  et  perfetta  cosa 
che  nel  gorgheggiare  si  ricerca,  d  il  tempo  et  la  misura,  ü  quäle  tutto 
quel  raccolto  et  aggregato  dt  ßgure  oma  et  condittce,  et  cht  ftiori  dt 
queeta  misura  et  tempo  le  guida  d  mena;  cioehe  con  essa  di  hello  se- 
mirui,  senza  veruna  gratitudine  perde  nel  fine.) 

Dieser  Punkt  ist  also  der  schwierigste,  den  es  in  der  Gorgia 
giebt,  und  derselbe  bedarf  viel  mehr  des  Fleißes  und  Studiums,  als 
so  viele  Töne  zusammen  bezwingen  zu  wollen.  Desshalb  wird  auch 
immer  jener  Sänger  mehr  gelobt  werden,  der  mit  wenig  Gorgia  im 
richtigen  Takt  sich  nur  wenig  [von  den  Haupttönen]  entfernt,  als  ein 
anderer,  der  sich  weit  davon  entfernt  und  zu  spät  oder  zu  früh  bei 
dem  Ende  anlangt.  Fürwahr,  die  da  zuhören  und  lauschen,  spen- 
den dem,  der  nur  sparsam  die  Gorgia  gebraucht,  aber  gut,  imend- 
liches  Lob,  haben  ein  Auge  auf  ihn  und  erwarten  immer,  daß  er  es 
noch  besser  machen  werde.  Und  es  ist  doch  auch  weit  besser,  daß 
die  Hörer  mit  wenig  aber  guter  Gorgia  zufrieden  scheiden,  als  daß 
sie  von  vielem  und  schlechtem  Koloriren  Mißfallen  und  Ekel  be- 
kommen und  unzufrieden  davon  gehen. 

Deßhalb,  wer  an  dieses  Unternehmen  heran  tritt,  der  habe  zuerst 


Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesanges.  345 


Acht  darauf,  die  Goigia  gut  zu  machen,  und  sodann,  sie  nach  dem 
Tempo  zu  messen,  damit  er  jeden  Hörer  mit  ihr  erfreue  und  zufrie- 
den stelle.  Er  beachte  insbesondere,  als  Hauptregel,  daß  er  beim 
Anfange  irgend  eines  Gesanges,  wenn  die  andern  Stimmen  schweigen, 
nicht  mit  der  Gorgia  [oder  dem  Zertheilen  der  gegebenen  Töne]  be- 
ginnen darf.  Nicht  einmal  unmittelbar  nach  einem  solchen  Anfange, 
wenn  die  Andern  noch  pausiren,  lasse  er  sich  mit  jenen  Ausschmü- 
ckungen hören,  weil  man  zu  sagen  pflegt,  daß  das  Hohe  erst  ge- 
fallt durch  den  Gegensatz  des  Tiefen,  und  weil  eine  Stimme  allein, 
wie  Alle  wissen,  wenig  Vergnügen  gewährt,  viele  Stimmen  zusam- 
men aber  eine  liebliche  und  süße  Harmonie  geben.  (,  ,  ,  et  si  guardi 
per  la  prima  regola^  che  nel  principiare  quäl  si  voglia  canto,  tacendo 
taltre  parte  di  non  principiar  con  gorgia;  ne  meno  immediatamente 
depo  detto  princtpio  non  cantando  gValtri  si  facd  con  quelle  vaghezze 
sentire;  perche  si  suol  dire  che  piace  Facuto,  per  V Opposition  del  grave, 
et  una  voce  sola  come  tutti  sanno  poco  diletto  rende:  ma  bene  molte 
voce  insieme^  dolce  et  soave  harmonia  fanno.) 

Deßhalb  gewahrt  man,  daß  der  Kontrapunkt  in  langsamen  oder 
in  lebhaften  Schritten  allein,  ohne  den  andern  Theil,  nicht  gefällt, 
weil  erst  der  Gegensatz  das  wahre  Ergötzen  bewirkt.  So  entsteht 
denn  auch  die  Lieblichkeit  der  Gorgia  aus  jener  anmuthigen  und 
kurzen  f&uccinto)  Bewegung,  welche  die  Stimmen  dann  machen,  wenn 
eine  von  ihnen  sich  rascher  bewegt. ') 

Die  Anfänge  der  Stücke  also,  wenn  sie  nicht  ganz  bekannter 
Art  und  Wiederholungen  sind,  müssen  immer  mit  einfachen  und 
schlichten  Accenten  ausgesprochen  werden,  damit  man  besser  alle  ver- 
schiedenen Stimmen  eintreten  hört.  (J  principij  dunque  se  non  sono 
ctmmuni  et  seguenti,  si  debbano  sempre  pronuntiate  con  gVaccenti  sem- 
pUci  et  sehietti,  accioche  meglio  s^odino  entrar  tutte  le  parte) :  denn 
jede  Sache  ist  um  so  angenehmer,  je  weniger  man  davon  erwartet, 
and  das  um  so  mehr,  je  plötzlicher  und  unvorhergesehener  sie  kommt. 

Um  noch  besser  ersehen  zu  lassen,  wie  unschicklich  es  ist,  wenn 
eine  einzelne  Stimme  ihren  Part  mit  Gorgia  [oder  Koloraturen]  an- 
fängt, während  die  übrigen  Stimmen  des  Stückes  pausiren,  so  sage 
ich,  daß  ein  jeder  beim  bloßen  Solosingen  die  Gorgia  sehr  wohl  an- 
wenden kann,  denn  wenn  die  Hörer  von  solchen  Ausschmückungen 
auch  nicht  das  volle  Vergnügen  haben,  welches  die  Begleitung  durch 
andere  Stimmen  gewähren  würde,  so  können  sie  doch  mit  keinem  in 
Dissonanz  gerathen.     Aber  das  Schöne  und  die  Schwierigkeit  besteht 


^)  Der  Sinn  ist:   Während  die  Schmuokstimme  ausgiebige  Bewegungen  macht, 
sind  die  Tonschritte  der  Begleitstimmen  nur  klein  und  kurz. 


346  ^^'  Chrjsander:  Zacconi  über  Gorgia, 


darin,  Andern  zu  gefallen ,  ohne  durch  Ungestalt  und  Mißton  Ton 
dem  rechten  Wege  abzuweichen,  und  den  Spieler  in  jeder  Sache,  die 
man  auch  nehmen  mag,  lobt  man  nicht  dafür,  daß  er  eben  allein 
spielt,  sondern  dafür,  daß  er  gut  spielt  wenn  er  in  Begleitung  spielt. 

Um  so  mehr  verdient  jener  Sänger,  der  beim  Eintritt  von  an- 
dern, ihm  noch  unbekannten  Sängern  sich  mit  seinen  Verzierungen 
breit  macht,  nicht  nur  Tadel,  weil  er  sie  glauben  zu  machen  sucht, 
er  verstehe  es  aus  dem  Grunde,  sondern  er  setzt  sich  auch  der  Ge- 
fahr aus,  Schande  und  Unehre  davon  zu  tragen.'  Denn  wenn  es  sich 
trifft,  daß  Einer  der  Anwesenden  es  noch  besser  vermag,  als  er  selbst, 
so  kann  nun,  während  er  noch  mitten  in  seiner  Anstregung  ist,  jener 
vollkommenere  Sänger  unvermuthet  mit  neuen  Künsten  seinen  Platz 
einnehmen  und  so  ihm  alles  das  wieder  entwinden,  was  er  sich  bis 
dahin  erworben  hatte.  Deßhalb  handeln  Jene  klüglich,  die  in  den 
musikalischen  Kreisen,  wenn  sie  singen  müssen,  niemals  gleich  beim 
ersten  Zug  zeigen,  was  sie  können,  sondern  mit  Klugheit  und  Kunst 
piano  piano  vorwärts  gehen  und  zuerst  die  Andern  anhören,  um  zu 
vernehmen,  was  Andere  leisten,  weil  der  Mensch  an  jedem  Orte  und 
zu  jeder  Zeit  lernen  kann.  Man  lege  sich  daher  fleißig  aufs  Zu- 
hören, und  danach  fange  man  allmälig  an  mit  seinen  Lieblichkeiten 
heraus  zu  treten ;  denn  indem  man  so  die  Zuhörer  zu  neuem  Ver- 
gnügen anregt,  erwirbt  man  sich  unsterblichen  Ruhm. 

Ferner  hüte  sich  der  Sänger,  am  Schlüsse  irgend  eines  Gesanges 
das  zu  thun,  was  Viele  thun,  die  noch  wenig  gewitzigt  sind  und  in 
dieser  Profession  nur  sehr  geringe  Erfahrung  besitzen.  Diese  näm- 
lich entfalten  eine  riesige  Menge  von  Ausschmückungen  und  wollen 
Alles  so  recht  am  Ende  aufzeigen,  haben  aber  mittlerweile  die  ganze 
Mitte  leer  und  trocken  gelassen. 

Denn  auch  die  Kinder  laufen  ohne  irgend  eine  Gefahr  und 
Mühe  über  einen  geraden  Balken,  wenn  dieser  Balken  in  einer  langen 
und  gestreckten  Ebene  auf  der  Erde  liegt,  weil  sie  den  Boden 
dicht  unter  sich  sehen  und  wissen,  daß  sie  im  Fallen  sich  nicht 
wehe  thun  können.  Aber  ist  der  Balken  in  die  Höhe  gehoben  und 
sie  sehen  von  beiden  Seiten  die  Gefahr  und  den  Abgrund,  bei  der 
Leichtigkeit  zu  fallen,  so  scheuen  nicht  nur  sie  sich  hinüber  zu 
gehen,  sondern  auch  erwachsene  Menschen  furchten  und  scheuen 
sich  vor  dem  drohenden  gefährlichen  Falle. 

So  muß  derjenige,  der  die  Gorgia  anwendet,  nicht  nur  am  Ende 
eines  Stückes  seinen  künstlerischen  Werth  offenbaren,  sondern  schon 
in  der  Mitte  desselben  muß  er  mit  Dreistigkeit  sein  kühnes  Herz 
zeigen.  (Cosi  colui  chefa  di  gorgia^  non  deve  solamente  ^lelfine  mostrar 
il  suo  valore :  ma  nelmezzo  ancoradeve  con  audatia  mostrare  lardito  euore.j 


Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesanges. 


347 


In  ähnlicher  Weise  mag  man  Jene  tadeln,  die  am  erwähnten 
Ende  nicht  satt  werden  können  zu  koloriren  (di  gorgheggiare) :  und 
sie  bewirken  damit  nur,  daB  alle  begleitenden  Kollegen  bei  der  Be- 
endigung der  Gesänge  ungeduldig  auf  sie  warten;  die  Entscheidung 
darüber,  ob  es  schön  war,  überläßt  man  dann  kühl  Jedem  zur  Beur- 
theilung,  der  ein  Urtheil  darüber  zu  haben  glaubt.  ^) 

Es  ist  wohl  erlaubt,  am  Schlüsse  etwas  weiter  auszuholen  und 
auszuschweifen,  jedoch  nur  dann,  wenn  man  solches  auch  in  der 
Mitte  gethan  hat;  sonst  kann  man  es  nicht  zugestehen  (E  ben  lecito 
alquanto  di  scorrere  nel  ßne  et  vaghare :  quando  perö  anco  nel  mezzo 
si  e  vagkafo  e  scorso :  altrimenie  non  si  concede) ;  und  wer  es  dennoch 
thut,  verdient  vielen  Tadel,  weil  er,  der  eine  Sache  nicht  gut  machen 
kann,  auch  noch  die  Andern  stört,  die  da  sind,  um  etwas  Schönes 
KU  leisten. 

Auch  ist  nicht  mit  Stillschweigen  zu  übergehen  der  Fehler  Jener, 
die  da,  weil  sie  sich  mit  der  Goi^a  befreundet  haben,  nun  bei  jeder 
Note  etwas  derartiges  anbringen  wollen,  und  wenn  sie  es  im  übrigen 
auch  noch  so  gut  machen,  doch  die  Silben  und  die  Wörter  verderben. 

Damit  nun  viele  Fehler  vermieden  werden,  will  ich  den  andern 
Begeln  noch  diese  Ermahnung  beigeben,  daß  man  sich  hüten  möge, 
Passagen  zu  machen  auf  Viertelnoten,  hauptsächlich  wenn  sie  mit 
den  Textsilben  versehen  sind,  weil  die  Natur  ihrer  Geschwindigkeit 
eine  große  Verminderung  nicht  zuläßt  und  weil  sie  das  Zerbrechen 
frotturqj  der  Töne  nicht  begünstigen,  es  sei  denn  in  nachstehenden 
und  andern  ähnlichen  Fällen. 


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Jedes  mal  also,  wenn  es  sich  findet,  daß  eine  solche  Noten- 
grappe auf  eine  einzige  Silbe  fällt,  können  sicherlich  die  Verzie- 
rungen entfaltet  weiden,  denn  dadurch  kommt  es  nur  um  so  schöner 

heraus.     In  den  halben  Noten  (J),  die  ja  von  Natur  länger  sind  und 


1)  —  veil  die  Begleitsänger  froh  sind,  des  anstrengenden  Aufpassens,  wann 
sie  den  Schlußakkord  einsetzen  sollen,  endlich  überhoben  zu  sein. 

*)  Der  Text  ist  auch  bei  Zacconi,  wie  in  allen  Drucken  der  damaligen  Zeit, 
höchst  ungenau  und  nachlässig  unter  die  Noten  gelegt,  muß  daher  vielfach  unbe- 
stimmt bleiben. 


348 


Fr.  Chrysander:  Zacconi  über  Oorgia, 


mehr  Zeit  erfordern,  kann  man  munter  thun  was  man  will,  nur  muß 
man  dabei  nicht  die  gegebenen  Silben  oder  Worte  des  Textes  verderben. 
Sogar  wenn  sich  mehrere  halbe  Noten  zusammen  finden,  kann 
man  sie  alle  ausschmücken,  jedesmal  nämlich,  wenn  die  Ausschmü- 
ckung dem  Sänger  bequem  kommt  und  nicht  die  Worte  yerdunkelt 
In  den  ganzen  (<9)  und  den  doppelganzen  (H),  sowie  in  den  andern 
noch  größeren  Notenwerthen,  die  natürlich  längere  Zeit  in  Anspruch 
nehmen  je  nach  ihrem  Tempo,  in  diesen  kann  man  gar  viele  Zier- 
rathen  anbringen  und  sie  dadurch  ausschmücken,  wie  es  Jeden 
gut  dünkt,  oder  man  kann  sich  dieser  Verschönerungen  an  den 
nothwendigsten  und  bequemsten  Stellen  bedienen,  aber  ebenso  pas- 
send unter  einer  Silbe  wie  unter  einem  Worte.  Und  damit  der, 
welcher  Verlangen  hat,  eine  solche  Kunst,  die  Gorgia,  zu  erlernen, 
sehen  kann,  wo  und  wie  man  die  Ausschmückungen  gebrauchen  soll, 
biete  ich  ihm  diese  wenigen  ausgeschriebenen  Beisspiele  dar. 


Thema. 
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Ausfuhrung. 


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Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesanges. 


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Obige  Beispiele  möge  man  immer  wieder  ansehen  und  zu  singen 
versuchen,  und  sich  so  sehr  in  ihnen  üben,  daß  man  sie  mit  der 
Zeit  bemeistert. 

Es  lassen  sich  diese  Beispiele  auch  in  jeder  beliebigen  Stimme 
gebrauchen,  sowohl  im  Tenor  fnaiuralej  und  Alt  (acuta) ^  wie  auch  in 
Bässen  (gravej  und  Sopranen  {sopra  acutaj.  Aber  weil  die  Profes- 
soren des  Gesanges  über  diese  meine  Kleinigkeiten  lachen  möchten, 
indem  sie  meinen,  dieselben  seien  für  sie  bestimmt,  die  doch  etwas 
Gelehrteres  und  Reiferes  nöthig  haben,  deßhalb  sage  ich  zu  meiner 
Entschuldigung,  daß  ich  keineswegs  bemüht  bin,  diese  Dinge  Jene 
zu  lehren,  denen  ich  als  hirnlos  erscheinen  würde,  sondern  ich  be- 
absichtige lediglich,  sie  lernbegierigen  Schülern  vorzulegen,  um  diesen 
mit  einem  klaren  und  sichtbaren  Beispiele  alle  jene  Dinge  zu  zeigen, 
die  sie  zu  sehen  und  zu  wissen  wünschen,  weil  sie  in  ihrer  Unkennt- 
niß  vor  Verlangen  brennen  und  sich  abzehren,  um  etwas  Licht 
darin  zu  bekommen. 

Jene  also,  die  diese  meine  kleinen  Sachen  sammt  den  folgenden 
haben  und  gründlich  fassen  wollen,  die  mögen  sich  zuerst  mit  Ge- 
duld wappnen  und  dann  sie  oft  studiren,  denn  bei  der  Mühe,  welche 
ich  mir  gegeben  habe,  werden  sich  dieselben  durch  ein  anhaltendes 
Studium  leicht  bemeistern  lassen. 

Um  solchen  Schülern  den  Weg  noch  mehr  zu  erleichtern,  als 
bereits  oben  geschehen  ist,  sage  ich  ihnen,  daß,  wenn  auch  Einer,  der 
die  Noten  von  einem  schweren  sogenannten  Duo  zu  singen  hat,  sich 
beim  Sprechen  anstrengt  und  sich  bemüht,  die  Töne  in  solchem 
Tempo  auszusprechen,  daß  besonders  die  darin  befindlichen  Achtel 
keinen  Fehler  oder  Mangel  haben,  er  doch  zugleich  daran  denken 
muß,  daß  er  sie  nach  den  Regeln  der  Gorgia  auszusprechen  hat; 
und  wenn  er  darin  einen  guten  Stil  erwerben  will,  so  wähle  er  ein 
Duett  mit  recht  vielen  Achteln,  und  wenn  er  es  [ohne  Text]  singen 
kann,  versuche  er  einige  Wörter  unter  zu  legen,  und  zwar  da,  wo 
eine  Menge  von  Achteln  vorhanden  ist,  singe  er  nur  eine  einzige 
Silbe:  so  wird  er  in  kurzem  gewahr  werden,  worin  die  Schwierig- 
keit beteht;  und  er  übe  sich  ein,  zwei,  drei  oder  mehrmal,  so  aus- 
dauernd bis  er  merkt,  daß  er  gute  Fortschritte  macht. 


Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesanges.  351 


So  lange  Einer  nun  beim  Aussprechen  der  genannten  Silben 
noch  Mühe  hat  und  es  ihn  anstrengt,  ist  es  nöthig,  sie  so  viele  Male 
zu  singen,  daß  er  sie  aus  Gewohnheit  gut  singen  kann.  Und  er 
achte  darauf,  die  Töne  mit  den  Silben  so  schnell  und  so  laut  oder 
kräftig  fpolposej  zu  singen,  wie  wenn  die  ganze  Sängerschaft  sie  von 
Noten  sänge,  oder  wie  wenn  er  sie  auf  einem  Bruchstück  von  Wör- 
tern sänge,  um  sich  dadurch  in  der  Sache  so  heimisch  zu  machen, 
daB  er  nicht  nur  versteht,  das  oft  und  lange  Studirte  ganz  fertig  mit 
den  Silben  auszusprechen,  sondern,  wenn  es  nöthig  ist,  auch  alles 
andere,  was  man  ihm  vorlegen  mag^.) 

Denn  aus  jener  Übung  gewinnt  er  eine  Grundlage,  die  Stimme 
mit  Schnelligkeit  zu  bewegen,  so  daß  er  später  sich  selbst  ohne 
Lehrer,  ganz  nach  der  Bequemlichkeit  seiner  Natur,  in  die  Gorgien 
oüd  Passagen  einfuhren  kann. 

Um  ihm  diesen  Weg  gleichfalls  zu  erleichtern  und  ihn  auf  die  rechte 
Straße  zu  bringen,  auf  welcher  er  zum  wahren  Professor  und  wirklichen 
Meister  in  dieser  Sache  sich  ausbilden  kann,  sage  ich,  daß  es  nöthig 
ist,  bei  jedem  beliebigen  Übungs- Muster  alle  fünf  Vokale  zu  singen, 
nämlich  A  £  I  O  U;  weil,  —  indem  einige  von  ihnen  geschlossen 
aasgesprochen  werden  wollen  wie  I  und  U,  einige  andere  halb  offen 
wie  E  und  O,  und  einer  breit  wie  A  — ,  er  dann  sehen  wird,  daß 
man  ganz  leicht  I  und  U  aussprechen  kann,  und  daß  man  mit  ein 
wenig  mehr  Mühe  sich  das  £  verschafft  und  das  O,  aber  daß  man 
bei  dem  A,  weil  es  mehr  Athem  haben  will  als  alle  die  andern,  sich 
auch  mehr  abmühen  muß  es  auszusprechen. 

Bei  einer  solchen  Übung  wird  kein  ernstliches  Hindemiß  ein- ) 
treten,  weil  alle  italienischen  Wörter  ftutte  le  parole  volgarej  auf 
einem  Vokal  endigen  und  auch  ein  großer  Theil  der  lateinischen. 
Um  nun  bei  meinem  großen  Eifer  und  Wunsche,  den  Sängern  zu 
helfen,  in  dieser  Materie  nichts  zu  übersehen,  bemerke  ich  noch,  daß 
das  Tremolo  [der  Triller],  das  heißt  die  zitternde  Stimme,  die 
^Tahre  Thür  ist,  um  in  die  Passagen  einzudringen  und  die  Gorgien 
zu  bemeistern  (.  .  .  dico  ancora^  che  ü  tremolo,  cioi  la  voce  tremante  \ 
^  la  Vera  porta  d'intrar  dentro  a  passaggi^  et  di  impatronirse  delle 
gorgie)]  denn  das  Schiff  fährt  mit  größerer  Leichtigkeit  dahin,  wenn 
es  zunächst  in  Bewegung  gesetzt  wird,  als  wenn  es  beim  Beginn  der 
Fahrt  sich  erst  bewegen  soll;  und  der  Springer  springt  besser,  wenn 
er,  bevor  er  springt,  zum  Sprunge  einen  Anlauf  nimmt. 


^)  Zacconi  empfiehlt  hier  beim  Üben  das  Sttfksiugen.  Der  Schaler  soll  neben 
der  Leichtigkeit  auch  Kjraft  in  die  Stimme  bekommen.  Eine  alte,  überaus  wichtige 
italienische  Gesangsregel,  die  von  unserer  Zimperlichkeit  sehr  abweicht. 


352 


Fr.  Chry Sander:  Zacconi  über  Gorgia, 


Dieser  Triller  muß  kurz  und  doch  abgerundet  sein  und  lieblich,  weil 
der  überhastete  ebenso  wie  der  unmäßige  und  erzwungene  ermüdet  und 
nur  Verdruß  macht.  ^)  Und  er  ist  von  solcher  Natur ,  daß,  wenn  man 
ihn  gebraucht,  man  ihn  immer  gebrauchen  muß,  damit  der  Gebrauch 
sich  in  Gewohnheit  verwandeln  kann:  weil  jene  beständige  Stimm- 
bewegung der  Bewegung  der  Gorgien  Hülfe  und  willigen  Anstoß 
giebt  und  wunderbar  die  Anfangsstudien  der  Passagen  erleichtert. 
Diese  Bewegung,  von  der  ich  spreche,  muß  also  in  angemessener, 
jedoch  nicht  hastiger  Eile  ausgeführt  werden,  aber  lebhaft  und  kräftig. 
(Questo  tremolo  deve  essere  succinto,  et  vago ;  perchd  Vingordo^  et  for- 
zato  tedia,  et  fastidisce:  Et  e  di  natura  tale  che  usandolo,  sempre  usar 
8%  deve;  acciochd  Puno  st  converti  in  habito;  perche  quel  continuo  mo- 
ter  di  voce,  aiuta^  et  volontieri  spinge  la  mossa  delle  gorgie^  et  faci- 
lita  mirabilmente  i  principij  de^  passaggi,  Questa  mossa  che  io  dico  nmi 
deve  essere  se  non  con  gitista  fretta,  ma  gagliarda,  et  vehemente.) 

Das  Ende  muß  richtig  sein  und  in  sich  vollendet,  die  Mitte  ganz 
ebenso,  und  so  weiter:  so  daß  man  den  Anfang  nicht  mehr  heraus- 
hört, als  die  Mitte  oder  das  Ende ;  das  Ende  oder  eben  den  Anfang  nicht 
mehr,  als  die  Mitte;  denn  jedes  Zurücktreten  [eines  Theiles]  darin 
beraubt  uns  ganz  und  gar  des  guten  Vergnügens,  abgesehen  davon 
daß  es  [bei  dem  Sänger]  eine  gewisse  Zaghaftigkeit  verräth.  (Ilßfie 
deve  esser  giusto^  et  compito ;  il  mezzo  tutto  equale^  et  seguente,  che  non 
piü  ioda  il  detto  principio,  che  e  il  mezzo,  et  il  fine:  ne  piü  il ßne. 
et  esso  principio,  che  il  suo  mezzo :  perche  ogni  occultazione  che  se  li 
faccia,  oltra  che  dimostre  un  timore  tutto  il  buon  diletto  toglie,) 

Und  wenn  Einer  da  sein  sollte,  der  an  dem  emsigen  und  ein- 
gehenden Studium  Gefallen  findet  und  dem  meine  obigen  Beispiele 
so  viel  Vergnügen  bereitet  haben,  daß  er  dieselben  völlig  bemeisterte: 
diesem  gebe  ich  Gelegenkeit,  nach  jenen  einfachen  Übungen  nun 
auch  einige  andere  und  größere  durchzumachen,  indem  ich  ihm  diese 
nachfolgende  Reihe  bilde. 


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1;  Der  Triller  muß  hiemach  vor  Allem  prompt  vor  sich  gehen,  aber  weder  «u 
schnell  (ingordo)  noch  zu  langsam  oder  erzwungen  (forzato)^  damit  seine  Schön- 
heit (vago)  nicht  darunter  leidet.  Zacconi  ist  besonders  bemüht,  dieses  einzuprägen, 
denn  in  dem  zweitfolgenden  Satze  wird  auf  die  mit  Maßhalten  und  Ausdruck 
Terbundene  Promptheit  nochmals  der  Ton  gelegt. 


Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesanges. 


353 


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1891. 


24 


354 


Fr.  Chrysander:  Zacconi  über  Gorgia, 


Dabei  kann  man  mit  mehr  als  acht  Ächtein  in  die  Breite  gehen 
und  sich  weitläufig  ausdehnen.  Aber  es  ist  zu  bemerken,  daß  die 
menschliche  Stimme  in  solchen  Geschwindigkeiten  nur  schwer  sprung- 
weise gehen  kann,  weil  unsere  Stimme  nicht  jene  Leichtigkeit  be- 
sitzt, mit  welcher  die  Hände  die  Tasten  der  Instrumente  berühren. 
Deßhalb  werden  ihm  hier  die  Singnoten  stufenweise  mit  obigen 
wenigen  Brechungen  (rotturej  vorgeführt,  um  ersehen  zu  lassen,  in 
welcher  Weise  sie  zu  brechen  sind.  Nun  möge  das  Studium  vor- 
w^ärts  gehen  zu  dem  Sprunge  (salto),  und  um  des  Sängers  Ungebun- 
denheit  und  Freiheit  zu  befordern,  werden  wir  nicht  verfehlen,  im 
Fortschritte  der  Passagen  zu  zeigen,  auf  welche  Weise  man  die 
Sprünge  machen  muß. 

Jene  Stellen  nun,  die  den  Sänger  ganz  besonders  einladen,  Fio- 
rituren  und  Passagen  anzubringen,  das  sind  die  Kadenzen,  welche 
von  einer  j^so  empfindlichen]  Natur  sind,  daß,  wer  sie  nicht  gut 
macht,  ihnen  jede  Schönheit  raubt  und  sie  ruinirt,  so  daß  sie  unsern 
Ohren  als  völlige  Mißbildungen  erscheinen .  (Quei  luochipoi  cVinvitano  i 
cantori  afarßoretti^  et  passaggi  sono  le  ccuienze,  le  quali  sono  dt  una 
natura  che  cht  non  le  fa  bene;  li  toglie^  et  guasta  ogni  bellezza,  et  le 
rende  alV  orecchie  fiostre  dt  difformitä  pienej  Um  deßhalb  einige 
Kadenzen  zu  zeigen,  bilde  ich  alle  hier  folgenden  einschlägigen 
Beispiele. 


1. 


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Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesanges. 


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Fr.  Ghrysander:  Zacconi  über  Oorgia, 


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Dieser  Übungen  können  Sänger  von  nah  und  fem  sich  leicht 
bedienen,  jeder  für  die  Lage  seiner  Stimme. 

Es  findet  sich  ferner  noch  eine  Weise,  die  Kadenz  auszuschmücken 
(un  modo  difiorire  una  cadema),  welche  gut  heraus  ziehen  und  voll- 
kommen zu  Ende  führen  zu  können  ein  Sänger  sich  glücklich  schät^n 
kann.  Diese  tritt  nur  mit  dem  Tonfalle  to,/a,  la  [der  großen  Sexte 
und  Quarte]  auf,  wie  man  hier  sieht. 


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Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesanges. 


357 


Nicht  bloB  in  dieser  Singmanier,  sondern  überhaupt,  um  die 
Kadenz  gut  zu  machen,  ist  es  nöthig,  daß  ihr  das^a  accidentale  vor- 
auf gehe,  wenn  man  will,  daß  es  so  klinge,  wie  es  gemäß  seiner 
Natur  eben  ertönen  muß.  Weil  ich  aber  zweifle,  von  Allen  genügend 
Terstanden  zu  sein,  und  wünschen  muß,  daß  jeder  mich  verstehe  und 
daß  eine  so  schöne  Singmanier  sich  nicht  verliere,  so  bilde  ich  außer 
dem  obigen  noch  ein  anderes  Beispiel  in  dem  ihm  eigenthümlichen 
Modus  und  an  derjenigen  Stelle,  wo  man  es  zu  gebrauchen  hat. 


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Es  finden  sich  noch  einige  Gänge  (passi) ,  von  denen  man  sagen 
kann,  sie  seien  wie  die  gewöhnlichen  Kadenzen,  weil  sie  fast  in  jeder 
Melodie  wieder  vorkommen;  und  jene  Sänger,  die  von  Gorgia  nicht 
mehr  als  soviel  verstehen,  fühlen  sich  dennoch  dazu  aufgefordert  und 
mochten  gleichwohl  gern  etwas  Gutes  machen,  wissen  es  aber  wegen 
ihier  Unfähigkeit  nur  schlecht  einzurichten.  Um  diese  nun  von 
schlechten  und  häßlichen  Dingen  abzuziehen  und  um  ihnen  etwas 
Hülfe  und  Licht  zu  gewähren,  damit  sie  sich  korrigiren  und  gute 
Manier  lernen  können,  habe  ich  die  hier  aufgeschriebene  Beihe  von 
Übungen  gebildet. 


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Fr.  Chiy Sander:  Zacconi  über  Gorgia, 


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Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesanges. 


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Wenn  Einer  nun  dazu  kommen  sollte,  was  ich  sehnlichst  wünsche 
und  was  doch  auch  sehr  zu  wünschen  wäre,  nämlich  daß  er  sich  in 
diesen  Schmuckwerken  und  Passagen  zum  Herrn  und  Meister  machte : 
so  erinnere  ich  ihn  daran,  daß  es  nicht  gut  ist,  sie  immer  zu  ge- 
brauchen, sondern  daß  bisweilen,  wie  an  einer  Frau,  ein  einfacher 
Schmuck  gefällt. 

Um  solchen  daher  einzufügen  und  dadurch  die  andern  Verzie- 
rungen nur  noch  lieblicher  erscheinen  zu  lassen,  stelle  ich  die  fol- 
genden einfachen  [Koloraturen  oder]  Brechungen  (rotturej  hiexheij 
die  man  sich  nach  Maßgabe  des  Ortes  und  der  Zeit  noch  zu  Nutze 
ziehen  kann. 


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Fr.  Chrysander:  Zaoconi  über  Gorgia, 


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Alle  diese  Dinge  erfoidern  Gewandtheit,  Schnelligkeit  (agiliiä) 
und  Festigkeit  im  Takthalten,  ohne  welche  man  nichts  aus- 
richtet. Der  Sänger,  welcher  sich  ihrer  bedient,  hat  die  Rücksicht 
zu  nehmen,  nur  so  viele  Töne  in  einem  Athem  zu  singen,  als  er 
bequem  aussprechen  kann.  Dies  muß  gesagt  werden,  da  Viele,  wenn 
sie  die  Gorgia  machen,  die  Zahl  von  acht  Noten  im  Takte  über- 
schreiten; aber  weil  sie  es  gut  einzurichten  und  anzupassen  wissen, 
so  mag  solches  immerhin  Annehmlichkeit  und  Vergnügen  gewahren 
und  Niemand  (sei  er  auch  ein  guter  Sänger  oder  Komponist)  wird  die 
Überzahl  so  leicht  merken.  Aber  sobald  man  die  bestimmte  2jahl 
von  Noten  unter  ihre  Taktbewegung  setzt  und  diese  Zahl  dann  nicht 
in  das  richtige  Zeitmaß  fällt,  so  wird  ein  solches  Mehr  oder  Weniger 
ernstlich  getadelt.  Deßhalb  erinnere  ich  die  Schüler  daran,  daß, 
wenn  auch  in  ihren  Gorgien  die  Zahl  der  Töne  der  Zahl  der  Noten 
des  Taktes  nicht  entsprechen  sollte,  solches  nichts  zu  bedeuten  hat, 
falls  sie  nur  ohne  Fehler  unter  ein  Maß  und  Tempo  fallen  und 
man  bei  ihrer  Aussprache  nicht  eine  Unrichtigkeit  erkenne  oder  eine 
Dissonanz.  Denn  in  dieser  Fertigkeit  und  Kunst  machen  Viele,  die 
die  Gorgia  verstehen,  liebliche  und  gute  Passagen;   wollte  man  die- 


Koloratur  und  Aussehmückung  des  Geaangea.  361 

selben  aber  in  Noten  aufzeichnen,  so  würde  sich  darin  immer  bald 
zu  viel  bald  zu  wenig  finden,  und  trotzdem  erkennt  man  in  ihnen 
nicht  den  allergeringsten  Fehler  oder  Mangel. 

In  ähnlicher  Weise  kann  man  bei  den  Kadenzen  jener  Wieder- 
holungen von  solj  fa^  sol;  la,  sol,  la;  fa,  mi,  fa^  und  so  weiter,  so 
lange  halten,  wie  der  ganze  erforderliche  Takt  dauert.  Es  giebt 
Einige,  die  sie  wiederholen  in  Noten  von  Sechzehnteln,  und  weil  sie, 
mit  derartigen  Noten  wiederholt,  nichts  weiter  sind,  als  dieselben 
Gänge  vervielfältigt,  so  stelle  ich  deßhalb  kein  Beispiel  weiter  auf, 
da  mir  hier  das  Wort  zum  Verständniß  auszureichen  scheint ;  wer  nun 
dieser  erweiterten  Gränge  sich  bedienen  will^  kann  ja  davon  nehmen, 
soviel  er  deren  bedarf.  Daran  will  ich  aber  erinnern,  daß  man  sich 
hüten  möge,  das  Ende  der  Kadenzen  matt  und  todt  auszusprechen,  wie 
Einige  thnn,  die  da,  indem  sie  sich  einbilden,  sie  lieblich  und  schön  zu 
machen,  sie  so  mißgestaltet,  häßlich  und  unschicklich  erscheinen  lassen, 
daß  die  Zuhörer  fast  die  Ohren  schließen,  um  sie  nicht  zu  hören ;  denn 
eine  solche  fehlerhafte  Darstellung  des  tiefer  gelegenen  Theiles  der 
Kadenzen^)  läßt  sie  so  roh  erscheinen,  daß  sie  wild  und  bäurisch  wer- 
den. Ich  glaube  verstanden  zu  sein,  und  wenn  vielleicht  Einer  mich 
nicht  versteht,  so  sage  ich,  damit  auch  er  mich  verstehen  möge,  daß, 
wenn  man  den  letzten  Theil  der  Kadenz,  d.  h.  jenen,  der  dem  Ende 
am  nächsten  ist,  mit  doppeltem  oder  einfachem  Accent  betonen  will, 
man  niemals  die  untere  Terz  so  matt  aussprechen  darf,  daß  der  Ein- 
druck entsteht,  als  ob  wir  uns  beim  Aufsteigen  der  Töne  mit  Ge- 
walt hinauf  ziehen  oder  schleppen  ließen.  (,  .  .  dico^  che  t ultima 
parte  della  citdenza^  che  d  quella  piü  propinqua  ai  fine  volendola  accen^ 
tuare  dt  doppio  accento  d  semplice,  non  debba  mai  la  sua  terza  infe- 
riore  pronuntiar  si  languida,  che  nelf  ascendere  dimostri  dt  lasciarvici 
ürar  per  forza ,  et  farsici  strascinare.)  Dieses  kann  man  nicht  mit 
einem  Beispiele  zeigen,  weil  ein  solcher  Fehler  in  der  schlechten 
Aussprache  der  Noten  besteht.  Wenn  also  hier  nicht  Alle  mich  ver- 
stehen sollten,  so  mögen  sie  mich  für  entschuldigt  halten,  indem  ich 
nicht  weiß,  wie  ich  mich  besser  ausdrücken  soll  und  mit  welchen 
Worten  ich  es  besser  darthun  könnte.  Unter  Sängern  pflegt  man 
diese  Ausführung  die  schlaffe,  geschleifte  oder  halb  lebendige  Ka- 
denz zu  nennen  wegen  der  geringen  Lebendigkeit  und  Kraft,  die 
der  Sänger  ihr  giebt.  2) 

Es  ist  auch  ferner  noch  eine  Weise  vorhanden,  um  in  dem  Basse 

>)  Mit  diesem  tiefer  gelegenen  Theile  ist  das  fa  aceidentale,  die  Unterterz  der 
Finalis  gemeint. 

^  Was  der  Autor  nicht  völlig  klar  machen  konnte,  dürfte  uns  anscheinend 
noch  weniger  gelingen.    Weil  aber  unsere  vollkommenere  Notenschrift  eine  bessere 


362 


Fr.  Chrysander:  Zaccoiii  über  Gorgia, 


oder  in  den  Grundstimmen  einige  Töne  mit  einfachen  Accenten  (con 
accenti  ordinarij)  zu  verschönern,  die  überall  da  angebracht  werden 
können )  wo  die  tieferen  Stimmen  die  oberen  stützen.  Um  davon 
einige  Beispiele  zu  geben,  folgen  hier  nachstehende  Proben. 


Aufzeichnung  gestattet  und  überdies  der  ganze  Absatz  eine  Erklärung  wünschen 

läßt,  folgen  hier  nachstehende  Bemerkungen. 

Als  einfache  Kadenzformeln  giebt  Zacconi  im  Texte  beispielsweise  an: 
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und 


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Diese  kann  man  einfach  lang  aushalten,  oder  auch  mit  ihren  rotture  vortragen.   Solehe 
einfachen  Brechungen  durch  Wiederholung  der  genannten  Töne,  von  denen  er  oben 

8ol  fa  8ol 

S.  355  Beispiele  gegeben  hat,  sind  in  diesem  Falle  (n)  J  ij    J    J    J  -Tl  ITa^ 


la  8ol  la  fa  mi 


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Diese  Brechung  oder,  wie  andere  gleichzeitige  Schriftsteller  sie  nennen,  Diminii- 
tion  kann  man  auch  schneller  ausführen,  also  die  Wiederholung  verdoppeln,  s.  B. 
8ol  fa  80l 

=  ■,  und  Einige  thun  das  sogar  in 


80l 


schnellster  Bewegung,  nämlich  in  Sechzehnteln: 
8ol  fa 


denn,  sagt  Zacconi,  es  ist  Jedem  unbenommen,  so  viele  Noten  für  eine  einzusetzen, 
als  er  will.  Nur  kommt  es  oft  vor,  daß  man  sich  übernimmt;  und  namentlich  bei 
zu  vielen  Noten  erlahmt  die  Stimme  leicht  und  am  Ende  reicht  der  Athem  nicht 
mehr  aus,  was  gewöhnlich  an  der  Stelle  geschieht,  wo  die  tiefste  Note,  die  Unter- 
terz, eintritt,  von  welcher  aus  sich  die  Stimme  zur  Finalis  aufzuschwingen  hat 
Erlahmt  dort  nun  die  Kraft,  so  wird  dieser  Aufschwung  matt  und  todt;  statt  einen 
Beweis  von  unerschöpflicher  Stimmkraft  darzulegen,  zeigt  der  Sänger  durch  solche 
Ermattung  nur,  daß  er  za  viel  unternahm,  als  er  die  Trillerbewegung  und  Breeh- 
ung  in  so  kleinen  Notenwerthen  ausführte.  Also  das  Ende  der  Kadenz  gut  her- 
aus zu  bringen,  das  ist  die  Hauptsache,  und  das  meiste  zur  guten  Ausführung 
thut  ein  strenges  Augenmerk  darauf,  daß  der  letzte  Aufschwung  von  der  kleinen 

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Unterterz  zur  Finalis 


nicht  etwa  so: 


~2    ausgeführt  werde. 

Dieser  Sinn  von  Zacconi's  Worten  stimmt  zu  einer  Wahrnehmung,  die  man 
noch  heute  machen  kann ;  denn  in  der  That  hört  man  von  effect-haschenden  Sängern 
sehr  häufig  die  widerwärtige  Manier,  den  Eintritt  der  Finalis  möglichst  lange  in 


Koloratur  und  Aussohmückung  des  Gesanges. 


363 


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einem  zerfließenden  smarzando  hinzuhalten,  um  dann,  wenn  die  Ungeduld  des 
Hörers  aufs  höchste  gestiegen  ist,  brüsk  und  brutal  mit  der  Schlußbewegung 
schnell  abzuschnappen.  In  den  Kadenzen  zeigt  sich  der  Sänger :  diese  alte  Wahr- 
heit prägt  Meister  Zaoconi  nachdrücklich  ein  und  beleuchtet  sie  von  yerschiedenen 
Seiten.  Nicht  bloß  die  Kunst,  sondern  auch  der  Charakter  des  Vortragenden 
kommt  in  der  Kadenz  mehr  zum  Vorschein,  als  an  irgend  einer  andern  Stelle.  Die 
Kadenz  wird  daher  immer  derjenige  Ort  bleiben,  wo  sich  Kunst  und  Unkunst  am 
deutlichsten  scheiden. 


364 


Fr.  Chrysander:  Zaeconi  über  Gk>rgia, 


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Übrigens,  damit  die  Schüler  noch  besser  angeleitet  werden,  meine 
Passagen  zu  gebrauchen  und  in  denselben  sich  zum  wirklichen  Mei- 
ster zu  machen,  habe  ich  das  unten  stehende  Beispiel  gebildet,  welches 
eine  vollständige  Motette  vorstellt.  Aus  demselben  werden  sie  er- 
sehen, wie  man  die  Gesänge  ausschmückt;  und  zu  noch  besserem 
Verständniß  habe  ich  mich  nicht  darauf  beschränkt,  die  einzelne  aus- 
geschmückte Stimme  herzusetzen,  sondern  ich  habe  ihr  auch  den- 
jenigen Part  beigefügt,  welcher  die  Noten  in  natürlicher  Aufzeichnung 


1]  Dieses  Beispiel  enthält  bei  Zaeconi,  außer  falschen  Noten,  im  Thema  vi^ 
Viertel  und  in  der  Ausführung  z^rei  Viertel  su  viel. 


Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesangee. 


365 


«ntliält.  Deßbalb  zeigt  die  erste  Linie  den  Aufputz  und  die  zweite 
den  nackten  Theil.  (Perd  sempre  il  primo  ordine  di  corde  dtmostra 
Taccondaturaj  et  il  secando  la  parte  nudaj    Das  Beispiel  ist  dieses. 


Ausfuhrung.   ^^^-^ 


Thema. 


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Fr.  Chrysander:  Zacconi  über  Gorgia, 


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Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesanges. 


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368 


Fr.  Chrysander:  Zaeeoni  über  Gorgia, 


li  -  um. 


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um. 


Diese  wenigen  Verzierungen  und  Verschönerungen  können  bei 
allen  andern  Gelegenheiten  dienen,  und  jener  Sänger,  der  diese 
wenigen  gut  ausfuhren  kann,  darf  damit  zufrieden  sein.  Denn  über- 
reiche Ausschmückungen,  wenn  sie  auch  unsem  Ohren  ergötzUch 
sind,  gefallen  darum  noch  nicht  immer,  vielmehr  habe  ich  gefunden, 
daß  die  Komponisten  bisweilen  sogar  der  Gelegenheit  aus  dem  Wege 
gehen,  einige  ihrer  Stücke  vortragen  zu  lassen,  um  sie  nur  nicht 
solchen  [Koloratur-]  Sängern  zur  Auffahrung  in  die  Hände  zu  geben, 
aus  keinem  andern  Grunde  als  weil  sie  die  betreffenden  Komposi- 
tionen gern  mit  den  schlichten  und  einfachen  Accenten  hören  möchten, 
auf  daß  man  die  Kunststücke,  mit  denen  sie  gewebt  und  gemacht 
sind,  [besser]  heraus  hören  könne,  f,  .  .  che  le  molte  vaghezze  se 
bene  sono  delettevole  alP  orecchie  nostre,  non  per  guesto  le  piacciano 
sempre;  anzi  che  io  ho  trotato  alle  volte  i  Compositori  haver  fuggito 
Foccasione  dt  far  cantar  alcune  cose  loro:  per  non  farle  cantaref  et 
darle  in  mano  ä  simili  Cantori:  non  per  altro  solo  perche  haveano  a 
piacere  dt  seniirle  con  gli  accenti  schietti,  et  semplici:  accioche  s^udii- 
sero  gli  ariifidj  con  che  le  haveano  tessute,  et  fatte,) 

Aber  wenn  Einer  sich  wundem  und  nach  der  Ursache  suchen 
sollte,  warum  ich  mir  lieber  eine  Motette,  als  ein  Madrigal  gewählt 
habe,  um  sie  auszuschmücken  und  dann  ausgeschmückt  als  Beispiel 
aufzustellen,  der  soll  wissen,  daß  ich  es  gethan  habe,  weil  die  Ma- 
drigale gewöhnlich  schwerer  sind,  als  die  Motetten.  Deßhalb  glaube 
ich,  daß  letztere  für  Anfanger  und  Unkundige  nützlicher  sind,  als 
andere  Stücke.  Wer  erst  in  diesen  wenigen  Sachen  ordentlich  ge- 
übt ist,  der  wird  das  Gelernte  auf  alles,  was  er  will,  anwenden  können. 

Damit  man  nun  lerne,  es  noch  besser  zu  machen,  lege  ich  hier 
folgende  Reihe  von  Beispielen  vor. 

1)  Der  Text  ist  untergelegt  wie  er  bei  Zaeeoni  steht,  soweit  die  Willkür  der 
damaligen  Drucke  solches  ermöglicht.  Den  richtigen  Untersati  der  Silben  habe 
ich  durch  SLlammer  angedeutet  Weil  aber  die  geschwänzten  Noten,  wie  Achtel 
und  Sechzehntel,  in  den  alten  Musikdrucken  unverbunden  für  sich  stehen,  ist  es 
unmöglich  überall  das  Bichtige  zu  treffen.    So  kann  z.  B.  die  vorletzte  Silbe  /i 


auch  auf    — -J-J—  oder  — g->-#-j-i:  oder 


s  genau  so  in  der  Vorlage  steht.   Auch 


diese  Text-Placi  ung  gehörte  zu  den  unantastbaren  Sänger-Freiheiten. 


Koloratur  und  Auflsohmückung  dag  Ofmnfw 

L  Canto  primo. 


369 


*)  Bei  Zacooni  stehen 


(Fol.  64V).  Merkwürdigrer  Weise  sind  bei  der  Wiederho. 


l«i|r  dieser  Fi^nr  (FoLTS;  siehe  unten  8. 889)  ebenfalls  iwei  Achtel  g^esetst,  und  twar 
achtmal.      1891  25 


370 


Fr.  Chrysamder:  Zaeconi  über  Gorgia, 


Koloratur  und  Aussehmückung  des  Gesanges. 


372 


Ft.  Ohrysander.  Zaoooni  aber  Qorgia, 


II.  Canto  secondo. 


Koloratur  und  Aussohmüokung  des  Gesanges. 


374 


Fr.  Cluryaander:  Zaeooni  über  Gorg^, 


Koloratar  und  Aunohmflekung  des  Geunges. 


375 


1. 


2. 


3. 


4. 


III.  Contralto. 


376 


Fr.  Chryaander:  Zaeooni  aber  Gorgia, 


Kolontur  und  AuSMhniückiuig  des  OesangM. 


377 


378 


Fr.  Chrysandert  Zacooni  über  Oorgia, 

fr    f^   r    ^ 


IV.  Alto. 


2. 


3. 


Koloratur  und  Aussehmflokung  des  Gesanges. 


379 


380 


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Fr.  Chrysander:  Zaeooni  aber  Oorgia, 


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13. 


14. 


15. 


16. 


17. 


18. 


19. 


ELoloratai  und  Anawshmflekung  dea  OeMogM. 


381 


zo. 


382 


Fr.  Cbrysander:  Zaeconi  über  Gbrgis, 

V.  Tenore. 

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Koloratur  und  Ausgehmüokung  des  Geaaages. 


383 


8. 


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8. 


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384 


Fr.  OhryMndv:  ZMOoni  aber  Gorgia, 


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Roloratui  und  AuMohmackung  dM  Gesanges. 


385 


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YI.  Baritono. 


1891 


386 


3. 


4. 


5. 


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Fr.  Chrysander:  Zaeooni  über  Gorgia, 


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9. 


Koloratur  und  Auuchmüokung  des  Oeaanges. 


387 


11. 


14. 


15. 


388 


Fr.  Chryaander:  Zacooni  aber  Gorgia 


17. 


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Koloratur  und  AusBohmüclrang  des  G«a«igM. 


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390 


Fr.  Ghiywiider:  ZMooni  ab«r  OoigU, 


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Koloiator  und  Auaaebmüokimg  dea  Geaangea. 


391 


1;^^  '  LLLT^J  ^-   JJ^  " 


^  Hier  fddt  das  Thema,  and  die  leiste  Note  (a)  ist  offenbar  falsoli,  walursoheiBlidi  anoli  du 
Vorhergelieiide.  Die  etwas  fremdartige  Variation  lässt  sieh  aber  nicht  mit  Sioherheit  korri- 
girea.  Vielleicht  solider  Sohlnss  lautem  S 


392 


Fr.  Chiysander:  Zaeeoni  aber  Oorgia, 


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22. 


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25. 


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Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesanges. 


393 


Von  diesen  Beispielen  mag  sich  der  Eine  an  das  Eine  halten 
und  der  Andere  an  ein  Anderes,  so  lange  bis  am  Ende  alle  genom- 
men sind,  weil  jener  Handschuh,  der  dem  Einen  nicht  paßt,  doch 
wieder  dem  Andern  gut  steht.  Auf  diese  Weise  sind  am  Ende  alle 
a^esetzt  und  an  den  Mann  gebracht. 

Aber  weil  vielleicht  einige  darunter  sein  könnten,  die  mehr  ge- 
fielen, als  die  andern,  und  auch  solchen  Sängern  gefallen  möchten, 
welche  nicht  die  dem  entsprechende  Stimme  und  Stimmlage  be- 
sitzen, so  soll  diesen  nun  der  Weg  eröfinet  werden,  wie  man  eine 
einzige  Sache  allen  Tonlagen  anpassen  kann.  DeBhalb  setze  ich  das 
erste  Beispiel  der  obigen  allgemeinen  Passagen  ;S.  365)  noch  einmal 
hierher  und  gebe  es  in  allen  Lagen,  in  denen  es  sich  setzen  läßt,  um 
auf  diese  Weise  zu  zeigen,  wie  man  es  ähnlich  mit  den  andern  Bei- 
spielen machen  kann  und  in  wie  vielen  Lagen  der  [Guidonischen] 
Hand  eine    einzige  Sache  zu  verwenden  ist. 

Thema.     "*         ' 


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•)  Bei  Zacconi  stehen  überall  2  Achtel  statt  2  Viertel;  siehe  oben  S.  369  die 
Anmerknng. 

1891.  27 


394  ^'-  ChrysandcT:  Zacconi  über  Gorgia, 


Und  aus  keinem  andern  Grunde  habe  ich  zeigen  wollen,  wie 
vielstellig  man  eine  einzige  Sache  mit  Erfolg  verwenden  kann,  als 
allein,  um  zu  einer  solchen  vielseitigen  Benutzung  einer  und  der- 
selben Passage  anzuleiten,  denn  durch  Neigung  und  Hülfe  der  Natur 
oder  durch  besonderes  Studium  pflegt  der  Eine  mehr  dies,  der  An- 
dere jenes  zu  bemeistem.  Und  zugleich  soll  demonstrirt  werden,  daß 
die  Gorgia  nicht  so  sehr  in  der  mannigfaltigen  Veränderung  oder 
Verschiedenheit  der  Passagen  besteht,  als  vielmehr  in  einer  ange- 
messenen und  begrenzten  Anzahl  von  Noten  (che  la  Gorgia  nan  tanto 
consiste  nella  variatione,  d  nella  diversitä  de^  passaggi,  qtianto  che  in  una 
giusta,  et  tenninata  quantitä  di  ßgure),  eben  mit  Rücksicht  darauf,  daB 
die  Schnelligkeit,  die  sie  erfordert,  nicht  unterscheiden  läßt,  ob  das,  was 
vorher  gesungen  ist,  sich  beim  Singen  abermals  wiederholt.  Man 
kann  sehr  wohl  eine  geringe  Anzahl  von  Noten  nach  der  Weise 
des  Zirkels  oder  des  Kranzes  mehrere  Male  wiedersagen  und  wieder- 
holen, weil  wer  zuhört  und  lauscht,  durch  das  Lauschen  und  Zuhören 
ein  so  großes  Vergnügen  an  jener  süßen  und  schnellen  Bewegung 
der  Stimme  empfindet,  daß  er  wegen  ihrer  Lieblichkeit  und  Schnellig- 
keit dieses  ununterbrochen  mehrmalige  Wiederholen  einiger  wenigen 
Noten  gar  nicht  gewahr  wird.  Auch  ist  es  sicherlich  weit  besser,  eine 
Sache  oft  und  gut,  als  verschieden  und  auf  verschiedene  Weise  schlecht 
zu  machen.  Hauptsächlich  bei  der  Ausführung  der  Verzierungen  und 
Läufe  (ßoretti  e  passaggi)  zeigt  sich  dies.  Denn  im  Punkte  solcher 
Wiederholungen  trägt  man  wenig  Tadel  davon,  es  möchte  denn  sein, 
daß  man  eine  große  Menge  von  Kennern  als  Zuhörer  hat,  die  wissen 
oder  gewahr  werden,  ob  der  Sänger  etwas  nur  wiederholt,  oder  ob 
er  Neues  vorbringt.  Aber  selbst  diese,  die  als  Komponisten  oder 
durch  ihre  Profession  es  merken,  haben  in  Gegenwart  von  Zuhörern , 
die  Gefallen  an  jenen  gut  ausgeführten  Wiederholungen  finden, 
keinen  Tadel  für  den  Sänger  und  entdecken  seinen  erlaubten  Betrug 
nicht;  denn  wenn  man  irgend  eine  seiner  Handlungen  mit  gutem 
Gewissen  entschuldigen  kann,  so  ist  es  sicherlich  jene  verdienstliche 
Weise  der  Gorgia.  Die  Stimme  besitzt  nicht  die  Geschicklichkeit  der 
Hände,  von  denen  jede  Taste  nach  Belieben  berührt  werden  kann 
und  oft  so  schnell  berührt  wird,  daß  wir  in  Erstaunen  und  Ver- 
wunderung gesetzt  werden. 

Wenn  wir  nun  wahrnehmen,  wie  viele  Mühe  es  der  menschlichen 
Stimme  verursacht,  jene  Noten  so  schnell  dahin  zu  tragen  und  mit 
ihr  alles  das  zu  machen,  was  der  Mensch  ausfuhren  möchte,  so  laßt 
uns  auch  ein  wenig  bedenken,  wie  viele  Sänger  durch  die  Welt  gehen 
mit  anmuthiger,  ziemlich  glücklicher  Stimme,  die  sicher  alle  Canti- 
lenen  singen,  welche  ihnen  vorgelegt  werden,  aber  wegen   einer  ge- 


Koloratur  und  Ausschmückung  des  Gesanges.  395 

wissen  natürlichen  XJngeschichkeit  keine  Passagen  oder  Gorgia  haben. 
Könnten  sie  nun  jenen  Glücklichen,  welche  die  Gorgia  verstehen, 
ihre  Ausschmückungen  und  Passagen  wegnehmen,  sollen  wir  glauben, 
daB  sie  es  gern  thun  würden?  Gewiß;  denn  wenn  sie  ihnen  die- 
selben wegnehmen  könnten,  so  dürften  Viele,  die  bei  mittelmäßiger 
Stimme  nur  mittelmäßig  eicistiren,  mit  der  Begleitung  der  Gorgia 
als  große  Herren  leben. 

Hören  wir  von  einem  Sänger  die  Sachen  nicht  nach  unserer 
Weise  und  in  ganzer  Vollkommenheit,  oder  nur  immer  eins  und  das- 
selbe, so  urtheile  man  dennoch,  daß  er  wenigstens  die  Absicht  hat, 
es  Tollkommen  und  gut  zu  machen,  denn  Jeder  treibt  es  gern  über 
seine  Kräfte.  Deßhalb  habe  ich  alle  obigen  Passagen  und  Aus- 
schmückungen weniger  sprungweise  und  gebrochen  (rampere)  ge- 
macht, als  ich  es  gekonnt  hätte,  um  den  Schülern  nicht  mühevolle 
und  ihnen  einstweilen  noch  unmögliche  Dinge  vorzulegen,  denn  ich 
möchte  nicht  gern,  daß  meine  Bemühungen  unnütz  und  eitel  wären 
und  ich,  wenn  ich  sie  für  unnütz  hielte,  damit  der  reine  Selbstmörder 
würde.  Wenn  ich  gesagt  habe,  die  Passagen  der  menschlichen  Stimme 
seien  in  stufenweis  auf  einander  folgenden  Tönen  zu  machen  und 
nicht  gebrochen  oder  sprungweise  (sequenti,  et  non  spezzati),  und  den- 
noch einige  Beispiele  in  sprungweisen  Folgen  beifugte,  so  habe  ich 
mir  damit  nicht  selbst  widersprochen;  denn  wenn  es  auch  scheinen 
möchte,  daß  keine  Stimme  das  ausführen  kann,  so  giebt  es  doch 
genug  Sänger,  die  dazu  im  Stande  sind.  Deßhalb  habe  ich  einige 
Folgen  gebrochen,  nicht  nur  um  zu  zeigen,  wie  es  gemacht  wird, 
sondern  auch  damit  man  nicht  glaubt,  es  sei  nöthig,  die  Intervalle 
immer  stufenweise  einander  folgen  zu  lassen. 

Nachdem  ich  hiermit  alles  gesagt  habe,  was  zu  sagen  war,  kann 
ich  nunmehr  das  Kapitel  über  die  Gorgien  beschließen.  Nur  dies 
sei  noch  erwähnt,  nämlich,  daß  ich  recht  gut  weiß,  wie  Einige  ganz 
fleißig  über  diese  meine  kleinen  Sachen  grübeln  und,  nachdem  sie 
dieselben  besehen,  eingetheilt  und  betrachtet  haben,  nicht  verfehlen 
werden  zu  sagen,  daß  sie  wenig  oder  gar  keinen  Werth  besitzen. 
Aber  ich  tröste  mich  damit,  daß  ich  andern theils  von  Demjenigen 
auch  wieder  Lob  erhalten  werde,  der  fühlen  wird,  daß  ihm  ge- 
holfen ist. 

Ich  verfehle  nicht,  hier  ferner  noch  die  Ursache  anzugeben,  weß- 
halb  ich  in  den  obigen  Passagen-Beispielen  keine  Übungen  von 
Sechzehnteln  angestellt  habe.  Es  ist  geschehen,  weil  ich  eine  be- 
sondere Rücksicht  darauf  nahm,  die  ersten  schnellen  Erhebungen  für 
trs^e  Stimmen  zu  zeigen.  Deßhalb  sind  nur  Beispiele  von  Achteln 
gegeben,  damit  die  Anfänger  um  so  leichter  sie  lernen  mögen.    Denn 

27* 


396  ^^'  Chry Sander:  Zaceoni  über  Oorg^a. 


diese  Übungen  sind  nicht  für  Den  gemacht,  der  in  dieser  Profession 
bereits  gelehrt  ist,  sondern  nur  für  Jene,  die  bloß  so  viel  davon 
wissen,  dabei  aber  den  Willen  haben,  zu  lernen. 

Wer  nun  dahin  gelangt,  sich  in  diesen  Dingen  so  zum  Meister 
auszubilden,  daB  er  die  Passagen  gut  heraus  bringen  kann,  und  da- 
bei das  Bedürfiiifi  hat  nach  schnelleren  Noten,  als  hier  angegeben 
sind,  der  verändere  diese  Beispiele  von  Achteln  in  solche  von  Sech- 
zehnteln, vrodurch  er  selbständig  andere  Übungen  gewinnen  und  die- 
jenigen Hül£9mittel  erhalten  wird,  die  er  für  sein  Weiterstieben 
nöthig  hat. 

(Prattica  di  Musica  I.  1592. 
Libro  primo,  Capitolo  66,  Folio  58 — 76., 


Paul  Siefert. 

(1586  —  1666.) 

Biographische    Skizze 

von 

Max  Seiifert. 


Vor  einiger  Zeit  machte  mich  Herr  Dr.  Bolte  in  Beilin  darauf 
aufmerksam^  daß  sich  auf  dem  Danziger  Stadtarchiv  ein  Band  mit 
Suppliken  aus  dem  17.  Jahrh.  befände,  in  welchen  er  den  Namen 
Paul  Sieferts  des  öfteren  gelesen  hätte.  Der  Stadtarchivar,  Herr 
Aichidiakonus  Bertling  in  Danzig,  war  auf  meine  Bitte  hin  so  ge* 
fallig,  mir  eine  persönliche  Einsicht  in  die  vorhandenen  24  Doku- 
mente zu  ermöglichen.  Es  sind  Eingaben  verschiedener  Personen 
an  den  Bürgermeister  und  den  Rath  der  Stadt.  Auf  der  Adreßseite 
findet  sich  zumeist  der  Verhandlungstag  und  Rathsbescheid  vermerkt ; 
nach  diesem  Datum  werden  die  Aktenstücke  im  Folgenden  citiert 
werden,  da  sonstige  Bezeichnungen  nicht  angebracht  sind.  Was  in 
jeoen  enthalten  war ,  ließ  mich  weiteres  Urkundenmaterial  in  Breslau 
vermuthen.  Durch  die  freundliche  Vermittelung  des  Herrn  Dr.  Münzer 
daselbst  war  Herr  Dr.  Kronthal  so  gütig,  für  mich  Nachforschungen 
anzustellen.  Er  fand  denn  auch  in  den  ,,libri  signaturarum^*^  mehrerer 
Jahre  auf  Siefert  bezügliche  Hreslauer  Rathsbescheide,  welche  er  mir 
im  Auszuge  mitgetheilt  hat.  Es  ist  mir  eine  angenehme  Pflicht, 
allen  genannten  Herren  für  ihre  freundliche  Hilfe  auch  an  dieser 
Stelle  meinen  verbindlichsten  Dank  auszusprechen. 

Jene  Dokumente  werden  uns  zwar  für  den  —  bis  jetzt  wenig- 
stens —  gänzlichen  Mangel  an  Instrumental- Kompositionen  Sieferts 
nicht  entschädigen  können,  immerhin  jedoch  uns  einen  in  seine  per- 
sönlichen und  künstlerischen  Beziehungen  viel  tiefer  eindringenden 
Blick  verstatten,  als  die  bisher  nur  benutzten,  dürftigen  Notizen 
älterer  und  neuerer  Lexikographen.  Die  Dokumente  sind  sehr  reich 
an  interessanten  Einzelheiten,  welche  nicht  nur  das  Musikleben 
Danzigs,  soweit  Siefert  damit  in  Berjährung  stand,  hell  beleuchten, 
sondern  auch  auf  andere,   zum  Theil  in  der  Musikgeschichte  recht 


398  ^^  Seiffert, 


bekannte  Männer  ein  Streiflicht  fallen  lassen.  Wir  wollen  es  im 
Folgenden  versuchen,  aus  dem  bunten  Durcheinander  von  Einzel- 
heiten zusammenhängende  Fäden  herauszulösen  und  auszubreiten. 
So  wird  es  dann  möglich  sein,  die  einzelnen  Züge  zu  gewinnen, 
welche,  an  einander  gefügt,  ein  ziemlich  anschauliches  Bild  von 
Faul  Siefert  als  Mensch  und  Künstler  aus  dem  Dunkel  der  Ver- 
gangenheit emportauchen  lassen. 


Paul  Siefert^  scheint  einer  schon  während  des  16.  Jahrh.  in 
Preußen  wohnhaften  und  geachteten  Familie  anzugehören.  Ein 
»Michael  SifFert«  starb  am  9.  Januar  1578  als  Senator  in  Thom.^ 
Ein  anderer  ^»Michael  Sieffertv  aus  Elbing  starb  1588  als  Bathsherr 
in  Danzig.3  In  den  späteren  Jahrhunderten  und  auch  heute  noch 
ist  der  Name  »Sievertff  oder  »Siewert«  in  Preußen  ein  sehr  häufig 
vorkommender.  Der  Vater  von  Paul  Siefert  wird  uns  mit  seinem 
Namen  nicht  genannt.  Wir  erfahren  aber,  daß  sein  Ruf  hinsicht- 
lich seiner  Friedfertigkeit  wohl  nicht  der  beste  war.* 

Paul  Siefert  wurde  in  Danzig  geboren;  auf  den  Titeln  seiner 
späteren  Werke  fugt  er  seinem  Namen  immer  ^^Dantiscanus^^  hinzu. 
Das  nähere  Datum  seiner  Geburt  ließ  sich  aus  den  Taufbüchern  der 
Marienkirche  nicht  ermitteln.  Wir  erfahren  jedoch  wenigstens  sein 
Geburtsjahr  aus  einem  späteren  Bilde*  Sieferts.  Gestochen  wurde 
es  1649,  rechts  oben  trägt  es  den  Vermerk:  ,,-^T.  Sü-^  63."  Siefert 
wurde  demnach  1586  geboren,  ein  Jahr  vor  Scheid t. 

Seine  künstlerische  Ausbildung  erhielt  Siefert  bei  J.  P.  S  weelin  ck 
in  Amsterdam.  Der  Verfasser  des  unter  Sieferts  Bild  befindlichen 
Gedichtes  bestätigt  es  uns  ausdrücklich.     Das  Gedicht  lautet  : 


^  So  schreibt  er  sich  selbst  in  allen  Dokumenten;  die  Schreibung  »Syfert« 
ist  nur  eine  latinisierte. 

^  Simon  Starovolscius,  nMonumenta  Sarmatarum ,  Beatae  Aeternitati  Adscrip- 
torum*,  Krakau  1655,  S.  398. 

3  Dr.  G.  Löschin,  »Die  Bürgermeister,  Rathsherren  und  Schoppen  des  Dan- 
ziger  Freistaates«,  Danzig  1868,  S.  31. 

*  Die  »Supplicatwn  Catpari  Försteru  vom  19.  April  1628  erwähnt  »die  pro- 
pheceiung  des  in  Gott  ruhenden  Seel:  Hm.  Bürgermeisters  von  der  Linden,  daß 
nemlich  Pauli  Syfert  es  nicht  besser  machen  würde,  alß  sein  Vater.«  (Danzig.  Stadt- 
archiv).   Über  die  Familie  »von  der  Linde«  vergl.  Dr.  G.  Löschin,  a.  a.  O.  S.  28. 

*  »Psalmorum  Davidicorum  .  .  ,  pars  secunda^  publicata  a  Paulo  Syferto, 
Dantücano«,  Danzig  1651,  s.  die  Diskantstimme.     Exempl.  Danzig.  Stadtbiblioth. 


Paul  Siefert,  BiogrephiKhe  Skiiie.  399 


Effigiem  Pauli  Sieferti  cemü,  amice 

Spectator,  ut  natura  mater  ßnxerat: 
Belga  artem  docuit  SweUngiua,  ommbus  orbit 

Celebris  in  oris,  omnibusque  seculia. 
Discipului  perfectm  habetur  in  arte,  magistro 

Si  par:  hie  illum  ni  superat,  haud  est  mint 
htvidid  61  qtii  slimulantur,  res  novo  non  est. 

Artem  nihil  magis  odit  ignoranixä. 


' 


400  ^^x  Seiffert, 


Wir  dürfen  wohl  annehmen,  daß  Siefert  mit  dem  fast  gleich- 
alterigen  Scheidt  ziemlich  gleichzeitig,  also  etwa  um  1605,  sich  bei 
Sweelinck  aufgehalten  hat.^  Wie  inhaltsschwer  übrigens  die  beiden 
letzten  Zeilen  des  Gedichtes  sind,  welche  Summe  von  Hader,  Zwistig- 
keiten  und  unerquicklichen  Nörgeleien  sie  in  sich  bergen,  werden 
wir  im  Verlaufe  der  Darstellung  genugsam  verspüren  können. 

Wann  Siefert  zurückkehrte,  wohin  er  sich  zunächst  wandte,  was 
er  that,  erfahren  wir  nicht.  Wir  wissen  nur ,  daß  er  vor  seiner  An- 
stellung als  Organist  an  der  Danziger  Marienkirche  Mitglied  der 
Kapelle  König  Sigismunds  III.  von  Polen  (1587  — 1632)  war  und 
demgemäß  auch  in  Warschau  leben  musste.  Obwohl  es  Siefert 
nicht  ausdrücklich  bezeugt^,  so  dürfen  wir  doch  wohl  annehmen, 
daß  er  die  Obliegenheiten  eines  Organisten  zu  erfüllen  hatte.  Sein 
Vorgesetzter  als  Kapellmeister  war  Asprilio  Pacelli*,  welcher  am 
4.  Mai  1623  im  Alter  von  53  Jahren  starb.  So  ganz  friedlich 
scheinen  beide  Männer  nicht  mit  einander  ausgekommen  zu  sein. 
Wenn  bei  der  Auffuhrung  von  Sieferts  Kompositionen  irgend  etwas 
in  Unordnung  kam,  so  schob  Siefert  die  Schuld  auf  das  schlechte 
Taktieren  des  Kapellmeisters.^  Trotzdem  scheint  sich  Siefert  in 
Warschau  wohlgeföhlt  und  der  Gunst  seines  Fürsten  erfreut  zu 
haben.  Es  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  er  in  den  Titeln  seiner 
beiden  Psalmenwerke  einen  gewissen  Accent  legt  auf  die  Erwähnung 
seiner  früheren  Anstellung  in  Warschau.  Daß  auch  die  Söhne 
Sigismunds  IIL,  Wladislaw  IV.  (1632—1648)  und  Johann  IL  Casimir 
(1648 — 1669),  ihm  Wohlwollen  entgegenbrachten,  werden  wir  öfters 
bemerken. 

In  Warschau  bildete  Siefert  einen  Schüler  aus,  Namens  Andreas 
Neunabe r.  Wir  lassen  diesen  am  besten  selbst  zu  Worte  kommen; 
er  sagt  in  einer  Eingabe  an  den  Danziger  Rath^: 


1  Vergl.  Vierteljahrsschr.  f.  Musikw.  1891,  S.  187. 

2  Auf  dem  Titel  des  I.  Theils  seiner  Psalmen  (Danzig  1640;  ExempL  Dan- 
zig.  Stadtbiblioth.j  steht:  »Vor  zeiten  in  Königl.  Capelle  Königs  in  Polen  Sigis- 
mundi  IIL  Sei.  Hochl.  Oed&chtnüß«;  auf  dem  Titel  des  II.  Theils  (1651)  ähnlich: 
aolim  Serenissimi  Regis  Sigismundi  IIL  B.  M.  in  Capella.^ 

3  Vergl.  über  ihn  Sterovolscius ,  a.  a.  O.  S.  247;  femer  Walther,  Lexikon, 
S.  457;  Gerber,  Neues  Lexik.;  F6tis,  Biogr.  univ. 

4  Aus  ähnlicher  Veranlassung  berichtet  darüber  die  ^  Supplication  Caspari 
Försteri«  vom  19.  April  1628:  Siefert  habe  gesagt  »Der  Capeümeister  hatt  iaeti- 
ret  "wie  ein  Schelm,  Vndt  der  Kazgraue  Schelm  Asprilius  hette  es  ihm  su  Hofe 
auch  also  gemacht,  wen  seine  Compositiones  in  CapeUa  gesungen  worden.«  (Dan- 
zig. Stadtarchiv). 

5  vLibellus  supplex  Andreae  Neunabers«,  ohne  Datum,  aber  Anfang  1620 
(Danzig.  Stadtarchiv). 


Paul  Siefert,  Biographische  Skizze.  4OI 


»kan  Ewer  Ehrnfeste  Herrligkeitten  ich  dienstschuldig  nicht  bergen, 

das  dem  Chor  in  S.  Marien  Kirchen  ich  vor  einen  Diseantiaten  6  Jahre  lang  im 
singen  mich  gebrauchen  laßen ,  wie  dan  auch  der  Schule  bestem  Vermögen  nach 
im  lernen  abgewarttet Alß  hab  ich  mich,  weil  ich  in  der  Music  und  sin- 
gen, auch  comp&niren  einen  zimlichen  anfang  gehabt,  in  Gottes  nahmen  die  Orga- 
nisten kunsti  bey  Matthias  Ledern,  domaln  Organisten  zu  S.  Peter  [in  Dan- 
xig],  in  die  zwei  Jahr,  itzo  aber  zu  warschaw  bey  Paul  Siefert  auch  fiber  zwei 
Jahr  gelemet  Weil  aber  Paul  Siefertt  seinen  Abscheid  (wie  man  sagt)  von  Kön. 
May.  nehmen  wird,  woltte  ich  nicht  gerne,  dieweil  ich  einen  zimlichen  anfang 
gemachet,  auch  es  meinem  lieben  Vater  schon  etwas  gekostet,  ablaßen,  besondern 
vielmehr  der  kunst  weiter  nachtrachten,  mich  auch  nicht  gerne  von  hinnen  [War- 
schau] weg  begeben,  nach  dehme  man  alhier  yiele  gute  und  kunstreiche  Mt*si- 
caäen  hatt,  und  sonderlich  den  Italianisehen  Organisten  Tarquinium  Meruli, 
welcher  offtmalen  zu  meinem  Herrn,  dem  H.  Modli#e/«Ay,  Kö:  May.  Küchen- 
meister kompt,   bei  welchem  Herrn  ich  gute  gelegenheitt  zum  atuditen  habe,   Ist 

derohalben  mein  ynterdienstliches  bitten,    Ewer  E.  Hk.  wollen bei  einem 

£.  H.  Rath,  meiner  geringen  person  im  besten  gedencken,  damitt  ich  [weil  mei- 
nem Täter  wegen  der  andern  kinder  die  hand  zu  kurtz  feltt,  mir  mehr  Zuschub 
xa  thun)  mich  alhier  bei  gedachtem  Organisten  noch  eine  zeittlang  zu  lernen  mir 
....  ein  lehrgelde ,  so  ich  monatlich  geben  muß ,  großgönstig  zusteuer  kommen, 
▼il  solche  eines  E.  H.  Raths  gutthatt ....  nimmer  vergeßen,  und  meinem  lieben 
Vaterland  künfftiger  zeitt,  so  fem  mir  Gott  das  leben  gönnen  wird,  wiederumb 
SU  dienen  willig  gebrauchen  laßen«  .... 

Welchen  Bescheid  der  Rath  darauf  ertheilte,  erfahren  wir  nicht. 
Jedenfalls  werden  wir  doch  über  die  Persönlichkeit  Neunabers  unter- 
richtet, sowie  über  den  Aufenthalt  Tarquinio  Merulas  in  Warschau, 
wo  er  demgemäß  mit  Siefert  zusammengetroffen  sein  muß. 

Die  Absicht  Sieferts,  aus  dem  Dienste  des  Königs  Sigismund  zu 
scheiden,  muß  im  Jahre  1620  bestanden  haben.  In  diesem  Jahre 
befand  er  sich  kurz  vor  Ostern  in  Danzig,  wo  er  dem  Bathe  ein 
Verzeichniß  neuer  Kompositionen  überreicht,  um  deren  Auffuhrung 
während  der  Osterfeiertage  in  der  Kirche  er  nachsucht: 

•REGISTER  der  Newen  officia  Magnißcat  Muteten  vndt  Psalmen  So  Paul 
Siefert  Auf  die  Heilige  Ostern  fertig  gemacht  Tndt  Einem  Erb.  Hochw. 
Raht,  in  Aller  ynterthtoikeit,  vndt  gebürender  reverenig  überreichen  tuht. 

1)  Ein  New  officium  auf  3  Cohr  mit  17  Stimmen,  gesteh  auf  Singer,  Po- 
saunen. Cometen,   Violen  vndt  Positif.  ^ 

2)  Ein  New  officium  Auf  3  Cohr  welche  «^ortret  werden  mit  12  Stimmen 
Auf  Singer  Vndt  beigesetzte  instrumenta  gericht  mit  3  Orgeln. 

3)  Ein  New  officium  mit  13  Stimmen  Auf  Einen  Cohr  mit  Singer,  Posaunen, 
Corneten,   Violen  vndt  Positif. 

In  diesen  offieiie  sindt  20  Stücke 

4)  Surrexit  Pastor  honus  mit  14  Stimmen  Auf  Singer  vndt  Vorgedachte  imtru- 
mento  absonderlich  concert^tiQ  gesetzt. 

5)  Congratulamini  mihi  otnnes  mit  15  Stimmen  concertvreiQ  mit  Symphonii 
^dt  gedachten  insirumenten, 

6)  Victime  Pasehali  mit  16  Stimmen  concertweiQ  gesetzt 

7)  Ad  laudeSj  mit  12  Stimmen  Concelehrent  laudes  Summi  Auf  3  Vnterschied- 
liche  Cohr. 


402  ^"  Seiffert, 


8)  Ad  laudes,  mit  19  Stimmen  Foelix  irmumera  Dei  que  facta.  Auf  Singer 
Yndt  gedachte  instrumenta, 

9)  Moffnificat  eoncert^eiQ  gesetzt  mit  8  Stimmen. 

10]  Dixit  Dominus  mit  16  Stimmen,     Cancertweiß   auf  Singer  vndt  gedachte 
instrumenta. 

Soli  Dso  Gloria. 
Diese  Arbeit  ist  fertig,  mit  allen  Partituren  Vnndt  GeneraJhaßen.ft 

Am  13.  April  1620  faßte  der  Rath  den  Beschluß  <,  daß  Siefert 
seine  Kompositionen  zu  Ostern  auffuhren  könnte,  sich  jedoch  vorher 
darüber  mit  Kaspar  Förster  verständigen  sollte. 

In  Danzig  lebten  während  des  17.  Jahrh.  zwei  Männer,  Namens 
Kaspar  Förster.^  Nachrichten  über  sie  geben  Walther,  Mattheson, 
Löschin,  Hirsch  und  Döring;  aber  die  Angaben  über  ihr  verwandt- 
schaftliches Yerhältniß  zu  einander,  über  ihre  amtliche  Stellung  sind 
zum  Theil  so  widersprechend  und  ungenau,  daß  wir  an  der  Hand 
unserer  Dokumente  einmal  erst  die  beiden  Persönlichkeiten  fest- 
stellen wollen.  Man  muß  die  beiden  Ämter  als  Kapellmeister  an 
der  Marienkirche  und  als  Kantor  am  akademischen  Gymnasium 
recht  auseinander  halten,  wenn  auch  der  Marienchor  mit  dem  Chor 
des  Gymnasiums  oft  vereinigt  wirkte.^ 

Im  Jahre  1602  wurde  Nikolaus  Zange  Kapellmeister  als 
Nachfolger  von  Johann  Wanning  (f  1604)*.  Zange  verließ  aber 
1602  schon  wieder  Danzig  aus  Furcht  vor  der  Pest;  1605  kehrte  er 
erst  zurück,  ging  aber  1606  zum  zweiten  Male  weg.  Daß  der  Rath 
diesmal  nicht  gesonnen  war  zu  warten,  bis  es  Zange  belieben  möchte 
wiederzukommen,  war  ganz  natürlich.  Indessen  vergingen  doch  bis 
zur  Wiederbesetzung  der  Kapellmeisterstelle  zwei  Jahre.  Unter  den 
Bewerbern  ist  auch  »Caspar  Forste rusMusicus«;  er  richtet  im 
Jahre  1607  folgendes  Gesuch  an  den  Rath: 

«S. 

Secessit  iterum^  nisi  omnino  discessit  Nicolaus  Zangius  Musicus  vester 

Dubitatur  communit&r,  num  reversurus  iüe!  num  item  Magnißcentiae  vestrae  ab- 
sentem  pristina  patientia  praestolaturae!  Utrumque  vereor  ut  ßat,  Quod  si  sup- 
plere locum  animus  est,  Magnißcentiae  vestrae  sine  dubio  Musicum  et  sua  MajesUtte^ 
et  iüo   etiarn  apud  exteros  honestato  loeo  dignum  constituent Viinam  in  me 

1  vLect:  in  sen:  den  13  Aprilis  Ao.  1620a  (Danzig.  Stadtarchiv).  »Lest  £,  £, 
Raht  geschehen,  dass  Paul  Siuerdt  auff  die  feyertage  seine  componirte  stücke  mOge 
singen  lassen  iedoch  dass  Vorgengigk  mit  Caspar  Förstero  geredet  verde  damit 
er  hierin  oonsentire  damit  er  sich  nicht  ins  künfftige  zu  beschweren  habe.« 

2  So  ist  der  Name  zu  schreiben;  »Forster«  ist  eine  latinisirte  Form. 

3  Dr.  Th.  Hirsch,  »Geschichte  des  academischen  Gymnasiums  in  Danzig*, 
Danzig  1837,  S.  44  f. 

*  Vergl.  Dr.  G.  Löschin,  »Beiträge  zur  Geschichte  Danzigs  und  seiner  Um- 
gebungen«, Danzig  1837,  L  S.  37;  G.  Döring,  »Zur  Geschichte  dar  Musik  in 
Preußen«,  Elbing  1852,  S.  54. 


Paul  Siefert,  Biographische  Skizze.  4Q3 


€9iet  iila,  quam  magno  lahore,  muHis  peregrinationibus  adnüus  sum,  in  re  Mtisica 
ferfedio!  tota  unis  chori  vestri  mancipareiur  laudibus.  Si  quid  tatnen  est  in  me 
iite  ingenii,  sive  artis,  quod  ad  EccUsiae  usum ,  et  vestrum  Patres  heneplacitum 
faeiat,  quantum  iUud  est,  non  possum  nan  Magnificentiis  vestris  Offerte,  petendo 
^  in  ordinatione  Magistri  Capeüae  mei  quoque  rationem  habeant,  Faxo  ego,  ut 
aures  vestrae  dornig  ei  Musica  vestra  apud  exteros  hene  audiant.fi 

Der  Rath  beschloß,  einen  definitiven  Bescheid  erst  zu  ertheilen, 
sobald  die  Anstellungen  im  Kirchenchor  zur  Sprache  kämen:  ^   * 

K.  Förster  nennt  sich  »Musicus«;  er  war  also  Mitglied  der 
Kirchenkapelle  von  St.  Marien.  Seit  wie  lange  er  dies  war,  erfahren 
wir  aus  späteren  gelegentlichen  Bemerkungen :  ^  seit  1600  oder  1602. 
Als  städtisches  Kapellmitglied  bewarb  er  sich  also  um  den  von 
N.  Zange  verlassenen  Posten.  Jedoch  erhielt  er  ihn  nicht,  sondern 
Andreas  Hackenberger^  aus  Pommern,  der  1608  sein  Amt  an- 
trat und  bis  1625  lebte.  Dagegen  eröffioiete  sich  K.  Förster  eine 
andere  Aussicht.  Am  24.  Januar  1606  starb  Daniel  Asaricus, 
welcher  seit  1584  Professor  der  griechischen  und  orientalischen 
Sprachen,  Kantor  und  Bibliothekar  am  akademischen  Gymnasium  in 
Danzig  gewesen  war.^  In  dessen  Stelle  rückte  K.  Förster  unmittel- 
bar, wie  es  scheint,^  nicht  erst  1613^  ein.  Das  Danziger  Gymnasium 
genoß  im  Anfange  des  17.  Jahrh.  einen  großen  Ruf^;  der  Kantor 
hatte  einen  Singe-  und  Kaiendechor  nebst  Instrumentisten  unter 
seiner  Leitung.  <^  In  pekuniärer  Beziehung  waren  selbst  die  untersten 
Lehrer,  y^coUegae^,  gut  gestellt:  sie  erhielten  gegen  500  fl.  Gehalt  und 
dazu  das  Schulgeld  ihrer  Klasse^,  und  durch  ihr  Amt  erwarben  sie 


*  ^Leet.  10.  Sept.  Ao.  1607.  Vnd  stelln  ein  £.  R.  die  saohen  auß  biß  von 
bestallang  des  Choreß  wirdt  geredet  werden«  (Danzig.  Stadtarchiv). 

2  14.  JuH  1617  (Danzig.  Stadtarchiv):  »wie  das  Ich  nun  in  die  funfzehen 
Jahr  dieser  guhten  Statt  mit  meinen  wenigen  Dinsten  in  kirchen  vndt  schulen 
aufgewartet«.  15.  Mai  1628  (Danzig.  Stadtarchiv):  »£.  £.  Hochw.  Raht,  dem  ich 
meine  patientiam  Vnd  ßdelitatem  in  anbefohlenen  Dinsten  nun  über  die  sechs 
Vnd  zwanzig  Jahr  gnugsam  probiret«^. 

^  Dr.  G.  Löschin,  »Beiträge  zur  Geschichte  Danzigs  und  seiner  Umgebungen«, 
Danzig  1837,  I.  S.  37;  inkorrekt  sind  die  Angaben  von  G.  Döring,  »Zur  Geschichte 
der  Musik  in  Preußen«,  Elbing  1852,  S.  54. 

*  Chr.  G.  Jöcher,  Gelehrten-Lexikon,  Leipzig  1733,  Sp.  248,  Dr.  Th.  Hirsch, 
■Geschichte  des  academischen  Gymnasiums  in  Danzig«,  Danzig  1837,  S.  63. 

^  »D.  Casparus  Fifrsterusft,  14.  Juli  1617  (Danzig.  Stadtarchiv):  »damit  ich 
anderer  geschweige,  an  meinem  antecessore  S.  Herren  Daniel  Asarico«, 

*  vgL  Anm.  3. 

^  Dr.  Th.  Hirsch,  Gesch.  d.  acad.  Gymn.,  S.  13  ff. 

s  ebendort  S.  44  i 

0  ebendort  S.  41  Anm.  13. 


404  ^^^^  Seiffert, 


sich  Ehrenbürgerrecht.  1  Daß  K.  Förster  nicht  bloß  als  Musiker 
sondern  auch  als  Lehrer  hier  thätig  war,  darf  man  aus  Scacchis  Worten  * 
wohl  herauslesen. 

Im  Jahre  1617  kam  indessen  K.  Förster  trotz  seiner  günstigen 
Stellung  in  eine  mißliche  pekuniäre  Lage;  er  wandte  sich  infolge- 
dessen mit  folgendem  Bittgesuch  an  den  Sath: 

pkan  £.  £.  Hkt.    Ich  der  nothurft  nach  nicht  unerinnert  lassen,  — 

wie  in  hac  omnium  verum  difficuUaie  allerley  defectus  in  re  familiari  sich  erei- 
gen ,  welchen  zu  remediren  ....  Ich  mich  allzeit  eusersten  Vermögen  nach  be- 
flissen ,  vndt  dennoch  die  handt  zu  kurtz  gefallen :  Als  hab  Ich  ietziger  Zeit  ad 
8ublevandam,rei  famüiaris  angustiam  ein  solches  mittel  an  die  handt  genommen, 
so  nicht  alein  meiner  profeasion  gemes,  sondern  auch  unsem  GH/mnasio  erspriß- 
lich  sein  möchte,  nemlich  nebenst  meiner  profession  einen  kleinen  Buchhandel 
zutreiben. 

Weil  dann  zu  solchen  meinen  proposito  E.  E.  Hkt.  patroeinium  vnjt  *«6- 
sidium  Ich  zum  höchsten  benötigt,  E.  E.  Hkt  auch  aus  angebomer  keroisehgH 
naiur  vndt  liberalitet  Ihrer  unterthanen  vndt  gehorsamen  Diener  wolfart  gern  be- 
fördern, Ihnen  Jura  civitatis  conferiren,  wie  sie  dann  solches  magna  cum  laude  an 
vielen  literatis  erwisen,  auch,  damit  ich  anderer  geschweige,  an  meinem  atUe- 
cessore  S.  Herren  Daniel  Asarico: 

Als  gelanget  auch  deßfals  an  E.  £.  Hkt.  mein  untertheniges  bitten,  £.  E. 
Hkt.  wollen  meiner  wenigen  Person  grosgönstiglichen  geruchen,  solches  ben^/icmm 
juris  civitatis  Ihren  Diener  gönnen  vndt  bey  E.  E.  ratte  zu  wege  bringen,  damit 
ich  desto  sicherer  vndt  unturhirt  in  solchem  meinen  proposito  fortfahren  vndt  be- 
harren könte 

Caspar  Försterus^  Can- 

tor  Gymwmi.* 

Am  14.  Juli  1677  bewilligte  der  Rath  beides.^  Aus  dem 
Dokument  geht  übrigens  hervor,  was  schon  Löschin^  nachzuweisen 
sucht,  daß  nämlich  K.  Förster  keine  eigene  Druckerei,  sondern  nur 
einen  Buchladen  besaß.  Den  Buchhandel  übernahm  nach  K.  Försters 
Tode  dessen  Sohn  Georg  ^,  welcher  auch  in  Amsterdam  einen  Buch- 
laden besaß.  —  Über  den  zweiten  Kaspar  Förster  werden  unsere 
Dokumente  ganz  neue  Auskunft  später  geben  können. 

Als  Siefert  im  Jahre  1620  nach  Danzig  zurückkehrte  und  dem 
Rathe    seine    Kompositionen    anbot,    war    also    Hackenberger  noch 


1  ebendort  S.  40. 

2  »Cribrum  musicum«,  Venedig  1643  (nach  Matthesons  Ehrenpforte  S.  6$ff.): 
nCum  scirem  te  diversis  scientiarum  generibus  excultwn,  et  in  dantiscano  Gymnasio 
aliquas  disciplinas,  summa  cum  laude  publice  olim  profectum  [professum?]  fuisse.* 

3  »£.  £.  Raht  hatt  geschlossen,  dass  supplicanten  40  fl.  zum  burgerrecht 
auß  der  Kammerey  verehret  werden  sollen.  Act:  in  senatu  14.  Julg  1617«  (Dan- 
zig. Stadtarchiv). 

^  »Geschichte  der  Danziger  Buchdruck ereien«,  Danzig  1840,  S.  14. 
5  Vgl.  über  ihn  auch  Walthers  Lexikon,  S.  255  f.;  Matthesons  Ehrenpforte» 
S.  68  ff. 


Paul  Siefert,  Biographische  Skizze.  405 


Kapellmeister  an  St.  Marien.  Wenn  sich  behufs  der  Aufführung 
derselben  Siefert  mit  K.  Förster  in  Einvernehmen  setzen  mußte »  so 
geht  daraus  hervor^  dass  der  Singechor  des  Gymnasiums  während  der 
Osterfeiertage  den  Kirchenchor  Ton  St.  Marien  unterstützen  und 
demgemäß  Siefert,  um  eine  sorgfältig  vorbereitete  Aufführung  zu  er- 
möglichen, dem  Kantor  von  dem  Rathsbeschlusse  Mittheilung  machen 
muSte.  Daß  jene  für  Siefert  einen  sichtbaren  Erfolg  nach  sich  zog, 
erfahren  wir  nicht;  die  bedeutendsten  musikalischen  Amter  in  Danzig 
waren  alle  besetzt.  K.  Förster  und  Hackenberger  sind  schon  .mehr- 
fach genannt;  Organist  an  der  Marienkirche  war  seit  1613  Michael 
Weyda.^  Dieser  starb  jedoch  schon  1623,  und  nun  war  Siefert  der 
geeignetste  Mann,  um  sein  Nachfolger  zu  werden.  Er  hatte  die 
Orgelkunst  bei  Sweelinck  erlernt,  und  Proben  seiner  kompositorischen 
Tüchtigkeit  hatte  er  nicht  bloß  früher  am  Warschauer  Hofe,  sondern 
auch  vor  dem  Danziger  Rathe  abgelegt.  — 

In  seiner  neuen  Stellung  erging  es  Siefert  bald  so  wie  in 
Warschau:  er  konnte  sich  mit  s^inepi  Kapellmeister  nicht  recht  ver- 
tragen, ^  sobald  es  sich  darum  handelte,  seine  eigenen  Kompositionen 
zu  Gehör  zu  bringen.  Es  sollte  aber  noch  viel  schlimmer  kommen. 
Im  Jahre  1625  starb  Hackenberger.^  Der  Rath  ließ,  wie  sich  aus 
den  später  mitgetheilten  Dokumenten  ergiebt,  die  Stelle  vorläufig 
frei.  Es  bewarben  sich  K.  Förster  und  Siefert  um  sie,  welche  beide 
des  Öfteren  Proben  ihres  Geschickes  in  der  Leitung  der  Kirchen- 
musik ablegten.  Zu  Anfang  des  Jahres  1627  entschied  sich  endlich 
der  Kath.  K.  Förster  wurde  Kapellmeister;  Siefert  erhielt  dagegen 
die  Weisung,  sich  auf  die  KapeÜmeisterstelle  keine  Hoffnung  mehr 
zu  machen.  Daß  der  Rath  den  20  Jahre  hindurch  als  Kantor  be- 
währten K.  Förster  wählte,  ist  wohl  erklärlich.  Ebenso  erklärlich 
ist  es  aber  auch,  daß  Siefert  von  der  Wahl  nicht  sonderlich  erbaut 
war.  Abgesehen  davon,  daß  er  selbst  auf  die  vakante  Stelle  reflek- 
tierte, konnte  er  es  jetzt  und  auch  später  noch  K.  Förster  mit 
Recht  vorwerfen,  daß  dieser  fast  gar  nicht  mit  eigenen,  sondern  nur 
mit  fremden  Kompositionen  hervorträte.  Siefert  war  sich  seiner 
künstlerischen  Überlegenheit  über  K.  Förster  bewußt,  während  dieser 


*  VergL  S.  403.  Anna.  3.  •  •  •  • 

'  ^Supplieation  Caspari  Försterin  vom  19.  April  1629,  (Danzig*.  Stadtarchiv): 
'»Gestalt  Er  [Siefert]  es  dan  auch  mit  dem  S.  CapeUmeiater  [Hackenberger]  anders 
nicht  gemachet,  den  als  derselbe  seine,  des  Pauli  Syferts  Compoeiiion  ausingen 
flieh  bereden  laßen ,  Vndt  eine  Canftmon  darin  entstanden ,  hat  er  auff  denselben 
Mann  ganz  ungestümm  ausgegoßen  undt  gesagt,  der  Capellmeisier  hatt  iactket 
wie  ein  Schelm«;  vergl.  oben  8.  400.  Anm.  4. 
'  Vergl.  Anm.  1. 


406  ^^  Seiffert, 


die  Autorität  eines  Vorgesetzten  in  Anspruch  nahm.  Aus  einer  an- 
fänglich wohl  nur  kleinen  Spannung  zwischen  Siefert  und  seinem 
Kapellmeister  entwickelte  sich  so  sehr  schnell  ein  arger  Streit^  dessen 
Verlauf  wir  an  der  Hand  von  erhaltenen  Beschwerden  und  Gregen- 
beschwerden,  disciplinarischen  Untersuchungsakten  u.  s.  w.  noch  ver- 
folgen können. 

Als  erster  auf  dem  Kampfplätze  erschien  Siefert;  er  forderte 
Förster  zu  einem  öffentlichen  musikalischen  Wettkampf  auf: 

» Vndt  kan  hiemit  Euer  Ehrenreste  Herlik.,  Vntert&hnigst  nicht  ver- 
halten, Nach  dem  ich  meine  Arbeit  zu  Vnterschiedlichen  mahlen  K  E.  Herl.: 
offeriret  auch  itzo  abermaln  mit  gebürender  JRevereniz  übergebe.  E.  E.  H.  auch 
die  Vorige  übergebene  Sachen,  auf  Ihren  befehl  in  der  Kirchen  abgehmi  hören. 
Als  hette  ich  Verhoffet ,  Es  solte  Casparus  [Förster] ,  als  welcher  solch  officium, 
Chori  3fu8iei8  [!]  Magiatri  eu  aeeeptiven  sieh  Vnterstehet,  mit  seiner  Vndt  nicht 
mit  frembder  Authcften  arbeit,  sich  auch  haben  hören  lassen,  Insonderheit,  wdl 
er  so  lauge  zeit  darzu  gehabt.  Es  ist  aber  nicht  allein  biß  dato  noch  nichts 
Meisterlichs  herfür  kommen,  Sondern  er  hat  an  stat  deßen  auf  meine  Persohn 
mit  allerhandt  tractica  gestachelt,  Welches  ich  alles  dem  lieben  Gott  heimstellen 

tuhe.    Er  Vermeinet  aber  Vieleicht,    das  die  leute  scheinen  VergeBen  zu 

haben ,  das  es  eine  freye  Kunst  sey,  Vndt  das  er  also  durch  frembder  Autkatea 
Kunst  vndt  Arbeit  woU  werde  können  ad  gradum  Artis  Musiees  Magitiri,  Vndt 
dero  Titul  Vndt  Nahmen  eines  Künstlers  gelangen.    Ich  glaube  aber,  wen  man 

diese  Kunst Von  Jugendt  auf,  mit  großer  mühe  Vndt  arbeit  nicht  itudisen. 

durffte....,  das  sich  Viel  competitores  Fastigii  3fagistrali8  finden  würden,  Vmb 

des  Nahmens  hoheit  willen 

Auß  diesem  Fundament wie  auch  aus  diesem ,   dass  Kein  Gapelmeister 

in  arte  muaica,  mit  frembder  ^u^oren  Arbeit  magiatriren  Könne.  Weill  Ich  von 
Jugent  auf  die  musicam  in  arte  componendif  nicht  ohne  mühe,  Vndt  große  Arbeit 
gestudiret,  Vndt  bey  Königlichen  Vndt  Fürstlichen  CapeUen  geübet  habe,  JPro- 
vocire  ich  den  Casparum  ad  certamen  Musictim  Publicum,  wie  es  £.  E.  H.  ge- 
fallen wirdt,  das  er  zum  Wenigsten  3  Sontage,  mit  seiner  Vnterschiednen  Eige- 
nen, Vndt  nicht  mit  frembder  Compositum,  die  gantze  Mwica  officio,  Vndt  was 
dazu  gehörigk,  zu  halten  solle  schuldig  sein,  dieselbige  arbeit  auch  forstellen, 
Vndt  drüber  Judicia  erleiden,  ob  es  auch  seine  Arbeit,  vndt  ob  auch  vitia  contra 
Ariern  Musicam  darinnen,  wie  den  in  seinen  Vorigen  de  ore  prudentis,  deroselben 
mehr  als  ich  inmier  Verhoffet  gewesen,  zu  finden  sein. 

Damit  er  sich  aber  hierüber  nicht  zu  beschweren  habe,  so  bin  Ich  eben  daß 
erbötigk,  durch  meine  Vnterschiedliche ,  Vndt  nicht  durch  frembde  Kunst  Vndt 
arbeit,  3  Sontage,  Wen  es  E.  E.  H.  gefeilig  ist.  Publice  in  der  Kirchen  zur  Ehre 
Gottes  die  Musicam  Vollkömlich    zu  halten,    dieselbe  auch  Aufzuweisen,  Vndt 

Judicia  darüber  zu  erleiden.    Vndt  zweifele  gantz  nicht  E.  E.  H solch  Certamen 

....  mit  besonderer  affection  deroselben  beywohnen  zuhören  vndt  Vrteilen 
werden«  .... 

Der  Rath  beschloß  am  2.  Dezember  1627,  den  definitiven  Be- 
scheid erst  zu  ertheilen,  sobald  der  augenblicklich  abwesende  Bürger- 
meister V.  Bodeck  zurückgekehrt  sei.^    Der  Rath  bewilligte  nach  der 

1  »Demütige  supplication  Pauli  Sieferts  Pfarrorganisten«.  »Lect:  in  sen:  den 
2.  Dec:  Ao.  1627    Vnd  wirdt  diese  supplication  verleget  biß  zur  ankun£ft  deß  H. 


Paul  Siefert,  Biographische  Skiaze.  40*^ 


Ankunft  des  Bürgenneisters  das  Gesuch  Sieferts.  K.  Förster  ver- 
suchte indessen,  den  Beschluß  rückgängig  zu  machen,  indem  er  auf 
Terschiedene  ünzuträglichkeiten  aufmerksam  machte,  welche  jener 
Beschluß  für  ihn  im  Gefolge  hätte. 

»So  treibet  mich  doch  die  unumbgängliche  noht,  den  Pauli  Syfert 

meinem  sugenöhtigten  Wiedersacher  lenger  nicht  zuzusehen,  sondern  bey  Zeiten 
meine  gravamina  wieder  denselben  £.  E.  Hochw.  Habt  demütigst  vorzutragen, 
lumahlen  derselbe  mit  unzeittigen  seinen  posiulatis  bey  E.  E.  HrL  mir  daß  ChoTy 
so  unl&ngst  auf  E.  E.  Hochw.  Rahts  Schluß,  undt  folgige  Introduction ,  nicht 
ihme,  sondern  mir  anbefohlen  worden,  allgemach  zu  sperren,  oder  ie  zum  wenig- 
sten sich  per  Ctmicuhs  in  dasselbe  mit  einzudringen,  vndt  zuor  Unruhen  sich 
h&chlieh  bemühet,  In  dem  er  seine  Compaaitiones  in  Vorstehenden  Osterfest  auff 
dem  Chor  zu  singen  begehret,  auch  soviell  gewircket,  das  der  Herr  Prae9%d%rendL.e 
Bürgermeister  .  .  .  mir  dieselbe  zu  machen,  verschienen  Freytagk  angesaget,  dem- 
selben ich  auch  nachzukommen  ....  ich  mich  keinesweges  eusern  wolte,  wan 
nicht  solches  zu  meinem  höchsten  despect  gereichen,  Vndt  über  dem  auch  große 
ineonvenientas  hinder  sich  ziehen  thette;  den  ob  zwar  woU  auch  die  berümbsten 
Musici ,  nicht  immerdar  ihre  selbst  eigene  Arbeit  singen ,  sondern  pro  henepladto 
baldt  Diesen,  baldt  Jenen  autorem  Vornehmen,  So  hat  doch  niemahln  irkein 
Ckori  Magister  Ihm  wieder  seinen  willen  eines  andern  Musici  Compositiones  auf- 
dringen laßen ,  Weill  solches  .  .  dermaßen  verkleinerlieh,  das  auch  woU  die  Can- 

tcres  in  prtrafechuelen  sich  damit  ungerne  despectir&x  laßen dahero  auch 

der  Vortreffliche  Musicus  vndt  Organist  zu  Venedig  Hr.  Joan  Gahrieli,  als 
£r  Königl.  Mayt.  in  Fohlen  undt  Schweden  [Sigismund  IH.]  zu  Warschaw  seine 
Compositiones  offeriret,  selber  die  Capell  zure^tren,  oder  auch  auff  einer  gewißen 
zeit  dieselben  zumachen  nicht  begehret,  sondern  alles  in  des  damahligen  CapeUae 
Magistri  Herrn  Asprüij  PaceUi  gefallen  undt  gutachten  gestellet,  Dergestalt  es 

dan  auch  an  allen  Örtem  vemunfftige  Musici  noch  halten, Von  dero 

Zahl  aber  Pauli  Syfert,  wie  es  scheinet,  sich  ganz  undt  gar  abzusondern  gedencket, 
Indem  er  mit  beregten  seinen  postulatis  das  mir  anvertraute  Chor,  ungeachtet  E. 
E.  Hochw.  Raht  hiebevor  per  expressum  geschloßen,  daß  nemlich  Pauli  Siefert 
hinfort  sieh  keine  gedancken  mehr  auff  dasselbe  machen  solte,  nicht  allein  ipso 

facto  zubeschimpffen  .  •  sich  bemühet,  sondern  auch  in  selbigen  attentatis 

ie  mehr  undt  mehr  turbas  mir  in  meiner  funetion  zu  erwecken ,  nicht  unterlaßen 
wirdt     Inmaßen  er  nicht  allein  mit  unglimpfilicher  Protestation  kegenst  meine 

Introduction  den  Kampff  mir  gleichsam  angekündiget sondern  auch  so- 

woll  schrifftlich,  als  mundtlich  noch  an  Vergangenen  Freytagk,  mich  warnen, 
undt  per  expressum  sich  yerlauten  laßen,  es  mit  mir  so  nicht  yerbleiben  solte, 
ja  auch  anderweit  ganz  unbesonnener  weise  sich  vernehmen  lassen,  das  wofern 
£.  £.  Hochw.  Raht  ihn  zu  seinen  Vorhaben  nicht  verhelffen  würde,  Er  sich  an 
die  Gemeine ,  so  mich  bey  den  Haaren  Vom  Chor  herab  ziehenn  solte,  schlagen, 
aneh  vor  seine  Person  nicht  allein  kommen,  sondern  ein  guttes  Rohr  undt  Xne- 
helspieß  (welches  dan  einen  wunderbahrlichen  Tact  gebehren  würde)  mit  sich 
bringen,  undt  damit  demselben,  der  Ihm  zuwieder  sein  würde,  soviel  geben  wolte, 
daß  er  es  woll  solte-  vergeßen.  Aus  welch .  hoohbeschwerlichen  bedrawung  undt 
dißdatumibus  E.  E.  Hochw.  Raht  gnugsam  abzusehen  hat,  dass  es  mit  exhibi- 
Hing  imd  ohtruditnn^  seiner  Compositionen  nirgents  anders  hin  gemeinet  sey,  als 

Bürgermeisters  von  Bodeck.«  (Archiv  der  St.  Marienkirche),  tber  v.  Bodeek 
vcrgl.  Dr.  G.  Löschin,  die  Bürgermeister  u.  s.  w.,  S.  35. 


408  ^'^  Seiffert, 


daß  Er,  im  fall  er  das  Chor  aelbsten  z\iregmn  sich  eindringen  wOrde,  wie  er 
dan  solches  bey  Menniglich  sich  yerlauten  lest,  auch  wieder  (?)  vergangenen  Frey- 
tagk  in  allen  gassen  undt  Courtegarden  herumbgelauffen ,  Vndt  die  Leute  darzu 
mviiiret,  meine  Person,  gleich  yermücht  ich  dem  Hohen  Fest  mit  der  Munc  nicht 
sein  Recht  zuthuen,  beschimpfe,  oder  auch,  im  fall  ich  dieselbe  zusingen,  an 
mich  nehmen  solte,  mit  mir  zuzanken  undt  zuhadem  gelegenheit  nehmen  milchte, 
Oestalt  Er  es  dan  auch  mit  dem  S.  CapeUmeister  [Hackenberger]  anders  nicht  ge- 
macht ^ Auff  welche  Ahrt  undt  weise  er  auch  unlängst  auff  der  Hoch- 
zeit des  H.  Wichmans  dem  Altisten  Soccoll,  wie  auch  dem  Organisten  auff  dem 
Chor,  da  doch  die  schuldt  nicht  bey  dem  Organisten^  sondern  bey  ihm  Faulo  ge- 
wesen, inmaßen  er  selbsten  aus  der  Partitur  ezliche  tact  ausgelaßen  gehabt,  ge- 
than.   Ja   so  ist  Er  mit  den  H.  Kirchvätern,   mit  dem  Signatore,  seinen  Cakan- 

ten  etc.  etc.  seiner  Alten  gewonheit  nach  vmbgegangen dannenhero  die 

mehrere,  auch  Vornembste  zu  Chor  Von  dem  Vorbenanten  Pauli  Syfert  sich  der- 
maßen abalienirt  befinden,  das  sie  auch  auff  das  Chor  nicht  zukommen  sich  ex- 
presse  yerlauten  laßen,    Dafem  Er  entweder  zure^iren  sich  untelrstehe,  oder  auch 

seine  Compositiones  gesungen  werden  solt^n  :  .' 

.  .  .  bittende  E.  E.  hochw.  Raht  geruhe  großgünstig  die  allegirte  incom- 
moda, so  aus  der  Pauli  Syferts  unzeitigen  suchen  undt  beginnen  ent- 
springen kunten,  zuerwegen,  Vndt  Ihn  zu  seiner  Orgel,  auff  welcher  ihm  die  Elöst- 
lichsten  stücke  in  der  Welt  zumachen,  frey  undt  offen  stehet,  zu  verweisen,  mich 
aber  bey  meiner  funciion  undt  deßen  anbefohlener  Verwaltung,  Darauff  ich  mich 
zum  Vorstehenden  Osterfest  dermaßen  geschick'et,  das  E.  E.  Hochw.  Raht  .  .  . 
ohne  Zuthuung  d&s  Pauli  Syferts  oder  deßen  Compositionen  eben  woll  ein  groß- 
gunstiges  genügen  daran  wirdt  haben  können,  großgunstigk  zuschüzen,  undt  mich 
mit  dem  Unruhigen  Menschen  nicht  zu  Committiren* ' 

Der  Rath  versprach  darauf  am  19.  April  1628^  K.  Förster,  ihm 
allen  Schutz  zukommen  zu  lassen,  hob  jedoch  die  einmal  ertheilte 
Erlaubniß  nicht  wieder  auf.  Die  Aufführung  ging  vor  sich.  Dieser 
ganze  Vorfall  gab  natürlich  dem  Ansehen  Försters  einen  starken 
Stoß.  Bitter  beklagt  er  sich  denn  auch  in  einem  Schreiben  an  den 
Rath,  daß  seine  vorher  geäußerten  Befürchtungen  eingetroffen  seien: 
». nach  dem  mal  E.  Ernv.  Hochw.  Kaht  cLem  Paul  Syfert  im  Ver- 
flossenen Österlichen  Feurtagen  dasselbe  [chorus  musicus]  eröfnet,  ist  nicht  alein  in 
der  waiheit  dasselbe,  welches  ich  darbey  befahret,  auch  E.  Ernv.  Hochw.  Bäht 
schriftlich  Vorgetragen^  .erfolget,  sondern  es  bricht  auch  des  Vorbenannten  Si- 
ferten  muhtwiU  Vnd  bösgemeintes  Hertz  an  ietzo  recht  aus,  in  dem  er  sieh 
kegenst  glaubwürdige  leute,  die  dessen  in  keiner  abrede  sein,  hören  Vnd  Verneh- 
men lassen,  Er  habe  mir  gleichwol  nun  diesen  schimpf  bey  gebracht,  das  Ich  Ihm 
hette  auf  die  Ostern  weichen  müssen ,  es  solte  nicht  Pfingsten  werden ,  ja  venn 
nur  das  festum  Ascensionis  heran  kome,  solte  es  wieder  gescheen,  Vnd  was  der 
Verdrißlichen  Vnd  despectirlichen  Dinge  mehr  Vorlaufen,  wordureh  ich  nicht  aleia 
bey  menniglichen  in  dieser  Statt,  sondern  auch  bey  hof  Vnd  anderswo,  bevonb 
bey  MusieiSf  welchen  solches  proeedere  nie  Vorkommen,  auch  gar  inauditum  ist, 
merklichen  despeetirt  werde Darumb  ich  E.  Ernv.  Hochw.  Kaht .  •  .  • 

i  Vergl.  S.  405.  Anm.  2. 

2  »Supplication  Caspari  Försteri.«  i^Lect:  19.  Aprilis  Ao.  1628  Vnd  leaset  es 
E.  E.  Raht  bey  Vorigem  schluß  bewenden  das  des  Paul  Sieferts  eomposäion  auf 
dieser  heiligen  tage  eilten  pauge  gesungen  werden.«    (Danzig.  Stadtarchiv). 


Paul  Siefert,  Biographische  Skizze.  409 


solche  des  Paul  Syferten  Boßheit,  Vnd  das  alles  selbiges  sein  Vorhaben,  nicht 
ad  honestandunif  sondern  ad  turbandum  chorum  Musicum,  Vnd  zu  meiner  be- 
aehimpfung  gemeinet,  nochmaln  .  •  zu  erkennen  geben  wollen,  hoffende  Vnd 
bittende,  E.  E.  Hochw.  flaht  ....  da  PtxiU  Syfert  sich  fortan  weiter  zu  dem 
mir  an  Vertrautem  ehor  nöhtigen  Vnd  einflechten  wurde,  die  defensionem  honoris 
mei  ....  mir  nicht  verargen  werde.« 

Der  Rath  versicherte  darauf  Förster  am  15.  Mai  1628^  noch 
einmal  seines  Schutzes,  betonte  aber  gleichzeitig  auch  sein  Recht, 
über  den  Chor  nach  seinem  Belieben  zu  bestimmen. 

His  jetzt  hatte  Siefert  unstreitig  den  Sieg  davongetragen.  Statt 
sich  aber  mit  diesem  Erfolge  zu  begnügen,  trieb  er  die  Feindselig- 
keiten bis  zur  äußersten  Grenze.  Auf  die  dringenden  Beschwerden 
Försters  hin,  sah  sich  nunmehr  der  Rath  1630  genöthigt,  die  An- 
gelegenheit vor  sein  Forum  zu  ziehen.  Die  betheiligten  Parteien 
wurden  vorgeladen,  und  die  Streitigkeit  wurde  dadurch  vorläufig 
beigelegt,  daß  der  Rath  Sieferts  aggressives  Verhalten  scharf  rügte 
and  für  die  Zukunft  untersagte.  Das  Protokoll '^^  über  die  Verhand- 
lung lautet: 

»Auf  forgengiges  suppliciien  vnd  vielfeltiges  beschweren  des  Capelmeisters 
Caapari  Forsten  wie  auch  des  Altisten  Sokol  kegens  Pauel  Sieferd  Organisten 
wegen  deßen  vngeburlichen  Verhaltens,  ausgegoßenen  m»fir»en  vnd  Schmeheworten 
faatt  ein  Erb.  Raht  sambtliche  3  Personen  vorfordem  laßen  vnd  eines  ieden  munt- 
lieh  anbringen  angehöret.  Dorauf  dan  ein  Erb.  Kahtt  geschloßen,  das  dem  Pauel 
Sieferd  sein  vngebuer  solte  hart  verwiesen  werden,  das  er  nemlich  mit  frembden 
heiducken  den  eingangk  zur  Orgel  wehren  wollen,  mit  ehrenrührigen  wortten  umb 
sieh  geworffen  vnd  dergestalt  den  Kirchen  frieden  turbiret,  mit  ernstlicher  ver- 
wamung  wofeme  er  von  solchem  bösen  vornehmen  nicht  abstehen  wurde,  vnd 
«ich  mit  Worten  oder  werken  an  irkeinen  forbenanten  Personen  vergreiffen  vnd  sie 
solehes  beweisen  konten,  das  er  als  dan  in  continenii  ohne  weitere  inquisition  oder 
Aufschub  seines  Dinstes  soll  verlustigk  sein.  Imgleichen  das  ihm  solte  auferlegt 
werden  den  Capelmeister  in  Verrichtung  seines  Ampts,  in  keinerley  wege  su  hin- 
dern weder  auf  dem  Chor  noch  auf  der  Orgel  sondern  deßelben  anordnung  sich 
gemeß  suuer halten  vnd  diejenigen  so  zur  3fusic  bestellet,  nicht  zu  excludiren  oder 
ihnen  sich  vnzimlich  zuwiedersetzen  noch  den  Sokol  mit  falschen  verleumbdungen 
an  seinem  verdinst  bey  den  hochzeiten  zuuerkurzen,  bey  obgesagter  condition 
vnd  straff  so  vnfelbahr  erfolgen  solL  Welches  alles  in  namen  E.  E.  Bahts  dem 
Pauel  Sieferd  in  publica  sessione  angesaget  worden.  Actum  in  Senatu  29.  Aprilis, 
Anno  1630. 

Seinrieus  Frederus  Secret.^ 


*  »Supplieation  Caspari  Försterir.  »Leet:  in  Sem  15.  May  Anno  1628.  £.  E. 
Rahtt  hatt  geschloßen  vndt  verbleibet  bey  Ihrem  vorigen  Schluß  den  supplic.  wie- 
der allen  vngebühr  in  seinem  officio  zu  schützen.  E.  E.  Rahtt  wü  sich  aber  ihrer 
Hoheit  vorbehalten  haben,  jemandt  frey  zugeben  auff  Ihr  belieben  in  künftig 
seine  probe  zu  singen.«  (Danzig.  Stadtarchiv}. 

2  Danzig.  Stadtarchiv. 

'  VergL  über  ihn  Dr.  G.  Löschin,  Die  Bürgermeister  u.  s.  w.,  S.  33. 

1891.  28 


410  ^^^  Seifert, 


Welches  £.  E.  Rahts  Schluß  vnd  Abscheid  der  herr  Pramdent  auf  der  Parte  be- 
geren  im  Amptbuch  suuerschreiben  Ambtshalben  nachgegeben. 

Ad,  10.  May,  Anno  1630. 
Ex  Actis  Praecox,  Speetab.  Dni  Eeeardi  ä  Kemp^^  Praeeo$s.  Praesidis.v 

Es  yerstTeichen  nun  einige  Jahre^  ohne  daß  wir  von  einem  Kon- 
flikt zwischen  dem  Kapellmeister  und  dem  Organisten  etwas  hören. 
Beide  scheinen  also  doch  einen  Weg  gefunden  zu  haben,  auf  welchem 
sie  leidlich  gut  nebeneinander  hergehen  konnten,  ohne  sich  gegen- 
seitig viel  zu  stören.  Siefert  war  außerdem,  wie  wir  sehen  werden^ 
nach  zwei  Seiten  hin  anderweitig  in  Anspruch  genommen.  Indessen 
lange  dauerte  die  Buhe  nicht.  Im  Jahre  1636  wandte  sich  Förster 
an  den  Rath  mit  der  Bitte  um  eine  amtlich  beglaubigte  Abschrift 
des  Beschlusses  vom  29.  April  1630 : 

.....  »Wan  ich  dann  nun  sothanes  Schlusses  lu  meiner  beschutsung  .  . 
Kegenst  selbigen  Manne  [Siefert]  schon  vor  diesem  woU  bedürftig  gewesen ;  Ynndt 
an  itzo  desselben  sub  sigiUo  civitatis  hoch  benötigt  bin ,  als  hab  ich  bey  £.  Emv. 
Hoehw.  Raht  supplicando  des  fals  anhalten  wollen  ....  mir  selbigen  schluß  de 
dato  29.  ApriL  ao,  1630  sub  sigiUo  Civit^Uis  awthentioe  zu  extradiren  ....  da- 
mit ich  mich  meines  erhaltenen  Rechtens  zu  informiren,  vnnd  auff  einen  oder  an- 
dern begebenden  fall  zu  schützen  habe.« 

Der  Rath  lehnte  in  seinem  Bescheide  vom  14.  November  1636 
die  Zustellung  einer  amtlichen  Kopie  ab,  wie  er  es  auch  bei  Siefert 
einmal  that.^  Dagegen  hätte  jedoch  Förster  wohl  eine  persönliche 
Einsicht  in  die  Akten  gewährt  werden  können,  wie  es  bei  Siefert 
geschah.  Wenn  der  Kath  sich  aber  in  diesem  Falle  nicht  darauf 
einließ,  so  geschah  es,  weil  es  ihm  nicht  heb  war,  den  Streit  wieder 
erneut  zu  sehen,  und  ihm  daran  lag,  den  Ausbruch  desselben  auf 
möglichst  lange  Zeit  hinaus  zu  verschieben.  Aber  schon  im  nächsten 
Jahre,  1637,  geriethen  die  beiden  Gegner  heftig  aneinander,  und 
nun  mußte  der  Bath  die  beiderseitigen  Klagen  wieder  hören.  Förster 
beklagt  sich  zuerst  über  den  »unruhigen  Menschen«,  Paul  Siefert, 
der  )>von  seinen  alten  tüken  nicht  ablassen«  will: 

»Darumb  ich  privat  Rache  zu  Vermeiden  £.  £.  Hoohw.  Raht,  de- 
mütigst antreten ,  Vnd  unterdinstlichst  umb  schütz  Vnd  schirm ,  so  sie  bevor  per 
Senattu  decretum  mir  ist  Versprochen  worden  [I],  auch  außer  dem  den  Rechten 
gemes  ist,  anruffen  wollen ,  Nicht  zwar  dero  auf  mich  außgegossenen  Vielfeltigen 
calwnnien  halben  alein,  womit  der  unruhige  Mann  mich  hin  Vnd  her  aufs  aller- 
schmeligste  Verunglümpf et ,  Ja  meine  gütter  auch  zum  caduc  an  J.  Gn.  Herrn 
Signu   Güldenstem ,    Vnd    andere    hohes  Standes  personen  außgeboten, 


1  Vergl.  über  ihn  ebendort  S.  26;  Eggert  v.  Kempen  starb  im  Jahre  1636. 

2  »CapeUmeisters  Supplication.^  i>Lectum  in  senatu  den  14.  Novemh,  .4fmol636 
vndt  hat  £.  E.  Rath  geschloßen,  daß  dem  supplicanti  der  schluß  sitb  sigülo  ci- 
vitatis nicht  kan  außgegeben  weiden  maßen  es  vngebrfiuohlich  ist  Es  siebet  auch 
E.  E.  Raht  nicht  ab,  worzu  es  Ihm  könne  behülffllch  sein,  weil  sie  alle  beyde 
hier  bürger  seindt,   vndt  ihre  ordentliche  oberkeit  haben.«     ^anxig.  Stadtarchiv). 


Paul  Siefert,  Biographische  Skizze.  4 1 1 


Kmdern  auch  des  unfugs  halben  insondeiheit ,  so  mir  in  anbefolenen  Ckw  Vndt 
Kirchen  Mtuio  Vielfeltig  von  Ihm  zugefuget  wirt,  In  dem  er  meine  Chor  Music 
in  gemein  aufs  aller  schmelichste  hin  vnd  her  verhönet,  vernichtet,  yerachtet,  Vnd 
noch  neulieher  Tage,  in  speeie  über  das  Tb  deum  laudamusj  welches  ich  nach 
längst  gehaltener  kühr  Predigt,  mit  Vorbewust  des  damaligen  praesidirenden  H. 
Burger  Meisters,  wie  auch  H.  Burger  M.  Czirenberges  ^  .  .  .  gemaohet,  sein  böses 
giftiges  Maul  dermasen  rahten  Vnd  walten  lasen,  das  er  auch  nicht  hönischer 
....  davon  reden  können,  denn  er  uns  vor  Barenleiter,  Vnd  die  eampoaition 
tn  sieh  vor  lauter  cujonerei  ausgeruffen,  da  doch  eben  dasselbe  Te  deum  läudamus 
auf  des  königs  in  Ungarn^  Coronaiion  exhibirtj  vnd  sothane  Musica  an  Keyser- 
liehen,  Polnischen,  dähnischen.  Sächsischen  vnd  allen  andern  Fürstlichen  höfen, 
bey  dero  gleichen  festiviteten  nicht  ungebreuchlich ,  diesem  ehrenschender  aber 
mir  wehe  zuthuen,  eine  cujonerei  vnd  Barenleitrey  sein  müssen,  worbey  er  es  dann 
auch  noch  nicht  bleiben  lassen,  sondern  den ßingst  bestalten  Violinisten,  Caro- 
lum  Farina^,  dessen  ich,  weil  er  eine  principal  stimm  zu  spielen  gehabt,  nicht 
entrahten  können,  zu  sich  auf  die  Orgel  genommen,  bey  sich  daselbst,  mii;  zu 
trotz  vnd  wieder  willen,  behalten,  vnd  zu  mir  aufs  Chor  nicht  wollen  kommen 
lassen,  ob  Ich  gleich  durch  meinen  Jungen  denselben  bey  seiner  stimm  sich  ein- 
lustellen ,  vnd  seiner  bestallung  zu  obsecundiren  freundtlich  erinnern  lassen ,  wel- 
chen meinen  Jungen  aber  der  Paul  Sifert  Vnd  seine  Tochter  theils  mit  unver- 
schämten, theils  mit  trotzigen  werten  .  .  abgewiesen  .....  Carolo  aber  so  lang 
ausgeblieben,  Vnd  seine  stimtn  vaciren  lassen,  das  wir  alle  auf  Ihm  alein  eine  ge- 
raume zeit  warten  müssen,  meinende  diese  Unordnung  vieleicht  damit  za  bedecken, 
das  er  auf  der  Orgel  besser  habe  können  gehört  werden,  als  auf  dem  Chor,  so 
Ihm  aber  zu  keiner  entschuldigung  dienen  kan,  denn  thni  gebüiren  wollen,  esselbe 
Vorgengich  mit  mir  zu  communieiren ,  Vnd  nicht  Vor  seinem  köpf  sich  Von  mei* 
aem  Chor  zu  absentiren.  So  hette  es  sich  auch  auf  dem  Chor,  welches  dem  Raht- 
stuel^fx  opposito,  Viel  besser  geschicket,  wenn  er  je  der  Obrigkeit  zu  ehren  ein 
Canzon  Solo  spielen  wollen,  zumalen  er  gar  wolgewust,  das  der  Neunah er^  mit 
ans  aufwarten  wurde,  mit  welchen  er  auch  zu  vor  gespilet,  vnd  also  des  Orga- 
nisten halben  sich  nicht  ausreden  kan,  sondern  alle  umbstende  geben  es,  das 
dieses  werk  zwischen  Paul  Sifert  Vnd  den  Farina  ex  condictamine  also  sey  ange- 
stellet  worden,  wie  sie  dann  auch  in  dessen  haui3  ihre  sachen  probiret  .... 
wordurch  der  Carolo  ....  von  den  unruhigen  Organisten  dermasen  .  .  Verleitet 
worden,  das  er  auch  nach  der  zeit  sich  zu  mehren  malen  gar  abalienat  vnd  wie- 
derlich  erzeiget,  Vnd  weder  auf  den  folgenden  Palm  Sontag,  noch  auf  den 
Grünen  Donnerstag  zu  chor  gekommen  ....  wiewol  er  dennoch  sich 
ziemlich  negligenter,  sowohl  im  fest,  als  auch  hernach  eingestellet,  vor- 
gebende, er  wer  mit  der  condition  angenommen,  das  er  möchte  spielen  wenn 
was  vnd  wo  es  Ihm  gefiel  etc.  Auch  damals  auf  die  Orgel  ziun  Concert,  un- 
geacht  er  von  mir  deshalben  begrüsset  worden,  nicht  gegangen,  weis  nicht 
aus  was  Ursachen,  Vnd  ob  es  Paul  Sifert  gerne  hab  also  haben  wollen ,  damit  er 
Ihm  ursach  auf  mich  zu   dehacchiren  nehmen  möchte,  Gestalt  er  dann  eben  da- 


^  VergL  über  ihn  und  seine  schöne  Tochter,  »Die  baltische  Sirene«,  sowie 
über  ihre  beiderseitigen  Beziehungen  zu  M.  Opitz :  Dr.  G.  Löschin,  Beitr.  z.  Gesch. 
Danz.,  n.  S.  17  if.;  derselbe,  Die  Bürgermeister  u.  s.  w.,  S.  25  f. 

2  Ferdinand  III.,  1637—1657. 

^  Farina  war  im  Jahre  1626  in  Dresden,  vergl.  M.  f.  M.  XXIII,  S.  34. 

*  Dies  ist  wahrscheinlich  Jeremias  Neunaber,  seit  1623  Organist  an  St.  Bar- 
tolomaeus,  seit  1616  an  St.  Johannis;  vergl.  weiter  unten. 

28* 


412  ^^^^  Seifert, 


hero gesagt,    das  wann  Ich  Ihm  den   Violisten  nicht  schicken  vollen,  so 

solt  Ich  Ihm  doch  die  Trompetter  hinauf  verschaffet  haben,  so  wolte  er  auch  am 
Heiligen  Ostertage  des  Herrn  Maraehaiks  deeret  haben  ausblasen  lassen  S  ^i^d 
was  der  unertregUchen   •  .  .  •    calumnien   mehr   sein,    wormit   der   böse   giftige 

Mensch auch  obbenanten   Vioiistenf  der  da  bevor,  in  abwesen  des  Paul 

Siferts,  gar  willig  vnd  bequem  in  allen  gewesen ,  mir  abspendig  zu  machen  .... 

sich  bemühet so  nun  mehr  .  .  mir  unertreglich ,  Vnd  meinen  Kindern 

auch,  bevorab  dem,  dessen  ich  nun  mehr  auß  Italia  erwarte,  zur  besorglichen 
commotion  leicht  könte  anlaß  .  .  geben« 

Der  Rath  beschloß  am  19.  Mai  1637,^  von  Siefert  nach  Zu- 
stellung der  Anklageschiift  einen  Gegenbeiicht  einzufordern.  Die 
»deme  Edlen  Hochw.  Kaht  übergebene  Antwordt  Pauli  Syferts,  auff 
des  Caspari  Forsteri  eingegeV.ene  supplication  Ao,  1637  den  19.  May« 
ließ  denn  auch  nicht  lange  auf  sich  warten.  Sie  bringt  ganz  merk- 
würdige Dinge  zu  Tage: 

»erstlich,  muß  ich  mit  sonderbahrer  Hertzensbekümmemus  er- 
fahren, das  Ich  von  dem  Unruhigen  Suppltcanten  ^  nicht  allein  bey  vielen  Ebr- 
liebenden  Bürgern  nun  etzliche  Jahr  her  jämmerlich  angestochen,  sondern  auch 
bey  £.  E,  Hochw.  Raht  ....  mit  allerhandt  verveindung  achterfolgt  werde,  ge- 
rade,   als   wen   ich   der  zanksüchtigste,  ja  der  ergste  Mann  in  der  ganzen  Stadt 

were,  da  Ich  doch je  und  allewege  dahin  gestrebet,    das  Ich  friedlieh 

Leben,  und  die  gaben,  so  mir  .  .  Qott  in  meiner  Kunst  verliehen,  zu  seiner  Ehren 
anwenden  möchte 

....  ja  es  ist  noch  bey  denn  Calumnien  nicht  verblieben,  sondern  es  hatt 
deßenn  Vätter  auch  Caaparus  Forst  er  genanndt,  so  damahlen  in  seinem  brodt, 
itzo  noch  in  seinem  Diensten  in  Polen  ist,  und  die  Bücher  herumbführet  mir 
nach  Leib  und  Leben  gestandenn,  auch  einsmahls  bey  finsterer  nacht  schkffen- 
der  Zeit,  wie  Ich  aus  der  Hochzeit  nach  hause  gehen  wollen,  mit  einem  Mordt- 
beyl,  auff  öffentlicher  Straße  angefallen,  zur  erdenn  gestoßen,  verwundet,  und 
wann  nicht  durch  Schickung  Gottes,  einer  mit  der  Latem  were  gehen  kommen, 
wodurch  er  zu  verlaßung  meiner,  und  hinterlaßung  seines  Mantels  und  Beyles 
gebracht  worden,  so  hette  er  mich  umbs  Leben  gebracht,  und  Jenunerlich  ermor- 
det, solche  schnöde  that  hat  der  Supplicant  und  deßenn  Haußfraw,  bey  dem 
Schneider  so  denn  Mantel  gemachet,  wie  auch  bey  dem  Elterman  der  Schneider 
ganzer  4  Jahre  [1632—1635]  vertusehen  .  .  helffen,  biß  Ich  fürm  Jahr  [1636]  sol- 
ches allererst  erfahren,  darauff  ich  den  Thätter  zu  Warschaw  gefundenn,  und  be- 
klaget, auch  ein  Decrei,  wo  durch  er  ad  carcerem  et  refusionem  damnorum  con- 
demnitet  und  mir  actio  adversus  complieee  aUiie  reserviret  worden,  erhalten,  und 
W3nn  ich  die  Obductionem  Vulnerum  daselbst  gehabt  hette,  er  solche  Unthat  mit 
seinem  Leben  hette  büßen  müßen. 

was  den  Zanck  und  Wiederwillen,    deßenn  er  mich  beschuldiget, 

belanget,    gestehe  Ich  durchauß  nicht  ....    das  Ich  jemahln  deßen  eine  Ur- 


^  Dies  bezieht  sich  auf  die  Entscheidung  eines  Prozesses,  welchen  Siefert  in 
Warschau  gegen  Kaspar  Förster  jun.  führte;  vergl.  unten. 

2  aSupplication  Caspari  Forsteri  Capellmeisters.«  »Xec^tim  in  Sen.  19.  Mm/ 
Ao.  37  Vnndt  hatt  £.  £.  Rhadt  geschlossen,  dass  Paul  Siverten  die  SuppUcaUon 
sol  zugestellet  werden,  damit  er  seinen  kegenbericht  einbringen  könne.«  (Danzig* 
Stadtarchiv}. 


Paul  Siefert,  Biographische  Skizze.  413 


Bache  gewesen,  sondern  das  contrarium  wirdt  sich  bey  der  Untersuchung  Klär- 
lichen  ereugenn,  das  nemlich  Supplieant  anfenglich  meine  Compositionesj  so  Ich 
bey  Königl.  und  Fürstl.  höfenn  ostendirei  ohne  Ursache  yerworffen,  und  ob  es 
Ihm  gleich  anbefohlen  auff  dem  Chor  nicht  singen  wollen,  mit  Ehrenrührigen 
seh&ndlichen  injurien  mich  betastet,  process^  wieder  mich  aufgewiegelt,  allerhandt 
Rahtschläge,  wie  mir  meine  aeddentia'^    möchten  benommen  werden,   gehaltenn 

und  ob  er  sich  woU  mit  mir,  in  beysein  des  Königl:  Cape^meisters^  .  .  . 

vertragen,  so  hat  er  doch  solchen  Vertragk  stracks  gebrochenn,  denn  Sokol  ange- 
hexet, das  er  mich  eines  Ehebruchs  beschuldiget,  Ein  Weib  incarceriret  wordenn, 
über  welche  er  doch  nichts  noch  über  mich  erweisen  können 

Das  er  femer  setzet,  als  solte  ich  seine  Oütter  zum  (mduc  grossen  Herren 
außgebotten  haben,  ist  seinen  ungegründeten  querelis  gleich  ein  ertichtetes  vorge- 
ben, wie  auch  nichtsto  weiniger  eßelbe  ist.  das  Ich  seine  Muaic  verachtet  habe,  sinte- 
mahl  ich  seine^tMtc  die  er  mit  Warheit  für  die  seine  Vertreten  könte,  niemahl  gehöret, 
auch  nie  gelesen  oder  gesehen,  das  er  ein  einziges  stücklein  jemahls  gemachet,  und  an 

den  tagk  gegebenn was  er  biß  daher  absingen  Laßenn,  ist  frembder  Leute  arbeit 

gewesenn Nun  sein  zu  mehrmahlen  mängel  vorgefallen  welche  wen  ich 

Sie  dem  Supplicanii  umb  zu  enden  auß  gutter  meinung  zugemüth  führen  Laßenn, 
80  hab  ich  stracks  von  Ihm  ,  für  ein  Unruhigen  Kopff  und  Ehrenschender  müßen 
außgeruffen  werden,  ja  der  seine  Chor  musica  aufs  aller  schmäligste  verhönet 

Was  femer  das  Te  Deum  laudamus  ....  belanget,  zweiffeie  ich  sehr,  das 
er  der  Leute  so  darüber  Judiciret  mit  der  comparation  der  Königl:  und  Fürstl. 
Hoffe  wirdt  abweisen  können,  und  habe  weder  ich  noch  die  Auditoren  inn  der 
Kiichenn  vor  dem  starcken  Schall  der  Trompeten,  kein  wordt  davon  vernehmen 
können,  was  für  ein  Text  gesimgen  worden,  und  Klinget  in  meinenn  Ohren  Das 
Beudtsche  H.  Gott  Dich  Loben  wir,  mit  der  Orgel  und  ganzen  Gemeine  ungleich 
beßer,  weil  er  es  aber  so  hoch  rühmet ,  ist  dieß  die  proba  darauff,  Er  mache  es 
noch  Einmahl  2.  3  und  je  mehr  er  es  machen  wirdt,  je  erger  es  wirdt  abgehen, 
und  aures  offendiren. 

Das  Er  aber  mir  beymüßet,  als  solte  Ichs  für  eine  Berenleiterey  gehalten 
haben,  darann  thut  er  mir  ungüttlich,  in  dem  er  mich  damit  beleget,  was  vielleicht  an- 
dere in  meinem  abwesen,  unter  den  Zuhörern  in  der  Kirche,  da  ich  auff  der  Orgel 
gewesen,  mögen  von  dem  Trompetenscha]! ,  der  auch  bey  dem  Behrentanz  ge- 
braucht wirdt,  geurtheilt  habenn.  Ich  allewege  bin  daran  unschuldigk 

Ebenso  hatt  er  es  auch  in  diesem  Heiligen  Piingstfest  gemacht,  da  er  im 
ersten  tage  zur  vesper  vor  der  Predigk  ein  Stück  abgesungen,  in  welchem  die 
melodey  auff  solchen  text  gemacht ,  Tutti  venite  armati  li  forti  mei  soldati,  fa  la 
h  la  la  la  la  etc,  und  auff  die  melodey  Mundo  runda  runda,  la  rundineUa,  offters 
repetirei  wordenn,  welches  stück  er  auch  den  andern  Heiligtag  vor  der  Commu- 

nton,  auff  dem  Chor  zum  andern  mahl  absingen  Laßen mit  solchen 

Madrigal  melodeyen,  ob  er  gleich  einen  andern  text  darunter  setzen  möchte,  ver- 
ursachet er  seltzame  Judicia  der  Zuhörer. 

Was  num  anbelanget  das  Jenige,  was  er  von  dem  berühmten  Mr.  Carolo 
Farina  ....  zuschreiben  sich  erdreistet ,  darin  thut  er  mir  ebenmeßig  unrecht, 
denn  das  ich  denselben  Ihm  zu  trotz  .  .  auff  die  Orgel  solte  genommen,  behalten, 


1  Die  Untersuchung  vor  dem  Rathe  1630  ist  wohl  gemeint. 

2  Dies  bezieht  sich  auf  eine  Streitfrage  mit  den  übrigen  Organisten  Danzigs ; 
vergl.  weiter  unten. 

3  Ist  Marco  Scacchi,   der  Nachfolger  Pacellis,  gemeint,  oder  der  Vicekapell- 
meister  Bartholomäus  Pekel? 


414  ^^^  Seiffert, 


und  aufs  Chor  nicht  wollen  kommen  Laßen,  oder  auch  das  er  Ftarina  wieder  ge- 
bühr gehandelt,  ist  ein  pur  lauters  ung^rQntes  außsprengen ange- 
sehen, das  wir  ....  bezeugen  können,  das  wir  das  (>ii43erfehen  nach  der  Kflhr- 

predigt gemaehett  und  gespielet  habenn  .  *  •  .  £r  Carola  Forma  stracks 

darnach  aufis  Chor  gangenn,  und  wie  ich  noch  im  Spielen  des  PraeambuU  gewe- 
sen, alda  sich  su  seiner  behörlichen  Stimme  eingestellet 

Wie  er  dann  mich,  da  Ich  die  große  Strassen  gewolt,  und  atsasginium  so  an 
mir  verübet  worden ,  zurechte  a  ietnpore  tei&ntiae  pmietAationem  jttridieam  einge- 
leget,  mit  einer  ehrenrührigen  Injurien  schrifft,  bey  dem  Erb.  Geridit  anzugreiffen 
Keine  schew  getragenn.  Welcf^es  Ich  doch  modesiüsime  Ihme  rtiorquiret,  wie 
auß  beygelegter  schrifft^  zu  sehenn,  in  welchen  terminis  modestiae  Ihä  auch  im- 
mer halten  werde 

Zwar  aus  den  Zeugnissen,  so  Ich  bey  den  Erb.  Ger.  Yerhören  Laßen,  auß 
den  Potiiümen  und  antwordt  des  Syheaier  MyUra  im  aditen  und  9.  Punet,  wie 
auch  des  Andreae  Winnen  im  5.  und  Q.  puncto  femer  des  Carl  Hnäze  im  11.  Punet 
sich  KUUrUchen  außweiset,  das  Er  und  seine  Fraw  mit  dem  Casparo  FortUro, 
den  der  Cronen  Marschalck  zu  Warsohaw  zur  straffe  geiogenn,  das  oMatnnktm 
haben  vertuschen  hellffen,  wie  die  beyliegenden  ieBÜmonia  und  das  Deeretom 
Mmi  Dn*  Marsehalei  außweiset^  wie  weit  er  nun  darann  schuldig,  oder  Unschul- 
digk,  werde  ich  auch  zu  untersuchen  wißen.« 

Nach  Eingang  dieser  Gegenschrift  Sieferts  beschloß  der  Bath 
am  7.  Juli  1637,  beide  Parteien  zur  Kühe  zu  verweisen:  Siefert  solle 
sich  der  Sticheleien  enthalten  und  Förster  nicht  Gespenster  sehen, 
wo  keine  sind.^  Noch  einmal  wandte  sich  Siefert  an  den  Bath  mit 
der  Bitte  um  die  Aushändigung  amtlich  beglaubigter  Kopien  gewisser 
Akten,  damit  er  sich  daraus  über  seine  Bechte,  K.  Förster  gegenüber 
informieren  könne.  Der  Bath  folgte  dem  Gesuche  nicht,  erlaubte 
Siefert  aber,  beim  Bichter  die  Akten  einzusehen.^  Das  ist  das 
Letzte,  was  wir  aktenmäßig  über  die  Zwistigkeiten  zwischen  Förster 
und  Siefert  erfahren.  Jene  scheinen  also  damals,  für  die  Öffentlich- 
keit wenigstens,  beigelegt  worden  zu  sein.  Aber  damit  waren  sie 
nicht  ganz  vergessen ;  wir  werden  sie  gelegentlich  noch  einmal  wieder 
hervortreten  sehen. 


^  8ie  lag  dem  Original  nicht  bei. 

2  Sie  fehlten  ebenfalls.  Die  angeführten  Personen  eind  die  Zeugen,  welche 
um  den  Überfall  wussten. 

8  »Ein  E.  R!  CommittiTei  dem  hr.  Presidenten  ...  so  wol  den  Paul  Siver- 
ten,  als  den  Capelmeiater  zu  beschicken,  t.  dem  Siverten  anzudeuten,  daß  er 
sich  des  stachelen  t.  schimpffen  enthalten  soll,  solte  er  sich  nicht  moderiien,  wirt 
ein  Khadt  den  Schluß  ao.  1630  ergangen,  exequiren:  dem  Capelmeister  aber  wirt 
angesaget  werden,  dass  er  nicht  alles  zu  boltzen  drehen  soll  etc.  Actum  in  Sen. 
7.  Juli  Ao.  1637.« 

*  »Paul  Sieferts  Supplicatiom  (Danzig.  Stadtarchiv).  »Lectum  in  Senaiu  den 
22.  Julii  Anno  1637,  vndt  hat  E.  E.  Raht  geschloßen,  daß  supplicanten  mit  er- 
^roJtrung  der  ac^en,  weil  sie  t;2»tm'ensachen  co7icemiren,  nicht  kan  gefolget  wer- 
den: Infall  aber  solte  supplicant  beym  h.  Richter  besprechen,  und  aldar  diesel;- 
ben  actQn  begehret  werden,  alsdan  können  dieselben  dem  H.  Richter  ad  req^isi- 
tionem  eiust  wie  es  bisshero  gebräuchlich  gewesen,  gefolget  werden.«  Vgl.  hierzu 
S    410. 


Paul  Siefert,  Biographische  Skisse.  415 


Aus  Anlaß  der  Gegenschrift  Sieferts  sind  hier  noch  einige  Be- 
merkungen über  den  zweiten  Kaspar  Förster  einzuschalten.  •  Man 
findet  ihn  als  Sohn  oder  Neffen  des  ersteren  öfters  bezeichnet.  Das  ist 
aber  unrichtig;  der  Kapellmeister  Förster  ist  der  Vetter  des  Warschauer 
K.  Förster.  Dieser  war  zuerst  im  Buchladen  seines  Vetters  be« 
schäftigt,  kam  dann  in  die  Polnische  Kapelle  nach  Warschau,  wo 
er  dessen  kaufmännische  Interessen  noch  weiter  vertrat.  Der 
Warschauer  K.  Förster  ist  es  offenbar,  den  Scacchi  im  ^Oribrum 
musicumui  als  Kapellmitglied  in  Warschau  anfährt;  von  ihm  rührt 
auch  die  neue  Komposition  »Z)nt  Oaspart  Forsterit  her,  welche 
Scacchi  in  sein  nOribrum  musicamt  aufgenommen  hat.  ^  Des  Danziger 
K.  Försters  Sohn  hieß  Georg^;  er  kehrte  nach  einer  Studien-  und 
wohl  auch  Geschäftsreise  aus  Italien  1637  zurück.  Will  man  beide 
K.  Förster  unterscheiden,  so  mag  man  den  Danziger  senior  und  den 
Warschauer  Förster  junior  nennen.  Dieser  wurde  1617  geboren, 
^  wahrend  jenes  Geburtsjahr  noch  vor  1600  anzusetzen  ist.  Was  den 
nächtlichen  Überfall  in  Danzig  betrifft,  so  wird  vielleicht  das 
Warschauer  Archiv  ausführlichere  Dokumente  besitzen. 

Der  ganze,  durch  20  Jahre  hin  sich  erstreckende  Streit  zwischen 
Siefert  und  Förster  nimmt  hier  wohl  einen  ziemlich  großen  Raum 
ein.  Bedenkt  man  aber,  daß  diese  Männer  vermöge  ihrer  Stellung 
die  beiden  größten  musikalischen  Autoritäten  Danzigs  repräsentierten 
und  daß  jeder  von  ihnen  einen  Theil  der  Bürgerschaft  auf  seiner 
Seite  hatte,  so  wird  dem  Musikhistoriker  eine  breitere  Darstellung 
des  Konflikts  nur  angenehm  sein.  Er  gewinnt  so  einen  unmittel* 
baren  Einblick  in  das  spezielle  Musikleben  Danzigs  in  der  ersten 
Hälfte  des  17.  Jahrb.,  und  dieser  wiederum  ist  für  die  allgemeinere 
Musikgeschichte  nicht  ohne  Nutzen.  Eine  kurze  und  knappe  Dar- 
stellungsweise dürfte  sich  jedoch  für  das  Folgende  empfehlen.  Es 
handelt  sich  hier  nur  um  die  Vertheidigung  gewisser  »accidentiat 
und  um  ganz  private  Angelegenheiten,  obwohl  wir  auch  hier  noch 
manches  Neue  erfahren.  — 

Auf  eine  Eingabe  Sieferts  hin  beschloß  der  Rath  am  11 .  Oktober 
16.32 :  wenn  jemand  im  Kirchspiel  »zur  Pfarr«  (St.  Marien)  Hochzeit 
halten  würde  und  Sieferts  Dienste  nicht  gebrauchen  wollte,  so  sollte 
der  Organist  ihm  dafür  »Einen  Keichstaler  in  specie  zu  geben  schuldig 
«ein«.  Gleichzeitig  wurde  Siefert,  der  noch  eine  gewisse  Summe 
för  Holz  zu  beanspruchen  hatte,  mitgetheilt,  daß  der  Rath  nicht 
wüßte,  »wie  Ihm  nach  itziger  Zeit  Vngelegenheit^  zu  willfahren  sey.« 

1  Vergl.  sonst  über  ihn  Matthesons  Ehrenpforte,  S.  73  ff. 

2  Vergl.  oben  S.  404. 

3  Der  schwedisch-polnische  Krieg  dauerte  yon  1621  bis  1635. 


416  ^^  Seiffert, 


Die  übrigen  Oi^nisten  beruhigten  sich  nicht  bei  jenem  BeschluB. 
Der  Kath  sah  sich  daher  genöthigt,  ihn  etwas  genauer  zu  präzisieren 
und  zu  modifizieren;  es  geschah  dies  am  25.  Oktober  1632.  Wenn 
in  irgend  einem  Kirchspiel  eine  oder  mehrere  Hochzeiten  vorfallen 
und  der  bestellte  Organist  des  Kirchspiels  nicht  hinzugezogen  wird, 
so  sollen  die  fremden  Organisten  dem  Ordinarius,  weil  er  übergangen 
wird,  je  einen  Thaler  geben.  Sowie  aber  der  Ordinarius  selbst  bei 
einer  der  Hochzeiten  beschäftigt  ist,  so  sind  die  anderen  Organisten 
zu  keiner  Abgabe  verpflichtet.  Diese  Vorschrift  solle  fiir  alle  Kirch- 
spiele gelten,  unbeschadet  des  Abkommens,  welches  «die  andern  in 
den  übrigen  Kirchspielen,  außerhalb  der  Pfarrkirche  Ynter  sich  ad 
beneplacitum  Senatus^  getroffen  haben.  Wiederum  beschwerten  sich 
sämmdiche  Organisten  außer  Siefert.  Darauf  beschloß  der  Rath  am 
12.  November  1632  ,  daß  der  vorige  Beschluß  zu  befolgen  sei;  die- 
jenigen Hochzeiten  nur  seien  nicht  in  Betracht  zu  ziehen,  bei 
welchen  der  Organist  selbst  keine  große  Einnahme  hätte:  wenn 
jemand  sein  Gesinde  verheirathet  und  die  Gäste  mit  Wein  traktiert, 
wenn  der  Bräutigam  Bier,  nicht  Wein  schenkt,  oder  wenn  die  Graste 
Wein  verschaffen. 

Den  Organisten  waren  auch  diese  Bedingungen  noch  zu  lästig, 
so  daß  sich  Siefert  an  den  Rath  um  Hilfe  wandte.  Er  hätte  jene 
»mit  Vielen  Vnkosten,  für  den  dazu  Verordneten  Herren,  Ihr.  Herl. 
Michael  Wieder  i  fdrladen  laßen,  ofßcios&a,  aber  hätte  von  ihnen 
nichts  erhalten,  »davon  ich  mit  leben,  Vndt  die  meinen  in  diesen 
Kummerlichen  Zeiten  erhalten  mußa.  Wir  erfahren  hier  die  Ur- 
sache, weshalb  jene  Accidentien  1632  noch  einmal  vom  Rath  be- 
stätigt wurden. 

....  »waßmaßen  Von  mir  im  Yerwichenen  Jahr  begehret  worden,  das  ich 
die  Geistlichen  Lieder,  Vor  Vndt  nach  der  Predigt  auf  der  Orgel  spiden,  Vndt 
mit  der  Gemeine  einstimmen  solte,  Vndt  mir  für  solche  Newe  Vnndt  nicht  ge- 
ringe Arbeit*  (nach  dem  ich  Vmb  ein  recompens,  Vndt  sonderlich,  das  ich  her  den 
in  meiner  bestallung  Versprochenen  accidentien ,  so  mir  Von  den  Andern  Orga- 
nisten in  meinem  Kirchspiel  mit  Vnfug  benommen  worden,  möchte  erhalten  wer- 
den, supplicando  angehalten)  diese  großgünstige  susage  durch  einhelligen  Schluß 
wiederfahren.«  .  .  •  . 

Siefert  bittet  darum,  entweder  den  ersten  Beschluß  vom 
1 1.  Oktober  1632  zu  bestätigen  oder  ihm  anderweitig  eine  Vergütung 
zu  gewähren,  »sonderlich  wegen  der  Newe  mir  aufgelegten  arbeit, 
so  ich  hertzlich  gerne  nach  Vermögen  zu  Verrichten  erbötigk«.  Der 
Rath  hielt  den  BeschluB  wegen  des  Thalers  aufrecht  und  beauftragte 

^  VergL  aber  ihn  Dr.  G.  Löschin,  die  Bürgermeister  u.  s.  w.,  S.  36. 
2  Die  Begleitung  des  Gemeindegesangen  durch  die  Orgel  wurde  also  in  Dan- 
2ig  1633  eingeführt.    Vergl.  Vierteljahrsschrift  f.  Musikw.  1891,  S.  216  f. 


Paul  Siefert,  Biographische  Skizse.  4|7 


Michael  Wieder  »alß  der  Musicanten  Verordneten  Herrn«,  die  andern 
Organisten  zur  Erlegung  des  Thalers  zu  veranlassen.  Wenn  mehrere 
Hochzeiten  stattfänden,  brauchte  nur  ein  Thaler  gezahlt  zu  werden, 
da  der  Ordinarius  auch  nicht  auf  mehr  als  einer  Hochzeit  spielen 
könnte.^  Der  Beschluß  war  da,  aber  die  Organisten  befolgten  ihn 
samtlich  nicht.  Forderte  Siefert,  was  ihm  zukam,  persönlich  ab,  so 
machten  sie  Schwierigkeiten,  indem  sie  die  erledigte  Frage  der  Bier- 
hnchzeiten  wieder  erörterten;  öffentliche  Vorladungen  waren  für  ihn 
nur  kostspielig,  sie  führten  auch  zu  nichts.  Als  ihm  nun  gar 
Michael  Wieder  den  Vorschlag  machte,  auf  die  noch  schuldige  Summe 
für  14  Hochzeiten  zu  verzichten .  so  daß  alle  Mühe  umsonst  gewesen 
sein  sollte,  da  wandte  sich  Siefert^  wieder  an  den  Rath,  der  am 
6.  Oktober  1633  einen  Bericht  von  den  übrigen  Organisten  einzu- 
fordern beschloß. 

Den  Gegenbericht,  welcher  noch  im  Oktober  1633  eingereicht 
wurde,  unterzeichneten  fünf  Organisten: 

»Andres  Grabau,  Bürger  vnd  Organist  zu  S.  Barbem  ge- 
dienet 41  Jahr. 

Michael  Zwedorff,^  Bürger  vnd  Organist  zu  S.  Katrinen 
gedienet  38  Jahr. 

Derck  v.  Schwallen,  Bürger  vndt  Organist  zu  S.Elisabethen 
Gedienet  19  Jahr,  zu  S.  Peter  vndt  Pauli   12  Jahr. 

Jeremiß  Neunaber,**  Bürger  vndt  Organist  zu  S.  Bartolomes, 
Gedienet  10  Jahr,  zu  S.  Johannis  17  Jahr. 

Daniel  Mensig,  Bürger  Vnndt  Organist  zu  S.  Bartolomes. 
Gedienet  6  Jahr.« 

Die  beiden  ersten  konnten  wohl  mit  Recht  von  sich  sagen : 
»Wir  haben  so  viel  Jahr  und  fast  unsere  lebenn  bei  dieser  gutten 
Stadt  zugebracht.«  Sehr  freundlich  ist  der  Ton  gerade  nicht,  den 
sie.  gegen  den  in  die  beste  Stelle  eingedrungenen  Siefert  anschlagen, 
welcher  «doch  noch  wenig  von  seiner  Kunst  ans  licht  gebracht«. 
Siefert  dagegen  macht  ihnen  in  seinem  letzten  Gesuch  den  Vorwurf, 
daß  »Von  Vielen  Kein  Vnterscheidt   auf  die  Kunst  gemacht  wirdt«. 


^  »Demütige  Supplication  Pauli  Sieferts«,  »Leet,  in  Senatu  12.  Augitsti  Anno 
1633«  [Danzig.  Stadtarchiv).  Der  Supplication  liegen  die  Kopien  der  ersten  drei 
Beschlüsse  beL 

2  »Demütige  Supplication  Pauli  Sieferts«,  nLect:  in  Sen:  6.  Oct:  Ao.  1633« 
(Danz.  Stadtarchiv). 

