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1
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Vierteljahrsschrift
MUSIKWISSENSCHAFT.
Herauagegebeu von
Friedrich Chrysander, Pliilipp Spitta
Guido Adler.
Siebenter Jahrgang
FieU 12 Maik.
Leipzig
Shndc. and Verl&g' toil. fireitlropf mid-Hattal'''-
1891.
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Inhalt.
I. Selbständige Abhandlungen.
Seitd
Friedrich Chrysander.
Eine Klavier-Phantasie von Karl Philipp Emanuel Bach mit nachträglich
-von Gerstenberg eingefügten Oesangsmelodien zu zwei verschiedenen
Texten 1
Heinrich Welti.
Gluck und Calsabigi , . . . 26
Johannes Bolte.
Johann Valentin Meder. 43
Kichard Wallaschek.
Ober die Bedeutung der Aphasie für den musikalischen Ausdruck . . 53
Kudolf Westphal.
Die Arifltoxenische Khythmuslehre 74
Paul Eickhoff.
Eine aus dem Mittelalter überlieferte Melodie zu fioratius Illg, nebst
dem Bruchstück einer dolchen zu Ulis 108
Max Seiffert.
J. P. Sweelinek und seine direkten deutschen Schüler 145
1. Jan Pieters Sweelinck in Amsterdam 151
2. Samuel Scheidt in Halle 186
3. Melchior Schildt in Hannover 220
4. Heinrich Seheidemann in Hamburg. 227
5. Jacob Prätorius in Hamburg, Paul Siefert in Danzig 239
Peter, Wagner.
Über die iMindjidmfitli^e Überlief eruog des Diälogua Doinni Oddoni« . 261
£rn8t Radecke.
Das deutsche weltliche lied in der Lautenmusik des XVI. Jahrhunderts 285
Friedrich Chrysander.
Ludovioo Zaceoni &ls Lehrer des Kunstgesanges 337
L Die Gorgia. Über die Ausführung der Koloraturen und den Gebrauch
der modernen Passagen ....;......; 341
Max Seiffert.
Paul Siefeart <! 58^*^1 666.) Biogra))hS9ohe Skisze. (MH Siefetts Bildnis«.} 397
Johannes Bolte. ^
Nochmals Johann Valentin Meddr .... 455
Edu-ä;td Jacobs. ■ • ' a- ••• -i •' ' >"
Heinrich Pipegrop (Baryphonus) 45f
Benedikt Widmann. . '-'^ . •■ '
Johann Andreas Herbst. Neue biQgraphische Beitcäge. 464
eräiann Gehrmann. - i . , > > . . .
Johann Gottfried Walther als TheorptÜLer. ^ . . / • ; 468
Wilhelm Niessen.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Ol od jus 579
IV Inhalt.
IL Kritiken und Referate.
Fr. Aug. Gevaert. Seite
Les origines du chant liturgique de l'^glise latine 116
Otto Fridolin Fritzsche.
Glarean, sein Leben und seine Schriften 123
Dr. jur. Arthur Prüfer.
Untersuchungen über den außerkirchlichen Kunstgesang in den evan-
gelischen Schulen des 16. Jahrhunderts 126
Julien Tiersot.
Histoire de la chanson populaire en France 131
Herbert Spencer.
The ongin of Music 142
Kaspar Jacob Bischoff.
ipa
Harmoniölehre. ". . 267
Oaetano Gaspari.
Catalogo della Biblioteca del Liceo Musicale di Bologna 274
Emil Bohn.
Die musikalischen Handschriften des XVI. und XVfl! Jahrhunderts in
der Stadtbibliothek zu Breslau ..,....,.;,. 277
A. Bertolotti.
Musici alla Corte dej Gonzaga in Mantova dal secolo XV al XVHI . 278
Carl Stumpf.
Tonpsychologie. Band H ^ • • 429
Johannes Fressl.
Die Musik des baiwarischen Landvolkes, vorzugsweise im Königreiche
Baierti. I. Theil : Instrumentalmusik . . . . '. . 440
Alfred Tobler.
Kühreihen oder Kühreigen, Jodel und Jodellied in Appenzell ., . . . 444
Joachim Steiner.
Grundzüge einer neuen Musiktheorie 659
Josef Sittard. . '
Zur Geschichte der Musik und des Theaters: am' Württembergischen
Hofe. Nach Originalquelkn . . . ..... ; . . . . . 666
Christian Bartsch.
Dainn Balsai. Mdodieeni litauiseher Volkslieder, gesammelt und mit
Textübersetzung, Anmerkungen und Einleitung im Auftrage der Li-
tauischen. Litterarischen Gesellschaft herausgegeben: , *- > - *. •: • - • ^^^
Johann Lewalter. • , ; .
Deutsche Volkslieder. In Niederhessen aus dem Munde des. Volkes
gesammelt, mit einfacher. Klavierbegleitung, geschichtlichen \ind: ver-
gleichenden Anmerkungen herausgegeben. I. Heft , . ♦ . - , , • • • ®^^
Otto Kade.
Die filtere Pi^ssions^^omposition IÜ9 Eum J^)ire. IßßL.F^te^ Heft . . ;. 677
IIL Notizep, . ., ,.
Die Wiener Hofkapellmeister-Ordnung vor 300 Jahren . . ..«./,,.■. 450
Sperontes. .-. • ••:'•'.[ ' n/
Zu Sweelincks Lehrbuch. — Gaudeamus igitur . . . ,. ...•,,/...;. 679
iV; Mtisiliälisciie Biibliograp%^,, .',,.'.. -/.^^^^^ 682
V. Nameir^ tiha äachtefeiöteP' . : V'^';/ ; '. 692
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9
Eine Klavier-Phantasie von Karl Philipp Emanuel
Bach mit nachträglich von öerstenberg eingef>en
Gesangsmelodien zn zwei verschiedenen Texten.
Von
Friedrieh Chrysander.
Die Überschrift zu der nachfolgenden Mittheilung hätte auch
anders gefaßt werden können. Wollte man der Bedeutung, welche
dem Gerstenberg'schen Versuche nicht abzusprechen ist, gerecht
werden, so könnte der Titel lauten: i^Die Ausdeutung eines Instru-
mental-Musikstückes aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts« —
oder auch: »Ein praktisches Beispiel von dem Verhältniß des Gesanges
zu der Instrumentalmusik aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-
derts« — oder noch allgemeiner: »Ein praktisches Beispiel von dem
Verhältnis des Gesanges zu der Musik der Instrumente aus dem Be-
ginne der Periode desVorherrschens der Instrumentalmusik«. Letzteres
würde trotz der unbestimmten Zeitangabe dennoch das Bezeichnendste
sein, denn um die veränderte Stellung, welche die beiden Hauptorgane
der Musik durch die veränderte Gesammtrichtung erhalten haben^
handelt es sich hier eigentlich. Aber das Alles ist als Erläuterung
zweckdienlich, jedoch als Titel ungee^et, weil es der sachlichen
Deutlichkeit entbehrt.
Die »Fantasia« von Ph. E. Bach, welche die Grundlage zu
Gerstenberg's Text -Experimenten bildet, wurde vom Komponisten
schon 1753 veröffentlicht. Sie gehört zu den achtzehn, in »sechs
Sonaten a vereinigten Probestücken, die Bach als Beilagen des ersten
Theils von seinem »Versuch über die wahre Art das Ciavier zu
spielen c (Berlin, 1753) herausgab, hatte also von Anbeginn einen
didaktischen Zweck. Gemeint ist das letzte Stück in der letzten
Sonate, welches Bach mit Fingersatz reich garniert, übrigens aber
Seite 20—21 seines Exempelbuches in derselben Weise ohne Takt-
striche gedruckt hat, wie es hier unten folgt.
1891. 1
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• •'• '»-Fäedrich Chrysander,
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^, GeÄunie'Zeit später machte der Dichter Heinrich Wilhelm vo7i
^*erf£sjibi§rg den Versuch, dieses Klavierstück mit Gesang zu ver-
biiiHen. Wir hören davon zuerst 17S3, also dreißig Jahre nachdem
Druck der »Fantasia«, und zwar durch C. F. Gramer. In einer aus-
führlichen Recension der vierten Sammlung Bach'scher Elaviersonaten,
die 1783 »im Verlage des Autors« erschienen war, spricht Gramer
zuletzt auch über die Originalität und den musikalischen Reichthum
der beiden Phantasien, welche in dieser Sammlung enthalten sind.
Hierbei äußert er Folgendes:
»Und wer vermag überhaupt zu sagen, wie weit auch aus jenen
Gesichtspunkten, die ich der Kürze halber die Rousseauischen nennen
will, betrachtet, sie noch ihren eigenthümlichen großen und frappanten
Werth haben, und, wie Er sich ausdrückt, mi principe d'imitation
in sich enthalten können? Es kommt hierbey alles nur auf die Becep-
tivität der Phantasie an, die sich an die Vergleichung macht; und
es wäre zu wünschen, daß der mit Commentarien zu spai-same Künstler
uns nur mit einer kleinen Deduction darüber, wie ers einst bey einer
andern Gelegenheit that, an die Hand ginge, um ihm vielleicht
manches Bestimmte dabey nachempfinden zu können. Die zweyte
dieser Phantasien z. E. weis ich, hat er zu seinem Vergnügen an
einem Tage verfertigt, wo ihn ein verdrießlicher Rheumatismus plagte,
und er pflegt sie daher scherzend gegen seine Freunde die Phantasie
in tormentie zu nennen, nach der Analogie der berühmten Gemähide
des hochseligen Königs von Preußen ^ Ich würde es niemand ver*
denken, der hierauf; fußend, sich eine ganze Theorie der Gicht-
schmerzen daraus abstrahiren wollte, in dem weit ausschweifenden,
beym zweyten Ansätze so gleich so original in die Seeundquartsexte
ausweichenden Laufe ihre herumfliegende Pein, in den kleinern
stoßenden Stellen ihre Stiche, den Eindruck des Aergers auf die Seele
etc. leibhaftig gewahr würde. Doch das sind Grillen! sagt ein ernst-
hafter Leser. Mags denn drum seyn! Das aber darf ich hierbey
nicht vergessen anzuführen, daß einer unserer ersten deutschen
Dichter, der auch im Gebiete der Music mit überschauendem Geiste
wandelt, einen Versuch gemacht hat, einer andern nicht minder vor-
1 »Man weis nämlich, daß dieser, und gemeiniglich mit blauer Farbe, Ge-
mählde verfertigte, wenn ihn das Podagra plagte, und auf sie denn schrieb: In
dohrihus pinxit Fridericus, Er machte zuweilen den Spaß damit die Schmeicheley
seiner Hofleute zu deconcertiren, indem er sie {fragte, was sie wohl werth wären?
und wenn sie denn unter vielen Bücklingen einen sehr hohen Preis nannten, zur
Antwort sab: £r solls dafür haben, — Sis er endlicli einmal auf einen Schlauem
gerieht, der ihm in tiefer Devotion auf seine Frage: Was hHH Er das Stück wohl
werth? versezte: O Ihro MajevUit^ es ist unschätzbar.
Eine KlaTier-Phantasie von Karl Philipp Emanuel Bach etc.
txeflichen Phantasie von Bach, die in seinen Probesonaten befindlich
ist, so gar Worte zum Singen unterzulegen. Er hat hierzu den be-
rühmten Monolog im Hamlet über den Selbstmord gewählt, und ich
gestehe, daß ich nichts vortreflicheis, als diese Unterlegung kenne, an
Kraft und origineller Wahrheit. Möchte ich doch seine Erlaubniß
erhalten, sie einst bekannt zu machen! Denn ich glaube gern, daß
nach meiner bloßen Erzählung es den Clavierspielem unbegreiflich
seyn muß, wie dieß bei dem Umfange einer mit solcher Schnelligkeit
durch alle Gebiete der Octaven schweifenden Phantasie nur einmal
möglich gewesen seyc.^
Gerstenberg gab die Erlaubniß zur Veröffentlichung seines Ex-
perimentes nur zögernd, so daß Gramer dasselbe erst nach vier Jahren
(1787) in einem Sammelwerke, »Florat betitelt, herausgeben konnte.
Damals hatte das Stück aber nicht bloß denjenigen Text erhalten,
welcher oben angeführt wird — Hamlet's Monolog — , sondern noch
einen zweiten, den Gerstenberg also wohl erst später hinzugefügt
hat. Über Entstehung, Sinn und Zweck dieses Veisuches sind wir
durch Gramer genau unterrichtet. Ei schreibt in seiner Flora:
»Diese höchst originale musikalische Idee bedarf vielleicht mehr
als irgend ein Stück der Flora eines Gommentars. Sie kam wenig-
stens einem unserer größten Tonkünstler — ich nenne ihn — Schulzen
[Johann Abraham Peter Schulz] als ein höchst merkwürdiges Meteor
vor; und so wagte ichs ihren Urheber, der vielleicht befürchtet, daß
nur Wenige sie verdauen dürften, um ihre Bekanntmachung zu bitten.
Er gestand sie mir halb ungern zu. Ihre Genesis ist folgende. Es
war gestritten worden, ob auch bloße Instrumentalmusik, bey der ein
Künstler nur dunkle leidenschaftliche Begriffe in seiner Seele liegen
gehabt, einer Analyse in hellere bestimmtere fähig seyn sollte?
Gerstenberg, und auch Er nur der einzige Mann dazu, versuchte
es, und nahm zu der Probe gerade ein Schwerstes, was sich nur
denken läßt, die bekannte Bachische Glavierphantasie , deren Ver-
fasser sichs wohl nie hatte träumen lassen, dass der ungebundene
Flug seiner erhabenen Einbildungskraft zum Einschlage eines poeti-
schen Gewebes, und zur Darstellung der Empfindungen eines Ge-
sangstückes fähig wäre. Aus allen den nicht einmal in Tacte und
Khythmen zwangbaren Schwüngen und Sprüngen dieses durch alle
Gefilde der Modulation einherziehenden Wolkengebildes, hub sein
plastischer Genius, gleich dem lesbischen Tragelaph, hier einen] Fuß,
dort einen Arm, hier eine Nase, und wieder ein Auge heraus, und
1 a F. Cramer, Magazin der Musik (Hamb. 1783) I, S. 1252—1254.
1*
Friedrich Cluygander,
sezte Euch so diese Gestalt tiefer Empfindung zusammen, die freylich
nicht einem Jeden gleich anschaulich seyn dürfte, aber den Weisen
belohnen wird, wenn er sich die Mühe nimmt, sie zu — studiren.
Und nicht genug an Einer Gestalt! — Aus ganz verschiedenartigen
Phrasen dieser Phantasie, bildete Er eine doppelte sogar; und knetete
so künstlich am widerstrebenden Stoffe, daß er die zwiefache Situation,
Hamlet, der über den Selbstmord raisonnirt, und die des Socrates,
der im Begriff steht, den Gfiftbecher zu trinken, für den verwunderten
Hörer auspunctirte. Mögen die eingeschränkten Theoristen, denen
zur Zeit noch verborgen ist, daß viel Gesang im Himmel und auf
Erden tönt, von dem kein Wort in ihren Compendien steht, sich
diese Erfahrungswahrheit daraus nehmen, und die Erfindung, wenn
sie das kann, ihrer Zirbeldrüse wohlbekommen!
»Doch! ohne Scherz geredt; ich glaube sehr fest, daß dieser
excentrische Versuch zu den wichtigsten Neuerungen gehört, auf die
je ein Kenner verfallen ist; und daß er einem denkenden Künstler,
der sich nicht immer unter Sclaverey des Hergebrachten schmiegt,
eine Wünschelruthe seyn mag, manche tiefliegende Goldader in den
geheimen Schachten der Musik zu erspähen, indem er durch die
That selbst beweißt, was für ganz andre Effecte noch aus dieser
dithyrambischen Verbindung von Instrumental- und Vocalmusik re*
sultiren können, als bey der bisherigen in eigensinnige Formen und
Rhythmen eingezwängten möglich sind. Schulz, der zuerst auch hier
Licht sah, und in verschiednen Gesangstücken die Tactstriche» und
das willkührlich angenommene Joch, das sie mit sich führen, ab-
warf; wäre der Mann sie zu nutzen.
»Ich brauche übrigens wohl nicht zu erinnern, daß man das
Stück nicht etwa als Duett zu betrachten habe, sondern als zwey
ganz von einander verschiedene Capriccios. Man spielt die Phan-
tasie auf dem Claviere; und singt entweder die eine oder die andre
Poesie. Schwerlich werden Sänger oder Spieler fertig genug seyn,
hier vom Blatte spielen zu können. Die Phantasie und der Gesang
wollen einstudirt seyn.c^
Hier folgt nun das ganze Stück, genau so wie es in Cramer's
»Flora« Seite 19 bis 27 gedruckt ist.
1 Flora. Erste Sammlung. Enthaltend: Compositionen für Gesang und Klavier
von Or&ven, Oluck, Bach, Adolph Kunzen, F. L. Ae. Kunzen, Beiehardt, Schwa-
nenberger. Herausf^egeben von C F. Cramer. Kiel, bey dem Herau^ber, und
Hamburg, in Commission bey der Hofmannisehen Buchhandlung, 1787. (äXU und
7ö Seiten obl. FoHo.) S. XII—XIV.
Eine Klayier-Phantasie Ton Karl Philipp Emanuel Bach etc.
Sokrates.
Fhantarid Ton G. F. £. Baoh,
mit doppelt untergelegtem Text von Gerstenberg.
AJUgro moderato.
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Fantasia.
das ist, das ist die große Fra - ge^
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Friedrich Ghrysander,
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liebt, nicht mehr von uns be - weint ! hoch tönts, hoch tönts im
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den grossen Tod
des letzten Seyns !
Friedrich Chrysander
Eine Klavier-Phantasie von Karl Philipp Emanuel Bach etc. |5
Dieses meikwürdige Experiment war für alle Betheiligten nichts
weniger als eine Spielerei; es war eine durchaus ernste Angelegen-
heit, und wie sehr sie darin Recht hatten, ist am besten dadurch
bewiesen, daß wir es noch heute ebenso betrachten. Man kann sogar
behaupten, erst jetzt sei die Zeit gekommen, derartige Versuche vom
Standpunkte der Entwicklung der Musik aus zu verstehen und ihnen
damit eine höhere Berechtigung zuzuschreiben; denn diejenige Wand-
lung in der Tonkunst, die damals, allseitig angebahnt, mit Macht her-
vortrat und bereits nach einigen Jahrzehnten die gesammte Musik be-
. herrschte, ist jetzt zum Abschluß gekommen, nämlich zu jenem greif-
baren Resultat, von welchem aus der ganze zurückgelegte Weg sich
bequem übersehen läßt.
C. Ph- E. Bach starb am 14. December 1788, er hatte also noch
das Vergnügen, Gerstenberg's Versuche nicht nur handschriftlich, son-
dern endlich auch in gedruckter Gestalt kennen zulernen. Ohne Zweifel
machten sie ihm Vergnügen, aber es wird uns nicht erzählt, daß er
bei diesem Austifteln irgendwie sich betheiligt hätte. Solches konnte
auch nicht wohl der Fall sein, [denn ihn mußte das Unternehmen
bei allem Interesse doch immer fremdartig berühren; aus zwei
Gründen.
Zunächst verfuhr er selber ganz anders, wenn er Worte in Musik
setzte. Hielt er doch in vokalen Neuerungen nicht einmal Schritt
mit den Modernsten seiner Tage, einem Schulz, Mozart, Reichardt
und Andern. Nun brachte Gerstenberg, der Dichter, hier Worte
nicht eigentlich m, sondern vielmehr unter Musik, deren Töne er
auf die Texte rhythmisch herab träufeln ließ — ein wunderliches
Experiment für unsern Bach, welcher sich bewußt war, im Wesent-
lichen nach einer Weise zu arbeiten, die Gramer als ,,Sclaverei des
Hergebrachten" betitelt.
Sodann konnte er nicht vergessen haben, wie seine „Fantasia"
vor etwa dreißig Jahrer entstanden war. Sie entstand nicht als etwas
unerhört Neues und Freies im Gegensatze zu einer vermeintlich streng
formellen Kompositionsweise der früheren Zeit, sondern bildete sich
aus dieser auf durchaus natürlichen Wegen, freilich nur imter den
Händen eines genialen Künstlers. Das, was er aus dem Vaterhause
mitbrachte, war die Grundlage seiner Virtuosität, aber seine eigent-
lichen Vorbilder fand er in Berlin. Hier waren besonders die Opern
voll von jenen Sätzen, welche, wenn auch taktgemäß aufgezeichnet,
doch in der Ausführung ganz frei verliefen , modulationsreich imd
ohne festen Halt nach Takt und Tonart. Hauptsächlich waren dies
jene, in den Partituren als accompagnirte Recitative bezeichneten
]g Friedrich Chr}'8ander.
Tummelplätze für die auBeroTdentlichsten Leistungen der großen
Sänger. Diese vokalen Feuerwerke, unter steter Betheiligung des
Orchesters, waren denn auch zumeist die Nährquellen solcher Klavier-
Phantasien; sie boten ihnen die scharfen Accente, die ausdrucks-
volIenTöne, die wuchtigen Harmonien, die bunten Figuren, die üppige
und feine Modulation, alles frei, unerwartet, sprunghaft das Fernst-
liegende verbindend, wie ein Kind des Augenblicks erscheinend und
auch am nächsten Tage bei einer andern Aufführung wieder anders
gestaltet. Das waren Phantasien von einer so zu sagen körperlichen
Wirklichkeit. Von diesen entlehnte er nicht die Form, die vielmehr
in klaviermäßigem Gewände längst vorhanden und auch mit allen
erdenklichen Freiheiten bereits vor Ph. E. Bach, ja bereits vor seinem
Vater J. S. Bach*) durchgebildet war. Aber die nicht aus irgend
einem Instrumenten-Spiel sich ergebenden Accente, das Nachdrück-
liche einzelner Töne, eine hart bis an die Grenze des Wortes ge-
führte Deutlichkeit — alles das war hauptsächlich ein Widerschein
gesanglicher Exclamationen, insofern fremdartigen Elanges auf dem-
jenigen Instrumente, auf welchem es ertönte , und reizte daher zum
Errathen der etwa zu Grunde liegenden Bedeutung. Bei der vokalen
Atmosphäre, in welcher Bach's instrumentales Gebilde entstand, er-
scheint Gerstenberg's gesangliche Ausdeutung demnach in einem
neuen Lichte, da sie gleichsam als eine Hervorhebung des ursprüng-
lichen Impulses angesehen werden kann. Bach selber wird die
Sache freilich etwas anders betrachtet und sich daran erinnert haben,
daß die Sänger in jenen Tagen,, wo er empfängniß-freudig ihren
erstaunlichen Kundgebungen lauschte, die Führer waren und nicht
die Geführten, sobald sie zu Worte kamen. Auch konnte er Gramer
sagen, daß derselbe, um sein Verlangen nach einer taktstrichlosen
Musik zu befriedigen, nicht nöth^ hatte, auf Neuerungen zu warten,
welche ,,die Taktstriche und das willkürlich angenommene Joch,
das sie mit sich führen^S abwerfen würden, sondern daß dergleichen
^ Wenn Oounod su dem Cdur-Präludium im ersten Theü des Wohlt. Klaviers
eine Oesangmdodie mit Aye Maria-Text schrieb, so ist das etwas gans anderes,
als Gerstenberg^s Experiment. Gounod's Produkt ist bekanntlich populär geworden, —
so sehr, daß die Violoncell-Melodie , welche er zu dem zweiten (Cmoll-)Prftludium
setzte, von einem findigen Londoner Verleger (Hopkinson) ebenfalls in ein Aye Maria
verwandelt wurde, freilich ohne den gehofiten klineenden Erfolg zu erzielen. Da-
gegen ist die Popularität des Cdur-Ave-Maria (im Verlage von B. Schott's Söhnen
m Mainz erschienen) eine so außerordentliche und Jahrzennte hinduroh sich gleich
bleibende, daß dieses Musikstück dadurch ebenfalls einen Anspruch auf allge-
meinere Bedeutung erlangt hat und charakteristisch bleiben wird für das Musik-
empfinden unserer Zeit. Dem singenden Publikum bieten die Verleger es in neun
verschiedenen Ausgaben, und dem spielenden für alle möglichen Instrumente in
dreiundzwanzig. Das sagt genug.
Eine Klavier-Phantasie von Karl Philipp Emanuel Bach etc. |7
doit, wohin es gehört, von jeher gel](räuchlich gewesen sei, früher
sogar mehr als damals. Aber bei alledem muß nachdrücklich betont
weiden, daß Ph. E. Bach's Klavierkompositionen durchsetzt sind mit
Zügen, welche das Wort zur Deutung herbei rufen. In dieser Hin--
sicht sind dieselben noch bei weitem nicht hinreichend untersucht
und gewürdigt. Es ist das aber gerade diejenige Seite, mit welcher
dieser große Künstler in die Zukunft hineinragt. Er war Lehrer
und Vorbild der bedeutendsten Komponisten aus der jüngeren Gene-
ration seiner Tage, nicht bloß technisch nach Kunstform und Spiel-
weise, sondern auch inhaltlich, denn das, was wir Poesie des Klavier-
Spiels und der Klavierkomposition nennen, geht großentheils auf
PhiUpp Emanuel Bach zurück.
Der musikalisch feinsinnige Gerstenberg wandte sich daher an
den rechten Meister, an den einzigen in der That^ der ihm damals
eine solche Fülle von Anlegungen gewähren konnte. Im übrigen
ging er mit seinen Freunden eigne Wege, und sie fragten nicht
darnach, ob das auch noch Bach's Wege waren. Die Neuerung,
welche sie boten, konnte nicht vollständiger, die Umkehrung des
bisherigen Verhältnisses nicht gründlicher sein. Die Instrumental-
musik war von jeher, wenn zu ihr gesungen wurde, gesangbegleitend
gewesen; hier behandelte man sie nun als gesangerzeugend. Was
sich daraus ergab, ist lehrreich: wir werden es einzeln aufeählen.
1 . Wenn der Gesang auf solche Weise aus Instrumenten her-
ausgeholt wird, so ist damit noch nicht gesagt, daß er imgesanglich,
d. h. von der menschlichen Stimme schwer vorzutragen sein müßte,
denn solches läßt sich durch eine sorgliche Melodisirung recht gut
vermeiden, während mancher Vokalsatz, der auf dem normalen Wege
der Komposition entstand, in den Singweisen eine instrumentale
Factur erhalten hat. Durch aufmerksame rhythmische Verbindung
von Worten und Tönen kann sogar eine sehr annehmbare musikalische
Deklamation erzielt werden; freilich auch nichts weiter als musi-
kalisch-malerische Deklamation oder Recitation: der eigentliche Gesang
bleibt aus dem Spiele.
2. Das Ungesangliche , ja Gesangswidrige , welches mit diesem
Verfahren unzertrennlich verknüpft ist, liegt in der Umkehrung des
natürlichen Verhältnisses. Alles Gesungene ist hier gebunden an
eine fremde Tonbewegung, nichts ist frei, nicht einmal die De-
klamation. Einem solchen Zwange wird man sich nur unterwerfen,
wenn etwas dafür einzutauschen ist, wodurch die angelegten Fesseln
vergoldet werden. Indem man sich auf den Boden eines solchen
Instrumentalstückes stellte, glaubte man gleichsam ein zauberhaftes
Heich zu betreten, und in gewissem Sinne war dies auch der Fall.
1S91. 2
Ig Friedrich Chrysander,
Oder um deutlicher zu reden : Eine längst vorhandene Schwierigkeit
liess sich auf diese Weise scheinbar am leichtesten heben. Bei der
Entstehung der Oper war es einer der Hauptzwecke, den deklama-
torischen oder recitativischen Gesang zur Geltung zu bringen, und
seine Formung verursachte zugleich eine der größten Schwierig-
keiten. Den treffenden Ton für das einzelne Wort, auch für eine
zusammen hängende Reihe von Sätzen fand man schon, aber unendlich
schwer wurde es, unter Bewahrung des recitativischen Charakters eine
Gesammtform zu gewinnen, welche eine gesättigte musikalische Ein*
heit darstellte. Die meisten Scenen dieser Art in den früheren
Opern, soweit sie sich über das bloße Secco-Kecitativ erhoben, waren
mehr oder weniger formlos. Nimmt man nun einen Instrumental-
satz, der musikalisch ebenso reich wie einheitlich gestaltet ist, und
fügt in diesen die Wort-Accente ein, so ergiebt sich unzweifelhaft
ein Gebilde, welches das enthält, was den meisten seiner Vorgänger
fehlte — eine musikalische oder stimmungsvolle Einheit.
3. Was aufgegeben werden mußte, um letztere zu erlangen,
wurde gering geachtet, weil das daflir Gewonnene gerade das Er-
strebte war. Man wollte Deklamation, aber eine solche, die von
einer selbständigen bedeutungsvollen Musik getragen und gleichsam
verklärt wurde. Ohne daß die Betheiligten sich völlig klar darüber
geworden wären, war ihre Tendenz auf sceuiache Vorgänge gerichtet,
auf Bühnen- oder dramatische Musik; denn für gewöhnlichen Gesang
blieb das Experiment fruchtlos, aber für die musikalische Bühne war
es ein Fingerzeig von großer Bedeutung. Grameres Worte, nach
welchen Gerstenberg's rexcentrischer Versuch eine Wünschelruthe
sein« möge, «manche tiefliegende Goldader in den geheimen Schachten
der Musik, zu erspähn, indem er durch die That selbst beweist, was
für ganz andere Effekte noch aus dieser dithyrambischen Verbindung
von Instrumental- und Vokalmusik resultiren können, als bei der bis-
herigen, in eigensinnige Formen und Rhythmen eingezwängten möglich«
sei — diese enthusiastischen Ausdrücke müssen wir heute ansehen
als eine Ahnung des Zukünftigen, als prophetischen Hinweis auf
das, was später in verschiedenen Formen und zu verschiedenen Zeiten
verwirklicht wurde. Deßhalb sagte ich vorhin (S. 15), daß dieses
Gerstenberg-Cramer'sche Wagniß erst von unserm heutigen Stand-
punkte aus recht gewürdigt werden könne.
4. Es waren die namentlich durch Rousseau und Gluck ange-
regten Gedanken und Wünsche, welche diejenigen Männer bewegten,
die wir hier am Werke sehen. Sie trugen nun diese Gedanken
weiter, sie machten eine Anwendung davon, an welche die ersten
Urheber noch nicht gedacht hatten. Das gesungene Wort sollte
r
Eine KlaTier-Phantasie Ton Karl Philipp Emanuel Bach etc. 1 9
nicht bloß durch eine ausdrucksTolle Begleitung getragen werden,
sondern es sollte in seinen Tönen aus dem, was die Instrumente
sagten, geradezu heryorgehen: dies war das Neue in dem hier be-
sprochenen Verfahren.
5. Nun begnügte sich Gerstenberg nicht mit einer einzigen Ge-
sangmelodiOy sondern er brachte' aus der gewählten Instrumental-
Unterlage zwei verschiedene Melodien , oder yielmehr einen Gesang
zu zwei verschiedenen Worten zu Stande. Die Meinung dabei war,
erkennen zu lassen, welch ein vielseitiger Beichthum in einer rechten
Instrumentalmusik vorhanden sei ; und die enthusiastischen Freunde
erkannten das auch wirklich. Aber lehrte der doppelte Text zu
denselben, nur deklamatorisch verschieden geformten Tönen nicht
noch etwas anderes?
Was gleich gut auf verschiedene Worte paßt, muß seiner Natur
nach mehrdeutig sein. Was mehrdeutig ist, kann nichts Bestimmtes
ausdrücken. Was aber in erster Linie mit Rücksicht auf deutlichen
und entschiedenen Ausdruck gewählt ist, das erfordert vor allem
Bestimmtheit, denn davon hängt alles weitere ab. Der Hauptzweck,
zu dessen Gunsten die frühere Gesangsform aufgegeben und eine
gesanglich formlose Deklamation an ihre Stelle gesetzt wurde, konnte
daher nicht erreicht werden; denn wo mehrere Texte möglich sind
— und möglich sind hier nicht nur die beiden Gerstenberg'schen,
sondern noch zehn andere — , da hebt der eine den andern auf
Der Fehlschluß, den man machte hinsichtlich des zu erzielenden
Ausdrucks, lässt sich hieraus deutlich erkennen.
6. Da war also der Preis, welcher gezahlt werden mußte, ein
zu hoher. Dieser Preis besteht nicht bloß in der rein gesanglichen
Melodie als solcher; er begreift noch etwas mehr in sich, nämlich
die höhere Gesangskunst überhaupt. Mit dieser ist es schlechter-
dings vorbei, wenn das hier dargelegte Verfahren zum Princip er-
hoben wird. Ein Sänger von guter Schule wird Gerstenbergs De-
klamationen natürlich besser vortragen, als ein Stümper ; aber singen
lernen oder durch die Ausführung solcher Musik eine gesangliche
Vollkommenheit erreichen kann man nicht mehr. In dieser Hin-
sicht ist Natur in Unnatur verwandelt. Es ist das Recht des Ge-
sanges, zu herrschen sowie er auftritt. Verbirgt er sich zeitweilig in
dem Helldunkel der Begleitung, so geschieht es mit bei^uBter Ab-
sicht, um einen bestimmten Ausdruck zu erreichen, nicht aber in
Abhängigkeit von einer fremden, instrumentalen Tonbewegung. Das
Lebenselement des Gesangsorganes , in welchem dieses athmet und
gedeiht, ist die zusammen hängende Modulation, nicht zusammen
hängend durch irgend welche akkordliche Harmonie, sondern reii^
2*
20 Friedrich Ohrysander,
melodisch ohne alle Bücksicht auf harmonische Stützen. Die haupt-
sächlichsten Solo-Instrumente besitzen dasselbe Privilegium, aber die
Singstimme geht ihnen hierin weit voran. Es ist ihr eigenstes Reich,
mit dessen Einbuße sie den Halt und allen Anspruch auf Selbst-
ständigkeit verliert, denn das hier Preisgegebene kann sie bei ihrem
begrenzten Tongebiete und der vergleichungsweise nur mäßigen
Kraftentfaltung nirgends wieder einbringen. So lange daher noch
Gesang in höherer Vollkommenheit besteht und etwas gilt, wird man
derartige Experimente als unberechtigt abweisen.
Es bleibt ihnen also nur die eine, bereits oben unter 2 bis 4
geschilderte Position, nach welcher das Instrumentalbild ein bequemes
Mittel abgiebt, der Scene einen gewissen musikalischen Gesammtton
zu verleihen. Und zu einem solchen Zwecke war bewußt oder im-
bewußt der ganze Versuch auch unternommen.
Dies führt uns nun direkt in unsre Gegenwart, denn das, was
bei Gerstenberg so zu sagen nur erst «Gleichniß« war, ist jetzt
»Ereigniß« geworden, um mit Goethe zu reden. Die musikalische
Scene wird in der heutigen Musik, namentlich in der Opernmusik,
gestaltet durch eine InstTumental-Kewegung, in welche die Personen
möglichst deutlich und nachdrücklich hinein singen oder intervall-
mäßig hinein sprechen — beide Ausdrücke sind hier gleichbedeutend.
Wir erhalten dadurch einen ununterbrochenen musikalischen Fort-
gang und hierin die Möglichkeit, ganze große Scenen, ja im weiteren
Verfolg ganze Werke und sogar ganze Cyclen von verschiedenen
Werken insoweit einheitlich zu verknüpfen. Die hiermit gegebenen
Mittel des musikalischen Ausdruckes oder der musikalischen Gestal-
tung sind auch besonders von Rieh. Wagner bereits vollständig be-
nutzt, weil bei ihm die Musik der Instrumente nicht nur die Scene
in ihren mannigfachen dramatischen und decorativen Wechseln
illustrirt, sondern auch die auftretenden Personen mit möglichst be-
zeichnenden musikalischen Motiven durch's Leben leitet. Das alles
ist konsequent entwickelt, sowohl ideell aus dem Grundgedanken
der Sache wie auch historisch aus einer musikalischen Richtung
oder Bewegung, von welcher wir in dem oben mitgetheilten Beispiel
einen der ersten Anfänge erblicken. Deßhalb konnte daraus auch
ein Ganzes entstehen von erprobter Gesammtwirkung , angesichts
dessen es nicht richtig ist, einzelne Theile aus jenem Ganzen heraus
zu heben und für sich zu kritisiren, worin die Opponenten Wagner's
es hauptsächlich versehen haben.
Vielleicht wird von Einigen bezweifelt, daß dem Experimente
Gerstenberg's eine so weitreichende Bedeutung beigelegt werden
könne, wie hier geschehen ist, weil es sich dabei doch nur um ein
Eine XlaTier-PhantaBie von Karl Philipp Emanuel Bach etc. 21
entlehntes Musikstüd^ handle. Aber solche Bedenken sind ohne
Grund. Denn nicht darum handelt es sich hier, ob das Musikstück
von einem Andern erborgt oder ob es ein selbst komponirtes sei,
sondern lediglich darum, daß es eine instrumentale Komposition dar-
steUt, in welche nun auf eine pathetische Art hinein gesungen wird.
Es handelt sich darum, einen gemeinsamen Instrumentalgrund und
damit einen Gesammtton für ein ganzes Werk zu gewinnen, sei es
auch noch so umfassend. Und könnte solches geschehen durch An-
schluß an eine bereits vorhandene Musik, so würde das in der Sache
keinen Unterschied machen. Gewissermaßen läßt sich hier derjenige
Tonsetzer als Beispiel anführen, welcher zur Zeit auf diesem Gebiete
tonangebend ist. Im a Fliegenden Holländer« hat es mir schon vor
beinahe vierzig Jahren und seither immer wieder ein besonderes
Vergnügen gemacht, bei jenen Stellen zu verweilen, die wie Theile
einer Beethoven'schen Symphonie klingen, nicht etwa durch Ent-
lehnung der Motive, sondern in der Stimmung ^ Entwicklung, Fort-
bewegung und im, Ausdruck. Wagner hat auch immer betont, seine
Musik sei aus der Beethoven'schen geschöpft und nach dieser ge-
bildet, was unbedingt richtig ist. Man hat es zwar bestritten durch
den Hinweis auf seine Abhängigkeit von Weber, Hellini, Meyerbeer
und Anderen, aber mit Unrecht, denn diese Abhängigkeit betrifft
außer Kühnen-Effekten nur die Bildung der Cantilene, die von Hause
aus schwach bei ihm war. Aber sein musikalischer Lebensquell,
oder das Arsenal, aus welchem er seine Waffen holte, war und blieb
Beethoven, ohne den sein Musikdrama niemals das geworden wäre,
was es wurde. Es ist daher auch keine Übertreibung, zu sagen, daß,
nachdem Beethoven's Musik die bewegende Macht der Zeit geworden
war, eine Weiterführung und Neubildung auf Grund derselben, wie
wir sie in Wagner erhalten haben, unter günstigen Verhältnissen
über kurz oder lang erfolgen mußte, daß also die Erscheinung
Beethoven's diejenige von Wagner mit geschichtlicher Nothwendig-
keit hervor gerufen hat. Nur um dieses recht stark zu betonen,
sage ich, Beethoven^s Verhaltniß zu Wagner sei dem von Philipp
Emanuel Bach zu Gerstenberg gleich, insofern beide instrumentale
Vorlagen lieferten von einem so vollen und eigenthümlichen musi-
kalischen Glßhalte, daß dadurch eine programmartige Ausdeutung
nahe gelegt und die Möglichkeit geboten wurde, in sie hinein zu
singen, zu dichten, zu declamiren und zu dramatisiren. Gegen die
Möglichkeiten aber, welche sich in dieser Hinsicht bei Beethoven
finden, ist das von Bach Gegebene winzig zu nennen, denn sehr
leicht ließen sich Beethoven'sche Instrumentalstücke in ganze Scenen
und Handlungen umsetzen. Hätte Wagner passenden Ortes solche
22 Friedrich Chrysander,
Symphonieklänge direkt benutzt, so würde das zwar seiner Originalität
Abbruch gethan, im übrigen aber die hier besprochene Sache in
nichts geändert haben. Er konnte freilich so etwas x^e unternehmen,
da sein YerhältniB zu BeethoTen kein handwerksmäßiges war, son-
dern ein künstlerisches, ein ideales, welches sich in selbständigen
Bildungen aussprach, wie es bei den vielfach erweiterten und kom*
plicirten Mitteln, die ihm nöthig waren, der Fall sein mußte. Aber
um die Sache in ihrem genetischen und technischen YerhältniB recht
deutlich zu machen, wäre zu wünschen, daß sich auch für Beethoven
ein Gerstenberg fände , der Symphoniesätze von ihm in Handlung
umdichtete, dabei die charakteristischen Themen in personelle Leit*
motive verwandelte, Leid und Freude, Jubel und Wehklage von Ein-
zelnen wie von Mengen erschallen ließe mit Aktionen von größter
Mannigfaltigkeit und im Finale zugleich von einer so herzbrechen-
den Gewalt, daß vielleicht nur noch das jüngste Gericht als letzt-
mögliche Steigerung übrig bliebe.
Man fragt vielleicht, warum hier statt Wagner nicht ein anderer
Komponist zum Vergleich herbei gezogen sei, etwa Schubert, dessen
Gesang offenbar in Beethoven's Musik das Heimathsrecht besitzt und
der auch zu dem Bach -Gerstenberg' sehen Gesangstück formverwandte
Beispiele liefern könnte. Aber daraufkam es hier nicht an, sondern
die Absicht war nur, in möglichst gerader und langer Linie die Ent-
wicklung zu zeigen, und da haben wir keinen bessern, als Wagner.
Er hat die Konsequenzen^ welche nun einmal zur Entwicklung stan-
den, am kühnsten oder wenn man will, am rücksichtslosesten ge-
zogen; an eine bisher nicht in dem Maße stattgefundene »dithy-
rambische Verbindung von Instrumental- und Vokalmusik«, um
Grameres treffenden Ausdruck zu gebrauchen, hat er fest geglaubt
und die »Wünschelruthe« zur Hand genommen, um »manche tief-
liegende Goldader in den geheimen Schachten der Musik zu er-
spähen« und »durch die That« zu beweisen, daß »noch ganz andre
Effekte« dadurch gewonnen werden. Auch erblickt er mit Gramer
die »bisherigen« Musik weisen »in eigensinnige Formen und Rhythmen
eingezwängt.« Und an seinem in Begeisterung gebornen Werke hat
sich dann auch wieder der Enthusiasmus der Zeitgenossen entzündet.
Alles das ist ein begreiflicher und in dieser Art nothwcTndiger Vor-
gang. Wagner ist daher für uns hier der rechte Mann.
Halten wir nun den formlos -dithyrambischen oder pathetisch-
deklamatorischen Gesang noch im allgemeinen gegen die ältere
formell geschlossene Weise, — nicht in erschöpfender Betrachtung,
sondern nur leichthin vergleichend — , so leitet der erstere seine
Berechtigung hauptsächlich daraus her, daß er in nachdrücklicherer
Eine Klavier-Phantasie von Karl Philipp Emanuel Bach etc. 23
Betonung dem Dichterworte folgen und dadurch einen bestimmteren,
mehr persönlich charakteristischen. Ausdruck erreichen könne. Der
Beifall, den diese Weise seit geraumer Zeit findet, scheint so etwas
auch zu bestätigen. Dennoch liegt eine gewisse Täuschung zu
Grunde.
Diejenige Weise und Stufe des Gesanges, welche wesentlich als
dramatische Declamation oder malerische Betonung anzusehen ist,
besitzt verhältnißmäBig die geringste Mannigfaltigkeit. Ihre mu-
sikalischen Mittel müssen bei dem Ausdruck verschiedener Worte
wesentlich die gleichen bleiben, und was sich gleicht, das ist
insofern mehrdeutig (s. S. 19). Wie demonstrativ das Dichterwort
auch betont werde, wie vernehmlich es dadurch den Hörern in
die Ohren dringe, musikalisch ist ihnen nichts Besonderes damit
gesagt, denn mit demselben Recht und derselben Deutlichkeit wird
bei andern Worten derselbe Tonapparat in Bewegung gesetzt. Nur
in den Instrumenten spinnt sich ein musikalisches Gewebe fort.
Wo aber die Handlung oder die Bühnen-Situation eine solche ist,
daB kein fesselndes Gewebe entstehen kann und dennoch eine
breitere Wort-Darlegung stattfindet, da haben wir jene musikalischen
Oeden, die den Werken dieser Art ein früheres Ende bereiten wer-
den, als sonst der Fall sein würde. Wie leicht wäre über solche
öde Strecken hinweg zu kommen, wenn man sie nicht deklamatorisch
durchschreiten, sondern mit Hülfe eines »in eigensinnige Formen
und Rhythmen eingezwängten« Gesanges überfliegen wollte! In der
Kunst oder auf dem Gebiete des Idealen hängt das Bestimmtere des
Ausdrucks immer an dem Grade der künstlerischen Gestaltung und
steigt oder fällt mit diesem. Je selbständiger, je vollendeter und in-
sofern allgemein gültiger ein Gesang sich gestaltet, desto geeigneter
wird er für einen ganz bestimmten Ausdruck, der damit zugleich
ein Idealausdruck geworden ist. Auf diese Weise einen sich zwei
anscheinend divergirende , in der praktischen Musik auch oft genug
auseinander strebende Theile: ideale Allgemeingültigkeit und Be-
stimmtheit des Ausdrucks. —
Weiter wollen wir diese Betrachtungen hier nicht fortsetzen,
da sie wegen der Rücksichtnahme auf einen einzelnen Fall auch
bei der größten Ausführlichkeit doch immer mehr oder weniger ein-
seitig bleiben müssen. Aber zum Schlüsse soll noch das angefügt
werden, was Gerstenberg und Bach in Bezug auf den oben behan-
delten Gegenstand äußern.
Gbrstenberg veröffentlichte im Jahre 1770 im zweiten Bande
der »Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratura einen* größeren
24 Friedrich Chrysander,
Au&atz »Ueber Recitativ und Arie in der italienischen Sing-Kom-
poeitiontt. Die Tendenz desselben, ist aus den vier Fragen ersichtlich,
welche er an die Spitze seiner Abhandlung stellt. Sie lauten:
»1. Ob nicht die Natur des Gesanges darin bestehe, daß er die
Worte, deren er sich als Zeichen bedient, in Tongemälde der Empfin-
dung verwandelt;
2. Ob nicht hieraus folge, daß Deklamation in keinerlei Be-
deutung Gesang heißen könne, so lange sie ihre Worte nur als
Zeichen, und nicht als solche Gemälde vorträgt:
3. Ob nicht also auch das Kecitativ, welches seine Grundsätze
aus der Deklamation herleitet, von einer ganz andern Natur, als der
Gesang sei. Und wenn alles das folgt:
4. Ob in Werken, die eigentlich darauf angelegt sind, daß sie
eine Welt nachahmen, wo Alles durch Gesang ausgedrückt wird, so
heterogene Theile, als Recitativ und Arie, nicht eine schlechte Kom-
position geben ?u ^
Mit der Deklamation, die »ihre Worte nur als Zeichen vorträgt«,
meint er die zu seiner Zeit aufgekommene melodramatische Behand-
lung; diese verwirft er. Bach war ebenfalls gegen das Melodram.
Wenn man bedenkt, daß Gerstenberg dies um 1770 schrieb, wo
Gluck in Norddeutschland noch unbekannt war, und daß er mit
seiner Forderung von d Tongemälden der Empfindungen, unter Be-
seitigung von »Recitativ und Arie«, über das Melodram hinweg weit
in die Zukunft blickte, so muß man ihn als einen der frühesten
und zugleich selbständigsten Zeugen für eine beginnende neue Rich-
tung ansehen. Und daß dieser sich bildende neue Glaube mehr ein
theoretisch -poetischer, als ein musikalischer war, kann Gerstenberg
ebenfalls bezeugen.
C. Ph. E. Bach veröffentlichte seine »Fantasia«, wie schon er-
wähnt, als Übungsstück zum ersten Theil seiner Klavierschule. War
er, wie Gramer bedauernd äußert, »mit Commentarien zu sparsam«,
so werden wir das um so mehr mit Interesse lesen, was er als Kom-
ponist selber über sein Produkt zu sagen hat. Er schreibt: »Wir
haben oben angeführt, daß ein Cla^ieriste besonders durch Fantasien,
welche nicht in auswendig gelernten Passagen oder gestohlenen Ge-
dancken bestehen, sondern auis einer guten musikalischen Seele her«
kommen müssen, das Sprechende, das hurtig überraschende von
einem Affecte zum andern, alleine vorzüglich vor den übrigen Ton-
Künstlern ausüben kan: Ich habe hiervon in dem letzten Probe-
* (terstenhergs Vermischte Schriften in drei Bänden. vAltona 1815 — 181G ;
III, 353—354.
Eine Klavier-Phantasie von Karl Philipp Emanuel Bach etc. 25
Stück eine kleine Anleitung entworfen. Hierbey ist nach der ge-
wöhnlichen Art der schlechte Tact vorgezeichnet, ohne sich daran
zu binden, was die Eintheilung des Gantzen betrift; aus dieser Ur-
sache sind allezeit bey dieser Art von Stücken die Abtheilungen des
Tactes weggeblieben. Die Dauer der Noten wird durch das vor-
gesetzte Moderato überhaupt und durch die Yerhältniß der Noten
unter sich besonders bestimmt. Die Triolen sind hier ebenfalls durch
ff ^^^
die blosse Figur von drey Noten zu erkennen. Das Fantasiren ohne
Tact scheint überhaupt zu Ausdrückung der Affecten besonders ge-
schickt zu seyn, weil jede Tact-Art eine Art von Zwang mit sich
führet. Man siebet wenigstens aus den Kecitativen mit einer Be-
gleitung, daß das Tempo und die Tact- Arten oft verändert werden
müssen, um viele Affecten kurtz hinter einander zu erregen und zu
stillen. Der Tact ist alsdenn oft bloß der Schreib- Art wegen vor-
gezeichnet, ohne daß man hieran gebunden ist. Da wir nun ohne
diese Umstände mit aller Freyheit, ohne Tact, durch Fantasien dieses
auf unserm Instrumente bewerckstelligen können, so hat es dieser-
wegen einen besondem Vorzug. « (Versuch, erster Theil, S. 109 — 110
der 2. Auflage von 1759.)
Das ist anscheinend rein technisch und didaktisch gehalten,
überschreitet nirgends eine fachmusikalische Grenze, zeigt also, daß
der Autor in seiner engeren Heimath auskömmlichen Raum fand,
und gewährt dennoch einer freien Auslegung den weitesten Spiel-
raum. So verfährt ein Künstler, bei welchem Geist und Maßhalten
im Gleichgewicht stehen. Die »gute musikalische Seeletr war seine
bewegende Kraft, und wo diese waltet, da gedeiht Kunstwürdiges
in allen Formen und Weisen.
Philipp Emanuel Bach mußte begreiflicher Weise etwas zurück
treten, nachdem sein großer Vater in neuerer Zeit so glänzend her-
vor kam. Aber er ist dabei allzu sehr in den Hintergrund gedrängt,
und es wäre ein schöner Erfolg dieses kleinen Aufsatzes, wenn der-
selbe dazu beitragen könnte, die Aufmerksamkeit auch wieder mehr
auf Sebastian's geistreichen Sohn hin zu lenken.
Gluck nnd Calsabigi.
Von
Heinrich Welti.
Gluck oder Calsabigi? Wer von den beiden war es, der die
ersten Anregungen zu r>Orfeo ed Euridicea gab und die charakte-
ristischen Grundzüge der neuen Opern Schöpfung feststellte?
Mit dieser ebenso schwierigen als wichtigen Frage sollten natur-
gemäß alle Biographen Gluck's beginnen, wenn sie sich anschicken,
das große Kapitel von den Anfängen der sogenannten Opemrefor-
mation zu schreiben. Daß der verdiente Anton Schmid, der einzige
unter den vielen Gluckbiographen, der sich um eine quellenmäßige
Erforschung dieses Künstlerlebens bemühte, das nicht gethan hat,
liegt sowohl an der ihm eigenen, heute veralteten Auffassung der
Pflichten eines Geschichtsforschers, als im Besondem an den außer-
ordentlichen Hindernissen, die sich der Lösung gerade dieser Streit-
frage entgegenstellen.
Der schriftliche Nachlaß Gluck's ging bekanntlich zum größten
Theil bei einem Brande seines Hauses in Flammen auf; ob und wo
sich die Papiere seines Textdichters erhalten haben, ist unbekannt
und, bei dem unstäten Leben Calsabigi's, schwer zu ermitteln. Man
kann also kaum hoffen, daß es gelingen werde, für die Darstellung
des Verhältnisses zwischen Dichter und Tonsetzer eine völlig sichere
Grundlage zu gewinnen. Dagegen läßt sich aus gedruckten, bis-
her theils übersehenen, theils nicht genügend ausgebeuteten Quellen
eine Reihe von Schlüssen ziehen, die wohl geeignet sind, einen
etwas deutlicheren Begriff von den fraglichen Dingen zu geben.
Als ein wenn auch nothdürftiger Ersatz für die zur Zeit fehlenden
authentischen Urkunden dürfen sie sowohl auf Beachtung als auf
Kachsicht hoffen.
Es liegen zwei wichtige Aussagen über das Verhältniß der beiden
Männer zueinander und zur Opemreform vor; die eine von Gluck,
Oluck und Calsabigi. 27
die andere von Calsabigi, aber beide aus einer späteren Zeit als der
ihres gemeinschaftlichen Schaffens. Trotzdem kann der Bericht
Gluck's als durchaus sachgemäßes und entscheidendes ZeugniB gelten,
denn er ist zweifelsohne aus freien Stücken und ohne alle Neben-
absichten erstattet. Er findet sich in einem Briefe des Tondichters
an den Herausgeber des r^Mercure de France« und lautet^. nJe me
ferois encore un reproche pltis sensible si je consentois ä me laisser
attribuer linvention du nouveau genre cTopira itdlien dont le succh a
justiße la ientative : c*est ä M. de Cahabigi qtien appartient le prin-
cipal merite; et si ma mmiqtse a eu quelqu' eclat je crois devoir re-
eannoitre que c^est ä lui que J^en suis redevable, puisque c^est lui qui
nia mis ä portee de developper les ressources de man art. Cet auteur
plein de genie et de talenty a suivi une route peu connue des Italiens dans
ses poemes dOrphee, d'Alceste, et de Paris. Ces ouvrages sont rem-
pUs de ces situations heureuses , de ces traits terribles et pathitiques
qui fournissent au compositeur le moyen d^exprimer de grandes passions,
de creer une musique inergique et touchante, Quelque talent qyiait le
compositeur^ il ne fera jamais que de la musique midiocre^ si le poete
n^ezcite pas en lui cet enthousiasme sans lequel les productions de tous
les arts sont faibles et languissantes « Mit diesen, stellenweise
an die Sprache seiner berühmten Vorreden anklingenden Worten,
welche 1773 im Februarstücke des französischen Mercurs zu allge-
meiner Kenntniß gebracht wurden, gesteht Gluck seinem Textdichter
unumwunden das Hauptverdienst an der Reformation der Oper zu*
Er bestätigt damit nur, was er in Bezug auf Alceste schon im Jahre
1769, in der Vorrede zur Partitur dieser Oper gesagt hatte, als er
ausdrücklich erklärte 2: nPer buona sorte si prestava a maratiglia al
mio disegno il libretto, in cui il celebre autore imaginando un nuovo
piano per il drammatico «, eine Aussage, die nur durch ein
unbegreifliches Versehen dahin gedeutet werden konnte, daß »der
berühmte Verfasser der Alceste, Herr von Calzabigi, meinen Plan
eines lyrischen Dramas durchführte«, wie Antoü Schmid und
seine zahlreichen Nachschreiber Gluck behaupten lassen 3. Gluck
hat dies nicht geschrieben, sondern auch hier anerkannt, daß der
Librettist es gewesen, der einen neuen Grundplan für das Drama
ersonnen habe.
Schwerer fällt es, den Werth zu bestimmen, der dem Bericht
1 Memoires pour servir ä fhxBtoire de la r Solution opMe dans la tnusiqtte
par M. le Chevalier Gluck, A Naples, et se trouve ä Paris 1781 p, 8/.
2 Alceste, tragedia, messa in musica dal Signor Cavagliere Cristoforo Gluck,
In Vienna, nelia stamperia aulica di Giovanni Tmnmaso de Trattnern, 1769. p. 8.
* VgL meinen Aufsatz : Zwei Vorreden. Grenzboten 1888 p. 269 ff.
28 Heinrich Welti.
Calsabigi's beigemessen werden darf. Derselbe stammt aus dem
Jahre 1784, wurde mithin 22 Jahre nach den Ereignissen abgefaßt
und zwar offenbar in einem Augenblick der Erbitterung und des
Unmuthes über Gluck. Schon Gustave Desnoiresterres, der in seinem
yerdiensty ollen Buche y>Glt6ek et Piccinnin (Paris 1872) die wichtige
Urkunde zuerst wieder zur Kenntniß brachte, hat daher seine Folge-*
rungen nur mit großer Vorsicht gezogen U. Zunächst ist der Anlaß
festzuhalten, der Calsabigi die Feder zu seiner Erklärung, die man
auch eine »Enthüllung« nennen könnte, in die Hand zwang.
Nach dem großen Erfolge des »Orphee« und der ))Alceste(f auf
der französischen Bühne, wandte sich 1778 Gluck, so erzählt Calsa-
bigi in seinem Briefe an den y^Mercure de France (tj *^vieder an seinen
italienischen Textdichter, mit der Bitte um ein neues Buch. Calsa-
bigi sandte ihm eine »Semiramis((, die anfänglich dem Tondichter
wohlgefiel, dann aber mit Kücksicht auf Schwierigkeiten der Be-
setzung bei Seite gelegt wurde. Darauf machte sich der rührige
Italiener auf Gluck's Betreiben an die dramatische Bearbeitung des
Danaidenstoffes und sandte auch dieses Drama, an dem er, wie aus
einem jüngst veröffentlichten Briefe an den Bologneser Montefani
hervorgeht, Ende Juli 1778 noch arbeitete, im November nach
Paris, wo der Ritter eben zu den Vorbereitungen für die Aufführung
seiner tauridischen Iphigenie erwartet wurde. Von da ab hörte
Calsabigi nichts mehr über das Schicksal seines Werkes bis ihm im
Frühling 1784 das Textbuch zu Salieri's »les Danaidesa in die Hände
kam, in dessen »Avertissement« au lesen stand: r^On nous a corn-
munique vn manuscrit de M, Calzahigi^ auteur de VOrphee et de
tAlceste italiens^ dont nous nous sommes beaucoup aides«. Gluck hatte
also ohne Wissen und Willen des Dichters die Tragödie nicht nur
umarbeiten lassen, sondern sie auch einem anderen, noch wenig er-
fahrenen Tonsetzer zur Komposition abgetreten. Keine Frage, daß
Calsabigi die besten Gründe hatte, über Ghick sehr ungehalten zu
sein. Das Schreiben, das er unterm Datum des 25. Juni 1784 von
Neapel aus an den Herausgeber des »Mercure de France a erließ, ist
denn auch begreiflicher Weise in etwas erregtem Tone gehalten und
verräth namentlich in seinem zweiten Theile nicht nur den erbitterten
Verfasser, sondern auch einen in seiner Eitelkeit gekränkten Mann.
Der Umstand, daß der y)Mercurea in einem vorhergehenden Berichte
über die Danaiden Gluck als den » createur de la musique dramatigue a
bezeichnet hatte, giebt Calsabigi den willkommenen Anlaß, über
seinen Antheil an dem Reforraationswerke Zeugniß abzulegen. Er
> A. a. O. p. 351 ff.
Oluck und Calsabigi. 29
geht dabei von den Anschauungen aus« die ihn vor 26 Jahren, also
um 1759 beschäftigten, und beseichnet dieselben durch folgende
Lehrsätze: »J'ai pense^ . . . que la seule musique convenable ä la
poesie dramatique et surtout pour le dialogue et pour les airs que
nous appeions nd'azione«, etoit celle qui approeheroit davantage de la
declamation naturelle^ animier energique\ qtie la declamation n' etoit
elle-mSme qu'une mtisique imparfaite: qiian pourrait la noter teile
quelle estf fi nous amons trotive des signes en assez grand nombre pour
marquer tant de tons, tant dinflexions^ tant d'SclatSf d'adoucissemens,
de nuances variees, potir aifisi dire^ ä Vif^ni^ qtion donne ä la voix
en deolamant. La musique^ sur des vers quelconqueSj n^etant dotic,
d' apres mes idees, qu^une declamation pbts savante, plus etudiSe, et
enrichie encore par Vharmonie des accompagnemens , j^imaginai que
c etoit lä taut le secret pour composer de la musique excellente pour
un dramey que plus la poesie etoit serree, energique^ passionnee, tou--
ckantey harmonieuse, et plus la musique qui chercheroit ä la bien ex-
primer f ä apres sa veritable declamation^ seroit la musique vraie de
cette poesie, la musique par excellence «. Mit dieser Anschauung vom
Werthe eines Operntextes und von der Bedeutung der Dichtung
als MutterschoB der Musik, aus dem das Zauberwort des genialen
Tonsetzers die im Keime bereits vorhandene Melodie zum Leben
rufe, kam Calsabigi, wie er erzählt, 1761 nach Wien. Der Intendant
Graf Durazzo, dem er seine Orpheusdichtung vorgelesen, bat ihn, die-
selbe dem Theater zu übergeben. T>J'y consentis« berichtet Calsibigi
weiter, » ä la condition que la musique en seroit faite ä ma fantaisie,
II menvoya M. Gluck^ qui, me dit-ü (Durazzo) se prSteroit ä touf.u
Hier schaltet der Briefschreiber die Bemerkung ein, daß Gluck da-
mals keineswegs zu den ersten Meistern seiner Kunst gezählt worden
sei lind daß Haße, Buianello, Jomelli und Perez mehr galten.
»iYm/ ne conoissoit la musique de declamatioft, comme Je Vappelle\ et
pour M. Gluck, ne pronongaut pas bien notre langue, il auroit ete
tmpossible de declamer quelques vers de suite. Je luißs la lecture de
mon Orphee, et lui en declamai plusieurs morceaux ä plusieurs reprises,
lui indiquant les nuances que je mettois dans ma declamation^ les sus-
pe/isi&fiSj la lenteur, la rapidite, les sons de la voix tant 6t charges
tant6t affoiblis et negliges dont je desirois qti il ßt usage pour sa com-
Position, Je le priai en mSme temps de bannir i passaggi, le cadenze,
i ritomelli et tout ce qu'on a mis de gofhique, de barbare ^ d! extrava-
gant dans notre musique. M. Gluck entra dans mes vuesc^. Da es
aber dem Tonsetzer schwer fallen mußte, den Eindruck der Dekla-
mation, die Schattirungen im Vortrage des Dichters festzuhalten,
sann Calsabigi auf ein Mittel, seinen Willen und seine Auffassung
30 Heinrich Welti,
sicher zum Ausdruck bringen zu lassen. »«Tis cherchaistf fährt er
forty lides eignes pour du moina marquer les traita les plus saillans,
Ten inventai quelquea^uns ; je les plagai dans les interligneSy taut le long
dOrphee. C^est sur un pareil manuscrüj accompagne de notes ecrites
aux etidroiis oü les signes ne donnoient qu^une intelligence ificompldte,
que M, Gluck composa sa tnusique. J'en ßs d^autant depuis pour
Alceste, Cela est ii vrai que le succes de celle d!Orphee ayant ete
indecis aux premidres representations^ Jf. Gluck en rejetoit la faute
sur moiv. Ebenso habe er, erzählte Calsabigi, zu »Semiramis« und
zu den »Danaiden« eingehende Vorschriften und Erläuterungen für
Gluck geschrieben, die er wohl eines Tages veröffentlichen könnte,
und beschließt dann diesen wichtigsten Theil seines Berichtes mit
der Folgerung: »J^ esper e que vous conviendrez. monsieur, d^aprds cet
expose, que st M, Gluck a ete le cr^ateur de la tnusique drafnatiquCj
il ne Va pas creee de rien. Je lui ai foumi la mattere ou le chaos si
vous voulez; Vhonneur de cette creation notis est donc commune.
Es hält ziemlich schwer, in diesen Darlegungen Dichtung und
Wahrheit von einander zu scheiden, doch dürfte selbst bei der
strengsten Kritik ein Übergewicht der letzteren über die erstere fest-
zustellen sein. Zweifelhaft erscheint die von Calsabigi so stark be-
tonte Unkenntniß des italienischen Sprachgebrauches, und damit die
unbedingte Noth wendigkeit der vom Dichter erfundenen Hülfs-
mittel zur Erzielung einer natürlichen Deklamation, denn Gluck
hatte im Jahre 1761 bereits 20 italienische Opern komponirt und
dabei schon öfter Proben sinngemäßer und feiner Wortbetonung ge-
geben. Dagegen ist es durchaus glaubhaft, daß der Textdichter,
der, wie wir sahen, von der Grundbedeutung und Rolle der Dichtung
in der Oper eine sehr hohe Meinung hatte, alle Sorgfalt verwendete,
damit seine Verse auch trotz der Musik ordentlich zur Geltung
kamen, und daß er deshalb sein Manuskript mit Zeichen versah,
welche die Auffassung und richtige Wiedergabe seiner Worte er-
leichtern sollten. Ein Theil dieser Bemerkungen ist uns allem An-
scheine nach in den Bandnoten erhalten^ welche den Abdruck des
»Orfeotf in der Neapeler Ausgabe von Calsabigi's Werken begleiten*;
es sind Weisungen wie für einen Schauspieler, bald den Ton zu er-
höhen, bald ihn zu mäßigen, hier zu beschleunigter, dort zu lang-
samer Rede. Vergleicht man diese Glossen mit dem musikalischen
Texte Gluck's, so wird man alsbald gewahr, daß der Tonsetzer den
Andeutungen des Dichters, wenn auch nicht immer, so doch öfter
entsprochen hat. So hat z. B. Calsabigi zum dritten Chorsatze seiner
* Poesie e Prose diverse di Ranieri de Calsabigi \ Napoli 1793. /. p. 1 — 29.
Gluck und Calsabigi. 3 l
Furien (Orfeo II. 1) die Bemerkung »Raddolcito e con espressione di
qtuüche compatimentody zum vierten: ncon maggior dolcezzavj zum
fünften (le porie siridano): nsempre piü raddolcitov^ was Gluck durch
Steigerung der Ausdrücke in den dynamischen Vorschriften : » Un
poco lento «, dann » sotto voce, un poco lento «, schließlich : » lento « be-
folgt. Ebenso läßt sich bei Einzelheiten in der Gestaltung der
Recitative eine Übereinstimmung mit den Anweisungen des Dichters
feststellen; so in der ersten Scene des dritten Aktes, wo dem Finger-
zeig »con sorpresa^ durch die harmonische Fortschreitung der Be-
gleitung, dem Wunsche Tncon fretta^ durch einen bewegteren Rhyth-
mus Genüge gethan wird.
Doch das sind lauter Kleinigkeiten, und wenn sich in Orfeo.
Alceste und Paride noch viel mehr Stellen nachweisen ließen, in denen
Gluck möglicherweise durch Calsabigi's Vorschrift zu seiner Art der
Betonung und Rhythmisirung gekommen ist, als sich in der That
nachweisen lassen, so wäre das noch kein zureichender Grund zu
dem anmaßlichen Hintergedanken, der aus den Enthüllungen des
gekränkten Dichters hervorlugt. Tausend und aber tausend feine
Bemerkungen schaffen noch kein lebensfähiges Kunstwerk und Orfeo
wäre trotz aller unmittelbaren und mittelbaren Verdienste des Dich-
ters das unsterbliche Meisterwerk nicht geworden, wenn nicht Gluck*s
Schöpferodem dem Gebilde des Poeten Wärme und Leben einge-
flößt hätte.
Auffällig erscheint es auch und spricht nicht eben für die über-
mäßige Bedeutung der deklamatorischen Zeichen Calsabigi^s, daß in
einem anderen, zweifelsohne von ihm inspirirten. vielleicht sogar von
ihm selbst geschriebenen anonymen Bericht über die Entstehung des
Orpheus, in keiner Weise diese wichtige und geheimniß volle Zei-
chensprache erwähnt wird. Dieser Bericht ist in der Abfertigung
enthalten, die ein Anhänger und genauer Kenner Calsabigi's, seines
Lebens und seiner Werke, dem Stefano Arteaga für die in dessen »/e
rivoltmoni del teatro musicale italianoa (1785) ausgesprochene schroffe
und ungeschickte Beurtheiluug zu Theil werden ließ. Dieselbe er-
schien 1790 zu Venedig unter dem satirischen Titel: »Riposta \ che
ritrovd casualmente \ nella gran cittä di Napoli \ il Licenziato \ Don
Santigliano \ di Gilblas, y Guzman, y Tormes, y Alfarace \ Dis-
cendente per linea patemay e materna da tutti \ qiiegli insigni Perso-
naggi delle Spagne; \ Alla critica ragionatissima \ delle Poesie
Drammatiche del C. d^ Calsabigi) fatta \ del Baccelliere D, Stefano
Arteaga suo illustre compatriotto « . Im 5. und besonders im 8. Kapitel
dieser Schrift, das den Anfang der eigentlichen Erwiderung, bildet,
wie sie ai^eblich von einem neapolitanischen Freunde Calsabigi's ver-
32 Heinrich Welü,
faßt und von dem mythischen Don Santigliano ans Licht gezogen wurde,
wird die Sachlage so dargestellt: Das Wiener Publikum begann sich
bei den einförmigen Dramen des Metastasio zu langweilen, der In-
tendant, welcher in dem Schöngeist Calsabigi einen Dramatiker wit-
terte, bat denselben um allfällige Dramenmanuskripte. Calsabigi gab
dem höheren Wunsche nach, schrieb »Orfeo« und wählte Gluck
zum Tonsetzer seines Dramas (p. 42). Gluck hatte zuvor schon
seit 30 Jahren zu Metastasianischen Dramen Musik geschrieben, doch
war dieselbe nach dem Urtheile des Ungenannten nur mittelmäßig
gewesen, mit Ausnahme einiger weniger Arien, in welchen er Dank
seinem Genie dahin gelangt war, eine erhabene Melodie oder Har-
monie zu ersinnen. i)Fu dunque,<t folgert der Anonymus weiter, y>ü
Calsabigi che ßtialmente inspird a Gluck mia musica maraviffliosa anche
sopra una pessima (nach Arteaga's Urtheill) poesia, quando ßyiallora
non ne aveva scriita, che della tolgare sopra i Drammi divini (nach
Arteaga!) e la Celeste Poesia del 3/.« •
Auch hier begegnet uns wieder die bestimmte Aussage, daß
Calsabigi es gewesen, der Gluck zum Tonsetzer seiner Oper gewählt
habe, eine Behauptung die trotzdem recht anfechtbar erscheint, da
sie durchaus dem damaligen Brauche widerspricht und offenbar dazu
dienen soll, den Textdichter als den ersten und eigentlichsten gei-
stigen Urheber der Opemreform zu erweisen. Auch mit der Be-
gründung, die der Ungenannte für obigen Satz liefert, hapert es ein
wenig, obwohl ihr die Bemerkung, »es weiß Jedermann genau<!r vor-
ausgeschickt wird. Nach dem heutigen Stand der Gluckforschung
wenigstens wird die Nachricht, daß sich Metastasio und Gluck ge-
genseitig verachteten, nur mit Vorsicht aufzunehmen sein, obwohl
man dem Schreiber durchaus Glauben beimessen darf, wenn er er-
zählt, die Anschauung der beiden Männer wäre damals eine schnur-
gerade entgegengesetzte gewesen. Gluck habe die ausgeklügelten
Empfindungen, die politischen, philosophischen und moralischen Sen-
tenzen, die Gleichnisse, die Wortspiele und die kleinen, manierlichen
Leidenschaften des Metastasio gehaßt und für einfache, natürliche
Empfindung, für große, glühende Leidenschaften im Höhepunkt ihrer
KraSft und ihrer theatralischen Wirksamkeit geschwärmt. So mag es
wohl gewesen sein, wie ja auch der Wortlaut der Vorrede zu Alceste
ähnlich klingt.
Uns ist an der Darstellung, wie sie in Obigem der Ungenannte
giebt, vor allem das Eine wichtig: sie weist nachdrücklich und aus-
führlich darauf hin, daß auch Gluck innerlich mit dem Wesen der
alten opera seria Metastasianischen Zuschnittes fertig war und ein
neues Vorbild für das gesungene Drama im Geiste trug, als Calsabigi
'f
Gluck und Calsabigi. 33
mit seinem Oifeotexte an ihn herantrat. Damit ist jedenfalls die
Gleichberechtigung der Ansprüche, die Textdichter und Tondichter
anf die Reform der Oper erheben, anerkannt.
Wie Gluck zu seiner reformatorischen That gedrängt wurde und
unter welchen Einflüssen der Gedanke, das Bild des neuen Kunst-
werkes in ihm klar wurden, das gehört in ein anderes Kapitel.
Grenug, daß hier betont werde, daß Grund und Ursache der Gluck'-
sehen Neuerung vor allem aus dem Entwickelungsgang der Oper und
aus der Eigenart der Begabung wie dem geistigen Wesen des Refor-
mators zu begreifen sei.
Dagegen ist hier der Ort, nach den geistigen Strömungen zu
forschen, die Calsabigi um das Jahr 1761 zu demselben Standpunkt
führten, auf dem Gluck &ich befand, und der Entwickelimg nachzu-
gehen, die den italienischen Finanzmann und Schöngeist aus einem
der größten Verehrer zum schlimmsten Gegner Metastasio's machten.
Werfen wir zu diesem Zwecke einen Blick auf Leben und Werke
des Orfeodichters ! Leider kann es bloß ein flüchtiger Blick sein,
denn nur spärliche Kunde über Schicksale und Wirken dieses Dichters,
der zu den vielen abenteuerlichen Gestalten in der Litteraturge-
schichte des 18. Jahrhunderts gehört, ist auf uns gekommen ^ Ra-
nieri de' Calsabigi (so und nicht Calzabigi schrieb er sich stets) er-
blickte im Jahre 1715 zu Livorno das Licht der Welt. Ueber seine
Jugend, Studien u. s. w. wissen wir nichts, bekannt ist nur, daß er
Geschäftsmann wurde, dabei aber doch, wie aus seiner Zugehörig-
keit zur Akademie von Cortona erhellt, den schöngeistigen und litte-
rarischen Dingen eine rege Theilnahme widmete. Die erste an die
Oeffentlichkeit gelangte Frucht dieser Bemühungen war eine um-
fängliche Abhandlung über die Dichtungen des Metastasio, die er
einer von ihm im Jahre 1755 besorgten Ausgabe des kaiserlichen
Hofpoeten vorausschickte. Von Paris aus, wo er diese echte und
gerechte Akademikerarbeit veröffentlicht hatte, kam er 1761 als An-
gestellter der niederländischen Rechnungskammer nach Wien. Hier
schuf er im Verein mit Gluck »Orfeo ed Euridice« (1762), »Alceste«
(1767) und »Paride ed Elena« (1770). Seine Verdienste fanden die
1 Die landläufigen Lexika und musikalischen Handbücher übergehen ihn
alle; auch unter den biographischeh Nachschlagswerken der Italiener findet sich
nur eines, das seiner gedenkt: die ^Biografia degli Italiani illustri nelle scienze,
Uttere ed arti del secolo 18, e de' cantemporanei, cofnpilata da Letter ati italiani di
ogni protfincia e publicati per cura del profeasore Emüio de Tipaldo. Venezia 1834.
Im 3. Band dieses lObändigen Werkes findet sich (p. 149 f.) eine kleine von dem
bekannten Bibliographen B. Oamba verfaßte Lebensbeschreibung des Calsabigi,
der wir unsere Angaben entnehmen.
1891. 3
34 Heinrich Welti,
gebührende Würdigung durch Verleihung des Hofrathstitels und die
Bewilligung einer Pension von 2000 Gulden. Aus diesen günstigen
Verhältnissen wurde er durch den Befehl der Kaiserin Maria The-
resia, seiner frühern Gönnerin vertrieben, weil er in einen Theater-
skandal zu eng verwickelt gewesen war. Er wandte sich nach der
Heimath zurück und 1778 sehen wir ihn von Pisa sich um die Insce-
nirung der »Alceste« für Bologna bemühen. Lang war aber auch in
der Toscana seines Bleibens nicht. Sein berühmtes kritisches Schrei-
ben an Alfieri zeigt, daß er schon 17S3 in Neapel weilte. Hier be-
schloß Calsabigi, nachdem er mit einem Staatslotterieprojekt verge-
bens wieder zu Vermögen zu kommen gehofft hatte, im Oktober 1795
seine Tage.
Calsabigi's Dichtungen und Schriften ei^chienen in zwei Ausga-
ben, erstens 1774 zu Livorno in zwei Bänden, die nach Gamba dra-
matische und lyrische Gedichte, Uebersetzungen aus Milton und
Thomson sowie die Dissertation über Metastasio enthalten, zweitens
1793 zu Neapel in zwei Bänden unter dem Titel r)Poeste e Prose di^
vei'se dt Raniet-i de^ CahabigU, Nur diese zweite Ausgabe ist uns zu
Gesichte gekommen; aus ihrem Inhalt und den anderen nachweis-
baren Arbeiten desselben Verfassers läßt sich das folgende chrono-
logische Verzeichniß der Werke Ranieri de' Calsabigi's herstellen:
1754: Dissertazione dt Ranieri efe' Calsabiffi, delV Academia di
Coriona^ suUe poesie drammatiche del Sig, Abafe Piedra
Metastasio,
1762: Orfeo ed Euridice, azione teatrale per musica,
1767: Alceste, tragedia per musica,
1770: Paride ed Elena^ dramma per mtisica,
1778: Ipermestra o le Danaidij tragedia per musica,
1783: Letter a di R. de C, a Vittorio Alfieri sulle qicattro sue
prime tragedie (Napoli, 20 Agosto 1783),
1784: Risposta del consigliere di S, M, Imperiale R. de' C,
alla lettera scritta gli del conte Alessandro Pepoli (Napoli^
15, Marzo 1784,)
1793: Elmra, tragedia per musica (komponirt von Paisiello.)
1794: Elfrida^ tragedia per musica (komponirt von Paisiello.)
1794: Lettera del consiglier de* Cahabigi a S, E, il sigfior
conte Alessandro Pepoli nel trasmettergli la sua nuova
tragedia intitolata Elfrida.
Außerdem ergiebt sich aus den jüngst von Corrado Ricci ver-
öffentlichten Briefen Calsabigi's an Antonio Montefani^, daß der
1 Ricci, C, J teatri di Bologna nei secoli 17 e 18. Bologna 1888 p. 631 ff.
Gluck und Calsabigi. 35
Dichter um 1778 eine ungedruckte, wie wir wissen, für Gluck be-
stimmte »Semiramidea im Pulte liegen hatte ^ und daß er bereits
früher unter dem Titel n Opera seria, commedia per musicat eine
Satire auf die Schäden und Mißbräuche der italienischen Opern-
biihne geschrieben^. An anderer Stelle ^ wird gelegentlich erwähnt,
daß zwei Dramen Calsabigi's: nOntariofi und y^Arnitia die besondere
Anerkennung Metastasio's &nden imd in Melzi's d Dizionario di opere
anonime e pseudonime« wird unserm Dichter die Urheberschaft eines
Sendschreibens über den Horazkommentar des Abate Galiani (178S)
sowie ein Festspiel i>il sogno d^Olimpia^ i^'^^'^) zugeschrieben.^
Neben diesen Arbeiten darf ihm ferner mit großer Wahrschein-
lichkeit auch die oben genannte y>Ripo8tafi vom Jahre 1790 gegen
die Kritik Stefano Arteaga's zugesprochen werden. Diese in seinem
Interesse und zu seiner Vertheidigung abgefaßte Streitschrift verräth
eine so genaue Kenntniß aller Einzelnheiten aus dem Wiener
Künstlerleben von 1762, daß man mit Fug an Calsabigi als ihren
Verfasser denken darf. Einem Unbetheiligten oder Fernerstehenden
wären nach einem Verlauf von fast 30 Jahren alle die Klein^keiten
und Kleinlichkeiten dieses Theaterkrieges keinesfalls so gegenwärtig
gewesen wie dem Verfasser der nRipostaa. Auch bekundet dieser
Anonymus eine so umfassende Kenntniß aller gegen Calsabigi
gerichteten Angriffe, wie man sie nur bei dem angegriffenen
Autor selbst vermuthen kann, und in seiner Entgegnung eine Ge-
reiztheit, die am natürlichsten durch den persönlichen Antheil erklärt
wird. Zudem decken sich die Anschauungen, die Don Santigliano
den ungenannten neapolitanischen Vertheidiger Calsabigi's aussprechen
läßt, zum Theil bis auf Wendungen und Beispiele mit den Aus-
führungen des Letzteren in der Dissertazione, sowie in seinem Brief
an den Grafen Pepoli (1794). Besonders auffallig und beweiskräftig
erscheint es aber, daß die i^Bipostaa gegenüber dem Unverständniß
der Italiener für die Reformarbeit Gluck-Calsabigi's sich auf die
feinere Greschmacks- und Geistesbildung der Wiener beruft^, wie
dies Calsabigi einem erst neulich zu Tage geforderten Briefe zufolge
schon 1778 in einer vertraulichen Mittheilung an Montefani gethan
hatte ^. Es kann also kein Zweifel sein, daß der Verfasser der
9 Sipostat ^ der im 7. Kapitel selbst seines Besuches bei Calsabigi
1 a. a. O. p. 634.
« a. a. O. p. 637.
' Biposta p. 48.
< Melsi II. p. 87; IIL p. 76.
' Riposta p. 48.
• Rieei a. a. O. p. 636.
3»
36 Heinrich Welti,
Erwähnung thut, in nahen oder nächsten Beziehungen zu demselben
gestanden hat. Das wenig gekannte, von den italienischen Biblio-
graphen nicht verzeichnete und auch von Melzi in seinem groBen
Werke über anonyme und pseudonyme Schriften nicht erwähnte
Buch gewinnt also für uns den Werth einer autobiographischen
Au&eichnung.
Aus allen diesen Schriften und Dichtungen tritt uns als Haupt-
zug der geistigen Persönlichkeit ihres Verfassers zuerst eine außer-
gewöhnlich reiche und weit umfassende Bildung entgegen. Calsabigi
ist in erster Linie ein Vertreter und Besitzer jener hochgesteigerten,
feinen Geisteskultur des 18. Jahrhunderts; aus ihr erwachsen erst
seine schöpferischen Fähigkeiten. Er ist vor allem Schöngeist —
das Wort im besten Sinne gebraucht — , dann Kritiker und Ästhe-
tiker, und erst als letzte Entwickelungsstufe seiner Begabung erscheint
in ihm der Dichter. Seine Dichtungen sind nicht Schöpfungen einer
starken Natur, eines dichterischen Urtriebes und eines in Leiden-
Schaft erregten Willens, sondern Erzeugnisse einer feinen Überlegung
und einer leichtbeweglichen, an der Theaterwirkung geschulten
Phantasie. So sind denn seine sämmtlichen Dramen nicht Neu-
schöpfungen, sondern Umarbeitungen älterer Dramen und Stoffe,
Umgestaltungen im Sinne einer neueren, geläuterten Kunstanschau-
ung und einer gereifteren Bühnenkenntniß. Kann uns letztere als
die Frucht der langjährigen Beobachtung und eindringender ästhe-
tischer und dramaturgischer Studien Calsabigi's gelten, so ist dagegen
erstere zunächst nur eine Folge der allgemeinen Wandlung im Geistes-
leben der Zeit. Freilich bleibt es dabei Calsabigi's Verdienst, die
Nothwendigkeit dieser Wandlung vermöge seiner tiefen und um-
fassenden Bildung als einer der ersten empfunden und erkannt zu
haben, wie es seinem Geiste zur Ehre gereicht, sich allzeit jene
Frische und Schmiegsamkeit gewahrt zu haben, die einzig dazu be-
fähigen, unter den Führern und Förderern des künstlerischen Lebens
zu wirken. Und damit ist zum Bilde Calsabigi's der zweite Haupt-
zug geliefert, denn nichts kennzeichnet seine Art und seine Wirk-
samkeit nächst der ihm eigenen großen literarischen Bildung so
sehr als diese bis in sein hohes Alter bewahrte Schwungkraft des
Geistes. Man darf dieselbe wohl bewundernswürdig nennen, wenn
man sieht, mit welcher Jugendlichkeit und Vorurtheilslosigkeit sich
noch der Siebzigjährige an die Prüfung und Vertheidigung der
Dramen Vittorio Alfierrs macht und wenn man erwägt, wie weit ab
diese Kunstwelt von den Zielen seiner Jugend liegt.
Calsabigi's geistiger Entwickelungsgang fuhrt vom gezierten
Marinismus Metastasio*s zum herben und nüchternen Klassizismus
Gluck und Calsabigi. 3*^
Vittorio Alfieri's. Auf dem Wege dahin schuf der geistreiche und
gewandte Mann jene Dramen, welche für die Geschichte der Musik
80 bedeutungsvoll wurden, weil sie dem Genius Gluck's Grundlage
imd Mittel zu einer Umgestaltung der alten Oper boten. Ein Rück-
blick nach den Anfangen seiner literarischen Thätigkeit und ein
Ausblick nach seinen letzten Idealen können uns daher am besten
lehren, wie weit Calsabigi's Antheil an dem Reformationswerke ein
unmittelbarer, wie weit bloß ein mittelbarer, d. h. nicht in seiner
nisprünglichen Absicht gelegener war.
Den besten AuüschluB über Calsabigi's Stellung zur alten » opera
teriat oder, wie die Dichter zu schreiben pflegten, ndramma per
musicat giebt die weitschweifige Abhandlung, mit der er die im
Jahre 1755 zu Paris gedruckte Ausgabe der ji Poesie del Signor Abate
Pietro Metastasio€ eröffnete. Es ist dies eine wahre Lobrede auf
den kaiserlichen Hofpoeten, und Calsabigi durfte sich später ohne
Übertreibung berühmen, den Ruf seines Gegners wie kein anderer
gefordert zu haben. Thatsächlich, meint die uMipostaa^ sei Metastasio
erst durch die vom Orfeo-Dichter besorgte Ausgabe und jene 184
Seiten lange ästhetische Dissertation in Frankreich zu Namen und
Ansehen gekommen.
Unser Ästhetiker beginnt mit der Versicherung, daß diese,
wie aus der T^Riposta^^ hervorgeht, auf Metastasio's Betreiben ver-
&Bte Untersuchung vornehmlich unternommen worden sei, um
die vielen schlechten italienischen Tragödienmacher an dem großen
Vorbild über das Drama aufzuklären, und um den Fremden zu
beweisen, daß sie mit Unrecht 'das italienische Theater mißachten.
Denn die Gedichte des Metastasio seien zwar in erster Linie als
Operndichtungen zu betrachten, aber auch ohne den Schmuck der
Musik seien es wahre, vollkommene und herrliche Tragödien, die
den Vergleich mit den berühmtesten Dramen aller andern Nationen
nicht zu scheuen brauchten. Ja, er vermißt sich sogar nachzu-
weisen, daß die Vollendung, zu der sich die Musik erhoben habe,
mm »großen TheiU auf das Verdienst des Mestastasio zurückzuführen
sei, da der Reiz, die Zartheit und die Erhabenheit der Poesie für
die Musik unerläßlich seien. Diese letztere sei nicht im Stande,
Empfindungen zu err^en und Theilnahme zu erwecken ohne die
Unterstützung der Dichtkunst, welche in dem Winsal der Töne als
Führerin diene, um uns Schritt für Schritt empfänglicher zu machen
für die Eindrücke, welche mit Hülfe der Musik lebhafter und stärker
gemacht werden sollen, als es die einfache Deklamation vermöchte.
Eipoflta, p. 47.
38 Heinrich Welti,
Deutet in dieser Darlegung das dem Metastasio und der zeitgenössi-
schen Musik gespendete Lob höchster Vollkommenheit durchaus auf eine
völlige Anerkennung der alten Oper, so weist doch die der Dichtung
grundsätzlich zugedachte Rolle auf die kommende Entwicklung hin.
Noch deutlicher tritt diese Anschauung zu Tage in den Erwä-
gungen, mit denen Calsabigi den Schluß seines Aufsatzes einleitet.
Hier schreibt er: »Vergeblich wird sich der Tonsetzer abmühen,
Zärtlichkeit, Mitleid, Schrecken zu erwecken, wenn er unpassende,
ungefüge, gesuchte, schwülstige und nichts sagende Worte in Musik
zu bringen hat. Es ist für den Musiker, der mit seiner Kunst Furcht
oder Liebe malen soll, nicht genügend, daß der Dichter Pluto oder
Cupido sprechen läßt und daß er die Handlung in die Unterwelt
oder in das Herrscherreich der Venus verlegt. Wenn dieser nicht
zuerst die verschiedenen Eindrücke jener beiden Gefühle in sich
empfunden hat, wenn dieser nicht zuerst von Furcht befangen oder
von Liebe erfüllt war; wenn es ihm nicht gelungen ist, jene Ge-
müthsbewegungen in seine Verse übergehen zu lassen; wenn seine
Ausdrucksweisen dabei nicht folgerichtig verschiedener Farbe sind,
dann wird auch der Musiker nicht die dem Vorwurfe entsprechende
Musik finden, und da er durch nichts sich bewegt fühlt, während er
komponirt, weil auch den Dichter nichts bewegte als er schrieb,
wird er Zusammenhangs- und wirkungslose Tonhäufungen hervor-
bringen: ähnlich jenem ausgezeichneten Kupferstecher, der, gezwungen
seinen Grabstichel nach einer schlechten Zeichnung zu führen, trotz
aller künstlerischen Bemühungen es nicht verhindern konnte, daß
man auf seinem Stiche allzeit die Fehler des Zeichners wahrnahm.
Wohl giebt es Leute, welche meinen, die Musik sei unabhängig von
der Dichtung und mit der Vortreffiichkeit seiner Tonsätze könne
der Musiker die Fehler des Gedichtes wett machen « * , allein diese
Ansicht ist irrig.
Diese Stelle, welche besonders bedeutsam ist, weil sie zur Er-
läuterung des Verhältnisses zwischen Musik und Poesie einen ähn-
lichen Vergleich herbeiicieht wie Gluck in seiner berühmten Vorrede
zu »Alcestetf, zeigt uns Calsabigi bereits ganz auf neuen Pfaden. Mit
solchem Verlangen nach starker Innerlichkeit, nach Wahrhaftigkeit
der Dichtung war der Lobredner Metastasio's weit über den Schaf-
fenskreis des kaiserlichen Poeten hinausgeschritten und hatte sich
aus dem Ziergarten des verfeinerten Marinismus in die freie Natur
gewagt. Ja, an dem Vergleiche mit dem Kupferstecher sieht man
auch, daß Calsabigi's Gedanken selbst über das Ziel hinaus schössen,
i Metastasio: Poesie, Torino 1757. I. p. 196.
Gluck und Calsabigi. 39
das in der Folge Gluck bei der Schöpfung seiner Opern im Auge
behielt. Aus dem Sendschreiben an Alfieri wird sich deutlich erge-
ben, daß Calsabigi^s Schaffen im letzten Grunde andern Endzwecken
galt; er ging darauf aus, in seiner Sprache eine Tragödie zu schaffen,
die den Meisterwerken des Altertums oder der klassischen Tragödie
der Franzosen ebenbürtig sei, und dabei wurde er einer der Refor-
matoren der Oper. Die Musik galt ihm beim Drama als etwas so
Nebensächliches und Untergeordnetes, daß er 1778, als es sich um
die Aufführung der »Alceste« in Bologna handelte ', gegenüber Antonio
Montefani immer nur von »quesfo nuovo gener e dt Dramma da me
infrodottw sprach und der musikalischen Schöpfung Glucks kaum
Erwähnung that. Selbst als die Sache schief ging, yersuchte Cal-
sabigi nicht, den jVIißerfolg mit der dem italienischen Geschmacke
wenig entsprechenden Musik Glucks zu bemänteln, sondern nahm
auch hier die Verantwortung ganz auf seine Schultern indem er
schrieb: ^prevedo la caduta del mio drammav. Aus einem solchen
Satze spricht nicht Eitelkeit sondern Ueberzeugung.
Nach den musikalischen Anschauungen zu folgern, welche die
Dissertazione offenbart, mußte es übrigens dem Refoimationswerke
nur frommen, wenn der Textdichter sich nicht in die Angelegen-
heiten des Tonsetzers mischte. Indem er die Arie, die ihm als Er-
satz für das lyrische Chorelement der antiken Tragödie gilt, lob-
preist, ja sogar ihre Verwendung als Abschluß der Scenen billigt ^,
indem er ferner die musikalische Dürftigkeit des Seccorecitativs als
naturgemäß verteidigt 3, steht Calsabigi auf einem andern Standpunkt
als Gluck, der bekanntlich gerade in der reicheren Ausgestaltung des
Secitativs ein Mittel suchte, um den grellen Abstand zwischen Secco
und Arie, jenen auffälligen Unterschied in der Ausdrucksweise, aus-
zugleichen und für sein Werk eine stilistische Einheit zu schaffen.
Wie wenig Calsabigi von der künstlerischen Bedeutung dieses für
die Opemreform so wichtigen Grundsatzes durchdrungen war, zeigte
später die von ihm selbst überlieferte Thatsache^, daß er in seine
letzte, 1794 von Paisiello in Musik gesetzte Oper ^EUrida« sprechende
Personen einführte, also die von Gluck 25 Jahre früher so dringend
verlangte und schwer errungene stilistische Einheit des Kunstwerkes
gänzlich preisgab. Es dürfte also den thatsächlichen Verhältnissen
vollkommen entsprochen haben, daß Gluck, als er sich anschickte,
die Grundzüge der Opernreform darzulegen, unbeschadet der Anerken-
1 Kicci. a. a. O.
2 Metastasio Poesie p. 17 ff.
» a. a. O. p. 183 ff.
* PbeBte e Prose diverse di R, d^ C. //. p. 167 ff.
40 Heinrich Welti,
nung'Calsabigi's, in erster Linie von seinen Absichten und Grund-
sätzen sprach und erst an zweiter Stelle bezeugte, daB das Textbuch
seinem Vorhaben aufis Herrlichste zu Statten gekommen sei.
Dagegen sind es wohl Calsabigi^s Ausfuhrungen über den Vor-
theil, der sich für einen neuen dramatischen Grundplan aus den
Einrichtungen der französischen »troff edie lyrtqtie« ziehen ließe, die
erst Gluck's dramaturgische Absichten und Ahnungen zu einem be-
stimmten Gedankenbild der reformirten Oper klärten. Man beachte
nur, was Calsabigi über das Opemdrama Quinault-LuUy's schreibt
und welche Folgerung er an seine Betrachtungen knüpft ; man wird
darin unschwer Keimpunkte künftiger Entwickelung finden. So
schließt er seine Darlegung mit den Worten^: »Wenn aber einmal
derselbe Grundplan mit den Forderungen der Wahrscheinlichkeit
sich vereinigen ließe, wenn einmal rein menschliche Handlungen dar-
auf sich abwickelten, mit Ausschluß aller heidnischen Götter, alles
Teufels- und Zauberwesens, kurz alles dessen, was über Menschen-
kraft hinausgeht, dann würde zweifelsohne aus dem zahlreichen Chor,
dem Tanz, der mit Musik und Poesie meisterlich zusammengestimm-
ten Dekoration ein äußerst erfreuliches Ganzes entstehn, in welchem
die lebhaften Sinne des Zuschauers von der Mannigfaltigkeit und
Pracht der Gegenstände angezogen würden, während zu gleicher Zeit
sein Geist von der Theilnahme an der Handlung und von der Fein-
heit der Dichtung erregt und sein Herz von Klängen der Musik in
Entzückung hingerissen wäre. Diese verschiedenen Linien müßten
aber alle auf die Handlung als ihren Mittelpunkt zulaufen und darin
sich verlieren und untergehn: sie dürften nicht Hauptsache sondern
müßten Nebensache sein; sie dürften den Zuschauer nicht von der
Sache abziehen, sondern müßten es sich angelegen sein lassen, ihn
zu seinem Vergnügen wieder dazu zurück zu fuhren; sie dürften ihm
nicht Fremdartiges sondern Geeignetes vorführen und allzeit müßte
sowohl in Bezug auf den Dichter wie auf den Tonsetzer die be-
rühmte Vorschrift des Horaz: nDenique sit, quodvis, simplex dun^
taxat et unuma im Auge behalten werden, die für alle dramatischen
Pläne Geltung hat«.
In diesen Worten, die soweit abfuhren von der Aufgabe, die
sich der Verfasser mit der Dissertation ursprünglich gestellt hatte,
liegt im Kerne bereits das dramaturgische Programm der neuen
Kunst. Jedenfalls bestätigen sie die Angabe der «Riposta^ff daß
Galsabigi schon während der Abfassung der Dissertation r>neU intemo
suo di opposte idee<k gewesen sei, was freilich mehr für den Geschmack
* Metastasio Poesie p. CCIX.
2 Riposta. p. 47.
Oluek und Calsabigi. 4f
und die ästhetischen Erkenntnisse des schlauen Italieners spricht als
für seine Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe. Immerhin aber bleibt es
sehr bemerkenswerth, daB sich aus der Untersuchung über Metastasio,
welche in ihren letzten Abschnitten einen entschiedenen Überdruß
an der schönen Redegewandtheit des Wiener Hofpoeten verräth,
feststellen läBt, wie schon im Jahre 1755 dem feinen Kopfe Calsa-
bigi's die Möglichkeit eines neuen, besseren dramaturgischen Planes
fiir die italienische Bühne vorschwebte. Daß ihm diese Einsicht
eben über der Beschäftigung mit den Operngedichten des Metastasio
und über ihrer Veitheidigung gegen französische Vorwürfe gekom-
men war, scheint ebenso zweifellos wie die Thatsache, daß er die
Gtund- und Ecksteine zu seinem dramatischen Bau gerade aus dem
Bezirke der Quinault'schen ^ troff Sdte lyriquea herholte, deren Prunk-
and Prachtgebäude sein Heerruf für Metastasio stürzen sollte. Die
Knfiigung von Chor und Tanz in den Plan der Oper, die gerade
den »Orfeoc tot den landläufigen italienischen Operngedichten Me-
tastasianischen Zuschnittes besonders auszeichnet, ist bereits in der
Dissertation vorgesehen und daher wohl Calsabigi's ebenso unbe-
strittener Antheil am Reformationswerk wie das Bestreben nach einer
einheitlichen und einikchen, natürlich geführten Handlung.
Wie Calsabigi über den Begriff und das Wesen der dramatischen
Handlung dachte, ist aus der Dissertation nicht recht zu ersehen,
denn seinen sehr klaren und verständigen Auseinandersetzungen über
die tctmdottaa im Allgemeinen steht eine umfängliche Lobpreisung
der Metastasianischen ^candotta^ gegenüber, die seine theoretischen
Darl^ungen schwer verdächtigt. Sechs Jahre später, bei der Ab-
fiiflsung von »Orfeo und Euridice«, sehen wir ihn allerdings seinen
früheren Forderungen in Bezug auf die Führung der Handlung nach
Vermögen nachleben, allein es kann nicht unbedingt behauptet
werden, daß darin nur die praktische Durchfuhrung der dramatur-
gischen Lehrsätze der Dissertazione zu erblicken sei, da Calsabigi
in andern Punkten, z. B. in der Verwendung eines deits ex machina
zur Lösung des dramatischen Ejiotens seine früheren theoretischen
Darlegungen Lügen straft. Wahrscheinlicher bleibt, daß der Ver-
fasser der Dissertation sich dem französischen Operndrama, das er
schon 1755 mit so viel Bewunderung und Aufmerksamkeit charak-
terisirte, im Laufe der Jahre noch mehr näherte und seine eigenen
Ansichten unter dessen Einfluß zur Reife ;brachte. Die Vorzüge,
die Calsabigi's »Handlung« vor der Metastasio's kennzeichnet, sind
mit den Ausdrücken: Einfachheit und Einheit kurz und treffend
hervorgehoben; für »Orfeo« und »Paride« hat Philipp Spitta*, für
> Allgemeine musikalische Zeitung 1S80, XV. p. 657 ff., G73 ff.
42 Heinrich Welti, Gluck und Calsabigi.
»Alceste«f Karl von Winterfeld* diese Vorzüge durch Veigleichung
mit früheren dieselben Stoffe behandebiden Operngedichten klar
dargelegt. Ebenso belehrend ist eine Vergleichung der Ipermestra
des Metastasio mit den »Danaidiv des Calsabigi, wie sie schon die
j)Ripo8taa angestellt hat 2. Die treffendste Darlegung des Begriffes,
den sich der Textdichter Gluck's vom Wesen des Dramas und von
der Beschaffenheit der d Handlung« machte, giebt das Sendschreiben
an Vittorio Alfieri vom 20. August 1783. In diesem Schriftstück •"*,
das Calsab^ auf der Höhe seiner Bildung und im Vollbesitz seiner
fein geschulten geistigen Kräfte zeigt, folgt auf eine bewundernde
Charakteristik Shakespeare's, des »Eschilo inglesecc und eine beinahe
unbedingte Anerkennung der französischen Tragödie, der nur eine
genauere Nachahmung der Natur und Befreiung vom Zeitgeschmack
zur Vollkommenheit fehle, nachstehendes dramaturgisches Glaubens-
bekenntniß * : Ich glaube, daß die Tragödie nichts anderes sein soll,
als eine Reihe von Bildern. . . . Eine Tragödie ist um so fesselnder
und vollkommener, als sie weniger wortreich und dagegen bewegter
und malerischer ist, so daß sie der Einbildungskraft reichen und
anziehenden Stoff für die Malerei darböte. Die Handlung ist also
im Drama die Hauptsache (Horaz, ars poetica v. ISO f.), nicht die
Bede, das Zuviel der Bede, Deklamation und Auseinandersetzung
mithin von Übel. Man soll demgemäß den Plan einer Tragödie
zimmern als Reihenfolge scenischer Bilder, welche die Rede be-
schränken auf das geringe Maß des Unerläßlichen, das dazu dient,
die Personen zu charakterisiren und sie in jene malerischen Situa-
tionen zu bringen, welche die Gemüther der Zuschauer treffen und
erschüttern sollen. So, meint Calsabigi, wird man eine dramatische
Handlung am besten eingetheilt haben und die lebenswahrste, an-
ziehendste und rührendste Tagödie schaffen. Danach lässt sich be-
greifen, wie Calsabigi auf einem Irrweg nach der hohen Tragödie
zum Mithelfer bei der Reformation der Oper werden konnte.