3  Vergl.  Dr.  O.  Löschin,  die  Bürgermeister  u.  s.  w.,  S.  44. 

*  Vergl.  oben  S.  411  Anm.  4.  Ein  »Tiedemann  Neunaber«  war  1619  Instru- 
mcDtenmacher  in  Dansig;  vergl.  Döring,  2.  Gesch.  d.  Mus.,  S.  66. 


418  ^^^  Seiffert, 


Im    einzelnen    sind    ihre    Ergiisse     nicht    der    Erwähnung    werth; 

interessant  ist  nur  folgende  kleine  Schilderung; 

»Dann  in  unsem  Kirchspielen  Keine *Weinhoebseiten  werden,  ww 

nur  etwas  Vomemes  ist,  leufft  alles  naoh  der  Rechten  Stadt,  Ein  Handwereks- 
man,  es  sei  Schuster,  Schneider,  Schnizker,  Stuldreher  etc.  wie  sie  alle  mögen 
nahmen  haben,  machen  auf  ein  Tisch  2  oder  3  hochzeit,  und  geben  einen  gutten 
trunck  Danzkerbier,  Ja  unter  Zehen  Kaum  einer  fordert  einen  Organisten  auf 
seine  Hochzeit,  sondern  gebrauchen  die  gemeinen  Fiedeler« ^ 

Der  Rath  beschloß  am  19.  Oktober  1633,  daß,  wenn  beide 
Parteien  von  dem  Thaler  abstehen  würden,  »dem  Paul  Sifert  ex 
beneplacito  Senaius  jehrlich  au  holtz  funfitzig  gülden  von  der  Kern- 
merey  soll  gegeben  werden.« 

Von  dem  letzten  gegen  ihn  vereinten  Vorgehen  der  Organisten 
erhielt  Siefert  erst  ein  Jahr  später,  Ende  des  Jahres  1634,  Kunde. 
Er  sah  sich  dadurch  veranlaßt,    dem  Rathe   die  Machinationen  der 

Organisten  au&udecken: 

»Vndt  treibt  mich  die  hohe  noth  £.  E.  Hw.  Rath  .  .   zu  Klagen, 

was  maßen  etliche  gewifie  personen,  aus  bloßem  frevel  vndt  giftigem  neid,  damitt 
Sie  mich,  wegen  dem  von  Oott  mitgetheilten  gaben,  anfeinden,  ....  sich  wieder 
meine  ehr  vndt  glimpf,  ia  alle  meine  zeitliche  wolfart  schon  lengst  zusammen  Ter- 
schworen,  vndt  nicht  allein  der  Sokoi  auf  der  andern  anstiftung  in  des  H.  Proiten 
hochzeit  den   anfangk    zum  werck   selbst   gemacht,    Sondern   auch  drauf  solche 

meinen   wiedersacher   eonjundia  viribus  weiter   fortgefahren ,    numehr  so 

weit  befodert,  das  man  eine  xnquisiiion  kegenst  mich  anstellen  müßen. 

Ob  nun  wol  ....  ich  mich  meiner  vnsehuldt  gnugsam  bewust  vndt  getröste, 
auch  Keine  iudicia  dawieder  Können  gebracht  werden,  weil  ich  mich  ieder  Zeit 
also  verhalten,  wie  einem  ehrlichen  Man  wol  anstendig,  inmaßen  ich  mit  Tnter- 
schiedenen  vhrkunden  von  Kön.  Mtt.  vndt  andern  ortten  in  continenti  Kan  dar- 

thun.    So  ist  dennoch  subesorgen , das  man  allerlei  exrnnifta  contra  nu 

4ibsentem  instituire.«  .... 

Er  bittet  nun  darum,  ihn,  wenn  Klagen  vorliegen,  »ördentUcher 
weise  vorlademc  zu  lassen;  femer  um  eine  Kopie  der  Gegenschrift, 
weil  Ich  vernehme  das  ihrer  Sechs  in  specie  eine  Schrift  wieder 
mich  eingegeben,  vndt  ihre  Nahmen  subscribiiet^\  endlich  dartun, 
seine  Gegner,  da  sie  nichts  beweisen  könnten,  in  Strafe  zu  nehmen. 
Der  Rath  entschied  am  16.  Januar  1635^,  daß  Siefert  nordinaria 
juris  via,  wider  seine  Widersacher  wirt  verfahren  müssen«.  — 

Wie  mit  den  Organisten,  so  mußte  Siefert  auch  mit  dem  Stadt- 
violinisten sich  auseinander  setzen ,  welcher  bei  Hochzeiten  die 
Leitung  der  Instrumentisten  in  seinen   Händen  hatte.     Daß  Siefert 


1  »Demütige  supplicaiio  der  sämbtlichen  Organisten  dieser  Stadt  die  Kirch- 
spiel haben.c  (Danzig.  Stadtarchiv).  Der  Bescheid  des  Raths  ist  auf  dem  letsten 
Schreiben  Sieferts  vermerkt. 

2  »Demütige  Supplication  des  Paul  Siefert  contra  deßeir  etliche  Mißgönner.« 
(Danzig.  Stadtarchiv).    ^Lect.  1635.  16.  Janu.^ 


w 


Paul  Siefert,  Biographische  Skiize.  419 


ak  intellektnellen  Urheber  dieser  ganzen  Unannehmlichkeit  K.  Förster^ 
ansah,  iaX  bei  dem  erneuten  Ausbruch  des  Streites  mit  diesem  im 
Jahre  1636  erklärlich.  Sieferts  Beschwerde  vom  Jahre  1637  enthält 
wieder  einige  wichtige  Daten : 

»Demnaeh,    so  Kan   ich  .  .  .  nicht  Ynterlaßen,  meine  beschwer 

Tndt  großen  schaden,  so  mir  Von  deir  Caspart  Fornieri  Capellmeisters  seinen  con- 
foederatü,  in  den  aecidentien  der  Hochzeiten  zugefüget,  Bchmertzllchen  zu  Klagen  •  .  ., 
Insonderheit  über  den  Michel  Meyer,  welcher,  weil  er  das  commendo  die  Hoch- 
leiten  anzunehmen,  nach  dem  Seligen  Mr.  Martin  Hintze,  gantz  an  sich  ge- 
zogen, mich  gantz  Vndt  gar  hindangesetzet ,  Yndt  teils  mit  meinen  DMctpdn, 
teils  mit  andere  biß  dato  aufgewartet.  Ja  da  mich  oflFtermals  Vornehme  leute  be^ 
gehret  haben,  er  solches  widersprochen,  Vndt  Vorgewendet,  Er  Vndt  Sokol, 
begerten  mit  mir  nicht  au&u warten.  Welchen  sehaden  ich  Järlioh  rechne  au& 
wenigste  200  Reiohstaler,  so  dieser  Gast  mir  auf  solche  weise,  Vndt  meinen  armen 
Kindern  deren  5  Megdlein,^  so  noch  Viel  bedurffen,  entzogen  .....  dadurch 
dieser  Michel  Meyer,  seinen  eigen  Nutz  suchende,  sich  stattlich  bereichet,  daß  er 
Selbsten  offters  gesagt,  er  habe  genug,  Vndt  achte  der  fidel  nicht  mehr 

Vndt  ist  Ihm  sehr  zuwieder  gewesen,  daß  andere  beßere  Violisten  alhie  Von 
mir,  bey  Einem  Erb.  Hochw.  Raht,  seindt  commendiret  worden,  deßwegen  er  an 
V^nterschiedenen  Örtem,  wo  er  mit  mir  aufzuwarten  zusamen  Kommen,  .... 
mich  bey  dem  inatrument  über  fallen  wollen,  also  daß  Ihn  der  Breutigam  Vndt 
der  braut  bruder  wider  zurük  gestoßen  Vndt  Ihm  zu  frieden  zu  sein  bedreuet,  Er 
aber  da  er  nicht  weiter  gekönt,  gesagt,  des  Gapellmeisters  Knecht  hette  mir  noch 
Viel  zu  wenig  schlftge  gegeben,  er  würde  mir  noch  woU  beßer  geben 

Auch  hat  er  mit  2  seinen  confoederatis  den  Sn.  Engelischen  ViolUten^y 
welchem  ich  auch  bey  meiner  lieben  Obrikeit  befördern  helffen,  dazu  beredet,  er 
aohe  wider  mich  mit  Ihnen  in  ein  hörn  blasen,  so  weiten  sie  alle  seine  gutte 
freunde  sein. 

Solches  sie  auch,  nach  dem  der  Carolo  Farino,  an  seiner  Stadt  angenommen, 
mit  großem  fleiß  zu  Vnterschiednen  mahlen  gesucht^  daß  er  mir  in  allem  zuwieder 

sein  möchte,    auch  nicht  mit  mir  femer  conversiren Vndt  weil  sie  solches 

bey  Carolo  Farino  nicht  erhalten  können,  haben  sie  sich  in  allem  Ihm  zuwieder 
«neiget. 

Derow^en  gelanget  an  £.  E.  Hn.  mein  Vntertheniges  bitten,  sie  geruhen 
.  .  dem  Michel  Mever,  das  Commendo  hochzeiten  anzunehmen,  welches  Ihme  Von 
der  Obrikeit  niemals  zugeordnet,  wie  auch  das  er  nach  seinem  gefallen  die  aclfu- 

tanien  disponiren  mag,   nicht  lenger  zu   concediren ,   sondern  dem  Carolo 

Farino  f  als  einem  weitberühmten  Meister  deme  billig  die  priorUet  für  Ihme  ge- 
büret,  weil  er  solches  mit  der  proha  stets  ostendiren  kan,  großgünstig  zuzuordnen. 

Femer  in  der  Zeit  weil  ich  zu  warsaw  gewesen,^  ist  eine  mwic  auf  dem  Hofe 
[Kniephof]  zu  halten  geordnet,  zu  welcher  sie  2  Organisten  Von  der  Altstadt  ad- 
^Hfiret,  So  nu  solches  eines  Erb.  H.  Rahts  befehl  ist, 'bin  ich  erbötig  .  .  .  solches 
au  hofe  zu  Verwalten.« 


^  VergL  oben  S.  413. 

<  Vergl.  oben  S.  411. 

s  Wie  dieser  Vorgänger  Farinas  hieß,  habe  ich  nicht  ermitteln  können.  Vgl 
übrigens  Viertel] ahrsschr.  f.  Musikw.  1891,  S.  187  f. 

*  Es  geschah  wohl  in  den  Prozeßangelegenheiten  gegen  K.  Förster  jun.  oder 
^egen  des  Breslauer  Erbschaftsstreites. 


420  ^^^  Seifert, 


Die  Zeitumstände  waren  fiir  Siefert  nicht  günstig:  K.  Förster 
hatte  kurz  vorher  seine  große  Anklageschrift  eingereicht,  auf  welche 
Siefert  hier  baldigst  seine  Antwort  verspricht.  Der  Rath  entschied* 
denn  auch  ablehnend:  ein  jeder  könne  sich  nach  seinem  Beheben 
einen  Organisten  nehmen,  und  Siefert  solle  »des  regiminis  der  Mu- 
sicken  sich  nicht  anmassen  vnndt  andere  auffwiegeln.  Die  Musica 
aufim  Hofe  werde  wie  anitzo  femer  continuiret.^  — 

Im  Jahre  1640  erschienen  zu  Danzig  bei  Georg  Rhete,  im  Ver- 
lage des  Autors,  von  Paul  Siefert: 

»Psalmen  Davids,  Nach  Franeöischer  Melodey  oder  Weise  in  Music  oompo- 
nirt,  Tnterschiedliche  Theil  mit  4.  vnd  5.  Stimmen  zu  singen  vnd  mit  allerhand 
InstrumenUra,  zu  gebrauchen,  nebenst  einem  General-^^Q  ....  Erster  Theil«- 

Die  hierin   enthaltenen  Kompositionen  veranlaßten   den  KapeU- 

meister  der  Warschauer  Kapelle,  Marco  Scacchi,  zu  einer  Kritik, 

welche  er  unter  folgendem  Titel  drucken  ließ: 

^Cribrum  muaicum  ad  tritieum  Syferiieumj  aeu  JSxaminatio  succineia  Ptal- 
morum,  quos  non  ita  prtdem  Paulus  Sifertus  Dantiacanus,  in  aede  Parochialt  ibidem 
OrganoeduSf  in  lucem  edidit,  in  qua  clare  et  perspicue  mulia  explicantur,  qvae 
summe  neeessaria  ad  artem  melopoetieatn  esse  solent.     VenetiiSj  1643.^ 

Scacchi  war  durch  den  Warschauer  K.  Förster  über  Siefert« 
Streit  mit  dessen  Vetter  in  Danzig  jedenfalls  orientiert,  wenn  nicht 
schon  durch  den  Danziger  Kapellmeister  selbst,  mit  welchem  Scacchi 
wohl  ebenso  gut  Briefe  wechselte,  als  mit  dessen  Nachfolger  Christian 
Werner.^  Wenn  Scacchi  seine  Kritik  K.  Förster  sen.  widmete, 
so  dokumentierte  er  damit  öffentlich,  daß  er  dessen  Partei  ergriff. 
Am  29.  Ai^ust  1644  verfaßte  Scacchi  noch  einen  Orientierungsbriet 
für  den  Leser  des  tCribrunvi]  der  Brief  wurde  in  der  Kgl.  Druckerei 
zu  Warschau  gedruckt.**  Dem  nCribrumK  sind  am  Schlüsse  y^Xenia 
Apollineav  angehängt;  in  ihnen  theilt  Scacchi  je  einen  Tonsatz  der 
einzelnen  Warschauer  Kapellmitglieder  ^  mit.     Unter  ihnen  befindet 


1  »Demütige  supplication  Pauli  Sieferts«  (Danzig.  Stadtarchiv).  »Lect.  22.  May 
Ao,  1637.« 

^  Vollständiges  Exemplar  auf  der  Danzig.  Stadtbibliothek. 

3  Der  Titel  ist  angegeben  nach  Forkels  A.  L.  d.  M.,  S.  477.  Exemplare 
dieses  und  der  folgenden  Werke  sind  meines  Wissens  in  deutschen  Bibliotheken 
nicht  vorhanden;  dagegen  besitzt  die  Bibliothek  des  Liceo  Musicale  in  Bologna 
Kopieen,  welche  nach  den  Originaldrucken  angefertigt  sind.  Bei  der  Schwierig- 
keit, aus  italienischen  Bibliotheken  nach  Deutschland  etwas  zu  erhalten,  musste 
ich  leider  auf  eine  persönliche  Einsicht  in  jene  Kopieen  verzichten.  Vergl.  Gae- 
tano  Oaspari,  Catalogo  della  Biblioteca  del  Liceo  Musicale  di  Bologna  ...  pu- 
blicato  da  F.  Parisini,  I.  Bologna  1S90,  S.  254.  Auf  diese  Quelle  hat  mich  Hr. 
Dr.  Emil  Vogel  in  Berlin  freundlichst  aufmerksam  gemacht. 

*  Vergl.  Matthesons  Ehrenpforte,  S.  70. 

5  Cbisparo-Parisini,  a.  a.  0. 

«  Vergl.  ihr  Verzeichniß  in  Matthesons  Ehrenpforte,  S.  71  flf. 


Paul  Siefert,  Biographische  Skizze.  421 


sich  ein  »Kaspar  Föistera,  welcher,  wie  schon  angedeutet,^  eben  der 

jüngere  ist. 

Siefert  schwieg  zu  den  Angriffen  nicht  still;  1645  erschien  von 
ihm,  König  Wladislaw  IV.  gewidmet,  in  Danzig: 

*  Anticribratio  musieay  ad  avenam  Se€Uiehianam ,  h.  e.  ocularis  demonstratio 
erasnssimantm  errorum,  quoa  Marcus  Scacchtus ,  Auetor  Libri,  an.  1643.  Venetiis 
editt,  quem  Cribrum  mttsicum  ad  triticum  Syferticum  baptizavit ,  passim  in  eo  com- 
wmty  cum  annexa  Syferti  justa  defensione  honoris  ac  honae  famaSy  adversus  am- 
puäas  ei  falsitates  Scacchianas^  in  usum  studiosorum  MusiceSj  et  defensionem 
vmocentiae  Autoris,  publieae  lud  commissa.«^^ 

Er  sagt  es  auf  Seite  23  denn  Scacchi  auch  ganz  unumwunden, 
daß  das   aOribruma  nur  K.  Försters^  wegen  in  die  Welt  gesetzt  sei:* 

v/n  dedicatione  te  optimum  ^  aptissimum  tutelarem  in  tali  materia  retorquenda 
degisse  narras,  inde  apparet  j*  haec  tela  <$*  calumnias  fol.  52  ab  ipso  [Förster]  pro- 
feeta  esse.  Nam  <$*  Stylus  latinus,  cum  discursu  suo  theoretico^  8f  tela  sua  periculosa 
mihi  noia  sunt.  Sed  quare  in  tuo  libro  omisisti  opera  tui  tutelaris  inter  tot  ex- 
eeUentes  Musicos,  ut  nimirttm  omnibus  constaret  insigniter  sua  a  te  commendata 
praxis  in  tua  epistola  dedicatoriat  teque  de f ender  et  arte,  non  calumniis.  Cum 
cero  ipsius  defensio  artis  tibi  desit,  consilio  meo  vivas  in  pace.« 

Hierauf  antwortete  Scacchi  wiederum.  Von  verschiedenen 
Musikern  waren  ihm  Uitheile  über  das  vCrtbruma  zugegangen.  Diese 
stellte  er  nun  zusammen  und  ließ  sie  als  Antwort  auf  Sieferts  »An- 
ticribratioK  erscheinen : 

»Judicium  Cribri  Musici,  id  est  Litterae  quaedam  certo  tempore  a  Praestantis- 
timis  Artis  Musioae  in  Germania  Professoribus,  et  Peritis  transmissae,  mihique 
Marco  Scacchio  S.  It.  M.  Joannis  Casimvri  Poloniae  ei  Sveeiae  Regis  Capeüae 
Magistro  ahlatae,  a  me  diligenter  coUectfie,  et  ipsismet  Authoribus  ad  maiorem  animi 
henevolentiam  dedicaiae,  atque  consecratae,  —  Varsoviae  In  Ofßcina  Petri  Eiert 
S.  R.  M.  Typographi.«^  o.  J. 

Die  einzelnen  Autoren,   deren  Namen  das  Briefdatum  beigefügt 

ist,  sind: 

»H.  Schütz,   1646,   1648. 

Joh.  Stobaeus,   1646. 

Laurentius  Starck,  1646.® 

Tob.  Michael,  1646. 

Benjamin  Du  eins,  1648.® 

David  Cracowitta  organista,  1646.® 

Christopher  Werner,  1646. 

Matthias  Krinkovius,   1648.® 

Ambrosius  Profe  orffantsta,   1649.     4.  Jan.a 

*  VergL  oben  S.  415. 

*  Titel  nach  Forkel,  A  L.  d.  M.;  vgl.  Gasparo-Parisini,  a.  a.  0. 
8  Verel.  oben  S.  414  und  419. 

*  Nach  Mattheson,  Ehrenpforte,   S.  68  ff. 

5  VergL  Gasparo-Parisini,  a.  a.  O.    Ein  Petrus  Eiert  vird  von  Scacchi  auch 
als  Mitglied  der  Kapelle  auf^efQhrt  (Matthes.  Ehrenpf.  S.  72). 
®  Diese  Männer  sind  mir  nicht  bekannt 


422  ^^^  Seiffert, 


Eine  weitere  Kritik,  wenn  man  es  so  nennen  darf,  findet  sich  in 
der  Überarbeitung  von  Sweelincks  Lehrbuch  durch  J.  A.  Reincken,' 
welcher  gewisse  Dinge  Scacchis  ablehnt.  Reincken  dokumentiert 
dadurch  seine  Bekanntschaft  mit  der  ganzen  Angelegenheit.  — 

Haben  wir  bis  jetzt  Siefert  seine  künstlerische  Stellung  und 
Anschauung,  sowie  die  mit  seinem  Amte  verbundenen  Rechte  ver- 
theidigen  sehen,  so  werden  wir  ihn  jetzt  von  einer  ganz  anderen 
Seite  aus  kennen  lernen.  Wir  müssen  dazu  allerdings  wieder  emige 
Jahre  zurückgehen.  Es  handelt  sich  um  einen  groBen  Erbschafts- 
prozeß, welchen  Siefert  für  sein  Mündel  führte. 

Am  11.  Juni  1627^  machte  der  Rath  der  Stadt  Breslau  in  der 
Erbschaftsangelegenheit  des  yerstorbenen  Adam  Priesterschen  Ehe- 
paares folgende  thatsächliche  Feststellungen.  Am  12.  Juni  1625  war 
der  Goldschläger  Adam  Priestel  und  bald  nach  dem  20.  Juni  sein  Weib 
Anna  an  der  damals  grassierenden  Seuche  gestorben,  ohne  daß  sie 
Kinder  und  Leibeserben  hinterließen  und  ohne  daß  ihre  Hinter- 
lassenschaft inventarisiert  werden  konnte.  Es  wurden  daher  zu 
Kuratoren  ihres  Vermögens  Paul  Priestel  und  der  Goldschläger 
Kaspar  Weiß  bestellt. 

Diese  Kuratoren  machten  nun  dem  in  Danzig  lebenden  Bruder 
des  Adam  Priestel,  Melchior  Priestel,  durch  ein  Schreiben  vom 
16.  November  1625  Mittheilung  von  den  obigen  Vorgängen.  Melchior 
Priestel  aber  sowie  seine  Frau,  eine  Halbschwester  Sieferts,^  waren 
»bey  der  auch  alda  zu  Dauzig  eingerissenen  infecHoim  selbst  inzwischen 
verstorben;  deshalb  eröffneten  die  Vormünder  des  einzigen  zurück- 
gelassenen Kindes j  eines  Töchterchens  Anna,  nämlich  Paul  Siefert 
und  Hans  Schmietelbach  jenes  Schreiben.  Sie  setzten  am  30.  April 
1626  Hans  Lönbach  zu  ihrem  Vertreter  ein  und  verlangten  münd- 
lich durch  ihn,  sowie  auch  schriftlich  genauen  Bericht  über  die 
Hinterlassenschaft  des  Ad.  Priesterschen  Ehepaares.  Schließlich  er- 
schien Paul  Siefert  selbst  in  Breslau  mit  einer  Legitimation  des 
Danziger  Rathes  vom  1.  Mai  1627.  Die  Beschuldigungen,  welche 
Siefert  gegen  die  Administratoren  der  Ad.  Priesterschen  Hinter- 
lassenschaft, besonders  hinsichtlich  der  Verwaltung  der  Liegenschaft 
und  des  PriesteV sehen  Hauses  vorbrachte,  konnte  der  Rath  von 
Breslau  nach  Vernehmung  der  Administratoren  nicht  für  b^ründet 
erachten. 


i  Vergl.  Vierteljahrsschr.  f.  Musikw.  1891,  S.  179  und  182  ff. 

2  »X»6cr  Bxgnaiurarwm,  1627,  foL  70—73.  (Bresl.  Stadtarchiv). 

3  Dies  veTwandtschaftllche  VerhSltniß  geht  aus  dem  Aiher  aignaturarum*  1630, 
foL  45  hervor.    Paul  Sieferts  Vater   muß  also  zweimal  verheirathet  gewesen  sein. 


Paul  Siefert,  Biographische  Skizze.  423 

Darauf  wurde  nun  die  Trennung  der  Priesterschen  Hinterlassen- 
schaft Torgenommen,  nach  dem  Gesichtspunkte,  was  Eigenthum  des 
Ad.  Priestel  und  was  dasjenige  seiner  Frau  gewesen  sei.  Hierbei 
wurde  festgestellt ,  daß  die  Anna  Priestel  das  am  Neustadter  Thurm 
gelegene  Haus  irrthümlieh  als  ihr  Eigenthum  nach  dem  Tode  ihres 
Mannes  betrachtet  hatte,  daß  sie  also  auch  nicht  berechtigt  gewesen 
war,  in  ihrem  Testamente  vom  20.  Juni  1625  (vom  Rathe  publiziert 
am  1 1 .  Oktober)  dieses  Haus  den  Vorstehern  des  gemeinen  Almosens 
IQ  vermachen.  Eigenthümer  sei  vielmehr  als  nächste  Erbin  des 
Ad.  Priestel  das  Mündel  von  Paul  Siefert. 

Nach  Taxierung  der  Hinterlassenschaftsobjekte  und  nach  den 
nöthigen  Abzügen  ergab  sich  als  Eigenthum  des  Mündels  von  Seiten 
Ad.  Priestels  eine  Summe  von  129  Thlr. ,  2  gr.,  V2  Heller.  Was 
dem  Mündel  als  Miterbin  von  Seiten  der  verstorbenen  Anna  Priestel 
zukäme,  ließe  sich  erst  feststellen,  wenn  sich  die  im  Testament  der 
Anna  Priestel  als  Miterben  eingesetzten  Verwandten  gemeldet  hätten. 
Es  wurde  demnach  Paul  Siefert  aufgegeben ,  durch  einen  Vertreter 
die  nächste  Verwandtschaft  der  Frau  zu  eruieren  und  zur  Stelle  zu 
bringen,  oder  sich  mit  den  Kuratoren  der  Hinterlassenschaft,  den 
Vorstehern  des  Almosens  (welche  auch  noch  anderweitig  im  Testa- 
mente bedacht  waren)  und  den  übrigen  Erben  zu  einigen. 

Am  20.  Juni  1627  ^  kaufte  Kaspar  Weiß  das  dem  Mündel  ge- 
Körige  Haus;  der  zwischen  ihm  und  dem  Advokaten  Paul  Schmiedt 
ab  Bevollmächtigten  Sieferts  abgeschlossene  Kaufvertrag  wurde  am 
13.  Juli  in  die  Akten  eingetragen. 

In  einem  Schreiben  vom  23.  Oktober  1630^,  sowie  mündlich 
durch  seinen  Mandatar  Christian  Bemus  und  dessen  Substituten 
Friedr.  Kitzingen  (seit  dem  26,  April  1631  substituiert)  hatte  sich 
Siefert  beim  Breslauer  Käthe  über  die  Kuratoren  des  PriesteFschen 
Nachlasses  beklagt,  daß  sie  dem  Rechtsbescheide  des  Rathes  vom 
U.Juni  1627  nicht  nachgekommen  seien,  und  besonders  über  Kasp. 
Weiß,  daß  er  die  letzten  Kaufgelder,  dem  Kaufvertrag  entgegen, 
iK)ch  nicht  bezahlt  hätte.  Nach  Vernehmung  der  Kuratoren  ent- 
schied der  Rath,  daß  K.  Weiß  die  letzten  Kaufgelder  samt  den 
versprochenen  Zinsen  für  3  Jahre  (vom  18.  Oktober  1628  bis  zum 
6.  Januar  1632)  zu  diesem  letzten  Termin  zu  entrichten  hätte.  Den 
als  Erben  mit  eingesetzten  Anverwandten  der  Anna  Priestel  aus  der 
Herrschaft  Mielitsch,  welche  sich  bisher  aus  verschiedenen  Ursachen 
noch  nicht  legitimieren  konnten,    wurde   ein  letzter  Termin  festge- 


i  nLxber  signaturarum't  1627,  foL  92  f. 
2  »Liber  aignaturarum^  1631,  fol.  62. 


424  ^^^  Seifert, 


setzt.  Am  20.  September  1631  ^  endlich  konnten  sich  die  Mielitschei 
Verwandten  der  Anna  Priestel  durch  eine  Urkunde  der  Stadt  MieUtsch 
vom  20.  Juni,  sowie  auch  durch  Signaturen  in  den  Büchern  der 
Breslauer  Elisabethkirche  genügend  legitimieren.  Als  Miterbberech- 
tigte wurden  sie  neben  dem  Mündel  zur  Hälfte  des  Nachlasses  d(T 
Anna  Priestel  zugelassen. 

Bald  nach  1631  wandte  sich  Siefert,  da  ihm  die  Almosenherren 
in  Breslau  gewisse  Abzüge  bei  der  Auszahlung  der  Gelder  machen 
wollten,  an  den  Danziger  Rath,^  dass  dieser  ein  Intercessionsschreiben 
an  den  Breslauer  Bath  richten  solle.  Dies  geschah,  fruchtete  aber 
wenig.  Siefert  bat  um  ein  zweites  Intercessionsschreiben,  welches 
ihm  auch  am  II.  Oktober  1633^  bewilligt  wurde;  und  nun  kam  die 
Angelegenheit  wieder  in  Fluß. 

Der  Kath  von  Breslau,^  welcher  am  7.  Oktober  1634  genauen 
Bericht  über  die  PriesteVsche  Erbschaftssache  an  den  Rath  von 
Danzig  gesandt  hatte,  wies  auf  eine  dritte  Intercession  desselben 
vom  7.  Dezember  1634  am  6.  Februar  1635  die  Vorsteher  des  ge- 
meinen Almosens  zu  Breslau  an,  die  bei  ihnen  deponierten  233  Thaler 
an  Paul  Siefert  auszuzahlen  und  sich  mit  der  von  Siefert  gebotenen 
Abfindungssunmie  von  20  Thlr.  ^  wenn  sie  auch  mehr  zu  fordern 
berechtigt  wären,  zu  begnügen,  »damit  also  diesen  langwierigen 
streittigkeitten  dermoleinsten  ein  ende  gemacht  werden  möge.  Ob 
auch  wohl  der  zwischen  der  Stadt  Danzig  und  dieser  Stadt  bey  Erb- 
gangsfallen üblicher  abzug  diesfals  zurückbehalten  und  genommen 
werden  solte,  weil  aber  der  Sifriedt  seine  seidthero  angewandte 
mühe  und  auffgewandte  Spesen,  darzu  er  doch  nur  selbst  die  groste 
Uhrsach  gegeben,  so  gar  hoch  beklaget  und  wier  insonderheit  die 
von  Ihr.  Königl.  Majestät^  zue  Polen  hiebeuen  vor  Ihn  eingelegte 
gnädigste  intercession  in  obacht  genommen,  so  wollen  wier  vor  diesmal 
aus  blosser  guttwilligkeit  und  höchstgedachter  Ihr.  Majestät  zue  ehren 
geschehen  lassen,  das  besagte  233  Taler  6  Heller  dem  Sifriedischea 
Mandatario,  ohne  abzug,  passiret  werden  möge.« 

Das  Jahr  1635  führte  so  das  Ende  des  durch  zehn  Jahre  hin- 
durch sich  erstreckenden  Prozesses  herbei.  Am  22.  Juni^  quittierte 
Bartholomäus  Modrach,   Breslauer  Substitut  des  Danziger  Handels- 


i  ebendort,  fol.  124. 

3  »Demütige  Supplication  Pauli  Sieferts«,  o.  J.  (Danzig.  Stadtarchiv). 
3  »Demütige  Supplication  Pauli  Sieferts«    (Danzig.  Stadtarchiv).     «Lectum  11 
Octob.   1C33.« 

^  »Liber  signaturarufm  1634,  fol.  92. 

5  Wladislaw  IV. 

ö  »Liber  signaturarumn  1635,  foL  88. 


Paul  Sieferty  Biographische  Skizze. 


425 


mannes  Peter  Heinrich,  des  Mandatars  Paul  Sieferts,  über  den 
Empfang  der  233  Thaler.  Am  21.  August^  quittierten  auch  die 
Vorsteher  des  gemeinen  Almosens  über  den  Empfang  der  ihnen  von 
Siefert  bewilligten  20  Thaler.  — 

Der  Zwischenfall  mit  Scacchi  hatte ,  wie  es  scheint,  dem  An- 
sehen Sieferts  am  Hofe  zu  Warschau  nicht  gerade  viel  geschadet. 
Im  Jahre  1648  kam  Johann  H.  Casimir  zur  Regierung;  ein  Jahr 
darauf  vermählte  er  sich,  und  Siefert  komponierte  zu  dieser  Feier 
ein  Epithalamium  (Psalm  120]^.  Johann  Casimir  ist  auch  der  zweite 
Theil  der  Psalmen  Sieferts  gewidmet,  welche  1651  auf  Kosten  des 
Autors  bei  Georg  Rhete  erschienen  unter  dem  Titel: 

»Psalmomm  Davidieorum,  Ad  ChiUicam  melodiam  arte  compositorum  Musicali, 
qul  diTersis  sistuntur  partibns,  ä  4.  5.  6.  7.  8  Vocibus  decantandi,  cum  praeviis 
Symphoniis  sonandis,  ut  et  Oeimanicis  Latinisque  Textibus  metriee  Buppoflitis  cum 
Basso  Generali.    Pars  secunda«  ...  .3 

Die  Diskantstimme  dieses  Werkes  enthält  Sieferts  Bild  in  Holz- 
schnitt vom  Jahre  1649.  Gefurcht  ist  seine  Stirn  und  etwas  gebeugt 
die  Haltung  des  Kopfes,  aber  eine  Fülle  weißen  Haares  bedeckt 
Kopf  und  Kinn  des  63jährigen  Greises,  der  uns  mit  klugen  und 
immer  noch  frischen  Augen  aus  dem  Bilde  anschaut.  Es  ist  eine 
sinnige  Huldigung  für  Johann  Casimir^  wenn  Siefert  in  der  rechten 
Hand  ein  aufgeschlagenes  Notenbuch  hält,  auf  dessen  offenen  Blättern 
folgendes  zu  lesen  ist : 


i>Canon  per  arsin  et  Thesin  a  4. 


Cantua  et  Bassus, 


if 


AT  -  J^^' 


^OT    f  o  -  «u  -  U9fl    0«  -  BT  -  un 


ins' 


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1 

Vi  -  vat,   Vi  -  vat     Rex     Jo  -  an  -  nes    Ca  -  si  -  mi 
äUm  et  Tenor, 


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-»♦V- 


rus. 


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j^]-A«;^9X  £0-«U-U9B   Q« 


8i-mi 


==F^ 


ins' 


■2t 


Vi-vat  Rex  Jo-an-nes  Ca 


si^mi 


ms.« 


Im  Jahre  1651   traf  Siefert  auch  ein  schwerer  Schicksalsschlag. 
Seine  »Häußfrau«,   welche  ihm  fiinf  Töchter  geschenkt  hatte,   starb 


^  ebendort,  fol.  45. 

'  Im  2.  Theil  der  Psalmen  nicht  befindlich;  yergl.  Döring,  a.  a.  O. 

'  VoUstftnd«  Exemplar  auf  der  Daniig,  StadtbibÖothek, 

1891.  29 


426  ^*^  Seiffert, 


im  November,  56  Jahre  alt;  am  20.  November  wurde  sie  begraben. ^ 
Während  der  nächsten  Jahre  raifte  der  Tod  auch  Sieferts  Haupt- 
gegner dahin.  K.  Förster  sen.  starb  1652;^  es  folgte  ihm  im  Kapell- 
meisteramte Christian  Werner^  von  1652  bis  1655.  Scacchi,  welcher 
unter  Sigismund  III.  und  Wladislaw  IV.  30  Jahre  lang,*  etwa  von 
1623  bis  1653,  sein  Kapellmeisteramt  verwaltet  hatte,  ging  nach 
Italien  zurück,  wo  er  bald  starb.  Sein  Weggehen  aus  Warschau 
veranlaBte  wohl  auch  dasjenige  K.  Försters  jun.  Dieser  zog  nun  in 
die  weite  Welt  hinaus,^  ging  nach  Italien,  besuchte  Bom  und 
Venedig,  wo  er  vielleicht  Scacchi  noch  einmal  sah.  Er  kehrte  dann 
nach  Danzig  zurück,  wo  er  1655  die  erledigte  Kapellmeisterstelle 
übernahm.  Aber  schon  am  15.  September  1655  quittierte  er  den 
Dienst.  Der  Grund  hierfür  ist  nicht  schwer  zu  ünden.  K.  Förster  jun. 
mochte  es  sehr  bald  eingesehen  haben,  daß  bei  den  früher  zwischen 
ihm  und  Siefert  vorgefallenen  Ereignissen  ein  Zusammenleben  und 
-wirken  besser  vermieden  würde.  Förster  fand  ziemlich  schnell  eine 
neue,  für  ihn  geeignete  Thätigkeit.  Friedrich  III.  von  Dänemark 
wollte  seine  Kapelle  neu  einrichten ;  er  berief  dazu  Förster,  welcher, 
dem  Rufe  folgend,  im  Mai  1656  nach  Kopenhagen  zog;  sein  Nach- 
folger in  Danzig  wurde  Balthasar  Erben  (1658  bisl6S6).  Im  Jahre 
1657  fiel  nun  Karl  X.  von  Schweden  in  Dänemark  ein  und  trotz 
des  Friedens  zu  Boeskild,  1658,  in  demselben  Jahre  noch  einmal. 
Förster  nahm  aus  diesen  und  anderen  Gründen  seine  Entlassung 
und  begab  sich  zum  zweiten  Male  nach  Italien.  Der  Friede  zu 
Oliva,  1660,  führte  wieder  ruhige  Zustände  in  Dänemark  herbei  und 
Förster  übernahm  wieder  das  Kapellmeisteramt.  Aus  Italien  brachte 
er  sich  einen  Organisten  mit,  da  der  Organist  Ewald  Hinsch  aus 
Danzig,  welchen  er  1656  oder  1657  in  die  dänische  Kapelle  hinein- 
gebracht hatte,  1660  »eine  Bedienung  in  Dantzig  an  der  Hauptkirche 
bekommen«.     Da  nun  Siefert  im  Jahre  1666  als  »E.  E.  Rahts  Stipen- 


1  Vgl  S.  411  und  419.  Über  Sieferts  Trauung  und  die  Taufen  seiner  Kinder 
^ar  in  den  Büchern  der  Marienkirche  nichts  su  finden.  Obiges  Datum  iiat  mir 
Herr  Archidiakonus  Bertling  gütigst  mitgetheilt 

*  VergL  StarovolaciuB,  a.  a.  O.  S.  344  f. 

3  Mattheson,  Ehrenpf.  S.  70;  Döring,  z.  Gesch.  d.  Mus.,  S.  55. 

*  Walther,  Lexikon,  S.  543  f. 

5  Vergl.  Mattheson,  Ehrenpforte,  S.  73  ff.  Döring,  z.  Gesch.  d.  M.,  S.  72ff, 
will  die  Lebensführung  K.  Försters  jun.  durchaus  mit  derjenigen  Christopher 
Bernhards  in  Parallele  bringen  und  weicht,  was  die  hier  in  Betracht  kommende 
Zeit  betrifft,  ohne  erkennbare  Gründe  von  Mattheson  ab.  Obige  Darstellung  sucht 
Mattheson's  Erzählung  mit  einigen  mir  von  Herrn  Archidiakonus  Bertling,  allerdings 
auch  ohne  Nennung  der  Quelle,  mitgetheilten  Daten  in  Einklang  zu  bringen. 


Paul  Siefert,  Biograpliisehe  Skizze.  427 

^ata  am  6.  Mai  starb  ^  und  als  sein  Nachfolger  Ewald  Hintze 
(1666  bis  166S),  ein  Schüler  Frobergers,  bezeichnet  wird;  so  liegt  es 
nahe  anzunehmen,  daß  Ewald  Hinsch  und  Ewald  Hintze  identisch 
seien.  Danach  wäre  Ewald  Hintze  ^  1660  Substitut  des  74jährigen 
Siefert  geworden,  welcher  sein  Oehalt  Vom  Bathe  weiterbezog,  und 
im  Jahre  1666  de&sen  wirklicher  Nachfolger.  Am  10.  Mai  1666 
wurde  Siefert  in  der  St.  Marienkirche  begraben,  wo  auch  seine  Frau 
ihre  Ruhe  gefunden  hatte. ^ 

Als  Schüler  Sieferts  wird  uns  außer  dem  oben  erwähnten  Andr. 
Neunaber  noch  Christopher  Bernhard^  genannt,  welcher  hernach 
unter  den  deutschen  Musikern  einen  bevorzugten  Platz  einnahm. 
Es  wird  uns  berichtet,  daß  der  Kapellmeister  Erben  ihn  im  Singen, 
Siefert  ihn  im  Generalbasse  unterrichtete.  Urgiert  man  den  Titel 
jEapellmeistera ,  so  kann  der  Unterricht  frühestens  1658  begonnen 
haben.  Dann  ist  es  aber  auffällig,  daß  Bernhard,  der  1612  geboren 
war,  erst  als  4 6 jähriger  Mann  zum  musikalischen  Studium  gelangte, 
nach  wissenschaftlicher  Ausbildung  strebte  und  daß,  nachdem  er 
bereits  einige  Zeit  sich  in  Dresden  angehalten  hatte,  sich  »sein  Alt 
in  einen  angenehmen  Tenor«  umwandelte.  Dieser  Widerspruch  läßt 
sich  auf  zwei  Wegen  lösen.  Entweder  war  Erben  noch  nicht  Kapell- 
meister oder  das  Geburtsjahr  ist  viel  zu  früh  angesetzt.  Der  erste 
Weg  würde  zu  neuen  Widersprüchen  führen,  auf  dem  zweiten  aber 
löst  sich  alles  glatt.  Wenn  Bernhard  viel  später  geboren  wurde,  so 
war  er  noch  jung  genug,  um  1658  sich  nach  verschiedenen  Seiten 
hin  auszubilden  und  für  die  Zukunft  die  besten  Hoffnungen  zu 
machen ;  dann  konnte  er  den  alten  H.  Schütz  noch  durch  seine  Alt- 
stimme erfreuen.  Für  die  Unrichtigkeit  des  Geburtsjahres  spricht 
auch  die  Thatsache,  dass  sein  »opus  primumv  1665  erst  zu  Dresden 
erschien.  Wie  dem  auch  schließlich  sei,  soviel  geht  aus  diesen  An- 
deutungen hervor,  daß  unsere  Quellen  in  diesem  Falle  sehr  der 
Bestätigung  bedürfen.  Daß  Sieferts  Anregungen  bei  Bernhard  auf 
guten  Boden  fielen,  ist  bereits  bemerkt  worden.^ 


Wir   blicken  zurück   auf  das   eigenartige  Künstlerbild,   welches 
sich  vor  unsem  Augen  entrollt  hat.     Ein  Künstler  mit  allen  seinen 


1  Döring,  Z.  Gesch.  d.  M.,  S.  200. 

^  Dem  Namen  »Hintze«  begegneten  wir  schon  oben  S.414    und  419. 

3  Nach  Mittheilung  des  Herrn  Archidiakonus  Bertling. 

*  Die  beiden  Quellen   für  Bernhards  Leben   sind  bisher  nur  Walther  und 
Matthesons  Ehrenpforte. 

*  Vergl.  Vierteljahrsschr.  f.  Musikw.  1891,  S.  180. 

29* 


428  ^^^^  Seiffert, 


Vozzügen  und  Schwachen  war  wohl  Paul  Siefert.  Ein  starkes  Bechts- 
gefuhl,  mit  Zähigkeit  und  Hartnäckigkeit  verbunden,  bildet  den 
Grundsug  seines  Charakters.  Damit  paarte  sich  ein  leicht  verletzter 
KünstlerstolS;  und  es  entstand  ein  Streit,  der  fast  3  Jahrzehnte  hin- 
durch beiden  betheiligten  Männern  die  Beru&freudigkeit  vermindern 
muBte;  —  Sorge  um  das  Wohlergehen  der  FandJie,  und  auch  der 
Verkehr  mit  den  Berufsgenossen  ward  preisgegeben;  —  Sorge  för 
das  Recht  des  Mündels,  und  keine  Geringeren,  als  einen  mächtigen 
König  und  eine  mächtige  Stadt  wuBte  er  zu  Wlfe  zu  rufen. 

Es  ist  bedauerlich,  dass  wir  von  liefert  auBer  den  beiden  Fsal- 
menwerken  nichts  sonst  besitzen.  Freilich  würden  wir,  wenn  wir 
diese  mit  den  Yokalkompositionen  Sweelincks  und  seiner  Schüler 
zusammen  betrachten  wollten,  an  jenen  fiir  diese  eine  Seite  der 
künstlerischen  Bethätigung  gerade  genügend  ausreichendes  Material 
besitzen;  aber  dann  fehlt  uns  immer  noch  die  Anschauung  von 
Sieferts  rein  instrumentaler  Kompositionstüchtigkeit.  Denn  daS 
Siefert  mit  seinen  Orgelkompositionen  eine  von  dexjenigen  seiner  Mit- 
schüler in  manchen  Punkten  ziemlich  abweichende  Weiterbüdung 
der  Sweelinck'schen  Kunst  vornahm,  glaube  ich  seinem  ganzen  Bil- 
dungsgang entnehmen  zu  können.  Es  wäre  somit  nur  dringend  zu 
wünschen,  daB  die  Forschung  nach  Sieferts  Kompositionen  systematisch 
ins  Werk  gesetzt  wird.  Sollte  das  Glück  einige  wieder  zu  Tage 
fördern,  wir  würden  sie  freudigst  begrüBen, 


Kritiken  nnd  Eeferate. 


Carl  Stumpf,    Tonpsychologie.      Zweiter  Band.      Leipzigs 
Teilag  von  S.  Hirzel.   1890.  8.  XIV  und  582  Seiten. 

Darf  es  in  der  Regel  ah  eine  Hauptaufgabe  jedes  litterarischen  Berichtes  gelten, 
«ber  neuen  Veröffentlichung  das  Interesse  jenes  Leserkreises  zuzuwenden,  auf 
welchen  dieselbe  ihrer  Natur  nach  Anspruch  hat,  so  finde  ich  mich  in  der  ange- 
nehmen Lage,  die  Arbeit  in  dieser  Hinsicht  bereits  gethan  anzutreffen.  Wenigstens 
steht  zu  hoffen,  daß  der  erste  Band  des  Werkes ,  dessen  zweiter  den  Gegenstand 
der  folgenden  Besprechung  ausmacht,  diesem  letzteren  das  Interesse  aller  Sach- 
kundigen in  zuverlässigerer  und  dauernderer  Weise  gesichert  haben  wird,  als  irgend 
eine  litterarische  Anzeige  es  vermöchte.  Sofern  man  überdies  von  einer  solchen 
Aufschluss  aber  die  im  Grunde  freilich  nicht  sehr  wichtige  Stellung  zu  verlangen 
pflegt,  welche  der  Berichterstatter  der  Püblication  gegenüber  einnimmt,  habe  ich 
wenigstens  den  Lesern  der  »Yierteljahrsschrift«  nichts  mitzutheilen,  was  nicht  bereits 
meiner  Besprechung  des  ersten  Bandes  ^  zu  entnehmen  war.  Das  dort 
Gesagte  könnte  ich  heute  höchstens  noch  nachdrücklicher  wiederholen : 
denn  jener  erste  Band  ist  mir  in  den  Jahren  seither  ein  Handbuch 
geblieben ,  dessen  vielfältige  Brauchbarkeit  mich  noch  so  manches  Mal 
überrascht  hat:  daß  aber  Gewissenhaftigkeit  und  Fleiß,  Umsicht  und  Scharfsinn 
des  Verfassers  dem  zweiten  Bande  gleichen  Charakter  und  in  so  weit  gleichen 
Werth  verbürgt,  darüber  scheint  es  unnöthig,  Worte  zu  verlieren.  Speciell  der  eben 
berührten  Verwendung  als  psychologisches  Nachschlagebuch  wird  nunmehr  ein 
Sachregister  über  beide  Bände  besonders  zu  Statten  kommen,  durch  welches  einem 
im  Referate  über  den  ersten  Band  ausgesprochenen  Wunsche  in  dankenswerther 
Weise  entgegengekommen  erscheint.  Sofern  indess  der  Verfasser  dies  mit  einigen 
^e  Disposition  dCs  ersten  Bandes  kritisirenden  Bemerkungen  in  Znsammenhang 
bringt,  indem  er  meint,  »mit  Hilfe  des  Registers  kann  sich  nun  Jeder  nach  Be- 
darf das  Buch  unter  verschiedenen  Gesichtspuncten  umschreiben«  (Vorrede  S.  VI], 
80  habe  ich  dieser  wunderlichen  Wendung  entgegenzuhalten,  dass  Umschreiben 
wie  Schreiben,  so  weit  es  einmal  die  Sache  erfordern  sollte,  jederzeit  Aufgabe  des 
Autors  bleibt,  im  gegenwärtigen  Falle  aber  die  allem  Anschein  nach  im  Obigen 
hervortretende  Empfindlichkeit  des  Verfassers  durch  den  leichten  Dissens  in  einer 
▼on  Natur  ziemlich  unwichtigen  Angelegenheit  denn  doch  nicht  ausreichend  moti- 
Tirt  sein  dürfte.  Ich  will  darum  selbst  aiff  die  Gefahr  hin,  abermals  anzustossen, 
nieht  verschweigen,  daß  auch  im  gegenwärtigen  zweiten  Bande  die  Disposition 
nicht  dasjenige  ist,  was  mich  daran  am  meisten  befriedigt.  Dieser  Band  behandelt 
ausschliesslich  die  Frage :  Wie  verhält  sich  unser  Bewußtsein  gegenüber  mehreren 
^elchzeitigen  Tönen,  abgesehen,  noch  von  aller  eigentlich  musikalischen  Auffassung?« 


Vgl  Bd.  I  dieser  Zeitschrift  (1885),  S.  127  ff. 


430  Kritiken  und  Referate. 


(S.  VI);  soweit  liegt  Alles  völlig  klar:  nicht  das  Nämliche  möchte  aber  von  der 
Gliederung  des  diesem  Gesichtspuncte  unterstehenden  Stoffes  gelten,  an  deren 
Detail  mir  wenigstens  Manches  nicht  sofort,  Anderes  überhaupt  nicht  verständlich 
geworden  ist  Hinter  der  sachlichen  Wichtigkeit  des  Gebotenen  tritt  natürlich  dieses 
fast  formelle  Moment  auch  hier  sehr  in  den  Hintergrund;  auch  könnte  es  immer- 
hin sein,  daß  Änderungen  in  der  Anordnung  Unzukömmlichkeiten  zur  Folge  haben 
müßten,  denen  der  Verfasser  mit  gutem  Vorbedacht  entgangen  ist  Jedenfalls  aber 
wird  die  Inhaltsübersicht,  in  deren  Beibringung  ich  auch  diesmal  meine  erste 
Berichterstatterspfiicht  erblicke ,  unter  den  eben  gekennzeichneten  Umstän- 
den am  besten  jeden  der  dreizehn  Paragraphen  abgesondert  behandeln,  ihren 
Beziehungen  zu  einander  aber  nur  gelegentliche  Berücksichtigung  zu  Theil  werden 
lassen. 

Nach  einigen  »Vorbemerkungen«,  welche  theils  der  Terminologie  dienen,  theils 
dem  bereits  im  ersten  Bande  definirten,  für  die  Untersuchungen  des  zweiten  Bandes 
aber  besonders  wichtigen  Begriffe  der  »Analyse  oder  Zerlegung«  ^  gewidmet  sind, 
wendet  sich  der  Verfasser  in  den  §§16  und  17  sogleich  dem  Hauptprobleme  dieses 
Bandes  zu,  welches ,  da  das  Empfindungsmaterial  durch  Analyse  nicht  wohl  ver- 
ändert werden  kann  [S.  9  ff.),  in  der  Frage  Ausdruck  findet:  »Werden  bei  gleich- 
zeitiger Einwirkung  mehrerer  einfacher  Wellen  mehrere  oder  nur  ein  Ton  em- 
pfunden? Und  wie  erklärt  sich  im  ersten  Fall  die  Auffassung  der  Mehrheit 
als  Einheit  im  letzten  Fall  die  Auffassung  der  Einheit  als  Mehrheit?«  (S.  12;. — 
Die  Einwirkung  als  nicht  zu  kurz  dauernd  angenommen,    involvirt  diese  Frage 

drei  mögliche  Auffassungen :  »es  können entweder  mehrere  Empfindungen 

gleichzeitig,  oder  nur  eine  Empfindung,  oder  mehrere  Empfindungen  nach  einander 
vorhanden  sein«,  in  welch'  letztem  Falle  »die  einzelnen  Töne  ...  in  einem  soge- 
nannten Wettstreit  gehört  würden  und  .  .  .  nicht  ihre  Mehrheit,  sondern  nur  ihre 
Gleichzeitigkeit  Täuschung  wäre»,  (ibid.).  Die  sonach  in  Frage  kommende  Mehr- 
heits-,  Einheits-  und  Wettstreitslehre  werden  nach  ihrem  Für  und  Wider  aufs  Sorg- 
fältigste erwogen  (S.  13  ff.).  Dabei  erweisen  sich  die  Gründe  gegen  die  beiden 
letzten  Ansichten  als  durchschlagend  (S.  23  ff.) ,  so  daß  §  17  nur  noch  die  Schein- 
gründe zu  Gunsten  der  beiden  Ansichten  zu  beseitigen,  (S.  40  ff.),  namentlich  aber 
die  Argumente  gegen  die  Mehrheitslehre  zu  widerlegen  hat,  um  letztere  endgiltig 
sicher  zu  stellen.  Vor  den  Augen  [oder  Ohren)  etwa  des  praktischen  Musikers  oder 
sonst  eines  theoretisch  Naiven  mag  zwar  diesen  Argumenten  von  Haus  aus  wenige 
Überzeugungskraft  eignen;  doch  kommen  bei  ihrer  eingehenden  Widerlegung  ein 
paar  psychologisch  sehr  wichtige  Angelegenheiten  zur  Sprache.  Das  erste  Argu- 
ment [zwei  gleichzeitige  Töne,  denen  man  doch  nicht  verschiedene  Orte  zuschreibt, 
sind  so  unannehmbar  als  etwa  zwei  Farben  zu  gleicher  Zeit  am  gleichen  Orte),  von 
vornherein  kraftlos  unter  der  [empiristischen)  Voraussetzung,  »daß  den  Tönen  an 
und  für  sich  in  der  Empfindung  gar  kein  Ort  zukomme«,  sondern  dieser  erst  nach- 
träglich mit  Hilfe  der  Erfahrung  hinzuassociirt  wird,  (S.  43),  betrifft  auch  die  ent- 
gegengesetzte (nativistische)  Auffassung  nur,  falls  diese  »den  sämmtlichen  Tönen^ 
wenigstens  denen  des  nämlichen  Ohres,  einen  gemeinsamen  unveränderlichen  Ort« 
zuschreibt.     »Läßt  man  dabei  für  das  rechte  und  linke  Ohr  noch  eine  verschiedene 


1  Der  übereinstimmend^  mit  Bd.  I.  S.  96  gegebenen  Definition:  »Analyse  ist 
Wahrnehmen  einer  Mehrheit«  muß  ich  entgegenhalten,  daß  sie  mir  auch  noch  in 
anderem  als  dem  vom  Verfasser  selbst  ebenda  vermerkten  Sinne  »weit«  scheint 
Um  in  drei  Faukenschlägen  oder  Kanonenschüssen ,  die  hinter  einander  abgegeben 
worden  sind,  Mehrheit  wahrzunehmen,  dazu  möchte  nach  gewöhnlichem  und  meines 
Erachtens  auch  natürlichem  Sprachgebrauche  weit  eher  Synthese  als  Analyse  er- 
forderlich sein« 


Stumpf,  Tonspychologie.  431 


Ortsempfindung  bestehen«,  so  ist  zwischen  einem  Tone  im  rechten  und  einem  im 
linken  Ohre  jedenfalls  strenge  Gleichzeitigkeit  möglich,  und  dann  lehrt  das  Experi- 
ment, daß  die  betreffenden  zwei  Töne  auch  auf  ein  Ohr  keinen  wesentlich  anderen 
Eindruck  machen^  (S.  45  f.).  Zieht  sich  jedoch  der  Gegner  auf  die  Annahme  zu- 
rück, daß  auch  »die  Töne  des  rechten  und  linken  Ohres  nur  einen  gemeinsamen 
Ort  in  der  Empfindung«  besitzen,  dann  muß  endlich  auch  die  Berechtigung  des 
Princips  der  Beweisführung  selbst  zur  Sprache  kommen.  »Auf  welchem  Wege 
leuchtet  es  denn  ein,  daß  gleichzeitige  Empfindungen  eines  Sinnes  nothwendig  ver- 
schieden localisirt  sein  müssen?-  Inductiv  aber  l&ßt  sich  nicht  von  vier  Sinnen 
emua  incognita  kurzweg  auf  den  fünften  schließen,  zumal  auch  die  Thatsachen  bei 
den  betreffenden  Sinnen  gar  nicht  unbestritten  sind,  und  der  Analogie  zwischen  den 
Terschiedenen  Sinnen  bei  ihrer  sonst  so  weitgehenden  Verschiedenheit  ein  erheb- 
liches Gewicht  nicht  beigemessen  werden  kann  (S.  46  ff.).  Überdies  zeigt  ein  »Ex- 
curs  über  die  räumlichen  Eigenschaften  der  Tonempfindungen«  (S.  50  ff.),  daß  bei 
diesen  streng  genommen  nur  von  einem  »Pseudo-Kaum«  (S.  58)  die  Rede  sein 
kann.  Zwar  eignet  ihnen  ein  »immanentes  Moment«,  das  »neben  Qualität  (Höhe) 
and  Intensität  als  ein  drittes  genannt  werden  muß,  um  die  Tonempfindung  voll- 
ständig zu  beschreiben.  Bezeichnen  wir  es  vorläufig  mit  räumlichen  Ausdrücken, 
80  ist  weiter  zu  sagen,  daß  es  nur  zwei  Unterschiede  des  Ortes  aufweist,  welche 
den  Tönen  des  rechten  gegenüber  denen  des  linken  Ohres  eigen  sind,  außerdem 
aber  zahbeiohe  Unterschiede  der  Ausdehnung,  welche  im  Allgemeinen  parallel  der 
Höhe  der  Tonqualitäten  jedes  Ohres  abgestuft  sind«  (S.  51).  Zu  Gunsten  solcher 
räumlichen  Bezeichnungsweise  führt  der  Autor  auch  Gründe  an  (S.  59) :  »aber  es 
wäre«,  wie  er  meint,  »auch  nichts  einzuwenden,  wenn  einer  für  die  besprochene 
Seite  der  Tonempfindungen  einen  besonderen  Ausdruck  erfinden  will,  mir  ist  nur 
kein  passender  eingefallen« ^  (ibid.)  Jedenfalls  ist  sonach  dargethan,  daß  auch 
der  Grundgedanke  des  fraglichen  Argumentes  auf  das  Tongebiet  unübertragbar  ist. 


1  Was  das  Experiment  hier  allein  ergeben  kann,  ist  der  Schein  der  Überein- 
stimmung zwischen  ein-  und  zweiohrigem  Hören,  und  es  fragt  sich  eben,  ob  dieser 
berechtigt  ist  Darum  wird  das  Beweismittel  gerade  demjenigen  gegenüber  ver> 
sagen,  bei  dem  allein  ein  Bedürfniß  danach  vorhanden  wäre. 

2  Wie  aber,  wenn  man  »Sinn«  durch  >»Qu alitäten-«  oder  »Inhalts-Continuum«  er- 
setzte? Zwei  Farben  (im  weitesten  Sinn)  zugleich  am  selben  Orte  —  Grenzen  ge- 
hören natürlich  nicht  hierher  —  halte  ich  für  schlechthin  unverträglich,  ob  sich 
nun  dafür  mögen  Gründe  beibringen  lassen  oder  nicht. 

3  Daß  die  Daten  des  rechten  und  linken  Ohres  durch  keine  Erfahrung  räum- 
lich verwerthbar  gemacht  werden  könnten  ohne  ein  den  Empfindungen  jedes  der 
beiden  Ohren  als  solchen  immanentes  (oder  wenigstens,  wie  noch  beizufügen  wäre, 
mit  ihnen  besonders  eng  verknüpftes)  Merkmal,  scheint  mir  durch  den  Verfasser 
unwiderleglich  dargethan.  Ob  er  dagegen  in  Sachen  der  »Ausdehnung«  seine  Po- 
sition aus  Bd.  I  mit  Recht  aufgegeben  nat?  Daß  hohe  von  tiefen  Tönen  sich  noch 
in  Anderem  unterscheiden  als  in  der  Tonhöhe,  einer  solchen  Annahme  scheint 
directe  Empirie  allerdings  in  hohem  Grade  günstig.  Schwerer  möchte  es  fallen, 
sich  hier  wie  dort  von  der  Räumlichkeit  oder  »Raumähnlichkeit«  der  betreffenden 
Daten  zu  überzeugen.  Jedenfalls  scheint  mir  die  Anwendung  räumlicher  Bezeich- 
nungen unter  den  vom  Autor  selbst  charakterisirten  Umständen  nichts  weniger  als 
»secundär«  (S.  51),  weil  sie  irreführen  kann.  Was  berechtigt  insbesondere,  wenn 
man  dieses  terminologische  Band  bei  Seite  läßt,  das  Ei^enthümliche  des  Rechts- 
oder Linksgehörten  mit  dem  Quasi-*Ausdehnung3unterschied  tiefer  und  hoher  Töne 
unter  denselben  Titel  zu  rangiren  ?  Was  der  Erfasser  über  die  »räumlichen  Eigen- 
schaften der  Tonempfindungen«  festgestellt  hat,  läßt  sich  meines  Erachtens  ein- 
deutig eher  dahin  resumiren,  daß  man  nicht  das  geringste  Recht  hat,  von  solchen 
Eigenschaften  zu  reden. 


432  Kritiken  und  Eeferate. 


—  Bas  zweite  Argument  (im  Falle  einer  Mehrheit  gleichseitiger  Töne  müßten  diege 
«leichter  unterscheidbar  sein  als  aufeinanderfolgende,  da  xwei  Inhalte  um  so  leiditer 
in  irgend  einer  Beziehung  unterschieden  werden,  je  mehr  sie  in  den  übrigen  Be- 
ziehungen gleich  sind« ,  Erfahrung  lehrt  aber  das  Gegenteil  —  S.  60 ,  Tgl.  S.  22) 
vermöchte  in  seiner  KünstHchkeit  meines  Erachtens  wohl  niemanden  der  Mehr- 
heitsansicht abspenstig  zu  machen  ^ ;  doeh  bietet  es  dem  Verfasser  Gelegenheit  su 
ersten  Aufstellungen  über  das  wichtige  VerhSltniß  der  Verschmelzung  gleichzeitiger 
Empfindungs-Inhalte  (S.  64),  vermöge  dessen  die  betreffenden  Qualitäten,  ohne  »im 
Geringsten  verfindert,  geschweige  denn  zu  einer  einzigen  neuen  Qualität  umge- 
wandelt« zu  werden,  gleichwohl  zu  einer  »engeren  Einheit«  zusammentreten.  Wa« 
dieses  Moment  für  die  gegenwärtige  Frage  eigenüieh  zu  bedeuten  hat,  dürfte  seine 
Position  im  Scheingefechte  der  Gründe  und  Gegengründe  kaum  ausreichend  zur 
Geltung  konmien  lassen:  denn  viel  wichtiger  als  die  Eignung,  einen  Beweis  als 
hinfällig  darzuthun,  der  ohnehin  niemanden  überzeugt,  ist  meines  Erachtens  der 
Umstand,  daß  der  Hinweis  auf  die  Tonverschmelzung  demjenigen  wirklichen  Be- 
dürfhisse Rechnung  trägt,  welches  vor  aller  dialektischen  Kunst  und  mächtiger  als 
diese  zur  Einheitsansicht  hindrängt.  Die  Empirie  zeigt  im  Zusammenklange  eine 
unverkennbare  Einheit;  darum  wird  eine  theoretische  Ansicht,  welche  nur  von 
Mehrheit  wissen  will,  am  Ende  auch  den  Musikalischen  nicht  zufriedenstellen:  erst 
indem  er  erkennt,  daß  was  zu  einer  Einheit  verschmolzen  ist,  immer  noch  eine 
Mehrheit  von  Empfindungen  sein  kann,  vermag  ihm  die  durch  diesen  Beisatz  rid- 
leicht  nicht  theoretisch,  (vgl.  S.  66),  sicher  aber  praktisch  modifcirte  Mehrheitsan- 
sicfat  zu  genügen.  ^  —  Nachdem  so  die  unerläßlichen  Voraussetzungen  aller  Klang- 
Analyse  sichergestellt  sind,  wendet  sich  der  Autor  zu  den  Bedingungen  dersdben. 
Von  den  psychologischen  Bedingungen  konmit  an  dieser  Stelle,  ohne  daß  der  Grund 
dieser  Auswahl  ersichtlich  gemacht  würde,  der  Einfluß  der  Erfahrung  (S.  69  fL, 
zunächst  polemisch  gegen  Helmholtz),  dann  der  Einfluß  des  Klang-  oder  Har- 
moniegefühls (S.  81  ff.)  zur  Sprache:  beiden  Momenten  wird  eine  entscheidende 
Bedeutung  für  die  Analyse  mit  Becht  abgesprochen.  Dabei  steht  der  Grund  für 
die  Ablehnung  der  zweiten  Eventualität  dem  Interesse  des  Musikers  besonders 
nahe.  Harmoniegefühl ,  meint  der  Verfasser ,  setzt  jederzeit  bereits  Analyse  vor- 
aus :  Belege  bieten  Quintenparallelen,  die  nur  denjenigen  stören,  der  sie  als  solche 
erkennt,  und  mehrdeutige  Accorde  (z.  B.  der  Dominantseptimenaccord  von  ^-dur 
und  der  wenigstens  auf  dem  Klavier  gleichklingende  übermäßige  Quintsextaccord 
über  der  vierten  Stufe  von  C-dur},  wo  die  Verschiedenheit  der  an  sie  geknüpften 
Gefühle  von  der  Auflassung  im  einen  oder  anderen  Sinne  abhängt.  ^     Die  »physi- 


^  EntsoJiiedenere  Stellungnahme  des  gegen  gegnerische  Positionen  sonst  manch- 
mal sehr  entschiedenen  Autors  wäre  hier  der  Klarheit  dienlich  gewesen.  Wie  zu- 
mal »das  Princip  des  Argumentes  ....  unangetastet«  bleiben  (S.  67  AnnL)  kann, 
oder  gar  muß,  nachdem  Verfasser  selbst  dargethan,  daß  es  für  alle  gleichzeitigeD 
Empfindungen  nicht  zutrifit,  ist  aus  sachlichen  Gründen  schwer  einzusehen.  Aber  es 
hat  auch  sonst  an  manchen  Stellen  dieses  Bandes  den  Anschein,  als  ob  es  dem  Ve^ 
fasser  geradezu  darum  zu  thun  wäre,  sich  zu  einer  Art  Parteistellunff  zu  bekennen. 

^  Ungefähr  so  ist  es  wenigstens  mir  selbst  ergangen.  Erst  Mehrheitsansieht, 
dann  um  so  mehr  Neigung  zur  Einheitstheorie,  je  mehr  ich  auf  psychiaehe 
Complexionen  achten  lernte.  Im  Augenblicke,  da  ich  durch  vorliegendes  Buch 
angere^,  in  der  Octave  das  Verschmelzungs  -  Phänomen  erfaßt  hatte,  war  alle 
theoretische  Schwierigkeit  beseitigt. 

3  Verfasser  anticipirt  damit  später  näher  darzulegende  Ergebnisse,  über  die 
man  sich  darum  ein  abschließendes  Urtheil  noch  nicht  wohl  bilden  kann.  Weil  es 
mir  aber  nicht  darum  zu  thun  ist,  Recht  zu  behalten,  sondern  der  Weiterführung 
der  Untersuchung  förderlich  zu   sein ,   verschweige  ich  nicht ,    daß  mir  der  Sat« : 


Stumpf,  Tonpsychologie.  433 


oiogischen  Vorauseetzungen  der  Klanganalyse«,  im  Besonderen  die  Hypothese  der 
»SehneekenclaviatuT«  und  die  Theorie  der  spezifischen  Energien,  für  welche  der 
Autor  mit  bekannter  Sach-  und  Literatur  kenn  tnis  eintritt ,  bilden  im  §  18  (S.  86 
ff.)  den  Gegenstand  physiologisch  wie  psychologisch  werthvoUer  Erörterungen. 

In  den  §§19  und  20  erf&hrt  das  in  §  17  doch  nur  nebenher  berührte  Phä- 
nomen der  Tonverschmelzung  jene  Würdigung  exjprofesso,  welche  der  Wichtigkeit 
und  Neuheit  der  Sache  angemessen  ist.  Mit  Rücksicht  namentlich  auf  den  letzt- 
erwähnten Umstand  sei  hier  jedoch  yor  Allem  der  Hinweis  des  Autors  auf  die 
Unentbehrlichkeit  directer  empirischer  Kenntnißnahme  (S.  129}  vom  Standpuncte 
des  litterarischen  Berichterstatters  besonders  nachdrücklich  wiederholt:  ich  wüßte 
nicht,  wie  die  folgenden  dürftigen  Mittheilungen  ihren  Zweck  gründlicher  verfehlen 
könnten ,  als  wenn  jemand  versuchte,  auf  Grund  derselben  statt  auf  Grund  von 
Experiment  und  Beobachtung  zu  einem  Urtheil  zu  gelangen.  Verschmelzung  nennt 
der  Autor  (mit  £.  H.  Weber,  vgl.  S.  65)  »dasjenige  Verhältniß  zweier  Inhalte, 
speeiell  Empfindungsinhalte,  wonach  sie  nicht  eine  bloße  Summe  sondern  ein  Ganzes 
bilden«  (S.  128) ;  der  Ausdruck  wird  mithin  weder  im  Sinne  Herbart's  noch  im 
Sinne  Wandt' s  ^  angewendet  Die  Ton  Verschmelzung  insbesondere  weist  verschiedene 
Stufen  auf,  d.  h.  »Gradunterschiede  .  .  .  .,  die  doch  nicht  stetig  vom  höchsten  bis 
zum  niedrigsten  Grade  in  einander  übergehen«  (S.  135  f.)*  Verfasser  macht,  von 
der  »stärksten«  Stufe  beginnend,  namhaft:  1.  Octave,  2.  Quinte,  3.  Quarte,  4.  die 
sog.  natürlichen  Terzen  und  Sexten  (groß  und  klein),  5.  »alle  übrigen  musikalischen 
und  niehtmusikalischen  Toneombinationen«  (innerhalb  der  Octave),  unter  denen 
höchstens  der  sog.  natürlichen  Septime  ein  etwas  höherer  als  der  niedrigste  Ver- 
schmelzungsgrad zukommen  könnte.  Weitere  Gesetzmäßigkeiten  (S.  136  ff.):  a. 
•Der  Verechmelzungsgrad  ist  unabhängig  von  der  Tonregion«,  b.  unabhängig  von 
der  absoluten  wie  relativen  Tonstärke,  c.  er  wird  durch  Hinzufügen  eines  beliebigen 
dritten  und  weiteren  Tones  nicht  beeinflußt  (speciell  Obertöne  und  Klangfarbe 
ändern  also  nichts  am  Verhalten  zweier  Grundtöne; ,  d.  Abweichungen  von  den  zu 
obengenannten  Intervallen  gehörigen  Verhältnißzahlen  erzeugen,  wenn  sehr  klein,  keine 
merkliche  Änderung  imVerschmelzungsgrade:  Vergrößerung  dieser  Abweichungen  aber 
führt  auf  die  niedrigste  Verschmelzungsstufe,  ohne  die  etwaigen  Zwischenstufen  (ver- 
stimmte, unreine  Intervalle) ,  e.  Verschmelzung  behält  ihren  Grad,  wenn  nicht  beide  Töne 
demselben  Ohr  geboten,  f.  wenn  sie  nur  eingebildet  vorgestellt,  g.  wenn  die 
Sehwingungsverhältnisse  um  eine  oder  mehrere  Octaven  erweitert  werden.  ^     Den 


»Kein  Hannoniegefühl  ohne  Analyse«  in  seiner  Allgemeinheit  derzeit  sehr  angreif- 
bar seheint,  nicht  minder  die  Beweiskraft  der  gebrachten  Beispiele  im  Besonderen. 
Verschiedenheit  der  Gefühle  beim  nämlichen  Zusammenklang  scheint  mir  nur  dar- 
auf hinzuweisen,  daß  für  diese  Gefühle  jedesmal  auch  noch  der  (etwa  in  Gedanken 
Torweggenommene]  Auflösunesfall  maßgebend  ist.  Bezüglich  der  Quinten  spricht 
^egen  den  Autor  die  an  schleuderhaft  oder  allzu  »frei«  gearbeiteten  Folyphonien 
XU  machende  Erfahrung ,  daß  der  arglose  Zuhörer ,  dem  es  eben  noch  ganz  fem 
lag,  die  einzelnen  Stimmen  besonders  verfolgen  zu  wollen,  sich  plötzlich  durch 
etwas  aufgestört  findet,  was  er  nun  nachträglich  als  Quintenfolge  erkennt.  — 
Immerhin  könnten  aber  Tonfolgen  der  Ansieht  des  Verfassers  günstiger  sein;  wie 
aber  läßt  sie  sich  auf  alle  eigentlichen  Zusammenklanggefühle  ausdehnen? 

i  In  der  Polemik  gegen  letzteren  hätte  wohl  hier  und  sonst  manches  auch 
weniger  aggressiv  vorgel^acht  werden  können,  vielleicht,  dass  es  dann  derzeit 
auch  um  einen  Gelehrtenstreit  weniger  gäbe,  oder  dieser  doch  minder  unerfreu- 
lichen Verlauf  genommen  hätte. 

*  Versuche,  die  zunächst  nur  zur  Selbstbelehrung  bestimmt  waren,  haben  mich 
auf  Ergebnisse  geführt,  die  von  diesen  Aufstellungen  zum  Theil  nicht  unerheblich  ab- 
weichen. Ich  hoffe  Näheres  hierüber  demnächst  an  anderer  Stelle  mittheilen  zu  können. 


434  Kritiken  und  Referate. 


diiecten  Beobachtungen  hierüber  hat  Verfasser  Controlversuche  an  Unmusikalischen 
(S.  142  ff.)  zur  Seite  gestellt,  ausgehend  von  der  Voraussetzung,  daß  »die  verschiedenen 
Verschmelzungsgrade  .  .  .  sich  in  ebenso  verschiedenen  Graden  der  Schwierigkeit  der 
Analyse  kundgeben«  müssen,  daß  sonach  stärker  verschmelzende  Toncombinationen  ce- 
teris  parihus  seltener  als  zwei  beurtheilt  werden  als  weniger  stark  verschmelzende:  die 
mit  großer  Sorgfalt  angestellten  und  discutirten  Experimente  bestätigen  im  Allge- 
meinen die  obigeStufenreihe  derintervalle ;  zugleich  führen  sie  auf  dieVermuthung,  »daß 
mit  zunehmender  Verschmelzung  zugleich  der  Abstand  zwischen  den  Verschmelzungs- 
stufen  zunehme«  (S.  174).  Auch  in  der  musikalischen  Praxis  (Naturgesang  in 
Octaven  und  Quinten,  gemischte  Stimmen  untör  den  Orgel-Registern)  desgleichen 
in  Äußerungen  von  Theoretikern  findet  der  Autor  Bestätigungen  (S.  179  £).  — 
Was  die  Ursache  der  Tonverschmelzung  (§20,  S.  184  ff.)  anlangt,  seheinen 
dem  Verfasser  an  psychologischen  Erklärungsgründen  fünf  in  Betracht  zu  kommen: 
»allgemeine  Gesetze  über  Wechselwirkung  der  Vorstellungen,  wie  solche  von  Her- 
baxt entwickelt  wurden ,  die  Ähnlichkeit  der  bezüglichen  Empfindungen,  die  Mi- 
schung der  begleitenden  Gefühle,  der  Glättegrad  der  Empfindungen  (relativer 
Mangel  an  Schwebungen},  die  Häufigkeit  ihres  Zusammenseins  im  Bewußtsein« 
[S.  185).  Das  negative  Ergebniß  ihrer  Prüfung,  sowie  die  Erwägung,  daß  die  Ver- 
schmelzung »eine  Thatsache  der  Empfindung,  ein  den  gleichzeitigen  Tonqualitäten 
immanentes  Verhältniß,  und  von  der  Übung  im  individuellen  Leben  unabhängig 
ist,«  deutet  darauf  hio,  daß  der  Grund  der  Tonverschmelzung  nicht  psychisch  son- 
dern physisch  ist  (S.  211).  Näher  vermuthet  der  Autor  eine  Art  »specifischer  Ener- 
gien höherer  Ordnung,  noch  besser  specifische  Synergien«,  indem  er  »unter  einer 
solchen eine  in  der  Hirnstruktur  gründende  bestimmte  Art  des  Zusammen- 
wirkens zweier  nervösen  Gebilde«  versteht,  wodurch  jedesmal,  wenn  diese  beiden 
Gebilde  die  ihnen  entsprechenden  Empfindungen  erzeugen ,  ein  bestimmter  Ver- 
schmelzungsgrad dieser  Empfindungen  miterzeugt  wirda  (S.  214).  »Dem  Individuum 
angeboreo,  könnte  .  .  .  immerhin  diese  physiologische  Einrichtung  im  Leben  der 
Generation  erworben  und  sogar  unter  Mitwirkung  psychischer  Thätigkeiten  erwor- 
ben sein«  (S.  215). 

Wieder  zu  den  Fragen  der  Analyse  zurückkehrend,  behandelt  §  21,  während 
»bisher  ...  im  Allgemeinen  gleiche  Stärke  der  Klangelemente  vorausgesetzt« 
wurde  (S.  219),  nunmehr  Analysiren  und  Heraushören  bei  ungleicher  Stärke  der 
Klangtheile,  unter  Stärke  zunächst  die  Empfindungsstärke  verstanden,  »wie  sie  er- 
scheint, wenn  jeder  der  bezüglichen  Töne  bei  unveränderter  Reizstärke  allein  er- 
klingt« (ibid.).  Stärkeverschiedenheit  erschwert  Analyse  und  Heraushören  und 
»macht  sie  zuletzt  bei  einem  gewissen  Betrag  ganz  unmöglich« :  für  die  Musik  ist 
das  »vom  höchsten  Werte.  Müßten  wir  ja  sonst  schon  durch  die  unvermeidlichen 
inneren  Ohrgeräusche  und  die  subjektive  Nachdauer  der  Tonempfindungen  ebenso 
belästigt  werden,  wie  wir  es  durch  das  objektive  Nachklingen  eines  schlecht  dSm- 
pfenden  Klaviers  wirklich  werden«  (S.  220  f.).  »Verschwindet  nun  der  viel  schwä- 
chere Ton  überhaupt  aus  dem  Empfindungsinhalt,  oder  nur  aus  der  AVahmeh- 
mung?«  Verfasser  nimmt  aus  theoretischen  Gründen  an,  »daß  bei  fortgesetzter 
Abnahme  der  physikalischen  Tonstärke  zuerst  die  Wahrnehmung,  dann  aber  auch 
dieEmpfindung  wegfällt«, — Wahrnehmungs-  bezüglich  Empfindungsschwelle  (S.221f.;. 
Nach  allgemeinen  Erwägungen  über  die  Veränderung  dieses  Intensitätsschwellen- 
werthes  bei  veränderten  Tonstarken  und  Tonhöhen  (S.  224  ff.)  wendet  sich  der  Autor 
noch  im  besonderen  zur  Untersuchung  von  Beitönen,  zunächst  solchen,  die,  ^ie 
die  Obertöne  und  Combinationstöne,  mit  einer  gewissen  Regelmäßigkeit  Haupt- 
töne begleiten  (S.  229  ff.).  Daran  schließt  sich  die  Frage  nach  dem  Vorhandensein 
einfacher  Töne  (S.  257  f.] :  die  Prüfung  entgegenstehender  Ansichten  (S.  258  ff.), 


Stumpf,  Tonpsychologie.  435 


darunter  namentlich  H.  Eiemann's  Annahme  von  Untertönen  und  £.  Mach's  Com- 
plemententheorie»  führen  in  überzeugender  Weise  zu  dem  Ergebniß,  daß  weder 
Schlüsse  aus  Beobachtungen,  noch  allgemeine  Erwägungen  irgend  einen  Grund  an 
die  Hand  geben,  das  erfahrungsm&ßige  Vorkommen  gänzlich  einfacher  Tonempfin- 
dongen  zu  leugnen«  (S.  276). 

Einer  anderen  Bedingung  des  Analysirens  und  Heraushörens  ist  §  22  gewid- 
met, der  Aufmerksamkeit.  Anregenden,  doch  keineswegs  einwurfsfreien  Aufstel- 
lungen über  aWesen  und  primäre  Wirkung«  derselben,  welche  das  in  Bd.  I  Über  Auf- 
merksamkeit Gesagte  theils  zu  ergänzen,  theils zu  modificiren  bestimmt  sind  (S.  277  ff.), 
folgt  die  specielle  Anwendung  auf  das  Tongebiet.  Besonderes  Interesse  wird  hier 
■die  Verstärkung  der  herausgehörten  oder  herauszuhörenden  Klangtheile  durch  die 
darauf  gerichtete  Aufmerksamkeit«  finden,  welche  Verfasser  nur  an  schwachen,  E. 
Mach  dagegen  auch  an  starken  Tönen  beobachtet  hat^  (S.  290  ff.}.  Sie  ist  nicht 
auf  Muskelthätigkeit  zurückzuführen  (S.  294  ff.),  es  bleibt  daher  »nur  Übrig,  sie 
als  Folge  eines  im  sensiblen  Nerven  (Ganglion)  central  erregten  Processes  anzu- 
sehen«. Wir  müssen  eben  i»dem  Willen  einen  direkten  Einfluß  auf  sensible  Nerven 
.Ganglien)  zuschreiben,  ähnlich  wie  er  einen  solchen  auf  motorische  übt«  (S.  305): 
also  Veränderung  der  Empfindung  durch  Innervation,  aber  darum  noch  keine  »In- 
nervations-Empfindung«  (vgl.  S.  306  f.). 

Die  Bedingungen  für  die  (objektive)  Zuverlässigkeit  der  Analyse  und  des  Her- 
aushörens hat  §  23  zum  Gegenstand.  Die  auf  Vollständigkeit  abzielende  Über- 
sicht der  maßgebenden  Faktoren  (S.  319  ff.):  umfaßt  a)  die  «qualitative  Distanz 
der  gleichzeitig  empfundenen  Töne,  —  es  giebt  eine  qualitative  Schwelle  der  Unter- 
scheidbarkeit gleichzeitiger  Tön&f,  welche  bedeutend  höher  liegt  als  die  für  auf- 
einanderfolgende Töne  (S.  319),  was  schon  daraus  erhellt,  daß  man  den  Höhen- 
unterschied zwischen  den  Empfindungen  beider  Ohren  successiv  meist  wahrnimmt, 
gleichzeitig  aber  nur  Einen  Ton  zu  hören  meint  (S.  319  f.^);  die  Unterscheidungs- 
fiüiigkeit  ist  auch  bei  gleichzeitigen  Tönen  nicht  konstant,  die  relative  insbeson- 
dere aninunt  von  der  Tiefe  bis  zu  einer  mittleren  Region  zu,  dann  wieder  ab« 
,S.  324),  also  analog  dem  Verhalten  bei  aufeinanderfolgenden  Tönen  und  wie  dieses 
»Inder  Konstruktion  der  die  Tonempfindungen  vermittelnden  nervösen  Einrichtungen« 
begründet  (S.  324  f.),  indeß  die  Erhöhung  der  Unterscheidungsschwelle,  mindestens 
soweit  beide  Ohren  wesentlich  betheiligt  sind,  auf  die  Verschmelzung  zurückgehen 
wird  (S.  325  ff.),  —  b)  die  absolute  und  relative  Stärke  der  gleichzeitigen  Töne 
[S.  328  f.],  c)  die  Verschmelzungsstufen  (S.  329],  d)  die  Zahl  der  gleichzeitigen  zu 
analysierenden  oder  herauszuhörenden  Componenten  (S.  329  ff.),  e)  die  Dauer  des 
Klanges  (S.  334  f.),  f)  gleich-  oder  ungleichseitiges  Hören  (S.  335  f.),  g)  partielle 
Veränderungen,  d.  h.  Stärkeschwankungen  oder  stetige  (auch  geringe  diskrete) 
Höheschwankungen  einzelner  Componenten«  (S.  337  ff.),  h)  der  augenblickliche 
Aufoierksamkeitsgrad  (S.  344  ff.),  i;  das  Gedächtniß  (die  Vorstellungsübungj  für  Töne  der 
bezüglichen  Region  (S.  346  f.).  Besondere  Untersuchung  erfahren  hierauf  noch 
der  (scheinbare)  Einfluß  der  Klangfarbe  (S.  348),  das  unter  gewissen  Umständen 
eintretende  Verschwinden  des  höheren  Oktaventons  (S.  352  ff.),  endlich  die  Ana- 
lyse von  Nachempfindungen  und  Gedächtnißbildern  (S.  35S  ff.).  Interessante  Daten 


'  An  Klavier  und  Harmonium  gelingen  mir  die  Versuche  bei  beliebigen  Stärken, 
bei  geringeren  aber  allerdings  in  auffälligerer  Weise. 

2  Verfasser  bringt  bei  dieser  Gelegenheit  noch  interessante  Nachträge  zu  den 
Baten  des  ersten  Bandes  über  binaurales  Hören:  es  hat  sich  herausgestellt,  daß 
die  Differenz  seiner  beiden  Ohren  zwischen  der  großen  und  der  viergestrichenen 
Oktave  dreimal  das  Vorzeichen  wechselt  (S.  320  f.  Anm.i. 


436  Kritiken  und  Keferate. 


über  »indiTiduelle  Unterschiede  im  Analysieren  und  Heraushören«,  zun&ehst  Be- 
obachtungen  an  Unmusikalischen  und  an  Kindern  entnommen,  finden  sieh  in  §  24 
ausammengestellt  (S.  362  ff.) ;  dem  dabei  eingeschlagenen  Versuchsverfahren  mißt 
Verfasser  als  PrQfmittel  für  musikalische  Veranlagung  mit  Recht  aueh  einigen 
praktischen  Werth  bei  (S.  382). 

Stand  das  Problem  der  Analyse  bisher  im  Mittelpunkte  der  Untersuchung,  so 
faßt  §  25  und  §  26  Qualitftts-  bezüglich  Intensitätsurteile  einer  gleichzeitigen  Ton- 
mehrheit ins  Auge,  sei  sie  eine  analysierte  oder  nicht  (S.  383).  Im  ersteren  Para- 
graphen interessieren  den  Theoretiker  so  gut  wie  den  praktischen  Musiker  insbe- 
sondere die  Angaben  des  Autors  über  eigentümliche  Täuschungen.  Bei  analysierten 
Kl&ngen  scheint  das  Ganze  die  Höhe  des  tiefsten  Tones  zu  haben,  auch  wenn  dieser 
nicht  zugleich  der  stärkste  ist  (S.  384  ff.}^;  in  Folgen  von  Zusammenklängen  maeht 
das  Ganze  scheinbar  die  Bewegung  der  in  den  größten  Sehritten  bewegten  Stimme 
mit  (S.  393  ff.)J2;  ein  zu  einem  gegebenen  Tone  »hinzutretender  beträehtlidi  tie- 
ferer Ton  scheint  den  Yorhandenen  zu  Tertiefeui  ein  höherer  ihn  zu  erhöhen«  [S. 
397  ff.)  3.  Bei  nicht  analysierten  Klängen  führen  beigemischte  Obertöne  den  Schein 
der  Erhöhung  mit  sich  und  da  der  Musiker  die  Vorstellungen  cS  a^  u.  dergl.  immer 
schon  an  ziemlich  zusammengesetzten  Klängen  gewinnt,  erscheinen  ihm  nicht  nur 
einfache  Klänge  neben  zusanunengesetzten  zu  tief,  sondern  werden  auch,  wenn 
isoliert  angegeben,  zu  tief  geschätzt  und  zwar  im  letzteren  Falle  um  ein  bis  zwei 
Oktaven  (S.  406  ff.).  Einige  an  den  Schluß  des  Paragraphen  gestellte  Bemer- 
kungen über  die  Bedeutung  der  Oktave  für  die  Instrumentation  (S.  411  ff.),  denen 
ich  auf  Grund  oft  gemachter  Beobachtungen  nur  vollinhaltlich  beipflichten  kann, 
möchten  insbesondere  solchen,  die  nur  mit  Hilfe  der  Augen  Klavierauszüge  anfer- 
tigen, wärmstens  zu  empfehlen  sein.  —  Der  Intensitäts-Paragraph  (26)  behandelt 
zunächst  kurz  Urtheile  über  das  Stärkeverhältniß  gleichzeitiger  Töne;  noch  klarer 
als  bei  aufeinanderfolgenden  Tönen  lehrt  hier  die  Vergleichung,  »daß  die  höheren 
Töne  bei  gleicher  Beizstärke  größere  Empfindungsstärke  besitzen« :  die  Praxis,  die 
Melodie  in  die  Höhe  zu  legen,  beruht  hierauf;  sie  trat  historisch  um  so  mehr  her- 
vor, je  mehr  die  harmonische  Musik  sich  entwickelte  (S.  417  f.).  Die  Frage,  ob 
»sich  die  Stärke  eines  objektiv  gleichbleibenden  Tones«  verändert,  »wenn  er  mit 


i  An  sich  beachtenswerte  Beobachtungen  über  eine  gewisse  Prärogative  tieferer 
Töne  finden  hier  eine  keineswegs  völlig  überzeugende  theoretische  Bearbeitung. 
Das  gilt  auch  von  der  Heranziehung  der  sogenannten  räumlichen  Eigenschaften 
der  Töne  (S.  386  ff.),  durch  welche,  so  weit  ich  sehe,  der  schon  in  Bd.  I  berührte 
»Standpunkt«  so  wenig  erklärt  wird,  als  er  selbst  das  obige  Phänomen  verständ- 
lich macht. 

2  Soll  damit  gesagt  sein,  daß  die  liegen  bleibende  Stinune  bewegt  schönt,  so 
muß  ich  auf  Grund  der  von  mir  angestellten  Versuche  den  Schein  in  Abrede 
stallen.  Daß  man  andererseits  ein  Qanzea  nicht  leicht  ruhend  nennen  wird,  wenn 
man  Theile  desselben  in  Bewegung  findet,  ist  freilich  sehr  natürlich,  ab^  schwer- 
lich die  vom  Autor  angesprochene  Täuschung,  die  mir  auch  durch  die  interessanten 
Partitur-Beispiele  des  Autors  nicht  näher  gebracht  wird. 

8  An  Klavier  und  Harmonium  habe  ich  diese  Täuschung  in  keinem  einzigen 
Falle  herbeiführen  können.  Dagegen  wird  eine  Art  Accommodationsfähigkeit,  wie 
sie  der  Verfasser  den  Schlaginstrumenten  im  Orchester  zuspricht  (S.  399  ff.),  diesen 
wohl  zukommen;  aber  sollte,  solches  zu  verstehen,  die  natürliche  Unbestimmtheit 
oder  Undeutlichkeit  des  durch  das  charakteristische  Geräusch  gleichsam  beherrschten 
Tones  hier  nicht  ausreichen?  Das  sich  im  Melodram  auch  die  Sprechstimme  accom- 
modiere  (S.  403),  widerspricht  meinen  Erfahrungen ;  vielmehr  hat  das  gegentheilige 
Verhalten  mir  schon  in  ziemlich  jungen  Jahren,  wie  ich  mich  deutlicn  erinnern 
kann,  diese  »Kunstform«  verleidet. 


Stumpf,  Tonpsyohologie.  437 


anderen  suBammen  gehört  wird«,  beantwortet  sich  auf  Qrund  leicht  zu  wieder- 
holender Yeraachei  £.  Mach's  dahin,  »daß  der  Ton  im  isolierten  Zustande  st&rker 
eneheintc  (S.  418),  indem  »die  gleichzeitigen  Tonempfindungen  oder  besser   die 

^eiehseitigen  Erregungen  des  Nervus  aeuzticus^ sich  gegenseitig  einen 

Abbruch«  thun  (S.  420).  Daß  »ein  Tonganzes  einen  stärkeren  Eindruck«  machen 
muß,  »als  jeder  seiner  Theile«,  scheint  auf  den  ersten  Blick  selbstverstfindlich ;  der 
Verfasser  tritt  aus  sehr  beachtenswerthen  QrQnden  für  das  Qegentheil  ein  (S.  423  ff.), 
schon  wegen  der  Mehrheit  der  in  der  Empfindung  vorhandenen  Töne  »kann  ein 
Zusammenklang  bei  genauer  Beobachtung  nicht  stftrker  geschätzt  werden  als  der 
stirkste  Theil«  und  das  direkte  Experiment  bestätigt  dies^.  Auch  gleiche  Empfin- 
dungen des  rechten  und  linken  Ohres  verstärken  sich  wahrscheinlich  nicht  (S. 
430  ff.)-  Einschlägige  ohrenärztliohe  Beobachtungen  sind  am  Schlüsse  des  Para- 
graphen zusammengestellt  (&  440  ff.). 

»Sebwebungen  und  darauf  bezügliche  Urtheile«  beschäftigen  den  Autor  in  §  27 
(8.  449  ff.).  Wesen  und  Begleiterscheinungen  derselben ,  ihre  Entstehung  und  ihr 
8iti,  sowie  die  für  sie  bestehenden  Sehnelligkeitsgrenzen,  andererseits  die  Zuthei- 
lung  der  Schwebungen  an  das  Ganze  oder  bestimmte  Theile  des  Klanges«  findet  man 
mit  bekannter  Gewissenhaftigkeit  erörtert.  Das  größte  Interesse  aber  dürften  hier 
wohl  die  Ausführungen  über  »Tonhöhe  bei  Schwebungen«  (S.  471  ff.)  auf  sich 
liehen»  insbesondere  einige  neue  (theilweise  von  J.  Joachim  und  G.  Engel  bestä- 
tigte) Beobachtungen  hierüber.  Wird  etwa  gis^  und  a^  auf  der  Violine  zusammen 
angegeben,  so  hört  Verfasser  außer  diesen  beiden  Tönen  »einen  dritten,  der  zwi- 
schen ihnen  liegt,  etwas  näher  an  dem  tieferen  als  an  dem  höheren.  Derselbe  besitzt 
eine  sehr  weiche  Farbe,  wird  bei  starker  Aufmerksamkeit  innerhalb  des  Ohres 
lokalisiert,  und  er  ist  es,  welcher  schwebt,  während  die  Frimartöne  ruhig  bleiben*^ 
(S.  480). 

'  Sie  gelingen  mir  besonders  deutlieh  am  Harmonium,  ja  so  auffallend,  daß 
ieh  in  der  Konstruktion  des  Instrumentes  unterstützende  Moment^  vermuthen  muß, 
die  mit  dem  vorliegenden  Fragepunkte  gar  nichts  zu  thun  haben. 

2  Gegen  Mach's  Zurückführung  der  Verstärkung  auf  Aufimerksamkeit ;  aber 
man  entschließt  sich  schwer,  auf  jede  Verbindung  mit  den  oben  (S.  434)  berührten 
Aufmerksamkeits-Fhänomenen  zu  verzichten.  Ob  sich  nicht  doch  noch  ein  Zusam- 
menhang entdecken  ließe? 

*  Nach  meinen  Erfahrungen  doch  nicht  immer.  Zwar  der  Klavierversuch 
8.  425  gelingt  auch  mir,  und  wenn  im  Acoord  F  c*  f*  a*  etwa  a*  forte  angegeben 
wird,  das  Übrige  piano  oder  pianissimo,  so  kann  ich  den  Zusammenklang  auch 
nicht  stärker  finden,  als  wenn  a^  idlein  eben  so  stark  wie  vorher  angescnlagen 
wird;  ebenso  bei  einem  beliebigen  anderen  Bestandtheile  des  Accordes.  Nehme 
ich  dagegen  alle  Töne  des  Accordes  forte,  so  klin^  mir  das  Ganze  unzweifelhaft 
beträchüich  stärker  als  wenn  dieses  aus  dem  einen  starken  und  sonst  lauter 
sehwachen  Tönen  besteht.  Weniger  Werth  möchte  ich  auf  eine  vor  Jahren  beim 
Oiffelspielen  gemachte  Erfahrung  legen.  Wenn  sich  beim  freien  Fantasieren  das 
Bedürmiß  nacn  einem  crescendo  geltend  machte,  suchte  ich  diesem  zuweilen,  ohne 
nene  Register  zu  ziehen,  durch  größere  Vollstimmigkeit  nachzukommen,  und  zwar, 
wie  mir  schien,  namentlich  in  höheren  Tonlagen  nicht  ohne  Erfolg.  Ob  es 
auch  Anderen  so  schien,  und  inwieweit  die  vom  Verfasser  sorgfältig  berück- 
lichtigten  Täuschungsursachen,  sowie  Differenztöne«  Obertöne  u.  dgl.  eine  KoUe 
spielten,  vermag  ich  freilich  nicht  zu  entscheiden.  Übrigens  wird  dem  Autor  das 
\erdienst,  die  Frage  in  Fluß  gebracht  zu  haben,  auch  dann  zuerkannt  werden 
müssen,  wenn  die  von  ihm  gegebene  Antwort  nicht  durchaus  befriedigen  soUte. 

*  Den  letzten  Umstand  fand  ich  im  Versuche  sofort  bestätigt.  Zuerst  fiel 
mir  auf,  daß  jedenfalls  nicht  a^  schwebe,  die  Schwebung  also  wohl  tiefer  liefen 
müsse.  Minder  auffällig  doch  unzweifelhaft,  ergab  sich  dann  das  gleiche  negative 


438  Kritiken  und  Referate. 


Bei  weiter  auseinanderliegenden  Tönen  derselben  Eegioni  wie  g^  und  a*  hört 
er  nichts  mehr  von  dem  mittleren  Ton ,  sondern  nur  die  beiden  Prim&rtöne,  und 
diese  beiden  scheinen  selbst  zu  schweben ;  wird  dagegen  die  Aufmerksamkeit  Tor- 
zugsweise  dnem  Ton  ihnen  zugewendet,  scheint  immer  dieser  der  schwebende.^ 
Bei  sehr  nahe  an  einander  liegenden  vernimmt  er  nur  einen  Ton  und  diesen  sehwe- 
bend (S.  461).  Eine  glücklich  koncipierte  »physiologische  Theorie«  (S.  484  ff.)  ver- 
sucht den  Thatsachen  mit  ziemlich  einfachen  Mitteln  gerecht  zu  werden. 

Von  den  Ausfahrungen  über  »Geräusch  und  Klangfarbe«,  welche  den  letzten 
Paragraphen  (28)  des  gegenwärtigen  Bandes  ausmachen,  mißt  der  Verfasser  den 
ersteren  nur  yorläufige  Bedeutung  bei  (S.  500).  Man  kann  zweifeln,  ob  es  Ge- 
räusche ohne  Töne  gebe,  sicher  aber  giebt  es  Töne  ohne  Geräusche  (8.  500  ff.;. 
Eine  »Besprechung  der  Ansichten  über  den  Begriff  des  Geräusches«  (S.  503  ff.) 
fällt  im  Wesentlichen  zu  Gunsten  der  »nativistischen«  Auffassung  der  GerSosehe 
als  »Empfindungen  besonderer  Art«  aus  (S.  510  ff.].  —  Dagegen  beabsichtigen  die 
Untersuchungen  über  Eiangfarbe  in  Betreff  dieser  schwierigen  Angelegenheit 
einiges  endgiltig  auszumachen.  Aus  der  Mannigfaltigkeit  der  hier  anzutreffenden 
Prädikate  wird  zunächst  unter  dem  Namen  vKlangcharakter«  ausgeschieden,  vas 
»in  bloß.associierten  Vorstellungen  und  Gefühlen«  seinen  Sitz  hat  (S.  515  f.).  Dann 
steht  aber  immer  noch  der  Klangfarbe  im  engeren  die  im  weiteren  Sinne  gegen- 
über »als  das  Unterscheidende  der  Instrumente«!  außer  auf  jene  noch  auf  »die  eigen- 
thümliche  Art  und  Dauer  des  An-  und  Ausklingens«,  begleitende  Geräusehe  u.A. 
gegründet  (S.  516  ff.);  theoretischer  Untersuchung  bedarf  nur  jene,  Helmholts's 
»musikalische  Klangfarbe«  (S.  520).  Ihr  thatsächlicher  Zusanmienhang  mit  den 
empfundenen  Obertönen  ist  zweifellos,  aber  er  selbst  bedarf  psychologisdier  £^ 
klärung:  kommt  dem  einzelnen  Tone  keine  Farbe  zu,  wie  soll  sie  dem  Ganzen 
eignen?  »Aus  Nichts  wird  Nichts«,  darum  muß  zunächst  schon  den  einfachen 
Tönen  eine  Farbe  zuerkannt  werden,  welche  der  Verfasser  »Tonfarbe«  nennt,  und 
direkte  Beobachtung  lehrt,  »dass  die  Tonfarben  eine  mit  der  Tonhöhe  fortschrei- 
tende Reihe  bilden  von  der  dunkelsten  bis  zur  hellsten«  (S.  524  ff.).  Aber  Ton- 
farbe ist  nicht,  wie  der  Autor  anfänglich  meinte,  Tongefühl:  denn  »Klangfarbe 
ist  nicht  wie  das  Klanggefühl  eine  direkte  Funktion  der  Empfindungen,  sondern 
der  Auffassung  der  Empfindungen«  (S.  529).  Dagegen  weisen  die  für  Klangfarbe 
im  engeren  Sinn  charakteristischen  Gegensätze:  dunkel  und  hell,  stumpf  und 
scharf,  toU  und  leer  auf  die  im  Ganzen  parallel  veränderlichen  Momente  der  Ton- 
höhe, -stärke  und  -große  (S.  531  ff.):  Tonfarbe  ist  nicht  etwas  neben  der  Stärke 
und  Höhe,  sondern  theils  Stärke,  theils  Höhe,  theils  Größe  (S.  540).  Weil  aber  »die 
höheren  einfachen  Töne  höher  (heller),  stärker  und  spitzer  sind,  darum  scheinen 
uns  auch  die  Klänge,  in  denen  sie  unanalysiert  enthalten  sind,  gegenüber  anderen 
Ton  gleicher  Höhe,  Stärke  und  Breite  des  Grundtons  höher  (heller),  stärker, 
schärfer«,  und  dies  um  so  mehr,  »je  zahlreichere  und  je  höhere  Obertöne  dabei 
sind«  (S.  539),  von  Nebenempfindungen  und  namentlich  Schwebungen  zwischen  den 
Partialtönen  (S.  533  ff.)  ganz  abgesehen.  Für  den,  der  ihn  analysiert,  hat  »der 
Klang  als  eine  Verbindung  von  Tönen  ....  weder  Höhe,  noch  Starke,  noch 
Farbe«  (S.  540).     Verfasser  zieht  aus  dieser  Auffassung  die  wichtige  Konsequens, 


Kesultat  für  gis^  Nur  den  zwischenliegenden  Ton  habe  ich  nicht  auffinden  können, 
was  aber  bei  der  geringen  Anzahl  der  von  mir  gemachten  Experimente  nur  dem 
Mangel  an  Übung  zuzuschreiben  sein  wird. 

1  Lieber  würde  ich  hier  sagen:  »scheint  dieser  immer  nicht  der  schwebende«; 
nehme  ich  einen  Ton  recht  fest  in  den  Mittelpunkt  des  Aufmerkens,  so  gelingt  es 
mir  regelmäßig ,  ihn  continuirlich  zu  hören ,  was  natürlich  dann  die  Tendenz  mit 
sich  fünrt,  die  Unterbrechungen  auf  Kechnung  des  anderen  Tones  zu  setzen. 


Stumpf,  Tonpgychologie.  439 


»daß  die  Xlangfarbe  keineswegs  nur  von  der  relativen  sondern  in  erster  Linie  von 
der  absoluten  Höhe  der  Theiltöne  (einschließlich  des  Orundtones)  abhängt«  (S.  543). 
Die  Schluß-Ausführungen  des  Torliegenden  Bandes  suchen  von  diesen  theoretischen 
Positionen  aus  die  Heimholts'schen  Regeln  sowie  Thatsachen  der  musikalischen 
Praxis,  insbesondere  die  Unterscheidung  verschiedener  Klangfarben  in  einem  Zu- 
ninmenklang,  dem  Verst&ndniß  näher  zu  bringen.  Daß  dies  dem  Autor  wirklich 
gelungen  ist,  daß  sonach  die  Theorie  der  Klangfarbe  durch  die  Aufstellungen  des- 
selben dankenswerthe  Förderung  erfahren  hat,  steht  mir  außer  Zweifel,  nicht  ebenso 
die  Berechtigung  des  theoretischen  Hauptgedankens,  welcher  die  Klangfarbe  im 
Grunde  doch  zu  einer  Scheinthataache  zu  verflQchtigen  droht.  Daß  die  Klangfarbe 
auf  Höhe,  Stärke  der  Obertöne  u.  dgl.  beruht,  das  ist  durch  Stumpfs  Dar- 
legungen durchsichtiger  geworden  als  je  zuvor:  daß  aber  Klangfarbe  nichts  An- 
deres ist  als  dieses,  dagegen  sträubt  sich,  was  direkte  Empirie  mich  lehrt,  auf 
das  Entschiedenste,  nicht  zum  geringsten  Theile  vielleicht  deshalb,  weil  ich  mich 
auch  mit  den  Täuschungen  aus  §  25  f.,  wie  oben  bemerkt,  nicht  recht  vertraut 
machen  kann.  Nebenbei  fehlt  es,  wie  übrigens  unserem  Autor  nicht  unbekannt 
(vgl.  S.  540  f.)»  auch  an  theoretischen  Bedenken  keineswegs;  wer  weiß  zumal,  ob 
der  hier  vertretene  Gedanke  einer,  wenn  man  so  sagen  darf,  psychischen  Mischung 
allemal  unverfänglicher  ist  als  der  vom  Verfasser  so  eifrig  abgewehrte  Gedanke 
einer  »psychischen  Chemie«?  Gerade,  was  der  Autor  daran  »am  falschesten«  findet, 
die  Eventualität,  »daß  eine  neue  Gfattung  von  Inhalten  entstehen  könnte«  (S.  540], 
scheint  mir  vorerst  den  direkten  Erfahrungen  am  besten  zu  entsprechen.  Wäh- 
rend nun  aber  dieser  »psychische  Chemismus«  weiter  zu  verlangen  scheint,  daß  das 
Element  im  Produkte  gleichsam  aufgehe,  drängt  des  weiteren  die  in  unserem  Falle 
erfahrungsgemäß  fortbestehende  Möglichkeit  psychologischer  Analyse,  welche  nie- 
mand der  chemischen  wird  an  die  Seite  stellen  wollen,  dazu,  ganz  im  Gegentheil 
den  Bestandstücken  un verkümmertes  Fortbestehen  neben  dem  Produkte  zuzuer- 
kennen. Das  Verhältniß  des  letzteren  zu  den  ersteren,  also  der  Klangfarbe  zu 
den  P&rtialtönen ,  charakterisiert  sich  dann  wohl  am  einfachsten  als  das  des  fun- 
dirten  Inhaltes  zu  seinen  Grundlagen,  obgleich,  wie  ich  bereits  an  anderer  Stelle 
berührt  habe^,  das  sonst  für  fundirte  Inhalte  durchschlagendste  Argument  durch 
das,  was  unser  Autor  zu  Gunsten  der  Bedeutung  der  absoluten  Tonhöhe  für  die 
Klangfarbe  beibringt,  an  Boden  verloren  haben  dürfte.  Ob  dann  übrigens  der 
nämliche  Gedanke  nicht  auch  geeignet  sein  möchte,  in  Sachen  der  Zusammenklänge 
in  billiger  Vermittlung  zwischen  Einheits-  und  Mehrheitsansicht  das  Seine  beizu- 
tragen? 

Aber  hier  ist  nicht  der  Ort,  Gedanken  dieser  Art  noch  weiter  nachzugehen. 
Ich  habe  sie  nicht  völlig  unterdrücken  wollen,  weil  mir  der  Werth  einer  litterarischen 
Leistung  nicht  nur  in  dem  zu  Tage  zu  treten  scheint,  was  sie  als  abgeschlossenes 
Ergebniß  niederlegt,  sondern  auch  in  der  Fähigkeit,  zur  Weiterführung  des  darin 
noch  Unabgeschlossenen  anzuregen.  Nicht  aber  geschah  es  in  der  Absieht,  aus 
•Wenn«  und  »Aber«  das  Recht  zu  jenem  Überlegenheitsbewußtsein  abzuleiten,  das 
es  zuweilen  den  »Recensenten«  so  leicht  macht,  über  die  Leistungen  ihrer  Faoh- 
genossen  zu  Gericht  zu  sitzen.  Gfanz  im  Gegentheil  ist  meines  Erachtens  der  Au- 
tor eines  guten  Buches  naturgemäß  der  Lehrer,  zu  dem  sich  der  Leser,  gleichviel 
ob  Fachgenosse  oder  nicht,  fürs  Erste  in  die  Schule  begiebt;   wem  aber  der  gute 


*  VgL  den  Schluß  meiner  den  »fundirten  Inhalten«  (Chr.  v.  Ehrenfels'  »Ge- 
staltqualitäten«) gewidmeten  Abhandlung  »zur  Psychologie  der  Complexionen  und 
Relationen«  in  der  »Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane« 
Jahrgang  1891,  S.  264  f. 


440  Kritiken  und  Referate. 


Wüle  und  damit  die  Fähigkeit  fehlt,  tou  Anderen  lu  lernen ,  mag  er  sie  nie  be- 
sessen ,  mag  er  sie  in  selbstgefälliger  Überhebung  verloren  haben,  dem  ir&re  doeh 
wenigstens  ein  QefÜhl  dafür  zn  wünschen,  daß  er  bei  solchem  Mangel  wohl  der 
Letzte  sein  möchte,  dem  es  zusteht,  die  ehrliche  Arbeit  Anderer  durch  Wort  und 
Schrift  nach  Kräften  zu  discreditiren. 

£s  entspricht  dem  Umfange  der  bisher  TerGffentliehten  Abschnitte  des  Werkes, 
daß  für  das  Ganze  derzeit  vier  Bände  in  Aussicht  genommen  sind»  deren  dritter 
»die  Intenrallurtheile  oder  das  eigentlich  musikalische  Denken,  der  vierte  die  Ton- 
und  Musikgefühle  untersuchen«  soll  (S.  VII).  In  Betreff  ihres  Erscheinens  erschtet 
es  der  Verfasser  mit  Rücksicht  auf  die  ihm  selbst  unerwartete  Verzögerung  in  der 
Veröffentlichung  des  zweiten  Bandes  für  rathsam,  daß  man  »doeh  lieber  yon  yom- 
herein  mit  größeren  Pausen  rechnen  möge«  (S.  VI).  Und  ohne  Zweifel  sichert 
unserem  Autor  das,  was  er  thatsächlich  geleistet  hat,  einen  Anspruch  darauf,  bei 
der  Weiterführung  eines  so  groß  angelegten  Unternehmens  auch  Neigungen  und 
Stimmungen  zu  folgen.  Aber  zu  tief  liegt  es  in  der  menschlichen  Natur  begründet, 
vom  gegenwärtigen  Besitz  auf  künftigen  Gewinn  auszuschauen,  als  daß  unser  Au- 
tor denjenigen  der  Undankbarkeit  wird  zeihen  dürfen,  der  die  ihm  angerathene  Zu- 
rückhaltung nun  doch  nicht  recht  zu  üben  vermöchte.  Derjenige  zumal,  für  den 
zunächst  die  musikalischen  Interessen  das  Entscheidende  sind,  dem  sonach  der 
zweite  Band  zwar  schon  beträchtlich  näher  steht  als  der  erste,  der  sich  indess  gleieh- 
wohl  nicht  verhehlen  kann,  daß  dasjenige,  was  er  sich  von  einer  »Tonpsjchologie« 
eigentlich  erwartet,  immer  noch  aussteht,  kann  nicht  wohl  anders,  als  begehihehe 
Blicke  auf  die  Pforten  werfen,  die  ihm  immer  noch  verschlossen  bleiben.  Aber 
auch  der  psychologische  Forscher  weiß  Probleme  genug,  an  deren  Bearbeitung  er 
sich  heranzutreten  scheut,  weil  er  doch  nicht  erst  suchen  möchte,  was  unser  Autor 
vielleicht  bereits  gefunden  hat.  So  wird  es  trotz  der  Mahnung  des  Verfassers  am 
Ende  doch  wohl  geschehen,  daß  jeder  Leser  auch  dieses  zweiten  Bandes  denselben 
in  der  Hoffnung  oder  doch  mindestens  mit  dem  Wunsche  aus  der  Hand  legt,  es 
möchte  ihm  recht  bald  Gelegenheit  werden,  den  beschrittenen  Weg  unter  der  Ua- 
her  so  wohlbewährten  Führung  fortzusetzen. 

Graz.  A.  Meinong. 


Johannes  Fresal^  Die  Musik  des  baiwarischen  Landvolkes,  vor- 
zugsweise im  Königieiche  Baiem.  I.  Theil:  Instrumentalmusik. 
München,  Lindauer.   1888.  8.  66  Seiten. 

Das  kleine  Werk  erschien  zwar  bereits  vor  einigen  Jahren,  indessen  recht- 
fertigt das  bisher  unerfüllt  gebliebene  Versprechen  des  Verfassers,  einen  zweiten 
Theil  seiner  Arbeit  zu  liefern,  die  Verspätung  unserer  Kritik.  In  dem  ausge- 
bliebenen zweiten  Theil  wollte  der  Verfasser  den  Gesang  und  die  Kunst  des 
Pfeifens  im  bairischen  Volke  behandeln;  es  scheint  vorläufig,  als  ob  der  vorlie- 
gende erste  Theil  auch  der  für  die  Musikwissenschaft  wichtigere  sei. 

Fressl  hat  sich  durch  seine  wissenschaftlichen  Untersuchungen  als  Sprach- 
forscher einen  ziemlich  eigenartigen  und  von  den  Vertretern  der  einschlägigen 
Wissenschaft  durchaus  nicht  allgemein  gebilligten  Standpunkt  geschaffen.  Be- 
sonders mit  seinem  Werke  »Die  Skythen- Saken,  die  Urväter  der  Germanen«  (Mün- 
chen 18S6)  rief  er  gerechte  Bedenken  hervor.  Auf  dieses  sein  Hauptwerk  greift 
er  auch  zuweilen  in  der  vorliegenden  Abhandlung  zurück,  welche  er  überhaupt 
mit  einigen  nicht  hierhergehörigen  Erörterungen  rein  sprachforschender  Natur  be- 
lastet hat.     Ganze  Fartieen  S.  21  f.,    2S  f.,  52  sind  unsachliche  Abschweifungeo 


Johannes  Fressl,  Die  Musik  des  baiwarischen  Landyolkes.  44 1 


Tom  Thema.  Freeal  ist  ein  eifriger  Verfechter  der  Emancipation  der  jgperma- 
niiehen  Kultur  yom  klassischen  Alterthume.  Die  germanischen  Völker,  zu  denen 
er  Tor  allem  die  noch  immer  hinsichtlich  ihrer  Stammesxugehörigkeit  unbekannten 
Skythen  und  Thraker  rechnet,  deren  germanischen  Ursprung  aber  Freasl  nach- 
suweisen  sucht ,  hatten  bereits  in  der  geschichtlichen  Vorzeit  —  so  ist  seine 
Orundanschauung  —  eine  eigenartig  entwickelte,  von  der  der  Griechen  ab« 
▼eichende  aber  ihr  ebenbürtige  Kultur  erworben.  Nordische  Völker  haben  ihre 
Kultur  also  nicht  bloß  von  den  Griechen  erhalten,  sondern  sie  haben  umgekehrt 
in  mannigfacher  Weise  auf  die  späteren  klassischen  Völker  bildend  eingewirkt.  Er 
Terweist  auf  die  Rolle,  welche  die  Thraker  in  der  ältesten  Musikgeschichte  Grie- 
chenlands gespielt  haben,  »was  bereitwillig  yon  Bömern  und  Griechen  anerkannt 
wurde,  welche  überhaupt,  insbesondere  was  ihre  Dichter,  Weisen  und  auch  Ge- 
schiehtsachreiber  anlangt,  mit  dem  steten  Hindeuten  auf  fremde  Beeinflußung 
durchaus  nicht  hinterm  Berge  halten,  was  wirklich  einer  gewissen  Biohtung  un- 
serer Zeit  zur  Beschämung  gereichen  dürfte.«  (d.  42). 

Man  muß  zugestehen,  daß  die  klassische  Philologie  in  dem  jahrhunderte- 
langen Bestreben,  alles  europäische  Kulturleben  als  Ausstrahlung  der  griechisch- 
römischen Kultur  zu  erklären,  der  Musikgeschichte  gegenüber  einen  allerdings 
sehr  bedenklichen  Standpunkt  einnimmt  Das  tritt  klar  zu  Tage,  wenn  man  ea 
ontemimmt,  die  Musikmstrumente  der  nordischen  Völker  nach  ihrem  Ursprünge 
hin  zu  untersuchen.  Schon  die  Namen  der  nordischen  Hauptinstrumente  bereiten 
der  etymologischen  Erklärung,  welche,  gewöhnlieh  griechische  und  lateinische 
Wörter  zum  Ausgangspunkte  macht,  unlösliche  Schwierigkeiten.  Die  Namen 
•Fiedel«,  »Harfe«  u.  a.  wufden  bis  yor  kurzem  allgemein  als  Entlehnungen  aus 
den  klassischen  Sprachen  betrachtet;  doch  hat  die  neuere  Forschung  diese  An-* 
sieht  für  unhaltbar  erklärt  Die  f^klärung  ßdula  (schon  im  9.  Jahrhundert  bei 
Otfrid  bezeugt)  von  vüulari  »wie  ein  Kalb  übermüthig  springen«,  welche  Diez  auf- 
stellte, ist  abgesehen  von  der  Geschraubtheit  auch  spracUich  unmöglich.  Aus 
wbdari  hätte  nach  den  Lautgesetzen  toidel^  wMel  werden  müssen.  (S.  29  f.).  Auch 
Kluge  1  hält  den  germanischen  Ursprung  des  Wortes  für  wahrscheinlicher  als  den 
lateinischen  und  läßt  die  Möglichkeit  offen,  daß  umgekehrt,  als  man  bisher  glaubte, 
die  Romanen  die  Wörter  viola  u.  s.  w,  von  den  Germanen  entlehnt  haben«  Das 
gleiche  ist  nach  Kluge  mit  den  Namen  Harfe  und  Geige  der  Fall. 

Das  ist  eine  Anzahl  Ton  Beispielen,  welche  zeigen,  daß  man  allerdings  in 
dem  Bestreben,  aUe  Kulturelemente  und  deren  Bezeichnungen  aus  dem  klassischen 
Alterthume  herzuleiten,  zu  weit  gegangen  ist  Gerade  die  Musik  muß  gegen 
diese  Auffassung  entsehiedenen  Einspruch  erheben,  will  sie  anders  nicht  auf  eine 
natürliche  Erklärung  der  geschichtlichen  Entwickelung  der  Tonkunst  venichten. 
Da  diese  Frage  von  prinzipieller  Bedeutung  ist,  so  muß  jeder  Beitrag  zur  Funda- 
mentirung  einer  freieren  Auffassung  vom  Wesen  der  Musik  willkommen  geheißen 
▼erden. 

Fressl  giebt  nun  yon  den  einzelnen  Instrumenten,  welche  der  bairische  Volks- 
stamm heute  besitzt,  etymologische  Erklärungen  ihrer  Namen,  indem  er  zahlreiche 
Belegstellen  für  deren  Vorkommen  aus  der  altdeutschen  Literatur  anführt.  Diese 
Citate  sind  für  den  Musikforscher  wichtig;  sie  bilden  zum  Theil  eine  Ergänzung 
ähnlicher  Sammlungen,  wie  z.  B.  die  in  dem  Werke  »Das  höfische  Leben  zur  Zeit 
der  Minnesänger«,  yon  Alwin  Schultz  (Leipzig  1879  S.  120  ff.)  enthaltene.  Solche 
Sammlungen  bieten  yor  allem  eine  gewisse  sichere  Unterlage  für  die  Forschung 


^  Etymologisches  Wörterbuch  der  deutsehen  Sprache,   Strassburg  1883  unter 
Fiedel,  Geige,  Harfe. 

1891.  30 


442  Kritiken  und  Referate. 


über  alte  Instrumente  dar,  wenngleich  der  etymologische  Nachweis  allein  durchaus 
nicht  zu  sicheren  geschichtlichen  Folgerungen  ausreicht.  Denn  um  zu  behaupten, 
daß  ein  Instrument  eines  bestimmten  z.  B.  germanischen  oder  griechischen  Ur- 
sprungs ist,  bedarf  es  noch  einer  Menge  anderer  Untersuchungen.  Der  Sprachverglei- 
eher  späterer  Zukunft  würde  sonst  die  Entstehung  unserer  heutigen  Instrumente  Har- 
monium, Harmonika,  Ariston,  Herophon  und  wie  sie  alle  heißen  auf  den  Einfluß 
der  Qrieohen  zurückführen  müisen,  mit  denen  unser  moderner  Instrumentenbaa 
als  solcher  doch  sicherlich  nichts  zu  thun  hat. 

Eine  übersichtliche  Ordnung  der  Instrumente  ist  im  Yorliegenden  Werke  zu 
yermissen .  Die  Blasinstrumente  des  bairischen  Volkes  beschreibt  Fressl  s.  B. 
auf  S.  1—8,  2&— 29,  37—44,  54^59.  Es  ist  überflüssig  zu  bemerken,  dass  die  In- 
strumente, welche  allerwärts  gebräuchlich  sind,  wie  Klarinette,  Flöte,  TVompete, 
Hom,  Posaune,  Fagott,  auch  in  Baiem  bekannt  sind.  Auch  Kinderinstramente, 
welche  sich  die  Knaben  aus  Weidenbäumen  (Feier-  oder  Felwerpfeifen) 
schneiden,  auf  dem  Jahrmarkt  iftn  einen  Kreuzer  kaufen  (Kreuzerpfeifen], 
oder  aus  einem  Hornkamm,  Birkenblatt  u.  s.  w.  improvisiren ,  erregen  kein 
besonderes  Interesse.  Ich  hebe  daher  nur  einige  Instrumente  heraus,  welche  in 
Deutschland  nicht  überall  beim  Volke  in  gleicher  Weise  üblich  sind,  oder  welehe 
zu  kleineren  Bemerkungen  Anlaß  bieten.  1)  Maultrommel  oder  Brummeisen 
ist  besonders  beliebt  und  zwar  beim  weiblichen  Qesohlecht  ebenso  wie  beim  männ- 
lichen, dasselbe  ist  der  Fall  mit  der  Mundharmonika;  2)  der  Fozhobel 
(foz  SS  Mund)  ist  eine  Art  Panflöte  aus  Schilf  oder  Metall;  3)  die  Schwigel 
oder  Schwegel  die  Querpfeife  und  der  Piccolo,  ebenfalls  eine  Querpfeife  aber 
mit  Klappen.  Wenn  Fressl  erstere  auch  Schalmei  nennt,  so  kann  das  nur  ein 
Irrthum  sein,  denn  die  Schalmei  als  Oboenart  hat  mit  der  Querpfeife  wenig  zu 
thun;  und  wenn  er  femer  den  italienischen  Namen  des  Piccolo  bedauert,  so  be- 
weist das,  wie  sehr  er  auf  Kosten  anderer  Momente  an  der  Namenserklärung 
klebt.  Eine  größere  Art  der  Schwegel  ist  die  Flöte.  4)  Das  Flaschinet, 
heißt  auch  schlechthin  beim  Volke  Pfeife,  trotz  des  französischen  aus  Flageolet 
yerstümmelten  Namens  beim  Volke  sehr  beÜebt  und  überall  verbreitet.  Es  ist  die 
alte  Schnabelflöte,  worauf  der  Name  Pfeife  hindeutet,  also  wohl  kaum  eine  Kla- 
rinettenart, wie  der  Verf.  angiebt.  Den  Unterschied  zwischen  Schnabelflöte  und 
Klarinette  scheint  Fressl  nicht  zu  kennen,  denn  er  nennt  die  letztere  eine  grössere 
Auflage  des  Flaschinets.  Die  Klarinette  unterscheidet  sich  bekanntlich  von 
der  Schnabelflöte  durch  das  am  Mundstück  angebrachte  und  beim  Anblasen  in 
Schwingung  versetzte  Rohrblatt.  Bemerkenswerth  ist,  daß  die  Klarinette  niemals 
in  der  Kirche  verwendet  wird  und  eine  Hauptrolle  in  der  Tanzmusik  spielt. 
Fressl  nennt  sie  die  Königin  der  Tanzmusik  und  führt  als  bedeutenden  Klarinettspie- 
ler Biglmair  an.  5)  In  ähnlicher  Weise  wie  Flöte  und  Klarinette  verhalten  sieh 
Posaune  und  Trompete  zur  Kirchenmusik.  Posaune  und  Flöte  dienen  vor- 
zugsweise kirchlichen  Zwecken,  Trompete  und  Klarinette  fast  ausschließlich  der 
Profanmusik.  6)  Beliebt  als  Baßinstrument  während  des  Marsches,  wo  man  sich 
der  Baßgeige  nicht  bedienen  kann,  ist  das  Bombardon,  ein  Nachkomme  des 
alten  Baßpommer  (Bomhart). 

Die  Streichinstrumente  finden  sich  auf  S.  29  ff.  unter  Geige  und  Fidel  be- 
sprochen. Bemerkenswerth  ist  der  Name  Fiselbogen,  welcher  neben  Fidelbogen 
gebrauche  wird  (von  fiseln  =  hin-  und  herfahren).  Berühmte  bairische  Geigen- 
spieler waren  der  Durnerwasdl  von  Degendorf  a.  d.  Donau  und  der  Schullehrer 
Kaveri  zu  Mariakirchen  in  Niederbaiem.  Als  wichtiger  Fabrikationsort  für  Gei- 
gen in  Baiem.  wird  neben  Mittenwalde  auch  Linz  genannt. 

Die  übrigen  Saiteninstrumente   sind   besonders  Harfe,    Guitarre,   Ziter  und 


Johannes  Fressl,  Die  Musik  des  bai warischen  Landvolkes.  443 


Haekebrett,  die  Harfe  heißt  auch  große  Zupfgeige  zum  Unterschied  von  der 
kleinen  Zupfgeige  oder  Guitarre,  denn  beide  sind  Zupfinstrumente.  Es  giebt 
außer  der  großen  Harfe  (Davidsharfe)  auch  noch  die  kleine  oder  Spitzharfe 
oder  Harfenet,  die  alte  Swalwe,  d.  i.  eine  mit  der  Spitze  nach  oben  aufrecht- 
stehende und  mit  Metallsaiten  versehene  Harfe,  welche  in  anderen  deutschen  Ge- 
genden wohl  ausgestorben  sein  dürfte.  —  Bei  der  Ziter  giebt  der  Verfasser  die 
beaehtenswerthe  Darlegung,  daß  die  Schreibweisen  Giter,  Zither  und  gar  Cither 
keine  Berechtigung  haben,  weil  das  Wort  nicht  unmittelbar  aus  cithara  abgeleitet, 
sondern  erst  durch  das  althochdeutsche  vitera  hindurchgegangen  ist.  Harfe  und 
Ziter  sind  eigentliche  Volksinstrumente,  w&hrend  die  Guitarre  ein  »herrisches« 
Instrument  ist  d.  b.  nur  von  den  Beamten  und  Geistlichen,  welche  nach  der  Mei- 
nung des  Volkes  das  Herrenthum  darstellen,  geübt  wird.  £s  stimmt  das  zu  der 
geschichtlichen  Thatsache,  daß  Harfe  und  Ziter  uralt  im  Volke  eingesessen  sind, 
während  die  Guitarre  erst  im  vorigen  Jahrhundert  bei  uns  verbreitet  wurde. 

Die  Ziter  ist  wohl  dasjenige  Instrument,  welches  den  übrigen  deutschen 
Volksstämmen  als  am  meisten  charakteristisch-bairisch  erscheint  £&  ist  verbreitet 
in  den  Gegenden  vom  Fichtelgebirge  bis  Welschtirol  und  vom  Lech  bis  nach  Un- 
garn. Trotzdem  ist,  wie  schon  der  Name  andeutet,  die  Ziter  (eithara)  nicht  ur- 
sprünglich bairiseh.  Seit  wann  sie  aufkam  und  woher,  ist  ohne  weiteres  nicht  zu 
entscheiden,  läßt  auch  Fressl  dahingestellt.  Li  den  Kreisen  der  Gebildeten  führte 
sie  Herzog  Maximilian  von  Baiern  ein,  dessen  Lehrer  Petzmaier  sich  einer  großen 
BerOfamtheit  in  Volksweisen  erfreute.  Ein  anderer  volksberühmter  Ziterschläger 
war  der  Wirthsseppel  von  Garching  in  Oberbaiem.  Das  Instrument  paßt  übrigens 
für  das  Volk  am  besten,  da  es  schwielige  harte  Fingerspitzen  erfordert.  Jetzt  ist 
es  von  Baiem  aus  auch  nach  Norddeutschland  gedrungen,  und  besonders  in  Klein- 
büigerkreisen  beliebt,  ja  es  hat  sich  sogar  eine  ganze  Ziterliteratur  gebildet,  und 
eine  große  Menge  von  Abarten  der  Ziter  (Tenor-,  Baß-,  Salon-,  Gonoert-,  Elegie-, 
Stieichziter)  ist  entstanden. 

Auch  das  Haekebrett  und  das  Hölzene  Gelächter  sind  dem  Nord* 
deutschen  weniger  gebräuchlich.  Das  letztere  Instrument  ist  als  Xylophon  oder 
Holz-  und  Strohinstrument  auch  in  Norddeutschland  bekannt  geworden.  Der 
bairische  Name  Hölzenes  Gelächter  findet  sich  bereits  in  Virdungs  Musica  ge- 
tuscht 1511,  ein  Werk,  dessen  Verfasser  ja  auch  ein  Süddeutscher  war. 

Über  die  Verwendung  dieser  Instrumente  in  der  volksthümlichen  Musik 
macht  der  Verfasser  vereinzelte  Angaben.  In  Baiem,  Tyrol  und  Steiermark  giebt 
es  ganze  Musikbanden  von  lauter  Pfeifern  mit  einfachen  Holzblasinstrumenten. 
Ich  vexmuthe  einen  Zusammenhang  dieses  Gebrauches  mit  dem  alten  Namen 
Schweizerpfeife  für  die  Querflöte.  Überhaupt  ist  es  sehr  bemerkenswerth,  —  und 
der  Verfasser  legt  mit  Recht  einen  starken  Nachdruck  auf  diese  Thatsache  — 
daß  sieh  das  Volk  keineswegs  mit  dem  einfachen  Solospiel  eines  Instrumentes 
oder  mit  der  bloßen  Melodieführung  begnügt  Selbst  auf  den  primitivsten  In- 
strumenten, wie  Brummeisen  und  Birnbaumblatt  und  Birkenrinde,  werden  Duette 
sosgeführt,  meist  unter  Begleitung  von  Ziter  und  Guitarre.  Auf  Pfeifen  und  Flö- 
ten werden  kunstgemäß  Ländler  und  Märsche  zweistimmig  gepfiffen  und,  wie  ge- 
wöhnlich, geben  Ziter  und  Guitarre  die  Harmonien  dazu  an.  Diese  beiden  Be- 
gleitinstrumente zu  Gesang  oder  zu  melodieführenden  Instrumenten  fasst  man  auch» 
besonders  im  Gebirge,  unter  dem  Namen  glambbe(r)n  oder  glambfe(r)n  zusammen. 
Bei  der  Tanzmusik,  die  in  Ländlern,  Walzern,  Hopsern  und  Drehern  besteht, 
spielt  die  Klarinette  im  Verein  mit  der  Geige  die  erste  und  zweite  Stimme,  wäh- 
rend die  Trompete  mit  ihrem  1.  dadda,  ^  dadda  auf  die  Begleitstimmen  ange- 
wiesen ist    Wenn  Fressl  aus  dem  U.mstande,  daß  das  Gefühl  für  Harmonie  sich 

30» 


444  Kritiken  und  Referate. 


auch  im  Volke  überall  geltend  macht,  auf  eine  besondere  den  Baiem  vorzugsweise 
charakterisirende  musiluiliscbe  Begabung  schliessen  will  /  so  seheint  das  ein  wenig 
lu  weit  gegriffen.  Die  Sanges-  und  Spiellust  des  bairischen  Volkes  ist  sicherlieh 
bemerkenswerth ,  aber  gehört  ihm  nicht  ausschliesslich  an.  Indessen  kann  nieht 
geleugnet  werden,  daß  die  süd-  und  mitteldeutschen  St&mme  musikalisch  höher  be- 
anlagt erscheinen  als  die  norddeutschen,  und  wenn  der  Verfasser  die  Beobachtung 
gemacht  hat,  daß  die  norddeutschen  Musiker,  welche  (bei  der  Militärmusik)  nach 
Baiem  versetzt  wurden,  nicht  zu  improvisiren  und  ohne  Noten  zu  spielen  vermochten, 
was  doch  dem  bairischen  Musiker  ein  Leichtes  war,  so  pflichte  ich  ihm  darin  bei, 
dass  dieses  Talent  in  der  That  in  Norddeutschland  selten  ist 

Über  den  Charakter  der  bairischen  Volks-Melodien  macht  Fressl  eine  sehr 
wichtige  Bemerkung.  Die  gesammten  bairischen  Volksst&mme  vom  Fichtelgebirge 
bis  zum  Welschlande,  von  den  Gebieten  der  Schwaben  und  Franken  bis  zu  dem 
der  Slaven  und  Magyaren  (d.  h.  alle  Süddeutschen  und  Oesterreicher)  bedienen 
sich,  nach  Aussage  Fressl's  (S.  65  f.)  und  Franz  von  KobelVs  (Schnadahüpfln  und 
Geschichtin  S.  173)  in  ihrer  Instrumental-  und  Vokalmusik,  insofern  beide  un- 
mittelbar aus  dem  Volke  erwachsen,  niemals  der  Molltonart.  Selbst  traurige 
Weisen  erklingen  nur  in  Dur.  Wenig  Gewicht  will  ich  auf  die  durchaus  irrige 
Meinung  legen ,  daß  die  Molltonart  eine  niedere  Kulturstufe  verriethe ;  denn  daß 
vthatsächliche  Erfahrungen  an  den  verschiedensten  Völkern  der  Erde  dafür  spre- 
chen« ist  längst  widerlegt  Wohl  aber  scheint  es  mir  nöthig,  auf  den  behaupteten 
durchgängigen  Gebrauch  der  Durtonart  in  süddeutschen  Liedern  und  Weisen  be- 
sonderes Augenmerk  zu  haben,  weil  die  Feststellung  einer  solchen  Thatsache  ftr 
die  Musikwissenschaft  von  grösstem  Werthe  sein  kann.  Fressl  giebt  selbst  zu, 
daß  auch  in  der  ländlichen  Musik  zuweilen  die  Molltonart  begegne  und  schiebt 
dies  auf  eine  »erlemte«  Musik.  Ohne  gründliche  Kritik  lässt  sieh  also  augen- 
scheinlich diese  Frage  nicht  abthun,  und  es  wäre  daher  zu  wünschen,  daß  der 
^verheißene  zweite  Theil  des  vorliegenden  Werkes  über  Pfeifen  und  Singen  des 
bairischen  Volkes  den  Schlusssatz  der  ersten  Abhandlung  bewiese,  nämlich  daß 
dem  Baiern  kein  musikalischer  Sinn  für  die  Molltonart  angeboren  und  sie  infolge 
dessen  für  ihn  so  gut  wie  nicht  vorhanden  sei. 

Berlin.  Oskar  Fleiaoher. 


Alfred  Toller^  Kühreihen  oder  Kuhreigen,  Jodel  und  Jodellied 
in  Appenzell.  Mit  7  Musikbeilagen.  Leipzig  und  Zürich,  Gebrüder 
Hug,  1890.  80,  82  und  30  SS. 

Der  Verfasser  der  vorliegenden  Arbeit  hat  sich  der  Lösung  einer  Aufgabe 
unterzogen,  welche  sich  nicht  leicht  jeder  Musikhistoriker  stellen  dürfte.  Um  aus 
dem  tiefen  Borne  der  Alpenges&nge  zu  schöpfen,  muß  man  die  Pfade  kennen, 
welche  dorthin  führen.  Nur  wer  selbst  ein  Kind  der  Alpen  ist,  wer  sich  im 
Denken  und  Fühlen  eins  weiß  mit  ihren  Bewohnern  und  wer  mit  dem  natür- 
lichen Verstfindniß  noch  eine  genügende  wissenschaftliohe  Bildung  vereinigt,  nur 
der  kann  uns  den  Blick  öffnen  für  die  eigenartige  Schönheit  und  Pracht  der 
Alpengesfinge.  Beiden  Ansprüchen  genügt  der  Verfasser.  Mit  großer  Wfirme 
und  lebendiger  Anschaulichkeit  schildert  er  uns  die  technische  Ausführung  und 
klangliche  Wirkung  der  Kühreihen  und  Jodel,  welche  er  als  geborener  Appen- 
zeller aus  eigenster  Erfahrung  hat  kennen  lernen  können.  Daneben  hat  er  ei 
nicht  vers&umt,  die  ganze  bisherige  Literatur  über  seinen  Gegenstand  einer  Prü- 


Alfred  Tobler,  Kahreihen  oder  Kuhreigen«  Jodel  in  Appenzell.         445 


fang  SU  unterziehen.  In  dieser  letzteren  Beziehung  ^äre  freilich  ein  noch  größe- 
res Maß  selbständigen,  kritischen  Urtheils  zu  wünschen  gewesen.  Des  Öfteren 
nimlich  werden  wir  im  Unklaren  darüber  gelassen,  welchen  Standpunkt  denn  der 
Verfasser  den  aufgeworfenen  Fragen  gegenüber  selbst  einnimmt.  Er  führt  das 
Für  und  Wider  an,  entscheidet  sich  aber  nicht.  Noch  einige  Momente  hindern  den 
Oesammteindruck  eines  einheitlichen  Ganzen.  Die  Abhandlung  erschien  zuerst 
in  der  »Schweizerischen  Musikzeitung",  Gebr.  Hug,  Zürich,  Jahrgang  1890,  Heft 
2  ff.  Als  die  Verleger  die  Abhandlung  in  Broschürenform  erscheinen  zu  lassen 
sieh  entschlossen,  hätten  sie  wohl  die  kleine  Mühe  nicht  zu  scheuen  brauchen, 
eine  Notiz,  welche  nur  für  das  Erscheinen  in  der  Musikzeitung  berechtigt  war, 
in  der  Broschüre  selbst  auszumerzen  (S.  9).     Und  die  Beantwortung  der  Frage, 

ob  der  Zwinger-Hofer'sche  Kühreihen  in  Dur  oder  Moll  und  ob  der  ffr\  -  Schlüssel 


L 


auf  der  ersten  oder  zweiten  Linie  steht  (S.  66  ff.),  hätte  ein  Musikhistoriker  zur 
Erledigung  bringen  müssen,  bevor  er  an  die  Ausarbeitung  seines  Materials  heran- 
ging. Diese  Dinge  sollen  nun  keineswegs  den  Werth,  welchen  die  Abhandlung 
fikr  die  Musikwissenschaft  ohne  Zweifel  besitzt,  beeinträchtigen ;  aber  ihre  Er- 
wähnung wurde  doch  durch  die  Pflicht  der  Kritik  erheischt. 

Im  ersten  Abschnitte  untersucht  Tobler  das  Wesen  des  Kühreihens,  haupt- 
sSehlich  nach  der  textlichen  wie  musikalischen  Seite  hin.  Kühreihen  sind 
einstimmige,  ohne  Begleitung  gesungene  Melodieen,  deren  Text,  gemäß  der  ur- 
sprünglichen Bestinunung  des  Zu-  und  Eintreibens  der  Kühe,  sich  auf  die  ein- 
gehen Loba-Lockrufe  beschränkte.  Am  reinsten  kommt  dies  Wesen  zum  Aus- 
druck in  den  beiden  ältesten  Kühreihen,  dem  Khau'schen  von  1545  und  dem 
Zwingei^Hof ersehen  von  1710.  Die  übrigen  mitgetheilten  Kühreihen  sind  moder- 
neren Gepräges.  Sie  haben  textliche  Erweiterungen  erfahren  und  zum  Teil  auch 
eine  mehrstimmige  Umkleidung  erhalten.  Was  übrigens  die  Örtliche  Heimat 
(S.  78  ff.)  und  das  AlteV  des  Zwinger-Hofer'schen  Kühreihens  anbetrifft,  so  giebt 
uns  eine  bekannte  Stelle  in  Glareans  Dodekachord  einen  beachtenswerthen  Wink, 
wohin  wir  uns  zu  wenden  haben.  Im  Dodecach,  (Basel  1547)  pag.  137  steht  zu 
lesen,  daß  das  H3rpoionische  »muHum  gratiae  höhet  in  diukimis  et  amatoriiSf  lin- 
gua  potisaimum  CeUiea ,  qua  Helvetii  utuntury  nee  minus  Germanica  transrhenana. 
Tubarum  aonitus  hodie  inier  huitu  Modi  limites  constat,  integra  amnibus  chordie 
diapentef  sed  diatessaron  extremis  potissimunw.  Hier  ist  also  die  Rede  von  einer 
instrumentalen  Melodiebildung  innerhalb  des  Hypoionisohen ,  welche  sämmtliche 
Töne  von  der  Mediante  c  bis  zum  oberen  Endton,  von  der  unten  gelegenen 
Quarte  aber  nur  die  Grenztöne  berührt.  Genau  nach  diesem  Prinzip  ist  die  Me- 
lodie des  Zwinger-Hofer'schen  Kühreihens  zugeschnitten ;  die  Quarte  "g  -T  wird 
nur  sprungweise  hergestellt,  während  die  Töne  der  Quinte  T -y  sämmtlich  vor- 
handen sind.  Die  Melodie  besteht  ferner  nur  aus  den  Naturtönen,  welche  auf 
dem  Alphorn  vorhanden  sind  —  auf  dieses  nimmt  augenscheinlich  auch  Glarean 
mit  dem  Ausdruck  ntuba<i  Bezug,    wie  es  auch  andere  thun  — .     Das  Alphorn 

hat  ein  unreines,  etwas  zu  hohes  /;  die  Kühreihenmelodie  hat  nie  /,  sondern  stets 

ß$.  Letztere  ist  endlich  reich  ausgeziert  mit  den  sogenannten  Alphornfiguren,  die 
wir  im  Rhau'schen  Kühreihen  vergebens  suchen.  Aus  dem  Gesagten  ziehen  wir 
mehrere  Sehlussfolgerungen.  Die  örtliche  Heimat  des  Zwinger-Hofer'schen  Küh- 
reihens,  welchen  Tobler  selbst  für  Appenzell  ablehnt,  ist  in  der  westliehen' 
Schweiz  zu  suchen.  Die  engere  Heimat  festzustellen  wird  Tobler  am  besten 
Gelegenheit  haben.  Der  Hauptkem  des  Zwinger-Hofer'schen  Kühreihens,  wenn 
nicht  schon  dieser  selbst,  ist  zeitlich  nahe  an  den  Rhau'schen  heran  zu  verlegen. 


446  Kritiken  und  Referate. 


Endlich  sind  die  Stellen  bei  Glarean  und  der  Zwinger- Hof er'sche  Kühreihen 
beide  als  authentische  Belege  dafür  anzusehen,  daß  es  eine  Zeit  gegeben  hat,  in 
welcher  die  Ausführung  des  ursprünglich  gesungenen  Xühreihens  dem  Alphorn 

zufiel.  Die  unreine  Qarte  f-  f  und  die  Alphomfiguren  sind  als  Spuren  dieser 
Einwirkung  zurückgeblieben  (vgl.  S.  13).  Diese  instrumentale  Begung  mag  yiel- 
leicht  ein  charakteristisches  Merkmal  des  Westens  gewesen  sein;  dann  ist  aber 
das  östliche  Appenzell  sicher  nicht  frei  davon  geblieben.  In  der  That  ist  die 
»gewisse  Art  des  Appenzeller  Jodeis«  (S.  13  und  46  ff.)  nichts  anderes  als*  die 
durch  die  Alphomtechnik  beeinflusste  Kühreihenmelodie,  im  Anfange  mit  der 
Bhau'schen  und  Zwinger-Hofer'schen  übereinstimmend. 

Der  Rhau'sche  Kühreihen  ist  frei  von  jenem  instrumentalen  Zuge.  Die  Me- 
lodie durchbricht  die  Oktave  c  -  c  nicht  und  durchläuft  alle  Töne  der  Oktave. 
Ihr  fehlen  also  die  beiden  charakteristischen  Merkmale  der  instrumental  ange- 
hauchten Kühreihen.  Eins  hat  jedoch  der  Rhau'sche  Kühreihen  mit  dem  Zwinge^ 
Hofer'schen  gemeinsam,  die  Melodiebildung  am  Anfang.  Die  Melodie  betont  zu- 
nächst die  Haupttöne  des  tonischen  Durdreiklangs,  Tonika,  Terz  und  Quinte,  um 
sodann  zur  Tonika  mehr  oder  weniger  schnell  zurückzukehren.  Die  übrigen  Küh- 
reihen lassen  dazu  die  Berührung  der  Sexte  hinzutreten.  Das  Gerippe  der  An- 
fangsmelodie, um  das  sich  mehr  oder  weniger  kolorierende  Umspielungen  legen, 
sieht  also  so  aus: 


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(?) 


Darauf  folgen  dann  die  Alphomfiguren.  Tobler  geht  nun  auch  auf  die 
schon  von  Anderen  vor  ihm  gemachte  Beobachtung  ein,  daß  dieser  melodische 
Kern  der  Kühreihen  sich  bereits  in  Kadenzbildungen  Notker'scher  Sequenzen 
findet  (S.  6  ff.),  und  zieht  den  Schluß  daraus,  daß  Notker  den  Hirtenliedem  des 
9.  Jahrhunderts  viel  abgelauscht  habe.  Dagegen  läßt  sicl}  indessen  doch  manches 
einwenden.  Daß  die  Anschauungen  der  weltlichen  Musik  oft  in  überraschender 
Weise  die  Systeme  der  auf  antikem  Grunde  stehenden  mittelalterlichen  Schrift- 
steller durchbrechen,  ist  nicht  zu  leugnen.  Es  bedürfte  aber  erst  eines  näheren 
Kachweises  dafür,  daß  auch  die  praktische  weltliche  Kunst  auf  die  kirchliche 
einen  derartigen  unmittelbaren  Einfluß  gewonnen  hat,  wie  ihn  Tobler  anzu- 
nehmen geneigt  ist.  Wenn  die  Kühreihen  die  Quelle  waren,  aus  der  Notker 
schöpfte,  wie  konomt  es,  daß  ihre  älteste  Überlieferung  erst  aus  dem  16.  Jahrhun- 
dert stammt,  während  die  Notker'schen  Sequenzen  in  viel  älteren  Handschriften 
vorliegen?  Die  Notker'schen  Sequenzen  femer  haben  einen  viel  schweifenderen, 
regelloseren  Zug ,  während  die  Kühreihen  kurze  und  knappe  Perioden  bilden  und 
diese  oft  wiederholen.  Rein  musikalisch  betrachtet,  gehören  also  die  Kühreihen 
einem  späteren  Entwickelungsstadium  an.  Demgemäß  neigen  wir  gerade  zu  der 
entgegengesetzten  Ansicht  hin,  daß  die  Kühreihen  aus  Notkers  Sequenzen  her- 
vorgegangen sind.  Die  Kühreihen  stellen  sich  dar  als  komprimierter  Niederschlag 
der  Tonfälle,  welche  in  den  Sequenzen  stetig  wiederkehren  und  welche  die  Alpen- 
bewohner so  tief  in  sich  aufgenommen  hatten,  daß  sie  wie  mit  ihrem  Eigenthum 
damit  umgingen.  Am  reinsten  Notkerisch  ist  der  Rhau'sche  Kühreihen,-  Tom 
Zwinger-Hofer'schen  an  aber  zeigt  sich  daneben  noch  der  Einfluß  des  Alphorns. 

Es  ist  auffallend  und  höchst  beächtenswerth,  in  wie  breiten  Volksschichten  die 
aus  Notkers  Sequenz  entlehnte  und  im  Kühreihen  ausgeprägte  einfache  Melodie- 
bildungsform sich  bekannt  erhielt  und  wie  oft  sie  bewußt  oder  unbewuBt  bei  der 
Bildung  neuer  Melodieen  wieder  auftaucht.  Vollständiges  Beweismaterial  kann 
hier  freilich  nicht  von  mir  geboten  werden,  aber  die  ausgewählten  Beispiele  wer- 


Alfred  Tobler,  Kühreihen  oder  Kuhreigen,  Jodel  in  Appenzell.        447 


den,  denke  ich,  genügen,  um  den  historischen  Verlauf  im  großen  und  ganzen  zu 
skiiziren.  Zunächst  führe  ich  eine  Reihe  kirchlicher  wie  geistlicher  Lieder  nach 
chronologischer  Keihenfolge  auf: 

].  Strassburg.     K.  Amt.  (1525) ;  Zahn  I.  1783: 


Je  -  BUS  der  hat  uns  zu  -  ge  -  seit  u.  s.  w. 


2.  über  primus  sacrarum  cantionum.    T}'lman  Susato,  Antwerpen  1546. 
tette  »Pro  foelici  senecia.^    Lupus  Hell  ine.    Das  Thema  lautet  im  Baß: 


Mo- 


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Nepro  '  ü  -  das 


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3.  Berwald  (1552).    Ein  Abendreihen.    Ist  offenbar  eine  geistliche  Über- 
tragung der  Kühreihenmolodie ;  Zahn  I.  10: 


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Wie  steht   ihr     al  -  le   hier    und  war  -  tet  mein       und  meint  ich  soU 


%  \  ■*  r~r^^?==^ 


eur   Vor  -  sin  -  ge  -  rin    sein. 
4.  Bure k  (1594);  Zahn  I.  163: 


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jäüU 


Der  Hei-land    ist      ge  -  bo-ren   uns,  die  wir  warn  ver-lo-ren.u.  s.w. 

5.  Vulpius  (1609);  Zahn  I.  508.  Im  17.  Jahrhundert  taucht  sowohl  auf 
Tokalem  als  auch  instrumentalem  Gebiete  die  Mollfassung  auf.  Die  Kirche  sucht, 
wie  es  vielfach  geschieht,  dadurch  das  weltliche  Wesen  abzustreifen: 


Lr.  j  12J^r  -^  jf  y  f-i 


-7*V- 


Be  -  scher  uns  Herr  das  täg-licbBrot.    u.  s.  w. 

6.  J.  Crüger  (1640);  Zahn  I.  583: 


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t=t 


^ — »w^ 


:;: 


Ge  -  lo  -  bet  sei    Is  -  ra  -  eis  Gott.    u.  s.  w« 


7.  J»  Schop  (1642);  Zahn  L  1036: 


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A^ 


T^ 


Was  darfst  du    doch.    u.  s.  w. 


448 


Kritiken  und  Referate. 


8.  Cant.  Qoth.  II.  [1648);  Zahn  I.  617: 


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3 


2 


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t=i. 


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-»***- 


O     treu-  er    Gott    ins    Him-mels  Thron,    u.  8.  w. 
9.  J.  Crüger  (1653);  Zahn  II.  2530.    Man  beachte  hier  die  Quarte  ^-cü 


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-Ä»- 


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Ef^rl 


-»*4<^ 


Ich    will     er  -  hö  -  hen    im  -  mer  -  fort.    u.  s.  w. 


10.  Herzogin  Sophie  Elisabeth  (1667);  Zahn  I.  1408: 


[it^zirz:^^^- 


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■tV»*- 


Sor  -  gen     ist    der  groß-  te  Schmer -ze.  u.  8.  w. 


11.  P.  S Ohren  (1668);  Zahn  I.  930: 


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3Ö: 


.tfC. 


Das    wal  -  te    Gott,  der     uns    aus    lau  -  ter    Ona  -  den.  u,  8.  ▼• 
12.  Neuss  (1703);  Zahn  I.  839: 


B^ 


nxii^LZX:!^ 


5 


-i%V- 


Herr    ha  -  de  -  re 


mit   mei  -  nen    Ha  -  de  -  rem.    u.  8.  ▼• 


13.  Störl  (1710);  Zahn  I.  752: 


X 


f   /i  rf  I  'J    J 


.iML. 


Ganz  neu    ist,     wer     in     Chri  -  sto         le  -  bet.  u.  8.  w. 
14.  Strassburg.  G.  B.  (1713);  Zahn  I.  1357o: 


"|i^>  j  ;:  ^ 


■^^ 


f^ 


Sollt  es     gleich  bis  -    wei-len  schei-nen.  u.  s.  w. 


15.  (1727);  Zahn  IL  3544: 


/T^ 


fa=ig=J 


Ji6U 


Hü  -  ter,      wird    die    Nacht  der 


Sün     -     den.  u.  s.  w. 


Alfred  Tobler,  Kühreihen  oder  Kuhreigen,  Jodel  in  Appenzell.         449 


Mftn  vergleiche  ausserdem  noch  Zahn  I.:  27  a  und  b,  188,  478,  481,  501,  812; 
ü:  2565,  2580,  2595,  2626,  2696,  2997,  3117,  3186,  3294  und  das  PassionsUed 
•  0  Lamm  GoÜs»,  unschuldig,*  Welche  Bolle  die  Kühreihenmelodie  in  der 
norddeutschen  Orgelmusik  spielt,  habe  ich  in  meiner  Arbeit  über  Sweelinck  nach- 
gewiesen (vergl.  Vierteljahrssehr.  f.  M.  1891,  S.  159  ff.).  Noch  heute  lebt  die 
KOhreihenmelodie  fort  Schlägt  man  £.  Qriegs  »Nordische  T&nze«  auf  (Edit. 
Peters  nr.  1482),  so  findet  man  unter  nr.  1  einen  »Springtanzv,  dessen  Melodie: 


iliS  rCTia-f  .j 


m-^MS'  r/ 1  f  c-gf^^ 


mit  der  des  »  Chüäräierlt*  (S.  46  f.)  die  grösste  Ähnlichkeit  hat.     Die  Melodie 
Ton  dem  »Kuhreigena  (Grieg,  nr.  22) : 


iji'ii  JifgJLiHTr  pi  J  J' j  r^^ 


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J^l-'  O.IJ.I^ 


enthält  wieder  die  Alphcmfiguren  und  lehnt  sich  im  Anfange  an  die  Sequenz- 
melodie an. 

Über  den  Jodel  und  die  Jodellieder  können  wir  uns  kürzer  fassen;  sie 
sind  ja  auch  die  verhältnissmäßig  jüngeren  Erzeugnisse,  da  ihre  historischen  Be- 
siehungen  direkt  nicht  so  weit  zurückreichen,  wie  es  bei  den  Kühreihen  der  Fall 
war.  Die  Jodel  sind  indessen  nicht  weniger  wichtig.  Der  Verfasser  weist  uns 
nach  (S.  37  ff.),  daß  ihre  Melodieen  sich  dem  Alphorne  oder  der  Schalmei  an- 
passten,  also  im  Gegensatze  zu  dem  Kühreihen  von  vornherein  instrumentale 
waren.  Dazu  kommt,  daß  ein  Jodel  nie  unbegleitet  ausgeführt  wird,  sondern 
stets  durch  2  oder  3  Brummstimmen  seinen,  wenn  auch  einfachen,  harmonischen 
Untergrund  erhält.  Wir  dürfen  zweifeln,  daß  die  kurzen  Ausrufe,  welche  heute 
den  Jodeln  als  Texte  untergelegt  werden,  von  jeher  mit  ihnen  verbunden  gewesen 
und,  und 'können  Tielmehr  annehmen;  daß  die  Jodel  zu  irgend  einer  Zeit  einmal 
tfüch  auf  dem  Alphorne  ausgeführt  wurden  unter  Begleitung  von  anderen  Instru-^ 
menten  oder  menschlichen  Stimmen. 