1 Winterfeld. Zur Geschichte heiliger Tonkunst IL p. 308 ff.
2 Riposta. p. 95—121.
3 Le opere dt Vittorio Alfieri^ Padova 1809 I p, 99—168.
* a. a. O. p. 124—130.
Johann Valentin Meder.
Neue Mittheilungen
von
Johannes Bolte.
So ziemlich alles, was bisher über den Kapellmeister Johann
Valentin Medei bekannt ist, verdanken wir der fleissigen Feder
Mattkesons. der in der „Grundlage einer Ehrenpforte", 1740, S. 218
bis 223 aus vier Briefen Meders an den Stralsunder Organisten Chri-
stoph Raupaeh vom Jahre 1707 — 1709 mehreres über sein Leben
beibringt. Auf ihn gehen die kurzen Notizen von Gerber, F6tis u. a.
zurück. Mir gab die Beschäftigung mit der älteren Theatergeschichte
von Danzig kürzlich Anlass, nach Meders Schicksalen zu forschen,
and ich hatte das Glück, über. das in Riga aufbewahrte handschrift-
liche Material von Herrn Anton Buchholtz in Riga die eingehendste
Auskunft zu erhalten ; für diese liebenswürdige Unterstützung auch an
dieser Stelle zu danken ist mir eine angenehme Pflicht.
Johann Valentin Meder wurde, wie mir Herr Kirchenrath und
Superintendent Germann freundlichst aus dem Wasunger Kirchen-
buche mittheilt 1, 1649 als Sohn des Kantors Johann Erhard Meder
und seiner Frau Anna zu Wasungen a. d. Werra geboren und am
3. Mai d. J. getauft. Er war der jüngste von fünf Brüdern, die
sämmtlich den Beruf ihres Vater ergriffen 2. Drei derselben werden
in den genealogischen Sammlungen des verstorbenen Dr. August
Buchholtz 3 angeführt : Maternus Meder, Organist in Meiningen (nahm
um 1680 die Wasunger Orgel ab), Johann Friedrich Meder, getauft
am 9. Oktober 1639, gest. am 29. Dezember 1689 als Kantor in Wa-
songen^, und Johann Nicolaus Meder, Kantor in Salzungen. Unser
^ »Johannes Valentinus Meder Dn. Johannis Erhardi Mederi Cantoris filius
baptisatas 3 Majo 1649«.
2 Mattheson S. 221.
3 Rigaer Stadtbibliothek. M. 37 ff. (nach Sehweder und Jakobikiichenbuch).
* Wasunger Kirchenbuch.
J
44 Johanne« Bolte.
Johann Valentin begab sich (ufn 1665?) nach Leipzig, um dort Theo-
logie zu studieren 1, wurde aber dann, da er von der Natur mit
einer feinen Stimme begabt war, die er nach seiner eigenen
Aussage bis ins 40. Lebensjahr behielt, von fürstlichen und anderen
hohen Personen beiderlei Geschlechts gedrängt, die Musik als sein
Hauptwerk zu erkiesen^. Als Sänger an irgend einem fürstlichen
Hofe 3 lebte er im Verkehre mit Italienern und lernte die ihm aus
Rom zugeschickten Kantaten von Giacomo Carissimi und Marcantonio
Cesti kennen^. Auch durch eigene Kompositionen muß er sich
damals hervorgethan haben ; sonst wäre es nicht zu begreifen, daß er
im Jahre 1687, nachdem er früher ähnliche Einladungen zweier
Fürsten abgelehnt, zum städtischen Kapellmeister nach Danzig be-
rufen wurde*. Hier gründete er 1688 einen Hausstand, und zwar
scheint er, da er 1694 den Archidiakonus Michael Strauss (f 1699)
seinen Schwager nennt, eine [Schwester desselben geheirathet zu
haben. Seine äußeren Verhältnisse waren ziemlich beschränkt, wie
sich aus einem unangenehmen Streite ergiebt, den er 1694 vor dem
Gerichte des Baths mit dem Bürger Georg Weyer auszufechten
hatte ^. Er hatte nämlich 1692 die beiden Stiefkinder des Genannten,
Bosina und Johann Rautenberg-, in Logement und Kost genommen
und wurde beschuldigt, die Sonntagskleider der Kinder versetzt zu
haben. Seine amtliche Thätigkeit bot ihm Gelegenheit, eine Reihe
von geistlichen Kantaten zu den kirphlichen Festtagen, auch wohl
zu Hochzeiten und Begräbnissen zu komponieren. Diese Arbeiten,
die er nach seiner eigenen Aeusserung bei seinem Fortgange aus
Danzig dort zurückliess, scheinen untergegangen zu sein; nur zwei
1687 und 1688 geschriebene und dem Rathe dedicierte Motetten für
zwölf Stimmen in drei Chören sind noch auf dem Rathsarchive ^
vorhanden. Gedruckt ist von seinen Kompositionen nur eine, die
ich jedoch nicht gesehen habe: »Capricci a due Violini col Basso
per l'Organo. Danzig 1698 fol.« Andere Gelegenheitskompositionen
^ Aug. Buchholtz a. a. O.
2 Mattheson S. 221.
8 WahrBcheinlich war es einer der kleinen Höfe von Mitteldeutschland. In
Fürstenaus Buch Zur Geschichte der Musik am Hofe zu Dresden (1861) wird Meders
Name nicht genannt. Eine Bemerkung Meders in einer Supplik an Graf Dahlberg
vom 5. Juli 1700 scheint zu beweisen, daß er Bremen besucht und die Musik-
auffahrungen im Dom gehört hat.
* Zuerst Carissimis Jüngstes Gericht: '»Suonerai [1. Suonerä] fultitna trombaa.
Mattheson S. 219 f.
^ Löschin, Beiträge zur Geschichte Danzigs 1, 38 (1837). Doch ist das, was
hier über einen kurzen Aufenthalt Meders in Danzig bemerkt wird, irrig.
^ Danziger Bathsarchiv, Supplik. 1694, März.
7 G. Döring, Zur Geschichte der Musik in Preußen 1852 S. 197.
Johann Valentin Meder. 45
entstanden bei Besuchen fürstlicher Pereonen, so bei der Durchreise
des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III. durch Dansig am
1. Juli 1690, wo Meder während der Tafel Beine vortreffliche Musik«
auifiihrte^, und bei dem feierlichen Einzüge des neuen polnischen
Königs August des Starken am 18. März 1698, wo Meder diesen
mit dem Gesänge eines achtstrophigen Liedes begrüsste, dessen Text
auch unter das Volk yertheilt wurde ^. Freundschaftlichen Verkehr
pflegte der protestantische Kapellmeister zehn Jahre hindurch mit
dem feingebildeten Abte Michael Anton Hacky im nahe gelegenen
Kloster Oliva, einem Schüler Marcantonio Cestis, der ihn einst mit
Cestis Kantate sO cara Ubertä, chi mi ti toglie« zu überraschen ge-
dachte, worauf ihm Meder entgegnete, dies sei seit zwölf Jahren ein
Lieblingsstück von ihm 3. Ein besonderes Interesse beanspruchen
Heders Versuche, in Danzig deutsche Opern aufzuführen, nachdem
Hamburg und Leipzig mit der Gründung ständiger Opembühnen vor-
angegangen waren ^. In der zweiten Hälfte des Novembers 1695
brachte er in der hölzernen Bude, welche die Schauspielertruppe der
Wittwe Veiten während des Dominikmarktes zu ihren Vorstellungen
benutzt hatte, eine von ihm in Musik gesetzte Oper Nero zur Dar-
stellung. Den Text und auch einige Melodien entnahm er der zwei
Jahre zuvor in Leipzig gegebenen gleichnamigen Oper N. A. Strungks,
der wiederum ein von Carlo Pallavicino komponiertes italienisches
Libretto von Giulio Cesare Corradi (Venezia 1679] benutzt hatte. Das
Textbuch hat sich erhalten:
NERO I in einer | OPERA I Oder | Sing -Spiel | Ehemalen in Leipzig | vorge-
stellt, I Mit I Eines Hoch-Edlen und Hochweisen | Rahts | Dieser Löbl. Stadt
Dantsig | Hochgeneigter Venvilligung | vom neuen aufgeführt ) Im Jahr 1695. {|
DANTZIG I Gedruckt durch EdL Raths und des Gymnasii | Buchdruckern Johann-
Zacharias Stollen. | 56 S. A^. (Danziger Stadtbibliothek.)
Welche Wirkung dies Werk in Danzig hervorrief» ist nicht über-
liefert. Gross war der Erfolg schwerlich ; denn der Bath schlug 1696
und 1698, als Meder um die Erlaubniß zu einer Wiederholung des
Nero und cur Aufführung einer «neuen Materie« einkam, die Gesuche
i Döniiff S. 68.
2 »Freudiger Willkomm, womit den allerdurchlauchstigsten . . . Herrn Augustum
den Andern ... in einer vollständigen Harmonia allerunterthänigst begrüßen wollen
Job. Valentin Meder, Capellmeister. Dantsig, gedruckt bey Johann-Zaoharias Stollen «<.
Eine Abschrift in Bflerela Danziger Chronik (Berliner Mscr. boruss. qu. 97, S.
356—360).
3 Medert EniUnng bei Mattheaon S. 220 wird ergftnet durch eine im Rigaer
RathMTchiTe befindUohe Supplik des früheren Olivaer Organisten Georg Weitsen-
mflUer an« Melsaek in Ermehindan den Rigaer Rath (Ende 1718 oder Anfang 17] 9).
* Oenaaeres Über die Opern Meders in einem demnächst erscheinenden Buche -
IKe deatsche Bübne des 17. Jahrhunderts.
4 g Johanne« Bolto.
trotz der beweglichen Klagen des Bittstellers über seinen bedrängten
Zustand rundweg ab. In seiner Noth entschloß sich dieser, dem
der zu erwartende Gewinn lockend vorschwebte, zu einem gewagten
Schritte. Er führte jene neue Oper in dem dicht bei Danzig ge-
legenen, aber nicht unter Danziger Oberhoheit stehenden Städtchen
Schottland während des Oktobers 1698 auf. Das Textbuch trägt
den Titel:
Die wieder verehligte | COELIA | In einem Sing-Spiel | Auff | Einem im Bischöff-
liehen Schottland | bey Dantsig hiezu ersehenen | Schauplatz | Toi^estellet || Im
Jahr 1698. | 36 S. 40. (Petersburg. Kaiserl. Bibliothek.)
Der Danziger Bath jedoch vermerkte die Umgehung seines Ver-
botes übel und untersagte Meder bei Verlust seines Dienstes , die Oper
außerhalb der Stadt weiter zu präsentieren. Wahrscheinlich wurde
diese Angelegenheit die Veranlassung, daß Meder, der selbst über
die Heftigkeit seines Mali hypocondriaci klagt, im folgenden Jahre
1699 Danzig verließ und über Königsberg^ nach Riga ging, wo er
schon brieflich Verbindungen angeknüpft hatte. Sein Nachfolger
in Danzig wurde Maximilian Freislich, der mit einer Empfehlung
seines Bruders aus Franken zu ihjn gekommen und ein Jahr lang
von ihm unterrichtet worden war 2. In Riga fand er jedoch nicht
so bald die gehoffte Anstellung, da mehrere seiner Gönner starben
und der nordische Krieg ausbrach. Der schwedische Generalgouvemeur
Graf Erik Dahlberg, an den er sich am 5. Juli 1700 mit einem Ge-
suche^ um Beschäftigung an der Schloß- oder Jakobikirche wandte,
ernannte ihn freilich zum Kapellmeister, doch blieb das wohl ein
blosser Titel. Erst am 30. November desselben Jahres übertrug ihm
der Rigaer Rath, der ihm schon am 23. Dezember 1699 für die De-
dikation einer Weihnachtsmusik 30 Rthl. Carol. hatte auszahlen
lassen, die interimistische Leitung des Kirchenchores an den Fest-
tagen, bis am 13. September 1701 Job. Georg Andrea als ordent-
licher Direktor chori musici eintrat. Meder erhielt für diese drei-
vierteljährige Thätigkeit am 29. Nov. 1701 100 fl.^. Er konnte auch
den Verlust um so eher verschmerzen, als er am 20. März 1701 den
freigewordenen Organistenposten am Dom bekommen hatte ^), den er
bis zu seinem Tode verwaltete. In dem damals ziemlich regen
1 Hier ließ er bei einem guten Freunde zwei geschriebene Bände mit Regeln,
wie man gebundene Fugen oder Kätselgesänge machen solle, Eurück. Mattheson S. 2] 9.
2 Mattheson S. 218.
3 Original in Aug. Buchholtz' genealogischen Sammlungen. VgL Mattheson
S. 221.
« Rigaer Stadtarchiv, Rathsprotokolle »Publica« 52, 103. 442. 53, 278. 346.
400. 470.
5 Publica 53, 38.
Johann Valentin Meder. 47
Musikleben Bigas scheint Meder keine unbedeutende Rolle gespielt
la' haben. Neben den kirchlichen Festen , zu denen er eine grosse
Anzahl von Musikstücken schrieb, gaben die Siege Karls XII. Anlaß
zu allerlei Aufführungen. Die glückUche Landung des Königs am
9. Juli 1701 feierte er zu Anfang September mit einer Musik, die
Morgens in der Peterskirche und Mittags im Dome gespielt wurdet
Das Programm beginnt: »AufF die erlangten Sieges Palmen erfolgen
die Lob- und Dank-Psalmen« ^. Die BathsprotokoUe berichten ferner,
dass er am 28. November 1702 für ein beim Dankfeste in der
Peterskirche aufgeführtes Konzert 10 Rthl. erhielt, daß er am
12. August 1703 in einem Actus musicus, «was von'Anfang der feind-
lichen Blocquade bis zur Kecuperirung der Dünamünder Schanze
passiret», darstellte und daß er am 26. April 1707 den Friedens-
schluss mit Sachsen auf gleiche Weise begingt. Er selbst erwähnt
eine grosse Kantate auf den Tod der verwittweten Herzogin Hedi^Tg
Sophie von Holstein-Gottorp, der Schwester Karls XII, (f 22. Dez.
1708), die er in Hamburg drucken lassen wollte], und erzählt von
Aufführungen der gedruckten Kantaten Keisers und l^ronners im
Kreise von Dilettanten, unter denen sich Mademoiselle Schwartz
auszeichnete. Von seinen Trauermusiken berichtet er z. B., dass er
in einem solchen Tombeau eine Klavierkomposition Frobergers, »Me-
mento mori«, für Violinen gesetzt habe anbringen müssen^. Das
Textbuch einer andern ist betitelt: ))Der Melpomene Klag-Lied Über
den in der blutigen Action auff Lutzoffs-Holm bey Riga den 9. July
1701 erlittenen Tod des Hm. Magnus Benedictus von Hellmersen ver-
mittelst eines bew^lichen Trauer-Marches vorgestellet von J. V. Mo-
dere^. Auch eine neue Oper mit Ballet »Die befreiete Andromeda«
vollendete er. Vornehmen Musikliebhabern ertheilte er daneben Un-
terricht und setzte schon seine Hoffnung auf eine Kapellmeisterstelle
am Stockholmer Hofe^.
Aber die steigende Kriegsnoth und die Eroberung Rigas durch
Peter d. Gr. im Jahre 1710 machte solchen Aussichten ein rasches
Ende. In den RathsprotokoUen ^ stossen wir nun auf Klagen Meders
über die Einquartierung und Bitten um Auszahlung des rückständigen
Gehaltes (1712, 1713) und um Reparatur der Orgel (1717). Eine
^ Publica 53, 265. 271.
' M. Rudolph, Rigaer Theater- und Tonkünstler-Lexicon S. 155 (1889).
' Publica 55, 382. 56, 528. 61, 321. — Ebenda 58, 150. 60, 55 steht, daß er
21. Sept. 1704 und 8. Man 1706 dem Rathe Kompositionen überreichte.
« Mattheson S. 220.
» Rudolph S. 155.
« Mattheson 8. 221.
' Publica 68, 437. 69, 229. 72, 381. 412. 434.
4S Johannes Bolte.
letzte Eintragung^ verräth uns, dafi er Ende Jali 1719 gestorben
ist. Am 31. Juli d. J. nämlich wird dem Soiine Meders Erhard
Nicolaus das Gresuch «um freie Glocken bei Beerdigong seines un-
längst verstorbenen seel. Vaters« bewilligt, »en regard derselbe so viele
Jahre bei der Kirche gedieneta. Im Todtenregister der damals leider
sehr mangelhaft geführten Kirchenbücher ist sein Name, wie mir
Herr Anton Buchholtz schreibt, nicht aufzufinden, ebensowenig in
den Protokollen des Waisengerichts, das zugleich Nachlaßbe-
hörde war.
Dagegen hat sich auf dem Stadtarchiv eine Eingabe des er-
wähnten SohneSf *der als Sekretär am Wendenschen Landgericht an-
gestellt war^, vom Ende des Jahres erhalten, die den ganzen musi-
kalischen Nachlass Meders genau veizeichnet und daher wohl einen
Abdruck an diesem Orte verdient. Ob sich in Biga von diesen
Kirchenkompositionen noch etwas vorfindet, habe ich bisher noch nicht
in Erfahrung bringen können. Um so lieber wird man hier Matthesons
Urtheil über Meders Kompositionen hören: j^Yon Verfertigung starker
Kirchenstücke hat er am meisten Wesens gemacht. Was uns davon
zu Gresichte kommen, ist in Wahrheit mit solcher Gründlichkeit, mit
solchem großen Fleiße und mit nicht mindrer Anmuth ausgearbeitet,
daß es nicht ohne sonderbares Vergnügen anzuhören. Vor andern
verdient der Mann deswegen gelobt zu werden, daß er seines großen
Alters ungeachtet, bei kräucklicher Leibesbeschaffenheit, dennoch in
seiner Composition sich nach dem Geschmack der heutigen niedlichen
Ohren zu bequemen und die neue oratorische Schreibart mit Nach-
druck anzubrigen jederzeit für seine Schuldigkeit und Ergötzung ge-
halten hat.«
Supplik des Notars Erhard Nicolaus Meder
prod. et lect. in Senatu d. 21. Nov. 17193.
Magnifici
Hoch Edelgeborene, Gestrenge, Großmannveste, Hochgelehrte und Hochweise
Herren Bürger Meister und sfimbtl. H H. Rathsverwandten , Hochgeneigte und
Hochgeehrte Herren 1 1 !
Gott zu Ehren componirte und in die Music gesetzte Psalmen und Lobge-
« Publica 75, 301.
2 £r war zu Danzig am 8. März 1689 geboren und starb 1744 am 8. Okt. —
Am 5. Sept. 1703 ersuchte sein Vater den Rektor des Rigaer Lyceums, ihn zu
entlassen, da er ihn zu einem Danziger Bekannten senden wolle. Sein Sohn
Friedrich Valentin M. (1714 — 1769) wurde Pastor zu Arrasch. Von dessen Tochter
Beata Elisabeth (1753 — 1827), die den Pastor Gustav Bergmann heirathete, stammt
der berühmte Berliner Chirurg Ernst von Bergmann ab.
3) Der Rathsbeschluß (Puolica 75,520) lautet: »Es werden die offerlrte Musi-
calien mit Dank angenommen, will E. E. Rath wegen der Gage des seel. Capell-
Johann Valentin Meder. ^Q
siQge können, nach absterben des Maitre nicht beßer alß zu denen Kirchen, wo
des Allerhöchsten Ehre gepriesen wird y employret werden. Gleichwie nun mein
Seel. H. Vater Capell Meister Johann Valentin Meder vomehml. zu componirung
geistlieher MusicaUen ein Belieben getragen, und dadurch seinen betrübten Zu-
stand, in welchem er sich jederzeit notorie befunden gesehen, versüßet : also habe
auch nicht nur Ich selbsten gleich nach seinem Seel. Hintritte mich entschlossen,
seine geistliche Musicalia denen Kirchen dieser hochwehrtesten Stadt zu widmen,
sondern bin auch aus deßen eigenen Manuscriptis erinnert worden, sothane Sachen
lieber zu Qottes Ehren und seiner Kirchen anzuwenden alß in frembde Hände
gerathen zu laßen. Ich hätte zu Erfüllung dieses Vorsatzes meine Schuldigkeit
gleich erwiesen, wie meinen Seel. Vater beerdigen laßen, bey welchem E. Hoch
Edl. und Hochweiser Kaht auf mein demühtigstes Ansuchen das freye Glocken
Spiel hochgeneigt verstattet, und dahero sothane geneigte deference mit gehor-
samsten Bank erkenne, wann nur meine function verstattet hätte, damahls mich
alhie zu verweilen und die Musicalia durchzusehen. Nunmehro aber, da zu Durch-
sehung der Sachen einige Zeit anwenden können, habe ich selbige vermöge bey-
liegenden Cathalogi denen Kirchen dieser hochwehrtesten Stadt zu dediciren keine
Gelegenheit weiter versäumen wollen. In solcher Absicht nun überreiche nicht
nur die Musicalia zum Besten der Kirchen , sonder wünsche auch dabey , daß der
große Gott diese gantze hochwehrteste Stadt beständig mit glücklicher florirung,
Friede und Vergnügen bekröhne, und änbey die Gnade verleihen wolle, Ihm vor
solche Wohlthaten in denen Häusern, wo seine Ehre gepriesen wird, nechst dem
Choral auch mittelst der edlen und Gott wohlgefälligen Music Lob und Dank
sagen zu können. Wann auch nechst deme E. Hoch Edl. und Hochweisen Bähte
XU eröffnen genöthiget werde, wie meine Eltern wegen des bedaurenden Zustandes,
in welchem mein Seel. Vater so wohl vor, alß auch nach der Pest bekandter maßen
sieh befunden, andere Mittel aufnehmen und sich in Schulden von 150 rthL stecken
mäßen, zu deren Entrichtung Ich, dafeme nicht die marque einer kindlichen Un-
danekbarkeit hervorblicken laßen und einen üblen Nachklang erwecken will, ange-
halten werde, zu Hebung dieser Last aber kein ander moyent , alß meines Seel.
Vaters bey £. Edl. Stadts-Kasten stehendes nnd weit über 300 rthl. sich er-
streckendes salarium, welches dem Hn« Eltisten Meiners bekandt ist und von dem-
selben auf E. Hoch Edl. und Hochw. beliebiges befragen attestiret werden kan,
zu erfinden vermag : alß nehme zu demselben die Zuflucht, implorire also E. Hoch
Edl. und Hochw. Kaht gantz gehorsamst, es geruhe derselbe mir die grace zu
erweisen, und hochgeneigt zu verfügen, daß mir meines Seel. Vaters restirendes
salarium außgezahlet werden möge, damit so wohl die von meinen Eltern gemachte,
alß auch nach deren Tode ihrentwegen causirte Unkosten contentiren könne. Vor
sotfaanerhocbgeneigten deference werde jederzeit in verbundensten respect verharren
E. Hoch Edl. und Hoch weisen Rahts
gehorsamster Diener
Erhard Nicola: Meder.
Cathalogus
deren von dem Seel. Capell Meister Johann Valentin Meder nachgelaßenen geist-
liehen Musicalien, welche zu Gottes Ehre denen Kirchen der Kayserl. Stadt Riga
meisters Meder beym Stadtkasten nicht nur nachsehen lassen, sondern auch mithin,
venn der Stadtkasten zu guten Mitteln gediehen, H. Imploranten darauff etwaß
za reichen bedacht seyn.«
1S91. 4
g0 Johannes Balte.
6. rl.
gewidmet und 1719 d. 18. Nov. £. Hoch £dl. und Hochweisen Rahte mittelst Be-
gleitung einer submissen Sehrifft übergeben worden von dessen Sohne Erhard
Nicolas Meder, des Kavserl. Land Grts Wendischen Creyses Notario.
Partituren.
Nr. 1. Missa ex Gmol.
2. Die Rrohn unsers Haupts ist abgefallen.
3. Magnificat.
4. Welt ade! Ich bin dein müde.
5. Missa ex B dur au ff 2 chöre.
1. H. Jesu Christ, wahr Mensch und Gott.
Jesus ist mein Heil und Leben.
Wenn mein Stündlein Torhanden ist.
7. Dixit.
8. Der herrliche, doch mit Tränen vermengte Sieg des streitbaren Helden
Jephta von Gilead über die Kinder Ammon, laut der Beschreibung im
Buch der Richter Cap. 11.
9. Siehe doch, o du bekümmerte Seele, pro festo Pentecostes.
10. Veni, sancte Spiritus.
11. Missa Jubilaea a 20.
12. Gott du bist derselbe mein König.,
13. Ich habe einen guhten Kampff gekämpffet ä 14.
14. Missa ex F dur a 16.
15. Concertino — aria, Das ist meine Freude, daß ich mich zu Gott halte.
16. Missa ä 6.
17. Gott sende dein Licht von deinem heil. Himmel.
18. Auff, aufF mein Hertz mit Freuden. Auff Ostern.
19. Welche Wunder, welche Thaten, pro festo Pentecostes.
20. Pro Festo Ascensionis Christi. Cantata: Der Sieges-Held fähret auff.
21. Dialogus inter Legem, Peccatorem et Christum.
22. Ein Artzt ist uns gegeben.
23. Herr wo bleibstu so lange .^
24. Was mein Gott will.
25. Fröhlig soll mein Hertze springen.
26. Ich habe einen guten Kampff gekämpfft. ^ 10.
27. Wer ist so starck, alß wie der Tod.
28. Christ ist erstanden.
29. Schmücke dich o liebe Seele.
30. Die Liebe Gottes.
31. Missa.
32. Dialogus inter animam et Christum.
33. Diversi Hymni.
34. Die Passion.
35. Die Passion, in Dantzig componiret.
36. Actus Musicus de passione et morte Jesu Christi; componirt Higae 170U
37. Actus musicus de passione Jesu Christi, componirt 1716.
Partien.
Nr. 1.0 herber Apffel biß.
2. Gott, warum verstössestu uns so gar?
3. Weg, weg du irdisches Reich.
4. Herr hadere mit meinen Haderern.
Johann Valentin Meder. 5I
Nr. 5. Dialogufl von David und Absolon.
Ö. 0 Jesu du mein Trost. Heil. Communion Music.
7. Wenn mein Stündlein verbanden ist.
8. Wach auff mein Hertz und freue dich.
9. Domine salvum fac Regem.
10. Gelobet sey der Herr. Pro Festo S. Johannis.
11. Gott hat dir o Zion.
12. Wachet auff ruffet uns die Stimme.
13. Die starckcn bedürffen des Arztes nicht.
14. Jauchtzet ihr. Pro Festo visitationis Mariae.
15. Missa ä 12.
16. Du o schönes Welt Gebäude.
17. Selig sind die Todten.
18. Posita in medio. Pro Festo Paschalos [!]
19. Herr zeige mir deine Herrlichkeit, cum Partitura musica luctuosa.
20. Jesu meine Freude.
21. /Auff meinen lieben Gott.
IWo soll ich fliehen hin.'
22. Festo Pentecostes. Gott heiliger Geist.
23. Pro Adventu Christi. Erfreue dich Seele.
24. Hertzlich thut mich verlangen, cum partitura.
25. Gott du bist derselbe mein König.
26. Dominica 1°^» Adventus Christi in Dialogo : Ach ! daß die Hülffe auß Zion etc.
27. Missa ex £.
28. Missa a 9.
29. Missa ex a :|4:
30. Mit Fried und Freud, contrapunct.
31. Kindlich groß ist das gottselige Geheimniß.
32. Brun Quell aller Gühter.
33. Starck mich mit deinem Freuden Geist.
34. Gelobet seystu Jesu Christ
35. W^enn mein Stündlein verbanden ist.
36. Der Löwe vom Stam Juda etc. cum Partitura.
37. Ventte justi.
38. O Jesu Christ, meins Lebens Licht.
39. O Jesu Christ, wahr Mensch und Gott
40. Wer ist der, so von £dom kommet. Pro Adventu Christi.
41. Musica pro solennl actu inaugurationis Ministri Ecclesiae cum Partitura.
42. O wie selig seyd ihr doch ihr frommen.
43. Wenn mein Stündlein verbanden ist
44. Neu-Jahrs-Andacht
45. Hodie natus est
46. Ich bin ja Herr in deiner Macht
47. O Wunder! Gott auß Gott entsproßen.
48. Herr unser Herrscher.
*
49. O Traurigkeit
50. O höchster Gott
51. O Ihr Christen seyd erfreuet
52. Mag ich Unglück nicht wiederstehn.
53. Es woU uns Gott gnädig seyn.
54. Ein Artzt ist uns gegeben.
4*
52 Jo^annefl Bolto.
Nr. 55. Erbarm dich mein o Herre Qott
56. Herr Jesu Christ du höolistes Quht
57. Missa ex E'.
58. Ich hab mein Sach Qott heimgestelt
59. Magnificat ex A ^.
60. Magnificat ex E^.
61. Magnificat & 15.
62. Gantata. Herr wo bleibstu so laitge.
63. Magnificat ä 6.
64. Festo Pentecostes. Was fOr Sausen, was für Brausen.
65. Missa ex E^
66. Unser keines lebt ihm selber.
67. Descende dilecte mi.
68. Hei mihi Domine.
69. Lobet den Herren alle Heiden.
70. Qui sitit, veniat.
71. O Lamm Gottes, ex G^ #.
72. Pro Festo Annunciationis Mariae. Siehe meine Jungfrau.
73. Bestelle dein Hauß.
74. Warum toben die Heiden.
75. Renovamini Spiritus mentis yestrae.
76. Exultemus, gaudeamus.
77. lo plaudite, olaudite.
78. Affice Medicum.
79. Patrem della Messa sopra O Traurigkeit.
80. Missa, Requiem.
81. Sage, was hilfft alle Welt.
82. Potestis bibere calicem.
83. Also hat Gott die Welt geliebet.
84. Nascitur Immanuel.
85. Missa euero [?] Kyrie.
86. Te natum celebrent.
87. Seelig, seelig sind die Frommen.
88. Neu-Jahrs-Music, mittelst des Psalms: Nun danket alle Gott.
89. O Traurigkeit, o Hertzeleid.
90. Der Tod hat zwar verschlungen.
91. Musica electitia German: neue Kühr-music zn 4 chören k 3.
92. Cantata, Herr wo bleibstu so lange. Partitura.
über die Bedeatung der Aphasie fQr den
musikalischen Aosdrack.
Von
Richard Wallaschek.
Ein großer Theil jener Streitfragen, welche die Musikwissenschaft
noch heute beschäftigen, läßt sich schließlich auf die merkwürdige
Thatsache zurückführen, daß der musikalische und sprachliche Aus-
druck, obwohl physiologisch getrennte Prozesse, doch im Gesang zu
emer einheitUchen Leistung verbunden sind. Indem wir nun diese
Eigenthümlichkeit physiologisch untersuchen, wollen wir zunächst
den Sprachvorgang für sich betrachten, soweit dies zur Herstellung
einer Analogie mit dem musikalischen Ausdruck nöthig ist, um dann
zur Charakterisirung des letzteren selbst überzugehen.
»Sprechen heißt verstehen, sowohl sich selbst als andere. Wir
sprechen erst dann, wenn wir unsere Gefühle und Anschauungen be^
greifen und begriffliche Vorstellungen mit denen anderer Personen
auszutauschen vermögen, gleichgiltig ob dies durch Geberde oder
Laut geschieht. Zu diesem Verständniß schlagen Interjektionen und
Nachahmung die Brücke ^a Diesen Interjektionen gehen als erste
hörbare Äußerung inneren Lebens überhaupt Empfindungsrefle^e
voraus (Niesen, das erste LaUen des Säuglings], die erst in weiterer
Entwickelung zum Affekt- oder Gefählsreflex (Interjektion) führen,
der eine vorhergegangene innere Wahrnehmung voraussetzt. Dieser
Gefuhlfflreflex (z. B. der Schmerzensschiei) ist zunächst nur ein i>aku-
stischesc Bild, wie Kußmaul sagt» d. h. er zeigt an, daß irgend etwas
in uns vorgeht, ohne daß diese Anzeige als solche beabsichtigt wäxe«
IKe Quelle dieses akustischen Effekts beim G'^fühlsreflex ist eben das
Gef&hl, das t. B. den Frosch veranlaßt zu quaken, er ist nicht etwa
1 Kutoaul : Die Störungen der Sprache in Ziemßen's Handbuch d. spec. Path.
TL Ther. XIL Anhang. Leipzig 1877, pag. 7.
54 Richard Wallaschek,
eine Leistung des Gehörorgans * , für das er eben so wenig bestimmt
ist, als er von dessen Eindruck ausgeht, obgleich das in späteren
entwickelteren Stadien hinzukommen kann. In diese Beihe gehören
die meisten Lautäußerungen der Thiere, in die wir in der Regel
viel zu viel Zweckbewußtsein verlegen, das ist das Stadium, in dem
auch beim Menschen artikulirter Sprachlaut und musikalischer Ton
in innigster Verbindung stehen, ohne daß man deshalb jetzt schon
von Musik oder Sprache reden könnte, weil wir es eb^i nur mit
Reflexen zu thun haben. Der weitere Schritt ist nun der, daß wir
bestrebt sind mit dem akustischen Bild, als dem Effekt des Gefiihls-
reflexes. Anderen zu zeigen, was es bedeutet; dann erzeugen wir es
aber auch nicht mehr als bloßen Reflex und erreichen unsere Absicht
am schnellsten und sichersten dadurch, daß wir in dem akustischen
Bild, das wir geben, oder dem entsprechenden Zeichen, einen Zweck
nachahmen (Weisen der Thüre.). Die erste Verständigung ist jeden-
falls die Geberde, dann die Sprache in akustischen Bildern, welche
die Onomatopoiie und Lautmetapher zur Nachahmung benützen.
Sie ersetzt ein spezielles Uebereinkommen über die Bedeutung der
Laute, obgleich auch ein solches früh genug durch tägliche Gewohn-
heit zu Stande kommt, namentlich bei schriftlicher Verständigung,
wo die Knotenschrift der vdlden Völkerschaften (die doch nur auf
Uebereinkommen beruht) der Bilderschrift vorangeht. Erst in diesem
Stadium bekommen die Laute ihre Bestimmtheit, erst jetzt entsteht
die e^entliche Sprache mit dem Verständniß als Ursache und Wir-
kung 2. Verstehen ist demnach ein intersubjektiver Vorgang, die
Mittel zu dessen Realisierung wachsen und verändern sich propor-
tional zum Zweck.
Mit diesem entwickelten Sprachvorgang können nun gewisse
krankhafte Aenderungen vor sich gehen, die uns hier deshalb inter-
essiren, weil in ihnen alle Sonderprozesse blosgelegt werden, aus
denen unser Verständigungsprozess zusammengesetzt ist. Sie lassen
sich nach folgenden Hauptgruppen unterscheiden:
1. Störungen der Sprache:
^ Kußmaul a. a. O. pag. 53.
^ Eine andere Theorie Max Müiler's, nach welcher die Sprache durch Be-
grifffibildting entstanden sei, ist von Lubbock, Taylor, Wilson, s&mmtliohen hier
üitirten Ärzten mit so überzeugendem ethnologischen und physiologischen Material
widerleg^ worden, daß Müller schließlich selbst diese Thatsaohen zugab, jedoch
mit der Bemerkung, die oben erwfihnte Spraohableitung gebe nur phonetische
Typen, keine Wurzeln, von denen sich Derivata bilden lassen. Lubbook wider-
legte (Origin of Civilisation) auch diese Behauptung, während Taylor (PrimitiTe
Culture) hinzufügt, die Menschen hätten nicht sprechen gelernt um künftigen
Etjrmologen Wurzeln zu verschaffen, sondern um sich zu verständigen.
über die Bedeutung der Aphasie für den musikalischen Ausdruck. 55
a} Dei Patient versteht alles, kann aber selbst nicht odei nur
mangelhaft sprechen (motorische Aphasie).
b) Patient kann sprechen , versteht aber nicht alles oder nur
mangelhaft (sensorische Aphasie oder Worttaubheit). Da
in diesem Falle die sensorisehen Prozesse nicht mehr in-
takt sind, tritt Yerbalamnesie oft damit in Verbindung auf.
c) Patient kann sprechen, gebraucht aber unrichtige Worte,
die er correkt, oder richtige Worte, die er mangelhaft aus-
spricht (Ataxie oder Paraphasie) z. B. pagnecham statt cham-
pagne,
d) Patient kann nur nachsprechen^ (Verbal- Amnesie). Dieser
Verlust des Wortgedächtnisses geht immer vom Besonderen
zum Allgemeinen ; man verliert früher das »ja« als das »nein«.
Diese Fälle beweisen, daß »die Feinheit des Gehörs und die Ver-
bindung des Wortbildes mit dem entsprechenden Gedanken ver-
schiedene Dinge sind^«. Am deutlichsten zeigt sich das in dem
Falle, wo Patient das Wort wiederholen konnte, die Buchstaben sah
und doch nicht verstand^. Auffallend ist ferner, daß Patienten mit
motorischer Aphasie in der Kegel nicht lesen können, oft selbst das
nicht, was sie selbst geschrieben habend.
2. Störungen im schriftlichen Ausdruck:
a) Patient kann nicht schreiben (Agraphie).
b) Patient kann schreiben, schreibt aber unrichtige Worte und
Buchstaben (Paragraphie oder ataktische Agraphie).
c) Patient kann nur nachschreiben (richtig oder mangelhaft).
Solche Kranken schreiben Gedrucktes in Schreiblettem oder
in Drucklettern ab, je nachdem nebst dem Verständniß des
Schriftzeichens auch die Erinnerung zwischen gedruckten
und geschriebenen Lettern geblieben ist oder nichts. (Am-
nestische Agraphie).
3. Störungen im Verständniß von Schriftzeichen:
a) Patient kann nicht lesen ( Alexie) . Dies kommt, wie wir gesehen
haben, oft in Verbindung mit motorischer Aphasie vor (sog.
1 »The patient cannot think of a word« wie W. R. Gowers sagt. Beispiele
in seinen: Lectures on the Diagnosis of Diseases of the Brain. London 1885
pag. 128; auch: A Manual of Diseases of the Nervous System. London 1886.
Im folgenden ist mit der Seitenzahl das ersteie Werk citirt.'
s Kußmaul a. a. O. pag. 102.
' Ooiren a. a. O. pag. 137.
^ Beispiel bei Hughlin gs- Jackson : Brain, a Journal of Neurology. London
1S7»; VoL I, pag. 319.
5 Beispiel bei Oowers a. a. O. pag. 134.
56 Richard Wallaschek.
relative Alexiej ; außerdem giebt es noch eine absolute Alexie,
deren Folge auch Agraphie ist; in diesem Falle besitzen die
Schriftzeichen keinerlei Vorzug vor den übrigen optischen
Erinnerungsbildern (der Kranke beißt z. B. in die Seife) ^
b) Patient kann lesen, verwechselt aber die zu lesenden Worte
oder Silben oder Buchstaben (Paralexie), trotzdem er manch-
mal noch ganz gut buchstabiren kann, ein Beweis, daß
Buchstabiren und Lesen nicht identische Prozesse sind.
4. Störungen im mimischen Ausdruck:
a) Patient findet nicht die entsprechende Geberde zur Ver-
ständigung. Er kann z. B. nicht jemand zu sich winken.
(Amimie).
b) Patient kennt die Geberde, verwechselt aber ihre Bedeutung,
(Paramimie) ; er nickt mit dem Kopf um zu verneinen, hebt
2 Finger empor, um 4 auszudrücken (auch ataktische Amimie
genannt).
c) Patient kann die entsprechende Geberde nicht selbst her-
vorbringen, wohl aber nachmachen (amnestische Amimie).
Die Bewegungen eines Clarinettisten, die Patient unmittelbar
imitirte, war er später nicht fähig aus eigenem Antrieb oder
auf Geheiß zu wiederholen.
Alle diese Fälle beweisen zunächst, daß unser Gedankenausdruck
aus drei verschiedenen Prozessen zusammengesetzt ist, die vnx deshalb
erwähnen, weil auf musikalischem Gebiete eine dementsprechende
Analogie zu finden ist. Diese Prozesse sind: 1. der sinnUche Ein-
druck des Objekts, 2. der entsprechende Gedanke, 3. seine Verbin-
dung mit einem intersubjektiven Verständigungsmittel (Laut, Schrift-
zeichen oder Geberde) und die Äußerung dieses Mittels. Das be-<-
weist aber weiter, daß ein Denken im Sinne der Erhöhung unserer
Intelligenz nicht gefordert werden kann durch einseitige Ausbildung
unseres Sprechprozesses (Philologie) , sondern nur in Verbindung mit
Gedanken, die sich au den unmittelbaren sinnlichen Eindruck der
Objekte anschließen. Dann erst sind alle drei Prozesse vereinigt 2.
Auch dafür werden wir — mutatis mutandts — auf musikalischem
Gebiete Analogien finden.
^ Näheres Über Beispiele bei C. Wemicke: Der aphasische Symptomencom-
plex. Breslau 1S74, pag. 137. Kußmaul a. a. O. pag. 199. Oogol: Beitrag zur
Lehre von der Aphasie. Breslau 1873. Diss. — Man beachte die Ahulichkeit
dieser und ähnlicher Symptome der Aphasie im weitesten Sinne mit den Erschei-
nungen des Hypnotismus.
* Eine Erziehung aber in Sprachen, die nicht zur Konversation bestimmt
sind, fördert natürlich noch weniger das Denken, sondern nur den obigen 3. Theil.
So bekommen wir eine Art Papagei-Wissenschaft statt Bildung.
über die Bedeutung der Aphasie für den musikalischen Ausdruck. 57
Das merkwürdigste bei den oben erwähnten Fällen ist nicht nur,
dafi Patient imitiren kann, was ihm spontan auszudrücken nicht ge-
lingt, sondern daß ein solcher Ausdruck oft automatisch und als 6e-
fohbreflex gelingt ^ selbst wenn er weder spontan noch imitativ
möglich ist. Die automatischen und Gefühlsreflexe sind also eine
Tom Gedankenausdruck yerschiedene Erscheinung , eine Selbststän-
digkeit, die für den Charakter des musikalischen Ausdruckes , wie
sich zeigen wird, von großer Wichtigkeit ist. Das Beispiel von dem
aphatischen Mädchen, das dem behandelnden Arzt sagt : nI can't say
^no^ nr9^ obgleich sie ^no' allein willkürlich nicht sprechen kann^
Yom sprachlosen Idioten, der im Fieberdelirium zu sprechen begann 2,
Tom Professor der Jurisprudenz, der automatisch abstrakte juristische
Vorträge hält, ohne sonst »seinen Regenschirm verlangen zu können ^cr,
▼om Arzt, der bewußtlos dennoch zur bestimmten Zeit seinen Pa-
tienten richtig zu ordiniren anfängt etc. bestätigen dies für die
1. Gruppe« Das Aifektwort erhält sich länger als die Gedanken-
sprache. In der 2. Gruppe giebt es Personen, die noch immer ihren
Namen unterschreiben, obgleich sie längst nicht mehr schreiben
können. In der mimischen Gruppe ist sogar ein schlagendes Beispiel
von einem Bewußtlosen, der sich täglich vollkommen rasirt^. — Kurz
Beweise genug, die die Selbstständigkeit automatischer Äußerungen
kennzeichnen.
Zur Erklärung dieser Thatsache, daß die Bildung von Begriffen
in andern Gehimpartien und auf andern Bahnen vor sich geht, als
der Ausdruck von Gefühlen und die automatischen Prozesse, hat die
Lokalisationstheorie einen sehr bequemen, jedoch immer mehr be-
strittenen, Aufschluß gegeben. Seit Vulpian^s r>loi de suppleance^y
nach welchem alle Theile der Großhirnrinde dieselben Funktionen
übernehmen können, und der genau entgegengesetzten Lehre Hitzig's
hat man auf verschiedene Art, zuletzt dahin zu vermitteln gesucht,
daß eine Lokalisation nur nach 2 Hauptgruppen erfolgt, nach moto-
rischen und sensorischen, Bewegungs- und Empfindungsvorstellungen ^ ;
1 Ooviera a. a. O. 126.
* The Lancet 1871, voL II, pag. 430.
> Tiousseau in Bulletin de VAead. Imp. de M6decine Tom. XXX, 1864—65,
pag. 654. Dieser Band enthält überdies die ganse berühmte Diskussion .über
Aphasie, die 1865 in der Akademie gehalten wurde, und die zugleieh einen Über-
hßek aber die gesammten Streitfragen gewährt. Eine andere berühmte Diskussion
&&d 186S auf dem Annucd meeting of the British Association zu Norwieh statt
Btteaunn charakterisirt ihr Resultat mit den Worten : Tot homines, tot sententiae
(a. a. O. pag. 99) .
4 >The Brainc V9I. 11, pag. 354 u. f.
5 Oudden: Gesammelte Abhandlungen, herausgegeben von Orashey 1889.
58 Richard Wallaschek,
außeidem haben die erst vor wenigen Wochen publicirten Unter-
suchungen Brown-Sequard's * festzustellen gesucht, daß jede Hemi-
sphäre im Stande ist, willkürliche Hewegungen auf beiden Seiten des
Körpers zu erzeugen, und von ihnen sensorische Prozesse aufzu-
nehmen, so daß wir zwei große Nervencentren besitzen, in demselben
Sinne als wir 2 Augen, 2 Ohren etc. haben. Doch gibt auch er zu,
was vor ihm schon Gowers, Hughlings-Jackson und Kussmaul beob-
achtet haben, daß beim Sprechen das hintere Dritttheil der dritten
linken Stirnwindung (sog. Broca'sche Region) thatsächlich am meisten
eingeübt wird 2, womit aber nicht gesagt ist, daß die rechte Hemi-
sphäre nicht supplementär einzutreten vermöge. Das letztere geschieht
meistens bei Kindern, die selten permanente Aphasie davontragen,
da sie leicht ein rechtsseitiges Sprachcentrum für Sprechen, Lesen
und Schreiben einüben^, aber auch bei Erwachsenen, die mit dieser
neuen Einübung und Aufiiahme neuer Eindrücke oft ein ganz neues
Ego bekommen können. Eine Genesung kann das alte l^o wieder
hervorrufen, und beide Zustände können nun mehrere Male wechseln,
so daß ein doppeltes Ich- Bewußtsein entsteht, von denen eines das
andere nicht kennt (Periodische Aphasie)^. Doch abgesehen von
diesen Komplikationen ist uns die Funktion einer einzigen Hemi-
sphäre beim Sprechen deshalb wichtig, weil der ungestörte Verlauf
emotionaler und automatischer Prozesse trotz Störung des Gedanken-
1 The Forum. New-York. August 1890. — vol. IX, pag. 627.
2 Damit hängt entwioklungsgescfaichtlich die Thatsache zusammeiii daß die
3. linke Stirnwindung bei Mikrocephalen außerordentlich unvollkommen entwickelt
ist, wie Marshall in Untersuchungen über das Gehirn einer Buschmannsfrau, zweier
Idioten europäischer Abstammung und mehrerer anderer Idioten-Gehirne gezeigt
hat (Philo«. Transactions vol. 154; 1864, pag. 501 — 555). Dasselbe gilt vom Ge-
hirn der Affen (vide Carl Vogt bei Batemann: On aphasia pag. 168). Man ist
nun noch weiter gegangen und hat versucht zu zeigen, daß eine Reizung der en&-
sprechenden Gehimpartien bei den Vögeln den Stimmapparat in Aktion setzt;
gerade dadurch aber scheint mir die Vermuthung wahrscheinlich, daß diese Stimm-
äußerung der Vögel nichts specifisch-musikalisches ist, denn die Entwickelung der
obengenannten Partien führt wohl zur Ermöglichung des menschlichen Sprachlautes,
hat aber mit dem musikalischen Ausdruck nichts zu thun. Deshalb scheint es
mir auch etwas übereifrig zu sein, aus den primären Himanschwellungen (dem ent-
wickelungsgeschichtliohen Vorstadium der späteren Großhirnwindungen) bei Bienen
und Ameisen, auf deren musikalisches Talent schließen zu wollen, wie dies be-
reits geschehen ist.
3 Zahlreiche Beispiele bei: A. Claus: Aphasie bei Kindern im Jahrbuch für
Kinderheilkunde. Neue Folge, XVII Bd. pag. 369 u. 400, S. Wilks: Cases of
Disease of the Nervous System in Guy's Hospit. Reports; 3. series, voL XVII,
pag. 156.
^ Beispiele bei Batemann: On aphasia pag. 44; Ribot, Diseases of the Me-
mory pag. 99 — 125.
Über die Bedeutung der Aphasie für den musikalischen Ausdruck. 59
aasdrucks in Folge der Erkrankung einer Hemispkäie beweist, daß
diese letzteren stets von beiden Hemisphären ausgehen, und weil diese
Funktion überdies wichtig ist bei Ausfuhiung bestimmter willkür-
licher Bewegungen, die beim Spielen musikalischer Instrumente eine
80 groBe Rolle spielen. An diese letztere Thatsache hat Wilks einige
interessante Fragen geknüpft^. Zunächst stellt er fest, daß bei der
Einübung eines Armes für eine bestimmte Bewegung nicht der
Muskel oder Nerv des Armes oder das Gehirn als solches, sondern
ein bestimmtes Nervencentrum eingeübt wird, j> woraus folgt, daß
gerade so wie (z. B. beim Violinspielen) die beiden Arme für ver-
schiedene Bewegungen eingeübt sind, der eine, um den Bogen zu
handhaben, der andere, um die Saiten zu streichen, so die beiden
Seiten des Gehirns eingeübt werden müssen, um eine gewisse Be-
wegung auszuführen.« j»Da die beiden Hände beim Spiel nicht ver-
wechselt werden können, so beweist dies , daß jede Seite des Gehirns
speziell für die ihr eigenthümliche Bewegung eingeübt worden sein
muß.« Dieses Beispiel beweist mir nun freilich immer nur, daß
jede Hand blos eine bestimmte Bewegung gelernt hat, ohne etwas
darüber auszusagen, woher diese Beweguug geleitet wird ; doch hätte
Wilks als passenderes Beispiel den Klavierspieler anführen können,
dessen beide Arme dieselben* Bewegungen ausführen, dem es aber
nicht ohne besondere Übung gelingt, mit der rechten Hand den
Baßschlüssel, und mit der linken den Violinschlüssel zu spielen.
Selbst ohne ein »Übergreifen« der Hände kann der Anfänger, der ge-
wohnt ist, primo zu spielen, nicht ohne weiteres den secondo im Baß-
schlüssel spielen, nicht weil er die Baßnoten etwa nicht lesen kann
er kann dies ganz gut für die linke Hand allein), sondern — wir
können hier Wilks citiren — : »Der Grund, warum die linke (oder
rechte) Hand nicht unverzüglich der Aufforderung des Gedankens
folgen konnte, war einfach, weil sie dazu nicht geübt wurde, und
deshalb unfähig war es zu thun.« Es scheint überhaupt, daß die
meisten Menschen — wie Brown-Söquard mit Recht bemerkt hat —
nur eine Gehimpartie für Erlernung der Handbewegungen einüben
und alle anderen motorischen Elemente ganz unbenutzt lassen. Mit
jeder Hand selbstständig zu handeln ist nicht allen Menschen ohne
weiteres mißlich, und die Übung musikalischer Instrumente beweist
das täglich. Schon das einfache Beispiel mit der rechten Hand der
Brust entlang auf- und abzugleiten, und zu gleicher Zeit mit der
linken senkrecht darauf zu schlagen ist manchen Menschen unmög-
Uch, und ich habe bemerkt, daß Leute, die ein Musikinstrument
1 Guy's Hospital Keports. Neue Serie XVII. pag 158.
g() Richard Wailaschek,
spielen, dies viel leichter, oft ohne weiteres ausführen können, als
andere, die keine instrumentale Vorübung haben.