450  Kritiken,  und  Keferate. 


Alfred  Tobler  plant,  wie  wir  hören,  eine  Ausgabe  alter,  echter  Appenzeller 
Volkstanzweisen.  Ihr  charakteristisches  Merkmal  ist  gleichfalls  eine  harmonische 
Begleitung,  an  welcher  sich  Violinen,  Violoncell,  Baß  und  Hackebrett  betheiligen. 
Der  Form  nach  sind  die  Tfinze  eine  lange  Reihe  Ton  Variationen  über  ein  Thema. 
Die  Schweizer,  zähe  im  Festhalten  ihrer  Melodieen  wie  einst  die  Spartaner,  haben 
doch  gewiß  diese  Art  des  Musizierens  seit  alten  Zeiten  gepflegt  und  aus  dem 
Mittelalter  überkonunen.  Sollte  es  nicht  möglich  sein,  Ton  diesen  Volkstftnsen 
aus  einen  Weg  zu  finden  in  das  unbekannte  Gebiet  der  mittelalterlichen.  Orchester- 
musik, in  ähnlicher  Weise,  wie  man  ihn  von  den  durch  Melgunow  herausgegebe- 
nen russischen  Volksliedern  zu  der  altgriechischen  Musikübung  finden  kann? 
Freilich  müßten  dann  die  Verleger  auf  eine  moderne  Klavierbegleitung  yeisichten 
und  der  Herausgeber  müßte  nach  einer  möglichst  getreuen  Aufzeichnung  des 
volksthümlichen  harmonischen  Gewändes  trachten.  Ich  glaube,  daß  man  so  zu 
einer  korrekteren  Ansicht  über  das  ^Ensemble  eines  mittelalterlichen  Orchesters 
gelangen  kann,  als  man  sie  bisher  ausgesprochen  findet.  Noch  eine  andere  That- 
Sache,  als  die  wohlthuende  Ordnung  in  den  mehrstinunigen  russischen  Volkslie- 
dern, läßt  sich  nicht  mit  der  Vorstdlung  von  dem  wüsten  Chaos  des  mittelalter- 
lichen Orchesters  zusammen  reimen.  In  England,  dem  Geburtslande  der  euro- 
päischen Polyphonie,  ist  die  Variation  bereits  im  16.  Jahrhundert  zu  einem 
solchen  Grade  der  Vollendung  gelangt,  daß  wir  nothwendig  einen  großen  Zeitraum 
Torhergehender  Ausbildung  ansetzen  müssen.  Auch  hier  ist  die  Variation,  wie  in 
der  Schweiz,  aufs  engste  verknüpft  mit  dem  weltlichen  Lied  und  Tanz,  auch 
hier  macht  sich  der  harmonische  Grundzug  durchaus  geltend.  Wenn  Tobler  sieh 
mm  auch  der  instrumentalen  Seite  seiner  heimischen  Volksmusik  mit  Liebe  und 
Sorgfalt  annehmen  wollte,  so  würde  er  die  Musikwissenschaft  zu  noch  größerem 
Danke. verpflichten,  als  er  es  ndt  seinen  Untersuchungen  über  die  Kühreihen  und 
Jodel  gethan  hat. 

Charlottenburg.  Max  Beiffert. 

Notizen. 

Die  Wiener  Hofkapellmeister-Ordnuxig  vor  300  Jahren. 

Im  Reichsfinanz- Archiv  zu  Wien  befindet  sich  unter  der  Rubrik  «Hofstaat, 
Hofstellen  etc.  66  D«  ein  Aktenstück  von  musikhistorisch  interessantem  Inhalt. 
Es  bildet  einen  Theil  der  »Beschreibung  der  kaiserL  Hofstatt,  Hofstellen  und  unter- 
geordneten Aemtem  mit  beygefügten  Instructionen,  worin  sich  auf  die  Jahre  1540— 
1576  bezogen  wird,  sonst  ohne  Jahrzahl,  scheint  der  Hofstatt  von  Kaiser  Maxi- 
milian I.  zu  seyn,  weil  es  im  Eingang  heißt:  Burgundischer  Hofstatt.« 

Besondem  Nachdruck  legt  die  Instruction  auf  die  leibliche  Wohlfahrt  der 
dem  Capellmeister  zur  Pfiege  anbefohlenen  Capell-Sängerknaben.  Sie  lebten,  nie 
aus  dem  in  ungef&hren  Zügen  vorgeschriebenen  Küchenzettel  ersichtlich,  dazumal 
gute  Tage,  und  die  Wiener  Capellknaben  von  heute,  nicht  minder  die  Alumnen 
der  Leipziger  Thomana  und  andere  jugendliche  Sänger  ähnlich  künstlerisch  ^ 
Schulter  Chöre,  dürfte  etwas  wie  Neid  anwandeln  angesichts  der  goldenen  Zeit, 
die  ihren  einstigen  Collegen  beschieden  war. 

Wörtlich  lautet  das  Schriftstück  wie  folgt: 

Capelmeister 
hat  monatlich • ^ 

Des  Capellmeisters  Instruction,  wie  solche  vor  Alters  üblich  geweßen,  folgt  hie^ 

^  Der  Posten  ist  unausgefüllt. 


Kritiken  und  Referate.  451 


nacL  Und  obwohlen  dabey  Veränderungen  fürgangen ,  so  hat  man  doch  solche 
alhier  2u  corrigiren  für  unnoth  erachtet»  weil  man  sich  dergleichen  Kapel-Knaben 
nicht  bedienen  wird. 

Capellmeisters  Instruction. 

Instruction  und  Ordnung,  wie  vnd  waß  gestalt  unsere  Capel  Singerknaben 
hinführo  mit  ihrem  Ordinari,  und  Extraordinari  unterhalten  werden  sollen. 

Erstlich  soll  unserm  Capelmeister,  oder  anderen,  so  Bemelte  unsere  Capelsinger 
Knaben  hinfüran  mit  der  Unterhaltung  bey  ihme  haben  wird,  auf  ieden  Knaben 
für  Speiß,  und  trankh,  Herberg,  Beth,  holtz»  Li  echt,  wascherhalten,  flickerlohn, 
Barbier,  und  Badgeldt,  auch  alles  anders  dergleichen  Sachen,  nichts  außgenohmen, 
das  Monath  4  fl.  50  kr.  in  Baitung^  passirt  werden,  doch  sollen  die  Knaben,  wie 
sich  gebühret  in  Speiß  undt  trankh  nach  ihrer  Nothdurfft,  alß  an  fleischtagen  mit 
drey,  ynd  an  fischtagen  mit  4.  gutten  speisen,  und  in  3, Wochen  dreymahl  gebrattenes, 
wohl  ynd  sauber  gehalten,  und  soll  suppen,  und  Fleisch  nicht  für  zwo,  sondern  nur 
für  ein  Gericht,  und  mit  dem  Kraut  und  Fleisch  gleichfals  verstanden  werden. 

Gleichfahls  soll  im  Tranckh  des  Weins  auch  ein  Ordnung  gehalten  werden, 
nemblich  auff  jeden  Knaben  zur  mahlzeit  anderthalb  seydel  Wein,  doch  daß  es  ein 
solcher  Wein  seye,  damit  die  Knaben  nicht  davon  krankh  werden,  und  Ers  gegen 
Unß  wisse  zu  verantworten. 

Und  nachdem  die  Junge  Knaben  pflegen  alle  morgen  eine  suppen  und  unter 
Tags  ein  Brodt  zu  essen,  soll  ihnen  dasselbe  auch  jederzeit  gutwillig  gereicht, 
und  der  nothdurfft  nach  erfolgt  werden. 

Über  das  soll  noch  auf  ein  Knaben  daß  Monath  Ein  Thaler,  bringt  das  Jahr 
Vierzehn  gülden  Beinisch,  gerait  werden,  davon  soll  jedem  das  Jahr  Sechs  neue 
Hembter  eins  in  das  andere  zu  40  kr.  und  drey  paht  Hosen,  im  Winter  ein 
wüllens,  und  im  Sommer  Zwey  lideme,  auch  zwey  parchente  wammeß,  das  eine 
im  Winter  mit  Baumwoll,  das  ander  .im  Sommer  ohne  Baumwoll,  sambt  den 
Nestelen  und  macherlohn  zu  6  fl.  30  kr.  und  noch  darüber  alle  monath  ein  pahr 
Schue  zu  14  kr.  angeschlagen,  solches  alles  Sommers,  oder  Winterszeit  wanns  die 
Nothdurfft  erfordert,  gereicht  werden.  Bringt  also  auf  jeden  Knaben  von  wegen 
solcher  Leibs  Kleider  das  Jahr  zwölff  gülden  54  kr. 

Koch  soll  hinführan  auf  jeden  Capel  Knaben  für  Pappier,  Federn,  Tinten, 
und  dergleichen  Sachen  zu  der  Schreiberey  gehörig,  auf  ieden  Knaben  6  kr. 
passirt  werden,  und'  solches  soll  Er  iedem  monatlich  reichen. 

Und  dieweil  Wir  Sie  alle  Jahr  von  Hoff  kleiden,  und  im  Winter  Nothdürff- 
tiglieh  für  die  Kälte  versichern  lassen,  und  über  solches  noch  Eine  solche  statliche 
Nothdurfft,  wie  oben  gehört,  darzu  insonderheit  reichen,  sollen  Sie  billiger  desto 
Sauberer  gehalten  werden  mögen. 

Und  damit  hinführan  eine  bessere  richtigkeit  gehalten,  so  soll  ein  Jeder 
Capelmeister  oder  ander,  denen  die  Knaben  mit  der  Unterhaltung  befohlen,  allweg 
zu  außgang  deß  Monaths  seine  Kaitung  ordentlich,  dieser  Ordnung  nach,  wie 
sich  gebühret,  unterschiedlich  fürbringen,  und  waß  Einem  jeden  Knaben  monat- 
lichen in  solcher  Unterhaltung  der  Leibs  Kleider  pro  rato  erfolgt,  das  soll  von 
jedem  Knaben  unterschrieben  werden. 

Demnach  stellen  wir  die  Extraordinari  Außgahen  hinfürter  ab,  es  wäre  dan 
saeh,  daß  der  Capelmeister  oder  ander  Capel  Persohnen  etwaß  von  Gesang  machen 
wolten,  oder  daß  ein  Knab  Kranckheit  halber  artzney  pflegen  müste,  solches  soll 
in  Baitung  angenohmen,  und  nach  billiohen  Dingen  passirt  werden. 

1  »Raitungff  ist  Rechnung. 


452  Notizen. 


Gleichfalls  soll  hinführan  in  der  Knaben  neuen  oder  alten  Kleidungen  die- 
selben eigens  gefallens  zu  yerkauffen,  oder  su  yerhandeln  kein  Capelmeister  oder 
ander  kein  yermeinte  Gerechtigkeit  haben ,  oder  sich  gebrauchen ,  dann  solche  im 
Hofstatt  durchauß  aufgebebt  worden  seyn. 

Vnd  falls  die  Knaben  zu  Zeiten  außzu singen,  oder  eine  Mtuiea  zu  halten, 
von  ehrlichen  Leuthen  erbetten,  und  ihnen  den  Knaben  selbst  insonderheit  der- 
halben  waß  verehret  würde,  das  solle  unter  Sie,  wie  sich  gebühret,  außgetheilt 
werden. 

Beschließlichen  sollen  die  Knaben  in  guter  zucht,  und  forcht  Gottes  ge- 
halten, und  mit  ihrer  Lemung  zu  ihren  gebührlichen  stunden  vor-  undt  nachmittag 
in  der  Musiea  durch  den  Capelmeister  selbst,  mit  ihren  ordentlichen  iectiofun 
durch  ihren  Praecepiorem  fleißig  gehalten,  und  unterwiesen  werden,  und  alles  das 
thuen,  waß  zu  pflÄntzung  und  aufferziehung  eines  Ehrlichen  zuchtigen  wandels, 
und  der  Jugend  zugehöret  wie  dann  Er  Capelmeister  und  gedachter  Praeeeptor  n 
ihnen  schuldig,  und  unser  ernstlicher  will  und  meinung  ist.  geben  zu  N. 

Vice  Capelmeister. 
Monatliche 30  fl,  — 

Capel  Knaben 
Sind  Sechzehn  gehalten,  und  zu  ihrer  Unterhaltung  monatlich  Ton  90  bis  in  100  fl. 
und  mehr  gerait,  und  bey  dem  Capelmeister  gespeiset  worden. 

Es  ist  aber  allhier  dieser  modus  obaerviit  worden,  daß  der  Capellmeister, 
monatlich  seine  auf  die  Knaben  verrichte  aufigaben,  auf  nachfolgende  weiß  wb  A, 
verzeichnet,  solche  Specißcation  dem  H.  Obristen  Hofmeister  zu  dessen  Subscri- 
ption  fürbracht,  welche  hernach  auch  der  Hof  Cammer  Praesident,  oder  Dtreetor 
unterzeichnet,  darauff  der  Hofzahlmeister  gegen  gebührliche  quittung,  die  wieder- 
bezahlung  gelaistet 

A. 

Ich  N.  N.  Rom.  Kay.  May.  Capelmeister  habe  höchstemanter  Singer  Knaben 
ihre  gebührliche  unterhalt,  nach  Ordnung  reichen  lassen,  in  nechst  verschienen 
monath  Augusto  des  N.  Jahres  wie  folget. 

^  Erstlich  den  Acht  Knaben  zu  feder,  tinten  undt  Papier     fl.  1  kr.  30. 

Item  einem  Jeden  Knaben  auf  ein  pahr  Schue  das  pahr 

umb  35  kr fl.  4  kr.  40. 

Summa  .    .    .   .  fl.  66  kr.  10.» 

Wann  dieser  Knaben  einer  erwachsen,  oder  sonsten  seine  stimme  mutirtt  ist 
ihme  zu  Einem  Stipendiat^^diX  75  fl.  durch  eine  ordinanz,  welche  der  Obrist  Hof- 
meister unterschreiben,  und  der  Hof  Cammer  Praesident  mit  seiner  Subseription 
im  Hofzahlambt  zu  bezahlen  angeschafit,  bewilliget  worden^ 

Diese  Ordinanzen  wie  hiemach  aub  B  folgt. 

B. 
Römischer  Kay.  May.,  unser  allergnädigster  Herren,  wohlverordnete  Herren 
Hof  Cammer  Praesident  und  Räth  Höchstgedacht  ihr  Kay.  May.  haben  N.  N. 
welcher  in  dero  CapeUen,  in  das  aylffte  jähr,  für  einen  Singer  Knaben,  treulieh 
und  fleißig  gedienet,  und  nunmehr  anjetzo  mit  der  stimmen  mutirt^  außzumustem, 
ihme  auch  das  gewöhnliche  Siipendiat%A<di!t  fünff  und  Siebensig  gülden  Rheinisch 
reichen  und  geben  zu  lassen  allergnädigst  bewilliget  worden,  derowegen  die  EH. 
hierüber  in  mehr  höchstgedacht  ihrer  Kay.  May.  Hofzahlmeister  Ambt  die  fernere 
Verordnung  zu  thuen  wissen.    Actum  Prag  den  18.  Aprü  Ao.  N. 


1  Soll  jedenfalls  heissen  6  fl.  10  kr. 


I^otlsen.  453 

Singer  Knaben  Fraeceptor» 

Monatliche 12  fl. 

Jihrl.  Kleidergelt 20  fl. 

NenJahrgeldt 12  fl. 

Mus  i  et. 

Denen  von  allerhand  Mtmealiaehen  ifutmmenien,  so  man  Cammer  Mutiet 
genant»  deren  gemeiniglieh  Vier  gehalten  worden,  hat  man  Monatlich  nachdem  Sie 
fuaUßeiTt  14.  18,  und  gar  biß  in  30  fl. 

Item  Kleidergelt  von  16.  in  20  fl. 

Neujahrgeldt  soTiel,  alß  ein  Monat  Sold  gereicht. 

Cantores. 

Die  BauisUn  sind  auch  unterschiedlich  besoldet -worden,  also  daß  mancher 
15.  20.  biß  25  fl.  monatliche  Besoldung  gehabt.  Darumben  20  fl.  für  ein  Jahrs 
Kleydt,  und  15  in  20  fl.  (:  nemblich  soTiel  alß  ein  Monath  Sold :)  zum  neuen  Jahr, 
und  werden  deren  etwa  Vier  in  Sechs  unterhalten. 

AÜiiien  und  Tenoriaien  ingleichen  von  18.  biß  in  20  fl.  monatlich,  beneben 
jährlich  Kleidergeidt  und  neu  Jahr,  wie  oben,  und  wurden  deren  10  in  12  gehalten. 

Diseantisten,  so  Spanier,  waren  Zween,  die  Unterhaltung  wie  den  obenbemelten. 

Organisten 

haben  25  fl.  monatlich,  und  da  Sie  benebens  Componisten,  noch  10  fl.  Besoldung 

gehabt    Kleidergelt  jährlichen 20  fl.  —  Wann  Sie  etlich  Jahr 

gedienet,   und  sonsten  qudlißcirtj  hat  man  ihnen  ein  Zubuß  von  60  in  100  fl., 
auch  neu  Jahrgeldt  so  yiel  alß  ein  Monathsoldt  bewilligt 
Sind  deren  gemeiniglich  zween  gehalten  worden. 

Capein  Noiiit. 
Monatlich  8  fl.  Besoldung. 

und  fOr  ein  Jahrs  Kleid 8fl.— 

Diese  NotkUn  Besoldung  hat  gemeiniglich  ein  Bassist,  oder 
Tsncriai,  so  mit  den  Noten  umbgehen  können,  neben  seiner  andern 
nnterhahung  gehabt. 

Acfiordier, 

Monatliche 12  fl.  — 

und  für  ein  Jahrs  Kleydt 20  fl.  — 

Neu  Jahrgeldt 12  fl.  — 

Lauttenist. 

Monatliche 15  fl.  — 

Kleidergeldt     16  fl.  — 

Neu  Jahrgeldt      15  fl.  — 


Die  Jahre  1540 — 1576,  auf  welche  sich  die  vorstehende  Capellmeister-Iu- 
struetion,  wie  amtlich  bemerkt,  zunächst  bezieht,  fallen  in  die  Regierung  der 
Kaiser  Ferdinand  I.  (1521—64)  und  Maximilian  IL  (1564—76) ,  denen  Rudolf  IL 
(1576—1612)  folgte. 

Den  Capellmeisterstab  fahrten  zu  jener  Zeit  die  Niederländer  Arnoldus 
de  Frugkh  —  in  den  Acten  des  österreichischen  Haus«,  Hof-  und  Staatsarchivs 
auch  als  von  Prunkh  oder  Brugg  angeführt  —  von  152?  bis  1545;  Petrus 
Moessanus  —  verschiedentlich  auch  als Maessenus,  Moesons,  Manssenus, Masce- 


454  Notizen. 


nius  Moderatus,  Massenus  bezeichnet  —  von  1546  bis  1562;  sodann  Johann 
Castiletti  vom  November  1563  bis  November  1564;  Jacob  Vaet  —  oder  »Vode< 
—  vom  1.  December  1564  bis  zu  seinem  Tod  am  8.  Januar  1567  und  endlieh 
Philippus  de  Monte  vom  1.  Mai  1568  bis  zu  seinem  am.  4.  Juli  1603  erfol- 
genden Ende. 

Wechselnd  wie  die  Zahl  der  Capelimitglieder  war  der  Gehalt  der  Capell- 
meister;  sodass  dementsprechend  auch  der  betreffende  Posten  in  der  Capellmeiater- 
Ordnung  unausgefQllt  blieb.  Im  »Hofstatt  Kaiser  Ferdinand  I.  152?«  heisst  es: 
»Capellmeister  Amoldt  van  Prugkh  hat  über  essen  und  trinkhen,  Alle  Monath  zu 
Solde  zehen  gülden.«  Petrus  Moessanus  werden,  laut  dem  Status  von  1550,  seine 
Dienste  mit  monatlich  20  fl.  vergütet.  1554  ist  sein  bares  Einkommen  mit  40  fl., 
1556 — 58  mit  30  fl.  pro  Monat  verrechnet.  Sein  Nachfolger  Johann  Castiletti  steht 
im  Status  von  155?  bis  1564  mit  25  fl.  monatlich  verzeichnet.  Philipp  de  Monte 
empföngt,  den  Acten  von  1576  zufolge  »30  fl.  m[onatlich]  und  3  Pferd.« 

Als  Vicecapellmeister  wirkte  unter  letzterem  von  1598  bis  1599  der  be- 
deutende Komponist  Jacobus  Regnart,  der  der  Capelle  zuvor  als  Te- 
norist und  weiter  auch  als  Musiklehrer  der  »Capein  Singer  Knaben«  angehört 
und  als  solcher  seit  1573  einen  monatlichen  Lohn  von  15  fl.  bezogen  hatte.  Erst- 
malig taucht  sein  Name  im  »Hofstat  Max  v.  Böhmen  1560«  als  Tenorist  mit  7  fL 
Monatsgehalt  auf.  Orlando  di  Lasso  empfahl  ihn  in  einem  Brief  vom  13.  Februar 
1580^  dem  Kurfürst  August  von  Sachsen,  als  er  die  Berufung  zu  dessen  CapeU- 
meister  ablehnte,  an  seiner  Statt  mit  den  Worten:  »Ich  mag  in  der  warheit  sagen, 
das  es  ein  treflich  Kerlt  ist,  bescheiden  und  vernunftig.  Es  ist  ein  Niederlender, 
redet  guth  deutzsch,  und  kan  auch  andere  sprachen.  Und  in  Summa,  es  ist  ein 
gutter  Musicus,  und  zu  einem  solchen  dienst  sehr  artig.«  Doch  verblieb  Regnart 
bis  zu  seinem  1599  erfolgenden  Tod  in  österreichischen  Diensten. 

Ganz  ungenannt  bleibt  in  den  von  d.  Verf.  emsig  durchsuchten  Acten  des 
Wiener  Staats-  und  des  Reichsflnanz-Archivs  wie  in  denen  des  Archivs  des  Mi- 
nisteriums des  Innern,  Jacobus  Gallus,  der  grosse  Kontrapunktist,  der  am 
18.  Juli  1591  als  Hofcapellmeister  Kaiser  Rudolf  U.  .in  Prag  starb.^  Keine  Notiz 
deutet  an  dieser  Stelle  auf  den  Meister  hin,  dessen  300 jähriger  Todestag  in 
diesem  Monat  wiederkehrt. 

Leipzig.  M.  Liiwius. 

1  La  Mara,  Musik  erbriefe  aus  fünf  Jahrhunderten.  L  Leipzig,  Breitkopf  & 
Härtel.  1887. 

2  Auch  Köchl  »Die  kaiserl.  Hofmusikcapelle  in  Wien.«  (Wien,  Beck  1569) 
erwähnt  Gallus  mit  keinem  Wort. 

Brnokfehler. 

S.  288,  Zeile  9  und  292,  Zeile  2  von  4inten:  453  statt  451. 
.     S.  292,  Anm.  1  Zeile  2:  Vesonhinus  atatt  Vconhinus. 
S.  299,  Zeile  2  von  unten:  untrew  statt  intrew. 
S.  316,  in  dem  Beispiel  in  Lautennotation   z  z 

g  statt  z 
*g  *g 

S.  316,  Zeile  17:  ^  statt  z. 

S.  333,  Erstes  System,  Takt  3  im  letzten  Accord  ßs  statt  /. 
S.  333,  Zeile  1  von  unten:  S.  316.  317  statt  S.  32.  33. 
S.  336,  Unterstes  System,  Takt  2,  die  letzten  beiden  Töne  als  zwei 
Achtel. 


Nochmals  Johann  Valentin  Meder. 

Von 

Johannes  Bolte. 


Durch  die  Freundlichkeit  des  Herrn  Anton  Huchholtz  in 
Riga  bin  ich  in  den  Stand  gesetzt,  nachträglich  noch  einige  Nach- 
richten über  Meders  Lebensgang  aus  den  von  ihm  durchforschten 
Acten  des  Rigaer  Stadtarchivs  mitzutheilen.  Vor  allem  ist  die  That- 
sache  bemerkenswerth^  daB  Meder  1698  nicht  zum  ersten  Male  diese 
Stadt  besuchte,  sondern  schon  in  den  Jahren  16S5  und  1686,  also 
vor  seiner  Anstellung  in  Danzig,  dort  einen  längeren  Aufenthalt 
nahm.  Ob  er  ein  bestimmtes  Amt  bekleidete,  bleibt  zweifelhaft, 
trotzdem  er  in  den  Verhandlungen  als  Kapellmeister,  einmal  auch 
als  Komponist,  titulirt  wird. 

Meder  hatte  »die  Passion  secundum  Lucam  in  eine  neue  Musik 
gebracht  und  selbige  mit  vielen  geistlichen  Liedern  gezieret«  und 
überreichte  dies  Werk  dem  Rathe  mit  der  Bitte,  es  auf  der  Stadt 
Kosten  drucken  und  während  der  bevorstehenden  Passionszeit  in  der 
Kirche  singen  zu  lassen.  Der  Rath  beschloss  am  25.  Februar  1685, 
zunächst  das  Gutachten  des  Konsistoriums  einzuholen  i.  Dies  ent- 
schied sich  auf  die  Anfrage  des  Bürgermeisters  von  Schultzen  am 
10.  März  1685  dahin,  »daß  das  Werk  an  und  vor  Ihm  selbsten  ohn- 
tadelhaffl;  sein  möchte  und  Ihm  privatim  beim  Cantore  probiren  und, 
da  er  Er  wolte,  selbst  drucken  zu  laßen  frei  und  nachgegeben  wer- 
den könte,  daß  man  es  aber  in  der  Kirchen  wolte  singen  laßen, 
wolten  Sie  nicht  suadiren,  sondern  vielmehr  bitten,  daß  es  nicht 
geschehen  möchte,  angesehen  diese  itzige  schon  vor  einige  Jahre 
eist  introducirett,  itzo  der  Gemeine,  die  alle  Ihr  Büchelchen  in  der 
Handt  und  Kirchen  hetten,  so  bekandt,  daß  Sie  alles  andächtig  mit 
«ingen,  und  so  balde  diese  gesungen  werden  würde,  dürffte  Sie  nicht 
allein  von  der  Andacht  abkommen,   sondern  auch,   da  dieses  mehr 


1  Rigaer  Stadtarchiv,  Publica  29,  307.    Die  Supplik  Meders  ist  bisher  noch 
nicht  aufgefunden. 

1891.  31 


456  Johannes  Bolte, 


figiiraliter  als  die  itzige  gesetzet  und  länger  und  weitläufftigei  were, 
auch  so  balde  Ihnen  nicht  bekandt  werden  würde,  mit  minderer  An- 
dacht in  der  Ejrchen  auffgehalten  und  andere  gar  weg  zu  bleiben 
veranlaßet  werden  diir£ften  er  ^.  Diesen  ablehnenden  Bescheid  beschloB 
der  Rath  am  folgenden  Tage  dem  Komponisten  mitzutheilen  und 
ihm  wegen  der  Dedication  12  Bthlr.  Alb.  aus  dem  Stadtkasten 
reichen  zu  lassen  2.  Ein  solches  Verfahren  kränkte  begreiflicherweise 
unsem  Meder  tief;  er  begehrte,  wie  der  Bürgermeister  am  13.  Deßrz 
berichtete^,  seine  Komposition  zurück,  weil  er  sie  nun  auf  seine 
eigenen  Kosten  drucken  lassen  wolle;  auch  seien  ihm  »die  12  Rthlr., 
so  zur  Discretion  ihm  zugelegt  worden,  viel  zu  geringe  und  seines 
Erachtens  diese  Arbeit  ein  50  Rthlr.  und  höher  zu  schätzen«.  Aus 
jenem  Vorsätze  wurde  jedoch  nichts;  die  Partitur  blieb  ungedruckt 
und  fand  sich  später  in  seinem  Nachlasse^. 

Im  folgenden  Jahre  wirkte  Meder  als  Sänger  bei  Kirchenauf- 
führungen mit,  wie  ein  Rathsprotokoll  vom  12.  Mai  1686  ergiebt^. 
Auf  Antrag  des  Cantors  Rade  wurde,  »weil  kein  Sänger  itzo  hie  und 
die  Music  in  der  Kirchen  nicht  wohl  bestellet  war,  auch  Msr.  Meder 
umbsonst  nicht  auffwarten  wolte«,  diesem  dieselbe  Gage  bewilligt, 
welche  16S5  der  Lieutenant  Ajrmal  von  Danzig  als  Sänger  »wegen 
Auffwaitung  auff  dem  Cohrc  genossen  hatte  ^. 

Aus  den  Jahren  1702  und  1703  ist  zu  dem  früher  Berichteten 
nachzutragen  ein  Streit  mit  dem  neuen  Cantor  Joh.  Georg  Andrea. 
Dieser  klagte  am  18.  Januar  1702  dem  Rathe,  daß  Meder  am  Drei- 
königstage die  Orgel  im  Dome  von  einem  Substituten  habe  spielen 
lassen,  wobei  »einige  Fauten  vorgegangen«,  und  verschaffte  ihm  da- 
durch einen  dienstlichen  Verweis^.  Dafür  setzte  es  Meder  durch, 
daß  der  Cantor  am  19.  November  d.  J.  Befehl  erhielt,  seine  dem 
Rathe  gewidmete  Lob-  und  Danck-Music  auf  den  Sieg  bei  Klissow 
am  folgenden  Tage  aufzuführen^.  Von  der  Chorleitung  aber  wußte 
Andrea  seinen  Nebenbuhler  fernzuhalten;  auch  wenn  bei  feierlichen 
Leichenbegängnissen  »auf  zweien  Chören  musiciret«  wurde  und  somit 
zwei  Dirigenten  nöthig  waren,  sollte  Andrea  den  einen  Chor  imd 
den  andern  der  Schul-CoUega  Jahni  dirigiren,  wie  bei  dem  BegräbniB 
des  Majors  Diedrichs  am  9.  Januar  1703  von  neuem  festgestellt 
wurde  ®. 

Von   den  hinteilassenen  Kompositionen  Meders  hat  sich  leider 


1  Consistorialia  7,  54.  2  Publica  29,  322.  3  Publica  29,  344.  *  Oben  S.  50, 
Nr.  34.  5  PubUca  31,  201.  «  Publica  29,  268.  ?  Cameralia  18,  29.  »  Publica 
55,  354.  Vgl.  unten  Nr.  4  des  Verzeichnisses.  ^  Cameralia  18  ohne  Seitenzahl. 
Vergeblich  berief  sich  Meder  darauf,  daß  er  schon  beim  Begr&bniß  des  Obersten 
Albedyl  den  zweiten  Chor  geleitet  habe. 


Nochmals  Johann  Valentin  Meder.  457 

in  Riga  keine  Spur  auffinden  lassen,  auch  nicht  unter  den  Musi- 
kalien der  Petri-  und  Domkirche.  Dagegen  verdanke  ich  Herrn 
Anton  Buchholtz  noch  das  folgende  Verzeichniß  von  gedruckten 
Texten  zu  seinen  in  Riga  aufgeführten  Kantaten: 

1)  Text- Worte  So  bey  dem  Von  Ihro  Königl.  Majest.  von  Schweden  AUer- 
gnädi^  angeordneten  Danckfest,  In  der  St.  Peters-Kirchen  zu  Riga  musiciret 
werden  aollen,  Einfältigst  entworffen  und  in  eine  vollständige  Composition  gebracht 
durch  J.  V.  M.  2  Bl.  40  (Bibliothek  der  Kigaer  Gesellschaft  für  Geschichte  und 
Alterthumskunde).    Auf  die  Schlacht  bei  Narva  am  20.  Nov.  1700. 

2)  Joh.  Val.  Meder,  Die  lehrreiche  Himmels  -  Lichter  bey  des  Herrn  Joh. 
Breveri  Ober-Pastorie  Begräbniss-Solennität.  Eiga  1701.  40  (Petersburg,  KaiserL 
Bibliothek;  vgl.   Catalogue  de  la  section  des  JRtissica  1873  1,  655). 

3)  Auff  die  erlangten  Sieges-Palmen  erfolgen  die  Lob-  und  Danck-Psalmen. 
Als  nehmlich  von  .  .  .  Herrn  Carolo  dem  XII  ....  wegen  der  den  9.  July  dieses 
noi.  Jahrs  jenseits  der  Düna  bey  Riga...  erhaltenen  Glorieusen  Victorie,  den 
10.  Septembr.  jetztbesagten  Jahres  Ein  solennes  Danck-Fest  .  .  .  verordnet ...  an 
berührten  Danck-Fest  zu  Kiga  folgendes  in  der  Music  präsentirt  worden  von  J.  V. 
Meder.    Kiga,  gedr.  bei  G.  M.  Möller,  fol.  (Kigaer  Ges.  f.  Alterthumskunde). 

4)  Lob-  und  Danck-Music  über  die  Von  Ihro  Königl.  Maytt.  Sein  Aller 
Durchlauchtigsten  Groß-Mächtigsten^  Monarchen,  Carolo  XH  Der  Schweden,  Gothen 
und  Wenden  Könige  &c :  wider  den  Pollnischen  König  Den  9.  Julii  dieses  1702  ten 
Jahrs  bei  Kliszow  in  Pohlen  Erhaltene  Glorieuse  Victoria  An  dem  Von  Ihro 
Königl.  Maytt.  durch  dero  gesamte  Keiche  und  Provincier  den  20.  Novembr.  an- 
gestellten Solennen  Danck-Feste  Zu  Bezeugung  allerunterthänigsten  Pflicht  In  eine 
besondere  Composition  gebracht  Und  Einem  Hoch- Edlen  und  Hochweisen  Bäht 
Dieser  weit  berühmten  Königl.  See-  und  Handel-Stadt  Kiga  Gehorsamst  und  De- 
mütigst überreicht  von  Joh.  Valentino  Medero.  Kiga,  Gedruckt  in  der  Königl. 
Buchdruckerei,  bei  Wilckens  Wittibe.  1  Bl.  grossfol.  (Kigaer  Ges.  f.  Alterthums- 
kunde und  Stadtbibliothek.) 

5)  Der  Melpomene  Klag-Lied  Über  den  in  der  blutigen  Action  auf  Lutzoffs- 
Holm  Bey  Riga  den  9.  July  1701  ....  erlittenen  .  .  .  Tod  des  .  .  .  Hrn.  Magnus 
Benedictus  von  Hellmerssen  .  . .  vermittels  eines  beweglichen  Trauer-Marches  .  .  . 
vorgestellet  von  J.  V.  Meder...  Kiga,  Wilcken  (1703).  1/2  Bogen  40.  (Kigaer 
Stadtbibliothek.) 

6)  —  An  dem,  Dem  Allmächtigen  Großen  Gott  und  Herrn  der  Heer-schaaren, 
ta 

Zu  Lob  und  Ehren,  Von  dem  Allerdurchläuchtigsten  .  .  .  Herrn  Carolo  XII  .  .  . 

Wider  den  König  von  Pohlen  bei  Pultoowsk  abermals  Heldenmütig  befochtenen 

Glorieusen  Victorie  Und  Eroberung  Derer  beyden  Haubt-Städte  und  Vestungen  in 

Preußen  nemblich  Thoren  und  Elbing   Den   XII.  Febr.   Anno    1704  angesetzten 

Solennen  Danck-Fest,  Wolte  Mit  gegenwertigen  einfeltigst  selbst  entworffenen  und 

in  die  Music  gesetzten  Keim-  und   Text-worten  Seine  aUerunterthänigste  Pflicht 

mit  beytragen,  Und  Einem  Hoch-Edlen  und  Hochweisen  Kath  Dieser  weitberümten 

Königl.  See-  und  Handels-Stadt  Kiga,  gehorsamst  überreichen  Joh :  Valentin  Meder. 

Riga,  Gedruckt  in  der  Königl.  Buchdruckerei,  bey  Wilckens  Wittibe.   1704.  2  Bl. 

foL  (Kigaer  Ges.  f.  Alterthumskunde  und  Stadtbibl.) 

7)  Neuer  Lob-  und  Danck-Gesang,  Und  Davidscher  Psalter-Klang,  Bey  dem 
von  Ihro  Königl.  Majest.  von  Schweden  Carolo  XH.  Unserm  allergnädigsten 
Könige  und  Herrn,  wegen  Dero  In  beyden  verwichenen  Jahren,  als  nemlich  1704 
und  1705.  Durch  Göttlichen  Beystand  glücklich  voUfÜrten  Heer-  und  Feld-Zügen, 

31* 


458  JohanneB  Bolte. 


Den  9.  Martii  dieses  instehenden  1706ten  Jahres  angeordneten  solennen  Danck- 
Fest,  Vermittelst  einer  Musicalischen  Composition  aus  allerunterthänigster  Pflicht 
mit  angestimmet,  Und  Einem  Hoch-Edlen  und  Hochweisen  Bäht  dieser  Treu-er- 
gebensten Kdnigl.  See-  und  Handels-Stadt  Higa  gehorsamst  und  dienst -fertigst 
überreichet  von  Joh :  Val :  Meder.    2  BL  40.    (Kigaer  Oes.  f.  Alterthumskunde.) 

8}  Lob-  und  Danck-erklingende  Harffe  Auff  des  Von  .  .  .  Carolo  XII  .  . . 
wegen  des  .  .  .  friedens  den  28.  April  Ao.  1707  angeordneten  solenne  Danck-fest, 
Über  die  beyden  in  der  Vor-  und  Nach-Mittags-Predigt  zu  erklähren  bestimmte 
Texten,  In  gegenwärtigen  Worten  einfaltigst  entworffen,  und  in  die  Music  gesetst: 
So  dann  Einem  Hoch-Edlen  und  Hochweisen  Rath  dieser  Königl.  See-  und  Handel- 
Stadt  Riga  aus  gehorsamster  Pflicht  überreichet  von  Joh.  Val.  Meder.  2  BL  4.0 
(Rigaer  Ges.  f.  Alterthumskunde.) 

9)  Musicalische  Cantata,  welche  bey  bevorstehender  fröhlichen  Feyer,  Des 
andern  Jubilaei  Lutherano-Evangelici,  Zur  Ehre  des  Drey- Einigen  GOttes,  Von 
J.  V.  M.  in  die  Music  gesetset,  und  In  hiesiger  Haupt-Kirchen  aufführen  wird 
J.  H.  Beuthner;  Cant.  &  Direct.  Music.  Riga,  bei  Samuel  Lorentz  FrölicL 
2  BL  40  (1717).    (Rigaer  Ges.  f.  Alterthumskunde.) 


Von  Meders  Sohn  Erhard  Nicolaus  erzählen  die  Bathsproto- 
kolle  unter  dem  9.  December  1710',  wie  er  einundzwanzigjährig  in 
die  Feme  reisen  wollte  und  beim  Käthe  darum  anhielt,  dass  ihm 
zehn  Thaler,  die  ihm  der  verstorbene  Kirchenknecht  Hundschläger 
am  Dom  vermacht,  aus  dessen  Gelde,  das  während  der  Belagerung 
der  Stadt  im  Keller  des  seligen  Superintendenten  Depkins  vermauert 
worden  war,  verabfolgt  werden  möchten.  Der  Bath  ließ,  obwohl  er 
seine  Angabe  nicht  weiter  beweisen  konnte,  die  Mauer  öffnen  und 
ihm  das  Geld  als  Viaticum  aushändigen.  —  Über  den  späteren 
Schwiegersohn  des  jüngeren  Meder,  den  Pastor  Gustav  Bergmann, 
macht  mir  Herr  Professor  Dr.  Leo  Meyer  in  Dorpat  die  freundliche 
Mittheilung,  dass  er  in  Leipzig  zusammen  mit  dem  jungen  Goethe 
studirte  und  ihn  auf  dem  Fechtboden  am  Arme  verwundete^. 


1  Publica  67,  214. 

2  O.  Jahn,  Goethes  Briefe  an  Leipziger  Freunde  1867  S.  26  (nach  Blum,  Ein 
Bild  aus  den  Ostseeprovinzen  S.  29). 


Heinrich  Pipegrop  (Baryphonus). 


Von 

Eduard  Jacobs. 


Im  Jahi^nge  1836  des  Gemeinnützigen  Wochenblatts  für  Halber- 
stadt und  Umgegend  S.  102  bemerkt  ein  mit  B.  unteizeichnetei 
Einsender  von  »Merkwürdigem  von  Quedlinburger  Sängern«  mit 
Bezug  auf  den  gelehrten  Musiker  Henr.  Barjrphonus:  »Wie  dieser 
Mann  zu  dem  sonderbaren  Namen  gekommen  ist,  ob  er  ihn  von 
seinem  Vater  geerbt  oder  selbst  erfunden  hat,  lässt  sich  wohl  nicht 
mehr  ausmitteln«.  Die  letztere  Annahme  mußte  noch  mehr  begrün- 
det erscheinen,  als  sich  später  ergab,  daß  bereits  der  22jährige 
Sänger  sich  mit  seinem  Gelehrtennamen  in  die  Helmstädter  Ma- 
trikel eintragen  ließ^.  In  unserer  Litteratur  und  insbesondere  auch 
in  den  Werken  von  Forkel,  Gerber,  F6tis  u.  a.  erscheint  unser 
Landsmann  daher  auch  nur  mit  seinem  griechischen  Namen,  der 
hier,  wie  fast  überall,  und  so  auch  von  dem  ebengenannten  Mitar- 
beiter des  Halberstädter  Wochenblatts  ungut  und  irrig  mit  »Grob- 
stimm «  wiederg^eben  ist.  Ein  günstiger  Umstand  brachte  uns  nun 
aber  bei  eingehender  Benutzung  des  Stadtarchivs  zu  Wernigerode 
ein  eigenhändiges  Schreiben  unseres  Tonkünstlers  zu  Händen,  bei 
welchem  er  sich  veranlaßt  sah,  seinen  gelehrten  Zopf  abzulegen  und 
sich  mit  seinem  angestammten  eigentlichen  Namen  zu  nennen.  Es 
ist  eine  Bittschrift,  die  er  an  den  Büi^ermeister  seiner  Vaterstadt 
richtet  und  bei  welcher  es  nicht  angemessen  gewesen  wäre,  in  dem 
fremden  gelehrten  Kleide  zu  erscheinen. 

Der  Brief,  der  sich  in  einem  großen  von  uns  nach  der  Zeitfolge 
geordneten  Stoße  von  Prozess-,  Nachlaß-  und  dergleichen  Sachen  IH 
£.  45  des  Stadt-Archivs  befindet,  giebt  uns  so  merkwürdige  Kunde 
ober  die  Eltern  des  Künstlers,   daß   sich  der  Abdruck  desselben  ge- 


YgL  über   ihn  Vierteljahrsschrift    für  Musikwissenschaft  VI.   Jahrg.  1890. 
8. 111—122,  das.  S.  121. 


460  Eduard  Jacobs, 


wiß  lohnt.  Er  lautet  wie  folgt :  Ehrnvester,  achtbarer  vnd  wollweiser 
großgunstiger  Herr  Burgermeister  vnd  Schwager;  demselben  kan 
ich  hochdringender  nott  nicht  bergen,  wie  das  mein  lieber  vater  vor 
diesem  sein  haus  vnd  hoeff  einem  manne  aus  dem  Nöscbenroda 
mit  nahmen  Heinrich  Schöne  vmb  eine  gewisse  Summa  geldes,  doch 
mit  dem  Reservat  vnd  vorbehält,  das  er  so  woU  meine  liebe  Mutter 
Zeit  ihres  lebens  ihre  habitation  vnd  wohnung  darin  haben  weiten, 
verkaufft,  darauf  den  derselbige  —  aber  ohn  allen  meinen  vorbewuBt 
—  das  haus  nicht  allein  bezogen,  sondern  auch  sich  alßbald  unter- 
standen die  Scheune  abbezubrechen  vnd  aus  deroselben  alten  holtze 
im  hauße  zu  bawen,  schlecht  seines  gefallens,  als  wen  es  sein  eigen- 
thumb  were,  da  er  doch  nicht  einen  einigen  heller  zum  GottesPfen- 
nig,  will  geschweigen  der  angäbe  vnd  erster  Termin  des  Kaufgeldes, 
gegeben  vnd  erleget.  Wie  er  aber  von  meinem  vater  wegen  voln- 
ziehung  des  Kaufbriefies  vnd  erlegung  der  Kauf-  vnd  angelder  er- 
innert worden,  hatt  er  ihm  den  kauff  auigesaget,  drei  andere  heuser, 
vnd  darunter  zwei  mit  dem  blossen  GottesPfennige,  das  dritte  end- 
lich auf  der  Steingruben  mit  120  Gulden  angäbe  gekaufft,  vnd  ihm 
nicht  allein  sein  hauß  dergestalt  wüste  gemachet,  sondern  auch  da- 
rinnen allen  Gottlosen  frevell  vnd  mutwillen  mit  den  seinen  verübet 
mit  ehrenrührigen  schelt-  vnd  lesterworten,  mit  mördlichen  wehren, 
dan  auch  mit  knütteln  vnd  handanlegen,  indem  er  dem  alten  eiß- 
grawen  Senioren,  welches  wol  hoch  zu  erbarmen,  mit  einer  harten 
zweimahl  zu  halse  gelauffen,  ihn  bei  dem  hart  erwischet,  denselben 
außgerauffet  vnd  noch  mit  einem  Prügel  darzu  abschlagen  wollen. 
Will  anderer  frevelthaten  mehr  geliebter  kurtze  halben  hie  geschwei- 
gen. Weil  mir  aber  solches  hertz:  vnd  schmertzlich  wehe  thut  vnd 
in  die  lenge  zu  leiden  nicht  gebüren  will,  als  will  ich  ganz  vnter- 
dienstlich  gebeten  haben,  der  Herr  Burgermeister,  als  mein  groß- 
gunstiger  Herr  vnd  beforderer,  amptshalben  gedachten  Schönen  auf- 
erlegen wolle,  nicht  allein  das  hauß  alßbald  zu  reumen,  sondern 
auch  daßelbige  in  vorigen  Stand  wiederumb  zu  bringen,  vnd  den 
Schaden,  so  er  in  Verwüstung  deßen  verursachet,  weil  er  noch  zur 
Zeit  mit  bawen  darinnen  nicht  befugt,  zu  ersetzen,  dan  auch  den 
haußzinß  vor  die  zeit,  so  er  darinnen  gewohnet,  wie  hoch  derselbe 
von  einem  Ehm.  v.  woUw.  Bathe  kan  erkant  werden ,  erlegen  müsse, 
damit  meine  lieben  Eltern  nicht  allein  solches  großen  frevels  möch- 
ten geübriget  sein,  sondern  auch  ihres  zugefügten  Schadens  sich  zu 
erholen  haben.  Hierin  wird  sich  der  Herr  Burgermeister,  als  ein 
besonder  liebhaber  der  Justitien,  befordersamb  erzeigen  vnd  mein 
großgunstiger  herr  und  beforderer  bleiben.  Solches  bin  ich  mit  allen 
müglichen  diensten  iederzeit  zu  verschulden  erböttig,  denselben  Gott- 


Heinrich  Pipegrop  (Baryphonus).  461 

lichex  Allmacht  zu   langwieriger  bestendiger  gesundheit  und  glück- 
licher regierung  getrewlich  entpfelend. 

Datum  Quedelburgk,  den  9.  Julii  1622. 

Des  Hern  Burgermeisters  vnd  Schwagers 
ieder  Zeit  dienstgefliessener 
Henricus  Pypgrop  der  Junger, 
Quedelburg.     Schulen  Cantor 
vnd  Musicus  ^ 

Das  zum  Verschluß  aufgedrückte  Siegel  ist  abgesprungen  und 
nicht  mehr  vorhanden,  doch  kennen  wir  das  Schildzeichen  der  Fa- 
milie Pipegrop,  welches  in  zwei  ins  Andreaskreuz  gelegten  mit  den 
Zinken  nach  oben  gekehrten  Heugabeln  besteht 2.  Dieses  Sinnbild 
ist  ganz  bezeichnend  für  die  echte  Ackerbürger-,  etliche  Zeit  vorher 
gewiß  Bauernfamilie,  als  welche  wir  nun,  nach  Entschleierung  des 
Namens,  die  Vorfahren  und  Freundschaft  des  gelehrten  Sängers 
kennen  lernen. 

Die  Pipegrop,  welche  in  Wernigerode  über  ein  Jahrhundert 
lebten,  wohnten  zuerst  und  zumeist  in  der  noch  lange  halb  länd- 
lichen Neustadt.  Erst  seit  etwa  1570  treffen  wir  sie  auch  in  der 
Altstadt 3.  Im  Jahre  1528  lernen  wir  einen  Curt  Pipgrup  kennen^. 
Dreißig  Jahre  später  wohnte  Curt  Pipgrob  der  Alte  in  der  25.,  Curt 
Pipgrob  der  Jüngere  in  der  30.  neustädtischen  Rotte  ^.  Wohl  der 
Sohn  des  letzteren  ist  Heinrich  Pipgrop  oder  Pipgroppe  in  der  Neu- 
stadt, der  Vater  unseres  Tonkünstlers,  der  Martini  1569  Bürger  wird. 
Daß  er,  obwohl  schon  länger  in  Wernigerode  lebend,  hier  nicht  als 
Bürgerssohn  geboren  war,  müssen  wir  daraus  schließen,  daß  er  ein 
Bürgergeld  zahlen  mußte,  wenn  maus  ihm  auch,  da  er  sich  früh- 
zeitig gemeldet,  noch  zu  dem  niedrigen  alten  Satze  von  vier  Gulden 
ließ*.  Der  Name  Heinrich  P's  wird  dann  öfters  in  den  Akten 
genannt,   so  in   den  Schoßregistem  zwischen  1574  und  1609,  wo  er 


1  presentirt  den  12.  Juli:  von  Hinricus  pripgroben. 

^  Von  den  nicht  seltenen  Abdrücken  dieses  Siegels  erwähnen  wir  den,  mit 
welchem  Curdt  Pypgropp  am  24.  April  1589  ein  Schreiben  an  den  Grafen  Wolf 
Ernst  zu  Stolb.  yerscÜossen  hat.  Vgl.  Justiz-  und  Parteisachen  bei  Gräfl.  Hof- 
kanilei  und  Regier,  zu  Wem.    Abth.  C.  des  Fürstl.  Archivs.  ; 

'  Die  Schoßregister  nennen  1574  Curt  Pipgroppen  Witwe  in  der  Altstadt. 
Bas  ELirchenbuch  der  Oberpfarrgemeinde  erwähnt  in  dem  Pestjahr  1598  nach  ein- 
ander das  Ableben  einer  Magd  von^Piepgrope  und  Carsten  Piepgrobs  sowie  zum 
7.  Febr.  1611  des  lahmen  Sohnes  eines  Bibgrob. 

*  Wem.  Amtsrechn.  Galli  1528/29  C.  1.  FOrstL  Archiv. 
5  Stadtarchiv  HI,  C.  22,  1. 

•  Ältestes  Bürgerregister  von  1563 — 1623  im  Stadtarchiv. 


462  Eduard  Jacobs, 


mit  1  Gulden  11  bis  15  Gr.  angesetzt  ist^  Daß  seine  äußeren 
umstände  nicht  die  besten  Tiaren,  ist  daraus  zu  schließen,  daß  er 
mit  dem  Schoß  mehrfach  im  Rückstande  blieb.  Im  Jahre  1599 
machte  er  seine  Schuld  richtig.  Dann  aber  konnte  er  wieder  längere 
Zeit  seiner  Bürgerpflicht  nicht  genügen,  bis  es  im  Jahre  1605  heißt: 
»heut  dato  freitag  nach  Martini  1605  hat  Heinrich  Pypgrope  alle 
seine  retardat  schos,  derer  noch  viel  gewesen,  alle  richtig  gemacht 
und  zalt;  es  ist  im  auch  damals  das  schos  gedingt,  das  er  ides  jar 
liefert  24  gr.  schos  geben  sola  2.  Vielleicht  half  der  damals  in  ein 
festes  Amt  eintretende  Sohn  seinen  Eltern  aus.  Wie  dieselben  dann 
in  der  folgenden  bösen  Zeit  zurückgingen  und  ihr  Haus  einem  un- 
zuverlässigen Menschen  veräußern  mußten,  ersehen  wir  aus  dem 
hier  mitgetheilten  Schreiben  des  Sohnes.  Wenn  dieser  den  «Vater 
als  alten  eisgrauen  Mann  bezeichnet,  so  mußte  er  ja  auch  wegen 
der  bereits  im  November  1569  erfolgten  Aufnahme  als  Bürger  etwa 
77 — 80  Jahre  alt  sein.  Wenn  nun  nach  dem  ältesten  Kirchenbuch 
der  Oberpfarrgemeinde  am  9.  August  1631  »Fiprobpen  von  S.  Georgii 
Hofe«  verstirbt,  so  muß  {derselbe  ein  Alter  von  86 — 89  Jahren  er- 
reicht haben. 

Was  nun  die  Bedeutung  des  Geburts-  und  die  Erklärung  des 
griechischen  Gelehrtennamens  betrifft,  so  scheint  hinsichtlich  des 
ersteren  Schiller-Lübbens  Mnd.  Wörterbuch  HI,  330  einen  sicheren 
Fingerzeig  zu  bieten,  indem  es  pipegrove  als  =  Ffeifengrube,  Abzugs- 
röhre, Wasserleitung  kennen  lehrt.  Es  sind  jedoch  die  Formen 
pipegrope,  pipegroppe, -grob.-grop  so  durchaus  vorherrschend,  daß 
darnach  die  Zusammensetzung  mit  grope  =  Topf,  Kessel  näher 
zu  liegen  scheint.  Da  nun  aber  wohl  Pfeifenkasten,  nicht  aber 
Pfeifentopf  oder  Ffeiffenkessel  ein  bekannter  Begriff  ist,  so  erschwert 
dies  eine  solche  sprachlich  nahe  liegende  Deutung.  Hierzu  kommt, 
daß  neben  Fipegrop  und  den  ähnlichen  Formen  der  Name  Friperot 
in  Wernigerode  hergeht,  so  1523  (Wachtregister)  Hans  Friperot  3. 
Derselbe  erscheint  unter  den  Brandbeschädigten  des  Jahres  1528  als 
Hans  Friperot  alias  Kock^.  Dagegen  1595  (Bürgerbuch)  Fipgrob  und 
1604  im  Schoßregister  1604/4  VI,  D.  8  Hans  Prypgrope  oder  Hans 
ßon.  Aber  auch  Kurt  und  Heinrich  jPipegrop  der  Ältere  und  der 
Jüngere  erscheinen  in  den  Quellen  zuweilen  als  (Curt)  Fiproper  1557. 
Rathshandelsbuch  1553  (63  HI,  E.  33)  Frippegrop  (Heinr.  1579 
Schoßreg.)   und  Fripgrob    (vgl.    das    präsent,    des  hier   mitgetheilten 


^  Schoßiegister  VI  D,  8  im  StadtarchiT. 
^  Ebendaselbst. 

«  St.-Arch.  V,  C.  2,  1546  Priprott  III,  E.  33. 
«  St.-ArcL  in,  F.  3,  18. 


Heinrich  Pipegrop  (Baiyphonus).  463 


Schreibens).  Priperot,  Priprott  würden  wie  Klaproth,  Silkrott  auf 
einen  mit  -rot,  -rode  endigenden  Ortsnamen  deuten,  obwohl  wir  auch 
an  einen  wendischen  z.  B.  in  Mecklenburg  vertretenen  Ortsnamen 
Freberede  erinnert  werden. 

Die  Erklärung  des  Gelehrtennamens  Baryphonus,  der  einfach 
den  Bassisten  bedeutet,  kann  bei  dem  Tonkünstler  und  Sänger  auch 
ohne  Heranziehung  des  Herkunftsnamens  von  seiner  Stimme  herge- 
leitet werden.  Da  aber  doch  eine  Anlehnung  an  letzteren  beliebt 
und  üblich  war,  so  scheint  diese  doch  noch  leichter  gefunden  werden 
SU  können,  als  die  von  uns  früher  vermuthete  Benutzung  des  wemi- 
gerödischen  Familiennamens  Barde  oder  Bare.  Pipegrope,  Pipegrob 
läset  sich  als  aus  pipe  und  grob,  grof  oder  grobe  zusammengesetzt 
also  als  =  Pfeife,  grobe  oder  umgedreht  grobe  Pfeife  =  Basspfeife  ver- 
stehen oder  vielmehr  missverstehen  und  deuteln,  eine  Weise,  die 
man  der  Gelahrtheit  jener  Zeit  wohl  zutrauen  darf.  Die  grobe 
Stimme  oder  Pfeife  ist  nämlich  die  tiefe  oder  Bass-Stimme  beziehungs- 
weise Pfeife.  —  Herr  Musikdirektor  Stöbe  in  Halberstadt  erinnert 
nns  an  igrob  gedackt«  bei  einem  Orgelwerk. 


Johann  Andreas  Herbst. 

Neue   Biographische   Beiträge. 

Von 

Benedikt  Widmann. 


Im  Anschluß  an  die  Mittheilungen  Robert  Eitners  in  der  lAll- 
gem.  deutschen  Biogr.«  (12.  Bd.  1880,  S.  50)  beabsichtige  ich,  mit 
nachstehenden  Auszügen  aus  den  »Schulakten  des  Frankfurter  Ar- 
chivs« Tom,  /,  de  anno  1518 — 1626  und  Tom,  IL  de  anno  1626—1677, 
die  Biographie  Herbsts  zu  vervollständigen.  Eine  Nachforschung  in 
Nürnberg,  der  Geburtsstadt  Herbsts,  zur  Feststellung  seines  Geburts- 
tages hatte  keinen  Erfolg,  und  so  müssen  wir  uns  mit  der  bloBen 
Jahreszahl  begnügen,  welche  auf  einem  gestochenen  Bilde  in  einem 
seiner  Werke,  nämlich  der  ^Mtisica  Poeticaa  verzeichnet  ist.  Eine 
Umschrift  um  dasselbe  heißt  nämlich:  Ji Johannes  Andreas  Herbst^ 
Norimberg.  Musicus  Po'eticus.  Pro  tempore  Francofurti  Musices  Direc- 
tor,  1635.  Natus  A""  1588«.  Unter  dem  Bildniß  steht  die  Bemerkung: 
j>Praeclari  Autumni  facies  hie  3Ittsici  in  aere  \  Stat^  dofia  ingenij  caniica 
scripta  probant.     (Hier.    Ammon.)a 

Daß  Herbst  schon  frühzeitig  sich  der  Tonkunst  gewidmet  haben 
muß,  geht  aus  seiner  im  Jahre  1613  in  Nürnberg  herausgegebenen 
Sammlung  deutscher  Lieder  zu  5  Stimmen  hervor.  Im  Jahr  1619 
bezeichnet  er  sich  auf  dem  Titel  eines  Hochzeitgesanges  (Königl. 
Bibliothek  zu  Berlin)  als  einen  Musiker  in  Nürnberg  und  auf  einem 
den  Bürgermeistern  in  Frankfurt  a.  M.  zum  neuen  Jahre  1621  ge- 
widmeten Gesänge  als  Kapellmeister  beim  Landgrafen  zu  Darmstadt  ^ 
Sein  Augenmerk  muß  von  da  an  stets  auf  Frankfurt  a.  M.  gerichtet 
gewesen   sein;    denn  ein  Dankschreiben   an  den   Bürgermeister  und 


1  Siehe  R.  Eitner  a.  a.  O. 


Johann  Andreas  Herbst.    Neue  Biographisobe  Beiträge.  465 


Bath  der  Stadt  vom  1.  Sept.  1623  bestätigt  dessen  Anstellung  zum 
^praefecto  Musicesa  daselbst,  worin  ei  sich  verpflichtet,  »vff  alle 
Sonn-  vnd  Festtage  bey  der  Music  in  der  Baifussei  Kirche  (dem 
ehemaligen  KlcNSter  der  Barfußei,  jetzigen  Faulskiiche)  nit  allein 
Persönlich  erscheinen,  dieselbe  nach  seinem  Besten  Verstand  mode- 
riren,  bestellen  vnd  anrichten,  alle  darbei  Befundene  mängel  ab- 
schaffen, vnd  hergegen,  so  viel  ihm  müglich  verbessern,  sondern  auch 
ettwa  7  bis  8  Knaben  in  der  Lateinischen  Schul,  welche  er  darzur 
qualifizirt  vnd  tüchtig  befinden  werde,  gutwillig  vnd  ohne  einige 
Acompens  in  der  Musica  getreulich  vnd  mit  allem  Fleiß  underrich- 
tan,  sich  auch  der  verordneten  Herrn  Scholarchen  befehl  vnd  Ver- 
ordnungen vnderwerffen,  vnd  vff  dieselbe  in  Zeit  wehrendes  seines 
Dienstes  sein  aufsehens  haben«.  Seine  Besoldung  bestand  in  120 
Beichsthalern,  7  Ellen  Tuch  und  12  Achtel  Korn.  Daraus  geht  zu- 
gleich hervor,  daß  Herbst  auch  als  Musiklehrer  thätig  war. 

Nachdem  durch  das  Ableben  Matthias  Nicolai  in  Nürnberg  die 
EapeUmeisterstelle  daselbst  erledigt  worden  war,  erhielt  Herbst  vom 
Burgermeister  und  Bath  seiner  Vaterstadt  folgende  Aufforderung: 
»Vnser  Förderung  zuvor  Lieber  Herbst,  Du  weist  Dich  zu  entsinnen, 
daß  Du  bishero  Deiner  bey  vns  anererbten  Burgerrechten  Dich  nicht 
ledig  gemacht,  sondern  vns  bis  dato  mit  Bürgerlichen  Pflichten  ver- 
haffitet  bist.  Wann  Wir  dann  Deiner  Person  vnd  Dienst  vm  dieser 
Zeit  Selbsten  zugebrauchen  haben  möchten,  als  befehlen  Wir  dir 
hirmit.  Du  wollest  Dich  nach  Empfahung  dieses  vnsern  Schreibens 
mit  dem  Allerforderlichsten  anhero  erheben,  Bey  vnserm  Jüngern 
Bürgermeister  gebührlich  anmelden,  vnd  darauff  ferner  bescheidt 
erwarten. 

Hieran  thustu  was  deine  Bürgerlichen.  Pflichten  erfordern,  vnd 
wir  verbleiben  Dir  vff  solchen  fall  mit  gunsten  wol  gewogen.  Da- 
tum. Vnter  Vnserm  Eltern  Burgermeister  des  Edlen  Ehrenvesten 
Georg  Paul  Nützel  Petschier  verschlossen  den  13.  Augusti  1636«. 

In  einer  »Supplication  vom  25.  August  1636«  bittet  sodann  H«, 
welcher  nun  13  Jahre  lang  in  Frankfurt  als  Kapellmeister  gewirkt, 
am  seine  Entlassung  mit  den  Worten:  »Wenn  mir  dann  in  solcher 
TQgezweiffelt  von  Gott  zugeschriebener  Vocation  zu  folgen  in  vnder- 
thenigkeit  obliegen  vnd  gebüren  will,  So  habe  derowegen  im  Namen 
Gottes  meinen  Dienst  allhier  in  optima  forma  hirmit  zu  resigniren 
Ich  nicht  vmbgehen  können.  .  .   .« 

Seine  Bitte  fand  nicht  sogleich  Gehör;  denn  am  13.  September 
1636  bittet  er  wiederholt  »umb  großgünstige  Dimission«  und  empfiehlt 
zugleich  zu  seinem  Nachfolger  Joannem  Jeepium  »einen  vortrefflichen 
Musicum,  welcher  in  die  23  Jar  bey  dem  Hochwolgeborenen  pp  Graven 


4g ß  Benedikt  Widmann. 


zu  Hohenlohe  .  .  .  für  einen  Kapellmeister  sich  gebrauchen  lassen.« 
—  Endlich  am  26.  September  genehmigte  der  Bath  der  Stadt  Frank- 
furt die  Bitte  Herbsts  »Alldieweil  er  als  ein  noch  verpflichteter 
Burger  der  Stadt  Nürnberg  laut  dem  vorgelegten  schreiben  daselbst- 
hin  vocirt  worden«. 

Herbst  scheint  sich  in  der  neuen  Stellung  in  seiner  Vaterstadt  nicht 
sonderlich  behagt,  wohl  aber  der  Stadt  Frankfurt  eine  besonders 
treue  Anhänglichkeit  bewahrt  zu  haben;  denn  unter  dem  »Datum 
Nürnberg,  Dominica  Palmarum.  Anno  1642«  widmet  er  den  »Herren 
Schultheisens  Burgermeister,  Schopffen  vnd  Bath  deß  H.  Köm.  Beicbs 
Stadt  Frankfurt  am  Main  etc.  aus  schuldig-gebührender  Danckbar- 
keita  die  Musica  Practica^  und  unter  dem  »Datum  Nürnberg,  Dami^ 
nica  Laetare^  Anno  1643«  die  Mtisica  Poetica. 

Als  sodann  die  Kapellmeisterstelle  zu  den  Barfüßern  in  Frank- 
furt durch  den  Tod  Christian  Völckels  frei  geworden  war,  be- 
warb sich  Herbst  am  15.  März  1644  zum  zweiten  Male  um  diesen 
Dienst,  indem  er  einleitend  auf  jenes  Werkchen  verweist,  »das  er 
der  lieben  heranwachsenden  Jugend  zum  besten,  in  ofifnen  Druck 
außgehen  lassen  .  .  .a  Schon  am  22.  März  d.  J.  wurde  er  vom 
Bürgermeister  und  Kath  aufgefordert,  » den  anbetrauten  Dienst  anzu- 
treten; er  und  am  26.  März  erwiedert  Herbst:  »Also  werde  Ich  mir 
in  solchem  meinem  anvertrauten  Dienst,  gewißlich  alles  getreuen 
Yleißes,  eiffrig  angelegen  sein  lassen,  damit  durch  die  edle  Music, 
vor  allem  Gott  im  Himmel  geehrt,  die  Andacht  derer  im  Hauße  deB 
Herren  versambleten  christlichen  Gemein  vermehret,  auch  die  liebe 
heranwachsende,  darzu  lusthabende  Jugend,  in  derselben  gelehrt  vnd 
vnterrichtet  werde  .  .   .« 

Mit  Glücksgütern  war  Herbst  nicht  gesegnet;  im  Gegentheil 
hatte  er  mit  des  Lebens  Noth  sehr  zu  kämpfen;  und  die  Schrecken 
und  Leiden  des  30  jährigen  Krieges  gingen  auch  an  ihm  nicht  spur- 
los vorüber.  Dies  beweist  sein  »vntertheniges  Nothdringliches  Bitten 
vnd  ersuchen  vmb  Gnedige  Hülffreichende  handbietung,  mit  eines 
viertel  Jars,  sonst  gebräuchlichen  AuSzugs  Honorario«,  datirt  vom 
15.  August  1644.  Es  heißt  unter  anderem  darin:  »Wie  ich  mich 
nun  darauff(r  (nämlich  nach  dem  erhaltenen  Vocations- Schreiben) 
i»mit  meinen  angehörigen  den  9.  May  im  Namen  Gottes  vff  den 
Weg  begeben,  alß  sind  wir,  Gott  sey  lob  vnd  Danck  gesagt,  den 
15.  dito  glücklich  anhero  kommen.  Wenn  ich  aber  zu  Nürnberg 
in  meinem  Patria,  die  verflossene  achthalb  Jahre  vber,  wegen  der 
schweren  kriegszeiten,  in  nichts  prosperiren  können,  ia  noch  daB 
jenige,  waß  ich  andern  ortten,  von  diesen  zu  einem  Zehrpfennig, 
meiner  vnd  der  meinigen  im  Alter  erworben,   schmerzlich   einbüßen, 


Johann  Andreas  Herbst    Neue  Biographische  Beiträge.  467 

zusetzen,  vnd  mit  schaden  veikauffen,  auch  zu  meiner  bevorstehenden 
ReiB,  fün&ig  Gulden  nothdringlichem  entlehnen  vnd  vffwenden 
müssen  .  .  . « 

Weitere  Nachrichten  über  Herbst  finden  sich  in  den  Acten  des 
Frankfurter  Archivs  nicht  vor ;  aber  in  den  sogenannten  Beerdigungs- 
listen des  Standesamts  der  Stadt  steht  verzeichnet:  »Johann  An- 
dreas Herbst,  Freitag  den  26.  Januar  1666«.  Derselbe  ist  also 
am  24.  Januar  des  genannten  Jahres ''gestorben  und  hat  ein  Alter  von 
78  Jahren  erreicht.  Seine  Asche  ruht  auf  dem  ehemaligen,  jetzt  in 
einen  Park  mit  Spaziergängen  verwandelten  Peterskirchhof. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker. 

Von 

Hermann  Gehrmann. 


Die  Geschichte  der  musikalischen  Theorie  zeigte  daß  auf  Grund 
des  Studiums  vorhandener  Kunstwerke  einer  Periode  Gesetze  aus  den- 
selben abstrahirt  werden;  hieraus  entwickelt  sich  eine  Lehrmethode, 
mit  deren  Hülfe  der  Schüler  auf  die  Bahn  des  eigenen  Kunstschaffens 
geleitet  wird.  Die  Theorie  folgt  der  praktischen  Kunstthätigkeit  nach 
und  spiegelt  die  Wandlungen  und  Umformungen  wieder,  welche  jene 
durchläuft,  indem  entsprechende  Veränderungen  auch  in  der  Kom- 
positionslehre erscheinen. 

Eine  Zeit  großer  Wandlungen  in  der  Musikgeschichte  beginnt 
um  das  Jahr  1600  und  endigt  erst  im  Anfange  des  18.  Jahrhunderts. 
Auch  in  der  Kompositionslehre  des  17.  Jahrhunderts  gehen  dem- 
gemäß bedeutende  Veränderungen  vor  sich.  Die  bis  dahin  gültige 
Alleinherrschaft  des  Kontrapunkts  wird  erschüttert,  die  Lehre  vom 
Kontrapunkt  muß  bald  mit  der  Harmonielehre  einen  Vergleich 
schließen,  durch  welchen  diese  fast  zur  Alleinherrschaft  gelangt. 

In  diesen  großen  theoretischen  Entwicklungsprozeß  gewährt  die 
handschriftliche  Kompositionslehre  Joh.  Gottfr.  Walthers  einen  be- 
friedigenden Einblick.  Hier  wurde  die  gesamte  musiktheoretische 
Litteratur  des  17.  Jahrhunderts,  soweit  sie  für  einen  strengen  Kom- 
positionsunterricht in  Frage  kam,  in  wissenschaftlich  gründUchei, 
philologisch-kritischer  Weise  verarbeitet,  wie  es  in  keinem  andern 
Werke  jener  Epoche  geschehen  ist.  An  wissenschaftlicher  Genauig- 
keit überragt  das  Walther^sche  Werk  bei  weitem  die  Kompositions- 
lehren eines  Printz,  Werckmeister ,  Heinichen  und  Mattheson  und 
nimmt  überhaupt  den  hervorragendsten  Platz  unter  den  Lehr- 
büchern der  Zeit  ein. 

Da  diese  handschriftliche  Lehre,  abgesehen  von  dem  kurzen  Ka- 
pitelverzeichniß  in  den  Monatsheften  für  Musikgeschichte  von  B.  Eitner, 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  4g 9 

Jahrgang  1872,  Nr.  8,  ziemlicli  unbekannt  geblieben  ist,  so  hat 
eine  Beschreibung  und  historische  Würdigung  derselben  um  so  mehr 
Berechtigung,  als  damit  zugleich  die  ihr  beigelegte  große  Bedeutung, 
einen  Einblick  in  die  historische  Entwicklung  der  Musiktheorie  des 
17.  Jahrhunderts  zu  geben,  näher  begründet  werden  soll. 

I. 

Die  Idtteratur  Walthers. 

Die  nachstehend  näher  beschriebenen  Werke,  auf  welche  die  Lehre 
Walthers  gestützt  ist,  sind  mit  Ausnahme  von  Zarlinos  Institutionen 
und  Reinckens  handschriftlicher  Lehre  ausschließlich  Werke,  die  Wal- 
ther selbst  benutzt  hat. 


1. 

Wandlung  in  der  äußeren  Anordnung  des  musikalischen 

Lehrstoffs  im  17.  Jahrhundert. 

Die  Veränderungen,  durch  welche  der  Übergang  von  einer  auf 
kontrapunktischem  Prinzip  beruhenden  Lehre  zu  einer  auf  harmo- 
nischer Unterlage  basirenden  Methode  gekennzeichnet  wird,  zeigen 
sich  am  deutlichsten  in  der  Melopoiia  des  Calvisius,  der  Synopsis  des 
Lippius,  den  Plejaden  des  Baryphonus  und  der  Synopsis  Crügers. 

Diese  Werke  gehören  einer  Epoche  an,  welche  mit  dem  Er- 
scheinen der  Istitutioni  Harmoniche  des  Zarlino  im  Jahre  1558  be- 
gonnen hatte. 

In  diesem  großartigen  Werke  wurde  das  ganze  musikalische  Lehr- 
gebäude, wie  es  bis  zur  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  aufgebaut  war, 
nicht  nur  umfassend  in  streng  wissenschaftlicher  Methode  dargestellt, 
sondern  besonders  in  Bezug  auf  die  Kompositionslehre  zum  Theil  neuge- 
staltet. Das  bisherige  diaton-diatonische  Tonsystem  verwirft  Zarlino  und 
setzt  an  seine  Stelle  das  diaton-syntonische,  welches  unserer  modernen 
Musik  zu  Grunde  liegt.  In  diesem  Werke  werden  auch  die  Vor- 
boten einer  harmonischen  Anschauung  entsandt.  Denn  zum  ersten 
Male  wird  ein  Unterschied  gemacht  zwischen  Modi,  in  denen  die 
große  Terz  unter  der  kleinen  liegt,  und  solchen  Modi,  wo  die  kleine 
Terz  unter  der  großen  liegt;  die  ersteren  Modi  seien  frischer,  leb- 
hafter, die  letzteren  betrübter.  Es  ist  dies  derselbe  unterschied,  den 
wir  heute  zwischen  einer  Dur-  und  Mollskala  wahrnehmen,  und  der, 
wie  Zarlino  ebenfalls  berichtet,  in  der  harmonischen  oder  arithmeti- 
schen Theilung  der  Quinte  beruht. 


J 


470  Hermann  Gehrmann, 


Ferner  erfahren  wir  zum  ersten  Male  das  Verbot  verdeckter 
Quinten-  und  Oktavparallelen;  zum  ersten  Male  wird  gründlich  der 
doppelte  Kontrapunkt  gelehrt,  zum  ersten  Male  wird  auch  von  acccrdi 
gesprochen  und  in  einer  Tafel  alle  möglichen  Arten  von  Lagenwechsel 
gezeigt,  neben  dem  Dreiklang  tritt  der  Sext-  und  Quartsextakkord  auf. 

Wegen  all  dieser  Neuerungen  kann  Zarlino  mit  Hecht  der  Vater 
der  modernen  Musiktheorie  genannt  werden.  Daß  bis  auf  unsere 
Zeit  sein  Einfluß  reicht,  beweisen  die  Lehrbücher  eines  Fux  und 
Bellermann,  die  in  der  Hauptsache  auf  ihm  fußen.  Je  weiter  wir 
aber  in  die  frühere  Zeit  zu  Zarlino  zurückgehen,  desto  breiteren 
Raum  sehen  wir  seine  Anschauungen  in  der  Musiktheorie  ein- 
nehmen. Wir  werden  später  wahrnehmen,  wie  nicht  nur  die  bereits 
genannten  Männer,  sondern  sämtliche  hervorragende  Musiktheoretiker 
des  17.  Jahrhunderts  im  Wesentlichen  der  Lehre  des  Zarlino  folgen. 

Es  würde  zu  weit  fuhren,  auf  den  ganzen  Lihalt  der  Institutionen 
einzugehen.  Jedoch  wollen  wir  eins  seiner  Hauptverdienste,  die  Be- 
gründung des  neuen  Tonsystems,  wegen  seiner  Bedeutung  für  die 
gesamte  moderne  Musik  näher  beleuchten.  Da  jene  vier  Theoretiker, 
denen  dieser  Abschnitt  gewidmet  ist,  bereits  dieses  neue  System  ihren 
Betrachtungen  zu  Grunde  legen,  so  werden  wir  vorher,  ehe  wir  zu 
jenen  übergehen,  im  AnschluB  an  Ist.  II  zeigen,  wie  Zarlino  die  neue 
diatonische  Skala  fand. 

Bei  den  Alten  gab  es  drei  Geschlechter  der  Melodie,  das  diato- 
nische, chromatische  und  enharmonische  {Ist  II  cap.  9),  Diese  waren 
durch  die  verschiedene  Theilung  eines  Tetrachords  bestimmt  (Ist,  II 
cap,  16] .  Jede  der  drei  Arten  wurde  von  den  einzelnen  Theoretikern 
durch  subtilere  Theilungen  des  Tetrachords  in  mehrere  Species  ge- 
theilt.  Zarlino  zählt  in  Ist,  II  cap.  16  die  Ptolemäischen  Arten  des 
diatonischen,  chromatischen  und  enharmonischen  Geschlechts  auf. 
Dem  bisherigen  Tonsystem  lag  das  Genere  diatonico-diatono  zu  Grunde, 
dessen  Tetrachord  nach  Ptolemaeus  Harmonica  l,  I  cap.  12  folgende 
Verhältnisse  zeigt: 

6144  Hypate  meson  [e] 

Tuono 
6912  Lichanos  hypaton  (d) 

Tuono 
mß  Par hypate  hypaton  [c] 

Semituono  minore 
8192  Hypate  hypaton  [S] 

Mit  Zugrundelegung  dieses  Tetrachords  ordnet  Zarlino  [Ist.  II 
cap,  28)  den  aus  1 6  claves  bestehenden  Tonumfang  der  Alten  auf  dem 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  47  J 


Monochord  an.  Die  Anordnung  erweist  sich  aber  als  unvollkommen 
{Ist.  II  cap,  31),  Denn  die  hier  auftretenden  Intervalle  der  Terzen, 
sowie  ihrer  Zusammensetzungen  (Sexten)  wurden  von  den  Alten  nicht 
als  Konsonanzen  betrachtet.^ 

Die   große  Terz  besteht  hier  aus   der  Addition  zweier  gleichen 

(9  9         81\ 

__  _[_  ^  =       J  j   die   kleine  Terz  aus   der  Addition  eines 

r  j  TT  lu*         /9     ,     256         2304        288         96\       „        „ 

Ganz-  und  Halbtons  (_  +  _  =  .^-^  =  _  =  _) .     Ihre  Pro- 

Portionen  liegen  nicht  im  Genere  moltiplice  oder  superparticolarej 
sondern  im  Genere  superpartiente,  sie  überschreiten  die  Sechszahl,  und 
die  große  Terz  ist  aus  zwei  Intervallen  gleicher  Proportion  zusammen- 
gesetzt. Ebenso  wie  die  Terzen  sind  auch  die  Sexten  (Quarte  +  Terz) 
nach  der  Theorie  der  Alten  als  Dissonanzen  zu  betrachten.  Daher 
verwirft  Zarlino  das  Genere  diatonico-diatono . 

Auch  die  Eintheilung  der  Töne  im  Getiere  diaionico-molle,  diät,- 
toniaco ,  diat.-equale  ^  chromaticOy  e?iharmonico  und  diaton,-diatono  in~ 
»pessato  dalle  chorde  Chromatiche  e  dalle  Enharmomche  widerspricht 
dem  Verstände  und  der  Berechnung.  Nur  das  Genere  diatonico-sin- 
iono  giebt  brauchbare  Verhältnisse,  da  dieses  Tetrachord  nach  der 
Natur  der  harmonischen  Zahlen  getheilt  ist: 

36  Hypate  meson 

Sesquinona 
40  Lichanos  hypaton 

Sesquiottava 
45  Parhypate  hypaton 

Sesquiquintadecima 
48  Hypate  hypaton. 

Um    dies    zu  beweisen,    theilt   Zarlino    die   Intervalle    innerhalb 

einer   Oktave    harmonisch  [ht,  II  cap.  39).^     Durch   Theilung  von 

2  3 

~  (Oktave)    erhält  er   an   unterer  Stelle   —    Quinte    und    an    oberer 


i  Bei  den  Alten  mußten  die  Konsonanzen  drei  Bedingungen  genügen:  1)  Ihre 
Proportionen  müssen  im  Genere  moltiplice  oder  superparticolare  liegen;  2)  sie  dür^ 
fen  den  Senarius  nicht  überschreiten,  und  3)  darf  eine  Konsonanz  nicht  aus  2  ein- 
fachen Intervallen  von  gleicher  Proportion  zusamengesetzt  sein  (Ist,  II  cap.  $1). 

2  Um  die  Oktave  harmonisch  zu  theilen,  sucht  man  erst  ihre  arithmetische 

Proportionalität  {IH.  I  cap.  36  u.  39).    Man  verdoppelt  zunfichst  die  Begriffe  ihrer 

Proportion  2  und  1  ss  4  und  2,  man  addirt  beide  =»  6.    Diese  Zahl  zerlegt  man 

in  2  gleiche  Theile  und  findet  so  3.    Man  hat  nun  4,  3  und  2,  in  welchen  Zahlen 

4  3 

die  arithmetische  Proportionalität  enthalten  ist,  --  und  k-*     Um  nun   eine   harmo- 


472  Hennann  Ctehnnann, 


^  1 

Stelle    -  (Quarte).    Durch  dasselbe  Verfahren  gewinnt  er  aus   -  die 

5  6  5  9  10 

—  (gr.  Terz)  und  —  (kl.  Terz),  aus    —  den  ~    (gr.  Ganzton)    und  — 

4  5  16 

(kl.  Ganzton).     Die  Differenz  zwischen  -  und  —   ist   —    (gr.  Halb- 

6  5 

ton),  und  subtrahirt  man  -  von  -,  so  erhält  man  den  kleinen Halb- 

o  4 

25  . 

ton  -—.     Die  harmonisch   getheilte  Oktave  weist  demnach  folgende 
24 

Verhältnisse  auf:    c^  rf,  q   e^  f^  g^  a^  h^    c. 

Diese  Kationen  stimmen  genau  mit  jenen  des  Tetrachordo  dia- 
tofitco-sintono  iiberein.  Die  Terzverhältnisse  liegen  nicht  mehr  im 
Genere  superpartiente ,  sondern  superparticolare ,  sie  überschreiten 
nicht  den  Senartus  und  werden  nicht  von  zwei  gleichen  Proportionen 
gebildet.  Diese  Terzen,  wie  auch  ihre  Zusammensetzungen  (die  Sex- 
ten) sind  nun  wirklich  als  Konsonanzen  zu  betrachten.  Die  Ein- 
theilung  der  Töne  in  diesem  Geschlecht  geschieht  folgendermaBen 
auf  dem  Monochord  [Ist,  II  cap,  40,  s.  Tabelle  S.  470)  : 

Wir  zerlegen  zunächst  die   Saite  AB  in   ^  gleiche  Theile  und 

AB        9 
finden  so  -^-^  ==  ^  =  ^-  Ganzton;   wir  fügen   diesem  Ganzton  das 

Tetrachord  Hypaton  zu,  indem  wir  CB  in  4  gleiche  Theile  zerlegen 

CB         4 
und  so  D  finden  j^ß  =  —  =  Tetrach.  Hypaton.    In  diesem  Tetra- 
chord tragen  wir  den  kleinen  Ganzton   in   der  Höhe  ab.      Wir  zer- 
legen zu  diesem  Zwecke  D  B  in  ^  gleiche  Theile  und  fügen  einen 
dieser  9  Theile  von  Punkt  D  aus  nach  der  Tiefe  hinzu,    wir  finden 

E,  EB  beträgt  10   und  DB  9  gleiche  Theile:   -j-^  =  —    =   klei- 

ner  Ganzton. 

Es  wird  nun  EB  in  %  gleiche  Theile  zerlegt  und  über  E  in 
der  Richtung  nach  C  ein   solches  Achtel  hinzugefügt,   wir  erhalten 


nische  Theilung  zu  erzielen,  multiplizirt  man  von  jenen   3  Zahlen  4  und  2  mit  3 
und  4  mit  2  und  erhält  so: 

12     8     6. 
Man  hat  nun  das  Verhältniß  der  Quinte  an  unterer  Stelle  und  das  der  Quarte  an 
oberer,  nämlich: 

12       ,  8  3        j  4 

—  und  —    =   TT-  und  — . 
8  ü  2  3 

In  derselben  Weise  werden  auch  die  Verhältnisse  der  Terzen  und  Töne  gefunden. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  '  473 


,  FB         9 
F:  -ttd  =  F  ""^  S^-  Granzton.    Zwischen  CB  und  FB  liegt  der  Halbton 

5 
des  Tetrachords ,    denn   wenn  wir   zu  einem  Ditonus  —    den    großen 

♦  4 

16      .  .4 

Halbton   —  hinzufügen,  so  erhalten  wir  -•  das  Verhältniß  der  Quarte, 

der  beiden    äußeren  Töne   des   Tetrachords.     Hiermit   ist   die  Auf- 
stellung des  ersten  Tetrachords  beendigt ;  wir  ordnen  nun  das  Tetra- 
chord  Meson  an,    indem    wir   DB    m    4  gleiche   Theile    zerlegen. 
7)  Ä         4 
jr^  =  ö  •     Zwischen   D  und  G   liegt  also   das  Tetrachord-Meson. 

In  derselben  Weise  wie  vorhin  werden  innerhalb  dieses  Tetrachords 

die  einzelnen  Töne   abgetragen :   zuerst  der  kl.  Ganzton   =  = 

— ,  dann  der  gr.  Ganzton  =  --  und  der  Halbton  -f^  =  —  . 

"  JdLJtß  8  J  Jj  1 5 

Durch  das  gleiche  Verfahren  finden  wir  die  Töne  des  Tetrachords 
Diezeugmenon  in  KB^  NB,  MB  und  LB\  des  Tetrach.  Hyperbol. 
mLB,  QB,  PB  und  OB  und  des  Tetr.  Synemmenon  in  G B ,  SB, 
NB  und  RB, 

In  dieser  Eintheilung  sind  aber  nicht  nur  16,  sondern  17  Töne 

enthalten;    nicht  nur  haben   wir  den  kleinen  Halbton  zwischen  SB 

81 
und  KBy  sondern  auch  das  Komma  -— .      Dieses  Intervall  entsteht, 

80 
wenn  man  in  der  Mese  (a)  das  Tetr.  Synemmenon  mit  dem  Tetr.  Meson 
zusammenfugt.    Es  zerlegt  der  höchste  Ton  {Nete)  des  Tetr.  Synemm. 
das  mittlere  Intervall  des  Tetr.  Diezeugm.   in   2  Theile,    nämlich  in 

A7  D  R  B 

einen  kleinen  Ganzton  und  in  ein  Komma  -^-0  .       Oder    mit 

anderen  Worten :    Die  reine  Oberquart  der  Mese  a  ist  nicht  die  Pa- 

ranete  diezeugmenon  (d),   sondern    die  um   ein   Komma   tiefere  Nete 

synemmenon  (dj .  Diese  Differenz  suchte  Zarlino  durch  eine  Temperatur 
auszugleichen,  welche  in  der  Vertheilung  des  Komma  auf  die  7  Töne 
der  Oktave  besteht.  Das  von  Zarlino  gefundene  diaton-syntonische 
System,  dem  er  noch  chromatische  und  enharmonische  Töne  zumischte, 
verdrängte  jenes  bis  dahin  gebräuchliche  dia ton- diatonische  System 
völlig  und  bewahrte  die  Herrschaft  bis  auf  unsere  Zeit. 

Kehren  wir  nach  diesem  Exkurse  zu  unserer  Aufgabe  zurück,  so 
wenden  wir  uns  zunächst  zu  Calvisius.  Seine  Melopoiia  stve  melodiae 
condendae  ratio  explicata  a  Setho  Cahisio  erschien  1592  in  Schulpforta 
und  1630  in  zweiter  von  Grimm  besorgter  Auflage  zusammen  mit  des 

32* 


474 


Hermann  Oehnnann, 


Motiochordo  Dia- 
Diviso  secondo  la 
de   i  veri  numeri 
trovato 


Tetr. 
Hypb 


Nete  hyperholeon 
Paranete  hyperholeon 
hyperholeon 
diezeugmetion 
'  Paranete  diezeugm. 


faraneie  ny} 
.    I    IVite  hyperh 
[  Nete  diezeug 


Tetr, 
Diez. 


< 


Tetr, 

Meson 


Tetr. 
Hypat. 


Trite  diezetigni. 
Paroftiese 

Mese 
Lichanos  meson 

Parhypate  mesofi 
Hypate  meson 

Lichanos  hypaton 

Parhypate  hypaton 
Hypate  hypaton 


ProsUxinhanomenos 


B 

216 

aa- 

0 

240 

9' 

P 

270 

f' 

Q 

28S 

e- 

L 

320 

d- 

M 

d- 

R 

360 

c- 

N 

384 

n 

K 

h- 

S 

432 

a- 

G 

480 

G- 

H 

540 

F- 

I 

576 

JE- 

D 

640 

D- 

E 

720 

C- 

F 

768 

ti' 

C 

864 

A- 

A 

tonico  Sintono 
fiatura  e  passiofie 
hamionici,  ri- 
da  Tolofneo. 


324  Nete  sytiefnmenon 
360  Paranete  synemtn, 

405  Trite  synemm, 
432  Mese 


Tär. 
Synemm. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  475 

Baryphonus'  Flejaden  in  Magdeburg.  Das  ganze  Werk  ist  ohne  neue 
Zuthaten  aus  Zarlino's  Institutionen  geschöpft.  Während  die  gelehrte 
Einleitung,  in  welcher  die  neue  syntonische  Skala  beschrieben  wird, 
gleichsam  als  eine  Zusammenfassung  des  zweiten  Theils  der  Institu- 
tionen erscheint,  wird  die  Melopöie  selbst  aus  dem  dritten  und  vierten 
Theile  jenes  Werks  geschöpft. 

Das  aus  21  Kapiteln  bestehende  Werk  zerfällt  in  einen  zwar 
nicht  ausdrücklich  angegebenen,  aber  aus  dem  Inhalt  sich  ergebenden 
allgemeineren  und  spezielleren  Theil.  Das  Hauptverdienst  des  Cal- 
▼isius  liegt  nun  darin,  daß  er  die  für  Unterrichtszwecke  unpraktische 
Weitläufigkeit  von  Zarlino's  Kontrapunkt  vereinfachte,  und  so  ge- 
wissermaßen eine  Schulausgabe  der  Zarlinoschen  Lehre  veranstaltete, 
wobei  die  spekulativen  Auseinandersetzungen  Zarlino's  bis  auf  das 
kleinste  Maß  zurückgewichen  sind,  und  alles  sonstige,  was  für  einen 
Anfänger  nicht  wichtig  ist,  wie  z.  B.  der  Trugschluß,  das  Kompo- 
nieren über  ein  selbsterfundenes  Soggetto^  die  subtilere  Unter- 
scheidung der  Konsonanzen,  wodurch  bei  den  Modi  die  Verschieden- 
heit nach  ihrem  Dur-  oder  Mollcharakter  angedeutet  wird,  sowie  die 
Sonderung  von  Fuge  und  Imitation  weggelassen  ist. 

In  seiner  Melopöie  fasst  Calvisius  zunächst  die  Intervallfortschrei- 
tangen, welche  Zarlino  für  jeden  Satz  und  für  jede  Art  des  Kontra- 
punkts einzeln  angiebt,  so  zusammen,  daß  er  sie  nur  einmal  und 
zwar  für  alle  Fälle  brauchbar  lehrt.  Daher  fängt  er,  nachdem  in 
cap,  1  über  das  Wort  Melopoiia  gehandelt  wurde,  seine  eigentliche 
Lehre  in  cap.  2  sogleich  mit  der  Beschreibung  der  vier  Stimmen 
Tenor,  Sopran,  Baß  und  Alt  an.  Ebenso  wie  bei  Zarlino  ist  nicht 
der  Baß  die  wichtigste  Stimme,  sondern  der  Tenor,  welcher  ))o6«er- 
varUisstmus  tnodi  est  eumque  in  certis  clausulis  et  in  loco  proprio 
ostendit. « 

In  den  folgenden  Kapiteln  stellt  er  wie  Zarlino  die  Kon-  und 
Dissonanzen  mit  ihren  Proportionen  und  der  Anzahl  ihrer  Arten  dar. 
Aber  hierbei  ist  eben  neu,  daß  er  zugleich  mit  den  einfachen  auch 
die  zusammengesetzten  Intervalle  darstellt.  Nach  einem  allgemeinen 
Kapitel  über  Gesangsstücke  und  Tempus  lehrt  er  von  cap.  IX  an 
die  Fortschreitungen  der  Intervalle.  In  klarer  übersichtlicher  Weise 
ordnet  er  sie  unter  gemeinsame  Gesichtspunkte;  kurze  präcise  Regeln 
giebt  er,  wodurch  es  dem  Schüler  leicht  wird  zu  wissen,  welche  Fort- 
schreitungen erlaubt,  welche  verboten  sind.  Die  Kapitel,  welche  die 
Fortschreitungen  der  Dissonanzen  behandeln,  tragen  als  XJberschrift 
die  beiden  Hauptfiguren ,  in  welchen  die  Dissonanzen  angewendet 
werden,  nämlich :  IJe  Celentate  und  De  Syncope,  Im  nächsten  Kapitel 
zählt  Calvisius  die  Schlüsse  für  den  zwei-  bis  vierstimmigen  Satz  auf. 


476  Hennann  Gehrmann, 


Bei  der  Anordnung  der  Modi  folgt  er  der  schon  von  Zarlino  gegebenen 
Reihenfolge  von  Jonisch- Aolisch.  Interessant  ist  es^  wenn  Calvisius 
diese  Eintheilung  damit  unter  anderem  rechtfertigt,  daß  die  Orgeln 
und  Clavichorde  von  o  C  in  gravibtcs^  anfangen.  In  einem  allge- 
meinen Kapitel  über  die  Fugen  verwirft  er,  wie  schon  angedeutet, 
ebenfalls  Zarlino^s  Unterscheidung  zwischen  Fuge  und  Imitation,  »cum 
haec  distinctio  subtilis  videatur  et  stvdia  incipienttum  impedire  possit* 
und  will  beides  Fugen  genannt  wissen.  Mit  cap.  17  beginnt  ein 
speciellerer  Theil.  Es  wird  gezeigt,  wie  ein  Anfänger  überhaupt 
beim  Komponieren  zu  Werke  gehen  soll.  Strenger  als  Zarlino  hält 
Calvisius  darauf,  daß  der  Schüler  nicht  einen  selbsterfundenen  Tenor, 
sondern  einen  bereits  vorhandenen  als  Subjektum  nimmt.  Die  Aus- 
führungen über  den  Text,  sowie  die  besondere  Abhandlung  über  die 
Ftiga  ligata  bieten  Zarlino  gegenüber  nichts  Neues;  namentlich  das 
Kapitel  über  Harmonia  gemina  sive  tergemitia  (doppelter  oder  drei- 
facher Kontrapunkt]  darf  als  eine  dem  Sinne  nach  genaue  Über- 
setzung aus  Zarlino's  Institutionen  gelten,  woher  auch  die  meisten 
Beispiele  stammen.  Ebenso,  wie  Zarlino's  eigentliche  Kompositions- 
lehre hört  sein  Buch  mit  der  Harmonia  üla  extemporanea  ^  quam 
avTOöy^edutaTiyJiv  dicere  possumus  auf,  wo  über  oder  unter  einem 
Soggetto  eine  zweistimmige  Fuge,  unter  Umständen  ex  tempore^  ge- 
sungen wird.  Hierzu  giebt  er  21  verschiedene  nicht  aus  den  In- 
stitutionen genommene  Beispiele  und  schließt  damit  sein  Werk  ab. 

Steht  Calvisius  noch  ganz  auf  dem  Standpunkt  des  Zarlino,  und 
liegt  seiner  Lehre  noch  der  Kontrapunkt  zu  Grunde,  so  finden  irir 
bei  Lippius,  dem  nächsten  hier  zu  besprechenden  Theoretiker,  bereits 
eine  Änderung  dieser  Auffassung.  Diese  Wandlung  hängt  mit  jener 
zusammen,  welche  die  musikalische  Kunstthätigkeit  genommen  hatte. 

In  Zarlino's  Institutionen  war  die  Lehre  von  der  Mensuralmusik, 
wie  sie  sich  bis  in  das  16.  Jahrh.  hinein  entwickelt  hatte,  in  um- 
fassendster Weise  abgeschlossen.  Seine  Lehre  vom  Kontrapunkt  ist 
neben  manchem  Neuen  schließlich  doch  nur  der  prägnante  Ausdruck 
einer  Lehre  von  der  figurirten  kirchlichen  Chormusik.  In  dieser 
kam  die  Gesamtempfindung  einer  Volksmenge  zum  Ausdruck,  die 
einzelne  Person  tritt  hier  ganz  zurück.  Als  aber  durch  die  Refor- 
mation die  Individualität  höhere  Rechte  zu  gewinnen  begann,  genügte 
die  bisherige  Mensuralmusik  nicht  mehr;  das  Streben  nach  indivi- 
duellerem Ausdruck  im  Gesänge  zeitigt  die  Monodie,  oder  den  EinMl- 
gesang  mit  harmonischer  Begleitung.  An  die  Namen  eines  Viadana, 
der  diese  Art  zuerst  in  der  Kirche  pflegte,  sowie  eines  Vincenio 
Galilei,  Caccini,  Emilio  del  CavaUere  und  Peri  knüpfen  sich  die 
ersten  Anfänge  der  Monodie,  welche  besonders  auch  in  der  weltlichen 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  477 


Musik  eine  kunstmäßige  Behandlung  erfuhr.  Mit  der  Ausbildung 
des  Sologesanges  aber  wandte  man  auch  an  die  Begleitung  allmählich 
eine  größere  Sorgfalt.  Man  begann  daher  die  Regeln  der  Begleitung 
aufzuschreiben  und  ihnen  ein  eigenes  Studium  zu  widmen,  wodurch 
die  Kenntniß  der  Harmonie  an  sich  erweitert  wurde.  Dieses  führte  zu 
der  Lehre  vom  Generalbaß. 

Zu  gleicher  Zeit  aber  machte  die  Verbesserung  der  Tasten- 
instrumente, Orgel  und  Clavichord,  große  Fortschritte,  und  das  Solo- 
spiel auf  denselben  wurde  bald  eifrig  geübt.  Diese  Erscheinungen 
blieben  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  Musiktheorie.  Besonders  die 
große  Beliebtheit  der  Tasteninstrumente  mochte  die  Ursache  werden, 
daß  man  insofern  den  Kompositionsunterricht  vom  Clavichord  aus 
begann,  als  man  zuerst  den  Schüler  Generalbaßübungen  machen  ließ. 
Bei  Joh.  Lippius  tritt  zum  ersten  Male  diese  neuere  harmonische 
Auffassung  uns  entgegen.  Seine  Synopsis  musica  erschien  zuerst  im 
Jahre  1612  zu  Straßburg,  die  2.  Auflage,  welche  auch  Walther  be- 
nutzte, kam  1614  zu  Erfurt  heraus,  und  zwar  als  1.  Theil  einer 
Phüosophia  synoptica. 

Lippius  analysirte  zum  ersten  Male,  wie  er  in  seiner  biographischen 
Einleitung  erzählt,  harmonisch  die  mehrstimmigen  Stücke  eines  Luca 
Marenzio,  Walliser  und  Anderer.  Dadurch  kam  er  zu  neuen  Ge- 
sichtspunkten, denen  zufolge  er  in  seiner  Musiklehre  das  Haupt- 
gewicht auf  den  harmonischen  Zusammenklang  der  Töne  legt,  nicht 
auf  die  melodische  Führung  der  Stimmen  gegen  einander.  Nach 
ihm  behandelt  die  Musik  einerseits  die  principia  cantilenae  harmo' 
niae,  andererseits  die  species  jener  cantilena.  Die  Principien,  durch 
welche  ein  Gesang  erkannt  wird,  findet  man  in  der  Metaphysik, 
Physik,  Greometrie  und  Arithmetik.  Besonders  genau  beschreibt  er 
hierbei  die  Zahlenverhältnisse. 

Die  Principien  aber,  wodurch  eine  Kantilene  entsteht,  sind 
1  externa,  nänüich  Fints  (Streben  des  Mikrokosmos  nach  Tugend), 
Efßciens  (Gott,  die  Natur  und  die  Kunst  des  musikalischen  Menschen) , 
2)  interna^  und  zwar  Materia  (die  Theile,  aus  welchen  ein  Gesang 
gebildet  wird)  und  Forma  (welche  in  der  kunstreichen,  dem  Text 
entsprechenden  Disposition  der  Theile  der  Materie  besteht).  Auf 
Materie  und  Form  läßt  sich  Lippius  im  weiteren  Verlaufe  seines 
Buches  näher  ein. 

Die  Materie  ist  entweder  einfach  [Monas  musica)^  oder  zusammen- 
gesetzt {Dyas  und  Trias  musica).  Nach  Schilderung  der  Monas 
(Noten,  Takt  etc.)  und  Dyas  musica  (Beschreibung  der  Kon-  und 
Dissonanzen)  kommt  er  zur  Trias  harmonica^  welche  ytnon  quidem 
ratione  Extremarum,  sed  tantum  ratione  Mediae  per  Semitonium  minus 


478  Hermann  Gehrmann, 


mutataeu.  doppelt  sei,  nämlich  naturalior,  perfectior  oder  molUor  ei 
imperfectior.  Nach  Zarlino  weist  er  diese  Verschiedenheit  auf 
die  harmonische  oder  arithmetische  Theilung  der  Quinte  und  da- 
durch bedingte  Stellung  der  großen  Terz  zurück.  Es  folgt  die  Ab- 
handlung über  die  Jbrma,  welche  in  der  Composttio  besteht.  Diese 
ist  entweder  pura  oder  oriiata.  In  der  ersteren  läßt  er  sich  weit- 
läufig über  die  vier  Stimmen  aus  und  erwähnt  hier  zum  ersten  Male  den 
Yortheily  auf  Grund  eines  Basses  die  übrigen  Stimmen  zugleich  zu 
komponiren.  Seine  eigenen  Worte  lauten :  Colligitur  ex  hü  campen- 
diosissimum  esse  rb  fiekoTtotslv  sincere  discentij  st  primo  Melodia  ftin- 
damentalis,  quae  est  Bassus  in  Systemate  coniuncto  ipsi  proponakar 
statutis  punctis  contra  puncta  in  loca  partium  radicalitim  Triadis 
harmonicae ,  Ut  huic  Melodiae  fundamentali  deinde  assignet  Mehdiam 
principalem  seu  regalem  Teuerem ,  tum  superiores  Altum,  denique  Dis- 
cantum  superaddat  ittxta  modo  praecepta  et  percepta  pure  componendi 
momenta.di 

Wichtig  ist  noch  seine  Eintheilung  der  Modi,  die  viel  mehr  wie 
bei  Zarlino  auf  unser  Dur  und  Moll  hinweist.  Er  kennt  zwei  Arten 
von  Modi,  die  Erstere  ist  naturalior,  weil  in  ihr  die  Trias  naturalm 
sich  befindet,  die  Andere  ist  aus  ähnlichem  Grunde  moUior.  Zur 
ersten  Art  gehören  Jonisch,  Lydisch,  Mixolydisch,  zur  andern  Dorisch, 
Phrygisch  und  Äolisch.  Mit  einer  durch  den  Text  bedingten  Unter- 
scheidung der  Kantilene  in  eine  kirchliche  und  weltliche  schließt 
dieses  bedeutende  Werkchen.  —  Hier  sehen  wir  bereits  einen  großen 
Schritt  vorwärts  gethan.  Ein  ganz  anderer  Geist  tritt  uns  ent- 
gegen, als  bei  Zarlino.  Neigt  Zarlino  dadurch,  daß  er  nur  aus  der 
Antike  schöpft  und  ausschließlich  diese  als  höheres  Gesetz  anerkennt, 
entschieden  zur  älteren  heidnischen  Philosophie  hinüber,  so  vertritt 
Lippius  den  Standpunkt  der  neueren,  und  zwar  speciell  der  chrisdichen 
Philosophie.  In  Dei  gloriam  will  Lippius  die  Musik  geübt  wissen,  Jesus 
wird  dulcissimus  karmonicorum  coryphaeus,  noster  Mercurius,  Apollo 
et  Orpheus  genannt.  Wie  früher  schon  das  dreitheilige  Tempus  mit 
Beziehung  auf  die  göttliche  Trinität  das  i>  perfekte  a  genannt  wurde, 
so  sieht  Lippius  jetzt  auch  in  Triade  harmonica  eine  imago  magm 
Mysterii  Divinae  solum  adorandae  Unitrinitatis,  Sowohl  die  Listitutionen 
des  Zarlino,  wie  auch  diese  Schrift  des  Lippius  sind  zwei  gelehrte 
Werke,  welche  für  Unterrichtszwecke  schlecht  zu  gebrauchen  sind. 
Zarlino's  Buch  enthält  für  den  praktischen  Unterricht  zu  viel,  Lippius 
Schrift  zu  wenig.  Beide  haben  ein  Medium  nöthig :  für  Zarlino  wurde 
dies  in  Calvisius  gefunden,  für  Lippius  ist  Crüger  der  Vermittler. 
Doch  ehe  wir  zu  diesem  übergehen,  müssen  wir  noch  Henricus  Bary- 
phonus  erwähnen,  dessen  Hauptwerk,  Plejades  musicae,  in  erster  Auf- 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  479 


läge  1615  zu  Halberstadt,  und  1630  in  zweiter  von  Grimm  besorgter 
Auflage  zusammen  mit  des  Calvisius'  Melopoiia  zu  Magdeburg  er- 
schien. Bei  Baryphonus  kommt  das  Schwanken  zwischen  älterer  und 
neuerer  Auffassung  am  deutlichsten  zur  Geltung.  Dem  neuen  har- 
monischen Princip  kann  er  sich  nicht  verschlieBen,  andererseits  aber 
wurzelt  seine  Natur  tief  in  dem  vokalen  Princip.  Diesem  Dilemma 
aus  dem  Wege  zu  gehen,  legt  er  seinen  Plejaden  eine  dem  musi- 
kalischen Wesen  geradezu  entgegengesetzte  Anordnung  nach  der  Sieben- 
zahl zu  Grunde.  Die  sieben  Hauptabschnitte  zerfallen  in  je  sieben 
Unterabtheilungen,  die  6.  Plejade  in  zweimal  sieben.  Doch  gereicht 
diese  Eintheilung  dem  Werke  nicht  immer  zum  Vortheil.  Hinsicht- 
hch  der  logischen  Folge  ragt  es  an  die  bereits  genannten  Werke 
nicht  heran ;  oft  hat  man  das  Gefühl,  daß  der  Verfasser  Mühe  hatte, 
immer  sieben  Abschnitte  in  jeder  Plejade  herauszubekommen.  Da- 
durch aber,  daß  er  durch  seine  Siebeneintheilung  gezwungen  war, 
die  Begriffe  allzusehr  zu  specialisiren,  wird  oft  Unwesentliches  gleich- 
berechtigt neben  Wesentlichem  hingestellt,  wodurch  der  Blick  auf 
das,  worauf  es  eigentlich  ankommt,  getrübt  wird.  Leider  scheint 
dies  bei  Baryphonus  selbst  der  Fall  gewesen  zu  sein;  denn  als  ein 
Mangel  muß  man  das  Fehlen  der  Dissonanzfortschreitungen  empfinden. 
Statt  in  der  7.  Plejade  diese  Fortschreitungen  zu  bringen  und  so  die 
natürliche  Fortsetzung  der  vorhergehenden  Plejaden  zu  bilden,  fällt 
er  mit  einem  Male  aus  der  praktischen  Darstellung  in  die  gelehrte 
zurück  und  bringt  eine  allbekannte  Anordnung  der  sieben  Konso- 
nanzen auf  das  Monochord.  So  wurde  die  Siebenzahl,  diese  dem 
Wesen  der  musikalischen  Spekulation,  welche  auf  die  gerade  Zahl 
basirt  ist,  so  entgegengesetzte  Zahl,  das  Verhängniß  für  Baryphonus. 
Wer  weiß,  ob  nicht  gerade  jene  Unübersichtlichkeit  und  jener  gerügte 
Fehler  des  Werks  Schuld  daran  sind,  daß  trotz  aller  einflußreichen 
Empfehlungen  keine  Besserung  in  den  äußeren  Lebensverhältnissen 
des  vom  Schicksal  nicht  begünstigten  Mannes  eintrat.^) 

Daß  wir  nun  trotz  der  gerügten  Mängel  Baryphonus  einen  großen 
Theoretiker  nennen  müssen,  hat  darin  seinen  Grund,  daß  die  Ple- 
jaden nicht  nur  eine  seltene  Fülle  von  Material  bieten,  sondern  auch 
eine  selbständige  Verarbeitung  dieses  Materials  liefern,  welche,  wenn 
auch  in  der  äußern  Form  nicht  ganz  geglückt,  doch  berufen  war, 
neue  Gesichtspunkte  in  die  Lehrmethode  hineinzubringen.  Mit  rich- 
tigem Blick  erkannte  Baryphonus,  daß  in  einer  Kompositionslehre 
die  Behandlung  der  Kon-  und  Dissonanzen  das  Wichtigste  sei.     Alles 


1  Näheres  über  sein  Leben  findet  sich  in  der  Vierteljahrsschrift  für  Musik- 
vissensehaft 1890}  1.  Heft:   Zwei  harzische  Musiktheoretiker  von  Eduard  Jacobs. 


480  Hermann  Gehrmann, 


hierauf  Bezügliche  hat  er  gesammelt  und  verarbeitet  und  bot  somit 
in  den  Plejaden  eine  Intervallenlehre  von  noch  nicht  dagewesener 
Gründlichkeit.  Die  drei  ersten  Plejaden  sind  den  rein  spekulativea 
Betrachtungen  gewidmet.  Hier  kommt  er  unter  Anderem  auf  die 
von  Zarlino  dem  System  zu  Grunde  gellte  Scala  syntona  ausführlich 
zu  sprechen,  femer  auf  die  Zahlen  Verhältnisse ,  die  er,  eine  Folge 
der  Siebeneintheilung,  genauer  als  Zarlino  darstellt,  und  auf  die  Ver- 
richtungen der  Proportionen.  Die  zwei  folgenden  Plejaden  beschreiben 
die  Natur  der  Kon-  und  Dissonanzen.  Nicht  nur  werden  hier  die 
Verhältnißarten  und  species  derselben  angegeben,  sondern  auch  ihre 
Bezeichnung  durch  die  Solmisationssilben ,  die  Möglichkeit  der  har- 
monischen oder  arithmetischen  Theilung  und  eine  Etymologie  des 
Namens.  Die  sechste  Plejade  handelt  von  den  Affektionen  der  Kon- 
sonanzen. Diese  Affektionen  sind  entweder  Syzygiae  oder  Progressiones, 
Wie  bei  Lippius  wird  hier  die  Trias  harmonica  in  dur  und  moü 
unterschieden,  und  ebenfalls  die  Komposition  auf  Grund  eines  General- 
basses empfohlen.  Bei  den  Fortschreituugen  der  Konsonanzen  wird 
zum  ersten  Male  das  schon  von  Calvisius  angeregte,  aber  noch  nicht 
zum  Princip  erhobene  Verfahren  konsequent  durchgeführt,  nämlich 
die  Verbindungen  jeder  einzelnen  KonsoQanz  so  zu  zeigen,  daß  man 
mit  der  vollkommensten  Konsonanz,  der  Oktave,  beginnend,  die  Ver- 
bindungen beschreibt,  welche  sie  mit  der  Quinte,  Quarte  u.  s.  w. 
eingehen  kann,  dann  zur  Quinte  geht  und  deren  Fortschreitungen  zeigt 
u.  s.  f.  Diese  für  den  praktischen  Unterricht  wichtige  Neuerung  bheb 
für  die  spätere  Darstellung  der  Intervallfortschreitungen  maßgebend. 

Wie  schon  gesagt,  fehlen  die  Fortschreitungen  der  Dissonanzen; 
mit  der  7.  Plejade,  welche  eine  Eintheilung  der  Konsonanzen  auf 
dem  Monochord  enthält,  schließt  das  Werk,  dem  als  Anhang  noch 
mehrere  unwesentliche  Zahlentabellen  folgen. 

Weicht  Baryphonus  durch  seine  Eintheilung  einer  ausschlieBhch 
melodischen  oder  ausschließlich  harmonischen  Auffassung  der  Lehre 
noch  aus,  so  vertritt  Crüger  entschieden  den  harmonischen  Standpunkt. 

Seine  Synopsis  mtcsica  erschien  zum  ersten  Male  1624  zu  Berlin 
und  wurde  später  wiederholt  aufgelegt.  Hinsichtlich  der  klaren 
Fassung  verdient  die  Ausgabe  von  1630,  welche  Walther  kannte,^ 
den  Vorrang.  Auch  unsere  Ausführungen  werden  an  der  Hand  dieser 
Ausgabe  gegeben.  Als  Quellen  benutzte  Crüger  die  Schriften  eines 
Lippius,  Calvisius,  Walliser,  Praetorius  und  Sweelinck.  Wiewohl 
nun  Crüger  mit  einer  geradezu  naiven  Aufrichtigkeit  besonders  Cal- 
visius und  Lippius  wörtlich  abschreibt,  so  bietet  er  trotzdem  in  seiner 
Synopsis  ein  selbständiges  Werk,  dessen  Bedeutung  darin  liegt,  daB 

1  S.  sein  Lexikon. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  4§j 


es  das  erste  ünterrichtsbuch  ist,  welches  auf  harmonischer  Grundlage 
beruht.  Dem  Lippius  war  es  hauptsächlich  darum  zu  thun,  die 
höhere  Bedeutung  der  Trias  harmonica  gegenüber  der  bisherigen 
melodischen  Anschauung  geltend  zu  machen;  eine  praktische  Lehre 
deutet  er  nur  in  Umrissen  an.  Alle  specielleren  Regeln  für  Fort- 
schreitungen der  Intervalle,  ferner  genauere  Aufschlüsse  über  Takt, 
Kadenzen  und  Fugen  fehlten  hier.  Crüger  fügt  nicht  nur  diese 
Gegenstände  in  seine  Synopsis  ein,  sondern  handelt  auch  bei  der 
monadischen  Musik  über  die  Solmisation  und  die  Elemente  in  der 
Musik.  Die  große  Bedeutung  dieses  kleinen  Werks  liegt  also  nicht 
nur  in  der  Verquickung  und  Verarbeitung  der  kontrapunktischen 
Satzlehre  eines  Calvisius  mit  den  harmonischen  Gesetzen  von  Lippius, 
sondern  auch  darin,  daß  das  Werk  durch  Einfügung  einer  elemen- 
taren Lehre  den  Werth  einer  ersten  umfassenden  Kompositionslehre 
des  17.  Jahrhunderts  erhält. 

In  cap,  1  handelt  er  über  die  Principien  der  Musik,  besonders 
über  die  Materie;  von  cap.  2  beginnt  die  Schilderung  der  Monas 
musica.  In  cap,  3  geht  er  genauer  als  Lippius  auf  die  Namen  der 
Töne  ein.  welche  er  in  Buchstaben  und  Solmisationssilben  mittheilt. 
In  cap.  4  beschreibt  er  die  Noten  und  Pausen.  Cap,  5  handelt  über 
den  Takt,  cap.  6  über  die  einfachen  Intervalle.  In  cap.  7.  welches 
die  Dyas  musica  betrifft,  werden  die  Kon-  und  Dissonanzen  frei  nach 
Calvisius  dargestellt.  Mit  der  Trias  harmonica^  deren  beide  Arten,  dar 
und  moll^  er  genauer,  als  Lippius  noch  in  nativae  nndßctiles  scheidet, 
schließt  in  cap.  8  die  Darstellung  der  Materie.  Schöpfte  Crüger  bisher 
hauptsächlich  aus  Lippius'  Synopsis,  so  tritt  jetzt  bei  der  Form  des 
harmonischen  Gesanges,  welche  sich  mit  der  Darstellung  der  Kom- 
positionslehre im  engeren  Sinne  beschäftigt,  auch  die  Melopoiia  des 
Calvisius  als  Hauptquelle  auf.  Nach  einem  allgemeinen  Kapitel, 
worin,  wie  bei  Lippius,  das  Wesen  der  Form,  beschrieben  wird,  spricht 
Crüger  in  cap.  10  vom  Baß,  Discant,  Tenor  und  Alt,  in  cap.  11  von 
den  Modi,  welche  von  Jonisch  an  aufgezählt  werden.  Wie  bei  Lip- 
pius zerfallen  diese  einerseits  in  natürlichere  und  weichere,  anderer- 
seits auch  in  authentische  und  plagale,  je  nachdem  man  der  Trias 
harmonica  oben  oder  unten  eine  Quarte  hinzufügt.  Doch  mit  diesen 
Anschauungen  des  Lippius  verknüpft  er  auch  jene  ältere  des  Calvi- 
sius (resp.  Zarlino) ,  wenn  er  aus  dem  Tenor  den  Modus  erkennen 
will,  und  wenn  er  den  Satz  wiederholt,  daß  gegenüber  einem  authen- 
tischen Tenor  und  Discant,  Baß  und  Alt  plagal  sein  müssen  oder 
umgekehrt.  Von  jedem  Modus  wird  dann  die  für  die  authentische  und 
plagale  Lage  gemeinsame  Tria^  harmonica  angegeben,  und  zwar  im 
regulären  und  transponirten  System ;  eine  äußerliche  Neuerung  ist  die 


4S2  Hermann  OehnnanD, 


Anwendung  von  runden  Noten,  welche  in  manchen  Beispielen  hier 
schon  auftreten.  Cap.  12.  De  coniungendis  et  ita  disponendts  Melodik^ 
ut  exinde  prodeat  et  enascatur  Melo9  harmonicum  lehrt  wörtlich  nach 
Lippius,  daß  fiir  den  Anfänger  der  beste  W^  sei,  bei  der  Kompo- 
sition eines  Stückes  zuerst  den  Baß  zu  setzen  und  diesem  dann  die 
Trias  hartnonica  hinzuzufügen.  Hierzu  giebt  er  Fortschreitungsregeln 
der  Konsonanzen,  die  zum  großen  Theil  wörtlich  aus  Calyisius  ge- 
schöpft sind.  In  den  folgenden  Kapiteln  beschreibt  er  genau  nach 
Calyisius  den  Gebrauch  der  Dissonanzen  und  Kadenzen.  Für  die 
Letzteren  bringt  er  funfstimmige  und  für  jeden  Modus  vierstimmige 
Beispiele  aus  einer  als  Kompositionsregeln  Sweelincks  bezeichneten 
Handschrift.  Etwas  knapp  und  nicht  so  eingehend  wie  Calvisius 
behandelt  er  die  Fuge.  Während  der  Text  fast  wörtlich  dem  15.  Ka- 
pitel der  Melopöie  des  Calvisius  entlehnt  ist,  sind  die  Beipiele  über 
die  Choräle :  »Wenn  wir  in  höchsten  Nöthen  sein«  und  »O  Mensch, 
bewein  dein  Sünde  große  wieder  aus  jener  Sweelinckschen  Lehre. 
Mit  einer  aus  Praetorius'  Syntagma  mtisicum  zusammengestellten  Auf- 
zählung aller  gebräuchlichen  Arten  von  Cantione^,  sowohl  mit  als 
ohne  Text  (Instrumentalformen)  schließt  das  Werk.  Werfen  wir  aut 
dasselbe  einen  letzten  Blick,  so  sehen  wir  im  Vergleich  zu  den  frü- 
her geschilderten  Theorielehren  manche  Veränderungen.  Zunächst 
empfinden  wir  das  Fehlen  jeder  mathematischen  Spekulation,  außer 
bei  dem  Takt,  als  einen  Vortheil.  Auch  sonst  fehlt  jede  tiefere 
Spekulation.  Sahen  wir  bei  Calvisius  bereits  ein  Zurückweichen  der 
Zarlinoschen  Philosopheme,  so  verzichtet  hier  Crüger  auf  die  Grübe- 
leien eines  Lippius  und  zieht  das,  was  nicht  ganz  zu  umgehen  ist, 
wie  z.  B.  die  Principienfrage  in  der  Musik,  zusammen.  Dagegen 
bemerken  wir  eine  direkte  und  indirekte  instrumentale  Beeinflussung. 
Als  indirektes  Moment  begrüßen  wir  das  der  Methode  schon  voa 
Lippius  zu  Grunde  gelegte  harmonische  Prinzip.  Aber  auch  die 
direkte  Rücksichtnahme  äußert  sich  bei  Crüger  schon  in  vielen  klei- 
nen Zügen.  Bei  ihm  fangen  die  Töne  nicht  vom  tiefsten  A  mehr 
an,  sondern  vom  großen  (7,  welches  auf  den  Tasteninstrumenten  der 
tie&te  Ton  ist ;  cw,  dis^  fis  und  gis  werden  als  besonders  in  der  In- 
strumentalmusik vorkommende  fictile  Töne  erwähnt,  ferner  weist  die 
Abbildung  der  Tabulaturzeichen ,  sowie  die  Aufzählung  aller  mög- 
lichen Instrumentalformen  nach  Praetorius  auf  ein  Eindringen  des 
Instrumentalen  in  die  Lehre  hin.  Wie  aber  jede  große  Erscheinung 
in  ein  Extrem  fällt,  so  geschieht  das  auch  hier.  Zwar  sind  die  Ke- 
geln für  die  Intervallfortschreitungen  im  wesentlichen  dieselben  ge- 
blieben, wie  bei  Calvisius,  aber  die  dem  Wesen  des  Kontrapunkts 
so    eigen thümlichen    Formen    sind    zurückgewichen:     der    doppelte 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  4g3 


Kontrapunkt  fehlt  ganz,  und  auch  die  Fuge  wird  nicht  mehr  ausfuhrlich 
behandelt,  sondern  nur  in  ihren  wesentlichsten  Punkten  knapp  zu- 
sammengefaßt; die  schweren  fünf-  und  sechsstimmigen  Beispiele  der 
Sweelinckschen  Lehre,  welche  Crüger  gleichsam  als  Ersatz  für  den 
kaum  genügenden  Text  folgen  läßt,  mögen  für  den  Schüler  ein 
schöner  Trost  gewesen  sein.  Doch  thut  dies  der  Bedeutung  des 
Werks  keinen  großen  Abbruch.  Die  Hauptsache  war  ja  eben,  daß 
Ton  jetzt  an  der  strenge  Satz  von  einem  harmonischen  Princip  aus 
gelehrt  werden  konnte.  —  Die  wesentlichsten  Wandlungen  in  der 
äußeren  Anordnung  des  Lehrstoffs  finden  hiermit  insofern  einen  ge- 
wissen Abschluß,  als  nun  diese  Methode  die  allgemein  herrschende 
wurde  und  durch  Joh.  Seb.  Bach  die  höchste  Weihe  erhielt. 

Li  diesem  Sinne  lehren  besonders  Herbst,  Printz,  Weickmeister, 
Niedt  und  unser  Walther.  Die  nach  dem  Erscheinen  von  Crügers 
Synopsis  stattfindenden  Erweiterungen  im  Lehrgange  entspringen  aus 
der  zunehmenden  Entwicklung  des  Lehrmaterials  selbst.  Diese  in- 
nere Entwicklung  wird  ganz  besonders  durch  die  von  jetzt  an  immer 
größer  werdende  Rücksichtnahme  auf  die  instrumentale  Komposition 
befordert.  Crügers  Synopsis  wies  uns  schon  auf  die  zwei  Werke  hin, 
von  denen  die  Rücksichtnahme  auf  die  Instrumentalmusik  haupt- 
sächlich ausging.  Sie  sind  das  Syntagma  musicum  von  Michael  Prae- 
torius  und  ein  in  deutscher  Sprache  verfaßtes ,  auf  der  Hamburger 
Stadtbibliothek  befindliches  Manuskript.  Für  die  instrumentalen  Ein- 
flüsse in  einer  streiken  Satzlehre  kommt  nur  dieses  letztere  Werk 
in  Frage.     Wir  gehen  daher  auf  dasselbe  etwas  näher  ein. 


2. 

Die  Kompositionsregeln  Sweelincks. 

Das  Hamburger  Manuskript  enthält  in  einem  ersten  Theile  die 
Sweelinckschen  Kompositionsregeln,  im  zweiten  Theile  eine  Lehre 
vom  doppelten  Kontrapunkt,  wozu  die  Beispiele  fast  sämtlich  im 
instrumentalen  Toccatenstil  verfaßt  sind.  Gerade  das  Vorherrschen 
dieses  Toccatenstils  im  zweiten  Theile  ist  charakteristisch  für  eine 
erste  bedeutende  Beeinflussung  der  Lehre  durch  die  Instrumental- 
musik. Von  dieser  Bedeutung  des  Manuskripts  konnte  Crüger  keinen 
vollen  Begriff  haben,  denn  den  zweiten  Theil  des  Manuskripts  kannte 
er  nicht,  seine  Abfassung  fällt  aus  weiter  unten  gezeigten  Grün- 
den später,  als  jene  von  Crügers  Synopsis, 


484  Hermann  Gehrmann, 


In  dem  ersten  Theile  des  Manuskripts  aber,  aus  welchem  Crüger 
schöpfte,  tritt  dieser  eigentliche  instrumentale  Stil  noch  so  gut  wie 
gar  nicht  auf. 

Das  fast  unbekannt^  gebliebene,  aus  372  quartförmigen  Seiten 
bestehende  Manuskript,  welches  auf  dem  Lederrücken  des  starken 
braunen  Einbandes  in  goldenen  Buchstaben  die  Inschrift  trägt: 
»P.  Sweelii^cks  Kompositionsregeln«,  zerfällt,  wie  schon  gesagt  in 
einen  Haupttheil,  der  Seite  1  —  275  (incl.)  umfaßt  und  die  Kompo- 
sitionsregeln  der  Sweelinckschen  Periode  beschreibt,  und  in  einen 
kleineren  Theil,  welcher  die  Lehre  vom  doppelten  Kontrapunkt  in 
einer  neuen  Weise  behandelt  und  von  Seite  2 SO — 351  reicht. 

Bis  hierher  erstreckt  sich  das  schön  und  deutlich  geschriebene  Werk, 
welches  von  einer  ausgeschriebenen  Hand  zu  Papier  gebracht  ist  und 
zwischen  den  Schriftzügen  des  1.  und  denen  des  2.Theils  keinen  Unter- 
schied aufweist.  Wiewohl  damit  der  Vermuthung  Baum  gegeben  wird, 
daß  das  Ganze  auf  einmal,  zu  einer  und  derselben  Zeit,  nieder- 
geschrieben wurde,  so  steht  dieser  Annahme  doch  der  sehr  verschie- 
dene Inhalt  beider  Theile  im  Wege.  Denn  die  im  zweiten  Theile 
niedergelegte  neue  Eintheilung  und  Behandlung  des  doppelten 
Kontrapunkts  muß  einer  späteren  Periode  zugewiesen  werden,  als 
die  Behandlung  desselben  Gegenstandes  im  ersten  Theile.  In  wiefern 
aber  diese  neue  Behandlung  des  doppelten  Kontrapunkts  einer  spä- 
teren Periode  angehört,  als  jene  ältere  Zarlinosche  Darstellung  des- 
selben, wird  bei  Walthers  doppeltem  Kontrapunkt  gezeigt  werden. 
Daß  nun  aber  die  Schriftzüge  des  Manuskripts  in  den  beiden  zeit- 
lich ungefähr  zehn  bis  zwanzig  Jahre  auseinanderliegenden  Theilen 
keine  Verschiedenheit  aufweisen,  mag  darin  eine  Erklärung  finden, 
daß  die  Schrift  von  einer  ausgereiften,  festen,  männlichen  Hand  her- 
rührt, die  höchstens  im  Greisenalter  des  Schreibers  etwas  von  ihrer 
Festigkeit  wird  verloren  haben,  aber  im  Mannesalter  desselben  einer 
Veränderung  nicht  unterworfen  war.  Ein  Zeitraum  von  zehn  bis 
zwanzig  Jahren  wird  keinen  Einfluß  auf  die  Züge  einer  ausgeschrie- 
benen Hand  ausüben,  und  somit  hindert  auch  die  gleiche  Schrift 
beider  Theile  nicht,  die  Abfassung  des  ersten  Theils  einige  Decen- 
nien  früher  zu  setzen,  als  jene  des  zweiten  Theils. 

Daß  der  Inhalt  des  zweiten  Theils  aber  etwas  Neues  war,  kann 
auch  äußerlich  daraus  gefolgert  werden,  daß  der  junge  Adam  Reincken 


*  Rob.  Eitner:  Monatshefte  für  Musikgeschichte  III.  Jahrg.,  theilt  aus  dem 
Manuskripte  sämtliche  Beispiele  über  die  Modi  mit.  Im  zweiten  Theile  der  Ab- 
handlung von  Max  Seiffert :  J.  P.  Sweelinck  und  seine  direkten  deutschen  Schüler 
wird  von   ihm  gehandelt;  s.  Vierteljahrschr.   für  Musik wissensch.     J891.  S.  178  ff. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  485 


auf  den  leergebliebenen  letzten  Seiten  des  Buches  sich  sofort  einen 
übersichtlicheren  Auszug  von  dem  unmittelbar  vorhergehenden  zweiten 
Theile  macht.  Dieser  Auszug,  der  mit  ganz  wenigen  Ausnahmen  nur 
Text  und  Beispiele  aus  dem  zweiten  Theile  bringt,  umfaßt  die  Sei- 
ten 354  bis  371  (incl.)  und  schließt  somit  das  Buch.  Daß  er  von 
Reinckens  Hand  stammt,  ergiebt  sich  abgesehen  von  der  Überschrift 
aus  einem  Vergleich  mit  einer  späteren  beglaubigten  Handschrift 
Reinckens  vom  Jahre  1670.  Der  Unterschied  ist  aber  der,  daß  die 
Schrift  des  Auszugs  im  Vergleiche  zu  der  ausgeschriebenen  Hand 
von  1670  noch  einen  unentwickelten  Charakter  trägt  und  daher 
von  Heincken  geschrieben  sein  muß,  als  er  noch  jung  war.  Der 
Auszug  mag  .demnach,  da  Reincken  1623  geboren  war,  wohl  um 
1645  niedergeschrieben  sein.  Für  die  Abfassung  des  vorhergehen- 
den zweiten  Theils  nehmen  wir  1640  als  runde  Zahl  an,  während  der 
erste  Theil  zwischen  1622 — 1623  verfaßt  sein  muß.  Denn  diesen 
kannte  Crüger  bereits  vollständig,  als  er  die  Synopsis  1624  heraus- 
gab. Daß  der  erste  Theil  nicht  vor  1622  geschrieben  ist,  geht  aus 
der  Überschrift  desselben  hervor,  wo  von  Sweelinck  als  dem  »ge- 
wesenen Organisten  zu  Ambsterdamv  gesprochen  wird.  Also  nach  Swee- 
lincks  Tode,  der  am  16.  Oktober  1621  erfolgte,  wurde  dieses  Manuskript 
verfaßt.  Daß  Crüger  aus  dem  ersten  Theile  schöpfte  und  nicht  etwa 
der  Hamburger  Schreiber  dieses  Buches  aus  Crügers  Synopsis^  dafür 
möge  schon  der  eine  Hinweis  genügen',  daß  Crüger  mit  Vorliebe 
solche  Beispiele  von  dort  in  seine  Synopsis  herübemahm,  die  aus- 
drücklich als  solche  von  Sweelinck  oder  Dr.  Bull  verfaßte  bezeich- 
net waren,  oder  die  sich  wenigstens  in  keiner  andern  Lehre  wieder- 
fanden. 

Wer  nun  der  Verfasser  des  Manuskripts  ist,  läßt  sich  leider 
nicht  bestimmen;  daß  dasselbe  in  Hamburg  sich  befindet,  läßt  auf 
einen  Hamburger  Schüler  Sweelincks  als  Verfasser  schließen.  Ob 
dieser  aber  in  Heinrich  Scheidemann  oder  Jakob  Praetorius,  die  hier 
zunächst  in  Frage  kämen,  zu  sehen  ist,  oder  ob  schließlich  doch 
ein  Anderer  der  Schreiber  war,  läßt  sich  nicht  eher  entscheiden, 
ak  bis  beglaubigte  Manuskripte  dieser  Männer  mit  unserem  vorlie- 
genden Werke  verglichen  sind.  Daß  das  Manuskript  schon  früher 
in  Reinckens  Besitz  gelangt  ist,  darf  man  wohl  daraus  schließen,  daß 
der  bestimmt  in  seiner  Jugendzeit  verfertigte  Auszug  die  letzten 
leeren  Seiten  des  Buches  fällt,  und  Reincken  mit  seiner  jugend- 
lichen Hand  auch  in  dem  Text  des  zweiten  Theils  bei  einigen  Bei- 
spielen noch  besonders  erklärende  Worte  hinzuschrieb.  Das  würde 
er  doch  bei  einem  so  werthvollen  Exemplar  nicht  gethan  haben, 
.wenn  es  in  fremdem  Besitz  gewesen  wäre.    Da  er  aber  speciell  Scheide- 


4^5  Hennann  Oehrmann, 


inanns  Schüler  war  und  ilim  später  im  Organistenamte  dei  St. 
Catharinenkirche  zu  Hamburg  folgte,  so  mag  vermuthet  werden,  dafi 
dieses  Exemplar  sich  erst  in  Scheidemanns  Händen  befand  und  vou 
diesem  in  Keinckens  Besitz  gelangte,  und  zwar  schon  zu  Lebzeiten 
Scheidemanns.  ^  Der  erste  Theil  des  Manuskripts  ist  durchaus  keine 
selbständige  Verarbeitung  des  3.  Theils  der  Harmonischen  Institutio- 
nen des  Zarlino,  in  der  Art,  wie  z.  B.  Calvisius  sie  bot,  sondern  nur 
eine  Aufhäufung  von  Material,  in  welcher  eine  getreue  Wieder- 
gabe des  Zarlinoschen  Kontrapunkts  und  die  Lehren  einer  neue- 
ren Anschauung  unvermittelt  neben  einander  gefunden  werden. 
Dabei  ist  die  Eintheilung  verworren,  und  oft  wird  zwei  ja  drei 
Mal  dasselbe  wiederholt.  Nur  in  groben  Umrissen  läßt  sich  die 
Eintheilung  erkennen.  Der  erste  und  Haupttheil  des  Werkes 
behandelt  nach  der  Überschrift  auf  Seite  1  die  Kompositionsregeln 
Sweelincks. 

Sie  zerfallen  in  drei  Abschnitte:  im  1.  Abschnitt  wird  von  den 
Intervallen,  schlechtem  und  gebrochenem  Kontrapunkt,  Kadenzen  und 
vier-  und  mehrstimmigem  Satz  gehandelt ,  im  2.  Abschnitt  von  den 
Modi,  im  3.  Abschnitt  von  den  Formen  des  Kontrapunkts,  also 
Fuge  und  doppeltem  Kontrapunkt,  und  zwar  erst  zweistimmig,  daim 
drei-,  vier-  und  mehrstimmig.  Auch  hier  wird  also  das  Zarlinosche 
Princip  der  Eintheilung  in  zwei-,  drei  und  vierstimmigen  Satz  nicht 
mehr  streng  befolgt.  Besonders  sehen  wir  dies  bei  den  Intervall- 
fortschreitungen :  neben  den  Beispielen  für  den  Duosatz  werden  immer 
gleich  drei-  und  mehrstimmige  Beispiele  gegeben.  Der  1.  Abschnitt 
des  ersten  Theils  reicht  von  Seite  2  bis  114.  Von  Seite  2 — 21  han- 
delt der  Schreiber  in  allgemeinerer  Weise  von  den  Intervallen,  den 
Fortschreitungen  der  Konsonanzen.  Hauptsächlich  folgt  man  hier  den 
ersten  38  Kapiteln  von  Zarlin.  Ist,  Uly  und  hat  man  das  Bidnium 
im  Auge.  Doch  fällt  als  eine  Neuerung  auf,  daß  diejenigen  Fort- 
schreitungen,  welche  im  zweistimmigen  Satze  zwar  verboten,  im 
mehr  als  zweistimmigen  aber  erlaubt  sind,  jedesmal  mit  dem  für  das 
Verbot  gegebenen  zweistimmigen  Beispiele,  welches  dann  im  mehr- 
stimmigen Satze  gesetzt  und  dadurch  zulässig  wird,  gezeigt  werden. 
Auf  Seite  22  beginnt  eine  eingehendere  Lehre  vom  i» schlechten« 
Kontrapunkt  (Ist.  III  cap.  40),  Die  in  ihm  geltenden  Fortschreitun- 
gen, welche  schon  vorher  beschrieben  waren,  werden  hier  wieder- 
holt und  genauer  nach  Ist,  III  cap,  29/30  dargestellt.  Ebenso  genau 
nach  Ist.  III  cap.  42/43  folgt  die  Lehre  vom  »gebrochenenc  Kontra- 


^  Zu  gleichen  Ergebnissen  gelangte  Max  Seiffert  in  der  genannten  Abhandlung. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  487 


punkt.      Das    erste    gröBere    Beispiel    auf   Seite    44/45    stammt   aus 
Ist,  III  cap.  43. 

Es  folgen  die  Regeln  über  Wiederholung  derselben  Passage 
[Ist  III  cap.  55),  das  Verbot  der  verdeckten  Parallelen  [Ist  cap.  36), 
die  Beschreibung  der  Kadenzen  [Ist  cap,  53)  und  des  Trugschlusses 
[Ist  cap,  54),  In  all  diesen  Dingen  wird  treu  dem  Zarlino  in  Text 
und  Beispiel  gefolgt.  Von  Seite  60  an  beginnen  die  Zarlino  gegen- 
über erweiterten  Resolutionen  der  Dissonanzen.  Zur  Yergleichung 
ißt  hier  für  Seite  66 — 73  und  74 — 77  Ist  III  cap.  42  und  61  heranzu- 
ziehen. Es  folgen  Seite  78 — 103  (Ist.  cap,  59, 61, 65, 66)  Regeln  für  den 
Gebrauch  der  Semiminimen,  ferner  alle  mögHchen  Beispiele  für  den 
dreistimmigen  Satz,  für  mehr  als  zweistimmige  Kadenzen  nnd  allge- 
meine Vorbemerkungen  nebst  Beispielen  zum  vierstimmigen  Satz. 
Von  Seite  104  an  wird  jene  vierstimmige  Akkordtabelle  aus  Ist  III 
cap.  58  in  Noten  ausgeführt,  mitgetheilt.  Mit  fün&timmigen  Kaden- 
zen, die  nicht  aus  Zarlinos  Institutionen  sind,  aber  von  Crüger  in 
seine  Synopsis  hinübergenommen  wurden,  schließt  der  1.  Abschnitt 
dieses  Theils.  Von  Seite  115 — 176  reicht  der  2.  Abschnitt.  Zunächst 
wird  eine  Beschreibung  der  acht  Kirchentöne  gegeben.  Nachdem  sie 
einzeln  erklärt  worden,  folgen  vierstimmige  Beispiele,^  sowohl  regu- 
läre, wie  transponirte,  welche  sich  in  Crügers  Synopsis  finden  und 
dort  durch  Beispiele  für  die  hier  fehlenden  vier  anderen  Modi  ver- 
mehrt sind.  Hierauf  folgt  von  Seite  160  an  »Unterrichtung  von  allen 
zwölf  Tönen«,  die  wie  vorhin  die  Kirchentöne  von  D  anfangen. 
Was  von  den  Kirchentöneü  gesagt  wurde,  wird  hier  noch  einmal 
wiederholt  und  für  alle  12  Modi  je  ein  einstimmiges  Beispiel ^  gege- 
ben im  regulären  und  transponirten  System.  Auf  den  Unterschied 
der  Anordnung  der  Modi  weist  der  Schreiber  auf  Seite  176  hin,  wenn 
er  sagt,  daß  der  5.  Ton  für  den  ersten  und  der  erste  für  den  dritten 
genommen  werde.  Seite  177 — 275  umfaßt  den  3.  Abschnitt  des 
Haupttheils.  Es  werden  verschiedene  »Manierena  von  Fugen,  die  in 
»ungebundene«,  »gebundene«  und  Imitationen  zerfallen,  gezeigt.  Hier 
wird  ganz  genau  in  Text  und  Beispiel  dem  Zarlino  gefolgt :  Seite  177 
bis  182,  welche  von  Fugen  handeln,  entsprechen  Ist.  III  cap.  51 , 
Seite  182 — 186  [Ist.  III  cap.  52)  beschreiben  die  Imitation,  und 
Seite  187  —  197  [Ist.  III  cap.  56)  werden  die  fünf  Arten  des  doppel- 
ten Kontrapunkts  Zarlino's  besprochen.  Alles  ist  zweistimmig.  Nach 
mehreren  anderen  Beispielen  von  Kanons,  die  erst  nur  in  einer 
Stimme    mit    Trauspositionsschlüsseln ,    Pausen    und    den    nöthigen 


1  Mitgetheilt  von  R  Eitner,  Monatshefte  für  Musikgeschichte  III. 

2  Desgl. 

1891.  33 


453  Hermann  Gehrmann, 


Zeichen  der  Presa  und  Coronata  hingeschrieben  sind  und  nachher 
ausgesetzt  folgen,  beginnt  von  Seite  209—216  der  doppelte  Kontra- 
punkt zu  drei  Stimmen,  der  die  vier  Arten  Zarlino's  enthält  (Ist,  III 
cap.  62,]* 

Nicht  wörtlich  aus  Zarlino,  aber  doch  nach  den  in  c.  63  ge- 
gebenen Vorschriften  ausgeführt  sind  die  acht  verschiedenen  Ma- 
nieren zweistimmiger  Kanons  über  oder  unter  dem  Choral:  »Veni 
Creator  spiritus.ff  Auch  über  den  Choral:  »O  Mensch,  bewein  dein 
Sünde  groß«  folgt  in  dieser  Weise  ein  Kanon  von  »Sweling.«  Alle 
diese  Beispiele  werden  erst  zweistimmig  hingeschrieben,  nämlich 
Choralstimme  und  die  mit  den  nöthigen  Zeichen  für  den  Comes  ver- 
sehene Prinzipalstimme  des  Kanons,  sodann  vollständig  zu  drei 
Stimmen  ausgesetzt.  Von  Seite  246 — 261  folgen  nun  unendlich 
viele  Beispiele  von  Kanons  zu  zwei  und  drei  Stimmen,  die  nicht  über 
einen  Choral  komponirt  sind,  von  doppelten  Fugen  oder  Kanons, 
die  aus  den  beiden  Fugenstimmen  und  einer  Mittelstimme  bestehen, 
femer  Beispiele  von  ganz  einfachen  zweistimmigen  Fugen  in  ver- 
schiedenen Intervallabständen  und  schließlich  kleine  Exempel  vom 
doppelten  Kontrapunkt  zu  zwei  Stimmen.  Diese  ganze  Beispiel- 
sammlung stammt  nicht  aus  Zarlino.  Von  Seite  262  folgen  vier- 
stimmige Kanons,  darunter  ein  solcher  von  Willaert,  der  bereits  in 
Ist  III  c,  66  sich  findet.  Zum  Schluß  kommen  noch  zwei  große 
fünfstimmige  Beispiele,  von  denen  das  letztere  von  Doktor  Bull  ver- 
faßt ist.  Beiden  Beispielen  liegt  der  Choral:  »Wenn  wir  in  höch- 
sten Nöthen  sein«  zu  Grunde.  Bei  dem  ersten  Beispiele  liegt  der 
Choral  in  der  Mittelstimme,  die  2  höheren  und  die  2  tieferen 
Stimmen  bilden  je  dazu  einen  Kanon  motu  recto.  Bei  dem  BuU- 
schen  Beispiele  jedoch  liegt  der  Choral  in  der  Oberstimme  und  die 
zweite  und  dritte  Stimme  von  oben  an  gerechnet,  sowie  die  vierte 
und  £unfte  Stimme  bilden  dazu  je  einen  Kanon  in  Gegenbewegfung. 
Nach  Aufzählung  der  Bezeichnungen:  1)  Fuffa  in  Unisono^  2)  F,  in 
Epidiatessaron,  3)  F.  in  Hypodiatessaron^  4)  F,  in  Epidiapente,  h]  F.  in 
SubdiapentCj  6)  F.  in  Epidiapason^  7)  -F.  in  Subdiapason  schliesst  auf 
Seite  275  der  Haupttheil.  Wurden  hier  nun  die  Sweelinck'schen 
Kompositionsregeln  geschildert,  so  beginnt  nach  mehreren  leeren 
Blättern  wohl  in  einem  vom  Schreiber  selbständig  verfaßten  Theile 
die  ausfuhrlichste  Lehre  über  den  modernen  doppelten  Kontrapunkt, 
welche  je  im  17.  Jahrhundert  geschrieben  wurde.  Auch  in  diesem 
Theile  haben  wir  wieder  den  Eindruck  des  nicht  verarbeiteten,  nicht 
gesichteten,  sondern  nur  angehäuften  Materials.  Zunächst  wird  von 
Seite  280  an  der  Kontrapunkt  alla  Ottava  behandelt.  Nach  allge- 
meinen Regeln  über  den  hierbei  zu  beachtenden  Gebrauch  von  Kon- 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  4S9 

und  Dissonanzen  folgen  unzählige  Beispiele.  Hierbei  tritt  die  fast 
ausschliessliclie  Anwendung  eines  Toccatenstils  als  wichtiges  Merkmal 
hervor,  auf  die  instrumentale  Komposition  wird  somit  das  größte 
Gewicht  gelegt.  Diese  Beispiele,  in  welchen  alle  möglichen  Kanons 
(per  augmenfationem  ä  2j  3  u,  4  vor,,  perpetuus]  und  doppelte  Fu- 
gen (in  Terz,  Quart  und  Quint)  ausgeführt  sind,  reichen  von 
Seite  281  —  286.  Auf  Seite  287  wird  die  Lehre  des  doppelten 
Kontrapunkts  alla  Ottava  zwar  von  vorn  wieder  angefangen,  aber 
mit  anderen  Heispielen  von  doppelten  Fugen  und  Kanons  gezeigt. 
Auf  Seite  300  werden  zum  dritten  Male  die  Regeln  für  den  dop- 
pelten Kontrapunkt  in  der  Oktave  mitgetheilt.  Von  Seite  305 
beginnt  der  doppelte  Kontrapunkt  alla  duodecima,  der  nament- 
lich durch  zweistimmige  Beispiele  erläutert  wird.  Auch  hier  finden 
Wiederholungen  der  Regeln  statt.  Es  folgt  dann  die  Lehre  vom 
doppelten  Kontrapunkt  alla  decima,  der  ebenfalls  beschrieben  und 
durch  zwei-,  hauptsächlich  aber  durch  drei-  und  vierstimmige  Bei- 
spiele anschaulich  gemacht  wird.  Auch  kurze  Angaben  mit  Bei- 
spielen über  den  drei-  und  vierfachen  Kontrapunkt  finden  sich  hier. 
Auf  Seite  333  kommt  der  Schreiber  noch  einmal,  also  zum  vierten 
Male,  auf  den  doppelten  Kontrapunkt  alla  Ottava  zu  sprechen  und 
bringt  neue  Beispiele  für  seinen  Gebrauch  herbei.  Es  folgen  von 
Seite  341 — 348  zwei  sechsstimmige  Synkopationen  der  Dissonanzen, 
es  wird  ferner  gelehrt,  wie  man  aus  zwei  Stimmen  drei  oder  mehrere 
mache,  und  zum  Schluß  gezeigt,  wie  drei  Fugen  zugleich  verkehrt 
werden  können.  Hiermit  schließt  auf  Seite  351  dieses  Manuskript. 
Nach  zwei  leeren  Seiten  beginnt  nun  der  aus  diesem  letzten  Theile 
gemachte  Auszug  über  den  doppelten  Kontrapunkt  von  Reincken. 
Doch  behandelt  dieser  nur  den  Kontrapunkt  alla  ottava  und 
duodecima,  da  das  Papier  des  Buches  nicht  ausreichte.  Wiewohl 
Reincken  in  seinem  Vorworte  sagt,  daß  er  den  schon  weiter  vorn 
gezeigten  Kontrapunkt  durch  neue  Beispiele  erläutern  wolle,  so  hält 
er  sein  Wort  doch  schlecht,  denn  mit  ganz  wenigen  Ausnahmen 
sind  alle  Beispiele,  wie  auch  der  Text  von  vom  entlehnt.  Da  hier 
nichts  Neues  gesagt  wird,  so  brauchen  wir  auf  den  Auszug  nicht 
weiter  einzugehen. 

Im  Anschluß  an  dieses  Buch  verdient  das  bereits  erwähnte 
Manuskript  Reinckens  von  1670  Erwähnung.  Hierin  sind  seine 
Kompositionsregeln  enthalten,  welche  aber  nur  die  Regeln  Sweelincks 
in  erweiterter  Form  wiedergeben.  Das  stattliche,  grau  eingebun- 
dene Buch  hat  einen  kleineren  Umfang,  als  das  vorige  Manuskript. 
Es  zerfällt  in  zwei  Theile,  von  welchen  der  erste  selbständig  von 
Reincken  verfaßt  ist. 

33* 


490  Hermann  Qehnnann, 


Hier  wird  der  Reihe  nach  von  den  Intervallen,  Modi,  Fugen, 
Taktarten  und  Text  gehandelt.  Besonders  bei  den  Intervallen  folgt 
er  der  Sweelinckschen  Lehre  im  vorigen  Manuskript  Aber  abge- 
sehen davon,  daß  das  verworren  aufgehäufte  Material  Sweelincks 
zusammengezogen  und  so  übersichtlich  gemacht  ist,  bekommt  dieser 
erste  Traktat  dadurch,  daß  neben  die  Sweelincksche  auch  immer 
die  neue  Anschauung  gesetzt  wird,  einen  originalen  Werth.  Mehr 
wie  bei  den  IntervaUen  wird  bei  den  anderen  Gegenständen  auf  den 
Unterschied  zwischen  älterer  und  neuerer  Auffassung  hingewiesen. 
So  wird,  um  nur  Einiges  hervorzuheben,  neben  der  regulären  Trans- 
position eine  transpflsitio  ficta  bei  den  Modi  gelehrt,  bei  den  Fugen 
nicht  nur  die  ältere  Form,  welche  den  Modus  nicht  überschreiten 
durfte,  sondern  auch  die  neue  Quintenfuge  gezeigt  und  schließlich 
auch  bei  den  Takten  überwiegend  auf  den  neuen  Gebrauch  die 
Aufmerksamkeit  gerichtet.  In  einem  Schlußworte,  daß  der  Yor- 
stehende  Traktat  für  denjenigen  nützlich  ist,  der  einen  guten  An- 
fang zur  Komposition  begehrt  zu  machen,  wird  darauf  hingewiesen, 
daß  die  «Handgriffe  der  wahren  Wissenschaft«  zum  Theil  im  folgenden 
Traktat  behandelt  werden.  Die  zweite  Abhandlung  beginnt  mit 
einem  längeren  Vorwort,  in  welchem  wir  erfahren,  daß  im  folgen- 
den Traktat  verschiedene  Kompositionsarten  gezeigt  werden  sollen, 
wie  sie  Zarlino  und  Sweelinck  lehrten.  Es  folgt  nun  in  diesem 
Theile  eine  ganz  genaue  Abschrift  der  Seiten  177 — 268  jenes  ersten 
Hamburger  Manuskripts ,  welche  ja  von  Fugen  und  doppeltem 
Kontrapunkt  handeln.  In  dieser  Abschrift  sind  die  Beispiele  mit- 
unter abgekürzt ;  am  Ende  solcher  Abkürzungen  stehen  gewisse  Zei- 
chen, welche  sich  an  derselben  Stelle  des  Beispiels  auch  in  dem 
ersten  Manuskript  finden.  Diese  Zeichen  also  sind  ein  Hinweis 
darauf,  daß  die  hier  abgekürzten  Beispiele  vollständig  in  dem 
älteren  Manuskripte  nachzusehen  sind.  Auch  hinsichtlich  des  Textes 
ist  die  ältere  Handschrift  ausfuhrlicher,  als  diese.  Daß  die  Ab- 
schrift etwas  flüchtig  gemacht  wurde,  geht  daraus  hervor,  daß  in 
mehreren  Beispielen  Noten  ausgelassen  sind,  welche  man  leicht  aus 
denselben  Beispielen  des  älteren  Manuskriptes  ergänzen  kann.  Trotz 
wiederholter  Abkürzungen  gelang  es  Reincken  nicht,  den  vollstau- 
digen  letzten  Abschnitt  der  Sweelinckschen  Lehre  in  dieses  Buch 
zu  bringen,  und  so  fehlen  denn  lediglich  aus  Papiermangel  die  sie- 
ben letzten  Seiten  (269 — 276)  jenes  letzten  Abschnitts  aus  dem  ersten 
Theile  des  älteren  Manuskripts.  Dadurch  aber,  daß  dieser  2.  Theil 
eine  ganz  genaue  Kopie  der  Sweelinckschen  Regeln  enthält,  geht 
noch  deutlicher,  als  aus  dem  ersten  Traktat  hervor,  daß  Reincken 
völlig  auf  der  Sweelinckschen  Lehre  fußt,  wie  sie  in  diesem  älteren 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  49 1 

Hamburger  Manuskript  vorlag.  Dieses  allein  also  bleibt  für  die  Be- 
urtheiluug  der  Sweelinckschen  Lehre  und  der  von  ihm  fortentwickel- 
ten Kichtung  maßgebend.  Daß  aber  diese  nordische  Richtung  bald 
in  Mitteldeutschland  Eingang  fand,  bezeugt  Spitta  in  seiner  Bach- 
biographie. Zunächst  weist  Spitta  (Bach  I  Seite  192 — 194)  nach, 
daß  Joh.  Seb.  Bach  sich  »neben  einigen  andern  auch  Reincken  zum 
Master  genommen  habe.«  Dort  ist  zu  lesen,  wie  Bach,  als  er 
1700 — 1703  dem  Chore  der  Michaelisschule  zu  Lüneburg  angehörte, 
mittelbar  durch  einen  Schüler  Reinckens,  den  Organisten  der  Jo- 
hanniskirche,  Georg  Böhm,  auf  Reincken  hingewiesen  wurde,  daß 
er  Reinckens  persönliche  Bekanntschaft  wohl  schon  in  den  Ferien- 
besuchen bei  seinem  Vetter  Joh.  Ernst  Bach,  dem  Sohne  des  Arn- 
Städter  Joh.  Christoph  Bach,  zu  Hamburg  gemacht  haben  könne; 
daß  schließlich  die  noch  aufzubringenden  Orgel-  und  Klavierstücke 
Reinckens  wahrscheinlich  in  gerader  Linie  aus  Seb.  Bachs  Musikalien- 
schranke stammen.  Weiter  erfahren  wir  durch  Spitta  (Bachl  S.252], 
daß  Bach  im  Herbst  1705  zu  Buxtehude,  dem  berühmten  Lübecker 
Organisten  reiste,  indessen  Ausbildung  zuverlässig  in  der  Richtung 
der  Sweelinckschen  Schule  geschah.'r  Als  Walther  und  Bach  1708 
in  Weimar  für  längere  Zeit  zusammen  trafen  und  nach  Spitta  (Bach 
I  S.  387)  ein  lebhafter  Verkehr  zwischen  beiden  Männern  stattfand, 
mag  auch  durch  Bach  Walthers  Ansicht  von  dem  Werthe  der 
nordischen  Richtung  verstärkt  worden  sein.  Auch  Christoph  Bern- 
hard, jener  große  Künstler,  der  bei  Paul  Siefert  in  Danzig,  einem 
Schüler  Sweelincks  ausgebildet  war,  und  später  lange  in  Hamburg 
weilte,  befolgt  in  der  Lehre  vom  doppelten  Kontrapunkt  die  aus 
dem  2.  Theile  des  Hamburger  Manuskriptes  stammende  neue  Ein- 
theilung  desselben.  Schließlich  scheinen  Werckmeister  und  Walther 
direkt  mit  dem  Hamburger  Manuskript  bekannt  gewesen  zu  sein. 
Werckmeister  schreibt  in  seiner  Harmonolbgia  von  1702  in  §  186 
also :  Unter  den  besten  Autores,  die  vom  »gedoppelten«  Kontrapunkt 
geschrieben  haben,  habe  er  »im  Teutschen  nur  das  wenige  gesehen, 
was  Herbst  geschrieben ,  dann  ein  Manuskript  so  in  Niederländischer 
Sprache y  und  aus  derselben  ins  Hochteutsche  versetzet,  welches 
doch  aus  dem  Zarlino  mehrentheils  genommen  ist.«  Diese  Be- 
schreibung paßt  ganz  auf  das  ältere  Hamburger  Manuskript.  Sehr 
wahrscheinlich  ist  es,  daß  durch  Werckmeister  Walther  auf  dieses 
Manuskript  hingewiesen  wurde;  daß  dieser  es  genau  gekannt  haben 
muß,  geht  aus  den  sehr  vielen  Beispielen  hervor,  welche  Walther 
aus  dem  zweiten  Theile  des  Manuskripts  entlehnt.  Werfen  wir  noch 
einen  letzten  Blick  auf  dieses  Hamburger  Manuskript,  so  drängt  sich 
unwillkürlich    ein  Vergleich  mit   der  Melopoiia   des  Calvisius    auf. 


492  Kenmum  Oehrmann, 


Beide  sind  aus  den  Institutionen  des  Zarlino  als  Urquelle  geschöpft. 
Doch  tritt  in  dem  Äußeren  beider  Werke,  wenn  man  so  sagen  darf, 
die  verschiedenartige  Natur  ihrer  Verfasser  entgegen:  Sweelinck,  der 
große  Orgelvirtuose,  widmet  offenbar  seine  Hauptthätigkeit  diesem 
Instrumente;  er  begnügt  sich  bei  dem  theoretischen  Unterrichte  da- 
mit, einfach  nach  der  Lehre  des  Zarlino  so  zu  unterrichten,  wie  er 
es  selbst  wohl  von  diesem  erfahren  hatte  ^  und  wie  sie  im  Allge- 
meinen im  3.  Theile  der  Institutionen^  niedergelegt  ist.  Da  die 
Theorie  nicht  sein  Hauptinteresse  beanspruchen  kann,  so  besteht 
auch  seine  Lehre  nicht  in  einer  wissenschaftlichen  Verarbeitung 
Zarlino's,  sondern  in  einer  bloßen  Übersetzung  desselben  mit  zeitge- 
mäßen Erweiterungen.  Anders  verhält  es  sich  mit  Calvisius.  An 
Stelle  der  zeitraubenden,  ermüdenden  Thätigkeit  eines  Virtuosen 
und  Orgellehrers  führt  er  zur  Zeit  der  Abfassung  seiner  Melopöia 
als  Kantor  zu  Schulpforta  ein  für  die  beschauliche  Betrachtung  der 
Dinge  geeigneteres  Dasein.  Daher  ist  ihm,  der  als  Kantor  sein 
Hauptinteresse  mehr  auf  die  Vokalmusik  gerichtet  und  somit  für 
Zarlino's  Institutionen ,  die  vollendetste  vokale  Satzlehre,  von  vorn- 
herein eine  besondere  Neigung  gehegt  haben  mag,  ein  tiefes  Ein- 
dringen in  dieses  Werk  eher  möglich,  als  jenem  großen  Organisten. 
Zum  Theil  aus  solchen  Gründen  mag  es  kommen,  daß  Calviaius' 
Melopöia  von  einem  dem  Zarlino  verwandten  Geiste  verfaßt  zu  sein 
scheint,  was  gerade  durch  die  fremde  äußere  Form  noch  bekräfkigt 
wird,  daß  die  Sweelinckschen  Kompositionsregeln  dagegen  äußerlich 
wohl  eine  getreuere  Wiedergabe  der  Zarlino'schen  Lehre  bieten,  aber 
durch  das  allzufeste  Kleben  am  todten  Buchstaben  Zarlino's  nicht 
nur  eine  selbstschöpferische  Neubearbeitung,  sondern  damit  zugleich 
auch  ein  tieferes  Erfassen  des  Zarlinoschen  Geistes  vermissen 
lassen.  Daher  erklärt  es  sich  denn  wohl,  daß  selbst  gegen  Ende 
des  Jahrhunderts,  wo  ein  lebhafter  Verkehr  mit  der  nordischen 
Richtung  und  die  Bekanntschaft  mit  jenem  Manuskripte  nachzu- 
weisen ist,  unsere  mitteldeutschen  Theoretiker  mit  richtigem  Gefühl 
für  das  Bessere,  im  strengen  Satze,  stets  aus  Calvisius  und  seiner 
Kichtung  schöpfen,  dagegen  aus  der  nordischen  Quelle  nur  das 
wirklich  ^eue  herübernehmen. 

Darf  somit  dieses  Manuskript  hinsichtlich  der  Verarbeitung  des 
Stoffes  nicht  der  Melopöia  des  Calvisius  und  der  Synopsis  von  Crüger 
an  die  Seite  gesetzt  werden,  so  besitzt  dasselbe  inhaltlich  Bedeutung 
genug,  um  ein  näheres  Eingehen  auf  dasselbe,  wie  es  hier  geschah, 
zu  rechtfertigen.  Zum  ersten  Male  wird  in  diesem  Werke  eine  Ver- 
quickung des  Zarlinoschen  und  nordischen  (englischen)  Kontrapunkts 
angestrebt.    Das  geht  besonders  im  1 .  Theile  aus  der  Nebeneinander- 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  493 

Stellung  Zarlinoscher  und  (so  zu  sagen)  nordischer  Beispiele  hervor. 
Während  die  Zarlinoschen  Choralbearbeitungen  und  Fugen  eine 
größere  Plastik  und  hinsichtlich  ihrer  Klarheit  einen  der  griechischen 
Blüthezeit  verwandten  Geist  zeigen,  tritt  auch  in  den  Beispielen, 
die  nicht  nachweislich  von  Sweelinck  oder  Bull  herrühren,  eine 
^öBere  Betonung  der  technischen  Fertigkeit  und  ein  in  geistreiche 
Äußerlichkeiten  zerfließender  Charakter  hervor ,  der  echt  nordisch 
ist.  Wie  wir  aber  sahen,  hat  der  2.  Theil  jenes  Manuskripts  ganz 
besonders  historischen  Werth.  Noch  einmal  betonen  wir,  daß  von 
hier  aus  das  Eindringen  des  Toccatenstils  in  die  Kompositionslehre, 
sowie  der  Unterricht  des  doppelten  Kontrapunkts  in  neuer  Form 
seinen  Ausgangspunkt  nimmt.  Wir  gehen  zum  letzten  Theile  unserer 
Vorbemerkungen  über,  der  uns  durch  einen  kurzen  ÜberbUck  über 
das  ganze  Gebiet  der  von  Walther  als  Quellen  benutzten  musika- 
lischen Litteratur  zu  diesem  selbst  hinüberleiten  wird. 


3. 

Gesamtüberblick  über  die  von  Walther  benutzte 

Litteratur. 

Von  den  wenigen,  unwesentlichen  Citaten  aus  antiken  und  mo- 
dernen, aber  nicht  musikalischen  Werken  sehen  wir  hier  ab.  Die 
musikalischen  Schriften  theilen  wir,  je  nachdem  Walther  von  ihnen 
Gebrauch  machte,  in  Haupt-  und  Nebenquellen.  Es  läßt  sich  be- 
obachten, daß  Walther  für  die  einzelnen  Disciplinen  hauptsächlich 
jedes  Mal  nur  aus  wenigen  Theoretikern  schöpft  und  diese  durch 
eigene  Zusätze  oder  solche  aus  anderen  Schriftstellern,  die  für  ähnliche 
Disciplinen  in  Frage  kommen,  ergänzt.  So  sind  beispielsweise  für 
die  elementaren  Theile  seiner  Lehre  die  Isagoge  des  Snegassius,  Job. 
Georg  Ahles  Schriften  und  Janowkas  Clavis  ad  thesaurum  die  wich- 
tigsten Quellen,  welche  durch  Beiträge  aus  Gumpelzhaimers  Com" 
pendium  musicum  und  Wallisers  Musica  figurcdis  ergänzt  werden. 
Bei  den  Intervallfortschreitungen  beherrscht  namentlich  Baryphonus 
und  Bernhard  das  Feld;  für  die  Lehre  vom  vierstimmigen  Satz  kommt 
vor  allem  Crügers  Synopsis  in  Frage,  während  für  Kanon  und  Fuge 
Bononcinis  Musico  prattico  als  wichtigste  Quelle  erscheint,  und  der 
doppelte  Kontrapunkt  aus  zwei  bedeutenden  Schriften  zusammen- 
gemischt ist:  aus  Christoph  Bernhards  Lehre  vom  doppelten  Kontra- 
pimkt  und  jenem  2.  Theile  des  Hamburger  Manuskripts.  Als  Er- 
gänzung zu  diesen  Schriften  und  als  viel  benutzte  Quellen,  die  sich 
durch  das  ganze  Werk  hinziehen,  werden  herangezogen  die  Schriften 


494  Hermann  Gehrmann, 


eines  Werckmeister,  unter  welchen  wiederum  dem  Hodegua  musicae 
mathematicae  der  hervorragendste  Platz  eingeräumt  wird;  ihm  folgt 
Printz  mit  seinem  Satyrischen  Komponisten  und  der  historischen 
Singkunst,  sodann  Kircher  mit  der  Musurgia^  Prätorius'  Syntagma^ 
Andreas  Herbstens  Musica  practica  und  ferner  die  besprochenen  Werke 
von  Calvisius  und  Lippius. 

Von  ganz  geringer  Bedeutung  für  Walther  sind  jene  Werke,  die 
ihm  zufällig  in  die  Hände  gekommen  sein  mögen,  oder  die  er  nur  citiert, 
entweder  um  seine  große  Vertrautheit  mit  der  sonstigen  einschlägigen 
Litteratur  zu  zeigen  oder  aus  persönlicher  Rücksichtnahme  auf  Kol- 
legen. Unter  solchen  Werken  sind  zu  nennen:  Matthaeus  Aquaviva 
Dtsputationes  de  virtute  mordli.  Für  die  Abfassung  erwähnt  Walther, 
der  allein  in  seinem  Lexikon  darüber  Auskunft  giebt,  kein  Datum. 
Als  Todesjahr  des  Verfassers  giebt  er  1528  an.  In  den  letzten 
26  Kapiteln  der  1.  Disputation  wird  von  musikalischen  Materien  ge- 
handelt. Georg  Beischius :  Margarita  phüosophica^  1503  zu  Freibuig 
zuerst  erschienen,  spricht  im  5.  Buche  de  Musica  speculativa  et 
practica.  Caspar  Schott:  Organum  mathematicum^  beschäftigt  sich 
im  neunten  Buche  mit  der  Musik.  In  den  zwei  ersten  Kapiteln 
lehrt  er,  wie  ein  Unerfahrener  aus  ZifferntabeUen  einen  vierstimmigen 
Kontrapunkt  setzen  lernen  könne,  die  anderen  Kapitel  dieses  Buches 
enthalten  eine  Musurgia,  welche  ganz  auf  Kircher  fußt.  Das  Werk 
wurde  nach  seinem  Tode  vom  Collegium  Societatis  Jesu  zu  Würzburg 
1668  edirt.  Folgende  Werke  waren  uns  nicht  zugänglich:  Abraham 
Bartolus:  Musica  mcUhematica  1614,  Joh.  Christ.  Stierlein:  Trifolium 
musicale  consistens  in  Musica  theorica,  practica  et  poetica  1691  zu 
Stuttgart. 

Weiter  sind  noch  als  unwichtige  Nebenquellen  zu  nennen:  Com- 
pendium  Musices ,  tarn  figurati  quam  plani  cantus  ab  Auetore  Latn- 
padio  Luneburgensi  congestum  1537,*  Heinrich  Grimm:  Melopoesis  1624, 
Carissimi:  Ars  cantandi  (deutsch  übersetzt  von  einem  »Musikfreund«) 
zu  Augsburg  1693,  Georg  Motz:  Vertheidigte  Barchen-Musik  1703, 
Johann  Kuhnau:  Musikalischer  Quacksalber  1700  zu  Dresden,  Jo- 
hannes Beer:  Bellum  musicum  1701;  Werckmeister :  Musikalische 
Temperatur  1691  zu  Frankfurt  und  Leipzig,  Cribrum  musicum  1700 
zu  Quedlinburg  und  Leipzig,  Hypomnemata  musica  1697  zu  Quedlin- 
burg und  Harmonologia  1702  zu  Frankfurt  und  Leipzig,  Principia  Mu- 
sicae von  Joh.  Peter  Sperling  1 705  in  Bautzen  und  Fr.  Ehrhardt  Niedts 
Musikalischer  Handleitung  2.  Theil  1706.  Von  diesen  Werken  hat 
allein  das  zuletzt  genannte  einen  größeren  Werth.     Daß  Walther  das- 

>  Siehe  den  bereits  erwähnten  Aufsatz  von  Eduard  Jacobs  in  der  Vierteljahra- 
schrift  far  Musikwissenschaft  1890,  1.  Heft. 


Johann  Gottfried  Walther  ala  Theoretiker.  495 


selbe  nur  wenig  benutzte,  findet  unter  anderm  darin  seine  Erklärung, 
daB  zur  Zeit  der  Abfassimg  von  Walthers  Schrift  nur  die  beiden  er- 
sten Theile  erschienen  waren,  der  dritte  Theil  aber,  der  vom  Kontra- 
punkt handelt,  viel  später,  erst  1717  herauskam.  Die  Bedeutung 
dieses  Werks,  welches  methodischer  als  Werckmeisters  Harmonologia, 
aus  dem  Generalbaß  eine  Kompositionslehre  entwickelt,  konnte  nur 
dann  gewürdigt  werden,  wenn  das  Werk  vollständig  zur  Einsicht 
vorlag.  Eine  richtige  Würdigung  war  unserm  Walther  1708  daher 
noch  nicht  möglich,  und  die  geringe  Berücksichtigung  des  damals 
noch  unvollständigen  Buches  ist  begreiflich.  Kommen  diese  Neben- 
qnellen  wegen  ihrer  geringfügigen  Benutzung  durch  Walther  für 
uns  hier  nicht  weiter  in  Frage,  so  müssen  wir  bei  den  Hauptquellen 
ein  wenig  länger  verweilen.  Unter  diesen  befindet  sich  ein  Theore- 
tiker, dessen  musikalische  Aufsätze  nur  in  Kopien  zugänglich  sind: 
Christoph  Bernhard,  der  berühmte  Dresdener  Kapellmeister.  Von 
dessen  Aufsätzen  befinden  sich  auf  der  Königl.  Bibliothek  zu  Berlin 
folgende  Kopien: 

1)  Aufiführlicher  Bericht 

von  dem  Gebrauche 

der 

Consonam-  und  Dissonantien 

Nebet  einem  Anhang  von  denen  doppelten  und  Vierfachen 

ContrapunctiSy 

Autore 

Christoph  Bemhardi 

tceyland  gewesenen  ChurfüreÜichen  Sächsischen  Capell  Meister  zu  den 

Zeiten  Churfürsten  Johann  Georgii  des  Vierten  zu  Dresden. 

Bestehet  aus  29  Capitteln. 

2)  '  Tractatus  Compositionis 

augmentatus 

Domini 

Christophori  Bemhardi 

bestehet  in  XIII  Capitteln, 

*^)  Resolutiones  Tonorum  Dissonantium 

in 

Consonantes 

conscriptae 

a 

C.  Bemhardi 

4)  Christoph  Bernhard 

mit  Bleistift  von  modemer  Hand  darunter  geschrieben:  Generalbaß. 


496  Hermann  Gehnnann, 


Die  vierte  Kopie  zerfällt  in  zwei  Theile,  von  denen  der  erste 
lateinisch,  der  zweite  deutsch  von  einer  anderen  Hand  {geschrieben  ist. 
als  die  vorhergehenden  Kopien.  Der  erste  lateinisch  geschriebene 
Theil  macht  den  Eindruck  einer  selbständigen  Arbeit,  die  nicht  von 
Bernhard  stammt.  Mit  Zugrundelegung  des  vierstimmigen  Satzes  wird 
hier  über  die  Komposition  in  allgemeiner  Weise  gehandelt.  Der  ano- 
nyme Verfasser  dieses  Theils  stützt  sich  auf  Christ.  Bernhard  als  größte 
Autorität,  doch  werden  auch  Calvisius,  Crüger,  Herbst,  Kircher,  Printz, 
Bononcini  und  Werckmeister  oft  herangezogen.  Daraus  aber,  daS 
hier  Werckmeisters  Hodegus  citirt  wird ,  geht  hervor,  daß  dieses  Ma- 
nuskript erst  gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts  verfaßt  sein  kann. 
Denn  der  Hodegus  erschien  1687.  In  dem  zweiten  Theile  folgt  der 
ausführliche  Bericht  Bernhard's  von  den  Kon-  und  Dissonanzen, 
welcher  mit  Ausnahme  des  letzten  29.  Kapitels  völlig  mit  der  1.  Ko- 
pie übereinstimmt.  Während  aber  in  der  als  Nr.  1  bezeichneten  Kopie 
das  29.  Kapitel  vom  vierfachen  Kontrapunkt  handelt,  wird  hier  im 
29.  Kapitel  eine  etwas  zusammengezogene  Abschrift  des  Traktats 
von  den  Resolutionen  der  Dissonanzen  in  Konsonanzen  gegeben ;  doch 
ist  diese  Abschrift  nicht  vollständig,  sie  reicht  nur  bis  in  das  5.  Ka- 
pitel jener  aus  7  Kapiteln  bestehenden  3.  Kopie.  Walther  schöpfte 
wesentlich  aus  der  1.,  3.  und  4.  Kopie.  Der  Tractatus  Composittonis 
augmentatus,  welcher  von  Intervallen,  Modi  und  Fugen  handelt,  und 
namentlich  in  seinem  letzten  Theile  einen  durch  viele  Auslassungen 
fragmentarischen  Charakter  trägt,  kommt  für  Walther  nicht  beson- 
ders in  Frage.  Wann  nun  die  drei  Aufsätze  Bernhards  verfaßt  sind, 
läßt  sich  nicht  genau  bestimmen.  Dürfen  wir  dem  Inhalte  nach  die 
Entstehungszeit  der  originalen  Handschriften  nur  vermuthungsweise 
in  das  Ende  des  17.  Jahrhunderts  legen,  so  wissen  wir  von  den  Ko- 
pien bestimmt,  daß  sie  zu  dieser  Zeit  geschrieben  sind.  Aus  der 
Überschrift  des  ersten  Aufsatzes  ergiebt  sich,  daß  derselbe  nach  dem 
Tode  Bernhards,  also  nach  1692,  abgefaßt  ist.  Daß  aber  von  den 
drei  Werken  Bernhards  dieser  ausführliche  Bericht  etc.  die  älteste 
Arbeit  ist,  geht,  abgesehen  von  inneren  Erweiterungen  der  Lehre,  aus 
einem  Vergleich  der  äußeren  Anordnung  der  Intervallfortschreitun^en 
in  den  3  Kopien  hervor.  In  der  ersten  Kopie  ordnet  Bernhard  seiner 
nordischen  Schule  folgend,  ähnlich  wie  Sweelinck,  die  Fortschrei- 
tungen der  Konsonanzen  so  an,  daß  er  zuerst  die  Fortschreitungen 
der  perfekten  Konsonanzen  zu  einander  darstellt,  dann  diejenigen 
der  imperfekten  und  schließlich  solche  von  perfekten  zu  imperfekten 
Konsonanzen.  Die  Dissonanzen  jedoch  stellt  er  in  den  einzelnen 
Figuren  dar,  in  welchen  sie  auftreten  können,  wie  in  der  Superjectio, 
Subsumptio^  Variatio  etc.  (siehe  bei  Walther  selbst).  Im  zweiten  Traktat, 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  497 


deiYOD  der  Komposition  überhaupt  handelt,  nicht  nur  wie  der  1.  Traktat 
Ton  einem  Theile  derselben,  werden  die  Kon-  und  Dissonanzen  zum 
ersten  Male  von  Bernhard  in  eine  Lehre  vom  strengen  Satz  eingefügt. 
Hier  treten  neue  Gesichtspunkte  auf:    Wurden  in  dem  vorher- 
gehenden Traktat  alle  zu  Bernhards  Zeit   üblichen  Fortschreitungen 
der  Intervalle   dargestellt,  so  wird  hier   das,    was  nur  im  alten  Stil 
gebräuchlich  ist,   von  dem    im   neuen  Stil  Üblichen  gesondert.     Es 
werden   also  in  diesem  Traktat  zwei  Stilarten  geschieden:   der  alte 
Stylus  gravis  umfaßt  den  Contrapunctus  aeqtmlis  und  inaequalis.     Zum 
Contrapunctus  aequalis  gehörig  stellt  Bernhard  die  Konsonanzen  dar 
und  zwar  nach  der  Methode  des  Baryphonus.     Hierauf  werden   zum 
CofUrapuncius  inaeqitalis  diejenigen  Figuren  dargestellt,   welche  für 
die  Dissonanzen  im   alten  Stil  maßgebend  sind.     Nachdem   so   der 
Stylus  gravis  abgethan,  folgt  der  Stylus  luxuria7is,  der  seinen  Namen 
von    dem   Beichthum  an    Dissonanzen  hat.      Hier    kommt   nur   ein 
Contrapunctus   inaequalis   oder  ßoridus   in  Frage.      Die    hierher  ge- 
hörigen Figuren  der  Dissonanzen  theilt  er  in  solche,  welche  im  Stylus 
luxwrians  communis  und  solche,  welche  im  Stylus  luxurians  theatralis 
auftreten.    So  sehen  wir  also  hier  durch  eine  Scheidung  der  Intervall- 
fortschreitungen  im  alten  und  jener  im  neuen  Stil  bereits  ein  tieferes 
Eindringen  in  das  Wesen  der  Intervalle,  als  in  dem  ersten  Traktat. 
Aber   die   Darstellung    der  Dissonanzen    in    den    einzelnen    Figuren 
mochte  sich  wohl  bei  dem  Unterrichte  nicht  bewähren;   deshalb  be- 
schreibt Bernhard  in  seinem  dritten  Traktat  die  Dissonanzen  in  einer 
praktischeren  Weise,  indem  er  wiederum  nach  dem  Muster  des  Bary- 
phonus die  Auflösungen  jeder  einzelnen   Dissonanz  zeigt  und  zwar 
diejenigen  der  Secunde  in  cap,  /,    der  Quarte  in  cap,  2,   der  Septime 
in  c<^.  3y  der  None  in  cap.  4,  der  Quarta  f aha  in  cap.  5^  der  kleinen 
Quart  in  cap.  6 ,  der  falschen   Quint  in  cap,  7.    —  Prüfen  wir  die 
Hauptquellen   Walthers    hinsichtlich  ihrer  Totalität  des   Inhalts,    so 
finden  wir  nur  ein  Werk,    welches    in   dieser  Beziehung  dasjenige 
Walthers  übertrifft,   nämlich   Athanasius  Kirchers  Musurgia,   welche 
1650  zu  Rom  erschien.     Daß  dieses  Werk  aber  in  anderer  Beziehung 
8ich  mit  Walthers  Compendium  nicht  messen  kann,  wird  an  geeigneter 
Stelle  gezeigt  werden.     Alle  übrigen  Hauptquellen  können  hinsicht- 
lich der  Totalität  des  Inhalts  neben  Walthers  Werk  nicht  in  Betracht 
kommen.  In  der  Regel  wird  in  den  Schriften  über  Musik  nur  eiA  Gebiet 
der  Musiklehre  behandelt.    Eine  Gruppe  lehrt  hauptsächlich  die  Ele- 
mente der  Musik:  so  die  Musica  von  Nie. Listenius  1540  zu  Nürnberg^ 

>  Dieselbe  erschien  bereits  \  533  unter  dem  Titel :  Rudimenta  musicae  zu  Wit- 
tenberg, wurde  später  aber  sehr  erweitert  und  erschien  so  unter  dem  Titel  Musica 
▼on  1540  an  in  vielen  Auflagen. 


498  Hermann  Gehrmann, 


so  die  Isagoges  musicae  Libri  duo  Autor e  M.  Cyriaco  Snegassio  ßfDXCl 
zu  Erfurt  mit  einem  Anhang,  in  welchem  zuerst  ein  Uiilis  Tractattdus  de 
quibusdam  circa  compositas  cantilenas  scitu  necessariis  mitgetheilt  wird, 
sodann  eine  Nova  Monochordi  dimensio ;  femer  ist  zu  nennen  das 
Compendium  Musicae  latino-germanicufn  von  1595  von  Adam  Gumpelz- 
haimer  zu  Augsburg  und  Musicae  ßguralis  praecepta  von  Thom. 
Walliser  zu  Straßburg  1611.  Alle  diese  Werke  sind  ünterrichts- 
bücher  für  Gesangsschüler.  In  ihnen  werden  die  musikalischen  Ele- 
mente und  Begriffe,  soweit  sie  ein  Sänger  wissen  muß,  auseinander- 
gesetzt: also  die  Schlüssel,  Noten,  Pausen,  Taktzeichen,  Ligaturen 
und  dergleichen ,  ferner  die  Guidonischen  Silben  und  die  dazu  ge- 
hörige Mutation.  Mit  Übungsbeispielen  für  Pausen  und  Synkopen  etc. 
schließt  dann  meistens  ein  erster  Abschnitt  (wir  schildern  besonders 
nach  Snegassius'  Isagoge).  Im  weiteren  Verlaufe  wird  dann  gewöhn- 
lich in  monadischer  Weise  von  Intervallen  und  Modi  gehandelt;  von 
mehrstimmiger  Musik  wird  fast  ganz  in  diesen  Gesangunterrichts- 
büchern abgesehen,  und  die  mehrstimmig  gegebenen  Beispiele  sollen 
lediglich  ein  praktisches  Übungsmaterial  für  den  Sänger  sein.  Wird 
aber  auch  im  Text  von  mehrstimmiger  Musik  gesprochen,  so  wird 
der  Schüler  nur  in  knappster  Form  mit  den  wesentlichsten  Begriffen 
des  mehrstimmigen  Gesangs  vertraut  gemacht.  Unter  den  genannten 
Theoretikern  ragt  Snegassius  in  textlicher  Beziehung  besonders 
hervor,  Gumpelzhaimer  aber  durch  eine  große  Fülle  aller  denk- 
baren Beispiele,  von  denen  die  meisten  von  ihm  oder  Orlando  Lasso 
stammen.  Auch  in  Wallisers  Musica  ßguralis  wird  das  Hauptgewicht 
auf  die  100  Fugenbeispiele  gelegt,  welche  mit  solchen  zu  zwei  Stim- 
men beginnen  und  mit  sechs-  oder  mehrstimmigen  aufhören.  Diese 
Gruppe  von  theoretischen  Schriften  weist  insofern,  als  das  hier  zu 
Grunde  liegende  Tonsystem  dem  Genere  diatono^iatonico  angehört, 
noch  auf  eine  vor  Zarlino  liegenden  Periode  zurück. 

Diejenigen  Theoretiker  nun,  welche  einen  Kompositionsunterricht 
im  Auge  haben,  geben  wohl  eine  Lehre  vom  strengen  Satz  auf  Grund 
der  Zarlino'schen  Anschauungen,  lassen  aber  eine  Elementarlehre 
vermissen.  Hierher  gehören  die  Melopoiia  des  Calvisius  von  1592 
und  das  ältere  Hamburger  Manuskript,  dessen  erster  Theil  die  Swee- 
linckschen  Kompositionsregeln  enthält.  Einige  berücksichtigen  hierbei 
in  ziemlich  gleicher  Weise  eine  mathematisch-philosophische  Dar- 
stellung neben  einer  praktischen,  so  Lippius,  bei  dem  allerdings  die 
spekulative  Betrachtung  überwiegt,  und  Bar3rphonus,  der  in  seinen 
Plejaden  neben  einer  praktischen  Darstellung  der  Kon-  und  Disso- 
nanzen auch  die  mathematischen  Proportionen  der  Intervalle  in  streng 
wissenschaftlicher  Weise  entwickelt. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  499 


Ein  bedeutendes  eigenartiges  Werk  tritt  uns  in  dem  Syntagma 
musicum  von  Michael  Praetorius  entgegen.  Von  diesem  Werke  er- 
schien der  1.  Tomus  in  lateinischer  Sprache  1614  zu  Wittenberg, 
der  2.  und  3.  Tomus  hauptsächlich  in  deutscher  Sprache  1618  zu 
Wolfenbüttel.  In  den  beiden  letzteren  Theilen  wird  zum  ersten 
Male  der  Instrumentalmusik  eine  große  Aufmerksamkeit  gewidmet; 
neue  Temperaturen  der  Tasteninstrumente  und  dadurch  bedingte 
größere  Transpositionsfähigkeit  der  Modi  werden  hier  gezeigt;  zum 
ersten  Male  werden  die  Generalbaßregeln  eines  Agostino  Agazzario, 
Bernardo  Strozzi  und  des  Praetorius  selbst  mitgetheilt  und  über  das 
Verhältniß  der  Vokal-  und  Instrumentalmusik  zu  einander  wichtige 
Aufschlüsse  gegeben.  Doch  bleiben  alle  diese  theoretischen  Aus- 
eiuandersetzungen  insofern  elementarer  Natur,  als  eine  Darstellung 
der  instrumentalen  Einflüsse  in  die  strenge  Satzlehre  noch  nicht  er- 
folgt war.  Sicher  würde  diese  wohl  in  dem  letzten,  4.  Tomus,  der 
eine  Melopoiia  mtisica  enthalten  sollte,  erschienen  sein,  wäre  der 
Verfasser  nicht  darüber  hingestorben.  Einigen  Ersatz  bietet  in  dieser 
Beziehung,  wie  wir  sahen,  der  2.  Theil  des  Hamburger  Manuskriptes. 
Trotzdem  das  Syntagma  unvollendet  geblieben  ist  und  auch  fast  keine 
einheitliche  Darstellung  bietet,  hat  es  doch  insofern  eine  große  Be- 
deutung, als  von  ihm  aus  eine  lebhaftere  instrumentale  Bewegung 
in  der  Musiktheorie  Platz  greift,  und  dasselbe  noch  bis  auf  den  heu- 
tigen Tag  für  die  Geschichte  der  Instrumentalmusik  eine  der  wich- 
tigsten Quellen  ist.  Auf  Praetorius  fußt  bereits  Crüger,  dessen  Synopsis 
musica  zuerst  1624  erschien.  Auf  dem  harmonischen  Princip  beruht  auch 
iie  Mi^ca  poetica  A^H  36)i,  Andreas  Herbst,  welche  1643  in  deutscher 
Sprache  in  Nürnberg  herauskam.  In  diesem  zum  größten  Theil  aus 
Crügers  Synopsis  geschöpften  Kompositionsunterricht  fehlen  eine  Ele- 
mentarlehre und  eine  Darstellung  des  doppelten  Kontrapunkts.  Wir 
kommen  zu  Kircher's  Mttsurgia  vom  Jahre  1650 ,  einem  Werke,  welches 
hinsichtlich  der  Totalität  des  Inhalts  über  die  Walthersche  Lehre  ge- 
stellt werden  muß,  aber  durch  die  mangelhafte  wissenschaftliche  Ver- 
arbeitung eine  nur  geringe  Bedeutung  beanspruchen  darf  und  somit 
an  wirklichem  Werth  weit  unter  dem  Waltherschen  Compendium  steht. 
Hier  ist  in  größter  Fülle  ein  Material  aufgestapelt,  wie  es  in  ähn- 
lichem Umfange  weder  vor-,  noch  nachher  wieder  geschah:  Neben 
der  Darstellung  der  neuen  Lehre  fand  die  ganze  antik-heidnische  und 
mittelalterlich -mystische  Betrachtung  der  musikalischen  Disciplinen 
ihren  letzten  umfassenden  Ausdruck.  Gerade  durch  diese  seltene 
Fülle  des  Stoffs  mochte  das  auch  äußerlich  voluminöse  Werk  den 
Zeitgenossen  Kirchers  imponiren,  und  die  zum  Theil  unverdiente 
Verehrung,    welche    es   im    17.    und    18.    Jahrhundert  genoß ,  mag 


500  Hermann  Oehrmann, 


daraus  erklärt  werden.  Denn  Kireher  war  nicht  der  Mann,  die- 
sen großen  Vorrath  an  Material  sichten  und  verarheiten  zu  können; 
^emssermaßen  wuchs  ihm  die  Fülle  des  Stoffs  über  den  Kopf;  dazu 
kommt  weiter,  daß  er  ohne  philologisches  Ehrgefühl  arbeitete  und 
infolgedessen  wenig  skrupulös  in  dem  einen  Buche  etwas  behauptet, 
wovon  er  in  einem  andern  Buche  das  Gegentheil  sagt:  so  nennt 
er,    um    nur    ein    Beispiel    zu    geben,    von    Hb.  3   cap,  5    an   stets 

1  R 

die  Form  des  grossen  Halbtons  —  als  die  des  Semitonium  minus  und 

erst  in  lib  5.  cap.  6^3  entschließt  er  sich  nach  reiflicher  Überlegung, 
jenen  Halbton  nicht  mehr  minus,  sondern  richtiger  maius  zu  nennen. 
Solche  Widersprüche,  die  aus  einer  verworrenen  Darstellung  von 
antiker  und  neuerer  Anschauung  sich  ergeben,  beweisen  die  Ober- 
flächlichkeit und  mangelhafte  Beherrschung  des  Gegenstandes.  Die 
Besseren  unter  den  nachfolgenden  Theoretikern  erkannten  bald,  daß 
Kircher  nur  mit  Vorsicht  zu  gebrauchen  sei,  und  so  wurde  denn, 
namentlich  was  den  strengen  Satz  anbelangt,  nur  Allgemeineres  aus 
der  Musurgia  geschöpft,  besonders  aber  aus  den  Werken  der  früheren 
Theoretiker,  namentlich  des  Baryphonus  und  Calvisius.  Auch  die 
nach  der  Entstehung  von  Kirchers  Musurgia  fallenden  Hauptquellen 
Walthers  sind  von  solchen  einsichtsvolleren  Männern  verfaßt.  Aber 
wiederum  bieten  sie  Alle  keine  erschöpfende  Darstellung  der  Musik- 
theorie. So  sehen  wir  Christoph  Bernhards  Augenmerk  auf  die  Dar- 
stellung der  Kon-  und  Dissonanzen  gerichtet:  diese  nimmt  auch  in 
seinem  Tractaius  Compositionis  den  bei  weitem  größten  Theil  ein; 
eine  Elementarlehre  fehlt  in  den  drei  Bemhardschen  Abhandlungen. 
Printzens  Satyrischer  Komponist,  dessen  1.  Theil  1676,  2.  Theil  1677, 
3.  Theil  1679  erschien,  und  von  dem  wir  eine  vollständige  Ausgabe 
von  1696,  zu  Dresden  und  Leipzig  erschienen,  sahen,  verträgt  eben- 
sowenig eine  strenge  Kritik,  wie  Kirchers  Musurgia.  Besonders  ge- 
reicht diese  witzelnde,  geistreich  sein  sollende  Dialogform  dem  Werke 
zum  Nachtheil,  denn  allzuhäufig  wird  dadurch  die  Aufmerksamkeit 
auf  Nebensächliches  hingeleitet  und  Wichtiges,  wie  eine  Lehre  vom 
doppelten  Kontrapunkt  und  Beschreibung  der  Elemente  vergessen. 
Nur  im  1.  Theil  von  cap.  5  an  ist  die  kleine  Synopsis  wegen  ihrer 
klaren  Fassung  von  wirklichem  Werth,  doch  wird  hier,  wie  über- 
haupt in  dem  ganzen  Werke,  nicht  wesentlich  Neues  geboten.  Wissen- 
schaftlicher gehalten,  als  der  satyrische  Komponist,  ist  desselben 
Verfassers  »Historische  l^eschreibung  der  edlen  Sing-  und  Klingkunst« 
1690  zu  Dresden. 

Werckmeisters  Stärke  liegt  in  den  mathematisch  physikalischen 
Gebieten  der  Musik.    Durch  ihn  vrird  zum  ersten  Male  eine  Art  von 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  5()j[ 

gleichschwebender  Temperatur,  eine  Tonausgleichung,  wissenschaft- 
lich begründet.  Spin  bedeutendstes  Werk  ist  der  Hodegus  musicae 
mathematicae^  welcher  1686  zu  Leipzig  erschien.  Hier  wird  in  selb- 
ständiger Weise  von  den  mathematischen  Begriffen  und  Vorgängen 
in  der  Musik  gehandelt,  femer  von  Temperatur,  ja  auch  von  den 
Intervallen,  Modi,  Takt  und  Fugen,  soweit  hier  mathematische  Fragen 
berührt  werden  können.  Mit  einem  Anhang  über  allegorische  und 
moralische  Musik,  wobei  wiederum  die  Beziehungen  zwischen  den 
einzelnen  Zahlen  eine  Hauptrolle  spielen,  schließt  das  Werk.  Später 
stellte  er  einzelne  Gegenstände  ausführlicher  in  besonderen  Schriften 
dar:  so  erschien  1697  die  Musikalische  Temperatur  zu  Frankfurt  und 
Leipzig  und  1702  seine  Harmonologia  musica  ebenfalls  zu  Frankfurt 
und  Leipzig.  Ist  das  erstere  ein  rein  mathematisches  Werk,  so 
enthält  das  letztere  eine  auf  Generalbaß  beruhende  Kompositions- 
lehre. In  dieser  fehlt  wiederum  eine  Daistellung  der  musikalischen 
Elemente.  Wie  auch  in  der  Harmonologia  die  mathematische  Be- 
trachtungsweise Werckmeisters  immer  von  neuem  sich  geltend  macht, 
so  tritt  sie  auch  in  den  für  Walther  weniger  wichtigen  Schriften  auf  : 
in  den  Hypomnemata  musica  von  1697  und  im  Cribrum  musicum 
von  1700. 

Bei  Janowskas  Clavis  ad  thesaurum  magnum  Musicae,  dem  1701 
zu  Prag  erschienen  guten  alphabetischen  Yerzeichniß  musikalischer 
Begriffe,  vermissen  wir  eine  genauere  Darstellung  der  Kompositions- 
regeln. Weiter  müssen  hier  einige  Schriften  von  Johann  Georg  Ahle 
genannt  werden,  zunächst  sein  Musikalisches  Frühlings  (1695)-,  Sommer 
1697)-,  Herbst  (1690)-  und  Wintergespräch  1701.  Alle  diese  in 
Dialogform  gehaltenen  Gespräche,  welche  in  den  angegebenen  Jahren 
zu  Mühlhausen  erschienen,  handeln  von  Dingen,  welche  bei  der 
Komposition  beobachtet  werden  müssen,  so  das  Frühlings-,  Herbst- 
und Wintergespräch  wesentlich  von  den  Kon-  und  Dissonanzen,  das 
Sommergespräch  hauptsächlich  von  Kadenzen  und  den  in  der  Musik 
gebräuchlichen  rhetorischen  Figuren  und  Accenten  und  das  Winter- 
gespräch außer  den  Intervallen  auch  noch  von  den  Modi.  Noch 
wichtiger  als  diese  Dialoge  sind  seine  1704  zu  Mühlhausen  heraus- 
gekommenen Anmerkungen  zur  Singekunst  des  Vaters  Job.  Rudolf 
Ahle,  in  welchen  oft  in  historischer  Form  sehr  werthvoUe  Aufschlüsse 
über  die  gegen  früher  fortgeschrittene  Entwickelung  der  Elemente 
gegeben  sind.  Wiewohl  Ahle  hauptsächlich  aus  den  Printz'schen 
Schriften  (Satyrischer  Komponist  und  Historische  Singkunst)  schöpft, 
so  finden  doch  die  von  ihm  behandelten  Gegenstände  durch  eine 
selbständig  prüfende  Verarbeitung,  die  in  der  Quellenforschung  bis 
zu  den  Schriften  eines  Lippius  und  Baryphonus  hinabsteigt,  eine  ver- 


502  Hennann  Gehnnaim, 


tieftere,   mit  vielen  neuen  Erningenschatten   glücklicher   verquickte 
Darstellung,  als  bei  Printz. 

Von  diesen  Hauptquellen  benutzte  Walther  diejenigen  Schriften 
am  häufigsten,  welche  ihm  zeitlich  am  nächsten  standen,  oder  am 
leichtesten  zugänglich  waren.  So  wurden  Ahle,  Werckmeister,  Bern- 
hard, Printz  und  Snegassius  am  meisten  herangezogen.  Von  diesen 
wurde  er  zu  Kircher,  Herbst,  Crüger,  Baryphonus ,  Lippius  und  Cal- 
visius  geleitet,  und  durch  Crüger  und  Lippius  mußte  er  auf  Gumpelz- 
haimer  und  Walliser  hingeführt  werden.  Die  Schriften  dieser  Männer 
mögen  wohl  meistens  in  seinem  Besitz  gewesen  sein.  Bedenkt  man, 
daB  Walther  1703  zur  Herbstmesse  nach  Frankfurt  reiste,  1704  nach 
Magdeburg  und  Halberstadt  kam,  wo  ihm  Werckmeister  die  Plejodei 
musicae  des  Baryphonus  verehrte,  1706  Pachelbel  in  Nürnberg  be- 
suchte, bedenkt  man  ferner,  daB  er  bis  1707  in  Erfurt  lebte  und  von 
hier  oder  von  1708  an  von  Weimar  aus  die  nahe  Leipziger  Messe 
sicher  oft  besuchte,  so  darf  man  annehmen ,  daß  er  bei  diesen  Ge- 
legenheiten leicht  in  den  Besitz  der  Bücher  kam,  die  ja  zum  größten 
Theil  in  den  angegebenen  Städten  erschienen  waren.  Rechnet  man 
den  Böhmen  Janowka  mit  zu  den  deutschen  Theoretikern,  so  sind 
die  Hauptquellen  Walthers  nur  mit  einer  Ausnahme  sämtlich  von 
Deutschen  verfaßt.  Diese  Ausnahme  ist  Bononcinis  Musico  Prafttcoy 
der  in  zwei  Theilen  1673  zu  Bologna  erschien.  Paul  Treu  in  Stutt- 
gartließ von  dem  2.  Theil  eine  deutsche  Übersetzung  1701  erscheinen. 
Dieser  Übersetzung  scheint  das  Werk  Bononcinis  seine  große  Verbrei- 
tung zu  verdanken.  In  jener  als  Nr.  4  bezeichneten  Bernhard'schen 
Schrift  wird  dasselbe  zum  ersten  Male  angeführt ;  und  dieser  Hinweis 
mag  dem  Walther  gerade  recht  gewesen  sein.  Denn  ihm  mochte 
daran  gelegen  sein,  die  in  der  Lehre,  z.  B.  in  Werckmeisters  Harmo- 
nologia,  durch  das  Überwiegen  des  harmonischen  Princips  vernach- 
lässigte Polyphonie  wieder  zu  Ehren  zu  bringen.  Daher  stellt  er  die 
poly honen  Satzformen  nach  Bononcinis  Lehre  dar.  Der  Unterschied 
zwischen  der  Lehrmethode  deutscher  und  italienischer  Theoretiker  tritt 
uns  hier  charakteristisch  entgegen.  Die  Deutschen,  z.  B.  Werck- 
meister, besonders  aber  Niedt  beginnen  mit  einer  homophonen,  vier- 
stimmigen Satzlehre  und  schreiten  von  dieser  fort  zum  polyphonen 
Satze;  Fugen  und  doppelter  Kontrapunkt  werden  daher  als  die 
schwersten  Formen  am  Schlüsse  behandelt,  Bononcini  aber,  ein  wür- 
diger Epigone  der  Zarlinoschen  Sichtung,  beginnt  mit  dem  strengen 
Satze  und  erst  nach  der  Abhandlung  von  Fuge  und  doppeltem  Kontra- 
punkt folgen  freiere  Formen  des  mehr  als  zweistimmigen  Satzes. 

Nachdem  in  den  15  Kapiteln   des   1.  Theils  allgemeinere  Vor- 
bemerkungen gegeben  sind,  die  sich  auf  das  Wesen  der  Musik,  auf 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  5Q3 

die  Proportionen,  Entstehung  der  Kon-  und  Dissonanzen  und  Er- 
klärung elementarer  Begriffe  beziehen,  folgt  im  2.  Theile  in  21  Ka- 
piteln eine  eingehende  Lehre  vom  Kontrapunkt,  welche  sich  der 
Zarlinoschen  Darstellung  anschließt.  Ähnlich  wie  Zarlino  bietet 
Bononcini  eine  Satzlehre,  welche  es  hauptsächlich  mit  der  geistlichen 
Musik  zu  thun  hat,  die  im  Konzert-  oder  A  capella  Stil  komponirt 
wird.  Von  der  weltlichen  Musik  wird  weiter  nichts  gesagt,  als  daß 
zu  ihr  Arien^  Kanzonetten,  Lieder  und  die  Stili  recitativi  und  madri- 
galt  gehören ;  von  der  instrumentalen  Musik  schweigt  Bononcini  ganz. 
Will  man  einen  Einblick  in  das  musiktheoretische  Treiben  des 
17.  Jahrhunderts  haben,  so  muß  man  alle  die  genannten  Schriften 
auf  einmal  zusammen  betrachten.  Das  that  eben  Walther  in  seiner 
Kompositionslehre,  auf  die  wir  nun  näher  eingehen  wollen. 


n. 

Beschreibung  Ton  Walthers  Kompositionslehre. 

1. 

Die  äußere  Form  des  Werks  und  allgemeine 

Vorbemerkungen. 

Die  fast  unversehrt  erhalten  gebliebene  Kompositionslehre  J.  G.  Wal- 
thers ist  in  ihrer  äußeren  Form  ein  starkes,  in  gelbbraune  dicke  Pappe 
eingebundenes  Buch  von  großem  Quartformat.  Von  den  183  Quart- 
seiten des  Werkes  haften  167  Blätter  noch  fest  im  Einbände,  die 
übrigen  Blätter  haben  sich  allmählich  losgelöst  und  sind  nicht  voll- 
zählig vorhanden.  Doch  entsteht  dadurch  keine  Lücke  in  dem  Werke, 
denn  die  einzige  fehlende  Quartseite  169  wird  durch  eine  andere 
Handschrift  in  kleinem  Quartformat  ersetzt.  Überhaupt  liegen  zwi- 
schen den  losen  Blättern  des  Originals  mehrere  Blätter  dieses  anderen 
Manuskripts,  welche  außer  jener  eben  genannten  Ergänzung  nur 
Abschriften  aus  dem  Original  enthalten.  Das  sauber  und  mit  großer 
Soigfalt  niedergeschriebene  Original  rührt  von  Walthers  eigner  Hand 
her.  Der  deutsche  Text  ist  häufig  mit  lateinischen  Citaten  aus  den 
bereits  genannten  Werken  durchsetzt;  auch  sonst  werden  einzelne 
technische  Ausdrücke  mit  ihrem  lateinischen,  oft  auch  griechischen 
Namen  erwähnt.  Seltener  kommen  italienische  oder  gar  französische 
Bezeichnungen  vor.  Eigentliche  Schreibfehler  finden  sich  vereinzelt 
1891.  34 


504 


Hermann  Qehrmann, 


in  den  Notenbeispielen.     Der  Lehrstoff  wird  in  einzelnen  Kapiteln, 
deren  jedes  in  mehrere  Paragraphen  zerfällt  dargestellt.^ 

Die  Handschrift  Walthers  beginnt  auf  Fol.  1  mit  einer  Dedikation 
des  Buches  an  den  Prinzen  Johann  Ernst  von  Weimar  zu  dessen 
Namenstage,  dem  13.  März  1708.^  Nach  dem  leeren  Fol.  3  beginnt 
Fol.  4  die  Kompositionslehre  selbst.  Dieselbe  zerfallt  in  2  TheQe. 
Der  erste  Theil  handelt  von  den  Elementen  in  der  Musik,  der  zweite 
enthält  eine  Melopöia.  Beide  Theile  haben  je  eine  allgemeinere  und 
eine  speziellere  Abhandlung. 

Die  erste  allgemeinere  Abhandlung  des  ersten  Theils  reicht  von 
Folio  4 — 51.     Das  Inhalts verzeichniß  der  Kapitel  ist  folgendes: 

«Erster  Abhandelung 
Cap.  1:     Was  die  Music   sey,    und  wie    dieselbe    abgetheilet 

werde. 
Cap.  2 :     Vom  Gesänge  und  deßen  Abtheilung. 
Cap.  3:     Von  denen  Noten,  und  ihrer  Geltung, 
Cap.  4:     Von  denen  Pauseji  und  deren  Geltung, 
Cap.  5:     Vom  Tacte^ 
Cap.  6:     Von  denen  Puncten^ 
Cap.  7:     Von  denen  Ligaturen, 
Cap.  8:     Von  denen  übrigen  Char acter ibus. 

Es  folgt  von  Fol.  31  an  ein  großes  alphabetisches  Verzeichniß 
musikalischer  Kunstausdriicke.  Von  Fol.  51t? — 65r  reicht  die  zweite 
Abhandlxmg  des  ersten  Theils,  in  welcher  dem  Schüler  ausscUieß- 
lieh  die  Claves  erklärt  werden.     So  handelt 

Cap.  t :     »Von  denen  Clavibtts^i, 

Cap.  2 :     «Von  unterschiedlicher  Stellung  der  Music-SchlüBelf, 
Cap.  3 :     »Von  Ursprünge  und  Zunehmung  derer  Clamium, 
Cap.  4 :     »Von  denen   Diatonischen ,    Chromati&aixffn.   und  Efh 

harmonieren  Clavibusvj 
Cap.  5 :     »Vom  rechten  Gebrauch  und  Eigenschaft  des  i|  und  7*. 


1  Nach  den  Monatsheften  für  Musikgeschichte  von  Eitner  4.  Jahrg.  1872  S.  165 
kam  dies  Autograph  aus  der  Bibliothek  eines  Grafen  von  Voss  in  die  Hände  des 
Antiquars  Emanuel  Mai  in  Berlin.  Von  diesem  erhielt  es  die  Antiquariatshand- 
lung von  List  und  Francke  in  Leipzig,  und  dort  kaufte  es  Spitta  an. 

2  Prinz  Joh.  Ernst  von  Weimar,  der  hauptsächlich  das  Violinspiel  pflegte, 
»traktirte  anbey  das  ELlavier  und  ohngefähr  vor  seinem  Tode,  welcher  o».  1715  den 
Isten  Augusti  zu  Franckfurt  am  Mayn  erfolget,  auch  drey  viertel  Jahr  lang  die 
Komposition  . . .  unter  meiner  geringen  und  unterthänigsten  AnfOhrung^ . . .  (Wal- 
ther,  Lexikon  pag.  331). 


Johaiin  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  505 

Nach  einem  leeren  Blatte  trägt  Folio  66  die  Aufschrift  »An- 
derer Theil«,  Folio  67  — 113  umfaßt  »Mtcsicae  Poeitcae  Pars  genera- 
lis^. Nach  einer  Einleitung,  in  welcher  dem  Schüler  das  Nöthigste 
über  die  Stellung  der  Musik  als  einer  mathematisch-philosophischen 
Wissenschaft  gesagt  ist,  beginnt  die  eigentliche  Melopoiia  auf  Folio  79. 
Zunächst  lernt  hier  der  Schüler  die  Intervalle,  die  Kon-  und  Disso- 
nanzen, sowie  die  einfachsten  Akkordverbindungen  kennen. 

Cap.  1  handelt:     »Von  denen  mtmcaliscYieii  Intervallis^j 


Cap.  2 
Cap.  3 
Cap.  4 
Cap.  5 
Cap.  6 
Cap.  7 
Cap.  8 
Cap.  9 


»Von  denen  beyden  Semitoniis^, 
»Von  denen  beyden  ganzen  Thonen«, 
»Von  der  Tertiaa, 
»Von  der  Quartody 
»Von  der  Quiniaa^ 
»Von  der  Sextaa^, 
»Von  der  Septimaa, 
»Von  der  Octavm. 


Alle  Intervalle  werden  darauf  übersichtUch  in  einer  Tabelle  dar- 
gestellt. Es  folgt  eine  Beschreibung  kleinerer  Intervalle,  wie  Komma, 
Apotome,  Diesis,  Limma,  Schisma  und  Diaschisma;  Kap.  10  handelt 
»Von  denen  gebriluchlichen  und  ungebräuchlichen  Intervallena  und 
bildet  den  Übergang  von  der  Monas  zur  Dyas  mtcsica. 

Cap.  11  handelt:     »Von  denen  Consonantiena^ 


Cap.  12 
Cap.  13 
Cap.  14 


»Von  denen  Dis8onantien<x, 

»Von  der  Triade  harmonicatUf 

»Von  denen  Stimmen,  und  sonderlich  denen  Prm- 

ct/>a^Stimmen  ct. 

Hier  werden  die  einfachsten  vierstimmigen  Akkordverbindungen 
gelehrt  und  zwar  zunächst  die  Verbindung  von  einfachen  Drei- 
klängen, dann  solche  von  Sextakkorden ;  es  folgen  besondere  Regeln, 
wie  man  Quarte,  Tritonus,  Quinte,  Sexte  und  Septime  im  harmoni- 
schen Satze  zu  behandeln  hat. 

In  Mtmcae  Poeticae  Pars  specialis j  die  Folio  114  beginnt,  wird 
der  Schüler  zur  Lehre  vom  strengen  Satz  geführt. 

Cap.  1  handelt:     »Vom  Gebrauch  und  Folge  der  Cansonantien 

in  gener ea, 
Cap.  2:     »Vom  Gebrauch  und  Folge  der  perfecten  Cansonantien 

in  specie«^ 
Cap.  3:     »Vom  Gebrauch   und  Folge  der  imper/ecien  Concor^ 

dantien  in  specienj 
Cap.  4:     »Vom  Gebrauch  der  Dissonaniienvy 

34* 


506  Hermann  Oehrmann, 


Cap.  5:     »Von  der  JRelatione  Non^Harmonicaa, 

Cap.  6:     »Von  dem  Texte«, 

Cap.  7:     »Von  denen  Modis  mustcis  in  gener  et, 

Cap.  8 :     ohne  Überschrift,  handelt  von  den  »Modis  mtuicis  in 
8pecie<if 

Cap.  9:     ebenfalls  ohne  Überschrift  läßt  sich  auf  die  Trans- 
Position,  Rßduction  und  Hepercussion  ein, 

Cap.  10     handelt  ^De  Fugis«, 

Cap.  11  :  »Von  der  Imitation  oder  f\iga  impropria^^ 

Cap.  12:  »Von  der  Fuga  totalis. 
Ohne  Kapitelbezeichnung  folgt  zum  Schluß  die  Lehre  »Von  de- 
nen doppelten  Contrapuncten «.  Bei  dieser  Anordnung  folgt  Walther 
vor  allem  der  in  der  Crügerschen  Synopsis  gegebenen  Eintheilung. 
Wie  dieser  stellt  auch  er  neben  einer  Melopöia  eine  Elementarlehre 
dar.  Aber  trotzdem  zeigt  sich  eine  äußere  Verschiedenheit  der  An- 
ordnung. Bei  Crüger  erkennen  wir  die  Lippsche  Eintheilung  des 
gesamten  Stoffes  nach  Materie  und  Form.  Die  Materie  hat  es  mit 
den  Elementen  zu  thun,  die  nach  ihrer  Zugehörigkeit  zu  einer  Mo- 
naSy  Dyas  oder  Tritzs  musica  beschrieben  werden,  unter  Form  ver- 
stehen Lippius  und  Crüger  die  Komposition  selbst.  Während  nun 
zu  Crügers  Zeit  der  Lehrstoff  insofern  noch  ein  kleines  Gebiet  um- 
faßte, als  hauptsächlich  nur  der  vokale  Stil  in  Frage  kam,  so  war 
zu  Walthers  Zeit  durch  die  Berücksichtigung  alten  und  neuen  Ge- 
brauches namentlich  in  Bezug  auf  die  Elementarlehre  dieser  Stoff 
mächtig  erweitert  worden.  Um  denselben  übersichtlich  darzustellen 
theilt  Walther  sowohl  die  Elementar-,  wie  Kompositionslehre  in  eine 
allgemeinere  und  speziellere  Abhandlung.  Zu  dieser  Sonderung 
mochte  er  durch  Calvisius  angeregt  sein,  der  in  der  Anordnung  seiner 
Melopöia  diesem  Principe  folgt. 

Der  ganze  erste  Theil  bei  Walther  entspricht  in  seinem  Inhalte 
einem  großen  Theil  dessen,  was  bei  Crüger  in  der  Monas  musica  dar- 
gestellt wird ;  die  ganz  einfachen  Elemente  und  Begriffe  werden  hier 
gegeben.  Der  ^.  Theil,  die  eigentliche  Melopöia,  folgt  ziemlich  ge- 
treu der  Crügerschen  Anordnung.  In  der  allgemeinen  Abhandlung 
wird  das  noch  übrige  Gebiet  der  Crügerschen  Monas  musica^  werden 
die  Intervalle  beschrieben;  es  folgt  wie  bei  Crüger  die  Dyas  und 
Trias  mtcsica.  Während  Crüger  aber  die  Lehre  von  der  Form  mit 
dem  vierstimmigen  Satze  beginnt,  zieht  Walther  diesen  in  die  all- 
gemeinere Abhandlung  noch  mit  hinein.  Im  übrigen  deckt  sich  die 
speziellere  Abhandlung  noch  mit  dem,  was  Crüger  als  zur  Form  ge- 
hörig dargestellt.  Wie  bei  diesem  folgen  auf  die  Fortschreitungen 
der  Kon-  und  Dissonanzen  die  Schlüsse,  die  zusammen  mit  den  Modi 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  5Q7 


dargestellt  werden,  sodann  die  strengen  Formen  der  Fuge  und  des 
doppelten  Kontrapunkts,  von  denen  ja  bei  Criiger  nur  wenig  zu  fin- 
den war.  Fast  das  ganze  Werk  ist  aus  den  früher  erwähnten  Schrif- 
ten zusammengestellt.  Größere  Abschnitte,  für  die  eine  Vorlage 
nicht  aufzufinden  war,  sind:  I.  2.  Abhandl.  Kap.  5  §  10 — 20,  wo  über 
die  Eigenschaften  des  ja  und  7  gesprochen  wird,  femer  II.  1.  Abbandl. 
Kap.  14,  die  größere  letzte  Halte,  in  welcher  die  einfache  harmoni- 
sche Behandlung  des  Tritonus,  der  Quinte  (besonders  Quinta  f aha) ^ 
Sexte  und  Septime  gezeigt  wird,  sodann  II.  2.  Abhandl.  Kap.  7  §  1, 
die  Annahme  dreier  Modi  für  den  modernen  Gebrauch  und  schließ- 
lich noch  n.  2.  Abhandl.  Kap.  9  §  12 — 17,  die  Choralbearbeitung. 

Doch  auch  sonst  ist  das  Werk  reich  an  originalen  Erweiterungen 
der  Lehre,  wie  wir  an  geeigneter  Stelle  sehen  werden.  Ehe  wir 
nun  zu  einer  Darstellung  des  Inhalts  übergehen,  berühren  wir  zum 
Schlüsse  dieser  allgemeinen  Vorbemerkungen  noch  die  Frage,  in 
welcher  Weise  Walther  den  vokalen  und  instrumentalen  Stil  der  Kom- 
position berücksichtigt. 

Wie  wir  sahen,  datirt  seit  dem  Erscheinen  von  Fraetorius' 
Syniagma  musicum  und  des  Hamburger  Manuskripts  eine  neue  Epoche 
in  der  Musiktheorie.  War  bis  dahin  die  äußere  Form  verschiedenen 
Wandlungen  unterworfen  gewesen ,  so  begann  von  jetzt  an  durch 
Berücksichtigung  der  Instrumentalkomposition  die  innere  Ausbildung 
des  Lehrmaterials  selbst.  Crügers  Synopsis,  in  der  die  äußere  Wand- 
lung zu  einem  gewissen  Abschluß  gebracht  ist^  richtet  das  Haupt- 
augenmerk noch  fast  ausschließlich  auf  den  besonders  in  der  kirch- 
lichen Musik  zu  Tage  tretenden  vokalen  Stil.  Dieser  kam  bisher 
allein  für  die  ernste  kunstmäßige  Komposition  und  deren  Unterricht 
in  Frage.  Aber  bald  werden  in  den  Musikkompendien  mehrere  Stil- 
arten aufgeführt.     Kircher  führt  in  der  Musurffia  folgende  an: 

■ 

1)  Stylus  EcclesiastictiSf 


2) 

» 

CanonicuSj 

3) 

Jl 

MotecticuSj 

4) 

» 

PhantasticuSy 

5J 

» 

Madriff alescuSy 

6) 

» 

Melismaticus, 

7) 

» 

Theatricus  et  Choricus, 

8) 

» 

Symphoniacus, 

9) 

9 

Recitativus, 

In  dem  1.  Theile  jener   1.  Kopie  Bernhardscher  Aufsätze  werden 
diese  neun  Arten  jedoch  in  3  Gruppen  zusammengefaßt,  nämlich  in 


50g  Hennann  Qehnnann, 


Stylus  ecclesiasticuSj  theatricus,  und  recitativusA  Bernhard  selbst  zieht 
sie  im  Tract.  Comp,  augment  in  zwei  zusammen,  nämlich  SL  gravis^ 
der  dem  St  eccleaiastictis  entspricht,  und  St.  luxurians,  dessen  beide 
Theile,  communis  und  comicus  dieselben  Gebiete,  wie  der  Stylus  theo- 
trieus  und  recitativtcs  umfassen. 

Dieser  Bernhardschen  Scheidung  eines  St.  gravis  und  luxterians 
folgt  im  gewissen  Sinne  auch  Walther,  wenn  er  in  seiner  Lehre  den 
alten  Anschauungen  die  neuen  gegenüberstellt.  Daß  diese  Schei- 
dung auch  sonst  schon  üblich  geworden  war,  geht  daraus  hervor, 
daß  Adam  Beincken  in  dem  1.  Theile  seines  Manuskripts  von  1670 
das  Material  in  derselben  Weise  sondert. 

Findet  aber  durch  diese  Darstellung  alter  und  neuer  Lehre  schon 
insofern  eine  indirekte  Kücksichtnahme  auf  die  Instrumentalmusik 
statt,  als  die  neue  Lehre  nur  aus  dieser  entstanden  ist,  so  nimmt 
Walther  auf  die  Instrumentalkomposition  Rücksicht.  Jedoch  unter- 
scheidet er  sich  hierbei  wesentlich  von  Printz,  Werckmeister 
und  besonders  Niedt.  Alle  diese  legen  einen  zu  großen  Nachdruck 
auf  die  Instrumentalkomposition  zum  Nachtheil  des  vokalen  Satzes. 
Niedt  bietet  hier  das  prägnanteste  Beispiel:  In  dem  1.  Theile  seiner 
Handleitung  wird  das  Generalbaßspielen  auf  dem  Klaviere  gelehrt, 
es  folgt  dann  im  2.  Theile  eine  Formenlehre,  wie  man  aus  einem 
Generalbasse  Ciaconen,  AUemanden  etc.  erfinden  könne,  und  erst 
im  letzten  Theile  wird  von  strengen  Satzformen:  Kontrapunkt,  Ka- 
non etc.  gehandelt.  Im  vollen  Gegensatze  dazu  steht  Walther.  Bei 
diesem  bleibt  das  Hauptaugenmerk  auf  den  vokalen  Satz  gerichtet 
und  nur  beiläufig,  doch  ausreichend  werden  instrumentale  Eigen- 
thümlichkeiten  berücksichtigt. 

2. 

•  Die  wissenschaftlich-spekulativen  Betrachtungen  in 

Walthers  Lehre. 

Diese  Betrachtungen  sind  auf  ein  kleinstes  Maß  zusanmien- 
geschrumpft.  Nur  zwei  größere  Abschnitte  handeln  ausschließlich 
in  philosophischer  Weise  von  der  Musik,  nämlich  fast  das  ganze 
erste  Kapitel  und  die  Einleitung  in  die  eigentliche  Melopöia.    In  I. 

^  Es  heißt  dort  cap,  2l:  IJ  JEcclesiastieus  tractat  cantiones  sacras  in  TrnnpUt 
et  in  piis  conviviis,  2J  Theatricus  tractat  cantiones  profanas ,  quas  Aüemand  Cou- 
rant  Saraband  Menuet  Gique  Ouvertüre  aliisque  eiusmodi  peregrinis  nominibus  appel- 
Jamus,  ae  in  ludis  tarnen  TheatralibiM  et  aliis  Festivis  et  Frofanie  adhibemus.  3) 
JRedtaiivtu  tractat  et  saeroe  et  profanoe  textue,  ac  proinde  utique  Dramatibue fa- 
miliaris  legibus  metrorum  adstringitur. 


Johann  GoUfiried  Walther  als  Theoretiker.  509 

1.  Abhandl.  Kap.  1  bezeichnet  Walthei  nach  Werckmeisters  Hod, 
cap,  3  die  Musik  als  »eine  himmlisch-philosophische  und  sonderlich 
auf  Mathesin  sich  gründende  Wissenschaft«. 

Musica  kommt  entweder  her  von  Movaa  (Snegass.  laag.  I  c,  1)^ 
oder  &7th  rov  fiioad-ai  investiffare  (Snegass.)  oder  Ton  Moys  das  Wasser 
(Eircher  Mus,  l.  IIc,  1).  Ihre  himmlische  Natur  wird  mit  Bibel- 
stellen  und  einem  Citat  des  Fythagoras  (Werckmeister  Harmonologia 
i.  d.  Dedikationszuschrift)  begründet.  Ihr  philosophisches  Wesen 
wild  dadurch  nachgewiesen,  daß  sie  ihre  Fiincipien  aus  Metaphysik, 
Physik,  Geometrie  und  Arithmetik  holt  (Lippius  Synopsis) ;  ihr  Zweck 
aber  ist,  den  Menschen  zur  Andacht  gegen  Grott  zu  bewegen  (Har- 
monologie,  Hodegus  c.  46).  Durch  Citate  aus  Augustins  Confessionen 
wird  gezeigt,  wie  dieser  durch  die  Musik  zum  christlichen  Glauben 
bekehrt  worden  sei  (Printz  Histor.  Singk.  c.  XIV  §  30). 

Aus  der  Einleitung  zur  Melopöia  im  engeren  Sinne  erfahren 
wir,  daß  die  Materie  der  Sonus  sei,  der  in  Monas^  Dyas  oder  Trias 
musica  auftreten  könne,  die  Form  beruhe  in  der  künstlichen  Dis- 
position der  Töne  (Lippius  und  Crüger).  Aus  den  Zahlen  werden 
Proportionen  gebildet,  in  denen  alle  Intervalle  enthalten  sind.  Es 
folgt  eine  Aufzählung  dieser  Bationen  oder  Proportionen  nach  Werck- 
meisters  HodeguSy  Frintz'  Satyr.  Comp,  und  der  1.  Fleiade  des  Bary- 
phonus.  Nach  Frintz  Hist.  Singk.  c.  V  wird  das  Märchen  von  der 
ersten  Auffindung  der  Proportionen  durch  Fythagoras  in  einer 
Schmiede  mitgetheilt.  Es  folgt  ähnlich  dem  von  Frintz  Satyr.  Comp. 
Lc,  XII  §  20 — 24  gegebenem  Muster  die  Eintheilung  der  einfachen 
Konsonanzen  auf  einer  über  ein  vier  Schuh  langes  Brett  gespannten, 
in  c  gestimmten  Saite.  Wird  diese  in  zwei  gleiche  Theile  zerlegt, 
so  erhält  man  das  VerhältniB  der  Oktave;  wird  sie  io  drei  Theile 
zerlegt,  bekommt  man  das  VerhältniB  der  Quinte  u.  s.  f.  Aber  in 
7  Theile  zerlegt  giebt  sie  nicht  das  VerhältniB  einer  Konsonanz.  Hier 
läB  sich  Walther  nach  Werckmeisters  Hodeg,  c.  5  und  Musik.  Tem- 
peratur c.  26  in  mystischer  Weise  auf  die  wunderbare  Natur  der 
Siebenzahl  ein.  Auch  auf  den  Streit  des  Fythagoras  und  Aristoxe- 
nos  über  den  Bichter  in  musikalischen  Dingen  kommt  Walther  im 
AnschluB  an  Printz  Hist  Singk.  c.  VI  zu  sprechen.  Die  Schlichtung 
dieses  Streits  durch  Ftolemaeus  wird  nach  der  1 .  Fleiade  des  Bary- 
phonus  berichtet.  Zum  Schlüsse  dieser  Einleitung  weist  Walther 
noch  auf  die  Ansicht  eines  Snegassius,  besonders  aber  Lippius,  Werck- 


^  Wenn  es  nicht  ausführlich  gesagt  wird,  woher  die  einzelnen  Partien  ent- 
lehnt sind,  so  stehen  Walthers  Quellen  für  die  einzelnen  Ausführungen  kurz  in 
Klammem  angegeben. 


510  Hermann  Gehrmann, 


meister  und  Frintz  hin,  welche  glauben,  daB  zur  vollkommenen  Be- 
herrschung der  Musik  eine  nEncyclopedia  nrnsico-philosophica  von 
Arithmetik,  Geometrie,  Historie,  Physik,  Dialektik,  Rhetorik, 
Ethik«  u.  s.  w.  gehöre.  In  einer  Anmerkung  vrird  noch  das  Wesen 
und  der  Nutzen  des  Monochords  beschrieben. 

Außer  diesen  beiden  größeren  Abschnitten  philosophischer  Be- 
trachtung in  Walthers  Lehre,  finden  sich  auch  im  Texte  der  prak- 
tischen Darstellung  hie  und  da  philosophische  Bemerkungen.  In 
I  2.  Abth.  cap.  4  wird  nach  Janowkas  r^Clavis  ad  thesaurumt  etc. 
darauf  hingewiesen,  daß  in  der  heutigen  Musik  drei  genera  modulandi 
vermischt  gebraucht  werden:  das  genus  chromatico-diatonicum^  dia- 
tonico-chromaticum  und  das  genus  chromatico-diatonico-enharmomcum. 
Je  nachdem  nun  in  einem  Stücke  diatonische  oder  chromatische 
Töne  vorherrschen,  gehört  das  Stück  einem  der  beiden  ersteren  Ge- 
schlechter an,  treten  aber  die  diatonischen  Töne  vor  den  chroma- 
tischen und  enharmonischen  zurück,  so  gehört  es  dem  letzten  Ge- 
schlechte an.  In  II  1.  Abhandl.  Kap.  11,  13  und  14  finden  wir  noch 
philosophische  Äusserungen.  Schon  vorhin  wurde  darauf  hinge- 
wiesen, daß  die  Intervalle  bestimmte  Zahlenproportionen  haben. 
Dieser  Satz  wird  nun  genauer  ausgeführt:  Je  näher  eine  Proportion 
der  Unität  ist,  desto  vollkommener  ist  sie,  je  weiter  entfernt,  desto 
unvollkommener  (Werckm.  Hod,  c,  23).  Diejenigen  Intervalle  nun, 
deren  Proportionen  in  der  ersten  Quadratzahl  4  enthalten  sind,  heifien 
vollkommene  Konsonanzen,  die  in  der  1 .  vollkommenen  Zahl  6  und 
in  der  1.  Kubikzahl  sich  finden,  heißen  unvollkommene  Konsonanzen. 
Intervalle  aber,  deren  Proportionen  außerhalb  dieser  harmonischen 
Zahlen  12  3  4  5  6  8  liegen,  heißen  Dissonanzen,  weil  sie  wegen 
ihrer  grösseren  Entfernung  von  der  Unität  von  unserm  Verstände 
und  Gehör  nicht  so  leicht  begriffen  werden,  wie  die  Konsonanzen. 
Solche  Zahlen  sind  beispielsweise  8,  9,  10;  15,  16;  24,  25;  80,  81. 
Diese  Ausführung  schöpft  Walther  in  wörtlicher  Übersetzung  aus 
der  4.  Pleiade  des  Baryphonus,  der  diese  Disciplinen  wiederum  aas 
Lippius^  Synopsis  entlehnt  hat.  Die  natürliche  Stellung  der  Kon- 
sonanzen im  mehrstimmigen  Satze  hat  Gott  in  die  Reihenfolge  der 
harmonischen  Zahlen  gelegt: 

8 

6 

5 

4 

3 

2 

1 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  5J[j[ 

Darnach  kommt  der  Oktave  der  tiefste,  und  den  Terzen  der 
höchste  Platz  zu:  _ 

'  8  c 

\  ß   g 

I  5  e 

i  4  c 

I  ^  ff 

2  c 

1  C 

Die  meisten  Verdoppelungen  darf  der  Grundton  einer  Trias 
haben,  die  wenigsten  die  Terz  derselben.  Die  drei  tiefsten  Töne 
C  D  E  leiden  nur  Oktaven,  die  folgenden  Töne  F  und  G  nur  Ok- 
taven und  Quinten  unmittelbar  über  sich.  Diese  alten  Betrach- 
tungen nimmt  Walther  wörtlich  aus  dem  Frühlingsgespräch  Ahle^s 
pag.  21  herüber,  der  aus  Baryphonos  und  Lippius,  der  allgemeinen 
Hauptquelle  für  diese  Dinge,  schöpft. 

Aber  auch  auf  die  religiös-mystischen  Darstellungen  eines  Lip- 
pius, Werckmeister  und  anderer  weist  Walther  hin.  In  einem  länge- 
rem Citat  aus  Lippius'  Synopsis  wird  die  Trias  harmonica  als  ein 
Abbild  der  göttlichen  Dreieinigkeit  angesehen.  An  einer  anderen 
Stelle  wird  noch  ausführlicher  der  Lippiussche  Text  wörtlich  angeführt. 
Im  diesem  Citat  ist  der  Baß  mit  der  Erde,  der  Tenor  mit  dem  Wasser, 
der  Alt  mit  der  Luft  und  der  Diskant  mit  dem  Feuer  verglichen. — 
Überblicken  wir  noch  einmal  diese  gelehrten  Betrachtungen  Walthers, 
so  vermissen  wir  Vieles,  was  in  der  theoretischen  Darstellung 
früherer  Zeiten  eine  große  Rolle  spielte.  So  erfahren  wir,  um  nur 
das  Wichtigste  hervorzuheben,  nichts  von  dem  der  neueren  Musik 
zu  Grunde  liegenden  diatonisch-syntonischen  Tonsystem.  Die  ganze 
heidnische  Spekulation,  wie  sie  Zarlino  in  den  beiden  ersten  Theilen 
der  Institutionen  darstellt,  fehlt  so  gut  wie  ganz.  Nicht  mehr  hat 
bei  Walther  die  Musik  das  Frincipat  über  alle  sieben  freien  Künste 
(Zarl.  Ist  I  c,  2) ;  nichts  mehr  hören  wir  von  einer  Musica  mundana 
(Sphärenmusik,  Z.  Ist.  I  c.  6)^  von  den  wunderbaren  Wirkungen 
der  Musik  bei  den  alten  Völkern  (Z.  Ist.  I  c.  2)  und  von  akustischen 
Betrachtungen  (Z.  Ist,  II  c.  10  und  11). 

Aber  auch  die  christliche  Mystifikation  der  Musik,  die  ein  hal- 
bes Jahrhundert  nach  Zarlino,  seit  Lippius,  gang  und  gäbe  war, 
findet  bei  Walther  nur  noch  eine  geringe  Berücksichtigung.  Die 
Art,  wie  er  auf  diese  hinweist  (z.  B.  IL  1.  Abb.  c.  13  §  26  »Von 
der  Triade  harmonica  hat  Lippius  gar  schön  also  geschrieben  — «) 
bezeugt,  daß  er  diesen  mystischen  Betrachtungen  gegenüber  einen 
objektiv-historischen  Standpunkt  einnimmt.     Das  Einzige,  worauf  er 


512  Hermann  Gehnnann, 


überhaupt  näher  eingeht,  sind  die  Proportionen.  Aber  auch  hier 
verzichtet  er  auf  eine  ausfuhrliche  mathematische  Entwicklung, 
wenn  er  in  der  Einleitung  zur  eigentlichen  Melopöia  §  15  sagt: 
»Wie  man  die  Froportiones  addire,  copulire,  medüre,  subtrahire, 
aequiparire  und  radicire,  solches  ist  zu  finden  in  des  Baryphoni 
Pleiadtbtis  musicis]  und  H.  Werckmeisters  seel.^  Mtmcae  nuUhematwae 
Sodego  curioso.  Denn  eine  völlige  Mttsicam  arühmolofftcam  aufisu- 
setzen  ist  unser  jetziges  Vorhaben  nicht;  sondern  durch  angeführtes  habe 
nur  zeigen  wollen,  daß  die  M usic  eine  mathematische  Wissenschaft  sey.c 

Aus  diesen  beiden  Umständen,  1)  aus  den  äußerlich  sehr  be- 
grenzten philosophischen  Betrachtungen,  2)  aus  der  Behandlungs- 
weise  der  betreffenden  Themata  kommen  wir  zu  folgenden  Schlüssen  : 
Für  die  geringe  Berücksichtigung  der  Spekulation  mag  der  Haupt- 
grund darin  liegen,  daß  diese  Musiklehre  kein  gelehrtes  Werk,  son- 
dern ein  Unterrichtsbuch  sein  sollte.  Wie  bei  Calvisius  und  Crüger 
findet  daher  zunächst  aus  pädagogischen  Gründen  eine  Beschränkung 
dieser  Betrachtungen  statt.  Dafür  aber,  daß  Walther  bei  den  be- 
rührten philosophischen  Disciplinen  auf  eine  vertieftere  DarsteUung 
verzichtet,  daß  er  in  spekulativer  Beziehung  nicht  wissenschaftliche 
Entwickelui^en ,  sondern  nur  Resultate  der  Forschungen  giebt,  da- 
für mögen  außer  pädagogischen  Rücksichten  auch  noch  andere 
Gründe  maßgebend  gewesen  sein.  Es  scheint  sich  im  Gegensatz 
zur  bisherigen  von  Zarlino  und  Lippius  befestigten  Anschauungsweise 
die  Überzeugung  bei  Walther  Bahn  zu  brechen,  daß  die  Musik  mit 
den  philosophischen  Wissenschaften  durchaus  nicht  in  einem  so  engen 
Zusammenhange  stehe,  wie  bisher  geglaubt  wurde,  und  daß  bei  ihrer 
speziellen  Betrachtung  von  philosophischen  Darstellungen  eigentlich 
ganz  abgesehen  werden  könne;  kurz  die  spätere  Ansicht,  daß  die 
Musik  keine  gelehrte  Wissenschaft,  sondern  eine  selbständige  Kunst 
sei,  mag  hier  von  unserm  Freunde  voraus  empfunden  sein. 

Durch  diese  noch  dunkel  geahnte  neue  Anschauung  von  dem 
Wesen  der  Musik  wird  ein  ganz  gehöriger  Fortschritt  in  der  Theorie 
bezeichnet :  Der  Gegensatz  zwischen  Praktiker  und  Theoretiker  ver- 
schiebt sich.  Wurde  seit  Boetius  der  Theoretiker  höher  geschätzt  als 
der  Praktiker  (Inst.  mtis.  I  cap,  34),  wozu  auch  der  Komponist  gerechnet 
wurde,  so  steht  in  der  neueren  Anschauung  der  Komponist  über  dem 
Theoretiker.  Wie  aber  die  früheren  philosophischen  Betrachtungen 
ihren  Ursprung  einer  vorausgehenden  Musikthätigkeit  verdanken,  so 
ist  auch  die  von  Walther  geahnte  neue  Anschauung  eine  natürliche 
Folge  der  neueren  Entwicklung   der  praktischen  Musik  selbst.     Auf 


*  Werckmeister  war  am  26.  Okt.  1706  gestorben. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  5^3 


die  praktische  Musiklehre  Walthers  gehen  wir  in  den  folgenden  Ab- 
schnitten ein. 


3. 

Die  Elementarlehre,   soweit   sie    in   den  beiden  Abhand- 
lungen des  ersten  Theils  von  Walthers  Werk 

enthalten  ist. 

Zunächst  werden  in  der  ersten  Abhandlung  in  Kap.  1  §  2  und  3 
und  Kap.  2  noch  allgemein  oiientirende  Vorbemerkungen  für  die  prak- 
tische Musiklehre  gegeben.  Wörtlich  nach  Printz  Satyr.  Comp.  / 
cap.  5  ist  die  Abtheilung  der  Musik  in  theoretica  und  practica  ge- 
geben.    Zur  ersteren  gehört: 

1)  Musica  JSistorica, 

2)  Mtmca  Didactica^ 

3)  Musica  Signator ia; 
zur  Practica  gehört: 

1)  Micsica  Modulatoria, 

2)  Musica  Poetica, 

Die  M,  poetica^  mit  der  wir  es  in  Walthers  Lehre  hauptsächlich 
zu  thun  haben,  unterrichtet,  wie  man  eine  »Zusammenstimmung  der 
Klänge  erstlich  inventiren  und  hernach  zu  Papier  bringen  soll,  da- 
mit selbige  hernachmals  kan  gesungen  oder  gespielet  werden.  Und 
solche  Zusammenstimmung  nennt  man  nachgehends  einen  Gesang«. 
Dieser  kann  sowohl  Choral-  als  Figuralgesang  sein.  Nach  einer 
kurzen  Erklärung  beider  Arten  läßt  sich  Walther  ausführlicher  nach 
Joh.  Georg  Ahles  Anmerkungen  zu  seines  Vaters  Singkunst  Kap.  1 
auf  den  letzteren  ein.  Der  Figuralgesang  ist  entweder  naturalis  (ohne 
\'orzeichnung  von  ^  oder  9)  oder  artißcialis  (mit  Verzeichnung  fik- 
tiler  Zeichen) .  Jede  von  beiden  Arten  ist  Dur^  wenn  sie  von  ihrem 
Grrundton  an  beim  melodischen  Aufstieg  eine  große  Terz  hat,  und 
Molly  wenn  sie  eine  kleine  Terz  hat.  Es  werden  weiter  die  tech- 
nischen Bezeichnungen  des  Gesanges  erklärt  und  in  ihren  gegen- 
seitigen Beziehungen  dargestellt.  So  gehört  Cantusßctus  (oder  trans- 
positus  in  laUore  sensu)  sowohl  zum  C.  artißcialiter  durus^  wie  mollis; 
ein  C.  transpositus  [in  sensu  strictiore^  d.  h.  im  älteren  Sinne)  gehört 
nur  zum  C.  ariificialiter  mollis ,  aber  nicht  umgekehrt,  außer  dem 
transponirten  Dorisch.  Mit  demselben  Rechte  müßte  Walther  dies 
auch  von  dem  transponirten  äolischen  und  phrygischen  Modus  er- 
wähnen, denn  beide  haben  ein  ^  vorgezeichnet  und  behalten  ihre 
kleine  Terz.     Zum  Schlüsse  des  zweiten  Kapitels  wird  noch  gesagt. 


514  Hermann  Gehnnann. 


daB  ein  Gesang  aus  CkaractertbtM  y  Clavibus^  Intereallis  und  Modis 
besteht. 

In  diesen  Ausführungen  sind,  wie  wir  sehen,  bereits  neue  und 
alte  Anschauungen  vermischt.  Alt  ist  die  nach  Frintz  gegebene  Ein- 
theilung  der  Musik,  in  welcher  der  theoretischen  Lehre  vor  der  prak- 
tischen der  erste  Platz  eingeräumt  wird.  Neue  und  zum  Theil  origi- 
nale Anschauungen  Walthers  begrüßen  wir  in  der  Beschreibung  des 
Figuralsgesangs.  Hier  folgt  er  theilweise  der  Darstellung  der  beiden 
Ahle  (Vater  und  Sohn].  Auch  dort  (Kap.  4  der  Singkunst  von  Ahle] 
wird  der  C.  naturalis  von  dem  C,  artißcialü  oder  ßctits  geschieden 
und  der  C  fictus  ist  durus  oder  mollis.  Daß  hier  aber  das  alte  Dur 
und  Moll  gemeint  ist,  geht  daraus  hervor,  daß  C,  naturalis  nicht 
Dur  und  Moll  sein  kann,  und  das  femer  der  C.  fictus  Dur  genannt 
wird,  wo  Kreuze,  und  Moll,  wo  h  rotunda  vorgezeichnet  sind.  Es 
ist  hier  also  nur  eine  unwesentliche  Erweiterung  der  uralten  Unter- 
scheidung der  Modi  hinsichtlich  ihres  natürlichen  und  transponirten 
Systems,  eine  Unterscheidung,  wie  sie  sich  fast  in  der  ganzen  bis- 
herigen theoretischen  Litteratur  angegeben  fand.  Walther  stellt 
jedoch  nicht  nur  die  oft  doppelsinnigen  Ausdrücke,  so  besonders  den 
des  Moll  klar,  sondern  die  moderne  Auffassung  von  Dur  und  MolL 
der  Unterschied  nach  großer  und  kleiner  Terz  wird  maßgebend  für 
die  obige  Eintheilung.  Dieser  zuerst  von  Zarlino  angedeutete  Unter- 
schied eines  harten  und  weichen  Dreiklangs  wurde  zunächst  von 
Lippius  deutlich  ausgesprochen  und  zum  Frincip  für  die  Anordnung 
der  Modi  erhoben;  in  allem  schließt  sich  ihm  Crüger  an,  nur  er- 
weitert er  in  cap,  VIII,  seiner  Synopsis  noch  äußerlich  den  Unter- 
schied der  harten  und  weichen  Dreiklänge  dadurch,  daß  sie  theils  aus 
natürlichen  (diaton.)  ^  theils  aus  natürlichen  und  fiktilen  (chrom,)  Tönen 
vermischt  bestehen.  Aber  in  der  Folgezeit  traten  diese  neuen  Ansichten 
in  der  Lehre  wieder  ganz  zurück.  Erst  Werckmeister  unterscheidet  im 
Hodegus  cap,  42  die  Modi  wieder  nach  großer  und  kleiner  Terz.  Auf  die 
ältere  Lehre  nimmt  Walther  wieder  Rücksicht,  wenn  er  von  einem  Ccm- 
tus  transpositus  (in  latiore  sensu)  einen  Cantus  transpositus  (va  striciiore 
sensu)  scheidet  und  hierbei  die  früher  allein  übliche  Transposition 
eines  Modus  in  die  höhere  Quart  oder  tiefere  Quint  auseinandersetzt. 

In  Kap.  3  handelt  Walther  von  den  Noten.  Diese  merken 
die  Zeitdauer  des  Klanges  an.  Im  Gegensatz  dazu  stehen  die 
ClaveSj  welche  die  Höhe  oder  Tiefe  eines  Klangs  bestimmen.  Nach 
Snegassius  Isaff.  1,  I  cap,  S  und  besonders  Janowkas  Clavis  ad 
thesaurvm  zählt  Walther  die  Notae  figuratae ,  die  im  Gegensatz  zu 
den  planae  verschiedenen  Werth  haben,  von  der  Maxima,  die  8  Takte 
gilt,  bis  zur  Subsubsemifusa ,  von   denen  64   auf  einen  Takt  gehen, 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  blb 


auf.  Auch  die  deutschen  Namen:  »Ganze«  Note,  weil  sie  einen 
ganzen  Takt  ausmacht,  »Halbe«,  »Viertel«  u.  s.  w.  finden  sich  hier. 
In  einer  Tabelle,  die  aus  Janowkas  Clavis  entlehnt  ist,  werden  die 
gebräuchlichsten  Noten  von  Semibrevis  bis  Subsemifusa  dargestellt. 
Original  ist  die  Bemerkung,  daß  die  von  Walther  zum  ersten  Male 
mit  aufgezählte  Subsubsemt/usa  außer  von  deutschen  Organisten  fast 
gar  nicht  angewendet  werde:  aus  Ahles  Anmerk.  zur  Singk.  Kap.  2 
stammt  die  Notiz,  daß  man  die  Maxima  nur  noch  so  gebrauche,  daß 
sie  über  viele  Worte  geschrieben  werde,  die  taktlos  auf  diesen  Ton 
gesungen  werden.  Bei  der  Brevis  werden  die  Regeln  der  alten  Ligatur ae 
rectae  und  obliquae  nach  Snegassius,  Gumpelzhaimer  und  Walliser  mit- 
getheilt.  Daß  bei  der  Darstellung  derselben  ebenfalls  nur  äußere  histo- 
rische Gründe  maßgebend  waren,  wird  ausdrücklich  betont :  in  §  12  sagt 
Walther,  daß  er  sie  mehr  aus  CuHosite^  als  Nutzen  habe  beifugen  wollen 
(Ahles  Anmerk.  zur  Singk.  Kap.  3),  und  in  §21  weist  er  auf  Lippius 
hin,  der  sie  bereits  entbehrlich  findet.  In  Kap.  7  der  1.  Abhandlung 
werden  die  modernen  Ligaturen  nach  Crügers  Synopsis,  besonders 
aber  nach  Ahles  Anmerk.  zur  Singk.  Kap.  III  und  Janowskas  Clavis 
dargestellt.  Die  Bindebogen  können  darnach  wegbleiben,  wenn  sehr 
viel  Noten  über  eine  Silbe  gesungen  werden.  In  der  Instrumental- 
musik zeigen  Bogen  gebundene  Noten,  Bogen  mit  Funkten  über  den 
Noten  ein  Non-Leffatos^ie\  an.  Werden  zwei  in  einer  clavis  stehende 
Noten  verbunden,  so  hört  man  die  letztere  nicht.  —  Kehren  wir 
zu  Kap.  3  zurück,  so  wird  dort  nach  den  alten  Ligaturen  die  Quantitas 
ex-  und  intrinseca  genau  nach  Printz,  Sat.  Comp.  I  cap.  6  beschrieben. 
Die  Quantitas  extrinseca  ist  gleich  einer  Quantitas  tactualis;  von  dieser 
war  bisher  in  diesem  Kapitel  gehandelt.  »Werden  nun  etliche  dem 
ValoT  nach  sonst  gleichgeltende  Noten  ganz  ungleich  tractiereta  so 
tritt  uns  hier  die  Quantitas  intrinseca  entgegen.  So  werden  z.  B. 
von  vier  gleichen  Noten  im  zweitheiligen  Takt  die  1.  und  3.  Note 
länger  sein,  als  die  2.  und  4.  Namentlich  im  dreitheiligen  Takt 
werden  verschiedene  Möglichkeiten  dieser  Betonung  mitgetheilt.  Die 
Erfindung  der  Notenwerthe  durch  Johannes  de  Muris  wird  wörtlich 
nach  Printz  Histor.  Singk.  cap.  X  §  21  und  22,  der  aus  Kircher 
schöpft,  erzählt.  Aber  der  letzte  Paragraph  dieses  Kapitels,  in  welchem 
begründet  wird,  daß  Joh.  de  Muris  die  kleineren  Noten  nicht  er- 
funden haben  könne,  weil  er  »die  halbschlägige  (^  Minimam  oder  die 
Eleineste  genannt«,  sowie  die  ganze  daran  sich  knüpfende  Unter- 
suchung stammt  aus  Ahles  Anmerk.  z.  Singk.  Kap.  2. 

Im  engsten  Zusammenhange  mit  den  Noten  stehen  die  Pausen, 
welche  in  Kap.  4  der  1.  Abhandlung  nach  Snegassius  und  Janowka 
beschrieben  sind.     Pause,    welche  von  Trauait;  kommt,  ist  nach  Sne- 


516  Hermann  Gehrmann, 


gassiu8  ein  character  supprimendi  soni.  Es  folgt  ähnlich  wie  bei 
Janowka  die  Au&ählung  derselhen  von  der  Maxima  pattsa,  die  durch 
2  Longapausen  in  gleicher  Höhe  dargestellt  wird,  bis  zur  Subsubse- 
mifusa,  bei  welcher  ähnlich  wie  vorhin,  erwähnt  wird,  daß  sie  nur 
mstrumentaliter,  nicht  vocaliter  im  Gebrauch  sei.  Nach  Beers  Bellum 
mustcum  cap.  8  wird  darauf  hingewiesen,  daß  die  Pausen  in  Tripla 
maior  nur  den  halben  Werth  haben,  den  sie  im  gleichen  Takte  gelten. 
Ferner  erfahren  wir  daß  der  Ausdruck  » Pausa^  den  Instrumentisten, 
yiSuspiriumvL  den  Vokalisten  zukomme.  Besonders  hervorgehoben 
werden  die  Pausa  generalis,  (wenn  alle  Stimmen  schweigen)  und 
P.  ßnalis  (Doppelstrich  am  Ende  einer  harmonischen  Periode).  Der 
vielfache  Nutzen  der  Pausen  wird  nach  Snegassius  und  Herbstes  Musica 
poetica  angegeben.  Die  Pausezeichen  in  deutscher  Tabulatur  bilden 
den  Schlußparagraph  dieses  Kapitels.  Das  folgende  5.  Kapitel  handelt 
vom  Takt.  Hier  wird  Ahles  Anmerk.  z.  Singk.  cap.  IX.  als  Haupt- 
quelle benutzt,  doch  auch  Snegassius,  Janowka  und  Crüger  kommen 
hier  als  nächstwichtige  Quellen  in  Frage,  dagegen  wenig  Listenius 
(Musica  cap.  10).  Nach  einem  Hinweis  auf  die  Namen  des  Taktes 
(Mensur ay  Chronometron^  Battuta)  und  seine  Erfindung,  die  von  der 
verschiedenen  »Beweg-  und  Klopfung  des  menschlichen  Herzensc 
herrühre,  zerlegt  Walther  den  Takt  in  einen  T.  simplex  und  propt^r- 
tionatus,  eine  Eintheilung,  die  sich  schon  bei  WalUser  findet.  Der 
T.  simplex  zerfällt  wiederum  in  einen  T.  totalis  oder  maior  und 
T.  generalis  oder  minor.  Der  erstere  macht  eine  Brevis,  der  letztere 
eine  Semibrevis  aus.  Nach  Crüger  bekommt  der  T.  totalis  das  Äüa- 
jßrcrezeichen  mit  dem  Strich,  (^,  weil  ein  aus  langen  Noten  be- 
stehendes Stück  einen  schnelleren  Takt  erfordert,  der  T.  generalis 
erhält  das  langsamere  Taktzeichen  ohne  Strich  C.  Weiter  gliedert 
Walther  nach  Ahle  den  T.  proportionatus  in  einen  aequalis  und 
i?iaequalis.  Aber  während  Ahle  nur  allgemein  sagt,  daß  der  gleiche 
proportionirte  Takt  aus  6  oder  12  Noten,  der  ungleiche  aus  3  oder 
9  Noten  bestehe,  so  sondert  Walther  beide  Arten  schärfer  ab:  dem 
T.  aequalis  giebt  er  beim  Nieder-  und  Aufschlag  gleich  viele  Noten, 
deren  Hälften  unter  sich  betrachtet  ungleich  sind,  so  daß  ein  solcher 
Takt  aus  kleineren  zusammengesetzt  zu  sein  scheint  z.  B. 


dt 


^ 


ß   dg^ 


t^ 


Zum  T.  aeqtcalis  proportionatus  gehören :  — ,  — ,  -^,  —  etc. 

Der  ungleiche  proportionirte  Takt  erhält  beim  Niederschlag  mehr 
gleich  geltende  Noten,  als  beim  Aufschlag.    Hierher  gehören  folgende, 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  5^7 


zum  Theil  wörtlich  nach  Ahle  angegebene  Proportionen :   Tripla  maior 

3  .  .  . 

-  [3  Semibreves   bilden    einen  Takt);    sind  nun  in  Tripla  maior  die 

Noten  geschwärzt,  so  wird  ein  geschwinder  Takt  gegeben,  der  dadurch 

3 
eine  Art  von  Sesquialtera  wird.    Bei  dieser  Proportion  —  bilden  3  Mi- 

nimae  den  ganzen  Takt.      Auch   hier  kann   durch  Schwärzung  aller 

Noten  ein  schnelleres  Tempo  angezeigt  werden,  der  Takt  wird  dann 

zum  Unterschied  von  der  mit  weißen  Noten  geschriebenen  Sesquialtera 

3 
Hemiola  nigra  genannt    Weiter  folgen:  Prep,  Subsesquitertia  j,  Prop. 

3  ,  9    /     . 

Subdupla  superbipartiens  tertias  — ,  Prop.  Dupla  sesquiquarta  —  (beim 

Niederschlag  j,    beim  Aufschlag  —  j,  Sesquioctara  —  1  beim     Nieder- 

ß  ^  \ 

schlag    —  beim  Aufschi.  —1    und   Subsuperseptempartiens 

0  o  / 


9 
nonas   — - 
16 


(fi  ^  \ 

beim    Niederschi.    — ■  beim  Aufschi.  -—).      Alle    anderen  Taktarten 
10  Ib/ 

verwirft  Walther.  Mit  einem  das  Obige  erläuternden  Citat  aus  der 
Ars  cantandi  von  Carisimi  und  dem  Hinweis,  daß  nähere  Auskunft 
in  Janowkas  Clavis  etc.   zu  finden  sei,  schließt  dieses  Kapitel. 

Die  äußere  Darstellung  dieses  Abschnitts  folgt  der  älteren  Lehre. 
Noch  spielen  die  Proportionen  eine  große  Rolle,  und  zum  Theil  durch 
diese  wird  das  Tempo  bezeichnet.  Doch  hören  wir  nichts  mehr  vom 
Tempus  perfectum  und  imperfectum.  Ganz  fehlen  hier  die  Tempo- 
bezeichnungen Modus  major  und  minor  ^  welche  für  Maxima,  Longa 
und  Brevis  in  Betracht  kommen,  sowie  die  Prolationen,  zu  denen 
die  kleineren  Notenwerthe  gehörten.  Nur  die  Schwärzimg  der  Noten, 
welche  bei  den  Alten  die  3.  Bezeichnungsart  des  Tempo  w^ar,  und 
namentlich  für  sehr  schnellen  Takt  angewendet  wurde,  hat  sich  bis 
zu  Walthers  Zeit  noch  erhalten.  Geht  aus  solchem  Schwund  schon 
eine  Änderung  der  Auffassung  hervor,  so  erkennen  wir  besonders  in 
dem  Überwiegen  des  geraden  Taktes  über  den  ungeraden  eine  wichtige 
Neuerung,  welche  namentlich  in  dem  durch  die  Instrumentalmusik 
hervorgerufenen  homophonen  Kompositionsstil  die  größte  Berück- 
sichtigung fand.  *     Von  den  vier  größeren  Taktgattungen  Walthers 


1  Genauere  Ausführungen  über  das  Zurücktreten  des  ungeraden  Taktes  siehe 
C.  Paesler :  Fundamentbuch  von  Hans  von  Constanx.  Viertel]  ahrssehr.  f.  Musik- 
wissensch.  V.  Jahrg.  1889  Heft  I  S.  57/58. 


51 S  Hermann  Oehrmann, 


gehören  drei  dem  geraden  Takt  an :   7.  simplex  totalis,  T.  8.  generalis 

und  T.  proparttonatus  aequalis;  für  den  ungeraden  bleibt  allein  der 

T,  proportionatus  inaeqtuilü  übrig. 

3 

Schon   vor   Walthers   Zeit  waren  der  Allabreve-  und  -rtBiki  mit 

4 

3 
ihren  Abarten   allein  in  Gebrauch.      Was  den  —takt   anbetrifft,  so 

4 

schreibt  Reincken,  in  dessen  handschriftlicher  Lehre  von  1670  wir 
zum  ersten  Male  allen  diesen  den  Takt  betreffenden  Neuerungen  be- 
gegnen, daß  dieser  heutigen  Tags  den  italienischen  Sängern  gar  gemein 
sei.     Auch  Ahle  macht  in  den  Anmerk.  zu  cap.  XI  der  Singk.  den 

Schüler  mit  folgenden  Worten  auf  ihn  aufmerksam:  »EQer  ist  zu  ge- 

3 
denken,  daß  ich  in  der  14.  Fuge  vorn  die  Zahlen  j  vorgefugt:  weü 

diese  Proportion  itzund  gar  gebräuchlich  wird«. 

Auch  in  der  Vorzeichnung  des  Taktes  tritt  uns  bei  Walther 
eine  schon  in  Beinckens  Lehre  bemerkbare  Änderung  entgegen. 
Nur  der  Vierviertel-  und  Allabrevetakt  wird  dauernd  durch  das  alte 
Signum  imperfectionis  bezeichnet,  für  die  Vorzeichnung  aller  anderen 
Taktarten  dienen  die  Proportionszahlen.  Diese  Änderung  wurde 
durch  die  wachsende  Bedeutung  kleinerer  Notenwerthe  nöthig.  Um 
im  bewegten  Toccatenstil  und  in  den  lebhaften  Violinpassagen  die 
große  Zahl  der  Achtel-  und  Sechszehntelnoten  übersichtlich  darzu- 
stellen, griff  man  zu  den  Verhältnißzahlen  von  denen  nach  Ahle  die 
obere  Ziffer  die  Anzahl  der  durch  die  untere  Ziffer  bezeichneten 
Notenwerthe  in  jedem  Takte  angiebt. 

Über  die  eigentlichen  Tempobezeichnungen  bringt  Walther  in 
diesem  Kapitel  nichts;  aber  in  dem  später  folgenden  Verzeichnis 
musikalischer  Begriffe  kommen  jene  zuerst  bei  Beincken  auftretenden 
italienischen  Ausdrücke,  wie  Adagio^  Allegro  etc.  vor,  welche  an  die 
Stelle  von  Modus^  Prolatio  etc.  getreten  sind.  Schließen  wir  mit 
dem  Takt  die  Besprechung  der  Klangzeichen  hinsichtlich  ihres  Zeit- 
werths,  so  wollen  wir  im  Anschluss  daran  die  Klangzeichen  hinsicht- 
lich ihrer  Unterscheidung  nach  hoher  oder  tiefer  Stellung,  mit  einem 
Worte  die  Claves  betrachten,  welchen  in  der  Lehre  Walthers  die  ganze 
2.  Abhandlung  des  l.Theils  gewidmet  ist.  Wir  verlassen  daher  ein 
wenig  die  Walthersche  Ordnung  und  kommen  auf  die  noch  übrigen 
Kapitel  der  1.  Abhandl.  nach  der  Schilderung  der  Claves  zu  sprechen. 

Die  in  Kap.  1  und  2  enthaltene  Darstellung  beginnt  mit  der 
Aufzählung  der  7  Buchstaben  AB  C  D  E  F  G  und  deren  Anord- 
nung auf  dem  Klaviere.  Diese  reicht  vom  großen  bis  zu  dem  drei- 
gestrichenen c  und   umfaßt  also   4  Oktaven.     Zunächst  werden  die 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  5|9 

chves  signatae  besprochen.  Die  3  Hauptschlüssel  f^  c  und  g  werden 
hinsichtlich  ihrer  verschiedenen  Stellung  auf  dem  Liniensystem  und 
ihrer  verschiedenen  Bezeichnung  in  Choral-,  Figural-  und  Instru- 
mentalmusik dargestellt. 

Auf  die  Claves  minies  principdles  !?,  i[,  ft  ^^^  ^  8®^*  Walthei 
später  ein.  Die  4  übrigen  Buchstaben  A  S  D  E  werden  Claves 
inteüectae  genannt,  weil  sie  aus  den  Claves  signatae  leicht  erkannt  wer- 
den können.  Alle  diese  Ausführungen  sind  hauptsächlich  aus  Janowka, 
doch  auch  von  Snegassius,  Carissimi  und  Kircher  entlehnt.  Die 
Solmisationssilben  fehlen  hier.  Als  Grund  dafür  giebt  Walther  I. 
l.Abhandl.  Kap.  8  an,  daß  »sie  heutigen  Tages  etlicher  maaßen  in 
decadenz  gerathen  sind«.  In  Kap.  3  wird  eine  fast  wörtlich  aus 
AMes  Anmerk.  zu  Kap.  5  d.  Singk.  entlehnte  vollständige  Geschichte  der 
Chwes  gegeben.  Ahle  schöpfte  seinerseits  aus  Frintz  Hist.  Singkunst, 
Kircher  Mursurgia  und  Praetor ius  Syntagma. 

Nach  der  Vermehrung  des  durch  Merkur  erfundenen  Tetrachords 
auf  15  Töne,  erhalten  diese  594  durch  Papst  Gregor  die  7  er- 
sten alphabetischen  Buchstaben    zu  Namen.     Durch  Guido,  der  die 

15  Töne  um  5  vermehrte  (F;  ^  cde)^  vraxAe  Aas  semitonium ßctum  ein- 
geführt und  von  dem  b  rotundum  das  b  quadratum  unterschieden.  Da 
nun  das  b  molle  oder  rotundum  keine  reine  Quinte  unter  sich  hatte, 
wurde  das  tiefere  e  txjl  es  erniedrigt  u.  s.  fort.  Aus  demselben  Grunde 
verlangte  das  b  durum  oder  quadratum  ein  ^  u.  s.  w.  Jede  Clavis 
hat  nun  3  Benennungen,  z.  B.  ces  c  cisA  Außerdem  giebt  es  Be- 
zeichnungen mit  Doppelkreuzen  z.  B.  cisis  oder  eis  durum;  da  diese 
Supersemitonia  im  Klaviere  fehlen,  so  nimmt  man  die  folgende 
Clavis  z.  B.  statt  ^*  durum  das  g  u.  s.  w.  Daß  diese  »halben  Halb- 
tone« im  Klaviere  fehlen  und  »an  deren  statt  ein  anderer  (tempe- 
rirter)  Clavis  gebrauchet«  werde,  ist  auch  im  folgenden  Kap.  4  §  4 
betont. 

Während  das  Doppelkreuz  |;^  oder  x  enharmonisch  und  das 
Intervall  ^5  ^Ä  durum  eine  Diesis  genannt  wird,  heißen  die  Töne  mit 
einfacher  fictiler  Überzeichnung,  oder  mit  j?  und  ^,  chromatisch  und 
mit  diatonischer  Vorzeichnnng  5  oder  ohne  jede  Vorzeichnung  dia- 
tonisch. Nach  Janowka,  resp.  dessen  Quellen  Schott  und  Kircher 
werden  die  heute  gebrauchten  drei  vermischten  genera  modulandi 
in  Kap.  4  dargestellt,  von  denen  weiter  vorn  die  Rede  war.  Wich- 
tig und  zum  großen  Theil  Original  sind  Walthers  Ausführungen  über 

i  Casp.  Lange  in  seiner  Methodus,  Hildesheim  1688  vill  in  cap.  3,  daß  man 
statt  ce9,  des,  es  u.  s.  w.  cel,  del,  el,  sage,  um  den  Mollcharakter  dieser  Töne  mehr 
hervortreten  zu  lassen.  Ahle  schlägt  in  cap.  5  Anmerk.  zur  Singk.  für  h  und  h 
die  Bezeichnung  hes  und  bis  vor. 

1891.  ^^ 


520  Hermann  Gehrmann, 


den  Gebrauch  des  i;  und  [?  in  Kap.  5.  Nach  Ahle  und  Janowka 
stellt  Walther  zunächst  fest,  daß  in  der  älteren  Musik  i  ^^^  ^^  ^ 
und  b  nur  für  b  gebraucht  wurde.  Später  aber  seien  beide  Zeichen 
auch  anderen  Claves  vorgesetzt.  Jetzt,  fährt  Walther  selbständig  fort, 
streite  man  sich  darüber,  ob  ^  gleiche  Eigenschaften  bei  den  mit  jt 
versehenen  Claves  habe,  wie  bei  den  mit  i?  versehenen,  daß  es  näm- 
lich nur  erhöhe.  Diese  Streitfrage  löst  er  im  heutigen  Sinne  dahin, 
daß  das  '^,  wenn  ein  oder  viele  ^  in  einem  Gesänge  vorgezeichnet 
sind,  erniedrigt,  dagegen  wenn  b  rotunda  vorgezeichnet  sind,  diese 
damit  versehenen  Töne  erhöht.  Will  man  z.  B.  ais  oder  as  in  den 
diatonischen  Ton  a  verwandeln,  so  geschieht  dies  durch  Vorsetzung 
von  h.  Bei  Walther  hebt  ein  chromatisches  Zeichen  das  andere 
chromatische  signum  nicht  nur  auf,  sondern  verwandelt  die  Clavis 
wieder  in  einen  chromatischen  Ton;  setzt  man  z.  B.  vor  ais  ein  6, 
so  wird  nicht  a ,  sondern  as  daraus.  ^  Die  falsche  Meinung  Vieler, 
daß  ^  immer  erhöhe,  erklärt  er  daraus,  daß  zur  Zeit  der  Alten,  wo 
nur  mit  b  transponirt  wurde,  ij  immer  erhöhte.^ 

Walthers  Verdienst  ist  es ,  hier  zum  ersten  Male  Klarheit  ge- 
schaffen zu  haben.  Durch  scharfe  Sonderung  der  älteren  Auffassung 
von  der  neueren  fand  er,  daß  das  Wesen  des  b  quadratum  rein  dia- 
tonischer Natur  ist,  während  das,  angeblich  von  Guido  eingeführte, 
b  rotundum  ein  chromatisches  Zeichen  sei.  In  Bezug  auf  das  alte 
Mollsystem  jedoch  ist  das  letztere  als  ein  diatonisches  Zeichen  zu 
betrachten.  Denn  die  durch  das  b  rotumdum  selbst  bezeichnete  clavis 
b  blieb  insofern  ein  diatonischer  Ton,  als  er  nur  ein  transponirtes, 
diatonisches  /  ist.  Andererseits  blieb  den  Alten  das  Bewußtsein  seiner 
fictilen  Natur  erhalten,  wie  durch  die  schon  lange  übliche  Erniedrigung 
der  Claves  e  zu  es,  a  zu  as  u.  s.  w.  bestätigt  wird.  Bedenkt  man 
diese  doppelte  Bedeutung  des  b  rotundum,  so  wird  auch  der  Schluß- 
satz Walthers  klar,  wenn  er  das  b  rotundum  für  den  größeren  Scher- 
wenzel hält,  als  das  b  quadratum,  weil  dieses  stets  einen  diatonischen, 
jenes  aber  bald  einen  diatonischen ,  bald  einen  chromatischen  Ton 
bezeichne.  Diese  diatonische  Natur  des  b  quadratum  finden  wir 
unter  den  Waltherschen  Quellen  nur  bei  Calvisius  bestätigt,  wenn 
er  ausdrücklich  Melop,  cap,  VI,  erklärt,  daß  S)  nicht  nur  erhöhe, 
sondern  auch  erniedrige.  Walthers  Ansichten  über  diese  signa  finden 
wir  auch  in  der  1.  Abhandlung  Kap.  8  §  10,  11  und  12  wieder. 
Dort  weist  er  darauf  hin,   daß  ein  diatonisches  Zeichen  einen   Ton 


^  Bei  Casp.  Lange  in  der  Methodus  wird  jedoch  ||  durch  t^  und  umgekehrt  7 
durch  |t  aufgehoben. 

^  Diesen  Glauben  theUen  Ahle  in  den  Anmerk.  zu  cap,  8,  Werckmeister  jHar* 
manologia  §  26  und  Lange  Methodus  cap.  3. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker. 


521 


diatonisch,  ein  chromatisches  chromatisch  und  ein  enharmonisches 
Zeichen  eine  c/at^ts  enharmonisch  mache. 

Nur  zwei  Kapitel  fehlen  noch  unserer  Darstellung  des  ersten 
Theils.  Beide  gehören  der  ersten  Abhandlung  an:  cap.  6,  welches 
von  Punkten,  und  cap,  8,  das  von  » denen  übrigen  Characteribtcs  han- 
delt. Fünf  verschiedene  Arten  von  Punkten  zählt  Walther  auf:  1) 
den.Punctus  augmentationis,  2)  P.  divisiohis^  3)  P.  syncopattcSy  4)  P. 
percutiefis  und  5)  P.  serpens.  Auf  die  bekannte  Bedeutung  der  bei- 
den ersteren  gehen  wir  nicht  näher  ein.  Von  den  drei  anderen  ist 
der  PuncttLS  percuUens  der  wichtigste.  Er  zeigt  an,  daß  die  Noten, 
über  denen  er  steht,  gestoßen  werden  sollen. 

Subtilere  Unterscheidungen  des  P.  augmentationis  erblicken  wir 
in  dem  P.  syncopatus  und  serpem.  Der  Erstere  macht  eine  Note 
synkopirt,  doch  muß  der  Punkt  gegen  die  andere  Stimme,  über 
welcher  er  steht,  konsoniren.  Eine  neue  Erscheinung  tritt  uns  in  dem 
P.  serpens  entgegen.  Er  verlangt,  daß  die  auf  folgende  Art  gesetzten 
Noten  sollen  »geschleifet«  werden: 


In  cap.  8  werden  zunächst  die  fünf  Linien  als  das  Systema  mu- 
stcum  vorgestellt.  Aus  Janowka's  Clavis,  Snegassius'  Isagoge^  Walli- 
sers Musica  figuralis  und  Printz*  Satyr.  Comp,  stammt  die  Beschrei- 
bung anderer  Characteres,  Alle  Arten  von  Wiederholungszeichen 
werden  aufgezählt  :||:,  |:  :|,  —, — i-,  ferner  die  Signa  Fugarum:  §.  .S., 
darch  welche  der  Eintritt  einer  anderen  Stimme  angegeben  wird.  Es 
folgt  die  Beschreibung  des  Custos  w,  ^,  ^,  der  am  Ende  einer  Zeile 
steht.  Kommen  diese  Zeichen  mitten  in  der  Zeile  vor,  so  bedeuten 
sie  einen  Schleifer,  z.B.: 


^ 


f^ 


± 


^^ 


5=5: 


-1 »♦v 


B 


■  AY... 


-^ • 7^ 


-i^— F 


Resolutio. 


Der  Circuitus  hat  folgendes  Zeichen:   (*  oder  (. 

Resolutio, 


-rr^^^ 


.OL 


^ 


35» 


r  _t___f> 


522 


Heimann  Gehimann, 


Es  folgen  noch  Beschreibungen  des   Ccule,  . ,     ^F^  Besolutio : 


^ 


m 


der  Triller,    des  Mordent  ^,    des    Accenttis   simplex 


ascendens  und  descendens  {"  und  '^]  und  Aceentus  duplex  ^  z.  B.: 

li  II 


¥ 


EO 


:5 


£ 


Reaolutio, 


fUT^-^^^mB 


:^f=tJ 


t 


Besonders  diese  Accente  geben  einem  Stücke  eine  große  Zierde, 
aber  ihre  geschickte  Ausführung  erfordert  ein  Jahre  langes  Studium 
nach  Kuhnaus  Musikal.  Quacksalber  S.  251,  femer  werden  beide 
Zeichen  für  Arpeggio  mitgetheilt : 


^ 


I. 


JRetolutio. 


und  das  diatonische,  enharmonische  und  die  chromatischen  Signa  auf- 
gezählt. 

Nehmen  hier  die  Zeichen,  welche  für  die  Instrumentalmusik  in 
Frage  kommen,  bereits  einen  großen  Raum  ein,  so  überwiegt  in  dem 
nun  folgenden  alphabetischen  Yerzeichniß  technischer  Ausdrücke  die 
Darstellung  der  instrumentalen,  sowie  die  der  einer  neueren  Epoche 
angehörigen  Termini  bei  weitem  jene  der  älteren  und  der  rein  vo- 
kalen Musik  angehörigen  Begriffe.  Dieses  Yerzeichniß  reicht  von 
Folio  3 1  ^ — 5 1  und  enthält  außer  den  Termini  in  lateinischer  Sprache 
hauptsächlich  neuere  Bezeichnungen  in  italienischer  und  französischer 
Sprache.  Die  Hauptquellen  sind  hier  Praetorius'  Syntagma  und 
Janowka's  Clavis.  Aus  dem  ersteren  Werk  schöpft  Walther  seine 
umfassende  Beschreibung  der  wichtigsten  Instrumente  und  der  in- 
strumentalen Formen.  Diese  Ausführungen  werden  ergänzt  durch 
Zusätze  aus  dem  Register  musikalischer  Termini,  welches  sich  in 
Sperlings  Principia  Musicae  und  in  Niedts  Handleitung  2.  Theü 
findet. 

Nach  Janowka's  Clavis  sind  hauptsächlich  die  bereits  der  frühe- 
ren Lehre  angehörigen  Formbegriffe  und  allgemeinere  fiir  jede 
Art  von  Musik   gültige  Ausdrücke  dargestellt.      Doch    schöpft  hier 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  523 

*  ■■■-=■-  .    ■        ■  .  -  ■         ■■        ■         ..,—       -■  ■      .       ^ 

Walther  häufig  auch  aus  dem  Yerzeichniß,  welches  in  Kap.  12  von 
Ahle's  Anmerk.  z.  Singk.  sich  findet.  Auch  Bononcini  und  Lippius 
werden  herangezogen;  häufig  aber  erweitert  Walther  selbst  den  ent- 
lehnten Text.  Gerade  dieses  Verzeichniß  wurde  für  Walthers  Lexikon 
eine  wichtige  Vorarbeit.  Aus  diesem  Grunde  werden  wir  auf  das- 
selbe später  noch  näher  eingehen. 


4. 

Die  Elementarlehre  Walthers,  soweit  sie  in  der 
allgemeinen  Abhandlung  des  2.  Theils  enthalten  ist. 

(Kap.   1—13). 

Während  der  1.  Theil  von  Walthers  Lehre  rein  elementarer 
Natur  war,  wird  im  2.  Theile  eine  eigentliche  Kompositionslehre 
gegeben.  In  ihm  finden  auch  jene  Elemente  eine  Beschreibung, 
welche  im  1.  Theile  nicht  berücksichtigt  waren,  nämlich  die  Liter«« 
▼aUe  und  die  Modi.  Daß  diese  erst  hier  zur  Besprechung  kommen, 
mag  folgenden  Grund  haben. 

In  dem  1.  Theile  werden  nur  einfache,  ursprüngliche  Elemente 
dargestellt.  Die  Intervalle  nun  sind  keine  einfachen  Elemente,  son- 
dern nehmen,  da  sie  aus  zwei  einfachen  Elementen,  Tönen,  immer 
bestehen  müssen,  eine  höhere  Stufe,  als  jene  Noten  oder  Clave» 
ein.  Aus  diesem  Grunde  finden  sie  in  dem  1.  Theile  keinen  Platz, 
sondern  erst  bei  der  Melopöie,  als  deren  unmittelbare  Elemente  sie 
zu  betrachten  sind.  Mit  demselben  Rechte  werden  auch  die  Modi 
eist  im  2.  Theile  erwähnt;  auch  diese  haben  im  gewissen  Sinne  der 
Komposition  gegenüber  einen  elementaren  Charakter,  doch  ist  der- 
selbe geringer,  als  bei  den  Intervallen,  aus  welchen  die  Modi  gebil- 
det sind.  Wegen  ihrer  speciellen  Bedeutung  für  den  strengen  Stil 
leiten  sie  bei  Walther  zur  Darstellung  der  strengen  Formen  über. 

Im  Verhältniß  zu  dem  kleineren  1.  Theil  weist  der  umfang- 
reichere 2.  Theil  noch  folgenden  Unterschied  auf.  Jener  hat  in- 
sofern einen  allgemeinen  Charakter,  als  alle  denkbaren  Termini, 
welche  für  alle  musikalischen  Zweige,  nicht  nur  für  eine  Komposi- 
tionslehre in  Frage  kommen,  aufgezählt  wurden.  Nicht  so  allge- 
meinen Charakters  ist  der  2.  Theil,  in  welchem  die  eigentliche  Me- 
lopöie enthalten  ist.  Wurden  im  1.  Theil,  die  Instrumente  und 
die  durch  sie  hervorgerufenen  freieren  Formen  kurz  erklärt,  so  hat 
Walther  mit  pädagogischem  Scharfblick  hier  den  Generalbaß,  sowie 
eine  freiere  Formenlehre,  worin,  wie  bei  Niedt,  gezeigt  wird,  wie 
man  Tänze,   Variationen,    Fantasien    etc.   komponiren  muB,   fortge- 


524  Hermann  Gehrmann, 


lassen  und  nur  auf  die  strenge  Komposition  sein  Augenmerk  ge- 
richtet. Daß  die  äußere  Anordnung  des  2.  Theils  von  Crügers 
Synopsis  entlehnt  ist,  wurde  schon  früher  gezeigt.  Der  Musicae 
poeticae  pars  generalis  ^  Folio  67  — 113,  beginnt  mit  jener  wissen- 
schaftlichen Einleitung,  in  welcher  die  Rationen  angezahlt  werden. 
Es  folgen  in  14  Kapiteln  die  Monas  y  Dyas,  Trias  musica,  sowie 
der  einfache  Satz.  Kap.  1  handelt  in  allgemeiner  Weise  über  die 
Intervalle,  die  wichtigste  Quelle  für  dieses,  wie  auch  für  die  folgen- 
den Kapitel  sind  die  Plejaden  des  Baryphonus.  Durch  Intensio  oder 
Remissio  eines  Tons  entstehen  Intervalle  oder  Stimmweiten  [PL  I 
qttaest.  2) ;  Wurzel  der  Intervalle  ist  der  Unisontis  (Snegass.  Isag,  L  II 
c.  2]y  der  im  Gegensatz  zu  den  Intervallen  immer  im  gleichen  Tone 
bleibt  und  in  proportione  aeqtialitatis  steht  (Werckmeister  Mus.  Tem- 
peratur Kap.  8].^  Es  werden  dann  die  einfachen  Intervalle  aufge- 
zählt :  Semitonium  minus  und  maius,  Secunda  minor  und  maior  (großer 
und  kleiner  Ton),  Tertia  minor  und  maior ,  Quarta,  Quarta  deficiens 
und  abundans,  Quinta,  Quinta  deßdens  und  abundans,  Sexta  mitior  und 
maior,  Septima  minor  und  maior,  Octava.  Die  zusammengesetzten  In- 
tervalle werden  ebenso  behandelt,  wie  die  einfachen,  ausgenommen 
die  None.  Diese  Aufzählung  lehnt  sich  ganz  an  Janowka  an.  Daß 
die  Intervalle  in  der  natürlichen  Ordnung  aufeinander  folgen,  beweist 
von  neuem,  daß  wir  es  mit  einem  Unterrichtswerke  zu  thun  haben. 
Denn  in  solchen  Werken  werden  die  Intervalle  immer  nach  diesem 
Princip  aufgezählt,  so  bei  Snegassius,  Calvisius  und  Crüger.  Im 
Gegensatz  zu  diesen  stehen  Zarlino ,  Baryphonus ,  Lippius  und 
Werckmeister,  welche  in  ihren  gelehrten  Werken  die  Intervalle  nach 
der  Ordnung  der  Rationen  auf  einander  folgen  lassen,  wo  also  die 
Aufzählung  mit  der  Oktave  beginnt  und  mit  der  Septime  aufhört 
Außerdem  sind  hier  in  Kap.  1  nur  die  in  der  Praxis  ausführbaren 
Intervalle  aui^ezählt,  die  kleineren  nur  für  die  Berechnung  wichtigen 
Intervalle  werden  später  erwähnt.  Anfechtbar  ist  die  gesonderte 
Aufzählung  von  Semit  minor  und  maior  und  Secunda  minor  imd 
maior.  Denn  sie  giebt  zu  der  falschen  Vorstellung  Veranlassung, 
daß  Secunda  maior  und  minor  dem  großen  und  kleinen  Ton  allein 
entsprechen.  Das  ist  aber  nicht  der  Fall.  Denn  in  einer  Tabelle, 
wo  alle  diese  Intervalle  in  Noten  dargestellt  sind,  bezeichnet  Wal- 
ther richtig  nach  Crügers  Synopsis  cap.  6  den  großen  und  kleinen 
Halbton  als  Secunda  minor  und  den  großen  und  kleinen  Ganzton  als 
Secunda  maior. 


1  Werckmeister  unterscheidet  von   Unisonug  den  Aequisonus  {Temp,  eap.  6). 
Snegassius  rechnet  UnisontM  mit  su  den  Intervallen,  was  Walther  nicht  thut. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  525 

In  den  folgenden  Kapiteln  wird  nun  das  Wesen  dieser  Intei- 
valle  in  der  Weise  durchgesprochen,  daß  bei  jedem  Intervalle  der 
Name,  die  Anzahl  ihrer  durch  die  Lage  des  H^btons  yerschiedenen 
Species,  ihre  Bezeichnung  mit  Silben  und  Buchstaben,  die  Propor- 
tion, sowie  eine  Anzahl  Transpositionen  angegeben  werden.  Fast 
ausschließlich  wird  hier  aus  der  4.  und  5.  Plejade  des  Baryphonus 
geschöpft  und  das  vorgefundene  Material  nur  wenig  durch  Zusätze 
aus  Snegassius,  Kircher,  Werckmeister  und  Printz  erweitert.  Selb- 
ständig ist  von  Walther  die  Darstellung  der  mit  Kreuz-  und  J-Vor- 
zeichnui^  versehenen  Transpositionen  eines  jeden  Intervalls  hinzu- 
gefügt. Aber  auch  im  einzelnen  sind  hie  und  da  originale  Zusätze 
zu  dem  alten  bekannten  Stoffe  gegeben.  Bei  den  Halbtönen  wird 
auf  die  äußere  Stellung  derselben  hingewiesen.  Haben  die  2 
Töne  ungleichen  Grad  und  Namen,  z.  B.  c  des^  so  ist  der  Halbton 
groB,  stehen  die  beiden  Töne  aber  in  einer  Linie  oder  in  einem 
Zwischenraum  des  Systems  zusammen,  und  haben  sie  also  gleichen 
Grad  und  Namen,  z.  B.  c  eis,  so  bilden  sie  das  Intervall  des  kleinen 
Halbtons. 

Auch  bei  den  Terzen  giebt  er  als  äußeres  Erkennungszeichen 
den  Sprung  »von  einer  Linie  oder  Spatio  in  die  andere  nechst  drüber 
oder  drunter  folgende«  an.  Die  Quinta  imperfecta  erkennt  er  dadurch, 
daß  im  System  an  unterer  Stelle  das  ^  oder  an  oberer  das  j?  gesetzt 
ist.  Die  ganze  Beschreibung  der  einfachen  Intervalle  schließt  mit 
einer  Tabelle  ab,  auf  welcher  sie  übersichtlich  in  Noten  dargestellt 
sind.  Walther  weist  hierbei  darauf  hin,  daß  mancher  Ton  zweierlei 
bedeuten  kann;  z.  B.  ist  die  Clams  fis  zu  c  eine  Quarta  superfltia, 
als  auch  in  ges  verwandelt  eine  Quinta  diminuta.  Im  Anschluß  an 
diese  Intervalle  werden  noch  die  der  älteren  Theorie  angehörigen 
Begriffe,  wie  Comma,  Diesis,  Apotome,  Limmaj  Schisma  und  Dia- 
schisma auseinandergesetzt.  Namentlich  über  die  Diesis  schafft  Wal- 
ther Klarheit.  Er  stellt  nach  Kircher  die  Ansichten  der  Griechen 
(besonders  der  Pythagoriker)  den  Ansichten  der  Neueren  (Snegassius 
und  Printz)  gegenüber  und  kommt  zu  dem  Resultat,  daß  Diesis  heut- 
zutage chromatisch  und  enharmonisch  genannt  werden  kann.  Die 
chromatische  Diesis^  der  Nachkomme  der  pythagorischen  Bezeich- 
nung des  kleinen  Halbtons  durch  Diesis  oder  Xtmma,  ^vird  durch 
das  b  cancellatum  ausgedrückt,  die  enharmonische  Diesis,  welche  wie 
das  Diaschisma  die  Hälfte  des  kleinen  Halbtons  angiebt  und  die 
Diesis  in  strictiore  signißcatu  ist,  wird  durch  ein  Kreuz  oder  durch 
das  verdoppelte  b  cancellatum  bezeichnet. 

Es  folgt  eine  nach  Snegassius  gebildete  Eintheilung  in  gebrauch- 


526  Hennann  Oehrmann, 


liehe  und  ungebräuchliche  Intervalle.  *)  Gebräuchlich  sind  Semit  min, 
und  mai,,  Secunda  min,  und  mai, ,  Tertia  min,  und  ma«.,  Qtiarta^ 
Quarta  deficiens^  Quinta,  Quinta  diminuta  (nur  descendendo  in  Gebrauch] 
Sezta  min,  und  mat.,  Septima  diminuta  (nur  descendendo  in  Gebrauch) 
und  Octava.  Die  ungebräuchlichen  IntervaUe  sind:  Secunda  superftua, 
Quarta  abu7idans,  Quinta  abimdans,  Sexta  auperfluxi,  Septima  minor  und 
maior.  Zum  ersten  Male  begegnet  uns  hier  die  Secufida  superflua. 
doch  sind  die  dazu  gegebenen  Beispiele  falsch;  denn  sie  bezeichnen 
Terzen:  eis  es,  fis  as  u.  s.  f.;  es  müßte  heißen  c  dis  u.  s.  f.  Die 
schon  vorhin  erwähnte  Sexta  superfiua  erscheint  zum  ersten  Male  in 
Bernhards  Tractatus  Compositionis  augmentatus.  Mit  dieser  erschö- 
pfenden Darstellung  der  Intervalle,  welche  cap.  1 — 10  umfaßt,  schheBt 
Walther  die  monadische  Musiklehre  ab  und  kommt  nun,  von  cap,  11 
an,  zur  Beschreibung  der  harmonischen  Musik.  In  der  Dyaa  musica 
handelt  er  von  den  Intervallen  als  harmonischen  Zusammenklängen, 
also  von  den  Kon-  und  Dissonanzen.  Die  Konsonanzen  werden  aber  nicht 
nur  ratione ordinis  naturalis^  sondern  ZMchratioyie perfectionis  da^estellt : 
Octava,  Quinta,  Quarta  (Walthersetzt  hxnzafundata),  Tertia  matbrund 
minor,Sexta  major  und  minor.  Die  Erklärung,  inwiefern  Bieperfeciae  oder 
imperfectae  sind,  ist  schon  früher  gegeben.  Hier  schöpft  Walther  nicht 
nur  direkt  aus  der  ^.P/^'arfe  des  Barj'phonus,  sondern  auch  aus  Lippius* 
Synopsis,  von  der  er  die  Beschreibung  der  harmonischen  Zahlen  und 
der  Affekte  der  Konsonanzen  wörtlich  entlehnt.  Wurden  die  7  Kon- 
sonanzen getreu  nach  Baryphonus  aufgezählt,  so  weicht  Walther  bei 
der  Darstellung  der  Dissonanzen  in  cap,  12  beträchtlich  von  diesem 
ab.  Auch  Walther  behandelt  wie  Baryphonus  erst  die  Dissonanzen 
per  se  und  dann  diejenigen  per  accidens.  Während  aber  Baryphonus 
die  Dissonanzen  per  accidens  in  abundantes  und  deficientes,  ja  selbst 
diese  noch  in  verschiedene  Arten  aufs  genaueste  eintheilt,  giebt 
Walther  hier  kurz  nur  die  wichtigsten  Dissonanzen  an  und  verzichtet 
auf  jene  gelehrten,  allzu  subtilen  Unterscheidungen. 

Auch  von  den  Dissonanzen  per  se  fuhrt  Walther  nur  3  Arten 
im  Gegensatz  zu  den  7  Arten  des  Baryphonus  auf.  Als  Dissonanzen 
per  se  bezeichnet  Walther :  Secunda,  Quarta  non  fundata  und  Septima, 
als  Dissonanzen  per  accidens:  Quarta  diminuta,  superfiua,  QuifUa 
diminuta,  superfiua  und  Octava  superfiua.  Für  dieses  12.  Kapitel 
ist  Calvisius  die  Hauptquelle,  der  die  Eintheilung  der  Dissonanzen 
in  solche  per  se  und  per  accidens  direkt  aus  Zarlinos  Institutionen 

^  Bei  Snegassius  waren  gebräuchlich:  Unisouus,  Semitonium,  Totius;  Semiditonxu, 
Ditomu,  Diatessaron,  Diapetite,  Semitonium  cum  Diapente,  Tonus  cum  Diapente,  Dia- 
pason; nicht  gebräuchlich  :  Tritonus,  Sefnidiapente,  Semidiapason,  Ditonus  cum  Dia- 
pente, SemiditontM  cum  Diapente, 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  527 


heiübergenommen  hatte.  Auch  die  Ausdrücke  diminutua  und  super- 
flum  hat  Walther  von  Calvisius  entlehnt.  Baryphonus  wendet  diese 
nicht  an,  sondern  dafür  abundam  und  deficiens. 

Trotzdem  ist  dieses  Kapitel  mit  einer  gewissen  Nachlässigkeit 
niedergeschrieben.  Mit  demselben  Rechte,  wie  die  besonderen  Arten 
der  Quarte,  die  Quarta  non  fundata^  diminuta  und  mperflua  an- 
gegebenj  werden,  konnten  auch  die  Unterscheidungen  der  Sekund- 
und  Septimenarten  angeführt  werden,  wie  es  Calvisius  thut;  die 
Octava  diminuta  ist  vergessen  worden;  desgleichen  fehlt  unter  den 
Dissonanzen  per  accidens  die  None,  von  welcher  Walther  an  anderer 
Stelle  ausdrücklich  sagt,  daB  sie  »mit  der  Sekunde  nicht  einerley  sey.« 

Im  folgenden  Kapitel  13  handelt  Walther  in  derselben  Weise, 
wie  Crüger  und  Lippius  von  der  Trias  harmonica,  welche  simplex 
oder  composita  sein  kann.  Es  wird  auch  wie  dort  darauf  hingewiesen, 
dafi  die  verschiedene  Stellung  der  Terzen  für  den  Dur-  oder  Moll- 
charakter der  Trias  imd  weiter  für  den  eines  Cantus  maßgebend  sei. 
AuSer  Dreiklängen  sind  Sextakkorde  unbedingt  statthaft,  ein  Quart- 
sextakkord wird  aber  nur  dann  erlaubt,  wenn  die  synkopierte  Quart 
sich  in  eine  Terz  auflöst.  Wird  ein  Ton  einer  Trias  verdoppelt, 
wodurch  eine  Trias  composita  entsteht,  so  geschieht  das  am  besten 
mit  der  Funtamentalclavis  oder  mit  der  Quinte;  die  Terz  soll  da- 
gegen gamicht,  oder  nur  aus  Noth  verdoppelt  werden.  Aus  der  Folge  der 
harmonischen  Zahlen  erhellt  auch  der  natürliche  Sitz  der  Konsonanzen, 
worauf  schon  früher  hingewiesen  wurde.  Wörtlich  nach  Ahles  Früh- 
lingsgespräch sind  die  Auseinandersetzungen  über  die  Syzygia  (Akkord). 
Hier  wird  der  Hauptunterschied  nach  enger  und  weiter  Lage  ge- 
macht. Alle  diese  letzten  Ausführungen  findet  man  auch  in  der 
6,  Pleiade  des  Baryphonus  (Quelle  von  Ahle),  oder  Satyr.  Comp, 
von  Printz  und  Hodegus  von  Werckmeister. 


5.  ^ 

Die  ersten  Anfänge  des  eigentlichen  Kompositions- 
unterrichts. 

* 

Einfache  Akkordverbindungen,     [cap.  14.) 

Mit  cap.  14  beginnt  der  erste  eigentliche  Unterricht  in  der  Kom- 
position. Zunächst  scheidet  Walther  selbständig  die  Principal-  von 
den  Komplementstimmen.  Die  Ersteren  müssen  immer  rein  gesetzt 
sein  und  können  sowohl  Vokal-  wie  Instrumentalstimmen  sein.  Sind 
beide  Arten  zugleich  zu  setzen,  so  haben  stets  die  Vokalstimmen  das 


528 


Hermann  Oehrmann, 


Principat  und  sind  zuerst  zu  komponireu;  die  Instrumentalstimmen 
aber  werden  nur  dann,  wenn  die  Yokalstimmen  pausiren,  zu  Prin- 
cipalstimmen.  Nach  diesen  Ausführungen ,  durch  welche  von  neuem 
die  Rücksichtnahme  auf  die  Instrumentalmusik  erhellt,  kommt  Walthei 
auf  die  4  Hauptstimmen  Cantus,  Alt,  Tenor  und  Baß  zu  sprechen; 
dem  schon  früher  erwähnten  Lippius'schen  Vergleich  mit  den  4  Ele- 
menten folgt  die  Erklärung  der  4  Namen  durch  4  Hexameter,  welche 
sich  bei  Snegassius  finden.^  Völlig  auf  Lippius-Crügerschem  Boden 
steht  Walther,  wenn  er  es  für  die  » kompendiöseste  Art  zu  kompo- 
nireu« hält,  über  den  Baß  als  das  Fundament  die  andern  Stimmen 
aufzubauen.  Ausdrücklich  weist  er  in  §  11  dieses  Kapitels  darauf 
hin,  daß  wir  »den  Anfang  zu  komponiren  mit  4  Stimmen  (als  woran 
gar  viel  gelegen)  machen  wollen.« 

Statt  vieler  Regeln  giebt  Walther  2  Tafeln,  in  welchen  die  ein- 
fachsten Akkordverbindungen  dargestellt  werden.  Diese  Tafeln  sind 
aus  Herbst'  Mmica  poetica  cap,  5  entlehnt. 


Tabula  Naturalis. 


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Ascendendo. 


Descendendo. 


In  jeder  T^i^el  werden  8  Akkordverbindungen  gegeben,  und  zwar 
vier,  in  denen  der  Baß  in  die  Sekunde,  Terz,  Quarte  und  Quinte 
aufsteigt,  und  vier,  in  denen  der  Baß  in  diesen  Intervallen  herab- 
steigt. Alle  Akkorde  bilden  Dreiklänge.  Beide  Tafeln  unterscheiden 
sich  aber  dadurch,  daß  in  der  ersteren  die  3  Oberstimmen  wie  bei 
dem  Generalbaß  in  enger  Lage  sich  befinden,  wodurch  die  Stimmen 
insofern  natürlich  fortschreiten,  als  sie  entweder  liegen  bleiben  oder 


^  Snegassius,  Tractatultts  de  quihusdam  circa  compositas  cantilenas  scitu  net€%- 
sariis  cap.  II:  Discantus  dicor:  pueros  me  discere  fas  est]  Altus  ego :  reliquis  quod 
me  juvat  altitis  ire.  Dum  teneo  mediam  vocefn,  Tenor  est  mihi  namen.  Appelhr 
Bassus,  haseos  quia  munere  fungor. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker. 


529 


fast  nur  schrittweise  weitergehen  (diese  Tafel  heißt  daher  auch  Tabula 
naturalis) ;  daß  aber  in  der  2.  Tafel  die  Stimmen  zuweilen  in  weiter  Lage 
sich  finden  und  deshalb  eine  sprungweise,  oft  gezwungene  Fortschrei- 
tung vorherrscht,  die  nicht  so  gut  wie  die  schrittweise  Verbindung 
ist.     Diese  Tafel  heißt  die  Tabula  Necessitatts. 


Tabula  Necessitatts, 


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3: 


32: 


In  Übereinstimmung  mit  Herbst  sagt  Walther  von  ihr,  daß  sie 
inur  dann  ordinarie  zu  gebrauchen  sei,  wenn  eine  oder  die  andere 
von  den  Oberstimmen  zu  viel  auf-  oder  absteige, «  oder,  wie  er  selb- 
ständig noch  hinzusetzt,  wenn  eine  Stimme  an  eine  gewisse  9  Melodie 
oder  Choral  gebunden a  ist.  Von  beiden  Tabellen  ist,  wie  Herbst 
hervorhebt,  die  weitaus  wichtigste  die  Tabula  naturalis ;  sie  ist  gleich- 
sam die  Hauptregel  für  die  einfachen  Dreiklangsverbindungen,  wäh- 
rend die  Tabula  Necessitatts  gewissermaßen  die  Ausnahmen  von  dieser 
Hauptregel  enthält.  Auch  Walther  widmet  ihr  aus  diesem  Grunde 
eine  größere  Berücksichtigung,  als  der  2.  Tafel.  Denn  ausführlicher 
sind  die  Kegeln  dargestellt,  welche  er  aus  der  1.  Tafel  abstrahirt, 
als  jene,  die  er  in  wörtlicher  Übereinstimmung  mit  Herbst  aus  der 
2.  Tafel  schöpft. 

Die  aus  der  1.  Tafel  sich  ergebenden  Kegeln  werden  erst  in 
deutscher  Sprache,  sodann  in  anderer  Weise  in  lateinischer  Sprache 
gegeben.  So  heißt  es  zunächst :  Wenn  der  Baß  steigt  in  die  secundam 
Stiam,  4tam,  und  Ötam^  so  wird  aus  der  8tava  die  öta 

»       »     öta        »     3tia 
n      A     3tia       »     8tava, 
fällt  der  Baß,  so  wird  aus  der  8tava  die  3tta  u.  s.  w. 

Hier  muß  ein  Fehler  Walthers  gerügt  werden ;  die  Regeln  passen 
nicht  für  den  Fall,  daß  der  Baß  in  die  Quinte  steigt  oder  fällt;  denn 
in  diesem  Fall  wird  aus  der  Stava  nicht  die  Öta,  sondern  die  3tia,  aus 


530  Hermann  Qehrmann, 


der  5ta  nicht  die  3tia^  sondern  die  Stava  und  aus  der  Stia  nicht  die 
Stava  sondern  die  5ta,  Die  obige  Regel  muß  daher  folgendermaßen 
lauten:  Wenn  der  Baß  steigt  in  die  Sekunde  Terz,  Quarte  und 
fällt  in  die  Quinte,  so  wird  aus  der  Oktav  die  Quinte  etc.  Ebenso 
muß  es  in  der  Umkehrung  heißen:  Wenn  der  Baß  steigt  in  die 
Quinte,  so  wird  aus  der  Oktav  die  Terz  etc. 

In  dieser  1.  Fassung  der  Regeln  werden  die  Veränderungen  der 
einzelnen  Stimmen  in  ihrem  harmonischen  Verhältniß  zu  einander 
betrachtet.  Bei  der  2.  lateinischen  Fassung  aber  werden  die  Ver- 
änderungen der  einzelnen  Stimmen  hinsichtlich  ihres  melodischen 
Ganges  angegeben.  Um  nur  ein  Beispiel  zu  geben  ^  führen  wir  die 
erste  Regel  an:  Nota  ascendente  in  2dam:  Stava  prioris  in  tertiam: 
tertia  et  quinta  in  secundam  descendunt  d.  h.  wenn  der  Baß  eine 
Sekunde  aufsteigt,  so  macht  diejenige  Stimme,  welche  in  dem  1.  Akkord 
die  Stava  zu  dem  Baßton  bildete,  von  dem  1.  zu  dem  2.  Akkord 
einen  Terzsprung  und  die  Terz  und  Quinte  des  1.  Akkords  je  einen 
Sekundschritt  abwärts  zum  2.  Akkord.  Diese  doppelte  verschiedene 
Fassung  der  Regeln,  welche  hier  zum  ersten  Male  auftritt,  erscheint 
uns  von  großer  Wichtigkeit. 

Harmonie  und  einfacher  Kontrapunkt  werden  hier  gleichsam  ver- 
einigt dargestellt,  indem  schon  bei  diesen  einfachen  harmonischen 
Verbindungen  die  Aufmerksamkeit  des  Schülers  zugleich  auf  die  Be- 
wegungen der  einzelnen  Stimmen  selbst  gerichtet  wird.  Dadurch 
aber  wurde  von  Anfang  an  jede  Einseitigkeit  vermieden,  wie  sie  eine 
ausschließlich  auf  Generalbaß  oder  ausschließlich  auf  Kontrapunkt 
beruhende  Lehre  mit  sich  bringen  mußte.  Gerade  dieser  Umstand, 
daß  Walther  schon  bei  den  einfachen  Akkordverbindungen  das  Augen- 
merk auch  auf  die  Stimmführung  gerichtet  wissen  will,  stempelt  das 
Werk  zu  einer  aus  neuesten  Anschauungen  hervorgegangenen  Lehre, 
die  als  Ideal  eine  völlige  Verquickung  harmonischer  und  kontra- 
punktischer Kunst  anstrebt,  ein  Ideal,  das  in  dem  großen  Bach  ver- 
wirklicht unserm  Walther  nahe  genug  vor  Augen  stand.  Die  zur 
2.  Tafel  gehörenden  Erklärungen  sind  wörtlich  nach  Herbst'  Musica 
poetica  pag.  37  gegeben.  Die  vierstimmigen  Beispiele  in  diesem 
Kapitel  werden  wie  bei  Herbst  auf  4  Systemen  geschrieben;  erst  in 
den  später  folgenden  Kapiteln  tritt  die  niederländische  Manier  auf, 
alle  Stimmen  auf  2  Systemen  zu  schreiben,  und  zwar  den  Baß  auf 
dem  unteren  und  die  drei  anderen  Stimmen  auf  dem  oberen  System. 
Aus  den  Tabellen  schöpft  Walther  die  alte  Regel,  daß  perfekte  Kon- 
sonanzen, Unisoni,  Quinten  und  Oktaven  motu  recto  nicht  folgen 
dürfen.  War  für  die  Tabellen  und  alles,  was  damit  zusammenhängt, 
Herbst  als  Hauptquelle  erkennbar,  so  läßt  sich  für  den  noch  übrigen 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  531 

Theil  der  einfachen  Akkordlehre  eine  bestimmte  Quelle  nicht  nach- 
weisen. 

Wurden  bisher  nur  diatonische  Dreiklänge  verbunden,  so  kommt 
Walther  jetzt  auch  auf  solche  Akkorde  zu  sprechen,  in  denen  die 
Diesis  (jt)  eine  Rolle  spielt.  Die  Diesis  liebt  die  Sexte  über  oder 
unter  sich.  Wörtlich  nach  Praetorius  sagt  Walther,  daß  die  Regula, 
quod  Diesis  sequentem  notulam  ascendentem  requirat,  in  vielstimmigen 
Sachen,  namentlich  in  Instrumentalstimmen  nicht  streng  beobachtet 
werden  kann.  In  einer  Tabelle  werden  für  den  Gebrauch  der  Diesis 
23  verschiedene  Beispiele  dargestellt.  In  einer  Gruppe  von  Beispielen 
Uegt  die  Diesis  im  Baß  und  die  Sext  über  derselben,  dies  sind  in 
der  Regel  Verbindungen  des  Dominantsextakkordes  mit  seinem  Drei* 
klang  z.  B.: 

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a     a 

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In  einer  andern  Gruppe  liegt  die  Sext  unter  der  Diesis  und 
diese  in  einer  der  3  höheren  Stimmen  z.  B.: 

gis  [Diesis)  ä 
e  e 

h  eis 

e  A 

Im  Anschluß  an  den  Gebrauch  der  Diesis  weist  Walther  durch 
ein  der  alten  Lehre  angehörendes  Citat  über  Mi  darauf  hin,  daß  auch 
die  Fundamentaltöne  A  und  E  nicht  nur  Terzen  und  Quinten,  son- 
dern auch,  wie  die  Diesis  Sexten  über  sich  haben  können,  ein  Ge- 
brauch, auf  den  auch  Christ.  Bernhard  in  seinem  Tract.  Comp, 
augment,  cap,  4  aufmerksam  macht. 

In  jener  kurz  erwähnten  Beispielsammlung  für  den  Gebrauch 
der  Diesis  ist  wie  in  den  beiden  Haupttabellen  noch  eine  gleiche 
Bewegung  der  Stimmen  in  ganzen  Noten.  Doch  wird  in  einigen 
Beispielen  bereits  statt  einer  ganzen  Note  eine  halbe  Note  und  eine 
halbe  Pause  gesetzt  und  dadurch  schon  eine  lebhaftere  Bewegung 
der  Stimmen  vorbereitet.  Die  weiteren  Ausführungen  in  diesem 
Kapitel  sind  einem  bewegteren  harmonischen  Satze  gewidmet.  Es 
werden  für  den  Gebrauch  der  Quarte  9  Beispiele  gegeben  und  genau 
durchgesprochen.  Es  folgen  Beispiele  für  den  Tritonus  und  die  Quinta 
falsa^  ferner  31  Beispiele  für  den  Gebrauch  der  Sext  und  17  Bei- 
spiele für  den  der  kleinen  Septime.  In  diesen  vierstimmigen  Bei- 
spielen werden  bald  in  dieser,    bald    in  jener  Stimme   halbe  Noten 


Sext 


532  Hermann  Gehnnann, 


gegen  die  ganzen  Noten  der  3  anderen  Akkordstimmen  gesetzt,  so 
daß  die  regelmäßige  Bewegung  nicht  mehr  in  ganzen,  sondern  in 
halben  Noten  geschieht.  Doch  finden  sich  an  Stelle  einer  ganzen 
Note  auch  punktirte  Halbe  mit  2  folgenden  Achteln,  oder  4  Viertel- 
noten, oder  eine  Halbe  und  4  Achtelnoten. 

Diese  Beweglichkeit  der  Stimmen  ist  nicht  kontrapunktischei 
(motivischer),  sondern  rein  harmonischer  Natur.  Denn  sie  dient  dazu, 
den  starren  fundamentalen  Akkordverbindungen  durch  Verzierungen 
wie  Vorhalte,  Synkopationen,  melodische  Durchgangs-  und  Wechsel- 
noten individuelles  Leben  einzuhauchen.  Wurden  aber  bei  der  frü- 
heren starren  Akkordmasse  nur  Konsonanzen  und  besonders  voll- 
kommene gebraucht,  so  verlangt  die  zunehmende  Beweglichkeit  der 
Stimmen  die  häufigere  Anwendung  von  unvollkommenen  Konsonanzen 
und  von  Dissonanzen.  Eben  deshalb  sind  ja  die  zuletzt  erwähnten 
Beispiele  für  den  Gebrauch  solcher  unvollkommenen  Konsonanzen 
und  Dissonanzen,  für  die  Quarte,  Tritonus,  Quinta  falsa ^  Sext  und 
Septime  gegeben.  Die  hier  gezeigten  Fortschreitungen  wiederholen 
sich  später  in  den  ausführlicheren  Regeln  über  alle  denkbaren  Ver- 
bindungen. Erwähnenswerth  ist  aus  diesem  Abschnitte  Walthers 
Ansicht  über  die  doppelte  Natur  der  Quarte.  Wenn  sie  an  ihrem 
rechten  Orte  (also  im  oberen  Theile  der  Oktave)  steht  und  nicht 
fundamentalis  ist,  so  ist  sie  eine  Konsonanz,  wenn  sie  ganz  allein 
erklingt  oder  im  Fundament  steht,  ist  sie  Dissonanz.  Auch  diese 
Wandlung  ist  bedeutsam.  Zarlino,  Calvisius,  Baryphonus  und  Crüger 
zählen  die  Quarte  mit  zu  den  vollkommenen  Konsonanzen.  Herbst 
in  seiner  Musica  poetica  cap.  4  bringt  zum  ersten  Male  diese  Walthersche 
Scheidung  der  Quarte,  welche  Christ.  Bernhard  und  Werckmeister 
näher  ausfuhren.  Ferner  findet  sich  unter  den  Erklärungen  zar 
Quarte  eine  der  6.  Pleiade  des  Baryphonus  entlehnte  Beschreibung 
des  FaUobordone. 


6. 

Die  Lehre  von  den  Fortschreitungen  der  Kon- und  Disso- 
nanzen (H  2.  Abth.  Kap.    l — 5). 

Schließt  die  allgemeinere  Abhandlung  des  2.  Theils  mit  Bei- 
spielen und  Erklärungen,  welche  nur  der  ersten  Unterweisung  im 
vierstimmigen  Satze  gewidmet  sind,  so  beginnt  nun  die  speciellere 
Abhandlung  mit  einer  Schilderung  aller  Fortschreitungen  der  Inter- 
valle. Diese  Fortschreitungen  zerfallen  in  2  große  Gruppen.  In 
der  ersten  Gruppe  werden   die  Verbindungen  der  Konsonanzen,  in 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  533 

der  2.  Gruppe  die  der  Dissonanzen  beschrieben.  Die  1.  Gruppe 
zerfallt  in  3  Kapitel,  von  denen  das  erste  in  allgemeiner  Weise  über 
den  Gebrauch  der  Konsonanzen  handelt,  die  beiden  nächsten  Kapitel 
aber  die  besonderen  Verbindungen  der  vollkommenen  und  unvoll- 
kommenen Konsonanzen  schildern.  Die  2.  Gruppe  umfaßt  zwar  nur 
ein  Kapitel,  dieses  aber  gliedert  sich  ebenfalls  in  3  Abschnitte. 
Nach  einer  allgemeinen  Vorbemerkung  folgen  2  speciellere  Theile 
über  die  Figuren,  in  welchen  die  Dissonanzen  auftreten.  Diese  An- 
ordnung entspricht  im  allgemeinen  der  von  Printz  im  Satyr.  Kom- 
ponisten befolgten.  Auch  dieser  behandelt  in  2  symmetrischen 
Gruppen  von  je  3  Abschnitten  die  Fortschreitungen  der  Kon-  und 
Dissonanzen.  Beide  Gruppen  werden  bei  Printz  durch  ein  dazwischen 
stehendes  Kapitel  von  der  Relatio  non  harmonica  von  einander  ge- 
trennt. Bei  Walther  wird  diese  Figur  erst  nach  den  beiden  Gruppen 
besprochen. 

Auch  in  Bezug  auf  die  besondere  Anordnung  der  1 .  Gruppe  war 
die  Printzsche  Eintheilung  maßgebend.  Printz  folgt  hier  treu  der 
von  Baryphonus  in  der  6,  Pleiade  gegebenen  Anordnung.  Beide  sind 
auch  die  Hauptquelle  für  Walthers  Darstellung  der  Konsonanzver- 
bindungen. Das  1.  allgemeine  Kapitel  bei  Walther  entspricht  der 
5. — 7.  Sektion  der  6,  Pleiade  bei  Baryphonus  oder  dem  14.  Kapitel 
des  1.  TheiU  des  Satyr.  Komponisten  von  Printz.  Das  2.  Kapitel 
folgt  der  8.  und  9.  Sektion  der  6,  Pleiade  oder  dem  15.  Kapitel  bei 
Printz,  und  das  3.  Kapitel  ist  aus  der  11.— 14.  Sektion  der  6,  Pleiade 
oder  dem  16.  Kapitel  entlehnt.  Weshalb  die  10.  Sektion  der  6.  Pleiade^ 
welche  die  Fortschreitungen  der  Quarte  enthält,  bei  Walther  nicht 
hier,  sondern  an  anderer  Stelle  angeführt  ist,  wird  später  erklärt 
werden.  Die  Anordnung  der  2.  Gruppe  aber  folgt  nur  äußerlich 
der  Printzschen  Eintheilung.  Auch  bei  Printz  werden  erst  Vorbe- 
merkungen gegeben  und  dann  die  Figuren  beschrieben  unter  denen 
die  Dissonanzen  auftreten.  Während  aber  bei  Printz  nur  die  in  der 
älteren  Lehre  gebräuchlichen  Figuren,  Syncopatio  und  Transittis^  be- 
schrieben werden,  zählt  Walther  nicht  nur  diese,  sondern  auch  die 
neueren  Figurae  superficiales  mit  auf.  Dieses  Verfahren  tritt  uns 
zum  ersten  Male  in  Christoph  Bernhardts  »Ausführlicher  Bericht  vom 
Gebrauch  der  Kon-  und  Dissonanzen  a  entgegen.  Diese  Abhandlung, 
sowie  jener  ebenfalls  von  Bernhard  verfaßte  Traktat  über  die  Reso- 
lutionen der  Dissonanzen  ist  für  die  2.  Gruppe  Walthers  die  Haupt- 
quelle. Der  Inhalt  ,des  angehängten  Kapitels  über  die  Relatio  non 
harmonica  stammt  hauptsächlich  aus  dem  Satyr.  Komponisten  von 
Printz. 