Noch eigenthümlicher, als auf dem Gebiete der Instrumental-
musik, ist die Thätigkeit des Gehirns beim Singen in Anspruch ge-
nommen, und gerade hier geben uns die Fälle Ton Aphasie einen
neuen Aufschluß über die Natur der musikalischen Äußerungen über-
haupt. Es zeigt sich nämlich, daß sie auf denselben Bahnen und
mit Hilfe derselben Gehirnpartien ausgeführt, beziehungsweise vor-
bereitet werden^ wie die automatischen und Gefühlsäußerungen. Zur
Bestätigung dieser Ansicht dienen die folgenden Krankheitsbilder,
deren Betrachtung, wie wir sehen werden, auch noch in anderer Be-
ziehung für die Musikwissenschaft wichtig ist.
Sehr häufig wird namentlich bei Kindern die Bemerkung ge-
macht, daß sie trotz Aphasie ganz gut singen können ; sie äußern in
solchen Fällen gewöhnlich nur ein Wort, oder eine oder mehrere
Silben (Jackson in The Lancet 23. Sept. 1871. Vol. 2. pg. 430).
Ein Aphasischer sang Tutres-nettemenU die ganze Marseillaise und Pa-
risienne nur mit der Silbe ntcmty der einzigen, die er hervorbringen
konnte ^ ein anderer sang ein Lied, das er während Beiner Krank-
heit korrekt komponirt und niedergeschrieben hatte, während er sich
auf dem Klavier begleitete (Knoblauch: Über Störungen der musika-
lischen Leistungsfähigkeit in Folge von Gehirnläsionen. Heidelberg
Dissert. 1888. pg. 8). Häufig ist in solchen Fällen die Textaussprache
auf die wenigen Worte und Silben beschränkt, die man überhaupt
noch gebrauchen kann.
Aber auch ein Gesang ohne Textaussprache kommt bei Apha-
sischen vor. Ein Sjähriger Knabe, der nur »J7er&« und i^Eleanora
sagen konnte und im Alter von 7 Monaten j» Wasser im Gehirne
hatte, konnte ebenfalls singen, obgleich er den diesbezüglichen Bitten
Jackson^s gegenüber unerbittlich blieb. Sein Vater aber berichtete,
i>daß er die Noten der Melodien ganz korrekt wiedergiebt, doch dabei
keine Worte ausspricht. Der Arzt, der ihn außerhalb des Spitals be-
handelte, berichtet, daß er den Knaben mehrere Melodien habe
singen hörenu. Es kann freilich auch der Stimmverlust (Aphonie)
mit Sprechverlust zusammenfallen, obgleich das nach Jackson selten
vorkommt. JiFast alle Patienten, welche die Sprache verloren haben,
können einige Worte äußern, wie xja« oder Jineimr, und sie behalten
die f%higkeit, den Ton der' Stimme zu verändern« (Lancet pg. 431).
^ J. Falret: Aphasie, Aph^mie, Alalie im Dlctionnaire encyclop^dique des
Sciences M^dicales von A. Dechambre. Paris 1866. V. Band, pag. 620. — Falret
hat sich überdies die Mühe genommen am Schluß des Artikels die ganse Literatur
über Aphasie von 1585 — 1866 zusammensustellen.
Über die Bedeutung der Aphasie für den musikalischen Ausdruck. ß\
Zahlreich sind ferner die Fälle, wo der Patient, trotz Aphasie,
mm Gesang Worte ausspricht, die er sonst nicht auszusprechen oder
selbst nachzusprechen im Stande ist. Ein 10 jähriger Knabe, der nur
»heren und »ihereit und »/ toon^h zu sagen im Stande war, konnte zum
Gesang und nur zum Gesang auch andere Worte sprechen, wie:
«Joseph Mary, Maggie May, Not for Joet (Lancet a. a. O.). Ein
Offizier sang korrekt den Text des ersten Verses der Marseillaise,
obgleich er sonst nur npardn und »^ sprechen konnte (Grasset bei
Knoblauch a. a. O.). Ein anderer Patient (Gowers a. a. O. pg. 126)
sprach in der ganzen Zeit, vom Beginn der Krankheit bis zu seinem
Tode, nur tyes^ und »no«, einmal sagte er imingn^ als der Hausarzt
ihm good moming wünschte. Eines Tages begann einer der Patienten
im Hospital zu singen: )>/ dreamt that I dwelt in marhle hallsa. Der
sprachlose Patient stimmte ein und sang den ersten Vers mit dem
anderen Patienten, und dann den zweiten Vers allein, indem er
jedes Wort korrekt ausspracht Ein 6 jähriges Mädchen, das mit
«rechtsseitiger Hemiplegie mit Betheiligung der rechten Gesichts-
hälfte und Aphasie« behaftet war, »konnte anfangs gar nicht sprechen,
später sagte es »Mama«, scheint auch einzelne Worte nachgesprochen
zu haben und konnte das Liedchen : >> Weißt du, wie viel Sternlein
stehen« u. s. w. singen, ohne den Text des Liedes hersagen oder
einzelne Worte desselben willkürlich sprechen zu können«. Von
einem 2 Monate späteren Stadium heißt es: «Spontan bringt sie
nur das Wort »Mammea hervor; sie vermag einzelne Worte nachzu-
sprechen, aber nur schlecht und unvollkommen. Ihr Liedchen:
«Weißt du u. s. w.« singt sie, wenn man es anfängt, mit richtiger
Melodie wie ein aufgezogenes Uhrwerk ab ; bleibt sie einmal stecken,
80 vermag sie nicht fortzufahren oder von neuem zu beginnen,
^mmtliche Worte des Textes, von denen sie kein einziges spontan
sprechen kann, werden beim Singen korrekt artikulirt.a (Nähere aus-
führliche Krankengeschichte bei Knoblauch a. a. O. 4).
Nicht genau beobachtet ist ein Fall, wo der Patient Verbalam-
nesie hatte und von dem es heißt : j)Was er an Gesängen und Ge-
beten gewußt, hatte er meistens« (also doch nicht ganz) »vergessen«
(AUg, Zeitschr. für Psychiatrie Tom. VI 1849, pg, 690).
Eine weitere Betrachtung ähnlicher Beispiele ergiebt, daß wir auch
in rein musikalischer Beziehung verschiedene Gruppen von Störungen
unterscheiden können, die denen der Aphasie (im weitesten Sinne des
Wortes) parallel laufen und die wir einem passenden Vorschlag
Knoblauches folgend »Amusieu nennen wollen. Diese sind:
1 Die Sektion ergab eine Embolie der Arteria ceiebri media und eine Zer>
itörung der ganzen motorischen Sprachregion der linken Hemisphäre.
g2 Richard Wallaschek,
1« Störungen des gesanglichen Ausdrucks:
aj Motorische Amusie. Patient kann nicht mehr singen. !Es
scheint, daß diesbezügliche Fälle in der Theatergeschichte
öfter vorkommen, wo bei Sängern oft plötzlich ein theil-
weises oder gänzliches Unvermögen zu singen eintrat, doch
sind sie nicht immer sorgfältig beobachtet und mitgetheilt.
Ein genau überlieferter Fall ist folgender: 'i>Une de mes
mal<ide8y assez bonne musicienne^ retrouvait parfaitement ses
noteSj pouvait meme ecrire de la musique^ en composer; eile
reconnaissait un air^ lorsqvüelle Ventendait^ mais eile etait
incapable de le fredonnera (trällern) ^
b) Sensorische Amusie oder Tontaubheit. Patient hört keine
Töne mehr oder unterscheidet sie nicht. Die übrige Ge-
hörsempfindung kann dabei intakt bleiben oder mehr als
normal entwickelt sein; Patient kann manchmal selbst
singen, wenn auch meist unrichtig. .Die Wahrnehmung
des Rhythmus und der Schallstärke verschafi't sogar eine
Art Vergnügen an der Musik. Es ist bisher nicht voll-
kommen entschieden, ob ein Fall von Tontaubheit, wie
Grant Allen einen berichtet hat*-^, wirklich auf eine Abnor-
mität in den Nervencentren zurückzuführen und deshalb
an dieser Stelle zu erwähnen ist. Grant Allen selbst ist der
Ansicht, daß er sich eher durch einen Fehler der peripheren
Organe erklären läßt, doch hat Edith 8imcox ihren eigenen
ähnlichen Fall einem Defekt in den Nervencentren zuge-
schrieben.
c) Paramusie. Patient kann singen, gebraucht aber unrich->
tige Töne und Intervalle. Von einem solchen Falle heißt
es: Patient war nicht im Stande »Heil dir im Siegerkranz«
korrekt vor- und nachzusingen, obgleich er musikalisch
war und einem Gesangverein angehörte. »Nicht bessere
Erfahrungen«, berichtet Käst weiter, »machte ich mit Gesang-
buchmelodien selbst der allergeläufigsten Art ('Eine feste
Burg' u. s. w.). Immer zeigte es sich, daß der Rhythmus
der Melodie stets richtig getroffen und jede Note nach ihrenx
Werthe richtig gehalten wurde, dagegen durchaus unrich-
^ Proust: Arch. gön^ral de M6d. VI. ser. tom. XIX. pag. 3t0; vgl. auch
Knoblauch a.a.O. pag. 19 u. K.ußmaul a. a. O. pag. 181; Stumpf, Tonpsych. X^
pag. 282 ist infolge des Kußmaul'schen Übersetzungsfehlers in der Erklärung irre«
geführt worden, weshalb ich es vorzog den Fall im Urtext zu citiren; Kibot Dis.
of the memory pag. 145.
« Mind 1878, pag. 157 u. 403; Edith Simcox ebenda, pag. 401.
über die Bedeutung der Aphasie für den musikalischen Ausdruck. g3
tige Töne und falsche Intervalle zu Tage kamen — und
dies — trotzdem Patient sich offenbar seiner schwachen
musikalischen Leistung bewußt und daher nicht ohne
Schwierigkeit zu weiteren Experimenten zu bewegen war.
Es wurde nun der Versuch gemacht^ ihn Töne nachsingen
zu lassen, und hierbei gleichzeitig eine sehr erhebliche
Störung konstatirt, obwohl Patient die Unrichtigkeit der
von ihm proferirten Töne erkannte und seinen Unmuth über
ihr Mißrathen kundgab. Wurde der Versuch derart modi-
ficirt, daß Patient mir Töne angab, die ich nachzusingen
hatte, so entgingen dem Kranken selbst geringe Abweich-
ungen nicht ein einziges Mal (es war also motorische Pa-
ramusie), immer korrigirte er mit lautem «nein, nein« und
gab erst dann seine Zustimmung zu erkennen, wenn der
richtige Ton getroffen war. Vorgesungene Weisen und Lied-
anfänge erkannte er gut und machte Äußerungen der Un-
zufriedenheit, wenn ihm bekannte Lieder verstümmelt vor-
gesungen wurden. In der Kenntniß der Notenschrift ist
Patient nicht genügend vorgeschritten, um eine zuverlässige
Prüfung in dieser Richtung bestehen zu können. Auch
spielt er kein musikalisches Instrument. (Käst »Über Stö-
rungen des Gesangs und des musikalischen Gehörs bei
Aphasischen.« Münchener med. Wochenschr. 1885, No. 44,
pg. 624, citirt nach Knoblauch.). — Nicht zu verwechseln
sind diese Fälle mit Aphonie. nAphonia implies defect in
ihe larynx itselfm (Jackson a. a. O. u. insbes. A. Dechambre
in Dict. enc, pg. 644 mit Literatur),
d. Wahrscheinlich giebt es auch eine musikalische Amnesie,
entsprechend der Verbalamnesie, wo Patient nur nach-
singen kann. Für diese meine Vermuthung kenne ich jedoch
noch kein Beispiel.
Wie sehr alle diese Fälle von motorischer Amusie unabhängig
sind von Aphasie, d. h. wie sehr der musikalische Ausdruck und die
Erfindung ihren eigenen, von Vorstellungen (nicht von Gefühlsreflexen)
unabhängigen Weg geht, beweist vor allem ein Fall, den Dr. Lasegue
beobachtet hat, und den Trousseau [Bulletin de VAcademie Royale
de Medecine vol. 1865, pg. 647 und 659) Falret (a. a. O. 620) und
Jackson (a. a. O. pg. 431) mittheilen. Patient konnte weder sprechen
noch schreiben, und doch schrieb er eine ihm vorgesungene Melodie
korrekt nieder. Aus dieser selbstständigen Erhaltung des Noten-
tchreibens folgt, daß es wohl auch selbstständig verloren gehen
kann. Wir hätten dann
ß4 Hiehard Wallascliek,
2. eine rein musikalische Agraphie und vielleicht auch
Paxagraphie und amnestische Agraphie. Jackson vermuthet, daß es auch
möglich sein müßte , daß ein Patient nicht Worte, wohl aber Musik
lesen kann [Lancet, pg. 431); dann müßte es auch
3. eine musikalische Alexie und Paralexie geben, und
schheßlich giebt es thatsächlich auch
4. ein bloßes Unvermögen zuspielen (musikalische Amimie
luid Paramimie). Einen Fall hierzu erzählt Finkeinburg (Berliner klin.
Wochenschr. No. 37 und 38, 1870, pg. 450). Ein holländischer Lehrer ,
Geiger, wurde von einer sich allmählich steigernden Schwäche der linken
Hand befallen, zu der später auch aphasische Störungen traten. Dann
bemerkte er, »daß er die Noten nur mit großer Schwierigkeit und häufi-
gen Verwechslungen zu lesen und zu spielen vermochte Nach
dem Gehör wußte er Melodien auf der Geige mit wenig verminderter
Fertigkeit wiederzugeben, nicht aber auf dem Klavier, indem ilini
häufige Verwechslungen der Tasten unterliefen, welche er zwar sofort
heraushörte und verbesserte, die sich aber bei Wiederholung des-
selben Stückes doch jedesmal zu seinem großen Verdrusse wieder-
holten. Nach dem Gehör Noten niederzuschreiben vermochte er
nicht.« Es ist leider nicht gesagt, inwieweit er diese letztere Fähig-
keit, die ja durchaus nicht selbstverständlich ist, früher kannte. Es
liegt somit musikalische Paramimie in Verbindung mit musikalischer
Paralexie, Paragraphie (?) und Paraphasie vor. Wie weit Patient
singen konnte, ist leider auch nicht gesagt. Zu bemerken sind die
Linksseitigkeit der Lähmung und die nach der Obduktion offenbare
Läsion der rechten Hemisphäre; merkwürdig ist die Paraphasie trotz
unversehrter linker Hemisphäre. War Patient vielleicht linkshändig?
Außerdem giebt es Beispiele, die beweisen, daß auch das musi-
kalische Gedächtniß sich unter Umständen eine gewisse Selbst-
ständigkeit bewahrt. »Manche Idioten , die sonst für alle anderen
Eindrücke unempfänglich sind, haben eine außerordentliche Empfäng-
lichkeit für Musik und sind im Stande ein Lied, das sie einmal ge-
hört haben, zu behaltena (Ribot a. a. O., pg. 132). »Ein Bursche,
der in Folge eines schweren Schlages auf den Kopf 3 Tage bewußtlos
dalag, fand, als er zu sich kam, daß er alle Musik verlor, die eo:
gelernt hatte {»lost all the musica) obgleich sonst nichts anderes aus
ihm herausgeschlagen wurde«. (Carpenter: Mental Physiology, 4 ed.,
London 1876, pg. 443). Allerdings ist das bloße Nicht-erinnern-
können noch keine Amusie, sondern musikalische Amnesie, und wenn
wir obigen Bericht ganz wörtlich nehmen, so müssen wir auch an-
nehmen, daß der Bursche vielleicht sogar in der Lage war, sich
weitere Musik anzueignen; dennoch ist eine solche Selbstständigkeit
des Gedächtnisses für Musik allein immerhin auffallend.
über die Bedeutung der Aphasie für den musikdischen Ausdruck. g5
Eine vollständige Analogie zwischen Aphasie und Amusie ist
Torläufig noch Hypothese, insofern als diesbezügliche Fälle fiii alle
Gruppen isolirt nicht bekannt sind. Zweite und dritte Gruppe fehlen.
Es steht aber durch die bisherigen Beispiele schon fest, daß der
musikalische Ausdruck unabhängig vom begrifflichen ist; wie weit
sich das auf das beiderseitige Lesen und Schreiben miterstreckt, ist
deneit noch zu wenig beobachtet. Wir wissen femer, daß unter dem
Eindruck Ton Aphasie manche Kranke die Kompositionsfähigkeit
behalten und die Komposition schreiben können, andere mit der
Notenschrift auch ihr Kompositionstalent verlieren. Das merkwür-
digste ist, daß die künstlerische Thätigkeit überhaupt, nicht nur die
musikalische, diese Selbstständigkeit besitzt. Interessante diesbezüg-
liche Bemerkungen hat Trousseau gemacht. [Bulletin de VAccidemie
Imperiale de medecine. Tom. XXX. 1864, 1865, pg. 653). Ein
Graveur, der an Paraphasie litt, also sprechen konnte, aber unrichtig
aussprach und unrichtige Worte gebrauchte, war nicht mehr im
Stande, in derselben Weise wie früher Zeichnungen zu entwerfen.
»Je Tinmte alors ä dessiner une herg^e, et il crayonne qtcelque chose
dinforme et gut n^avait rien d'humain, Voilä donc un dessinateur qui,
entre auires pertes que son intelligence a faites , a perdu la memoire
du dessin^ comme taut ä Iheure un finander avait perdu celle des
chiffres,iL Falret bemerkt, daß unter den Aphasischen, welche auch
nicht schreiben können, aber ihr Zeichentalent behalten
haben, es solche giebt, welche aus dem Gedächtnisse zeichnen, und
solche, die blos abzeichnen können (a. a. O., pg. 620). Es scheint
also auch beim Zeichnen ähnliche Gruppen von Störungen zu geben
wie bei Aphasie und Amusie, und die Yermuthung liegt nahe, daß
zwischen Schreiben und Zeichnen ein Unterschied besteht, der —
analog dem von Sprechen und Singen — in letzter Linie auf dem
Ton Vorstellungen und Gefühlen beruht.
Einen weiteren Beleg für die Unabhängigkeit des musikalischen
vom begrifflichen Ausdruck liefern die Beispiele von Musik bei
Idioten, deren verhältnißmäßig richtiger Gesang trotz Störungen
der Sprache, intakt bleibt. Selbst stumme Idioten können manchmal
im Affekt Töne von verschiedener Höhe hervorbringen ^ Ja so ver-
schieden ist der Prozeß des Ausdrucks beim Singen und Sprechen,
daß Musik selbst den Stotterern die fehlerlose Aussprache ermöglicht.
Alle diese Fälle nun geben uns in mehrfacher Beziehung zu denken :
1. Mag die Beobachtung und Erklärung obiger Beispiele noch
so viel zu wünschen übrig lassen und das Gebiet der Hypothese hier
1 Kußmaul a. a. O. pag. 222, Claus a. a. 0. p. 370.
1891.
gg Kichard Wallagchek,
noch so groß sein, eines ist gewiß, daß analog dem Sprachprozeß
auch der musikalische Ausdruck aus physiologisch trennharen Ele-
menten besteht, die selbstständig erworben werden und verloren gehen
können, die aber nur alle vereinigt den vollen musikalischen Aus-
druck ergeben. Diese sind: 1. Der sinnliche Eindruck (Gehörs-
eindruck] des Tones und die in der Erinnerung festgehaltene Vor-
stellung desselben. 2. Verbindung des Tones mit einem Notenbild,
3. dem Ausfuhrungsapparat. Beim Singen nun muß das Notenbild
mit der Vorstellung des Tones verbunden werden, beim Spielen eines
Instrumentes kann die zweite oder selbst die erste Gruppe, ja selbst
beide können wegfallen, obgleich eine Vereinigung aller drei Prozesse
vom musikalischen Standpunkt aus wünschenswerth ist. Eine im eigent-
lichen Sinne musikalische Übung wird stets alle drei Prozesse
enthalten müssen, und um deren vereinte Funktion nachweisen zu
können, wird es nöthig sein, auch Gruppe eins und drei zusammen
zu üben, das heißt nach dem Gehör zu spielen (selbstgedachtes oder
gehörtes), ferner Gruppe eins und zwei zu üben, d. h. nach dem
Gehör schreiben und umgekehrt vom Blatt singen zu lernen. Die
Verbindung der Gruppe zwei und drei ist schon ein bloßes Surrogat
des vollen Ausdrucks, auf das sich dennoch die meisten Musikdüet-
tanten mangels Befähigung oder besseren Wissens beschränken. Nur
in Verbindung mit den obengenannten Übungen hat diese letztere
Kombination einen unleugbaren Werth für die musikalische Auf-
führung. Ganz unmusikalisch aber ist es, musikalische Übungen auf
Gruppe drei allein zu beschränken ; das ist aber leider der häufigste Fall
des modernen Musikunterrichtes, geisttödtende Skalen und Übungen
auswendig einzulernen, ohne die Fühlung mit dem lebendigen Kunst-
werk konstant aufrecht zu erhalten. Je nach der Individualität des
Schülers mag der praktische Unterricht hie und da ausnahms-
weise die Noth wendigkeit ergeben, eine oder die andere der ele-
mentarsten Bewegungen für sich allein zu üben, darüber hinaus
sich einzulassen hat vom musikalischen Standpunkt keinen Sinn.
Das Auswendigüben von Skalen und stereotypen Etüden ist nur eine
Übung des Ausführungsapparates, die, für sich allein vollkommen
zwecklos, ihren Werth erst durch beständige Verbindung mit dem
lebendigen Kunstwerk oder wenigstens mit dem Notenblatt bekommt.
Diese Verbindung zu vernachlässigen kann für den Fortschritt nur
hinderlich sein, weshalb wohl gerathen ist, nicht zu schwere Sachen
zu üben, um nicht zu lange beim Alten zu bleiben, und die Ver-
bindung mit neuen Noten oder Gehörseindrücken zu verlieren. Wer
das außer Acht läßt, der vergißt, daß man bei gewissen mechanischen
Übungen weder Musik übt noch Klavier spielen lernt, sondern einfach
Über die Bedeutung der Aphasie für den musikalischen Ausdruck. g^
die Hand bewegt. Diesen Zweck würden andere Bewegungen in
weit gesundheitsförderlicherer Weise erreichen. Manche Schulsysteme
gehen sogar so weit, eine Dehnung, Streckung, eine Art Massage
der Hand nach anatomisch-physiologischen (?) Prinzipien vorzuschreiben,
und durch allerlei Kunststücke die Schule recht lang und das System
recht umständlich zu machen. Die Kunst profitirt davon nichts,
obgleich mancher andere Profit dabei herauskommen mag. Was
hilft aber dem so Geübten die Bewegung der Hand, wenn er sie im
entscheidenden Moment nicht mit Notenbildern oder Tonvorstellungen
in Verbindung zu bringen weiß'? Er kann nicht lesen und nicht
hören, er erkennt nicht gleich, daß er eine Bewegung auszuführen
hat, die ihm vielleicht für sich ganz geläufig ist, und steht so im
praktischen Effekt auf einer Stufe mit dem, der sie nie gelernt, aber wenig-
stens Zeit und Mühe erspart hat. Das System dieser Schule ist genau so,
als wollte man Jemand vernünftiger reden lehren, indem man ihm
die larynx massirt. In ähnlicher Weise wie noch heute manche
Musiklehrer mit todten, mechanischen Übungen die musikalische
Ausbildung bestenfalls zurückhalten (wenn nicht für alle Zeiten un-
möglich machen) haben seinerzeit unsere Schulmeister in ihrem
Unterrichts-vSystemff zuerst Monate lang buchstabiren gelehrt, bevor
sie lesen lehrten. Sie wußten nicht, daß Leute, die lange nicht mehr
lesen können, noch ganz gut buchstabiren können (wie die Fälle bei
Aphasie gezeigt haben), daß also Lesen und Buchstabiren ganz ver-
schiedene Dinge sind. So haben sie es glücklich zu Stande gebracht
mit ihrem »System« dem Lesenlernen positiv entgegenzuarbeiten.
In ähnlicher Weise wird ja auch bis auf den heutigen Tag der Prozeß
des Denkens, durch das ausschließliche Studium eines todten Sprach-
mechanismus, der alle Verbindung mit dem täglichen Leben verloren
hat, positiv unterdrückt, statt es durch lebendige Anschauung, Be-
lehrung am unmittelbar sinnlichen Eindruck zu fordern. Ich fürchte,
daß so auch die musikalische Ausbildung in vielen Fällen unterdrückt
wird zu Gunsten einer einseitigen, aber systematischen Handtumübung.
Ich möchte dabei durchaus nicht mißverstanden werden und erlaube mir
daher, zur Vermeidung unrichtiger Auffassungen ausdrücklich zu wieder-
holen, daß ich nicht alle Übungen überhaupt vermieden sehen möchte,
wir sollen und müssen üben, aber am lebendigen Kunstwerk,
von dem soviel als möglich kennen zu lernen für unsere musikalische
Ausbildung gerade so wichtig ist, wie für die Förderung unseres Wissens
die Anschauung der Natur ; viel richtiger jedenfalls, als das anstrengende,
musikalisch unerfreulich Durchüben von Schulmeister-Übungen ^
* Wie oft hören wir sagen, wer die Schule von X. durchgespielt hat, ist ein
5*
gg Richard Wallaschek,
2. Aus dem Umstände, daß der Text eines Liedes sich zusammen
mit der Melodie als Gefühlsäußerung erhält, wenn der Gedanken-
ausdruck längst verloren gegangen ist, läßt sich ein weiterer Schluß
auf das Wesen des Textes überhaupt ziehen, das denn auch bereits
Yon verschiedenen Seiten charakterisirt wurde.
Falret erinnert daran, daß man manchmal einen analogen Fall
im normalen Zustande beobachtet. r> Certainea personnes, habiiuees ä
chanter des romances, ne se rappellent lea paroles qtien les chatUant
et ne peuvent plus les retrouver lorsqu^eÜes veulent se bomer ä Ics
reciter.ü Die Erfahrung kann jeder an sich selbst machen; ein Ge-
dicht von Heine zu sprechen fällt unendlich schwer, selbst wenn
man es unzählige Male, aber nur als Text zu Schumann's Musik
auswendig gesungen hat. Man kann das in der Regel nur vermit-
telst einer komplizirten Operation, indem man sich das ganze Lied
sammt Melodie vorstellt, aber nur die Worte laut spricht, wobei es
leicht unterlaufen kann, daß man unwillkürlich in den Tonfall, gewiß
aber in den Rhythmus der Melodie verfallt. Nur dadurch, daß sich
Gefühlsäußerungen und Vorstellungsausdruck auf verschiedenen
Bahnen vollziehen, und die Musik zu den ersteren, die Sprache zu
den letzteren gehört, erkläre ich mir eine Erscheinung, die mir längst
angefallen ist. Wenn ich eine neue, mir vollständig unbekannte
Oper im Klavierauszug mit Text spiele und dabei die Gesangspartie
leise mitsinge (sammt Text) , so habe ich keine klare Vorstellung
von dem Gang der Handlung, auch wenn ich mich noch so sehr
bemühe genau zu lesen. Ich muß stets zu diesem Zweck den Text
für sich allein lesen. Auch wenn ich eine Oper zum ersten Male
höre, merke ich, daß ich einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf^
um den Sinn der gesungenen Worte, und einer anderen, um den
Verlauf der Musik zu verfolgen. Erst bei näherer Bekanntschaft mit
dem Werk genügt dieselbe Aufmerksamkeit für alle Vorgänge. Die
Praxis der Sänger weiß längst, daß derjenige, der den Text einer
Arie oder nur einzelne Worte vergißt, die Melodie mitvergißt, und
daß es ungemein schwer ist, im entscheidenden Moment ein anderes
Wort zu substituiren ; das erfordert eben einen Gedanken, dessen
Entstehung und Äußerung sich auf andern Bahnen vollzieht als der
Gefühlsausdruck der Musik. In der Oper genügt der Souffleur der
Worte für die Erinnerung an den ganzen musikalischen Zusammen-
hang, d. h. die Sänger hören und sprechen die Worte nicht als Ge-
dankenausdruck, sondern als bloße Modifikation der Artikulation
Tollkommener Künstler. Als ob es wirklich auf eine Anzahl Handbewegungen
ankäme. Daß der so Geübte weder lesen noch musikalisch auffassen gelernt hat,
scheint dabei übersehen zu werden.
Ober die Bedeutung der Aphasie für den musikalischen Ausdruck. g9
(wie das do re mi) . Deshalb hat Gowers meiner Ansicht nach toII-
ständig Recht, wenn er im Anschluß an die oben mitgetheilten Falle
sagt: »In der Vokalmusik werden die Worte hauptsächlich benützt
als Unieistiitzung [vehicles) für den Ton. Die (willkürlichen) Inten-
tionen, welche die Worte formell übertragen, sind kaum je wirklich
als solche ausgedrückt« (Gowers a. a. O. 122). »Nicht einer hat die
Absicht, die Gedanken auszudrücken, die in den Worten des Liedes
enthalten sind. Die Worte werden automatisch gebraucht, und diese
automatische Äußerung muß bewirkt worden sein durch die rechte
Hemisphäre« (a. a. O. 127). Was für den Ausdruck gilt, gilt auch
für das Hören. Allerdings, wir können auch ein Lied im Text ver-
stehen, durch die indirekte komplizirte Operation, daß wir die Worte
für sich, getrennt nachbetrachten. Das ist weder leicht, noch von
Tomherein möglich, eine gleichzeitige Würdigung der Musik und des
Textes gelingt schwer und verlangt Übung. In fremden Sprachen,
die man nicht so genau beherrscht, ist das Textverständniß immer
mit einer Einbuße an musikalischem Genuß verbunden. Allerdings
können wir auch den Inhalt des gesungenen Textes auszudrücken
beabsichtigen, dann aber muß die Musik zum recitativischen Aus-
druck herabsinken, oder es muß ihr, wie in der Oper, die ganze
Darstellung zu Hilfe kommen. Vom Spiel versteht man mehr als
vom Text. Man versuche aber einmal den Inhalt eines Oratoriums
zu erzählen, ohne den Text gelesen zu haben. Wir sprechen und
hören anders, wenn wir singen und wenn wir reden, und nicht die
Tongebung allein, sondern auch der dem musikalischen Ausdruck
zu Grunde liegende Nervenprozeß hindert oder erschwert die deutliche
Aussprache und deren Verständniß, sofern nicht beides eigens geübt
ist. Ebensowenig als wir durch das Worte-Sprechen beim Gedanken-
ausdruck schon auch das Textsprechen beim Singen lernen, können
wir mit Erwerbung oder Verlust des letzteren das erstere erwerben
oder verlieren. Knoblauch bemerkt im Anschluß an Gowers: »Es
ist nicht zn leugnen, daß diese von Gowers aufgestellte Ansicht
etwas Wahrscheinliches an sich hat; indessen läßt sie die Frage
offen : Auf welchen Bahnen der rechten Hemisphäre vollzieht sich
das Singen artikulirter Textworte? Auf welchem Wege und an
welcher Stelle findet eine Vereinigung des musikalischen Tones mit
dem artikulirten Worte statt? i« (a. a. O. pg. 10). Zu diesem Zwecke
^ Diesbexügliche sehematische Aufzeichnungen der muthmaßlichen Bahnen, auf
welchen der musikalische Ausdruck und die Auffassung verlaufen, finden wir u. a.
beiBaginsky Berliner kL Wochenschr. 1871, 36, 37; Wemicke a. a. O.; Kußmaul
a. a. O. 182; Gowers a. a. O. pag. 130; Spamer Arch. f. Psych. VI, pag. 531,
lidiüieim, Deutsches Axch. f. kl. Med. XXVI, 207.
70 Richard WaUaschck,
hat Knoblauch eine Erweiterung des Lichtheim'schen Schema's ver-
sucht. Mir hat jedoch die Erklärung von Gowers nicht den Eindruck
gemacht, als ob sie die obigen Fragen offen lieBe. In den ange-
führten Beispielen sangen nämlich die Aphasischen immer nur die
Worte, die sie zur Melodie ursprünglich gehört hatten, nicht zu jeder
beliebigen oder zu einer bestimmten Melodie jeden beliebigen Text.
Die Erklärung ist hier dieselbe wie beim automatischen Ausdruck,
bei dem sich annehmen läßt, daß durch häufige Wiederholung eines
von der linken Hemisphäre ausgehenden Ausdrucksprozesses auch die
rechte, wenn auch nur für den automatischen Gebrauch nur formell
eingeübt wird, was sich dann auch abwickelt, wenn die rechte aus
andern (musikalischen) Gründen und in Folge einer Läsion der linken
Seite allein zu funktioniren beginnt. Ob diese Vermuthung richtig
ist, müßte eine genauere Betrachtung der Fälle ergeben, wobei ins-
besondere zu beachten wäre, inwieweit der Patient schon vorher mit
Text und Musik eines während der Aphasie reproducirten Liedes
vertraut war. Die Hoffnung auf genauere und zahlreichere Beob-
achtung solcher Fälle ist aber leider der einzige Trost, mit dem jede
Abhandlung über obiges Thema schließt. Indeß, wie immer die
Antwort ausfallen möge, das eine läßt sich jetzt schon sagen, daß
von einer eigentlichen Einheit zwischen der Melodie und dem Text-
verständniß nicht die Rede sein kann, da der musikalische Ausdruck
sich dieselbe Unabhängigkeit vom Gedankenausdruck bewahrt hat
wie die Affektsprache. Daraus folgt weiter, daß die musikalische
Behandlung eines Textes immer nur in Form eines Kompromisses
geschehen kann, dessen praktische Durchfuhrung meiner Ansicht
nach von unseren großen Meistern längst gelöst ist, wenn auch theo-
retische Bedenken noch immer nicht zur Ruhe gelangen. Wer bei
diesem Kompromiß im Großen und Ganzen besser herauskommt, das
wird man daraus ersehen können, daß die emotionelle Erregung eine
kräftigere , auf weitere Nervenpartien sich erstreckendere, ist. »Sie
verbreitet sich darum gewöhnlich nicht bloß auf die höheren und
niederen cerebralen Bewegungscentra , sondern auch auf die spi-
nalen und sogar auf die sympathischen Ganglien der Eingeweide«
(Kussmaul pg. 60). Doch wir dürfen nicht übersehen, daß aller-
dings in gewissen Fällen eine fast vollständige Vereinigung von
Musik und Poesie zu einem Gesammtausdruck stattfinden kann, dann
nämlich wenn der Text in der Hauptsache selbst nichts anderes ist
als bloßer Gefiihlsausdruck. Ich sage in der Hauptsache, denn die
Sprache — das Mittel des Gedankenausdrucks — kann nie voll-
ständig darauf verzichten bestimmte Gedanken auszudrücken; aber
diese Rolle kann dem Gefuhlsausdruck gegenüber so gering sein^ daß
Ober die Bedeutung der Aphasie für den musikalischen Ausdruck. 71
sie praktisch kaum in Frage kommt. Diesen Charakter nun zeigt
die lyrische Poesie, und so scheint mir in der That, daß in vielen
unserer klassischen und modernen Lieder das Problem des poetisch-
musikalischen Gesammtausdrucks längst gelöst ist.
3. Auch für den Charakter des musikalischen Ausdrucks selbst
ergiebt sich aus dem obigen der Beweis, daß er ein Gefuhlsausdruck
ist, da er mit diesem überall steht und fällt. Es scheint allerdings
auf den ersten Blick sonderbar, den Beweis hierfür soweit herholen
zu müssen, indeß ist er nicht ferner hergeholt, als die sonderbare
Ansicht der Formalästhetiker, die auch den Kunstgenuß als theore-
tisches Begreifen ansehen, und auch in der Musik einen Kausal-
zusammenhang zwischen ihr und dem Gefühl zwar nicht immer gleich
offen leugnen, aber ein Gefallen »an sich« mit unzähligen Klauseln
durchdrücken. Aber eben weil Musik Gefuhlsausdruck ist, geht sie
zwar immer von einem bestimmten Gefühl aus, kann dasselbe aber
in einer bestimmten Qualität nicht erregen; sie erreicht wohl daß
wir mitfühlen, bestimmt aber nicht was wir fühlen, da eine solche
Bestimmung ein Verständniß voraussetzt, das, an bestimmte Vor-
stellungen geknüpft, wie wir gesehen haben, auf andern Bahnen und
in andern Partien zu Stande kommen müßte als der Gefuhlsausdruck.
Hehr als einmal konnten wir mit Bestimmtheit darauf hinweisen,
daß Verständniß (Erregung von Vorstellungen und Begriffen) und
Gefühl in physiologisch-anatomischer Beziehung selbstständigen Pro-
zessen unterliegen. Deshalb geht die Gefühlstheorie zu weit, wenn
sie mit der Gefühlserregung auch eine bestimmte Vorstellung und
ein daran sich knüpfendes, eng begrenztes, spezifisches Gefühl mit
entstehen läßt. Gerade das letztere ist bei Gefühlserregung ausge-
schlossen. So bestätigt sich, was ich schon vor Jahren bezüglich
der musikalischen Erregung ausgesprochen habe : die Musik und alle
Kunst gefällt uns, wir nennen sie schön, wenn sie uns begeistert,
uns emotionell erregt, wobei aber die spezielle Art der Erregung des
Gefühls uns selbst überlassen wird. Sie giebt dem Spiel unserer
Phantasie nur den Stoß, nach welchem es sich nun in seiner rein
subjektiven Weise weiter entwickelt. So kann ich weder den Formal-
noch den Gefühlsästhetikem vollständig Recht geben, und ich be-
dauere, daß ich, wie ich aus Kritiken ersehen, wenn überhaupt be-
achtet, so vollständig mißverstanden worden bin, daß der eine mich
als Formalist betrachtet , der andere meine umständliche Rückkehr
zur Gefiihlsästhetik bedauert. Keines von beiden ist richtig. Der
Formalist sagt: das Kunstwerk gefällt wegen gewisser Formen, die
als solche (»an sicha) absolut gefallen; der Gefühlsästhetiker sagt:
es gefallt, weil es dieses oder jenes bestimmte Gefühl ausdrückt und
'J2 Eiohard Wallaschek,
auszudrücken beabsichtigt. Ich glaube, daß weder die Möglichkeit
eines solchen Ausdrucks, noch eine diesbezügliche Absicht künstle-
risch ist, und das Kunstwerk gefallt allerdings, weil wir fühlen
(phantasiren, begeistert sind), aber nicht, weil wir gerade das oder
jenes (Freude, Schmerz) fühlen; was wir fühlen, ist subjektiv ver-
schieden, und muß es sein, wenn die Kunst nicht eine Erregung von
Vorstellungei;! sein soll, ein Verständniß, dessen Erzeugung Sache der
Wissenschaft ist. Der Psycholog wird sagen, man könne ja nur ein
konkretes Gefühl erregen, und nur in unserer Abstraktion existire
es für sich allein ohne Verbindung mit einer bestimmten Vorstellung;
wer es veranlassen will, muß alles mit erzeugen, was zu seiner Wirk-
lichkeit nöthig ist, also auch eine bestimmte Vorstellung. Ich glaube
der Künstler kann die Wahl der Vorstellung, mit der das zu erre-
gende Gefühl verbunden werden soll, der Individualität des Be-
schauers selbst überlassen, und die psychologische Forderung ist ebenso
erfüllt wie die ästhetische. In ähnlicher Weise kann ja auch das
Werk des Gelehrten einen emotionalen Effekt zur Folge haben, ob-
gleich es selbst nur einen bestimmten Gedankenkreis erweckt und
zu erwecken beabsichtigt, wobei es dem Leser überlassen bleibt,
etwaige Gefühle in seiner Weise damit zu verbinden. Aber der emo-
tionale Effekt des Kunstwerkes unterscheidet sich von dem des
wissenschaftlichen Werkes dadurch, daß im ersteren Falle die indi-
viduelle Gefühlsassociation alles ist, worin die künstlerische Wirkung
besteht, während sie im letzteren hinzukommen oder wegbleiben kann,
ohne den wissenschaftlichen Werth zu ändern. So sind denn andere
Bahnen im menschlichen Aufnahmeapparat für die Empfangnahme
des wissenschaftlichen und andere für die des künstlerischen Werkes
bestimmt. Daraus erhellt aber auch, wie sehr die Mittheilung eines
Programms bei Orchester-Kompositionen den psychologischen Apparat
verfehlt, denn ein Programm wendet sich an das Verständniß be-
stimmter Vorstellungen, das etwas ganz anderes ist, als die emotionale
Erregung. Ein Programm soll sich aus der Individualität des Be-
schauers selbst heraus entwickeln. Gewiß hat jeder Künstler, auch
der Musiker sein Programm (wie ich glaube, und wie es die Forma-
listen leugnen), aber der Fehler des Musikers ist, es in allen Theilen
verständlich machen zu wollen ; denn ebenso, wie er erst Künstler
ist, wenn außer seinem Verständniß und weit über dasselbe hinaus
die emotionale Erregung zu Stande kommt, hat der Beschauer erst
einen künstlerischen Genuß, wenn er emotional erregt ist, ganz
abgesehen von der Qualität der Vorstellungen, die er dabei hat.
Nicht das subjektive Bestehen eines Programmes überhaupt ist der
Fehler, sondern seine objektive Festsetzung, und das ist es, worin
über die Bedeutung der Aphasie für den musikalischen Ausdruck. 73
ich dem Formalisten und dem Gefuhlsästhetiker Unrecht gebe: der
erstere will überhaupt keine Beziehung zu einem Programm, er
spricht von selbstständiger musikalischer Schönheit (Schönheit an
sich, nicht durch Association), der letztere verlangt die objektive
Bestimmtheit, wo ich die Association dem subjektiven Belieben des
Individuums überlasse. Das allein scheint mir der Psychologie des
Gefühls zu entsprechen, insbesondere wenn man die Unabhängigkeit
des Vorstellungsausdrucks vom Gefuhlsausdruck bedenkt, mit welch'
letzterem die Musik zugleich auftritt. So wenig aber ist Musik Über-
tragung bestimmter Vorstellungen, daß sie, wie wir an den Krank-
heitsbildem der Aphasie sehen, nur das Klangbild der Worte
zuläBty mit denen sie zugleich auftritt. Mag die spekulative Ästhetik
noch so leidenschaftlich behaupten, daß der bloßen Instrumental-
musik eine Bestimmtheit zukomme, die derjenigen der Sprache
nicht, oder nur wenig nachstehe, die physiologische Beobachtung
wird dieser Theorie immer einen Strich durch die Rechnung
machen, ebenso wie der Formalästhetik, die ihr auch den Gefuhls-
ausdruck rauben will. Allerdings ist ein Associationsprozess nicht
bei allen Individuen gleich, und das ist es, was eine Verständigung
über diesen Punkt zu erschweren scheint. Bei Manchen krystallisirt
er sich gleichsam um eine bestimmte Vorstellung herum, die sie bis
zu einem gewissen Grade festztihalten in der Lage sind, Andere sind
sich eines solchen Kernes nicht bewußt, und so sehr sie sich durch
Musik angeregt und begeistert fühlen, verläuft ihre Antheilnahme
doch in einer so weit verzweigten Association, daß nichts anderes
im Bewußtsein zurückbleibt, als die Thatsache eines »ungehemmten
Flusses von Associationen« — das Gefühl des Wohlgefallens. Das
scheint mir auch der spezifisch musikalische Weg zu sein, während
der erstgenannte auch andern Künsten eigen ist. Doch glaube ich,
wir sollten auch in diesem Falle den Unterschied festhalten, den
Grant AUen so treffend charakterisirt hat. wenn er sagt, Musik und
Poesie haben die höhere Art der Wirkung gemein, es ist der emo-
tionale Effekt, doch geht er in beiden von einem verschiedenen Grund-
prozess aus, einem akustisch sensorischen in dem einen, einem intel-
lektuellen im andern Fall. Machen wir nun in der Musik diesen
Anfangspunkt auch zu einem intellektuellen (durch ein gegebenes
Pn^amm), dann zerstören wir ein eigentlich musikalisches Element.
n
Die Aristoxenische Bhythmuslehre.
Von
Rudolf WestphaL
Silbendauer der gesungenen und der gesagten Verse.
Der Ausgangspunkt der Aristoxenischen Rhythmik muß fiir uns
die Unterscheidung eines für die gesungene (melischej und eines für
die gesagte (recitirte, deklamirte) Poesie zur Erscheinung kommenden
Rhythmus sein. Mit ausdrücklichen Worten werden zwar diese zwei
Arten des Rhythmus von Aristoxenos nicht unterschieden, aber dem
sorgsamen Forscher kann es nicht zweifelhaft sein, daß Aristoxenos
diese beiden Arten statuirt. Es giebt nach ihm zwei verschiedene
Arten der Stimme, eine (piovr] ÖLaavrjixaTiyirj und eine (pwvr] atßv€xr>g
— so heißt es bei ihm im Anfange seiner ersten IStheiligen Har-
monik — , jene ist die menschliche Singstimme, diese die Sprech-
stimme, jene bewegt sich in Intervallen, wir hören sie, wenn wir
singen oder wenn wir auf einem musikalischen Instrumente spielen
(Vokalstimme und Instrumentalstimme), ein jeder Ton (jede gesungene
Sylbe und jeder Instrumentalton) erscheint uns als ein Moment der
Ruhe (rjQSfila), welche irgend eine [meßbare] Zeitdauer hat, und so
lange anhält, bis die Stimme in ihrer Bewegung zu einer andern Ton-
stufe fortschreitet. Die fpcjvr] owexrjs dagegen, die Sprechstimme,
erscheint als kontinuirliche Bewegung, die zwar auch verschiedene
höhere und tiefere Intervallstufen zur Erscheinung kommen läßt,
aber so, daß auf keiner von ihnen eine längere (meßbare) Zeit ver-
weilt wird, sondern daß die eine Sylbe sich rasch an die folgende
anreiht, und nur beim leidenschaftlichen Sprechen im Pathos der
Rede, auf bestimmten Sylben, denen man einen besonderen logischen
oder pathetischen Nachdruck geben will, länger verweilt wird.
Aristoxenos spricht es zwar nicht ausdrücklich aus, aber wir dürfen
die Stelle dreist so interpretiren, daß in der d^crarf^uorr^xr/ q)a}vrjy der
Singstimme, die aufeinander folgenden Sylben eine meßbare Zeitdauer
Die AristozeniBche Rhythmuslehre. 75
haben, in der (poivrj avvBxriSj der Sprechstimme, aber nicht. Sein
Sats, daß die Länge stets den doppelten Zeitumfang der Kürze habe,
gilt also bloB für die Silben des gesungenen Verses, nicht aber für
die Sylben des gesprochenen Verses, denn diese sind nicht meßbar.
Aus Aristoxenos' Schriften hat Fabius Quintilianus, sei es unmittel-
bar, sei es mittelbar, den Satz entlehnt, longam duorum temporumj'
brevem unius temporü esse syllabam, doch das Mittelalter, welchem
Quintilian als Schulbuch galt, und ebenso die moderne Zeit, hat
den Satz des Quintilian mißverstanden, wenn es ihn auf die
Sprechstimme bezogen hat und in ihm die Norm finden zu müssen
glaubte, nach welcher die Alten ihre Verse recitirt hätten und wel-
cher auch wir Modernen folgten, wenn wir unsere Verse beim
Recitiren und Deklamiren vortrügen. So hat sich denn bis auf den
heutigen Tag der Glaube erhalten, daß wir die Länge doppelt so
lang als die Kürze sprächen, während dies doch nachweislich nicht
der Fall ist. Es ist ein großes Verdienst des bekannten Wiener
Physiologen E. Brücke, daß er dieses in seiner Schrift: Die physio-
logischen Grundlagen der neuhochdeutschen Verskunst (1875) über
allen Zweifel festgestellt hat. In dieser lehrreichen Schrift heißt
es S. 22 :
9 Obgleich kaum Jemand, der mit dem Gegenstande einigermaßen
vertraut ist, bestreiten wird, daß die zeitlichen Abstände der Vers-
accente bestimmten Gesetzen unterworfen sind, so habe ich mich
doch durch direkte Messungen davon überzeugt, weil sich aus der
Regelmäßigkeit, beziehungsweise Gleichheit, Wahrheiten erschließen
lassen, die vielleicht nicht Jedermann ohne Weiteres einzuräumen
geneigt sein würde. Ich bediente mich zu diesen Messungen einer
sieh mit gleichmäßiger Geschwindigkeit drehenden Kymographion-
Trommel*, auf der ich mit einer Kielfeder jede Hebung, oder die
jedesmal vom Iktus getroffene Silbe markirte, während ich iambische
Verse, Hexameter, alcäische und sapphische Strophen recitirte.
Gleichzeitig wurden die Signale eines Metronoms auf elektrischem
> »Das Kymographion wurde im Anfange der vierziger Jahre von C. Ludwig
konstruirt, um damit den Druck zu verzeichnen, den das Blut auf die Wandungen
der Adern ausübt. Es besteht aus einer cylindrischen Trommel aus Messing, deren
Oberfläche mit Papier überkleidet ist und die durch ein Uhrwerk mit gleichmäßiger
Geschwindigkeit gedreht wird. Ein Schreibapparat, der sich unter Einfluß des
Blutdruckes hebt und senkt, verzeichnet darauf durch auf- und absteigende Kurven.
Die ELymographion-Trommel ist seitdem von Physiologen vielfältig zu messenden
Bestimmungen benutzt worden. Das Instrument, mit welchem ich arbeite, war nach
eigenen Angaben meines Freundes Ludwig und unter seiner Aufsicht vom Mecha-
Ulkus Schortmann in Lindenau bei Leipzig ausgeführt worden.«
76 Rudolf Westphal,
Wege auf diese Trommel übeitiagen, um den Beobachter Yon etwai-
gen Änderungen im Gange des Instrumentes in Kenntniß zu setzen.
Die kleinen Differenzen, welche gefunden wurden, konnten nicht in
Zusammenhang gebracht werden mit dem Gehalte der Sylben und
mußten zurückgeführt werden auf die für das Ohr verschwindenden
Unregelmäßigkeiten im Recitiren und Markiren, a
Auf S. 29 sagt E. Brücke:
A Der unbefangenen Beobachtung wird es sogleich auffallen, daß
den Längenverhältnissen der Silben keineswegs die Zahlen 1 und 2
wirklich zu Grunde liegen, daß yielmehr die Sylben ihrer natürlichen
Dauer nach sehr verschieden sind, und daß man sie eben nur gröb-
lich in 2 Haufen, in lange und kurze abgetheilt hat. Das, was man
weder in dem einen, noch in dem andern mit Sicherheit unterbringen
zu können schien, warf man in einen dritten zusammen, in den der
mittelzeitigen. Ich kann hinzufügen, daß die Dauer der kürzesten
zu den längsten nach direkten Messungen, die ich mit dem Kymo-
graphion vorgenommen habe, keineswegs in dem Verhältnisse von
1 : 2 steht. Die kürzsten Silben werden von den längsten weit mehr
als um das Doppelte übertroffen, während sich andererseits zwischen
langen und kurzen keine bestimmte Grenze ziehen läßt.«
Aristoxenos und das klassische Alterthum kannte noch keine
dem Kymographion ähnliche Instrumente zur Bestimmung des Sylben-
werthes. Aristoxenos gehört zu denen, von welchen £. Brücke sagt,
sie seien unbefangene Beobachter. Hätte sich Aristoxenos eines ge-
nauen Mittels zur Werthbestimmung der gesprochenen Sylben be-
dienen wollen und wäre das griechische Alterthum bereits mit dem
Gebrauche unserer Taschenuhren bekannt gewesen, so hätte auch
Aristoxenos, wie der Verfasser dieses Aufsatzes es gemacht hat, eine
Sekunden-Uhr zur Hand genommen und die Frage aufgeworfen,
wie viele Zeit gebraucht man, um die Kürzen ta ti tu auszusprechen,
und wie viel Zeit für das Aussprechen der Längen tä ti ta (der Grieche
hätte sich der Solmisationssilben ra rt to und zä rl rw bedient;
Anonym. 6). So würde er mit der Beantwortung dieser Fragen vielleicht
schneller zu Stande gekommen sein als der Verfasser dieses Aufsatzes,
der für diese Untersuchung an einem Julitage die Abendzeit von
6 — 7 Uhr und am folgenden Tage die Morgenstunden von 4 — 6 Uhr ge-
braucht hat. Das Ergebniß, zu welchem ich bei dieser der physiologi-
schen Methode des Prof. £. Brücke entgegenstehenden rein mechanischen
Methode gelangt bin, ist, denke ich, nicht weniger vollständig richtig,
und jeder, welcher mit einigem Geschick und einiger Genauigkeit
dasselbe Verfahren einschlägt, wird zu keinem anderen Resultate
gelangen. Mein Mitarbeiter an der allgemeinen Metrik der Griechen,
Die AristoxeniBche RhjthmuBlehre. 77
Professor Hugo Gleditsch, macht mir brieflich die ganz richtige
Bemerkung: »Von der Richtigkeit Deiner Meinung, daß in ge-
sprochenen Versen die Länge nicht das Doppelte der Kürze ist, bin
ich überzeugt. Ich glaube im gesprochenen Verse sind die Kürzen
in ihrem Zeitmaße sehr verschieden und daher nicht leicht — außer
im einzelnen Falle — meßbar, ebenso auch die Länge: Meine
Gleichung ist nicht wie 1:2, wie man früher annahm, sondern wie
1 : 20,000 und darüber, genau 1 : 26,000. Die einzelne Länge ist mit-
hin beim Sprechen 20,000 mal länger als die einzelne Kürze! (?) Wer
hätte gedacht, daß der Unterschied zwischen gesprochener Kürze
und Länge ein so enormer ist! Ja, jene mißverstandene Schulregel
Quintilian's, die dieser aus Aristoxenos entlehnt hat, ist so irrig, wie
nur etwas sein kann. Auch mein jetziger Gegner, Herr Heinrich
Weil in Paris, der fleißige Durchforscher der Aristoxenischen Rhyth-
mik, um die er sich durch treffliche Erklärungen große Verdienste
erworben hat, die Hauptveranlassung, daß meine griechische Metrik
so schnelle Anerkennung bei den Philologen gefunden, ist in grobem
Irrthum befangen, wenn er vermeint, auch die heutigen Franzosen
sprächen, ebenso wie die griechischen Redner, die Längen und
Kürzen in der Weise aus, daß sich durch sie das Verhältniß 1 : 2
e^äbe. Bleiben wir vorläufig, bis andere Berechnungen veröfient-
licht werden^, dabei, daß sich die gesprochene Kürze zur ge-
sprochenen Länge nicht wie 1 : 2, sondern wie 1 : 20,000 (?) und da-
rüber verhält, und entsagen wir dem bisher angenommenen Satze
als einer der größten Irrlehren, von welchen sich der leichtgläubige
Geist der im Allgemeinen nicht gern denkenden Menschen hat ge-
fangen nehmen lassen!
Das zweite Buch der Aristoxenischen Rhythmik oder die
Lehre vom Rhythmus des gesungenen Verses.
Von der rhythmischen Stoicheia des Aristoxenos liegt uns nur
das zweite Buch vor. Was in dem uns verloren gegangenen ersten
Buche enthalten war, habe ich in den Fragmenten und Lehrsätzen der
alten griechischen Rhythmiker (1864) zu ermitteln versucht. Jeden-
£bl11s war dort auch von rov Qvd-fiov TtXslovg q)VGeig die Rede, auf die
sich der Anfang des erhaltenen zweiten Buches bezieht. »Es giebt
mehrere Arten [cpvaetq) des Rhythmus; worin eine jede derselben
1 Es wäre wohl zu wünschen, daß sich Herr Heinrich Keimann dieser Auf-
gabe recht bald annimmt.
78 Rudolf Westphal,
besteht, das ist im Vorausgehenden gesagt worden — von demjenigen
Rhythmus, der die Musik zum Träger hat.
Mit den im Eingange des zweiten Buches der rhythmischen
Stoicheia von Aristoxenos gebrauchten Worten: »Sri tov Qv&fiov
TtXeLovg Blalq>iaeLg ist seine erste IStheilige Harmonik § 42 zu Ter-
gleichen: STteiöq TtXeiovg eial (pvoeig tov (fArOvamov) fxikovg. Es ge-
hört dieser § 42 zum V. Abschnitt der ersten Harmonik, welcher
dem Prooimion zufolge die Überschrift fuhren muß tcsqI fiikovg
VTCodrjXüJTiov Ttal tvthjtsop oiav %%^i (pijaiv xh xara iiovatyiriv^. Da-
her die von mir in den Handschriften fehlende Ergänzung rov [fiov-
aixov) fxilovg durchaus nothwendig ist. Das ixovoixhv fiiXog — so
sagt hier die Aristoxenische Harmonik — soll seinem Begriffe nach,
worin seine (piotg besteht, im Umriß zu erläutern versucht werden.
Vorher ist schon bemerkt worden, daß die Bewegung der Stimme
hier eine diastematische ( Singstimme} sein muß, so daß das fiovaiTcbv
fiekog von dem Xoyüdsg fieXog verschieden ist. Es giebt nämlich
auch ein Xoywdeg fieXogj welches je nach den verschiedenen Wort-
accenten in einem Fortschreiten von höheren zu tieferen Tonstufen
besteht. Beim Sprechen ist ja das Heben und Senken der Stimme
etwas in der Natur der Sprache Begründetes.
Es ist etwas der Aristoxenischen Doctrin Eigenthümliches,
daß auch das Sprechen seiner bald höheren, bald tieferen Accente
wegen als fiiXog angesehen wird, als eine Art des ^iXog^ welche
sich dadurch von dem fxovoLxbv fiiXog unterscheidet, daß in diesem
sich die aufeinander folgenden Tonstufen durch die Eigenthümlich-
keit der riqrif.ua (Ruhe, Stätigkeitj kennzeichnen, während im XoyCbdeg
^iXog die Silbendauer nicht meßbar ist.
Sagt nun Aristoxenos im Anfange des zweiten Buches seiner
Rhythmik, es gebe mehrere q){faeig rov ^v-d-fioVj jetzt solle der ir rfj
fiovoiTif] raTTÖfievog Qv-d'fiög behandelt werden, so müssen wir auf
die beiden (pvaeig rov fiiXovg zurückblicken, auf das fiovacTtbv (likog
und das XoyG)6eg fiiXog, Das Wort fxovamdv ist zwar ein umfassen-
der, auch die Orchestik, Rhythmik und das Melos in sich ein-
schließender Begriff, hier aber in b iv fiovamf] rarröfisvog ^v&fiög
kann nichts anderes als fiovacxbr (liXog gemeint sein. Nach dieser
Erklärung bezieht sich Alles, was Aristoxenos im zweiten Buche
seiner rhythmischen Stoicheia über den Rhythmus vortragt, nicht
auf den qv&ixög des XoyCjÖBg^ sondern des fiovacubv fiikog, nicht auf
den ^vd-fiög des gesagten, sondern des gesungenen Verses. Vom
Rhythmus des gesagten oder gesprochenen Verses scheint Aristoxenos
im ersten Buche seiner Rhythmik manches vorgetragen zu haben,
wenigstens würde hierher gehören, was Aristoxenos nach Dionysios
Die Aristozenische Rhythmuslehre. 79
über die Natur der Sprachlaute und wohl an keiner anderen Stelle^
als in der ßhythmik Buch I gelehrt hat. Andererseits scheint aber
das erste Buch der Aristoxenischen Rhythmik auch Manches auf den
^v&fiög des f.iovoi7Lov ^iXog Bezügliches enthalten zu haben. So die
Lehre, daß die Länge immer das Doppelte der in derselben Kompo-
sition ohne Wechsel des Tempos vorkommenden Kürze ist, eine
Regel, wovon sich aber Ausnahmen theils aus der Rhythmik des Ari-
stoxenos ergeben (die als Chronos alogos stehende Länge), theils aus
den notirten Hymnen des Mesomedos und Dionysios folgern lassen
(die als aus- und als inlautende Katalexis eines Verses stehende
Länge, welche nicht das Doppelte, sondern das Dreifache und Vier-
fache der Kürze sein kann).
Der Aristoxenische Chronos protos.
Wie Psellos in seinen rhythmischen Prolambanomena aus dem
Werke des Aristoxenos excerpirt, lehrten die Vorgänger des Aristo-
xenos, »das dem Rhythmus als Maßeinheit zu Grunde liegende ist
die Silbe er. Schon vor Aristoxenos beschäftigte man sich in den
Musikschulen, besonders in den Musikschulen Athens mit dem
Rhythmus. Darüber belehrt uns Piaton an verschiedenen Stellen
Zuerst trug der Lehrer seinen Schülern bei der Lehre vom Rhyth-
mus ein Kapitel vor, in welchem er die Natur der Sprachlaute
{aroixBia) aus einander setzte, also die Sylben behandelte; erst dann
g;ing er zu den Rhythmen über. Diese alten athenischen Musik-
lehrer wie Dämon waren es, welche den Satz aufstellten, daß die
Sylbe die kleinste Maßeinheit sei, nach welcher der Rhythmus ge-
messen werde. Aristoxenos aber widersprach ihnen. Die Sylbe,
sa^e er, ist kein konstantes Maß ; sie hat, mag sie lang oder kurz
sein, bald diese, bald jene Zeitdauer, immer aber ist im gesungenen
Verse die Kürze die Hälfte von der Länge. Daher bedarf es für
den Rhythmus eines ideellen Zeitmaßes, welches zwar häufig genug
mit der kurzen Silbe zusammenfällt, aber doch auch von dieser ver-
schieden sein kann. Aristoxenos benennt dieses ideelle kleinste -
Zeitmaß des Rhythmus mit dem erst von ihm aufgebrachten Namen
Chronos protos d. i. Primärzeit. Eine rhythmische Zeitgröße, welche
das Maß des Chronos protos hat, wird mit dem in der Aristoxeni-
schen Rhythmik zwar nicht vorkommenden, doch sicher von Aristo-
xenos herrührenden Namen Chronos monosemes genannt; die da^
zweifache Größenmaß derselben in sich begreifende heißt Chronos
disemos (zweizeitige rhythmische Größe), die das dreifache Größen-
maß des Chronos protos umfassende heißt Chronos trisemos (dreizeitige
80 Rudolf Westphal,
A y
ihythmische Größe), und so fort bis zum Chronos pentekcdeikosisemos
(25 zeitige rhythmische Größe], der größten rhythmischen Zeitdauer,
deren Aristoxenos gedenkt.
Wird diese rhythmische Zeitgröße durch eine einzige Silbe dar-
gestellt, so ist sie nach Aristoxenos ein Chronos asynthetos kata
Rhythmopoiias Chresin. Der Anonymus Bellermanni überliefert folgen-
des Verzeichniß der Sylben mit den für sie bei den alten Musikern
gebräuchlichen Notenzeichen :
Chronos disemos —
Chronos trisemos ! —
Chronos tetrasemos
Chronos pentasemos
Hierzu die gleichwerthigen Pausenzeichen [xQdvot xevol) :
Chronos kenos monosemos ^A , genannt Xelfi^aj
Chronos kenos disemos -^ , genannt TtQÖgd-eaigj
Chronos kenos trisemos
Chronos kenos tetrasemos
Unter den Pausenzeichen hat das 1 zeitige den Namen Xet^i^a,
ein diesen Namen andeutendes Lambda a. Bei den längeren Pausen
wird über das Leimmazeichen das Zeichen des entsprechenden Noten-
werthes gesetzt. Die Namen Xeifxfxa und nQog&eacg überliefert Ari-
steides. Der Anonymus Bellermanni sagt § 3 = § 85 : Saa oiv ijroi
dl ipdfjg ^ fielovg x^Q^-S OTcyfifjg (Accentzeichen) fj xP^^^v Tcagd riat
yQdq>€Taij fj fiaycQäg diXQ^'^ov — , ^ rp4;cpdrov i— , fi TerqaxQivov I — J,
^ TtevraxQdvov LJ-J , ra (xev Iv (^dfj yiexv^iva liyerai, rix ök iv /nikei
fiövip xaleirac dcaxprjka(prjiÄaTa, Hiemach ständen die rhythmi-
schen Zeichen des Größenwerthes in allen Vokal- und Instrumental-
Kompositionen, außer etwa in Solfeggien und ähnlichem. Dies wird
aber durch die erhaltenen Musikreste der Griechen nicht bestätigt.
In den Resten der Instrumentalmusik finden sie sich, nicht aber in
den Resten der Vokalmusik, wo vielmehr der Vortragende insbe-
sondere aus der metrischen Beschaffenheit des Worttextes den Rhyth-
mus zu erkennen hat.
Werden auf eine Note mehrere Töne gesungen, so nennt man
dies dem Aristoxenos zufolge XQ^^S f^tc'KTÖg, ebenso auch wenn
mehrere auf einander folgende Silben auf derselben Tonstufe stehen.
Den Taktstrich der Modernen kannten die Alten nicht; sie be-
zeichneten die durch den Iktus hervorzuhebenden Noten durch
einen darüber gesetzten Punkt {ariy^rj) oder Doppelpunkt ('und"),
den letzteren wohl bei gewichtvollerem Iktus.
Die Aristoxenische Khythmuslehre. gj[
Die Theorie der modernen Musik lehrt nichts vom Chronos
protos. In ihrer Praxis spielt er eine wichtige Bolle. Sie hat für
denselben in ihrer Notenschrift eine vierfache, auch wohl fiinffkche
Bezeichnung: sie schreibt ihn entweder als Achtel*, oder als Viertel-,
oder als halbe Note, selten als Sechszehntel. Wählen wir die Sechs-
zehntel-Schreibung, so steht unser moderner ^/]e-Takt genau analog
dem Aristoxenischen Ttovg e^dar]fiog iv köyqi lLa(i)j ^^^^^ ^yxa-T^^^^
dem Aiistoxenischen Ttovg dcodexdarj^og ev X6y(^ Xaip. Wählen wir die
Achtel-Schreibung, so wird der P/^-T^ikt mit dem Aristoxenischen
:i(wg ۤdarj(j.og iv Xiytp ia(pj der ^*/g-Takt dem Aristoxenischen Ttovg
iiadBxaarjfiog iv löyqf ia(p identisch sein. Kurz beim trochäischen
Rhythmus bezeichnet unsere Taktvorzeichnung in ihrem Zähler die
in einem Takte enthaltene Anzahl der Chronoi proioi, während der
Nenner besagt, ob wir den einzelnen Chronos protos als Sechszehntel-
oder als Achtel-Note ausdrücken. Dies ist jedoch nur dann der
Fall, wenn der Rhythmus der betreffenden Komposition der trochä-
ische, nicht wenn er der daktylische oder ionische ist. Denn bei
daktylischem Rhythmus beruht unsere Taktvorzeichnung auf der-
jenigen, welche in unserer mittelalterlichen oder, in unserer Mensural-
Musik gebräuchlich war, wo man die Mensur, d. i. Takt, dadurch
bezeichnete, daß man dem Tempus imperfectum als Vorzeichen den
Halbkreis, entweder durchstrichen oder undurchstrichen gab C (^.
Ist der Rhythmus der betreffenden Komposition derjenige, welchen
man im Alterthum den ionischen nannte, so bedeutet die im Nenner
f enthaltene Zahl nicht den Chronos protoSj sondern den Chronos di-
semos. Dann fällt der moderne ^/^-Takt mit dem Aristoxenischen
Ttovg k^aarjfiog iv Xöyif d&7tXaai(p zusammen, denn die Achtel-Noten
bezeichnen alsdann die ;^^()^0( dlarj^oi. Man wird sich mit dem
hier Vorgetragenen unschwer befreunden können, wenn man dem
Verständniß sich nicht unmuthig widersetzen will.
Taktarten.
Aristoxeuos unterscheidet für die griechische Rhythmik im Äll-
goneinen drei Taktarten, die er köyoc Ttodixol nennt: 1) den Xdyog
hog oder day(,%v^L%6g, die gerade Taktart. 2) den köyog dcTtXaatog oder
ioußi'AÖg, die ungerade Taktart. 3) den Xöyog f]f.u6ktog oder Ttaiiovcnög,
die uns Modernen weniger geläufige funftheilige ungerade Taktart, die
rieh z. B. in Boieldieu's weißer Dame Cavatine I 1 1 findet, freilich
nicht als funfiseitiger Takt notirt, sondern als eine Kombination der
Stheiligen und der 2theiligen Taktart. Das Alterthum hatte sich
den 5theiligen Takt zu viel größerer Geläufigkeit gebracht als
luisere moderne Musik. Ein antikes Beispiel giebt der Anonymus
1S91. 6
82 Rudolf Westphal,
Bellermanii's. Die Griechen hatten aber zwei verschiedene ungerade
Taktarten, die 3theilig ungerade und die 5theilig ungerade Takt-
art, jene durch den hemiolischen oder iambischen Takt, diese durch
den päonischen Takt repräsentirt. Die hemiolische Taktart ist ein-
mal durch den 3 zeitigen lambus oder Trochäus, sodann durch den
6 zeitigen lonikus dargestellt.
Für die 3 Taktarten des Alterthums sind die Namen Xöyog laog,
köyog diTtXaaiog, Idyog fj^iöXiog deshalb (vielleicht erst von Aristo-
xenos selber) gewählt, weil man damit das VerhältniB bezeichnen
wollte, in welchem die beiden Takttheile, der schwere und der
leichte, zu einander standen. Beim geraden Takte im VerhältniB
des Gleichen, denn der schwere hat den gleichen Umfang wie der
leichte, z. H. dem aus einem 2zeitigen schweren und einem gleich
großen leichten Takttheile zusammengesetzten 4 zeitigen Versfüße.
Beim dreitheilig-ungeraden Takte im VerhältniB des Doppelten,
denn der schwere Takttheil ist das Doppelte des leichten, z. B. beim
3 zeitigen Trochaeus.
Beim 5 theilig-ungeraden Takte im VerhältniB des Anderthalb-
fachen 3 : 2 wie z. B. im 5 zeitigen paeonischen Versfuße -^-, wo
auf den schweren Takttheil 3 , auf den leichten 2 Chronoi protoi
kommen.
Die Namen daktylische, iambische, paeonische Taktart sind wohl
voraristoxenisch ; sie sind dem Metrum entlehnt, welches fiir die
Takte das häufigste war, daktylisches; iambisches, paeonisches Me-
trum. Wir Modernen würden es vorgezogen haben, wenn die Alten
die Namen daktylisch, trochäisch, paeonisch gewählt hätten, weil es
Benennungen gewesen wären, in welchen jedes Metrum mit dem
schweren Takttheile anlautete. Die Alten sagen aber nicht trochäische,
sondern iambische Taktart, denn nicht das trochäische, sondern das
iambische Metrum ist von den beiden Metren der diplasischen Takt-
art das häufigste.
Zu bemerken ist noch, wie schon oben angedeutet, daß man
mit dem Namen iambische Taktart zugleich die ionische verstand.
Werden doch beim ionischen Versfuße die beiden Takttheile in dem-
selben Verhältnisse stehen, wie im 3 zeitigen iambischen oder tro-
chäischen Versfüße.
Leichter und schwerer Takttheil.
Arifltoxenos hat für leichten und schweren Takttheil den ge-
meinsamen Namen xqdvog Ttoöixög oder arj^elov tcoöiköv. Den
leichten Takttheil — diesen stellt Aristoxenos in den allgemeinen
Erörterungen über den Gegenstand stet« dem schweren voran, eine
Die Aristoxenische Hhythmuslehre. g3
Manier, die auf die Späteren, auf die lateinischen -Metriker, von
nicht glücklichem Einflüsse war — den leichten Takttheil nennt
Aristoxenos äv(o xqövog, den schweren TfLaTto xQ^^9i »Auf- und Nie-
derschlag«. Für iVw xqdvog sagt er auch ÜQaig, für xävco xQÖvog
gebraucht er noch nicht wie die Späteren das Wort d'iatg, sondern
Tiehnehr das Wort ßaaig] an das Takttreten denkend. Wie kommt
eiy daß man im Alterthume nicht wie bei uns dem 3theilig-ungeraden
Takte drei Taktschläge, sondern nur zwei gab, einen Niederschlag
und einen halb so langen Aufschlag? Man wird leicht bemerken,
da£ auch die modernen Dirigenten beim Taktiren im 3theilig un-
geraden Takte, wenn das Tempo ein rasches ist, nicht anders ver-
fahren als die Griechen: sie geben alsdann jedem Versfüße nur
zwei Taktschläge. Wenn sie auf jeden Einzeltakt der ungeraden
Taktart drei Taktsohläge kommen lassen, so ist das Tempo ein sehr
gemessenes, oder wie man wohl sagen kann, dann ist der Versfuß
nicht der trochäische, sondern ein ionischer, dem freilich die grie-
chischen Taktdirigenten auch nur zwei Semeia podika, das eine
doppelt 80 lang als das andere, zukommen ließen.
Ein jeder einfache Takt erhielt bei den Alten, soweit wir aus
ihrer rhythmischen Überlieferung ersehen, immer nur zwei Takt-
schläge, einen Auf- und einen Niederschlag. Aber wie, wenn der
Takt kein einfacher oder Einzeltakt, sondern ein aus mehreren Ein-
seltakten kombinirter oder zusammengesetzter war? Aristoxenos hält
die Eintheilung von TtöÖBQ äaifvO-sroi und rcödeg aivd-eroi aufs ge-
naueste fest. Ilovg iaivd-BTog ist nach ihm der einzelne Versfuß,
navg aifvO-erog ist die Kombination mehrerer Versfüße zu einem
größeren Takt^anzen, welches die Metriker -aCoXov nennen. Das sagt
uns die Aristoxenische Definition:
Ol (J* iaiv^Bxot TÜv awd'irwv dia(piQovai t(J) ^eJ/ diaiQsla&ac eig
7i6dag, r€iv avvd'irutv diaiQOVfi^vcov. An einer andern Stelle heißt es
bei ihm : twv dh Ttodwv ol ^Iv Iv. dvo XQ^^^ aiyASivTat rov tb Spco
xal rov -ACLTCDy ol dk iyc tqicjp, 8i)o [idv rdv Üvco, ivbg de rov vAtco
fi if kvog nhv rov Svco, d^öo de rwv yMru}. ol dh i'K vsrraQCüv, 8i)o fuv
xw Svof^ d'Oo dk TÖv xario.
"Ort liiv oiv e§ evhg xQ^'^ov novg ovy, &v sirj rpavsQÖVj iTteiörjTtsQ
tv orjfABlov oi tcolbI dcalQBaiv XQ^^ov, &vbv öiaigiaBcog Ttohg ov öotcbI
ylvBad-ai. Tov dh XafußdvBiv rhv nödcc tcXbIcj twv 8io arifiBia ra
üv/id-ri Twv Ttodiüv ahtatBOv, Ol yag ilarrovg tüv vtodwvj bvtvbqI-
XrjTtrov rfj aladijaBi rö iniyB&og BxovTBgj BvaivoTtroL bIoi 'i^al diä rCov
dÄ) arj^Bicov ol ök fiBydloi roivavTlov TtBTtövd-aaiy dvaTteQllrjTtvov yaq
rij alaS^atv rh itiyBd-og 'ixovTBg, tvXbiövujv öiovvat atjUBlcov^ 87tcog
dg TtJiBiia fi^Qr^ öiaiQBd-hv tb rov <5Xov rvoöbg ftiyB&og BvavvoTtrorBQOV
6*
84 Kudolf Westphal,
10
ylvrjzai. /dia zl dk oi ylvetaL nkelcj arjfxeia xibv t€tt6q(ov^ olg b
7tovg x^^iT^cti 'Aaxa xrjv avxov dvva^uv^ {jarsQOp deix^r^oerai.
Also die kleineren Ttödeg (das sind offenbar die einzelnen Vers-
fiiBe) haben ein jeder nur zwei arjfjieicc TtodcxA, einen Auf- und einen
Niederschlag. Die größeren Ttööeg [das müssen doch, wie zuerst von
H. Weil nachgewiesen ist, die von Aristoxenos sogenannten Jtddeg
aivd^STOL sein), haben entweder drei oder yier Taktschläge, ohne
Zweifel die tripodischen Takte drei Taktschläge, die tetrapodischen
vier Taktschläge. Die Stelle der Rhythmik, in welcher Aristoxenos
gezeigt haben will, weshalb ein Takt nie mehr als vier Taktschläge
erhalten kann, liegt nicht mehr vor.
Also bis zum tetrapodischen Takte oder Kolon wird jeder der
Versfüße, aus welchen er kombinirt ist, als Semeion podikon, als
leichter oder schwerer Takttheil angesehen und hiernach von dem
griechischen Musikdirigenten mit Taktschlägen markirt.
H. Weil und W. Baumgart über Ausdehnung der Takte.
Derselbe Forscher, welcher die Identität der (xeydXot 7t6deg des
Aristoxenos mit den aiv^STOt Ttödsg nachgewiesen, macht in derselben
Arbeit auf eine aus der Aristoxenischen Rhythmik stammende
Überlieferung der.Psellianischen Prolambanomena aufmerksam, worin
es heißt:
^ij^ea&ai dk (paivovxav ^ fikv la^ißuAov yivog fiex^t tov <}x-
T(oiiaidB'Kaaiifj,ov fueyed-ovgj äaze yivead-ai xbv fi^yiarov Ttdöa
i^aTtXäawv xov ekaxlorov, tb dk danTvkiiibv fiixQ^ ^ov inTiaide-
TLaaifjl^oVj rb de Tcaixavmbv (iixQ'' ^^^ TtevTsnaui'KOOaaifjfiov.
Ai^BTav de i^cl TtXeiövcJV z6 re iafißcTcbv yivog xal
tb Ttaciüvtubv rov daxtvltycov, 8tL tzXbLooi arjfieioig
i^dregov aixCiv XQV'''^^'
Man hat bestritten, daß diese Stelle des Psellos aus Aristoxenos
stamme, vgl. Weyhe.
Mir scheint, wie Herrn H. Weil und W. Baumgart, der Aristo-
xenische Ursprung nicht angezweifelt werden zu können.
Aus den im Obigen gesperrt gedruckten Schlußworten, aus denen
wir erfahren, daß die größten nödeg der iambischen und daktylischen
Taktart dem Megethos nach hinter dem größten Ttoig der päoni>
sehen Taktart zurückstehen, hatte H. Weil die Folgerung gezogen,
daß unter den nööeg mit vier Semeta die nach Aristoxenischer Auf-
fassung zur päonischen Taktart gerechneten pentapodischen Takte
zu verstehen seien, daß dagegen die tetrapodischen Takte nur zwei
Semeia hätten. Auch noch in der zweiten Auflage der Roßbach-
Westphal'schen Metrik war diese Ansicht ausgesprochen.
Die Aristoxenische Rhythmuslehre. §5
ThesU Arsis
Tetrapodie — ^-^ — v-^-' | _v-^v> —\^\j
Pentapodie — ^^ — ww -v-a^ _.\.yo _v.>^
Unser scharfsinniger Freund, Dr. Haumgart in Breslau erhob
dagegen einen berechtigten sachlichen Einwand. Er wies nach, daß
wenn bei den Griechen das Taktiren nicht eine bloße Spielerei ge-
wesen, unmöglich Aristoxenos die Ansicht vertreten haben könne,
daß ein tetrapodischer Takt nach 2 Takttheilen vom Dirigenten zu
markiren sei, die pentapodischen dagegen nach 4 Takttheilen. Baum-
gart vermuthete, jene in Rede stehenden Worte des Psellianischen
Fragmentes seien ein der Aristoxenischen Darstellung ursprünglich
fremder Zusatz, in welchem nXeLovai arjiiBloig nicht yoi} Takttheilen,
sondern im nichtaristoxenischen Sinne an Stelle von xqdvot nQwroi
gebraucht sei, Aristeides u. a. hätten in diesem Sinne das Wort
ar^fieia gebraucht.
Die dritte Auflage meiner griechischen Rhythmik erkannte das
Zwingende der Baumgart'schen Polemik, faßte die fraglichen bei
Psellos überlieferten Worte, wie Baumgart wollte, als ein zum Texte
hinzugekommenes Glossem, in welchem die Worte ev r<J) ikaxiffTM
noii ausgefallen seien.
Ai^tcat dl ijtl Ttlstöviov t6 re iafißtyibv yivoq ytal rb Ttauovixbv
Tov öaxrvkixov, Bn ßv T(p ikaxiorq) Ttodl) Ttkeioai arif.ie(oig (= ;f^eivo£4;
TTQfaroig) €'Ä<iteQOV adrwv x?^^^^-
Daß der uns handschriftlich überlieferte Text auch des Aristo-
xenos von späteren Interpolationen, welche aus Glossemen entstanden
sind^ nicht frei blieb, habe ich in meiner deutschen Übersetzung
und Erläuterung des Aristoxenos 1883 nachgewiesen.
Ich glaube meine Auffassung in der griechischen Rhythmik
dritter Auflage genügend dargethan zu haben, daß ich die betreffende
Interpretation H. WeiVs und der beiden ersten Auflagen der Roß-
bach-WestphaVschen Metrik verlassen müsse.
Monopodische und dipodische Basen.
^Bairoiuv rä fxezQa xara jtöda ^ Tiaric dcrtodlavd — sagen die
Schollen zu Hephaistion — auch »ßalverai y.a^ eva nöda \] •KctTa
itnodlav»^ r>Percutitur versus et per singulos pedesy percuiitur per
dtpodiamm sind Termini technici der lateinischen Metriker. Von dem
Verbum ßaivuVj ßalvead-ai ist das Substantivum ßdaig, von percu-
titur ist das Substantivum percussio abgeleitet.
Fabius Quintilianus IX, § 4, 51 sagt von den Rhythmikern:
Tempora etiam animo metiuntur^ et pedum et digitarum ictu
intervaUa signant quibusdam notis, atque aestimantj quot breves
86
Rudolf Westphal,
illud spatium habeat, Inde retgaarif^oi, TtivTäarmot^ deinceps
longiores ßunt percusstones.
Hiernach ist percussto die Bezeichnung eines %q6vog TsrQAarjfiog
z. B. — , eines xQ^^og TtevTdatifiog z. B. - ^ -, eines XQ^og If craij-
fiog z. B. -v^-v^, eines XQ^^^S dxTdarjf,iog z. B. -v^^-v^vj, also
theils monopodischer , theils dispodischer XQ^^'' nodixol. Unter
Festhaltung dei Identität der Termini percmsio und ßaatg ergiebt
sich folgende Übersicht der ßdaeig nach den von Quintilian herbei-
gezogenen Rhythmikern:
BacBic ( PtrctU8i<me9) fxovo7to6ix(U,
•-lv>v>
nByxaGfjfjios -1 ^ —
BuCBis (Percussiones) dmodixai.
Die Theorie der Metriker nimmt an : ^Mdvov rh öaTirvXixbv
ßalvei xarcc ^lovoTtoöiav Schol. Heph. p. 180 W. Doch ist das un-
genau. Es läBt sich, wie in unserer Metrik nachgewiesen ist; die
Generalregel vielmehr so fassen: Die piixqa der TtQwrrj &vxi7tdd'Bta
werden je nach der Ausdehnung des Kolons bald nach ßaa^vg fiovo^
jtoöixal, bald nach ßdasig dirtodixai gemessen; die fiizga der dewi^a
ävTiftdd^eca [Paeonen^ Jonici) stets nach ßdaeig inovoTtodixal. Freilich
wird bei den Metrikern das Wort ßdacg vorwiegend von der ßdaig
diTtoöiTcifl gebraucht z. B. Hephaest schol.
In diesem Sinne findet sich das Wort auch bei Marius Victor,
p. 47 K. angewandt:
Nam graeco sertnone duorum pedum copulatio ßdaig dicitury
veluti quidam gressus pedum j qui si eiusdem generis i. e. pares
Jugati ftterintj öiTtodiav, aut, ut quidam^ ravTOTtodlaVj sin dis-
pares ut trochaeus cum iamho, avtvyLav efficiunt, in qua Sgaig
unum, alterum &iaig pedem obiinebit.
Bei Marius Yictorinus ist das Wort Sgacg und d'iacg entweder
im alten rhythmischen Sinne des Aristoxenos, oder so gebraucht,
daß jeder anlautende Takttheil, und sei es auch ein schwerer, als
Arsis bezeichnet wird, jeder nachfolgende als Thesis (s. oben). Es
hängt dies ganz von den Quellen ab, die der jedesmaligen Stelle
des Marius Victorinus zu Grunde liegend Woher die vorliegende
1 Der hier bei Marius vorkommende Ausdruck a^aig es 9ubkUio ist im Ari-
stoxenischen Sinne zu fassen, wenn die betreffende Stelle aus der nämlichen Quelle
wie Atilius Fortunatianus p. 286 K. stammt: Fiunt (in trtmetro iambico) . . . pedes
quinque, quae loca imparia quidam vocant; in desinentibus eero t. e. in depositio»
nibus, quae loca paria appellant, non nisi a hrevibus incipiunt Dieselbe Stelle über
Die Aristoxenische Rhythmuslehre. §7
Stelle über die ßaaig stammt, lassen wii dahin gestellt. Doch wird
man jedenfalls nicht im Unrechte sein, wenn man dort Arsis und
Thesis im Aristoxenischen Sinne von schwachem und starkem, nicht
im späteren Sinne von vorausgehendem und nachfolgendem Takt-
theile &Bt.
Bildet die Dipodie einen selbständigen Takt, wie Aristoxenos
sagt — ein selbständiges dipodisches Kolon, wie die Metriker sagen,
— so hat sie der vorliegenden Angabe über die ßaaig zufolge zwei
Takttheile, eine Arsis und eine Thesis
!Ls^ _v>
oder in umgekehrter Ordnung der Takttheile
-LW £w
aqcis d-iaig
Die Dipodie kann aber auch den Bestandtheil eines tetrapodischen
Kolons bilden, z. B. die zweite Hälfte des katalektischen Tetrametron
trochcdkon:
!L\j ±\j !Lkj ±
d-ia, äga. d-ia. üqu.
ßagcg diTC. ßaaig dlrt.
oder mit Umkehrung der Takttheile :
_1 w Z\^ _1 v^ £
ßaa. $L7to6, ßaa. diTCod.
Vermuthlich ist es dieses Schlußkolon des trochäischen Tetra-
metrons, welches Marius Victorinus so oder vielmehr dessen Quelle^
im Sinne hat. Es ist dies aus den Schlußworten der Stelle zu fol-
gern: nquamquam in his nannumquam ayllaba pro integro pede in
ultima dumtaxat verms parte accepta proprium impleat thesin, «
Hiernach ist es eine so gut wie direkte Überlieferung der rhyth-
misch-metrischen Wissenschaft, daß die Tetrapodie zwei ßdaeig dt-
noii%aiy zwei dipodische Percussiones hat, von denen eine jede den
die perctusianM des iambischen Trimeters kommt der Sache nach in derselben Weise
aaeh bei Terentianus Maurus 2249, bei Priscian als Fragment des Asmonius, bei
Rufin als Fragment des Caesius Bassus, bei Priscian als Fragment des Juba vor.
Der lateinische Metriker Juba hatte bezaglich der Ausdrücke agais" und ^iaic die
Aristoxenisehe Auffassung, nicht diejenige, w siehe den vorangehenden Takttheil
als oQciff, den nachfolgenden als ^iaig auffaßt
* Spät komme ich dasu, der vortrefflichen Arbeit des Herrn Dr. Hahn in
Breslau über die Quellen des Marius Victorinus das gebührende Lob zu spenden,
vas eigentlich schon in der dritten Auflage meiner griechischen Bhythmik hätte
geschehen müssen, wenn es nicht anderweitig verhindert worden wäre. Ich habe
dem Herrn Dr. Hahn gar vieles zu verdanken.
gS Eudolf Westphal,
einen der beiden trochäischen Versfüße zur ÜQaigt den anderen znr
d'iacg hat. Angesichts dieser bei den alten Metrikem erhaltenen
Darlegung sind wir gezwungen, die Ansicht H. Weil'», die Tetra-
podie habe zwei Semeia, eine Thesis und eine Arsis, zu verlassen
und statt ihrer der aus der Theorie der ßäaig diTtodr/.rj folgenden
Auffassung Baumgart's uns anzuschließen:
Die Tetrapodie hat vier Semeia,
nämlich zwei ügaei^ und zwei -d-iaeig
ÜQaigj '3'iaig, ÜQaig, -S'eaig,
oder in umgekehrter Ordnung der Takttheile:
^iaig, ixQaig^ -S-iacg^ ÜQaig.
So spricht die positive rhythmische XJberlieferung, welche in der
den Namen des Marius Victorinus tragenden Kompilation enthalten
ist, gegen die Interpretation, welche H. Weil von der aus Aristo-
xenos stammenden Stelle des Psellos gegeben hat, daß die Tetrapodie
zwei Semeia, die Pentapodie dagegen vier Semeia habe ; sie spricht
für die Auffassung Baumgart's, daß in der Stelle des Psellos das
Wort ariiteiov auf einem von einem Späteren herrührenden Glosseme
beruhe, welches sich, wie es oben (S. 85) geschehen ist, glücklicher-
weise als solches erkennen läßt. Bleiben wir bei dem Satze, daß es
die Lehre des Aristoxenos sei, in dem aus mehreren Versfüßen zu-
sammengesetzten Takte ist ein jeder der einzelnen Versfuße als Takt-
theil zu fassen.
Einer noch nicht bei Aristoxenos vorkommenden, aber wohl
von den alten Metrikern uns überlieferter Klassifikation der nödeg
in die Ttödeg Tijg rtQwzrjg dvTiTta&elag und die Ttööeg rfjg devri^ag
ävTiTtad-eiag zufolge sollen die 3- und 4 zeitigen Ttödeg der ersten
Kategorie, die 5- und 6 zeitigen Ttödeg denen der zweiten Kategorie
angehören, diese Klassification läßt sich mit der von Aristoxenos an-
gegebenen Ausdehnung der verschiedenen einfachen und zusammen-
gesetzten Takte in Verbindung bringen und außerordentlich verein-
fachen. Von der ersten Kategorie können die Versfüße bis zum
dipodischen, tripodischen, tetrapodischen, pentapodischen, hexapodi-
schen novg aivd^exog, von denen der zweiten Kategorie aber bloß
bis zum dipodischen, tripodischen Jtovg G'Ovd-erog zusammengesetzt
werden. Von dem 3 zeitigen und 4 zeitigen Versfuße (dem Daktylus,
Anapäst, Trochäus, lambus) giebt es also Dipodien, Tripodien, Te-
trapodien, Pentapodien, Hexapodien, von den Päonen und lonici
aber bloß Dipodien und Tripodien, keine Tetrapodien, Pentapodien
und Hexapodien. Aristoxenos stellt dies folgendermaßen dar: Die
Ttödeg, welche auch eine Qv&fioTtoila avvexr}g bilden können, gehören
Die Aristoxenische Kh^thmuslehre. 39
der daktylischen, iambischen und paeonischen Taktart an. Ein Ttoi)^
anderer Taktarten (die Psellianischen Prolambanomena zählen zu
diesen anderen Taktarten die nodeg, deren Takttheile im Verhältniß
von 3 : 4 und 1 : 3 stehen, die epitritischen und tiiplasischen Ttodeg,
offenbar nach Aristoxenos' Darstellung, was auch Weyhe in seiner
Arbeit dagegen einwenden mag) ein solcher Ttovg kann nur einzeln
unter andere Ttödeg eingemischt sein, nie aber können mehrere epi-
tritisohe oder triplasische Takte auf einander in einer avvexv^ Qvd--
fiOTcoiia auf einander folgen. Die Takte der geraden, ungeraden
und fünftheilig-ungeraden Taktart aber können zu folgenden Kola
[zusammengesetzten Takten) zusammentreten, die der daktylischen bis
zum 16 zeitigen Takte, die der iambischen bis zum IS zeitigen Takte,
die der päonischen bis zum 25 zeitigen Takte. Hieraus ergiebt sich
die folgende Aristoxenische Taktskala:
3 zeitig: ^ J ^' iambischer Takt.
4 zeitig: J J j J daktylischer Takt.
5 zeitig: jTJj] paeonischer Takt.
6zeitig: J J j J J J iambischer Takt.
J^ J^ J^i ionischer Takt.
8 zeitig: J"77] STTä daktylischer Takt.
9 zeitig: J j j J J J J J J iambischer Takt.
I I
ä ä ä
I I I
Jjj J J J ionischer Takt.
12 zeitig: J j J J J J J J j J j j iambischer Takt.
J j j j J j J J J J J J ionischer Takt.
000 000
III 111
15 zeitig: JJJ JJJ J J J JJJ J J J iambischer Takt.
16 zeitig: /JT3 JT7] JT7# J77^ daktylischer Takt.
ISzeitig: rn rTj JTl rn rjl m iambischer Takt.
J J J J J J J J J J J J J J J J j j ionischer Takt.
\ \ \ rrr ^ t t
25 zeitig: JJJJJ J J J J J J J J J J JjjJ' J J J J J J paeoni-
scher Takt.
90 Rudolf Westphal,
Wir fügen hinzu, daß der 8 zeitige daktylische Takt durch die
Chresis der Rhythmopoiie auch die Form J J J J annehmen kann,
d. h. aus zwei Spondeioi diploi bestehen kann^ der 4 zeitige auch in
der Form J J, d. i. als Orthios oder Trochaios semantos, der 5 zeitige
auch in der Form des Paion epibatos J J J J, Taktformen, auf
welche die Äristoxenische Rhythmik in der Skala der Takte keine
Rücksicht nimmt.
Wir machen weiter darauf aufmerksam, daß andere als die von
Aristoxenos aufgestellten Taktmegethe in der ^vO'f.WTtoila avvex^Q nicht
vorkommen können, daß daher alle katalektischen Dipodien, Tri-
podien, Tetrapodien, Pentapodien, Hexapodien z. B. -v-/-^-^-,
-wv^_v^v^_ww_ u. s. w. einen anderen als den in den Sylben an-
gegebenen rhythmischen Werth haben müssen. Sie haben stets das
rhythmische Megethos des entsprechenden akatalektischen Kolons,
sei es wie Aristeides angiebt, durch Hinzufügung einer Pause, sei es
wie aus den Musikbeispielen des Anonymus folgt durch Verlängerung
der im katalektischen Auslaute erscheinenden langen Sylbe zu einer
3 zeitigen oder 4 zeitigen. Also jedes katalektische Kolon hat nach
Aristoxenos den gleichen Zeitwerth wie das entsprechende aka-
talektische.
Übersicht der unzusammengesetzten und der zusammen-
gesetzten Takte.
Trochäische und iambische Takte.
Monopodie: Tiohg r^Lar^^iog iovv&erog
- ^ 3 zeitiger Trochäus
^- 3 zeitiger lambus
ä 4
Dipodie: 7iovg i^aarn^iog avvd-BTog Iv i»6y(fi laqi
- ^ - ^ 6 zeitige trochäische Dipodie
^ T ^ ~ 6 zeitige iambische Dipodie
^ 4 ä ä 4 0
Tripodie: Tcovg ivveüarjfiog Iv Idyii) diitlaoUf
- ^ - ^ - ^ 9 zeitige trochäische Tripodie
^-^-^- 9 zeitige iambische Tripodie
4 ä 4 4 4 4 4 4
Tetrapodie: Ttovg re%Qdarjf.iog avv&erog Iv "koyi^ Xoi^
__w_w-w->^ 12 zeitige trochäische Tetrapodie
^ - ^ - ^ - ^- 12 zeitige iambische Tetrapodie
Aristoxenische Rhythmaslehre. 91
Pentapodie: Ttovg ^cevTsxaidsTcdaq^og aiv^ezog Iv köyq) ii^ioXLt^
-^->--^-^-^ 1 5 zeitige trochäische Pentapodie
w«w_^-v-/_^_ 15 zeitige iambische Pentapodie.
Hexapodie: novg dTcrionaidendarifiog avv&BTog iv k6y(fi dtJtXaaU^
-' — ^ ^^ ^\j -yj ^\j 18 zeitige trochäische Hexapodie
^-^-^-^-^-^- 18 zeitige iambische Hexapodie.
Daktylische und anapästische Takte.
Monopodie: Tcovg TBxqäari^iog iaiv&evog iv Xöyq) loip
-wvy 4 zeitige daktylische Monopodie
^^- 4 zeitige anapästische Monopodie
^^^^^^^^^
ä ä 0 ä
Dipodie: Ttovg durdarj/Äog oin^d-evog iv X6y(p Xa(p
8 zeitige daktylische Dipodie
- 8 zeitige anap'istische Dipodie
— ^ v/ — «^ v-/
\^- \J ^ \J \J
4444 0444
Tripodie: Ttovg dcjöexäarjinog aiv&etog iv Xöytp di7tXaal(p
12 zeitige daktylische Tiipodie
" 12 zeitige anapästisohe Tripodie
^ w — s-/ w — w \>
4 4 4 0 4 4 4 4 0 4 0
Tetrapodie: novg ii^i^aiös'Aaarjiiog aip&etog iv X6y(p Xoiff
-^^-^^-^^-^^ 16 zeitige daktylische Tetrapodie
- 10 zeitige anapästische Tetrapodie
>^ V^ — V>Vw/ — \J \^ .^ \J \^
4 4 4 4 4 4 4 0 4 4 4
Pentapodie: novg dxoaiaäarjinog a{fp&STog iv Xöyif fji^uoXiap
. ws^_v^v^_v.v^_wv^_v^v-/ 20 zeitige daktylische Pentapodie
- 20 zeitige anapäsUsche Pentapodie
>^ — «wV-' — \J \^' ^ \J \^ '<J \^
40 4444 4444 4004 4444
Fär die nödeg äo'öv&eroi und aiv^Btoi r^g öevxiqag &vri7ta&€lag
wird die Aristoxenische Skala die Megethe folgender Taktgrößen
ergeben.
Päonische Takte.
Monopodie: Ttovg Ttevraarjfiog &ovv&€tog iv X6y(i) fi/iioXlip
-^- 5 zeitige päonische Monopodie.
Dipodie: Ttohg dexaarj^tog aiv&erog iv i.6yiff Xat^
-w — v./« 10 zeitige päonische Dipodie
0 4^0 4di^0
92 Rudolf Westphal,
Tripodie: Ttoifg 7tsvT€ycaid€Käar]fiog cöyd-erog iv Xöyq) diTclaaiq)
-^ — ^ — ^ - 15 zeitige päonische Tripodie.
Es kommt nach Aristoxenos hierzu noch die päonische
Pentapodie: Ttovg Ttevveycaiei^oadarjuog aivS-erog ev Xöyi^ fjf.iio)ii(p
_^ — \j — v^«-w — v^_ 25 zeitige päonische Pentapodie
RSB R=SP PEB nsm PEqn
äääää 0 ä ä ä ä ä 4 0 d ^ 4 4 4 4 4 44444
Ionische Takte.
Den einzelnen ionischen Versfuß schreiben wir in der Form des
MolossuS; ohne daß zwischen der mit der Thesis und der mit der
Arsis anlautenden Form des Versfußes unterschieden zu werden
braucht.
Monopodie: novg i^aarjfiog aaiv&erog iv köyct) diTtkaoLt^
6 zeitige ionische Monopodie
Tripodie: Ttohg d-Ktw^aiöeyMOrjuog avvd-exog hv köyq) dl/ckaaicp
1 8 zeitige ionische Tripodie
ITTTP, JT^T, FTiTTi
Die Diairesis der Takte in Chronoi podikoi.
Die sämmtlichen von Aristoxenos als für die ovvexrig QV&fi07toua
zugelassenen rhythmischen Megethe sind der Anzahl nach 19, theils
äaiv&€TOi, theils avv^eroc Ttödeg, Aristoxenos will für die Ttödsg die
diafpoqai auseinandersetzen. Diese sind:
1. ^lacpoqa '/mtcc f.iiyed'og
2. ^lacpoQic 'Aara yivog
3. /^tacpoqh tojv ^rjvßv xai rwv äXöycov
4. ^caq)OQa Tiara avv&eaiv
5. Jiacpoqa xara dcaiQsacv Ttoiav
6. Jia^poqa xara rb ox^f-icc
7. Jia(poQa xaror drrld'eaiv.
Von diesen 7 diacpoQal giebt Aristoxenos bei einer vorläufigen
Aufzählung kurze Definitionen, die uns um so werth voller sein
müssen, als die Ausführung dieses Gegenstandes in den Handschriften
der Rhythmik uns nicht überkommen ist. An dieser Stelle soll die
4. und die 7. Diaphora so gut es gehen will, behandelt werden.
Was Aristoxenos von der Diaphorai tcov ttoöijv sagt, gilt ebenso gut
Die Aristoxenische Rhythmuslehre. 93
fiir die imzusammengesetzten wie für die zusammengesetzten Takte.
Von der Diairesis heißt es dort :
Durch Diairesis werden sich (zwei einfache) Takte von ein-
ander unterscheiden, wenn ein und dasselbe Taktmegethos in
ungleiche fUgr] ^Takttheile) zerfällt. Und zwar sind die Takt-
theüe ungleich, sowohl durch die Zahl der Takttheile, wie
durch die GröBe der Takttheile, oder (nur) durch den einen
dieser beiden Faktoren.
Wie verhält sich dies nun beim zusammengesetzten Takte?
Zur Erläuterung gab die Theorie der griech. Rhythmik dritter
Aufl. folgende Auseinandersetzung:
i. Das 6 zeitige Megethos ist zwei Takten gemeinsam
a. dem 6 zeitigen lonicus
, zwei ungleiche Takttheile: ein 4 zeitiger und ein
2 zeitiger
b. der 6 zeitigen trochäischen Dipodie
-^-^, zwei gleiche 3 zeitige Takttheile.
2. Das 10 zeitige Megethos ist zwei Takten gemeinsam, nämlich
a. der 10 zeitigen päonischen Dipodie
- ^ — ^ -, zwei gleiche 5 zeitige Takttheile
b. dem 10 zeitigen Paion epibatos
-, -, — , - vier Takttheile (Aristeides), drei 2 zeitige und
ein 4 zeitiger.