In  dem   l.  Kapitel  der   1.  Gruppe  wird  das  Parallel  verbot  aus- 


534  Hennann  Gehrmann, 


fuhrlich  besprochen.  Die  Aufeinanderfolge  perfekter  Konsonanzen 
einer  Art  wird  motu  contrario  in  Yollstimmigen  Sachen  gestattet. 
Große  Freiheiten  hat  der  ühüoniM.  Nach  Printz,  Satyr.  Comp.  /. 
cap,  14  sind  aufeinanderfolgende  Ufitsoni  in  allen  den  Fällen  gestat- 
tet, wo  es  sich  um  Verstärkung  einzelner  Stimmen  durch  unisone 
Begleitungsstimmen  handelt.  Das  Verbot  der  Parallelen  gilt  daher 
besonders  von  Quinte,  Oktave  und  Quarta  fundata.  Verdeckte  Pa- 
rallelen dürfen  nach  Werckmeisters  Hodeg.  cap.  30  und  Hypomnemaia 
cap.  4  in  vier-  oder  mehrstimmigen  Sätzen  in  Mittelstimmen  auftreten. 
In  Mittelpartien  dürfen  auch  vollkommene  und  unvollkommene  Quin- 
ten nach  Werckmeisters  Hodeg,  cap,  37  wegen  ihrer  verschiedenen 
Proportion  aufeinanderfolgen.  Weiter  ist  noch  hervorzuheben,  daß 
auch  die  Quintenfolgen,  welche  durch  Figuren,  wie  Accento,  Tremolo, 
Groppo  ,  Circolo  mezzo ,  Cercare  della  Nota  und  Tirata  mezza  ent- 
stehen, nach  Ahlens  Herbstgespräch  gestattet  sind.  Nachdem  noch 
eine  Anzahl  anderer  Möglichkeiten  angegeben  ist,  unter  denen  Konso- 
nanzparallelen erlaubt  sind,  schließt  das  allgemein  gehaltene  1.  Kapitel« 
Mit  größter  Ausführlichkeit  werden  in  Kap.  2  die  Fortschreitungen 
jeder  vollkommenen  Konsonanz  zu  allen  andern  Konsonanzen  ge- 
zeigt und  erklärt.  Unter  diesen  Fortschreitungen  fehlen  die  der 
Quarte,  auf  welche  Baryphonus  in  der  10.  Sektion  der  6.  Pleiade 
und  ebenso  Printz,  Satyr.  Comp.  /.  cap.  15  zu  sprechen  kommt.  Dar- 
aus aber,  daß  die  Quarte  hier  in  Walthers  Lehre  keine  Stelle  findet, 
ergiebt  sich  von  neuem,  daß  die  früher  dominirende  Auffassung  der 
Quarte  als  Konsonanz  bereits  das  Übergewicht  über  den  Dissonanz- 
charakter derselben  verloren  hat,  und  zwar  mit  vollem  Recht.  Denn 
selbst  bei  Baryphonus  ist  die  Einordnung  der  Quarte  unter  die  Kon- 
sonanzen doch  nur  eine  rein  äußerliche,  die  im  Widerspruch  zu  ihrer 
Behandlung  durch  Baryphonus  steht.  Denn  in  allen  Fällen  tritt  sie 
auch  bei  Baryphonus  als  ein  synkopirtes  Intervall  auf,  das  eine 
Auflösung  in  die  Terz  verlangt.  Sie  wird  also  wie  eine  Dissonanz 
behandelt. 

Die  Fortschreitungen  jeder  einzelnen  Konsonanz  mit  den  6  an- 
deren Konsonanzen  werden  in  je  einer  Regel  dargestellt.  Nur  bei 
der  Quinte  fehlen  die  schon  im  vorigen  Kapitel  besprochenen  Ver- 
bindungen mit  der  Quinte  selbst;  hier,  bei  der  Quinte,  werden  dem- 
nach die  Fortschreitungen  nur  in  5  Regeln  dargestellt.  Jede  Regel 
zerfällt  wieder  in  mehrere  Gruppen;  in  der  1.  Gruppe  werden  die 
Fortschreitungen  motu  recto^  in  einer  2.  Gruppe  diejenigen  motu 
contrario j  und  in  einer  3.  Gruppe,  falls  sich  dafür  Möglichkei- 
ten finden.  Fortschreitungen  motu  ohliquo  aufgezählt.  So  werden, 
um   ein  Beispiel   zu   geben,    bei    der   Oktave,    in    der    1.  Regel  die 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker. 


535 


Foitschieitungen  in  die  Oktave ,  in  der  2.  Segel  die  in  die  Quint, 
in  der  3.  Regel  jene  in  die  große  Terz,  in  der  4.  Regel  die  in  die 
kleine  Teiz,  und  in  der  5.  und  6.  Regel  die  Verbindungen  mit  der 
groBen  und  kleinen  Sext  gegeben.  Alle  3  Gruppen  von  Bewegungen 
finden  sich,  um  das  Beispiel  der  Oktave  beizubehalten,  in  der  4.  Re- 
gel derselben,  also  bei  <len  Fortschreitungen  in  die  kleine  Terz.  Es 
werden  dort  4  Fälle  motu  recto  gegeben :  1)  wenn  die  obere  Stimme 
in  die  Quarte,  die  untere  in  <Ue  Sekunde  aufsteigt,  2)  wenn  die 
obere  in  die'  große  Teiz  und  die  untere  in  die  Quinte  herunter- 
geht 3)  wenn  die  obere  in  die  Quinte  und  die  untere  in  die  große 
Terz  hinau%eht ,  4)  wenn  die  obere  in  die  Sekunde  und  die  un- 
tere in  die  Quarte  absteigt.  In  Beispielen  ausgeführt,  sind  diese 
4  Fälle  bei  Walther  in  folgender  Weise  dargestellt. 


<9 

^     yg>— 

1 *^ 

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O' 

n 

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ö^ 

— 3 — ^~" 

ß/ 

Von  diesen  finden  sich  Fall  1  und  4  bereits  bei  Baryphonus; 
alle  4  Fälle  aber  treffen  wir  bei  Printz  an,  sie  fehlen  sämmüich  bei 
Bernhard. 

Motu  contrario  werden  5  Fälle  aufgezahlt,  von  denen  wieder 
zwei  bei  Baryphonus  sich  finden,  alle  aber  bei  Printz: 

1)  Wenn  die  obere  Stimme  eine  Teiz  herunter  und  die  untere 
in  die  Quart  herauf  springt,  2)  wenn  die  obere  in  die  Quarte  hinab,  die 
untere  in  die  Terz  hinaufspringt,  3)  wenn  die  obere  in  die  Sekunde 
absteigt  und  die  untere  in  die  Quinte  hinaufspringt,  4]  wenn  die 
obere  in  die  Quinte  hinabspringt,  die  untere  aber  gradatim  aufsteigt, 
5)  wenn  beide  Stimmen  von  einander  abweichen,  eine  per  semito- 
mum  maiuSf  die  andere  per  tonum.  In  ähnlicher  Weise  wie  oben 
wird  für  jeden  Fall  ein  Notenbeispiel  gegeben. 

Motu  obliquo  werden  Fälle  aufgeführt,  welche  aus  Chr.  Bern- 
hards Traktat  von  der  Komposition  genommen  sind:  Die  Oktave 
geht  in  die  große  oder  kleine  Teiz,  wenn  eine  Stimme  still  steht, 
und  die  andere  sich  bewegt.  Die  hierzu  gegebenen  Beispiele  sind 
fiedsch,  denn  statt  der  Terzen  finden  sich  hier  lauter  Sexten. 

In  dieser  Weise  werden  alle  Fortschreitungen  aufgezählt.  Von 
der  Oktave  fuhrt  Walther  37  erlaubte  und  3  verbotene  Fälle  an,  von 
der  Quinte  34  erlaubte  und  2   verbotene  Fälle.     In  Kap.  3  werden 


189L 


36 


536  Henuann  Oehrmann, 


die  Fortschreitungen  der  unvollkommenen  Konsonanzen  durchge- 
sprochen. Von  der  Tertia  maior  werden  29  erlaubte  und  2  verbotene 
und  von  der  Tertia  minor  28  erlaubte  und  3  verbotene  Fortschrei- 
tungen mitgetheilt.  Femer  zählt  Walther  von  der  Sexta  maior  19 
erlaubte  und  2  verbotene  und  von  der  Sexta  minor  16  erlaubte  und 
4  verbotene  Fälle  auf. 

In  einer  ebenso  ausführlichen  Darstellung  folgen  in  Kap.  4 
die  Dissonanzen.  Nach  den  Vorbemerkungen  werden  im  1.  Theile 
die  Fundamentalfiguren,  in  denen  die  Dissonanzen  auftreten,  dar- 
gestellt^ in  dem  2.  Theile  die  Figurae  euperficiales.  Diese  Zwei- 
theilung entspringt  einer  Unterscheidung  älterer  und  neuerer  An- 
schauung. In  der  älteren  Lehre  traten  die  Dissonanzen  nur  in 
den  beiden  Figuren  der  Syncopatio  und  der  Celeritae  (auch  Com- 
missura  oder  Transiitis  genannt)  auf;  diese  werden  daher  auch  zu- 
erst und  am  ausführlichsten  dargestellt,  sie  gehören  überwiegend 
dem  strengen  vokalen  Satze  an.  Ihnen  folgt  die  Beschreibung  der 
superficialen  Figuren,  welche  erst  in  neuerer  Zeit  nach  Bernhard 
durch  »künstliche  Sänger  und  Instrumentisten a  erfunden  sind.  ^ 
Die  Scheidung  beider  Theile  ist  aber  insofern  äuBerlich,  als  bei  den 
Fundamentalfiguren  auch  moderne  Auflösungen  gezeigt  werden, 
welche  der  älteren  Lehre  fremd  waren,  so  z.  B.  bei  der  Synkopation  die 
moderne  Behandlung  der  None.  Immerhin  aber  wird  durch  diese 
Sonderung  die  Darstellung  übersichtlicher  gestaltet.  Wie  wir  aber 
schon  früher  darauf  hinwiesen,  ist  dies  kein  originales  Verdienst 
'Walthers,  sondern  Bernhards,  der  in  seinem  »Ausführlichen  Bericht 
von  den  Kon-*  und  Dissonanzenc  zum  ersten  Male  diese  Trennung 
bewuBt  vorgenommen  hat.  Wir  wiederholen,  daß  das  ganze  Kapitel 
getreu  in  Text  und  Beispiel  aus  Bernhards  Schriften  geschöpft  ist 
'Nach  einer  allgemeinen  Vorbemerkung,  in  welcher  genau  nach  CSal- 
visius  Melopöia  Kap.  VT  auf  den  Nutzen  der  Dissonanzen  hingewiesen 
wird,  beginnt  mit  einer  Etymologie  und  Definition  des  Ausdrucks 


^  In  Bernhards  »AusfOhrl.  Bericht  vom  Gebrauch  der  Kon-  und  Dissonanzen* 
heißt  es  in  Kap.  13:  »Bisher  haben  vir  von  den  Fundamentalfiguren  gehandelt. 
Wie  nu^  die  Alten  von  denselben  nicht  geschritten,  so  soll  man  sieh  auch  ihrer 
bei  ihren  Arten  der  Composition  bedienen.  Nachgehends  aber  hat  man  observiret, 
daß  künstliche  Sänger  und  Instrumentisten,  wenn  dergleichen  Sachen  su  machen 
gewesen  seien,  von  den  Noten  hier  und  da  etwas  abgewichen  und  also  einige  an- 
mutige Art  der  Figpiren  su  erfinden  Anlaß  gegeben;  denn  was  mit  vemflnftigeii 
Wohllaut  kan  gesungen  werden,  mag  man  auch  wohl  setien.  Dahero  haben  die 
Componisten  im  vorigen  15.  Jahrhundert  allbereit  angefangen ,  eines  und  das  an- 
dere lu  setsen ,  was  den  Vorigen  unbekannt  war.  Bis  daß  auf  imser  Zeiten  die 
Munca  so  hoch  gekommen,  daß  wegen  Menge  der  Figuren,  absonderlich  aber  in 
dem  neu  erfundenen  Stylo  recitativo  sie  wohl  einer  JRhetoriea  su  veqpleiehen«. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker. 


537 


^Syncopat%o9i  die  Daistellimg  dieser  Figur.  Der  von  avy-KOTtTO)  ab- 
geleitete Begriff  bedeutet,  daß  die  Noten  gegen  den  Takt  traktirt 
werden.  Die  Synkopation  kann  mit  und  ohne  Beimiscbung  von  Dis- 
sonanzen ausgeführt  werden.  Nach  weiteren  Bemerkungen  über  die 
Beschaffenheit  der  synkopirten  Note  folgen  im  AnschluS  an  Bern- 
hards Traktat  von  den  Dissonanzen  die  Auflösungen  derselben. 
Doch  ist  die  Reihenfolge  nicht  ganz  genau  dieselbe.  Während 
Bernhard  alle  Dissonanzen  per-  se  und  dann  jene  per  ctccidens  be- 
spricht, werden  von  Walther  beide  Arten  vermischt  dargestellt, 
indem  hier  die  natürliche  Ordnung  streng  befolgt  wird:  Secunda, 
Semidiatessaron ,  Quarta,  Tritonus,  Quinta  diminuta,  superfitca,  Se- 
ptima  und  Nona.  Die  Synkopationen  und  Resolutionen  einer  jeden 
Dissonanz  werden  in  der  Weise  dargestellt,  daß  zuerst  die  ge- 
bräuchlichsten und  z.  Th.  schon  früher  bei  der  Akkordlehre  mit- 
getheilten  Falle  in  zweistimmigen  Beispielen  aufgeführt  werden.  Es 
folgen  dann  ungewöhnliche  Auflösungen,  welche  Walther  nach 
Bernhards  Muster  zunächst  in  zweistimmigen  Beispielen  darstellt. 
Vielfach  werden  diese  ungewöhnlichen  Fortschreitungen  durch  Fi- 
guren, Anticipatioj  Retardatio  und  Heterolepsis  entschuldigt.  Den 
zweistimmigen  Beispielen  folgen  wie  bei  Bernhard  solche  zu  drei 
und  vier  Stimmen.  Hier  werden  am  liebsten  die  schon  zweistimmig 
gegebenen  Beispiele,  durch  harmonische  Stimmmen  ergänzt,  wieder- 
holt. Was  nun  die  Auflösungen  selbst  betrifft,  so  finden  sie  meistens 
in  die  Terz  oder  Sext,  und  im  Grunde  genommen  nur  in  diese 
statt;  denn  alle  anderen  Auflösungen  sind  gewissermaßen  melodische 
Umschreitungen,  welche  schließlich  doch  erst  in  einer  darauf  folgen- 
den Terz  oder  Sext  Ruhe  finden.  Eine  besondere  Bedeutung  haben 
die  zum  großen  Theil  originalen  Ausfuhrungen  Walthers  über  die 
Nene.  Diese  ist  nicht  mehr  eine  mit  der  Oktave  zusammengesetzte 
Sekunde,  sondern  eine  von  dieser  ihrer  Natur  nach  ganz  verschie- 
dene Dissonanz.  Vier  Differenzen  zwischen  None  und  Sekunde 
zählt  Walter  auf.  1]  Die  None  muß  in  der  Oberstimme  vorher  schon 
liegen  und  der  Baß  wird  angeschlagen;  bei  der  Sekunde  aber  muß 
die  Grundstimme  vorher  liegen  und  die  obere  Stimme  wird  ange- 
schlagen. 


i9- 


SC 


e 


hR=^ 


None. 


P 


*  r^    - 


-^- 


zz: 


Sekunde. 


^^ 


•^ 


36* 


538 


Hermann  Oebrmann, 


Aus  diesem  Beispiele  geht  hervor,  daB  die  Sekunde  sowohl  mit 
der  Oktave,  als  auch  mit  der  Doppeloktave  zusammengesetzt  sein, 
kann.  Walther  verwirft  bei  der  Beschreibung  der  Sekunde  in  diesem 
Kapitel  die  von  vielen  angegebene  Auflösung  in  den  ünisonus. 
Mit  Becht  weist  er  darauf  hin,  daB  solche  Auflösung  »in  denen  Sim- 
plicibus  nicht  sowohl,  als  denen  Compositis,  nämlich  in  der  Nonä  nnd 
Octavä  angehen  will«.  Hier  aber  fällt,  wie  wir  oben  aus  dem  Bei- 
spiele sehen,  die  Auflösung  der  Sekunde  in  den  Unisonus  in  das 
Gebiet  der  None,  nicht  in  das  der  Sekunde.  Ein  anderer  Unterschied 
ist  der,  daB  zur  None  über  den  BaB  noch  Terz  und  Quint  gesetzt 
werden  muB,  zur  Sekunde  aber  über  den  BaB  Quart  und  Sext  ver- 
langt wird,  z.  B.: 


Tg== 


:^ 


-«- 


=^ 


«: 


e 


t 


t 


ze: 


«: 


1 


')'r    - 


•^ 


z: 


^ 


32t 


-^ 


32= 


Die  3.  Differenz  ist  die  einzige  nicht  originale  Walthers,  sie  er- 
hellt aus  den  Kesolutionen  der  None,  welche  sich  auch  bei  Bern- 
hard finden.  Sie  löst  sich  auf  1)  in  die  Oktave,  2)  Sext,  3}  Terz, 
4)   Quart,  5)  Semidiapente  und  Diapentej,  6}  Septime  und  7]  None: 


1)  _     ^1 — J      \ 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker. 


539 


Bei  diesem  letzten  Falle  fügt  Bernhard  hinzu:  »Dieses  kann 
nicht  wohl  entschuldigt  werden  und  klinget  dennoch  gut«.  Die  erste 
Hälfte  dieses  Zusatzes  steht  auch  bei  Walther,  dagegen  fehlt:  »und 
klinget  dennoch  gut«. 

Hierbei  wurden  die  in  den  beiden  ersten  Differenzen  angedeu- 
teten Merkmale  der  Nene  streng  gewahrt.  Eine  vierte  Differenz  ist, 
daß  die  None  bei  ihrer  Resolution  sich  herunter  begiebt,  die  Se- 
kunde dagegen  mehr  »aufwärts  springend,  oder  liegend  gefundene 
wird. 

Nach  der  speciellen  Darstellung  von  den  Resolutionen  der  syn- 
kopirten  Dissonanzen  werden  noch  einige  allgemeine  Bemerkungen 
über  die  Synkopation  nachgetragen.  So  wird  häufig  die  synkopirte 
Note  ganz  dissonirend  gesetzt,  »wenn  nemlich  der  Text  eine  Härtigkeit 
andeutet.«  Zu  der  Bernhardschen  Bemerkung,  daß  die  Dissonanzen 
nur  in  einer  Stimme  anschlagen  dürfen,  fügt  Walther  noch  die  Aus- 
nahme hinzu,  daß  die  anschlagende  Sekund  und  Quart  verdoppelt 
werden  können: 


fe 


2t 


-jBL 


3 


ymzL 


—f^rr 


-^^ 


IJ'  C   <q: 


3 


J: 


-^- 


-ZL 


221 


t^ 


^2= 


T 


f 


zz: 


In  ähnlicher  Weise  darf  eine  nota  resohens,  wenn  sie  scharf  ist, 
also  eine  Art  Leiteton  bezeichnet,  nicht  verdoppelt  werden,  wohl  aber 
wenn  sie  weich  ist: 


f 


E 


-». 


ist 


i 


?= 


^ 


z: 


rJ      J    I   J^ 

(g  -I      ^        Tl  .  ' 


P 


-«- 


i 


|J     J 


-*- 


^=^=^ 


■jS. 


S 


2z: 


■^- 


ZjBL 


Zum  Schluß  der  Betrachtimg  über  die  Synkopation  erfolgt  eine 
Au&ählung  der  gebräuchlichsten  Akkorde,  in  welchen  Dissonanzen 
Yorkommen.  So  tritt  uns  der  Sekundakkord  entgegen,  wenn  Wal- 
ther mit  Bernhard  sagt:  die  Sekunde  leidet  neben  sich  die  Quart 
und  Sext;  eine  Umkehrung  dieses  Akkords  haben  wir,  wenn  es  heißt: 
die  Semidiapente  leidet  neben  sich  die  Terz  und  Sext.   In  derselben 


540  Hennann  Qelirmann, 


Weise  wird  als  charakteristischer  Akkord  für  die  dissonirende  Quarte 
der  Quartsextakkord  und  für  die  Septime  der  Septimenakkord  be- 
schrieben. Folgte  die  Darstellung  der  Synkopation  mit  ganz  gerin- 
gen Ausnahmen  getreu  dem  Bemhardschen  Traktat  von  den  Disso- 
nanzen, so  wird  die  Figur  des  Transitus  ganz  genau  in  wörtlicher 
Übersetzung  und  mit  denselben  Beispielen  nach  dem  1.  Theile  der 
4.  Bemhardschen  Kopie  dargestellt.  Transitus  ist  die  Bewegung 
einer  Stimme  im  Zusammenklang  mit  einer  ruhenden  Stimme. 
Diese  Bewegung  ist  derart,  daß  zwischen  zwei  konsonirenden  Noten 
sich  eine  dissonirende  befindet.  Dieser  Transitus  ist  regelmäBig, 
wenn  die  in  thesi  stehende  Note  gegen  die  andere  Stimme  konso- 
nirt  und  die  in  arsi  stehende  Note  dissonirt.  Ein  solcher  Transi- 
tus findet  nur  in  kleineren  Noten  statt,  die  sich  alle  schrittweise 
bewegen  müssen.  Der  Transitus  ist  dagegen  unregelmäßig,  wenn 
die  in  ihesi  stehende  Note  dissonirt  und  die  in  arsi  stehende  kon- 
sonirt. 

Im  2.  Theil  dieses  Kapitels  zahlt  Walther  die  Fiffvrae  superficiales 
in  derselben  Weise,  wie  Bernhard  im  Ausfuhrlichen  Bericht  etc.  von 
Kap.  13 — 22  auf.  Die  Beschreibung  derselben  sowie  die  dazu  gege- 
benen Beispiele  sind  abgesehen  von  wenigen  Erweiterungen  ebenfalls 
von  Bernhard  entlehnt.  Als  1.  Figur  wird  die  Supersectio  erwähnt, 
die  auch  Accent  heißt.  Die  frühere  Darstellung  des  Accent  in  der 
Elementarlehre  deckt  sich  sachlich  völlig  mit  dieser,  doch  ist  hier 
eine  andere  Beschreibung  und  neue  Beispiele,  welche  aus  Stierleins 
Trifolium  stammen  sollen.  Es  folgen  die  Subsumptio,  Variaiio  oder 
Passagioj  von  der  die  Tirata,  ein  Oktavenlauf,  eine  besondere  Art  ist 
Eine  der  Variatio  verwandte  Figur  ist  die  Multiplicatio ,  »die  Ver- 
kleinerung einer  Dissonanz  durch  mehrere  Noten)  in  einem  Clctci.* 
Es  folgt  weiter  die  Mlipsis,  Hetardatio,  Heterolepsis  j  Abruptio  und 
Qucisi-Transitus.  Mit  dem  Hinweis  auf  rhetorische  Figuren,  die 
in  Ahles  Sommergespräch  eingesehen  werden  könnten,  schließt  dieses 
bedeutsame  Kapitel.  Kap.  5  handelt  von  der  Relatio  non  harmomca. 
Da  diese  eine  Figur  ist,  welche  schon  bei  den  Fortschreitungen  der 
Konsonanzen  im  allgemeinen  beobachtet  werden  muß,  so  gehört  sie 
eigentlich  in  jenes  i.  Kapitel  der  speciellen  Abhandlung,  in  welchem 
solche  Fortschreitungen  behandelt  werden.  So  wird  sie  z.  B.  von 
Zarlino  und  Baryphonus  angeordnet.  Doch  jetzt  sind  andere  Gründe 
für  eine  neue  Eintheilung  maßgebend  geworden.  War  früher  die 
Behandlung  der  Relatio  non  harmonica  insofern  einfach,  als  sie  gänz- 
lich verboten  wurde  (so  bei  Zarlino  und  Baryphonus),  so  ist  dieselbe 
in  neuerer  Zeit  (seit  Printz  Satyr.  Kompon.)  wo  die  Relatio  non 
harmonica  als  wichtiges  musikalisches   Ausdrucksmittel  reiche  Ver- 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  541 


Wendung  fand,  sehi  erschwert  worden.  Denn  um  solche  an  sich 
dissonirende  Belationen  geschickt  anzubringen,  müssen  .dieselben 
durch  konkurrirende  Dinge  dem  Gehör  angenehm  gemacht  werden. 
Da  nun  durch  die  Beschreibung  dieser  Dinge  die  früher  mit  ein 
paar  Worten  abgethane  Darstellung  der  unharmonischen  Relation 
wesentlich  erweitert  wird,  so  nimmt  die  ganze  Darstellung  dieser 
Belation  einen  besonderen  Abschnitt  für  sich  in  Anspruch.  Sodann 
aber  ist  die  Beschaffenheit  dieser  Dinge,  wie  wir  später  sehen  wer- 
den, eine  derartige,  daß  nicht  nur  in  technischer  Beziehung  eine 
große  Gewandtheit  in  allen  Mitteln  der  Intervallverbindung  voraus- 
gesetzt wird,  sondern  schon  eine  gewisse  Selbständigkeit  des  Ge- 
schmacks vom  Schüler  gefordert  werden  muß,  eine  Selbständigkeit^ 
die  er  nur  durch  vorausgehende  lange  Übung  im  Setzen  eines 
reinen  Satzes  erlangen  kann.  Also  aus  pädagogischen  Gründen 
schreitet  Walther  zur  Darstellung  der  unharmonischen  Belation 
nachdem  Alles  gezeigt  ist,  was  zur  Komposition  eines  reinen  Satzes 
gehört. 

Walther  stellt  den  Inhalt  dieses  Kapitels  aus  den  in  Werck- 
meisters  Harmonologia^  namentlich  aber  in  Printz'  Satyr.  Kompon. 
I  Kap.  17  und  III  Kap.  13  niedergelegten  Regeln  zusammen.  Re-- 
latio  non  harmontca  findet  statt,  wenn  »zwei  Soni,  welche  in  dem  Pro- 
grsBSu  einer  Konsonanz  in  die  andere  quer  überstehen,  dissoniren«. 
Durch  konkurrirende  Dinge  kann  sie  aber  erträglich  gemacht  werden. 
Solche  sind  1)  progreäsus  consonantiae,  2)  affectus^  3)  qualitas  modi, 
4)  qualitas  intervallorum,  5)  celeritas  mteroallorttm^  6)  voces  concomi- 
tantes.  Wird  die  Relatio  nicht  durch  solche  Dinge  unterstützt,  so 
bleibt  sie  unerträglich.  Die  Begründui^  des  Gegensatzes  zwischen 
älterer  und  neuerer  Anschauung  ist  ein  originaler  Zusatz  Walthers. 
Er  weist  darauf  hin,  daß  die  Alten  deshalbdie  Relatio  non  harmonica 
gemieden  hätten,  weil  sie  i»  nämlich  das  gentcs  diatonicum  recht  pur 
behalten  und  keine  chromatische  claves  mit  einmischen  wollten;  aber 
heutiges  Tags  werden  die  genera  modulandi  vermischt  gebraucht,« 
und  daher  können  mehrere  Relationea  non  harmonicae  hintereinander 
gesetzt  werden. 

7. 

Übergang  zur  Formenlehre,  Text,   Cadenzen  und  Modi, 
(n   2.  Abhandl.  Kap.  6—9  erste  Hälfte). 

Nach  einem  Kapitel,  in  welchem  alles  mitgetheilt  wird,  was  bei 
der  Komposition   eines  Textes  beachtet  werden  muß,    und  das  aus 


542  Hennann  Qehnnann, 


hierauf  bezüglichen  Regeln  in  Herbsf  s  Musiea  poetica,  Prints'  Satyr. 
Komp.  und  Geo^  Ahles  Frühlings-  und  Sommergespräch  lusammen- 
gestellt  ist,  folgt  in  Kap.  7  und  8  die  Beschreibung  der  Modi. 
Diese  findet  nicht  nur  aus  historischen  Gründen  statt,  sondern 
hauptsächlich  deshalb,  weil  die  Modi  seu  Walthers  Zeit  noch  insofern 
eine  grofie  Rolle  spielten,  als  die  Choräle  in  denselben  gesetzt  waren, 
und  der  O^anist  ihrer  Kenntniß  nicht  entrathen  konnte.  Diesen 
mit  dem  Wesen  der  einzelnen  Modi  yertraut  zu  machen,  ist  die  spe- 
cielle  Aufgabe  des  8.  Kapitels,  während  das  vorhergehende  in  all- 
gemeiner Weise  über  die  Modi  handelt.  Kap.  7  beginnt  mit  einer 
Definition  des  Wortes  Modus^  welches  dem  griechischen  v<{^^  gleich- 
gesetzt wird,  und  eine  gewisse  »Weise  und  Schranken c  bedeutet,  in 
der  die  Melodie  eines  Stücks  sich  befinden  soll.  Durch  ein  Citat  aus 
Kirchers  Musurgia  l,  V  cap,  7  wird  diese  aus  Werckmeisters  Hodegus 
cap.  39  geschöpfte  Definition  noch  erMrtet.  Weiter  nach  Herbst  wer- 
den die  12  Modi  kurz  beschrieben  und  von  Jonisch  an  au%ezählt. 
Die  Erklärung  dieser  von  den  griechischen  Stämmen  genommenen 
Namen  geschieht  durch  ein  aus  Snegassius'  Isctgoge  1  I  ca^.  5  ge- 
nommenes Citat.  Nach  Printz  Satyr.  Komp.  I  Kap.  9  wird  ein  Modus 
erkannt  1)  durch  den  Ambitusj  2)  durch  die  Claustdae  formalem  und 
3)  durch  die  JRepercussio.  Während  der  Amhitus^  der  im  allgemeinen 
eine  Oktave  groß  ist,  kurz  abgethan  wird,  läßt  nach  Printz  Satyr. 
Komp.  I  Kap.  8  sich  Walther  eingehend  auf  die  Schlüsse  ein.  Diese 
betrachtet  er  melodisch  und  harmonisch.  Bei  der  melodischen  Be- 
trachtung, oder  wenn  wir,  um  mit  Walther  zu  reden,  den  besonderen 
Gebrauch  einer  jeden  Stimme  zu  klausuliren  beachten,  finden 
wir  folgende  SchluBarten:  Clattsula  formaiis  perfectisstma^  wenn  die 
letzte  Fundamentnote  eine  Quarte  herauf  oder  eine  Quinte  herabsteigt 
Ch  perfecta  oder  düsecta^  cl.  minus  perfecta  oder  altizanSy  cl,  cantizans 
und  tenorizane.  »In  Ansehung  des  Modi«  oder  genauer  in  Bezug 
auf  die  verschiedene  Stellung  des  Schlusses  zur  Trias  des  Haupt- 
modus ist  die  clausula  formaiis  entweder  essentiaUs  (wenn  sie  in  der 
Trias  des  Modus  liegt),  affinalis^  die  in  der  Trias  der  Unterdominante 
liegt  und  daher  ein  oder  zwei  Töne  mit  dem  Tonikadreiklang  gemein 
hat;  oder  sie  ist  peregrina^  »die  gar  keinen  clavem  der  Triadis  des 
vorhandenen  Modi«  in  sich  hat.  Die  chxusuia  esseniialis  wird  noch 
genauer  unterschieden  in  primaria ,  wenn  sie  aus  dem  Grundton, 
secundaria,  wenn  sie  aus  der  Quinte,  und  tertiaria  wenn  sie  aus  der 
Terz  der  Trias  des  Hauptmodus  gebildet  wird.  Diese  Eintheilung 
ist  die  wichtigste  in  Walthers  Lehre.  Clausula  primaria  ist  stets 
ein  Ganzschluß,  cl.  secundaria  ein  Dominantschluß  und  cL  (tfßnalis 
und  peregrina  sind  Kadenzen  auf  anderen  Stufen  der  Tonleiter.    Die 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  543 


:^^ 


cL  teriiaria  bezeichnet,  wenn  sie  von  einei  Durtonart  (z.  B.  Jonisch) 
gebildet  wird,  einen  Dominantschluß  in  der  parallelen  Molltonart 
(Aeolisch),  oder,  wenn  sie  in  einer  Molltonart  (z.  B.  Dorisch]  auftritt, 
einen  Ganzschluß  in  der  Paralleltonart  (Lydisch).  Bei  den  Schlüssen 
wird  auch  die  Wirkung  ang^eben,  welche  sie  ausüben.  So  heißt 
es  z.  B  von  der  cL  perfectis&ima^  daß  sie  »eine  Harmonie  dergestalt 
zur  Ruhe  führet,  daß  mit  derselben  ein  Gesang  völlig  kann  ge- 
schlossen werden.«  Dementsprechend  wird  von  der  cl.  primaria 
gesagt,  daß  sie  meistentheils  in  principio  widßne  gebraucht  werde. 
In  ähnlicher  Weise  äußert  sich  Walther  über  die  Wirkungen  der 
anderen  Schlüsse.  Ganz  kurz  sind  die  Andeutungen  über  die  Me- 
percussio,  auf  welche  Walther  später  genauer  eingeht.  Zum  Schlüsse 
dieses  allgemeinen  Kapitels  werden  noch  Regeln  des  Snegassius  über 
die  Reperctuiio  und  den  Ambitus  der  Modi  mitgetheilt,  sowie  über 
den  Stimmungscharakter  derselben  ebenüedls  nach  Snegassius  Auf- 
schlüsse gegeben. 

Der  1.  Satz  des  8.  Kapitels  lautet:  Obwohl  bey  denen  heutigen 
Musicis  nicht  mehr  als  Darius,  AeoUus  und  Jonicus  im  Gebrauch  sind, 
so  wollen  wir  sie  doch  sämmtlich  (zumahl  die  Choralgesänge  fast 
aas  allen  Modis  gesetzet  sind)  sambt  ihrem  Ambitu,  Clausulis  und  He- 
percussionibus  ordentlich  durchgehen.«  Hier  wird  uns  also  eine  höchst 
wichtige  und  originale  Mittheilung  über  den  Gebrauch  der  Modi  zu 
Walthers  Zeit  gemacht.  Die  Modi  mit  Durcharakter  sind  auf  eine 
Tonart,  die  mit  Mollcharakter  auf  zwei  Tonarten  zusammengeschrumpft. 
Dieser  Yerschmelzungsproceß  wurde  durch  die  harmonische  Betrach- 
tungsweise der  Musik  hervorgerufen.  Lippius  schied  zum  ersten  Male 
von  diesem  neuen  Gesichtspunkte  aus  die  6  Oktavengattungen  in  je 
3  mit  großer,  und  je  3  mit  kleiner  Terz.  Demnach  gehören  zu  den 
auf  natürlicher  Trias  beruhenden :  Jonisch,  Lydisch,  Mixolydisch  und 
XU  den  auf  weicher  Trias  beruhenden;  Dorisch,  Phrygisch  und 
Aeolisch.  Schon  zu  Glareans  Zeit  erfreut  sich  der  Jonische  Modus 
einer  so  großen  Beliebtheit,  daß  viele  Cantilenen  aus  dem  lydischen 
Modus  in  diesen  übertragen  werden.  So  schmolz  denn  das  Lydische 
bald  mit  dem  Jonischen  zusammen.  Aber  auch  das  Mixolydische 
verlor  bei  anwachsender  Homophonie  die  charakteristische  kleine  Se- 
ptime und  ging  in  den  jonischen  Modus  über.  Nicht  so  glatt  verlief 
der  Proceß  bei  den  Tonarten  mit  kleiner  Terz.  In  Spittas  Bach  11 
pag.  609/610  erfahren  wir,  daß  bereits  Joh.  Rosenmüller  nur  2  Modi: 
Jonisch  und  Dorisch  anerkannte,  wie  femer  Werckmeister,  der  an- 
fangs in  Hodeg.  cap.  42  die  Molltonart  als  modus  minus  naturalis 
bezeichnet  und  somit  noch  unentschieden  läßt,  ob  er  Dorisch  oder 
Aeolisch  dabei  im  Auge  hat,  später  in  der  Harmonologia  Dorisch  und 


544  Hermann  Oehrmann, 


wiederum  einige  Jahie  später  in  den  Paradoxaldiscursen  Äolisch  als 
die  Molltonart  bezeichnet. 

Von  den  uns  sonst  bekannten  Schriftstellern  entscheidet  sich 
zuerst  Georg  Ahle  1701  im  Winteigespräch  für  den  Äolischen  Modus 
als  einzige  Molltonleiter.  ^  Während  so  Ahle  und  Werckmeister  als 
analoges  Gegenstück  zu  der  Durtonart  des  Jonischen ,  welches  aus 
großer  Terz,  großer  Sext  und  großer  Septime  besteht,  die  Molltonait 
des  Äolischen,  welche  aus  kleiner  Terz,  kleiner  Sext  und  kleiner 
Septime  besteht,  aufstellen,  läßt  Walther  neben  dem  äolischen  noch 
den  dorischen  Modus  für  den  modernen  Gebrauch  gelten,  der  wegen 
seiner  großen  Sexte  einen  nicht  so  ausgesprochenen  Mollcharakter, 
wie  der  äolische  Modus  hat.  XJber  die  Gründe,  welche  die  Annahme 
beider  Modi  rechtfertigen,  giebt  Spitta  in  Bach  II  pag.  610  klarer 
und  präciser  gefiißte  Aufschlüsse,  als  Winterfeld  im  Evangel.  lürchen- 
gesang  und  Marx:  Kompositionslehre  I.  pag.  422.  Damach  spricht 
für  das  Dorisch  als  Hauptmolltonart  der  Umstand,  daß  es  nicht  nur 
auf  der  ersten  Stufe,  sondern  auch  auf  der  Ober^  und  Unterdominante 
Kadenzen  zuläßt,  ohne  daß,  abgesehen  von  dem  erhöhten  Leiteton, 
das  diatonische  Geschlecht  verlassen  zu  werden  braucht.  Dagegen 
besitzt  die  äolische  Tonart  nicht  die  Mittel,  in  die  Tonart  der  Do- 
minante auszuweichen,  denn  hier  ist  nur  auf  dem  Grundton  und 
der  Unterdominante  eine  Kadenz  möglich,  aber  nicht  auf  dem  der 
Oberdominante.  Denn  für  den  zu  der  Modulation  in  die  Oberdomi- 
nante nöthigen  Akkord  h-  dis-  fis-  a  fehlt  im  Äolischen  dis  und  fis. 
Das  diatonische  System  kennt  kein  dis  und  fis  versagt,  weil  f  ein 
der  äolischen  Tonart  wesentlicher  Ton  ist 

Andererseits  kann  auch  das  Äolische  als  Hauptmolltonart  be- 
trachtet werden.  Während  das  Dorische  durch  die  große  Sext  in 
der  Unterdominante  einen  Durdreiklang  erhält  und  dadurch  einen 
der  Durtonart  näher  stehenden  Charakter  trägt,  hat  die  4.  Stufe  der 
äolischen  Tonleiter  einen  durch  die  kleine  Sext  bedingten  Molldrei- 
klang. Hierdurch,  sowie  durch  die  geringere  Fähigkeit  zu  moduliren 
(nur  Halbschlüsse  auf  der  Dominante  sind  möglich)  und  schließlich 
durch  das  dem  Dorischen  entgegengesetzte  Hinneigen  zu  der  plaga- 
Uschen  oder  transponirten  Lage,   erhält  diese  Tonart  der  Dorischen 


^  Es  heißt  in  Ahle's  Wintergespräch :  »Es  meinen  viele,  sprach  Muselieb  lum 
Beschlüsse,  die  dorische  Singahrt  sei  gebreuchlicher  als  die  Eolische :  aber  daß  jene 
mit  dieser  allezeit  vermischet  werde,  zeigen  genugsam  an  die  moduli  und  clauttde», 
so  mit  dem  h  formiret  werden.  Ja  oft  hat  es  das  Ansehen,  als  sei  es  der  Dorius, 
und  ist  doch  der  Aolius,  maßen  dieser  im  Sysiemate  moÜi  selten  so  geaeichnet 
wird,  wie  sichs  eigentlich  gehöret  o. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  545 

gegenüber  einen  sanfteren,  in  sieh  abgeschlosseneren,  ruhigeren  und 
wehmiithigeren  Charakter.  Außerdem  begünstigt  die  neuere  Art  der 
Fugenbeantwortung  ein  Zusammenschrumpfen  der  Modi  auf  Jonisch 
und  ÄoUsch,  nicht  Dorisch.     Doch  davon  später. 

Im  Kap.  8  nun  werden  die  Modi  hinsichtlich  ihrer  charakteri- 
stischen Merkmale  durchgesprochen.  Es  werden  die  authentische 
und  plagale  Lage  eines  jeden  Modus  dargestellt.  Bei  jedem  Modus 
wird  in  der  Regel  zuerst  die  Herkunft  des  Namens,  dann  der  Ambitus 
und  die  Mepercitssio  angegeben,  ferner  viele  Transpositionen  und  Clau- 
sulen  in  Noten  ausgeführt  und  zum  Schluß  ein  Verzeichniß  von 
Chorälen  gegeben,  die  in  jedem  Modus  gesetzt  sind.  Diese  Choräle 
werden  nach  dem  von  Snegassius  im  Anhang  zur  Isagoge  gegebenen 
Verzeichniß  au%ezählt.  Jedoch  wird  bei  Walther  eine  größere  Zahl, 
ab  dort,  angefahrt.  Für  den  lydischen  und  hypolydischen  Modus 
fehlen  Choräle. 

Das  Wichtigste  in  diesem  Kapitel  sind  die  Transpositionen  und 
Clausulen.  Die  Transpositionsbeispiele  sind  gegen  früher  bedeutend 
erweitert.  Bereits  Praetorius  gestattet  außer  den  alten  Transpositionen 
eine  solche  in  die  höhere  oder  tiefere  Sekunde.  Lippius  spricht  sich 
zuerst  für  die  Transposition  in  die  Sekunde,  Terz  oder  ein  anderes 
Intervall  aus.  Auch  Herbst  in  seiner  Mtuica  poetica  weist  am 
Schlüsse  des  6.  Kapitels  darauf  hin,  daß  man  j»auch  auff  den  Musi- 
calischen  Instrumenten  durch  die  Terz,  Quint  und  andere  Intervalla 
zu  transponiren  pflegt.«  Doch  fägt  er  hinzu,  daß  »solches,  wenn 
man  das  Fundament  dieser  Kunst  recht  betrachtet,  leichtlich  ver- 
worfen wird.«  Im  Gegensatz  dazu  führt  ungefähr  30  Jahre  später 
der  anonyme  Verfasser  des  I.  Theils  der  4.  Bemhardschen  Kopie 
aus :  » Transpositio  est  irreffularü,  quando  transponuni  Neoterici  etiam 
per  secundanif  3^  J,  6,  7,  qtiod  mea  quidam  sententia  laudandum^  si 
elavium  soni  in  Organü  ex  arte  sint  temperaii.fi  Daraus  geht  hervor, 
daß  diese  Transpositionen  erst  mit  der  Verbessserung  der  Temperatur 
zur  Anerkennung  gelangten  und  daß  ihre  Verwerfung  durch  Herbst 
in  der  früher  nicht  so  entwickelten  Tonausgleichung  der  Tasteninstru- 
mente ihren  tieferen  Grund  hat.  So  ist  denn  der  größere  Umfang  der 
Transpositionen  eines  Modus  der  Beweis  für  eine  bessere  Temperatur 
der  Instrumente.  Werkmeister  sagt  in  r^Hypomnemata^  cap,  9:  »Je 
besser  die  Temperatur  ist,  desto  besser  kann  man  transponiren.  u 
Walther  transponirt  die  Modi  nach  allen  12  Tönen  der  Skala  hin. 
Daraus  darf  man  schließen,  daß  er  eine  Art  gleichschwebender  Tem- 
peratur in  der  Praxis  anwandte,  eine  Vermuthung,  die  durch  die  in 
der  Elementarlehre  gezeigte  enharmonische  Verwechslung  z.  B.  von 
ßs  und  ffeSj  oderßs  durum  [ßsis)  mit  g  bestärkt  wird. 


546  Hermann  Qehrmann. 


Im  anonymen  Theile  jener  4.  Bernhaidschen  Kopie  Kap.  5  fimd 
Walther  das  Muster    für  seine  ausgeführten  Transpositionen.     Dort 
wird   der  dorische  Modus   ganz  genau  in  dieselben  Töne,   wie  bei 
Walther  transponirt.    Aber  während  Walther  nur  für  die  authen- 
tische Lage  Transpositionen  bringt,  fuhrt  jener  Anonymus  auch  solche 
für  die  plagale  Lage  des  Dorisch  aus.     Bei  den  andern  Modi   fehlt 
allerdings  die  Ausfuhrung  der  Transpositionen ;  doch  darf  man  daraus, 
daß  bei  jedem  Modus   2  Reihen  Platz  gelassen  sind,  schlieBen,  daß 
diese  noch  nachgetragen  werden  sollten.      Die  Waltherschen  Trans- 
positionen werden  sowohl  mit  Kreuz-,  als  auch  mit  B-Yorzeichnung 
gegeben,  deren  jede  von  einem  einzigen  bis  zu  neun  chromatischen 
Zeichen  aufsteigt,  (wobei  nach  altem  Gebrauch  mehrere  Zeichen  nur 
verdoppelt  sind).   Bei  der  Transposition  des  Lydischen  nach  eis  kommt 
auch  eine  Diesis  (Doppelkreuz)  vor,  um  das  dem  regulären  h  ent* 
sprechende  ßsis    zu  bezeichnen.     Die  Transpositionen   finden  nach 
allen  übrigen  Tönen  einer  temperirten  Skala  statt.    Die  geschwärzten 
Noten  betragen  das  Intervall  eines  Halbtons.     Eine  Erklärung  der 
Transposition,    sowie    die  Kegeln   für   dieselbe,    wird  im  folgenden 
Kap.  9  gegeben.    Demnach  ist  sie  eine  Versetzung  eines  Modus  aus 
seiner  natürlichen  Skala  in  eine  andere,  in  welcher  ein  oder  mehrere 
Signa  chromatica  vorkommen.    Ferner  müssen  in  einer  transponirten 
Skala  die  Litervalle  ebenso  aufeinanderfolgen,  wie  in  einer  natürlichen 
Tonleiter.   Hierbei  ist  von  Wichtigkeit,  daß  ein  Tonua  maicr  in  der 
Transposition  sowohl  mit  einem  Tonus  maior  als  minor  beantwortet 
werden  kann.     Es  hört  somit  die  Unterscheidung  der  verschiedenen 
Oanztonverhältnisse  allmählich  auf,  ein  (Jmstand,  der  durch  den  zu- 
nehmenden Einfluß  temperirter  Stimmung  bedingt    zu  sein   scheint. 
Macht   man  aus  einem  transponirten  Modus  einen  regelmäßigen,  so 
heißt  dies  Verfahren  Beductio.   Schließen  wir  mit  dieser  Vorausnahme 
aus  Kap.  9  unsere  Betrachtung  der  Transpositionen,  so  müssen  wir  in 
Kap.  8  noch  einen  Blick  auf  die  vierstimmig  ausgeführten  Kadenzen 
eines  jeden  Modus  werfen.  Von  allen  6  Modi  werden  zuerst  die  essentiakn 
(primäre,   sekundäre   und  tertiäre),   sodann  die    affinalen  und  pere- 
grinen  Schlüsse  dargestellt.  Von  den  affinalen  und  peregrinen  Schlüssen 
wird  in  der  Regel  je  ein,  höchstens  zwei  Beispiele  gegeben.    Auch 
von  den  primären,  sekundären  und  tertiären  Kadenzen  wird  bei  Phry- 
gisch,  Lydisch  und  Mixolydisch  nur  ein  oder  zwei  Beispiele  gegeben. 
Anders  ist  dies  bei  den  drei  gebräuchlicheren  Modi.    Hier  werden  die 
essentialen  Schlüsse  specialisirt,  je  nachdem  sie  perfectissitnaef  per- 
fectae,  minus  petfectaej  cantizantes ,    dltizantes  oder  tenorizantes  sind. 
Durch  die   verschiedene  Zusammensetzung  dieser   der   melodischen 
und  harmonischen  Gruppe   angehörenden  Begriffe   wird  ein  groSer 


Joliann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  547 

Reichthum  neuer  Bezeichnungen  gebildet,  durch  welche  die  Kadenzen 
in  der  subtilsten  Weise  unterschieden  werden.  Wie  schon  ange- 
deutet ist  die  Reihenfolge  der  Schlüsse  so  geordnet,  daß  zuerst  pri- 
märe oder  Ganzschlüsse,  sekundäre  oder  Dominantschlüsse,  tertiäre 
oder  Dominantschlüsse  für  die  Paralelltonart,  affinale  und  peregrine 
gegeben  werden. 


8. 
Formenlehre.     (2.  Hälfte  des  Kap.  9  bis  Schluß). 

Auf  die  Reperkussion  kommt  Walther  ausführlich  in  der  2.  Hälfte 
des  Kap.  9  zu  sprechen.  Dieses  Kapitel  ist  einerseits  ein  Nachtrag 
zu  den  beiden  vorhergehenden,  indem  es  zunächst  die  Transposition 
imd  Reduktion,  und  dann  die  Reperkussion  beschreibt;  andererseits 
aber  enthält  es  wichtige  und  zum  Theil  originale  Neuigkeiten.  Da 
wir  das  Wesentlichste,  was  hier  über  Transposition  und  Reduktion 
gesagt  ist,  schon  früher  berührt  haben,  so  handeln  wir  gleich 
Ton  der  Reperkussion.  Diese  wird  in  Bezug  auf  ihren  besonderen 
Werth  für  die  Fuge  dargestellt  und  somit  wird  auch  von  dieser  ge- 
sprochen. Daher  beginnt  mit  diesem  De  Reperctissione  überschriebenen 
Abschnitte  des  9.  Kapitels  gleichsam  die  Formenlehre  Walthers  im 
engeren  Sinne.  Diese  umfaßt  fünf  größere  Abschnitte,  die  so  ge- 
ordnet sind,  daß  die  drei  mittleren  als  Kapitel  bezeichneten  Ab- 
schnitte von  Fuge,  Imitation  und  Kanon  im  älteren,  mehr  vokalen 
Sinne  handeln,  der  erste  und  letzte  Abschnitt  dagegen  die  Fuge 
und  den  doppelten  Kontrapunkt  mit  Rücksicht  auf  den  durch  die 
Instrumentalmusik  entwickelten  neueren  Gebrauch  lehren.  Auch 
die  benutzten  Quellen  sind  charakteristisch.  Während  die  drei 
mittleren  Kapitel  aus  Bononcinis  Musico  prattico  II  geschöpft  sind, 
stammen  die  beiden  andern  Abschnitte  aus  Schriften  der  Bernhard- 
sehen  und  Sweelinckschen  Schule. 

Doch  kehren  wir  zu'Walthers  Ausführungen  über  die  Reper^ 
cussio  zurück! 

Schon  in  Kap.  7  dieses  Abschnitts  wurde  dieselbe  mit  Citaten 
aus  Snegassius'  Isagoge  1.  2  und  Printz  Satyr.  I  Komp.  Kap.  9  erläutert. 
Darnach  ist  sie  ursprünglich  ein  Intervall,  welches  in  einem  Modus 
oft  repetirt  wird.  Bei  den  authentischen  Modi  ist  dies  mit  Aus- 
nahme des  Phrygischen  die  Quinte,  bei  den  plagalen  wird  sie  durch 
andere  Intervalle  ausgedrückt.    Nudae  reperctMsioneSj  wie  Snegassius 


548  Hermann  Qehrmann, 


sagt,  werden  durch  Schlüsse  und  Fugen  repräsentirt.  Doch  ist  sie 
(die  Reperkussion]  im  letzteren  Falle  noch  ein  nebensächliches  Mo- 
ment; nur  weil  sie  in  einer  Quintfuge,  die  nicht  so  häufig  vorkam, 
wie  eine  Fuge  im  Unisonus  oder  Oktave,  deutlich  hervortrat,  wird 
sie  von  Snegassius  als  Repräsentator  einer  Fuge  erwähnt.  Ihre  Be- 
deutung für  die  Fuge  ist  aber  mit  der  Zeit  sehr  gestiegen.  In  dei 
4.  Bernhardschen  Kopie  sagt  der  anonyme  Verfasser  des  1.  Theils: 
nSunt  qui  reperctissionem,  tamquam  infallibile  fugarum  fundamenium^ 
commendant.9  Es  folgt  dann  ein  langes  deutsches  Citat  aus  einem 
uns  nicht  bekannten  Manuskript  von  Printz,  in  welchem  die  Bedeu- 
tung der  Reperkussion  fiir  die  Fuge  genau  auseinandergesetzt  wird. 
Die  9  ersten  Paragraphen  von  Walthers  Ausfahrungen  über  die  Be- 
perkussion  sind  eine  wörtliche  Entlehnung  jenes  eben  erwähnten 
Citats  aus  der  4.  Bernhardschen  Kopie.  Von  §  10  bis  zum  Schluß 
des  Kap.  9  finden  wir  dagegen  zum  Theil  originale  Erläuterungen 
Walthers. 

An  einem  Beispiele  wird  gezeigt,  in  wiefern  die  Repercussio  iw 
Fundament  der  Fugen  sei.  Es  soll  ein  Thema  im  regelmäßigen  Jo- 
nisch beantwortet  werden.  Um  nun  zur  Beantwortung  die  entspre- 
chenden Töne  zu  finden,  werden  2  Oktaven  ausgesetzt :  die  eine  vom  c 

bis  c  fiir  den  Dux  und  die  andere  von  ff  bis  ff  für  den  Komes. 
Die  Claves  beider  stellt  man  einander  gegenüber,  doch  so,  daß  die 
im  vorigen  Kapitel  in  der  Repercussio  gegen  einander  gesetzten  Ola- 

ves  auch  hier  gegen  einander  kommen,  also:  ff  c  ff  c.  Die  Clwes 
beider  Oktaven  haben  nun  folgende  Beziehungen  zu  einander- 


c   d    e  f   ff   a   h     c 
^ _  _/^ 

ff    ah    c    ä    e   f  g. 

Hieraus  ergiebt  sich  die  Beantwortung :  wo  der  Dux  c  hat,  muß 
der  Komes  ff  haben  u.  s.  w. ;  ^  und  f  korrespondiren   mit  cl   Das  j 

"  muß  der  Reperkussion  wegen,  das  /  aber  hinsichtlich  der  natürlichen 
Ordnung  der  Tonleiter  dem  c"  entsprechen.   Der  Zweifel  des  Schülers, 

"ob  /  oder  ff  für  die  Beantwortung  des  c  zu  nehmen  ist,  wird  da- 
durch gehoben,  daß  die  Berücksichtigung  der  Reperkussion  als  Haupt- 

'regel  hingestellt  wird.     Das  Thema         4^   |     |     fjP^ 


wird  daher  so  beantwortet:     ||^  (*;   1     »f>   #  :  f   '     '       "' 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  549 


Doch  auch  Freiheiten  einer  dem  Kanon  sich  nähernden  Beantwor- 
tung sind  gestattet.  Zunächst  kann  in  einer  Kadenz  die  Dominante  mit 

ihrer  Dominante  beantwortet  werden,  also  im  folgenden  Beispiele  g 
mit  d\ 


^ '"  f  r  gT"^'  I  f  ^  i|i^fr—  ■  ^  r  I  tf  r  -^ 


Dux.  Comes. 

Der  Ambitus  des  jonischen  Modus  wird  in  diesem  Falle  um 
eine  Sekunde  überschritten. 

Diese  Ausnahme  stimmt  im  gewissen  Sinne  mit  dem,  was  Rein- 
cken  im  1.  Traktat  seiner  handschriftlichen  Lehre  von  1670  sagt, 
überein.  Während  Beincken  im  Anfange  der  Fugen  den  Ambitus 
des  Modus  nicht  überschritten  wissen  will,  gestattet  er  dies  im  wei- 
teren Verlaufe  eines  Stücks.  Eine  Kadenz  aber,  in  welcher  die 
Dominante  mit  ihrer  Dominante  beantwortet  wird,  ist  eine  Dominant- 
kadenz, ein  sekundärer  Schluß,  der  nach  Walther  selbst  nicht  im 
Anfange,  sondern  in  der  Mitte  eines  Stücks  gebraucht  werden  kann. 
Wenn  nun  durch  solche  Kadenz  der  Ambitus  des  Modus  überschrit- 
ten wird,  so  geschieht  dies  wie  bei  Reincken  erst  im  weiteren  Ver- 
laufe eines  Stücks.  Aber  noch  eine  andere  Freiheit  in  der  Beant- 
wortung findet  sich  hier.  Bei  den  Imitationen  genügt  es,  wenn  in 
beiden  Tonleitern  die  Töne  sich  [nur  natürlich  entsprechen,  also  keine 
Bücksicht  auf  die  Beperkussion  genommen  wird.  Dieses  stimmt  mit 
den  Ansichten  des  Zarlino,  Calvisius  und  Anderer  überein,  welche 
eine  Imitation  dadurch  von  der  Fuge  unterscheiden,  daß  in  der 
ersteren  der  Kornes  dieselben  Fortschritte  in  Zwischenräumen  und 
Linien  macht,  wie  der  Dux,  aber  nicht  dieselben  Intervalle,  beson- 
ders Ton-  und  Halbtonschritte.  Das  hierzu  gegebene  Oktavenschema 
ist  £Edsch,  da  hier  ganz  dieselben  Beziehungen,  wie  in  dem  1.  Schema 
gegeben  ;sind  und  dadurch  eine  der  Imitation  fremde  Rücksicht- 
nahme auf  die  Beperkussion  und  Korrespondenz  der  Halbtonschritte 
stattfindet.  Das  Schema  darf  also  nicht  so,  wie  bei  Walther  aus- 
sehen : 

c    d  e  f   g  a   h     c 

•  g    a   h      c    d   e    f    g, 

sondern  muß,  wie  in  der  1.  Bernhardschen  Kopie  also  aufgezeich- 
net sein : 

cde/gahc 

g  a   h    cd    e  f  g. 


550 


Hennann  Gehrmann, 


Entgegen  der  Reperkussion  entspricht  sich  hier  g  =  cf,  femer  wird 
der  Gamstonschritt  a  h  mit  dem  Halbtonschritt  e  fy  und  der  Halb- 
tonschritt Ä  'c  mit  dem  Ganztonschritt  f  g  beantwortet.  Eine  solche 
Beantwortung  darf  aber,  wie  wir  wiederholen,  nur  in  einer  Imitation, 
nicht  in  einer  Fuge  geschehen. 

Weiter  wird  für  den  dorischen  und  äolischen  Modus  neben  einem 
Oktavenschema  noch  ein  gleichsam  harmonisches  gegeben.  In  diesem 
wird  die  Beperkussion  gezeigt,  in  jenem  hauptsächlich  die  Halbton- 
schritte  markirt.  Die  Beispiele  für  die  Reperkussion  sind  in  beiden 
Modi  in  gleicher  Weise  gegeben: 


Dorisch : 


Aolisch : 


E 


3Z 


^ 


^ 


-» 


s 


s 


X 


^ 


-* 


^ 


3 


^^ 


£ 


SL 


Nicht  so  verhält  es  sich  mit  den  Oktavenschemata  beider  Modi, 
da  durch  die  verschiedene  Lage  der  Halbtöne  die  Beziehungen  ver- 
schieden sind.  Das  Schema  des  dorischen  Modus  wird  in  abmrts 
gehenden  Tonleitern  gegeben,  um  die  Korrespondenzverhältnisse  an- 
schaulicher zu  machen: 


dchagfed 
O'  g  f   e  d     c     ha. 

Hier  entspricht  das  d  dem  a   als  Reperkussionston ,  das  c'dem 

g  wegen  der  natürlichen  Ordnung,  das  c~  entspricht  aber  auch  dem 

y  als  1.  Faktor  des  Halbtonschritts   c  h,  der  mit  dem  Halbtonschritt 

f  e  beantwortet  werden  muß.  Da  in  der  nun  verschobenen  natür- 
lichen Ordnung  auch  die  Reperkussionstöne  in  richtiger  Beziehung 
bleiben,  so  ist  dieselbe  fehlerfrei. 

Die  Tonleitern  des   äolischen  Modus  weisen  folgende  Verhält- 
nisse auf: 

a   h    c   d     e     y  g    a 

^     f  g  a  h    c   d   e 

a  korrespondirt  als  Reperkussionston  mit  e 

h  1  als  1.  Faktor  des  Halbtonschritts  h  "c  ebenfSEtUs  mit 

e,  als  entsprechendem  Faktor  von  ef. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker. 


551 


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7 

9 


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» 


» 


konespondirt   alg  2.  Faktor  von  h  e^  dem  2.  Faktor  von  ef^  also 

dem  f. 

»  wegen  natürlicher  Ordnung  dem  g. 

w^en  der  Reperkussion  dem  a, 

wegen  Halbtonschritts  dem  h. 

wegen  Halbtonschritts  dem  c. 

wegen  natürlicher  Ordnung  dem  7. 

wegen  Reperkussion  dem  e. 

So  weit  reichen  die  aus  der  Bernhardschen  Kopie  entlehnten 
Printzschen  Ausführungen,  Welche  er  noch  einmal  dahin  zusammen- 
faßt, daß  neben  der  Reperkussion  auf  eine  dem  Modus  gemäße  reine 
Transposition  gesehen  werden  müsse.  In  der  2.  Hälfte  dieses  Ab- 
schnitts handelt  Walther  zum  Theil  selbständig  von  Ohomlbearbei- 
tnngen.  So  weit  es  sich  hierbei  noch  um  Fugenbeantwortung  han* 
delt,  sind  diese  Ausßihrungen  von  Werckmeister  Hodeg.  aap.  45  ent- 
lehnt und  durch  Zusätze  erweitert.  Zunächst  wird  nun  gezeigt,  wie 
die  ßeperctissio  rhodi  bei  Beantwortung  von  Chorälen  nicht  so  genau 
beobachtet  werden  kann.  Denn  hier  muß  der  Cornea  dieselben  In- 
tervalle, wie  der  Dux  behalten.  Da  aber  hierdurch  der  Umfang 
eines  Modus  überschritten  wird,  so  muß  bisweilen  der  Comes  eine 
Quarte  unter,  oder  eine  Quinte  über  dem  Dux  anfangen,  während  er 
?on  rechtswegen  eine  Quinte  darunter,  oder  Quarte  darüber  begin- 
nen sollte.  Dieses  wird  durch  ein  Beispiel  erläutert:  Def  im  Dori-^ 
sehen  stehende  Choral  »Vater  unser  im  Himmelreich« 


t=t 


s 


* 


s 


22 


22: 


i 


müßte  nach  der  Hauptregel  in   der  Tonika,   also  eine  Quinte  tiefer 
oder  Quarte  höher  beantwortet  werden: 


3! 


25: 


t 


2£ 


■£ 


3 


-Ä^ 


Da  aber  hierdurch  die  Grenzen  des  Modus  um  eine  Sekunde  nach  der 
•Tiefe  überschritten  werden,  so  läßt  man  den  Cotnes  eine  Quarte 
unter  dem  Dux  anfangen ;  der  Ambitus  des  Modus  wird  dann  nicht 
überschritten,  die  Antwort  heißt  dann  also: 


I 


35: 


..^s^ 


^ 


j2 


1891. 


37 


552 


Hermann  Gehrmann, 


Andererseits  aber  muß  der  Comes  bisweilen  eine  Quinte  unter, 
oder  eine  Quarte  über  dem  Dilx  anfangen,  wo  es  von  rechtswegeu 
umgekehrt  sein  müßte.  Auch  hier  wird  ein  Beispiel  gegeben.  Dei 
im  Phrygischen  stehende  Choral:  »Christus,  der  uns  selig  macht«: 


I 


r  r  r  r 


r-^- 


ISl 


sollte  mit  dem  Reperkussionston,  dem  tieferen  A,     so     beantwortet 
werden : 


3i3E 


f  f  f  f  I  r~r^ 


Weil  aber  in  diesem  Falle  »der  Comes  im,ßs  aushält  und  noch  eine 

Secunda  fehlet,  ehe  die  Octava  e — e  erfüllet  ist,    so   lasse   ich   den 
Camitem  in  der  Quinta  unter  dem  Dax  anfangen  als: 


^EEl 


^ 


.Ä. 


22: 


^^' 


■u 


Hieraus  ergiebt  sich,  daß  Walther  zu  Anfang  einer  Fi^e  den 
Ambitus  des  Modus  unter  allen  Umständen  gewahrt  wissen  will,  und 
daß  aus  diesem  Grunde  bei  der  Beantwortung  von  Chorälen  die  Be- 
perkussion  nicht  so  streng  gewahrt  zu  werden  braucht.  Zum  Schluß 
dieses  Abschnitts  folgt  bei  Walther  eine  wichtige  Aufzählung  der 
üblichsten  Choralbearbeitungen.  Da  hierfür  bei  keinem  Theoretiker 
eine  Vorlage  zu  finden  war,  so  mögen  sie  an  dieser  Stelle  überhaupt 
zum  ersten  Male  aufgezählt  sein.  Die  Arten  sind  folgende:  >§  13: 
Eine  stimme,  entweder  der  Discant,  Alt,  Tenor  oder  Baß  führet  den 
Choral,  die  übrigen  certiren  und  coloriren  oder  wenns  Instrumenta 
sind  können  sie  geschleiftes  machen,  §  14:  Zwo  stimmen  führen  den 
Choral  eine  clausulam  umb  die  andere  oder  per  Canonem,  die  übri- 
gen certiren  oder  coloriren  oder  machen  geschleiftes  ,§15:  Drey 
stimmen  führen  zusammen  oder  wechselweise  den  Choral,  die  übri- 
gen coloriren,  certiren  oder  machen  geschleiftes,  §  16:  Vier  stimmen 
machen  den  Choral  auf  Art  einer  Fugen  oder  Canonis,  können  bis- 
weilen etwas  coloriren,  §  17:  Vier  stimmen  machen  den  schlechten 
Choral,  sind  Violinen  dabey,  so  können  dieselben  certiren,  coloriren 
oder  geschleiftes  machen.« 

Diese  Arten  können  mit  einander  verwechselt  werden,  namentlich 
folgt  die  letzte  gern  nach  einer  der  vier  ersten  Arten.  Auch  der 
Anfang  in  einer  der  vier  Stimmen  ist  beliebig. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker. 


553 


Hiermit  schließt  dieser  Abschnitt  über  die  Beperkussion,  in  dem 
nicht  nur  die  Aufzählung  dieser  Choralbearbeitungen  als  etwas  ganz 
Neues  uns  entgegen  tritt,  sondern,  was  wichtiger  ist,  auch  die  Thema- 
beantwortung in  der  Fuge.  In  wiefern  diese  einen  Fortschritt  gegen 
die  ältere  Fugenlehre  bedeutet,  wird  nach  einer  Schilderung  der- 
selben, durch  einen  Vergleich  mit  dieser  gezeigt  werden. 

Die  drei  folgenden  Kapitel,  Kap.  9 ,  10  und  11,  in  Walthers 
Lehre  enthalten  jene  ältere  Behandlung  der  Fuge,  wie  sie  von  Zar- 
lino  begründet  und  von  den  hervorragendsten  Theoretikern  bis  gegen 
1670  ausschließlich  gelehrt  wurde.  Kap.  10  ist  überschrieben  De 
Fugis  und  stammt  fast  ganz  aus  Bononcinis  Mitsico  Prattico  II  cap,  10, 
Das  Wesen  der  Fuge  wird  in  der  bisher  üblichen  Weise  erklärt, 
ihre  verschiedenen  Namen  und  ihre  große  Bedeutung  für  einen 
Komponisten  hervorgehoben.  Der  Dux  beginnt  im  Grund-  oder 
Quintton  des  Modus,  der  Comes  im  Unisonus,  Oktave,  Ober-  oder 
ünterquarte  oder  Ober-  oder  Unterquinte.  Nach  der  bekannten 
Sonderung  in  Fitga  libera  und  ligata  wird  die  erste  Gattung  in  Fuga 
propria,  impropria  (  =  Imitaiio),  authentica  (aufsteigend)  plagalis 
[absteigend)  recta  oder  F,  aequalis  motus  und  contraria  oder  F,  in- 
versa  genauer  eingetheilt.  Es  folgen  Regeln  über  das,  was  man  bei 
Verfertigung  einer  Fuge  zu  beobachten  hat.  Hier  wird  Alles  zu- 
sammengestellt, was  sich  bei  den  wichtigsten  Theoretikern  seit  Zar- 
lino  in  dieser  Beziehung  findet.  So  handeln,  um  nur  Einiges  her- 
vorzuheben, diese  Regeln  von  der  Vertheilung  des  Dux  und  Comes 
auf  die  4  Stimmen,  von  ihrer  Verwechslung,  ferner  von  den  zur  Aus- 
füllung einer  Harmonie  gesetzten  Stimmen.  Auch  über  Modulation 
und  über  dem  Modus  gemäße  Kadenzen,  über  die  Pausen  vor  Ein- 
tritt des  Themas  und  Verkürzung  der  Themanoten  wird  gesprochen 
und  schließlich  auf  die  Engführung  hingewiesen,  wenn  am  Schluß 
einer  Fuge  »das  Thema  so  viel  möglich  dicht  untereinander  ge- 
bracht wird«.  Zum  Schlüsse  dieses  Kapitels  folgen  noch  Betrach- 
tungen über  die  Fuga  contraria.  Während  in  dieser  die  Stimmen 
beliebig  sich  begegnen  können,  z.  B. : 


3.  Beispiel  aus  Bononcinis  11.  cap.  10. 


^—^—^ 


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i^ 


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is: 


^ — ^ 


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p^  r    ■; 


122: 


s: 


-.«^ 


^ 


-i^ 


:3r. 


«iT  t 


37 


554 


Hermann  Gfehnnann, 


jnüssen    in    einer  Fuga    contraria    inversa    die    durch  das    folgende 
Schema  gegebenen  Beziehungen  beobachtet  werden: 


z.  B. : 

aus  Bononeini  cap.  10. 


dchagfed 
d    ß  f  g    a    h    cd 


^    J 


W^ 


E 


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I   I  !  J    I 


E 


*3: 


s. 


jZ 


■«- 


1 


Doch  auch  Yerkehrungen  nach  anderen  Schemata  finden  sich. 
Solche  Schemata  sind: 


d    €  f  g    a   h    cd   ^^^^  ^  ^   ^    c   d  e  f  g 
agfedcHA  dchagfed. 

Auch  dasy  was  in  Kap.  11  über  die  Imitation  mitgetheüt  wird, 
schließt  sich  in  Text  und  Beispiel  getreu  der  Darstellung  des  Bo- 
noneini U  Kap.  11  an.  Hier  wird  die  Hauptdiffetenz  zwischen  Fuge 
und  Imitation,  die  in  der  Behandlung  der  Halbtonschritte  liegt,  nicht 
besonders  hervorgehoben;  nur  durch  das  Intervall  der  Beantwortung 
werden  sie  unterschieden.  Während  bei  der  Fuge  die  Beantwortung 
im  Unisonus,  Quart,  Quint  und  Oktave  stattfindet,  geschieht  sie  in 
der  Imitation  in  der  Sekunde,  Terz,  Sext  und  Septime.  Die  von 
Bononeini  entlehnten  Beispiele  sind  zum  Theil  von  Walther  falsch 
bezeichnet.  So  ist  das  1.  Beispiel  nicht  »eine  Fuga  in  der  Sekunda 
imitiretff,  sondern  in  der  Septima,  und  dementsprechend  das  8.  Bei- 
spiel nicht  eine  Fuge  in  der  Septime,  sondern  in  der  Sekunde.  Die 
Imitation  kann  sciolta  oder  ligata  sein,  und  sowohl  motu  recto  als 
contrario  stattfinden. 

Auch  Kap.  12  folgt  mit  größter  Treue  dem  Kap.  12  in  Bonon- 
cinis  Musico  prattico  II  und  handelt  in  Zarlino'scher  Weise  vom 
Canon  oder  Fuga  totalis^  ligata,  reditta,  int^gra  oder  mera,  Ihre  Be- 
schreibung nimmt  gemäß  ihrer  herrschenden  Stellung  in  der  alten 
Fugenlehre  einen  größeren  Baum  ein,  als  die  Beschreibung  der  an- 
deren Fugenformen.  Nach  dem  wiederholten  Hinweis  auf  den 
Unterschied  zwischen  einer  F.  sciolta  und  dieser  Fuga  ligata  wird 
der  Begriff  Kanon  erklärt.     Dieses  Wort  bedeutet  seit  Picerli,  daß 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  555 

die  erste  Stimme,  deren  Noten  von  den  anderen  Stimmen  nachge-. 
holt  werden  müssen,  für  diese  eine  Regel  ist,  von  welcher  die  an- 
deren Stimmen  nicht  abweichen  dürfen.  Die  ursprüngliche  Bedeu* 
tung  dieses  Worts  hat  sich  somit  verschoben.  Unter  Kanon  verstand 
Zarlino  jene  Zeichen,  Devisen  und  Regeln  für  die  Auflösung  des  in 
einer  2^ile  notirten  Fugenthemas.  Er  schilt,  daß  wenig  intelli- 
gente Musiker  das  Wort  Kanon  auf  die  mit  jenem  Zeichen  geschrie- 
bene Fuge  selbst  übertragen.  Bei  Calvisius  und  Sweelinck  sind  die 
Ausdrücke  Fuga  Ugata  und  Canon  bereits  Wechselbegriffe.  Aus  den 
weiteren  Äußerungen  heben  wir  hervor,  daß  der  Kanon  sowohl  frei, 
wie  gebunden  sein  kann.  Im  ersteren  Falle  darf  der  Komponist 
jede  Kon-  und  Dissonanz  gebrauchen,  im  letzteren  Falle  aber  muß 
er  »sich  einiger  Konsonanz  oder  Dissonanz  äußern«.  Femer  ist  ein 
Kanon  in  jedem  Intervall  möglich,  die  Bewegung  kann  gerade,  ent- 
gegengesetzt oder  zurückgehend  auf  vielerlei  Arten  geschehen.  Von 
einem  Canon ßnito  wird  ein  Canon  inßnito  getrennt,  der  auch  Cir- 
kelkanon  genannt  wird.  Werden  mehrere  Stimmen  aus  einer  Reihe 
gesungen,  so  hat  man  einen  geschlossenen  Canon  (chittso)^  weil  die 
folgenden  Stimmen  in  der  ersten  gleichsam  verschlossen  sind.  Hier 
muß  das  Signum  repeiitionis :  :§.  über  oder  unter  diejenigen  Pause 
oder  [Note  gesetzt  werden,  bei  welcher  die  andere  Stimme  anfangen 
soll;  das  Signum  conclusionis  aber  steht  da,  wo  sie  endigen  solL  Dies 
entspricht  jener  ursprünglichen  Bedeutung  des  Begriffs  »Kanon«. 
Ist  aber  der  Kanon  vollständig  ausgesetzt,  so  heißt  er  aperto  overo 
risoluto.  Durch  14  Beispiele,  unter  denen  sich  auch  die  wenigen 
bei  Bononcini  aufgezeichneten  finden,  werden  die  verschiedenen  Arten 
von  Kanon  vor  Augen  gestellt  und  damit  diese  Betrachtungen  ge- 
schlossen. 

Werfen  wir  nun  einen  Blick  auf  die  gesamte  die  Fuge  betref- 
fende Darstellung  Walthers,  so  dominirt  noch  die  ältere  Anschauung« 
Ihr  wird  der  bei  weitem  größte  Platz,  drei  Kapitel,  in  der  Darstel- 
lung eingeräumt.  Doch  tritt  schon  in  dem  Abschnitte  y>De  Beper^ 
cu9tione^  eine  neuere  zu  der  modernen  Quintfuge  überleitende  Be* 
handlung  der  Fuge  auf. 

In  jener  älteren  Lehre,  wie  sie  z.  B.  Zarlino,  Calvisius,  Walliser, 
Sweelinck,  Crüger  und  Herbst  darstellten,  wurden  nach  Absonderung 
der  Imitation  die  Fugen  selbst  in  eine  Fuga  sciolta  und  Ugata  ge-i 
schieden.  Während  die  letztere  ein  ganzes  Stück  hindurch  dauert^ 
wird  in  der  F.  libera  nur  ein  Theil  einer  Cantilene  nachgeahmt.  Ein 
anderer  Unterschied  ist  der,  daß  eine  Fuge  meistens  nur  in  einer  voll-; 
kommenen  Konsonanz,  ein  Kanon  dagegen  in  allen  Intervallen  beginnen 
darf.     Daher  gleichen  sich  Fuga  sciolta  und  Ixgßta  in  so  fern,  als  in 


556  Hennanil  Gehnnann, 


der  ersteien  ebenso,  wie  in  der  ligata,  also  wie  in  einem  Kanon, 
ohne  Kücksicht  auf  Ambitus  und  JReperctissio  das  Thema  immer  in 
dem  Intervall  beantwortet  wird^  in  welchem  die  Fuge  überhaupt  ge- 
setzt ist.  Dies  bezeugen  die  Beispiele  jener  genannten  Theoretiker. 
Im  Gegensatze  hierzu  steht  nun  die  in  dem  Abschnitte  De  Reper- 
cussione  gezeigte  Themabeantwortung.  Hier  versteht  man  unter 
Fuge  im  engsten  Sinne  nur  eine  Nachahmung  in  der  Quinte,  nicht 
mehr  wie  früher  auch  eine  solche  in  dem  Unisonus,  Oktave  und 
Quarte.  Diese  Beantwortungen  ziehen  sich  mehr  und  mehr  auf  das 
Gebiet  des  Kanons  zurück.  Vor  allem  ist  aber  auch  die  Beantwor- 
tung im  weiteren  Verlaufe  dieser  älteren  Quintenfuge  eine  von  der 
des  Kanons  verschiedene  geworden.  Der  Ambitus  des  Modus  soll 
unter  allen  Umständen  gewahrt  werden ;  dazu  ist  aber  die  Reperkus- 
sion  ein  geeignetes  Mittel.  Diese  Dinge,  die  früher  nicht  streng 
gehandhabt  wurden,  treten  jetzt  mit  größter  Schärfe  als  das  We- 
sentliche einer  Fugenbeantwortung  hervor.  Wurde  früher  in  der 
Quintenfuge  die  Tonika  mit  der  Dominante,  diese  wieder  mit  ihrer 
Dominante  u.  s.  f.  beantwortet,  so  entspricht  jetzt  die  Dominante 
der  Reperkussion  gemäß  nur  der  Tonika.  Was  früher  Hauptsache 
war,  daß  die  Dominante  wieder  mit  ihrer  Quinte  beantwortet  wird, 
tritt  jetzt  als  Ausnahme  auf.  Einmal  findet,  wie  wir  sahen,  diese 
Ausnahme  statt,  um  den  Ambitus  des  Modus  nicht  zu  über- 
schreiten, ein  anderes  Mal  in  Kadenzen ,  wobei  der  Ambitus  des 
Modus  überschritten  wird.  Dieser  Umstand  aber  weist  auf  eine 
Fugenbeantwortung  hin,  die  nicht  mehr,  wie  alle  übrigen  Ausfuh- 
rungen vom  melodischen  Gesichtspunkt  aus  geschieht,  sondern  in- 
direkt zum  ersten  Male  von  einem  harmonischen.  In  dem  weiter 
vorn  gezeigten  Beispiele  jener  Ausnahme  wird  eine  Tonikakadenz 
mit  einer  Dominantkadenz  und  somit  die  Quinte  des  tonischen  Drei- 
klangs mit  jener  des  Dominantdreiklangs  beantwortet.  Dieses  Ein- 
dringen des  harmonischen  Princips  in  die  Fugenlehre  ist  aber  ein 
höchst  bedeutendes  Moment.  [Denn  dadurch  wird  eine  ganz  neue 
Behandlung  der  Fuge  hervorgerufen,  (welche  jmit  der  älteren  Dar- 
stellung in  manchem  Widerspruche  steht.  Es  ergeben  sich  mithin 
für  die  Fugenlehre  zwei  große  Epochen.  In  der  ersten  Periode, 
welche  mit  Zarlino  beginnt,  wird  der  melodisch -kontrapunktische 
oder  rein  vokale  Standpunkt  vertreten  ;  es  ist  das  Zeitalter  des  Ka- 
non, der  eine  herrschende  Stellung  einnimmt.  Seit  Christoph  Bern- 
hard und  Reincken  aber  beginnt  eine  Änderung  in  der  Behandlung 
der  Fugen.  In  dieser  Übergangszeit,  der  auch  Walther  angehört, 
beginnt  man  ein?  größere  Sorgfalt  der  Fuga  sciolta  zuzuwenden, 
welche     sich   jetzt   vom  Kanon    dadurch   wesentlich    unterscheidet, 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  557 


dass  bei  ihrer  Beantwortung  die  Reperkussion  und  der  Ambitus  ge- 
wahrt werden  müssen.  Wurde  aber  in  dieser  Termittelnden  Zeit 
noch  wesenstich  der  kontrapunktische  Gesichtspunkt  gewahrt,  so 
gelangt  der  hier  erst  leise  hervortretende  harmonische  Gesichts- 
punkt in  der  2.  großen  Epoche,  welche  seit  dem  Erscheinen 
von  Seb.  Bachs  Fugen  werken  zu  rechnen  ist,  zur  herrschenden 
Stellung.  Diese  moderne  Periode,  welche  das  Zeitalter  der  Quinten- 
fuge genannt  werden  kann,  weist  zu  jener  ersten  folgende  Gegen- 
sätze auf:  Die  Herrschaft  des  Kanon  ist  gebrochen  und  die  Quinten- 
fuge, welche  sich  aus  jener  untergeordneten  Faga  sciolia  entwickelt 
hat,  dominirt.  An  Stelle  der  nur  vom  melodischen  Standpunkte 
aus  gehandhabten  Beantwortung  ist  eine  solche  getreten,  bei  welcher 
in  erster  Linie  die  harmonischen  Beziehungen  und  in  zweiter  Linie 
erst  die  melodische  Tonfolge  beobachtet  wird.  War  die  Hauptform, 
der  Fuge  bisher  die,  daß  über  eine  Choralmelodie  ein  Kanon  gesetzt 
wurde,  so  ändert  sich  auch  diese  Form:  Häufiger  als  eine  kanon- 
hafte Choralbearbeitung  tritt  jetzt  eine  selbständige  vom  Choral  los- 
gelöste Form  der  Fuge  auf. 

Daraus  erklärt  es  sich,  daß  bei  der  älteren  Darstellung  der  Fuge 
fast  ausschließlich  von  der  Beantwortung  des  Themas  und  nur  wenig 
von  der  Form  der  Fuge  selbst  gesprochen  wird,  da  diese  ja  durch 
den  Choral  vorgezeichnet  war.  In  der  modernen  Darstellung  aber 
wird  gerade  auf  die  selbständige  dreitheilige  Form  der  Fuge,  welche 
mit  dem  Choral  nichts  mehr  zu  thun  hat,  der  Nachdruck  gelegt. 
Wie  nahe  aber  Walther  dieser  neuen  Epoche  stand,  wird  klar,  wenn 
wir  noch  ein  wenig  uns  auf  die  in  dem  Abschnitte  De  Repercussione 
behandelt  Themabeantwortung  einlassen. 

Setzen  wir,  wie  es  Walther  bei  dem  jonischen,  dorischen  und 
äolischen  Modus  thut,  auch  von  den  drei  anderen  Modi  die  Oktaven- 
schemata und  merken  wir  ihre  Beziehungen  hinsichtlich  der  Reperkus- 
sion, der  natürlichen  Ordnung  und  der  Halbtonschritte  an,  so  finden 
wir,  daß  im  Jonischen,  Dorischen,  Phrygischen  (wenn  die  Reperkussion 

dieses  Modus  ehe  ist)  und  Lydischen  die  Clavesfxxn^  g  stets  einem 
c,  im  Mixolydischen  und  Aolischen  die  Claves  a  und  h  immer  einem 
e  korrespondiren.  Außer  bei  dem  Jonischen  und  Aolischen  finden 
diese  Korrespondenzen  nur  wegen  Rücksichtnahme  auf  Halbton- 
schritte statt.  Bei  dem  Jonischen  aber  liegt  in  dieser  Beziehung 
öines  f  und  g  auf  ein  c  eine  Rücksichtnahme  nicht  nur  auf  den 
Halbtonschritt,  sondern  auch  auf  die  Reperkussion  und  die  natürliche 
Ordnung  vor,  und  ebenso  fallen  bei  dem  Aolischen,  wenn  man  das 
Schema  abwärts  steigend  darstellt,  alle  diese  drei  Rücksichtnahmen 
in  dem   Verhältniß   a   und  h  zm  e  zusammen.     Daher  haben  diese 


558  Hermann  Gehnnami, 


beiden  Modi  eine  gewisse  Überlegenheit  über  die  anderen.  Der 
praktische  Musiker  hatte  überhaupt  nur  die  Schemata  dieser  beiden 
Modi  nöthig.  Wandte  er  das  Schema  an,  in  welchem  f  und  g  dem 
c  entsprechen,  so  hatte  er  in  diesem  Schema  fnr  Jonisoh,  Dorisch, 
Phrygisch  und  Lydisch  alle  richtigen  Verhältnisse;  und  im  anderen 
Falle,  wenn  er  jenes  Schema  nahm,  in  welchem  a  und  h  auf  e  be- 
zogen werden,  fand  er  zusammen  für  Mixolydisch  und  Äolisch  die 
richtigen  Korrespondenzen.  So  schrumpfen  denn  mit  Beziehung  auf 
die  Fugenbeantwortung  die  sechs  Modi  auf  zwei  Tonarten  zusammen, 
in  deren  Schemata,  zusammen  betrachtet,  alle  Verhältnisse  einer 
harmonischen  Themenbeantwortung  zu  finden  sind.  Denn  wenn/ 
und  g  dem  c;  und  a  und  h  dem  e  entspricht,  so  ist  im  diatonischen 

System  c — c  folgende  moderne  Beantwortung  möglich.  Der  Grund- 
ton des  tonischen  Dreiklangs  [c]  wird  mit  dem  Grundton  des  Domi- 
nant- \g)  oder  Unterdominantdreiklangs  (/)  beantwortet;  die  Quinte 
des  tonischen  Dreiklangs  (^)  wird  entweder,   und  zwar  ist  dies  das 

Regelrechte,  als  Dominante  mit  der  Tonika  c,  welche  zugleich  die 
Quinte  des  Unterdominantdreiklangs  ist,  beantwortet,   oder  mit  der 

Quinte  des  Dominantdreiklangs  {d) ;  die  Terz  des  tonischen  Dreiklangs 

[e)  entspricht  der  Terz  des  Ober-  oder  Unterdominantdreiklangs  (a 

oder  h).  Wie  schon  gesagt,  bildet  die  Walthersche  Darstellung  zu 
dieser  ganz  modernen  Auffassung  eine  Art  Ubei^^g.  Dieser  Über- 
gang von  einer  älteren  Anschauung  zu  einer  neueren  tritt  uns  am 
frühesten  in  dem  Tractatus  compositionts  augmentatus  von  Chr.  Bern- 
hard entgegen.  Denn  hier  wird  zum  ersten  Mal  auf  die  Beperkus- 
sion  und  den  Ambitus  des  Modus  eine  größere  Rücksicht  genommen. 
In  Kap.  53  wird  darauf  hingewiesen,  daß  in  einer  Consociation  der 
Modi  (d.  i.  Vereinigung  der  authentischen  und  plagalen  Lage)  die 
Fugen  am  besten  dem  Ton  gemäß  angebracht  werden,  und  daß  hier 
die  Quarte  mit  der  Quinte  und  umgekehrt  beantwortet  wird  z.  B. 
c  g  mit  g  c  oder  g  c  mit  c  g.  Dieser  Consociation  der  Modi  wird  in 
Kap.  54  die  Aequatio  modorum  gegenübergestellt,  wo  die  andere 
Stimme  einer  Fuge  der  ersten  nur  Ratione  quintae  oder  quartae 
ähnlich  ist  und  Quarten  wie  Quinten  in  der  Antwort  unverändert 
bleiben.  Es  wird  hinzugefügt,  daß  diese  Art  mehr  in  Gängen,  als 
Sprüngen  und  mehr  in  der  Mitte,  als  im  Anfange  gebraucht  werde. 
Ein  anderer  Theoretiker,  der  in  dieser  Weise  die  Fugen  beantwortet 
wissen  will,  ist,  wie  wir  schon  sahen,  Job.  Adam  Reincken,  der  im 
1.  Traktat  seiner  handschriftlichen  Lehre  näher  auf  diese  Art  der 
Beantwortung    eingeht.      Sodann    weist    Werckmeister   im   Hodegus 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  559 

cap.  45  anf  den  neuen  Unterschied  zwischen  Ftiga  soluta  nnd  Canon 
hin,  der  eben  darin  besteht,  daß  in  der  Fuga  soluta  die  Repercussio 
beobachtet  wird,  was  im  Canon  nicht  der  Fall  ist.  Schließlich  be* 
tont  noch  Frintz  im  Satyrischen  Comp,  die  Bedeutung  der  Reper- 
kussion  für  die  Fuge;  von  ihm  soll  ja  auch  nach  Angabe  des  ano- 
nymen Verfassers  des  1.  Theils  der  4.  Bernhardschen  Kopie  jenes 
Citat  stammen,  welches  Walther  aus  jener  Kopie  schöpfte.  Diese 
neuere  Art  von  Beantwortung  wird  also  namentlich  von  mitteldeut- 
schen Theoretikern  verfochten  und  ^scheint  in  der  Sweelinckschen 
und  Bernhardschen  Schule,  wie  wir  sahen,  zuerst  gebräuchlich  ge* 
wesen  zu  sein.  Besonders  dadurch  wird  diese  Yermuthung  verstärkt, 
daß  Bononcinis  Musico  prattico^  der  1673  also  3  Jahre  später»  als 
Reinckens  Lehre  erschien,  ausschließlich  in  jener  alten  Zarlino'schen 
Weise  von  den  Fugen  handelt.  Es  ist  das  ein  Beweis  dafür,  daß  in 
Italien  jene  ältere  aus  der  Vokalmusik  abstrahirte  Fugenlehre  sich 
länger  erhielt,  als  im  Norden,  wo  infolge  der  größeren  instrumentalen 
Einflüsse  die  Fuge  bereits  in  einem  Wandlungsproceß  zu  einer  neuen 
Form  begriffen  war. 

Schneller  und  deutlicher  aber,  als  bei  der  konservativeren  Fuge 
vollzog  sich  eine  Wandlung  in  der  Lehre  des  doppelten  Kontrapunkts. 
Walther,  der  zum  Schluß  seiner  Lehre  eine  Abhandlung  »Von  denen 
doppelten  Kontrapunkten  a  folgen  läßt,  steht  hier  ebenfalls  auf  jenem 
neuen  Boden.  Ehe  wir  aber  auf  seine  Darstellung  eingehen,  wollen 
wir  einen  Blick  auf  die  frühere  Geschichte  des  doppelten  Kontra- 
punkts werfen. 

Zailino,  der  diesen  Kontrapunkt  zum  ersten  Male  gründlich 
lehrt,  beschreibt  ihn  Ist.  III  im  allgemeinen  so :  In  einem  doppelten 
Kontrapunkt  können  die  beiden  Stimmen  in  der  Umkehrung  in  ein 
beliebiges  Intervall  versetzt  werden,  doch  dürfen  keine  Fehler  gegen 
die  Stimmführungsregeln  stattfinden.  Da  nun  eine  Versetzung  jeder 
einzelnen  Stimme  in  jedes  Intervall  stattfinden  kann,  so  giebt  es  eine 
große  Menge  von  verschiedenen  Arten  dieses  Kontrapunkts.  Zarlino 
zählt  von  diesen  die  5  gebräuchlichsten  auf.  Um  nur  ein  Beispiel 
zu  geben,  wie  er  dies  thut,  fuhren  wir  seine  Erklärung  der  als  dop- 
pelter Kontrapunkt  alla  duodecima  ausdrücklich  bezeichneten  Art  an: 
Die  höhere  Stimme  des  Principals  wird  in  der  Meplica  eine  Duodecime 
tiefer  und  die  tiefere  eine  Oktave  höher  motu  recto  gesetzt.  Eine 
andere  hiervon  verschiedene  Art  ist  bei  ihm  diejenige,  in  welcher 
bei  der  Umkehrung  die  höhere  Stimme  eine  Quinte  erniedrigt  und 
die  tiefere  um  eine  Oktave  erhöht  wird.  Diese  Art  wird  von  Zarlino 
nicht,  wie  von  uns,  als  ein  Kontrapunkt  in  der  Duodecime  bezeichnet. 
Hieraus  geht  hervor,  daß  die  obige  Bezeichnung  »Kontrapunkt  alla 


5gf)  Hermann  Oehrmann, 


Duodecimai^  dadurch  bestimmt  ist,  daß  in  der  That  die  höhere  Stimme 
um  eine  Duodecime  versetzt  wird.  Es  ist  hier,  bei  Zarlino,  noch 
eine  rein  äußerliche  Unterscheidung  der  Arten.  Von  seinen  5  näher 
beschriebenen  Arten  gehören  je  2  unserem  doppelten  Kontrapunkt 
alla  duodecima  und  decima  an;  während  eine  Art  den  doppelten 
Kontrapunkt  in  motu  contrario  betrifft.  Es  ist  von  Interesse,  daß 
ein  Kontrapunkt  alla  octava  von  Zarlino  nicht  besonders  aufgeführt 
wird ;  dieser  gehört  also  noch  nicht  zu  den  gebräuchlichsten  Formen. 
Den  1.  Platz  räumt  Zarlino  vielmehr  dem  doppelten  Kontrapunkt  in 
der  Duodecime  ein.  Dieser  ist  also  die  bevorzugteste  Form  in  der 
älteren  Lehre.  Es  tritt  aber  hier  eine  umgekehrte  Wandlung  ein, 
als  diejenige  ist,  welche  in  der  Fugenlehre  vor  sich  geht.  Während 
in  der  älteren  Lehre  im  Reiche  der  Fugen  der  Kanon  in  der  Oktave 
und  gleichsam  als  künstlerischer  Gegensatz  dazu  im  doppelten  Kontra- 
punkte der  in  der  Duodecime,  oder  was  dasselbe  ist,  in  der  Quinte 
herrschte,  die  Quintfuge  aber  und  ein  doppelter  Kontrapunkt  in  der 
Oktave  nur  unbedeutende  Bollen  spielten,  kehrt  sich  dieses  Ver- 
hältniß  in  der  neueren  Lehre  um.  An  Stelle  des  nicht  mehr  domi- 
nirenden  Oktavenkanons  ist  die  Quintfuge  und  dementsprechend  an 
Stelle  des  doppelten  Kontrapunkts  in  der  Duodecime  der  alla  octava 
getreten,  während  jene  beiden  früher  vorherrschenden  Formen  jetzt 
bescheidene  Stellungen  einnehmen.  Wie  schon  angedeutet,  vollzog 
sich  die  Wandlung  in  der  Lehre  vom  doppelten  Kontrapunkt  schneller 
als  bei  der  Fuge.  Ähnlich  wie  bei  dieser  ist  auch  bei  dem  doppelten 
Kontrapunkt  die  Entwicklung  schneller  im  Norden,  als  im  Süden 
erfolgt.  Denn  in  jenem  2.  Theil  des  Hamburger  Manuskripts  tritt 
uns  zum  ersten  Male  die  Darstellung  einer  modernen  Lehre  vom 
doppelten  Kontrapunkt  entgegen.  Diese  Darstellung  ist  aber  so 
gründlich  und  umfassend,  daß  man  daraus  auf  eine  schon  lange  vor 
jener  Aufzeichnung  gang  und  gäbe  gewesene  Anwendung  dieser 
Formen  schließen  muß. 

Nicht  so  rasch  also  wie  im  Norden  vollzog  sich  im  Süden  diese 
Wandlung.  So  steht  1673  Bononcini  im  Musico  pratiico  noch  gani 
auf  Zarlinoschen  Anschauungen.  Doch  unterscheidet  er  sich  darin  von 
Zarlino,  daß  er  dessen  verschiedene  Arten  der  Umkehrung  nach 
gemeinsamen  Gesichtspunkten  zusammenfaßt  und  bestimmt  nun  ver- 
schiedene doppelte  Kontrapunkte  aufzählt.  Diese  sind  doppelte  Kon- 
trapunkte alla  Terza^  Quarta,  Quinta^  Sexta^  Sepitma,  Octava,  Decima, 
Ufidecima  und  Duodecima.  Jede  dieser  Arten  kann  man  in  mehr- 
facher Weise  ausführen.  Unter  einem  Kontrapunkt  alla  Duodecima 
wird  jetzt  nicht  nur,  wie  bei  Zarlino,  eine  Art  verstanden,  sondern 
drei.     Die  erste  Art   ist  die,   in  welcher   eine  über   das  Subjekt  um 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  5g  | 

eine  Duodecime  höher  stehende  Stimme  um  eine  Duodecime  erniedrigt 
wird,  während  das  Subjekt,  das  stets  ein  Cantus ßrmus  ist,  unver- 
ändert bleibt.  In  der  2.  Art  wird  die  kontrapunktirende  Stimme 
unverändert  gelassen  und  das  Subjekt  wird  um  eine  Duodecime  er- 
höht; in  der  3.  Art  wird  der  Kontrapunkt  um  eine  Quinte  vertieft 
und  das  Subjekt  um  eine  Oktave  erhöht.  Daß  eine  vollständige 
Zusammenziehung  aller  zum  doppelten  Kontrapunkt  alla  Duodecirnq 
gehörigen  Arten  hier  doch  noch  nicht  stattgefunden  hat,  geht-  daraus 
hervor,  daß  der  doppelte  Kontrapunkt  in  der  Quinte  bei  Bononcini 
besonders  betrachtet  wird.  Einen  Fortschritt  gegenüber  Zarlino  be- 
grüßen wir  insofern  bei  Bononcini,  als  bereits  dem  Kontrapunkt  in 
der  Oktave  eine  größere  Aufmerksamkeit  gewidmet  wird.  Diesen 
stellt  Bononcini  ebenso  ausführlich  mit  Beispielen  dar,  wie  den  dop- 
pelten Kontrapunkt  alla  Quinta,  Decima,  Duodecima  oder  Terza.  Der 
erste  Italiener,  welcher  diese  Disciplin  in  neuer  Form  darstellt,  ist 
Berardi.  Dieser  handelt  im  2.  Buch  seiner  Documenti  armonici  von 
1687  in  moderner  Weise  vom  doppelten  Kontrapunkt  in  der  Oktave, 
Decime  und  Duodecime.  Auch  auf  dem  Gebiete  der  Fuge  wandelt 
er  neue  Wege,  indem  er  eine  mehr  vom  harmonischen  Gesichts- 
punkte aus  stattfindende  Beantwortung  des  Fugenthemas  lehrt.  (Do- 
cumento  XVI  Hb,). 

Die  ältere  und  neuere  Lehre  des  doppelten  Kontrapunkts  unter- 
scheiden sich  in  folgenden  Punkten:  Die  Menge  der  verschiedenen 
Arten,  welche  schon  bei  Bononcini  gesichtet  wird,  schrumpft  auf  drei 
Hauptarten  zusammen,  denen  aber  eine  große  Vielseitigkeit  der  Aus- 
fuhrung gewahrt  bleibt.  In  der  älteren  Lehre  richtete  man  das 
Augenmerk  auf  die  in  einer  Stimme  aufeinanderfolgenden  Intervalle ; 
eine  möglichst  getreue  Nachahmung  dieser  in  der  Umkehrung  war 
der  Zweck.  In  der  neueren  Darstellung  aber  betrachtete  man  die 
von  den  beiden  in  Frage  kommenden  Stimmen  gebildeten  Intervalle; 
auf  eine  möglichst  entsprechende  Umkehrung  dieser  kommt  es  jetzt 
an.  Also  die  aus  einer  ursprünglisch  melodischen  Betrachtung  ent- 
sprungenen Regeln  wurden  gegen  neue,  aus  einer  harmonischen  An- 
schauung entstandene  Kegeln  vertauscht,  welche  in  einer  übersicht- 
licheren und  zweckentsprechenderen  Weise  dasselbe  Resultat  erzielen, 
wie  jene  älteren  Regeln.  In  drei  Schemata,  die  zuerst  Berardi  auf- 
stellt, ist  gleichsam  die  Quintessenz  der  ganzen  neuen  Lehre  vom 
doppelten  Kontrapunkt  enthalten: 


552  Henaann  Oehrmaim, 


Schema  füi  den  Schema  f&r  den  Sdiema  für  den 

dopp.   Kontrapunkt    dopp.   Exintraponkt     dopp.   Kontrapunkt 
in  der  Oktare :  in  der  Deeime :  in  der  Duodecime : 


1 

8 

2 

7 

3 

6 

4 

5 

5 

4 

6 

3 

7 

2 

8 

1 

1 

10 

2 

9 

3 

8 

4 

7 

5 

6 

6 

5 

7 

4 

8 

3 

9 

2 

10 

1 

1 

12 

2 

11 

3 

10 

4 

9 

5 

8 

6 

7 

7 

6 

8 

5 

9 

4 

10 

3 

11 

2 

12 

1 

Ferner  wird  der  doppelte  Kontrapunkt  nicht  mehr  über  einen 
Canius  firmuSy  was  zum  Theil  in  der  älteren  Lehre  geschah«  kompo- 
nirt,  sondern  besteht  ans  gleichberechtigten  bewegten  Stimmen. 
Ein  weiterer  Gegensatz  ist  der,  daß  in  der  älteren  Lehre  die  Bei- 
spiele nur  im  gebundenen,  vokalen  Stile,  in  der  neueren  Lehre  aber 
sowohl  im  gebundenen^  wie  instrumentalen  Toccatenstile  g^eben  sind. 
So  herrscht  im  Hamburger  Manuskript  2.  Theil  Toccatenstil  vor,  bei 
Berardis  Beispielen  aber  vokaler  Stil. 

Walthers  Lehre  von  diesem  Kontrapunkt  ist  durchaus  aus  nor- 
dischen Quellen  zusammengestellt  und  zwar  schöpft  er  aus  Chr.  Bern- 
hards Traktat  vom  doppelten  Kontrapunkt,  der  als  »Anhang«  die 
letzten  Kapitel  im  Ausfuhrlichen  Bericht  von  den  Kon-  und  Disso- 
nanzen ausmacht,  femer  aus  dem  2.  Theil  des  Hamburger  Manu- 
skripts. 

Bei  der  Eintheilung  geht  Walther  insofern  selbständig  vor,  als 
er  die  Arten  des  drei-  und  vierfachen  Kontrapunkts,  die  im  Ham- 
burger Manuskript  und  bei  Bernhard,  wie  in  der  älteren  Lehre,  erst 
nach  dem  doppelten  behandelt  werden,  in  die  Darstellung  des  dop- 
pelten Kontrapunkts  einordnet. 

Mit  allgemeinen  Vorbemerkungen,  die  sämmtlich  aus  Bernhards 
Abhandlung  entlehnt  sind,  beginnt  Walthers  Darstellung.  »Der  dox>- 
pelte  Kontrapunkt  ist  eine  Komposition,  in  welcher  2,  3  oder  4  Me- 
lodeyen  also  in  einander  geflochten  werden,  daß  sie  alle  zugleich, 
die  eine  unten,  die  andere  oben,  die  dritte  und  vierte  in  der  mitten, 
et  vice  versa  zu  stehen  kommen  c 

Nach  der  Stellung  des  Halbtons  in  der  Umkehrung  zerfällt  der 
Kontrapunkt  in   2   Gruppen.     Kommt    der  Halbton   an   seinen  ge- 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  5jg3 


hörigen  Ort,  so  ist  es  der  Kontrapunkt  alla  Ottata,  koBunt  er  nicht 
an  seiiien  gehörigen  Ort,  so  ist  es  ein  Kontrapnnkt  alla  ßecima  oAet 
Duodecima. 

Mit  größter  Ausführlichkeit  folgt  die  Lehre  vom  doppelten  Kontra- 
punkt in  der  Oktave.  Bei  der  Verwechslung  setzt  man  die  untere 
Stimme  eine  Oktave  höher,  die  höhere  eine  Oktave  liefer.  Dur^th 
das  bekannte  Zahlensohema  werden  die  Umkehrungen  der  Intervalle 
gexeigt.  Da  die  Quinte  in  der  Umkehrui^  eine  Quarta  non/undata 
wird,  so  ist  sie  zu  meiden.  Es  folgen  Stimmführungsregeln,  um  ver- 
botene Fortschreitangen  sowohl  in  der  FrincipaLstinune,  wie  in  der 
Beplica  zu  vermeiden.  In  einem  Beispiel  werden  alle  Kon-  und  Disso- 
nanzen vorgestellt.  Doch  auch  die  Quinte  darf  gebraucht  werden, 
wenn  durch  sie  keine  verbotenen  Fortschreitungen  entstehen.  Am 
'  besten  kann  sie  daher  in  einem  Kontrapunkt  mot  contrario  gebraucht 
werden;  bei  gerader  Bewegung  aber  muß  sie  synkopirt  sein. 

Es  folgen  besondere  Arten  vom  doppelten  Kontrapunkt  allu 
Ottava^  die  in  derselben  Reihenfolge,  wie  im  Hamburger  Manuskript 
aufgezeichnet  sind. 

In  der  1.  Art  macht  die  andere  Stimme  nach  einer  kleinen  Pause 
der  ersten  Stimme  alles  nach,  und  zwar  entweder  motu  recto  oder 
contrario  im  Unisonus,  4,  5  oder  8. 

Eine  andere  Art  ist  der  Camm  per  augmentationem^  wo  die  zweite 
Stimme  alle  Bewegungen  der  ersten  noch  einmal  so  langsam  motu 
recto  oder  contrario  nachmacht. 

Die  letzte  oder  wie  im  Hamburger  Manuskript  gesagt  wird  die 
1  künstlichste«  Art  ist  die,  in  welcher  ein  Kontrapunkt  vor-  oder 
rückwärts  entweder  1)  motu  recto  oder  contrario  oder  2)  per  augmen- 
tationem  motu  recto  oder  contrario  zu  verkehren  ist. 

Je  komplicirter  diese  Arten  sind,  desto  beschränkter  sind  die 
Freiheiten  in  Bezug  auf  die  Intervallfortschreitungen.  Besonders  für 
ditee  letzte  Art  fährt  Wolther  noch  einmal  die  StimmfiUimngstegeln 
an.  Ehe  er  nun  zu  dem  d.oppelten  Kontrapunkt  in  der  Decime 
und  Duodecime  übergeht,  kommt  er  kurz  noch  auf  den  drei-  und 
vierfachen  Kontrapunkt  zu  sprechen.  Und  zwar  behandelt  er  des- 
halb an  dieser  Stelle  den  dreifachen  Kontrapunkt,  weil  für  diesen 
die  Regeln  des  doppelten  Kontrapunkts  in  der  Oktave  gelten. 

Der  vierfache  Kontrapunkt  aber  wird  deshalb  hier  eingeordnet, 
weil  in  der  gebräuchlichsten  Replica  die  beiden  Außenstimmen  Dis- 
kant und  Baß  im  doppelten  Kontrapunkt  alla  Ottava  gesetzt  werden. 
Hier  fehlt  ein  Beispiel.  Es  werden  nach  Bernhards  Ausführlichem 
Bericht  Kap.  29  nur  noch  Stimmführungsregeln  und  noch  einige  andere 
Umkehrungen  mitgetheilt. 


5g 4  Hermann  Gehimann, 


Es  folgt  der  doppelte  Kontrapunkt  alla  Decima,  also  nicht  wie 
im  Hamburger  Manuskript  oder  bei  Bernhard  erst  der  Kontrapunkt 
in  der  Duodecime.  Hier  wird  besonders  aus  dem  Hamburger  Manu- 
skript geschöpft. 

Eine  von  beiden  Stimmen  muß  in  der  Umkehrung  eine  Terz  oder 
Decime  höher  oder  tiefer  angebracht  werden.  Die  ümkehrungen  der 
Intervalle  werden  durch  das  bekannte  Schema  gezeigt,  und  im  An- 
schluß an  das  Hamburger  Manuskript  durch  Beispiel  und  Stimm- 
fiihrungsregeln  dieser  Kontrapunkt  näher  dargestellt. 

Aus  Bernhards  Ausführlichem  Bericht  ist  Walthers  Beschreibung 
des  doppelten  Kontrapunktes  in  der  Duodecime  geschöpft.  In  der 
Umkehrung  dieses  Kontrapunktes  wird  eine  von  beiden  Stimmen  eine 
Duodecime  oder  Quinte  tiefer  oder  höher  angebracht,  während  die 
andere  Stimme  in  entgegengesetzter  Weise  eine  Oktave  höher  oder 
tiefer  zu  stehen  kommt.  Auch  hier  werden  besondere  Stimmfuhrungs- 
regeln  gegeben.  Zum  Schlüsse  folgen  noch  Regeln  für  einen  vier- 
fachen Kontrapunkt  per  motum  confrarium,  die  aus  dem  Ausführ- 
lichen Bericht  von  Bernhard  stammen.  Daß  diese  Form  an  dieser 
Stelle  dargestellt  wird,  hat  darin  seinen  Grund,  daß  Diskant  und  Baß, 
die  beiden  wichtigsten  Stimmen,  hier  in  der  Umkehrung  im  doppelten 
Kontrapunkt  alla  Duodecima  gesetzt  sind.  Nach  wenigen  Stimm- 
fiihrungsregeln  für  diese  letzte  Form  eines  mehrfachen  Kontrapunkts 
schließt  die  Walthersche  Lehre  und  damit  auch  unsere  Beschreibung 
derselben. 


III. 

Die  Betrachtung  der  Lehre  Walthers  als  einer  Yorarbeit  za  seinem 

Lexikon« 

1.  Allgemeines. 

Auf  dem  Titelblatte  jenes  Musikalischen  Lexikons  vom  Jahre  1732 
weist  Walther  darauf  hin,  daß  im  Lexikon  nicht  nur  die  Musici  alter 
und  neuer  Zeit  angeführt,  »Sondern  auch  die  in  Griechischer,  La- 
teinischer, Italiänischer  und  Frantzösischer  Sprache  gebräuchliche 
Musikalische  Kunst-  oder  sonst  dahin  gehörige  Wörter,  nach  Alpha- 
betischer Ordnung  vorgetragen  und  erkläret,  Und  zugleich  die  meisten 
vorkommenden  Signaturen  erläutert  werden«. 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  565 


Für  diesen  theoretischen  Theil  des  Lexikons  aber  darf  Walthers 
Lehre  als  eine  Vorarbeit  gelten.  Denn  ein  großes  hier  niedergelegtes 
Material  wurde  in  das  Lexikon  herübergenommen.  Doch  nicht  im- 
mer in  derselben  Weise,  wie  in  der  Lehre  wird  das  große  Material 
im  Lexikon  verwendet.  Im  Vergleich  zur  Lehre  weichen  die  lexiko- 
graphischen Darstellungen  in  mehrfacher  Beziehung  ab.  Häufig  be- 
gegnet uns  freilich  eine  nicht  nur  sachliche,  sondern  zum  Theil  auch 
wörtliche  Übereinstimmung  zwischen  den  Ausführungen  in  Walthers 
Lehre  und  Lexikon;  so  decken  sich  große  Iheile  der  Beschreibung 
von  den  Ligaturen,  Punkten  und  einigen  Figuren,  ferner  von  den 
Proportionen,  Intervallen  und  Modi. 

Daß  selbst  hier  nur  von  einer  theilweisen  Übereinstimmung  ge- 
sprochen werden  kann,  hat  darin  seinen  Grund,  daß  die  in  der  Lehre 
gegebene  Beschreibung  eines  Begriffs  oder  einer  Disciplin  im  Lexikon 
theils  beschnitten,  theils  erweitert  wird. 

Vielfach  geschieht  beides  zugleich.  Dies  gilt  als  Regel  für  die 
mehr  melopoetischen  Begriffe,  unter  denen  eine  Form  gedacht  wird, 
wie  Kanon,  Fuge  u.  s.  w.  Bei  diesen  Begriffen  wird,  wie  in  der 
Lehre,  eine  Erklärung  und  kurze  Erläuterung  der  Begriffe  selbst  ge- 
geben; die  in  der  Lehre  folgende  ausführliche  Darstellung  ihrer  An- 
wendung fehlt  im  Lexikon,  insofern  ist  also  die  Darstellung  aus  der 
Lehre  im  Lexikon  beschnitten.  Andererseits  aber  .werden  noch  sämt- 
liche andere  Namen  für  diese  Begriffe  und  ihre  Varianten  angegeben, 
die  in  der  Lehre  fehlen,  insofern  ist  die  Darstellung  aus  der  Lehre 
im  Lexikon  erweitert. 

Es  wird  im  Gegensatze  zu  den  elementaren  Begriffen  bei  den 
melopoetischen  nur  zum  kleineren  Theil  der  Darstellung  in  der  Lehre 
gefolgt.  Der  Umstand  nun,  daß  bei  den  elementaren  Begriffen  ihr 
Gebrauch  ganz  ausführlich,  bei  den  melopoetischen  nur  sehr  kurz 
beschrieben  wird,  beweist,  daß  für  den  theoretischen  Theil  des  Le- 
xikons eine  vorherrschend  elementare  Darstellung  gewählt  wurde. 
Warum  nun  Walther  dies  thun  mußte,  soll  jetzt  gezeigt  werden.  In 
der  Darstellung  der  Theorie  sind  zwei  verschiedene  Arten  maßgebend. 
Die  erstere  Art,  welche  bei  der  Abfassung  von  Gesangunterrichts* 
büchern  befolgt  wird,  ist  diejenige,  in  welcher  die  einzelnen  Ab- 
schnitte einen  in  sich  abgeschlossenen  Eindruck  machen  und  daher 
auch,  wenn  sie  aus  dem  Zusammenhange  herausgenommen  werden ^ 
jeder  für  sich  ein  verständliches  Ganzes  bilden.  Ihre  Aufeinander- 
folge im  Zusammenhange  ist  nicht  immer  streng  logisch.  Anders 
verhält  es  sich  bei  der  zweiten  Art,  welche  für  die  Anfertigung  von 
Melopöien  in  Frage  kommt. 

Hier  sind  die  einzelnen  Abschnitte,  wenn  sie  aus  dem  Zusammen- 


556  Hennann  Oehrmann, 


hange  herausgeoommen  und  für  sich  betrachtet  werden,  weniger  ver- 
ständlich; sie  sind  in  sich  weniger  abgeschlossen.  Sie  stehen  alle 
durch  gegenseitige  Ergänsting  in  einem  viel  innigeren  Zusammen- 
hang, und  ihre  Aufeinanderfolge  ist  an  eine  bestimmte  logische  Ord- 
nung gebunden.  Angeregt  durch  die  Lippius'sche  Eintheilung  des 
theoretischen  Stoffes  in  Materie  und  Form,  bezeichnen  wir  jene  erste 
Art  der  Darstellung  als  die  materiale,  elementare  oder  äußerliche, 
die  zuletzt  geschilderte  als  die  formale  oder  innere  Beschreibung. 

In  einem  Lexikon  nun,  wo  ja  eine  alphabetische  Anordnung  des 
Materials  stattfindet,  wird  auch  die  Darstellung  der  Theorie  nur  eine 
überwiegend  elementare  sein  können,  da  infolge  dieser  alphabetischen 
Ordnung  von  einer  zusammenhängenden  Beschreibung  der  Theorie 
nicht  die  Rede  sein  kann,  sondern  nur  von  einer  getrennten  Dar- 
stellung ihrer  einzelnen  Abschnitte. 

So  tritt  zwischen  der  theoretischen  Darstellung  einer  Melopöie 
und  eines  Lexikons,  außer  den  äußeren  Gegensätzen  in  der  Anord- 
•nung,  die  einerseits  logisch  oder  innerlich,  andererseits  alphabetisch 
und  äußerlich  ist,  noch  folgende  Discrepanz  auf:  In  einem  Lexikon 
vdrd  der  Hauptnachdruck  auf  das  gelegt,  was  zwar  in  einer  Kom- 
positionslehre ein  wesentlicher  Bestandtheil ,  aber  nicht  die  Haupt- 
sache selbst  ist,  auf  die  Elemente;  in  einer  Kompositionsldhre  aber 
wird  das  Augenmerk  hauptsächlich  auf  ein  richtiges  kuiiBtmäOiges 
Operiren  mit  den  zur  Komposition  nöthigen  technischen  HilfiBmittehi; 
eben  den  Elementen,  gerichtet,  auf  die  Formenlehre. 

Für  die  Erweiterungen  der  elementaren  Darstellung  im  Lexikon 
sind  auch  historische  Gründe  maßgebend. 

Nicht  nur  nach  der  antiken,  sondern  auch  nach  der  modernen 
Seite  hin  wird  die  elementare  Darstellung  in  der  Lehre  von  jener 
des  Lexikons  übertroffen.  Italienische,  namentlich  aber  französische 
Bezeichnungen  sind  hier  reichhaltiger,  als  in  der  Lehre.  Dies  liegt 
ganz  natürlich  schon  darin  begründet,  daß  das  Lexikon  20  Jahre 
später,  als  die  Lehre  abgefaßt  war.*  Für  den  theoretischen  Theil  des 
Lexikon  standen  Walther  neue  Quellen  zu  Gebote,  welche  er  vor 
•1708,  dem  Abfassungsjahr  seiner  Lehre  nicht  kannte.  Unter  den 
"vielen  Schriftstellern,  deren  Werke  er  hier  zum  ersten  Male  heran- 
zieht, ragen  besonders  drei  Theoretiker  hervor,  und  unter  diesen  ab 
der  am  meisten  benutzte  Mattheson.  Seine  Schriften,  soweit  sie 
zwischen  1708 — 172-9  erschienen  sind,  wurden  die  einflußreichste 
Quelle  für  das  Lexikon  überhaupt;  für  den  theoretischen  Theil  des- 


1  Das  Lexikon  wurde  1728  im  Winter  begonnen,  wie  Walther  im  Vorberiefet 
mittheih,  und  erschien  vollstftndig  1732. 


Johann  Gbttfried  Walther  als  Theoretiker.  557 


selben  kommen  von  Mattheson  namentlich  die  drei  Eröffnungen  des 
Oichesters  (1713,  1717  und  1721),  seine  Bearbeitung  von  Niedts  Hand- 
leitung 1724  und  seine  Critica  mtmca  I  1722  und  11  1725  in  Frage; 
femer  ist  Loulii^  Elements  ou  Principes  de  Musique  divisez  en  träte 
Parties  Amsterdam  1698  und  Gasparini,  Armonico  prattico  al  Cim- 
hole   Venedig  1708  viel  herangezogen. 

Als  eine  Vorarbeit  zu  diesem  Lexikon  treten  uns  hauptsächlich 
die  Abschnitte  von  Walthers  Lehre  entgegen,  welche  in  elementarer 
Weise  von  der  Theorie  handeln.  Es  ist  dies  der  ganze  elementare 
1.  Theil,  sodann  sind  es  solche  Abschnitte  aus  dem  2.  Theil,  welche 
ebenfalls  noch  von  der  Beschreibung  der  Elemente  handeln,  sowie 
alle  begrifflichen  Erklärungen  in  diesem  letzten  Theile. 


2. 

Die  erste  Abhandlung  des  ersten  Theils. 

Aus  Kap.  1  der  ersten  Abhandlung,  welches  vom  Wesen  und  der 
Eintheilung  der  Musik  handelt,  finden  wir  Stellen  im  Lexikon  wieder 
unter  den  Begriffen  y>Musicav  und  li  Harmoniav,  Die  Ableitung  des 
Wortes  Musica  von  den  Musen ,  von  b^iowvaa ,  ctTto  tov  jucDaS-ai  == 
investiffare,  und  Moys,  femer  die  Beschreibung  der  Musica  Theoretica^ 
Practica  t  Historica,  Didactica,  Signatoria^  Modulatoria  und  Poetica 
stimmt  in  beiden  Werken  überein.  Doch  ist  im  Lexikon  die  Auf- 
zählung dieser  7  Arten  noch  um  eine  große  Anzahl  vermehrt.  Auch 
die  kurze  Erklärung  der  Harmonia  findet  sich  im  Lexikon  in  er- 
weiterter Form  wieder.  Die  Ausfuhrungen  über  den  Cantus  (Kap.  2) 
sind  im  Lexikon  unter  den  Artikeln:  Cantofermo,  — figurato,  Can^ 
tus  arti/icialis,  —  artificialiter  durus  und  molliSy  —  chromatictis,  — 
naturalis  und  naturaliter  durus  und  mollisj  —  transpositus  vertheilt. 
Doch  ist  die  Aufzählung  dieser  Begriffe,  sowie  die  Anzahl  der  Bei- 
spiele {Tab.  VII)  im  Lexikon  bedeutend  erweitert  worden.  Der  In- 
halt des  dritten  Kapitels  ist  im  Lexikon  sehr  vertheilt.  Die  Defini- 
tion der  Noten  finden  wir  unter  Nota  verzeichnet,  die  Aufzählung 
der  einzelnen  Notenwerthe  MaxtTnaj  Longa  etc.  wird  der  alphabetischen 
Ordnung  gemäß  einzeln  gegeben.  Der  Begriff  der  Subsubsemifusck 
fehlt  im  Lexikon.  Im  übrigen  aber  stimmt  die  Beschreibung  wört- 
lich in  beiden  Werken  übeiein.  Auch  die  alten  Ligaturae  rectae 
werden  wörtlich  in  Text  und  Beispiel  [Tab,  XI  und  XII)  aus  de* 
Lehre  herübergenommen;  nicht  wörtlich,  aber  sachlich  übereinstim- 
mend werden  die  obliquen  Ligaturen  dargestellt  (Tab,  XU).  Auch 
auf  die  Quantitas  extrinseca  und  intrinseca  kommt  Walther  im  Lexikoui 

1891.  38 


5ßS  Uennann  Oehnnann, 


ganz  kurz  zu  spiechen.  Doch  ist  ihre  Darstellung  in  der  Lehre  yiel 
ausführlicher.  Was  zum  Schluß  des  Kapitels  über  die  Erfindung 
der  Notenzeichen  gesagt  ist,  findet  sich  unter  dem  Artikel  «Jfuriat 
wieder.  Den  Inhalt  von  Kap.  4  finden  wir  zum  Theil  wörtlich  in 
Text  und  Beispiel  [Tah,  XVIII)  unter  dem  Artikel  »Poci^ac  wieder. 
Doch  fehlt  im  Lexikon  die  rt  SubsubsemifttsapausaiL  und  das  tSuspi- 
riunvk]  dagegen  ist  ihr  Nutzen  ebenso  ausführlich,  wie  in  der  Lehie 
mitgetheilt,  desgleichen  ihre  Bezeichnung  in  der  deutschen  Tabulator 
[Tab,  XXI).  Die  Definition  des  Taktes  in  Kap.  5  steht  im  Lexikon 
imter  dem  Artikel  »Battuta^,  Die  specielleren  Angaben  über  die 
einzelnen  Taktarten  finden  wir  an  verschiedenen  Stellen.  Alla  Breve- 
und  Alla  /S^mtir^ß- Taktzeichen  werden  unter  dem  Buchstaben  C 
genauer,  als  in  der  Lehre  beschrieben.  Die  hier  gegebene  Daistel- 
lung  wiederholt  sich  zum  Theil  unter  den  Artikeln  Modw  major  und 
minorj  SemicirculOy  Semiditas  und  Signa  quantitatis.  Im  Lexikon  fehlt 
aber  eine  Beschreibung  der  Begriffe  Tacttis  simplex  imd  proportionatus. 
Die  Angaben  über  Tactus  totalis  und  generalis  decken  sich  mit  dem,  was 
bei  *Alla  Brevem  und  in  Tempo  alla  Semibrevea  im  Lexikon  gesagt  ist 
Doch  sind  die  Ausführungen  in  der  Lehre  eingehender.  Die  nähere 
Unterscheidung  zwischen  Tacius  aequalis  und  inaequalis  fehlt  im  Lexi* 
kon.  Unter  Artikeln,  wie  z.  B.  Tripolaj  HemioUa,  Sesquialtera  minore 
imperfetta^  Sesquiottava,  Subsesquiterza^  Subdupla,  Subsupersettipar- 
tiente  nona  und  anderen  werden  die  einzelnen  in  der  Lehre  ange- 
zählten Taktarten  wiedergegeben.  Auch  sämtliche  Beispiele  für  diese 
einzelnen  Arten  sind  aus  der  Lehre  in  das  Lexikon  [Tah.  XKIFj 
herübergenommen.  Die  Ausführungen  über  Arsis  und  Thesis^  De- 
pressio  und  Elevatio  decken  sich  in  beiden  Werken.  Die  ganze  Lehre 
von  Takt  und  Tempo  ist  im  Lexikon  nach  der  älteren  Seite  hin  er- 
weitert. Das  6.  Kap.  ist  getreu  unter  dem  Artikel  i^Punctus^  wieder- 
gegeben, dieselben  Beispiele  finden  sich  Tab.  XVIII.  Die  Ausfüh- 
rungen über  die  modernen  Ligaturen  sind  nicht  so  eingehend,  wie  in 
Kap.  7  unter  den  Artikeln  »Bindungen«,  y^legatom  und  vsignum  ccn- 
nexionisd  gegeben. 

Den  ganzen  Inhalt  von  Kap.  8  treffen  wir  im  Lexikon  wieder. 
Das  Fünfliniensystem  wird  etwas  kürzer,  als  in  der  Lehre,  unter 
»Systemad  mitgetheflt,  die  Wiederholungszeichen  werden  unter  »jBh 
presafk  und  i^  Reprise  t  beschrieben  und  in  Tab.  XIX  yeranschaulicht, 
Das  in  der  Lehre  noch  stehende  Zeichen  für  Wortwiederholung  fehlt 
im  Lexikon.  Das  Signum  fugartan  steht  unter  Presa.  Ausfuhrlicher 
in  der  Lehre  ist  die  Beschreibung  des  CoulS,  OustoSy  Mordent^  TrSUf 
und  Arpeggio*  Der  Oircuitus  fehlt  ganz  im  Lexikon.  Dagegen  decken 
sich  die  Ausfuhrungen  über  Accent  zum  Theil  wörtlich  in  Text  und 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  569 

— •-■' —  ...  ■  -^ 

Beispiel  {Tab.  I),  Die  Zeichen  t{,  K  j|  und  ^  werden  unter  »i  ro-r 
tundum^  und  »qtuidratum<ij  sowie  unter  Diesis  mitgetheilt.  Die  Dai7 
Stellung  der  Zeichen  in  Kap.  8  wird  durch  jene  Tabelle  ergänzt, 
welche  in  Kap.  1  der  2.  Abhandlung  des  2.  Theils  gegeben  wird.  Die 
hier  ausgeführten  Beispiele  für  Accent^  Tremolo^  lirata  mezza^  Groppo^ 
Circulo  u.  6.  w.  stimmen  sachlich  mit  den  Erklärungen  und  Beispielen 
im  Lexikon  überein.  Besonders  beim  Groppo  und  Oirculo  mezzq 
schließt  sich  Walther  der  schon  in  der  Lehre  vertretenen  Frintzsche^ 
Anschauung  an  und  eifert  gegen  Brossard,  der  Groppo  und  Oirculo 
mezzo  für  gleichbedeutende  Begriffe  hält. 

Ganz  besonders  kommt  das  nun  in  der  Lehre  folgende  Ver- 
zeicbniß  musikalischer  Ausdrücke  als  Vorarbeit  für  das  Lexikon  in 
Betracht.  Mit  wenigen  Ausnahmen  finden  wir  sämtliche  Beschreib 
bungeUj  welche  hier  über  die  einzelnen  Kunstausdrücke  gegeben  wer- 
den, im  Lexikon  wieder.  Bei  der  Aufzählung  dieser  Ausdrücke  folgen 
wir,  wie  bisher  der  in  der  Lehre  gegebenen  alphabetischen  Reihen- 
folge und  orthographischen  Aufzeichnung  dieser  Namen.  In  diesem 
Verzeichniß  werden  manche  Begriffe  kurz  mitgeüieilt,  die  an  anderer 
Stelle  in  der  Lehre  ausführlicher  beschrieben  werden,  das  betrifft 
namentlich  die  Beschreibung  des  Canon,  der  Fuge,  des  Groppo^  des 
Modus,  der  Syncopatio  und  Syzygia,  sowie  des  Trillo.  Während 
wir  jene  ausführlichere  Beschreibung  dieser  Begriffe  an  anderer  Stelle 
mit  der  lexikographischen  Darstellung  derselben  vergleichen,  be- 
trachten wir  hier  nur  die  im  Verzeichniß  gegebene  Darstellung  dieser 
Begriffe  als  eine  Vorarbeit  für  das  Lexikon. 

Nicht  berücksichtigt  im  Lexikon  sind  folgende  im  Verzeichniß 
erklärten  Ausdrücke:  Amener;  Barytonus,  Caliciono,  Completnentum, 
Come  de  chasse  pr emier  und  second;  Dolciano,  Fresco ,  Favorito; 
Grosso,  Gay;  Uimhrichezza;  Malinconico,  Melismaticus  Stylus,  Mesto , 
Missodia,  MotecHcus  Stylus;  Paysans^  Piccolo;  Misposto,  Ricantate ; 
SchiettOj  Se  piace,  Sestini,  Stapelte,  Suavement,  Schryari;  Tempo 
giusto,  Trasversa,  Trezza,  Tous,  Tout  doucement;  Uno,  Viola  Baryton, 
Voltate,  Zoppicamento. 

Alle  übrigen  Ausdrücke  sind  nun  entweder  mit  oder  ohne  Zu- 
sätze in  das  Lexikon  au%enommen. 

Von  der  ersten  Gruppe  zählen  wir  zunächst  diejenigen  auf, 
welche  entweder  mit  demselben  Wortlaut,  wie  in  der  Lehre,  oder  nur 
mit  geringen  unwesentlichen  Abweichungen  von  diesem  beschrieben 
werden.  Hierher  gehören:  Ab  initio,  Alternat/im,  Ardito,  Arpichor- 
dum,  Audacsy  AI  mit  seinen  Zusammensetztmgen,  wie  älpü^  adagio  etc.; 
Cantatricej  Cangiamento ,  Chorus  instrumentalis ,  —  vocalis,  /avorito 
und  palchetto,  Cembalo,  Cimbal,  Clarino  mit  Beispielen  für  den  Stimm- 

38» 


570  Hermann  Oehrmann, 


umfang  in  Tab.  VIII ^  Cametto,  Comeito  dkitto^  —  muto^  —  curvo^  — 
tortOy  —  di  eaccia;  Diphamum,  Director  tnusicae;  Flautaney  Fin,  Charo 
favarüo;  Crrave,  Oiardimero,  Griphtu;  Harlequinado ;  Inoolucrum^ 
JoyetiXj  In  unisono;  lAuto;  Madrigale^  Mezzo,  Moüe;  Octiphomm^ 
OmneSj  Organo;  Plainte;  Hastrum^  -Repetaturj  Ripieno\  Bisposia; 
Sdltarelli,  Sarabande^  Scherzi  musicali,  Schnackade,  Sonatina,  Spedito^ 
Subito,  Syzygia;  Tarda,  Threnodiae;  Vagatu,  Veloce,  Violine  piccohy 
Viola  da  braccioy    Vite,  Vivace,  due   Volte,  Volti,  a  una   Voce  u.  8.  w. 

Weiter  gehören  zur  ersten  Gruppe  solche  Beschreibungen,  welche 
nicht  mit  demselben  Wortlaut  mitgetheilt  sind,  aber  dem  Inhalt  nach 
in  beiden  Werken  übereinstimmen.  Es  sind  dies  Ausfuhrungen  über: 
AffettaoBO,  Agusto,  Accompagniren;  Basso  continuo,  Bicinium,  Bonh 
bardo;  Claviatura,  ComposiÜo,  Contra-Tenor;  Dous  oder  Doux;  Eniree, 
Exotica  compositio;  Fantasia;  Gaülard,  Chroppo,  Falset  und  Voce  contra 
fatta,  Galliarde,  Guido;  Hautcontre;  Lento;  Ouvertüre;  Passepied, 
Piü,  Presto  j  Proposta;  Sdegnoso,  Serenata,  Solicinium,  Sonetto,  So- 
prano,  Spiccato,  Spiritoso,  Syncopatio,  Toccata. 

Viele  Ausfuhrungen  sind  im  Lexikon  kürzer,  als  in  der  Lehie 
gefaßt.  Hier  ist  die  Beschreibung  der  Paduana  wörtlich  entlehnt, 
die  anderen  hierher  gehörigen  Begriffe  haben  einen  Wortlaut,  der 
nicht  aus  der  Lehre  geschöpft  ist:  Ballo;  Commissura;  Da  capo; 
Motus,  Musicus;  Organo  piccioh;  Poco,  Praeambulum ,  Psalmodiot 
Stanza,  Tutti. 

Von  der  zweiten  Gruppe  betrachten  wir  zuerst  solche  Aus- 
führungen, die  abgesehen  von  den  Erweiterungen  im  Lexikon  mit  dem- 
selben Wortlaut,  wie  im  VerzeichniB  beschrieben  werden.  Hierher 
gehören  die  Ausfuhrungen  über  Canon,  Canzone,  Cometiino;  Fuga 
und  Ricercare;  Harpeggiando ;  Lamento;  Madrigale,  Messanza;  Vü- 
lanella,   Vinette^   Violine,   Violetta,    Violone, 

Es  folgen  zum  Schlüsse  Ausdrücke,  deren  erweiterte  Beschreibung 
eine  wörtliche  Anlehnung  an  jenes  VerzeichniB  nicht  mehr  aufweist. 
Hier  finden  wir  die  größte  Anzahl  von  Begriffen:  Accord,  Adagio, 
Atta  breve,  Allegro,  Allemanda^  Andante,  Aria,  Arciviola  di  Lira, 
Assai,  Bassono,  Bassetto,  Bizzaria,  Bourree^  Branle,  Cadentia,  Can- 
tata,  Canzonetta,  Capella,  Chalumeau,  Chitarra,  Cldtarrone^  Chorus, 
Concerto,  Consonantia,  Contrapunctus,  Cornetto^  Ciaccona,  Chorea,  Cou- 
rante;  Dessus,  Dialogo,  Diminuzione,  Dissonantia,  Drama,  Double; 
Echo;  Falso  bordone,  alle  Arten  von  Flaute  oder  Flute;  Gavotte, 
Gigue;  Harmonia,  Hautbois,  Hardiment;  Largo;  Mascherata,  Menuet, 
Mandora,  Monodium,  Modus,  Motetto;  Ondeggiando ;  Palimpsesius 
phonotacticus,  Partes,  Passacaglio,  Passamezzo,  Passagio,  Piano,  Piefw, 
Pleno  choro,  Psalmus;  RecitativOjRitornello,  Rigaudon,Rondeau;  SalU^ 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  blt 


reUa,  Sciocchezza,  Senza,  Si,  Sommeil^  Sonata^  Sostenuto,  Staccato^ 
StrometUi;  Tamburo,  Tempo  moffgiore,  Tasto  solo,  Tßstatura,  Tiorha^ 
Tirate,  Tremolo^  TriUo,  Tromba,  Arten  der  Trombone;  Viola  di  Gamba^ 
' —  (famourj   Violoncello, 

3. 

Die  zweite  Abhandlung  des  ersten  Theils. 

Alles,  was  in  Kap.  1  und  2  über  die  claves,  über  ihre  Einthei«- 
Inng  in  Hgnatae  und  intelleciae,  in  principales  und  minus  principalee 
und  was  ferner  über  die  yerschiedene  Stellung  der  Muidkschlüssel 
gesagt  ist)  deckt  sich  völlig  mit  dem,  was  im  Lexikon  unter  den 
Artikeln  dA.B  C  D  E  F  Ga  ^Chiaveai  und  r^Clavee^L  angegeben  ist« 
Auch  aus  dem  3.  historischen  Kapitel  ist  vieles  in  das  Lexikon  her* 
übergenommen,  so  die  lateinischen  und  griechischen  Namen  der  Te* 
trachorde  und  16  Töne.  In  der  Lehre  fehlt  ganz  das  Tetrachordum 
st/nemmenon.  DaB  die  15  resp.  16  Namen  durch  Gregor  auf  die  7  ersten 
alphabetischen  Buchstaben  reducirt  worden  seien,  wird  im  Lexikon 
unter  i^A  B  C  D  E  F  Gd^  imd  ^  Greg orius  Magnus d  mitgetheilt.  Daß 
Guido  diese  Töne  vermehrt  habe,  erfahren  wir  im  Lexikon  überhaupt 
nicht,  auch  nicht  unter  dem  dürftigen  Artikel  »Guidos.  Die  im  hi- 
storischen Kapitel  an  einem  Beispiel  gezeigte  mehrfache  Benennung 
eines  Tones :  c,  eis,  ces  sowie  das  Supersemitonium  eis  durum  wird  im 
Lexikon  eingehend  von  allen  i  Buchstaben  mitgetheilt.  Ein  Unter- 
schied zwischen  Subsemitonium  (b  vorzeichnung)  und  Supersemitonium 
(Kreuzvorzeichnung)  wird  im  Lexikon  nicht  mehr  gemacht. 

Der  Inhalt  des  4.  Kapitels  entspricht  zum  Theil  wörtlich  dem, 
was  unter  den  Artikeln:  Chordes  chromatiques^  -diatoniques  und  -en- 
harmoniques;  CAromatico,  Diatonico,  EnAarmomque,  Genus  modulandi 
chramaticum,  —  chromatico-diatonicum,  —  diatonicum^  —  diatonico^ 
chromaticumj  und  dem  Schlußsatz  über  die  Genera  gesagt  ist.  Die 
in  Kap.  5  folgende  Abhandlung  über  ^  und  ^  ist  im  Lexikon  unter 
dem  Buchstaben  vi«  ebenso  umfassend  und  dabei  praciser,  als  in 
der  Lehre  dargestellt. 

4. 
Musioae  poeticae  pars  generalis. 

Aus  der  wissenschaftlichen  Einleitung  ist  vieles  in  das  Lexikon 
herübergenommen.  Ebenso  wie  in  der  Lehre  wird  der  Ausdruck 
»Musica  poetica<i  von  Ttoiiw  abgeleitet.  Die  Mittheilung,  daß  die 
Musik  eine  mathematische  Wissenschaft  sei,  fehlt  bereits  im  Lexikon. 


574  Hermann  Oehrmann, 


rangen  über  diese  Figur  sind  im  Lexikon  genauer.  In  der  Lehre 
werden  nur  zwei  verschiedene  Unterarten  erwähnt,  im  Lexikon  deren 
Tier.  Vom  Transitus  jedoch  wird  eine  ganz  knappe  Erklärung  ge- 
geben, während  gerade  diese  Figur  in  der  Lehre  sehr  eingehend  dar- 
gestellt ist. 

Auch  die  folgende  ausführliche  Darstellung  von  anderen  Figuren, 
in  welche  sich  die  Dissonanzen  auflösen,  ist  nur  theilweise  in  das 
Lexikon  herübergenommen.  So  wird  von  der  Supertectio  nur  eine 
kurze  Definition  gegeben.  Ihre  ausfuhrliche  Beschreibung  in  der 
Lehre  deckt  sich  nicht  mit  dem,  was  im  Lexikon  unter  Supertectio 
oder  Accento  und  A.  doppio  in  Text  und  Beispiel  mitgetheilt  ist. 
Für  diese  Artikel  kommen  die  an  früherer  Stelle  gegebenen  Aus- 
führungen in  Frage.  Was  unter  Subsumptio  gesagt  wird,  stimmt 
sachlich  mit  dem  überein,  was  im  Lexikon  ausführlicher  unter  Cercar 
della  noia,  Anticipatione  della  nota  und  Antidp.  deUa  sillaha  mit- 
getheilt ist.  VariiUio  wird  wieder  viel  kürzer,  als  in  der  Lehre  be- 
sprochen; jedoch  ist  die  Tirata  im  Lexikon  ausführlicher  beschrieben 
und  durch  eine  größere  Anzahl  von  Beispielen  {Tab,  XX  und  XXI) 
vor  Augen  gestellt.  Die  Multiplicatio  fehlt  überhaupt  im  Lexikon, 
desgleichen  die  Heierolepsis  und  der  Qudsi-Tramittts.  Fast  wörtlich 
kehren  die  Ausführungen  über  EUipsis  und  Retardatio  im  Lexikon 
wieder,  auch  dieselben  Beispiele  sind  in  Tab.  X  und  XIX  ange- 
zeichnet. Die  Beschreibung  der  Relatio  non  harmonica  aus  Kap.  5 
ist  zum  Theil  ebenfalls  wörtlich  im  Lexikon  wiedergegeben.  Über  den 
Text,  von  welchem  Kap.  6  handelt,  erfahren  wir  im  Lexikon  nichts. 

Aus  den  folgenden  Kapiteln  über  die  Modi  ist  besonders  viel  in 
das  Lexikon  übergegangen 

Die  Aufzählung  der  12  Modi  erfolgt  aber  nicht  wie  in  Kap.  7 
von  Jonisch,  sondern  von  Dorisch  an.  Ausführlicher  als  in  der  Lehre 
ist  im  Lexikon  die  Beschreibung  des  Ambitus,  der  harmonischen  und 
arithmetischen  Theilung  und  der  authentischen  lud  plagalen  Lage 
eines  Modus.  Ganz  bedeutend  erweitert  ist  die  Darstellung  der 
Clausülae. 

Namentlich  unter  den  Begriffen  Cadenza  und  Cadence  treten 
viele  Arten  auf,  von  welchen  in  unserer  Lehre  noch  nicht  gesprochen 
wird.  Hier  sind  neben  italienischen  auch  französische  Namen  häufig. 
Weniger  zahlreich  sind  die  unter  Clausula  mitgetheilten  Arten  von 
Schlüssen,  die  sich  vielfach  mit  Kadenzarten  decken.  Zwischen  Ka- 
denz und  Klausula  besteht  nun  in  Walthers  Lexikon  der  Unterschied, 
daB  eine  Kadenz  stets  einen  )> Harmonie-Schluß«,  eine  Klausula  aber 
einen  «Absatz«  bedeutet,  »wobey  die  Stimmen  und  Partien  ent- 
weder gantz  und  gar  aufhören,   oder   nur  einigermassen  zur  Ruhe 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  575 


kommen.«  Mit  dem  in  der  älteren  Theorie  allein  üblichen  Begriffe 
der  Klausula  operirt  man  also  mehr  in  melodischer  oder  kontra- 
ponktischer  Musik,  während  der  neuere  Ausdruck  Cadenza  Schlüsse 
bezeichnet,  die  in  Stücken  mit  harmonischer  Grundlage  vorkommen. 
In  Walthers  Lehre  wird  nur  von  Clausula  gesprochen.  Was  in  Kap.  7 
unter  Clausula  perfectissima  und  perfecta  verstanden  wird,  entspricht 
dem,  was  im  Lexikon  unter  Cadence  parfaite  und  imparfaite  tmd  den 
dazu  gehörigen  Beispielen  in  Tab.  V  mitgetheilt  ist.  Claustda  minus 
perfecta  finden  wir  im  Lexikon  unter  Clausula  altizans  wieder.  Die 
hierzu  gehörten  Beispiele  in  Tab,  IV  sind  aus  der  Lehre  genommen. 
Die  Claustda  cantizans  und  tenorizans  sind  im  Lexikon  unter  den  Be- 
griffen Cadentia  cantizans  und  Cadenza  semplice  descendendo  di  grado 
eingeordnet;  ein  Beispiel  für  die  Cadentia  cantizans  in  Tab.  IV 
stammt  aus  der  Lehre.  Kürzer  nnd  knapper  als  bei  den  Kadenzen 
sind  unter  dem  Artikel  d  Clausulae  peregrinaea  alle  in  der  Lehre  aus- 
fuhrlich erklärten  Schlüsse  zusammengefaßt.  Hier  werden  die  von 
verschiedenen  Stufen  der  (7  durtonleiter  gebilden  Kadenzen  mit  den 
in  der  Lehre  gegebenen  Ausdrücken  bezeichnet.  Demnach  sind  in 
Cdur  die  A-  und  J'kadenz  Clausulae  affinaleSj  die  D~  und  ^kadenz 
Clausulae  peregrinae ;  die  Ckadenz  aber  ist  eine  Clausula  perfectissima 
primaria  ßnalis,  die  £kadenz  eine  Clausula  tertiaria  imperfecta  und  die 
(rkadenz  eine  Clausula  secundaria.  Die  Clausula  dissecta,  welche  in 
der  Lehre  einfach  nur  als  ein  anderer  Ausdruck  für  die  Clausula 
perfecta  erwähnt  ist,  wird  im  Lexikon  ausführlicher  noch  in  Unter- 
abüieilungen  gesondert. 

Eingehender  als  in  der  Lehre  ist  die  Darstellung  der  einzelnen 
Modi;  jedoch  ist  der  größte  Theil  dieser  Beschreibung  aus  Kap.  S 
entlehnt.  Wie  an  dieser  Stelle  wird  auch  im  Lexikon  jeder  Modus 
einzeln  durchgesprochen,  und  wie  in  der  Lehre  wird  in  den  Tab.  XIII 
und  XIV^  X  VI  und  X  VII  ihr  Ambitus  und  die  gleiche  Anzahl  von 
Transpositionen  angegeben.  Doch  sind  nicht,  wie  in  der  Lehre  die 
Reperkussionen  und  ausführlichen  Kadenzbeispiele  für  jeden  Modus 
mitgetheilt.  Einige  Beispiele,  welche  für  Schlüsse  im  jonischen 
Modus  in  Kap.  8  gegeben  sind,  finden  wir  auch  im  Lexikon  [Tab.  IV) 
wieder;  aber  nicht  für  den  jonischea  Modus,  sondern  für  die  Ca- 
denza composta  maggiore  und  minore  kommen  sie  hier  in  Frage.  Auch 
eine  Anzahl  von  Chorälen,  die  mit  Ausnahme  des  lydischen  und 
hypolydischen,  in  allen  Modi  gesetzt  sind,  findet  sich  hier.  Aber 
ihre  Auswahl  ist  kleiner,  als  in  der  Lehre. 

Haben  wir  so  die  im  Lexikon  auftretenden  Einschränkungen  der 
früheren  in  der  Lehre  gegebenen  Darstellung  der  Modi  hervorgehoben, 
so  kommen  wir  nun  zu  den  Erweiterungen  dieser  Darstellung.     Im 


576  Hermann  Qehnnann, 


Anschluß  an  die  Aufzählung  der  Choiale  spricht  Walther  einige  der- 
selben hinsichtlich  ihrer  Abweichungen  von  dem  betreffenden  Haupt- 
modus durch  und  kommt  hierbei  auch  auf  den  Ambitus  und  die 
Kadenzen  des  betreffenden  Modus  noch  einmal  ausführlicher  zu 
sprechen.  Femer  giebt  Walther  im  Lexikon  noch  eine  neuere  Dar- 
stellung der  Modi,  welche  auf  einer  Unterscheidung  nach  großer  und 
kleiner  Terz  beruht. 

Außerdem  werden  noch  viele,  andere  mit  »Modusa  bezeichnete 
Begriffe  erklärt,  so  Modus  auihentus  und  plagalia^  ferner  Modtis  colla- 
teralis,  —  compositus,  —  impar  etc.  Alles  Wesentliche,  was  in  Kap.  9 
von  der  Transposition  und  Reduktion  mitgetheilt  wird,  steht  im 
Lexikon  unter  T>Tran^oa%t%oti.  in  einer  etwas  knapperen  Darstellung. 
Besonders  bei  der  Repercussio  ist  der  Gregensatz  groß  zwischen  der 
ausführlichen  Beschreibung  in  der  Lehre  und  der  kurzen  Erklärung 
im  Lexikon.  Hier  tritt  uns  auch  eine  viel  größere  Anzahl  von  Fugen- 
formen entgegen,  als  in  Kap.  10.  Die  Erklärung  des  Ausdrucks 
«Fuge«  stimmt  dem  Inhalt  nach  in  beiden  Werken  überein.  Duz 
und  Cames  sind  im  Lexikon  nicht  unter  Fuge,  sondern  an  anderer 
Stelle,  die  durch  die  alphabetische  Ordnung  bestimmt  ist,  erwähnt. 
Nach  Kap.  X  sind  im  Lexikon  die  Fuga  pariialis  oder  libera,  Fuga 
propria  oder  regularUt  —  impropria  oder  irregtilaris^  —  plagalü  un- 
gefähr ebenso  kurz  beschrieben,  wie  in  der  Lehre.  Fuga  contraria 
wird  dagegen  im  Lexikon  nicht  so  ausführlich,  wie  in  der  Lehre 
beschrieben.  Auf  einige  andere  im  Lexikon  angeführte  Fugenarten 
kommen  wir  bei  dem  Kanon  zu  sprechen. 

Fast  in  ganz  gleicher  Weise  ist  die  Imitation  in  beiden  Werken 
dargestellt.     Doch  fehlen  die  Beispiele  aus  der  Lehre. 

Ähnlich  kurz,  wie  in  Kap.  12  wird  im  Lexikon  das  Wesen  des 
Kanon  selbst,  sowie  das  des  Canon  aperto,  cancherizante^  diviso^  ßnito; 
drcolare  und  risoluto  beschrieben.  Während  aber  in  der  Lehre  zur 
Erläuterung  der  einzelnen  Arten  sehr  viele  Beispiele  gegeben  werden, 
geschieht  dies  im  Lexikon  nur  in  geringem  Maße.  Die  wenigen 
Beispiele  in  Tab.  V  und  VI  stammen  nicht  aus  der  Lehre.  Aber 
gerade  in  den  Beispielen  der  Lehre  werden  noch  andere  Arten  von 
Kanon  aufgezählt,  wie  Canon  aequalis  motus  in  Hypodiatessaron  oder 
C,  perpeiuus  contrarii  mottis  etc.  Ähnliche  zusammengesetzte  Begriffe 
aber  treffen  wir  im  Lexikon  bei  den  Fugen,  und  es  entspricht  bei- 
spielsweise der  Canon  perpeiuus  der  im  Lexikon  beschriebenen  Fuga 
perpetua  .  Auch  sonst  decken  sich  im  Lexikon  selbst  viele  Fugen- 
arten mit  Kanonbezeichnung.  So  sind  Fuga  in  consequema^  libera, 
pariialis  und  Kanon  Wechselbegriffe ,  die  alle  dasselbe  bedeuten. 
Aus  der  Abhandlung  vom  doppelten  Kontrapunkt  in  Walthers  Lehre 


Johann  Gottfried  Walther  als  Theoretiker.  577 

ist  nichts  in  das  Lexikon  herübergenommen.  Die  im  Lexikon  ge- 
gebene kurze  Erklärung  des  doppelten  Kontrapunkts  stammt  aus  dem 
alphabetischen  Verzeichniß  der  Signa.  Es  fehlt  im  Lexikon  eine 
ausfuhrliche  Beschreibung  der  Canonea  per  atigmentationem^  wie  sie 
in  der  Lehre  bei  dem  doppelten  Kontrapunkt  alla  Octava  gegeben 
wird.  Auch  hier  beschränkt  sich  Walther  auf  eine  kurze  Erklärung 
der  Begriffe  Canon  per  auffmentationem ,  C,  p.  ougmenL  duplex  und 
Fuga  doppia. 

Nunmehr  ist  auch  unsere  letzte  Au%abe,  Walthers  Lehre  als 
eine  Vorarbeit  zu  seinem  Lexikon  darzustellen,  erschöpft.  Stehen 
wir  so  am  Schlüsse  unserer  gesamten  Betrachtung,  so  fassen  wir 
noch  einmal  die  wesentlichsten  Resultate  derselben  zusammen. 

Wir  haben  gesehen,  daß  in  der  That  die  Lehre  Walthers  ge- 
eignet ist,  einen  befriedigenden  Einblick  in  das  musiktheoretische 
Treiben  des  17.  Jahrhunderts  zu  geben.  Die  umfangreiche  Litteratur, 
welche  seinem  Werke  zu  Grunde  liegt,  gewährte  uns  einen  Einblick 
in  die  äußere  Wandlung  der  Musiktheorie  jenes  Jahrhunderts.  Auf 
die  innere  Wandlung  dieser  Theorie  wies  uns  das  Werk  durch  seine 
ganze  Anlage  selbst  hin.  In  ihm  werden  bei  den  meisten  Disci- 
plinen  ältere  und  neuere  Anschauungen  entweder  einander  gegenüber- 
gesteUt,  oder  miteinander  verquickt.  Und  zwar  dient  die  Darstellung 
älterer  Anschauungen  hauptsächlich  zur  Unterlage  für  die  der  neueren 
Lehre.  Es  ist  somit  in  Walthers  Werk  selbst  vielfach  die  Anregung 
zu  einer  historischen  Entwicklung  der  einzelnen  Disciplinen  gegeben 
worden.  Wie  wir  nun  gesehen  haben,  bestand  diese  Entwicklung 
hauptsächlich  darin,  daß  das  harmonische  Princip,  welches  für  die 
Anordnung  des  Kompositionsunterrichts  bereits  maßgebend  geworden 
war,  auch  auf  die  noch  kontrapunktisch  dargestellten  einzelnen  Dis- 
ciplinen selbst  Einfluß  gewann,  so  daß  diese  an  Stelle  ihres  früheren 
melodischen  Charakters  ebenfalls  ein  harmonisches  Gepräge  erhielten. 
So  haben  wir  zunächst  in  dem  Überwiegen  des  geraden  Taktes  über 
den  früher  herrschenden  ungeraden  Takt  einen  harmonischen  Einfluß 
erkannt,  femer  ist  der  harmonischen  Scheidung  des  Cantus  in  durtis 
und  mollis  eine  gründlichere  Darstellung  gewidmet,  als  jener  älteren 
Sonderung  in  Cantus  planus  undßffuralis.  An  Stelle  "^  des  einfachen 
Kontrapunkts  ist  die  Akkordlehre  getreten.  Eine  Unterscheidung 
zwischen  None  und  Sekunde  wurde  durch  harmonische  Anschauung 
angeregt.  Überhaupt  wird  aus  diesem  Grunde  der  Gebrauch  der 
Dissonanzen  gewandter.  Durch  harmonischen  Einfluß  wurde  die 
Melatio  non  harmonica  erträglicher  gemacht.  Auch  bei  den  Schlüssen 
dominirt  die  harmonische  Eintheilung.     Femer  war  die  Verschmel- 


57S  Hermann  Oehrmann. 


zung  der  Modi  nur  durch  harmonische  Einflüsse  möglich.  Selbst  die 
strengsten  Formen  der  alten  Lehre,  der  doppelte  Kontrapunkt  und 
die  Fuge  haben  sich  dem  harmonischen  Strome  der  Zeiten  nicht 
mehr  iridersetzen  können.  Der  doppelte  Kontrapunkt  hat  in  Folge 
der  harmonischen  Anschauung  eine  ungleich  koncisere  Fassung,  wie 
vordem,  erhalten  und  an  Stelle  des  früher  dominirenden  Quinten- 
kontrapunkts ist  jener  in  der  Oktave  getreten.  In  der  Fuge,  deren 
Wandlung  allein  noch  nicht  abgeschlossen  ist,  bemerkten  wir  eben- 
falls die  Anfänge  einer  harmonischen  Beantwortung  des  Themas  und 
ein  wachsendes  Hervortreten  der  allerdings  noch  melodischen  Quinten- 
fuge gegenüber  dem  herrschenden  Oktavenkanon. 

Trotz  dieser  einzelnen  Wandlungen  aus  einem  melodischen  in 
einen  harmonischen  Charakter  sank  Walthers  Lehre  nicht  zu  einer 
GenerasbaBlehre  herab,  sondern  wahrte  das  Gepräge  eines  strengen 
Kompositionsunterrichts,  indem  nicht  wie  z.  B.  bei  Niedt  die  Kom- 
position auf  Grund  des  Generalbasses  gelehrt  wird,  sondern  auf 
Grund  des  vokalen  vierstimmigen  Satzes.  Hierdurch  aber  erhielt 
Walthers  Lehre  einen  hohen  pädagogischen  Werth,  indem  sie  den 
Schüler  vor  einer  rein  mechanischen  Kompositionsübung  bewahrte. 

So  ist  denn  unser  Urtheil  berechtigt,  daß  das  Walther'sche 
Werk  den  hervorragendsten  Platz  unter  allen  theoretischen  Schriften 
einnimmt,  die  seit  Zarlino  bekannt  geworden  waren.  Denn  erstens 
ist  es  das  umfassendste  Compendium  der  für  den  Kompositionsunter- 
richt am  Ende  des  17.  lahrhunderts  gültigen  Gesetze  und  dazu  ge- 
hörigen Disciplinen,  ein  Compendium,  welches  aber  nicht  nur  diese 
zu  Walthers  Zeit  gebräuchliche  Lehre  zusammenstellt,  sondern  auch 
auf  das  in  früherer  Zeit  Übliche,  soweit  es  für  den  Schüler  zu  wissen 
nöthig  ist,  Rücksicht  nimmt,  und  Beides,  alte  und  neue  Lehre,  oft 
einander  gegenüber  stellt.  In  dieser  Vollkommenheit  ist  das  Werk 
die  erste  deutsche  Musiklehre.  Sodann  aber  ist  dieses  Compendium 
insofern  vom  originalen  Werth,  als  der  Verfasser  mit  sorgfältigster 
Prüfung  dasjenige,  was  seit  Zarlino  die  hervorragendsten  Musik- 
gelehrten übereinstimmend  lehrten,  aus  den  Büchern  dieser  heraus- 
schälte und  die  so  gewissermaßen  gewonnene  Quintessenz  des  älteren 
Lehrstoffs  mit  seinen  der  heraufdämmernden  neuen  Blüthezeit  nahe- 
stehenden Anschauungen  schöpferisch  verarbeitete  und  dadurch  ein 
Werk  schuf,  welches  auch  in  pädagogischer  Beziehung  einen  hohen 
Werth  beanspruchen  darf.  Schließlich  aber  hat  auch  dieses  Werk 
noch  eine  besondere  Bedeutung,  indem  es  als  eine  Vorarbeit  zu  jenem 
Lexikon  in  Frage  kam,  welches  als  eine  der  wichtigsten  Quellen  für 
die  Musikforschung  angesehen  werden  muß. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Olodius. 

Von 

Wilhelm  Niessen. 


Auf  der  Königlichen  Bibliothek  zu  Berlin  wird  unter  der  Si- 
gnatur: Ms.  Germ.  Octavo  231  eine  Handschrift  aus  der  zweiten 
Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  aufbewahrt,  die  eine  Sammlung  von 
Studentenliedem  mit  Melodien  darstellt. 

Sie  besteht  aus  108  Blättern,  von  denen  das  erste  und  die  letzten 
fünfzehn  nicht  beschrieben  sind.  Ebenso  ist  die  hintere  Seite  des 
letzten  beschriebenen  Blattes  frei. 

Auf  der  Vorderseite  des  ersten  Blattes  befindet  sich  der  Titel : 

»C:  C:  N:  M: 
HYMNORUM  STÜDIOSORUM  PARS  PRIMA 

Denuo  coUecta  ä  quodam  Philomusö,  cogita  u^vtovvfÄCp  aut  Jvatovvfxti 

Anno  1669  die  29  Novembur 
Lipsiae  Impensis  eiusdem 
a 

Auf  der  Rückseite  des  Blattes  stehen  drei  lateinische  Verse,  in 
denen  der  Verfasser  versichert,  das  Buch  niemandem  leihen  zu  wollen. 
Die  Initialen  auf  dem  Titelblatt  sind  hier  ausgeführt  in : 

Christianus  Clodius  Neostadius  Mißnicus.  ^ 


1  Über  diesen  Clodius  war  Folgendes  zu  ermitteln.  Ei  wurde  am  18.  October 
1647  in  Neustadt  bei  Stolpen  geboren.  Sein  Vater  war  der  dortige  Diakonus 
Johann  Klöde  (Clodius),  die  Mutter  hieß  Sabina  Klöde.  (Ich  verdanke  diese 
Notizen  dem  Herrn  Pfarrer  Große  aus  Neustadt).  £r  studierte  in  Leipzig  und 
scheint  dort  als  |Student  eine  KoUe  gespielt  zu  haben.  Er  war  späterhin  als 
Schulmann  in  seiner  Vaterstadt  thätig.  In  den  Fortsetzungen  und  Ergänzungen 
zu  Christian  Gottlieb  Jöchers  Allgemeinem  Gelehrten-Lexicon  von  Johann  Christoph 
Adelung  steht  (Band  II  S.  375  Leipzig  1787)  eine  kurze  Biographie  des  Zwickauer 
Bektors  M.  Christian  Clodius.  Er  war  zu  Neustadt  1694  geboren,  wo  sein  Vater 
gleichfalls  ein  Schulmann  war,  dessen  Bruder  Johann  war  Superintendent  zu  Gro- 
ßen-Hayn.  Johann  Clod?  ^s  ist  (Allgemeines  Gelehrten  Lezicon.  Leipzig,  1750 
Spalte  1967]  ari  15.  Aug    1645  ebenfalls  zu  Neustadt  geboren.     Da  er  auf  Grund 


5S0  Wilhelm  NieMen. 


Es  folgt  eine  Vorrede  an  den  Leser,  die  sich  von  Satz  zu  Satz 
an  Unflätigkeiten  überbietet,  so  daß  von  jeder  Besprecbong  Abstand 
genommen  werden  muB.  Sie  zeigt  die  üblen  Nachwirkungen,  die 
der  dreißigjährige  Krieg  auch  unter  der  studierenden  Jugend  hinter- 
lassen hatte. 

Sieben  Widmungen  in  gebundener  Bede  schließen  sich  an,  von 
Freunden  des  Sammlers  eingeschrieben.  Sie  sind  in  deutscher,  grie- 
chischer, lateinischer  u.  s.  w.  Sprache  abgefasst.  Von  Wichtigkeit 
ist  nur  die  Nachschrift  der  dritten.  Aus  ihr  geht  hervor,  daß  Clodius 
Vorsteher  einer  »Paulinischen  Tischgenossenschaftc  war.  Im  übrigen 
beschränken  sich  die  Widmungen  darauf,  den  Sammler  wegen  des 
Aufiseichnens  der  nachfolgenden  Lieder  zu  loben. 

Wir  zählen  109  verschiedene  Lieder*,  sie  sind  ohne  jede  syste- 
matische Ordnung  hinter  einander  niedergeschrieben.  Daraus  und 
aus  der  theils  flüchtigen,  theils  sauberen  Schrift,  (die  aber  nur  von 
dem  einen  Clodius  herrührt]  geht  hervor,  daß  die  Sammlung  ganz 
allmählich  entstanden  ist. 

Für  die  zu  den  Texten  gehörige  Musik  sind  fast  durchweg  drei 
Systeme  bestimmt,  von  denen  das  oberste  die  Melodie  enthält,  das 
unterste  den  meistens  bezifferten  Baß,  während  das  mittlere  System 
gewöhnlich  freigelassen  ist.  • 

Bei  Nr.  6,  31,  53,  58,  68,  75,  fehlen  die  Melodien.  Acht  Melo- 
dien sind  zu  je  2  Texten  vorhanden,  eine  sogar  zu  3  Texten.  Wir 
erhalten  demnach  91  verschiedene  Melodien. 

Die  Texte  stehen  nicht  unter  der  Oberstimme,  sondern  mit  allen 
Strophen  unter  dem  Baß.  Viele  der  Lieder  tragen  Überschrifiien,  die 
uns  über  Dichter  oder  Componist  Aufschluß  geben. 


der  MittheUungen  des  Herrn  Pfarrer  Große  der  Bruder  unseres  Christ.  Clodius  ist, 
und  andere  Brüder  nicht  bekannt  sind,  so  ist  zweifellos  der  Verfasser  des  vor- 
liegenden Liederbuches  identisch  mit  dem  obengenannten  Vater  des  Zwickauer 
Rektors. 

1  Der  besseren  Übersicht  halber  habe  ich  die  einzelnen  Lieder  mit  Nummern 
versehen,  die  im  Originale  fehlen. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Glodius.  581 

L 
Der  literarisclie  Inhalt  der  Handschrift. 

Wenn  wir  den  Werth  des  in  der  Handschrift  niedergelegten 
literarischen  Materials  gebührend  würdigen  wollen^  so  empfiehlt  es 
sich  wohl,  vergleichsweise  einen  Blick  auf  die  in  unseren  heutigen 
Ck^mmersbüchem  enthaltenen  Texte  zu  werfen.     . 

Wir  können  unter  den  Liedern  derselben  drei  Gruppen  von 
einander  scheiden.  Zunächst  finden  wir  solche,  die  von  ihren  Dich- 
tem nicht  eigentlich  für  die  Studenten  bestimmt,  sondern  erst  mit 
der  Zeit  Eigenthum  derselben  geworden  sind;  femer  solche,  die  aus- 
schließlich  der  Studentenschaft  gewidmet  waren,  endlich  solche,  die 
aus  den  studentischen  Kreisen  selbst  hervorgegangen  sind.  In  der- 
selben Weise  können  wir  die  von  Clodius  gesammelten  Texte  von 
einander  sondern  und  die  zusammengehörigen  mit  den  entsprechenden 
unserer  Tage  vei^leichen.  Eine  solche  Gegenüberstellung  wird 
natürlich  hinsichtlich  der  ersten  beiden  Gruppen  zu  Ungunsten  der 
älteren  Lieder  ausfallen.  Stammen  doch  dieselben  aus  einer  Periode, 
welche  die  unterste  Stufe  der  gesammten  deutschen  Literaturgeschichte 
einnimmt,  während  die  in  unsere  heutigen  Commersbücher  angenom- 
menen Gedichte  zum  nicht  geringen  Theile  der  zweiten  Blüthezeit 
unserer  Poesie  angehören. 

Unter  einem  anderen  Gesichtspunkte  müssen  wir  über  die  aus 
der  Studentenschaft  selbst  hervoi^egangenen  Texte  urtheilen.  Sind 
sie  doch  ein  getreues  Abbild  von  den  Sitten  und  dem  Treiben  der 
Studenten  selbst.  Unter  ihnen  herrschte  während  des  ganzen 
17.  Jahrhunderts  eine  sittliche  Entartung  und  Verwilderung,  die 
hauptsächlich  in  den  Unbilden  nnd  Schrecknissen  des  dreiBigjährigen 
Krieges  ihre  Ursache  hatte  ^.  Wie  es  draußen  im  Lager  der  Sol- 
daten zuging,  so  trieben  es  auch  die  Studenten  auf  den  Universitäten. 
Sie  wollten  Krieg  spielen  wie  jene,  freilich  auf  ihre  Art.  Sie  gingen 
nicht  auf  die  Universität,  um  den  Wissenschaften  zu  huldigen,  sie 
folgten  darin  mehr  der  Mode,  und  wollten,  heiBt  es,  die.Universitäten 
»besehen«. 

Diejenigen,  welche  direkt  von  der  Schule  kamen,  wurden  zu- 
nächst nicht  als  den  alten  Burschen  ebenbürtig  angesehen,  sondern 


^  Der  Oegenstand  ist  eingehend  behandelt  bei  Dolch.  Geschichte  des  deutschen 
Btudententhums.  Leipzig  1858.  Kap.  3.  Das  deutsche  Studentenleben  vom  An- 
fang des  Dreißig]  fihiigen  Krieges  bis  su  den  deutschen  Freiheitskriegen.  1.  Ab- 
iheilung: Das  17.  Jahrhundert,  pag.  148  ff. 


582  Wilhelm  Niessen, 


hatten  unter  den  Unsitten  des  Pennalismus  und  der  Deposition  eu 
leiden,  Einrichtungen,  die  nicht  im  entferntesten  mit  unserem  heu- 
tigen harmlosen  Fuchswesen  in  Vergleich  zu  bringen  sind.  Mit  einer 
noch  größeren  Koheit  und  Keckheit,  als  gegen  die  neuangekommenen 
Pennale  trat  man  aber  gemeinsam  gegen  die  Bürger  der  Stadt  auf. 
Mit  blankem  D^gen,  in  lüderlichster  Kleidung  zog  man  atif  die 
Straße,  von  da  auf  die  Dörfer  und  jagte  den  Begegnenden  Furcht 
und  Schrecken  ein.  Duell  folgte  auf  Duell,  ja  auf  ofiener  Straße 
wurden  Studenten  von  ihren  Commilitonen  erstochen  oder  erschossen. 
Das  Trink-  und  Spielwesen  war  in  erschreckender  Weise  ausgeartet. 
Es  dauerte  das  ganze  Jahrhundert  hindurch,  ehe  die  deutsche  Stu- 
dentenschaft sich  wieder  auf  ihre  eigentliche  Aufgabe  zu  besinnen 
anfing. 

Unter  den  von  Clodius  angegebenen  Dichtem  finden  wir  die 
Namen:  Simon  Dach,  Mitglied  des  Königsberger  Dichterkreises, 
Philipp  Y.  Zesen,  Stifter  der  »Deutsch  gesinnten  Genossenschaft 
in  Hambui^,  Christian  Weise,  Rektor  zu  Zittau  und  Gabriel 
Yoigtländer.  Von  Dach  ist  ein  Gedicht  in  die  Sammlung  au%e- 
nonmien,  das  unstreitig  zu  den  besten  derselben  gehört:  dWoU  dem 
der  sich  nur  lässt  begnügen  ff  S.  16  (No.  13).  Hier  wird  der  hohle 
Werth  des  Geldes  in  guten  Gegensatz  gestellt  zu  dem  reichen  Besitze, 
der  in  der  Kunst  und  einem  freien  Muthe  liegt.  Das  Lied  ist  gewiß 
beliebt  gewesen,  denn  es  kommt  in  mehreren  damaligen  Lieder- 
sammlungen vor.  ^  Bei  weitem  unbedeutender  ist  das  einzige  Gedicht 
von  Philipp  v.  Zesen  (»Tugendreich  mein  selbst  eigenes  Hertze« 
S.  164,  No.  108], worin  ein  Liebhaber  mit  tändelnden,  abgeschmackten 
Worten  die  Gunst  seines  Mädchens  zu  erringen  sucht.  ^ 

Zahlreicher,  nämlich  mit  7  Gedichten  ist  Christian  Weise  ver- 
treten. Ihn  könnten  wir  zu  den  Dichtern  rechnen,  die  geradezu  für 
die  studierende  Jugend  schrieben.  Jedenfalls  ist  es  bekannt,  daß  er 
sich  sowohl  als  Student,  wie  auch  später  noch  in  Leijmg  unter  der 


1  Es  erschien  zuerst  in  den  Arien  Heinrich  Alberts,  der  bekanntlich  viele 
der  Dach'schen  Texte  komponiert  hat.  Ferner  in :  Oesechste  Tugend-  und  Laster- 
Kose,  oder  Jungfräulicher  Zeitrertieiber  etc.  von  Gonstans  Holdlieb.  Nürnberg 
1665,   als   Nr.  3   des  1.  Zehen  mit  der  Überschrift: 

Reichthuem  zersteuben 
Die  Künste  bleiben. 

Neugedruckt  ist  es  in  der  »Bibliothek  deutscher  Dichter  des  siebzehnten 
Jahrhunderts«  Herausgegeben  von  Wilhelm  Müller.    Band  V.  pag.  92. 

2  Clodius  giebt  an,  daß  dies  das  1.  Lied  im  6.  Dutzend  aus  der  »Frühlings^ 
lust«  Ton  Fhihpp  v.  Zesen  ist. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  5g3 

Studentenschaft  durch  seine  poetischen  Arbeiten  ein  groBes  Ansehen 
zu  verschaffen  wußte. ^ 

Drei  der  von  Clodius  mitgetheilten  Weise^  sehen  Texte  sind  aus 
folgender  Sammlung  entnommen: 

DÜberflüssige  Gedanken  der  grünenden  Jugenda.    Leipzig.    1668. 

1.  i>Mein  Liebchen  darf  ich  mich  erkühnen«  (Clod.  S.  62,  No.  45) 
daselbst  No.  9  im  4.  Dutzend. 

2.  »Zwey  Mädchen  auf  einmal <t  (Clod.  S.  160.  No.  106)  daselbst 
No.  11  im  1.  Dutzend.^  Dies  ist  verhältnissmäßig  das  beste  unter 
den  Weise'schen  Beispielen.  In  anmuthiger  Weise  wird  der  Konflikt 
eines  Liebhabers  geschildert,  der  zwischen  zwei  Mädchen  zu.  wählen 
hat  und  sich  endlich  entschließt,  beiden  zu  gleicher  Zeit  sein  Herz 
zu  schenken. 

3.  »Ach  hl.  Andreas  erbarme  dich«  (Clod.  S.  74,  No.  53)  a.  a.  O. 
No.  10  im  10.  Dutzend.  Dieses  Weise'sche  Lied  hat  sich  länger 
erhalten  und  wurde  zum  Gegenstande  späterer  Umdichtungen.^  Von 
den  Tier  anderen,  nirgends  gedruckten  Gedichten  ist  das  eine 
(S.  80,  No.  56)  »Ihr  Mädchen  gute  Nacht«  ein  AbschiedsUed ,  in 
welchem  ein  spielerischer,  kraftloser  Ton  vorwaltet.  Die  übrigen 
Nummern  (»Eilt  ihr  lieben  Wäschermädchen «  No.  48,  S.  66,  »Ihr 
Najadenff  No.  55,  S.  78  und  »Daß  dich  du  schwartzer  Dieb«  No.  83, 
S.  122)  stoßen  durch  ihren  lasciven  und  obscönen  Inhalt  ab,  sind  aber 
nicht  ohne  Geschick  gemacht.  Das  letzte  ist  in  ein  anderes  hand- 
schriftliches Liederbuch  jener  Zeit  aufgenommen.^ 


i  Vgl  hierzu  in  der  oben  citirten  »Bibl.  dtsch.  Dichter«  Band  XIY.  Lpz.  die 
Vorrede  zu  Chr.  Weise  (pag.  XLIV  und  XLV.) 

2  Neugedruckt  in  »BibL  dtsch.  Dicht.«  XIV,  pag.  324. 

3  Philipp  ^Spitta  erwähnt  den  Text  in  seiner  Abhandlung  über  Sperontes 
»Singende  Muse  an  der  Pleiße«  (Viertel] ahrBschrift  für  Musikwissenschaft  1.  Jahr- 
gang 1885,  pag.  65)  gelegentlich  einer  darin  enthaltenen  Umdichtung  in  schlesischem 
Dialekt  und  verweist  dabei  auf  unsere  Handschrift.  Er  giebt  dazu  die  Quellen 
der  übrigen  Fassungen^  die  der  Text  erüahren  hat.  Ich  kann  noch  folgende  hinzu- 
fügen :  zunächst  zwei,  die  lange  vor  Weise  entstanden  sind.  Die  erste  bei  Erasmus 
Widmann.  1.  Theil.  Neuer  Musical  Xurtzweil.  Nürnberg  1618.  Dort  steht  unter 
Nr.  30  ein  Lied :  »Des  Mägdlein  Abendsegen«  und  beginnt :  »Ach  lieber  Herr  Sanct 
Florian,  Bescher  mir  einen  frommen  Mann«.  Daß  hier  für  Andreas  Florian  steht, 
ändert  an  dem  sonst  ähnlichen  Inhalt  nichts.  Die  andere  Fassung  beginnt  mit  den- 
selben Worten  und  steht  in:  »Musikalischer  Grillenvertreiber«.  Quodlibete  durch 
Melchior  Franck.  MDCXXH  im  2.  Quodlibet 

Aus  dem  18.  Jahrh.  kann  ich  noch  folgende  Quelle  nennen:  »Recueil  von 
allerhand  CoUectaneis  und  Historien.«   Das  XIX.  Hundert.  1720.  *S.  20,  Nr.  38. 

»Ach  heiiger  Andres ! 
Ach  mach  mich  doch  zum  Weibe«. 

4  KgL  BibL  Berl.  Ms.  Germ.  Quarto  720.     Nr.  XXVI.  pag.  56. 

1891.  39 


5S4  Wilhelm  Niessen, 


Von  Gabriel  VoigÜänder  endlich  sind  2  Lieder  aus  dessen  Oden- 
Sammlung  vom  Jahre  1642  benutzt:  »Eine  reiche  Magd  hat  Matza^ 
(Clod.  S:  126,  Voigtl.  S.  93)  und  »Giebt  uns  Gott  Weint  (Clod.  S.  132, 
Voigd.  S.  106.) 

Bei  allen  übrigen  Texten  giebt  uns  Clodius  die  Namen  der  Ver- 
fasser nicht  an.  Diese  rühren  aber  nicht  ausschließlich  Ton  Studenten 
selbst  her,  sondern  in  der  Mehrzahl  von  verhältnissmäßig  anerkannten 
Dichtem  des  17.  Jahrhunderts.  Immerhin  bleibt  noch  ein  kleiner 
Theil  wirklicher  Studentendichtung  übrig.  Wir  finden  in  diesem 
vollauf  bestätigt,  was  wir  nach  der  Schilderung  der  damaligen  stu- 
dentischen Sitten  erwarten  dürfen. 

Zunächst  begegnen  wir  einer  Anzahl  Ton  Texten,  deren  Inhalt 
an  Schamlosigkeit  imd  Frivolität  schwerlich  seinesgleichen  finden 
dürfte.  Während  aber  ein  groBer  Theil  unter  ebenso  großer  Plattheit 
des  Ausdrucks,  wie  Dürftigkeit  der  Form  leidet,  zeugen  andere  von 
einem  guten  Humor  und  einer  Frische  der  Erfindung,  wie  wir  sie  bei 
keiner  anderen  Liedergruppe  der  Sammlung  antreffen.  Von  ihnen  sind 
noch  heutigen  Tages  bekannt :  «Es  fuhr  ein  Bauer  ins  Holtza  (S.  1,  No.  1) 
und  nPertransivit  Clericus  durch  einen  grünen  Wald«  (S.  86,  No.  60). 

Wir  besitzen  zwei  Lieder  mit  dem  Anfang  »Es  fuhr  ein  Bauer 
ins  Holtz.«  Das  eine  ist  ein  harmloses  Eänderlied  (genannt  »der 
Kirmesbauer^r)  und  wird  zu  Kreisspielen  gesungen.  Ludwig  Erk  hat 
eine  ganze  Reihe  Varianten  desselben  in  seinen  Volksliedersamm- 
lungen  gegeben.  Das  andere  behandelt  die  alte  Geschichte,  wie  ein 
Schreiber  die  Frau  eines  Bauern  während  dessen  Abwesenheit  ver- 
führt. Dies  ist  auch  der  Inhalt  des  von  Clodius  mitgetheilten  Textes. 
Die  Menge  der  Lesarten  giebt  F.  M.  Böhme  im  j»Altdeutschen  Lieder- 
buchett  zum  großen  Theile  wieder.  Danach  lassen  sich  die  Quellen 
bis  in  das  15.  Jahrhundert  zurückführen.  Ein  anderes  Zeugniß  für 
das  hohe  Alter  des  Liedes  bringt  Hoffinann  v.  Fallersleben  bei.  Er 
theüt  mit,  daß  König  Jacob  I.  von  Schottland  (geb.  1393  gest.  1437) 
das  Lied  schon  kannte.^    Die  jetzt  gebräuchlichste  Lesart  des  Textes 


1  Auch  in  folgender  Sammlung  vorhanden :  »Venus-Gärtlein  Oder  Viel  Schöne  | 
außerlesene  Weltliche  Lieder  etc.  Hamburg  |  Gedruckt  bey  Georg  Papen.  Im 
Jahre  |  1659«  pag.  142. 

^  Diese  Mittheilung  Hoffmann's  v.  Fallersleben  fand  ich  in  dem  handschrift- 
lichen Nachlaß  Ludwig  Erk's.  Derselbe  befindet  sich  auf  der  Kgl.  Hochschule 
für  Musik  zu  Berlin.  Er  umfaßt  u.  A.  etwa  40  Sammelb&nde,  in  die  Erk  während 
eines  Zeitraums  Ton  40  Jahren  mit  unermüdlichem  Fleiße  alles  nur  mögliche,  was 
er  an.  Liedertexten,  Melodien  nnd  Notizen  auftreiben  konnte,  zusammentrug.  Sa 
ist  mir  gestattet  worden,  für  die  yorliegende  Arbeit  diese  Bände  durchzuarbeiten ; 
ich  habe  auf  die  Weise  ein  reichhaltigeres  Material  erhalten,  als  mir  sonst  wohl 
erreichbar  gewesen  wäre. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  585- 


Stellt  in  Büschings  »WöchentKchen  Nachrichten«  11.  S.  250 — 252 
und  ist  so  als  letzte  Fassung  von  F.  M.  Böhme  angenommen  worden. 
Die  von  Clodius  gegebene  stimmt  mit  ihr  nicht  ganz  überein.  Sie 
hat  nur  1 0  Strophen  (gegen  1 4)  und  weist  auch  ein  paar  Umstellungen 
einiger  Gedanken  auf;  der  Inhalt  ist  sonst  gleich. 

Ein  nicht  viel  weniger  hohes  Alter  hat  das  an  zweiter  Stelle 
genannte  Lied  ^iPeriraTmvit  Clericus  durch  einen  grünen  waldt.« 
Eine  zuverlässige  Nachricht  darüber  giebt  wieder  Hoffmann  von 
Fallersleben.  Er  theilt  auf  Spalte  35  in  H.  v.  Aufseß'  Anzeiger  1833 
mit,  daß  der  Text,  den  er  schon  vorher'  in  den  Anfang  des  16.  Jahr- 
hunderts gelegt  habe,  in  der  That  schon  um  diese  Zeit  gedruckt  sei 
in  einer  kleinen  Schrift  des  Magisters  Olearius:  »De  fide  concubinarum« 
2.  Ausgabe  1506.  Dort  präsentirt  sich  das  fün&trophige  Lied  in  einer 
ganz  erträglichen  Form,  während  es  bei  Clodius  um  4  Strophen  ver- 
mehrt, und  in  diesen  dem  Schmutz  der  weiteste  Spielraum  gelassen  ist. 

Die  übrigen  hierher  gehörigen  Nummern  der  Handschrift  sind* 
zum  großen  Theil  Trinklieder.  Besondere  Erwähnung  verdienen 
unter  ihnen  die  von  Clodius  mit  »Rundac  überschriebenen.  Sie 
wurden  gesungen,  während  ein  Trinkgefäß,  gewöhnlich  von  mäch- 
tigem Umfange,  die  Runde  machte,  wobei  dann  darauf  geachtet  wurde, 
daß  ja  kein  Tropfen  übrig  blieb.      Hinsichtlich  des  Letzteren  finden. 


1  H.  Y.  F.  Oesch.  des  deutschen  Kirchenliedes.  1.  Aufl.  Seite  165.  Daselbst 
ist  der  Text  mit  dieser  Angabe  als  Beispiel  lateinisch- deutscher  Mischdichtung 
wiedergegeben.  Der  Gegenstand  ist  später  Ton  H.  v.  F.  getrennt  behandelt  wor- 
den in  dem  Buche:  »In  dulci  Jubilo  Nun  Singet  Und  Seid  Froh.a  Ein  Beitrag 
2ur  Geschichte  der  deutschen  Poesie  von  Hoffinann  y.  Fallersleben.  Hannover 
1854.  Kurze  Geschichte  der  lateinisch-deutschen  Mischdichtung.  Daselbst  Nr.  38 
»Pertransivit  Clerictun  in  der  Fassung  des  Olearius. 

Übrigens  hat  H.  v.  F.  selbst  im  Jahre  1872  eine  auf  die  damalige  Zeit  pas- 
sende, geistreiche  Umdichtung  dieses  Liedes  veranstaltet.  Ich  habe  dieselbe  auf 
einem  Einzeldruck-Zettel  gefunden,  den  L.  Erk  in  seinem  34.  Sammelband  zwischen 
pag.  484  und  485  mit  eingebunden  hat.    Der  Anfang  lautet  so: 

Germania. 

Ei  pertransivit  Clericus 
Durch  den  Teutoburger  "Wald. 
Quid  vidit  ibi  eminusf 
Ein  Mägdlein  Wohlgestalt  etc. 

Eine  Angabe  über  den  ursprünglichen  Text  finden  wir  auch  bei  Rob.  und 
Rieh.  Keil  »Deutsche  Studentenlieder  des  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhun- 
derts«. Danach  (Seite  69)  enthalten  die  »Nugae  venales«  (sive  Thesaurus  ridendi 
et  iocandi  etc.  Anno  1642)  dieses  obscöne  halb  lateinische,  halb  deutsche  Schelm- 
gedicht 

39» 


586  Wilhelm  Niessen» 


wir  oft  ganz  genaue  Bestimmungen.      So  z.  B.   zu  folgendem  Liede 
(No.  15,  S.  20.) 

»Hey  kade 
wieae  wade 
wiede  wanne 
nefanne 
hey  siede 
niede  fide 
wiedewitz.  * 

Ausdrücklich  heißt  es:  »Finita  hac  oda  in  vitro  ne  gutta  supersiU, 
während  über  den  Vortrag  des  Liedes  folgendes  Distichon  belehrt: 

»Praepositum  donec  vacuavit  Comhibo  vitrum 
Auribus  in  nostris  hoc  meletema  soneta^. 

Wie  gern  die  jungen  Gelehrten  mit  ihren  Kenntnissen  prahlten, 
beweist  ein  anderes  drastisches  RundaUed,  (No.  18,  S.  22)  welches 
nicht  weniger  als  3  Sprachen  umfasst,  die  griechische,  lateinische  und 
deutsche.  Es  beginnt:  liJta  rot)  S-av^ia^eivfi  und  bringt  den  i tief- 
sinnigen« Gedanken  zum  Ausdruck,  daß  die  Leute  wegen  der  Ver- 
wunderung anfingen  zu  philosophiren.  Gleich  die  folgende  Nummer 
(No.  19,    S.  22)     »More  Palatino«^  ist  in   ähnlicher  Weise  gebildet, 

1  Ich  gebe  absichtlieh  den  Text  vollständig  wegen  der  Zusammenstellung  die- 
ser 80  höchst  eigenartigen  Wortbildungen.  Wir  finden  dieselben  noch  heute.  Es 
existiren  Texte,  in  denen  Personennamen  auf  die  Art  Ton  neckenden  Leuten  yet~ 
stümmelt  werden.  Vgl.  Schulze,  KindeTleben,  Spiele,  Reime,  lUthsel.  Olden- 
burg 1851.    S.  111/112. 

»Hanne 
Wiedewanne 
wiedewinte,  matranne, 
Widewup  !  schöne  Hanne !« 

oder 

»Margrethe 
Widewete 

Wiedewinte  matrete 
Wiedewup!  schöne  Margrethe«. 

2  Das  Lied,  ein  trefiliches  Beispiel  für  das  sorgenlose  Leben  jener  Studenten, 
ist  oft  und  gern  gesungen  worden.  Ich  habe  es  noch  an  2  Stellen  gesehen.  Den 
erwähnten  »Nugae  yenales«  folgt  in  der  Ausgabe  yon  1648  ein  Adnex;  »Studentes. 
Comoediac.  Zu  demselben  gehört  eine  in  Versen  gehaltene  Abhandlung:  De 
Zu9i%tud%ne  Studeniiea,  in  der  wir  u.  a.  lesen: 

Tuffa  fdUda  falala  Speknatmi 
gpeUite  aantzum 

Ha  falala  faJala,  ha  falala  falala 

Ifore  Palatino  bibimtu,  ne  gutta  supersitf 
Unde  sttam  possit  musca  levare  sitxm  etc. 


Das  Liederbuch  des  LeipzigeT  Studenten  Glodius.  587 

indem  einfach  in  der  ersten  Strophe  die  deutsch  gehaltenen  Worte 
der  zweiten  ins  Lateinische  übersetzt  sind.  Wir  treffen  innerhalb 
des  Textes  dieselben  Bemerkungen  wie  bei  No.  15  an: 

«Auf  gut  Studentenweise 
tnncken  wir  das  Bier  hinein 
daß  auch  nicht  eine  Fliege 
ein  Tropfen  davon  kriege.cr 

Gerade  die  Sprachvermischung  und  andererseits  die  schon  oben 
bemerkte  Anwendung  sonderbarer  Wortbildungen  möchte  ich  als 
Hauptmerkmale  dieser  Bundalieder  hinstellen.  Ein  besonders  gutes 
Beispiel  für  beides  bildet  die  erste  Strophe  von  No.  59  (S.  86.) : 

(Potans)     y>La€ti  sodales 

trinckt  wacker  fort.t 
(Froficiens)     «Seyd  personales 

an  diesem  Orth 
diß  gläßlein  rundo 
laßt  nichts  in  fundo 
rundisch  runda 
juchholl  afalla. 

Auch  Tinser   ^a  9a  (^a  9a  geschmauset)  finden  wir:   in  No.  79 
(S.  116)  i>Wohlan,  sal  sal  wohlan!«  Daneben  konmit  daselbst  noch  vor: 

»Wolan  dir  dey, 
Juch  sa 
Juchl  he! 
Für!  he!« 


Diese  Abhandlung  findet  sich  mit  genannten  Versen  in  einem  ähnlichen  Buche, 
wie  die  Kugae  renales: 

Facetiae  [Facetiarum  |  Hoe  est  Joco-Seriorum  |  Faseieulus  novus 

Pathopoli, 

Apud  Gelastinum  Seyerum. 

Ao.  1645. 

Ferner  citirt  L.  Erk  (Bd.  XXXVII,  S.  219)  den  Text  aus  einem  handschriftlichen 
Liederbuch  aus  •  Westfalen.  Dasselbe  stammt  aus  der  2.  Hälfte  des  17.  Jahr- 
hunderts, wie  2  Daten:  11.  Oot.  1675  und  7.  Oct.  1673  beweisen;  daselbst  steht 
S.  66: 

Alia« 
1.    More  Palatino  bibitur 

ne  guUa  supersit 

unde  9uam  possit  mtuca 

levare  Bttim 

sie  ediiur  sie  bibitur 

in  aidis  prineipum. 


5S8  Wilhelm  Niessen, 


Dieses  Furl  he!  treffen  wir  noch  einmal  wieder  in  No.  66  (S.  96), 
deren  erste  Strophe  geradezu  überfüllt  ist  von  derartigen  Worten. 
Sie  lautet: 

»Raps  rapsahe  rapsahe 
rastrum^  mein  Mütgen 
nur  lustig  courage.^ 
hop,  hop,  hop  höchen 
ist  itzo  gleich  ^uitslich 
verschwermet  mein  GKitgen 
Sa  sa  sa  vi  ya  va 
por  porhey  porhey.« 

Der  Inhalt  dieser  Btmdgesänge  ist  meistens  ein  ginzlich  zu- 
sammenhangsloser, und  oft  sind  in  denselben  allgemeine,  witzig  vor- 
getragene Sentenzen   bunt   durch  einander  gemischt.     So    etwa   in 

No.  61  (S.  88.): 

»Also  spricht  die  Welt 

hie  et  haec  ein  Ofengabel 

nach  den  Taschen  rieht  den  schnabel 

hie  et  haec  et  hoc.« 

In  fiist  allen  den  genannten  TrinkUedem  ergeht  die  Mahnung, 
lustig  zu  sein  und  nur  immer  so  lange  darauf  los  zu  trinken,  als  es 
irgend  angeht. 

Ihnen  gleich  an  Werth,  ja  sie  beinahe  überdreffend  sind  drei  wei- 
tere Nummern,  in  denen  üppiger  studentischer  Übermuth  mit  beiBen- 
der, treffender  Satire  wetteifert:  No.  10.  (S.  12)  JiEisenbeißer,  Lanaen- 
brechercr,  No.  32  (S.  43)  »Wohl  der  die  mehr  Studenten  liebetc  und 
No.  33  (S.  44)  jiWas  hab  ich  von  dir  gelesen.« 

Wenn  auch  diese  drei  Beispiele  an  vielen  Unebenheiten,  Un- 
klarheit der  Gedanken,  Ungelenkigkeit  der  Form  und  Schwulst  der 
Worte  leiden,  so  haben  sie  doch  den  Vorzug  eines  derben,  gesunden 

1  Rastrum  war  die  specielle  Bezeichnung  fOr  LeipsigeT  Bier.  Siebe  Scheible 
»Schaltjahr«  IX.  346.  Femer  »Monatliche  Unterredungen  Einiger.  Guter  Freunde 
Von  .Verband  Büchern  und  Andern  annemliohen  Gosohichtentr.  1691.  Leipzig, 
3«  Band.  S.  864  ff.  Daselbst  wird  u.  A.  auch  nachgewiesen,  daß  der  «Nähme 
Rastrum  schon  1590  dem  Leipziger  Bier  gegeben  worden  ist«. 

3  Etwas  ähnliches  finden  wir  in  einem  yon  L.  Erk  (Sammelband  XXXXI, 
S.  609}  citirten  handschr.  Liederbuch  aus  Halle  (1720)  auf  Seite  105,  wo  ein  Lied 
so  beginnt: 

vSa,  sa,  sa,  la,  la,  la! 

Sa  mon  Coeur  Courage! 

Schlag  in  Wind,  was  sich  findt, 

Was  dir  macht  ombrage  etc. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  589 

und  eigenartigen  Charakters.     Sie  haben  —  und  das  ist  die  Haupt- 
sache —  einen  wirklich  studentenhaften,  burschikosen  Ton. 

Ein  gleiches  läßt  sich  von  den  nunmehr  zu  betrachtenden  Lie- 
dern, deren  Ursprung  wir  meistens  ziemlich  genau  feststellen  können, 
kaum  sagen.  Weitaus  am  zahlreichsten  vertreten  sind  die  Liebes- 
lieder. Ein  Liebhaber  bittet  das  Mädchen,  seine  Liebe  zu  erwidern, 
ihr  stolzes  Herz  zu  erweichen,  ihn  nicht  in  seinem  Schmerze  ver- 
gehen zu  lassen.  Es  heißt  gewöhnlich,  daß  die  «krystallnen«  Augen 
des  Mädchens  ihn  » geblendet  v  und  «seiner  Sinne  beraubt«  haben. 
Darum  solle  sie  ihm  ihre  Gunst  schenken  und  seine  »Pein«  benehmen. 
Andererseits  wird  auch  bemerkt,  daß  die  »äußeren  Vorzüge«  ver- 
gehen können,  und  es  thöricht  sei,  auf  sie  zu  pochen.  So  in  No.  31 
(S.  41): 

j)Die  Natur  giebt  nichts  umbsonst 
danimb  weil  sich  ihre  gunst 
dir  so  treulich  hatt  erweist 
laß  mich  seyn,  der  dein  geneust.«  ^ 

und  in  der  nächsten  Strophe  folgende  nichts  weniger  als  tiefe  Begrün- 
dung: 

»Warumb  giebt  die  Traube  Wein 
wenn  man  nicht  soll  lustig  sein 
soll  man  leyden  Hungers  Noth 
warumb  gibt  den  Korb  das  Erodt.« 

Mitunter  findet  man  einen  hübsch  durchgeführten  Gedanken  oder 
irgend  welche  interessante  Gestaltung  des  Ganzen.  Nr.  35  (S.  47) 
sagt  das  Mädchen  zu  allen  Wünschen  des  Liebhabers  »Neina,  aber 
j»giebt  sich  doch  geduldig  drein.«    Daraus  wird  der  Schluß  gezogen: 

»Daß  ja  bey  Vielen  pfleget  nein 
und  nein  so  viel  als  ja  zu  sein«.^ 


1  Der  Text  steht  schon  1638  in  H.  Albert's  Arien  und  ist  vielleicht  gar  von 
diesem  selbst.  Man  findet  ihn  noch  in  der  genannten  »Geseohsten  Tugend-  und 
Laster-Rose«  etc.  t.  Constans  Holdlieb.  1665  als  Nr.  3  des  2.  Zehen. 

3  Der  Text  (»Amanda,  darf  man  dich  wohl  küssen«)  ist  von  Johann  Georg 
Sehoeh  nnd  steht  in  dessen  »Neu-erbautem  Poetischen  Lust^  und  Blumen-Garten  | 
Von  Hundert  Schäffer-Hirten-Liebes  und  Tugend-Liedern«  etc.  Leipzig  1660.  pag. 
116  als  das  LVIL  Lied.  Er  ist  aber  schon  firüher  gedruckt  worden  in  Ad.  Krie- 
ger's  Arien  von  1657.  Schoch  giebt  auch  den  Grund  an,  warum  er  Um,  wie  die 
anderen  Gedichte  »jetst  gerade«  (1660)  veröffentlicht.  £r  beschwert  sich  n&mlioh  in 
der  Vorrede,  wie  überhaupt  Texte  »sogar  jämmerlich  und  erbärmlich  geradebrecht, 
xerstümpelt  imd  zerhümpelt  werden,  weil  theils  sie  entweder  so  übel  und  undeut- 
lich abgeschrieben!  verstanden,  und  von  so  künstlichen  Meister  -  Sängern  gefasset, 


590  Wilhelm  Niessen, 


Nr.  54  (S.  76)  ist  überschrieben:  «Ein  Lied  worinne  die  Thame 
den  Gralahn  aussieht «,  und  beginnt:  «Liebgen  ich  habe  kaum  länger 
konn  harren«.^  Es  ist  in  Dialogform  abgeSetsst;  jede  Strophe  setzt 
sich  aus  3X2  Versen  zusammen,  von  denen  der  je  erste  Vers  die 
Worte  des  »Galahns»,  der  zweite  die  der  »Thame er  enthält.  Die 
» Thame a  beantwortet  die  drängenden  AeuBerungen  des  »Gralahns« 
immer  mit  dem  Gegentheil,  z.  B.  in  Str.  5: 

»Meine  Gebürge  sind  alle  voll  Trauben 

wer  es  will  glauben 
Land  und  Aecker  sind  alle  voll  Kömer 

alle  voll  Dömer 
Boden  und  Kammern  sind  alle  voll  Früchte 

gehen  zu  nichtea 

Nr.  24  (S.  28)  ist  formell  diesem  Liede  ähnlich  2.  Das  Gespräch 
wird  aber  nicht  zwischen  zwei,  sondern,  wie  schon  die  Ueberschrift 
sagt,  (Dialogus  Sponsi,  Sponsae  et  Matris)  zwischen  drei  Personen,  ge- 
fuhrt.    Geschickt  sind  in  diesem  Liede  die  Charaktere  der  einzelnen 


theils  ihnen  so  gar  ungeTeimte  Melodeyen  und  Weisen  auffgetrungen  und  an- 
geschnürret  weiden,  daß  einer  sich  wahrhafftig  des  Niesens  kaum  enthalten  solte.« 
Ob  er  damit  auch  die  von  Ad.  Krieger  herrührende  Melodie  gemeint  hat?  Im 
übrigen  ist  der  Text  allerdings  oft  nachgedruckt  worden,  1)  als  Nr.  57  in:  »Gants 
neuer  Hans  Quck  in  die  Welt,  Das  ist:  Neu-yermehrte  weltliche  Lust-Kammer, 
in  welcher  mehr  als  siebenzig  ausbündige  neulichst  ersonnene  artige  Schäffereye  etc. 
.zu  finden.  Anjetzo  mit  vielen  Neuen  Liedern  vermehret  worden.  Zu  finden  bey 
Joh.  Jon.  Felseokers  seL  Erben«.    (Nürnberg.) 

2)  Nr.  4  in:  »Tugendhafiter  Jungfrauen  und  Junggesellen  Zeitvertreiber  Das 
ist :  Neu  vermehrtes  etc.  Weltliches  Lieder-Büchlein  bestehend  in  vielen  etc.  SchS- 
ferey-Wald-Sing-Tanz  und  keuschen  Liebes-Liedem.  Alle  von  bekannten  an- 
nehmlichen Melodeyen,  in  ein  ordentlich  verfaßtes  Register  zusanmiengetragen 
Dufch  Hilarium  Lustig  von  Freuden  Thal«. 

3)  Nr.  57  in:  »Neues  Weltliches  Lieder-Büchlein  Darin  sich  allerhand  jetsiger 
Zeit  übliche  lustige  Lieder  befinden  etc.  Gedruckt  in  demselben  Jahr,  Alß  man 
gerne  lustig  war«. 

Diese  3  Sammlungen  stammen  aus  der  2.  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  und 
enthalten  eine  sehr  große  Anzahl  der  damals  beliebtesten  Lieder. 

1  Zu  finden  auf  pag.  599  in  einem  handschriftlichen  Liederbuche  des  17.  Jahr- 
hunderts.   (Kgl.  BibL  Berlin.  Ms.  Oerm.  Quarte.  734). 

2  »Flora  deine  Zier«  von  Georg  Greflinger;  befindet  sich  in  3  Liedersamm- 
-lungen  desselben: 

1)  auf  pag.  56  in:  »Seladons  (Grefiingers)  Beständige  Liebe«.    Franckfurt  am 
Majn.    1644. 

2)  auf  Blatt  LVII  a  in :   »G.  G's.  Gekröhnten  Poeten  und  Notarü  Poetisehe 
Rosen  und  Dömer,  Hülsen  und  Kömer«.    Hamburg.     1655. 

3)  Nr.  7  im  3.  Zehen  in :  »Celadonische  Musa  Inhaltende  Hundert  Oden  «  etc. 
Gedmckt  im  Jahr  1663. 


Das  Liederbuch  des  Leipsiger  Studenten  Clodius«  591 

Personen  durch  Verschiedenheit  des  Metrums  gekennzeichnet.  Der 
entschlossene  »Sponsus «  spricht  in  festen  Spondeen,  die  etwas  einge- 
schüchterte »Sponsa«  in  unruhigen  Jamben,  die  keifende  Mutter  in 
polternden  Daktylen,  und  ihre  Worte  zeichnen  sich  durch  belustigende 
Derbheit  aus« 

In  anderen  Liedern  kommt  die  Freude  über  den  endlich  erlangten 
Besitz  eines  Mädchens  zum  Ausdruck.  Oft  gesellt  sich  die  Bitte  an 
die  Erwählte,  auch  die  Treue  zu  erhalten  und  nicht  auf  die  ji Kläffer« 
zu  achten.    Eine  Lobpreisung  der  Geliebten  pflegt  sich  anzuschließen: 

Venus  die  Göttin 

an  Schönheit  ihr  weichet, 

Jupiters  Ehgemahl 

ihr  auch  nicht  gleichet.' 

Hübsche  Vergleiche  wechseln  mit  trivialen:  »Die  Augen  glänzen  wie 
die  Sterne  am  Himmel«.^  Die  Blicke  werden  » Augengeschütze «c  ge- 
nannt.' Der  Mund  heißt  Purpurotmündlein«.*  Die  Lippen  und 
Wangen  sind  »blutmilchem«,^  und  was  dergleichen  mehr  ist. 

Wohl  das  beste  Lied  der  Art  ist  Nr.  39  (S,  52):  »Ich  fragte 
Dorinden  mein  eintziges  Leben c,<^  es  zeugt  von  einer  gewissen  Wärme 
der  Empfindung,  die  in  erfrischendem  Gegensatz  zu  der  hohlen  Ge- 
schwätzigkeit anderer  Lieder  steht. 

1  Str.  2  in  Nr.  71  S.  104.  »Lustig  ich  habe  die  Liebste  bekommen  «•  Findet 
sieh  mehrmals,  sowohl  im  Druck,  als  auch  handschriftlich: 

1)  in  dem  genannten  »Hans  Guck«  als  Nr.  25. 

2)  in  »Tugendhafter  Jungfrauen  etc.  Zeitvertreiber «  als  Nr.  43. 

3)  In  einer  Handschrift  aus  Dresden  aus  dem  17.  Jahrh.  (enthaltend  Lieder 
und  Lautenstücke).   Msc.  Dresd.  M«  297  auf  pag.  166. 

4}  Parodirt  steht  dieser  Text  in:    »Nicolai  Peuckers  Lustiger  Pauoke«  etc. 
(▼om  Jahre  1702)  auf  pag.  490.    Die  erste  Strophe  lautet  dort  wie  folgt : 

»Lustig!  wir  haben  itzt  Frieden  bekommen, 
Sollten  gleich  alle  Soldaten  drum  brummen, 
Friede,  die  Mutter  der  seitlichen  Qüter, 
Füllet  mit  Freuden  der  Menschen  Oemüther«. 

«  Str.  3  in  Nr.  71  S.  104. 

s  Str.  2  in  Nr.  92  S.  136.    »Nun  bin  ich  vergnügt«.    (Sonst  unbekannt.) 
«  Str.  1  in  Nr.  41  S.  54.    »Sey  fröhlich  bald  ehlich«.    Auch  dieser  Text  ist 
von  Georg  Greflinger  und  in  iweien  seiner  Sammlungen  vorhanden: 

1)  In:  »Seladons«  Weltlichen  Liedern.  Frkft.  a.  M.  1651.  8.  Nr.  2  pag.  17. 

2)  In  der  Celadonischen  Musa  1663.    Nr.  8  des  2.  Zehen« 
5)  Str.  3  in  Nr.  71. 

^  Ebenfalls  von  Greflinger  und  swar: 

1)  In  Seladons  WeltL  L.    Nr.  1  pag.  14. 

2)  In  der  Celadonischen  Musa.    Nr.  7  des  2.  Zehen.    Außerdem 

3)  In:  »Tugendhafter  Jungfrauen-Zeitvertreiber«.    Nr.  167. 


592  Wilhelm  Niessen, 


Einige  Liebeslieder  haben  ausschlieBlich  die  VerheTrlicbung  der 
Vorzüge  eines  Mädchens  zum  Gegenstande.  Die  Augen  sind  wie 
»Hencker  und  Feiniger«,  werden  in  derselben  Strophe  zu  »Crystallen« 
und  bereiten  als  solche  b  schreckliche  Pein«^  Dann  wird  flriBig  mit 
Deminutiven  gearbeitet.  In  Nr.  58  (S.  84)  wird  das  Liebchen  »Hüngen c, 
»Täubgen«,  femer  »Hirschgen«  und  »Caningen«  genannt.  Wenn  sie 
dem  Liebhaber  ihre  j» Lippgen«  reicht,  dann  soll  sie  durch  »Rosingenc 
und  »Süppgen«  erquickt  werden. 

Die  Abschiedslieder  enthalten  nur  dürftige  Gedanken.  Der  Lieb- 
haber hofft  die  Sonne«,  die  ihn  so  oft  »angestrahlt«  und  nun  nicht 
mehr  »beleuchtet«,  nicht  auf  immer  zu  verlieren  2.  Andererseits  jammert 
er  über  sein  Missgeschick,  er  bittet  die  »geneigten  Wolkenbogen«',  »die 
beblühmte  Rosenbahn«,  die  »verrauschten  Silberwogen«,  sich  seiner 
Schönen  anzunehmen.  Handelt  es  sich  um  die  Zurückweisung  seitens 
der  Geliebten,  so  drückt  der  Liebhaber  meistens  seine  Freude  aus,  die 
Fesseln  abgestreift  zu  haben,  nicht  mehr  an  eine  gebunden  zu  sein, 
sondern  mit  allen  Mädchen  scherzen  zu  können.  Er  ist  mit  ähnlicher 
Freude  erfüllt,  wie  die  »Nachtigall«,  die  ihrem  »Vogelstalla  entwischt 
ist  und  jetzt  »frei«  im  »Busch«  ihre  Stimme  erklingen  lässt.^  In  andern 
Gedichten  wird  von  vornherein  gegen  das  Ehejoch  polemisirt.  Hierher 
gehört  das  lange  beliebt  gewesene  »Schweiget  mir  vom  Frauennehmen. ^ 


&  Str.  1  in  Nr.  12  (S.  14)  »Schönste,  wo  hast  du  die  Augen  gen(Mmnenc 

2  In  Str.  6  von  Nr.  84  (S.  122),  »Adoranda  das  ist  Pein«.  Zu  finden  in  dem 
bereits  genannten  handschriftlichen  liederbuohe  aus  dem  17.  Jahrh.  Ms.  Genn. 
Qu.  734.  (Berl.)  pag.  610.  Das  lied  hat  sieh  bis  in  die  Mitte  des  18.  Jahihunderts 
erhalten.  Wir  begegnen  ihm  noch  in  dem:|  »Neu-vermehrten  Berg^Liederbadüein« 
(etwa  um  1740  gedruckt)  als  »Das  hundert  und  drey  und  funfitiigste«. 

^  Str.  6  in  Nr.  90  S.  134,  »Haibertheil  von  meinem  Hertsen«.  Gedruckt  in 
dem  »Neuen  weltlichen  Liederbuche«  unter  Nr.  61. 

^  »Wer  ist  doch  wohl  so  seelig  als  ich  bin«.  Ebenfalls  aufgenommen  in  fol- 
gende bereits  genannte  Sammlungen: 

1)  »Hans  Guck«  Nr.  42. 

2)  »Tugendh.  Jungfrauen-Zeitvertr.«  Nr.  171. 

3)  »Neues  Weltl.  Lied.-Büchl.«  Nr.  47. 
^  Von  Georg  Greflinger. 

1)  in:  »Seladons  Wanckender  Liebe«  1644,  pag.  63. 

2)  in:  »Seladons*  Weltlichen  Liedern«  1651,  pag.  18,  Nr.  3.] 

3)  in  der  »Celadonischen  Musa«  Nr.  1  des  7.  X.    Außerdem  abgedruckt 

4)  in:  Tugendhafter  Jungfr.^Zeitvtr.  Nr.  47. 

5)  im:  »Neuen  Weltl.  Liederbuch  Nr.  2. 

Philipp  Spitta  theilt  mit,  daß  Sperontes  mit  Anlehnung  an  diesen  Text 
dichtete : 

»Nimmer  kann  ich  mich  bequemen, 

Mir  ein  Weib  an  Hals  zu  nehmen«. 
»Sperontes  Singende  Muse  an  der  Pleiße«  a.  a.  O.  pag.  64/65. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  593 

Werthyoller  sind  die  Liebesliedei,  denen  das  Motiv  der  verschwiegenen 
Liebe  zu  Grunde  liegt.  ^ 

Von  den  noch  übrigen  Nummern  gehören  immer  nur  wenige  in- 
haltlich zusammen.  Zwei  schließen  sich  in  ihrem  Hauptgedanken  an 
das  schon  genannte  Lied  von  Dach:  »Wohl  dem,  der  sich  nur  lässt 
begnügen«,  nämlich  Nr.  28  (S.  36)  d Lasstuns  nur  lustig  seinc^  und 
Nr.  88  (S.  130)  «Muß  ich  denn  sein  darumb  so  sehr  betrübet.« 
Der  Mensch  soll  fröhlich  sein  und  danach  streben,  Tugend  und 
einen  leichten  Muth  zu  erwerben.  In  beiden  Liedern  ist  der  für 
die  Gesänge  sorgenloser  und  munterer  Burschen  passende  Gedanke 
gut  wiedergegeben.  Noch  höheres  Lob  verdienen  die  beiden  einzigen 
FrühUngslieder:  Nr.  69  (S.  100)  »Frey et  ihr  Menschen,  denn  Früh- 
ling heißt  fireyen«  und  Nr.  70  (S.  102)  »Im  Mayen  ists  überall  lustig 
und  schön.«  Mit  Frühlings  Beginn  verjüngt  sich  alles,  Himmel, 
Winde,  Wasser  und  Erde  freien,  da  soll  auch  der  Mensch  aufthauen 
und  sich  ein  heiteres  Gemüth  anschaffen.  In  fließenden  Versen  und 
hübschen  Worten  wird  der  Gedanke  vorgetragen. 

Ebenfalls  büdet  sowohl  seinem  Inhalt,  als  auch  seinem  Werthe 
nach  eine  rühmliche  Ausnahme  das  Lied  Nr.  27  [S.  32)  j>Ey  Fair- 
fax  schäme  dich. «  ^  Es  ist  das  einzige  Beispiel  der  Sammlung,  welches 
einen  historischen  Vorgang  behandelt.  Der  Inhalt  bezieht  sich  auf 
die   Kämpfe   der   Farlamentstruppen    unter   General   Fairfax   gegen 


i  Vgl.  Nr.  10  (S.  152)  und  Nr.  16  (S.  21).  Letzteres  ah  Nr.  33,  pag.  79  in 
einem  handschriftlichen  Liederbuch  des  17.  Jahrh.  (Ms.  Qerm.  4^.  720.  BeiL  Bibl.) 
Femer  gedruckt  im  Anfang  des  18.  Jahrh. 's  in:  Joh.  Friedr.  Rothmann's  J.  U.  C. 
Lustigem  Poeten.    MDGCXI  unter  Nr.  29. 

3  Gedruckt  im:  »Neuen  weltl.  Liedb.«  Nr.  32.  Femer  auf  pag.  617  in  dem 
genannten  handschr.  Liederb.  des  17.  Jahrh.  Ms.  4.  Germ.  734.  Schließlich  haben 
es  die  Brüder  Keil  in  ihre  »Stndentenlieder«^  (a.  a.  O.  pag.  136)  aufgenonmien 
und  zwar  nach  einem  Jenenser  Blatt  aus  dem  Jahre  1693. 

3  Der  Text  scheint  von  Grefiinger  zu  sein,  jedenfalls  steht  er  in  dessen  Gela« 
donischer  Musa  Ton  1661  als  Nr.  4  des  10.  Zehen.  Allerdings  findet  er  sich  schon 
früher  in  einem  handschriftlichen  Liedeibuche  Ton  1649,  wie  Ditfurth  angiebt  in 
seinen  »Deutsch.  Volks,  u.  GesellschL  des  17/18.  Jh.  1872«,  woselbst  er  auf 
pag.  78  unter  Nr.  77  das  Lied  bringt.  Er  führt  noch  ein  lateinisches  Gedicht 
an,  das  auch  aus  diesem  handschr.  Liederb.  stammt  und  seiner  Ansicht  nach 
das  Vorbild  zu  diesem  Texte  gewesen  ist.  Greflinger  bemerkt  aber,  daß  er  in 
seiner  »Musa«  meistens  schon  längst  von  ihm  verfasste  Gedichte  sammelt.  Da  er 
nun  1600  geboren  ist,  so  kann  also  dieses  Lied  gut  vor  1649  von  ihm  gedichtet 
sein  und  zwar  mit  Benutzung  jener  lateinischen  Quellen.  Übrigens  existirt  es 
noch  in  einem  Einzeldruck  (Ye.  7171  auf  der  Kgl.  Bibl.  BerHn)  unter  dem  Titel-: 
»Königlicher  Discurs  Und  Gespräch  zwischen  Ihr  Kön.  Majest.  Carol  Stuart  Und 
Herren  Frotectoren  Cromvell  in  England.«  Ich  bemerke,  daß  in  allen  den  hier  an- 
gegebenen Fassungen  für  »Fairfax«  der  Name  »Cromwell«  steht. 


594  Wilhelm  Niessen, 


Karl  I.  von  England.  Das  Granze  ist  eine  Unterredung  des  Königs 
mit  Fairfax,  in  welcher  er  dem  General  sein  Unrecht  vorwirft,  das 
aher  dieser  nicht  einsieht.  Das  Resultat  ist,  daB  der  König  geköpft 
wird.  Die  Reden  Karls  sind  in  einem  zu  kläglichen  Tone  gehalten. 
Dagegen  schildern  die  ausgelassenen  und  energischen  Worte  des  Fair- 
fax den  Trotz  des  abtrünnigen  Unterthans  in  drastischer  Weise. 

Es  bleibt  noch  übrig,  auf  einige  hübsche,  noch  heute  gesungene 
Kinderlieder  und  ein  komisches,  wirksames  Soldatenlied  hinzuweisen.^ 

Ein  buntes  Bild  ist  es,  das  sich  darbietet.  Neben  lasciven  und 
derben  Nummern  stehen  solche  mit  zimperlich  süßlichem  Inhalt. 
Manchem  kecken,  flotten  Texte  steht  ein  steifleinenes,  langathmiges 
Gedicht  gegenüber.  Echte  Studentenpoesie  ist  nur  in  verhältnissmäBig 
wenigen  Fällen  vorhanden,  dafür  sollen  uns  seichte  und  alberne  Liebes- 
lieder entschädigen,  denen  fast  die  Hälfte  des  Raumes  gewidmet  ist. 
Mitunter  ist  der  Ausdruck  kernig  und  wirksam,  die  Form  abgerundet 
und  knapp,  meistens  jedoch  starrt  uns  Sprödigkeit  und  Plattheit  der 
Sprache  entgegen,  der  Bau  der  Texte  ist  schief  und  oft  zu  weit  aus- 
gedehnt. Warme  Empfindung,  gesunder  Humor,  gar  nicht  zu  sprechen 
von  wirklich  poetischer  Schönheit,  sind  selten,  dafür  müssen  wir  vorlieb 
nehmen  mit  Phrasen  und  prosaischen  Witzeleien.  Vor  allem  aber:  die 
Lieder  sind  nicht  musikalisch  wegen  ihrer  unlyrischen  Eigenschaften. 
Der  Eindruck,  den  wir  beim  Betrachten  der  Texte  von  dem  Werthe  der 
Handschrift  bekommen,  ist  im  allgemeinen  ein  wenig  günstiger.  Wird 
uns  die  Musik  für  das,  was  die  Texte  nicht  geben  konnten,  entschä- 
digen? Die  nachfolgenden  Untersuchungen  sollen  die  Frage  beantworten. 

n. 

Die  Melodien  des  Liederbuches. 

Mit  dem  Tode  Ludwig  Senfl's  war  die  erste  groBe  Epoche  des 
deutschen  Liedes  beendigt  worden.  Bis  dahin  hatten  die  ehrwürdigen, 
schönen  Weisen  des  alten  Volksgesanges  die  Unterlage  gebildet,  auf 
der  die  Komponisten  mit  reicher  Kontrapunktik,  abwechslungsvoller 
Rhythmik  und  edler  Melodik  ihre  Tonsätze  aufbauten.  Da  war 
allerdings  von  einem  Hervortreten  einer  charakteristisch  ausgeprägten 
Melodie  nicht  die  Bede;  dafür  bildeten  eine  reiche  Harmonie,  eine 
ausgedehnte,   unaufhörlich   strömende  Melodik  aller  Stimmen   einen 


i  »Hey  Matter  der  Fink  ist  todt«  (Nr.  4,  S.  4), 
vDr&y  Oänß  in  Haberstroh«  (Nr.  26,  S.  30), 
»Mars  l&ßt  ist  Eur  Tafel  blasen«  (Nr.  23,  S.  26). 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  595 


Ersatz,  der  bis  jetzt  noch  nicht  wieder  in  solcher  Vollendung  erreicht 
worden  ist. 

Um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  aber  drangen  allmählich  aus- 
ländische Elemente  in  das  deutsche  Lied  ein,  die  demselben  bald  ein 
ganz  anderes  Gepräge  geben  sollten.  Namentlich  machte  sich  ein 
von  Italien  ausgehender  Einfluß  geltend.  Und  zwar  waren  es  drei 
Momente,  die  für  die  Umgestaltung  der  ganzen  Liedcomposition  von 
Wichtigkeit  werden  sollten. 

Erstens:  Die  Erfindung  des  Madrigals  mit  seinen  Vorläufern  und 
Nebenzweigen,  der  Frottole  und  der  Villanelle.  Das  wesentliche  in 
dieser  Erfindung  bestand  darin,  daß  der  Cantus  firmus  wegfiel,  und  die 
in  den  einzelnen  Nummern  obwaltenden,  lang  ausgedehnten  Perioden 
einer  durch  motivische  Weiterfuhrung  entstandenen  Melodiebildung 
Platz  machten. 

Zweitens :  Die  Bemühungen  der  Florentiner  Schöngeister,  die  in 
den  alten  griechischen  Tragödien  übliche  Gesangsweise  wiederherzu- 
stellen, das  heißt,  die  Einführung  der  Monodie  und  die  damit  ver- 
bundene erhöhte  Werthschätzung  der  Textworte  bei  Abfassung  der 
Melodien. 

Drittens:  Das  Aufkommen  des  Generalbasses,  der  als  Anhalt 
dienen  sollte  für  die  auf  einem  Instrumente  (Laute  oder  Klavier)  aus- 
zuführende Begleitung. 

Li  innigem  Zusammenhang  mit  diesen  neuen  Erscheinungen  stand 
die  allerdings  schon  lange  vorbereitete,  nunmehr  zum  Durchbruch 
kommende  rein  accordliche  Begleitung  der  Melodie  und  ebenso  das 
Verschwinden  der  alten  Tonarten. 

Alle  diese  Vorgänge  wirkten  zusammen,  um  einen  gänzlichen 
Umschwung  nicht  nur  in  der  deutschen  Liedkomposition,  sondern 
überhaupt  in  dergesammten  musikalischen  Komposition  herbeizuführen. 

Zunächst  komponierten  in  Deutschland  nach  dieser  Manier  die- 
jenigen Tonsetzer,  die  eigentlich  Ausländer  waren,  aber  meist  feste 
Stellen  an  den  deutschen  Höfen  inne  hatten,  z.  B.  Jvo  de  Vento, 
Orlandus  Lassus,  Jacob  Regnart  u.  A.  Namentlich  der  letztere  hatte 
mit  seinen  a Kurtzweiligen  Liedern«  nach  Art  der  Neapolitanen  einen 
sehr  großen  Erfolg.  Mit  Freuden  wurden  in  Deutschland  diese  klei- 
nen Gebilde,  die  strophisch  gegliedert,  Note  gegen  Note,  ohne  ernst- 
liche Nachahmungen  und  mit  den  einfachsten  Harmonien  gesetzt 
waren,  aufgenommen  und  mit  vielem  Eifer  von  den  deutschen  Kom- 
ponisten nachgebildet.  Es  wäre  aber  nicht  richtig  anzunehmen,  daß 
die  Deutschen  ganz  sklavisch  diesem  neuen  Zuge  gefolgt  wären. 
Vielmehr  haben  wir  eine  stattliche  Reihe  von  Meistern  jener  Zeit  zu 
nennen,  die  allerdings  die  neuen  Anregungen  sich  zu  Nutze  machten. 


596  Wilhelm  Niessen, 


abei  dabei  doch  destrebt  waren,  die  deutsche  Eigenart  nicht  zu  ver- 
leugnen. An  erster  Stelle  verdient  hier  Hans  Leo  Haßler  Erwähnung: 
ferner  Melchior  Franck,  Joh.  Herrn.  Schein,  Andreas  Hammerschmidt, 
Heinrich  Albert. 

Allmählich  jedoch  vereinfachten  sich  die  deutschen  Lieder  immer 
mehr  zu  solchen  Gebilden,  wie  wir  sie  in  den  Liedern  von  Regnart 
charakterisiert  gefunden  haben.  Der  fremdländische  Geschmack  nahm 
mehr  und  mehr  überhand,  ja  auch  die  Bezeichnung  Lied  verschwand, 
um  den  stolzen  Namen  »Ariaa,  »Oda«  Platz  zu  machen.  Unter  diesen 
Arien  (die  etwa  den  Villanellen  zu  vergleichen  wären)  und  Oden  (die 
ungefähr  den  Frottolen  gleichbedeutend  sind)  verstand  man  also  kleine, 
einfache ,  strophisch  gehaltene  Gesangsmelodien ,  zu  denen  ein  be- 
zifferter Baß  die  Begleitung  andeutete.  

Solche  Arien  uni  Oden  bilden  denn  nun  auch  in  der  Mehrzahl 
den  musikalischen  Inhalt  unserer  Handschrift.  Von  den  91  ver- 
schiedenen Melodien  derselben  tragen  an  und  für  sich  8  die  Be- 
zeichnung »Ariaff,  2  die  Bezeichnung  »Oda«.  Die  übrigen  sind  mit 
verhältnissmäßig  geringen  Ausnahmen  zu  derselben  Kategorie  zu  zäh- 
len. Zu  den  Ausnahmen  gehören  einige  Canons  und  diejenigen 
Melodien,  die  unstreitig  Volksweisen  sind. 

Was  nun  die  Arien  und  Oden  angeht,  so  könnte  man  dieselben 
im  Anschluß  an  das  von  Hoffmann  von  Fallersleben  erfundene  Wort 
» Gesellschaftslied  «r  auch  gut  »G^sellschaftsmelodienc  nennen.  Diese 
treten  im  17.  Jahrhundert  in  zweifacher  Weise  auf.  Entweder  finden 
sie  sich  in  Arien-  oder  Liedersammlungen,  die  nach  den  Komponisten 
genannt  sind,  in  denen  also  das  Hauptaugenmerk  auf  die  Melodien 
gerichtet  wird,  z.  B.  in  Heinrich  Alberts  Arien.  Oder  aber  sie  stehen 
in  Sammlungen,  in  denen  die  Texte  augenscheinlich  die  Haupt-Rolle 
spielen,  während  die  dazu  gehörigen  Weisen  nur  nebenbei  au%e- 
zeichnet  sind,  z.  B.  in  Seladons  (G.  Greflingers)  Weltlichen  Liedern. 

In  unserem  Liederbuche  sind  nun  beide  Arten  in  ziemlich  gleich- 
mäßiger Weise  vertheilt. 

a.    Melodien,  die  aus  Ariensammlungen  des  17.  Jahr- 
hunderts stammen. 

Hier  sehen  wir  drei  hervorragende  Liederkomponisten  des  17. 
Jahrhunderts  vertreten:  Heinrich  Albert,  Andreas  Hammerschmidt 
und  Adam  Krieger. 

Von  Albert  sind  2  Melodien  (in  Nr.  13  und  Nr.  31)  benutzt. 
Dieselben  stehen  in  seinen  berühmten  Arien,  die  in  mehreren  Auflagen 
erschienen   in   den  Jahren   1638 — 1650,   zum  Theil  gesammelt  auch 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  597 


unter  dem  Titel:  »Poetisch  Musikalisches  Lust  Wäldlein,  das  ist  Arien 
oder  Melodeyen  etlicher  theils  geistlicher,  theils  weltlicher  etc.  Lieder 
Ton  Heinrich  Alberten.«  In  diesem  Nachdruck  sind  die  Lieder 
mit  fortlaufender  Nummer  versehen,  (es  sind  144),  während  sie  be- 
kanntlich ursprünglich  in  8  Theile  abgetheilt  sind.  Clodius  citiert 
nach  letzteren,  denn  er  bemerkt  zu  dem  Liede  Nr.  13:  »Wohl  dem 
der  sich  nur  lässt  begnügen  er,  »JEf.  Alberti  Aria  /X,  partis  priorisdi. 
Allerdings  macht  er  dabei  einen  kleinen  Fehler,  denn  es  steht  nicht 
im  ersten,  sondern  im  zweiten  Theile.^ 

In  einem  Punkte  unterscheidet  sich  nun  die  Fassung  bei  Clodius 
wesentlich  von  der  Originalgestaltung.  Die  letztere  weist  ein  scharf 
ausgeprägtes  G  dorisch  auf,  während  in  unserem  Liederbuche  daraus 
ein  modernes  QmoU  geworden  ist.  Wir  erkennen  dies  aujs  dem  4. 
Takt,  wo  bei  Albert  der  Accord  auf  der  5.  Stufe  d  f  a,  bei  Clodius 
dagegen  dßs  a  lautet  und  zwar  beide  Male  so,  daß  die  entscheidende 
Terz  in  der  Melodie  liegt.  Hier  haben  wir  einen  recht  schlagenden 
Beweis  für  den  Umwandlungsprozeß ,  der  sich  hinsichtlich  der  Har- 
monik in  jener  Zeit  vollzog.  Die  Komponisten  waren  theüweise  noch 
im  Banne  des  Alten  befangen,  das  Volk  dagegen^  und  so  auch  die 
Studentenschaft  war  schon  ganz  und  gar  von  der  neuen  Strömung 
fortgerissen  und  machte  sich  bereits  vorhandene  Weisen  danach  zurecht. 

Uebrigens  scheint  die  hier  vorliegende  Melodie  sehr  beliebt  ge- 
wesen zu  sein,  was  allerdings  bei  ihren  edlen  Tongängen  und  vor- 
nehmen Harmonien  wohl  zu  erklären  ist.  Sie  ist  nämlich  sehr  oft 
als  »Thon «  für  verschiedene  Texte  angegeben.  Zunächst  in  folgender, 
bereits  im  vorigen  Abschnitt  kurz  citierten  Liedersammlung:  »Ge- 
sechste  Tugend-  und  Laster-Rose  oder  Jungfräulicher  Zeitvertreiber, 
worinnen  Allerhand  schöne  neue  Poetische  Lieder  in  bekandte  Melo- 
deyen versetzet  so  in  folgende  Sechs  Zehen  ordentlich  verabfasset  und 
mit  schönen  Kupffem  gezieret  sind  von  Constans  Holdlieb.  Zu  fin- 
den bey  Johann  Hoffmann  Kunsthändlern  in  Nürnberg  1665.«  Wir 
erwähnten,  daß  unser  Text  daselbst  unter  Nr.  3  im  ersten  »Zehen« 
zu  finden  ist.  Dazu  ist  nun  bemerkt:  »nach  der  Weise:  Wohl  dem 
der  weit  von  hohen  Dingen.«  Man  könnte  danach  annehmen,  daß 
dies  eine  zweite  Melodie  für  dasselbe  Lied  ist.  Das  scheint  mir  aber 
nicht  nothwendig. 

Das  Gedicht  »Wohl  dem  der  weit  von  hohen  Dingen«  ist  von 
Opitz.2     Erwägen  wir ,  daß  Albert  dem   Königsberger  Dichterkreise, 


1  In  jener  1.  Ausgabe  von  1638  hat  es  übrigens  die  Nummer  34. 

2  M.  Opitz,  Acht  Bücher  Teutscher  Poematum.     1625.    Buch  Y.  pag.  183. 


gQg  Wühelm  Niessen, 


bei  welchem  Opitz  in  hohem  Ansehen  stand,  angehörte,  so  ist  es 
sehr  wahrscheinlich,  daB  er  seine  Melodie  zunächst  zn  diesem  Texte 
setzte.  Simon  Dach,  ebenfalls  ein  Verehrer  Opitzens,  hat  dann  später 
wohl  unser  dem  Opitz'schen  inhaltlich  ähnliches,  formell  ganz  gleiches 
Gedicht  gemacht,  wozu  Albert  seine  frühere  Melodie  gut  benutzen 
konnte.  Einen  ziemlich  sicheren  Beweis  für  diese  Annahme  haben 
wir  darin,  daB  Albert  ausdrücklich  in  dem  Vorwort  zum  2.  Theile 
seiner  Arien  hervorhebt,  er  habe  die  Melodien  meistentheils  in  seinen 
Studentenjahren  verfertigt.  Da  er  nun  1604  geboren  wurde,  und 
zwischen  1623  und  1626  Student  gewesen  ist,  so  ist  es  also  sehr 
wohl  möglich,  daß  er  diese  Weise  eben  zu  jenem  Opitz' sehen  Texte 
geschrieben  hat.  Unter  dieser  Voraussetzung  können  wir  aus  der  er- 
wähnten Sammlung  von  Holdlieb  6  Gedichte  nennen,  die  alle  nach 
dieser  Melodie  gehen,  Nr.  2  und  5  im  1.  X.  Nr.  8  im  2.  X,  Nr.  1 
im  3.  X,   Nr.  3  im  4.  X  und  Nr.  3  im  5.  X. 

Dieselbe  Bemerkung  finden  wir  in  dem  bereits  angeführten  «Venus- 
G^rtlein«  vom  Jahre  1659  auf  pag.  ISO  zu  dem  Liede: 

»Wer  lieben  will  und  bald  verzagen 
Der  stelle  seinen  Vorsatz  ein.« 

Andererseits  ist  die  Melodie  selbst  genau  abgedruckt  in  »Seladons 
Weltlichen  Liedern«,  pag.  99  zu  Nr.  3  im  3.  Dutzend : 

»O  wilstu  dannoch  von  mir  scheyden. 
Du  meiner  Seelen  Seele. a 

Schließlich  ist  sie  auch  in  unserer  Handschrift  noch  zu  einem 
zweiten  Liede  gesetzt,  zu  jener  Parodie  des  Dach'schen  Gedichtes  in 
Nr.  32:  »Wohl  der,  die  mehr  Studenten  liebet.« 

Die  zweite  von  Clodius  aus  Alberts  Arien  angenommene  Melodie 
gehört  zu  Nr.  31  (S.  41)  »Soll  denn  schönste  Doris  ich.  Ewig  leben 
ohne  dich.«  Clodius  giebt  nur  den  Text  wieder,  während  er  die  fux 
die  Musik  bestimmten  Notenlinien  frei  lässt  und  nicht  angiebt,  w^er 
der  Verfasser  ist.  Das  Lied  befindet  sich  aber  als  Nr.  13  im  2.  Theile 
der  Arien  Alberts,  resp.  als  Nr.  38  in  der  betreffenden  Sammel- Ausgabe 
derselben.  Wenn  auch  die  zugehörige  Melodie  nicht  die  Tiefe  und 
Schönheit  der  vorherbesprochenen  besitzt,  so  zeigt  sie  dafür  in  der 
Auffassung  des  Textes  eine  sehr  interessante  Gestaltung,  insofern  das 
drängende  Verlangen  des  Liebhabers  durch  sequenzenartig  aufwärts 
gehende  Durchfuhrung  des  zweitaktigen  Anfangsmotivs  lebhaft  zum 
Ausdruck  gebracht  wird. 

Auch  diese  Melodie  finden  wir  in  der  angeführten  »Gesechsten 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  599 

Tugend-Bose«    zu    einem    anderen    Texte    angegeben,    zu    dem  dor- 
tigen Schlussgedichte : 

»Nicht  ein  Haar  frag  ich  nach  dir, 
Margaris  du  stolze  Zier.« 

Der  nächste  oben  angeführte  Meister  war  Andreas  Hammer- 
schmidt. Bevor  -wir  uns  aber  auf  ihn  einlassen,  wollen  wir  eine 
zeitlich  zwischen  seinen  und  Alberts  Liederwerken  liegende  weit  ver- 
breitete, für  uns  sehr  wichtige  Sammlung  einschieben.  Es  ist:  »Erster 
Theil  iJlerhand  Oden  und  Lieder,  etc.  ganz  bequemlich  zu  gebrauchen 
und  zu  singen.  Gestellet  und  in  Truck  gegeben  Durch  Gabrielen. 
Voigtländer,  etc.  Sohra  MDCXLILa  Obwohl  Voigtländer  nicht  der 
Komponist,  sondern,  wie  wir  wissen,  der  Dichter  dieses  Werkes  ist, 
so  dürfen  wir  es  doch  hier  erwähnen,  da  es  augenscheinlich  vor  allem 
bezweckt,  fröhlichen  Gesellschaften  möglichst  leicht  verständliche  und 
ansprechende  Melodien  darzubieten.  Leider  sind  uns  die  Quellen 
für  den  musikalischen  Theil  dieser  Sammlung  noch  immer  unbekannt. 
Das  eine  aber  steht  fest,  daß  wir  hier  100  Melodien  haben,  die  da- 
mals beliebt  waren  und  wohl  in  der  Hauptsache  aus  italienischen 
Canaonetten,  französischen  Chansons  und  Liedern  der  Haßler' sehen 
und  Franck'chen  Periode  herrühren.  Auch  scheinen  mir  Elemente 
aus  dem  Volksliede  eingedrungen  zu  sein.  Einen  Beweis  dafür  liefert 
das  von  Clodius  unter  Nr.  86  entnonmiene  Lied  »Eine  reiche  Magd.a 
Der  2.  Theil  desselben  stimmt  ganz  und  gar  überein  mit  dem  ent- 
sprechenden Theile  einer  in  unserer  Handschrift  befindlichen  Volks- 
melodie (Nr.  14,  »Wer  sich  will  begeben«).  Als  Ton  zu  anderen 
Texten  ist  es  nicht  benutzt  worden.  Dagegen  finden  wir  die  zweite 
von  Clodius  aus  Yoigtländers  Sammlung  entlehnte  Melodie  (»Giebt 
uns  Grott  Wein«),  allerdings  in  etwas  veränderter  Gestalt,  in  einem 
ans  derselben  Zeit  stammenden  Liederbuche  wieder,  in  Enoch  Gläsers 
aSchäffer  Belustigung«  (2  Bücher  1653).  Sie  steht  hier  zu  Nr.  11 
des  2.  Buches:  »Werd'  ich  denn  endlich  wohl  Sehn  an  die  Freuden 
voll.«  Enoch  Gläser,  der  Dichter  dieser  Lieder,  bemerkt  in  der  Vor- 
rede, daß  die  in  dem  Buche  abgedruckten  Melodien  theils  bekannte 
seien,  theils  von  Franzosen,  theils  von  Freunden  herrühren.  Er  hat 
gewöhnlich  die  Namen  der  Komponisten  durch  deren  An&ngsbuch- 
staben  angedeutet.  Dieses  Verfahren  wendet  er  bei  unserem  Stücke 
nicht  an;  er  bezeichnet  dasselbe  als  ,, Sarabande. '^  Ein  Unterschied 
zwischen  der  Melodiefassung  bei  Voigtländer  und  der  bei  Gläser 
zeigt  sich  besonders  im  Rhythmus.     Während   dort  der   Rhythmus: 

I      !   J  I   ganz  durchgeführt  ist,  tritt  bei  Gläser  an  Stelle,  des 

2.  Taktes    eine  Punktirung  ein,   so   daß    sich  also   das   Hauptmotiv 
1891.  40 


600  Wilhelm  messen, 


rhythmisch    so     gestaltet:    J    J    J  |  J.  J    J   ||-     Dazu  kommen  im 

2.  Theile  einige  bemerkenswerthe  melodische  Änderungen. 

Interessant  ist  hierbei,  daß  Clodius,  der  Leipziger  Student,  in 
seiner  viel  späteren  Sammlung  die  Gestalt  der  Melodie,  wie  sie  bei 
Voigtländer  auftritt,  ziemlich  genau  beibehält,  während  Gläser,  der 
lange  zu  Altdorf  thätig  war,  in  seiner  zwischen  beiden  liegenden 
,,Schäffer-Belustigung"  eine  bei  weitem  abweichendere  Fassung  bringt. 
Jedenfalls  spricht  der  Umstand,  daß  die  Weise  sowohl  an  der  Uni- 
versität Leipzig,  wie  auch  sicher  zu  Altdorf  und  dann  zu  Helmstedt, 
dem  späteren  Aufenthaltsorte  Gläsers,  gesungen  wurde,  dafür,  daß  sie 
in  Studentenkreisen  beliebt  war. 

Dasselbe  kann  wohl  von  einer  ebenfalls  in  der  Gläser'schen 
Sammlung  enthaltenen  Melodie  unserer  Handschrift  gesagt  werden. 
Sie  ist  von  Clodius  zu  Nr.  71  ,, Lustig  ich  habe  die  Liebste  bekommen" 
gesetzt  und  rührt,  nach  seinen  Angaben,  von  einem  Joh.  Krüger  her. 
Bei  Gläser  steht  sie  unter  Nr.  XYIU  des  2.  Buches  zu  dem  Liede: 
„Mein  Lieb  ist  schön  genug  vor  meinen  Augen.  ^'  Dabei  Enden  wir 
die  Bemerkung:  „Sarah.  Hammerschmidt ^^  Wir  sehen  also  für  diese 
Melodie  zwei  verschiedene  Komponistennamen  angegeben.  Welcher 
wird  der  richtige  sein?     ? 

Zur  Entscheidung  dieser  Frage  wollen  wir  zunächst  anführen, 
daß  noch  bei  zwei  Liedern  der  Handschrift,  bei  den  vorhergehenden 
Nummern  69  und  70,  der  Name  Joh.  ELrüger  angeführt  ist,  während 
andererseits  auch  Hammerschmidt  einmal,  bei  Nr.  103,  als  Komponist 
bezeichnet  wird.  Unter  letzterem  ist  natürlich  der  schon  anfangs 
erwähnte,  rühmlichst  bekannte  Tonsetzer  Andreas  H.  (1611 — 1675) 
gemeint.  Schwerer  ist  dagegen  die  Persönlichkeit  des  Joh.  Krüger 
festzustellen.  Es  giebt  drei  bedeutende  Musiker  dieses  Namens  im 
17.  Jahrhundert.  Der  erste  ist  der  berühmte  Kirchenliederkomponist 
Joh.  Crüger  (1598  —  1662),  Organist  an  der  Nikolaikirche  zu  Berlin. 
Der  zweite  der  Weißenfelser  Kapellmeister  Johann  Philipp  Krieger 
(1649 — 1725)  und  endlich  der  letzte  dessen  jüngerer  Bruder  Johann 
Krieger  (1652—1736). 

Daß  diese  beiden  Brüder  nicht  die  Verfasser  jener  schon  1653 
gedruckten  Melodie  sein  können,  geht  aus  ihrem  Geburtsjahr  hervor. 
Inwiefern  sie  zu  den  beiden  andern  Liedern  in  Beziehungen  stehen, 
wollen  wir  vorläufig  unerörtert  lassen. 

Es  kommt  also  nur  der  Berliner  Joh.  Crüger  *  als  Urheber  der 


^  Die  Schreibart  dieses  Namens  stimmt  zwar  ebenso  wenig,  wie  die  der  bei- 
den J.  Krieger  mit  der  von  Clodius  gewählten  überein.  Dies  ist  aber  unwesent- 
lich, da  Clodius  in  der  Hinsicht  sehr  sorglos  verfährt. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  gQ{ 

zuerst  geDannten  Weise  in  Betracht.  Von  ihm  rührt  außei:»  den  seine 
Größe  hauptsächlich  ausmachenden  geistlichen  Tonwerken,  auch  eine 
weltliche  Liedersammlung  her.  Sie  fuhrt  folgenden  Titel:  »iZecrea- 
tiones  musicae  d.  i.  Neue  poetische  Amorösen  entweder  vor  sich 
alleine  oder  in  ein  Corpus  zu  musicierenc  u.  s.  w.  Leipzig  1651.  4^ 
35  Nummern  enthaltend.^  Leider  scheint  dieses  Werk  verloren 
gegangen  zu  sein,  und  wir  müssen  also  verzichten,  daraus  irgend 
welchen  Aufschluß  zu  erhalten.  Es  bleibt  uns  nichts  übrig,  als  nun- 
mehr unter  den  Kompositionen  von  Hammerschmidt  nach  der 
fraglichen  Melodie  zu  suchen.  Das  Ergebniß  ist  ein  ähnliches. 
In  der  einzigen  weltlichen  Liedersammlung  dieses  Meisters,  in  den 
«Weltlichen  Odem,  die  in  3  Teilen,  1642,  1643,  1649  erschienen,  ist 
die  Melodie  nicht  zu  finden. 

Auf  die  Weise  kommen  wir  somit  zu  keinem  Resultat  und 
müssen  uns  auf  bloße  Vermuthungen  beschränken. 

Ich  möchte  darauf  hinweisen,  daß  Hammerschmidt  als  weltlicher 
Liederkomponist  bei  weitem  bekannter  und  beliebter  war,  als  der 
ausschließlich  durch  seine  Kirchengesänge  berühmt  gewordene  Joh. 
Crüger.  Dies  geht  schon  daraus  hervor,  daß  dem  1.  Theile  seiner 
weltlichen  Oden  bald  ein  2.  und  nicht  gar  zu  lange  später  ein  3. 
folgte.  Femer  sind  seine  Weisen  oft  und  gern  zu  anderen  Texten 
gesungen  worden.  Wir  können  aber  noch  einen  inneren  Grund  an- 
führen, der  uns  schließlich  bewegen  muß,  die  Autorschaft  des  be- 
treffenden Liedes  dem  Hammerschmidt  zuzuerkennen.  Derselbe 
liegt  in  der  großen  Ähnlichkeit,  die  zwischen  dieser  und  der  von 
ihm  unzweifelhaft  herrührenden  Melodie  zu  Nr.  103  unseres  Lieder- 
buches sowohl  hinsichtlich  der  Form,  als  auch  in  Bezug  auf  die  Art 
der  Tonführung  besteht.  Demnach  wird  also  wohl  ein  Irrthum  des 
Clodius  vorUegen,  wenn  er  hier  einen  Joh.  Krüger  als  Komponisten 
nennt,  und  Enoch  Gläser  hat  jedenfalls  die  richtige  Angabe  gemacht. 
Wir  haben  noch  hinzuzufügen,  daß  die  Melodie  etwa  50  Jahre  später  2) 
als  Ton  zu  2  anderen  Texten  angeführt  wird,  zu  den  oben  besprochenen 
Parodien  des  vorUegenden  Gedichtes  in  Nicolaus  Peuckers  Lustiger 
Paucke  vom  Jahre  1702. 

Hinsichtlich  der  anderen  von  Hammerschmidt  stammenden  Me- 
lodie in  Nr.  103  (S.  156)  »Wohlan  es  muß  doch  sein«,  können  wir 
angeben,,  daß  sie  zu  finden  ist  unter  Nr.  9  im  3.  Theil  seiner  »Geist- 
und  weltlichen  Oden  und  Madrigalien.  Mit  1.  2.  3.  4.  und  5  Stim* 
men  nebenst  dem  Basso  Continuo  in  die  Musik  versetzet  etc.     Ge-* 


»  Vgl.  F^tis,  Biogr.  u.  d.  M. 

'  Nach  ihrem  Erscheinen  bei  Gläser. 


40* 


602  Wilhelm  Niessen, 


druckt  im* Jahre  1649.«  Sie  ist  daselbst  als  Sarabande  bezeichnet. 
Clodius  giebt  die  Melodie  ganz  so  irieder,  wie  sie  bei  Hammer- 
schmidt lautet.  Nur  hat  er  in  den  je  vorletzten  Takten  der  beiden 
Theile  die  im  Baß  eintretende  Schwärzung  der  Noten  untei^ 
lassen. 

Wir  müssen  von  diesem  Liede  sagen,  daB  es  infolge  seines 
charakteristischen  Ausdrucks  und  seiner  schönen  Tonfolge  deutlich 
den  Meister  verräth.  Die  guten  Vorsätze  des  so  blöden  Liebhabers 
werden  am  Anfang  durch  ein  entschiedenes  C  Dur  illustriert,  das 
aber  bald  der  das  Stück  beherrschenden  A  Moll-Tonart  weicht,  wo- 
durch die  zaghafte  Haltung  des  schüchternen  Jünglings  treffend  aus- 
gedrückt wird.  Genau  dieselbe  gewissermaßen  ironisch-musikalische 
Wirkung  wird  auch  durch  eine  zweite  Weise  erreicht,  nach  der  dieser 
Text  gesungen  werden  kann. 

Es  ist  nach  Clodius'  Angabe  der  Ton  »Laßt  uns  nur  lustig  sein.« 
Derselbe  ist  in  unserer  Handschrift  zu  dem  gleichnamigen  Gedichte 
in  Nr.  28  (S.  36)  gesetzt  und  weist  einen  durchaus  weichen  und 
traurigen  Ausdruck  auf.  Ihm  ist  eine  edle  und  wohllautende 
Tonsprache  eigen,  die  der  in  Nr.  103  geführten  sehr  ähnlich  ist 
und  daher  die  Vermuthung  aufkommen  läßt,  als  wäre  auch  hier 
Hammerschmidt  der  Autor.  Leider  ist  es  nicht  möglich  gewesen, 
etwas  genaueres  über  den  Ursprung  dieser  schönen,  ernsten  Weise, 
die  sich  ganz  und  gar  im  Charakter  der  protestantischen  Choral- 
melodien bewegt,  zu  ergründen. 

Besser  geht  es  uns  schließlich  mit  jenen  von  Clodius  dem  be- 
wußten Job.  Krüger  zugeschriebenen  Nummern  69  und  70  auch 
nicht.  Ihre  Melodien  gehören  ebenso  wie  die  zugehörigen  Texte  mit 
zu  den  besten  Stücken  des  Liederbuches.  Das  eine  scheint  mir  fest- 
zustehen, daß  diese  beiden  Nummern  und  die  oben  hinreichend 
besprochene  Nr.  71,  da  sie  sowohl  in  ihrem  Inhalt,  als  auch  in 
ihrer  Melodieführung  so  sehr  übereinstimmen  und  femer  durch  die 
gemeinsame  Bezeichnung  »Job.  Krügerr  gewissermaßen  zu  einem 
Cyklus  von  3  Liedern  verbunden  sind,  aus  einer  und  derselben  Zeit 
stammen  und  vielleicht  einen  gleichen  Ursprung  haben. 

So  wie  sich  nun  Clodius  bei  dem  einen  dieser  Lieder  in  der 
Angabe  des  Komponisten  geirrt  hat,  kann  er  es  auch  bei  den  beiden 
anderen  gethan  haben,  und  es  ist  daher  sehr  wohl  möglich,  daß  die- 
selben ebenfalls  von  Hammerschmidt  herrühren.  Sicherlich  haben 
die  Melodien  einen  hervorragenden  Komponisten  jener  Zeit  zu  ihrem 
Urheber. 

Können  vrir  ihn  nicht  unbedingt  namhaft  machen,  so  sind  wir 
bei  einer  ganzen  Reihe   anderer  Lieder  in  dieser  Beziehung  glück- 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  603 

lieber  daran.  Dieselben  sind  von  dem  dritten  anfangs  genannten 
Meister,  von  Adam  Krieger  componiert.  11  Nummern  der  Hand- 
schrift sind  mit  Musikstücken  dieses  Tonsetzers  ausgestattet,  und 
zwar  befinden  sieb  darunter  nicht  weniger  als  7  verschiedene 
Melodien.  Bei  der  Mehrzahl  ist  der  Autor  schon  von  Clodius  an- 
gegeben worden«  Sie  lassen  sich  in  2,  oder  besser  gesagt,  3  Samm- 
lungen Kriegerischer  Arien  nachweisen. 

Zunächst  in  den  Arien  vom  Jahre  1657.  Diese  sind  gänzlich 
verschollen.  Zum  Glück  aber  existiert  auf  der  Königlichen  Bi- 
bUothek  zu  Berlin  eine  Copie  eines  Theils  derselben  in  einem  Adnex 
zu  einem  Exemplar  von  Voigtländers  Oden  (V.  725  fol.)*).  Daselbst 
sind  von  ii^end  einem  unbekannten  Liebhaber  dieser  Sachen  19  Arien 
aus  dem  betreffenden  Werke  aufgezeichnet  worden  und  zwar  nur 
mit  ihren  Oberstimmen. 

Außer  dieser  wertvollen  Copie  besitzt  dieselbe  Bibliothek  auch 
eine  der  für  die  zugehörigen  Ritomelle  bestimmten  gedruckten  In* 
Strumentalstimmen  mit  folgendem  Titel: 

j»Adam  Kriegers  Arien  Von  Einer  |  Zwey  und  Drey  Vokal-Stim- 
men I  benebenst  ihren  Ritomellen  auff  zwey  Violinen  und  einem 
Violon  I  samt  dem  Basso  Continuo  zu  singen  und  spielen. 

Violone 

Leipzig  I  in  Verlegung  Martin  Majers  |  druckts  in  Fried.  Lanckischens 
Druckey.     Christophorus  Cellarius  1657. «r 

Leider  sind  in  dieser  Stimme  zu  den  einzelnen  Stücken  die  Text- 
anfänge nicht  angegeben.  Wir  erfahren  aber  daraus,  daß  die  Samm- 
lung 50  Nummern  zählte. 

Clodius  hat  nun  aus  derselben  4  Lieder  aufgenommen. 2) 
Das  erste  steht  bei  ihm  auf  S.  47  (Nr  35) :  »Amanda,  darf 
man  dich  wohl  küssentr.  Er  bemerkt  dazu:  »Aria  IV.  partis  primo 
ediiae  im  3.  X.  A.  Krügerv,  womit  also  deutlich  jene  erste  Samm- 
lung bezeichnet  ist.  Dieselbe  Weise  kommt  in  der  Handschrift  zu 
einem  2.  Texte,  loMein  Liebchen  darf  ich  mich  erkühnen«  (Nr.  45 
S.  62]  vor.  Clodius  giebt  dazu  nicht  noch  einmal  die  Noten 
wieder,  sondern  er  bemerkt  kurz:  »Im  Thon  Amande  47.«    Aus  dieser 


^  Herr  Dr.  Johannes  Bolte  hat  mich  hierauf  geffiUigst  aufmerksam  gemacht 
Ich  spreche  ihm  an  dieser  Stelle  meinen  veibindlichsten  Dank  aus,  sumal  er  mir 
auch  hinsichtlich  der  im  vorigen  Theile  nachgewiesenen  Quellen  der  Texte  des 
liiederbuches  einige  sehr  schätzbare  Mittheilungen  gemacht  hat 

^  Dieselben  sind  in  der  Beilage  unter  Nr.  I— IV  mitgetheilt 


g()4  Wilhelm  Niessen, 


einfachen,  knappen  Bezeichnung  geht  hervor,  daß  dieser  »Thon«  ein 
allgemein  bekannter  war. 

Ein  gleich  günstiges  Urteil  verdient  die  folgende  aus  derselben 
Sammlung  herübergenommene  Weise  zu  dem  liede  »So  hast  du  liebes 
Sand«  (Nr.  64.  S.  93.)  Clodius  giebt  dazu  an:  Jria  VI.  ex  parte 
primo  edüa  A.  Krüger  in  4.  X.a  Auch  zu  dieser  Melodie  existieren 
noch  andere  Texte  in  unserer  Handschrift,  nämlich  gleich  in  der 
nächsten  Nummer  (S.  95)  »Gesteh  es  nur  mein  ELind«  und  in  Nr.  72 
(S.  105)  »Ich  frage  nichts  damachr.  Jedenfalls  liegt  hierin  wie- 
der ein  Beweis,  daß  man  auch  diese  Weise  gern  sang  und  sie  öfters 
wählte,  wenn  es  galt,  neue  Texte  auf  alte,  bekannte  Melodien  zumachen. 

Ein  sicher  in  der  Studentenschaft  viel  und  gern  gesungenes  Lied 
war  wohl  femer  das  dritte  hierher  gehörige  Beispiel  »Mein  setzt  euch 
ihr  lustigen  Brüder  doch  wieder  hernieder«,  (Nr.  77.  S.  112).  Das 
ist  das  echte  Studenten-»Saufliedtt,^  das  sowohl  in  Wort,  als  in  Weise 
den  wüsten,  dabei  doch  frischen,  burschikosen  Ton  anschlägt. 

Es  steht,  wie  Clodius  angiebt,  als  Nr.  2  im  5.  Zehen  jener 
Kriegerischen  Sammlung  und  ist  ebenso,  wie  die  beiden  vorher- 
genannten Beispiele,  in  der  erwähnten  Kopie  zu  finden.  Wir  haben 
in  diesem  Fall  einen  Unterschied  zwischen  den  beiden  Aufiseichnungen 
zu  constatieren,  insofern  die  Melodie  bei  Clodius  in  G  Dur,  an  dem 
anderen  Orte  dagegen  in  dem  höheren  D  Dur  notiert  ist.  Die  er- 
wähnte Yiolone-Stimme  belehrt  uns,  daß  letztere  Tonart  die  originale 
ist.  Die  Veranlassung  zu  dieser  Änderung  wird  für  Clodius  sein 
fast  durchgängig  bemerkbares  Bestreben  gewesen  sein,  die  Melodien 
in  einer  för  den  allgemeinen  Gebrauch  bequemen,  mittleren  Tonlage 
niederzuschreiben.  Außerdem  ist  zu  beobachten,  daß  Clodius  An- 
gaben über  das  anzuwendende  Tempo  macht,  die  in  der  Copie  fehlen. 
Er  schreibt  für  die  erste  längere  Hälft^e  der  beiden  Theile  der  Melo- 
lodie  Presto,  für  die  zweite  kürzere  dagegen  Adagio  vor.  Schließ- 
lich bringt  er  diese  Nummer  nicht,  wie  die  beiden  zuvor  besprochenen 
nur  zwei-,  sondern  dreistimmig.  Sicher  wird  sie  in  der  gedruckten 
Ausgabe  jener  Arien  von  1657  ebenso  ausgesehen  haben,  da  ja  in 
derselben  nach  dem  Titel  auch  einige  dreistimmige  Gesänge  ent- 
.-halten  waren. 

Ein  Tonartenwechsel  in  der  Aufzeichnung  des  Clodius  ist  eben- 
falls bei  dem  vierten  derselben  Sammlung  entlehnten  Beispiele  zu 
verzeichnen,  bei  Nr.  109  (S.  166):  »O  Rosidore  edele  Flore.«  Clo- 
dius nennt  hier  gar  nicht  den  Autor,   das  Lied  wird  aber  in  jener 


^  Biese  Übersohrift  hat  der  Diohter  (J.  G.  Sohoch)  selbst  dem  Text  gegeben. 
Er  bringt  ihn  in  seinen  Hundert  Schäffer-Liedem  vom  Jahre  1660  auf  pag.  198. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  605 

Kopie  als  Nr.  7  des  5.  Zehen  wiedergegeben.  Auch  diese  Weise  ist 
sicher  oft  und  gern  gesungen  worden;  jedenfalls  zeichnet  Clodius 
sie  zu  einem  zweiten  Texte  auf:  »Niedliches  Kindchen,  laß  mich 
dein  Mündchen«  (Nr.  81,  S.  119).  Joachim  Neander  fügte  1680  zu 
ihr  sein  geistliches  Lied  »Eins  ist  Noth,  ach  Herr,  dies  Eine«. 

Von  den  3  anderen  Kriegerischen  Arien,  die  unsere  Handschrift 
enthält,  sind  zwei  nachweislich  aus  den  späteren  gedruckten  Samm- 
lungen dieses  Meisters.  Dagegen  ist  die  dritte  daselbst  nicht  zu 
finden.  Sie  wird,  da  ja  in  jenem  Voigtländer'schen  Bande  nur  ein 
Theil  der  Arien  von  1657  kopirt  ist,  wohl  unter  den  übrigen  dieser 
ersten  Sammlung  gewesen  sein.  Clodius  giebt  sie  unter  No.  57 
(S.  82)  zu  dem  Texte:  »Phillis  und  Am3rnthas  waren  an  dem  kühlen 
WaBerstranda^  und  bemerkt  dabei  ausdrückUch:  [»Melodia  Adam 
Krüger:  Gute  Nacht  ihr  grünen  Wiesen  oder  im  Thon:  Halber  Theil 
von  meinem  Hertzen.«  Dieser  zuletzt  genannte  Ton  ist  mit  gleich- 
namigem Texte  unter  No.  90  (S.  134)  in  unserem  Liederbuche  vor- 
handen und  zeigt  eine  im  Ausdruck  von  der  zu  No.  57  gesetzten 
Melodie  ganz  abweichende  Art.  Wir  erkennen  das  schon  äufier- 
Uch  daran,  daß  No.  57  aus  BDur,  No.  90  dagegen  aus  EMoll 
geht;  dazu  kommt  dann,  daß  die  Rhythmisirung  eine  durchaus  ver- 
schiedenartige ist.  Vielleicht  sollte  auf  die  Art  eine  möglichst  ko- 
mische Wirkung  erzielt  werden,  indem  man  zu  dem  üppig  frivolen 
Texte  in  No.  57  unter  Umständen  auch  diese  weiche,  sentimentale 
Melodie  aus  No.  90  anstimmte.  Ahnliche  Beispiele  haben  wir  meh- 
rere in  unserer  Handschrift,  und  ich  brauche  nur  an  das  bereits  er- 
wähnte Lied  «Laßt  uns  nur  lustig  sein«  (No.  28)  mit  seiner  weh- 
müthigen,  klagenden  Melodie  zu  erinnern. 

Die  beiden  noch  nicht  besprochenen  Melodien  Adam  Krieger^s 
sind  also  aus  seinen  späteren  Arienwerken  entlehnt.  Die  eine  gehört 
bei  Clodius  zu  No.  48  (S.  66)  «  Eylt  ihr  lieben  Wäscher  Mägdgenc  und 
ist  bezeichnet:  «Melod:  Krüger.  3.  Aria  d.  5.  Zehns  im  H.  Theil. 
Seht  doch  wie  der  Rein  wein  tanzt.«  Mit  diesem  2.  Theile  ist  fol- 
gende Sammlung  gemeint:  j» Herrn  Adam  Krieger^s  etc.  Neue  Arien 
in  5  Zehen  eingetheilet  von  Einer,  Zwo,  Drey  und  Fünf  Vokal  Stimmen 
benebenst  ihren  Ritomellen  etc.  zu  singen  und  zu  spielen  So  nach 
seinem  Seel.  Tode  erst  zusammengebracht  und  zum  Druck  befordert 
worden.«  (Dresden  1667).  Unsere  hieraus  stammende  Weise  zeichnet 
sich  durch  Frische  und  Anmuth  aus  imd  findet  kaum  ihres  gleichen 
in  dem  ganzen  Liederbuche.  Sie  wird  von  Clodius  ziemlich  über- 
einstimmend mit  dem  Original  notirt.     Nur  wäre  hier  auf  die  Yer- 


1  VgL  die  Beilage  Nr.  V. 


goß  Wilhelm  Niesaen, 


änderung,  die  mit  der  zu  Grunde  liegenden  BaBstinune  Torgenommen 
ist,  aufmerksam  zu  machen.  Bei  Krieger  sind  nur  eben  die  iwich- 
tigsten  Grundbässe  in  halben  und  Viertel-Noten  gegeben;  bei  Clodius 
dagegen  ist  der  BaB  zu  einer  melodisch  flieBenden  Stimme  umge- 
wandelt worden,  die  sich  ganz  dem  leichtbeschwingten  Rhythmus 
der  fast  durchweg  in  Achteln  gehenden  Oberstimme  anschlieBt  Falls 
Clodius  diese  Umarbeitung  selbst  Toi^enommen  hat,  so  giebt  er  uns 
damit  einen  Beweis  von  musikalischer  Beanlagung,  da  die  Führung 
des  Basses  mit  der  munteren  und  reizenden  Tonsprache  des  Liedes 
in  vollem  Einklang  steht.  Übrigens  ist  der  in  dieser  Krieger  sehen 
Melodie  enthaltene  musikalische  Inhalt  in  einem  zugehörigen  Bitomell 
in  vorzüglicher  Weise  verarbeitet  worden.  Mit  einer  schon  weit 
entwickelten  Kunst  motivischer  Arbeit  werden  in  demselben  die 
Hauptmotive  der  Melodie  flott  und  keck  von  den  einzelnen  Instru- 
menten vorgetragen. 

Das  Lied  erschien  dann  wieder  in  der  zweiten  Auflage  dieser 
Arien,  die  w^en  des  groBen  Erfolges  derselben  im  Jahre  1676  noth- 
wendig  und  noch  um  10  Nummern  vermehrt  wurde,  jetzt  also  im 
ganzen  60  Arien  enthielt. 

In  dem  hinzugekommenen  6.  Zehen  steht  nun  als  No.  9  die  in 
unsere  Handschrift  auf  S.  53  unter  No.  40  aufgenommene  Arie: 
])Wer  sich  mit  mir  in  dieser  Welt.«  Sie  ist  ausgezeichnet  durch 
einen  markigen,  kräftigen  Ton,  dem  melodische  Anmuth  und  Bieg- 
samkeit nicht  abgeht;  sie  erscheint  ganz  vornehmlich  dazu  geeignet, 
in  den  lustigen  Zecherkreisen  der  Studenten  zur  Erhöhung  der  ge- 
selligen Fröhlichkeit  beizutragen. 

Diese  Eigenschaft  besitzen  aber  fast  durchweg  die  Arien  von 
Adam  Krieger.  Namentlich  ist  ihnen  vor  allen  anderen  jener  Zeit 
besonders  eines  eigen :  sie  tragen  den  Stempel  der  Yolksthümlichkeit. 
Sie  zeichnen  sich  einerseits  durch  eine  edle  und  feine  Tonfiihrung 
aus,  sie  besitzen  aber  dabei  noch  eine  innere,  frische  und  lebendige 
Kraft,  die  sie  leicht  dem  Ohre  des  Volkes  zugänglich  macht.  Diese 
befähigt  sie  denn  auch  dazu,  schnell  bei  einer  gröBeren  Gemeinschaft, 
wie  sie  also  von  den  Studenten  gebildet  wird,  bekannt  und  beliebt 
zu  werden. 

Dabei  ist  Adam  Krieger  im  Stande,  die  verschiedenartigsten 
Stimmungen  mit  treffendem  Ausdruck  musikalisch  zu  schildern.  Er 
vermag  ein  zartes,  leises  Liebesgeflüster,  das  fremden  Ohren  unver- 
nehmlich  sein  soll,  in  eine  ebenso  liebliche,  wie  im  guten  Sinne  sen- 
timental angehauchte  Melodie  (No.  64)  umzusetzen.  Ln  Gegensatz 
dazu  bringt  er  eine  zwar  heitere,  aber  doch  mit  MäBigung  gepflegte 
Freude  durch  markige,   entschiedene  Töne  zum  Ausdruck  [No.  40}, 


Das  Liederbuch  des  Leipsiger  Studenten  Clodius.  607 


wie  er  andererseits  auch  fähig  ist,  der  denkbar  ungebundensten  Aus- 
gelassenheit (No.  77]  seine  musikalische  Sprache  zu  widmen.  Kein 
Wunder  also,  daB  Clodius  so  viele  seiner  Weisen  zu  den  verschie- 
densten Texten  in  das  Liederbuch  aufgenommen  hat. 

b.  Melodien,  die  sich  in  Gedichtsammlungen  des  17.  Jahr- 
hunderts nachweisen  lassen. 

Wir  beginnen  mit  einem  Beispiel  aus  des  oben  schon  mehrmals 
genannten  »Seladon'sa  WeltKchen  Liedern.  Li  diesen  treffen  wir 
die  von  Clodius  zu  No.  39  »Ich  fragte  Dorinden«  mitgetheilte 
Melodie  mit  dem  gleichen  Texte  an.  Es  ist  aber  dort  nicht  an- 
g^eben,  wer  der  Componist  ist.  Indessen  erfahren  wir  wenigstens 
etwas  darüber  in  der  Vorrede  zu  desselben  Dichters  »Celadonischer 
Mu8a,ff  woselbst  der  Text  aufgenommen  ist.  Es  heifit  da:  »Celadon 
hätte  die  Sachen  gewiß  verborgen  gelafien,  wenn  nicht  theils  gute 
Musici  etliche  seiner  Oden  unter  ihre  lieblichen  Melodeyen  zu  setzen 
gewürdigt 9  auch  noch  zu  thun  gesonnen,  theils  andere  sich  seiner 
Sachen  als  ihrer  Arbeit  bedient  hätten.«  Es  ist  danach  immerhin 
anzunehmen,  dafi  ein  wirklich  guter  Tonsetzer  diese  Weise  komponirt 
hat,  wofür  auch  der  frische,  lebendige  Flufi  derselben  spricht.  Sicher 
wird  es  einer  der  Hamburger  Musiker  gewesen  sein,  die  mit  den 
dort  ansässigen  Dichtem,  zu  denen  unser  Greflinger  gehörte,  gewiß 
in  regem  Verkehr  standen. 

Durch  eine  kleine  rhythmische  Änderung  im  vorletzten  Takte 
ist  der  Schluß  der  an  sich  recht  anmuthigen  Melodie  bei  Clodius 
noch  wirksamer  gestaltet.  Femer  wäre  eine  Verschiedenheit  in  der 
Notierung  der  Baßstimme  zu  bemerken.  Bei  Greflinger  sind  2  Takte 
hindurch  im  Baß  geschwärzte  Noten  gesetzt,  um  dort  eine  Verände- 
rung des  dreitheiligen  Taktes  in  den  zweitheiligen  bemerkbar  zu 
machen.  Bei  Clodius  stehen  jedoch  dafür  einfach  ungefüllte  ganze 
Noten.  Man  sieht  daraus,  wie  wenig  man  sich  im  Volke  um  solche 
Feinheiten  der  musikalischen  Rhythmik  und  Notierungsweise  küm- 
merte, die  in  gedruckten  Musikwerken  jener  Zeit  immer  noch  ab 
und  zu  vor  Augen  gefuhrt  wurden. 

Bekanntlich  steht  in  diesen  j)Weltlichen  Liedemcr  auch  das  eben- 
falls von  Clodius  au%eilommenen  Lied  »Schweiget  mir  von  Frauen 
nehmen.«  Die  von  Clodius  dazugesetzte  Melodie  ist  aber  eine  andere, 
als  die  bei  Greflinger  befindliche.  Erstere  gehört  eigentlich  als  Ton 
dem  Texte  »Komm  mein  Schatz  und  laß  uns  eilen«  und  kommt  wohl 
nur  selten  vor.  Die  letztere  dagegen  war  sehr  bekannt  und  wurde 
allgemein  gesungen.     Sie  findet  sich  zuerst  in  Froberger's  Ciavier- 


608  Wilhelm  Nieasen, 


Stücken  von  1649  und  wurde  noch  spät  im  18.  Jahrhundert  gedruckt^ 
Die  große  Beliebtheit  verdankt  diese  Melodie  ihrer  wirklich  anmu- 
thigen  und  lebendigen  Tonfiihrung.  Aber  auch  die  von  Clodius  ge- 
gebene ist  munter  und  frisch  gehalten. 

In  dem  gleichen  Jahre,  in  welchem  die  »Weltlichen  Liedert  er- 
schienen (1651),  finden  wir  nun  ein  Lied  unserer  Handschrift  ge- 
druckt, für  welches  wir  nicht  allein  den  Dichter,  sondern  auch  den 
Komponisten  nennen  können.  Ich  meine  No.  43  (S.  58):  »Kein 
größer  Narr  ist  weit  und  breit  in  dieser  Welt  zu  finden-c  Dasselbe 
ist  erschienen  als  No.  45  in  folgendem  Werke:  »Des  Edlen  Dafnis 
aus  Cimbrien  besungene  Florabella.  Mit  gantz  neuen  und  anmu- 
thigen  Weisen  außgezieret  und  hervorgehoben  von  Peter  Meiern  etc. 
Hambui^.  Im  Jahre  1651.«  Mit  dem  Dafnis  aus  Cimbrien  ist  der 
bekannte  Dichter  Johann  Rist  gemeint.  Der  auf  dem  Titel  ge- 
nannte P.  Meier  sagt  in  der  Vorrede,  daß  »Herr  Dafnis  der  welt- 
lichen Sachen,  wegen  seiner  vielfältigen  und  überaus  herrlichen 
geistlichen  Arbeit,  mit  welcher  er  die  meiste  Zeit  fast  iiberflüßig  be- 
lästiget, nichts  mehr  achtet,«  und  er  (P.  Meier)  aus  diesem  Grunde 
vornehmlich  die  folgenden  Gedichte  herausgebe.  Und  damit  sie  dann 
nicht  vergraben  bleiben,  habe  er  »solche  überaus  schöne  Lieder  mit 
gantz  neuen  und  noch  ohnbekanndten  Melodeien  versehen,  ohn 
etliche  wenige,  die  zuvor  schon  ihre  Weisen  gehabt.«  Zum  großen 
Theil  sind  also  die  hier  vorliegenden  Musikstücke  von  Peter  Meier 
componirt.  Er  lebte  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  als  Rathsmusi- 
kus  in  Hamburg.  Von  wem  die  anderen  sind,  lässt  sich  nicht  er- 
mitteln; es  ist  aber  nicht  unwahrscheinlich,  daß  Rist  selbst  der  Kom- 
ponist ist,  da  doch  die  Texte  vorher  nicht  gedruckt  waren  und 
vielleicht  gleich  mit  den  zugehörigen  Weisen  aus  seinen  Händen 
in  die  Peter  Meier's  übei^egangen  sind. 

Die  von  Clodius  aufgenommene  Melodie  wird  wohl  von  Meier 
herrühren ;  sie  weist  in  ihrem  ganzen  Aufbau  eine  £stchkundige  Hand 
auf,  die  Joh.  Rist  als  musikalischer  Laie  sicher  nicht  besessen  hat. 
Zu  den  bedeutenderen  Tonsetzem  jener  Zeit  gehört  Meier  allerdings 
nicht;  er  erscheint  als  ein  Durchschnittskomponist,  der  sich  gut  auf 
eine  geschickte  Mache  verstand  und  ab  und  zu  einen  über  das  All- 
tägliche hinausgehenden  Gedanken  fand. 

Eine  zweite  zu  demselben  Rist'schen  Texte  vorhandene  Melodie 
finden  wir  in  der  »Aelbianischen  Musen-Lust«,  einer  Liedersammlung 
des  Dresdner  Komponisten  Dedekind  vom  Jahre  1657.     In  derselben 


1  Nachrichten  über  diese  Melodie  gibt  Philipp  Spitta  in  seiner  Abhandlung 
über  Sperontes.  a.  a.  O.  pag.  64  flg.  75  flg. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  gQ9 

sind  Gedichte  der  bekanntesten  Dichter  des  17.  Jahrhunderts  (meist 
mit  Melodien  von  Dedekind]  enthalten,  so  also  auch  von  den  schon 
genannten  Greflinger,  Gläser  u.  s.  w.  Zu  diesen  gesellt  sich,  als 
für  unsere  Handschrift  in  Betracht  kommend,  der  vornehmlich  in 
der  Liebeslyrik  ausgezeichnete  Jacob  Schwieger.  Er  ist  bei  Clodius 
mit  6  Beispielen  anzutreffen.  Diese  sind  aus  zweien  seiner  Lieder- 
werke herübergenommen  und  zwar  zugleich  mit  den  dort  aufgezeich- 
neten zugehörigen  Melodien. 

Die  der  Zeit  nach  frühere  der  beiden  Sammlungen  führt  folgen- 
den Titel :  »Verlachte  Venus  aus  Liebe  der  Tugend  und  teutsch-ge- 
sinnten  Gemühtem  zur  ergetzung,  sonderlich  auf  begehren  der  Hoch- 
Tugend  Edelen  und  Ehren werthen  Constantia,  aufgesetzet  Ton  Jacob 
Schwiegem.     Glückstadt  1659.a 

Das  Ganze  ist  eine  Prosa-Darstellung,  die  nur  ab  und  zu  durch 
Gedichte  unterbrochen  wird ;  die  zu  den  letzteren  gehörigen  Melodien 
folgen  in  einem  Anhang.  Das  erste  Lied  beginnt  mit  den  Worten; 
»Verdammte  Lust,  Beherrscherin  der  Sinnen«  und  ist,  wie  wir  bereits 
wissen,  bei  Clodius  unter  No.  98  (S.  146)  zu  finden.  Der  Komponist 
ist  von  Jac.  Schwieger  weder  bei  dieser,  noch  bei  den  anderen  Me- 
lodien genannt.  Aus  ihrer  ungewöhnlichen  Steifheit  und  Monotonie 
kann  man  schließen,  daß  sie  von  einem  unerfahrenen  Laien  oder 
mindestens  von  einem  sehr  ungeschickten  Musiker  gemacht  sind.  Mög- 
ticherweise  ist  Jac.  Schwieger  selbst  der  Komponist,  zumal  wir  zeigen 
können,  daß  er  wirklich  seine  Gedichte  mitunter  in  Musik  gesetzt  hat. 

Ein  ungleich  günstigeres  Kesultat  ergiebt  sich  für  die  fünf  dem 
anderen  Werke  Schwieger's  angehörenden  Melodien.  Der  Titel 
desselben  lautet  wie  folgt:  »Die  Gehamschte  Venus  oder  Liebes- 
Lieder  im  Kriege  gedichtet  mit  neuen  Gesangsweisen  zu  singen  und 
zu  spielen  gesetzet  nebenst  etlichen  Sinnreden  der  Liebe.  Verfertiget 
und  Lustigen  Gemühtem  zu  Gefallen  herausgegeben  von  Filidor^  den 
Dorfierer.     Hamburg  etc.  1660.a 

Vor  allem  ist  hier  werthvoU,  daß  wir  über  den  Ursprung  der 
Melodien  aus  der  Vorrede  einiges  erfahren.  Der  Verfasser  sagt  unter 
anderem:  »Die  Melodeyen  betreffend,  sind  deren  wenige  entlehnet, 
etliche  von  einem  der  berühmtesten  Meister,  auff  deßen  höchst  ruhm- 
würdigen Sazz  weder  der  Neid  noch  einziger  Tadler  das  geringste 
Wort  zu  sprechen  mir  überschikket :  Abermahls  finden  sich  andere, 
die  zwar  in  der  Eil,  aber  dermaßen  gesezzet,  daß  sie  deiner  Lust; 
wofern   du   nicht  selbst   ein  Lust-Feind  bist,  sattsam  Genüge  tuhn 


^  Dass  unter  diesem  Filidoi  unser  Jac.  Schwieger  bestimmt  zu  Terstehen  ist, 
weist  Th.  Rfthse  in  dem  Vorwort  zu  seiner  Neuausgabe  dieser  Sammlung  nach. 


ß\Q  Wilhelm  Niessen, 


werden.  Die  übrigen  übelklingenden  schreibe  ich  mir  zu,  als  die 
ich  nach  meiner  Einfalt  gedichtet,  nur  vor  mich  und  wehm  sie  ge- 
fallen. Mißfallen  sie  dir,  so  laß  sie  liegen.«  Außer  diesen  Angaben 
erhalten  wir  noch  weitere  Andeutungen  über  die  Komponisten,  indem 
die  Namen  derselben  stets  durch  die  Anfangsbuchstaben  markirt  sind. 
Ich  habe  folgende  Buchstabenzusammenstellungen  gefunden:  C.  S. 
18mal.  C,  B.  14mal.  J.  S.  2mal.  Jf.  C.  22  mal.  J.  JT.  3 mal.  /.  M,  J?. 
2  mal.  Außerdem  finden  sich  bei  einigen  Melodien  Bemerkungen 
wie:  »Französisches  Ballet,«  »Französische  Blamande,«  » Französische 
Sarabande, a  »Madrigal, t  »Französische  Arie.«  In  der  Hauptsache  sind 
hier  also  Formen  französischen  Ursprungs  vertreten. 

Was  nun  die  Entzifferung  obiger  Buchstabenverbindungen  be- 
trifft, so  meint  wohl  Rähse  mit  Recht,  daß  die  mit  J.  S.  bezeich- 
neten Melodien  von  Jac.  Schwieger  selbst  herrühren,  da  dieser  ja 
ausdrücklich  bemerkt,  daß  er  einige  verfasst  hat. 

Eine  wichtige  Frage  ist  die,  wer  unter  dem  in  der  Vorrede  ge- 
nannten »berühmten  Meister  <r  zu  verstehen  sei.  Hierauf  versucht 
C.  F.  Becker  eine  Antwort  zu  geben. ^  Er  Ibespricht  die  »Gehamschte 
Venus«  und  schließt  aus  dem  häufig  zu  den  Liedern  gesetzten  M.  C, 
daß  wohl  Martin  Colerus  dieser  sogenannte  »berühmte  Meister  a  sei. 
Colerus  stammt  aus  Danzig^  (etwa  1620  daselbst  geb.)  und  befand 
sich  gerade  um  die  Zeit,  als  die  »Geharnschte  Venus«  erschien,  in 
Hamburg.  Zu  dieser  Stadt  stand  er  überhaupt  in  engen  Beziehungen, 
da  er  z.  B.  1648  »Melodien  zu  Risten^s  Passionsandachten«  heraus- 
gab. Nachdem  er  an  den  verschiedensten  Orten  als  Kapellmeister 
thätig  gewesen  war,  beendete  er,  hochbetagt,  sein  Leben  in  Hamburg. 
Demnach  ist  er  wohl  sicher  als  Komponist  der  hier  mit  M.  C.  be- 
zeichneten Melodien  hinzustellen,  zumal  ein  Musikemame  mit  glei- 
chen Anfangsbuchstaben  im  17.  Jahrhundert  nicht  bekannt  ist.  Ob 
aber  Schwieger  gerade  diesen  Colerus  als  den  hochberühmten  Meister 
bezeichnet  hat,  ist  doch  zweifelhaft,  weil  sich  hinter  zwei  der  übrigen 
Buchstabenverbindungen  zwei  andere  nicht  minder  bedeutende  Musiker 
verbergen.  So  ist  mit  den  bei  2  Melodien  vermerkten  Buchstaben 
zweifellos  Johann  Martin  Rubert  gemeint.  1615  zu  Nürnberg  ge- 
boren 3  hat  er  sich  lange  Zeit  in  Nürnberg  angehalten  und  war  dann 
von  1640  bis  zu  seinem  1680  erfolgten  Tode  Organist  zu  Stralsund. 
Unter  seinen  im  Druck  erschienenen  Kompositionen  finden  sich  aller- 


^  Die   Hausmusik    in   Deutschland  in  dem  16.,    17.   und    18.  Jahrhundert. 
Leipzig  1840. 

2  Vgl.  F.  J.  F6ti8,  Biographie  universelle  des  Musiciens. 
8  F6ti8,  a.  a.  O. 


Das  Liederbuch  des  Leipsiger  Studenten  Glodius.  gj[J 


dings  die  beiden  Melodien  nicht.  Bei  dem  regen  Verkehr  jedoch, 
der  damals  zwischen  den  norddeutschen  Dichtern  und  auch  Kompo- 
nisten herrschte,  ist  wohl  anzunehmen,  daß  auch  Jac.  Schwieger  und 
J.  M.  Hubert  unter  einander  bekannt  waren,  und  letzterer  sich  gern 
bereit  zeigte,  Weisen  zu  den  Schwieger' sehen  Texten  zu  setzen. 

Als  dritten  hier  in  Frage  kommenden  Komponisten  möchte  ich 
hinter  den  Buchstaben  C.  B.  den  hochbedeutenden  Meister  Christoph 
Bernhard  suchen.  Derselbe  war  zu  dieser  Zeit  noch  nicht  in  Ham- 
burg thätig;  es  wird  aber  erzählt,^  daß  er,  zum  Stadtkantor  Hamburgs 
als  Nachfolger  Thomas  Seiles  erwählt,  bei  seiner  Ankunft  daselbst 
Ton  den  Vornehmsten  der  Stadt  in  sechs  Kutschen,  den  berühmten 
Orgelspieler  Weckmann  von  St.  Jacobi  an  der  Spitze,  eingeholt  sei. 
Dies  geschah  1664,  also  4  Jahre  nach  dem  Erscheinen  der  »Ge- 
hamschten  Venus.«  Ein  Mann  aber,  dem  solche  Ehren  erwiesen 
wurden,  musste  in  der  Stadt  schon  lange  bekannt  sein  und  ein  hohes 
Ansehen  genießen.  Aus  diesem  Grunde  ist  wohl  die  Vermuthung 
richtig,  daß  Jac.  Schwieger  gern  die  Melodien  eines  solchen  Meisters 
zu  seinen  Texten  benutzte.  Und  da  kein  anderer  Komponist  »C.  B.« 
für  Hamburg  in  Betracht  kommen  kann,  so  können  wir  mit  einiger 
Sicherheit  den  Christ.  Bernhard  als  Tonsetzer  der  14  in  dieser 
Sammlung  mit  C.  B.  bezeichneten  Melodien  ansehen.  Das  veranlasst 
uns  dann  weiter  zu  schließen,  daß  J.  Schwieger  wohl  unter  dem 
»berühmten  Meister«  nicht  den  Martin  Colerus,  sondern  eben  den 
diesen  bei  weitem  überragenden  Christ.  Bernhard  meint. 

Von  den  beiden  noch  übrigen  durch  die  Buchstaben  C.  S.  und 
J.  K.  angedeuteten  Komponisten  konnte  ich  näheres  nicht  ermitteln. 
Dies  ist  insofern  nicht  zu  bedauern,  als  die  in  unsere  Handschrift 
aus  der  »G^hamschten  Venus«  angenommenen  Melodien  von  keinem 
der  beiden  herrühren. 

Von  Colerus  sind  2  Lieder  wiedergegeben:  No.  4  aus  dem  2. 
Zehen  »Legere  läßt  sich  öfters  grüßen«  als  No.  96  auf  S.  144,  und 
No.  6  aus  dem  5.  Zehen  »Gleich  als  du  hättest  still  geseßen,«  als 
No.  99  auf  S.  148.  In  beiden  macht  sich  eine  gewisse  Steifheit,  so- 
wohl der  Melodiebildung,  als  auch  .(namentlich  bei  dem  2.  Liede) 
der  Harmonisirung  bemerkbar.  Jedenfalls  gehören  sie  nicht  gerade 
zu  den  besseren  Nummern  der  Handschrift.  Es  darf  aber  nicht  un- 
erwähnt bleiben,  daß  ihnen  trotzdem  einige  mehr  oder  weniger  in- 
teressante Züge  eigen  sind.  So  ist  bei  dem  2.  Liede  eine  die  Worte 
»so  schreib  und  sing  ich«  trefflich  charakterisirende  Viertelkoloratur 
hervorzuheben. 


i  Vgl.  Mattheson,  Ehrenpforte  pag.  20. 


512  Wilhelm  Niessen, 


Von  Joh.  Mart.  Hubert  ist  das  5.  Lied  des  6.  Zehen:  »Sisyfas 
Gebirg  erreichen»  als  Nr.  100  auf  S.  150  in  unser  Liederbuch  auf- 
genommen.^ Die  dazu  gehörige  Melodie  ist  eine  der  schönsten  der 
Clodius'schen  Handschrift.  Sie  zeichnet  sich  durch  wohllautende,  edle 
Tonfiihrung  aus,  mit  der  sich  ein  gemessener,  wohlgeordneter  Rhyth- 
mus und  eine  ebenso  einfache,  wie  schöne  Harmonie  vereinigt.  Na- 
mentlich ist  in  harmonischer  Beziehung  die  feine  Gegenüberstellung 
der  MoU- Tonart  im  1.  Theile  und  der  parallelen  Dur -Tonart  im  2. 
Theile  zu  erwähnen,  wahrend  melodisch  besonders  die  motivische 
Steigerung  im  2.  Theile  hervorzuheben  ist,  die  dann  in  einer  sym- 
metrisch gebildeten  Senkung  der  Melodie  am  Schlüsse  ein  beruhigendes 
Gegengewicht  erhält.  In  Bezug  auf  die  Tonfolge  ist  diese  Melodie 
von  Clodius  übereinstimmend  mit  dem  Original^  angezeichnet  wor- 
den. Dagegen  hat  er  sich  einige  rhythmische  Aenderungen  er- 
laubt, die  durchaus  zum  Yortheil  des  Ganzen  gereichen.  Durch 
eine  vom  zweiten  Theile  an  eintretende  vollständige  Verschiebung 
vom  ersten  Takttheil  auf  den  dritten,  wird  die  zweite  ursprünglich 
neuntaktige  Periode  zur  achttaktigen  gemacht  und  auf  die  Weise 
eine  wirksame  Belebung  des  Granzen  herbeigeführt.  Wir  sehen  wie- 
der deutlich,  wie  der  Yolksgeist,  wenn  er  einmal  eine  Melodie  sich 
zu  eigen  gemacht,  nun  nach  seinem  Ermessen  damit  schaltet  und 
waltet  und  sie  sich  so  zurecht  legt,  wie  es  für  ihn  am  besten  passt. 
Das  vorliegende  Lied  ist  übrigens  in  dieser  EEinsicht  besonders  lehr- 
reich, da  die  Melodie  noch  zweimal  in  der  Handschrift  auftritt ;  beide 
Male  in  einer  neuen  Gestaltung. 

Wir  finden  sie  in  zwei  aufeinander  folgenden  Nummern  wieder, 
in  Nr.  55  (auf  S.  78)  »IhrNajaden«  und  in  Nr.  56  (auf  S.  80)  »Ihr 
Mädgen  gute  Nacht.«  Ein  Vergleich  mit  dem  in  der  »G^hamschten 
Venus«  gegebenen  Originale  zeigt,  mit  welchem  Geschick  man  su 
damaliger  Zeit  verstand,  ein  und  denselben  melodischen  Kern  ver- 
schiedenartig zu  gestalten. 

Betrachten  wir  zunächst  die  erstgenannte  Melodie.'  Takt  und 
Tonart  sind  dieselben,  wie  bei  Schwieger.  Dagegen  ist  die  Zahl  der 
Takte  eine  andere,  an  Stelle  von  zwölfen  sind  nur  zehn  getreten  und 
zwar  sind  einfach  die  Takte  9  und  10  ausgefallen.  Die  Melodie  hat 
dadurch  nicht  verloren,  ist  vielmehr  interessanter  geworden.  Gerade 
dieses  scharfe  Abgrenzen  der  Dur-  und  Mollgestaltung  eines  und  des- 
selben Motivs  macht  den  Schluß  wirksam.    Es  kommt  hinzu,  daß  bei 


1  Vgl.  die  Beilage  Nr.  VI. 

2  Vgl.  die  Beüage  VI  1. 

3  Vgl.  die  Beilage  VII. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  613 


Clodius  im  zweiten  und  vierten  Takte  Verzierungen  durch  kleine 
Sechzehntelfiguren  eintreten.  Sie  verleihen  dem  Ganzen  ein  eigen- 
artiges Gepräge  und  illustrieren  tref&ich  die  in  dem  Texte  liegende 
Ironie.  Es  wird  der  Freude  Ausdruck  gegeben,  daß  jemand  Hoch- 
zeit macht,  daher  die  hinaufeilenden  Sechzehntel;  diese  Freude  ist 
aber  nicht  ernst  zu  nehmen,  hinter  ihr  verbirgt  sich  nur  Hohn  und 
Spott,  daher  die  Moll -Tonart.  Ein  Geistesprodukt,  welches  den 
Stempel  des  echt  Studentischen  trägt.  Und  nun  der  Kontrast,  der 
zwischen  dieser  Melodiegestaltung  und  der  darauf  folgenden  desselben 
melodischen  Inhalts  besteht. 

In  dem  ersten  Falle  ist  eine  an  sich  ruhige,  ernste  Melodie  in 
übermüthiger  Weise  zu  einem  Spottlied  verwendet  und  zugerichtet 
worden;  in  dem  anderen^  ist  dieselbe  zu  Grunde  liegende  Melodie 
zum  Ausdruck  eines  wahren  Schmerzes  (beim  Abschied  von  der  Uni- 
versität) benutzt  und  zu  di^em  Zwecke]  gewissermaßen  veredelt 
worden.  Die  Tonart  der  neuen  Form  ist  dieselbe,  wie  im  Original; 
dagegen  wurde  die  Taktart  und  in  Verbindung  damit  die  An- 
zahl der  Takte  geändert.  Für  den  ^j^  Takt  ist  der  ^4  Takt  einge- 
treten und  infolgedessen  für  die  zweitaktigen  Phrasen  dreitaktige, 
so  daß  also  aus  12  Takten  18  gemacht  sind.  Andererseits  ist  die 
bei  Nr.  55  weggefallene  [zweitaktige  Phrasefhier  (dreitaktig)  wieder 
angenommen.  War  dort  bei  Nr.  55  die  energische  Sonderung  des 
Dur  von  der  parallelen  Moll-Tonart  nothwendig  zur  charakteristischen 
musikalischen  Gestaltung  des  Textes,  so  ist  hier,  bei  diesem  an  sich 
ernsten,  einem  stülen,  aber  aufrichtigen  Schmerze  gewidmeten  Liede 
eine  mehr  ruhige,  vermittelnd  eingeführte  Schlussbildung  besser  am 
Platze.  Auch  sind  im  Gegensatz  zu  Nr.  55,  wie  zum  Original,  alle 
zur  Auschmückung  dienenden  Sechzehntel-  und  Achtelfiguren  ver- 
mieden und  nur  halbe  und  Viertel-Noten  benutzt  worden. 

Mit  einfachen  Mitteln  werden  also  hier  aus  einer  Melodie  heraus 
mehrere  neue  nicht  nur  charakteristische,  sondern  auch  wirklich 
musikalisch  (schöne  Gestaltungen  geschaffen.  Sind  diese  Umwand- 
lungen von  Studenten  vorgenommen  (was  immerhin  wahrscheinlich 
ist),  80  müssen  diese  einen  nicht  geringen  Grad  musikalischer  Bil- 
dung besessen  haben. 

Doch  nun  zu  den  beiden  noch  übrigen  Liedern  aus  *  der  »Ge- 
hamschten  Venusa.  Das  mit  C.  6.  bezeichnete  steht  als  Nr.  5  im 
2.  Zehen  und  ist  von  Clodius  auf  S.  146  als  Nr.  97  aufgenommen. 
Der  Anfang  lautet:  :»Die  Dellmane  kriegt  einen  Stoß.«  Die  Melodie 
unterscheidet  sich  von  den  meisten  anderen  imserer  Handschrift  da- 


i  Vgl  die  BeUage  YHI. 


514  WiUiefan  Niessen, 


durch,  daß  sie  die  weitaus  gröBte  Ausdehnung  hat.  Sie  umüstast  im 
Ganzen  30  Takte  und  lässt  außerdem  die  sonst  bemerkbare  Knapp- 
heit und  Ein&chheit  der  Form  vermissen.  In  dieser  Melodie  ist 
mehr  als  gewöhnlich  von  einer  au^edehnten,  oft  etwas  zu  weit  aus- 
gesponnenen motivischen  Durcharbeitung  Gebrauch  gemacht.  Grerade 
dies  kann  vielleicht  als  Beweismittel  gelten  für  die  dem  C.  Bernhard 
zuzuweisende  Autorschaft,  insofern  der  genannte  Meister  vornehm- 
lich Komponist  geistlicher  Sachen,  und  ihm  somit  eine  in  die  Breite 
gehende  Schreibweise  geläufiger  war.  Auch  wird  den  Clodius  vor 
allem  der  etwas  frivole  Text  angezogen  haben,  und  weniger  die  an 
sich  ganz  interessante,  aber  doch  für  studentische  Kreise  zu  wenig 
ansprechende  und  schwer  aufzufassende  Melodie. 

Das  fünfte  aus  der  Gehamschten  Venus  entlehnte  Lied  finden 
wir  daselbst  unter  Nr.  4  des  4.  Zehen,  bei  Clodius  auf  S.  136  als 
Nr.  91,  beginnend  »Das  Wolken  Dach  war  mit  der  Nacht  ümbzc^n.c 
Hierzu  ist  bei  Schwieger  keine  Andeutung  hinsichtlich  des  Komponisten 
gemacht  worden.  Dagegen  ist  es  mit  der  Bezeichnung  «Französische 
Blamande«  versehen,  womit  also  wohl  ein  9  Spottlied  er  oder  irgend  eine 
Tanzform  gemeint  ist.  Von  der  Melodie  müssen  wir  nun  sagen,  daß 
sich  uns  hier  ein  ähnlicher  Fall  darbietet,  wie  bei  dem  vorher  be- 
sprochenen Liede.  Wenn  sie  auch  nicht  dieselbe  äußerliche  Aus- 
dehnung aufweist,  so  ist  doch  die  ganze  Art  und  Weise  der  Ton- 
führung ebenso  wenig  als  dort  dazu  geeignet,  das  zu  geben,  was  man 
vom  Studentengesange  in  erster  Linie  verlangt,  nämlich  eine  ge- 
drungene, dabei  doch  inhaltreiche  und  frische  Tonsprache.  Der  An- 
fang verspricht  allerdings  diese  Forderung  zu  erfüllen;  im  weiteren 
Verlaufe  zeigt  sich  aber  ein  solches  Ungeschick  in  der  melodischen 
Ausspinnung,  ein  solches,  das  Ohr  verletzendes  Abhacken  im  Rhyth- 
mus, daß  man  in  der  That  genöthigt  ist,  diese  Melodie  zu  den  am 
wenigsten  schätzbaren  der  Handschrift  zu  zählen. 

Im  Grunde  genommen  müssen  wir  aber  den  Beitrag,  den  die 
Schwieger  sehen  Sammlungen  hinsichtlich  der  Melodien  zu  unserem 
Liederbuche  liefern,  als  einen  werthvollen  bezeichnen.  Wir  lernen 
aus  ihnen  einmal  die  Namen  von  Komponisten  kennen,  die  einem 
so  berühmten  Dichter,  wie  Jac.  Schwieger,  und  wohl  überhaupt  dem 
Hamburger  Dichterkreise  genehm  waren;  andererseits  befindet  sich 
unter  ihnen  eben  jene  wunderschöne  Melodie,  die  ohnstreitig  eine 
Perle  der  ganzen  Handschrift  ist. 

Wenige  Jahre  nach  der  ))Gehamschten  Venus«  erschien  folgende 
uns  hier  angehende  Gedichtsammlung :  »Neu  außgeschlagener  Liebes- 
und Frühlings  Knospen  Nachschößlinge.  Mit  beygefügten  anmuthigen 
Melodeyen  etc.  von  Georgio  Henrico  Schreiber.    Franckfurt  am  Mayn. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  g|5 

1664.V  Clodius  bringt  daraus  2  Melodien,  aber  mit  anderen  Texten. 
Ueber  den  Komponisten  derselben  erfahren  wir  einiges  aus  den  Vor- 
reden zu  den  Nachschößlingen  und  zu  einer  diesen  vorhergehenden 
Sammlung  desselben  Dichters  »Neu  außgeschlagener  Knospen  Erst- 
linge« etc.  Der  letzteren  geht  ein  Gedicht  vorher,  das  von  dem 
Komponisten  an  den  Dichter  gerichtet  ist.  Die  Schlußstrophen  (9 — 1 1) 
lauten: 

Inzwischen  ich  mich  nenn' 
Ein  S  C  H  laven  dieser  Sachen, 

So  sol  und  will  ich  denn 
Ein  Liedchen  mit  euch  machen. 

Ob  in  der  Dichterey 
Ich  mich  wohl  schwach  befinde, 

Zu  setzen  Melodey 
Ich  mich  dobh  unterwinde. 

Und  so  noch  jemand  ist, 
Der  mich  gern  möchte  kennen. 

Der  wisse  ohne  List, 
Daß  ich  mich  pfleg  zu  nennen 

C.  H. 
Org.  zu  W. 

Es  war  nicht  mögHch  die  Persönlichkeit  festzustellen,  die  sich 
hinter  den  hier  gegebenen  Andeutungen  verbirgt.  Auch  die  jenem 
Gedichte  folgende  Prosa-Vorrede  des  Komponisten  giebt  keinen  weiteren 
Aufschluß.  Er  theilt  daselbst  nur  mit,  daß  auch  seine  Melodien  nur 
»Erstlinge«  meist  »aus  dem  Garten  seiner  Jugend  gebrochene«  seien, 
und  bittet  daher  um  Nachsicht,  mit  dem  Versprechen,  späterhin  bessere 
hervorschießen  zu  lassen.  Vor  allem  aber  hebt  er  hervor,  daß  seine 
»Melodeyen  für  keine  Ueberkluge  und  in  der  Musik  Critisierende 
sondern  der  Kunstliebenden  Jugend  zu  beliebiger  Uebung  dargereicht 
worden.«  Als  Unterschrift  lesen  wir  wieder  die  schon  in  dem  Ge- 
dichte vorkommende  eigenartige  Wortbildung:  »S  C  H  laven.«  Wir 
werden  also  wen%stens  über  den  Zweck  au%eklärt,  dem  diese  Me- 
lodien gewidmet  waren.  Es  sollten  hier  nicht  regelrechte,  strenge 
Kunstprodukte  geboten  werden,  sondern  Weisen,  die  im  Stande  wären, 
Fröhlichkeit  und  heitre  Gesinnung  zu  erwecken  und  zu  steigern. 
Daß  sie  dies  vermochten,  bezeugt  der  Dichter  Schreiber  selbst  in  einer 
Zuschrift  zu  den  »NachschöBlingen«,  wo  er  sagt,  daß  sie  die  lebende, 
lustige  und  erfreuende  Seele  seiner  dieses  mal  etwas  zu  düster  ge- 

1891.  41 


616  Wilhelm  Niessen, 


rathenen  Gedichte  seien.  Eine  Betrachtnng  der  von  Clodius  gegebenen 
Beispiele  bekräftigt  vollkommen   die  Richtigkeit  dieser  Behauptung. 

Das  eine  bietet  sich  uns  dar  in  dem  Liede  Nr.  42  (S.  56) 
Y>Wer  ist  doch  wohl  so  selig  als  ich  bin«.  Die  dazu  gesetzte  Melodie 
gehört  bei  Schreiber  (in  den  »NachschöBlingen«  auf  S.  101,  Nr.  17] 
zu  einem  Texte  »Ich  bin  und  bleibe  nunmehr  wohl  vergnügt,  Weil 
mir  das  Glück  hat  wieder  zugefügt«.  Abgesehen  von  unwesentlichen 
rhythmischen  Verschiedenheiten  fallen  bei  Clodius  wiederum  ge- 
schickte melodische  Vereinfachungen  und  flüssigere  Führung  des 
Grundbasses  angenehm  auf.  Ahnliches  ist  von  der  anderen  Melodie 
zu  sagen.  Dieselbe  findet  sich  S.  113  zu  Nr.  20:  «Spiel  nur  Glücke 
wie  du  wilt,  Weil  dein  Neid  noch  nit  gestillte.  Clodius  bringt  sie  auf 
S.  64  zu  Nr.  47:  »Lustig  lieben  Domini,  Lustig  omnes  Populic.  Ent- 
sprechend dem  Texte  ist  der  Schreiber'schen  Fassung  eine  mehr 
weiche  Stimmung  eigen,  die  sich  in  gefälligen  leichten  Achtelfiguren 
kundgiebt)  sowie  in  häufig  angewandten  Sextaccorden.  Bei  Clodius 
sind  aus  den  Achteln  strafie  Viertelschläge,  aus  den  Sexten -Bässen 
wuchtige  Grundbässe  geworden  und  auf  die  Weise  der  derbe  und 
burschikose  Ton  des  hier  untergelegten  Textes  treffend  zum  Ausdruck 
gebracht.^ 

Wir  sind  nun  bei  dieser  Melodie  zum  'ersten  Male  in  der  an- 
genehmen  Lage,  dieselbe  noch  nach  der  uns  vorliegenden  Zeit,  ja 
noch  in  unserem  Jahrhundert  anzutreffen.  Zunächst  begegnen  wir 
ihr  in  der  »Beggars  operac  von  John  Gay.  |Darin  befanden  sich 
nicht  weniger  als  69  Lieder,  sämmtlich  mit  bekannten  Melodien 
versehen,  die  der  in  England  lebende  Komponist  Johann  Christoph 
Fepusch  aus  Berlin  für  das  Stück  eigens  zurecht  gestutzt  hatte. 
Dasselbe  erschien  im  Jahre  1728,  gefiel  bekanntlich  über  die  Maßen 
und  hielt  sich  lange  Zeit.  Unsere  Melodie  finden  wir  dort  zu  dem 
Liede:  »Youth's  the  season  made  for  joys,«^)  in  der  4.  Scene  des 
2.  Aktes  als  Air  XXII  auf  pag.  47  (Auflage  von  1765).  Während 
eines  Liebesgespräches  ertönt  außen  Musik.  Der  Spieler  wird  herein- 
gerufen und  muß  zum  Tanze  eine  »Französische  Weise«  spielen.  Nach 
dem  Ende  des  Tanzes  wird  dann  das  betreffende  Lied  gesungen, 
dessen  Inhalt  etwa  der  ist:  Man  soll  die  Jugend  genießen,  tanzen 
und  singen,  da  die  Zeit  Flügel  hat  und  gar  zu  bald  das  traurige 
Alter  herankommt. 

Konnten  wir  nun  schon  die  Gestaltung  der  Melodie  bei  Schreiber 
als  bei  weitem  leichter  und  zierlicher,  wie  die  markige  und  enei^che 


1  VgL  die  BeUage  IX. 

2  Vgl.  die  Beilage  IX  1. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  617 

Tonfolge  bei  Clodius  bezeichnen,  so  läßt  sich  das  von  der  Fassung, 
die  Pepusch  diesem  Tonstück  gegeben  hat,  in  noch  höherem  Maße 
sagen.  Die  hier  so  merklich  auftretenden  Achtelfiguren  verleihen 
dem  Ganzen  etwas  ungemein  Anmuthiges  und  Gefälliges.  Jedenfalls 
ist  die  Melodie  in  England  gern  und  viel  gesungen  worden^  denn  noch 
1813,  also  90  Jahre  nach  Erscheinen  der  Bettleroper  und  150  Jahre 
nach  ihrem  ersten  Auftreten  bei  Schreiber  wurde  sie  in  folgende 
englische  Liedersammlung  angenommen :  »A  select  collection  of 
English  Songs  with  their  original  airs.  By  the  late  Joseph  Bitson. 
Vol.  III.  pag.  184«.  Es  wäre  so  unmöglich  nicht,  daß  sie  vielleicht 
heute  noch  hie  und  da  in  England  vorkommt. 

Wir  schließen  diese  Betrachtungen  mit  dem  Liede  Nr.  102 
fS.  154)  »Bruder!  willstu  meinen  Rath«.  Es  steht  mit  gleichem 
Texte  in  folgendem  Werke :  »Georg  Heinrich  Webern  Sing-  und  Spiel- 
Arien,  Das  ist:  zur  Ehren-Lust  etc.  Anreitzenden  Lieder  Erster 
Theil  Auff  gantz  neue  und  anmuthige  Melodeyen  zu  singen  und  zu 
spielen  unterleget  von  Herrn  Johann  Friedrich  Zubern  der  Singe- 
Kunst  berühmten  Liebhabern  in  Lübeck.     Anno  1665.a 

Von  dem  hier  angefahrten  Komponisten  Zuber  ist  weiter  nichts 
bekannt,  als  daß  er  imi  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  als  Stadt- 
musikus und  Violinist  zu  Lübeck  lebte  und  daselbst  1649  einen 
ersten  Theil  Paduanen,  Gaillarden  etc.  von  fünf  Stimmen  ver- 
öffentlichte, während  der  2.  Teil  1659  zu  Frankfurt]  a.  M.  er- 
schien. Die  in  dem  Weber'schen  Werke  enthaltenen  Melodien  dieses 
Musikers  zeichnen  sich  durch  frischen  Ausdruck  und  Kürze  der 
Form  vortheilhaft  aus.  Auch  das  von  Clodius  aufgenommene  Lied 
ist  mit  einer  hübschen,  nicht  ganz  unoriginellen  Melodie  ausgestattet. 
Wir  finden  es  bei  Georg  H.  Weber  im  1.  Theil  auf  pag.  28,  unter 
Nr.  21. 

Im  Großen  und  Ganzen  sind  hiermit  diejenigen  Melodien  unseres 
Liederbuches,  die  als  gedruckt  vor  seinem  Entstehen  nachzuweisen 
waren,  erschöpft.  Abgesehen  von  den  bisher  nicht  besprochenen 
Volksmelodien  ist  natürlich  noch  eine  ganze  Reihe  anderer  vor- 
handen, die  sicher  auch  ihren  Ursprung  haben  in  ähnlichen  Lieder- 
sammlungen, wie  die  besprochenen.  Leider  war  aber  über  dieselben 
gar  nichts  zu  erfahren,  und  wir  müssen  uns  demnach  mit  den  ge- 
wonnenen Ergebnissen  zufrieden  stellen.  Immerhin  erhalten  wir 
durch  diese  eine  Übersicht  darüber,  aus  welcher  Art  von  ge- 
druckten Quellen  die  damaligen  Studenten  die  Melodien  zu  ihren 
Liedertexten  nahmen.  In  der  Hauptsache  müssen  wir  unserem 
Clodius,  ganz  abgesehen  von  den  trefflichen  Beispielen  aus  Adam 
Krieger's,  Heinrich  Albert's  Werken   etc  ,    einen  guten   Geschmack 

41* 


518  Wilhelm  Niessen, 


nachrühmen,  der  ihn  ganz  besonders  beföhigte,  das  spezifisch  für  die 
Studenten  Passende  gut  und  geschickt  auszuwählen.  Wir  werden 
sehen,  daß  ihm  das  noch  besser  bei  der  Wahl  von  Yolksmelodien 
gelungen  ist.  Ehe  wir  uns  aber  diesen  näher  zuwenden,  mögen  kurz 
noch  einige  Melodien  Erwähnung  finden,  die,  weil  sie  weder  in 
gedruckten  Arien-  noch  in  ebensolchen  Gedichtsammlungen  jener 
Zeit  nachzuweisen  sind,  besser  getrennt  von  den  übrigen  behandelt 
werden. 

Zwei  derselben  sind  enthalten  in  dem  oben  gelegentlich  der 
Textbesprechung  genannten  handschriftlichen  Liederbuche  von  1649, 
aus  welchem  bekanntlich  Ditfurth  in  seinen  »Volks-  und  Gesellschafta- 
liedem«  eine  ganze  Reihe  von  Texten  mit  Melodien  wiedergegeben 
hat.  Die  eine  besteht  aus  zwei,  durch  verschiedene  Taktart  streng 
von  einander  getrennten  Theilen;  sie  hat  die  Form  des  Vortanzes 
und  der  zugehörigen  Proportio.  Wir  finden  sie  bei  Clodius  unter 
Nr.  27  (S.  32)  »Ey  Fairfax  schäme  dich«S  hei  Ditfurth  unter 
Nr.  77.  Während  nun  Ditfurth  die  Weise  ofienbar  genau  so  wieder- 
giebt,  wie  er  sie  in  jener  Handschrift  gefunden  hat,  sind  in  der 
Fassung  bei  Clodius  wesentliche  Unterschiede  eingetreten.  Wir 
bemerken  eine  Veränderung  der  Tonart,  Zusammenziehung  von  Takten, 
harmonische  und  rhythmische  Abweichungen.  Gewiß  ist  die  Art 
und  Weise,  wie  die  Melodie  in  unserem  Liederbuche  gebildet  ist, 
bedeutend  interessanter  und  enei^scher,  als  in  jener  Handschiift 
von  1649.  Bei  dem  zweiten  sowohl  hier,  als  auch  bei  Clodius  be- 
findlichen Liede  »Mars  läBt  izt  zur  Tafel  blasen«  ^  ist  an  letzterem 
Orte  die  zugehörige  Melodie  noch  ungleich  wirksamer  und  origineller. 
Namentlich  ist  der  zweite  Theil  von  einem  derben  Humor  und 
einer  wilden  Ausgelassenheit  erfüllt,  gegen  welche  die  entsprechende 
Stelle  der  anderen  Form  bedeutend  abfallt.  Leider  können  wir  bei 
diesem  Beispiel  ebensowenig,  wie  bei  den  vorhergehenden  etwas 
genaueres  über  den  eigentlichen  Ursprung  angeben.  So  geht  es  uns 
auch  bei  zwei  anderen  Melodien.  Wir  sind  aber  bei  ihnen  insofern 
besser  daran,  als  wir  sie  noch  lange  nach  der  Entstehungszeit  unserer 
Handschrift  nachweisen  können. 

Der  Melodie  No.  67  begegnen  wir  in  einem  etwa  20  Jahre  später 
erschienenen  Buche  in  einer  ganz  eigenthümlichen  Gestalt  wieder. 
Der  Titel  des  Buches  lautet:  »Musicalischer  Leuthe  Spiegel  Das  ist: 


1  Vgl.  Beilage  X. 
5«  Vgl.  Beilage  XI. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  619 


Ein  Extract  auß  dem  Welt-berühmten  Ertz-Schelmen  Judas  Tractat, 
welcher  Spiegel  sich  vor  Ehrlichen  Leuten  darff  sehen,  und  mit 
I.  Tenor-Sing-Stimmen  nebenst  2  Violinen ,  doppelten  General-Baß 
(auch  2.  Violen,  so  ad  placitum)  hören  laßen.  Gesetzt  und 
herausgegeben  von  einem  Deutschen  Spaniol  in  Griechenland,  wie 
auch  Gedruckt  daselbst  im  Jahr  1687.«  Das  Buch  besteht  aus  14 
Musikstücken,  12  davon  sind  mit  Text,  2  bloße  Instrumental- 
sachen. 