3. Das 12 zeitige Megethos ist drei Takten gemeinsam, nämlich
a. der 12 zeitigen daktylischen Tripodie
«wv^-ww-w^^ aus drei gleichen 4 zeitigen Taktth eilen
bestehend
b. der 12 zeitigen ionischen Dipodie
, , aus zwei gleichen 6 zeitigen Takttheilen bestehend,
c. der 12 zeitigen trochäischen Tetrapodie
-v-'-v^^-v^-w^-v^-w^ aus vier gleichen 3 zeitigen Takt-
theilen bestehend.
4. Das I5zeitige Megethos ist zwei Takten gemeinsam, nämlich
a. der 15 zeitigen päonischen Tripodie
— ^ w_ -v-^-, aus drei gleichen 5 zeitigen Takttheilen
bestehend,
b. der 15 zeitigen trochäischen Pentapodie
- '-'-^-^-^-^, aus fünf gleichen 3zeitigen fiiQrj be-
stehend.
5. Das 18 zeitige Megethos ist zwei Takten gemeinsam, nämlich
a. der 18 zeitigen ionischen Tripodie,
, aus drei gleichen Gzeitigen [.liQri bestehend,
94 Rudolf Westpha],
b. der 18 zeitigen trochäischen Hexapodie
-^-^ -w_v> _w-v^^ aus drei gleichen 6 zeitigen fiiQr^
bestehend.
So verstatten von den für die awexrjs ^v&fiOTtoua 19 verschie-
denen Megethe das 6 zeitige, das lOzeitige, das 12 zeitige, das 15 zei-
tige, das 18 zeitige je eine zweifache oder dreifache Diairesis ver-
schiedener i^iiqj] (Takttheile oder Oijiiteia).
Von jeder der 19 Taktgrößen steht es fest, daß sie — sei es ein
einfacher, sei es ein zusammengesetzter Takt im Sinne des Aristo-
xenos ist. Doch hier scheint sich ein Widerspruch zu ergeben.
Nach der vorstehenden Ausfuhrung der Diairesis zerfallen die zu-
sammengesetzten Takte entweder in 2 fisQr], oder in 3 fiigt], oder in
4 fi€Qr]j oder in 5 iuqt], oder in 6 fiegrj. Nach der oben ange-
führten ausdrücklichen • Erklärung des Aristoxenos kann ein Takt
niemals in mehr als 4 fiiQtjy leichte oder schwere Semeia zerfallen.
Wenn Aristoxenos sagt:
^ca vi de oJj yivBtai Ttkeloß arj^isia zwp zeTTagiov^ olg b Ttoh^
XQfjvat xara r^v aifxov dvvafuVj Vareqov deixB-fioeTat^
so liegt darin die ausdrückliche Erklärung von Seiten des Aristoxenos,
daß ein Takt höchstens vier Taktschläge nöthig habe, daß aber kein
Takt vorkomme, welchem fünf oder sechs Taktschläge zu geben seien.
Jene Tcödeg also, welche hiernach Aristoxenos aus fünf oder sechs
fxiQrj bestehen läßt, erhalten beim Taktiren nicht fünf oder sechs
Taktschläge; sie werden abweichend von dem bei Dipodien, Tripo-
dien, Tetrapodien eingehaltenen Verfahren, nicht so taktirt, daß auf
jeden einzelnen Versfuß, welcher in dem ganzen zusammengesetzten
Takte enthalten ist, je ein Taktschlag kommt.
Aber wie soll hier taktirt werden? So daß die Pentapodie, daß
die Hexapodie, obwohl sie der Theorie nach als ein einheitlicher
Ttovg avvd-eTog aufgefaßt ist, in der Praxis des Taktirens jene (die
Pentapodie) als ein Verein von fünf selbständigen monopodischen
Ttödeg äaiv&eroi, diese (die Hexapodie) als ein Verein von drei
selbständigen dipodischen nödeg durch das Taktschlagen markirt
wird. Wir erhalten hiermit für die griechische Taktlehre zwei Kate-
gorien von Takten. In die eine Kategorie gehört der bloß theore-
tische Takt (die Pentapodie und die Hexapodie), in die andere Kate-
gorie der Takt, der auch in der Praxis als einheitlicher rrovg mit
2, 3, 4 ari^iela beim Taktschlagen zu markiren ist (Monopodie, Dipo-
die, Tripodie, Tetrapodie). Auch die Metriker überliefern, daß die
Pentapodie aus 5 Ttödeg besteht, daß die Hexapodie ein Trimetron
ist, welches aus 3 Dipodien zusammengesetzt ist.
Die Aristoxenische Rhythmuslehre. 95
Pentapodie :
V4 gTTrs I JT7Z I sTTZ I mi I n
Hexapodie oder Trimetron:
Aß JT3 JT3 I JTd J0Z I #" #73 '
Gerade so würden auch die Modernen ihre pentapodischen und
hexapodischen (trimetrischenj Kompositionen taktiren, nicht aber
V4 ^40S 4V4 ^___^ p.^-,«-^..«
'V16 /73 JTJ üTS /T3 /TS #73
Man vergleiche Gluck's Taurische Iphigenie^ ersten Eingangs-
Gesang in der Ouvertüre, Mozart's Hochzeit des Figaro, Gesang beim
gleichzeitigen Marsche im 4 zeitigen daktylischen Takte.
Diairesis in Chronoi Rhy thmopoiias idioi.
Nachdem Aristoxenos im § 1 9 seiner Rhythmik vorläufig erörtert
hat, daß der Takt entweder 2 oder 3 oder 4 Taktschläge erhalte,
fährt er fort:
Durch das Vorgetragene soll man sich aber nicht zu der irrigen
Meinung verleiten lassen, als ob ein Takt nicht in eine größere An-
zahl von niqri als 4 zerfalle. Vielmehr zerfallen einige Takte in das
Doppelte der genannten Zahl, ja in ihr Vielfaches. Aber nicht an
«ich zerfallt der Takt in eine solche größere Anzahl von [liqri (als
im § 17 angegeben ist), sondern die Rhythmopöie ist es, die ihn in
derartige Abschnitte zerlegen heißt. Die Vorstellung hat nämlich
auseinander zu halten:
einerseits die das Wesen der Takte wahrenden Semeia,
andrerseits die durch die Rhythmopöie bewirkte Diairesen.
Und dem Gesagten ist hinzuzufügen, daß die Semeia eines jeden
Taktes, überall wo er vorkommt , stets dieselben bleiben, sowohl der
Zahl als auch dem Megethos nach ; daß dagegen die aus der Rhyth-
mopöie hervoj^ehenden Diairesen eine reiche Mannigfaltigkeit zu-
lassen. Auch dies wird in dem weiterhin Folgenden klar werden.
Die ausführliche Darstellung dieses Gegenstandes ist in dem
handschriftlichen Texte des Aristoxenos nicht mehr erhalten. Da-
gegen finden sich in den Excerpten des Psellos folgende darüber han-
delnde Paragraphen (§ 8).
Von den Chronoi sind die einen podikoi, die anderen sind
Chronoi Rhythmopoiias idioi. Chronos podikos ist derjenige, wel-
cher das Megethos eines Takttheiles hat, des leichten oder des
schweren, oder des ganzen (unzusammengesetzten) Taktes.
96 Rudolf Westphal,
Chronos Bhythmopoiias idios ist derjenige, welcher an Aus-
dehnung hinter diesem Megethos zurückbleibt oder darüber hinausgeht.
Und es ist der Rhythmus, wie gesagt, ein System aus den
Chronoi podikoi, von denen jeder bald ein leichter, bald ein schwerer
Takttheil, bald ein ganzer Takt ist. Rhythmopoiie dagegen wird
sein, was aus Chronoi podikoi und Chronoi Rhythmopoiias idioi
besteht.
Hierher gehört noch ein anderes Psellianisches Fragment 10:
Ttäg ök b diaiQO'Ofievog elg Ttlelo) &qtd-i.ihv 'Aal elg iXarTCj dcaigelTai.
Man hat hier übersetzt: jeder in eine größere Zahl getheilte Takt
wird auch in eine kleinere Anzahl eingetheilt. Man mag aber über-
setzen, wie es beliebt, jedenfalls geht so viel Sachliches daraus her-
vor: ein jeder Takt wird zugleich in Chronoi podikoi und in Chronoi
Rhythmopoiioi idioi getheilt. Die Diairesis in Chronoi podikoi ist nicht
ausreichend, es muß gleichzeitig auch noch die Diairesis in Chronoi
Rhythmopoiias idioi hinzukommen. Der griechische Rhythmiker sagt
7t äg Tto'ög: jeder Takt hat diese zweifache Diairesis nothwcndig.
Eine andere Stelle über die Chronoi Rhythmopoiias idioi ist uns
in der dritten Harmonik des Aristoxenos § 9 erhalten.
Allgemein zu reden, es bedingt die Rhythmopöie viele und
mannigfaltige Bewegungen, die Takte aber, durch welche wir
den Rhythmus bezeichnen, stets einfache und konstante Be-
wegungen.
Am wichtigsten ist die in der Aristoxenischen Rhythmik a. a. O.
enthaltene Angabe:
fiSQl^ovTai yccQ evcot zcov tcoöwv sig dutXäaiov tov elQri^evov
aQi&fiov xai elg TiokkaTtXaatov, . . JäkX^ :oi xa^' aitbv b nohg
elg rb Ttkeov tov elgrj^ievov Ttkifjd'ovg fiegiCeraij &XJ! iitb Tvjg
^vd-piOTtoUag diaigelrai rag roiavtag diaiQeaetg.
Nach Aristoxenos' eigner Aussage ist also für einige Takte die
Anzahl der Chronoi Rhythmopoiias idioi so groß, daß dieselbe die
jedesmalige Anzahl der 2, 3, 4 /^örot Tcodixol um das Zweifache
oder um das Vielfache übersteigt, daß mithin die Anzahl der xqövoi.
QV&fjiOTtoUag tdioi entweder 2. 2, 2. 3, 2. 4 = 4, 6, 8 oder z. B. 3. 2,
3. 3, 3. 4 = 6, 9, 12 betragen würde.
Im Einzelnen ergiebt sich hieraus:
Für den Ttoifg 6}iTaar]f,iog, welcher 2 x^dvoi nodt-Kol (ßaoeigj
percusstones) hat, wird sich die kleinere Ani^ahl der xQ^^oc
Qvd'fiOTtouag idtoi auf 2 mal 2 = 4 herausstellen.
2 xQ^^oi Ttodmol I ^eaig U ägaig
4 XQ' Q'^^' 'i-SiOi 12 3 4
Die Aristoxenische Hhythmuslehre. 97
In der daktylischen Dipodie bildet jeder der beiden Daktylen
einen x^6vog nodcKÖg, der eine die S'iaig, der andere die Hqüig.
Von den 4 xqdvo^ ^vd-fiOTtoilag idioi, von den 4 Zeitabschnitten,
in welche die daktylische Dipodie von Seiten der durch die Bhyth-
mopoiie geschehenden Diairesen zerfallt, wird eine jede mit den
beiden Semeia eines jeden der beiden Daktylen d. i. mit der 2 zei-
tigen 'S'iüig und der ebenso groBen &^aig des 4 zeitigen Daktylus
fusammenfallen .
Die größte Zahl der xqövoi ^&(i07toUag tdtoi wird bei der
8 zeitigen daktylischen Dipodie nicht das Zweifache der Anzahl ihrer
2 yifiövoi TtodiTCol, nicht das öiTtläawvj sondern ein TdoXkanXiaiov
ifi^fiaVj bilden.
2 XQ^^^'' ^odiTcol I. &iaig
_ v-/ ^
n. äQOcg
— ^ y^
5 6 7 8
8 X9' ^v&^. Ulol 12 3 4
Bei dieser Anzahl der xQOVOc ^v&fÄortoilag idioi im Ttovg ^xrdai;-
flog fallt ein jeder derselben mit dem x^oVog Ttqwrog zusammen,
welche im Ttohg di^rdarj/Äog enthalten sind. Man vergleiche hierzu
die Seite 87 angezogene Stelle des Fabius Quintilianus IX, 4, 51.
Quintilian hat in seinem Berichte das Taktschlagen von Seiten der
Bhythmiker im Auge, und berichtet von den percussiones dxjiai/jfioij
bei deren Taktiren man die einzelnen xQovoi TtQCJvot gezählt habe.
Für den Ttohg i^darjfiog avvd^Btog, dessen xQ^^^'^ ^^^^^^^ ^^^
je einem Trochäus bestehen, wird sich. die Anzahl der in ihm ent-
haltenen xQ^o^ QV&fiOTtoUag idioi auf das Doppelte seiner 2 XQ^"*^^^
Ttoiixoi tflarjfioi herausstellen.
2 xQ^^<^^ Ttoötxol I. &iacg
I -^
I \^ \y \^
6 x9- ^v^f^' idcot 1 2 3
IL ä^aig
\J \^ \J
4 5 6
Denn Trochäus (und lambus) wird man niemals nach dem fiiye&og
der atjfiela des einzehien Versfußes (abwechselnd) nach einem 2 zei-
tigen und 1 zeitigen taktirt, sondern stets die 3 xQ^'^^'- ^^^'^oi des
einzelnen Versfußes gezählt haben. Fabius Quintilianus a. a. O.
schweigt von TQlarjfioipercussiones aus dem vorher angeführten Orunde :
die Trochäen und lamben waren meistens zu tetrapodüschen und
hexapodischen (trimetrischen) Takten verbunden.
Im Ttovg i^aarjfiog äavvd^eTog, der ionischen Monopodie haben
die beiden xqovol TtodcTiol ungleiches Megethos, der eine ist 4 zeitig,
1891. 7
98
Rudolf Westphal,
der andere 2 zeitig. Neben der Diairesis in die beiden xqovoi reo-
61x01 (von ungleicher Zeitdauer) hatte der taktirende Dirigent stets
(vgl. oben) auch die xqovov Qv&fiOTtoUag idcoc zu markiren. Die Zahl
der in einem Takte enthaltenen x^ovoi, ^v&^OTtoUag idioc ist ent-
weder der ndcTtXaaiogv oder der j^TtollaTtlaaiogt i^i&fiog Beiner
XQovoL TtodvKol, Der i>7toXXa7tkdaiog(x äQi&fiog kann entweder das
Dreifache oder das Vierfache seiner Chronoi podikoi sein. Im ersteren
Falle würden sich bezüglich des Ttovg i^darjfiog io'öv&eTog den
2 XQ^^^'' ^oÖLTCol gegenüber für die xQ^'^oi ^v&fiortouag idioi die
Zahl 3 mal 2 = 6 ergeben.
2 %poi/06 TtodvAoL I. d^iaig
\j \j \^\j
1 2
6 xQ' ^y^f*' idiot 12 3 4
II. tcQCcg
3
5 6
Für den Tvoijg dioöexdaijfiogj die ionische Dipodie, ergiebt
sich hieraus bei ebenfalls nur 2 xQ^voc TtodiTLoi eine Zwölfzahl von
XQOVoc ^vd'^ionoUag Höloc
2 xQ^voc TtodtrAoL I. d^iatg
\j \j \j \j \j \^
6 XQ' ^y^' liioc 1 2 3
12 XQ- }y^' 'iSwL 12 3 4 5 6
II. &Qöi,g
4 5 6
7 8 9 10 11 12
Es giebt somit größere und kleinere x?^^^^ ^vd-fiOTVoUag Xdcov: die
größeren sind xQovoi dlarjfioi von je 2 zeitigem Megethos, die kleineren
sind xQ^voL TtQWToc von 1 zeitigem Megethos. Für den daktylischen
Ttovg dxrdarjfiog sind im Vorausgehenden sowohl die 4 zweizeitigen
wie die 8 einzeitigen ;fprf^ot ^v&fi07toUag idiot angegeben; für den
ionischen novg e^aarjfiog äavvd-evog sind die 3 zweizeitigen %ßoro6
Qvd^l.i07toUag und die 12 einzeitigen x^^'^^^ ^v&fiOTtoäag angegeben;
für die trochäische Dipodie (den Ttoifg i^darifiog aivd-STog) nur die
6 einzeitigen. Unter Zugrundelegung der Aristoxenischen Angaben
dürfen wir folgende Tafel der dipodischen, tripodischen und tetra-
podischen Takte ihres Megethos und die Anzahl ihrer Chronoi podikoi
und ihrer 2 zeitigen und 1 zeitigen Chronoi Rhythmopoiias idioi auf-
stellen (die pentapodischen und alle paeonischen Takte, sowie die
hexapodischen (trimetrischen) Takte dürften ausgelassen werden):
Die Aristoxenische Rhythmuslehre.
99
1 ""
Zusammengesetzte Takte
1
i
Megethos
der
ganzen
Takte
Zahl der
Chronoi
podikoi
Zahl der
2 zeitigen
Chronoi
Rhyth-
mopoiias
Zahl der
1 zeitigen
Chronoi
Rhyth-
mopoiias
jiTotfg aW'9'eTOQ dcfiSQrjg Iv Xoytfi ia(p
1 txochäische Dipodie
daktylische Dipodie
ionische Dipodie
6 zeitig
8 zeitig
12 zeitig
2
2
2
i
4
6
6
8
12
Iloifg cöv-d-erog TQi^€Qf}g Iv Xoyf^
1 trochäische Tripodie ....
daktylische Tripodie
ionische Tripodie
1
9 zeitig
12 zeitig
18 zeitig
3
3
3
6
6
9
9
12
18
\Jlovg aivd-BTog TeTQaf.ie^rig iv
1 tiochäische Tetrapodie ....
1 daktylische- Tetrapodie. . . .
12 zeitig
16 zeitig
4
4
6
8
12
16
Aus dieser Tabelle ist ersichtlich, wie Aristoxenos' dritte Har-
monik § 9 zu verstehen ist: JfiXov ^ Sn aal al rwv dtaiQioBiov ve
aal axfjf^otTiov 6ia<poQal Tteqii ^ivov tl fiiye^og yiyvovrai, yca&olov i*
ütcuv fi iihv QV&^OTtoUa TtoXXhg %al 7tav%odanhg xtvelrat ^i/ir^aug^
Ol ih Ttödeg olg ar]fiacv6fi€&a Tohg ^v^fiohg ScTclag re xal Titg avritg
itL Der jtovg aifpd'STog dcf^sQiqg und revQafieQrjg iv X6y(fi Xaip, der
Tcobg vQtiiBQ^g iv "koyi^ öi7tkaal(p, diese sind ol Ttodsg olg arjf^acvo-
(ndix Tot/g ^'d'^ovg, diese sind es, welche stets ctTtXag t€ xal rceg
airig xivifiaeig haben, von 2- oder von 3- oder von 4 zeitigen Vers-
fiiBen dargestellt werden: ein jeder von ihnen hat, er mag vorkom-
men, wo er will, immer nur entweder 2 oder 3 oder 4 Takttheile,
stets nur Takte von 2 oder 3 oder 4 xQovoi TtodcKol. Ihnen gegen-
über sagt Aristoxenos »fj fikv ^v&iiOTtoua TtoXXhg %al TtavTodaTtitg
nivrjaeig xi/uelract. Damit meint er die XQ^^^'' ^^^ ^V'S'fiOTtoUag iSioi,
welche auf diese Ttodsg kommen: je nach der metrischen Form der
Versfüße, welche die Bestandtheile des Taktes bilden , und je nach-
dem die xQOVOc ^vx^fiOTCoUag entweder 1 zeitige oder 2 zeitige sind,
kommen auf den vtovg aivd-Bzog TQifieQrjg bald 9, bald 6, bald 12,
bald 18 xQovoi ^v&^orcouag. In der That, das sind »TtoXXai xat
nav%odaTtal mvijäug«.
j^QQ Rudolf Westphal,
Es darf nicht unbemerkt bleiben, wie sich das von Aristoxenos
und Fabius Quintilian beschriebene Taktverfahren der Alten ssum
Taktverfahren der Modernen verhält. Kompositionen in 3 zeitigen
und 4 zeitigen Versfüßen werden bald nach einfachen, bald nach zu-
sammengesetzten Takten dirigirt. Die zusammengesetzten Takte der
modernen Musik haben entweder 2 oder 3 oder 4 Hauptbewegungen
des Dirigirens den 2 oder 3 oder 4 xq6voi 7todi%ol des Aristoxenos
genau entsprechend. Der Dirigent markirt hier durch weites Aus-
holen mit der ganzen Länge des Armes. Ist der Rhythmus ein nicht
zu schneller, so hält es der Dirigent für nothwendig, auf jede »Haupt-
bewegung« auch noch eine bestimmte Anzahl von »Nebenbewegungen«,
die er durch den Unterarm vom Ellenbogen bis zur Hand ausfuhrt,
kommen zu lassen. Diese »Nebenbewegungenc des modernen Dirigirens
kommen mit demjenigen überein, was Aristoxenos xqovoi xfig ^vd'fjio^
Ttoclag Xötoi nennt.
Quintilian berichtet von den alten Rhythmici »pedum et digüorum
ictu intervaUa signant qvibusdam noiisn. Darf man annehmen, daB
bei den Alten mit dem pedum ictu die x^ovoi Ttodcnoly mit digitorum
ictu die xQ^^'' ^v-^-fiOTtoUag markirt worden seien? Es ist wohl
kaum, anders möglich, denn Quintilian sagt etj nicht aut, das Mar-
kiren mit dem Fuße war gleichzeitig mit dem Markiren vermittels
der Finger. Dann würden die rhythmischen Hauptbewegungen bei
den Alten durch Auftreten mit dem Fuße, die rhythmischen Neben-
bew^ungen mit der Hand ausgeführt worden sein. Es wird sich
schwerlich eine Stelle bei den Alten finden lassen, welche hierüber
genaue Auskunft gäbe.
Die gleiche Zeitdauer heterogener Versfüße, hergestellt
durch Wechsel der rhythmischen dyiayaL
Unter dem Terminus technicus Metton verstehen die Alten das-
selbe wie unter Periode. Es giebt 2- und mehrgliedrige Perioden
= dikoUsche, trikolische und längere Metra. Bis zu 4 Kola kann
eine Periodos enthalten, sagt der römische Metriker Marius Victo-
rinus, welcher eine Zusammenstellung aus seinen metrischen Schriften
gegeben hat. Seiner Qualität nach ist das Metron, sagt Hephaistion,
entweder ein gleichförmiges oder ein ungleichformjiges. Das gleich-
formige heißt bei ihm fiir^ov f^oroeidegj aus Versfüßen desselben
^löog lurqixov bestehend: das daktylische aus lauter Daktylen, das
anapästische aus lauter Anapästen u. s. w. Das ungleichförmige ist
entweder ein gemischtes (genannt ifxoioeidig und ärrcTtad-ig) oder
ein episynthetisches. In dem gemischten Metron besteht das einzelne
Kolon aus einer Mischung heterogener Versfüße, von denen das eine
♦ - •
Die Aristozenisehe Rhythmusltiliif : - . . \Q\
->^^^
aus diesen, das andere aus jenen Versfüßen besteht. Jedes ,jeinzQ][ne
Kolon des episynthetischen Metrons ist ein ungemischtes.* Ji* ^^
wenigstens der häufigste Fall, daß die Kola eines Metron episyit-
theton den ungemischten Versfüßen der 4 zeitigen oder der 3 zeitigen
Taktart angehören.
In den gemischten Metra der geraden und der ungeraden Takt-
art werden 4- und 3 zeitige Versfuße zu einer metrischen Einheit ver-
bunden, obwohl die metrische Theorie der Alten vielfach annimmt,
daß in den meisten gemischten Metra die Versfuße je in 4 Sylben
zu zerlegen sind, wodurch auch Jonici und Choriamben als Bestand-
theile eines gemischten Metrons genannt werden. Boeckh hat hier
bereits das Richtige erkannt. Der Haupttypus der gemischten
Metra sind die von den Alten sogenannten Logaöden, von denen die
Alten sagen, daß in ihnen die Daktylen oder Anapaesten mit Tro-
chäen oder lamben gemischt seien, und nach den Logaöden bezeichnet
Boeckh auch die übrigen gemischten Metra als logaödische.
Daß nun in den gemischten Metra die einzelnen heterogenen
Veisfiiße, die ihrer äußeren Form nach dem 4 zeitigen und dem
3 zeitigen yivog Ttod&v angehören, einen und denselben Rhythmus
haben, hat bereits Boeckh nach dem Vorgange Apel's gelehrt. Eben
60 verhalte es sich mit den Metra, welche Hephaistion (lixqa iTtir-
avv&era nennt, in denen verschiedene Kola aus 4 zeitigen Versfußen
mit Kola aus 3 zeitigen Versfußen miteinander verbunden sind. Seit
Boeckh vrird wohl Niemand sein, welcher darüber anders denkt.
Wie Boeckh nun im Einzelnen sich die rhythmische Gleich-
stellung der Daktylen und Trochäen, der Anapaeste und lamben
dachte, darauf braucht hier nicht eingegangen zu werden. In den von
ihm sogenannten logaödischen Metren nahm er anfänglich nach Apel an,
daß hier ein Verhältniß wie in der modernen Musik zwischen den Dak-
tylen und Trochäen bestehe ^/g J J^ ( J ^ '). Er meinte, daß dieser
3 zeitige Daktylus es sei, welcher bei Dionysios der kyklische Fuß
genannt werde, da im vorliegenden Takte - ^ ^ Jj^ J der Länge der 3-
fache Zeitumfang der darauf folgenden Kürze gegeben ist. Deshalb
verließ Boeckh in seinen Metra Pindari den ApeFschen Standpunkt
and versuchte sich mit dem Satze des Aristoxenos (s. oben) auf seine
Weise zurecht zu setzen, indem er lehrte: nicht dem völligen rhyth-
mischen Werthe nach bei den Griechen gleichgestellt, sondern so,
daß der Daktylus ein rhythmisches Verhältniß von 2 : 2, der Tro-
chäus seinen koyog nodvKoq 2 : 1 bewahrt habe. Diese gleiche
Zeitdauer 2 ungleicher Versfuße sei durch die öivafiiQ &yu}yfjg^
durch einen Wechsel des rhythmischen Tempos bewirkt worden.
•• • •
• • •
. * • • • • •
1 02 ••*'.*• *•• *• Rudolf Westphal,
• • • •
• « * *
• • • •
Dii,e*/n(f4enfe 'Musik gestattet sicli eine willkürliche Zerfällung der
/jygiyi *fvS-fi07toUag idiotj daher sind uns Versfuß - Schemata wie
*•"- •J.T5 J ^I^^chaus geläufig, Daß moderne Worttexte in den verschie-
densten Taktformen vom Komponisten gesetzt werden, kommt häufig
genug vor. Es giebt nur wenige Beispiele, daß die christlich-modeme
Musik dasselbe Verfahren wie die Griechen eingeschlagen hätte.
Dies ist von J. S. Bach in dem Z)dur-Präludium des zweiten Theiles
seines wohltemperirten Klaviers geschehen. Wie der große Bach rhyth-
misirt — wie Professor Ph. Spitta mich belehrte, fand er selbst bei
Bach keine Parallele dieser Rhythmisirung, wenigstens nicht so, daß
dieselbe schon in der Taktvorzeichnung angemerkt sei. Wir setzen
den ersten Vers jenes Bach'schen Präludiums her, welcher beiläufig
gesagt, in einem Metron gehalten ist, welches nach der Nomenclatur
Hephaistion's ein Metron episyntheton zu nennen sein vnirde. Wir
geben zugleich die griechischen Termini an, mit denen die einzelnen
Versfüße des zusammengesetzten Taktes zu bezeichnen sein würden:
alle Veränderungen, die wir uns der Schreibung Bach's gegenüber
erlauben, sollen lediglich dazu dienen, die Vergleichung Baches mit
der griechischen Rhythmik instructiver zu machen.
*^ "" '^ «*
"i
^fTfjH-t^a^^^
: aqatSi ßoi<fi^» ^QfftSt ßaais;' ' ft^<yif, ßaai^, aQ<ri£, ßacig
Die hier vodiegende seltene Taktvorzeichnung (aus dem ^- und
dem ^^l^-T^iiAe kombinirt] hat den Namen der gemischten. Die
Griechen würden hier etwa den Terminus ^v&fiol nLOtvoi gebraucht
haben. Jeder Takt soll zugleich ein vierfüßiger ^-Takt und ein
vierfüßiger ^^/^-Takt sein. Obgleich diese Taktvorzeichnung zu den
allerseltensten gehört, wird doch jeder nur einigermaßen mit den
Taktverhältnissen bekannte Musiker das Präludium in dem von
Bach vorgezeichneten Rhythmus richtig ausführen. Der erste Takt
ist so groß wie der zweite, kommt in der Zeitdauer mit ihm genau
überein. Nach der griechischen Nomenclatur zerfällt der erste Vers
in 4 X90V01 Ttodtxol^ 2 Ügaeig und 2 ßdaeig ; der zweite nicht minder.
Wir haben das gleiche Megethos und haben auch dieselbe Anzahl
gleich großer fii^rj oder /^o^ot TtodtxoL Der Unterschied besteht
•darin, daß die der ersten aus TQlarifxoi noSeg, die der zweiten aus
reTQdarjfj,oi Ttoäeg bestehen, allgemein zu reden: sie haben ver-
schiedenes metrisches Schema. In unserem Beispiele sind die
beiden Bach'schen Takte gleich groß, sie haben auch dieselbe Anzahl
Die Aristoxenische Rhytbmuslehre. }Q3
von XQOPOC Ttoöixoi; aber die X9<>'^^^ ^v&fiOTtoäag Ydcoi, in welche die
Xi^opoi Ttoäixoi zeifallen, sind in dem einen der beiden Takte ändeie
ab in dem andern : in dem einen bildet ein jeder einen iambischen,
in dem andern einen daktylischen Versfuß, und dies ergiebt freilich
eine ungleiche diaigsaig ^vS-fi07toäag. Wird, wie Fabius Quintilianus'
Bericht lautet, nach XQ^^^'^ nQwroc gezählt, so müssen die Chronoi
protoi der iambischen Versfüße kürzer sein, als die daktylischen.
Das rhythmische Beispiel der Bach'schen Musik kann für uns
ein altgriechisches Beispiel vertreten. Bach ist der christlich-moderne
Meister der Rhythmik wie der Harmonik; bei ihm finden sich nicht
nur die zahlreichsten rhythmischen Formen, zahlreicher als bei allen
Nachfolgenden: daktylische Tetrapodien und Tripodien, welche letz-
lere man außer bei Bach nur im Scherzo der neunten Symphonie
BeethoYen's nachweisen kann, während sich bei Bach Beispiele davon
IUI Genüge finden (vgl. des Verfassers Allgemeine Theorie des musi-
kalischen Rhythmus seit J. S. Bach 1880 4. XL VII u. s.], sondern
auch sonst ist die Bach'sche Rhythmopöie ein Beweis, daß dieser
große Meister den Meistern der griechischen Rhythmik durchaus
kongenial war. Wir haben dies besonders bei Gelegenheit des
Gebrauches des anapästischen Tetrametrons nachgewiesen.
Gehen wir wieder zur antiken Rhythmik zurück. Aristoxenos
sagt in seiner 7 theiligen Harmonie § 9 : es giebt in der Harmonik
etwas Konstantes und etwas Variabeles. Dasselbe sei auch in der
Rhythmik der Fall:
TL&kiv Iv roig ^vd-fiolg noXXh rotavd^ bqü^iev yiyvöfieva' xai
yaq iiivovrog rov Xöyov xa^' bv didtQLavaL ra yivt] rix fieyi&r]
%LVtlxai Twv Ttodcjv dth t^^ Tfig äywyfjg diva^uv^ xa2 xwv
fAsysS-wv fxe^ovrary ivofxoioi ylyvovrai ol Ttodeg' aal ainh rb
liiysd-og Ttoda tb divazai xai ovtvylav.
Wir lesen bei Dionys. comp. verb. 11 : 'üf fiev Tts^ij Xi^ig oiderbg
hofiarog oOre ^ijfjiaTog ßiaZerai rovg xQovovg oijve' lABTaxL'd'riaLVy
6iX oYag 7taQelkr]q)e rfj q>iaBt T&g avkXaßag rag ze pia%qixg Y,al vitg
ß^ax^lag zotaixag q>vldTreL ^H dk ^qv&fAtxrj xal fiovainrj fiBra--
ßalXovoiv ctdrag fiBiovaai xal ai^ovaai, üars TtoXXaxig Big %h ^Bvav-
xia fiBTaxco^eiv ov yaq xcäLg avXXaßalg &7tBi&wovai rohg xqovovg^
iUit ToZg xQ^o^ ^^^ avXXaßag. Die Prosarede nimmt die Sylben-
quantitat, wie sie durch die Sprache an sich gegeben ist, ohne die
Längen und Kürzen in ein aus ihrer sprachlichen Natur nicht fol-
gendes Zeitmaß einzuzwängen, sie bestimmt die Zeitdauer nach der
natürlichen Sylbenbeschaffenheit. Die Rhythmik und die Musik (also
der gesungene Vers) aber bestimmt die Sylben nach dhronoi d. i.
Zeitmaßen /welche aus dem Begriffe des Rhythmus folgen, sie ver-
104 Rudolf Westphal,
ändert die natüiliche Fiosodie der Längen wie der Kürzen, indeni
sie diese bald über die gewöhnliche Sylbendauer hinaus ausdehnt
(das sind die %q6voi Tca^exTsrafiivoi des Aristeides), bald in ihrem
Zeitumfange verringert; oft gehen sogar Längen und Kürzen in ein-
ander über d. h. Länge und Kürze erhält den gleichen Zeitumfang.
Im 17. Kapitel redet Dionysios von einer //ax^cr Tslela (der
gewöhnlichen 2 zeitigen Länge) und einer verküirzten fiax^a. Lidern
wir die Ausdrücke fieiovaaij ad^avea&ac und rskela aufnehmen,
werden wir die von Dionysios angedeuteten Sylbenwerthe der Rhyth-
mik folgendermaßen bezeichnen können:
fianqii fiefieLWfiipr] ßqaxela fi€fiei(Ofiivr].
Die Worte ȧarc nollomig eig Ivavtla ^Braxioqeivn finden ihre
Bestätigung durch Longin proleg. ad Hephaist. § 6 und Marius
Victor, p. 5 K.
Longin. Mar. Victor.
jJiag)iqei ^v&fiov rb fiirqoVy fi Differt autem rhythmus a metrOy
TÖ iihv fiirqop TtSTtrjyorag ^ex^i quod metrum certo numero sylla-
roijg xQ^'^^^Si barum ac pedum ßnitum sit,
b dk j^v&f^bg £tg ßoiXexat, eX%Bt rhythmus autem . . ut volet pro-
%ohg xQovovg^ trahit temporay
TtoXXaxig yovp aal zbv ßqaxi^ ita ut breve tempus plerumque
Ttoul fiaxqov, longum effidat^ longatn contrahat.
Dasselbe ist auch bei Diomedes p. 468 Keil zu lesen;
Rhyihmi certa dimensione temporum terminantur et pro nostro
arbitrio [= ut volet Victor.^ &g ßoHerac Longin] nunc brevius arctari
[=s longam contrahat], nunc longius proveht [=s protrahit ten^ora] possunt.
Es ist nicht zu bezweifeln, daß dies Alles nur aus einem ge-
meinsamen griechischen Originale herstammt. Unter den x^oi/oe des
Longin und den tempora des Victorinus sind die Sylbenzeiten zu
verstehen. Bei Diomedes heißt es rhythmi statt tempora, aber dies
ist wohl nur auf Rechnung des flüchtigen Excerpirens zu setzen.
Im Originale war sicherlich das protrahi auf tempora bezogen, welche
unmittelbar vorher (dimensione temporum) erwähnt worden. Wie der
Rhythmus es erheischt (pro nostro arbitrio) nimmt er bald Dehnungen,
bald Kürzungen der Silben vor, oft verkürzt er die Kürze und ebenso
die Länge. Das ist es, was wir aus dem Berichte der Metriker erfahren.
Sind wir hier durch das Vorkommen einer verkürzten Länge
und einer verlängerten Kürze belehrt, so lernen wir an einer anderen
Die Aristoxenische Bhythxnuslehre. ;|05
Stelle des Mariiis Victoiinas p. 49 K., daß in der metrifichen Poesie
auch eine verlängerte Länge und eine verkürzte Kürze gebräuch-
lich war.
Musici qui iemparum arhürio syüabas cammittunt in rhythmieü mo-
dulalianibus aut lyricis cantiontius per circuitum longius extentae pro-^
mmiiatioms tarn hngü longwres, quam ruraus per correptionem
hrevwres bretilms proferunt.
Dasselbe ist auch in dem kurz vorhergehenden Satze gesagt:
Musici non omnes inter se longae aut breves pari meneurae com-
mitterej si quidem et hrevi bretfiarem et longa longiorem dicant posse
i^Uahamßeri.
Dies ist der von Quintilian aufgenommene Aristoxenische Satz
über die Sylbendauer.
Befände sich in Bellermann's Sammlung der griechischen Ge-
sangwerke ein Lied, wie der mit der rhythmischen Zuschrift ^v&fibg
iiaöenäorifAog versehene Hymnus auf die Muse, welcher nicht in
rLjthmisch-gleichen, sondern in ungleichen YersfüBen gehalten wäre,
80 würden wir nach griechischen Quellen ein Verzeichniß der ver-
schiedenen Sylbenlängen entwerfen können. So aber muß Bach an
Stelle der Griechen eintreten. Es Hegt in der Natur der Sache, daß
bei den Griechen die Sylbenwerthe des gesungenen Verses keine
anderen sein konnten, als in den betreffenden Versen Baches:
pts L.y^^
_ ^ w — \-/ \«/ _
11/j li/a ■ IV2 V4 »/4 IV2 8/4 3/4 3
Zu dem im Anonymus Bellermanni überlieferten Verzeichnisse
der Sylbenwerthe, welche in den metrischen Versen des gleichförmi-
gen Metrons vorkommen, dürfen wir jetzt noch folgende Sylbenwerthe
-der in den Metra episyntheta gehaltenen Verse hinzufügen :
LJ — I 5 zeitig
! 1 4 zeitig
! — 3 zeitig
— 2 zeitig
106 Rudolf W estphal,
Diese vom Anonymus überlieferten, nebst der 1 zeitigen Kürze
^ 1 zeitig
sind rationale Sylben. Außer den genannten Sylben entsprechen die
in den der Komposition Bach's vorkommenden den irrationalen
Sylben der Griechen: *
- 22/3 zeitig
- 2 V2 zeitig
- IV2 zeitig
^ IY2 zeitig
^ IV2 zeitig
^ ^4 zeitig
Für die Doppelkürze, welche bei den äolischen Lyrikern als
Anfangsfuß eines gemischten Metrons vorkommt :
^ IV2 zeitig
^ 2 zeitig.
Folgende werden nach antiker Anschauung irrationale syllabae
longis longiores sein:
- 22/3 zeitig
- 27, zeitig
- IV« zeitig
die letztere hat zugleich die Funktion als leichter Takttheil des an-
tiken Choreios alogos.
Alle die vorstehenden rationalen und irrationalen Längen können
wir auch in der modernen Musik hören (bis auf die 5 zeitige Länge)
in jener Komposition des großen Meisters J. S. Bach, welche diesem
unbewußt sich an den Aristoxenischen Satz des griechischen Sylben-
gesetzes gehalten hat.
Den rationalen und irrationalen Längen der griechischen und
Hach'schen Metra stehen 4 verschiedene Kürzen zur Seite:
^ IV2 zeitig
^ 1% zeitig
^ 1 zeitig
^ V4 zeitig,
die 1 zeitige eine rationale, die IV2 zeitige, 1^/3 zeitige, ^4 zeitige eine
irrationale Kürze.
Trotz ihrer dreifachen Zeitdauer hat die Kürze stets die Funktion
des Chronos protos, die 1 zeitige wie die ^3*" ^^<1 V4 zeitige. Es ge-
schieht, wie Aristoxenos sagt: »öthc rrjv Tfjg äycjyfjg SivapLiv^, wenn
sie bald eine 1 zeitige, bald eine 1 1/2 zeitige, bald eine IV3 zeitige, bald
eine V4 zeitige ist, wenn mit einem Worte im Schema des zusammen*
gesetzten Taktes die einzelnen Versfüße, aus denen es besteht, ihren
Die Aristoxenische Rhythmuslehre. }Q7
jedesmaligen Xoyog 7todiy,6g konstant festhalten, während das Zeit-
megethos derselben ein verschiedenes ist. Das ist der Grund, wes-
halb Aristoxenos im Abschnitte vom Chronos pro tos (§ 11) auf den
Abschnitt Tom Taktschema verweist: nSv öh tqotvov XrjxpeTat tovtov
^ ala&rjaigj (pavcQOv ^earav iTtl %(üv Tcodvaüv axfl^oiT^fJi^Vfi^, Hat nun in
einem aus 4 daktylischen und 4 trochäischen Versfüßen bestehenden
Metron das einzelne die Hälfte bildende Kolon die Bezeichnung rcovg
üi^y^ETog ixxaidenaarjfiogj wie das aus dem daktylischen Ttotjg oifv&eTog,
oder wird es mit einem anderen, die Chronos protos-Zahl bezeichnen*
den Namen genannt? Dies ist uns nicht überliefert ; wir kennen die
Aristoxenische Nomenclatur bloß für die aus gleichen, aber nicht für
die aus ungleichen Versfüßen bestehenden Kola der gemischten und
epiBynthetischen Metra.
Eine aus dem Mittelalter überlieferte Melodie
zn Horatius m 9, nebst dem Bmchstfick einer
solchen zn Ulid.
Von
Paul Elckhoff.
In Teuffels römischer Litteratargeschichte (4. Aufl.) steht § 23 811 :
i)Zu einzelnen Oden (des Hoiatius) sind auch Melodien erhalten, zum
Beweise, daB man in den Klöstern Horaz gelegentlich gesungen hat ;
s. OreUi-Baiters Ausgabe 2, S. 915. Kirchner, Novae quaest. Hör. 37c.
Hier ist übergangen die bei Coussemaker, Uhistoire de tharmome^
PI. XXXyni lithographierte, in einer Hs. des 10. Jahrh. zu Fra-
neker (Holland) in Neumenschrift erhaltene Melodie zu Od. I 33,
wozu Coussemaker das. Tradttctions Nr. 14 eine Umschreibung in
heutige Noten giebt. Vgl. auch S. 102 das. ^
1 Der hervorragendste Kenner der Neumenschrift, der Benediktiner Dom
Pothier zu Solesmes (bei SabU D^p. Sarthe), urtheilt über diese Übertragung: »X«
mareeau d^Horace donnd par M, de Couasemakery pl XXXVIII Nr. S est 4galement
en notation ä poinU auperposiB. lei la hauteur relative des points fCest pas oheerv^e
avec le mSme 9oin (wie die erste, von Coussemaker aus dem Manuscript von Mont-
pellier wiedergegebene Melodie), et la müodie ne se retrouve pa» ailleurs; la tra-
auctüm, eane itre imposeible absolument, e$t diffieile, et M. de Couesemaker me
semble avoir donrU twU ä faxt a cötS, La premihre chose ä ekereher, dana un ca»
semblable, est le tnode du moreeau; il faut le ekereher parmi Us modes anciens et
le ekereher d'abord far la phrase jinale, M. de Coussemaker prend le mode mqfeur
des modemeSf premüre invraisemolancef et il se trouve ohligiy ä la phrase JtnaU,
de traduire la divis qui est appos^e au eUmaeus eomme Hont la eantinuattan du
climacus lui mime, deuxihne tnvraisemblanee, pour ne pas dire, impossibiUU; cor
quelle que soit le elef et le mode, je ne pense pas, que Von puisse traduire /* * • . 2
autrenunt que par t^ ^ ^ ^ ^ ^ Mime avec de, dom^Se» rigoureueemmt mtfß-
santes on peut se tromper trh faeüement, Mais si Von ne possSde d'autres donnies
que les neumes simples in campo aperto trouvis dans um seul manuscrit, ex-
primant une milodte qui ne se rencontre pas aiüeurs, dlors il n'y a pas de traduction
certaine possible. . .«
Eine aus dem Mittelalter überlieferte Melodie su Horatius m 9 etc. ][09
Die oben angesogene Stelle in Kirchners ^Novae quaestiones
Horatianae. Leipzig 1847« lautet vollständig S. 37 unten: »•» wm--
nuüü catrmmibus notarum musicarum signa in vodbtts mperscripta esse
MaUur, ut III od., 9 et IIU (die Zahl der Ode fehlt). Die Bede ist
hier von der bei Kirchner ab wodex bibliotheeae senaUniae Lipsiensü
saec. XI memiranaceus foL fnediocri, Bep. I, Nr. 6 c bezeichneten
Handschrift.
Eine genaue Untersuchung der zu diesem Zwecke Ton der Leip*
viger Stadtbibliothek bereitwilligst nach der Hamburger übersandten
Handschrift ergab, daS wohl an vielen Stellen einzelne Abkürzungs-
leiehen stehen, auch Accente über der Interjection o sowie über einigen
Yocativen, Neumen aber nur Blatt 18 a unten rechts über den vier
Zeilen der ersten Strophe von IH 9 i^Doneo ffrutus eram tibin usw«
and der letzten Hälfte der vierten Zeile der zweiten Strophe des-
selben Gedichts {»clarior IluU) hier natürlich solche, die denen an
der entsprechenden Stelle der ersten Strophe gleich sind, sodann
noch Blatt 19 a über HI 13 Str. 1, Zeile 1 : »O fons Bandusiae, splen^
didiar vitron. Die Hs. enthält also zu den beiden schon veröffent-
lichten aus dem Mittelalter stammenden Horazmelodien eine dritte
und von einer vierten den Anfang. Ihre Überlieferung veranschau-
licht folgende, nicht ganz die Größe der Hs. erreichende Nach-
bildung, die nach einem Lichtdruck angefertigt Ist, welchen die
Firma Strumper & Co., Hamburg-Ühlenhorst, in den Bäumen der
Hamburger Stadtbibliothek angefertigt hat.
onft. qrjc «ram ridf ftmf \>ix\jim\c^ fplmcfcor u'^"
K ec quilflua. povter hnuhx amM^ p ^ j^^^^ ^x^^^V^
y yy ^ -y^ A -^
i f4tu uunti |vy?" hzanoi*, C ut ronf tunruLt comih^
-, *^/. ^ y.
R omana atcrnv cmamor tT/^* "
Über die Zeit der Aufzeichnung ist nichts Genaues festzustellen.
Kirchner setzt (s. o.} die Hs. ins elfte Jahrhundert ; die Schriftzüge
weisen dagegen auf das zwölfte. Die Hs. nicht später anzusetzen
\\Q Paul Eickhoff,
verbietet das oft unter die Linie gehende r, vgl. Wättenbach lat.
Palaeograpliie S. 58; von Ansetzung in frühere Zeit hält zurück der
wenn auch noch sehr geringe, so doch schon vorhandene Ansatz
beim / in der Mitte des Striches (Wattenbach S. 59) und der öfters
angewandte Bindestrich (Wattenbach S. 87). In das zwölfte Jahr-
hundert und zwar in den Anfang desselben setzte die Handschrift
nach übersandtem Lichtdruck, auf an ihn gerichtete Anfrage freund-
lichst Auskunft ertheilend, der Vorstand des Kg\, PreuBischen Staats-
archivs zu Osnabrück Dr. F. Philippi. Über die Herkunft der Hs,
ist auf der Leipziger Stadtbibliothek nichts bekannt.
Bei dieser verhältnismäßig späten Niederschrift der Melodien,
die also nicht vor 1100, möglicher Weise aber später geschehen ist,
ist auffällig, daß sie ohne Anwendimg eines Liniensystems gesche-
hen ist, welches doch damals schon längst in Gebrauch war. Die
Ursache ist einfach, wie die Nachbildung zeigt, daß die Neumen in die
Hs. erst eingetragen sind, als der Text schon niedergeschrieben war,
ohne daß der Schreiber für spätere Eintragung der Melodie Platz
gelassen hätte. Beim Nachtragen der Melodie war dann der Zwischen-
raum zwischen den Zeilen für die Anbringung eines aus mehreren
Linien bestehenden Systems zu eng, ja es fehlte an Platz, ixm die
verschiedene Höhe der Töne durch höhere oder niedrigere Verzeich-
nung der Neumen anzudeuten.
Die Grestalt der Neumen ist ungefähr dieselbe wie in den ältesten
erhaltenen Denkmälern der Neumenschrift, z. 6. in der durch Lam-
billotte lithographisch wiedergegebenen Hs. 359 der St. Galler Stifts-
bibliothek und in der um das Jahr 1000 geschriebenen Hs. 339 der-
selben Bibliothek, welche in den ersten zwei Jahrgängen der zu
Solesmes erscheinenden »Paleographie nmsioale^ jetzt durch Licht-
druck vervielfältigt ist. Lideß kommt diese Gestalt der Neumen
auch in späterer Zeit noch vor, als man gewöhnlich sich schon an-
derer Formen derselben bediente, wie Taf. I bei Riemann, Studien
zur Geschichte der Notenschrift, zeigt.
Die Auflösung der Neumen, beziehentlich die Bestimmung und
Benennung der einzelnen Zeichen erhellt aus folgender Darstellung:
Od. m9 Str. 1.
Virga PodatnB Yirga Ancus Pnnctas Virga Punctns Yirga.
Do - nee gra-tus e - ram ti - bi
Yirga Yirga Pnnctus ^Pes stratus 1 Pnnetns Pnnctns Yirga Panctns Yirga Yirga Panctns Punctns
nec quis-quam po - ti - or bra - chi - a cari-- di - dae
^ Der hier so bezeichneten Neume entspricht in den Neumentafeln am
Eine aus dem Mittelalter überlieferte Melodie zu Horatius III 9 etc. \[[
Tirgft Viiga Yiiga Virg» Jftceng Pes stratnt Pet stratns Virg»
cer - ui - d iu - ve - nis da - bat
Tilg» Tiif» Pvnetiis Podatnt PodatvB Yirgs Virg» Virg» Panctnt Podatxu Virga Jacens
flexas sttbblpnnctis
Per-sa-rum vi - gu - i re-ge be - a - ti - or.
1119, Str. 2, Z. 4 zweite Hälfte.
Virga Virga Panctns Podatas Virga Jacens
snbbipnnctis
cla - ri - or I - li - a ^
III 13, Str. l, Z. 1.
Tuga Pnnctns Punctns Virga Pnnctns Virga zwei Pes Pnnctns „:„i.x.o Virga Virga Pnnetns
et Virga * stratua nichis2 »
0 fons Ban - du - si - ae, spien - di - di - or vi - tro 3.
Will man diese Verzeichnung durch moderne Choralnotenschrift,
die noch immer besser ist ak die mit der schwanzlosen Y4 Note ^,
wiedergeben, so muß zuvörderst daran erinnert werden, daß bei dem
Mangel an Linien in der Hs die genaue Bestimmung der Tonhöhe
(nach der Intervallgröße) unmöglich ist, daß also der Gang der
Melodie in die Höhe und Tiefe nur in gewissem Maße genau be-
stimmt werden kann. Dasselbe gilt von der Bestimmung des Noten-
werthes (Zeitdauer) für die einzelnen Noten. Eine Festsetzung nach
den einfachen Verhältnissen und in den im Verhältniß zu einander
festen Maßen unserer jetzigen Notenschrift kennt die Neumenschrift
meifiten Schubiger, Die Sängerschule St. Gallens, Monumenta U, Neume 17,
Figur 1 und 2.