Die  Texte  sind  dadurch  entstanden,  daß  einzelne  Gedanken  aus 
Abrahams  a  Santa  Clara  »Judas  der  Erzschelm«  (1.  Band,  Salzbui^ 
1686)  weiter  ausgesponnen  und  in  Verse  gebracht  worden  sind.  Die 
Art  und  Weise,  wie  dies  geschieht,  kann  keine  besonders  glückliche 
genannt  werden.  Sowohl  inhaltlich  sind  die  Texte  dürftig,  als  auch 
formell  die  Verse  steif  und  ungelenk,  ganz  abgesehen  von  den  ge- 
schmacklosen und  bombastischen  Wortbildungen.  Weder  über  den 
Verfasser  der  Texte,  noch  über  den  der  dazugehörigen  Melodien  er- 
halten wir  näheren  Aufschluß.  Es  ist  schwer  zu  erkennen,  wer  mit 
dem  deutschen  Spaniol  aus  Griechenland  gemeint  ist.  Auch  das  am 
Anfang  stehende  Widmungsgedicht,  dessen  Empfanger  noch  dazu  mit 
umgestellter  Buchstabenordnung  des  Namens  genannt  wird,  giebt  kei- 
nen Anhaltspunkt.  Der  Herausgeber  des  Ganzen,  sowohl  des  Textes, 
als  auch  der  Musik,  wird  aber  dieselbe  Person  gewesen  sein.  Es 
war  sicher  ein  Musiker,  dem  dieses  gewiß  schrfell  und  allgemein  ver- 
breitete Werk  Abrahams  a  Santa  Clara  wohl  geeignet  schien,  der 
Gegenstand  einer  musikalischen  Darstellung  zu  werden,  die  —  so 
war  zu  hoffen  —  ebenso  schnell  ein  lebhaftes  und  reges  Interesse 
hervorrufen  würde.  Von  der  Art  und  dem  Werth  der  in  dem  Buche 
enthaltenen  Musikstücke  erlangen  wir  am  besten  ein  anschauliches 
Bild,  wenn  wir  sogleich  auf  die  aus  unserer  Handschrift  daselbst 
benutzte  Melodie  eingehen.  Sie  gehört  zu  dem  Liede  »Ein  schönes 
Bild  Liegt  wie  Diana  mild«  und  ist  in  dem  »Musikalischen  Spiegel« 
zu  dem  4.  Stück  verarbeitet  worden.  »Von  der  meisten  Weiber  täg- 
lichen Verrichtung,  und  Küchen- Gedancken,  oder  Hauß-Muffty,« 
heißt  es  im  Index.  Das  Ganze  ist  weiter  nichts,  als  eine  ermüdende, 
witz-und  sinnlose  Schilderung  der  Weiber,  denen  in  der  Hauptsache 
allerlei  Schlechtes,  nur  wenig  Gutes  nachgesagt  wird.  Bemerkens- 
werth  ist,  daß  die  Anfangsworte  genau  mit  denen  des  Clodius' sehen 
Textes  übereinstimmen,  während  allerdings  die  Fortsetzung  vollständig 
anders  ausgefallen  ist.  Ganz  eigenartig  ist  nun  die  hier  angewandte 
musikalische  Gestaltung.  Zuerst,  bevor  überhaupt  der  Gesang  beginnt, 
ertönt  ein  »Polnischer  Tanz«  (für  2  Violinen,  2  Violen  und  Baß),  der 
mit  der  eigentlichen  Gesangsmelodie  nichts  gemein  hat.     Dann  folgt 


520  WiDielm  IHesflen, 


diese  selbst,    ungefähr  gleichlautend  mit  der  Fassung  des  Clodius. 
Im  Anschluß  daran  erscheint  sie  abermals,  aber  so,  daß  sämmtliche 
Melodiegänge  in  umgekehrter  Stufenfolge  gebracht  werden.    Nachdem 
darauf  der  Tanz  wiederholt  ist,  kommt  von  neuem  die  ursprüngliche 
Gestalt  der  Melodie  mit  nur  geringen  Abweichungen.     Die  Ebupt- 
Melodie  tritt  von  da  an  nicht  mehr  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  auf, 
sie  erscheint  nur  bruchstückweise,  bald  bloß  bis  zur  Mitte  gehend, 
bald  erst  mit  dem  Mitteltheil  beginnend.     Dabei  finden  jetzt  bedeu- 
tend mehr  Abweichungen    von  der   ursprünglichen   Tonfolge  statt. 
Dazwischen  ist  dann  noch  einmal  ein  Instrumentalstück  (Sarabande) 
gelegt,   während  am  Schlüsse  des  Ganzen  die  Singstimme  sich  mit 
den  Instrumentalstimmen  vereinigt,   und  sowohl  durch  Taktwechsel, 
als  auch  durch  melodische  Neuerungen  ein  ganz  vrirksames  Finale 
erzielt  vnrd.     Wir  könnten  bei  diesem  absonderlichen  Tongebilde  an 
die  um  die  Wende  des  16/17.  Jahrhunderts  so  häufig  erscheinenden 
Quodlibets  erinnert  werden.     Dieselben  unterscheiden  sich  aber  we- 
sentlich dadurch,   daß  sie  immer  aus  mehreren  Melodien  zusammen- 
gesetzt sind.    Am  besten  kennzeichnen  vnr  die  vorliegende  Form  als 
eine  Vermischung  von  dürftiger  variationenartiger  und  roher  thema- 
tischer Arbeit.    Übrigens  ist  die  zu  Grunde  liegende  Melodie  an  sich 
unbedeutend  und  nur  insofern  werthvoll,  als  sie  uns  einen  Einblick  in 
eine  neue  Art  musikalischer  Gestaltung  der  damaligen  Zeit  gewährt. 
Eine  ungleich    höhere   Bedeutung  hat  die  Melodie  des  Liedes 
No.  63  »Sie  schlafet  schon,  Die  andere  Dion.ai    Wir  können  sie  aller- 
dings  in  keiner    anderen   der  damaligen   Sammlungen   nachweisen; 
sie    muß   aber  gern   gesungen  worden  sein,  denn  vnr  sehen  sie  ein 
paar  Mal  als  Weise  für  andere  Texte  angegeben.     Zunächst  ist  sie 
in  dem  bekannten  »Hans  Gucka  als  Ton  zu  dem  46.  Liede:  »Mein 
Abend-Stern,  Bestrahle  weit  und  fema  angeführt.     Dann  wird  sie  in 
einer    Sammlung    aus   dem  Anfang    des    18.   Jahrhunderts   für  ein 
geistliches   Gedicht  vorgeschrieben   und    zwar  auf  S.  425   in:   »An- 
muthiger  Blumen  Ejrantz  aus  dem  Garten  der  Gemeinde  Gottes  .  .  . 
Ans  Licht  gegeben  Im  Jahr  1712.v    Der  betreffende  Text  beginnt: 
»Mein  Bräutigam!   Du  wahres  Gotteslamm It   Es  ist  beachtenswerth, 
daß  zwischen  diesem  und  dem  Clodius'schen  Texte  eine  gewisse  Ähn- 
lichkeit besteht,   indem  dort  das  Verlangen  nach  dem  Seelen-Bräu- 
tigam, hier  die  Sehnsucht  nach  der  Geliebten  laut  wird.    Beides  wird 
durch   die   von    einer  sentimentalen  Stimmung  durchdrungene  Me- 
lodie   trefflich    ausgedrückt.      Sie   ist   aber    in    ebenso   glücklicher 
Weise     zu    einem   empfindsamen   Abendliede   gesetzt  worden,    zwar 


1  Vgl.  Beilage  XII. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  g21 


nicht  in  jener  früheren  Zeit,  sondern  in  der  Mitte  unseres  Jahrhun- 
derts. So  steht  sie  zunächst  unter  No.  10  in  folgendem  Büchlein 
abgedruckt :  »336  Melodien  des  Choralbuches  für  katholische  Kirchen 
von  Hermann  Ignaz  Knievel.  Zum  Schulgebrauche  in  Notenziffern 
übertragen.  Paderborn,  1843.«^  In  ziemlich  gleicher  Fassung  und  zu 
demselben  Texte  haben  wir  die  Melodie  als  No.  106  auf  S.  131  in: 
»Peter  Stein,  Lieder  und  Gesänge  zunächst  für  katholische  Gesellen- 
y ereine.  Düsseldorf  1853.a  Endlich  ist  sie  noch  2  Jahre  später  an- 
zutreffen und  zwar  unter  No.  3  auf  S.  21  in  »Melodien  zum  Geist- 
lichen Palmgärtlein,  Redigirt  von  Theodor  WoUersheim,  Pastor  zu 
Jülichen.  Köln  und  NeuB.  1855.v  Diese  3  neuen  Gestaltungen  der 
einen  Melodie  weisen  nur  ganz  geringe  Abweichungen  unter  einander 
auf,  und  es  genügt  daher,  die  in  der  Beilage  mitgetheilte  mit  der 
Clodius'schen  zu  vergleichen.  Sehen  wir  von  der  sehr  verschiedenen 
rhythmischen  FaBung  ab,  so  werden  wir  bemerken,  daß  nur  am 
Anfang  und  am  Schluß  eine  melodische  Ungleichheit  vorliegt.  Aber 
selbst  Anfang  und  Schluß  sind  nicht  so  sehr  abweichend  gestaltet. 
Bei  Clodius  haben  wir  genaii,  wie  in  dem  jetzigen  Abendliede,  zu- 
nächst ein  Aufsteigen  durch  die  fünf  ersten  Stufen  der  Tonleiter, 
darauf  ein  sofortiges  Zurückgehen  bis  zur  Terz.  Letzteres  fallt  aller- 
dings in  der  modernen  Fassung  weg,  ist  aber  auch  unwesentlich,  da 
die  Quinte  hier  die  Hauptbedeutung  hat.  Am  Schluß  ist  beiden 
Melodien  der  abwärtsgehende  Sekundenschritt  gemeinsam,  und  nur 
der  bei  Clodius  etwas  reicher  ausgestattete  vorletzte  Takt  in  dem 
Abendliede  vereinfacht.  Aber  auf  Grund  der  rhythmischen  Ver- 
schiedenheit erhält  jede  Melodie  gewissermaßen  ihr  eigenes  Kolorit. 
Die  Fassung  bei  Clodius  wirkt  mit  ihren  leichten,  beweglichen  Ach- 
teln und  den  oft  angewandten  punktirten  Noten  ungemein  zierlich  und 
schmeichelnd.  Sie  hat,  so  zu  sagen,  ein  weltliches  Gepräge  gegenüber 
dem  durch  die  gehaltenen  und  ununterbrochen  fortlaufenden  halben 
Noten  herbeigeführten  ruhigen  und  gemessenen  Verlauf  des  geist- 
lichen Abendlied^.  Es  fragt  sich,  welcher  Rhythmus  der  ursprüng- 
liche war.  Man  sollte  zunächst  meinen,  der  ruhigere  sei  das  An- 
fangliche. Aber  gerade  dieses  Clodius'sche  Lied  »Sie  schiäffet 
schon«  wird  oft  als  Ton  für  andere  genannt^  und  so  ist  doch  wohl 
seine  Fassung  die  ältere.  Warum  sollten  auch  nicht  in  derselben 
Weise,  wie  weltliche  Melodien  früherer  Jahrhunderte  im  17.  Jahr- 
hundert zu  Chorälen  umgewandelt  wurden,  weltliche  Melodien  dieses 
Jahrhunderts  im  18.  und  19.  Jahrhundert  zu  geistlichen  Liedern 
verwendet  worden  sein! 


1  Vgl.  Beilage  XU  1. 


ß22  Wilhelm  Niessen, 


c.    Melodien^  die  ausschließlich  Volksmelodien  sind. 

Wir  wenden  uns  nunmehr  denjenigen  Liedern  zu,  deren  Melodien 
unbedingt  als  Volksweisen  zu  bezeichnen  sind.  Zuerst  kommen  solche 
in  Betracht,  die  mit  den  von  Clodius  dazu  gesetzten  Texten  ander- 
weitig nachzuweisen  sind.  Im  Anschluß  daran  ist  auf  diejenigen 
einzugehen,  denen  bei  Clodius  neue  Texte  untergelegt  sind.  Endlich 
soUen  die  in  Instrumentalkompositionen  verwertheten  Weisen  vorge- 
führt werden. 

Wir  beginnen  mit  der  ersten  Nummer  des  Liederbuches:  »Es 
fuhr  ein  Bauer  ins  Holz.«  Schon  bei  der  literarischen  Würdigung 
wurde  auf  das  hohe  Alter  dieses  Textes  aufmerksam  gemacht  und 
dabei  auf  die  zweifache  Gestaltung  desselben  hingewiesen.  Ebenso 
giebt  es  nun  2  verschiedene  Arten  von  Melodien  dazu,  die  eine  zu 
dem  Texte,  wie  er  auch  bei  Clodius  vorliegt,  die  andere  zu  dem 
Kinderliede:  »Es  fuhr  ein  Bauer  ins  Kürbisholz.a  F.  M.  Böhme  hat 
im  »Altdeutschen  Liederbuche«  auf  S.  587/589  von  der  ersten  Form 
die  verschiedenen  Phasen  der  Entwicklung  angegeben;  danach  geht 
sie  bis  in  das  15.  Jahrhundert  zurück.  Die  letzte  Gestaltung  der 
Melodie,  die  Böhme  mittheilt,  stammt  aus  dem  Jahre  1611  und  findet 
sich  in  Melchior  Francks  Fasciculus  Quodlibeticus,  Cobui^  1611, 
No.  2.  Die  bei  Clodius  aufgezeichnete  ist  dieser  sehr  ähnlich:  sie 
ist  aber  noch  etwas  weiter  ausgeführt  und  wohl  später  anzusetzen, 
als  alle  die  von  Böhme  mitgetheilten.  Immerhin  aber  ist  der  eigent- 
liche, alte  melodische  Kern  auch  in  dieser  Fassung  deutlich  zu  er- 
kennen, wir  haben  demnach  in  der  ersten  Nummer  unserer  Hand- 
Schrift  in  der  That  eine  sehr  alte  Volksweise  vor  uns.  Über  ein 
Vorkommen  derselben  im  18.  Jahrhundert  oder  noch  später  konnte 
ich  nichts  ermitteln.  Dagegen  seien  noch  zwei,  wohl  unbekannte 
•  Quellen  aus  früherer  Zeit  angegeben.  Zunächst  eine  Liedersammlung 
aus  dem  16.  Jahrhundert:  »Newe  Teutsche  Geistliche  und  Weltliche 
Liedlein  mit  viem,  fünff,  sechs,  siben  und  acht  stimmen  etc.  durch 
Christianum  HoUandum.  München  1570.«  Daselbst  steht  als  No.  19 
das  Lied:  »Es  fuer  ein  bawer  ins  Holtz.«  Von  dieser  Sammlung 
sind  nur  der  Altus  und  Tenor  noch  vorhanden^  so  daß  man  über  die 
Melodie  nichts  recht  Bestimmtes  sagen  kann.  Aus  der  Gestaltung 
der  beiden  anderen  Stimmen  ist  aber  zu  schließen,  daß  dieselbe  auch 
aus  dem  gleichen  Ursprünge,  wie  die  übrigen  hervorgegangen  ist; 
nur  ist  sie   viel  weiter  ausgesponnen  und  ganz  kontrapunktisch  be- 


1  Auf  d.  Kgl.  Bibl.  zu  Berlin. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  ß23 

handelt.  Eine  andere  Fassung  läßt  sich  aus  dem  Jahre  1611  nach- 
weisen^ nämlich  in  M.  Ambrosius  Metzgers  »Venusbliimleint,  erster 
Theil  Nürnberg  No.  IV  (»Es  fuhr  ein  Wirth  ins  Häv,  Bat  die  Frow 
den  Kellner  «1.  Die  hier  nur  noch  vorhandene  Tenorstimme  ^  be- 
rechtigt  zu  der  Annahme,  daß  die  eigentliche  Melodie  wohl  der  üb- 
lichen ähnlich  gewesen  ist. 

Wir  kommen  zu  einem  Liede  (No.  4  S.  4):  »Hey  Mutter  der  Finck 
ist  todt«,^  von  dem  allerdings  ältere  Quellen  nicht  anzugeben  sind; 
dagegen  befinden  wir  uns  in  der  angenehmen  Lage,  das  häufige  Vor- 
kommen desselben  in  der  Gegenwart  zu  erweisen.  Die  in  der  Beilage 
mitgetheilte  Faßung  aus  neuerer  Zeit  zeigt  deutlich  denselben  Ur- 
sprung, wie  diejenige  bei  Clodius. ^  Besonders  beachtenswerth  er- 
scheint hierfür  die  fast  gleiche  Gestaltung  der  so  charakteristischen 
Anfitngsphrase ,  die  in  ihrer  heutigen  Form  etwas  von  der  urwüch- 
sigen Kraft  ihrer  Faßung  bei  Clodius  verloren  hat.  Noch  mehr  tritt 
eine  solche  Schwächung  im  Ausdruck  bei  einer  anderen  Lesart  der- 
selben Melodie  ein,  die  Erk  nach  mündlicher  Überlieferung  in  seinem 
Nachlaß  (Bd.  41.  S.  39)  mittheilt.  Hier  wird  das  knappe  und  kräf- 
tige Anfangsmotiv  zu  doppelter  Länge  auseinandergezogen  und  dann 
nicht  mit  gleicher  Tonfolge,  sondern  mit  wesentlichen  Änderungen 
wiederholt.  Vor  allem  muß  aber  noch  hervorgehoben  werden,  daß 
diese  Melodie  bei  Clodius  als  Thema  zu  einem  dreistimmigen  Canon 
benutzt  wird  und  infolgedeßen  von  einer  Wiederholung  des  An- 
fEuigsmotivs,  die  in  den  modernen  Fassungen  am  Schluße  stets  ein- 
tritt, abgesehen  ist.  Der  Canon  selbst  ist  nicht  ausgeführt;  dagegen 
wird  der  Einsatz  der  folgenden  Stimmen,  der  regelmiJbßig  nach  je 
vier  Vierteln  erfolgt,  durch  das  Zeichen  » »z* «  angedeutet.  Zu  dem 
Ganzen  ist  ein  in  seiner  starren  Gleichförmigkeit  sehr  humoristisch 
wirkender  Basso  ostinato  gesetzt. 

Genau  nach  demselben  Prinzip  gebildet  ist  ein  anderes,  ebenfalls 
canonisch  gehaltenes  und  auch  noch  heute  vorkommendes  Lied, 
No.  26  (S.  30.)  »Drey  Gänß  in  Haber  Stroh.«^  Die  bei  Clodius  dazu 
gesetzte  Melodie  ist  in  der  Gegenwart  nicht  nachzuweisen,  während 
der  gleiche  Text  unzählige  Male  angetroffen  wird.  Die  heute  zu 
demselben  gesungenen  Melodien  (die  alle  einen  gleichen  Ursprung 
haben)  weichen  ganz  und  gar  von  der  unsrigen  ab.^ 


1  Ebenda. 

2  Vgl.  Beilage  XHI. 

a  Vgl.  Beilage  XIII  1. 

<  Vgl.  BeUage  XIV. 

s  Eine  dieser  Melodien  ist  in  der  Beilage  XIV  1  mitgetheilt. 


524  Wilhelm  Niessen, 


XJbrigens  ist  wenigstens  der  Anfang  des  Textes  bereits  im 
16.  Jahrhundert  nachweislich  in  Musik  gesetzt  worden,  in  »Bartho- 
lomäus' Kriegers  Spiel  von  den  bäurischen  Richtern  und  dem  Lands- 
knecht.« 1580.  (Neu  herausgegeben  von  Johannes  Bolte,  Leipzig 
18S4.)  In  diesem  Stück  werden  in  der  5.  Scene  des  5.  Aktes  die 
beiden  ungerechten  Kichter  durch  Satan  abgeführt,  und  dazu  wird 
auf  dessen  Befehl  ein  Teufelsgesang  angestimmt.  Derselbe  beginnt 
mit  den  Worten :  »/«  duro  Jubilo  Nu  singet  und  seid  fro«  und  ist  (wie 
Bolte  bemerkt)  eine  Parodie  des  alten  lateinisch-deutschen  Weihnachts- 
liedes: nln  dulci  iubilo.a  Die  uns  hier  speziell  interessirende  2.  Strophe 
hat  folgenden  Wortlaut: 

))/n  duro  Jubilo 

Drey  Genss  im  Haberstro 

Die  Hünner  Eyr  und  Fladen 

Vorate  ff  audio, 

Für  fett  heisch  Fewr  wir  laden, 

X.  Z.  F.  G.  et  O. 

Frest,  saufit  und  seid  nur  froa. 

Die  Musik  dazu  ist  nach  Boltes  Annahme  wohl  von  dem  Trebbiner 
Organisten  Bartholomäus  Krüger  selbst  angefertigt  und  in  ihrem  Satze 
(vierstimmig  für  Sopran,  Alt,  Tenor,  Baß)  nicht  gerade  sehr  kunst- 
gerecht gerathen. 

Einen  Canon  haben  wir  femer  in  No.  22  (S.  24)  »Heythumb 
Fiedelmanns  Locken.«  Derselbe  geht,  wie  die  anderen,  in  Fdur  und 
ist  als  dreistimmig  bezeichnet.  Besonders  zu  erwähnen  ist,  daß  die 
Melodie  nuf  aus  Tönen  des  Fdur  Dreiklangs  besteht,  und  fernerhin 
dem  Ganzen  als  Bassus  Continuus  der  Ton  F  zu  Grunde  liegt.  Das 
letztere  wird  durch  folgende  Bemerkung  angedeutet:  »Bassistae  F 
ffrummiuntv  Eine  derartige  Angabe  kennzeichnet  das  Liederbuch  des 
Clodius.  Aus  der  Studentenschaft  allein  konnte  ein  solcher  Humor 
im  Wort-Ausdruck  hervoi^ehen.  Man  begnügte  sich  aber  bei  An- 
wendung solcher  Wörter  nicht  mit  einem  einzigen.  Das  beweist  uns 
das  kurz  zuvor  besprochene  Beispiel  »Drey  Gans  etc.a,  woselbst  eben 
dieses  Aushalten  des  tiefen  F  wieder  anders  angedeutet  wird,  nämlich 
durch:  nBassistae  F murmurantd  Ein  weiteres  Merkmal  dieser  Melo- 
die liegt  auch  in  ihrem  entschiedenen  Einsatz  auf  der  Quinte  C, 
wodurch  das  auQauchzende  »Heye  besonders  lebhaft  [markirt  wird, 
ähnlich  wie  bei  »Hey  Mutter  der  Fink  ist  todt.«r 

Von  derselben  Lebhaftigkeit  ist  das  gleichfalls  canonartig  ge- 
haltene Lied  No.  34  (S.  46)  »Hanso,  haste  nich  meine  Gritha  gesehn  ?c^ 


1  Vgl.  Beilage  XV. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  g25 

Mit  eilender  Hast  wird  diese  so  »gewichtigecr  Frage  musikalisch  vor- 
getragen« Die  Antwort:  »Dorte  sah  sie  stehn,(t  erfolgt,  indem  die 
dazugehörige,  aus  4  aufwärts  eilenden  Achteln  und  einer  aufhalten- 
den halben  Note  bestehende  Tonfolge  4  Mal  hinter  einander  ertönt, 
und  daran  sich  eine  ebenfalls  4  Mal  gebrachte,  plötzlich  aus  2  tiefen 
BaBtönen  gebildete  Tonphrase  zu  dem  Worte  »Hanso«  anschlieBt. 

Außer  den  genannten  Kinderliedem  ist  nun  noch  eine  ganze 
Beihe  anderer  vorhanden,  die  aber  nur  die  von  Kindern  gesungenen 
Melodien  geben,  während  die  zugehörigen  Texte  durchaus  studen- 
tischen Charakter  tragen. 

Beginnen  wir  mit  einem  gleichfalls  canonisch  gebildeten  Liede, 
No.  15  (S.  20.)  »Hey  kade  wiede  wade.^c  Dasselbe  ist  insofern  ver- 
schieden von  den  anderen  Canons  gestaltet,  als  außer  der  das  Thema 
eines  fünfstimmigen  Satzes  bildenden  Melodie  und  dem  hier  in  Noten 
ausgeführten,  aber  immer  nur  F  angebenden  Baß  noch  eine  zweite 
selbstständig  und  sehr  interessant  gebildete  Stimme  neben  der  Ober- 
stimme einher  geht.  Über  die  Ausfuhrung  des  eigentlichen  Canons 
haben  wir  hier  einmal  eine  direkte  Bemerkung  des  Clodius:  liJn 
unisono  out  octava  inter  repetendum  pausae  priores  omittuntur.v  Die 
hier  vorliegende  Melodie  scheint  in  Zusammenhang  mit  einem  unserer 
beliebtesten  Wiegenlieder  zu  stehen,  mit:  »Eia,  popeia,  was  raschelt 
im  Stroh.«  Wie  wir  von  diesem  Texte  die  denkbar  verschiedenar- 
tigsten Varianten  besitzen,  so  können  wir  auch  von  der  zugehörigen 
Weise  alle  nur  möglichen  Formationen  anführen.  In  der  Beilage 
ist  die  der  unsrigen  ähnlichste  wiedergegeben.^  Es  kommen  für 
einen  Vei^leich  nur  die  ersten  8  Takte  (bis  zum  Zeichen  0.-)  in 
Frage,  da  der  folgende  zweite  Theil  bei  Clodius  nicht  vorhanden  ist. 
Derselbe  ist  als  ein  später  hinzugekommener  Zusatz  anzusehen  und 
fehlt  übrigens  bei  den  meisten  anderen  Melodiegestaltungen  zu  »Eia 
popeia  V.  Zunächst  sind  die  je  ersten  3  Takte  beider  Melodien  völlig 
gleich,  dagegen  fehlt  in  der  heutigen  Gestaltung  im  4.  Takt  der  so 
charakteristische  Sprung  von  der  Sexte  zur  Terz.  Dafür  lauten  dann 
die  je  fünften  Takte  wieder  gleich,  während  andererseits  der  Schluß 
beide  Male  verschieden  gebildet  ist.  Jedoch  ist  wohl  das  unbe&ie- 
digende  Ende  auf  der  Quinte  in  der  Melodie  bei  Clodius  absichtlich 
zu  Gunsten  der  canonischen  Weiterführung  angewandt  worden. 
Daher  ist  anzunehmen,  daß  ursprünglich  ein  gleicher  Schluß,  wie  in 
der  von  Erk  mitgetheilten  Weise  vorgelegen  hat.  Die  Übereinstimmung 
der  je   3   ersten  Takte  ist  sicherlich  keine  zufällige«    Ich  weise  vor 


1  Vgl.  BeiUge  XVI. 

2  Vgl.  Beüage  XVI.  1 . 


626  Wilhelm  Niessen, 


allem  auf  den  QuinteDsprung  vom  2.  zum  3.  Takte  und  auf  die  sich 
daran  eng  anschließende,  kräftig  hervortretende  Sexte  hin.  Eine 
derartige  melodische  Wendung  kann  man  wohl  nicht  als  eine  rein 
Conventionelle  bezeichnen.-  Wir  können  somit  die  interessante  That- 
sache  feststellen,  daB  Melodien,  die  in  der  Gegenwart  fast  aus- 
schließlich aus  dem  Munde  der  Kinder  ertönen,  vor  mehr  denn  200 
Jahren  dazu  dienten,  die  frohe  Laune  und  den  kecken  Ubermuth 
fröhlicher  Zecher  zu  erregen  und  zu  steigern. 

Zur  weiteren  Bestätigung  des  eben  gesagten  möge  ein  anderes 
Beispiel  herangezogen  werden,  in  No.  61  (S.  88)  »Also  spricht  die 
Welt«i  und  No.  82  (S.  120)  »Hopgen,  hop,  hop,  he.«»  Die  Melo- 
dien dieser  beiden  Lieder  sind,  abgesehen  von  ganz  geringen  Unter- 
schiede, übereinstimmend. 

Wir  finden  nun  diese  Melodie  noch  heute  mit  einer  großen 
Anzahl  von  Varianten  im  Volksmunde  lebend  vor.  Aus  keiner  an- 
deren Melodie  dürfte  eine  so  große  Masse  von  Neubildimgen  hervor- 
gegangen sein.  Ein  einigermaßen  vollständiges  Bild  gewähren  die 
Erkschen  Sammelbände.  Er  bringt  meistens  den  allbekannten  Text: 
»Schlaf  Kindchen  schlaf«  oder  plattdeutsch:  »Schloap  Kinneken, 
schloap.«  Aber  auch  eine  ganze  Reihe  anderer  Texte  sind  dieser 
Weise  untergelegt;  ich  habe  etwa  40  völlig  verschiedene  gesählt 
Die  gebräuchlichsten  sind  noch:  »Zieh,  Schimmel,  zieh,«  »Maikäfer 
flieg,  <c  » Ba ,  Lämmchen ,  ba^  «r  » Ringel ,  ringel ,  reihdi,  «  »  Tanz, 
Püppchen,  tanz,«     »Ru  ru  rineken,«  u.  s.  f. 

Allen  diesen  Texten  ist  gemeinsam,  daß  sie  am  Anfang  und  am 
Schlüsse  eine  im  Wordaut  übereinstimmende,  metrisch  immer  gleiche 
Versreihe  haben,  zwischen  die  dann  zwei  etwas  längere,  sich  reimende 
Zeilen  gelegt  sind.  Dem  entsprechend  ist  nun  die  Melodie  gebildet 
Sie  geht  meist  im  ^4  Takt  und  zeigt  am  Anfang  und  am  Schluß  eine 
gleichlautende,  zweitaktige  Phrase,  die  am  Anfang  wiederholt  ist. 
Diese  bildet  fast  überall  (so  auch  bei  Clodius)  einen  von  der  Ten 
stufenweise  nach  dem  Grundtone  sich  bewegenden  Gang.  Zwischen 
diesen  beiden  Eckpfeilern  liegt  als  Mitteltheil  eine  viertaktige  Periode, 
die  bei  den  einzelnen  Melodien  die  verschiedenartigsten  Bildungen 
aufweist.  Bei  Clodius  sind  in  diesem  Mitteltheil  Takt  1  +  2  gleich 
Takt  3  +  4.  In  der  Beilage  sind  die  bezeichnendsten  Gestaltungen 
der  Melodie  mitgetheilt.  ^  In  Nr.  l  ist  der  Mitteltheil  so  gebildet, 
daß  die  4  Takte  desselben  unter  einander  verschieden  sind,  jedoch 


1  Vgl.  Beilage  XVn. 

2  Vgl.  Beilage  XVÜI. 

3  Vgl.  Beilage  zu  XVII  und  XVIH.  Nr.  1  —  Nr.  11. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  627 


SO,  daß  melodisch  sich  Takt  1  +  2  und  3  +  4,  harmonisch  sich  Takt 
1  und  4,  Takt  2  und  3  entsprechen.  Gerade  diese  Form  ist  eine 
sehr  gebräuchliche.  Außerdem  bemerken  wir  eine  vorübergehende, 
bei  Clodius  fehlende  kleine  Verbindung  zwischen  dem  Anfangsmotiv 
und  der  Wiederholung.  Bei  Nr.  2  tritt  diese  Verbindung  in  Gestalt 
der  Quinte  viel  bestimmter  hervor.  Der  Mitteltheil  ist  daselbst  im 
Prinmp  ganz  wie  bei  Nr.  1  gestaltet,  nur  ist  in  Takt  6  und  8  neu 
ein  scharf  markierter  Sekundenschritt  je  am  Anfang  des  Taktes.  Ge- 
rade hierin  liegt  ein  entschiedener  Gegensatz  zu  der  Melodiefassung 
bei  Clodius.  Bei  diesem  wird  gleich  von  dem  Schluß-C  des  fünften 
Taktes  in  das  B  gegangen,  während  hier  das  C  noch  einmal  recht 
energisch  angestimmt  wird.  In  der  folgenden  Nr.  3  wird  zunächst 
die  Anfangsphrase  nicht  einfach  wiederholt,  sondern  eine  Terz  höher 
gelegt,  dem  entsprechend  ist  der  formell  den  bisherigen  gleiche  Mittel- 
theil ebenfalls  erhöht.  Nr.  4  zeigt  in  der  Mittelperiode  eine  Art  Ver- 
mischung zwischen  den  entsprechenden  Theilen  von  Nr.  t  und  Nr.  2. 
Als  wesentliche  Aenderung  tritt  hier  eine  Erscheinung  hinzu,  die  uns 
in  der  Mehrzahl  der  folgenden  Beispiele  begegnen  wird.  Aehnlich 
dem  Vorgang  in  Nr.  2  wird  eine  Verbindung  zwischen  dem  Anfang 
und  dessen  Wiederholung  hergestellt  und  zwar,  wie  dort,  durch  die 
Quinte,  aber  durch  die  unterhalb  des  Grundtones  liegende  Quinte 
der  Tonart.  Nr.  5  zeichnet  sich  vor  allem  durch  eine  reichere  Rhyth- 
mik aus.  In  Nr.  6  wird  die  Aehnlickkeit  mit  der  Clodius'schen 
Fassung  dadurch  verstärkt,  daß  Takt  1,  resp.  Takt  3  des  Mitteltheila 
ganz  gleichlautend  den  dort  entsprechenden  Takten  sind.  Im  Gegen- 
satz dazu  sind  bei  der  folgenden  Nr.  7  der  2.,  resp.  4.  Takt  aus  der 
Mitte  den  entsprechenden  bei  Clodius  gleich.  Nr.  8  bietet  wieder 
eine  neue  Erscheinung.  Vergleichen  wir  nämlich  diese  mit  Nr.  82 
der  Handschrift,  so  sehen  wir,  daß  in  der  modernen  Fassung  einfach 
eine  Umstellung  der  Mitteltakte  vorgenommen  ist,  namentlich  in 
harmonischer  Hinsicht.  In  zweifacher  Beziehung  interessant  ist  Nr.  9. 
Einmal  sehen  wir  hier  zum  ersten  Male  eine  andere  Taktart,  den 
«/g  Takt,  angewandt,  und  femer  sind  hier  nicht  nur  Takt  5  +  6  =  7  +  8, 
sondern  dieselben  sind  alle  unter  einander  gleich.  Außerdem  be- 
stehen sie  nur  aus  den  Tönen  des  F-Dur  Dreiklangs  mit  flüchtiger 
Einschiebung  der  Sexte  D.  In  Nr.  10  haben  wir  die  größte  Ueber- 
einstimmung  mit  dem  Mitteltheil  von  Nr.  82  der  Handschrift;  nur 
die  2.  Note  im  5.,  resp.  7.  Takte  lautet  verschieden.  Dagegen  weicht 
das  hier  angewandte  Anfangsmotiv  von  allen  bisherigen  Fassungen 
bedeutend  ab.  Diese  Melodie  setzt  nicht,  wie  gewöhnlich  mit  der 
Terz  ein,  sondern  mit  der  Quinte  und  springt  gleich  mit  zwei  leichten 
Sechzehnteln   schnell  über  die  Terz  hinweg   in   den  Grundton.     In 


ß28  Wilhelm  Niessen, 


Nr.  11  endlich  begegnen  wir  einer  abweichenden  Gestaltung  des 
Mitteltheils:  der  Tonumfang  wird  hier  auf  eine  Oktave  ausgedehnt, 
während  er  sonst  meist  geringer  ist,  gewöhnlich  nur  das  Intervall 
der  Quinte  umfasst.  Uebrigens  ist  bei  diesem  Liede  auch  der  SchluB 
nicht  gleichlautend  dem  Anfang,  und  dabei  vor  allem  die  nur  hier 
vorkommende  Beendigung  mit  der  Terz  bemerkenswerth. 

Diese  wenigen  Proben  mögen  genügen,  um  uns  eine  Vorstellung 
davon  zu  geben,  wie  das  Volk  an  einer  Volksweise  arbeitet,  wie  es 
nach  jeweiligem  Belieben  Aenderungen  der  verschiedensten  Art  mit 
einer  solchen  vornimmt.  Wir  können  eine  vollständige  Geschichte 
der  Entwicklung  der  vorliegenden  Melodie  nicht  geben,  da  Beispiele 
aus  dem  18.  Jahrhundert  gänzlich  fehlen.  Dagegen  können  aus  dem 
17.  Jahrhundert  noch  einige  Belege  beigebracht  werden. 

Melchior  Franck  giebt  eine  Bearbeitung  der  Weise  in  seinem: 
»Newen  Teutschen  Musikalischen  Fröhlichen  Convivium.  Coburg. 
1621,  Nr.  34,  8  vocum.«  Das  Ganze  ist  eine  Komposition  für  2  Chöre, 
die  streckenweise  nach  einander  und  dann  wieder  zusammen  singen 
zu  dem  Texte:  »Zeuch  Fahle  zeuch«  etc.  Der  Anfang  hat  zunächst 
mit  der  bewussten  Melodie  nur  den  Rhythmus  gemeinsam.  Zu  den 
Worten  »Morgen  wolFn  wir  Haber  dreschn«  ertönt  dann  eine  dem  üb- 
lichen Mitteltheile  ähnlich  klingende  Tonphrase,  bis  schließlich  auf 
die  Wiederholung  von  »Zeuch  Fahle  zeuch«  das  bekannte  Anfangs- 
motiv fällt.  Dieses  singt  aber  vorerst  nur  der  2.  Chor,  während  der 
1.  einen  eigenen  Melodiegang  bildet;  8  Takte  später  aber  wird  es 
von  beiden  Chören  »unisono«  vorgetragen.  In  abwechselnder  Reihen- 
folge werden  nun  diese  verschiedenen  Melodietheile  mehrfach  vorge- 
bracht, und  auf  die  Weise  ein  ganz  interessantes,  nicht  übel  klingen- 
des Tonstück  geschaffen. 

Anfang  und  Schluß  dieser  Melodie  waren  als  sichere  Grundstützen 
derselben  fest  und  unerschütterlich  bestimmt,  während  in  dem  weniger 
festgefügten  Mitteltheile  der  Phantasie  ein  weiterer  Spielraum  gelassen 
wurde.  Das  Vorkommen  dieser  Melodie  bei  Franck  beweist,  daß 
sie  sicher  schon  aus  dem  16.  Jahrhundert  stammt. 

Ein  anderer  nicht  weniger  berühmter  Liedmeister  jener  Zeit, 
Daniel  Friderici,  benutzte  ebenfalls  dieselbe  Melodie.  Zeugniß  davon 
giebt  uns  eine  noch  vorhandene  Alt -Stimme  zu  folgendem  Werke 
»Newe  Avisen  oder  Lustiges  und  gantz  kurtzweiliges  Musikalisches 
Quodlibet  etc.     Rostock  1635.«^     Ein  Fragment  daraus  lautet: 


^Hr  r  r  r  I  '^^ttTTjrrr-m c  k  r\"  n 


Zeuch  f ah -le    zeuch  Mor-gen  vilP  wy  Ha- ver  treschen Zeuch  fah-le  leuch. 


1  Auf  d.  Kgl.  Bibl.  zu  Berlin. 


Das  Liederbach  des  Leipziger  Studenten  Clodius. 


629 


Danach  muß  die  Oberstimme  unserer  Melodie  sehr  ähnlich  ge- 
wesen sein.  Vielleicht  war  sie  wie  folgt  gestaltet,  (wobei  für  die 
beiden  ersten  Takte  nur  zweistimmiger  Gesang  angenommen  wird): 


E^ 


^ 


u 


E 


f  r  r  I  ^'-tT-rT 


t 


^ 


Am  Ende  dieser  Betrachtungen  möge  eine  Melodie  aufgezeichnet 
werden,  die  ebenfalls  am  Anfang,  aber  auch  am  Schluß  anders,  als 
gewöhnlich  lautet  und  wiederum  in  ihren  Mitteltakten  ganz  ähnlich 
gebaut  ist,  wie  bei  Clodius.  Beachtenswerth  ist  dabei,  daß  hier  das 
Anfangsmotiv  nicht  mit  der  Terz,  sondern  (wie  in  dem  Beispiele  Nr.  10 
der  Beilage)  mit  der  Quinte  einsetzt  und  gewissermaßen  mit  seinem 
beweglichen  Rhythmus  eine  Variation  jenes  bekannten,  in  sich  fest 
abgeschlossenen,  Tonganges  bildet.    Hier  ist  die  Melodie  selbst: 


O^r.  i^D  gj*  f>  jiij;|f  ^ '^C.r  Pl^Jf  ^  g  g  g-g 


')  ^  C  P  p  f.  0  M  ^ 


£ 


o:r  ^f^t  en^^^ 


Ich  habe  dieselbe  in  einem  handschriftlichen  Liederbuche  aus 
dem  17.  Jahrhundert  (Ms.  Germ,  octav  230,  Kgl.  Bibl.  Berl.)  auf 
pag.  213  mit  einem  schwer  zu  lesenden  plattdeutschen  Texte  gefunden. 

Bei  genauer  Betrachtung  des  Anfangs  (resp.  des  Schlusses)  be- 
merken wir  nun,  daß  derselbe  (mit  geringen  Ausnahmen)  genau  so 
gestaltet  ist,  wie  derjenige  der  in  der  Beilage  mitgetheilten,  heute  ge- 
sungenen Melodie  zu  »Drey  Gans  im  Haberstroh«.  Wir  haben  also 
hier  ein  Beispiel  vor  uns,  in  welchem  die  Elemente  zweier  sehr 
beliebter  Volksweisen  mit  einander  verwoben  sind,  und  ersehen  daraus, 
in  einem  wie  nahen  verwandtschaftlichen  VerhältniB  diese  kleinen 
Tonf^bilde  unter  sich  stehen.  Wir  nehmen  damit  Abschied  von 
dieser  so  weit  verbreiteten  und  weitverzweigten  Melodie  und  gehen 
zu  einer  nicht  viel  weniger  bekannten  und  beliebten  Weise  über. 

Dieselbe  ist  zu  2  Texten  der  Handschrift  benutzt  worden,  näm- 
lich zu  Nr.  50    (S.  68)    »Es  ging  ein  Mönch  ins  Oberland  a^  und  zu 


1  Vgl.  Beilage  XIX. 


530  Wilhelm  Niessen, 


Nr.  62  (S.  90)  »Der  Sperling  ist  ein  Wunderding«.*  Wir  erhalten 
aber  damit  nicht  2  völlig  übereinstimmende  Melodien,  da  die  je  zweiten 
Theile  gänzlich  verschieden  sind.  Insofern  aber  die  gemeinschaft^ 
liehen  ersten  Hälften  charakteristische  Tonfolgen  aufweisen,  müssen 
wir  sie  als  aus  einer  Quelle  hervorgegangen  betrachten.  Das  wird 
uns  umsomehr  einleuchten,  wenn  wir  die  Bildungen,  die  diese  Melodie 
allmählich,  namentlich  in  unserem  Jahrhundert,  angenommen  hat,  ins 
Auge  fassen.  Wir  werden  da  stets  den  ersten  Theil  (abgesehen  von 
unwesentlichen  Aenderungen)  so  antreffen,  wie  er  uns  bei  Clodius  ent- 
gegen tritt,  während  der  zweite  Theil  (ähnlich  dem  Mitteltheil  der 
vorigen  Weise)  die  mannigfaltigsten  Umwandlungen  aufiveist.  Auch 
zu  dieser  Melodie  sind  alle  nur  möglichen  Texte  vorhanden.  Die 
wichtigsten  sind  in  der  Beilage  mit  den  hervortretendsten  melodischen 
Gestaltungen  wiedergegeben.^ 

An  die  Spitze  dieser  Beispiele  ist  das  unter  Nr.  1  aufgezeichnete 
Lied  deshalb  gestellt,  weil  es  nur  aus  jenem,  allen  folgenden  zumeist 
gemeinsamem  Anfangstheil  besteht  und  somit  gewissermaßen  die  Grund- 
form repräsentirt.  Es  unterscheidet  sich  wesentlich  dadurch  von  der 
Fassung  bei  Clodius,  daß  sowohl  der  Auftakt,  als  auch  der  erste 
Theil  des  folgenden  Taktes  nicht  mit  dem  Grundton,  sondern 
mit  der  Quinte  anheben.  Dasselbe  bemerken  wir  auch  bei  Nr.  2, 
jedoch  wird  hier  nur  auf  dem  Auftakt  die  Quinte  gebracht,  während 
die  folgende  Note  mit  der  entsprechenden  bei  Clodius  übereinstimmt. 
Uebrigens  sind  in  dieser  Weise  fast  alle  Anfänge  der  folgenden  Bei- 
spiele gebildet.  Bei  Nr.  2  interessiert  uns  außerdem  die  Bildung 
des  4  Takte  zählenden  zweiten  TheUs.  Dieser  ist  einfach  dadurch 
entstanden,  daß  Anfang  und  Schluß  eines  anderen  Liedes  vereinigt  hier 
angehängt  sind.  Jenes  Lied  ist  aber  unser  bekanntes  »Drey  Gans  in 
Haberstroh«,  dessen  Anfangs- und  Schlußmotiv  wir  schon  einmal  an  einer 
zweiten  Stelle  benutzt  sahen.  Unsere  bei  der  Gelegenheit  von  der 
Verwandtschaft  der  Volkslieder  aufgestellte  Behauptung  erföhrt  also 
durch  den  gegenwärtigen  Fall  eine  erhöhte  Bekräftigung.  Anderer- 
seits aber  ersehen  wir  daraus,  wie  wenig  sicher  der  zweite  Theil  der 
uns  augenblicklich  beschäftigenden  Melodie  festgestellt  war,  wenn 
derselbe  mit  solcher  Leichtigkeit  durch  Einführung  fremder  Melodie- 
glieder gebildet  werden  konnte.  Höchst  monoton  und  steif  ist  dieser 
zweite  Theil  in  Nr.  3  ausgefallen.  Auch  bemerken  wir  im  ersten 
Theile  erhebliche  Abweichungen  von  den  gewöhnlichen  Gestaltungen. 
Zunächst  ist  hervorzuheben,  daß  die  Melodie,  die  mit  Beginn  des  2. 


1  Vgl.  Beilage  XX. 

2  Vgl.  Beilage  zu  XIX  und  XX.  Nr.  1—13. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  g31 

Taktes  (den  Auftakt  abgerechnet)  sonst  sofort  abwärts  geht,  hier  auf 
dem  Grundton  liegen  bleibt  und  somit  mit  dem  nächsten  Ton  das 
Intervall  der  Terz  bildet.  Im  3.  und  4.  Takt  trittt  aber  eine  noch 
größere  Unterbrechung  der  gewöhnlich  stufenweisen  MelodiebUdung 
ein,  indem  daselbst  nicht ,  wie  sonst ,  allmählich  in  die  Oktave  des 
Grundtons  hineingeleitet  wird.  Diese  wird  vielmehr  sofort  mit  einem 
Quartensprung  nach  oben  genommen,  und  dann  der  frei  gewordene 
Rest  der  betreffenden  2  Takte  einfach  durch  die  einzelnen  Töne  des 
Grunddreiklangs  ausgefüllt.  In  Nr.  4  ist  eine  Aenderung  des  An- 
fangstheils  durch  kleine  anmuthige  melodische  Biegungen  der  stufen- 
weisen Tonfolge  herbeigeführt  worden.  Der  zweite  Theil  ist  wieder 
ganz  anders  gebildet,  verhältnissmäßig  weit  ausgedehnt  und  rhythmisch 
sehr  bewegt.  Zu  diesem  Beispiel  bildet  gewissermaßen  Nr.  5  einen 
Gegensatz,  insofern  hier  im  ersten  Theile  die  dort  bemerkten  melo- 
dischen Biegungen  in  der  Gegenbewegung  erfolgen.  Andererseits  ist 
Nr.  5  selbst  wieder  der  folgenden  Nr.  6  gegenüberzustellen,  und 
zwar  hinsichtlich  des  Schlußtheils.  Derselbe  zeigt  in  jenem  Falle  die 
denkbar  einfachste  Gestalt,  in  diesem  ist  er  so  kompliciert,  vne  sonst 
nirgends  ausgefallen.  Nr.  7  bringt  uns  den  Anfangstheil  in  der  üb- 
lichen Gestalt,  aber  aufgelöst  in  schnell  auf  einander  folgende  Achtel. 
Um  so  wirksamer  tritt  dann  die  zweite  Hälfte  mit  ihren  auf- 
haltenden halben  Noten  hervor.  Nr.  8  unterscheidet  sich  dadurch 
von  den  übrigen  Beispielen,  daß  die  erste  Hälfte  des  ersten  Theils, 
die  immer  zweitaktig  ist,  hier  in  einen  Takt  zusammengezogen  ist, 
der  dann  wiederholt  wird.  Im  Gegensatz  hierzu  tritt  bei  Nr.  9  eine 
Aenderung  der  zweiten  Hälfte  des  Anfangstheils  hervor.  Während  näm- 
lich in  fast  allen  anderen  Fällen  die  Melodie  sich  an  dieser  Stelle 
nach  oben  wendet,  ist  sie  zunächst  hier  nach  unten  gerichtet  und 
geht  erst  in  dem  letzten  Takte  in  die  Höhe.  Allen  diesen  Beispielen 
war  gemeinsam  die  gerade  Taktart,  sei  es  nun  ^4  oder  ^/4  Takt. 
Wir  kommen  jetzt  zu  2  Nummern  (Nr.  10  und  11),  die  den  Ys  Takt 
aufweisen.  Im  übrigen  aber  bieten  sie  uns  in  ihrem  melodischen 
Verlauf  diejenige  Form,  die  wohl  jetzt  die  bekannteste  und  beliebteste 
der  vorliegenden  Melodie  ist.  Dies  gilt  vor  allem  für  den  zweiten 
Theil,  der  heute  allgemein  die  hier  verwendete  Tonfolge  aufweist, 
aber  ganz  anders  gestaltet  ist,  wie  der  entsprechende  der  Clodius*schen 
Fassungen.  Mehr  aber  noch,  als  die  beiden  Beispiele  10  und  11 
sind  die  beiden  letzten,  Nr.  12  und  13,  als  maßgebend  für  die 
heutige  Bildung  der  Melodie  anzusehen,  da  sie  vneder  die  originale 
Taktart,  nämlich  die  gerade  (2/4  Takt)  aufweisen.  Sie  bieten  uns  ge- 
wissermaßen das  Endergebniß  aller  der  Gestaltungen,  welche  diese 
Melodie  durchmachen  konnte  und  schließen  daher  gut  die  gegebenen 
lb9i.  42 


632 


Wflhelm  Niessen, 


Beispiele  ab.  Absichtlich  ist  das  Lied  »Ich  nehm  mein  Gläslein  in 
die  Hand«  an  das  Ende  gesetzt,  weil  es  ein  bekanntlich  heute  gern 
und  viel  gesungenes,  ausschließliches  Studentenlied  ist.  Wir  sehen 
daraus ,  daß  jene  Melodie  zu  Nr.  50  und  62  unserer  Handschrift 
nicht  nur,  wie  alle  die  mitgetheilten  Formationen  derselben  beweisen, 
allgemein  noch  in  der  Gegenwart  gesungen  wird,  sondern  ganz  be- 
sonders auch  unter  der  heutigen  Studentenschaft  (wenigstens  in  ihrem 
ersten  Theile)  sehr  bekannt  und  beliebt  ist.^ 

Es  sind  übrigens  aus  dem  17.  Jahrhundert  noch  2  Beispiele  für 
diese  Melodie  anzufahren.  Dieselben  entnehmen  wir  aus  dem  oben 
eingehend  besprochenen  »Musikalischen  Leuthe  Spiegele  Das  erste, 
weniger  markante  finden  wir  daselbst  im  6.  Stück  (»Ach  höret  neue 
Wunder  u.  s.  f.)  zu  den  Worten  »Denn  vorhin  hatt  ich  alles  gnug, 
braf  Geld  und  andre  Mittel«.  Wichtiger  erscheint  das  zweite  Bei- 
spiel, da  es  eine  weit  größere  Ähnlichkeit  mit  jener  Weise  hat. 
Daher  möge  es  auch  hier  aufgezeichnet  werden.  Es  steht  in  dem 
Spiegel  im  10.  Stück  (»Es  fliegen  deß  Abends  die  Vögel  zur  Ruhe.) 


[ii3<r,  h  r  M 


r-i^'  ^'  r-gi^ 


t 


I 


Zum   £  -  sei     hö  -  ret    wird    ein  Mann  der    sei -nem  schwängern  Weib 


U 


1 1  g-  t^Jh=^j  p  i'Tyt  t'  ^  n 


im  Hau-se     al  -  les    holt    und  trägt    da -mit   sie  nur    ver- bleib    bey 


IIa  p'  g  C  C  |=|_g_gL-C 


?c 


M^ 


3^ 


sol-cher  Bür- de  un  -  er-zömt  und  sich  ein  -  mal  -  len  bück     be  -  sor  -  gend 


^  p  p  L^^S-j:  p  f,  ^^ 


daß  durch  ein    Ge-schäft   sie    ihr      et  -  was    ver  -  rück. 

Der  erste  Theil  dieser  Melodie  ist  den  anderen  angeführten  und 
den  entsprechenden  bei  Clodius  ziemlich  gleich.  Der  zweite  Theil 
geht  allerdings  seine  eigenen  Wege,  ist  aber  in  der  Hauptsache  dpch 
im  Charakter  der  übrigen  gehalten. 

Mit  dieser  so  weit  verzweigten  Melodie  ist  aber  das  in  unserer 
Handschrift    enthaltene    Material    allgemein    bekannter   Volksweisen 


1  Es  wäre  hier  nachzutragen,  daß    die   Melodie  bekanntlich  auch    zu   dem 
Texte  »Auf  unsrer  Wiese  gehet  was«  gesungen  wird. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  633 


keineswegs  erschöpft.  Betrachten  wir  die  gleichlautende  Melodie  zu 
Nr.  5  (S.  6)  »Dort  da  die  Rose  wüchse«*  und  zu  Nr.  17  (S.  22) 
lieh  ging  auf  einer  Wiesen«.  Dieselbe  ist  identisch  mit  der  noch 
heutigen  Tages  viel  gesungenen  Weise  zu  dem  Wilhelm  MüUerschen 
Studentenliede :  »Im  Krug  zum  grünen  Kranze«  und  gehört  ursprüng- 
lich zu  dem  Volksliede :  »Ich  stand  auf  hohem  Berge«.  Einige  in  der 
Beilage  mitgetheilte  Beispiele  mögen  dies  bestätigen.  2.  Die  Unter- 
schiede sind  im  großen  und  ganzen  nicht  sehr  erheblich.  Sie  be- 
ziehen sich  in  der  Hauptsache  auf  den  Übergang  vom  3.  zum  4.  Takt. 
Bei  Nr.  2,  3  und  4  ist  die  Überleitung  nach  der  Dominant-Tonart 
scharf  durch  Erhöhung  des  Leitetons  ausgedrückt.  Bei  Nr.  1  und 
5  ist  diese  Erhöhung  unterblieben.  Wenn  wir  nun  bedenken,  daß 
Nr.  3  (nach  der  Angabe  Kretzschmers)  aus  dem  17.  Jahrhundert 
stammt,  und  daß  femer  auch  die  bei  Clodius  wiedergegebene  Melodie 
eine  solche  Erhöhung  aufweist,  so  müssen  wir  wohl  diese  Gestaltung 
für  die  ursprüngliche  halten.  Dieselbe  wird  sich  allmählich  abge- 
schliffen haben  und  zu  der  jetzigen  weicheren  Form  übergegangen  sein. 

Eine  Sonderstellung  nimmt  unter  den  5  Nummern  die  vierte  ein. 
Alle  übrigen  springen  im  2.  Takte  zur  Oktave,  während  hieran  der 
betreffenden  Stelle  nur  die  Sexte  leicht  gestreift  wird.  Auch  die 
Melodie  bei  Clodius  geht  daselbst  nicht  bis  zur  Oktave,  sondern  nur 
bis  zur  Quinte.  Vergleichen  wir  dieselbe  näher  mit  den  in  der  Bei- 
lage notierten  Beispielen,  so  ergiebt  sich,  daß  sie  eigentlich  nur  das 
Gerippe  mit  diesen  gemein  hat.  Dabei  fallen .  vor  allem  zwei  be- 
sonders charakteristische  übereinstimmende  Momente  ins  Gewicht: 
Erstens  der  scharf  hervortretende  Sekundenschritt  sowohl  im  2.  als 
im  6.  Takte  mit  Hauptaccent  auf  der  1.  Note  und  zweitens  die  gleiche 
harmonische  Grundlage.  Dagegen  ist  ein  durchaus  anders  gestalteter 
Rhythmus  vorhanden,  und  vor  allem  verleiht  die  Ausschmückung 
durch  die  reizenden  Sechzehntel-Figuren  dem  Ganzen  einen  neuen, 
anmuthigen  Charakter.  Ohne  Zweifel  ist  die  bei  Clodius  vorliegende 
Fassung  die  hübscheste  von  allen. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  diese  Weise  noch  weiter  über  die  Zeit 
unserer  Handschrift  zurückreicht.  Jedenfalls  ist  der  ursprüngliche 
Te^t  (»Ich  stand  auf  hohem  Bergea)  sehr  alt  und  rührt  mindestens 
aus  dem  15.  Jahrhundert  her.  Aber  auch  die  zu  demselben  gesungene 
Melodie  wird  bereits  im  Jahre  1543  in  dem  Antwerpener  Liederbuch 
als  Ton  zu  einem  geistlichen  Liede  (Nr.  86]  genannt.  Ob  das  nun 
unsere  Melodie  ist,  erscheint  deshalb  fraglich,  weil  es  noch  mehrere 


4  Vgl.  BeUage  XXI. 

2  Vgl.  BeÜage  zu  XXI.  Nr.  1-5. 

42* 


g34  Wilhelm  Niessen, 


andere  zu  demselben  Texte  giebt,  von  denen  namentlich  eine^  wohl 
ein  hohes  Alter  haben  kann.  Im  17.  Jahrhundert  war  jedoch  die 
hier  in  Frage  kommende  allbekannt.  Das  beweist  außer  unserer 
Handschrift  jenes  oben  unter  Nr.  3  gegebene  Beispiel  von  1631. 
Femer  aber  ist  gerade  die  bei  Clodius  zu  Nr.  1 7  (»Ich  ging  auf  einer 
Wiesentt)  gesetzte  Fassung  oft  als  Ton  zu  anderen  Texten  angegeben 
worden.  Die  nöthige  Auskunft  darüber  giebt  uns  die  schon  oft  ge- 
nannte: »Gesechste  Tugend-  und  Laster-Rose«  von  Constans  Holdlieb. 
Dort  finden  wir  bei  nicht  weniger  als  5  Gedichten  die  Bemerkung: 
»nach  der  Weise,  Ich  gieng  auf  einer  Wiesen«. 

Wir  können  endlich  noch  eine  Weise  der  Handschrift  nennen, 
hinter  der  sich  vermuthlich  ein  heute  ebenfalls  viel  gesungenes  Lied 
verbirgt.  Wir  meinen  Nr.  3  (S.  4)  mit  dem  Texte:  nPtUchnie 
virgwiculaea  u.  s.  f.  Sollte  diese  Melodie  nicht  in  Zusammenhang 
stehen  mit  dem  allbekannten  Liede:  »Wenn  ich  ein  Vöglein  wärt? 
Einmal  ist  die  Taktzahl  die  gleiche,  dann  die  Gruppierung  zu  je 
6  Takten  gemeinsam,  femer  der  Rhythmus  derselbe,  und  schließlich 
sind  die  je  ersten  4  Takte  melodisch  ganz  gleichlautend.  Damit 
haben  wir  allerdings  die  übereinstimmenden  Züge  erschöpft.  Wir 
können  jetzt  aber  ein  geistliches  Lied  anführen,  dessen  Melodie  so 
zu  sagen  die  Vermittlerin  zwischen  beiden  abgeben  kann^  da  sie  mit 
jeder  derselben  gemeinsame  Züge  hat.  In  der  Beilage  sind  alle  3 
zusammengestellt.^  Der  Hauptunterschied,  der  zwischen  der  ersten 
(Clodius'schen)  und  zweiten  (geistlichen)  Melodie  liegt,  bezieht  sich 
auf  die  Takte  5  und  6,  woselbst  Nr.  1  eine  eigenartige,  aber  für 
jene  Zeit  charakteristische  Cadenz  auf  D  macht,  während  Nr.  2 
daselbst  einfach  mit  der  Haupttonart  schließt.  Dagegen  zeigt  sich 
eine  auffallende  Übereinstimmung  in  dem  je  2.  Theile,  die  nur 
dadurch  etwas  aufgehoben  wird,  daß  Nr.  2  stets  die  melodische  Um- 
kehrung  des  in  Nr.  1  Gesagten  bringt.  Die  Schlußtakte  sind  so 
ziemlich  gleich  lautend.  Nr.  2  und  Nr.  3  stehen  im  Gegensatz 
dazu  in  denselben  Takten  7 — 10  gewissermaßen  in  dem  Verhältnis 
der  harmonischen  Umkehrung.  Außerdem  sind  Takt  1 — 4  und  die 
Schlußtakte  überhaupt  ganz  und  gar  gleichlautend.  Wir  sehen  also 
in  der  That  in  der  2.  Melodie  die  bezeichnendsten  Züge  der  beiden 
anderen  vereinigt  und  können  also  wohl  mit  Recht  für  die  Melodie 
zu  nPulchrae  virgunculae^  bei  Clodius  und  für  die  bekannte  Volks- 
weise zu  »Wenn  ich  ein  Vöglein  war«  einen  gemeinsamen  Ursprung 
annehmen.  — 


*  S.  L.  Erk,  Liederhort,  Nr.  18a. 
a  Vgl.  Beilage  XXII.  Nr.  1—3. 


Das  Liederbuch  des  Leipiiger  Studenten  Clodius.  635 

Wir  kommen  zum  letzten  Punkte  der  Betrachtungen,  zu  solchen 
Melodien,  die  sich  in  gleichzeitigen  Instrumentalstücken  nachweisen 
lassen.  Dazu  gehört  die  Melodie  des  Liedes  Nr.  19  »More  Palatino« J 
Wir  begegnen  derselben  einmal  in  2  Violinstücken  und  femer  in 
einem  Lautenstück  aus  jener  Zeit.  Die  erstgenannten  sind  in  einer 
Breslauer  Handschrift  zu  finden. ^  Dieselbe  (1  Band  gr.  fol.)  enthalt 
mit  Ausnahme  von  Nr.  5  Violinstücke  (53 — 64  und  70 — 74  für  Viola 
bastarda)  und  gehört  in  die  erste  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts.  Die 
uns  angehenden  Stücke  sind  Nr.  51  und  Nr.  53  (letzteres  also  für 
Viola  bastarda.)  Das  erste  derselben  (überschrieben:  More  Palatino. 
Cum  Variatione)  bringt  3  Variationen  über  unsere  Melodie.  Diese 
verschwindet  zwar  oft  unter  den  reichen  Sechzehntel-Figuren,  kommt 
aber  ab  und  zu  immer  wieder  ziemlich  deutlich  zum  Vorschein. 
Das  2.  Stück  hält  sich  dagegen  nur  sehr  wenig  an  das  Haupt-Thema 
und  verläuft  in  viel  freierer  Weise,  abwechselnd  zwischen  Achtel- 
und  Sechzehntel-Figuren.  Übrigens  lautet  der  Anfang  im  1.  Beispiel 
anders  als  bei  Clodius  und  zwar  ist  er  so  gebüdet,  wie  der  Anfang 
einer  anderen  Melodie  unserer  Handschrift,  zu  dem  Liede  Nr.  34 
»Wer  sich  will  begeben  mitten  auf  die  wilde  See«.^  Li  dem  ge- 
nannten Violinstück  sind  also  2  Melodien  unseres  Liederbuches  ver- 
schmolzen, indem  von  der  einen  vornehmlich  die  zweite  Hälfte,  von 
der  anderen  nur  die  erste  Hälfte  verarbeitet  werden. 

Das  oben  citierte  Lautenstück  ist  ebenfalls  in  einer  Handschrift 
des  17.  Jahrhunderts  aufgezeichnet.  Die  Handschrift  befindet  '<sich 
unter  der  Signatur:  »Msc.  Dresd.  M.  297«  zu  Dresden  und  weistauf 
ihrem  Deckel  die  Jahreszahl  1603  auf.  Sie  ist  aber  nicht  allein  in 
diesem  Jahre  hergestellt,  sondern  scheint,  wie  aus  dem  Inhalt  her- 
vorgeht, in  einem  größeren,  folgenden  Zeiträume  entstanden  zu  sein. 
Sie  enthält  auf  204  Seiten  (von  denen  die  ersten  fehlen]  eine  große 
Anzahl  weltlicher  Liedertexte,  die  denen  unserer  Handschrift  sehr 
ähnlich  sind.  Einige  dieser  Lieder  sind  mit  Melodien  in  Mensural- 
notenschrift versehen.  Meistentheils  ist  aber  die  französische  Lauten- 
tabulatur  angewandt,  überhaupt  sind  außer  den  Liedern  sehr  viel 
selbstständige  Lautenstücke  hier  vorhanden.  Das  nach  unserer  Me- 
lodie gemachte  Stück  befindet  sich  auf  pag.  132/133  mit  der  Über- 
schrift: vMore  Palatino«.^    Hier  ist,  gegenüber   den  genannten  Violin- 


1  Vgl.  Beüage  XXIH. 

2  Vgl.  Die  musikalischen  Handschriften  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  in  der 
Stadtbibliothek  zu  Breslau.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Musik  im  16.  und 
17.  Jahrh.  von  Emil  Bohn.    Breslau.     Hainauer  1890.  pag.  122/123.  Nr.  114. 

3  Vgl.  Beilage  XXIV. 

*  Vgl.  Beüage  XXHI  1 . 


g36  Wilhelm  Niessen, 


stücken,  der  Verlauf  der  Melodie  viel  deutlicher  zu  erkennen,  da 
reich  figurierte  Variationen  wie  dort  nicht  vorkommen  und  nur  zur 
Ausschmückung  des  Ganzen  leicht  bewegte  Achtel  benutzt  sind. 
Auch  hier  ist  der  Anfang  anders  gestaltet,  als  bei  Clodius,  nämlich 
genau  so,  wie  in  dem  Violinstücke  und  in  dem  bereits  citierten  Liede 
»Wer  sich  will  begeben«.  Diese  Fassung  des  Anfangs  scheint  dem- 
nach für  das  Lied  »More  Palatino«  die  allgemeine  beliebte  gewesen 
zu  sein. 

Einen  weiteren  Beleg  für  diese  Annahme  giebt  uns  eine  Schul- 
komödie des  Rektors  Andreas  Stechau  (1653 — 1671  in  Arnstadt 
thätig].  In  derselben  ist  auf  Blatt  43a  ein  vierstimmiges  Chorlied 
zu  dem  Texte  »More  Palatino«  gesetzt.^  Die  daselbst  angewandte 
Melodie  weicht  gleichfalls  in  ihrem  Anfang  von  der  Grestaltung  bei 
Clodius  ab,  stimmt  aber  in  ihrem  zweiten  Theile  mit  dieser  überein. 
Andererseits  treffen  wir  aber  genau  dieselbe  Melodiebildung,  wie  in 
Nr.  19,  also  mit  gleichem  Anfang,  noch  an  einer  anderen  Stelle 
unseres  Liedeibuches  wieder:  durch  Sechzehntel  und  punktierte 
Noten  ausgeschmückt  und  mit  einer  neu  hinzugefügten  Mittelstimme 
versehen  steht  sie  bei  dem  Liede  Nr.  80  (S.  118)  »Ist  das  nicht 
ein  Hahnröh«.2 

Zum  Schluß  die  Bemerkung,  daß  der  zweite  Theil  jener  Melodie 
zu  »Wer  sich  will  begeben«  seinerseits  in  einem  anderen  Stücke 
unseres  Liederbuches  in  fast  gänzlich  übereinstimmender  Weise  zu 
finden  ist,  nämlich  in  dem  aus  Voigtländers  Oden  entnommenen 
Liede  Nr.  86  »Eine  reiche  Magd  hat  Matz«.^  Es  wurde  darauf  bereits 
aufmerksam  gemacht  und  dabei  hervorgehoben,  daß  die  zu  Grunde 
liegende  Melodie  Nr.  14  aus  dem  Volke  stammt.  Ihre  an  dieser 
Stelle  nachgewiesene  Verwandtschaft  mit  der  volksmäßigen  Weise 
»More  Palatino«  bestätigt  das  vollkommen. 


Um  die  Frage  nach  dem  Werth  des  im  Liederbuche  des  Clodius 
vorliegenden  musikalischen  Materials  zu  beantworten,  seien  die  bisher 
gewonnenen  Ergebnisse  einfach  zusammengestellt. 

Zunächst  konnte  eine  ganze  Reihe  vortrefflicher  Beispiele  vorge- 
führt werden,  deren  Verfasser  als  hochbedeutende  Meister  des  17.  Jahr- 

^  Ich  verdanke  diese  Mittheilung  Herrn  Dr.  Job.  Bolte.  Derselbe  hat  sich 
diese  Komödie  aus  dem  Amst&dter  Gymnasialarchiv  schicken  lassen  und  möchte 
sie  (sie  hat  keinen  Titel  und  keine  Jahreszahl)  »Der  wahre  und  der  falsche  Barba- 
rossa von  Kyburgff  nennen. 

1  Vgl.  Beilage  XXV. 

3  Vgl.  Beilage  XXVI. 


Das  Liederbuch  des  Leipziger  Studenten  Clodius.  g37 

hunderte  einen  großen  und  wohlverdienten  Ruf  genießen.  Diesen 
schlössen  sich  in  fast  ehenbürtiger  Weise  solche  Melodien  an,  die 
zwar  weniger  namhafte  Komponisten  zu  Urhebern  haben,  aber  durch 
Frische  und  Lebendigkeit  des  Ausdrucks,  wie  durch  Anmuth  und 
Wohllaut  der  Tonführung  sich  vortheilhaft  auszeichnen.  Gerade  sie 
konnten  als  besonders  geeignet  für  StudentenUeder  bezeichnet  werden. 
Wir  beobachteten  auch,  daß  sie  in  dem  Liederbuche  des  Clodius  oft 
vortheilhafte  und  wirksame  Änderungen  erfahren  haben,  und  die  Stu- 
denten sie  gewißermaßen  als  ihr  rechtmäßiges  Eigenthum  betrachteten. 
Fast  noch  mehr  aber  gilt  dies  von  den  an  dritter  Stelle  angefahrten 
Volksweisen  der  Handschrift.  So  wie  wir  den  hier  anzutreffenden 
Volksliedertexten  (resp.  Kinderliedem)  den  größten  Werth  beilegen 
mußten,  haben  wir  auch  die  in  dem  Liederbuche  enthaltenen  Volks- 
melodien als  besonders  schätzbar  zu  bezeichnen.  Gerade  ihr  häufiges 
Vorkommen  beweist,  daß  selbst  die  Studenten  der  damaligen  Zeit, 
trotzdem  bei  ihnen  das  Wohlgefallen  und  die  Lust  am  Gemeinen 
und  Frivolen  vorherrschten,  doch  die  gesunde  und  kräftige  Kost 
der  Volksmusik  willkommen  hießen. 

Unser  Liederbudi  ist  gewißermaßen  ein  Brennpunkt,  in  welchem 
sich  die  Strahlen  zweier  entgegengesetzter  Richtungen  treffen.  Die 
vor  ihm  sich  vollziehende  Entwickelung  findet  hier  einen  ent- 
sprechenden Abschluß,  während  das  Studentenlied  der  Folgezeit  sich 
in  seinen  Anfängen  zeigt. 

Äußerlich  sehen  wir  dies  dadurch  bestätigt,  daß  in  das  Buch 
(allerdings  nur  ganz  vereinzelt)  Studentenmelodien  der  Vorzeit  auf- 
genommen sind,  während  andererseits  einige  der  in  ihm  enthaltenen 
Melodien  noch  jetzt  unter  der  Studentenschaft  gesungen  werden. 

Innerlich  aber  tritt  es  zu  Tage  in  der  ganzen  Art  und  Weise 
der  hier  bemerkbaren  musikalischen  Gestaltung.  Die  Handschrift 
steht  ungefähr  in  der  Mitte  der  Übei^angs-Bewegung  und  zeigt 
deutlich,  wie  damals  noch  das  Alte  dicht  neben  dem  Neuen  anzu- 
treffen war,  wie  aber  doch  in  der  Hauptsache  das  letztere  schon  die 
Oberhand  gewonnen  hatte. 

Während  die  alten  Studentenmelodien  ziemlich  ausgedehnt  und 
formell  wenig  abgerundet  waren,  finden  wir  bei  Clodius  nur  einige 
der  Art.  Die  meisten  sind  von  geringem  Umfange  und  weisen  eine 
nur  kleine  und  knappe,  wohlgefügte  Form  auf;  was  in  gleichem,  ja 
höherem  Maße  von  den  heutigen  Liedern  zu  sagen  ist. 

Der  Rhythmus  der  studentischen  Gesänge  aus  früherer  Zeit  war 
komplicirt  und  schwerfällig;  in  unserem  Liederbuche  begegnen  wir 
einem  solchen  nur  selten.     Vielmehr  zeichnen  sich  die  daselbst  auf- 


638 


Wilhelm  Niessen. 


gezeichneten  Tonstücke  durch  leicht  verständliche  und  bewegliche, 
wohl  abgemessene  und  bestimmte  Rhythmisirung  aus. 

Genau  in  dem  gleichen  Verhältniß  zur  Vor-  und  Nachzeit  steht 
die  speziell  melodische  ]  Bildung  der  Weisen  bei  Clodius.  Sie  sind 
nicht  mehr  streng  diatonisch  gehalten  und  zeigen  ein  weit  geför- 
dertes Anwenden  der  Chromatik ;  diese  wird  aber  natürlich  noch  nicht 
in   so  ausgiebiger  Weise  benutzt,   wie  wir  es  später  antreffen. 

80  ist  es  denn  auch  mit  der  in  dem  Liederbuche  bemerkbaren 
harmonischen  Gestaltung.  Die  alten  Tonarten  sind  noch  nicht  ganz 
verschwunden,  im  allgemeinen  ist  aber  das  moderne  Dur  und  Moll 
deutlich  ausgeprägt.  Namentlich  ist  auch  das  für  die  neuere  Musik 
so  wichtige  Verhältniß  der  Haupttonart  zur  Tonart  der  Oberdominante 
schon  kräftig  ausgebildet. 

Die  Handschrift  giebt  in  der  That  ein  anschauliches  Bild  von 
jenem  Umwandlungsproceß,  der  sich  damals  in  der  gesammten  musi- 
kalischen Gestaltungsweise  vollzog.  Sie  verdient  daher  für  die  Ge- 
schichte des  deutschen  Liedes  im  17.  Jahrhundert  eine  aufmerksame 
Beachtung. 


Verzeichnis  der  Lieder.^ 

(Alphabetisch  geordnet.) 


Abscheulich  bistu  schätz .... 
Ach  hl.  Andreas  erbarme  dich  . 

Adoranda  das  ist  Fein 

Also  spricht  die  weit 

Amanda  darf  man  dich  wohl .   . 

Bruder  wilstu  meinen  Rath.  .    . 

Clorinde  will  nicht  mehr.  .  .  . 
Cupido  Deus  pertinax 

Baß  dich  du  schwartzer  Dieb  . 
Das  wolcken  Dach  war  mit  .  . 
Der  Sperling  ist  ein  Wunderding 

^la  rov  &avfiäCstv 

Die  Dellmane  kriegt  einen.  .  . 
Die  lieblichen  Blicke  der  schönen 


s. 

Kr. 

72 

52 

74 

53 

122 

84 

88 

61 

47 

35 

154 

102 

128 

87 

8 

8 

122 

83 

136 

91 

90 

62 

22 

18 

146 

97 

67 

49 

Dorette  meiner  Seelen  Seele 
Doris  hat  sich  lassen    .   .    . 
Dort  da  die  Rose  wüchse   . 
Dort  drobn  auf  jenem  Berge 
Drei  Gänß  in  Haber  Stroh. 
Du  schöne  Margaris  du  .   . 

Eilt  ihr  lieben  Wäscher  Mädgen 
Eine  reiche  Magd  hat  Matz  .  . 
Ein  schönes  Bild  liegt  wie  Diana 
Eisenbeißer  lianzenbrecher .  .  . 
Es  ging  ein  Mönch  ins  Oberland 
Es  ging  ein  Schäfer  unter  bäumen 
Es  fuhr  ein  Bauer  ins  Holtz  .  . 
Es  saßn  einmal  9  Muhmen.  .  . 
Ey  Fairfaz  schäme  dich  .... 


s. 

138 

159 

6 

64 

30 

110 

66 

128 

98 

12 

68 

30 

1 

8 

32 


Kr. 

93 

105 

5 

46 
26 
76 

4S 
S6 
67 
10 
50 
25 
1 
7 
27 


1  Die  Zahlen  in  der  ersten  Rubrik  geben  die  Seiten  der  Handachiift  an,  die 
in  der  2.  Rubrik  die  von  mir  hinzugefügten  Nummern. 


Das  Liederbuch  de«  Leipziger  Studenten  Clodius. 


639 


FHia  visne  habere  rusticum.   .    . 

Flora  deine  Zier 

Fraget  nicht  warumb  ich  klag  . 
Freyet  ihr  Menschen,  d.  Frühling 
F.i 

Gesteh  es  nur  mein  Kind    .    .    . 

Gibt  uns  Gott  wein 

Gleich  als  hättest  du  still  .    .    . 

Haibertheil  von  meinem  Hertzen 
Hanso  hastu  nich  meine  .  . 
Hey  Kade  wiede  wade .  .  . 
Hey  lustig  mein  Sinn  .  .  . 
Hey  Mutter  der  Finck  ist  . 
Heythumb  Fiedelmanns  .  . 
Hopgen,  hop,  hop,  hei    .   . 

Ich  frage  nichts  darnach  .  . 
Ich  fragte  Dorinden  .... 
Ich  ging  auf  einer  wiesen  . 
Ich  weiß  ein  Mädgen  .  .  . 
Ihr  Auen,  Bach  und  Büsche 
Ihr  Mädgen  gute  Nacht  .  . 
Ihr  Najaden  in  den  Pfützen 
Ihr  sagt  ich  könne  nicht .  . 
Im  Meyen  ist  überall  lustig 
Ist  das  nicht  ein  Hahnröh  . 

Kein  größer  Narr  ist  weit  u.  breit 

Laeti  sodales  trinckt 

Last  uns  nur  lustig  seyn  .... 
Legere  last  sich  ofFters  grüßen  . 
Liebchen  ach!  ich  bin  verliebt  . 
Liebgen  ich  habe  kaum  länger  . 
Liliana  schönstes  Liebgen  .  .  . 
Lustig  ich  habe  die  liebste .  .  . 
Lustig  lieben  Domini 

Mars  last  itz  zur  Tafel  blasen    . 

Mein  Liebgen  darf  ich 

Mein  setzt  euch  ihr  lustigen  .  . 
Mein  weib  hat  gute  Tage  .  .  . 
Mickgen  ist  denn  da  dein  H..  . 
Mir  ist  keine  süße  Lust  .   .   .   . 


s. 

2 

28 

12 

100 

6 

95 
132 
US 

134 

46 

20 

99 
4 

24 
120 

105 

52 

22 

141 

21 

80 

78 

152 

102 

118 

58 

80 

36 

144 

60 

77 

lOS 

104 

64 

26 
62 
112 
22 
37 
48 


Nr. 

2 
24 
11 
69 

6 


65 

89 
99 

90 

34 
15 
68 
4 
22 
82 

72 
39 
17 
94 
16 
56 
55 
101 
70 
80 

43 

5«! 
28 
96 
44 
54 
74 
69 
47 

23 

4n 

I    t 

20 
29 
37 


More  Palatino  bibimus 

Muß  ich  denn  seyn  darumb    .   . 

Niedliches  Kindgen 

Nun  bin  ich  vergnüget 

Nymphe  laß  doch  meine  Pein    . 

0  Rosidore,  edele  Flore  .... 

0 1  sind  wir  nicht  schier  ins  Dorff 

Pertransivit  cUrieus  .... 
Philomene  meine  Schöne  .  . 
Phyllis  und  Amyntas  waren 
Pulchrae  virgunculae .... 

Baps,  rapsahe  rastrum  mein 
Kegingen  mein  Hüngen   .    . 

Schönheit  muß  ich  lieben    . 
Schönste  wo  hastu  die  Augen    . 
Schweiget  mir  von  frauen  nehmen 

Sey  frölich  bald  ehlich 

Sie  schiäffet  schon 

Sisyfus  Gebirg  erreichen  .... 

So  hastu  liebes  Kind 

So  ist  es  denn,  daß  sie  .... 
Soll  denn  schönste  Doris  ich .  . 
Solt  ich  Amapde  mein  .  ,  •  .  . 
Studiosus  fuerat  .•••••.. 

Tugend  reich  mein  selbst  eigener 
Verdammte  Lust 


s. 

22 

130 

119 
136 
106 

166 
162 

86 
124 

82 
4 

96 

84 

50 
14 
35 
54 
91 
150 


Nr. 

19 

88 

81 
92 
73 

109 
107 

60 

85 

57 

3 

66 
58 

38 
12 
30 
41 
63 
100 


931  64 


Was  geht  mich  Doris  an.  .  .  . 
Was  hab  ich  von  dir  gelesen.  . 
Weil  wir  noch  der  schönen  Zeit. 
Wenn  Dictynna  lacht  herunter  . 
Wenn  gleich  jener  heyde  kähme 
Wer  ist  doch  wohl  so  seelig  .  . 
Wer  sich  mit  mir  in  dieser  Welt 

Wer  sich  will  begeben 

Wohlan  es  muß  doch  seyn .  •  . 
Wohlan  sa!  sa!  wohlan  .... 
Wohl  dem  der  sich  nur  läßt .  . 
Wohl  der  die  mehr  Studenten  . 
Wo  weidest  du  komm  schöne     . 

Zwey  Mädgen  auf  einmahl .    .    .  | 


158 
41 

108 
lOi 

164 
146 

70 
44 

142 
24 
48 
56 
53 
18 

156 

116 
16 
43 

114 


160 


104 

31 

74 

9 

104 
98 

51 
33 
95 
21 
36 
42 
40 
14 
103 
79 
13 
32 
78 

106 


^  Textanfang  nicht  wiederzugeben. 


1891. 


43 


640 


Notenbeispiele 
zu  dem  Liederbuche  des  Clodius  vom  Jahre  1668. 


Bei  Clodius  pag.  47.  N9  SR.  * 


her    ich  werd  es  wohl  am  be  .  sten  wissen     das  war  die  Antwort  un  ^ge  .  fähr 

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So  hast  du  lie.besKind  midigieicfawoblnochtergntlglwaildei 

«  5  48        __, 


.^B,|  T    rJ  iJr  "r    ftr 


*  Die  Taktstriche  sind  von  mir  hinaugesetzt.  Dieselben  fehlen  meistens  bei  Clodias. 
Nur  ab  und  zu  sind  einzelne  Phrasen  abg'egrenzt. 


641 


pag.  11».  N9  77. 


ni. 


i'i||'|i..i|i|iii|iii 


PrAfito  ^^"^  ^^^^  ®^^  ^'   lästigen  B: 


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messet  der  lieblichen  Zeit  in    FrÖlig    .    keit.  so    sey  denn  mit  Freuden  weil 


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*— »'^*<^^iw«»p-^M  ■«■  I  ^ipJ^JMfcJL 


Donner  und      Bli.tae    rühren  mein  trau.rL.ges   Her.tieTon    fer  .    nen. 


m 


w 


II    11 


II     11    It 


IVF 


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1^ 


Q    O    9 


i 


o    e    o 


'S 


H     " 


^ 


3X 


A=St 


xr 


ssc 


*  Seit  1680  aach  als  Choralmelodie  („Sias  ist  Ifotli'O- 


642 


^-y^"^^ 


V. 


Lfihlen  Wa&^erstrajid 


Phil.lis  und   A  .  my^n.tas  waren    an  demkühlen 

Bei.de  schön  und  jnnffTon  Jahren,  in   der  Liebe     so  entbrannt, 

6       4^3  ^  ^ 


das8  er  endJieh     all  .  zuJeeck     such  .  te  sei.nen     Lie  .bes   .    zweck. 
b.  5  6.6  AS 


j  pag.  150.  N?  100. 


VI. 


1   Si .  sy.  fus    Ge.birg  erzreichen  Tantals We  .ger-Tranek  erstehn 
i  auf  demSchlangenRadterUeiehen  tausend  Martern  Tor  sichseSln, 


j  r  pir'Trri'T'pr  ^v^  i\ 


ist    A  .  mors  grimme Dienst.bahrJieit  die  Ket  .  te      der    be.jung.ten 


j  r  rr  ir  y  ^ 


Zeit  achdass  ich   in  frühlings  Jahren muss  solchen  Zvrang  er. f ah.       .ren. 


!-"Nj    J    lU    ^.     ^>\U        "f    IC; 


f 


VI* 


,         Oberstimme       ^  ^ 

SLsyfus  etc.etc. 
Grandstimme 


■^ 


r'Tr  ir'rr  Jir  j*J^^i^^Trirj  ^H 


pppp'r^PippirpiiJi 


Tf   ^    i«f  r^4^g 


643 


pag.  78.  N9  55. 


füg.  80.  N9  S6. 


VIII. 


(  Dir  Mädffen     ffu  .  te   Naeht  die  ilur  in  Leip.zifc    seid 


(  Uir  Mädgen     gu 

(Und  manchen  dienstbahr  macht  durch  eture  Freundlich,  keit. 


I'  r  I  Mt  I  f 


6 


J|J  fu  < 


^  r  ir'  p  r  ir^^ 


Ä—i 


^ 


Ge .  habt   euch  wohl     ich  sehet  .    de,     der    schluss    ist        so    ge  - 

ö  5 

«48  41S 


-UL  J)'x-H 


[so] 


J I  'I   r  i'T  r  j  i 


fii'j.  I.  II  i"ii 


macht  mir     zu     ge  .  rin .  ger    Freu.de    ihr     Mäd.gen     gu .  te        nacht. 

I.  .        H      «  <    A     /^ 


yt  j  J 


«^ 


^ 


^^ 


i 


J  M  I    I  J   II 


pag.  64.  N9  47. 


tf  r  rr  irr  r  if  r  f  r  irni^ 

Lu.stig  lie.ben    Do-mi  .  ni,       lu.stig  omnes     Po.  pu.li, 


I 


j.  j,j  |j  j j j|^^ 


PPppV'PiPPffiH'li 


quicquid  allhier?  Ec.ce  frisch  Bier,   bi.beüre  lanubeLre  sehadcts  auch  schier 


^^ 


1 


^  Di*r  T^xt  Ifif  fi«»kr  ohsrnn  iinil  4iihi*r  nlrM  wii'4««rs(igt'liMi. 


644 


r  f  r  ir  r   r   i^  r  r  r  ir'  f^m 


wenn  sich    ei.ner      ex.^r  .  eirt        und  den    an. dem   wohl    Te.xiit. 


J    J    ^  JlJ^     h^ 


J.   j^^i    II 


IXI 


rtL!f  nrfrf.r  \i  r  r  rr 


(Touth'sthe  season    made  for  jojs,    Loveis  then    our     du  .  tj 
\    She     aJonewho   that  employs    Well  deserres  her   beaa.ty. 


Lei'»  be  gtLj  While  we  maj^XBeauty's  a    flower  des  .  pis'd  in  deeay 


pag.  8».  N9  Z7. 


X. 


Ey  Fairfax  schäme  dich,  du  bist  mein  Un.ter.than  greif  deinen 


,1  r  t\f'fj-^4^^m 


e 


Kö    .    nig    nicht  mit  soLcher  Bossheit  an  kenst  du  den  Himmel  nicht  der 


^^^^^^m 


^    Proportio. 


,1  j  r  if  r  ^^ 


y 


ff 


XE 


/TN 

i 


Recht,  und     schla.ge    den      Kd.nig     nnd        Kö .  nigs.ge    .     schlecht. 


jte^s:F.^^tfrif=#^--l:^^H^=4 


645 


pag.  *9.  N?  M. 


ir  rcr f?ir  pr  ^ 


XI. 


Mars  last  itit  tnr    Ta.fel  blasen  der  berühnute  Waf  .fenheld 
>  Er     hat  in     den    grünen  Rasen  ein  gemein  Panjq[aet  bestellt 


B^^  I  ^ififtfrf  iiffffoui^m 


r«r  -i-T-T  \r  p;  jirf 


f 


I 


^S 


für  die  niehtem     Krieges  Hee.re     lu     er .  wei.tern        sei.ne    Eb.re 


j)f  or  ±r  n'r  pr  j  if  i^ 


in         bei  .  lis       etc. 


J    J     IJ 


bei. 


.lis 


re  .  so    .    nant 


pom 


pom         tM.ra  .  tan  ta.ra   .  paff      puff  ta.ra .  tanjta.ra    puff  paff. 


64ß 


pag.  91.  N9  68. 


sie  schlä .  fet  schon     die    an  -  ^^Jt^  Di  -  on     auf 


XII 


k 


P  P  P  P  r  ^  P  '  P  t^  ^'  P  i*  ^  P  ' 

ih .  rer     Göt.ter   Thron         und       ich    ich    wa    .  che  sie 


ih .  rer     Göt.ter   Thron         und       ich    ich    wa    .  che 


H  (1  Ji  -l'  j 


« 


g 


und      thut        die  Äuff    .    lein    su.  ich 


: 


liegt      in         Ruh  und      thut        die  Äug    .    lein    su, 


S 


p  r   ^  P  I P'   M'    p  ^  ^^ 


^ 


r    r  r 


^ 


6         6 


^    r  f 


weiss  nicht  was  ich  thu     und   was  ich  ma. che       pian. 


^ 


j>j)j  vj)|j'j  /  j)j)j>j 


^ 


''^ff    lOt^^ 


i 


i 


^ 


j»rir«. 


XII! 


/TN 


/CN 


— ^Hht 


/TN 


/TN 


3E3E3:EEE 


«1«  *iBO|H*  |*»l|B*|n  *'  I    a?  1^^ 


*  Dir  Znhirn  i^rben  die  Stufen  in  der  Tonleiter  an. 


647 


pag.  4.  N9  4. 


XIII. 


a  8.  ^®y    Mut.ter  der  Finck  ist    todt,    hätt  l 


,\'  7"p  p  ^  "J^r  '  '^        r    pTp 


Tres  personae  In  unisono.  Bassus  säum  tempuster  canit. 


Duude  Finken.  * 


4^  r'  i\  i'  m 


Mlindlich  aus  Cöln  a.Rh«in. 


(se 


Moo  -  der,     de         Fin  .  cken     sin     duud. 
fres  .  se      kei      Orüm  .  mel  .  ehe    Bruua! 


ün  hAttSB  doo  d&  Fin.ken  so    fres-se  ge.gerjreydann  wS.ren  de  FinJien  am 


XIV. 


Ley.Te    ge.bleT.Te. 

pag.  80.  N9  ee. 


Moo.der^    de      Fin-ken    sin  duud. 

l  Z 


a  6.       DrejrGanss  in  Ha.ber  Stroh,  die  sassn  und  wahren  froh 

■4—    * 

kahmderFachsge.  gangen  mit   einerlangen    Stangen  al  -  lo  al.lo  al  .  lo. 


^"^'  ^'ij,\jhH\im 


Drei    Oans  im  Ha.ber.strohdie    sas^nund  wa.ren  froh 


jh-p-^-f 


kam  der  Fuchs  ge   .    gan  .  gen   mit      seLner   langen 


.  gen   imd 


sprach  al   .   so,  drei  Oans  im  Ha.ber.stroh,drei  Oäns  im  Ha.ber  -  stroh. 


*  Entnommen  aus  der„If«uen  Sammlung  deutscher  Volktilieder  mit  ihren  eigenfliiim- 
lic*ht?n  Melodien.    Herausgegeben  von  Ludwig  Erk.  Berlin  l84l.''NV  86. 

**  Von  L.  Erk  mifgetheilt  indem  7***°  seiner  Sammelbünde  auf  pag.  158.  Er  bemerkt 
dazu,  dass  er  diese  Melodie  im  Jahre  1840  mündlich  ans  dem  Oderbrache,  erkalten 
hat. 


648 


XV. 


pag.  46.  N?  84.         -2 


a  8.   Han  -  so  ha  .  tte  nich  mei .  ne        Ori .  tha  ge  .  sehn? 


l^|^|^|y^Bf  J  |j^|y|  w^ 


Dorte  sah  sie  stehn 

.  pag.  »0.  N?  U( 


Hanjio. 


XVI. 


xz 


ka 


.  de  wie.de 


M         11 


^^ 


xr 


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wa 

"TT" 


de 


wie.de 


i 


XJ 


^^ 


TI CT 


^ 


II      tl 


XET 


r  r  f  I "-  f  f;  r  i "  -^11 

le  nie.ae      fi  .  de  wieLde     wits. 


p     tl      ^ 


wan.ne   ne 
f     11     tl     o 


faii.nes    hey 


sie  .  de  nie.ae 


11     11 


=31 


^^ 


xxr 


f-^J  f  I"  "  i 


ti'POp't>«oeig)u  ^ 


"O — O — CT 


XI — o — tr 


^!  |,'»^p;]ijjjif^^ 


Ei.a  po  .  pei.a  etc. 


fi'  ii'ii||ii  i|  iii|  |iriJjiir|iflijJiJji  j  I 


xvn. 


AI  .  80  spricht  die      weit,         hie  et  haee  ein     o.fen.ga.bel 

irr  r  r  ur  -ip 


g^ 


nach  der    ta. sehen    rieht 


I  r  r  r  ^  i  f  p  r^  p 

en    rieht  den  schna.bel      hie    et  haee    et 


Ä. 


3E 


i 


^^ 


hoc. 


*  Von  Erk  in  seinen  Sunmelkänden  miigetkeilt. 


649 


pag.  l«0.  N9  8«. 


XVIII. 


Hop  .  gen    nojp      hop 
Ler  .  cnen  Mad  .  ffen 


he 
gen         steh 


geh  gas  .  sa  .  ten 


i 


Beispiele  zu  XYII  und  XVIII. 

Sämmtlich  aus  Erk's  Sammelbänden  entnommen. 
Ln&wig  Erk:  Bd.  m.  S.  93. 


N?l. 


Aas  y.  HaxthausenH  Liederbach.  1839. 


r.«:  DQ.  lii.  ö.  93.  Aas  v.  HaxthausenH  Lie«! 

-^'il    >   I  ]:--}>  I  ^>    ^  >  ^ 


S 


Zi^  Schimmel     sieh,     in     Dreokhis    an    die      Knie, 


m 


Mor .  gen  wolTn   wir         Ha  .  her     dre.  sehen,    dann   sollst    du      die 


^  J)  J)  J,  I J  ^g^^H^^H- 


Hül.sen  fres.sen,   sieh    Schimmel  etc. 
L.E.  m.  93. 


N?2.  in  J   J^-J>i  j  f  B  \Iii>iiii 

Zieh  Schimmel     sieh  a.8.i. 


Mandlich  aas  Schwedt.  1889. 


^  pppp 


L.E.  III.  93. 


AuH  dem  Liegnitz*-Haynaa^8chcn.  1889. 


Z.  Seh,       s.        in  Dreckhis  an  die  Knie. 
L.E.  m.  408. 


Z.    Seh.       s. 


N94.  ^H    J        J)   J)|  J     ^  J 


Schloap  Kindtken  sdiloap  iLS.f. 


-iij  »jij'pi^ 


#^-ftT^H4> 


650 


L.  E.  III.  Zft9. 


MGndlich  aus  Prenzlow. 


N9  6.  ^►a  J    j)  ji  \  j    ^ 


Ba,    Lämmchen       ba!  Die      VÖg.lein  flie.gen    in     den 


^^  J     ^   J;  I  J'  >   J)   J>    J)    I  i*    i)    >  >  Ji   I 


Wald,  Sie        flie.gen     im  Wald    bald        auf    und     nie.  der   und 


j)   «biJ    H 


bringen  dem  KindJein  die  '  Ruh  wohl  wieder,        Ba,  Lämmehen,   ba! 

US  d.  Oderbruch.  1840. 


N9e. 


Sujse  Bubiken   su.se  u.s.f. 


L.E.VIL68. 


N?7.-j,l>g    J      >>J-M  J     J)^ 


Sehloap Kinne Jien    schloap  u.s.f. 


L.E.VILsa. 


N?8.  ^►g    J        j)    j)    \j      f 


Aas  der  Grafschaft  Ravenberg  (Westfalen).  1840. 


Schloap  K.  u.8.f. 


4^  i>i'tii< 


i>ii\f  J)J'|J  J>j>|j  1 1 


L.E.  m.  408. 


Aus  Treptow  a.d.Tollense  in  Yorpommern.  1846. 


N9  9. 


Schl.m.  kl.  Kindchen  etc. 


L.  £.  Y.  6S. 


N?  10.  ^H    p 


Mündlich  ans  Schwi*dt. 


Schloap,  KinjieJien   schloap 


iloap  u.s.f.  ' 


j)j)j)p  ip  J)j  ir  J>>j)ij  I II 


L.E.VI.  «4. 


651 

Neustadt  H.d.  Dosse.  1842. 


N?  11. 


Bä     lämme-ken     bä         dät     Lämmekengingin     Schnee  etc. 


p  1JJ>  p  I  p  J^J^js  I  j) J^J)  p  I  p  J) J^^  I  p  i->>^^  J;  Uli 


XIX 


pag.  «8.  N?  60. 


Es    ging  ein  Mönch  ins    O.berland     na    na      nu     mit 


^m 


XE 


*\^ 


J    J    J     J|J  J    J 


5 


^ 


pag.  90.  N?  6;^. 


« 


Der    Sperling  ist  ein    Wanderding  eto.  * 


Beispiele  zu  XIX  und  XX. 

L.  E.  IX.  196. 


Es   kömmt  ein  Herr  aus  Ni.ni.yeh     hei..8aTi.va      la  .  tus. 
L.E.  IV.  76.  Zerbst.  1840. 


N?  2. 


P    P    P     P    Ifs 

Qei  .  ne     Oans     ire    .    stoh  .  ] 


^^ 


Wer        mir      mei  .  ne     Oans     ge    .    stoh  .  len     hat,     der 


Ist     ein      Dieb.       Wer     sie  mir  a.ber 

^-r  I  n  R  rt  *  1^ 


wie .  der  bringt^n     hab    ieh 


lieb.     Da       steht  aer  Ofin.se  .  dieb,    da 
^  Der  T<'xt  ist  nicht  gut  wii*dersug«*bea. 


steht  tier  Gfän.se  .  dieb. 


652 


L.  E.  I.  S«.  De  Orofsmed. 


N9  3.    ^Hj^    IJ)     J)      j)    J)    IJ)    I    j^    J)    I    ,^ 


En      Grof.smed   satt   in        goo.der  Roh,  en        Orof .  «med 


m 


M 


-^-^J^IJ>  J)  J)  JilJi  Jij>  J)i 


satt     in         goo.der  Roh,  un      rookt   sin  Piep  To  .   baJi    da.to,    Sieh 


t^'j'  j'  j»  ii\. 


f  I  j)  -ii  j^  j^  I  j  *  I 


dtlt,    sieh    dat,  sieh       da!      sieh         dut,  sieh    dat,  sieh        da. 


L.  E.  III.  Ztio. 


N?4. -j.'8  j,jAjs    h  ^1  >i>l^ 


Aus  Bisleken. 


jOr.la-mim-de   war    ei  ne    schöbe  Stadt   j^^    OrJa.  münjde! 
( Was     haben  sie  denn  für  ne    Kir.che  drin? 


Die      Kb.che  ist    mit     Stroh  be. deckt,  in       Klingel. sack  ha. ben  die 


SperJin.ge  geheckt!  Jo,     hol       ha,    hol       die    s^ne  Or.la  .  mün.de. 


L.E.VI.  «Ol. 


Ans  Dreieichenhain  bei  Frkf.  a.M.  1889. 


Das  01a8.chen  das  muss  wan.dern    Ti?e  la  Com.pa  .  gni .  a   Ton 


4' jiji  ii  jmji^ 


ei.nem  Ort  zum    an  .  dem    rive  la  Com.pa  .  gni  .  a.  Tire  ia  Tiye  la 


|±±ia=[: 


Yiye  la    la       Tire  la  rire  la     hop.sa    sa      rive 

L.  E.XXXI.  67«.  Aus:  Lieder  tum  Gebrauch  d. Logen. 


ive  la  Com.pa  .  irni  .  a. 


N?  6.  JLhj5^ 


Breslau.  1777. 


Zei  .  ten,     Brü  .  der,        sind      nicht    mehr  u.8.f. 


j)  j>ij  II 


ffglE^^t^E^rrTTTT 


m 


653 


L.  £.  IX.  6ft. 


N?7.  AjlJ 


(Die       Lei.ne.we.ber  ha.ben    ei.ne       sau.be.re   Zunft 
(Mit  •    fa    .    sten        hal.ten    sie  Zu  .  sam.men   .     kunft 


Harum  ditscfaarum     Hi«*r  wird  mit 

dpm  Pu«*o  gv- 
MtAmpft. 


AjBcfaengraue,  dnnkeLblaue 
Mir  ein  Viertel,  dir  ein  Viertel 


n  n  n 


fein  o.der  grob,  Geld  gibt*s  doohl 
L.  £.  XIX.  M. 


rane,  dunkel.blaue 


Hinter^  O  .  fen 


liegt  ein  al.ter    Ran.fen.^'*''- 


m 


t-rtü-r 


i 


ID.  C. 
Mi 


Fine. 


Seht  mir  mal  den    Ransen  an,     wie  der  Ransen     tanjen  kann. 

L.  E.  VI.  «00.  Ans  Bannen.  i84i. 

^^^li  r  « 


1 1  (I  Jn 


(Nimm  das  öläs.lein     in    die  Hand       ^   fj^^  Com-pa  .  gni  .  al 
(Fahr    da. mit    ins     I^e.der.land 


N?10. 


X        fi  fla  fa 
L.S.VI.  »08. 


a    y.       hopsa  sa      fi  fla  Compa  .  gni  •  a. 

Ans  Meurs.  1888. 


J    J)IJ^  >J)I 


j  Wo      mag      der   Wirth    so       lan  .  ge      blei .  ben     yi  _  ye  la 
t  Wir     wollen  dem   Kerl     die      Oh  .  ren     rei  .  ben 


j'  I    M  J 


Com.pa  .  gni    .    a. 


^ 


Ti.ye  la     yi-yela    hop.sa       sa        li.Te  ia    Com.pa  .  gni    .     a. 
L.E.VIL9.  Bairisehes  Bettlerlied. 


N?li. 


I  Ick  und  mein  jun.ges  Weib    können  schön 
(  sie  mit   dem    Bet_tel  _  Sftck     ick  mit  dem 


^    - '*     Schenk  mir  mal 
sie  mit  dem   Bet.tel.sack     ick  mit  dem     Ran.sa. 


bairiseh  ein,  wollen  mal    lustig  sein,  bairisch, 


,  bairiseh 


654 


L.  £.  lY.  68. 


Aas  Berlin. 


A .  dam  liat.te         sie.ben    Soh.ne,      sie.ben  Sohn*   hatt* 


m 


r  p  p  ip  p  ^ 


Ä  .  dam,  sie        a.ssen  nicht,  sie     tranJten  nicht, sie      wa.ren  al.le 


$ 


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Sie       mach-tea    ai  .  le  so 


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lie  •  der.  lieh,    sie       maeh-tea    al  .  le 


so       wie    '     ich 


Fink:  Musikalischer  Haasschatz  der  Deutsehen,  pag.  807. 

N?  13.  ^t   J) 


Ich  nehm' mein  Oläseheii  in  die  Hand   rire  la  Corapa  .  gni  .  a 


vivelaTivela  rive  la  la    rivelaTirela    hopsa,  sa  rire  la  Compa.  gm.  a 


y  pag.  e.  N?  6. 


XXI. 


gUi  »-^j-JiJ  J  f  JBiJ  j  J  iJ  Jüp  jpri 


i 


«\ 


Dort   dadieRo.se         wüchse,  war  meine  lieb.ste 


^ 


r  'J   T  r 


hier,     Ich    ge .  he  hin  und     such         se     die    lauffenjde    von     mir. 

6«        .  «     «  _^ 


l^n  .1  i'iijj  j  jijjjj  i  jijj  jj^i 


Beispiele  su  XXI. 

Erk.  Liederhort  N9  18.  pag.  54. 


Ich      stand  auf  ho  .  hem    Ber.  ge  und   schaut  ins  tie.fe 


N?2. 


Thal,  em  Sehif Hein  sah*  ick  schwimmen,  schwimmen,  wo  .  rin  drei  Grafen  warn. 
L.  £.  I.  51. 

i 


I  r^mm 
II  i^via 
rmtwmm 


<■&*■■■  V«  ^J  ■«  a  I 


u.  n.  f. 
siehe  N?  1. 


Ich  stand  u.s.f. 


Kretsschmer.  I.  N9  «. 


N9  3.^Viijr]iJ.^^ 


Ich      stand  u.8.f. 


L.  E.  I.  49. 


N?4. 


Eisleben. 


i'-iMtipipcjir^ 


H^p  *  ir  p  fM 


J'  I  j  ^  I 


Leipsiger  Commersbuch.  pag.  67.  N9  88. 


Im     Krug  Bom  grü.nen     Kran.se,  da    kehrt*  ich   dur.Btig 


ein,    da     sass  ein  Wandrer   drinnen 
Wird  yon-0-  an  heute  aach  so.  gesollt  en: 


am  Tisch  bei  kühlem  Wein. 


^^  p  p  p  p  1*^ 


XXII' 


pag.  4.  N9  S. 

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PalchraeTiiLgunculaetanquamru.be.cuiae  inrothenwan.  gen 


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Biandis   a  .  spec.ti.bns    ye.ris  oom.ple.xi.bus  mich  stets  umb.fan  .  gen. 


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656 


N9  JS08.  (pag.  ise)  in:  Melodien    sum  geistl.  Palmgärtlein.  Redigirt 
Ton  Theodor  Woilersheim,  Pastor  su  Jüchen. 


XXII?  ^»  jjjiJ^J)Tir  rrir'rr' 

Mari-a  Mutter  mein^einJe8iis.)dn.aelein,] 


Ichmnss  jetzt  scheiden. 


^' '  J  f  r  I  r  f  r.  I  j  .t  .^^ 


Von  diesem  Onadenort   Mass  ich  jetzt    geuhenfort;    O  Schinerz,o     Leiden. 
L.E.  Liederhort.  If?  90.  pag.  less. 

XXIIf  =^ 


Wenn  ieh  einVöglein  wär'ond  auch  zweinngieinhattjf Ifig  leh  zn  dir; 


XXIII : 


weils  aber  nicht  kann  sein,weil8 
pag.  %Z.  N9  18. 


kann  sein,  bleib  ich  all .  hier. 


r-iir  rr' 


pa.ia  .ti.no  bibi.  mus  ne  gutta  si  .persit        g^^ 
unde  suam    pos.sit  mn  .  sca  le.vare    si  .  tim 


[;-"MirJn  ir  r  rirn  ni  in  iii 


V 


M  I  ii|i'i  iii  rifrf-i'i''  II 


bibunns      sie 


TirimuB  in     Ä .  cadcmi .  eis     in     A.eade.mi  .  eis. 


ri'i-  JNjJ-J^i  ji 


XXIII! 


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31: 


657 


j  pag.  t8.  N?  14 


XXIV. 


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1  Wer  sich  will  be  .  ge  .  ben       mit.ten  auf  diewlLde    See 
)  Muss  in  fuTcbten    schwe.ben      dassseinSchiffgenun^ter.  geh. 


so  wer  sich   su        weit   will    wa .  gen        in    der   Bu .  le .      .  rey 


r  r  r  r 


der  kann  wohl  Ton 


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Olü.cke   sa.gen    kömbt  er 

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j  I  jfx4ij  j  I  j  j  i|>  :i 


wie  .  der  f rey. 


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j  pag.  ti8.  N9  80 


XXV. 


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Ist  das  nicht  ein  Hahnjröh  etc. 


g  U  -  i-^-^zpE=f^^M^^i-uM 


6       7        6 


^rif  J  r  Jtf  ir   irrr  pir^ 


*  Der  Text  ist  nirkt  wic'deringrben. 


658 


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füg.  Vt9.  N9  86. 


XXVI. 


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(  Ei.ne  reiche  Magd  hat  Matz  der  Haussknecht  nu  ge.  nommen 
iMit  ihr  einen     rei.chen  Schatz  Tor    an  .  de  .  ren  be  .  kommen 


>  I  r  !■  I  I  iiJ  ^^ 


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denn  sie  hat   an     Reichthumb,  wie  ich       hö .  re    guth  und        ga  .   ben 


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dop.pelt  mehr,  was        an.dre  Mag  .  de       ha   .  ben. 


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Kritiken  und  Referate. 


Joachim  Steiner ,  Grundzüge  einer  neuen  Musiktheorie.  Wien, 
Alfred  Holder,  1891. 

Die  gleichschwebende  Temperatur,  als  praktischer  Nothbehelf  zur  Stimmung 
der  Tasten-Instrumente  erfunden,  gelangte  in  der  ersten  Hälfte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts zu  allgemeiner  Anerkennung,  ja,  ihr  nivellirender  Einfluß  erstreckte  sich 
sogar  bis  in  die  Untersuchungen  der  Musik -Theoretiker  hinein,  und  richtete  hier 
bedeutenden  Schaden  an,  der  bis  heute  noch  nicht  ganz  überwunden  ist. 

Mit  Beginn  unseres  Jahrhunderts  erwuchs  der  zum  Theil  auf  ihr  begründeten 
Lehre  ein  sehr  gefährlicher  Feind  in  den  Untersuchungen  der  Physiker,  welche 
die  von  ihnen  gewonnenen  Gesetze  unmittelbar  auf  die  harmonische  Tonlehre  über- 
trugen. Ungeachtet  mancher  Abirrung  verdanken  wir  ihnen  doch  das  festgefugte 
Gebäude  unseres  heutigen  Systems,  welches  trotz  allen  Widerstreites  der  Meinungen, 
immer  stärkere  Wurzeln  schlägt. 

Aber  selbst  diese  Lehre  —  das  System  der  harmonischen  Tonart  —  so  klar 
sie  auch  das  Bild  tmseres  heutigen  musikalischen  Empfindens  wiedergiebt,  scheint 
sich,  je  mehr  sie  mit  unmittelbarer  Musik- Ausübung  in  Berührung  kommt,  eben 
nur  als  ein  Bild  erweisen  zu  wollen,  welches  wohl  den  Geist,  aber  nicht  immer 
auch  die  sinnliche  Erscheinung  der  Tonverhältnisse  zur  Darstellung  bringt. 

Wenn  auch  schon  viele  scharf  beobachtende  Musiker  und  Gelehrte  sich  der 
Wahrnehmung  nicht  verschlossen  haben,  daß  die  wirkliche  Intonation  gewisser 
Töne  von  derjenigen  abweicht,  welche  von  dem  harmonischen  System  gefordert 
wird,  so  hat  doch  noch  Niemand  versucht,  diese  Erscheinungen  in  ein  bestimmtes 
System  zu  fassen,  wie  es  Steiner  in  vorliegendem  Buche  thut 

Die  Frage  ist  wichtig  genug,  um  ihr  eine  eingehendere  Erörterung  zu  wid- 
men. Handelt  es  sich  doch  um  nichts  Geringeres  als  um  die  Untersuchung,  ob  in 
diesen  Erscheinungen  der  Keim  einer  neuen  Evolution  der  Kunstgesetze  Hege.  Diese 
Besprechung  nimmt  daher  mehr  den  Charakter  einer  Mitarbeit  an,  und  ich  darf 
meiner  Freude  darüber  Ausdruck  verleihen,  in  dem  Verfasser  einem  so  wohlaus- 
gerüsteten Vorkämpfer  zu  begegnen,  wenn  ich  auch  nicht  in  allen  Stücken  zu 
seiner  Fahne  schwören  kann. 

Seine  neue  Lehre  beruht  auf  strenger  Sonderung  der  melodischen  von  den 
harmonischen  Elementen  der  Tonkunst;  er  nimmt  zwei  von  einander  unabhängige 
StilrPrinsipien  mit  sieh  widersprechenden  Entstehungs- Ursachen  an,  die  sich  im 
Kunstwerk  bald  befehden,  bald  ergänzen,  und  nur  selten  in  einseitiger  AUeinherr- 

1891.  44 


ggQ  Kritiken  und  Referate. 

gchaft  zur  Geltung  gelangen.  Dem  naelodischen  Stil-Prinzip  legt  er  die  pythago- 
reische Quintstimmung,  dem  harmonischen  die  heute  geltende  gemischte  Quint- 
und  Terzstimmung  zu  Gründe. 

Ich  will  der  Übersichtlichkeit  wegen  meine  Untersuchung  an  folgende  Fragen 
knüpfen : 

1 .  Können  die  in  Rede  stehenden  Widersprüche  zwischen  Theorie  und  Praxis 
Anspruch  darauf  erheben,  als  neue  Glieder  in  das  Gebäude  des  heutigen 
Tonsystems  eingefügt  zu  werden,  oder  sind  sie  zu  jenen  Imponderabilia 
zu  zählen,  welche  jede  Kunstausübung  ganz  nothwendigerweise  im  Ge- 
folge hat,  welche  also  ihrem  inneren  Wesen  nach  den  der  Kunst  zu  Grunde 
liegenden  Kanon  nicht  tangiren? 

2.  Sollen  wir  annehmen,  daß  es  zu  allen  Zeiten  solche  Erscheinungen  gab, 
oder  daß   erst  in  unserer  Entwicklungs-Phase  dieselben  zu  Tage  treten? 

3.  Können  die  Intonations-Verschiedenheiten,  von  denen  die  Rede  ist,  ihrer 
inneren  Natur  nach  streng  commensu^abel  sein,  —  und 

4.  Besteht  die  pythagoreische  Quint- Stimmung  die  Probe  dafür,  daß  in  ihr 
die  theoretische  Begründung  dieser  Erscheinungen  liegen  könne? 

Für  den  ruhenden  Dreiklang  nimmt  auch  Steiner  die  harmonische  Stimmung 
als  die  einzig  richtige  Konstructions- Weise  unserer  Tonart  an.  Er  macht  aber 
eine  wesentliche  Unterscheidung  zwischen  strebendem  und  ruhendem  Dreiklang. 
In  der  Praxis  besteht  dieser  Unterschied  gewiß.  Warum  wird  aber  im  ruhen- 
den Dreiklange  die  harmonische,  im  strebenden  eine  höher  gespannte  Terz 
gesungen  und  gespielt?  Steiner  antwortet:  weil  die  Melodie-Töne  nach  pj-thago- 
reischem  Prinzipe  abgemessen  werden;  meine  Antwort  und  die  der  meisten  mir 
nahestehenden  Musiker  läuft  aber  darauf  hinaus,  daß  der  ausübende  Künstler 
durch  die  innere  Betheiligung  am  Kunstwerk  ganz  unbewußt  dazu  gedrängt  werde, 
gewisse  Töne  im  Zusammenhange  einer  Composition  zu  treiben  oder  zu  senken, 
daß  der  begabtere  und  lebendigere  Musiker  darin  weiter  gehe,  als  der  minder 
begabte  oder  abgespannte,  daß  keiner  unter  ihnen  behaupten  könne,  er  nehme 
jedesmal  denselben  strebenden  Ton  auch  wirklich  stets  in  derselben  »Altcrirung«, 
daß  sich  daher  wohl  eine  Messung  von  Fall  zu  Fall,  aber  keine  allgemeine  und 
für  immer  geltende  anstellen  lasse;  mit  einem  Worte:  daß  die  beregten  Intona- 
tions-Unterschiede geistiges  Eigenthum  der  Ausübenden  seien,  und  als 
ihre  einzige  Quelle  die  Seelen-Verfassung  des  Künstlers  zu  gelten  habe. 

Ich  kann  mich  also,  schon  um  dem  Vortrage  die  künstlerische  Freiheit  zu 
wahren,  nicht  zur  Ansicht  bekennen,  daß  es  feststehende,  dem  harmonischen  Sy- 
stem in  consequenter  Weise  widerstreitende  Tonhöhen  aus  einem  anderen  Systeme 
seien,  um  die  es  sich  hier  handelt;  am  allerwenigsten  kann  ich  die  pythagoreische 
Quintstimmung  als  Träger  der  melodischen  Intonation  anerkennen,  da  ich  auch 
bei  ihr  ein  starres  Festhalten  an  mathematisch  herausgerechneten  Tonhöhen  für 
die  Praxis  leugnen  muß. 

Der  Verfasser  wirft  der  harmonischen  Theorie  unserer  Tage  vor,  daß  sie  gar 
oft  mit  Tönen  und  Intervallen  rechne,  welche  im  Leben  gar  nicht  zur  Erscheinung 
kommen.  Ich  gebe  dies  zu,  glaube  aber,  denselben  Vorwurf  —  wenn  es  einer 
ist  —  jeder  Musik-Theorie,  also  auch  der  pythagoreischen,  machen  zu  dürfen. 
Dies  scheinbare  Mißverhältniß  liegt  im  ewigen  Gegensatz  zwischen  Thatsache  und 
Abstraktion,  die  Versöhnung  liegt  darin,  daß  die  Abstraktion  dem  lebendigen 
Kunstwerk  nur  von  ferne  folgen  kann,  und  in  den  eigentlichen  Herd  des  künst- 
lerischen Feuers  nicht  eindringen  darf,  soll  sie  nicht  gerade  ihre  werthvollBten 
Eigenschaften  einbüßen :  Gesetzmäßigkeit  und  Universalität. 


Joachim  Steiner,  Grundzüge  einer  neuen  Musiktheorie.  gg| 


Vorerst  will  ich  von  der  Verkettung  der  pythagoreischen  mit  unserem  har- 
monischen Tonsystem y  wie  sie  der  Verfasser  in  Vorschlag  bringt,  absehen,  und 
mich  nur  mit  der  Frage  beschäftigen,  ob  es  nicht  innere  Gründe  dafür  giebt,  daß 
auch  die  Zeiten  von  Pythagoras  und  Gregor  denselben  Kampf  auszufechten  hatten« 
der  uns  eben  beschäftigt. 

Man  behauptet,  gestützt  auf  die  theoretischen  Schriften  des  Alterthums  und 
des  Mittelalters,  daß  die  einstimmige  Melodie  stets  mit  reinen  Quinttönen  zu  Ge- 
hör gebracht  worden  sei.  Leider  fehlt  uns  aus  dieser  Zeit  jeder  Anhaltpunkt  zur 
Bekräftigung  dieser  Annahme,  ganz  wie  die  kommenden  Jahrhunderte  von  unserer 
Musik- Ausübung  auch  nur  jenes  Bild  haben  werden,  welches  ihnen  aus  den  Lehr- 
'büchem  imserer  Tage  entgegentritt  Den  theoretischen  Werken  der  Griechen  fol- 
gend, müßten  wir  also  annehmen,  daß  zwei  Töne  eines  Interralls  stets  an  den 
sie  verbindenden  (sehr  oft  sie  trennenden)  »Stimm-Quinten«  abgemessen  wurden. 
Versteht  sich  das  bei  den  Intervallen  der  Octave,  Quinte  und  Quarte  ganz  von 
selbst,  so  müßte  doch  für  die  übrigen  Intervalle,  die  Terzen  und  Sexten,  das  Ge- 
fühl für  Klangzusammengehörigkeit  vollkommen  gefehlt  haben.  Es  müßte  daher 
von  c  nach  «  in  Gedanken  stets  durch  den  Quintenzirkel:  C'{g-d'a')e  gegangen 
worden  sein,  ein  Prozeß  so  complizirter  Natiur,  daß  ich  bei  praktischer  Ausfüh- 
rung des  Intervall-Schrittes  nicht  ^n  seine  Existenz  glauben  kann.  Und  doch  wäre 
es  geboten  gewesen,  diesen  Umweg  zu  nehmen,  gerade  um  der  Versuchung,  hier 
eine  klaugverwandte,  harmonische,  Terz  zu  singen,  mit  Sicherheit  aus  dem  Wege 
zu  gehen.  Ich  darf  daher  annehmen,  daß  die  Griechen  oft  eine,  von  der  theore- 
tisch vorgeschriebenen  abweichende  Tonhöhe  zu  Gehör  brachten,  wenigstens  dort, 
wo  der  geforderte  Melodie-Schritt  die  Klang- Verwandtschaft  der  beiden  Intervall- 
Töne,  wenn  auch  als  Princip  unerkannt,  doch  dem  Gehör  des  Sängers  nahe  legte. 

Die  verschiedenartigen,  oft  sehr  subtilen  Untertheilungen  des  Halbtons, 
welche  die  griechische  Theorie  lehrt,  sind  für  uns  ein  Fingerzeig  dafür,  daß  bei 
den  Griechen  die  Intonation  nicht  von  mathematischen  Messungen,  sondern  inner- 
halb gewisser  Grenzen  von  dem  Geschmack  und  dem  Affekt  des  Sängers  abhing. 
Und  war  es  nicht  gerade  zur  Zeit  des  einstinmiigen  Gesanges  ein  Leichtes,  die 
feinsten  Seelenregungen  durch  die  Intonation  kundzugeben,  da  der  gesungene  Ton 
nie  in  unmittelbaren  Contact  mit  einem  zweiten  gesungenen  zu  treten  hatte? 

Da  uns  aus  griechischer  Zeit  eine  irgendwie  bedeutende  oder  besonders 
charakteristische  Melodie  fehlt,  greife  ich,  um  ein  Beispiel  vorzuführen,  zu  einer 
Melodie  des  Gregorianischen  Cho/ales,  dem  »Ite^  misaa  est.n 


.  ^      ,  J& ,        ^  ßZi-     ^ 


Ä>- 


22: 


-f^—Qi^—fy 


Wer  hört  sie  nicht  in  Cdur?  Wer  fühlt  nicht  die  Akkordzerlegung  durch 
alle  Zwischennoten  durch?  Die  KJangzusammengehörigkeit  von  c,  g  und  e  einer- 
seits, andererseits  von  A,  g  und  d  muß  dem  Sänger  notliw endig  im  Gehör  gelegen 
haben,  wenn  er  auch  nie  von  der  Existenz  dieses  Verhältnisses  vernommen  haben 
konnte.  Was  will  gegen  diese  Stimme  der  Natur  eine  noch  so  peinliche  und  em- 
sige Vorübung  auf  dem  pythagoreisch  gestimmten  Monochord  sagen?  Lassen  sich 
doch  die  auf  ihm  vorgespielten  Töne  im  Kehlkopf  nicht  mechanisch  einstellen. 
Die  Töne  der  Natur-Harmonie  werden  das  Gehör  des  Sängers  einfach  mit  sich 
fortgerissen  haben,  und  die  angeführte  Stelle  dürfte,  damals  oft,  jetzt  gewiss  vor- 
zugsweise, so  intonirt  worden  sein:  ... 

44* 


gg2  Kritiken  und  Referate. 


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*   ^  ...fiy.Ca:)-^- 


-9- 


— g— ^   g 


ili' 


Würde  mir  nun  auch  durch  ein  Experiment  bewiesen,  daß  trotsdem  die 
Töne  h  nnd  e  höher  gesungen  werden,  so  wären  es  eben  doch  nur  hinaufge- 
triebene Terzen  aus  dem  g-  und  c-Klange,  nicht  aber  ihrer  Ent- 
stehung nach  pythagoreische  Skalentöne,  selbst  wenn  sie  zufällig  genau 
die  Tonhöhe  letzterer  aufwiesen. 

Pythagoreisch  lassen  sich  die  einzelnen  Schritte  dieser  Melodie  nur  folgender- 
maßen reguliren: 


I 


iffi: 


EJ  ^-        A  fttg. 


Liegt  dieser  Proeeß,  dem  man  den  Vorwurf  einiger  Umständlichkeit  nicht  ersparen 
kann,  nicht  zu  Gründe,  dann  kann  eben  nur  ein  dunkles  Gefühl  für  harmoni- 
sche Ton-Affinität  die  Intonation  beherrschen.  Die  Chormeister  der  alten  Zeiten 
mögen  einen  heißen  Kampf  gegen  Terz-Intonationen  geführt  haben;  sie  gingen 
gewiß  oft  als  Sieger  hervor,  aber  nicht,  ohne  einem  noch  unerkannten  Naturgesetz 
in's  Gesicht  geschlagen  zu  haben. 

Es  lag  schon  im  einstimmigen  Gesänge  jeder  Intervall-Messung  eine  Basis 
za  Grunde,  und  zwar  wurden  der  Melodie  gleich  von  Anfang  an  zwei  Stützpunkte, 
Tonika  und  Dominante,  verliehen.  Später,  als  das  harmonische  Bewußtsein  immer 
mehr  erwachte,  trat  noch  ein  dritter,  die  Unterdominante,  hinzu,  mit  deren  Hülfe 
nun  sämmtliche  Töne  eines  Tongeschlechtes  auf  kürzestem  Wege  in  Klangverwandt- 
schaft gebracht  werden  konnten. 

Schreiten  wir  in  unserer  Untersuchung  um  einige  Jahrhunderte  vor,  so  finden 
wir  die  Musik  in  voller  Polyphonie.  Man  sieht  deutlich,  mit  welch  ängstlicher 
Vorsicht  bei  Beginn  dieser  Sets  weise  vorgegangen  wurde.  Mit  dem  Zusammen- 
klange von  Terz  und  Sezt  konnte  die  Theorie  den  Begriff  der  Consonnanz  nicht 
verbinden,  so  lange  sie  dieselben  noch  pythagoreisch  maß.  Lassen  wir  nun  auch 
für  diese  Stilperiode  das  Gesetz  unwillkürlicher  Accommodation  gelten,  so  kön- 
nen wir  annehmen,  daß  durch  öftere  Annäherung  der  Terz  an  Grundton  und  Quinte 
dieselbe  unmerklich  und  bei  so  vielen  Gelegenheiten  die  liebliche  Wirkung  der 
harmonischen  Terz  erzeugen  mußte,  daß  endlich  —  zuerst  natürlich  von  den 
Komponisten,  später  von  den  Theoretikern  —  der  Terz  überhaupt  der  Rang  einer 
Konsonanz  ertheilt  wurde.  Hatte  die  Terz  nun  einmal  als  Konsonanz  festen  Fuß 
gefaßt,  so  erklang  auch  sofort  der  erste  ruhende  Dreiklang  in  jener  reinen  Weise, 
die  wir  mit  dem  Verfasser  die  »harmonische«  nennen  wollen.  Die  Messung  als 
»pythagoreischen  Terz  blieb  aber  noch  aufrecht,  und  der  Kampf  der  Theorie  gegen 
die  Praxis  muß  um  so  erbitterter  geführt  worden  sein,  als  jene  sich  des  öfteren 
durch  den  unleugbaren  Wohlklang  für  überwunden  erklären  mußte. 

Die  Ausführung  der  überreichen  Kompositionen  jener  Periode  muß  gewiß 
ein  äußerst  unsicheres  Gemenge  von  harmonischen  und  (um  mit  dem  Verf.  zu 
sprechen)  pythagoreischen  Intervallen  aufgewiesen  haben.  Ebenso  oft  wie  im  ruhen- 
den DreiÜang  die  Terz  harmonisch  accommodirt  wurde,  ebenso  oft  trieb  der  Affekt 
des  Sängers  die  Einzelmelodie  in  die  Höhe  (Leitton)  oder  ließ  ihn  in  die  Tiefe 


^  Hier  bezeichne  ich  Quinttöne  mit  weißen,  Terztöne  mit  schwarzen  Noten. 


Joachim  Steiner,  Orundsüge  einer  neuen  Musiktheorie.  663 


sinken  (Moll-Terz).  Der  oft,  und  auch  von  dem  Verf.,  citirte  Anfang  des  Stabat 
mater  Yon  Palestrina  kann  damals  ebensowenig  wie  heate  nach  irgend  einem  der 
beiden  Stilprinzipien  (harmonisch  oder  melodisch)  richtig  geklungen  haben;  jeder 
Versuch  einer  absoluten  Richtigstellung  dieser  Harmoniefo^[e,  mag  er  nun  von  der 
einen  oder  der  anderen  Seite  ausgehen,  vermehrt  nur  das  Übel.  Der  Künstler  ist 
eben  nicht  dazu  da,  um  theoretische  Gesetze  zur  Ausführung  zu  bringen;  er  hat 
nur  im  Allgemeinen  seinen  Geist  an  ihnen  zu  schulen,  um  sich  in  den  Besitz 
einer  gemeinyerst&ndlichen  Sprache  zu  setzen,  deren  Grenzen  sein  Gexue  aber  un- 
bewußt erweitert,  deren  Ausdruoksf&higkeit  er  steigert,  deren  Wortschatz  er  be- 
reichert. 

Was  nun  die  Verkettung  des  pythagoreischen  mit  dem  harmonischen  Ton- 
System  betrifft,  so  weise  ich  noch  einmal  auf  den  geistigen  Proceß  hin,  dem  ein 
Sänger  zur  Einstimmung  nicht  einer  natürlichen,  harmonischen,  sondern  einer 
pythagoreischen,  melodischen  Terz  sich  nothgedrungen  unterwerfen  müßte.  Soll  der 
von  ihm  zu  singende  Ton  nicht  von  den  beiden  »starken«  Tönen,  dem  Grundton 
und  der  Quinte,  gewissermaßen  aufgesogen  werden,  und  dem  Zwange,  den  sie  auf 
die  Intonation  ausüben,  zum  Opfer  fallen  —  so  daß  seiner  Kehle  die  harmonische 
Terz  ganz  wie  von  selbst  entquelle  —  so  muß  er,  gegen  diese  Gewalt  ankämpfend, 
seinen  pythagoreischen  Terzton  durch  Quinten-Stimmung  erzeugen,  wobei  er  aber 
mit  jeder  zwisehenliegenden  Stimmquinte  gegen  einen  der  beiden  liegenden  Akkord- 
töne in  Conflict  geräth: 


Und  doch  ließe  sich  logischer  Weise  nur  dann  behaupten,  der  zu  hoch  ge- 
sungene Ton  e  sei  nicht  etwa  das  Resultat  einer  in  den  Dreiklang  gerathenen 
Bewegung  und  Unruhe,  sondern  einer  Verkettung  des  pythagoreischen  mit  dem 
harmonischen  Tonsystem. 

Als  Ergebniß  dieser  Untersuchungen  glaube  ich  die  Beantwortung  der  Ein- 
gangs aufgestellten  Fragen  folgenderweise  fassen  zu  dürfen: 

1.  Die  in  Rede  stehenden  Widersprüche  zwischen  theoretisch  festgesetzter 
Tonhöhe  und  faktischer  Intonirung  sind  aus  Gründen,  die  sich  auf  das 
innerste  Wesen  der  Kunst  zurückführen  lassen,  zu  den  Imponderabilia 
zu  rechnen ;  sie  sind  bedingt  durch  die  Freiheit  des  Vortragenden,  seinen 
Affekt  walten  zu  lassen,  der  den  Intentionen  des  Kunstwerkes  erst  Seele 
und  Bewegung  verleiht,  das  starre  Schema  gewissermaßen  in  lebendiger 
Verkörperung  vor  die  Sinne  bringt;  diese  Intonations-Freiheiten  tangiren 
daher  den  zu  Grunde  liegenden  konstruktiven  Kanon  nicht,  können  daher 
auch  nicht  in  das  Gebäude  des  Systems  als  wesentlich  neue  Glieder  ein- 
gefügt werden. 

2.  Zu  allen  Zeiten  und  während  aller  Stilperioden  gab  es  solche  Erschei- 
nungen: wie  die  Gesetze  der  Klangverwandtschaft  in  das  pythagoreische 
Tonsystem  der  Griechen,  unerkannt,  aber  mit  zwingender  Nothwendigkeit 
eingriffen,  so  läßt  sich  auch  in  der  Periode  des  harmonischen  Systems 
eine  berechtigte  Differenz   zwischen   Intonation    und  theoretisch  festge- 


gg4  Kritiken  und  Referate. 


setzter  Tonhöhe  nachweisen,  wenn  sie  auch  hier  nicht  aus  dem  Wider- 
spruch zweier  Prinzipien ,  sondern  aus  dem  harmonischen  Prozeß  selber 
herausw&chst. 

3.  Diese  Erscheinungen  können  aber  ihrer  inneren  Natur  und  ihrem  Ur- 
sprünge nach  nicht  ahsolut  kommensurabel  sein,  und 

4.  läßt  sieh  kein  Orund  finden,  warum  gerade  die  pythagoreische  Stimmung 
die  Basis  dieser  Abweichungen  sein  soll,  da  sie  selber  eine  absolut  fest- 
stehende  Intonation  in  der  Praxis  nicht  gekannt  haben  kann,  und  bei 
Berührung  mit  Elementen  der  Harmonie  stets  den  Kürzeren  ziehen  muß, 
was  sich  aus  der  Methode  ihrer  Konstruktion  Ton  selbst  ergiebt 

.  Ich  stellte  oben  den  Satz  auf,  daß  die  in  Rede  stehenden  Intonations- Er- 
scheinungen —  wenn  sie  auch  der  yon  dem  harmonischen  Tonsystem  festgestellten 
Tonhöhe  widersprechen,  doch  nichts  desto  weniger  aus  dem  harmonischen  Prozeß 
selber  herauswachsen.  Ich  glaube  hierin  den  Weg  zur  Lösung  des  Räthsels  ge- 
funden zu  haben,  und  will  mich  mit  Vorführung  einiger  Beobachtungen  deutlich 
machen,  ohne  auf  dieselben  mehr  einzugehen,  als  nöthig  ist. 

Ein  ruhender  Dreiklang  kennt  nur  die  natürliche  Terz.  Erst  von  dem  Augen- 
blicke an,  wo  diese  Klang-Einheit  den  Trieb  des  Fortganges  als  Gährungs- 
Stoff  in  sich  aufnimmt,  tritt  Unruhe  und  Widerstreit  in  die  Elemente  des  Drei- 
klanges.  Die  dem  Torgeahnten  neuen  Grundton  zunächst  liegende  Terz  wird  diesen 
Prozeß  am  deutlichsten  zum  Ausdruck  bringen,  indem  sie  gleichsam  in  ungedul- 
digem Streben  die  Reinheit  und  Beharrungs&higkeit  des  Dreiklanges  Temichtet, 
sich  in  einem  gewissen  Sinne  von  dem  Grundtone  des  Dreiklangs  loslöst  und  sich 
in  Abh&ngigkeit  vom  Grundton  der  neuzubildenden  begiebt.  Dadurch  tritt  der  ge- 
suchte neue  Dreiklang  gewissermaßen  als  Erlöser  aus  einem  unhaltbar  gewordenen 
Zustand  in  die  Erscheinung,  und  schließt  als  das  erreichte  Ziel  die  Unruhe  und 
Trübung  ab. 

Noch  verstärkt  wird  dieser  Prozeß,  wenn  sich  zum  Dreiklange,  der  zur  künf- 
tigen Oberdominante  werden  soll,  der  Grundton  der  künftigen  Unterdominante  hin- 
zugesellt, und  ich  kann  dem  Verf.  nur  beistimmen,  wenn  er  für  den  hierdurch 
entstehenden  Dominant-Septakkord  für  die  Ausführung  stets  eine  höhere  Terz  ver- 
langt, als  sie  das  harmonische  Schema  bietet  Entspricht  nun  die  Tonhöhe  dieser 
hinaufgezogenen  Terz  (Leitton]  wirklich  der  vierten  Quinte  des  Grundtones?  Ich 
will  es  dem  Verf.  gerne  glauben,  daß  dies  in  den  weitaus  meisten  Fällen  zutrifft  S 
glaube  aber  die  Motivirung  hierfür  darin  finden  zu  dürfen,  daß  dieser  Quintton 
durch  seine  wenn  auch  weitläufige  Verwandtschaft  allenfalls  in  den  Dreiklang  paßt, 
ihn  aUerdings  beharrungsunfähig,  aber  nicht  in  unerträglicher  Weise  mißtönend 
macht.  Ich  möchte  diesen  Vorgang  eine  Hypertrophie  der  harmonischen  Terz 
nennen,  zum  Zweck,  den  harmonischen  Vorgang  in  schärferes  Licht  zu  setzen. 

Ebenso  wie  sich  der  aktive  Prozeß  —  Oberdominante  zur  Tonika —  durch 
Hinaufstimmen  des  Leittons  verschärft,  ebenso  wird  der  passive  Prozeß  —  Unter- 
dominante zur  Tonika  —  den  Terzton  des  Unterdominant-Dreiklanges  gewiß  nicht 
aufwärts,  sondern  abwärts  drängen.  Hierauf  beruht  die  Berechtigung  des  MoU- 
Dur-Systems,  in  welchem  diese  Herabstimmung  sogar  bis  zur  Moll-Terz  der  Unter- 
dominante reicht.    Entstanden  ist  dies  System  aus  derselben  Quelle,  wie  die  freie 


*)  Wäre  bei  folgender  Wendung  nicht  vielleicht  eine  noch  höhere  Intonation 
des  Leittons  statthaft: 


^^^^^^£' 


Joachim  Steiner,  Orundzüge  einer  neuen  Musiktheorie. 


665 


Intonation  des  aufwärtsf uhrenden  Leittons:  nämlich  aus  dem  Affekt,  der  sich  mit 
der  sehlichten  Fügung,  wie  sie  das  einfache  Dur-System  hietet,  nicht  immer  ge- 
nügen ließ. 

Noch  eine  andere  Erscheinung  im  Kahmen  der  tonalen  Musik  läßt  eine  Yon 
der  schematischen  abweichende  Intonation  nicht  nur  zu,  sondern  fordert  sie  sogar 
gebieterisch.  Auf  einer  und  derselben  Harmonie  beruhend,  haben  die  intervallaus- 
füllenden  Durchgangstöne  nach  jener  Orundtonart  abgemessen  zu  werden,  in 
irelcher  die  beregte  Harmonie  den  Rang  der   Tonika  einnimmt.    In  C-dur   wird 


also  die  Stelle 


^ 


I — - — '^"^-    nicht  nach   dem  Schema  von  C-dur,   also 


sondern  nach  dem  von  Ö-dur  erklingen 


'■$ 


32=± 


32: 


und,  stellt  sich  das  Bedürfniß  ein  den  Leitton  h  emporzutreiben,  sogar  in  dieser 

.  In  abwärts  gewendeter  Richtung  dieser  Melodie- 


Stimmung 


■i 


^F=^^- 


schritte  fällt  die  Nothwendigkeit,  das  k  emporsutreiben,  fort,  da  diesem  Tone  dann 
das  strebende  Element  genommen  ist;  wir  intoniren  daher 


^C    G 


wenn  die  zu  Grunde  liegende  Harmonie  einen  Wechsel  zwischen  Tonika  und  Ober- 
dominante vollführt,  wobei  wieder  a  als  Durchgang  in  der  G-Harmonie  erhöht 
wird.  Steht  diese  Melodie  jedoch  auf  einem  Wechsel  von  Tonika  und  Unter- 
dominante, so  kann  in  beiden  Melodie-Richtungen  wohl  nur  die  harmonisch-rich- 
tige Intonation  von  h  und  a  walten: 


M 


C     F^. 


m 


Der  Durchgangston  ist  hier  Ä;  in  2^-dur  müßte  ein  b  stehen;  hier  in  C-dur  kann 
dieser  Durchgangston  gewiß  nur  durch  ein  recht  unauffälliges  gedrücktes  h  zur 
Darstellung  kommen. 

Ich  griff  aus  dem  Vorrath  meiner  eigenen  Beobachtungen  nur  diese  wenigen 
Beispiele  heraus.  Sie  mögen  dem  Verf.  ein  Beweis  dafür  sein,  daß  ich  das  Vor- 
handensein freier  Intonationen  nicht  leugne,  wenn  ich  auch  die  Veranlassung  zu 
denselben  auf  einem  anderen  Gebiete  suche,  als  er,  und  der  Ansicht  zuneige,  daß 
noch  keine  Erscheinung  zu  konstatiren  ist,  die  ein  Aufgeben  der  harmonischen 
Grundlage  unserer  heutigen  Tonkunst  bedingt,  oder  gar  das  mir  bedenklich  er- 
scheinende Aufstellen  eines  Dualismus  zwischen  Melodie  und  Harmonie  recht- 
fertigen kann.  Im  Gegentheil:  mir  ist  keine  freie  Intonation  je  vorgekommen, 
der  nicht  gerade  der  feinste  und  intimste  Instinkt  für  harmonische  Processe  zu 
Grunde  läge. 

Ich  mußte  mich  über  die  Grundlage  des  neuen  Systems  von  Steiner  so  ein- 
gehend aussprechen,  weil  ich  seine  ausgezeichnete  Kraft  gerne  einer  fruchtbringend 
den  Fortsetzung  der  einschlägigen  Untersuchungen  erhalten  sehen  möchte,  und  die 
Hoffnung  hegen  darf,  ihn  von  allzurascher  Fixirung  eines  neuen  Systems  viel- 
leicht noch  zur  rechten  Zeit  zurückhalten  zn   können.    Ich  glaube,  der  Forscher 


556  Kritiken  tmd  Referate. 


kann  sein  Beobachtungs-Material  —  den  Mörtel  far  den  Ausbau  eines  Sjetems  — 
nicht  lange  genug  flüssig  erhalten,  schon  weil  im  Systeme-Bilden  an  sieh  ein  yer- 
lockender  Beiz  liegt,  dem  sich  Mancher  allzu  voreilig  hingab. 

Wie  Vieles  ließe  sich  noch  aus  dem  Inhalt  des  Werkehens  herausgreifen  ! 
Anregendes  tritt  uns  an  allen  Orten  entgegen.  Von  ganz  besonderem  Werth  scheint 
mir  die  Kritik  der  yerschiedenen  Versuche  zu  sein,  dne  künstliche  Verbindung 
reiner  Stimmung  mit  Instrumenten  yon  feststehender  Tonhöhe  herbeizuführen.  Herr 
Steiner  in  Verbindung  mit  Herrn  Dr.  Austerlitz,  schritten  sogar  selber  zur  Kon- 
struction  eines  solchen  Instrumentes,  dessen  Schilderung  die  ganze  Hftlfte  des 
Werkehens  einnimmt.  Die  wissenschaftliche  Deduction  zeugt  von  großer  Sicher- 
heit, und  läßt  bis  auf  den  Crrund  aller  Stimmungsfragen  blicken;  vielleicht  gerade 
darum  wurde  es  mir  so  klar  wie  nie  vorher,  daß  sie  zu  den  an  sich  unlösbaren 
Fragen  zu  zählen  sei,: da  jedem  Lösungs-Versuche  ein  unlösbarer  Rest  verbleibt, 
mag  man  dies  Eingeständniß  noch  so  weit  hinausrücken  und  auf  noch  so  winzige 
Werthe  beschränken. 

Hüten  wir  uns,  der  Unmittelbarkeit  und  Frische  des  lebendigen  Musicirens 
dadurch  Abbruch  zu  thun,  daß  wir  jede  kleine  Seelenregung  zu  destiUiren  und  zu 
fixiren  versuchen.  Indem  wir  dem  KünsÜer  dadurch  einerseits  die  Flügel  lähmen 
würden,  entzögen  wir,  ihm  andererseits  das  Gefühl  auf  einfacher  und  sicherer 
Basis  zu  fußen.  Diese  Basis,  unser  heutiges  Tonsystem,  hat  sich  doch  wahrhaftig 
als  ertragfähiger  Boden  erwiesen. 

Beruhen  doch  alle  großen  und  sich  scheinbar  widersprechenden  Erscheinungen 
der  letzten  beiden  Jahrhunderte  auf  seiner  Kraft  und  Elastizität. 

Berlin.  Heinrioh  von  Henogenberg. 


Josef  Sittardj  Zur  Geschichte  der  Musik  und  des  Theaters  am 
Württembergischen  Hofe.  Nach  Originalquellen.  Stuttgart,  W.  Kohl- 
hammer, 1890.   Erster  Band  1458—1733.     Gr.  8»  X,  354. 

Als  neulich  an  dieser  Stelle  die  werthvollen  Mittheilungen  über  die  Jugend 
R.  Keisers  erschienen,  wird  mancher  Leser  daran  gedacht  haben,  wie  bedeutend 
und  rasch  der  Ausbau  der  allgemeinen  Musikgeschichte  gefördert  werden  könnte, 
wenn  in  der  musikalischen  Lokalgeschichte  fleißiger  gearbeitet  würde.  Dieses  Ge- 
biet ist  verhältnißmäßig  leicht  zu  bestellen  und  an  sich  ließe  sich  erwarten,  daß 
jedem  gebildeten  Musiker  die  Vergangenheit  seiner  Stelle,  die  Frage  nach  den  Vor- 
gängern und  nach  den  früheren  Zuständen  am  Herzen  läge.  Gleichwohl  bildet 
Herr  Voigt  in  Teuchern,  der  Verfasser  des  oben  erwähnten  Aufsatzes,  eine  verein- 
zelte Erscheinung  und  Werke  die  die  Musikgeschichte  eines  bedeutenden  Ortes 
im  großen  Stile  aufrollen,  gehören  in  Deutschland  ganz  und  gar  zu  den  Selten- 
heiten. Es  sind  vierzig  Jahre  verflossen,  seit  Moritz  Fürstenau  Musik  und  Theater 
am  sächsischen  Hofe  zu  beschreiben  begann.  Wenn  seitdem  nur  jedes  Jahrzehnt 
eine  ähnliche  Arbeit  zu  Tage  gefördert  hat,  so  ist  das  ein  beklagenswerthes  Er- 
gebniß.  Um  so  dankbarer  müssen  wir  ein  Buch  begrüßen,  das,  wie  das  hier  an- 
gezeigte, wieder  einmal  einen  umfassenden  Beweis  für  die  Bedeutung  musikalischer 
Ortsgeschichte  ergiebt. 

Stuttgart  wird  in  Zukunft  auf  Grund  der  Ermittelungen  Sittards  in  der  älteren 
Musikgeschichte  etwas  höher  eingeschätzt  werden  müssen,  als  das  bisher  der  Fall 


Josef  Sittard,  Zur  Qesehiohte  der  Musik  und  des  Theaters  etc.        gg7 


war.  Wir  haben  es  yorwiegend  nur  als  die  Stadt  JomelUs  beachtet.  Nun  zeigt  es 
sieh,  daß  in  der  schwäbischen  Hauptstadt  eine  große  Reihe  von  Tonmeistern  ihren 
Siti  kurse  oder  Iftngere  Zeit  aufgesehlagen  hat,  yon  deren  Aufenthalt  daselbst  wir 
nichts  oder  wenig  wußten.  Heinrich  Finck,  Leonhard  Lechner,  Joh.  Siegmund 
Kusser,  Reinh.  Keiser  gehören  darunter.  Bei  den  letzten  beiden  lohnt  es  sich 
einen  Augenblick  zu  yerweilen,  namentlich  bei  Keiser.  Man  staunt  diesen  Künst- 
ler plötzlich  im  Südwesten  Deutschlands  zu  finden  und  sucht  den  Grund  in  wid- 
rigen Schicksalen,  im  unruhigen  Künstlerblut  und  ähnlichen  Dingen.  £s  hatte 
aber  damit  eine  tiefere  Bewandtniß.  Nämlich  Stuttgart  hat  sich  erst  ziemlich  spät 
für  die  italienische  Oper  entschieden  und  yordem  den  Bestrebungen  zur  Errich- 
tung eines  deutsch-nationalen  Musikdramas  einigen  Antheil  geschenkt  Die  Beweise 
hierfür  finden  wir  in  den  Schilderungen ,  die  Sittard  im  4.  Kapitel  seiner  'Arbeit 
yon  den  Festlichkeiten  und  soenischen  Aulführungen  am  würtembergischen  Hofe 
giebt  Da  kommt  doch  inmitten  des  Schwankens  zwischen  französischen  und  itali- 
enischen Mustern  immer  wieder  etwas  Deutsches,  zuweilen  auch  etwas  gut  Deut- 
sches. So  z.  B.  die  »Layinia«  yom  Jahre  1674,  die  —  eine  Dichtung  eines  Studenten 
der  Theologie  Namens  Michael  Schuster  —  nach  den  mitgetheilten  Proben  einer  der 
besten  Opemtezte  jener  Zeit  ist.  unsere  Aufmerksamkeit  haftet  an  dieser  »Layinia« 
aber  nicht  blos  wegen  des  höheren  Geschmacks  in  ihrer  Sprache,  sondern  noch 
mehr  deshalb,  weil  sie  in  gewissen  Punkten  unverkennbar  mit  der  »Seelewig« 
Stadens  Ähnlichkeit  hat,  also  eine  Verbindung  zwischen  Stuttgart  und  Nürnberg 
herstellt,  das  die  Heimath  und  lange  Zeit  die  Hauptstütze  der  deutschen  Oper  war. 
Auch  Keiser  seheint,  wie  aus  einem  yon  Sittard  auf  S.  107  mitgetheilten  Briefe 
heryorgeht,  in  Nürnberg  gewesen  zu  sein,  ehe  er  nach  Stuttgart  kam  und  wie  wir 
aus  einem  anderen  Briefe  schließen  dürfen,  den  der  Kammermusikus  Höflein  i 
Stuttgart  an  seinen  Vorgesetzten  gerichtet  hat  (S.  103  u.  K)  ist  er  auf  dieser  Reise 
auch  nach  Durlach  gegangen.  Durch  die  Namen  dieser  drei  Städte  wird  das  Feld 
markirt,  auf  dem  die  deutsche  Oper  ziemlich  heimlich  in  ungünstiger  Zeit  ihr 
Dasein  fristete.  Von  Durlach  wußten  wir  das  bestinunt,  yon  Nürnberg  konnten 
wir  es  ziemlich  sicher  schließen,  yon  Stuttgart  erfahren  wir  es  durch  Sittard's 
Buch.  £s  hilft  also  die  Lücken  ausfüllen,  die  zwischen  der  »Seelewigv,  der  Dur- 
lacher »Lucretia«  und  dem  Mannheimer  »Günther  von  Schwarzburg«  liegen  und  es 
zeigt  die  Annahme  berechtigt,  daß  im  deutschen  Süden  die  Herzen  nie  aufge- 
hört haben  für  nationale  Kunst  zu  schlagen.  Wenn  also  Kusser  und  Keiser  sich 
aus  den  hamburger  Nöthen  hinweg  nach  Stuttgart  ^endeten,  so  war  das  nicht 
Zufall  und  Abenteuer  ei,  sondern  die  Hoffnung  einer  im  Norden  schwierigen  oder 
yerlomen  Sache  auf  einem  günstigen  Boden  dienen  zu  können;  es  war  ein  so 
natürlicher  Schritt  wie  die  Rückkehr  eines  Unglücklichen  ins  Elternhaus. 

Bei  Kusser  hat  dieses  Redebild  wörtliche  BedeutiQig.  Denn  sein  Vater  war 
fast  zwei  Jahrzehnte  lang  Musikdirektor  an  der  Stiftskiische  in  Stuttgart 

Auch  diese  Nachricht  gehört  unter  die  zahlreichen  Entdeckungen ,  die  Sittard 
seinen  Quellen,  den  Acten  des  Geheimen  Haus-  und  Staatsarchiys  in  Stuttgart  und 
denen  des  Finanzarchiys  in  Ludwigsburg  yerdankt.  Welche  Wichtigkeit  sie  für 
die  Geschichte  der  Oper  in  Deutschland  haben,  ist  an  dem  Falle  Keisers  bereits 
klargelegt  worden.  Für  die  Entwickelung  anderer  Gattungen  der  Tonkunst  tragen 
sie  nur  wenig  beL  Eine  Stelle  auf  Seite  21  macht  eine  Ausnahme.  Sie  ist  nicht 
den  Acten,  sondern  einem  Carmen  des  Nicodemus  Frischlin  entnommen  und  wirft 
ein  Licht  auf  die  Pflege  der  Instrumentalmusik  in  Süddeutschland  yor  dem  sieben- 
zehnten Jahrhundert,  klingt  somit  an  ein  Thema  an,  welches  Ph.  Spitta  kürzlich 
in  einer  gelegentlichen  Anzeige  höchst  anregend  behandelt  hat. 

Sehr  bedeutend  ist  dagegen  die  Ausbeute,  welche  die  Acten  für  das  biogra- 


gß^  Kritiken  und  Beferate. 


phisefae  Gebiet  liefern.  Die  Namen  die  wir  oben  nannten,  würden  schon  genügen : 
sie  bilden  aber  nur  einen  Bruchtheil  des  großen  Kreises  Ton  Musikern»  den  die 
Geschichte  Sittards  berichtigend,  ergänzend  und  bestätigend  berührt.  An  unter- 
geordneteren Punkten  muß  naturgemäß  die  allgemeine  Musikgeschichte  stärker 
hereinspielen  als  an  Plätzen  ersten  Ranges,  die  jeglichen  Bedarf  mit  einheimi- 
schen Kräften  zu  decken  im  Stande  sind.  Aus  diesem  Grund  ist  die  Geschichte 
kleinerer  Orte  instruktiver  als  die  der  Weltstädte,  in  denen  die  wirklichen  Meister 
der  Zeit  zuweilen  von  berühmten  LokalgrOßen  verdunkelt  werden.  In  Wien  und 
London  sind  die  Spuren  Heinrich  Schützens  schwach.  In  Stuttgart  hingegen  sehen 
wir  ihn  als  Schiedsrichter  citirt  an  der  Seite  Carissimis.  Auch  die  Bedeutung  von 
Staden,  Agazzari,  M.  Vulpius  und  anderen  wird  bekräftigend  beleuchtet  dadurch, 
daß  das  Bibliotheksverzeichniß  des  Süftschores  vom  Jahre  1636  ihre  Compositionen 
enthält.  Sie  standen  neben  dem  in  mehrfachen  Exemplaren  vorhandenen  Opus 
musicum  magnum  des  Orlandus,  neben  Häsler  und  Praetorius. 

Was  nun  die  nicht  unbeträchtliche  Zahl  von  Stuttgarter  Musikern  betrifft, 
die  von  Sittard  zum  ersten  Male  angeführt  werden,  so  wünscht  man  allerdings, 
daß  der  Verfasser  ihre  Bilder  mehr  ausgeabeitet  hätte.  Auch  ein  Froberger,  wahr- 
scheinlich ein  naher  Verwandter  des  bekannten  Joh.  Jacob  F.  ist  darunter.  Unter 
den  Gründen,  die  dazu  bestimmt  haben  mögen,  sich  auf  das  zu  beschränken ,  was 
die  Acten  geben  und  die  Verfolgung  und  Lösung  der  entgegentretenden  Fragen 
und  Beziehungen  bei  Seite  zu  lassen,  tritt  namentlich  die  Rücksicht  auf  den  popu- 
lären Charakter  des  Buchs  hervor.  £s  sollte  nach  der  Vorrede  »auch  den  der 
Musik  femer  stehenden  Kreisen  ein  größeres  Interesse  abgewinnen«.  Dieser  Ge- 
sichtspunkt scheint  auch  die  Eintheilung  des  Stoffes  bestimmt  und  veranlaßt  zu 
haben,  daß  viele  bekannte  Sachen  breit  behandelt  worden  und  Flüchtigkeiten  unter- 
gelaufen sind. 

Immerhin  bleibt  das  Ergebniß  der  Untersuchungen  Sittards  bedeutend  und 
macht  uns  auf  die  Fortsetzung  gespannt,  die  sich  mit  der  Glanzzeit  Stuttgarts  und 
dem  Wirken  JomelUs  befassen  wird. 

Leipzig.  Hermann  Kretaschmar. 


Christian  Bartsch,  DBLinnBolsKi.  Melodieen  litauischer  Volkslieder, 
gesammelt  und  mit  Textübersetzung,  Anmerkungen  und  Einleitung  im 
Auftrage  der  Litauischen  Litterarischen  Gesellschaft  herausgegeben. 
Heidelberg,  Winters  Universitäts-Buchhandlung.  Erster  Theil  IS 86. 
Zweiter  Theil  1889.  8.     XXXI  und  248,  XV  und  304  Seiten. 