^ So muß statt iüa, wie die Hs. hat, geschrieben werden.
' Diese Silbe, über der Zeile nachgetragen, hat keine Neume. Sollte nicht
der zweite Pes sirattts über Spien dem ersten di^ dessen Punctus dem zweiten
inkommen?
3 Die vorstehende Auflösung der Neumen hat der Benediktiner Fr. Pothier im
Kloster Solesmes zu prüfen die Oüte gehabt. Er schreibt: »Za distinction dea
nemncB, teÜe que vous avez^aite, me parait honne, sauf toutefois sur le mot spien-
didior, ou Je vois deux virga sirata plutöt que deux pes stratus. Jenecrois
pas nan phUf qu'il soü bien aappeler le punctum aM(mg4 de ve dans juvenis une
tirga jacens. Les auieurs moaemes, qut sont aU4s chsrcher dans Aribon la quali-
Jication de jaeenSf ont Mf mal %nsp%r4s, La tente d* Aribon n'est pas claire, il est
probahlemefU ironfuSf en taut cas, c'est vouloir amener aomme ä plaisir la confusion
dms la classißcattan des neuntes que d'appeler virga un eigne, qui est certainement
un punctum, La confusion est plus frande encore, quand les auteurs surdits itablis-
ant une relatitm enire la soidisant vtrga jacens d' Aribon et la virga plana apposita
de Gui d'ArezM. Ce nest pas malheureusement le seul exemple d'erreur ou de la
confusion, qui une fois lande dans le public se perpHue, quoi qiCon puisse dire
tntHiie. La virga jacens est une des chimbres, qui ont la vitt dure.v
112
Paul Eickhoff,
nicht, wie sie der durch sie wiedergegebene Gregorianische Choral
nicht besitzt. * Also das Auf- und Absteigen der Melodie ist nur an-
nähernd richtig^ und die Note "i ist nicht länger als m, dagegen diese
länger als ^, die nur Durchgangsnote ist. Demnach bedeuten die
Zeichen der Hs:
m 9, 1
5
"^
5
Do - nee gra - tus e - ram ti - hi
5
' * B "^
ntc quis-quam po - ti - or hra - cht - a ean - d% - dae
;^E5
Cer - vi - ei ju - rc - nia
da
hat
Per - ia rum vi - gu - i re - ge he - a ^ ti - or.
m 9, 2, 4,
zweite H&lfte.
*»?:
ela ' ri - or
li -
in 13, 1 ^
O foM Ban - du - si - ae eplen - di - di - or vi - iro
In Betreff des Rhythmus ist die Frage zu beantworten, worauf
derselbe sich gründet. Denn wenn auch die Neumenschrift nur den
freien, den rhetorischen der Prosa nahe kommenden Gesangsrhythmus
verzeichnet, so kann derselbe bei metrischen oder rhythmischen
Texten doch so gehalten sein, daß er einem mensurirten Rhythmus
mit oder ohne Takt nahe kommt und man schließen kann, ein solcher
sei gebraucht worden, habe aber durch die mangelhafte Notenschrift
nicht wiedergegeben werden können. Für die Annahme, daß ein
taktloser, aber mensurirter Rhythmus gebraucht sei, spricht der
Umstand, daß um das Jahr 1000 Guido von Arezzo in seinem Micio-
logus Cap. 15 schreiben konnte: ^Metricos autem cantus dico (im Ge-
gensatz zu prosaici cantus) , quia saepe ita canimus, ut quasi versus
pedibus scandere videamur, sicut ßt, cum ipsa metra canimus^. Im
Mittelalter ist also schon geübt worden, was in der Zeit des Wieder-
auflebens der klassischen Studien Musiker wie Tritonius, Hofhaimer
Eine aus dem Mittelalter überlieferte Melodie zu Horatius III 9 etc. j^ ] 3
— -— ^ ^^•^-^ ■ - . - ■ —
(▼gl. Jahrg. 1887 der Yierteljahrsschrift f. Musikwissenschaft, S. 26 ff.,
1890 S. 309 ff.) und OlthoY u. a. (Jahrg. 1889 ders. S. 290, 1890
S. 466] versucht haben; man sang metrische Gesänge genau ent-
sprechend dem metrischen Bau des Textes. Daß eine gewisse Mög-
lichkeit, metrischen Rhythmus eines Gesanges durch die Neumen-
Schrift wiederzugeben, vorhanden war, bezeugt derselbe hochberühmte
Musiker , indem er schreibt (a. a. O.) : liNon autem parva similttudo
est metris et cantibus (den litui^schen Gesängen des gregorianischen
Chorals), cum et neumae loco smtpedum et distinctiones (Abtheilungen
Ton Silben, deren Zahl der der Silben der metrischen Verse ungefähr
gleichkommt, wie z. B. die beiden Distinktionen aus der Ostersequenz
iViciimae paschali^: itJUors et mta dtiello — Conßixere mirando^n je
sieben Silben enthalten, die entsprechende Betonung haben] loco vor-
suumy utpote ista neuma dactylico, illa vero spondaico^ ill,a
iambico metro decurreretj et distinctionem nunc tetrametram {mit yiei
Hebungen) nunc pentametram , alias quasi kezametram cemesa . • . .
Prüft man in Bezug hierauf die Melodie zu HI 9 und das Bruchstück
der zu IQ 13, so scheint sie mehr nach Art der Melodieen des gre-
gorianischen Chorals gebildet zu sein. In diesem kommt es oft
genug Yor, daß Silben, die wenig Ton haben, mit mehreren Noten
YCTsehen werden; so hat auch -tus in der ersten Zeile von III 9
drei Noten, de^l. -ft- in der vierten. Das ist in der neueren
Musik nicht gebräuchlich, und in den Hymnen des Dionysius und
Mesomedes, den einzigen erhaltenen Resten antiker Melopoeie, haben
nur lange Silben mehrere Noten über sich, sowohl in der Arsis als
in der Thesis; die Stelle des Aristoxenus, welche Bellermann, die
Hymnen des Dionysius und Mesomedes, S. 61 und 62 anzieht, besagt
nur, daß eine Silbe mehrere Töne tragen könne, nicht aber auch,
daß das mit kurzen Silben im schlechten Takttheil der Fall sei.
Spricht somit dieser Umstand für die Entstehung der Melodie
im Mittelalter und scheint ihre Bildungsweise der Art des grego-
rianischen Chorals zu entsprechen, so tritt ein anderer Umstand für
älteren Ursprung und Beziehungen zum klassischen Alterthum ein.
Als um 1500 zu den horazischen Oden des dritten Asklepiadeischen
Metrums oder später zu einer in dem letzteren gehaltenen Umdich-
tQng eines Psalms yon Buchanan Melodieen gemacht wurden, setzten
alle Tonsetzer, yon Celtis, anderen Humanisten oder der damaligen
klassischen Bildung überhaupt beeinflußt, nur zwei Zeilen; man ver-
gleiche nur den Satz des Tritonius:
1891. ^ 8
114
Paul Eickhoff,
P
I -^ — , , |—q==q
«^ g> '•-' J - J ä — *
r r r frT-f—r
ä
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Sie te dt - »a po - fem Cy - prx.
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I
"Ä — i — z
f r
%ic fra - <ra* JSTe - & - «ac, /m - et - da si - de - ra, , , , ,
I
^
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t=t
-«■
i
■zL
■^^
-^-
:??:
t
^
:^
(dessen Weithe der Bequemlichkeit wegen auf ein Viertel ihies Werthes
gekürzt sind), oder die nach Rhythmus und Zeilenzahl genau so
gebildeten von Senfl und Hofhaimer und den Satz von Olthoy oder
einem andern (Ausg. 1600, S. 42).
|i *^' g X
fe
t»-
I
7^
Ss
Sercwn insa - ni ~ a cal - li - de
-«^
-# fl! ^-
32:
32:
S
I
ä
tr
3:
i
in - dul - ^e/w vi - ti - i> sie lo - yt«i - tur : De - tim
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Dagegen hat die Melodie der Leipziger Handschrift, wie der erste
Blick zeigt, nicht für Zeile 3 und 4 der Ode dieselben Töne wie für
Zeile 1 und 2, sondern verschiedene, und die zweite Hälfte von ZeUe
4 dieselben wie die von Zeile S.
Dieser Thatbestand läßt freilich verschiedene Erklärung zu.
Das nächste, worauf man kommt, ist, daß der Tonsatz ein vierzeiliger
ist, der die Strophe als solche wiedergiebt, daß also ihr Setzer sich
Eine aus dem Mittelalter überlieferte Melodie zu Horatius III 9 etc. \\^
des Tieizeiligen Baues der aus nur zwei verschiedenen Versarten be-
stehenden Strophe bewußt gewesen ist, während dies yom Anfang
des Wiederauflebens der klassischen Studien an bis zur Wiederent-
deckung des yierzeiligen Baues der Strophen aller horazischen Oden
durch Meineke und Lachmann im Jahre 1845 unbekannt geblieben
ist IndeB hat die Annahme etwas Mißliches, falls die Melodie einem
mittelalterlichen Tonsetzer zugeschrieben wird; denn diesem eine
solche Kenntniß zuzutrauen oder eine bis 1100 fortdauernde Über-
lieferai^ aus dem Alterthume anzunehmen, wird schwerlich jemand
?sneigt sein. Die andere Erklärung des Thatbestandes ist, daß der
onsetzer um 1100 die Melodie nach Art der Sequenzen gebildet
habe, deren zeilenähnliche Abschnitte häufig nach Silbenzahl und
Melodie ein Schema wie abcdcdcd aufweisen, so daß dann die
Wiederkehr derselben Töne in Zeile 8 das dritte Vorkommen der-
selben wäre, nicht, wie bei strophischer Komposition, das zweite.
Das letztere ließe sich auch denken, wenn man annähme, der Ton-
setzei des Mittelalters habe nach Analogie der zahlreichen vierzeiligen
Hymnenstrophen zu der Horazischen Ode die Melodie gebildet ; aber
dagegen läßt sich sagen, daß im Mittelalter der Unterschied zwischen
den rhythmischen auf den WoTtton gebauten Hymnen und den me-
trischen Oden sehr wohl bekannt gewesen ist.
Noch ist zu erwähnen , daß auf eine Bestimmung der Melodie
binsichtlich ihrer Zugehörigheit zu einer der mittelalterlichen bezw.
alten Tonarten verzichtet werden muß , weil die UnvoUkommenheit
ihrer Yeizeichnung durch die Neumenschrift die Stellung der Halb-
töne nicht ersehen läßt, auch die differentiae tonarum keinen Auf-
jBchlttß geben.
Daß die Melodie sonstwo verzeichnet ist, ist zum mindesten sehr
unwahrscheinlich. Das Metrum ist im Mittelalter nicht beliebt ge-
wesen, so daß eine anderweitige Behandlung desselben zur Yerglei-
chung nicht herangezogen werden kann.
Über das kleine Bruchstück einer Melodie zu Ode HI 13 ist
nichts zu sagen.
8*
Kritiken und Referate.
1 . Fr, Äug, Gevaert, Les origines du chant lituigique de leglise
latine. Etüde d'histoire musicale. Gand, librairie de Ad. Hoste, 1890.
gl. 8. 92 Seiten.
2. Dom Germain Mortn, Les veritables origines du chant
Gr^gorien ä propoe du livre de M. Gevaert »Les origines du chant
liturgique de T^glise latine c — Extrait de la Revue B^n^dictine de
•Maiedsous. Bureau de la Revue B6n. abbaye de Maredsous par Namur.
1. Am 27. Oktober vorigen Jahres hielt Gevaert, Direktor des Brüsseler Kon-
servatoriums , in der Sitzung der Akademie eine Rede über den Ursprung des
liturgischen Gesanges in der abendländischen Kirche, die, von belgischen und
fransösichen Zeitungen nachgedruckt, großes Aufsehen machte. Unter obigem
Titel hat sie der Verfasser mit dem erforderliehen wissenschaftlichen Apparat er-
scheinen lassen. In einem ziemlich umfangreichen Anhange antwortet er auf die
ersten Angriffe, welche von P. Germain Morin in der JRevue henSdictine auf seine
Thesen gemacht wurden. Der Gegner hat seitdem in drei weiteren Artikeln ge-
.antwortet, über die unten noch zu sprechen sein wird. In deutschen Zeitschriften
wurde Gtevaerf s Rede in abweisendem Sinne erwähnt. [Literar. Rundschau, literar.
Handweiser, Gregoriusblatt etc.)
Entschieden äußert sich gegen Gevaert P. Grisar, der wohl als einer der
bedeutendsten Kenner der Geschichte Gregorys L zu erachten ist; er nennt das
System G.'s eine aprioristische Konstruktion (Zeitschr. f. kath. Theol. 1890 p. 37S).
Da die Streitfrage von Bedeutung ist und noch öfter zur Verhandlung kommen
dürfte, scheint uns ein eingehendes Referat angezeigt.
Die Abhandlung G.'s zerfällt in zwei Theile ; der erste ist negativ und sucht
zu beweisen, dass das römische Antiphonar nicht von Gregor L herrühre, dass man
also ohne Grund diesen Papst zum Urheber der römischen Choralmelodien gemacht
habe; d«r zweite arbeitet positiv und will aus dem Zustand des Antiphonars und
mittelst geschichtlicher Nachrichten ein historisch richtiges Bild vom allmählichen
Entstehen des Antiphonars entwerfen.
Die Ansicht , daß Papst Gregor I. an das römische Melodienbuch die letzte,
vollendende Hand angelegt habe, beruht nach G. auf der Erzählung des römischen
Diakons Johannes, der in seiner um 882 fertig gestellten Biographie Gregorys be-
richtet, dieser Papst habe die bestehenden Melodien gesammelt, überarbeitet und
ergänzt, sie in ein Buch, antiphonarium genannt, gesammelt, zu ihrer Ausführung
beim päpstlichen Gottesdienste die schola cantorum eingerichtet imd die Knaben
selber noch in seiner Krankheit vom Bette aus im Gesänge dieser Melodien unter-
richtet. Von diesem Bericht ist nach Gevaert nichts haltbar; der Berichterstatter
ist ihm ein ganz unzuverlässiger Zeuge — »um nicht mehr zu sagen«; Gevaert
legt nahe, ihn für einen Fälscher zu halten. Er ist auch ein zu später Zeuge;
Fr. Aug. OeTaert, Les origines du chant liturgique de l'^glise latine. etc. ]^ } 7
das absolute Schwaigen der dazwischen liegenden Jahrhunderte verr&th seinen
Bericht als Legende. Die Biographen und Lobredner Gregorys wissen nichts davon.
Ja, aas Oregor's Leben und Regierungshandlungen geht hervor^ dass er für den
kiiehliehen Qesang kein Interesse hatte; denn in seinen vielen Briefen, in denen
er sieh über alles ausspricht, was sein Hers bewegt, ist nie vom Qesange die Rede
and auf einer römischen Synode tritt er streng und herb dagegen auf, dass ein
Diakon oder Priester in der Kirche singe. Endlich kann das Oregor's Namen
tragende Antiphonar nicht von Gregor stammen, da es mit dem zu Gregorys Zeit
l^flltigen Kalender und Festkreis nicht harmonirt, vielmehr auf die Mitte des
aehten Jahrhunderts hinweist Die Abfassung des Antiphonar ist, so schließt der
erste Theü der Abhandlung, einem andern Papste Gregor, wohl dem dritten dieses
Namens Busuweisen.
Um gegenüber den vermeintlich irrigen Anschauungen auf sichern Boden zu
kommen, unterscheidet Gevaert einen Zeitabschnitt, in dem ein ganz einfacher,
syllabiacher Gesang entstand, von dem wir noch viele Antiphonen im römischen
Tagesofßeium haben, und einen anderen nachfolgenden, in dem die Meßges&nge
aus der einfachen Modulation in die jetsige reiche umgegossen wurden. Die erste
Periode Ifißt Gevaert mit dem Jahre 425 beginnen und 552, vor der Besetzung
Rom's durch die Byzantiner schließen. Auf sehr interessante Weise wird der
muthmaßliche Zustand des gottesdienstlichen Gesanges mit den damaligen Zeit-
und Kulturverhältnissen in Zusammenhang gebracht und aus einer Umbildung
anderer Künste und ihrer Hereinbeziehung in christliche Ideenkreise auf eine
Venibeitung der alten heidnischen Musik und Verwendung im christlichen Gottes-
dienste, sowie auf eine Umgestaltung der antiken Tonarten in die Choralmodie
geschlossen. Die griechischen vofjtoi, die gesetzmäßigen, stehenden Formeln der
altgriechischen Melodik werden in der Ghoralmelodie vermuthet; die Zahl der den
Antiphonen zu Grunde gelegten melodischen Typen wird auf böil&ufig 50 ange-
geben. Bei dieser Gelegenheit verspricht der Verfasser, sobald ihm die Zeit
erianbe, eine gründliche Studie über die in den einfachen römischen Antiphonen
Teiborgenen griechisch-römischen modi oder vofxoi zu schreiben, ein Vorsatz, den
wir mit Freuden begrüBen.
In der Zeit des traurigsten Verfalls der römischen Weltherrschaft ertönt,
indem alles geistige Leben sich in der Kirche sammelt und in ihrem prachtvoll
nch entwickelnden Kulte sieh wiederspiegelt, eine tröstende Stimme, die Stimme
des in reicher melodischer Kunst sieh entwickelnden liturgischen Gesanges. Die
Zeit bricht an, da die kühnen melismatischen Verzierungen, die sogenannten
JnbilatiQnen, entstehen (552 — 700). Der Einfluß des Orients ist unverkennbar;
wir müssen ihn theilweise von Ravenna, dem Sitze des Exarchen, ausgehend
denken, werden ihn aber doch im Wesentlichen den vor den Arabern nach Italien
finehtenden syrischen Klerikern und Mönchen zuschreiben müssen. Der liturgische
Gesang wird zur eigentliehen Kirnst mit festen Formen und Normen, die tüchtige
Singer, eine musikalisdie Theorie und eine Notenschrift bedingt Zu Anfang
des siebenten Jahrhunderts kann die schola cantortim entstanden sein. Ihre Vor-
finde werden an der in dieser Periode vor sich gehenden musikalischen Um-
arbeitung der einfachen Choralmelodien Theil genommen haben. Aus der sehola
gingen zum Theüe die um Kultus imd Gesang hochverdienten Päpste des achten
Jahrhunderts hervor; das größere Verdienst aber gebührt offenbar den von 678—752
regierenden elf Päpsten griechischer und besonders denen syrischer Herkunft.
£s werden nun namhaft gemacht: Papst Agatho, Leo II, Sergius I, Gregor n
ond (hegor III. Sergius I wird, weil von ihm , dem Sohn eines Syrers, das
Papstbueh berichtet atudiotus et eapax in officio carUilenae, ein besonders reicher
] ) g Kritiken und Referate.
Antheil zubemessen. Er hat die Besponsorien des Matutinum in die jetEige
notenreiche Form umkomponirt ; ihm kann man die Einweisung der römischen
S&nger in die Theorie von acht Choraltonarten zuschreiben, vielleicht auch die
Einführung der NeumenschrifL Gregor III schließt die Reihe der für den litur-
gischen Gesang th&tigen Päpste durch endgültige Redaktion der offiriellen Gesang-
bücher. »In etwas weniger als drei Jahrhunderten ist die Arbeit YoUbracht«. Das
befremdliche Schweigen der römischen Annalisten über diese Vorgänge erklärt sich
zur Genüge aus der seit dem Bilderstreit und dem Schisma sehr lebhaften Ab-
neigung der Italiener gegen die Griechen. »Man warf klug einen Schleier über
das Andenken der orientalischen Päpste und stellte die aus Italien stammenden in
um so helleres Licht«.
Hiermit glauben wir die Gedanken Geyaert's objektiv wiedergegeben zu haben.
Man muß anerkennen, daß er sich in seinen Stoff ndt ungewöhnlicher Energie
eingelebt und die fragmentarischen Notizen, aus denen wir die Musikgeschichte
des 7. — 9. Jahrhunderts zusammenstellen müssen, geistreich kombinirt hat. Die
Form ist gewandt und arbeitet aus dem spröden Material ein glänzendes Geschichts-
bild heraus, das einnimmt und für die neue Auffassung gewinnt; besonders der
sichere Ton fester, eigener Überzeugung wird den vertrauensvollen Leser zur
Ansicht bringen, daß gegen eine] so in die Augen springende Wahrscheinlichkeit
eine andere Ansicht nicht aufkonmien könne. Aus diesem Grunde müssen wir
das Buch sogar für gefährlich halten; es bereitet einer historisch durchaus un-
haltbaren These den Weg. Wir können das Ganze nicht anders als eine unter
Verkennung der wirklichen geschichtlichen Nachrichten mit sehr großem Geschick
aufgebaute subjektive Konstruktion nennen. Wenn Johannes Diakonus wirklich
ein so ganz unzuverlässiger Berichterstatter ist, wenn die römische Tradition gar
keine Bedeutung hat, wenn der hl. Gregor I sich dem Gesänge gegenüber wirklich
so apathisch verhielt, und besonders wenn vor Johannes Diakonus Niemand die Autor-
schaft Gregor's I bezeugt, dann kann man gegen dieselben Zweifel erheben. Aber
keine dieser Bedingungen sehen wir erfüllt, vielmehr können, was die Streitfrage
eigentlich entscheidet, eine ganze Anzahl früherer Nachrichten zu Gunsten Gfregor's
angeführt werden. Dieselben waren allerdings bisher wenig bekannt und sind zum
Theil noch ungedruckt. Der zweite Theil der Abhandlung, der positive Aufbau,
besteht aus einer Reihe von Vermuthungen, die im Verlaufe der Rede sich immer
mehr zu geschichtlichen Angaben verdichten. Wir beanstanden zunächst die Be-
hauptung, daß in einer ersten Periode der römische Gesang in einer einfachen,
syllabischen Form entstanden, die reiche, jubiUrende Melodie dagegen damals
noch unbekannt gewesen sei. Dieses successsive Entstehen des reichen Gesanges
aus dem einfachen ist durchaus nicht nothwendig aus dem Wesen der Sache zu
folgern, widerspricht auch unwiderlegbaren historischen Belegen, besonders dem
klaren Zeugnisse des Cassiodor (in Psalm. 104). Man ist vielmehr genöthigt an-
zunehmen, daß die reichen Melodien des gregorianischen Antiphonars eine ab-
gekürzte Form der früheren Jubilationen sind und daß gerade zur Zeit, in der
Gevaert die Komponisten zur Schaffung der reichen Melodien herangereift glaubt,
die Vereinfachung stattgefunden hat. Daß ein orientalischer Einfluß beim Entstehen
der römischen Melodien maßgebend war, würden wir dem Verfasser gerne glauben,
wenn er irgend einen historischen Grund dafür brächte; daß er ihn in den Me-
lodien herausfühlt, ist nicht ausschlaggebend; Referent, der sich seit vielen Jahren
berufsgemäß mit den Choralmelodien in ihrer alten Form beschäftigt und über ihre
Herkunft sich auch Gedanken gemacht, hat diese Wahrnehmung nicht gemacht,
höchstens an eine solche Möglichkeit gedacht. Es ist immer noch die Frage, ob
die Jubilationen ein eigenes Produkt der christlichen Zeit und nicht vielmehr dem
Fr. Aug. Oeyaert, Les origines du chant liturgique de l'^glise latine. etc. \\(^
mttaikaliflehen Gedanken nach ein Erbstück aus der antiken Welt sind. Diese
Möglicbkeit wird allerdings vorläufig Wenigen einleuchten, mit der Zeit aber mehr
beachtet werden, wenn man die Melodien selber studirt und von der Ansicht
abkommt, sie seien improvisirtes Figuren- oder Schnörkelwerk. Das Autorrecht, das
Geyaert dem Papste Gregor genommen, yertheilt er mit freigebiger Hand an spätere
Päpste auf Grund gani unbestimmter Nachrichten hin. Man muß bedauern, daß
ein durch Begabung und Tielj ährige Studien vor Andern befähigter Autor sieh zu
einem solchen Versuche verlocken ließ. Wenn aber ein Musikschriftsteller ersten
Ranges an dem Unternehmen scheitert, wird wohl die Aussichtslosigkeit desselben
anleugbar sein.
CL übersieht, daß ein Kleriker, der den Bildungsgang durch alle Stufen und
Ämter der geistlichen Genossenschaften (seholae) Roms durchzumachen hat, ein
Römer wird, daß ein fremdes Element mit fremden Anschauungen in diesen wohl-
geordneten Körperschaften als maßgebend und alles umgestaltend ganz undenkbar
ist Wenn ein von französischen Eltern in Deutschland geborener junger Mann,
in einem deutschen Kadettenhaus erzogen, mit der Zeit ein sehr einflußreicher
Offizier in der deutschen Armee wird, wie viele seiner Anordnungen, als Kriegs-
minister j. B., würden wir seinem französischen Ursprung zuzuschreiben berechtigt
sein? In ähnlicher, streng geregelter Weise haben wir uns die Erziehung der
Kleriker wenigstens an den großen Kathedralen, ganz besonders aber in Rom zu
denken. Ein kräftiger Geist waltete in diesen Körperschaften; wer neu eintritt^
wird mit den gemeinsamen Ideen erfüllt oder als fremdes Element ausgeschieden.
Wenn nun Papst Sergius, der Sohn eines aus Antiochia stammenden Vaters, zu
Palermo geboren, unter Adeodat (672 — 676) in den römischen Klerus aufge-
nommen — wahrscheinlich war er schon vorher auf Sizilien Kleriker oder Mönch
gewesen — 14 Jahre als Papst regierte (687 — 701) , wie viel von syrischen Ideen
wird er dem römischen Klerus beigebracht haben? Das Papstbuch sagt von ihm:
sUidionu et capax in officio cantilenae priori cantorum pro doctrina e9t traditus»
■Als fleißiger und tüchtiger Sänger wurde er dem Vorsteher der Sängerschule zu-
getheilt, damit er bei ihm lerne (oder »damit er ihn im Unterricht unterstütze?«).
G. trägt kein Bedenken, ihm die letzte Überarbeitung fast des ganzen Graduale
zuzuschreiben, die nach unserm Ermessen mit einer Neuschaffung aller Gesänge
ziemlich gleichbedeutend ist; er glaubt gleicherweise, Sergius habe die neuhelle-
nistische Musiktheorie nach Rom verpflanzt, und während seiner Regierungszeit
sei die Neumenschrift eingeführt worden. Das ist etwas viel syrischer Einfluss
auf einmal ; ein Anderer hätte aus dem einen Ausdrucke eapax in officio cantilenae
nicht so viel herauszulesen vermocht.
Die entschiedenste Widerlegung finden G.^'s Ansichten durch die syrische Liturgie»
Zum Beweise, dass wir selber schon dem Einfluß derselben auf den abendländischen
Gesang nachzugehen versucht haben, sei hier Einiges über syrischen Gesang mit-
getfaeik, das wir den Angaben des jetzigen katholischen Erzbischofes von Mossul
entnehmen, eines in Rom gebildeten und in der Geschichte der ostsyrischen Li-
turgie sehr erfahrenen Gelehrten. Im Allgemeinen, so versicherte er mir wieder-
holt, hat der syrische Gesang mit dem, welchen er bei Hochamt und Vesper in
unserer Abteikirehe alltäglich hörte, viele Verwandtschaft. Er meinte damit die
Modulation in den Kirchenschlüssen und die freie Bewegung der Melodie in un-
gezwungener-Teztredtation. Meine Ordensgenossen, die den Prälaten oft singen
hörten, waren nicht der gleichen Ansicht; ihnen erschien das orientalisch Sorglose
in der Tonbildung, das Klanglose und Näselnde gegenüber dem Klangreichen,
mit dem wir unsere alten Choralmelodien singen^ als unschön; die Weise aber,
Stimmung und seelische Bewegung auszudrücken, ist beiden Gesangsarten verwandt.^
120
Kritiken und Referate.
Der erste wesentliche Unterschied besteht darin, daß der syrische Gesang durch-
weg ein einfacher ist. Die Melodien sind meist syllabisch, d. h. haben je einen
Ton auf jeder Textsilbe. Es giebt auch reicher gehaltene; doch reichen sie
kaum an die einfachem unserer Meßges&nge, z. B. einen Introitus, heran. Jubi-
lationen, grössere Melodien auf einer Teztsilbe, kennen sie gar nicht. Die Anti-
phonen lerfallen in »syrische« und »griechische«. Die ersteren sind sehr alt und
stammen mindestens aus der Zeit des hl. Ephrem. Die »griechischen« sind Über-
setzungen griechischer Kanones (Strophen), die zu einer Zeit angefertigt wurden,
da die byzantinische Liturgie die der Orientalen fast überall schädigend beein-
flußte, n&mlich im 8. Jahrb. Die Antiphonen sind mit Ausnahme der »griechischen«
metrisch , die Verse mit Einhaltung des Wortaccentes aus 5 — 10 Silben gebaut.
Jedes der etwa 70 Schemata hat seine eigene Melodie in allen 8 Kirchentonarten ;
die Tonart ist in den liturgischen Bachern angezeigt, die Melodie nicht. So hat
das gleiche Metrum an Weihnachten eine andere, viel freudigere Melodie als in
der Charwoche. Von den vielen mir Yorgesungenen Melodien einige zu notieren^
erwies sich als sehr schwierig. Der Qew&krsmann versicherte nicht sehr musikalisch
zu sein; und in Wirklichkeit standen die Intervalle bei ihm nicht fest; was beim
ersten Vorsingen eine Terz gewesen, erschien beim zweiten Male als Quart. Die
Melodien des ersten Tones überschritten nur in Wenigem den Umfang einer
kleinen Terz. Man kann sie den einfachen ambrosianischen Hymnenmelodien des
römischen Psalteriums vergleichen.
Oft verlor ich im Nachschreiben den Faden der Melodie, indem Töne kamen^
die nach unserer Tonleiter gar nicht zu schreiben sind. Man mag das dem Un-
geschick des Nachschreibers , einem Mangel des Vorsängers oder der Beschaffen-
heit der Melodie zuschreiben. Von einer Melodie bin ich indeß sicher, sie getreu
nachgeschrieben zu haben. Wegen besonderer Beziehung zu einer römischen
Ghoialmelodie lassen wir sie hier folgen. Der Hymnus stammt vom hl. Ephrem;
er wird noch allj&hrlioh an Weihnachten unter grossem Jubel des Volkes gesungen,
das mit H&ndeklatschen den Khythmus der Melodie begleitet Das Liedchen klang,
als ich es vorsingen hörte , recht hübsch. In Anbetracht der Ungeheuern Stabilität
in allen kirchlichen und bürgerlichen Einrichtungen der Ostsyrer habe ich für
meinen Theil keinen Zweifel, daß die Melodie mit dem Texte gleichen Alters ist.
An zwei Stellen, churar und kulal, schwankte mein Gewährsmann zwischen den
Tönen f und g.
So ' no j'ar - eho du - tein ku - leh kul - ehad vo * iho
chu-rar ab - de chu-thar che - re ku-lal tha^ryo pu-nak pa - gre
ar ' gu ' no tub scho - de b'chu - le ach dal - mal - ke.
Nun vergleiche man damit die folgende römische Choralmelodie, die gleich-
falls dem Weihnachtskreis angehört. Sie kommt nämlich im Advent drei Mal zu
verschiedenen Texten vor; außerhalb dieser Zeit aber findet sie sich meines Er-
innerns nicht.
Fr. Aug. Geyaert, Les origines du obant liturgique de TegliBe latine etcl^ 1 2 1
Antiphona.
De Si-on ex-i-bit lex
Antiphona.
et ver-bum Do-mi-ni de Je-ru - aa-lem.
(Am Mittwoch der ersten Adventswoche.)
C<m'8tan'ie8 e - ato - te; vi-de-bi-tis au-xi-U-um Do - mini super vos.
(Am Freitag der dritten Adventswoche.]
Antiphona.
t.
ÖEfe
Con-8ur-ge, coti-sur - ge, in-du-e-re for-ti-tu-di-nem bra - chi-i Do-mi-ni»
(Am Dienstag der vierten Adventswoche.)
Die Melodie bildet etwas Eigenartiges im Gregorianischen Antiphonar. Ich
erinnere mich noch wohl, wie sie mir in jüngeren Jahren beim erstmaligen Singen
befremdlich vorkam. Man darf sie auch nicht zu den besseren Weisen des Choral-
buche« rechnen. Will man einen Zusammenhang zwischen beiden Melodien an-
nehmen, was nahe liegt, so kann man entweder denken, daß der syrische und der
römische Tondichter aus einem gemeinsamen Schatze musikalischer Motive ge-
schöpft oder daß der römische , der jedenfalls der jüngere ist, die orientalische
Melodie benützt habe. Das Letztere scheint nfther zu liegen. -<- Auf solchem
Wege könnten wir allmälig zu klareren Vorstellungen über den Einfluß des
Orientes, insonderheit Syriens, auf den abendländischen Gesang kommen.
Wir erlauben uns nicht, viele Schlüsse aus dem Gesagten zu ziehen. Wenn
aber irgend etwas sich nahe legt, so ist es die Thatsache, daß die Syrer, wenn
sie die Jubilationen nicht kennen und nur einfache Melodien haben , die reichen
Melismen nicht nach Rom bringen konnten. Und doch gründete G. auf solche
Annahme den ganzen positiven Aufbau seiner Hypothese.
Einen anderen Weg, über die Vorgeschichte der gregorianischen Melodien
za einem positiven Ergebnisse zu gelangen, weist uns vielleicht das Studium
des ambrosianischen Chorals und des liturgischen Gesanges der Griechen. Gevaert
seheint es zwar für unmöglich zu halten, daß Jemand Über den Gesang des am-
brosianischen Ritus im 6. Jahrhundert Aufschluß gebe (S. 91) ; er wird aber dem
Referenten, dem der Text des gesammten mailändischen Antiphonars und gegen
200 Melodien desselben vorliegen, eine abweichende Ansicht erlauben. Allerdings
geht die handschriftliehe Quelle nicht über das 11. Jahrhundert hinaus; die in
ihr enthaltenen Gesänge datiren aber sicher aus einer vorgregorianischen Zeit.
Ist das älteste Sacramentar der mailändischen Kirche nicht auch erst aus dem
9. Jahrhundert? und doch zählt es mit den gelasianischen und leoninischen zur
Vorgeschichte des gregorianischen. Das ambrosianische Antiphonar hat mit dem
römischen einen überraschenden Zusammenhang und zeigt zugleich einschneidende
Verschiedenheiten. Beide haben sehr einfache, mittlere und sehr notenreiche
Melodien; doch sind die reichen ambrosianischen gewöhnlich doppelt so groß an
Umfang, an höheren Festen aber wachsen die Jubilationen, schön melodisch gebaut
und musikalisch entwickelt, zu einer uns ganz ungewohnten Ausdehnung. Bei vielen
Melodien kann man fast Note um Note verfolgen, wie der römische Bearbeiter
122 ^ Kritiken und Beferate.
seine Vorlage umgestaltet hat. Auch der geistige Ausdruck des mailändischen
Gesanges hat seine bedeutsamen Eigenthümlichkeiten gegenüber dem römischen.
Vom mailändischen Gesang und Bitus, die offenbar mit dem orientalischen in
näherem Zusammenhang stehen als der römische, wird man den Weg zu den
älteren griechischen Vorbildern zu gewinnen suchen müssen. Allerdings wird
dieses Studium nicht geringe Schwierigkeiten bieten, weil nur wenige oder keine
eigentlichen Vorarbeiten vorhanden sind. Wir kennen den liturgischen Gesang
der Griechen so gut wie gar nicht, wissen nicht, ob für das Officium und die
Messe so ins Einzelne gehende charakteristische Formen geschaffen sind, wie wir
sie im römischen Ritus in ungefähr zehnfacher Abstufung haben, wissen auch
nicht, ob überhaupt die handschriftlichen Quellen einen Einblick in frühere Jahr-
hunderte gestatten, weil bei den Griechen die neuen Errungenschaften sich nicht
wie bei den Lateinern, Lücken ergänzend, an das Alte anfügten, sondern wie in
tropischer Fruchtbarkeit aufsprossend dasselbe überdeckten und verschwinden mach-
ten. Die Übertragungen griechischer Choräle bei Christ]- Faranikas , Anthologia
graeca und bei Bourgault-Ducoudray sind einfach syllabische Melodien; die Kyrie aber
sind, wie sie in den offiziellen Chorbüchern der Griechen stehen, notenreicher;
aber bei keiner Art findet man Anklänge an Melodien der Lateiner. Der Melodien-
schatz der griechischen Kirche ist übrigens groß und birgt in seinem unerforschten
Reichthum vielleicht die gewünschten Bindeglieder. Auch kann man hoffen, über
die erste Gestalt und Herkunft der acht Choraltonarten, die freilich auf anderer
Grundlage ruhend, bei den Griechen wie bei den Armeniern und Syrern zu finden
sind, näheren Aufschluß zu erhalten.
2. Einer ersten vorläufigen Bekämpfung Gevaert's folgten in der Revue h4n^
dietint drei weitere Artikel, welche auf die Behauptungen Gevaert's näher eingehen
und sie im Einzelnen widerlegen. Obige Broschüre ist ein Separatabdruck der-
selben i. Im ersten Theil wird untersucht, worin die gesangliche Arbeit Gregor*«
bestanden haben mag, und im Anschluß an den Satz aus dem 8. Jahrhundert
•monwnenta patrutn renovaoit et auxü^^ dahin zu bestinmien gesucht, daß er den
vorher bestehenden Gesang, der noch im jetzigen ambrosianisohen erhalten ist,
überarbeitete und Anderes ganz neu komponirte, was wohl von den Alleluja, Tractus
und vielen Kommunionantiphonen zu verstehen sei. Im zweiten Artikel werden
die alten, zu Gunsten Gregorys sprechenden Zeugen verhört, der Diakon Johannes
wieder zu Ehren gebracht und aus der Zeit vor ihm aufgezählt: Hadrian II,
Leo IV, Abt Hildemar, Walafried Strabo, Agobard von Lyon, Amalar, Hadrian I,
Egbert von York. Bezüglich Egbert's ist Gevaert in seiner RepUk das Unglück
begegnet, daß er die Beweisstelle verwarf, weil sie aus einem, von anderen echten
sehr verschiedenem pseudoegbertischen Werke stamme; nun wdst sein Gegner
nach, daß die von Gevaert als echt angenommene Schrift unecht und die als
unecht sammt ihrer Beweisstelle verworfene allgemein als echt anerkannt ist. Der
dritte Artikel prüft der Reihe nach die positiven Behauptungen Gevaert's über die
Entstehung der reichen Melodien, die Verdienste der orientalischen Fäpste etc.
Der Verfasser schließt mit einer Skizze, wie nach seiner Auffassung die Ent-
wicklung des Chorals vor sich gegangen ist, wobei er neue Gesichtspunkte und
neue Beweismomente beibringt. Der Bedeutung der Sache wegen gedenken wir.
beide Broschüren in deutscher Sprache zu veröffentlichen.
Beuron. F. AmbrosiUB Kieple, 0. S. B.
^ Referent hatte nur die Artikel der Retme zur Hand.
Otto Fridolin Fritssche, Glarean, Sein Leben und seine Schriften. ]^23
Otto Fridolin Fritzschey Glaiean, Sein Leben und seine Schriften.
Fiauenfeld, Hubei. 1890. 8. VI und 136 Seiten. Mit einem Porträt
Glareans.
Seit Heinrich Sehreiben Olarean-Biogiaphie» welche 183.7 zu Freiburg i. Br.
ersehien, ist bis zu obigem Werke nichts geschrieben worden, was dem größten
Humanisten der Schweiz gerecht wurde und seiner vollauf werth war. Es gereicht
mir zur Freude, sagen zu können, daß dies bei Fritzsch.es Arbeit der Fall ist.
Genaue Sachkenntniß, fleißige Sammlungen, eingehende Studien haben ihm eine
Menge neuen Stoffes an die Hand gegeben, um das Bild seines Mannes reicher
auzsuf&hren, es unter den Charakterköpfen seinor gleichstrebenden Genossen sch&rfer
herrortreten und vom Hintergrunde der Zeitbewegung sich greifbarer abheben zu
lassen. Er steht zu seinem Vorgftnger nicht so, daß er ihn überflüssig machte.
Wer die unmittelbaren und mittelbaren Quellen nicht nachlesen kann, aus denen
beide schöpften, wird die reichlichen Mittheilungen aus denselben bei Schreiber
dankbar annehmen. Auch ist es anziehend, die Darstellungsweise beider zu yer-
gleichen. Der ältere Biograph schreitet mit bequemer Gelassenheit voran, sein
Urtheil ist von humaner Milde. Der jüngere schreibt gedr&ngt, ist weniger auf
angenehmen Fluß als sachliche Fülle bedacht und zögert nicht, dem Bilde, wo es
ihm nöthig scheint, einige derbe Schatten einzusetzen.
Glarean war ein Mann von großen und vielfältigen Gliben. Als Fhilolog,
Historiker, Geograph, Mathematiker und Musikgelehrter hat er sich hervorragende,
zum Theil bleibende Verdienste erworben ; als Lehrer war er bis zum hoh^n Alter
einer der anregendsten seiner Zeit. Fleißig und pflichtgetreu ^ sittenstreng, pa-
triotisch, reizbar, rücksichtslos, streit- und schm&hsüchtig, eitel, prahlerisch und
doch im Grunde bescheiden, von groteskem aber gesundem Humor — auf der
Grundlage urwüchsiger Kraft ein wunderbares Gemisch verschiedenartiger Charakter-
eigenschaflen. Da er zu Reuchlin, Erasmus, Pirckheimer, Beatus Rhenanus,
Zwingpli, Oecolampadius und anderen Führern der humanistischen und reformato-
risehen Bewegung in Beziehung und mit einigen von diesen sogar in sehr enger
Verbindung stand, so führt sein Lebensgang den Leser gleichsam mitten durch
die Wogen jener Zeit Und dieses ist einer von den Gründen, aus denen man
wünschen muß, daß sich auch die Musikwissenschaft genauer um ihn kümmert,
als bisher geschehen ist.
Wir neigen, wenn, ich mich nicht tausche, zu sehr dahin, die kirchlichen
Bewegungen, welche die allgemeine Signatur des 16. Jahrhunderts bilden, ohne
weiteres auch als die treibende Macht im Gebiete der Tonkunst anzusehen. Gewiss
hinterlassen sie in der Musikübung ihre Spuren. Aber stilistisch tiefeingreifend
haben sie nicht gewirkt. Was den evangelisch-kirchlichen Gesang von dem ka-
tholischen in dieser Zeit unterscheidet, sind, künstlerich angesehen, Nebendinge.
Ein Wesensgegensatz bildet sich erst vom 17. Jahrhundert an heraus. Seb. Bach,
der Gipfel evangelischer Kirchenmusik, wurzelt in diesem und steht zur Kunst des
16. Jahrhunderts in keiner unmittelbaren Beziehung mehr. Sie aber erhält ihr
Gepr&ge durch zwei Dinge: einmal durch nationale Eigenthümlichkeiten, dann
aber — und dies besonders in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts — durch die
nachwirkenden Ideen der Benaissance-Zeit. Nachwirkend allein konnten sie in
in der Musik zur Geltung kommen. Denn das Wesen dieser Kunst sträubt sich
gegen eine sofortige Beeinflussung durch die Ideen der Zeit. Was Palestrinas
ToQwerke vor anderen groß macht: die Reinheit der Linien, die Durchsichtigkeit
des Gewebes, der lichtklare Klang, das verdanken sie dem Segen der Antike, der
j^24 Kritiken und Referate.
diesem Künstler am reichlichsten zu Gute kam. Aus den Bestrebungen der
Gegenreformation konnten solche Eigenschaften nicht hervorgehen ; nur der fromme
Sinn, mit dem er all seine Gaben andachtsvoll der Kirche zum Opfer darbrachte,
ist ihr Geschöpf. Glarean nun bietet mit seiner Persönlichkeit ein für die Musik-
geschichte bedeutsames Beispiel, wie kirchlich-reformatorisches Streben und Huma-
nismus sich keineswegs deckten. Dieser war eine außerkirchliohe , man könnte
für die damaligen Yerhftltnisse auch sagen: überkirchliche Macht, aus welcher die
Kirche wohl verjüngende Kraft saugen, der aber niemals ganz in ihr aufgehen
konnte. Glarean wie sein Lehrer Erasmuä verehrten Luther, mißbilligten aber
die Ausschreitungen der Lutherischen; beide empörten sich Über die sittliche Ge-
sunkenheit der Geistlichen und wünschten bessernde Abhülfe, aber die Grundlagen
der Kirche selbst wünschten sie nicht angetastet zu sehen. Ihnen erschien eine
Entwicklung möglich, in der aus den alten Formen des Lebens eine neue freie
Geistesbildung unter Hülfe der wiedergefundenen antiken Bildungssch&tze sich
erhöbe und die zerfallenden mittelalterlichen Beste allmählich in sieh aufzehrte.
Von dem wiederbeginneuden Streit um Dogmen fürchteten sie einen Rückfall in
die kaum überwundene Scholastik. Und so wie sie dachten viele, dachte vielleicht
die Mehrzahl der fein Gebildeten. Daher denn auch Erscheinungen wie Ludwig
Senfl, welcher der allgemeinen Kirche treu blieb aber doch mit Luther vertrauten
Umgang pflog, nichts seltenes waren. Glarean hatte nicht die Unbefangenheit
Senfls und nicht die Schmiegsamkeit des Erasmus: da die reformatorisehen Be-
wegungen wider seinen Sinn gingen, wurde er in kurzangebundener Heftigkeit ihr
schärfster Gegner und verfeindete sich auch mit seinem langjährigen Freunde
Zwingli.
Das Dodecaehordon ist ein Werk, welches man ebenfalls nur im Zusammen-
hange mit den humanistischen Studien richtig würdigen kann. Diejenigen irren
gründlich, welche in ihm ein Denkmal mittelalterlicher Musiktheorie sehen. Viel-
mehr wird hier der Bruch mit dieser, welcher in der Praxis schon lange sieh
angebahnt hatte, auch in der Theorie vollzogen. Die Ableitung der zwölf Ton-
arten aus der Theorie des Alterthums beruht freilieh auf irrigen Voraussetzungen;
den Unterschied zvrischen Octavengattungen und Mollskalen hat er so wenig erfaßt
gehabt, wie irgend ein anderer Gelehrter bis auf Boeckh. Immerhin geht er bei
der Aufstellung seiner Tonarten gegenüber dem mittelalterlichen System ganz radikal
zu Werke. Was die Hauptsache ist, er umfaßt mit freiem Blick das ganze Gebiet
der Tonkunst, die kirchliche sowohl wie die weltliche. Der Modtts lonieus, unser
Dur, ist ihm omnium tuitatissimtu, und dessen plagale Art »wirkt sehr anmuthig
in Tageliedem und Liebesliedem, lingua potissimum Celtica, qua HelveUi utuntur^
nee minus Germamea transrhenanai. Seine Vorliebe für einstimmige Musik, seine
Hochsohätzung des Phonascits gegenüber dem Symphoneta, sein Eifer fQr die ge-
simgene Vorführung horazischer und anderer Gedichte des Alterthums sind gleich-
falls Zeugnisse für den Geist der neuen Zeit. Mit den vierstimmigen Horazcom-
positionen von Tritonius, Senfl, Hofhaimer^, die damals in Humanistenkreisen
viel Beifall fanden, war Glarean gamicht zufrieden. Das einzig Genießbare daran
sei der vierstimmige Satz, die Melodien taugten nichts. Bescheiden spricht er sich
selbst 'die Fähigkeit ab, gehaltvolle, eindringliche Melodien zu erfinden ; aber die-
jenigen, welche er in jungen Jahren aus eigner Eingebung zu horazischen Oden
gesungen, hatten sich doch durch Deutschland weit verbreitet, müssen also ihre
Vorzüge gehabt haben. Auch die dorische Weise, in welcher er 1512 in Köln
^ ^Loquor de his qui hac tempesiate in Hcratij odae dedire quatuor uoeum
earminauf Dodecachord. S. 179.
Otto Fridolin Fritzsche, Glarean, Sein Leben und seine Schriften. |25
seineD Panegyrieus auf Kaiser Max vortrug, wird demnach eigne Erfindung gewesen
sein. Konnte er mit ihm öffentlich vor dem Kaiser auftreten, so muß er auch zum
ausübenden Musiker Talent besessen haben. Interessant wäre es, über die Art des
Vortrages genaueres zu erfahren. Das G^edicht besteht aus 80 Hexametern. Un-
möglich können sie alle nach derselben Melodie abgesungen sein; vermuthlich hat
Gflarean größere Versgruppen zusammengefaßt Aber wie? und blieb die Melodie
ihnen gegenüber immer die gleiche, oder veränderte er sie der Uebereinstimmung
mit dem Text zulieb, auf welche er ja ein großes Gewicht legt? Sang er ohne
Segleitung, oder, was wahrscheinlicher, zur Cithara, d« h. Laute? Wir stehen hier
einer ganz eignen Art von Musikvortrag gegenüber, die in der Renaissancezeit
von Italien nach Deutschland gekonmien sein muß. Glarean seinerseits scheint
unmittelbar dem Humanisten Hermann von dem Busche nachgeahmt zu haben,
der 1508 ein Loblied auf die Stadt Köln in ionischer Tonart öffentlich vortrug.
Jede weitere Nachricht über das Wesen derartiger Gesänge würde sehr willkommen
sein. Vielleicht ist Fritzsohe im Stande, sie zu geben.
Ueber Glareans Musikliebe und Musikübung erfahren wir von unserem Ver-
ÜBSser noch manches neue« Er sang gern für sich und in angeregter Gesellschaft,
auch im Golleg, wenn er die Oden des Horaz erklärte; dies noch in höherem
Alter und sicherlich nach seinen im Dodeoachordon mitgetheilten Melodien. In
den Vorlesungen muß es manchmal humoristisch hergegangen sein. Als er am
2. April 1554 zum ersten Male über Sueton las, begann der Sechsundsechzigjährige
damit, daß er zu einer hypomixolydischen Melodie den Weihnachtsgesang Gfratea
nunc omnes reddamtu Domino Deo anstimmte und dann den erstaunten Hörern
bewies, er sei nicht etwa verrückt geworden, sondern der Inhalt dieses Gesanges
gehöre zur Sache. Den Vorgang erzählt schon Schreiber; Fritzsche illustrirt ihn
und ähnliches durch einen Bericht des Josua Maler aus Zürich: »Der alt Glarean
• . • hatt' vil Auditores von jungen angelegten München, denen macht er die besten
Bossen« (S. 57). Seine Vorlesungen über Musik hatten gleichfalls großen Zulauf
(S. 118} ; Liebe zur Musik pflanzte er auch seinen Pensionären ein (S, 76). Deutschen
Gemeindegesang konnte er nicht leiden, er war ihm zu roh (S. 45). Einige hand-
achriftliche Bemerkungen über den Gesangunterricht in den Schulen, die Fritzsche
(8.72 f.) mittheilt, sind nicht ohne Interesse.