Bekanntlich  war  es  L.  J.  Khesa,  Professor  der  Theologie  und  Director  des 
litthauischen  Seminars  zu  Königsberg,  welcher  den  litthauischen  Volksgesang  zu- 
erst eingehend  würdigte  und  die  Bekanntschaft  mit  ihm  weiteren  Kreisen  ver- 
mittelte. Dies  geschah  1825,  in  Zeiten  also,  da  solche  Studien  in  ihrem  frischesten 
Grün  standen.  Seitdem  haben  die  Sprachforscher  den  Gegenstand  nicht  wieder 
aus  dem  Auge  verloren.  Aber  es  ging  dem  litthauischen  Volkslied,  wie  lange  Zeit 
dem  deutschen  -.  über  der  litterarischen  Seite  wurde  die  musikalische  vemachl&ssigt. 
Schon  Rhesa  wandte  seine  Aufmerksamkeit  vorzugsweise  der  Dichtung  zu ;  als 
Anhang  theilte  er  zwar  7  Melodien  mit,  meinte  aber,  sie  würden  einen  geringen 
Begriff  von  der  litthauischen  Volksmusik  geben,  denn  die  Melodien  seien  außer- 


Christian  Bartsch,  Dainu  Balsai.  669 


ordentlich  schwer  festzustellen.  Bei  der  Aufzeichnung  und  Abfassung  in  Noten 
gehe  das  Schönste  verloren.  Gleich  dem  Vogelgesange  entschlüpften  die  plötz- 
lichen Aufsteigungen  und  schnellen  Abfälle,  die  sanften  Verschwebungen  jedem 
Versuch,  sie  festzuhalten.  Die  Nachfolger  Rhesas:  P.  von  BoMen,  Nesselmann, 
Bezsenberger,  Kurschat,  vor  allem  der  Pole  Oskar  Kolberg  haben  sich  auf  die 
Musik  wohl  etwas  tiefer  eingelassen.  Unversucht  aber  war  bisher  die  Lösung 
der  Aufgabe  geblieben,  das  litthauische  Volkslied  wenn  nicht  ausschließlich,  so 
doch  vorzugsweise  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Melodie  zu  betrachten.  Christian 
Bartsch  hat  sich  an  sie  gewagt,  und  schon  das  Unternehmen  verdient  unser  Lob. 
Volkslieder  ohne  Melodie  sind  keine  Volkslieder,  und  alles  was  von  ihrer  Bedeu- 
tung für  die  Volkspsychologie  gesagt  worden  ist,  gilt  nur,  wenn  man  sie  sich  ge- 
sungen vorstellt.  Die  Gabe  des  Gesanges  ist  der  Nährboden  des  Volkslieds,  die 
Melodie  den  Worten  gegenüber  das  Ursprünglichere,  daher  Ältere  und  auch  Dauer- 
haftere, mag  gleich  ihr  Wesen  luftig  und  ungreifbar  erscheinen.  Will  man  diese 
Quelle  des  Wissens  zum  vollen  Fließen  bringen,  so  müssen  die  Schwierigkeiten, 
die  Melodien  in  Zeichen  festzuhalten,  überwunden  werden,  seien  sie  noch  so  groß. 
Die  Dainos  bilden  die  Hauptgattung  des  Volksgesanges  der  Litthauer. 
Außerdem  .kennen  sie  noch  Raudos,  Klagelieder  um  Gestorbene,  von  denen  Bhesa 
zwei  Beispiele  mittheilt  (S.  23  und  83),  die  aber  keine  ausgebildete  Melodie  zu 
haben  pflegen,  und  Gesmes,  geistliche  Gesänge,  Choräle,  die  den  evangelischen 
Kirchenliedern  nachgebildet  sind  und  nur  uneigentlich  dem  Volksgesange  zugerechnet 
werden  können.  Dies  war  wohl  der  Grund,  weshalb  der  Herausgeber  sich  auf 
Dainos  beschränkte.  Es  giebt  deren  eine  sehr  große  Anzahl.  Die  Brüder  luß- 
kewicz  haben,  allerdings  mit  Einschluss  einer  Reihe  von  Raudos,  nicht  weniger 
als  2669  Texte  gesammelt  und  von  1880 — 18S3  in  4  Bänden  herausgegeben.  Die 
Melodien,  welche  die  Sammlung  von  Bartsch  bietet,  belaufen  sich  auf  ungefähr 
vier  und  ein  halbes  Hundert. 

Man  braucht  nur  wenige  Bogen  seines  M'^erkes  gelesen  zu  haben,  um  zu 
wissen,  daß  man  mit  einer  höchst  eigenartigen  Volksmusik  zu  thun  hat.  Sie  darf 
als  Seiten-  und  Gegenstück  zur  Volksmusik  der  Skandinavier  betrachtet  werden. 
An  die  Seite  stellt  sie  sich  dieser  durch  die  Continuität,  mit  welcher  Altes  — 
vielleicht  Uraltes  —  sich  in  Neues  und  Neuestes  hinein  fortsetzt.  Einen  Gegen- 
satz bildet  sie  durch  den  Charakter  Der  skandinavische  Volksgesang  hat  einen 
männlichen  Grundton.  Das  Wesen  des  litthauischen  ist  das  Frauenhafte;  Frauen 
vor  allen  sind  seine  Pflegerinnen,  er  zeigt,  wie  sich  die  Welt  in  der  Frauenseele 
spiegelt,  und  treffend  erklärt  Bartsch  hieraus  auch  den  Umstand,  daß  es  unter 
den  Dainos  verhältniß mäßig  wenig  Trinklieder  giebt.  Fast  gänzlich  fehlt  das 
epische  Element,  und  die  Lyrik  ist  eine  eng  umgrenzte,  beinahe  ganz  in  Erotik 
und  sympathetischer  Naturempflndung  aufgehende.  Aber  innerhalb  dieser  Grenzen 
entfaltet  sich  eine  zarte,  naive  VoltLSseele  zu  überraschendem  Reichthum  und 
fesselnder  Schönheit. 

Über  die  Art  wie  seine  Sammlung  zu  Stande  gekommen  ist,  berichtet  Bartsch 
in  umsichtig  und  anziehend  geschriebenen  Vorreden.  Der  erste  Band  sollte  vor- 
zugsweise Volkslieder  enthalten,  die  bisher  noch  nirgends  veröffentlicht  waren, 
der  zweite  die  in  Büchern  und  Zeitschriften  verstreuten  bringen.  Doch  ließ  sich 
der  Plan  nicht  durchführen,  denn  auch  im  zweiten  Bande  erscheinen  über  hundert 
Melodien  zum  ersten  Male,  eine  größere  Anzahl  noch  als  im  ersten.  Das  brachten 
die  Verhältnisse  so  mit  sich,  und  es  fällt  uns  ebensowenig  ein,  dem  Herausgeber 
deswegen  einen  Vorwurf  zu  machen,  als  wir  ihn  wegen  der  acht  Rubriken,  in  die 
er  seinen  Stoff  gebracht  hat,  ausdrücklich  loben  wollen.  Eine  solche  Sammlung 
kann  und  soll  verschiedenen  Zwecken  dienen:  wer  ästhetische  Befriedigung  in  ihr 


670 


Kritiken  und  Refierate. 


sucht»  wird  sie  anders  geordnet  wünschen,  als  derjenige,  dem  sie,  wie  uns,  musik* 
wissenschaftliches  Material  bieten  soll. 

Die  Vermuthung,  daß  yiele  dieser  litthauisehen  Melodien  ein  hohes  Alter 
haben  müssen,  ist  mehrfach  ausgesprochen  und  durch  den  Hinweis  auf  ihre  To- 
nalität  begründet  worden.  Auch  Bartsch  erwähnt  »das  auffallend  h&ufige  Herror- 
treten  der  , griechischen'  oder  , alten  Kirchentonarten'«  und  führt  eine  Anzahl  Bet- 
spiele an,  wo  dies  der  Fall  sein  soU  (I,  VII  j.  Hier  hat  er  nicht  glücklich  ge- 
wählt oder  ist  nicht  gut  berathen  gewesen,  denn  neun  dieser  Beispiele  stellen  keine 
»alten«  Tonarten  dar,  hingegen  hat  er  mehre  zu  nennen  unterlassen,  die  dem 
Leser,  mein'  ich,  schon  beim  ersten  Anblick  auffallen  müßten.  Zur  Verständigan^ 
sei  Torausgeschickt,  daß  es  sich  um  jene  Octayengattungen  handelt,  welche  seit 
der  Eweiten  Hälfte  des  XVH.  Jahrhunderts  aus  der  europäischen  Musik  mehr  und 
mehr  yerschwunden  sind,  also  D,  E,  F,  G,  und  in  gewissem  Sinne  auch  die  Oe- 
tavgattung  A,  welche  sich  mit  unsrer  Molltonart  nicht  yöUig  deckt.  Ich  behalte 
die  griechischen  Benennungen  Dorisch,  Phrygisch,  Lydisch,  Mixolydisch  und  Aeo- 
lisch  bei,  obgleich  sie  jenen  Tonreihen  mit  Unrecht  gegeben  sind. 

Der  französische  Gelehrte  Bourgoult-Decoudray  hat  anläßlich  der  Grammatik 
der  litthauisehen  Sprache  yon  Kurschat  und  ihrer  Musikbeigaben  über  eine  litüian- 
ische  Volksmelodie  Betrachtungen  angestellt,  die  yon  unserm  Herausgeber  würdig 
erachtet  worden  sind,  in  deutscher  Übersetzung  wiedergegeben  zu  werden  (I,  XIX}. 
Ich  an  seiner  Stelle  hätte  dies  nicht  gethan ,  denn  der  Franzose  spricht  wie  der 
Blinde  yon  der  Farbe.  Aber  die  Melodie  selbst  ist  freiUch  der  Beachtung  werth. 
Bartsch  hat  sie  Band  II  Nr.  381  mitgetheilt,  aber,  wie  es  scheint,  selbst  nicht  be> 
merkt,  daß  sie  im  ausgeprägten  Phrygisch  steht.  Ich  bringe  sie  in  ihre  natürliche 
Tonlage,  wo  sie  sich,  wie  folgt,  darstellt: 


r==^=f. 


Ach,  ich   Jun  -  ger,    in    den  Krieg  mußt  ich   hin  -  aus,  Mei-ne  LieVste 


E^ 


i= 


t 


r=t 


^ 


ließ    im    Rum-mer    ich     zu    Haus,    ach,  ach,    ach!  Mei  -  ne    Lieb-ste 


im  Kum-mer    ich     zu  Haus.  Mei  -  ne   Lieb-ste 


im  Kum-mer 


^ 


/ — h- 


fr- 


t=^ 


ä 


t=t 


ich     zu    Haus,  Mit  Ko-sa- ken  schlug  ich  fer -ne    mich    her -um,    ach,  ach, 


ach;  Mit  Ko  -  sa-ken  schlug  ich    fer-  ne    mich   her -um,  ach,    ach,  ach! 

Schließen  wir  noch  einige  Beispiele  derselben  Tonart  an.    Der  Präcentor  Budrius 
in  Pillupdnen  hat  um  1S40  eine  Melodie  aufgezeichnet,  welche  Bartsch  Band  I 


Christian  Bartsch,  Dainu  Balsai. 


671 


unter  Nr.  160  mit  der  Vorseichnung  von  zwei  Kreuzen  wiedergiebt.    Untransponirt 
lautet  sie  so: 


l^iJi-JiJvNl :  A^j^;,|J-  r.  . 


Eb  -  ne    Wie  •  sen,  grü  -  ne    Dfim-me  Wei  -  ße   Klee  -  ge  -fil-  de, 


fJI^^^T^ 


:iot 


^^^^ 


:1s: 


Dort    mar-schi  -  ren  weit  -  hin  jauch-zend  Zwei  bra  -  ye    Dra  -  go-ner. 

£ine  andere  kürzere  Melodie   [II,  Nr.  218)  hat  Bartsch  selbst  dem  Volksmunde 
abgelauscht : 


[Andante  quasi  Hecit) 


ritard. 


j"  j  Ij  I  u-^gm^ 


-^ 


Wuchs  auf  bei  Bö-sen,  Lieb-te  sie    al-le,  £i-ne  doch  nur  wünscht  ich  mir. 


Es  fftllt  auf,  daß  alle  drei  Melodien  zu  Texten  gehören,  in  welchen  vom  Kriege 
gehandelt  wird.  In  dem  letzten  spricht  ein  Jüngling,  der  nachdem  er  drei  Jahre 
um  sein  Mädchen  gefreit  und  sie  endlich  erworben  hat,  alsbald  hinaus  gegen  den 
Feind  geschickt  wird.  Das  zweite  wird  nach  seiner  fünften  Strophe  auf  die  Schlacht 
bei  Kunersdorf  (1759}  gedeutet.  Trifft  die  Deutung  zu,  so  kann  die  Melodie  nicht 
mit  dem  Texte  zugleich  entstanden  sein.  Es  ist  nicht  denkbar,  daß  eine  solche 
phrygische  Weise  noch  im  XVIII.  Jahrhundert  erfunden  wurde.  Nehmen  wir 
auch  an,  daß  in  dem  abseits  gelegenen  Litthauen  die  alte  Musikübung  sich  l&nger 
erhielt,  als  in  den  Haupt-Culturländem ,  so  wäre  doch  immer  die  zweite  Hälfte 
des  XVII.  Jahrhunderts  die  äußerste  Marke  ihrer  Entstehung.  Davor  dehnt  sich 
das  Gebiet  ins  Unbegprenzte :  sie  kann  im  XVI.  Jahrhundert  entstanden  sein,  aber 
auch  viele  Jahrhunderte  früher;  bis  jetzt  besitzen  wir  keinerlei  Anhaltspunkte 
einer  genaueren  Bestimmung. 

Wie  phry^sche  Melodien,  so  sind  auch  dorische  (I,  25;  I,  60;  I,  70],  aeo- 
lische  (I,  27;  I,  62;  I,  73;  II,  167),  mixolydische  (I,  8»;  I,  20;  I,  48;  I,  51  u.a.m.) 
in  beträchtlicher  Anzahl  vorhanden.  Selbst  lydische  fehlen  nicht.  Hervorzuheben 
ist  Nr.  357  im  2.  Bande,  weil  der  wehleidige  Charakter  der  Tonart  aufs  trefflichste 
zur  Situation  paßt:  jemand  ist  gänzlich  verarmt,  er  verkauft  die  letzten  Kleider, 
um  noch  ein  paar  Schuhe  für  sein  Weibchen  lu  erschwingen ,  dann  wandert  er  fort 
mit  dem  Stab  als  einzige  Habe : 


Will   al  -  le    Klei -der  ver  -  kau-fen,  Kauf  nur  noch  der   Frau    fei  •  ne 


t^ltY-^ 


ä 


Sehuh; 'Sist  mir    gar    leid    zn      se- hen.  Das  Weibchen  bar-fuß    ge-hen. 


672 


Kritiken  und  Referate. 


Die  zweite  Hälfte  der  Melodie  ist  rhythmisch  nicht  in  Ordnung;  ich  gebe  sie  aber 
so,  wie  Bartsch  sie  sich  nach  P.  von  Bohlen's  Aufzeichnung  hat  gefallen  lassen, 
da  es  hier  mehr  nur  auf  die  melodischeJFQhrung  ankommt.  Drei  andere  Melodien 
[I,  16,  I,  151,  II,  173)  lassen  zwar  auch  den  lydischen  Tritonus  deutlich  henror- 
treten,  nehmen  aber  gegen  den  Schluß  eine  dorische  Wendung  und  haben  größeren 
Theils  ein  anderes  Ethos.  Eine  fünfte  (II,  262)  schließt,  was  bei  litthauischen 
Melodien  häufig  Torkommt,  auf  der  fünften  Stufe  und  ist  sehr  merkwürdig  durch 
die  Art,  wie  im  Tritonus  geschwelgt  wird.    Ein  verlassenes  Mädchen  klagt: 


3i=^ 


t 


t 


^ 


O    Mond,    du    blas  -  ser,     0    Mond,    du    blei-cher,  Welch  dunk-le 


3:aE^ 


t 


Spu  -  ren    Trägst  du      im    Ant  -  litz! 

Wenn  hiernach  als  feststehend  angesehen  werden  muß,  daß  der  Bestand 
der  litthauischen  Volksgesänge  Melodien  von  hohem  Alter  enthält,  so  ist, 
wie  mir  scheint,  dem  Forscher  der  Weg  deutlich  vor  gezeichnet.  Er  hat  zunächst 
diese  ältesten  Bestandtheile  auszusondern  und  muß  von  ihnen  aus  die  Übergänge 
verfolgen,  welche  die  Melodiebildung  bis  in  die  moderne  Zeit  hinein  erkennen 
läßt.  Auch  Melodien  in  unserm  Dur  und  Moll  sind  in  großer  Anzahl  vorhanden. 
Moll  überwiegt  stark,  und  Melodien,  in  denen  es  rein  ausgeprägt  ist,  werden  vi]X 
ein  Hecht  haben,  wenigstens  in  dieser  ihrer  Form  als  neuere  Erzeugnisse  anzu- 
sprechen. Bei  Dur-Melodien  ist  dies  nicht  ohne  weiteres  gestattet,  weil  das  Dur 
auch  im  Volksgesange  früherer  Jahrhunderte  erscheint,  namentlich  bei  den  Deutschen, 
deren  Cultur  die  Litthauer,  vorzugsweise  berührte.  Diejenigen  Melodien  aber, 
welche  weder  in  Dur  oder  Moll  stehen,  noch  in  das  System  einer  der  oben  ge- 
nannten Octavengattungen  passen,  müssen  ZwischenbUdungen  sein,  die  als  solche 
auch  ihrer  Entstehungszeit  nach  ungefähr  bestinamt  werden  können.  Früher  als 
ins  XVn.  Jahrhundert  können  sie  nicht  fallen.  Dagegen  bleibt  die  Möglichkeit 
der  Entstehung  in  neuer  Zeit  inmier  offen,  denn  ein  Volk ,  in  welchem  sich  Me- 
lodien alter  Tonarten  bis  heute  lebendig  erhalten  haben,  kann  sich  auch  noch  jeden 
Tag  gelaunt  fühlen,  diese  in  moderner  Richtung  umzubilden. 

Andererseits  ist  klar,  daß  wenn  die  Neigung  zum  Umbilden  im  Volke  einmal 
geweckt  war,  sie  sich  an  solchen  Objecten  in  verschiedenster  Weise  äußern  konnte, 
und  die  Wahrscheinlichkeit  ist  groß,  daß  eine  Menge  Varianten  der  alten  Melo- 
dien bei  ihm  im  Schwange  gehen.  Hier  rühre  ich  an  einen  Mangel  unserer  sonst 
so  verdienstlichen  Sammlung.  Der  Herausgeber  hätte  mehr,  als  geschehen  ist, 
darauf  bedacht  sein  müssen,  eine  und  (lieselbe  Melodie  durch  das  litthauische  Ge- 
biet zu  verfolgen  und  sie  möglichst  vielen  Personen  abzuhören.  Erweist  sich  diese 
Methode  schon  bei  einem  Volksgesang,  der  wie  der  deutsche  einen  überwiegend 
modernen  Charakter  trägt,  als  höchst  ersprießlich  —  Ludwig  Erks  Arbeiten  sind 
in  dieser  Hinsicht  ein  noch  immer  unübertroffenes  Muster  —  mit  wieviel  größerem 
Erfolge  wird  man  sie  bei  den  litthauischen  Volksliedern  verwenden  können. 
Auch  will  ich  nicht  verschweigen,  daß  mir  über  die  Zuverlässigkeit  der  Aufzeich- 
nung bisweilen  Bedenken  gekonunen  sind.  Nicht  bei  den  Melodien,  welche  Bartsch 
selbst  aus  dem  Volksmunde  gesammelt  hat.  Offenbar  ist  er  mit  großer  Sorgfalt 
zu  Werke  gegangen,  und  an  der  nöthigen  musikalischen  Ausrüstung  scheint  es  ihm 


Christian  Bartsch,  Dainu  Balsai. 


673 


auch  nicht  gefehlt  zu  hahen.  Aber  seine  Gewährsmänner  wollen  mir  nicht  alle 
gleich  vertrauenswürdig  vorkommen,  namentlich  v.  Bohlens  Aufzeichnungen  dürften 
nur  mit  Vorsicht  zu  gebrauchen  sein.  Nicht  nur  daß  zur  richtigen  Erfassung  so 
eigenartiger  Tongebilde  Scharfe  des  Gehörs,  musikalisches  Gedächtniß  und  die 
Fälligkeit  gehört,  von  der  gewohnten  Musikweise  zu  abstrahiren  —  Dinge  die  nicht 
ein  jeder  in  dieser  Vereinigung  besitzt,  und  ein  Phonograph  ist  nicht  immer  gleich 
zur  Hand  —  aber  es  hat  auch  manchem  Sammler  für  erlaubt  gegolten,  willkürlich 
zu  ändern,  wenn  er  der  Meinung  war,  daß  die  Melodie  »ursprünglich  wohl  so  ge- 
wesen sein  müsse«.  Der  Lockung  scheint  man  besonders  in  solchen  Fällen  erlegen 
zu  sein,  wo  man  eine  alte  Tonart  zu  entdecken  glaubte,  die  aber  nicht  rein  aus- 
geprägt schien.  Sind  darauf  hin  nicht  manche  chromatische  Zeichen  getilgt  worden, 
die  das  Volk  doch  wirklich  anwendet?  Budrius  aus  Fillupönen  hat  um  1&29  eine 
Melodie  aufgezeichnet,  welche  Bartsch  I,  24  mittheilt.  Nach  demselben  Budrius 
ist  die  Melodie  schon  in  den  »Neuen  Preußischen  Provinzialblättem  von  1648«  ver- 
öffentlicht. Dort  ündet  sich,  wie  eine  Anmerkung  unseres  Herausgebers  sagt,  von 
allen  Erhöhungszeichen,  mit  denen  sich  uns  die  Melodie  vorstellt,  keines  außer 

dem  ^  vor  g.  So  steht  allerdings  eine  reine  phr}'gische  Melodie  da,  die  nur  aeo- 
lisch  cadenzirt,  während  die  Aufzeichnung  unserer  Sammlung  eine  Mischbildung 
bietet.  In  welcher  Gestalt  hat  denn  nun  Budrius  die  Melodie  gehört?  Mir  scheint, 
hier  hat  ein  »Kenner«  ins  Alterthümliche  retouchirt. 

Immerhin  bietet  die  Sammlung  doch  einiges  lehrreiche  Material  zur  Beob- 
achtung des  genannten  Umbildungsvorgangs.  Ich  muß  mich  auf  wenige  Bei- 
spiele beschränken,  aber  sie  werden  für  den  Zweck  genügen.  Eine  mixolydische 
Daina,  welche  1886  südlich  von  iMemel  gehört  w^orden  ist,  lautet  so  (II,  169): 

Weich. 


P 


:sri 


t 


r-n—piDi 


-#-* 


Vor    mei  -  nes     Va  -  ters  Glas  -  blan-kem  Fen    -   ster    Grün  -  te 

'ritard.) 


ein 


prächt  -  ger    öl    -    bäum,  Grün-te      ein    prächt  -  ger      öl    -    bäum. 

Zum  letzten  Tone  sei  bemerkt,  daß  manche  Dainos-Melodien  auf  der  zweiten, 
einige  sogar  auf  der  siebenten  Stufe  endigen.  Das  ist  aber  wohl  weniger  als  wirk- 
licher Schluß  zu  verstehen,  wie  als  Zurückleitung  in  den  Anfang.  Eine  Daina 
hat  immer  mehre  Strophen  und  so  vertritt,  wenn  Ich  meiner  Empfindung  trauen 
darf,  der  Anfangston  der  folgenden  Strophe  in  solchen  Fällen  zugleich  den  Schluß- 
ton der  vorhergehenden,  bis  auf  die  letzte  Strophe,  die  dann  mit  einer  sehr  eigen- 
thümlichen  Wirkung  wie  in  der  Luft  schweben  bleibt.  Der  mixolydische  Charakter 
der  Melodie  tritt  deutlichst  hervor.  In  einer  anderen  Gegend  Litthauens  aber 
singt  man  sie  modcriiisirt;  Bartsch  hat  sie  1856  folgen  dergestalt  notirt: 


Vor  mei-nes     Va  -  ters  Glän-zen-dem  Fen-ster  Grünt'  wohl  ein  prächtiger 


../-j 


PI 


Öl  -bäum,  Grünt'  wohl  ein  prächt'ger  Baum. 


674 


Kritiken  und  Referate. 


Hier  haben  wir  einfaches  Cdur.    Nur  noch  die  Hinneigung  der  Melodie  zum  g 
deutet  Yon  fem  auf  die  mixolydische  Urgestalt. 
Man  betrachte  nun  diese  Daina  (II,  312*): 


|i"ir3~3   f 


^ 


PI 1 


3t 


-^j  ir  ^  I 


Als    ich     so    hin   -  '.ritt    An    der    Wie  -  se  grün>    An      der  Wie  -se 


#^ 


t 


grün 


Und   bun  -  tem  Klee  -  feld. 


Das  ist  dorisch;  und  auch  das /a  im  vierten  Takte  ist  ganz  systemgem&ß, 
da  die  Bewegung  wieder  abwärts  führt.  Aber  ein  in  modemer  Vorstellung  be- 
fangenes Gehör  konnte  dadurch  verleitet  werden,  die  ganze  Partie  bis  hierher  als 
Fdur  zu  empfinden.    Wie  denn  auch  geschehen  ist: 


i 


1^- 


4r 


X 


x=x 


12. 


X 


Als    ich     so      hin  -  ritt     An    grü  -  ner   Wie  -  se,      An     grü  -  ner 


ä 


\ 


32 


3 


Wie-  se    Und   bun -tem  Klee-feld. 


Das  ist  eine  Melodie  in  Fdur,  welche  nach  DmoU  modulirt. 

Das  litthauische  Volk  singt  nur  einstimmig  und  unterscheidet  sich  hierdurch 
scharf  von  den  Russen,  die  bekanntlich  gern  eine  naturalistische  Mehrstimmigkeit 
improvisiren.  Aber  es  erklärt  sich  hieraus  leichter,  warum  die  Octavengattungen 
immer  noch  bei  den  Litthauem  in  Gebrauch  bleiben.  Diese  Tonreihen  dulden 
zwar  eine  Mehrstimmigkeit,  aber  ihr  inneres  Wesen  beruht  nicht  auf  üu,  und 
kommt  besser  zur  Entfaltung  ohne  sie.  Eigenartige  Instrumente  haben  sie  mehre 
und  musiciren  eifrig  auf  ihnen.  Bartsch  widmet  ihnen  eine  besondere  kleine  Ab- 
handlung mit  Abbildungen  (II,  XI — XV  und  2  Tafeln).  Er  sagt  nichts  darüber, 
wie  sich  die  Instrumente  dem  Gesänge  gesellen,  was  doch  in  diesem  Falle  be- 
sonders wichtig  wäre.  Annehmen  aber  darf  man,  daß  dieses  nicht  nach  den  Re- 
geln der  modernen  Harmonielehre  geschieht.  Natürlich  haben  sie  sich  der  har- 
monischen Anschauung  unserer  Zeit  nicht  verschließen  können,  und  sehr  viele 
ihrer  neuern  Lieder  sind  in  Bau  und  Modulation  den  unsem  gleich  oder  wenigstens 
ähnlich.  Aber  wo  sie  in  auffalligerer  Weise  abstechen,  wird  man  immer  zunächst 
versuchen  müssen,  dies  auf  rein  melodischem  Wege  zu  begpreifen.  So  besonders, 
wenn  sie  in  eine  andre  Tonart  ausweichen.  Das  letzte  der  angeführten  Beispiele 
hat  gezeigt,  daß  eine  solche  Ausweichung  ursprünglich  gamicht  vorhanden  ge- 
wesen zu  sein  braucht.  Aber  Modulation  im  Sinne  vom  Hinübergehen  in  eine 
andre  Tonart  ist  auch  im  rein  melodischen  Gesänge  möglich  und  schon  die 
Griechen  bedienten  sich  ihrer.  Nur  vollzieht  sie  sich  in  andrer  Weise :  der  Grund- 
ton der  neuen  Tonart  bleibt  derselbe,  wie  der  der  verlassenen,  aber  die  Tonreihe, 
welche  auf  ihm  aufgebaut  wird,  ist  anders  geordnet.  Bei  uns  verhält  es  sich  um- 
gekehrt, im  Dur,   versteht  sich,  dessen  Potenz  allein  den  vollen  Gegensatz  zur 


Christian  Bartsch,  Dainu  Balsai. 


675 


alten  Theorie  darstellt:  die  Scala  der  durch  Modulation  erreichten  Tonart  ist 
dieselbe,  aber  ihre  Lage  im  Tongebiet  eine  andere.  Ich  meine  nun  unter  den 
Dainos  eine  Melodie  gefunden  zu  haben,  in  welcher  rein  im  alten  Sinne  ausge- 
wichen wird  (I,  110) : 


i 


Ä 


s 


?=a 


Könnt  ich      er  -  rieh  -  ten    Auf    ho  -  hem     Berg    ein     Haus  -  chen, 

-^ — 1-5- 


i=ö?=t=i: 


=S^ 


Und     da  -  rein    se  -  tzen     De-mant  -  ne      Fen  -  ster-  lein. 


Der  Harmonist  unsrer  Tage  wird  geneigt  sein  zu  sagen,  diese  Melodie  stehe  in 
Cdur,  modulire  im  zweiten  Theile  nach  Fdur  und  kehre  mittelst  Halbschlusses 
nach  Cdur  zurück.  Mir  scheint,  daß  es  eine  mixolydische  Melodie  ist,  deren 
zweiter  Theil  ins  Dorische  modulirt  und  in  dieser  Tonart  auch  abschließt.  G  ist 
Tonica  für  beide  Theile,  aber  im  ersten  wird  die  Tonreihe  gahcdefg^  im 
zweiten  die  Tonreihe  g  ah  c  d  e  f  g  auf  sie  bezogen.  Und  hier  leistet  mir  eine 
Variante  erwünschte  Dienste  (I,  109): 


i 


b»    I    #-JVfc 


Arn*: 


E 


.^<_± 


t 


ä^ 


m 


Gern  würd  ich    schmücken  Mit  -  ten    im      Hof    ein    Stüb  -    eben, 


S 


i=-^*-T- 


t 


Wür  -  de  drein    se  -  tzen  Zwei  hei  -  le      Spie  -  gel  -  fen  -  ster. 

Ein  wunderlich  untonales  Gebilde!  Aber  eines  lehrt  es  mit  Bestimmtheit:  die 
Sängerin  dieser  Daina,  welche  die  ursprüngliche  Tonalität  der  Melodie  nicht  mehr 
verstand  und  sie  daher  in  solcher  Weise  umbildete,  faßte  den  zweiten  Theil  moll- 
artig  auf,  und  suchte  Ton  hier  aus  auch  den  ersten  Theil  einigermaßen  conform 
zu  gestalten.  In  der  Auffassung  des  zweiten  Theils  wurde  sie  durch  Tradition 
und  Empfindung  sicherlich  richtig  geleitet.  Dann  kann  dessen  eigentliche  Tonart 
aber  nur  das  Dorische  gewesen  sein,  welches  ja  auch  zum  Mixolydischen  in  naher 
Verwandtschaft  steht.  Man  wird,  glaube  ich,  auch  finden,  daß  die  Melodie,  so 
Terstanden,  einen  ganz  eigenen  Keiz  in  sich  birgt,  der  bei  der  andern  Auffassung 
nicht  Torhanden  ist. 

Freilich,  nicht  immer  gelingt  es,  so  tief  in  die  Genesis  dieser  Tonwesen  hinein- 
zublicken. Manche  spotten  in  schrankenloser  Launenhaftigkeit  jeder  Hegel,  andre 
lassen  wenigstens  zweifelhaft,  wohin  sie  gehören,  und  ein  gewisses  Recht  dazu 
soU  man  dem  Volksgesang  immerhin  zugestehen.  Indessen  glaube  ich,  daß  gerade 
bei  solchen  scheinbar  regellosen  oder  unbestimmten  Melodien  scharfe  Beobachtung 
der  Tonfolgen  und  sorgfältigere  Variantensammlungen  noch  manches  Räthsel  lösen 
könnten.  Andre  Seltsamkeiten  erklären  sich  ohne  weiteres  aus  dem  Wesen  ein- 
stimmigen Gesanges.  Es  ist  nicht  durchaus  nothwendig,  daß  eine  Melodie  immer 
auf  der  Tonica  schließt,  noch  weniger,  daß  sie  stets  auf  dieser  beginnt    Es  kommt 


1891. 


45 


g76  Kritiken  und  Referate. 


nur  darauf  an,  daß  im  Verlauf  der  Melodie  überhaupt  ein  Ton  als  der  beherr- 
schende hervortritt.  Die  Dainos  schließen  denn  auch  auf  den  verschiedensten 
Stufen,  besonders  oft  auf  der  fünften  und  dritten,  aber  auch  auf  der  vierten  und 
zweiten,  selbst  auf  der  siebenten  (U,  205«;  283);  und  sie  beginnen  nicht  nur  auf 
der  ersten,  dritten  und  fünften,  sondern  auch  auf  der  siebenten,  vierten  und 
zweiten.  Ich  denke  nicht  fehl  zu  gehen,  wenn  ich  diese  letzte  Erscheinung  aus 
dem  natürlichen  Bestreben  erkl&re,  beim  Anfang  eines  Gesanges  die  Stinmie  ein 
weniges  über  das  Mittelmaß  zu  erheben,  wie  sich  andrerseits  häufig  Stellen  finden, 
wo  tiefbetonte  Silben  noch  um  eine  Stufe  unter  das  Niveau  sinken,  welches  nach 
Maßgabe  der  Tonart    das   natürliche  wäre.     Wer  das   oben  angeführte  Beispiel 

Nr.  110  betrachtet,  wird  bemerken,  daß  das  Achtel  des  siebenten  Taktes  (/)  ein 
solcher  übermäßiger,Tiefton  ist  Ahnliche  Fälle  bietet  unsre  Sammlung  ziemlich 
viele  (Nr.  111,  Takt  4;  239,  Takt  4;  336.  Takt  6;  auch  57,  Takt  3). 

Über  die  rhythmischen  Eigenthümlichkeiten  der  Dainos  enthalte  ich  mich 
des  Urtheils,  weil  ich  glaube,  daß  nur  der  Kenner  der  litthauischen  Sprache  zu 
einem  solchen  berechtigt  ist.  Durch  seine  Übersetzung  hat  Bartsch  es  übrigens 
auch  dem  Nichtkenner  ermöglicht,  den  vielfachen  Accentverschiebungen  nachzu- 
gehen, die  hier  vorkommen  müssen.  Vielleicht  deutet  die  häufige  Anwendung  von 
Hemiolen  auf  eine  Beeinflussung  durch  das  deutsche  Lied  des  XVI. — ^XVTI.  Jahr- 
hunderts. Ein  einziges  Mal  habe  ich  beim  Schlußfall  einer  im  dreizeitigen  Maße 
sich  bewegenden  Daina  auch  jene  Synkopirung  des  zweiten  und  dritten  Takttheils 
auf  einer  schwach  betonten  Silbe  gefunden,  welche  in  den  -  deutschen  Gesängen 
des  XVn.  Jahrhunderts  Manier  geworden  ist  (I,  26) ,  und  möchte  um  so  eher 
glauben,  daß  die  —  aeolische  —  Melodie  aus  dieser  Zeit  stanmit,  als  die  Er- 
höhung der  sechsten  Stufe  im  fünften  Takt  eine  chromatische  Eleganz  ist,  die 
dem  Wesen  damaliger  Musik  durchaus  entspricht. 

Ich  schließe  mit  einem  doppelten  Wunsche.    Möchten  die  Bemühungen  um 

das  kunsthistorisch  hochwichtige  litthauische  Volkslied,  die  bereits  zu  so  schönen 

Ergebnissen  geführt  haben,  nicht  nachlassen,  und  die  Forschung  nach  jener  Bich- 

tung  hin  fortführen,  die  ich  mir  erlaubte  anzudeuten.    Möchten  aber  auch  alle, 

die  es  angeht,  sich  beeifern,  von  den  Schätzen  Besitz  zu  nehmen,  die  der  fleißige 

Verfasser  für  sie  zusammengespeichert  hat, 

Berlin.  Philipp  Spitta. 


Johann  Lewalter  ^  Deutsche  Yolksliedei.  In  Niederhessen  aus 
dem  Munde  des  Volkes  gesammelt,  mit  einfacher  Klavierbegleitung, 
geschichtlichen  und  vergleichenden  Anmerkungen  herausgegeben. 
1.  Heft.   Hamburg,  1890.  G.  Fritzsche.    kl.  8.    Vin  und  68  Seiten. 

Im  Anschluß  an  das  große  Werk  von  Bartsch  möge  dies  Heft  hier  kurz  an- 
gezeigt sein.  Im  Jahre  1885  gab  Otto  Böckel  ein  Buch  »Deutsche  Volkslieder  in 
Oberhessen «  (Marburg,  Elwert)  heraus,  das  eine  fleißige  Sammlung  von  Texten, 
dazu  in  einer  ausführlichen  Einleitung  viel  Lehrreiches  und  manch  ein  behenigens- 
werthes  Wort  enthält.  Lewalter  sagt  es  nicht  ausdrücklich,  ist  aber  gewiß  durch 
dieses  Buch  zu  seiner  Arbeit  angeregt  worden.  Böckel  bietet  keine  Melodien  und 
tritt  sehr  gelehrt  auf;  Lewalter  berücksichtigt  Text  und  Musik  gleichmäßig  und 
löst  so,  wenn  auch  in  anspruchsloserer  Form,   seine  Aufgabe  vollständiger.    Die 


Johann  Lewalter,  DeutscLe  Volkslieder.  ^77 


Melodien  sind  ihrer  Mehrzahl  nach  bekannt,  auch  manches  von  dem^  was  dem 
Verfasser  neu  zu  sein  scheint,  möchte  sich  anderweitig  nachweisen  lassen.  Er  hat 
nicht  bemerkt,  daß  die  Melodie  seiner  Nr.  9  im  wesentlichen  mit  der  von  £rk  im 
u  Liederhort«  unter  Nr.  38»  yeröffentHchten  übereinstimmt,  und  Nr.  11  hängt  ge- 
wiß zusammen  mit  der  Melodie  des  Handwerksburschenlieds  »Es,  es,  es  und  es, 
£s  ist  ein  harter  Schluß«.  Der  Werth  des  fleißig  gearbeiteten  Büchleins  liegt 
hauptsächlich  in  zwei  Dingen  t  es  lehrt  an  seinem  Theile,  wie  der  Volksgeist  auch 
an  altererbtem  Gut  vermehrend,  kürzend,  umbiegend,  anpassend,  mischend  in  un- 
ausgesetzter Thätigkeit  ist,  und  giebt  zugleich  eine  Statistik  dessen,  was  zu  einer 
bestimmten  Zeit  auf  einem  engumgrenzten  Gebiete  Deutschlands  an  Volksliedern 
noch  lebendig  war.  Bei  dem  sicher  bevorstehenden  tieferen  Niedergange  des 
deutschen  Volksgesanges  hat  solch  ein  statistisches  Bild  seine  geschichtliche  Be- 
deutung. Ich  gestehe,  der  Bestand  ist  immerhin  größer^  als  ich  erwartet  hätte, 
und  scheint  mit  vorliegendem  Hefte  noch  nicht  einmal  erschöpft  zu  sein.  Der 
Titel  wenigstens  stellt  eine  Fortsetzung  in  Aussicht,  die  wir  dankbar  aufnehmen 
werden. 

Berlin.  Philipp  Bpitts. 


Otto  Kade,  Die  ältere  Passionskomposition  bis  zum  Jahie  1631. 
Erstes  Heft.     Gütersloh,  Bertelsmann,  1891.     8.     80  Seiten. 

Erste  Lieferungen  stückweise  erscheinender  Werke  werden  der  Regel  nach 
in  dieser  Zeitschrift  nicht  besprochen.  Wenn  ich  hier  eine  Ausnahme  mache,  so 
geschieht  es,  um,  so  viel  an  mir  ist,  ein  gutes  Werk  zu  fördern.  Otto  Kade  hat 
sich  ein  langes  Leben  hindurch  mit  Sammeln  älterer  Passionscompositionen  be- 
schäftigt, und  ein  Material  zusammengebracht,  das  ihn  in  den  Stand  setzt,  die 
Entwicklung  dieser  Kunstform  auf  breiter  Grundlage  darzustellen.  Siebenund- 
dreißig, zwischen  1500  und  1631  entstandene  Werke  dieser  Art  stehen  ihm  für 
Beinen  Zweck  zu  Gebote,  darunter  sind  vierzehn,  welche  bisher  Niemandem  oder 
nur  Wenigen  bekannt  waren.  Die  beste  Art,  diesen  Stoff  zu  Nutz  und  Frommen 
der  Wissenschaft  zu  verwenden,  wäre  nun  die,  daß  die  Passionen  in  einer  um- 
sichtig gearbeiteten,  mit  kritischen  und  erläuternden  Bemerkungen  versehenen  Aus- 
gabe der  Welt  vorgelegt  würden.  Aber  hierzu  gehören  zwei:  einer,  der  die  Aus- 
gabe macht  und  ein  anderer,  der  sie  verlegt.  Und  dieser  andere  wird  sich  nach 
einem  dritten  Partner  umschauen,  dem  Publicum,  welches  die  Ausgabe  kauft.  Ob 
ein  solches  vorhanden  ist,  könnte  nur  die  Erfahrung  lehren.  Wer  auf  dem  Felde 
der  Musikwissenschaft  arbeitet,  ist  Zeuge,  daß  es  oft  ans  Unmögliche  grenzt,  selbst 
die  werthvoUsten  Arbeiten  ohne  schwere  Opfer  ans  Licht  zu  bringen,  und  nicht 
jeder  mag  einem  neuen  Unternehmen  gegenüber  das  Risico  laufen. 

Kade  sah  sich  daher  genöthigt,  die  Form  der  mit  Probestücken  durchfloch- 
tenen  Beschreibung  zu  wählen ,  kann  aber  die  Aussicht  auf  vollständige  Mitthei- 
lung wenigstens  der  wichtigsten  Passionen  eröffnen,  wenn  die  Betheiligung  der 
bücherkaufenden  Welt  eine  genügende  sein  wird.  Selbstverständlich  wünschen 
wir,  daß  die  Publication  zu  Stande  kommt,  und  hoffen,  unsere  Leser  thun  das 
gleiche,  und  geben  ihrem  Wunsche  den  entsprechenden  Ausdruck. 

Der  Stoff  gliedert  sich  von  selbst  in  zwei  Gruppen:  die  motettenhaften  und 
die  dramatisirten  Passionen.  Die  letztere  Form  ist  die  ältere,  aber  für  eine  ge- 
schichtliche Darstellung  empfiehlt  es  sich,    sie  an  zweiter  Stelle  zu  behandeln,  da 

45* 


ß78  Kritiken  und  Referate. 


sie  es  ist,  auf  deren  Grunde  sich  die  Passion  zur  höchsten  Höhe  hebt,  während 
die  motettenhafte  Form  abstirbt.  So  hat  denn  Xade  auch  gethan.  Im  vorliegenden 
ersten  der  angekündigten  sechs  Hefte  bespricht  er  nach  kurz  orientirender  Ein- 
leitung die  Werke  von  Hobrecht,  Gralliculus,  Resinarius,  Johannes  Gallus,  Cyprian 
de  Rore,  Ludwig  Daser,  Bucenus,  Ruffus,  Jacobus  Gallus,  Regnart,  Gese  und  die 
ältere  Passion  des  Joachim  von  Burck.  In  jedem  Falle  giebt  er  Quelle  und  Fund- 
ort der  betreffenden  Composition,  beschreibt  deren  äußere  Erscheinung,  sucht  das 
Entstehungsjahr  festzustellen,  untersucht  den  Text,  darnach  Form  und  Charakter 
der  Musik  und  weist  auf  das  Verwandte  oder  Gegensätzliche  zwischen  ihm  und 
den  umgebenden  Werken  derselben  Gattung  hin.  Reichliche  Musikbeispiele  ver- 
deutlichen die  Beschreibung;  ein  sinniger  Gedanke  ist  es,  jedesmal  die  vollständige 
Anfangspartie  eines  Werkes  dem  Beginn  der  Untersuchung  vorauszuschicken,  und 
so  den  Leser  gleichsam  mit  den  Worten  des  Componisten  selbst  zu  grüßen. 

Dem  Bruchstück  gegenüber  muß  jede  Kritik  unzulässig  erscheinen,  die  mehr 
sagt,  als  was  in  Vorstehendem  eingeschlossen  ist.  Die  Bitte,  auf  Correctheit  des 
Druckes  genau  Acht  zu  geben,  sprechen  wir  aus,  weil  uns  in  Text  und  Noten  des 
Heftes  mehre  Satzversehen  aufgefallen  sind.  Gewiß  wird  der  Verfasser  überall 
auch  den  erreichbarsten  Grad  von  Prägnanz  und  Anschaulichkeit  in  der  Darstellung 
anstreben.  Er  weiß  so  gut  wie  wir  von  den  Schwierigkeiten,  die  ein  Schriftsteller 
bei  Beschreibung  eines  Musikstücks  überwinden  muß,  und  daß  er  schon  viel  er- 
reicht hat,  wenn  es  ihm  gelingt,  nicht  mißverstanden  zu  werden. 

Berlin.  Fhüipp  Spitta. 


Notizen. 


Speronies.  Es  ist  mir  eine  kleine  Notiz  über  Sperontes  zugegangen,  die  ich 
an  diesem  Orte  bekannt  machen  möchte,  wo  ja  zum  ersten  Male  das  Dunkel 
dieses  Namens  zu  lüften  durch  Spitta  yersucht  wurde.    (I.  Jahrgang  1885,  1.  Heft) 

Sie  bezieht  sich  auf  eine  Zinn-Medaille  im  Besitze  des  Herrn  Begierungs- 
raths  M.  Meissner  in  Altenburg.  Vorderseite:  Umschrift:  »Sigismundus  Scholz 
Aet,  50«.  Brustbild  des  Genannten  nach  Links  mit  AUongenperrücke,  gesticktem 
Bock  und  gestickter  Weste.  Unten  »C.  F.  Loos«,  das  ist  der  Nürnberger,  nicht 
der  Berliner  Künstler. 

Rückseite:  das  Wappen  des  Genannten,  im  goldenen  Felde  zwei  gekreuzte 
Schnabelflöten,  welche  ebenso  zwischen  der  Helmzier,  zwei  an  den  Spitzen  aus- 
wärtsgebogenen BüfiPelhömern ,  erscheinen;  Umschrift:  »Pars  mea  deus  —  in 
aeiemumn.  Im  Abschnitt  unten  1767. 

Der  Besitzer  hat  oft,  aber  vergeblich  gesucht,  wer  dieser  Scholz  gewesen  sei, 
hat  auch  diese  Medaille  in  keinem  der  vielen  Münzkataloge  gefunden.  So  enthält 
Ampachs  ausführlicher  Katalog  nur  eine  Medaille  |auf  M.  Job.  Heinr.  Scholz, 
einen  Lehrer  in  Langwaltersdorf,  geb.  1729  (Jubiläum  1805).  Die  vorliegende 
Münze  ist  sehr  gut  geprägt. 

Der  Besitzer  vermuüiet  nun,  diese  Münze  sei  1767  von  Verehrern  des  Dich- 
ters veranlaßt  worden,  also  17  Jahre  nach  seinem  Tode,  wenn  Sperontes  jener  Scholze 
aus  Lobendau  war  (geb.  20.  März  1705).  Eine  Titelangabe  fehlt:  dies  könnte 
sich  aus  der  Verbummelung  des  Scholze  erklären.  Andererseits  scheinen  mir  die 
Schnabelflöten  allerdings  sehr  auf  einen  Musiker  hinzuweisen,  die  auch  als  Schluß- 
vignetten im  Buche  selber  einigemale  begegnen.  Ich  knüpfe  hieran  keine  weiteren 
Schlüsse,  zu  denen  ich  mich  nicht  berufen  fühle. 

Einen  kleinen  Druckfehler  in  Spittas  Aufsatz  möchte  ich  zum  Schluß  noch 
angeben.  Der  Neudruck  von  1742  druckt  bei  den  vier  falschen  Liederanfängen 
25  :  10.     (Nicht  15  :  10;  Anmerkung  2.  S.  39.) 

Dresden.  B.  Kade. 


Zu  8.  178 ff.  dieses  Jahrgangs  der  Vierteljahrssehrift  f.  M.  Durch  die  freund- 
liche Mittheilung  des  Herrn  C.  Krebs  in  Berlin  wurde  ich  auf  eine  Handschrift 
aufmerksam  gemacht,  welche  den  Forschern,  die  sich  bisher  mit  Sweelinck  be- 
schäftigt haben,  entgangen  ist. 

Mscr.  nr.  62  der  Kgl.  Bibliothek  Berlin,  ein  Band  in  quer  4^,  ist  eine  noch 
nicht  bekannte  Kopie  des  Sweelinck^schen  Lehrbuches.  Ich  möchte  hier  einige 
Bemerkungen  über  ihr  Verhältniß  zu  den  beiden  anderen  uns  bekannten  Kopien 


ßSO  Notizen. 


(Hamburg.  Stadtbibl.)  nachtragen.  Auf  dem  Vorderdeckel  des  Bandes  steht :  »Bcr- 
chardus  Oramman,  Anno  1657«.     Der  Innentitel  des  unpaginierten  Buches  lautet: 

»Compositum  Regeln 

Herrn 

3f.  Johan  Peierson  Sweling 

gewesenen 
Vornehmen  Organigten  in 
Amsterdam^ . 
Wie  der  Zeit  nach,  so  gehört  auch  inhahlich  dies  Mscr.  62  zwischen  die  beiden 
Hamburger  Mscr.  5383  und  5384.  Es  hat  überall  die  kurze  und  knappe  Fassung 
von  nr.  5383  und  ist  nur  in  einigen  Absätzen  etwas  ausführlicher ;  es  ist  aber  nicht 
mit  so  viel  eigenen  Ausführungen  des  Schreibers  durchsetzt  wie  nr.  5384.  Der 
Inhalt  von  nr.  62  deckt  sich  im  einzelnen  fast  genau  mit  dem  von  nr.  5383.  Zieht 
man  dazu  einige  Eigenthümlichkeiten  der  Schreibung  mit  in  Betracht,  so  stellt 
sich  nr.  62  als  einfache,  nur  in  einigen  Funkten  erweiterte  Kopie  von  nr.  5383  dar. 
Über  die  Ferson  des  Schreibers,  Burchard  Gramman,  habe  ich  nichts  in 
Erfahrung  bringen  können;  er  muß  aber  jedenfalls  mit  den  Hamburger  Schülern 
Sweelincks  in  Verbindung  gestanden  haben.  Daß  Oramman  selbst  Organist  war, 
dafür  sind  mehrere  Anzeichen  vorhanden.  Er  nimmt  auf  die  Bedürfnisse  der  Or- 
ganisten Rücksicht,  indem  er  in  seinen  Beispielen  unter  die  einzelnen  Noten  die 
entsprechenden  Buchstaben  und  Zeichen  der  Orgeltabulatur  setzt.  Ganz  am 
Schlüsse  macht  er  eine  Bemerkung,  welche  sich  in  den  beiden  Hamburger  Kopien 
nicht  vorfindet:  »Vor  einen  Organisten,  der  zur  Teutschen  Tabulatur  gewohnet, 
Vnd  sich  in  die  Noten  Vielleicht  so  gar  nicht  richten  könte  :  deuchtet  mich  nicht 
Vneben,  die  Modos  auff  diese  Art  zu  Vnterscheiden«.  Und  nun  folgen  zwei  kleine 
Tabellen,  in  welchen  er  die  Hauptakkorde  der  » Modi  Auihentici  aeu  Reguläres  In 
Cantu  duro  «  imd  der  » Modi  Plagales  seu  Transpositi  In  Cantu  ^  moüin  zusammen- 
stellt. — 

Noch  bitte  ich  die  Leser  dieser  Zeitschrift,  auf  S.  147  den  Noten  des  Altes 

im  ersten  Beispiel  diese  Messung:  ^3  J  zu  geben;   die  zweite  Note,  e,  muß  über 

dem  e  des  Basses  stehen;  ebenso  S.  158,  3.  Beispiel,  Takt  2.  Auf  S.  196  oben  und 
240  unten  verbessere  man  nJering«,  Jering  war,  wie  aus  Dreyhaupt  hervorgeht, 
nicht  Pastor  an  St.  Moritz  gewesen.  Damit  wird  der  letzte  Anspruch,  den  das 
S.  196  erwähnte  BQd  darauf  erheben  konnte,  S.  Scheidt  darzustellen,  beseitigt.  Auf 
Seite  188  endlich  wolle  man  bemerken,  dass  Scheidt  im  Jahre  1621  eine  Sammlung 
von  Tänzen  erscheinen  ließ,  auf  deren  Titel  er  sich  schon  oOrganista  et  CapeÜae 
Magister  91  nennt  Seine  Ernennung  zum  Kapellmeister  muß  also  Ende  1620  oder 
Anfang  1621  erfolgt  sein. 

Charlottenburg.  Max  Selffert. 


Gaudeamus  igitur.  In  den  »Burschenschaftlichen  Blättern«  von  1891  vor- 
öffentlicht  Dr.  A.  Kopp  eine  Abhandlung  über  die  Entstehung  des  Gaudeamus 
igitur,  in  welcher  er  zu  dem  Ergebniß  »gelangt,  daß  das  berühmte  Studentenlied 
weder  von  hohem  Alter,  noch,  wie  bisher  angenommen  wurde,  als  das  Vorbild  zu 
Günthers  » Brüder I  laßt  uns  lustig  sein«  anzusehen  sei.  Die  Sache  verhalte  sich 
vielmehr  umgekehrt,  Günthers  Lied  sei  das  Original  und  das  Gattdeamus  die  Nach- 
bildung. Der  von  Kopp  geführte  Wahrscheinlichkeits-Beweis  hat  etwas  sehr  ein- 
leuchtendes, und  wenn  es  nicht  endlich  noch  gelingen  sollte  —  was  bis  jetzt  ver- 


Notizen.  gg| 


geblich  angestrebt  worden  ist  —  das  Vorkommen  des  Oaudeamas  in  früherer  Zeit 
irgendwo  nachzuweisen,  dürfte  es  bei  Kopps  Annahme  dauernd  sein  Bewenden 
haben.  Ich  erwähne  sie  hier  nicht  nur  um  meine  Zustimmung  kund  zu  geben, 
da  ich  früher  die  allgemeine  Meinung  theilte,  sondern  besonders  um  stärker  als 
es  durch  ihn  selbst  geschehen  ist  hervorzuheben,  daß  Kopps  Ansicht  auch  durch 
die  Beschaffenheit  der  Melodie  gestützt  wird.  Er  macht  darauf  aufmerksam,  daß 
das  Gedicht  ursprünglich  nur  vierzeilige  Strophen  gehabt  haben  müsse,  welche  erst 
wegen  der  auf  einen  größeren  Umfang  angelegten  Melodie  zu  fünfzeiligen  erwei- 
tert seien.  Gewiß,  und  die  Erweiterung  ist  mit  einer  Unbekümmertheit  um  Sinn 
und  Gedankenfortschritt  vorgenommen  worden,  wie  sie  nur  der  fröhlichen  Burschen- 
weit  eignen.  Am  meisten  gilt  dies  von  der  zweiten  Strophe :  auch  wenn  man  in 
der  letzten  Zeile  statt  Ubijamfuere  conjicirt  Übt  sunt?  Fuere!,  ein  vernünftiger 
Sinn  kommt  dennoch  nicht  hinein.  Aber  selbst  für  eine  fünf  zeilige  Strophe  ist 
die  Melodie  immer  noch  zu  lang.  Sie  fordert  mit  ihrem  zweigliedrigen,  zu  wieder- 
holenden Aufgesang  und  ihrem  dreigliedrigen  Abgesang  2  x  2  +  3  ss  7  Zeilen. 
Es  widerstreitet  einem  Grundgesetz  des  Liedbaues,  den  Aufgesang  zu  denselben 
Worten  zu  wiederholen,  wie  es  doch  im  Gaudeamus  igiiur  geschieht.  Sieben  Zeilen 
aber  hat  die  Strophe  in  Günthers  Gedicht.  Also  wird  die  Gaudeamus-yLeloöie  ur- 
sprünglich auch  für  dieses  erfunden  worden  sein. 

Somit  ließe  sich  der  Entwicklungslauf  folgend ergestalt  skizziren.  In  Leipzig, 
zwischen  1717  und  1719,  entstand  Günthers  Gedicht.  Man  sang  es  zuerst  im 
Tanz-Bhythmus  einer  Sarabande  in  Moll.  Dieser  Bhythmus  ist  auch  der  Dur- 
Melodie  eigen  geblieben,  welche  sich  sonst  aus  der  Melodie  zu  Günthers  »Nahrung 
edler  Geister«  entwickelt  zu  haben  scheint  (s.  Jahrg.  1885  dieser  Zeitschrift,  S.98f.). 
Angeregt  durch  Günthers  Lied  dichtete,  richtiger  wohl:  improvisirte  in  der  Folge- 
zeit ein  Studiosus  das  Gaudeamus  mit  vierzeüigcr  Strophe.  Er  mochte  vom  elter- 
lichen Pfarrhause  her  das  mittelalterliche  Gedicht  de  contemptu  mundano  kennen 
(die  einzige  bis  jetzt  entdeckte  Quelle  des  Gaudeamus)  und  entlehnte  ihm  ungenirt 
das  Wortmaterial  der  zweiten  und  dritten  Strophe.  Welcher  Melodie  er  sein 
Kunstwerk  gesellte,  wissen  wir  nicht.  Wie  aber  der  Text  an  Günthers  beliebtes 
Lied  erinnerte,  so  verlangte  man  auch  nach  dessen  Melodie.  Nun  wurden  die 
Strophen,  so  viel  es  ihrer  damals  sein  mochten,  zu  fünfzeiligen  breit  getreten. 
Dies  alles  wird  um  die  Mitte  des  XVIII.  Jahrhunderts,  kann  keinesfalls  vor  dem 
Jahre  1736  geschehen  sein,  in  welchem  der  erste  Theil  der  »Singenden  Muse  an 
der  Pleiße«  erschien,  der  noch  die  Moll-Melodie  enthält.  1780  waren  Text  und 
Melodie  allbekannt.  1781  spricht  Kindleben  vom  Gaudeamus  igitur  als  einem 
s  alten  Burschenlied «.  Sein  Ursprung  war  also  unter  der  leichtlebigen  Jugend  da- 
mals schon  vergessen.  Das  wird  niemanden  Wunder  nehmen,  der  verwandte  Vor- 
gänge aus  unserm  Jahrhundert  vergleicht.  Wie  viele  der  Tausende,  die  es  Jahr 
für  Jahr  singen,  kennen  die  Geschichte  des  Lieds  vom  »lustigen  Musikanten,  der 
einst  am  Nil  spazierte«?  Oder  wie  viele  wollen  sie  kennen? 

Philipp  Spltta. 


Musikalische  Bibliographie 


von 


Prof.  Dr.  F.  Ascherson, 

Bibliothekar  und  erstem  CnstoB  der  Königlichen  Üniyersitäts-Bibliothek  zu  Berlin. 


L   Geschichte  der  Musik. 

Ambros^  A.  W.,  Geschichte  der  Musik.  3.  Aufl.  Besorgt  von  O.  Kade.  3.  Bd.  XV, 

640  S.  gr.  8.  Leipzig,  F.  C.  E.  Leuckart.    n.  12  uT.  [S.  ob.  Bd.  m.  S.  610.] 
Annuaire  du  conservatoire  Royal  de  Musique  de  BruxeUes.     Qucctorzihne  annee. 

211,  1  S.  8.    Gatidf  Itbrairie  ginSrale  Ad,  Hoste  et  Bruxeües,  Uhraire  scientißque, 

1890. 
BautZy  J.,  Geschichte  des  deutschen  Männergesanges  in  übersichtlicher  Darstellung. 

VII.  80  S.  gr.  8.  Frankfurt  a/M.,  Steyl  und  Thomas.  Hof-Musikalienhandlung. 

n.  1  ur  50  ^. 

Frhr.  r.  Berger,  A.,  Epilog  zur  Mozart-Centenarfeier  1891  zu  Sakburg.  14  S.  8. 
Salzburg,  Herrn.  Kerber.    n.  70  ^. 

Bergmeier,  J.,  Fahrer  durch  die  cäcilianische  Kirchenmusik  mit  besonderer  Rück- 
sichtnahme auf  leichte  Ausführbarkeit  Treuer  Kathgeber  bei  Neuanschaffung 
Yon  Kirchenmusikalien.  V,  80  S.  gr.  8.  Passau,  Rudolf  Abt,  Verlags-Conto  in 
Comm.    n.  1  UT. 

Bericht,  20.,  des  Königl.  Conservatoriums  für  Musik  zu  Dresden.  35.  Studien- 
jahr. 1890/91.  42  S.  gr.  8.  Dresden,  Wamatz  und  Lehmann,  Hofbuchhandlung. 
baar  30  ^. 

BertolotH,  Musici  aüa  corte  dei  Gojizaga  in  Mantova  dal  secolo  XV  al  XVIII. 
Notizie  e  documenti  raecolti  negli  Archivi  Mantovani,  Milano,  Hicordi  e  Co. 
180  p.  8  fig. 

Blnnmer,  M.,  Geschichte  der  Sing- Akademie  zu  Berlin.  Eine  Festgabe  zur  Säcu- 
larfeier  am  24.  Mai  1891.  X,  256  S.  4.  mit  1  Bildniß.  Berlin,  Hom  u.  Raasch. 
n.  6  ur.,  Einbd.  baar  1  UT  50  J^r. 

Böhme,  E.  F.  H.,  Die  Geschichte  der  Musik,  zusammengefaßt  und  dargestellt  in 
synchronistischen  Tabellen  unter  Berücksichtigung  der  allgemeinen  Welt-  und 
Kulturgeschichte.  40  S.  gr.  4.  Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel.    n.  2  M. 

de  Bovet,  A.^  Charles  Gounod,  his  life  and  toorks.  8.  London,  Low  and  Co.  5  sh. 

Brflekmanii,  B.,  Leitfaden  zum  Studium  der  Musikgeschichte  für  den  Gebrauch 
beim  Unterricht  VIII,  148  S.  gr.  8.  Leipzig,  Gebr.  Hug,  Verlags-Conto.  n. 
1  ur  50  ^. 

Centralblatt  der  deutschen  Musikwissenschaft.  Herausg.  v.  O.Wille  u.  A.  Meißner. 
2.  Bd.  (12  Hefte).  1.  Heft  gr.  8.  Leipzig-Neu-Schleussig,  0.  Wille.  Viertel- 
jährlich n.  2  ur  25  ^. 

Commettantf  Oscar,  Histoire  de  cent  mille  pianos  et  d'une  solle  de  concert.  Parts, 
Librairie  Fisclihacher.  1890,  8.  364  S.  6  Fr  es. 


Musikalische  Bibliographie.  683 


Conrersations-Lexikoiiy  musikalisches.  Begründet  Yon  H.  Mendel.  Vollendet  von 
A.  Reissmann.  Neue  wohlfeile  Stereot>'p-[Titel-]Au8g.  (In  20  Abtheilungen. 
Abthlg.  1.  2.  1.  Bd.  IV  u.  S.  1—636.  gr.  8.   Leipzig,  List  u.  Francke.  ä  n.  2  uT. 

Coquardf  A.,  De  la  tntisique  en  France  depuis  Rameau.  18.  Paris  j  C.  Levy, 
3  fr.  60  c. 

Crowest,  F,  •7'.,  Cherubini.  8.  London^  S.  Low  and  Co.  3  sh. 

Derrtent,  E. ,  Meine  Erinnerungen  an  Felix  Mendelssohn  Bartholdy  und  seine 
Briefe  an  mich.  3.  Aufl.  284  S.  8.  Mit  1  Stahlstich  und  1  Facsimile.  Leipzig, 
J.  J.  Weber,    n.  4  Uf  50  J^r.  geb.  n.  6  uT. 

Eitner,  R,  Quellen-  und  Hilfswerke  beim  Studium  der  Musikgeschichte.  V,  55  S. 
gr.  8.  Leipsigi  Breitkopf  und  HärteL    n.  2  Jf. 

Engrl)  J-}  Festschrift  zur  Mozart-Centenarfeier  in  Salzburg  am  15.,  16.  u.  17.  Juli 
1891.  Vortrag.  123  S.  gr.  8.  mit  1  Bild.  Salzburg,  Heinrich  Dieter,  Hofbuch- 
handlung in  Comm.  n.  2  Jf. 

JBvenepoel,  F.,  Le  Wagnirisme  dans  rAUemagne.  18.  Paris,  Librairie  Fischhacher 
3  fr.  60  c. 

Friedlftnder,  Max,  Musikerbriefe  (an  Goethe  Yon  Mendelssohn,  Schubert  u.  Berlioz; 
außerdem  zwei  bisher  ungedruckte  Mozarts  aus  Goethes  Autographensamm- 
lung). Im  XU.  Band  des  Goethe-Jahrbuchs.  1891.  S.  77—132. 

Forkelf  J.  N.,  Vie,  talents  et  travaux  de  Jean-Sehasiien  Bach.  Traduii  de  faUe- 
mand  par  F4lix  Grenier.   18.  Paris,  Librairie  Fischbacher.     2  fr.  60  e. 

OtMetf  L.,   Notes   dun   librettiste.    Musique   contemporaine.    18.  Paris,  C.  Levy. 

3  fr.  60  c. 

rcüßQyiov  J.  üaJtaöoTtovXov ,  nqoidqov  rov  Ip  KtovaxavxtvovnoXBi  fAovtnxov 
avXXoyov  yfOqcpitog**  SvfAßoXal  Big  ttjv  iarogtay  trjg  nag  rjfjuv  ixxXrjffiaffux^g 
fiovciXTJg,     'Ev  M^ivaig.    1890.     8.     t}    und  692  Seiten. 

deraerty  F.  A. ,  Der  Ursprung  des  römischen  Kirchen gesanges.  Musikgeschicht- 
liche Studie.  Deutsch  von  H.  Biemann.  87  S,  Lex.-8.  Leipzig,  Breitkopf  und 
HärteL    n.  2  uT  80  J^r. 

Gjellerupf  K,,  Richard  Wagner  i  hans  hovedxjoerk  nNibelungetis  Ringa.  8.  Kopen- 
hagen, Philipsen.  4  kr. 

Cmman,  Benjamin  Ivers,  Zuhi  Melodies.  Aus:  A  Journal  of  American  Arehae- 
ology  and  Ethnology.  Band  I.  Boston.  1891.  S.  66 — 91. 

Glasenapp^  C.  F.,  Bichard  Wagner  als  Mensch.  Ein  Vortrag  gehalten  im  Wagner- 
Verein  zu  Riga.  3.  Abdr.  32  S.  gr.  8.    Kiga,  W.  Mellin  u.  Co.  haar  1  Jf. 

Graf^  Ernst,  Rythmus  und  Metrum.  Zur  Synonymik.  Marburg,  Elwert'sche  Ver- 
lagsbuchhandlung. 1891.     8.     IV  und  97  Seiten. 

T«  Helnemann  9  O. ,  Die  Handschriften  der  herzoglichen  Bibliothek  in  Wolfen- 
büttel, beschrieben.  8.  Abth.  Lex.-8.  Wolfenbüttel,  Julius  Zwissler.  n.  12  Jf, 
Inhalt:  Die  Handschriften  nebst  den  älteren  Druckwerken  der  Musik- Ab- 
theilung, beschrieben  von  E«  YogeL  VIH,  280  S.  Mit  einer  Facsimile-Tafel. 

HeintCy  A,  Bichard  Wagner's  Tristan  und  Isolde.  Nach  der  musikalischen  Ent- 
wickelung  des  Werkes  in  den  Motiven  dargestellt.  75  S.  gr.  8.  mit  66  einge- 
druckten Notenbeispielen.  Charlottenburg,  Verlag  der  Allgemeinen  Musik- 
Zeitung  (Otto  Lessmann)  n,  i  Jf. 

Seron^Allenf  Edward,  De  ßdiculis  bibliographia,  being  a  basis  of  a  bibliography 
of  the  Violin  and  all  other  instruments  played  with  a  bow  in  ancient  and  modern 
times.  London,  Griffith  Farran  Okoden  and  Welsh,  1891.    4. 

HeBSe's  M.,  Deutscher  Musiker-Kalender  f.  d.  J.  1891.  6.  Jahrg.  415  S.  gr.  8.  mit 

4  Bildnissen.  Leipzig,  Max  Hesse's  Verlag.   Geb.  n.  1  Jf  20  3j[, 
Sippeau,  Berlioz  et  son  temps.    V,  408  p.  18.  Paris,  Oldendorff. 


ßg4  Musikalische  Bibliographie. 


Holland,  H.  S.  u.  W.  S.  Roekstro,  Jenny  Lind.  Ihre  Laufbahn  als  Künstlerin. 
1820 — 1851.  Nach  Briefen,  Tagebüchern  und  andern  von  O.  Goldschmidt  ge- 
sammelten Schriftstücken.  Autorisirte  deutsche  Uebersetzung  y.  H.  J.  Schoeü. 
2  Bde.  gr.  8.  XXTT,  392  S.  u.  XIII,  418  S.  mit  6  Heliograv.,  8  Abbildongen 
und  24  S.  Musikbeilagen.  Leipzig,  F.  A.  Brockhaus.  n.  16  Ulf.,  geb.  n.  20  •#. 

Holzer,  Ernst  Constantin,  Varro  über  die  Musik.  I.  (Programm  des  Gymnasiums 
zu  Ulm).  Ulm,  1890.  4.  19  S. 

Jahrbuch,  kirchenmusikalisches  1891.  6.  Jahrg.  Herausg.  t.  F.  X.  HaberL  V,  31 
und  127  S.  Lex.-8.  Kegensburg,  Friedrich  Pustet  n.  2  Ji.  (Inhalt:  Q^mlpu 
Lame9iiati<me8  quatuor  vocibus  aequalibtis  concinendae  von  Giovanni  Maria 
Nanino.  Partitur.  —  Abhandlungen:  U.  Kornmüller,  Die  alten  Musiktheore- 
tiker  [2.  Abtheilung].  A.  Walter,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Instrumental- 
musik bei  der  katholischen  Liturgie.  G.  M.  Dreves  und  W.  Bäumker,  Beiträge 
zur  Geschichte  des  deutschen  Kirchenliedes.  G.  Klein,  Der  liturgische  Ge- 
sang. Schafhäutl,  Erinnerungen  an  Caspar  Ett  Haberl,  Archivalische  Excerpte 
über  die  herzoglich  ba3Tische  Hofkapelle.  Haberl,  Giovanni  Maria  Nanino. 
Haberl,  Aus  der  Correspondenz  von  Orlando  di  Lasso.  Anzeigen,  Besprech- 
ungen, Kritiken.) 

des  k.  k.  Hofopemtheaters  in  Wien.    Herausgegeben  für  Neujahr  1891  von 

F.Hirt.    IV,  76  S.    8.    Leipzig,    Literarische  Anstalt,    August  Schulze,    n. 
1  ur  60  ^. 

Tmbert,  Symphonie  Melanges  de  critique  litteraire  et  musiccUe,  Avec  un  partrait. 
In  8.    F(tri8,  Ltbrairie  Fisehbacher.  ö  fr. 

Kade,  Otto,  Die  ältere  Passionskomposition  bis  zum  Jahre  1631.  Gütersloh,  Ber- 
telsmann. 1891.  8.    Erste  Lieferung,  S.  1—80.    2  uT. 

Kalischer,  A.  Chr.,  Wann  ist  Beethoven  geboren?  In:  Sonntags-Beilage  z.  Voss. 
Ztg.  1891  Nr.  2. 

,  Beethovens  »Ariel«  und  »Hosenknopf«.    Sonntags-Beilage  z.  Voss.  Ztg.  1891. 

Nr.  22. 

,  Beethovens  »unsterbliche  Geliebte«.     Sonntags-Beilage  z.  Voss.  Ztg.     1891. 

Nr.  30,  31. 

Keller^  O.,  Das  Haus  Habsburg  als  Pflegestätte  der  Tonkunst  (Sonderdruck).  23 
S.  gr.  8.     Wien,  Rebay  und  Robitschek.    n.  60  ^. 

Kohutj  A.,  Josef  Joachim.  Ein  Lebens-  und  Künstlerbild.  Festschrift  zu  seinem 
60.  Geburtstage.  IV,  96  S.  8.  mit  Bildnis.  Berlin,  A.Glas,  Musik- Verlag, 
n.  1  ur  20  3jg, 

KommflUery  P.,  Utto,  Lexicon  der  Kirchlichen  Tonkunst.  Zweite  verbesserte  und 
vermehrte  Aufl.  I.  Theil.  Sachliches.  Kegensburg,  Coppenrath.  1891.8.  XI  und 

336.  s.  4  ur  50  sgi. 

Kratt-Hanreng)  Elise ,  Jacques  Rosenhain.  Komponist  und  Pianist.  Baden-Baden, 
Sommermeyer.  1891.  8.  58  S. 

Krause,  E.,  Abriss  der  Entwickelungsgeschichte  der  Oper  mit  litterarischen  Hin- 
weisen. Vin,  130  S.  Hamburg,  Verlagsanstalt  und  Druckerei,  Actien-G^ell- 
schafL    n.  2  J(. 

Kretzschmar,  H.,  Führer   durch  den  Concertsaal.    1.  Abth.    Sinfonie  und  Suite. 

2.  Aufl.  V,  313  S.  gr.  8.    Leipzig,  A.  G.  Liebeskind.  an.  4  uff. 
Klimmerle,  S.,   Encyklopädle  der  evangelischen  Kirchenmusik.    Lief.  22.  23.  24. 

3.  Bd.  S.  1—240.  gr.  8.    Gütersloh,  C.  Bertelsmann,    n.  2  M,  [S.  ob.  Bd.  M, 
S.  592]. 

'Kufferathf  M.,  Le  theätre  de  R.  Wagner.  De  Tannhaeuser  ä  ParsifaL  IS.  Paris^ 
Lihrairie  Fischbacher.  2  fr. 


Musikalische  Bibliographie.  gg5 


jAtthtnUf  M.f   The  renaisaance  of  musie.  6,  London^  Stott,  6  sh, 

JLavoix  fils,  H.j  La  musique  francatse,  Paris j  Maison  Qtumtin,  1891.  8*  d  fr,  50  c, 

IdEtiSUttOf  della  musica  sacra  in  Italia:  nozione.  3  voll,  202,  216,  154  p.   Venezia, 

tip.  dei  frat,   Visentini, 
JUemairs  of  Jenny  Lind- Goldsehmidt  Collected  hy  O.  Goldschmidt,  H,  S.  Holland 

and  W,  S.  Rockstro,    8,    London,  J,  Murray,     32  sh. 

MUrovic,  B. ,  Feder ico  II  e  Vopera  sua  in  Italia.  Studio.  127  S,  gr.  8,  Triest, 
F.  H,  Schimpf,     n,  3  Jf  20  ^. 

Monatsbericht  über  neue  Musikalien.  Verzeichnis  aller  im  Bereiche  des  deutschen 
Musikalienhandels  erscheinenden  Neuigkeiten.  1.  Jahrg. :  September  1890  bis 
August.  1891.  Nr.  1  u.  2.  gr.  8.  Ausgabe  mit  Angabe  der  Verleger  jährlich 
haar  i  J(.,  Ausgabe  ohne  Verlegerangabe  für  das  Publikum  baar  65  S^, 

Huncker,  F.,  Bichard  Wagner.  Eine  Skizze  seines  Lebens  und  Wirkens.  (Bayeri- 
sche Bibliothek.  Begründet  und  herausgegeben  von  K.  y.  Beinhardstoettner 
und  K.  Trautmann.  26.  Bd.)  VI,  130  S.  8.  mit  Bildn.  u.  lUustr.  Subscriptions- 
preis  n.  1  uT  25  ^.    Einzelpreis  n.  1  «iT  60  ^. 

4.  Aufl.  Ebenda  Einzelpreis  n.  1  uT  60  ^. 

,  Richard  Wagner,  A  sketch  of  his  life  and  toorhs.   Translated  from  the  Ger- 

man  hy  D.  Landmann,  revised  hy  the  author.  lUustrations  hy  H.  Niste,  VI, 
112  S.8,  Bamberg f  C.  C,  Büchner^ sehe  Verlagsbuchhandlung,  n,  2  jU, 

Musiker-Biographien«  Bd.  12.  Meyerbeer  von  A.  Kohut  (Universal-Bibliothek 
Nr.  2734).  96  S.  gr.  16.  Leipzig,  Ph.  Reclam  jun.  20  ^,  l.S.  ob.  Bd.  VI,  S.  592.] 

Mnsiker-Kalender,  allgemeiner  deutscher  für  1891.  Eed.  v.  B.  Wolff.  13.  Jahrgang. 
XVI,  475  S.  16.    Berlin,  Rabe  u.  Plothow.    Geb.  n.  2  Ji. 

ifeitzely  O.,  Beethovens  Symphonien  nach  ihrem  Stimmungsgehalt  erläutert.  101  S. 
gr.  8.    Köln,  P.  J.  Tonger ,  Hofbuchhandlung,    n.  1  Ji,  geb.  baar  2  uiT  50  ^. 

Nei^ahrs-BIatty  79.  der  allgemeinen  Musikgesellschaft  in  Zürich  auf  das  Jahr 
1891.  4.  Zürich,  S.  Höhr,  baar  \  M  1^  ^,  Inhalt:  Die  Vorläufer  v.  Job. 
Seb.  Bach.  20  S.  mit  1  Bildniß  und  2  Musikbeilagen. 

NieckSy  F.,  Friedrich  Chopin  als  Mensch  und  als  Musiker.  Lief.  13.  14.  15  (Schluß). 
8.  Leipzig,  F.  E.  C.  Leuckart.  ä  n.  1  uT.  [VIII,  u.  S.  385—410.  8.  mit  3 
Bildnissen  und  1  Notenbeilage.  [S.  ob.  Bd.  VI.  S.  592.] 

Nisardf  Th.,  L'arch^ologie  musieale  et  le  vrai  ehant  Gregorien.  Grand  in  8, 
Paris,  P.  Lethielleux.  15  fr. 

Ifaufflard,  G.,  Richard  Wagner  d apres  lui-mime.  I.  Developpement  de  Thomme 
et  de  Vartiste,  18,  Paris,  Librairie  Fischbacher.  3  fr,  50  c, 

Oesterlein^  N.,  Beschreibendes  Verzeichniß  des  Kichard  Wagner -Museums  in 
Wien.  Ein  bibliographisches  Gesammtbild  der  kulturgeschichtlichen  Erschei- 
nung Bichard  Wagners  von  den  Anfängen  seines  Wirkens  bis  zu  seinem  Todes- 
tage, dem  13.  Febr.  1883.  III.  Des  Kataloges  einer  Richard  Wagner-Bibliothek 
1.  Bd.  XXXI,  517  S.  Lex.'8.  mit  Bildniß  des  Verfassers  in  Heliogravüre. 
Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel.  n.  iö  Jf,  geb.  n.  17  uff  50  ^.  [S.  ob.  Bd.  U, 
S.  535.] 

IH€izzaf  breve  dissertazione  storico-critica  sul  flaute,    Pesaro,  Federici  29  p.  8. 

PolkOi  E.,  Musikalische  Märchen,  Phantasien  und  Skizzen.  Neue  Ausgabe  in  2 
Bänden.  12.  (Mit  je  1  Titelbild.)  Leipzig,  Job.  Ambrosius  Barth.  Qeb.  mit  Gold- 
schnitt ä  6  Uf.     L  22.  Aufl.  VI,  470  S.     IL  12.  Aufl.  VI,  458  S. 

JPougin,  V  Opera  comique  pendant  la  r^volution  de  1789  ä  1801  daprh  des  docu- 
ments  inidits.  18.  Paris,  Albert  Savine,    3  fr.  50  e. 


ggß  Musikalische  Bibliographie. 


Pudor^  H.,  Krieg  und  Frieden  in  der  Musik.  VII,  48  S.  4.  Dresden,  Oscar 
Danom.     n.  80  ^. 

Rabe,  M.,  Die  Heroen  der  deutschen  Tonkunst.  Für  die  musikstudirende  Jugend 
sowie  für  alle  Freunde  der  Tonkunst  dargestellt.  XV,  208  S.  gr.  8.  mit  8  Bild- 
tafeln,    n.  5  jH^  geb.  n.  6  M, 

Badecke^  Ernst ,  Das  deutsche  weltliche  Lied  in  der  Lautenmusik  des  IB.  Jahr- 
hunderts. Inaugural-Dissertation,  Berlin  1891.  2  Bl.  52  u.  2  S.  gr.  8.  Leipzig, 
Breitkopf  und  Härtel.  [S.  ob.  S.  287  iff.] 

Itadetf  E.^  Lullyj  Komme  d" affaires,  propriStaire  et  musicien,    Avec  11  pUmekes. 

4.  Parte j  Librairie  de  Vart,     15  fr, 

Bintely  W;.,  Die  erste  Aufführung  der  Jahreszeiten  von  Haydn  in  Leipzig  und 
Berlin  und  ein  eigenhändiger  Brief  Haydn's  an  Zelter  nebst  dessen  Antwort. 
Sonntagsbeilage  zur  Vossischen  Zeitung.  1891.  Nr.  22. 

Bitter^  H.,  Bichard  Wagner  als  Erzieher.  Ein  Volksbuch  und  zugleich  Begleiter 
zu  den  BajTeuther  Festspielen.  IV,  83  S.  gr.  8.  Würzburg,  Stahel'sche  Hof- 
u.  Univ.'Buchandlung.  Verlags-Conto.    Kart.  n.  1  .4^  50  ^. 

T«  SchlelnitZy  A.,  Wagner's  Tannhäuser  und  Sängerkrieg  auf  der  Wartburg.  Sage, 
Dichtung  und  Geschichte.  VII,  235  S.  8.  Meran,  F.W.  Ellmenreich's  Ver- 
lag,    n.  4  ur  50  ^. 

Schneider,  L.,  Pflege  der  Musik  in  Hussland.    In:   Unsere  Zeit    1891.    Heft  5, 

5.  468—476.     8. 

Schrattenholz,  Das  Beethoven-Museum  in  Bonn.    Die  Gegenwart.  1891.  Nr.  7. 

Schfiz,  A.,  Die  Geheimnisse  der  Tonkunst.  IV,  348  S.  Stuttgart,  J.  B.  Metzler'- 
sche  Buchhandlung.  Verlags-Conto.  n.  4  Ulf  50  ^,  in  Halbfranzband.  n.  6  Jl. 

Spitta,Ph.,  Musikalische  Seelenmessen.  In:  Unsere  Zeit.  1891.  Heft 4.  S.306-336. 

,  Spontini  in  Berlin.  In :  Deutsche  Rundschau,  XVH.  Jahrgang,  Heft  6.  Man 

1891,  S.  353—383. 

,  Niels  W.  Gade.    Ebenda,  Heft  9.  Juni  1891,  S.  340—355. 

Tenger^  M.,  Beethoven's  unsterbliche  Geliebte  nach  persönlichen  Erinnerungen. 
2.  Aufl.  72  S.  12.    Bonn,  P.  Neusser.    n.  1  uT  20  ^.   [S.  ob.  Bd.  VI,  S.  590]. 

TeppCf  A.,  Premier  problhne  GrSgorien.  Natur e  et  fixation  du  rythine  liturgique 
paroiseiaL  Nouvelle  Edition.     18.     Paris,  Librairie  Fischbacher.     6  fr. 

Tijdschrift  der  Vereeniging  voor  Noord-Nederlands  Muziekgeschiedenis.  Deel  111, 
4.  Stuk.  Amsterdam,  Muller  ^  Co,  1891.  C Inhalt.-  J,  P.  N.  Land,  Het  toon- 
stelsel  van  Christian  Huygens.  —  J,  P.  N.  Land,  Joan  Albert  Ban  en  de  theorie 
der  toonkunst.  —  J.  P.  N.  Land,  Nalezing  op  de  muzikale  hriefwisseling  van 
Constantin  Huygens.  —  «T".  P.  N.  Land,  Middeneeuwsche  Kerkmuziek  in  Neder- 
landsche  Archiven.  —  W.  P.  H.  Jansen,  Een  en  ander  over  een  paar  oude  gee~ 
stelijke  liederen.  —  W.  P.  H.  Jansen ,  Petrus  Maachicortius  an  Petrus  Men- 
sius.  —  Programmä's  van  historische  Concerten.  [S,  ob.  Bd,  VI,  S.  593.] 

JPrince  de  Valorif  La  musique,  le  bon  sens  et  les  deux  op^as.  16.  Paris,  Cal- 
man  Levy.     3  fr.  50  c, 

TerzeichniSS  der  im  J.  1890  erschienenen  Musikalien  auch  musikalischen  Schrif- 
ten und  Abbildungen  mit  Angabe  der  Verleger  und  Preise.   39.  Jahrgang  od. 

6.  Reihe  5.  Jahrg.  VII,  CXXVI,  442  S.  gr.  8.    Leipzig,  Friedrich  Hofmeister. 
n.  16  Jf,  Schreibpapier  n.  18  JK. 

Vik,  Ole  Buü.     8.    Bergen,  Mons  LitlerS,    5  kr. 

Wagner^  Peter,  Palestrina  als  weltlicher  Komponist.  Inaugural-Dissertation.  Straß- 
burg. 1890.    8.    63  S. 


Musikalische  Bibliographie.  687 


If aldemary  H.,  Musikalische  Lebensbilder.  V,  150  S.  gr.  8.  mit  6  VoUbildem  und 
zahlreichen  Textillustrationen  von  G.  Franz.  Stuttgart,  Süddeutsches  Verlags- 
Institut.     Geb.  n.  4  Uf  50  ^. 

Wolff^  L.>  Das  musikalische  Motiv,  seine  Entwickelung  und  Durchführung.  I, 
202  S.  Lex.-8.    Bonn,  Friedrich  Cohen,    n.  2  uT  80  3jf, 

T«  Wolzogeiiy  Erinnerungen  an  Richard  Wagner.    Neue  Ausgabe.  (Universal-Bib- 

liothek  Nr.  2381.)  77  S.  gr.  16.    Leipzig,  Philipp  Reclam  jun.    n.  20  ^. 
,  Thematischer  Leitfaden  durch  die  Musik  zu  Bich.  Wagner's  Farsifal,  nebst 

einem  Vorwort  über  den  Sagenstofif  des  Wagner'schen  Dramas.  82  S.  8.  9.  Aufl. 

Leipzig.  Feodor  Reinboth,  Verlagsbuchhandlung,    n.  2  uff,  geb.  n.  2  uff  50  3jf. 
Zelle^  Friedrich,  J.  Theile  und  N.  A.  Strungk.  Zweiter  Beitrag  zur  Geschichte  der 

ältesten  deutschen  Opern.    Programm  des  Humboldt- Gymnasiums  zu  Berlin. 

Ostern  1891.    24  S.    4.    Berlin,  R.  Gaertners  Verlag  H.  Heyfelder,    n.  1  M. 

[S.  ob.  Bd.  V,  S.  631.] 
Zahliy  Johannes,  Die  Melodien  der  deutschen  evangelischen  Kirchenlieder,  aus  den 

Quellen  geschöpft  und  mitgetheilt.  Vierter  Band.  (Die  Melodien  von  den  acht- 

zeiligen  trochäischen  bis  zu  den  zehnzeiligen  inkl.   enthaltend.)     Gütersloh, 

Bertelsmann.  1891.  [S.  ob.  Band  VI,  S.  594.] 

n.  Theorie. 

Aprile^  D.  G.,  Gesangs-Übungen  für  Mezzo-Sopran  mit  Begleitung  des  Pianoforte. 
Neue  Ausgabe  eingerichtet  von  Jenny  Meyer.  (Volks -Ausgabe  Nr.  1268.) 
Fol.  Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel.    1  uff  50  .9'. 

Dlenely  O.,  Die  moderne  Orgel,  ihre  Einrichtung,  ihre  Bedeutung  für  die  Kirche 
und  ihre  Stellung  zu  Seb.  Bach*s  Orgelmusik.  90  S.  gr.  8.  Berlin,  Bibliogra- 
phisches Bureau,     n.  1  uff  50  .^. 

Ehrlich,  Heinrich,  Musikstudium  und  Klavierspiel.  Betrachtungen  über  Auffassung, 
Rhythmik,  Vortrag  und  Gedächtniß.    Berlin,  1S91.  M.Bahn.    8.    41  S. 

Guttmanny  O.,  Die  Gymnastik  der  Stimme,  gestützt  auf  physiologische  Gesetze. 
Eine  Anweisung  zum  Selbstunterricht  in  der  Übung  und  dem  richtigen  Ge- 
brauche der  Sprach-  und  Gesangsorgane.  5.  Aufl.  VIII,  254  S.  mit  24  Abbil- 
dungen.    12.    Leipzig,  J.  J.  Weber,    n.  4  Jl,     geb.  baar  5  uff. 

Hallery  M.,  Kompositionslehre  für  polyphonen  Kirchengesang  mit  besonderer 
Rücksicht  auf  die  Meisterwerke  des  16.  Jahrhunderts,  VIII,  399  S.  gr.  8.  Re- 
gensburg, A.  Coppenrath*s  Verlag,     n.  6  uff  40  3jf. 

Hesse's,  M.,  niustrirte  Katechismen.  Nr.  16—19.  8.  Leipzig,  Max  Hessens  Ver- 
lag, ä  n.  1  uff  50  .9^,  geb.  ä  n.  1  Uff  80  ^.  [S.  ob.  Bd.  VL  S.  594.]  Inhalt: 
16.  Katechismus  der  Phrasierung.  PraktischeiAnleitung  zum  Phrasieren.  Dar- 
legung der  für  die  Setzung  der  Phrasierungszeichen  maßgebenden  Gesichts- 
punkte mittels  vollständiger  thematischer,  harmonischer  und  rhythmischer  Ana- 
lyse klassischer  und  romantischer  Tonsätze  von  H.  Riemann  und  C.Fuchs. 
(Neue  Ausg.)  105  S.  —  17.  Katechismus  der  Musik-Ästhetik.  (Wie  hören  wir 
Musik?  von  H.  Riemann.  IV,  92  S.  —  18.  Katechismus  der  Fugen-Kom- 
position (Analyse  von  J.  S.  Bach*s  » Wohltemperirtem  Klavier«  und  Kunst  der 
Fuge  von  H.  Riemann.  1.  ThL  VI,  178  S.  —  19.  2.  Thl.  III,  216  S.  (18  u. 
19  in  1  Bd.  geb.  n.  3  uff  50  .9'. 

Jadagsohiiy  S.,  Die  Kunst  zu  moduliren  und  zu  präludiren.  Ein  praktischer  Bei- 
trag zur  Harmonielehre.  VHI,  188  S.  gr.  8.  Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel. 
3  U?  60  ^.,  in  Schulband  baar  4  Uff  10  ^,   geb.  baar  4  Uff  80  .9^. 


ggg  Musikalische  Bibliographie. 


Klrohrothi  P.,  Der  Zahlennamen,  die  psychologische  Einhdt  der  Gesangmethode, 
oder  das  Singen  mit  bewußter  Tonvorstellung,  erzielt  durch  die  Benennung 
der  Töne  mit  den  Zahlennamen.  Ein  Vortrag.  16  S.  gr.  8.  Mühlheim  (Ruhr;, 
Carl  Ziegenhirt,  Nachfolger  (Max  Röder).  n.  50  3jf. 

KliBgy  H.,  Praktische  Anweisung  cum  Transponiren  für  Gesangsstimmen,  Streich-, 
Holz-,  und  Blech-Instrumente,  sowie  speziell  für  Klarinette,  Kornett,  Trom- 
pete, Waldhorn,  Pianoforte  etc.  mit  vielen  Notenbeispielen  erläutert.  2.  Aufl. 
IV,  42  S.  Lex.-8.    Hannover,  Louis  Oertel,  Musikverlag,    n.  1  «Jf  25  Sf, 

,  Der  vollkommene  Musik-Dirigent.  IV,  372  S.  Lex.-8.  Hannover,  Louis  Oertel, 

Musikverlag,    n.  5  JH.  Gebunden  n.  6  M, 

,  Elementax^Prinzipien  der  Musik',  nebst  populärer  Harmonielehre  und  Abriß 

der  Musikgeschichte,  nach  leichtfaßlichstem  System  bearbeitet  216  S.  gr.  16. 
Hannover,  Louis  Oertel.    Kart.  n.  1  M. 

Kfigpele,  R.,  Harmonie-  und  Kompositionslehre  nach  der  entwickelnden  Methode, 
m.  Theil.  (Schluß  der  theoretischen  Abtheilung  und  der  Uebungsaufgaben.  IV, 
179  S.  gr.  8.  Breslau,  Franz  Goerlich,  Verlag,  n.  2  uT  40  ^.  [S.  ob.  Bd.  VI, 
S.  595.] 

"Kufferathy  3f.,  I^art  de  diriger  Torchestre,  Richard  Wagner  et  Hans  RitMer, 
8.     Paria,  Librairie  Fiackbacher,    2  fr.  60  c. 

MarXy  A.  B.,  Musikalische  Kompositionslehre.  Neu  bearbeitet  von  H.  Riemann. 
2.  ThL  7.  Aufl.  Xm,  634  S.  gr.  8.  Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel.  n.  12  UT., 
geb.  n.  13  Uf  50  ^.  [S.  ob.  Bd.  V,  S.  632.] 

3feerenSf  C^uxrles,  La  gamme  mueicale  mqfeure  et  mineure.  Brüssel  und  Paris. 
J.'B.  KMo.     1890.    8.     62  S.     1  fr.  50  c, 

Plely  P.,  Harmonie-Lehre.  Unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Anforderungen 
für  das  kirchliche  Orgelspiel  zunächst  für  Lehrer-Seminare  bearbeitet  Op.  64. 
2.  Aufl.  X,  335  S.  gr.  8.  Düsseldorf,  L.  Schwann,  haar  3  uT  50  J^,  geb. 
baar  4  Ulf. 

,  Harmonie-Lehre.    1 — 3.  Uebungsheft  (Bearbeitet  von  P.  Schmetz.}  gr.  8.  a 

8  S.  mit  Notensehreibpapier.    Düsseldorf,  L.  Schwann,  ä  baar  50  ^. 

,  4.  Heft    (Bearbeitet  von  P.  Schmetz.)    Die  Begleitimg  des  Gregorianischen 

Choralgesanges.  18  S.  gr.  8.  mit  12  Bl.  Notenschreibpapier.  Ebda,  baar  50  ^. 

RelDeeke^  C,  Aphorismen  über  die  Kunst  zum  Gesänge  zu  begleiten  (mit  Noten- 
beispielen.) 15  S.    8.    Leipzig,  Gebr.  Reinecke,  Musikalien- Verlag.    60  ^. 

,  Aphorisma  an  the  ort  of  aceompanying  (tcith  examplea  in  notes),     Translated 

from  the  Oerman  hy  Th.  Baker.     14  S.  kl.  4.    Leipzig,  O^br.  Reineeke,  Musi- 
kalien'Verlag,  1  jH. 

jRichter,  E,  jP.,  Trait4  ^harmonie,  thSorique  et  pratique.  Traduit  de  Tallemand 
par  O.  Sandra.  8.  Edition  VIII,  WO  S.  gr.  8,  Leipzig,  Breitkopf  <J-  Hartel. 
n.  4  jU. 

Riemaniiy  H.,  Op.  39.  Vergleichende  theoretisch-praktische  Klavierschule.  Eine 
Anweisung  zum  Studium  der  hervorragenderen  Klavier-Unterrichtawerke  nebst 
ergänzenden  Materialien.  Neue  Ausgabe.  I.  Theil  System.  11.  Theil.  Methode. 
Folio.  Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel.    Cplt.  Gebunden  3  «JT  60  ^. 

Blemaniiy  H.  und  C«  ArmbmBt^  Technische  Studien  für  Orgel.  Supplement  zu  jeder 
Orgelschule,  enthaltend  systematische  Uebungen  fQr  Pedal  allein  als  Grund* 
läge  virtuoser  Pedaltechnik,  polyphone  Vorübungen  für  jede  Hand  allein,  fQr 
beide  Hände  auf  demselben  oder  auf  verschiedenen  Klavieren  ohne  und  mit 
Pedal,  und  agogische  Studien  als  Grundlage  ausdrucksvollen  Spiels  auf  der 
OrgeL    qu.  4.    Leipzig,  J.  Rieter-Biedermann,    n.  3  •#. 


Muflikaliflohe  Bibliographie.  ggQ 


Boeder,  Karl,  Einführung  in  die  Theorie  der  Tonkunst.  Zum  Gebrauch  beim 
Priyat-Musikunterricht,  sowie  auch  bei  der  musikalischen  Vorbildung  Yon 
Pr&paranden,  Lehrerinnen  etc.  Neuwied u.  Leipzig,  Heusers  Verlag.  1891. 8. 108  S. 

BoUtansky,  Victor,  Über  Sänger  und  Singen.  Wien  und  Pest.  Harüeben.  1891.  8. 

Sehröder,  H.,  Untersuchungen  über  die  sympathetischen  Klänge  der  Geigeninstru- 
mente und  eine  hieraus  folgende  Theorie  der  Wirkung  des  Bogens  auf  die 
Saiten.  35  S.  gr.  8.    Leipzig,  Carl  Kühle,  Musik-Verlag,    n.  1  uT  20  ^. 

SchwartZ}  Rudolf,  Methodische  Entwicklung  der  Fingersätze  in  den  Durtonleitern. 
Für  Lehrer  und  Lernende  leicht  faßlich  dargestellt  Greifswald.  Julius  Abel. 
1891.  8.  16  S.  50  ^. 

Steiner^  J.,  Grundzüge  einer  neuen  Musik-Theorie.  —  Einführung  in  die  Elemente 
der  physikalischen  Musiktheorie.  Enharmonische  Temperatur.  Ein  Beitrag  von 
L.  Austerlitz.    IX.  89  u.  11  S.  gr.  8.    Wien,  Alfred  Holder,    n.  3  uT. 

Wagner,  P.  E.,  Gesangschule  z.  Bildung  der  Stimme,  gr.  8.  Paderborn,  J.Esser.  3  M. 

Waldbrflly  J. ,  Kurzgefaßte  Methodik  des  Klayierspiels.  54  S.  gr.  8.  Bielefeld, 
August  Helmich,  Buchhandlung  (H.  Anders).  Verlag,  n.  1  •#  75  ^.,  geb.  n. 
2  ur  50  ^. 

Weigand}  Ernst,  Die  Unhaltbarkeit  der  bisherigen  Tonschrift  und  Theorie.  Frank- 
furt a.  M.  1891  (beim  Verfasser,  Frankfurt  a.  M.  Lindenstraße  1.) 

WIckBiröni}  A.,  Vereinfachung  der  Tonbezeichnung.  Vorschlag.  Aus  dem  Bussi- 
schen übersetzt  Ton  A.  Bemard.  Text  und  Notenbeispiele.  42  S.  u.  XXXITT 
Bl.  gr.  8.    Leipzig,  M.  P.  Belaieff.     3  uT. 

Wüllner,  F.,  Chorübungen  der  Münchener  Musikschule.  1.  Stufe.  13.  Aufl.  90  S. 
hoch  40.    München,  Theodor  Ackermann,  Verlags-Buchhandlung,   n.  \M  80  3jf^ 

Zlnunery  F..  Elementar-Musiklehre,  enthaltend  das  Wissensnötige  für  jeden  Musik- 
treibenden. I.  u.  n.  Heft.  gr.  8.  Quedlinburg,  Chr.  Friedr.  Vieweg's  Buchhand- 
lung, baar  1  Jf  90  ^.  Inhalt:!.  Tonlehre.  Rhythmik.  Allgemeine  Accord- 
lehre.  13.  Aufl.  IX»  97  S.  n.  60  ^.  —  2.  Harmonielehre.  12.  Aufl.  VIII,  151  S. 
baar  1  uT  30  ^. 

Zlppy  E.,  Kurze  Darstellung  der  Kirchentonarten,  unter  besonderer  Berücksich- 
tigung der  durch  Bestimmung  der  königl.  Kegierung  zu  Düsseldorf  zur  Ein- 
übung in  den  evangelischen  Schulen  des  Regierungsbezirks  gelangenden  Me- 
lodien. XXII,  58  S.    8.    München-Gladbach,  Emil  Schellmann.    n.  50  ^. 

TTI.  Ästhetik.    PhysikaliBOhes. 

ClossOfiß  E,  Siegfried  de  Richard  Wagner,  Etüde  estfUtique  ei  num^aie.  18.  Paridf 
Fisehbacher,     1  fr,  50  c, 

DwelBhanTers-Dery,  Dr.  F.-V.,  Tannhäuser  und  der  Sängerkrieg  auf  Wartburg. 
Handlung  in  drei  Aufzügen  Yon  Richard  Wagner.  Leipzig  und  Baden-Baden. 
Constantin  Wilds  Verlag.  1891.  8.  44  Druckseiten  und  4  Seiten  Musikbeilage. 

Heerwageiiy  F...  Studien  über  die  Schwingungsgesetze  der  Stimmgabel  und  über 
die  elektromagnetische  Anregung  (8chriften  herausgegeben  von  der  Natur- 
forscher-Gesellschaft bei  der  Universität  Dorpat  VI.)  53  S.  Lex.-8.  mit  2  Taf. 
Leipzig,  K.  F.  Koehier,  Verlags-Conto  in  Komm.  n.  3  «#  60  3jf, 

Im  Llndy  P,  modemer  Geschmack  und  moderne  Musik.  Eine  Gegenwartstudie. 
56  S.    12.   Leipzig,  Gebr.  Hug,  Verlags-Conto.   n.  1  J(. 

Martins^  G,  Ueber  die  Reactionszeit  und  Perceptionsdauer  der  Klänge.  In:  Philo- 
sophische Studien,  herausgegeben  v.  Wilhelm  Wundt.  Bd.  6,  Heft  3,  S.  394—416. 

Pfehly  Ferdinand,  Führer  durch  Richard  Wagners  Tannhäuser  und  der  Sänger- 
krieg auf  der  Wartburg  (Pariser  Bearbeitung).  Leipzig,  Feodor  Reinboth. 
o.  J.     8.    68  Seiten. 


g90  Musikalische  Bibliographie. 


Plldor,  R    Sittlichkeit   und    Gesundheit   in   der  Musik.   IV^   32  S.   8.   Dresden, 

Oscar  Damm,  Verlag,   n.  60  3jt, 
Ritter,  Prof.  Hermann,  Über  musikalische  Erziehung.    Ein  Mahnwort  an  Eltern, 

Vormünder  und  Erzieher.    Dresden,  Oscar  Damm.     1891.    8.     32  Seiten. 

IV.   Ausgaben  von  Tonwerken. 

Baehy  J.  S.,  Das  wohltemperirte  Clavier.  Herausgegeben  von  R.  Franz  und  0. 
Dresel.  1.  u.  2.  Theil.  Fol.  Leipzig,  Breitkopf  und  HärteL    ä  3  uf. 

,  Wohltemperirtes  Clavier.   Phrasirungsausgabe  von  Riemann.    Heft  5  u.  6. 

FoL  Leipzig.  C.  F.  Kahnt  Nachfolger,   k  2  uT.   [S.  ob.  Bd.  \X  S.  596.] 

,   Werke  für  Gesang.  Gesammtausgabe  für  den  praktischen  Gebrauch.  Bd.  1. 

Cantaten.  Vollständiger  Clavier- Auszug,  gr.  8.  Leipzig,  Breitkopf  u.  Härtel.  10  JT, 

,  Liefr.  11.  12.  13—16.  17—20.  21—25.  26—31  je  1  UT  50  ^. 

(Nr.  13.  Meine  Seufzer,  meine  Thränen.  Nr.  14.  Wäre  Gott  nicht  mit  uns 
diese  Zeit.  Nr.  15.  Denn  du  wirst  meine  Seele  nicht  in  der  Hölle  lassen. 
Nr.  16.   Herr  Gott  dich  loben  wir. 

,  Kirchen-Cantaten.  Nr.  21.  Ich  hatte  viel  Bekflmmemiss.  \  Jl  50^.  Nr.  22. 

Jesus  nahm  zu  sich  die  Zwölfe,  i  Jf  bO  ^.  Nr.  23.  Du  wahrer  Gott  und 
Davids  Sohn.  1  uT  50  ^.  Nr.  24.  Ein  ungeförbt  Gemüthe.  1  uT  50  ^. 
Nr.  25.  Es  ist  nichts  gesundes  an  meinem  Leibe.  1  •#  50  ^.  Nr.  26.  Ach 
wie  flüchtig,  ach  wie  nichtig.  1  «#  50  ^.  Nr.  27.  Wer  weiß,  wie  nahe  mir 
mein  Ende.  1  UT  50  .^.  Nr.  28.  Gottlob!  nun  geht  das  Jahr  zu  Ende.  1  uT  50  J^. 
Nr.  29.  Wir  danken  dir  Gott,  wir  danken  dir.  1  UT  50  ^.  Nr.  30.  Freue  didi, 
erlöste  Schar.  1  uT  50  ^.  Nr.  31.  Der  Himmel  hicht,  die  Erde  jubilireL  1  J 
50  ^.  Nr.  32.  Liebster  Jesu,  mein  Verlangen.  1  •#  50  ^.  Nr.  33.  Allein  su 
dir  Herr  Jesu  Christ.  1  uff  50  ^.  Nr.  34.  O  ewiges  Feuer,  o  Ursprung  der 
Liebe.  1  •#  50  ^.  Nr.  35.  Geist  und  Seele  wird  verwirrt  1  Jf  SO  4^.  Nr.  36. 
Schwingt  freudig  euch  empor.  1  •#  50  ^. 

,  Werke.  Bd.  37.  Zehn  Kirchencantaten.    Partitur.  Fol.    Leipzig,  Breitkopf  &: 

Härtel.    30  Jf.     [S.  ob.  Bd.  \1,  S.  596.] 

Barker,  J.  E.  und  F.  Charley,  ColUction  of  Standard  operas,  Containing  the 
plots  of  the  most  populär  operas  and  a  shori  hiography  of  the  composers.  1—4. 
pari.  S.  1—64.     12.     Leipzig,  Karl  Fr.  Pfau,     ä  n.  30  ^. 

Beethoveii's  sämmtliche  Werke.  Neue  kritisch  durchgesehene  Gesammt-Ausgabe 
für  Unterricht  und  praktischen  Gebrauch.  Gesang-  und  Klavier-Musik.  Liefg. 
90.91.  92.  93.  94.  95.  96.  97.  98.  99.  100.  101—110.  FoL  Leipzig,  Breitkopt 
und  Härtel.     k  n.  1  J(. 

,  do.  Supplement.  Für  Klavier  zu  4  Händen.  Gesang-  und  Klaviermusik.  Lie£ 

101—104.  105—118.  119—124.  125-131.  132—135,     ä  n.  1  •#. 

,  do.  Kammermusik.  Lief.  78/79.  80  81.  82/83.  S4  85.  86/87.  88/89.  90,91.  92  93. 

94  95.  101/2.  111-114.  115—118.     Fol.  Ebda  k  2  Jf.   [S.  ob.  Bd.  \T,  S.  592.] 

,  Ausgewählte  Klavierstüc&e.  Kritisch  durchgesehen,  mit  Fingersats  bezeich- 
net von  H.  Riemann.  gr.  8.  Leipzig,  Felix  Siegel.     1  •#  50  ^. 

Chopüiy  Fr.,  Ausgewählte  Klavierwerke.  Kritisch  durchgesehen,  mit  Fingersati 
bezeichnet  von  H.  Riemann.  Bd.  2.  gr.  8.  Leipzig,  Felix  Siegel.  1  JfbO^. 
[S.  ob.  Bd.  VI,  S.  597.; 

A  Collection  of  Songs  and  Madrigals  by  English  composers  of  the  close  of  the 
fifteenth  Century.  Prepared  for  the  members  of  the  Plainsong  and  Mediae- 
val  Music  Society.  London,  Quaritsch.  1891.  Fol.  XVIH,  10  S.  Songs,  31  S. 
Madrigals.  8  Blätter  Beilagen  (Erklärung  von  Ligaturen  und  Mensurzeichen, 
Nachbildungen  aus  den  Originalhandschriften).  32  Jf. 


Musikalische  Bibliographie.  gQl 


Diabelli)  Anton,  Unterrichts- Werke  für  das  Pianoforte  zu  zwei  Händen.  Revidirt 
und  sorgfaltig  bezeichnet  von  Anton  Krause.  Erster  Band.  Op.  151.  Vier 
Sonatinen.  (Volks- Ausgabe.)  Fol.    Leipzig.  Breitkopf  und  Härtel.     75  ^. 

IHabellly  Anton,  Unterrichts- Werke  für  das  Pianoforte  zu  zwei  Händen.  Revidirt 
und  sorgfältig  bezeichnet  von  Anton  Krause.  Zweiter  Band.  Op.  1'68. 
Sieben  Sonatinen.  (Volks- Ausgabe.  Nr.  1226).  Leipzig.  Breitkopf  und  Härtel.  75^. 

Ecole  de  Piano  du  Conaervatoire  Roy  cd  de  Bruxelles.  Livr.  XL  Chopin,  Fr., 
Impromptu  en  /ajt  maj.  Op.  96.  Scherzo.  Op.  39  enut  min,  Nociumo.  Op.  37. 
Nr.  1  en  sol  min.  Noctumo.  Op.  '27.  Nr.  1  en  ut  min.  Polonaise.  Op.  49,  en 
ia  maj.  Mazourka.  Op.  7.  Nr.  1  en  si  9  maj.  Mazourka.  Op.  7.  Nr.  2  en  la 
min.  Mazourka.  Op.  6.  Nr.  1  en  la  min.  Fol.  Leipzig,  Breitkopf  ^  Härtel. 
4  Jf.    [S.  ob.  Bd.  VI,  S.  597.] 

OrStry,  A.  E.  M.,  Oeuvres.  Livr.  10.  Les  Svhiements  imprSvus.  Comddie  en  trois 
actes.     Fol.  Leipzig,  Breitkopf  ^  Härtel.  16  M.   \ß.  ob.  Bd.  VI,  S.697.] 

Händel,  Werke.  Für  die  deutsche  Händelgesellschaft  herausgegeben  von  Fried- 
rich Chrysander.  Lieferung  LXXXIV:  Die  zweite  Version  des  »Pastor 
fido«  nebst  dem  Prolog  »Terpsichore«.  —  Das  Autograph  des  »Messias«  in 
photo-lithographischer  Kopie.  Zweite  Lieferung :  Zweiter  Theil  des  Oratoriums 
(S.  101—208).  [S.  ob.  Bd.  V,  S.  635.] 

Mosart'g  Werke.  Kritisch  durchgesehene  Gesammtausgabe.  Serie  7.  Erste  Abthei* 
lung.  Lieder  und  Gesänge  mit  Pfte.  Nr.  12.  b.  Wiegenlied  für  tiefere  Stimme. 
Fol.  Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel.  30  ^.  [S.  ob.  Bd.  VI,  S.  597  f.] 

Schletterer,  H.  M.,  Musica  sacra.  Anthologie  des  evangelischen  Kirchengesangs 
von  der  Reformation  bis  zur  Gegenwart  in  der  Ordnung  des  Kirchenjahres. 
II.  Bd.  Fünf-  und  mehrstimmige  Gesänge.  VI,  174  S.  gr.  8.  München,  C.  H. 
Beck'sche  Verlagsbuchhandlung  (O.  Beck).  Kart.  n.  2  •#  80  ^.  Bd.  I.  erschien 
1887  in  demselben  Verlage,  enthält  Vierstimmige  Gesänge.  XII,  240  S.  Kart, 
n.  2  Ur  80  ^. 

Schnbert's  Franz,  Werke.  Serie  12.  Tänze  für  Pianoforte.  Fol.  Leipzig,  Breitkopf 
und  Härtel.  [S.  ob.  Bd.  VI,  S.  568.]  Nr.  25.  Elf  Ecossaisen.  45  ^.  Nr.  26.  Acht 
Ecossaissen.  45  .^.  Nr.  27.  Sechs  Ecossaisen.  30  ^.  Nr.  28.  Fünf  Ecossaisen. 
30  ^.  Nr.  29.  Eoossaise.  30  ^.  Nr.  30.  Zwanzig  Menuette.  1  Jf  SO  ^.  Nr.  31. 
Trio.  30  ^. 

,  Erste   kritisch    durchgesehene  Gesammtausgabe.     Serie  IV  —  VL    Quintett, 

Quartette  und  Trio  für  Streichinstrumente.  Partitur.  Serienausgabe.  25  Jf  50  ^, 

do.  Revisionsbericht  zu  Serie  I — VIH.  Instrumentalmusik.  8  UT  50  ^, 

do.  zu  Serie  XIV.  Kleinere  Kirchenmusikwerke.   SJfbO^. 

Serie  XVI.  Für  Männerchor.  Partitur,     n.  17  Jf. 

, do.  Revisionsberioht,  herausg.  von  C.  Mandyczewski.  50  ^. 

,  Sammlung  auseriesener  Werke  für  das  Pianoforte.  (Originale  und  Bearbei- 
tungen.) Neue  Folge.  (Unsere  Meister.  Band  XVII.  Volksausgabe.  Nr.  1148.) 
gr  8Ü  Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel.     1  UT  50  ^. 

Schütz,  Heinrich,  Historia  des  Leidens  und  Sterbens  unseres  Herrn  und  Heilan- 
des Jesu  Christi.  Nach  dem  Evangelium  St  Johannes.  (Bearbeitet  und  mit 
Orgel-  oder  Klavierbegleitung  versehen  von  A.  Mendelssohn.  (Volks- Aus- 
gabe Nr.  1250.)  gr8ü  Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel.     3Ur. 

,  Sämmtliche  Werke.    Herausgegeben  von  Philipp  Spitta.  Bd.  IX.  Italiä- 

nische  Madrigale.  Bd.  X  und  XI.  Symphoniarum  sacrarum  tertia  pars.  Erste 
und  zweite  Abtheilung.  Fol.  Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel.  ä  20  Jt.  [S.  ob. 
Band  VI,  S.  59S]. 


Namen-  und  Sachregister. 

ZuBammengestellt  von  Max  Seiffert« 


Agricola,  Mart.,  erste  Aus- 

Kkbe  der  i>Melodiae  scho- 
gticae«,  1281 

Ahle,  Joh.  Qeorg,  seine 
theoretischen  Schriften 
493,  501. 

Albert,  Heinr.,  Beliebtheit 
seiner  Arien  in  studen- 
tischen Kreisen  des  17. 
Jahrh.,  582  Anm.  1,  589 
Anm.  1,  596  ff. 

Alphorn,  Einwirkung  der 

.  Technik  desselben  auf  die 
K^ühreihenmelodie  445  f. 

Ambrosius,  sein  Antiphonar 
121  f. 

Andrea,  Joh.  Georg,  Kantor 
in  Riga,  sein  Streit  mit 
Joh.  Val.  Meder  46,  456. 

Anonymus  über  griechische 
Musik,  herausgeg.  von 
Bellermann,  80—82,  90. 

Aquayiva,  Matthaeus,  »dis- 
putationes  de  virtute  mo- 

•    rali«  494. 

Aristotenos,  seine  Lehre 
vom  Rhythmus  des  ge- 
sungenen Verses,  77  n. — 
Ghronos  protos  79  ff.  — 
Taktorten  81  f.  —  Leich- 
ter und  schwerer  Takt- 
theil  S2ff .  —  Ausdehnung 
der  Takte  84  f.  -~  Mono- 

Sodische  und  dipodischc 
lasen  85  ff.  —  Unzu- 
sammengesetzte und  zu- 
sammengesetzte Takte 
90  ff.  -—  Diairesis  der 
Takte  in  Chronoi  podikoi 
'»2  ff.  -—  Diairesis  in 
Chronoi  Rvthmopoiias 
idioi  95  ff.  — Gleiche  Zeit- 


dauer, heterogene  Vers- 
füße, hergestellt  durch 
Wechsel  der  rhythmi- 
schen Agogai  100  ff. 
Asaricus,  Daniel,  Kantor 
am  Gymnasium  in  Dan- 
zig  403  f. 

Bach.  Joh.  Seb.,  Präludium 
(Gdur)  von  Gounod  be- 
arbeitet, 16  Anm.  —  Prä- 
ludium (Ddur),  Wohlt. 
Kl.  ü,  102 ff.  —  Trio- 
lenbezeichnung  147.  — 
Chromatik  164  f. 

Bach,  Phil.  Em.,  seine 
»Fantasie«  von  Gersten- 
berg mit  Text  versehen 
Iff.  —  Kritik  seiner  Kla- 
viersonaten durch  C.  F. 
Gramer  2  f.  —  Kompo- 
sitionen 4  Anm.  —  seine 
Fantasieform  15  f. 

Baiern,  dicvolksthümlichen 
Instrumente  442  ff.  — 
volksthümliche  Musik 
443  f.  —  Vorherrschen 
der  Durtonart  444. 

Bartolus,  Abrah.,  »Musica 
mathematica«  (1614)494. 

Baryphonus,  Heinr.,  seine 
Beziehungen  zuS.  Scheidt 
192,  —  seine  Familien- 
verhältnisse 460  f.,  —  sein 
Name  »Pipegrop«  461  ff.. 
—  seine  »Plejades  mu- 
sicae»  (1615,  1630)  478  ff. 

Beer,  Joh.,  »Bellum  musi- 
cum«  (1701)  494. 

Bernhard,  Ghristoph.,  Schü- 
ler Sieferts,  Biographi- 
sches 180,  427.  —  seine 


theoretischen  Schriften 
493.  495  ff.  —  Lieder- 
komponist 611,  613  f. 

Besardus,  Joh.  Bapt,  »The- 
saurus harmonicus«  (IBO^i 
292  Anm.  1. 

Bird,  William,  seine  Va- 
riationstechnik  171,  173. 

Bononcini,  »Musico  prat- 
tico«  493,  502. 

Bronner,  seine  Kanteten  in 
Riga  aufgeführt  47. 

BrucK,  Arnold  v.,  Kapell- 
meister in  Wien,  bio- 
graphisches 453  f. 

Bucenus,  seine  Passion  67S. 

Bull,  Dr.  John,  mit  Swee- 
linck  befreundet  1 53, 1 5(). 
158  Anm.,  167,  171,  174 
Anm.  4,  179  f.,  485,  4S8. 

Burck,  Joach.  v.,  seine  Pas- 
sion 678, 

Busch,  Herrn.,  seine  Oden- 
kompositionen  127. 

Buxtehude,  Dietr.,  Triolen- 
bezeichnung  147. 

Calsabigi,    sein   Verdienst 

um  Glucks  Opemreform 

26  ff.  —  Leben  u.  Werke 

33ff.  —  G.überLullY4ü. 
Galvisius,    Seth.,     »Melo- 

poiia«(1592,  1630)  473 ff., 

190  ff. 
Gamcrarius,    Joh.,    Oden- 

kompositionen  127. 
Garissimi,  Giac.,  Kantaten 

44. — »ars  cantandi«(l  693) 

494. 
Gasati,  Girol.,  Organist  in 

Novara  und  Bomanengo 

283. 


Namen-  und  Sachregister. 


603 


Castiletti,  Joh.,  Kapell* 
meister  in  Wien,  Bio- 
graphisches 454« 

Ccmitz,  Ulr.,  Organist  in 
Hamburg  230. 

Cesti,  Marcantonio,  Kan- 
taten 44  f. 

Choral,  rh^hmischer,  seine 
Harmonisierung  im  17. 
Jahrh.,  215  ff.,  218  f. 

Chondyariation,  s.  Varia- 
tion und  Musiklehre  des 
17.  Jahrh. 

Chromatik  in  der  deutschen 
Orgelmusik  d.  17.  Jahrh., 
163  f. 

Clodius  (Klöde),  Christian, 
Student  in  Leipzig,  äus- 
sere Beschreibung  seines 
Liederbuches  579  f. — Der 
literarische  Inhalt  581  ff. 

—  Die  Melodien594  ff.  — 
Alphabetisches  Verzeich' 
niß  der  Lieder  638  f.  — 
Notenbeilagen  640  ff. 

Coler,  Mart,  Lieder  610  f. 

Compenius,  Job.,  Erbauer 
der  Moritzorgel  in  Halle 
189. 

Conrad  y.  Salzburg,  »Fan- 
tasia«  (bei  Kleber]    160. 

Comet,  Pietro,  Organist  in 
Brüssel,  155  Anm.  2,  162, 
166,  175. 

Corradi,  Giul.  Cesare,  Text- 
dichter 45. 

Cracowitta,  David,  Orga- 
nist, Brief  an  Scacchi 
aber  Siefert  421. 

Cramer,  C.  F.,  über  Ph.  E. 
Bachs  Klaviersonaten,  2  f. 

—  über  Qerstenbergs  Be- 
arbeitung von  Ph.  E. 
Bachs  »Fantasia«  3  f. 

Crüjger,  Job.,  »Synopsis  mu- 
sices«  1 1 624),  Besiehungen 
zu  Sweclinck  180  f.,  480ff. 

—  Melodien  von  ihm  in 
Studentenkreisen  des  17. 
Jahrh.  beliebt  600  ff. 

Cuprarius,  Christoph,  Oden  - 
Kompositionen  127. 

Dach,  Simon,  seine  Lieder 
von  den  Studenten  des 
17.  Jahrh.  gesungen  582, 
593,  598. 


Danzig,  Oper  daselbst  45  f. 

—  Musikleben  in  der  er- 
sten Hftlfte  des  1 7.  Jahrh. 

397  ff. 
Daser,  Ludw.,  seine  Passion 

678. 
Dedekind,  seine  Lieder  bei 

den    Studenten    beliebt 

608  f. 
Denss,  Adrian,  Lautentabu- 

latur  (1594)  290. 
Ducis,  Benedikt,  Odenkom- 

Positionen  126  f. 
Ducis,  Benjamin,  Brief  an 

Scacchi  über  Siefert  421. 
Durtonart,  vorherrschend  in 

der  Volksmusik  Baiems 

444. 

Echo,  als  Kunstform  in  der 
norddeutschen  Orgelmu- 
sik des  17.  Jahrh.  168, 202, 
225,  235. 

Eckhart,  Zach.,  Schüler  S. 
Scheidts  193. 

»Eins  ist  Noth,  ach  Herr, 
dies  Eine«,  Ursprung  der 
Melodie  605. 

Eiert,  Petrus,  Kapellmit- 
glicd  in  Warschau  421 
Anm.  5: 

Erbach,  Christ.,  seine  Be- 
ziehungen iu  Sweelincks 
Schule  164,  187,  198  f. 

Erben,  Balth.,  Kapellmstr. 
in  Danzig  426  f. 

Fabricius,  Peter,  Student 
in  Rostock,  sein  Lauten- 
buch 292. 

Fabricius,  Werner,  Schüler 
H.  Scheidemanns  229. 

Fantasteform  bei  Swee- 
lincks deutschen  Schülern 
156  ff.,  196  ff.,  235. 

Farina,  Carolo,  Stadtvio- 
linist  in  Danzis,  Bio- 
graphisches 4 1 1  L,  4 1 3f.^ 
419. 

Fieinus,  Odeukompositio- 
nen  128. 

Finek,  Heinr.,  Biographi- 
sches 667. 

Förster,  Kaspar,  sen.,  Mit- 
glied der  städtischen  Ka- 
pelle in  Dantig  402  f.  — 
Kantor    am  Gymnasium 


4U3.  —  Kapellmeister  an 
St  Marien  407.  —  Streit 
mit  Siefert  40Ö  ff.,  419, 
421.  —  Kompositionen 
411,  413.  —  Tod  426. 

Förster,  Kaspar,  jun.,  Ka- 
peUmitgliea  in  Warschau, 
ELapeUmeister  in  Kopen- 
hagen 415,  421.  426. 

Franck,  Melch.,  Lieder  583 
Anm.  3,  628. 

Preislich,  Maxim.,  Kapell- 
meister in  Danzig,  Nach- 
folger J.  V.  Meders  46. 

Frescobaldi,  Komposition 
über  das  Hexachord  167. 

—  Chromatik  164.  —  Ca- 

Sriccioform  166.  — Ein- 
uß  auf  die  norddeutsche 
Orgelmusik  235. 

Friderici,  Daniel,  Lieder 
628  f. 

Fritsch,  reparierte  die  Ka- 
tharinenorgel  in  Ham- 
burg 229. 

Froberger,  sein  »Memento 
mori«    von   J.  V.   Meder 
für  Violine  gesetzt  47.  — 
Chromatik  164. — Hexa- 
chordfantasie  167. 

Fugenform,  bei  Sweelineks 
deutschen  Schülern,  s. 
Fantasieform. 

Gabrieli,  Andr.,  Beziehun- 

?en  zu  Sweelinck  152  f., 
65,  169. 
Gabrieli.  Gio.,  Beziehungen 
zu  Sweehnek  152  f.,  230. 

—  zum  polnischen  Hofe 
in  Warschau  407. 

GaUiculus,  seine  Passion 
678. 

GMlus,  Jaeob,  Hofkapell- 
meister in  Prag  454.  — 
seine  Passion  678. 

»Gaudeamus  igitur«,  Bnt- 
vickehingsgeschichte  des 
Liedes  680  f. 

Gemeindegesang  mit  Or- 
gelbegleitune  Entwicke- 
uing  desselben  215  ff., 
413,  416. 

Gerle,  Hans,  Lautentabu- 
latur  (1532,  1537,  1546) 
288. 

Gterstenberg,  H.  W.  v.,  legt 


694 


Namen- und  Sachregister. 


Text  unter  eine  »Fan- 
tasia«  Ph.  E.  Bachs  1  ff.— 
C.  F.  Cramers  Erklärung 
dazu  3  f.  —  »Über  Reci- 
tativ  und  Arie  in  der 
italienischen  Sing-Kom- 
Position«  24. 

Oesangskunst  des  1 6.  Jahrh. 
nach  Zacconis  Darstel- 
lung 341  ff. 

Gese,  Barth.,  sein  Choral- 
buch 217.  —  seine  Pas- 
sion 678. 

Gheyn,  Matthias  van  den, 
Organist  in  Löwen  163. 

Gibbons,  Orlando,  seine 
Variationstechnik  171. 

Gläser,  Enoch,  seine  Be- 
ziehungen zu  Voigtländer 
599  f. 

Glarean,  biographische  Mit- 
theilungen 123  ff.  —  Ge- 
sang Horazischer  Oden 
1 24  f.  —  Interpretation 
der  Stelle  vom  Hypojo- 
nischen  im  Dodecachord 
(1547)  445. 

Gluck,  seine  Opernreform- 
bestrebungen,  4  Anm., 
18,  24,  26  ff. —  sein  Ver- 
hältniß  zu  Metastasio  32. 

Gorgia,  Koloraturen  und 
Passagen  im  Kunstge- 
sangedes  16.  Jahrb.,  Ety- 
mologie des  "Wortes  339*f. 

Gounod,  Bearbeitung  von 
Seb.  Bachs  C  dur-Prfilu- 
dium  16  Anm. 

Grabau,  Andr.,  Organist  in 
Danzig  417. 

Gräven ,  Kompositionen, 
4  Anm. 

Gramman,  Burchard,  bear- 
beitet Sweelincks  Lehr- 
buch 680. 

Gregor  d.  Gr.,  sein  Anti- 
phonar  116  ff. 

Grieg,  Edv.,  Ursprung 
zweier  seiner  »Nordischen 
Tänze«  449. 

Grinun,  Heinr.,  «Melopoe- 
sis«  (1624]  494. 

Gumpeltzhaimer,  A.,  »Com- 
pendium  musicum«  ( 1 595) 
493,  498. 

Gundel,  Phil.,  Odenkom- 
positionen  128. 


H.,  C,  Organist  in  W.  {?), 
Lieder  615. 

Hackenberger,  Andr.,  Ka- 
pellmeister in  Danzig 
403  ff.,  408. 

Hainhofer,  Phil.,  Lauten- 
bacher(1003,  1604)  291  f. 

Hacky,  Mich.  Ant.,  Schüler 
M.  Cestis  45. 

Haue,  Bau  und  Disposition 
der  Moritzorgel  daselbst 
189,  195,  211  f. 

Hamburger  Melodeyen- 
Buch  217. 

Hamburg,  Reparatur  der 
Katharinenorgel  daselbst 
229. 

Hammerschmidt,  A.,  Arien 
von  Studenten  gesungen 
601  ff. 

Hassler,  H.  L.,  seine  Be- 
ziehungen zu  Sweelinck 
und  Scheidt  152,  165, 
169,  198  f.  —  sein  Cho- 
ralbuch 217.  —  Lieder 
287. 

Hausmann,  Val.,  Beziehun- 
gen zu  Scheidt  188. 

Heckel,  Wolf,  Lautentabu- 
latur  (1556,  1562)  289. 

Herbst,  Job.  Andr.,  Bio- 
graphisches 464  ff.  — 
»Musica  practica«  494. 

Heu^el,  Jon.,  Odenkompo- 
sitionen  1 27  f. 

Hintze,  Mart ,  Stadtmusi- 
kuB  in  Danzig  419. 

Hintze,  Ewald,  Organist  in 
Kopenhagen  und  Danzig, 
Nachfolger  Sieferts  426f. 

Hobrecht,  Jac,  seine  Pas- 
sion 678. 

Hofheimer,  P.,  Odenkom- 
positionen  126  ff. 

Holland,  Christian,  Lieder- 
sammlung (1570)  622. 

»Homme  arme«,  Benutzung 
der  Melodie  von  Dufay 
bis  Carissimi  141. 

Horaz'Oden,  Melodien  da- 
zu aus  dem  Mittelalter, 
aus  den  Neumen  über- 
tragen 108  ff.  —  Oden 
bei  Glarean  1 24  f. 

Jahni,  Schulkollege  in  Riga 
456. 


Janowka,  »Clavis  ad  thc- 
saurum«  493,  501. 

Jeep,  Job  ,  mit  J.  A.  Herbst 
befreundet  465  f. 

»Imitatio  Violistican  und«  J. 
Tremula  Organi«,  Spiel- 
manieren   Scheidts   209. 

Ingegneri ,  Marcantonio, 
nicht  in  Mantua  gewesen 
282. 

Instrumentalmusik,  ihr  Ein- 
fluß auf  die  Theorie  des 
17.  Jahrb.  476,  482, 4SSf.. 

492  f.,  507  f.  —  ihr  Vcr- 
hältniß  zur  Vokalmusik 
des  18.  Jahrh.  17  ff. 

Instrumente  in  der  bain- 
sehen  Volksmusik  442  f. 
—  in  der  litthauischen 
674. 

Jobin,  Bemh.,  Lautentabu- 
latur  (1572)  289. 

Jodel  und  Jodellied  in 
Appenzell,  Wesen  des- 
selben 449. 

Isaak,  Heinr.,  Odenkompo- 
sitioneu  128. 

K.,  J.  'Crüger?),  Lieder 
611. 

Kadenzen,  Kolorining  der- 
selben in  der  Vokal-  und 
Instrumentalmusik  des 
16.  Jahrh.  302,  354  ff. 

Keiser,  Reinh.,  Kantaten 
in  Riga  aufgeführt  47  — 
Biographisches  667. 

Kircher,  Äthan.,  »Musurgia« 
(I650j  494,  497,  499  f. 

Kleber,  Leonh.,  Orgelta- 
bulatur  160. 

Koloraturen  und  Passagen 
im  Gesänge  des  16.  Jahrb., 
nach  Zacconi  337,  341  ff. 
(Gorgia)  —  in  der  Orgel- 
und  Lautenmusik  298, 
302  f.,  305  f. 

Krengel,  Greg.,  Lautcn- 
tabulatur  fl584)  290. 

Krieger,  Ad.,  Schüler  S. 
Scheidts  193  f.  —  Arien 
in  Studentenkreisen  be- 
liebt 589  Anm.  2,  603  ff. 

Krinkovius.  Matthias,  Brief 
anScacchi  überSiefert421. 

Krüger,  Barthol.,  Organist 
in  Trebbin,   Lieder  624. 


Namen-  und  Sachregister, 


695 


Xührci  h  en ,  Appenzeller, 
Wesen  desselben  445  — 
Ursprung  und  Nachwir- 
kungen desselben  446  ff. 

K.ünig,  Theod.,  Odenkom- 
p  ositionen  127. 

Kuh  nau,  Job.,  »Musikali- 
scher Quacksalber«  (1700) 
494. 

K  unzen,  Ad.jKompositionen 
4  Anm. 

Kunzen,  F.  L.,  Komposi- 
tionen 4  Anm. 

Kusser,  Job.  Siegm.,  Bio- 
graphisches 667. 

Lampadius,  Autor,  »Com- 
pendium  Musices«  (1537) 
494. 

Lange,  Casp.;  »Methodus« 
(1688)  519  Anm.,  520 
Anm.  1. 

Lasso,  Orlando  di,  Kom- 
positionen von  Scheide- 
mann koloriert  234  f.  — 
Lieder  286  —  sein  Em- 

.  pfeblungsbrief  für  Reg- 
nart 454. 

Jiautenmusik,  deutsche,  im 
16.  Jahrb.,  Quellen  für 
sie  288  ff.  --  die  Art  der 
Liedbearbeitungen  294  ff. 

—  die  Tonarten,  Stim- 
mung, Bemerkungen  über 
Notation  und  Technik 
der  Laute  301,  312  ff. — 
Bearbeitungen  für  meh- 
rere Lauten  303,  304  f., 
316  f.  —  Musikbeilagen 
333  ff. 

Lechner,  Leonh.,  Biogra- 
phisches 667. 

Leder,  Matthias,  Organist 
in  Danzig  401. 

Lied,  das  deutsche,  im  16. 
Jahrb.  286  f.  —  in  der 
Lautenmusik  des  16. 
Jahrh. ,    s.    Lautenmusik 

—  Alphabetisches  Ver- 
zcichniß  der  für  Laute 
bearbeiteten  Lieder  3 1  ^ff. 

—  deutsches  Volkslied 
676  f.  —  das  Studeuten- 
lied  des  1 7 .  Jahrh.  in  text- 
licher Beziehung  581  ff. 

—  Runda-  (Trink-)Liedcr 
585  ff.    —    Liebeslieder 


589  ff.  —  Abschiedsliedcr 
592  —  in  musikalischer 
Beziehung  594  ff.  —  Me- 
lodien aus  Ariensamm- 
lungen des  17.  Jahrh. 
596  ff.  —  in  Gedicht- 
sammlungen 60"  ff.  — 
volkstümliche  Melodien 
622  ff.  —  S.  Baiern,  Lit- 
thauen   und    Volkslied. 

liiedyariation  in  der  Kla- 
viermusik des  16.  Jahrb., 
s.  Variation. 

Lippius,  »Synopsis  musica« 
(1612,  16*14)  476  ff. 

Listenius,  Nie,  »Musica« 
(1540)  497. 

Litthauen ,  Volkslied  da- 
selbst ,  Hervortreten  der 
Oktavengattungen  668  ff. 
—  Instrumente  dazu  674. 

Liturgie ,  Entwickelung 
derselben  vom  5.  bis  8. 
Jahrh.  1 1 7  ff .  —  syrische 
1 19  ff.  —  Ordnung  in 
Norddeutschland  im  17. 
Jahrb.  213  ff. 

Lübeck ,  Reparatur  der 
Marienorgei  229. 

Lully,  Kritik  seiner  Opern 
durch  Calsabigi  40. 

Luython,  K.,  seine  Fan- 
tesieform  166. 

Mattheson,  seine  theoreti- 
schen Schriften  566  f. 

Meder,  Job.  Erb.,  Kantor 
in  Wasungen,  Vater  der 
folgenden  43. 

Meder,  Matemus,  Organist 
in  Meiningen  43. 

Meder,  Job.  Friedr.,  Kan- 
tor in  Wasungen  43. 

Meder,  Job.  Nico!.,  Kantor 
in  Salzungen  43. 

Meder,  Job.  Val.,  Kapell- 
meister in  Danzig  und 
Riga,  Leben  und  Werke 
43  ff.,  455  ff. 

Meder;  Erb.  Nicol.,  Sohn 
von  Job.  Val.  M,  458. 

Meier,  Peter,  seine  Lieder 
bei  den  Studenten  des 
17.  Jahrh.  beliebt  608, 

»Mein  Bräutigam,  du  wah- 
res Ootteslamm«,  Ur- 
sprung der  Melodie  620  f. 


Mensig,  Daniel,  Organist 
in  Danzig  417. 

Merulo,  Claudio,  Bezie- 
hungen zu  Swcclinck  152, 
169. 

Menila,  Tarquinio,  Aufent- 
halt in  Warschau  401. 

Mesomedes,  Hymnen  79, 
113. 

Metastasio,  sein  Verhältniß 
zu  Gluck  32. 

Metzger,  M.  Ambros.,  »Ve- 
nus blümlein«  (1611)  623. 

Meyer,  Mich.,  Stadtviolinist 
in  Danzig  419. 

Michael,  Tob.,  Brief  an 
Scacchi  über  Siefert  42 1 . 

Moessanus,  Petrus,  Kapell- 
meister in  Wien,  Biogra- 
phisches 453  f. 

Monte,  Phil.de,  Kapellmstr. 
in  Wien,  Biographisches 
454. 

»More  Palatino«,  Instrumcn- 
talstücke  635  f. 

Motz,  Georg,  »Vertheidigtc 
Kirchen-Musik«  (1703, 
494. 

Musik,  ihr  Ursprung  142  f. 

Musikalische  Ausbildung 
66. 

Musikalischer  Ausdruck, 
verschiedenartige  Störun- 
gen desselben  62  ff.  — 
Characterisirung  dessel- 
ben 71  ff. 

Musik,  nordische,  ihre  Selb- 
ständigkeit der  griechi- 
schen gegenüber  441. 

Musiktheoriedes  17.  Jahrb., 
ihre  historische  Ent- 
wickelung 469  —  503.  — 
ihre  Zusammenfassung 
bei  Walther ;  Stilarten 
507  f.  —  wissenschaftlich- 
speculativc  Betrachtung 
der  Musik  508  ff.  —  Ton- 
arten, Dur  und  Moll  51 3  f. 

—  Notenwerthe  514  f.  — 
Pausenwerthe  515  f.  — 
Takte  51 6  ff.  —  Diesiszei- 
chen519f.  — Punkte  521. 

—  Verzieijungen  521  f.  — 
Intervalle  524  ff.  —  Kon- 
und   Dissonanzen   526  f. 

—  Akkordverbindungen 
528  ff.  —  Fortschreitung 


696 


Namen-  und  Sachregister. 


der  SLon-  und  Dissonan- 
zen 532  ff. — Kirchenton- 
arten 542  ff.  —  Beant- 
wortung des  Fugenthe- 
mas, Ileperkussion  548  ff. 
—  Choralbearbeitungs- 
formen 552.  —  Doppelter 
Kontrapunkt  559  ff. 

Nauklcrus,  Joh. ,  Lauten- 
tabulatur  (1615)  292. 

Neunaber,  Andr.,  Schüler 
bei  Siefert,  M.  Leder  und 
T.  Morula  400  f. 

Neunaber,  Jeremias,  Or- 
ganist in  Danzig  411, 
417. 

Neunaber,  Tiedemann,  In- 
fltrumentenmacher  in 
Danzig  419  Anm.  4. 

Newsidler,  Hans,  Lauten- 
tabulatur  (153«)  288  f. 

Newsidler,  Melch.,  Lauteu- 
tabulatur  (1574)  2S9. 

Nicolai,  Matthias,  Kapell- 
meister in  NOmberg, 
Vorgänger  von  J.  A. 
Herbst  465. 

Niedt,  Fr.  F.,  »Handleitung« 
(1706:  494  ff. 

Notation ,  Eiffenthümlich- 
keiten  derselben  in  Dru- 
cken des  16.  und  17. 
Jahrh.  126  —  Gemein- 
same Eigenthümlichkei- 
tcn  der  englischen,  nie- 
derländ.  und  norddeut- 
schen Orffeimeister  146  ff. 

Notkcr,  fadenzen  seiner 
Sequenzen  kehren  in  den 
Appenzeller  Kühreihen- 
mclodien  wieder  446. 

Ochscnkhun,  Seb.,  Lauten- 
tabulatur  (1558)  289. 

Oddo,  »DialogUB  de  mu- 
sica«,  Untersuchung  einer 
neuen  handschrifuichen 
Quelle  261  ff. 

Orgelmusik,  deutsche  im 
16.  Jahrh.  (Koloristen), 
149  f.,  200,  205,  234  f., 
240  —  im  17.  Jahrh. 
145,  151,  186ff.,  —  Be- 
ziehungen der  italieni- 
schen O.  zur  deutschen 
145,  235  —  zur  nieder- 


ländischen 152  f.,  164, 
165  ff.  ^  Pedalgebrauch 
176. 

Orlandus,  s.  Lasso. 

Osiander,  Luc,  sein  Cho- 
ralbuch 217. 

Pacelli,  Asprilio,  KapeU- 
.  meister  in  Warschau 
400,  407. 

Paisiello,  Opern  34,  39. 

Palestrina,  Gio.  Luigi  da, 
ein  Madrigalthema  von 
Scheidt ,  Erbach  und 
ELassler  verarbeitet  197  f. 

Pallavicino ,  Benedetto, 
sein  Alter  2*^2  f. 

Pallavicino,  Carlo,  Opern 
45. 

Paumann,  K.,  Aufenthalt 
in  Mantua  281. 

Pepusch,  Joh.  Christoph, 
Uettleroper  616  f. 

Peschinus,  Greg.,  Oden- 
kompositionen  127. 

Philips,  Peter,  Organist 
zu  Soignies,  Beziehungen 
zu  Sweelinck  163. 

Pipegrop,  Heinr.,  s.  Bary- 
phonu«. 

Praetorius ,  Hieron. ,  Be- 
ziehungen zu  Sweelinck 
161  —  Kompositionen 
werden  von  Scheidemann 
koloriert  234  f. 

Praetorius,  Jac,  Schüler 
Sweelincks  154, 161, 198, 
230  ff.  —  Kompositionen 
239  —  Musikbeil.  25S  ff. 

Praetorius,  Mich.,  Bezieh- 
ungen zu  Scheidt,  188  f. 
—  »Syntagma  musicum« 
494,  499. 

Printz,  theoretische  Schrif- 
ten 494,  500. 

Profe,  Ambros.,  Brief  an 
Scacchi  über  Siefert  421. 

Programmmusik,  über  die- 
selbe 72. 

« 

Rade,  Kantor  in  Riga  456. 
Raupach,  Christopher,  Or- 

fmist  in  Stralsund,  mit 
y.  Meder  befreundet  43. 
Regnart,  J.,  seine  Passion, 
678  — Lieder  287  — Bio- 
graphisches 454. 


Reiohardt,  KompositioDeD 
4  Anm. 

Reincken,  Joh.  Ad.,  seine 
Ueberarbeitung  v.  Swee- 
lincks Lehrbuch  179  ff., 
185,  484ff.,  489ff.  —  sein 
Urtheil  über  Scacchi  421 

Reischius,  Georg,  »Marga- 
rita  philoflophica«!  (1503^ 
494. 

Resinarius,  seine  Passion 
678. 

Rist,  Joh.,  seine  Beziehun- 
gen zu  den  HamhurKer 
Musikern  230  ff.,  60Sff. 

Rognoni,  Gio.  Dom.,  Or- 
ganist in  Mailand  283. 

Rore,  Cipriano  di,  seine 
Passion  678. 

Ruberl^  Joh.  Mart ,  Orct- 
nist  in  Stralsund,  Lieoer 
610  ff. 

Rudenius,  Joh.,  Lauten- 
tabulatur  (1600)  290. 

Ruffus,  seine  Passion  678. 

8.,  C,  (?)  Lieder  611. 

Salieri,  Opern  28. 

Scacchi,  Marco,  Kapell- 
meister in  Wanchau, 
Streit  mit  Siefert  420  ff., 
426. 

Scandelli,  A.,  Lieder  28G. 

Scheidemann,  Hans,  Orga- 
nist in  Hamburg,  Vater 
von  Heinrich  S.  227. 

Scheidemann,  David,  Orga- 
nist in  Hamburg,  Bruaer 
von  Hans  S.    ?).  229. 

Scheidemann,  Heinr.,  Bio- 
graphisches 1 54 ,  1 8 1  f., 
195,  198,  227  ff.  —  seine 
Schüler  229  f.,  232  f.  - 
Beziehungen  zu  Th.  Seile, 
J.  Schop,  J.  Praetorius, 
J.  Rist  230  ff.  —  Kom- 
positionen 233  ff. 

Soneidt,€k)ttfT.,  Bruder  von 
Samuel  8.,  Komponist 
187. 

Scheidt,  Samuel,  Biogia- 
phisches  154, 155  Anm.  1, 
162f.,  167, 172,  175,t80f. 
186  ff.,  398,  400.  —  Be- 
ziehungen zu  H.  L.  HasB- 
lerundErbach  187, 197  ff. 
—  zu  H.  Schütz  191.  — 


Namen-  und  Sachregiater. 


697 


XU  Mich.  Praetoriufl  1 88  f., 
191  f.  —  zu  Baryphonus 
192.  —  seine  Schüler 
190,  193  f.  —  Oreelkom- 
poaitionen  190  £,  194, 
19öff.  —  äussere  Spiel- 
technik 208  flf.  —  Ton- 
system 213,  219  Anm.  1. 

—  Tonarten  213.  —  Ver- 
gleich mit  M.  Schildt 
225f.  — mit  H.  Scheide- 
mann 236  f.  —  Noten  - 
beilage 251. 

Schein,  J.  H.,  einer  der  be- 
rühmten S.  195. 

Schildt,  Anton,  Organist 
in  Hannover,  Vater  von 
Melchior  S.  (?)  221  f.,  226. 

Schildt,  Gerdt,  Organist  in 
Hannover  226. 

Schildt,  Ludolph,  Org;anist, 
Bruder  von  Melchior  S. 
221. 

Schildt,  Melchior,  Biogra- 
phisches 154,  195,  220  ff. 

—  Kompositionen  224  ff. 
— Vergleich  mit  Scheide- 
mann 235  ff.  ■•-  Noten- 
beilagen 252  ff. 

Schlick,  A.,  Tabulatur(l  5 1 2) 

288. 
Schon,  Joh.,  Beziehungen  zu 

Scheidemann  195,  231)  ff. 
Schott,  Casp.,  »Organum  ma- 

thematicum«  (I66S)  494. 
Schottland     bei     Danzig, 

OpemauffOhrun^  das.  46. 
Schütz,  Heinr.,Beziehungen 

zu  S.  Scheidt  191,   195. 

—  zu  W.  Fabricius  229  f. 

—  zu  Chr.  Bernhard  427. 

—  Briefe  an  Scacchi  über 
Siefert  421. 

Schulz,  J.  P.  A.,  Urtheil 
über  Gerstenberg  3  f. 

Schwallen,  Dirck  v.,  Orga- 
nist in  Danzig  417. 

Schwanenberger,  Komposi- 
tionen, 4  Anm. 

Schwieeer,  Jak.,  seine  Lie- 
der bei  den  Studenten 
des  17.  Jahrh.  beliebt 
609  ff. 

Seile,  Christoph,  Organist 
in  Wolfenbüttel  221. 

Seile,  Thom.,  Beziehungen 
zu  Scheidemann,  1 95, 229, 


230  ff 

Senfl,  Ludw.,  Odenkomposi- 
tionen  I26ff.— Lieder286. 

Seauenzbildung  in  der  nord- 
aeutschen  Orgelmusik 
17.  Jahrh.  173  f. 

Siefert,  Paul,  Biographi- 
sches 154,  180,  192,  239, 
398,  411,  419,  422,  425  f. 

—  Sein  Bildniss  399.  — 
AusbildungbeiSweelinck 
398  ff.  —  Organist  in 
Warschau  400  ff.  —  in 
Danzig  404  ff.  —  Streit 
mit  K.  Förster  sen.  405  ff. 

—  mit  K.  Förster  um. 
412,  414  f.  —  mit  dem 
Danziger  Stadtviolinisten 
418  ff.  —  mit  den  Orga- 
nisten Danzigs  415  ff.  — 
mit    M.    Scacchi    420  ff. 

—  Erbschaftsprozess  in 
Breslau  422  ff.  —  Letzte 
Lebenszeit  und  Tod  4  25  ff. 

—  Schüler  400  f.,  427.  ~ 
Kompositionen  40 1  f.,  4 1 3, 
416,  420,  425,  428. 

Snegassius,  »Isagoge«  493, 
498. 

Sokol,  Altist  in  Danzig 
408  f.,  418  f. 

Sperling,  Joh.  Pct,  »Prin- 
cipia  musicae«  (1705)  494. 

Sperontes  (Joh.  Sig.Scholzc), 
Biographisches  679. 

Starck,  Laurentius,  Brief 
an  Scacchi  über  Siefert 
421.     • 

Stechau,  Andr.,  Rektor  in 
Arnstadt,  Schulkomödie 
636. 

Stierlein,  Joh.  Christ.,  »Tri- 
folium musicale««  (1691) 
494. 

Stobaeus,  Joh.,  Beziehungen 
zu  Sweelinck  147,  154.  — 
Brief  an  Scacchi  über  Sie- 
fert 421. 

Strunck,  Delphin,  Organist 
in  Wolfenbüttel  221. 

Strunck,  Nie.  Ad.,  Oper  45. 

Sweelinck,  Joh.  Pet.,  jLeben 
151  ff.  —  Kompositionen 
analysiert  155  ff.  —  Be- 
ziehungen zur  englischen 
Kunst  153,  158,  170  ff,, 
213,  225.  —  zur  italieni- 


schen 164,  165  f.,  168  f. 
—  zur  deutschen  153  f., 
160  f.,  163,  187,  221,227, 
400.  —  Vergleich  mit  sei- 
nen deutschen  Schülern 
197, 199, 201  f., 203  f.,  206, 
225,  235.  —  Pedalge- 
brauoh  175  ff. — Lehrbuch 
nach  Zarlinos  Instituti- 
onen 178  ff.,  482,  483  ff., 
679  f.  —  Tonsystem  184. 
Tonarten  184  f.  —  Pflege 
der  Lautenmusik  199.  — 
Notenbeilage  241  ff. 

Theorie  der  Musik,  s.  Mu- 
siktheorie. 

Tritonius,  Odenkomposi- 
tionen  126  ff. 

Trofeo,  Ruggiero,  Organist 
in  Mailand  *i83. 

Toccata  in  der  norddeut- 
schen Orgelmusik  des  17. 
Jahrh.  169,  202,  208,  235. 

Tonarten  in  der  norddeut- 
schen Orgelmusik  des  1 7. 
Jahrh.  184  f.,  213, 226, 238. 

Tonsystem  in  der  norddeut- 
schen Orgelmusik  des  1 7. 
Jahrh  184,213,219  Anm. 
1,  238. 

Tunder,  Franz,  Organist  in 
Lübeck  229. 

Vaet,  Jac,  Kapellmeister  in 
Wien,  Biographisches 
454. 

Variationsform  in  der  nord- 
deutschen Orgel-  und 
Klaviermusik  des  1 7. 
Jahrh.  171  ff.,  174  f.,  183  f., 
202  ff.,  204  fi.,  219,  224  ff., 
233  ff.,  239. 

Vaudeville,  Etymologie  des 
Wortes  135. 

Virginalmusik,  englische 
146  ff.,  153,  158,  170  ff., 
176  f.,  187  f.,  355,  419. 

Völckel,  Christian,  Kapell- 
meister in  Frankfurt  a/M. 
Vorgänger  vonJ.A,Herbst 
466. 

Voi^länder,  Gabr.,  seine 
Lieder  bei  den  Studenten 
des  17.  Jahrh.  beliebt584, 
599  f.,  636. 

Vokalmusik  des  18.  Jahrh- 


698 


Namen-  und  Sachregister. 


im  Yerhältniß    zur    In- 
strumentalmusik 17  ff. 
Volkslied,  das  französische: 
das  historische  Lied  132. 

—  Tanz-  und  Liebeslied 
\X).  —  Wiegenlied,  chan- 
son  de  metier,  Soldaten- 
undKriegslied,  festliches 
Lied  134.  —  Trinklied, 
Vaiidcville  135.  —  reli- 
giöse und  nationale  Lie- 
der 13G.  —  die  musika- 
lische Gestaltung  dersel- 
ben 136  ff.  —  Ursprung 
und  Entwickelung  138  f. 

—  Einfluß  auf  die  Kunst- 
musik  1 39  ff.  —  das  eng- 
lische und  schottische  1 1 3. 

—  S.  Baiem,  Litthauen 
und  Lied. 

Wagner,  R.,  seine  »Scenen» 
20  ff.  —  sein  Verhältniß 
zu  Beethoven  21  f. 

Waissel,  Matth. ,  Lauten- 
tabulatur  (1592)  290. 

Walliser,  Thom.,  »Musicae 
tiguralis  praeccpta«  (1611) 
493,  498. 

Walther,  Joh.  Gottfr.,  seine 
Quellen  in  ihrem  histo- 
rischen Zusammenhange 
469  ff.  —  Kompositions- 
lehre :  äußere  Form  und 
allgem.  Vorbemerkungen 
003  ff.  —  die  wissen- 
schaftlich -  spcculativcn 
Betrachtungen  508  ff.  — 
Elcmcntarlehre  des  ersten 
Theils  5 1 3  ff.  —  des  zwei- 


ten Theils  523  ff:  —  ein- 
fache Akkordverbindun- 
gen 527  ff.,  Fortschrei- 
tungen der  Kon-  und 
Dissonanzen  532  ff.  — 
Text ,  Kadenzen ,  Modi 
541  ff.  —  Formenlehre 
547  ff.  —  doppelter  Kon- 
trapunkt 559  ff.  —  die 
Kompositionslehre  als 
Vorarbeit  zum  Lexikon 
564  ff. 

Wanning ,  Joh. ,  Kapell- 
meister in  Danzig  402. 

Wasungen  a/d.  Werra,  neuie 
Orgel  (1680)  43. 

Wechselchörigkeit  in  der 
norddeutschen  Orgel- 
musik des  17.  Jahrh.  168, 
202,  235. 

Wecker,  Hans  Jak.,  Lau- 
tentabulatur  (1552)  289. 

Weckmann,  Matth.,  Schüler 
von  Scheidemann  230. 

Weise,  Christian,  seine 
Lieder  bei  den  Studenten 
des  17.  Jahrh.  beliebt 
582  ff. 

WeitzenmüUer,  Georg,  Or- 
ganist in  Oliva  45  Anm.  3. 

Werckmeister,  seine  theo- 
retischen Schriften  494, 
500  f. 

Werner,  Christian,  Kapell- 
meister in  Danzig  420, 
426. 

Werner,  Christopher,  Brief 
an  Scacchi  über  Siefcrt 
421. 

Werner,  Samuel,   Erbauer 


der  Marienorgel  in  £1- 
hing  193. 

Wert,  Giaches  de,  I.  Buch 
der  Madrigale  282. 

Weyda,  Mich.,  Oq^anist  in 
Danzig,  Vorganger  Sic- 
ferts  405. 

Widmann,  Erasmus,  »Neue 
musikalische  Kurtzweil« 
(1618)  583  Anm.  3. 

Wien,  Instruktion  für  Ka- 
pellmeister, S&nger  und 
Instrumentisten  der  dor- 
tigen Kapelle  in  der  2. 
Hälftedes  17.Jahrh.450ff. 

Willaert,  A.,  Beziehungen 
zu  Sweelinck  152,  lOS. 
179  f.,  488. 

Zacconi,  Lodov.,  seine  ge- 
sangstheoretischen Dar- 
stellungen der  C^i^ia 
338  ff. 

Zange,  Nicol.,  KapcUmstr. 
in  Danzig  402  f. 

Zarlino,  Giu8.,LehrerSwee- 
lincks  152,  178ff.  — Be- 
gründe» unseres  Tons}'- 
stems  (Ist.  härm.  II)  4  69 
ff.  —  Seine  Beziehungen 
zu  deutschen  Theoreti- 
kern des  17.  Jahrh.  475  f.. 
478, 480, 486  ff.,  498, 502  f. 

Zesen,  Phil,  v.,  ein  Lied 
von  den  Studenten  ge- 
sungen 582. 

Zuber,  Joh.  Fricdr.,  Lieder 
617. 

Zwedorff,  Mich.,  Organist 
in  Danzig  417. 


Adressen  der  Herausgeber: 

Professor  Dr.  Spitta,  d.  Z.  geschäftsführender  Herausgeber,  Berlin,  \>'.  Hurg- 
grafenstraße  10;  Dr.  Friedrich  Chrysander,  Bergedorf  bei  Hamburg;  Professor 
Dr.  Guido  Adler,  Prag,  Weinberge,  Celakovskygasse  15. 


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