Von rühmlicher Sorgfalt des Verfassers zeugen die chronologisch geordneten
bibliographischen Nachweise nnd Notizen zu Glareans Schriften. An dieser Stelle
kann nur auf das hingewiesen werden, was anläßlich des Dodeoachordon zusammen
getragen ist (S. 112 — 118). Es wäre eine hübsche Aufgabe, wenn einmal jemand,
den Fingerzeigen folgend, alle noch vorhandenen handschriftlichen Aeußerungen
Glareans über Musik sanunelte, dazu diejenigen, welche in seinen gedruckten nicht
musikalischen vorkommen, und den ganzen Haufen übersichtlich ordnete. Es würde
gewiß viel lehrreiches zu Tage kommen. Die Bemerkungen, welche Glarean dem
Exemplare des Dodeoachordon eingeschrieben hat, das er 1549 dem Abte von
Rheinau übeneichte, darf ich nach Fritzsche hier wiedergeben; sie sind für die
Benutzer des bekanntlich nicht eben korrekt gedruckten Werkes von Wichtigkeit.
Codex Glareani manu emendcUus in iis quae necessiteu postulabat, ut ad ßnem
toÜeU pemotata sunt. CaeUrum quae innumera alia sunt, maxime in tertio Itbro,
ea xa-9oXt*69^ plaeraque ita eorrigi possunt
JPausae in eantu mensurali inaequaUs spissitudinis sunt, quod perridiculum est,
Puncta in eodem jam dicto caniu plaerumque male expressa.
Hotulae a punctis nimium distantes ac remoiae,
Ligaturae uhique hiant, et ipsarum caudae utraque ex parte male expressae,
Vnde mirus error ex notifiarum uariatione.
J26 Kritiken und Referate.
Circuit ac Semidrculi aeqwüi spissitudine esse dehebant. Sic autem noster per
o et c expressit, praeterea puncto perperam saepe imposita.
Id autem uitiosiseimum ^ taetum in uereuum margnttbue distraetum pessimo
cantantium incammodo ad alterum uereum , cum tactu$ ad cuiueque uersue Jinem m-
teper esse deberet,
Punctis nonnunquam etiam iunxit dauern indtcatortam , ut p. 406 uersu 2 et
p. 407 uersu item 2 magna canloris pertwbatione. Vnde liquet quam nihil prorsus
hie librarius de hisce irdellexerit.
In Proportionum exemplis pausae signum pro unitatis signo positum.
Claues signatae appido pueriles^ idem de indicatoriis dicimus.
Haee Olareanus iam LXI egressus annum
proprio manu scripsit.
Unter den Nachlässigkeiten, gegen welche Glarean hier in humoristischem
Grimme eifert, interessirt besonders die im achten Absätze gerügte. Denn dadurch
wird bestätigt, was sich aus der Beobachtung sorgfÜtig hergestellter Drucke des
16. Jahrhunderts thatsächlich ergiebt, daß es Regel war, jede Notenzeile mit einem
Tempus abzuschließen und nicht innerhalb eines und desselben Tempus aus einer
Zeile in die andere überzuspringen. Mit dieser Gewohnheit hängt weiter zusammen,
daß man im 17. Jahrhundert, als zunächst in Instrumentalstimmen Taktstriche ge-
bräuchlich zu werden anfingen, sich das Setzen eines solchen am Ende der Zeile
doch gern erließ: hier Tertrat dieses Ende selbst den Taktstrich.
Der Verfasser unseres Buches lebt in Zürich, was er unter dem Vorworte
hätte bemerken dürfen. Da er S. 99, Z« 10 und S. 102, Z. 21 von der »hiesigenv
Stadtbibliothek spricht, wird Yielleicht mancher Leser sich nicht gleich zu rathen
wissen und etwa erst durch Kombinirung mit S. 26, Z. 15 zur Feststellung des
gemeinten Ortes gelangen. Auffallend war mir, daß Fritzsche auf S. 110 über die
Lage des Klosters St. Qeorg im Zweifel zu sein scheint: JETeregnia sylua bedeutet
hier den Schwarzwald. Noch einige andere kleine Ausstellungen ließen sich machen;
aber es wäre imdankbar, an Kleinigkeiten zu mäkeln, wo so viel des Nützlichen
geboten worden ist.
Berlin. Philipp Spitta.
Dr. jur. Arthur Prüfer^ Untersuchungen über den auBerkirchlichen
Kunstgesang in den evangelischen Schulen dies 16. Jahrhunderts.
Inaugural-Dissertation. Leipzigs Pöschel und Trepte. 1S90. 8. 67 S.
Text und 235 S. Musik.
Als ich im dritten Jahrgang dieser Zeitschrift (1887) in meinem Aufsatz über
die Horazischen Metren in Kompositionen des 16. Jahrhunderts die Meinung aus-
sprach, mit den dort angeführten Odensammlungen seien — »abgesehen von aller-
hand einzelnen Stücken^ — die deutschen Kompositionen antiker Metren im 16.
^ Ich meinte hiermit die einzelnen Oden u. s. w., welche sich in den Drucken
des Tritonius bei Oeglin 1507 (Tr.), bei Effenolf 1532 (IV. E.) und durch Nigidius
1552 (Tr. N,)y femer bei Senfl 1534 [S,] und Hofhaimer 1539 (JET.) finden. Da sie
für die weitere Forschung Interesse gewinnen könnten, will ich sie hier aufführen.
"Wo die Lieder im Figuralstil gesetzt sind, füge ich »fig.« hinzu, alle anderen sind
metrisch.
Ades paUr supreme (Prudentius) v. Senfl: Tr. N. 48; S. 28; JJ. 44. Von Hof-
haimer: ir. 31.
Adesie Musae, maximi proUs Jovis ; incerti aut, : Tr* N. 37.
Arthur Prüfer, Untersuchungen über den außerkirchl. Kunstgesang etc. ] 27
Jahrhundert erschöpft« und mit der Ausgabe des Nigidius von 1552 scheine »die
immerhin merkwürdige Erscheinung in der Musik- und Schulgesdiichte des 16.
Jahrhunderts ihren Kreislauf zu beschließen«, ahnte ich nicht, in wie erfreulicher
Weise weitere Beobachtungen und Entdeckungen diese Vermuthung Lügen strafen
sollten. Ich dachte allerdings, indem ich sie niederschrieb, zunächst nur an der-
gleichen Sammlungen horazisoher Metren. Aber auch von solchen scheint
es doch noch mehrere zu geben. Ich finde die Notiz, daß von Benedikt Dncis
horazisehe Oden in Ulm 1539 gedruckt worden seien, sowie daß Goudimel eine
Sammlung horazischer Oden 1555 bei Duchemin in Paris habe drucken lassen.
Vielleicht weiß Jemand Auskunft darüber zu geben.
Der Sammlung von Ducis könnten die einzelnen Stücke entnommen sein, welche
sich Ton ihm bei Nigidius finden.
Weit wichtiger aber als dies ist die Ausdehnung, welche die ganze Unter-
suchung weit hinaus über die horazischen Metren genonmien hat.
Zunächst zeigten die Psalmen -Kompositionen des Statius Olthofi*, welche
Widmann im 5. Jahrgang dieser Zeitschrift herausgab, daß die metrische Musik
sich Ton den antiken Dichtungen aus über • die moderne geistliche Dichtung in
antiken Versmaßen verbreitet hatte. Dann wurde ich selbst durch das Haupt-
interesse, welches mich bei der ganzen Sache geleitet hatte, nämlich durch die
Frage, ob und wie die metrischen Kompositionen einen Einfluß auf den evan-
gelischen Kirchengesang gewonnen haben möchten, auf die Untersuchung der
Chorgesänge des humanistischen Dramas geführt und es zeigte sich, daß auch hier
die metrische Musik in den lateinischen Chorgesängen Fuß gefaßt und sichtlich
auch auf die Behandlung der deutschen Gesänge hinübergewirkt hat. War schon
damit ihre weite Verbreitung und ihr Einfluß auf die allgemeine musikalische
Äequam memento rebus in arduis (Horaz, Od. II 3) v. Hofhaimer : H. 22.
Ales diei nuntiue (Prudentius) v. Senfl: Tr, JV. 49; S. 26,
Arma virtfmque cano (Virgil Aen, 1, 1.) v. Senfl: 2V, N. 20; S. 20. Von Hof-
haimer : ff. 26. Von Benedict Ducis Tr, N. 20 u. 21.
BetUus tue qui proeul negotiia (Horaz Epod. 2) v. Hofhaimer: JET. 24.
Care fater eummi residens, Vetus melodia. Tr..N, 47.
Carmwa qui quondam etc. (Boetius I. 1.) v. JToa. Heugelius (vgL AUgem. d. Bio-
graphie XII. 325): Tr. N, 27. Von Christoph Cuprarius: Tr. N. 28.
Coenabie hene^ mi FabuUe, apud me (Catull 13) v. Hofhaimer JJ. 28.
Coüie o HeUconii (Catull 59) v. Greg. Peschinus (s. Allgem. d. Biogr. XXV.
411): JT. 45.
Da pacem, domine, in diebue n. Theod. Künig ; fig. : Tr. N. 54.
Dieertissime JRomuli nepotum . (Catull 47) • v. Senfl. : 8, 25. v. Bened. Ducis :
Tr. N, 32. .
Eeee bonum, quam joeundum etc. v. Senfl: i9. 21.
Frequene adeeio, parte grex, dei prolee (Joa. Camerarius) v. Senfl: Tr. N. 53;
S, 31.
Hone tua Penelope etc. (Ovid, Her. I.) v. Senfl: Tr. N. 25; S. 22; H. 40.
Von Bened. Ducis : TV. N. 23 u. 24.
Harrida- temp^tas etc. (Horaz JEpod. 13) v. Hofhaimer: JB, 34.
Ingenium quondam fuerat pretiosius auro: v. Tritonius: Tr. i Tr. E,; Tr. N. 29.
IntaeÜB opuleniiar (Horaz Od. HL 24) v. Hofhaimer: H. 23.
Integer vttae scelerisque purus (Horaz I, 22) v. Senfl: H. 37.
Ipse cum solus varios retraeto (Herm. Buschius) vetus mehd.: Tr..N. 30 u. 31.
iaudate dominum (ein Traktus) v. Senfl., flg.: Tr. JV. 43.
Livor tabißcum malis venenum: incerti aut.- Tr. jV. 36.
Non usiiata nee ienui ferar (Horaz Od. U. 20) v. . Senfl : JET. 39.
Nox erat ei coelo fulgebat- Luna sereno (Hör. Epod. 15) v. Hofhaimer H. 25.
\28 Kritiken und Referate.
Entwickelung bis zu gewissem Grade erklärt, so ist das in nock viel höherem
3faße der Fall durch das Ergebnis der Untersuchungen, welche Dr. PrQfer in der
Yon einem reichen Notenmaterial begleiteten in der Überschrift genannten Arbeit
niedergelegt hat. Er weist darin nach, daß in verschiedenen lu Lehnwecken der
Schule bestimmten Musikwerken die metrische Kompositionsgattung eine wichtige
Holle spielt und swar bis über das Ende des 16. Jahrhunderts hinaus. Nach Prüfer^s
Forschung begegnet uns diese Erscheinung zuerst in den Melodiös »ehokuticae des
Martin Agricola; Wenn Gerber's Behauptung, es gäbe eine erste Ausgabe dieses
.Werkes von 1512, richtig w&re, dann hätte sich also die metrische Kompositions-
weise schon fünf Jahre nach ihrem ersten öffentlichen Auftreten nach Sachsen hin
übertragen; denn die erste Ausgabe. des Tritonius ist ja vom Jahre 1507. Das ist
an sich äußerst unwahrscheinlich, auch könnte nicht nur, wie schon Prüfer bemerkt,
das Responsorium aul» der Zeit der Belagerung Magdeburgs, sondern es könnten
auch die Oden des Georg Fabricius, der erst 1516 geboren wurde, dieser ersten
Ausgabe von 1512 nicht angehört haben. Es geht aber meines Erachtens aus dem
von Prüfer mitgetheilten Widmungsschreiben des Herausgebers der ersten bekann-
ten Ausgabe von 1578, des Gottsch. Prätorius, welches von 1556, also kurz nach
Agricola's Tode datirt ist, ganz unzweideutig hervor, daß die von Prätorius be-
sorgte Ausgabe die erste war, und daß sie soeben erst von Agricola vorbereitet
war. Er schreibt nämlich: In hunc igiiur uwm non ita tnuHis ab h ine men-
sihus Hymnos nonnuUos Martinus Agricola ei ego eollegirmu, qttorum aUi Jam
annos aliquot tqmd nostros in ueu fuerunt alii vero videbantur alioqui utile$
admodum futuri. Das heißt also doch, seit einigen Jahren hatte Agricola
den Gesang dieser Oden mit seinen Schülern bereits betrieben, und eben kurz vor
seinem Tode hatte er für die Zwecke seiner Schule die vorliegende Sammlung
gemeinsam mit dem Herausgeber zusammengestellt, Yermuthlich hat es hiemach
iVoa; et tenebrae et nubila (Prudentius) v..Senfl: Tr, N. 50; S. 27.
Nübibue atrie- (Boetius), incerti aui. : Tr. N. 38.
O crueifer bone bicisator (Prudentius] v. Senfl: Tr. N. 52; S. 30.
O summe rerum conditor (Ph. Gundelius; vgl. Allg. d. Biogr. X 324) v. Senfl:
Tr. J^. 51; Ä 29; IT. 42. v. Hofhaimer: H. 32.
Peeti, nihil me (Hör. Epod. 11) v. Hofhaimer: M. 35.
JPraedita vero (Nie. Borboniüs) v. Joa. Heugelius: Tr. N. 39.
Prima dicte mihi (Hör. Epist L 1) v. Hofhaimer: H. 20.
Quieumque Christum quaeritis (Prudentius) v. Hofhaimer: H, 30.
Quid est quod arctum cingulum (Prudentius) v. Hofhaimer: H. 29.
Quid non Tenariis domus est v. Hofhaimer : S. 46.
Rectius vives, Lieini neque alium (Hör. Od. U. 10) V. Senfl: JJ. 36.
Herum creator maxime (Ph. Gundelius) v. Senfl ; IT. 43. v. Hofhaimer : H. 33.
Si bene ie novi (Hör. Epist. I, 18) v.. Hofhaimer: H. 21.
Sinite partntlos ad me venire, v. Ficinus, flg. : Tr. N. 44.
Si tecum mihi, care Martialis (Mart. V) v. Senfl: JT. 41.
Tityre tu patulae (Virgil. Ecl. .1) v. ? Tr. iV: 40 u. 41.
Trojani belli scriptorem (Hör. Epiat. I. 2) v. Senfl : JJ. 37,
Veni creator spiritus, mentes (Gregor d. G.) incerti aut., flg.: Tr. N. 42. Von
Joa. Heupelius, flg. : Tr. K 46.
Veni sancte spiritus, reple (Antiphon) v. H.. Isaac, flg. : Tr, N. A\.
Vitam quae faciunt beatiorem (Martial Epigr. X. 47) incerti out.: Tr, N. 34
u. 35. Von Senfl : S. 23. Von Hofhaimer : H. 27.
Vivamus, mea Lesbia (Catull 5) v. Tritonius ? Tr. ; Tr. E. ; Von Bened. Ducis :
Tr. N, 33. Von Senfl: S..24.
Vivet Maeonides (Ovid. Amor I. 15, 9) v. Joa. Heugelius Tr. N. 26.
Vos ad se pueri (Melanchthon) ine. out. : Tr. N. 45.
Arthur Prüfer, Untersuchungen über den außerkirchl. Kunstgesang etc. J 29
eine erste Ausgabe Yom Jahre 1556 oder 57 gegeben, von der die späteren nur
Wiederholungen sind. Wir dürfen danach schließen, daß in den vierziger Jahren
des Jahrhunderts die metrischen Kompositionen an den sächsischen Schulen ein-
gebüigert waren. Das stimmt ja auch mit anderen Thatsachen über ein. Denn in
der Zeit von 1530 — 50 y erbreiteten sich die humanistischen Dramen der ersten
Periode mit ihren antik gemessenen Chorgesängen über die Schulen Deutschlands
nnd bald nachher finden wir einzelne metrische Melodien für Kirchenlieder ver-
wendet. Was diese Tonsätze für den Unterricht und Gesang der Schuljugend
empfehlen mußte, liegt auf der Hand. Die akkordischen Harmonien waren un-
endlich viel leichter zu singen, als die schwierigen figuiirten kontrapunktischen
Satze, sie waren auch trotz ihrer Starrheit in harmonischer Hinsicht wirkungsreicher,
Zugleich auch, weü leichter faßlich, volksthümlicher. In evangelischen Gesangbüchern
der dreißiger Jahre finden sich auch schon Hturgische Choräle in gleicher Art har-
monisirt Dazu kam dann noch der immer ausdrücklich betonte Vortheil, daß
durch die so gesungenen Oden und Hymnen den Schülern die antiken Metren
spielend geläufig wurden. Hand in Hand mit alle dem ging dann eben noch ihre
Verwendung in den Chören des Schuldramas.
Wie nun die Melodiae seholastieae des Agricola, so sind drei andere Chor-
werke aus dem Ende des Jahrhunderts, welche Dr. Prüfer mittheilt und bespricht,
in ähnlicher Weise dem Gebrauch der humanistischen Schule bestimmt, nämlich
die Melodiae seholastieae des Gesius (erste Ausgabe von 1597); die Crepundia sacra
von Helmbold in Kompositionen von Joa. 4 Burck, Ecoard und Nie. Hermann;
erste Ausgabe von 1577} und die zwei Bücher der ebenfalls von Helmbold ge-
dichteten und von Joa. k Burck gesetzten Odae sacrae (erste Ausgabe 1578).
Es wären vielleicht noch einige andere Werke in Betracht zu ziehen gewesen.
Für den Gesang der Schule ist ja auch das klassische Waltersche Chorgesangbuch von
1524 und die 1544 bei Biiaw gedruckten »123 Gesänge für die gemeinen Schulen«
bestimmt. Metrisch komponirte Gesänge enthält allerdings das erste und meines
Wissens auch das zweite Werk nieht. Anders aber steht es ohne Zweifel mit
T^mi eantiones cum melodiis Mari. Agricolae et P. Schalreuteri, Zwickau 1553.
Es ist mir bisher leider nicht gelungen dieses Werk zu Gesicht zu bekommen.
Meines Wissens findet sich aber in Leipzig ein Exemplar davon. Vielleicht erwirbt
sieh Dr. Prüfer das Verdienst uns damit bekannt zu machen. Es hat für die vorlie-
gende Betrachtung offenbar durch Agricola's Betheiligung daran doppeltes Interesse.
Eine metrische Komposition Schalreuter's zu Aufer immenaam deus aufer iram
theilt Zahn in den Melodien der D. ev. Kirchenlieder Bd. I Nr. 967 mit. Es verdiente
aber auch weiter untersucht zu werden, ob nicht wie die Buchananschen Psalmen
80 noch andere der ziemlich zahlreichen Psalmenübersetzungen in Odenform Kom-
positionen solcher Art enthalten.
Daß der Ver&sser in seiner Untersuchung .die lyrischen Kompositionen von
den im zweiten Abschnitt behandelten Chören des Dramas getrennt hat, ist sehr
richtig. In der Betrachtung beider Abtheilungen schadet es aber der Übersicht-
lichkeit, daß sie nicht chronologisch geordnet sind. Es handelt sich ja bei dieser
ganzen Erscheinung um eine geschichtliche Entwicklung, wie auch der Verfasser
erkennt und des öfteren sehr richtig im Einzelnen ausführt. Der Hauptreiz der
ganzen Erscheinung liegt sogar im Grunde eben in dieser Entwicklung, in den
Versuchen, das metrische Prinzip mit dem musikalischen auszugleichen, die Starrheit
der metrischen Komposition durch figurale Beimischungen oder leichte rhythmische
Bewegung der Stimmen zu mildem und in Fluß zu bringen, und endlich als
Hauptertrag des Ganzen die harmonisch-akkordische Behandlung auf das deutsche
Kirehenlied zu übertragen. Ein merkwürdiges Stückchen nach dieser Seite hin
1891. 9
j[30 Kritiken und Referate.
ist Joachim d Burck's Satz .über Vent »anete Spiritus et emitte, Nr. 21 der Cr&pundia
(Part. S. 141). Er lautet gunz und gar wie ein Choral im ausgeglichenen Rhythmus
von heutzutage. Zahn theüt auch den ganzen Satz als Kirchenlied mit: 11 Nr. 3334.
Far den zweiten Abschnitt über die Chorges&nge konnte der Verfasser leider
meine Arbeit nicht mehr benutzen. Das ihm Torliegende Material war für eine
übersichtliche Erkenntnis der Sache völlig ungenügend. Ich unterlasse es indessen
hierauf berichtigend weiter einzugehen, da Dr. Prüfer sich inzwischen aus meiner
Arbeit selbst eines Besseren belehrt haben wird^.
Im Übrigen muß ich aber zunächst einige berichtigende Bemerkungen machen.
Über die Verfasser der Hymnen im VTerk des Agricola hat sich der Verfasser nicht
genügend orientirt. Er geht einfach von der Annahme aus : Hymnen ohne Über-
schrift seien dem Verfasser der vorausgehenden mit zuzutheilen. Das ist aber ein
Irrthum. Ambrosius ist mit 10, nicht 5 Nummern vertreten , denn ihm gehören
auch O lux heata trinitaa (Part S. 12), Consora patemi luminis (daselbst), Te ludt
ante terminum (Part. S. 14), Veni redemptor gentium (Part. S. 25, was der Ver-
fasser beim Zählen nur übersehen zu haben scheint) und Christe qui lux es ei dies
(Part S. 27). Dem Sedulius gehört nur A solis ortus eardine (Put. S. 26). Vita
sanetorum decus angelorum (Part. S. 28) ist einjHymnus des 16. Jahrhunderts und
Festum nunc celebre (daselbst) ist von Rhabanus Maurus. Von Prudentius sind nur
3 Hymnen; der ihm zugeschriebene Hymnus O summe rerum c(mditor (Part. S. n(
ist von Phil. Oundelius und Part S. 11 ist unter Qeorgius Gregor d. Gr., nicht
aber Georg Fabricius zu verstehen, denn von jenem ist der Hymnus Noete surgentes
vigüemus omnes, sowie Veni creator spiritus mentes (Part S. 21). Für Georg Fa-
bricius bleiben danach nur 7 Hymnen nach. Zu Vita sandarum (Part. S. 28) will
ich noch bemerken, daß die Sopranstimme aus der Ghoralmelodie dieses Hymnus
gebildet ist. Sie findet sieh bei Bäumker, Katholisches Kirchenlied, Bd. I, No. 271.
Zu d«m Part. S. 41 ff. mitgetheilten Responsorium Agricolas meint der Ver-
fasser auf Seite 25 die Bezeichnung Responsorium sei dem Ritus der katholischen
Kirche entnommen. Das ist zwar an sich sehr gewiß, aber nicht erst Agricola,
sondern der evangelische Gottesdienst hat ihn von da übernommen. Der Gesang
der Responsorien war ja von der evangelischen Kirche aufgenommen und ist bis
in*s vorige Jahrhundert, wenn nicht länger, im Gebrauch geblieben. Im Ritual der
Vesper z. B. folgt das Responsorium als Antwort (Respons) auf die biblische Lek-
tion und zwar genau in der hier vorliegenden Form. Es wird erst ganz sammt dem
Versus gesungen; dann wird das letzte Stück des Responsoriums wiederholt, wes-
halb es hier gleich beim ersten Eintritt als repetitio bezeichnet ist (Part S- 47.)
In dem eben erschienenen höchst lehrreichen Buch Herold's über die Alt-Nüm-
bergischen (evang.) Gottesdienste finden sich dne Menge solcher Responsorien aus
dem 17. Jahrhundert. Ebensowenig ist das Veni Sande Spiritus auf Seite 90 der
Partitur erst von Agricola aus der katholischen Kirche hergeholt, wie der Verfasser
auf S. 29 anzunehmen seheint Es ist eine auch in der evangelischen Kirche viel
gesungene Antiphon wohl des 11. Jahrhunderts >. Die bei Agricola in der Ober-
stimme liegende Melodie ist wieder aus dem altkirchliohen Choral gebildet. Im
Antiphonarium Coloniense von 1846 (ich habe eben kein anderes Antiphonar zur
Hand) findet sie sich z. B. auf Seite 242 als Antiphon zu Nunc dimittis. Dies
1 Für Reuohlin's Progytpnasmata hätte aber nicht die späte Ausgabe von 1516
benutzt werden dürfen, da ja ein Abdruck der ersten Ausgabe von 1498 von H.
Holstein vorliegt.
> Auf ihrem Text beruht das Lied: »Komm heiliger Geist, Herre Gott«,
dessen Melodie aber mit dem Choral der Antiphon nichts gemein hat.
Julien Tiersot, Histoire de la chanson populaire en France. |31
Cantioum wird mit seiner Antiphon in der katholischen Kirche im Completorium
und ward, so lange es evangelische Vespern gab, in diesen gesungen.
Diese swei Stücke, Responsorium und Antiphon, gehören also beiden Kirchen
gemeinsam, dagegen muß Ludwig Senfl, der Kapellmeister Kaiser Maximilians und
Henog Wühehns von Bayern» den de» Verfasser, wenn ich ihn recht Terstehe, auf
Seite 12 sum Protestanten macht, der katholischen Kirche, troti seiner brieflichen
Frenndachaft mit Luther, belassen werden.
Da« Lied von Nicoi Hermann Part. S. 123 stammt aus seinen Sonntags-
Brangelien von 1560. Mit dem voraufstehMiden lateinischen Text Pro eommoda
uerts Umperie hat aber Hermann schwerlich etwas zu thun. Auch dies ist ein Re-
sponsorium mit RepetUio und Vertm, mithin ein kirchlich Yorgeschriebener litur-
gifldier Text.
Die Chöre sum Aiax Lorarias Part. S. 196 ff sind auch textlich merkwürdig.
In der Ubersetzungsliteratur mögen zwar solche Nachbildungen antiker Chorstrophen
h&ufiger Torkommen. Im fireigedichteten humanistischen Drama ist mir vor dem
Ccimgnitu des Ahodius Ton 1614 kein Beispiel begegnet. Die Chöre sind sonst
immer stiehisch oder in Odenform gedichtet
Der in der Part. S. 230 mil^etheilte Chorgesang auf die Stadt Köln fehlt
den früheren Ausgaben der Susanna. Die 1532 gedruckte deutsche hat überhaupt
keine Chöre; die lateinische von 1537 hat nur Chöre an den 5 Aktschlüssen. Der
einleitende' Chor ist ohne Zweifel erst 1541 für die Aufführung in Köln dort in
mtKJorem urbis gloriam hinzugefügt.
Der musikalische Theil von Dr. Prüfers Arbeit ist eine höchst dankenswerthe
Bereicherung der musikalischen Literatur zur Kenntniß des 16. Jahrhunderts. Der
Verfasser analysirt in lehrreicher Weise in seiner Abhandlung die Tonstücke viel-
fach im Einzelnen, indem er auf ihre Besonderheiten aufmerksam macht. Auch
ihre allgemeine Bedeutung für die Musikgeschichte hat er in treffender und feiner
Weise gekennzeichnet und hervorgehoben. Manches dieser Musikstücke ist vorn
wahrer Schönheit; den Chören des Aietx muß man sogar eine gewisse Großartig-
keit zugestehen. Vor allem wichtig und anziehend ist es abör zu beobachten, wie
aus dem an sich wunderlichen musikalischen Experiment des Celtis und seines
Schülers Tritonius in allmälicher Erhöhung und Veredelung etwas musikalisch
Besseres entwickelt wird und wie durch die Übertragung seiner charakteristischen
Eigensehaften auf das geistliche und Volkslied in folgenreicher Weise eine neue
Form des Chorgesangs ersteht.
Schleswig. R. "«r. Ijillelieroii.
Julien Tieraoty Histoiie de la chanson populaire en France.- Ouvrage
€ouioiin6 par Tinstitttt. Paris librairie Plön 1889.
»Das Volkslied bildet in der europ&isch • abendländischen Musik neben dem
Gregorianischen Gesang die zweite Hauptmacht«. Viel zu wenig ist dies Ambros-
eehe Wort bisher gewürdigt worden ; zum Theil, weil das im Verborgenen blühende
Volkslied sieh der Aufmerksamksit der Forscher in höherem Maße entzieht, zum
Theil, weil die im Volkslied zu einer untrennbaren Einheit verknüpfte Poesie und
Moflik als Beurtheiler einen Mann erfordern, der den Poeten und Musiker in sich
vereinigt. Überblickt man die bisherige Literatur des Volksliedes, so findet man
es zumeist vom literarhistorischen Standpunkt aus betrachtet, während der mu-
•tkaüeche Theil desselben bisher noch ziemlich unbeachtet blieb. Es war daher
9*
132 Kritiken und Referate.
ein glücklicher Gedanke, daß die Acadimie des Beaux-Arts für das Jahr 1885 einen
Preis ausschrieb für die Beantwortung der Frage »über das französische Volkslied
vom Beginn des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts mit besonderer Berück-
sichtigung des musikalischen Standpunktes nebst Bestimmung der Bolle, welche
es in der weltlichen und religiösen Musik gespielt hat«. Die Arbeit eines Herrn
Tiersot erlangte den Preis. Nichtsdestoweniger fand es der Verfasser, in Erwägung,
daß das Volkslied nicht nur in den im Programm der Akademie genannten Jahr-
hunderten sondern namentlich auch im Mittelalter eine sehr bedeutende Kolle
gespielt habe, zweckmäßig, die ganze Arbeit einer nochmaligen Vermehrung,
Verbesserung und Umarbeitung zu unterziehen. In dieser neuen Gestalt liegt das
preisgekrönte Werk Tor. Seiner ursprünglichen Anlage gemäß zerfällt es in drei
Haupttheile, deren erster das Volkslied dem Inhalte nach in Gruppen sondert,
während der zweite den musikalischen Bau des Volksliedes untersucht und der
dritte die Einwirkung des Volksliedes auf die kunstmäßige Musik bestimmt. Ein
reiches Material lag dem Verfasser yor: außer den neueren Sammlungen für ein-
zelne Provinzen wie von Arbaud (Provence), Blad^ (Armagnac und Agenais), Bujeaud
(westliche Provinzen), Champfleury und Weckherlin (Nordosten), Fleury (Normandie),
Lootens (Flandern), Puymaigre (Lothringen) u. a. auch noch eine von Staatswegen
im Anfang der fanfziger Jahre angelegte Sanunlung von Volksliedern [PoSstsa po-
pulaires de la France, Ms. der bibl. nation. 7 Bde. Nr. 3338 — 3343). Wann wird
einmal der deutsche Volksliederschatz von Amtswegen einer ähnlichen Sorgfalt
theilhaftig werden?
Dem Inhalte nach theilt Tiersot das Volkslied in zwölf Gruppen. Die erste
ist die des erzählenden historischen Volksliedes. Im Mittelalter singt
sie der Jongleur zur Vielle; seine Erbschaft üben heute als letzte Nachkonmien
die Straßen- und] Bänkelsänger mit ihren Kriminalgeschichten. Die Stoffe sind
theils geistlich theils weltlich ; unter den geistlichen ist die beliebteste die Passion,
die Stoffe des weltlichen Liedes sind ernst, tragisch, mit historischem Hinte^runde,
jedoch ohne historischen Bezug. Les ciUbritSe du peuple sont raretnerU ceUes de
rhistoire; daher setzen sich im erzählenden Liede nur allgemein menschliche
Charaktere und Situationen ab, während das, was den Anschein des wirklich
historischen hat, bei näherer Betrachtung schwindet. Den Namen des geistlichen,
epischen Liedes, camplainte, entsprechend dem Planettu des 9. Jahrhunderts, über-
trägt Tiersot auch auf das ernste weltliche Lied. Die metrische Form sind zwei-,
drei- und vierzeilige Strophen meist ohne Refrain ; die Melodien, oft nur mehrfach
wiederholte melodische Formeln, sind oft streng, ernst und alterthümlich, besonders
die bretonischen GtoerZj »un chant d'Egliee, crotsi par un ehant de ffuerre«. Die
Tonalität ist sehr frei, chromatische Färbung häufig.
Die zweite Gruppe bilden anekdotenhafte und satirische Lieder »/^
ffenre essentiellement franfaie«, Tiersot rechnet hierher aUe übrigen erzählenden
Lieder heiteren Inhalts. Complainte und Chanson verhalten sich zu einander wie
Trauerspiel und Lustspiel; dort blutdürstige Tyrannen, hier verliebte Seigneurs;
dort rächende Heldinnen, hier bebänderte Schäferinnen. Auch das Element des
Wunderbaren zeigt sich in verschiedener Art; dort aus dem Grabe erstehende
Gespenster, hier der Elfentanz der reine Avriüousey die Hochzeit des Zaunkönigs,
Den Hauptinhalt der Chansons bilden scherzhafte Liebesabenteuer. Dem franzö-
sischen Geiste ist es eigenthümlich, alles von der heiteren, satirischen Seite aufzu-
fassen; darum sind auch hier der betrogene Liebhaber, der überlistete Ehemann
die Hauptfiguren. Aber während in der Complainte Mord und Tod das Ende ist,
macht man hier gute Miene zum bösen Spiel. Diese Lieder sind sehr alt, mehrere
Chansons aus dem Jeu de Rohin et de Marion, das Lied vom Sir Garinsy die in
Julien Tiersot, Histoire de la chanson populaire en France. J33
den ältesten mehrstimmigen Kompositionen des Codex 813 der Bibl. nat. Torkom-
menden Tenore, wie L<me le rieu de la fontaine^ Lieder aus dem Codex von Mont
pellier u. a., also Stücke aus dem 13. Jahrhundert gehören hierher.
Zum Unterschiede von der ComplainU haben viele Chansons einen Refrain-
Die Melodien sind frei, leicht und zeigen gegenüber den oft in den Kirchenton
arten und alterthümlichen Melodiewendungen sich ergehenden Melodien der CW-
plamte moderne symmetrische Phrasirung und entschiedenes Hervortreten des
Durcharakters.
Mit dem Beginne des ritterlichen Gesanges der Troubadours und Trouv^res
treten neue Elemente der Poesie, die Freude an der Schönheit der Natur, des
Naehtigallengesanges, des Frühlings, der Frauendienst, die zarteren Empfindungen
der Minne in den Vordergrund. Aus diesen entwickelt sich eine dritte Gruppe
sentimentaler und doch naiver, volksthümlicher Lieder, das Liebeslied, die
ckansan «Tamour, unter ihnen als bevorzugte Gattung das Schäferlied, la pa-
stintrelU mit typischen Situationen und typischem Verlaufe des Dialogs. Im Re-
naisaaneezeitalter vergröbert es sich, die Schäfermusik und Schäferpoesie des 17.
imd 18. Jahrhunderts entfernt sich ganz und gar von der Naturwahrheit des Volks-
liedes. Auch das Liebeslied des 19. Jahrhunderts erreicht nicht mehr* die Naivetät
des mittelalterlichen: »La satire est telUment au fand \de notre esprit national,
fu'elle eiend scn influenee jusque sur nos chansons d'amour. Rarement an trouvera
une dSelaratian d'amour vraiment sinch'e et sans arrik'e'pensee, un aeeord ahsolu de
deux eoeurs qui s'aimenta Melodisch ragt das Liebeslied über die |andern Arten
des Volksliedes empor, weil gerade hier die Melodie unmittelbarer Ausdruck des
Gefühls Bein solL Die musikalische Charakterverschiedenheit einzelner Landschaften
zeigt sich hier in hervorstechendster Weise. Die flandrischen Lieder sind trocken,
halb psalmodirend, durchaus diatonischen Charakters. Die Picardie hat fast^'gar
keine Volkslieder; dagegen ist die Normandie sehr reich daran, doch fehlt ihnen
allen ein idealer Schwung. Die bretagnischen Gwerz und Sonn, die letzteren durch
das Vorhandensein eines Refrains sich von den ersteren unterscheidend, sind streng,
rauh und hart. Die Lieder der westlichen und mittleren Provinzen sind farblos-
eharakteristisohe Lieder finden sieh nur dort, wo die Volkssprache vom Französi,
sehen abweicht: in Flandern, der Bretagne, in den baskischen Provinzen, in Cor-
sika, im Elsaß, weniger schon in Bearn und in der Provence. Die Lieder aus
Berry, Bourbonnais und Nivernais sind etwas roh, durch Klarheit der Melodie
zeichnen sich die Touraine, Anjou und Loire aus, durch eine »graziöse Melancholie«
die Lieder aus den Gegenden zwischen Loire und Gironde. Beinahe gar keine
Lieder finden sich in Beauce, Maine, Brie, OrUannais; Tanzlieder, Complaintes
und Chansons, aber keine Liebeslieder in Ile-de-France, der Champagne, Lothringen
und Burgund, eine schöne Zahl duftiger Lieder liefert Poitou.
Die Lieder des Südens weisen bewegtere Formen, meist im ^/g Takt auf; be-
sonders die baskischen fallen auf durch die in den übrigen Gegenden selten vor-
kommende Chromatik, durch die Unregelmässigkeit von Tempus und Rhythmus,
durch Verzierungen des Gesanges. Noch freier, leichter, heiterer sind die meist
improvisirten Aubados und Serenados der Provence. Wohl ist die Improvisation
eine Eigenthümlichkeit des Südens;- doch zeigt es sich, [daß diese Improvisatoren
meist ndt einer geringen Zahl typisch feststehender ^Ideen, nach bereits bekannten
Melodien arbeiten. Der Elsaß endlich hat deutsche Lieder, mehr an tyrolische
und schweizerische anklingend, denn an französische.
Als Tanzlieder dienen, wie aus Zeugnissen des 16. Jahrhunderts hervorgeht,
verschiedene Lieder, Liebeslieder sowohl, als auch Complaintes ; die Musiker jener
Zeit legten sich aber die Lieder auf ähnliche Weise zurecht, wie heute Walzer und
134 Kritiken und Referate.
Quadrillen aus modernen Opern zusammengestellt werden; rein instrumentale Tana-
melodien kommen fast gar nieht vor. Der Charakter der Tanzlieder der einzelnen
Provinzen ist ein sehr verschiedener: die bretagnischen sind fast unbekannt; bei
den Basken ist der Zortziko merkwürdig, ein lebhaftes Tanzlied in fQnftheiligem
Takt, dessen Rhythmus durch ein Schlaginstrument markirt wird; in £.am tanzt
man nur zur Flöte und zum Tambourin ohne Gesang. Die gascognisehe Tanzmusik
ist jedoch ein Rondeau ohne Instrumentalbegleitung; die Provence hat ab Spezia»
lität die Farandole, die Auvergne die Bourr6e, von der es zwei Arten giebt: die
Montagnarde im ^/g und die eigentliche Bourr6e im ^4 Takt. Im Morvan, im Jura
und in Savoyen hat man Tanzlieder in ungeradem Takt, ähnlich der auvergnatisehen
Bourr^e ; im Elsaß ist der Walzer beliebt. Sonst tanzt man entweder die modernen
Tänze oder die älteren Courante, Rigaudon, Contredanse und den Branle, der
nicht, wie Coussemaker behauptet, ein langsamer Tanz ist, sondern in raschem
Tempo in geradem Takt geht Das eigentliche Tanzlied ist la ronde^ ausnahmsios
mit einem Refrain versehen, der oft aus bedeutungslosen Wörtern besteht (onoma-
topoetischer Refrain). Mitunter ist der Tanz selbst Gegenstand der Dichtung oder
wenigstens des Refrains. Tänze, die über liturgische Texte gesungen werden, sind
manchmal, wie z. B. in Flandern, bei dem Begräbniß eines jungen Mädchens, auch
religiöse Ceremonien.
Pas Wiegenlied, dessen erste Bedingung Monotonie ist, ist ein Triimiph
der aus 3 — 4 Tönen bestehenden melodischen Formel. Die interessanten Texte
sind bis nun noch wenig gesammelt.
Chansons de m Stier überschreibt Tiersot die nächste Gruppe. Vielerlei
ist hier zusammengefaßt: die tausenderlei Rufe der Großstadt, [les cria de JPiarü),
Savoyardenlieder, Kuhreigen, Lieder, die bei der Weinlese, beim Dreschen gesungen
werden, Lieder, mit denen sich die Spitzenklöpplerinnen, die Seidenweber den Takt
geben, Marsch-, Wander-, Schiffer- und Fischerlieder, Rufe, mit denen das Vieh
angetrieben wird (chaneone ä grand vent, hridagee). Die Rufe, die Kuhreigen sind
bloße melodische Phrasen ohne musikalische Durcharbeitung. Bei den übrigen ist
es der Rhythmus, der die Arbeit erleichtert ; daher sind die Texte erzählender Art
(nur daB der Refrain mitunter auf die eigentliche Arbeitsthätigkeit Bezug nimmt)»
der Rhythmus dagegen immer scharf charakterisirt. Tiersot wundert sich, daß
keine Lieder der Tischler, Zimmerleute, Sehmiede vorhanden sind und weist dabei
auf den Ambosehor aus dem Troubadour und das Schmiedelied Siegfried's hin.
Von Müllerliedern kennt er nur ein einziges, Jägerlieder werden gar keine, Marseh-
und Wanderlieder nur sehr kurz erwähnt.
Soldaten- und Kriegs lieder bilden eine eigene Abtheüung. Die ältesten
sind Lieder der Avanturiers aus dem 16. Jahrhundert, von Siegel und Schlachten
erzählend, gleich den ähnlichen deutschen Landsknechtsliedem ; die meisten dieser
Lieder sind auf bereits bekannte Melodien gedichtet. Neue Soldatentypen schaffen
die Heere des 17. Jährhunderts und ihre Lieder erklingen bis zur großen Re-
volution. Diese und das Kaiserreich bewirken eine dritte Umgestaltung des Soldaten-
liedes ; die Soldaten der Revolutionsarmee singen keine anderen Lieder als die das
ganzd Volk singt: ^ {7a tra, die Carmagnole, die Mareeülaiee. Das Kaiserreich
erzeugt auch wehmüthige Lieder der Rekruten. Das eigentliche Soldatenlied ist
das zum Marschieren, wenn Trommeln und Trompeten schweigen, gesungene Lied.
Zum Theil sind es einfache Wiederholungen einer einzigen Zeile, zum Theil ist die
letzte Zeile der Strophe gleich der ersten der folgenden Strophe, sodaß das Lied ins
unendliche wiederholt werden kann. Auch den verschiedenen militärisch«! Signalen
pflegt der Soldat Texte unterzulegen.
Lieder zu Festlichkeiten und Jahreszeiten hat es wohl immer und
Julien Tiersot, Histoire de la chanson populaire en France. ]^35
aberall gegeben. Auch Frankieich hat eine reiche Menge davon : Lieder su Beginn
des neuen Jahres, die nach dem Namen des Festes mit altkeltischem Namen
Affuillaneufk genannt werden; KoUektenlieder in der Fastenseit mit ziemlich mono-
tonen Melodioi ; Lieder mun 1. Mai und bei der Pflanzung des Maienbaumes.
Sehr zahlreich sind die Lieder zur Feier des Johannisfestes, das unter ver-
sdiiedenen Namen durch ganz Frankreich gefeiert wird. Die normannischen und
lothringischen Lieder sind frisch und lebhaft, im Süden wird um das Johannisfeuer
die Fazandole getanzt. Ein aus dem Mittelalter herüberreichendes Fest ist das
Eaelsfest, eine burleske Parodie gottesdienstlicher Gebräuche mit eigenen Oes&ngen ;
einzelne Landschaften haben ihre besonderen burlesken Festzüge, so Flandern das
Fest des Biesen Meuse, mit dem dabei gesungenen Reuzlied. Auch die Ernte und
einzelne Heilige, wie St. Blasius, St Martin haben ihre eigenen Lieder. Nicht
alle Feztseitlieder haben darauf bezügliche Texte ; auch gewöhnliche Complainten,
Faarandolen und Menuets erhalten mit der Zeit eine nur für ein einzelnes Fest
bestimmte Verwendung, ohne daß der Text gerade eine solche begründen würde,
sodaß sie hier fast den Charakter und die Gültigkeit einer bloß instrumentalen
Melodie erhalten. An die Festlieder im Verlauf des Jahres schließen sich Fest-
lieder für den Verlauf des menschlichen Lebens: Hochzeits- und Trauungslieder
giebt es überall und meist werden alle einzelnen Phasen der Hochzeitsfeier durch
bestimmte Lieder und Tänze yerherrlicht. An die Hochzeitslieder schließen sich
Todteor und Klagelieder. Nicht überall mehr werden an der Bahre volksthümliche
Lieder gesungen; die bekannteste Gattung von Klageliedern sind die korsischen
t?oeert, improvisirte, praesente cadavere abgesungene Leichen- und Lobreden.
Das Trinklied ist nach Tiersot keine Gattung des volksthümlichen Ge-
sanges; nieht einmal bei Rabelais sind^ volksthümliche Trinklieder citirt; man
singt zur Unterhaltung beim Trinken Motetten. Doch kommen Trinklieder als
Parodien geistlicher Lieder [Laetabundus, vinum b<mum ei sttave) vor. Die vaudevires
Olivier Basselins sind ein Produkt der Kunstpoesie und die von Adam Billaud
dazu komponirten Melodien eines der Kunstmusik, ebenso die späteren Lieder der
Tdnk- und Singgesellschaften des 18. Jahrhunderts.
Das Vaudeville ist im Gegensatz zu den bisher behandelten Volksliedern
das »Volkslied der Stadt«. Der Zusammenhang mit Olivier Basselins vaudevir&s
wird abgewiesen ; mit der Etymologie Tiersots vaudeviüe » voix de viUe möchte ich
mich jedoch nicht einverstanden erklären. Nach den Citaten bei Tiersot erscheint
das Wort am firühesten in folgenden Formen und Verbindungen:
1579 Chavtsons ei voix de vÜU,
1579 vaudeoiäe,
1576 cAofWOfw en forme de Vaux-de-vüle,
1561 C^ofwoyi« ei voix de tnüe,
1560 Vaudeuiles ei chansons.
1507 phmeure chansons, iani de musique que de vaul de ville.
Diese letztere Form, die auch in der Lesart von 1560 unverkennbar enthalten ist,
weist auf ein spätlateinisches vdUus, italienisch vaglio, statt vantdust ein Deminutiv
von vwmus^ Futterschwinge, hin. Der Übergang von vullus in vatU wäre zu er-
klären wie der von Oallia in Gaule, saltx in saule, iaipa in iaupe, Damach müßte
MM^ de piUe bedeuten »das in der Stadt Aufgelesene, Gesammelte« im Gegensatze
zur viäaneUa, dem Dorflied. Aus dem Citat von 1507 scheint auch hervorzugehen,
daß vaul de vüle eigentlich den Text im Gegensatze zur Musik bezeiehnen soll.
Das Vaudeviüe unterscheidet sich von den übrigen Volksliedern dadurch, daß zu
einer bekannten Melodie ein neuer Text gesungen wird, ein Verfahren, welches
durch die Bezeichnungen Modus OiHnc, modus Liebine u.s.w. schon für das 10. Jahr-
J36 Kritiken und Referate.
hundert belegt ist. Diese ältere Melodie, nach welcher der neue Text gesungen
werden soll, heißt timbre. Die timbre$ werden aber nicht dem langathmigen,
schwerfälligen Provinzliede entnonunen, es sind vielmehr kurze lebhafte politische
Lieder, vorzüglich aber Tanzlieder und Opemmelodien. Das Vaudeviüe dringt
gegen Ende des vorigen Jahrhunderts auch auf die Bühne und die mit derartigen
Liedern ausgestatteten Possen und Lustspiele erhalten endlich selbst den Namen
Vaudeviüe.
Die Weihnachtslieder, die eigentlich unter den Liedern zu den Fest-
zeiten ihren Platz hätten finden sollen, haben hier ein gesondertes KapiteL Sie
waren früher viel zahlreicher; in eigentlicher Übung sind sie heute fast nur mehr
in der Provence und in der Qascogpie. Ihre Form ist oft ein Dialog zwischen den
Hirten und Engeln, auch Verkleidungen der singenden Personen kommen dabei
vor, sodaß das Gbtnze einen halbdramatisohen Anstrich bekommt, wie die Gesänge
zum Narren- und Eselsfest des Mittelalters. Musikalisch gehören die Weihnachts-
lieder zu den Vaudeviüea, denn auch sie werden über Melodien weltlicher Lieder
gesungen.
Das letzte Kapitel bilden religiöse und nationale Volkslieder. Zu
den religiösen Liedern rechnet Tiersot auch volksthümliche Gebete und Gedichte,
welche nicht gesungen, sondern nur psalmodirend gesprochen werden. Außerdem
giebt es religiöse Lieder mit timbres von weltlichen Liedern. Endlich besitzen
auch die meisten Provinzen besondere Lieder im Lokaldialekt, die Lokalheiligen
feiernd. Die Melodien sind verschiedenartig; die Bearner in großartigem, feier-
lichem Stil, die Flandrischen alltäglich und von weltlichen Liedern nicht verschieden;
die schönsten sind die Bretonischen.
Die protestantischen Kirchenlieder haben ihren Ursprung in Marofs Psalmen-
übersetzung. Auch diese werden vaudevilleartig anfangs über weltliche Lieder
und Tänze gesungen. Goudimel hat diese Melodien, die übrigens in ihrer Kraft
und Schönheit an das protestantische Kirchenlied der Reformationszeit hinanreichen,
nur harmonisirt.
Bei der Frage, ob es patriotische und nationale Volkslieder gebe, kommt die
Untersuchung zu dem Resultat, daß nicht einmal »Vive Henri IV», das Losungs-
wort des französischen Königthums, die offizielle Nationalhymne der Restauration,
ein musikalisch selbständiges Produkt ist, sondern eine Chanson de la Cassandre,
ein Lied des 16. Jahrhunderts, zum timbre hat. Auch die Lieder der Revolution
haben ähnlichen Ursprung. (7a ira ist ein vtmdeviüe, dont la milodie mime 4iait
tomhSe des fenStres des Tuileries, die Carmagnole ist ein Tanzlied« Das einzig
wirklich nationale Volkslied ist die Marseillaise, denn hier hat Rouget de Lisle
wie ein alter Volksdichter der allgemeinen Stimmung des Volkes gültigen Ausdruck
im Text verliehen und auch die Melodie aus bekannten und beliebten volksthüm-
liehen melodischen Phrasen zusammengesetzt.
Der zweite Haupttheil des Werkes beschäftigt sich mit der musikalischen
Seite des Volksliedes. Voran geht eine Charakteristik der antiken, mittelalterlichen
und modernen Tonarten, wobei als characteristisches Merkmal der modernen Ton-
arten der Tritonus von der 4. zur 7. Stufe und der Melodieschluß auf dem Grundtone
erklärt wird. Eine Umwandlung der mittelalterlichen Kirchentöne im modernen
Sinne erfolgte durch die allmähliche Einführung des £ rotundum in dem 5. und
6., durch die Erhöhung des F im 7. und 8. Kirchenton. Werden auch diese
Veränderungen nicht immer durch die Schrift angezeigt, so waren sie in der Praxis
gewiß in Übung. Durch diese Umänderungen aber wurde, wenngleich mittel-
alterliche Schriftsteller dagegen als gegen Entstellungen der echten Lehre eiferten,
der dem nationalen Geschmacke entsprechenden DurtonsAität zum Siege verholfen.
Julien Tiersot, Histoire de la chanson populaire en France. ^37
Schon im 13. Jahrhundert zeigt sieh in Troubadourliedem das Überwiegen der
DuTtonart; eine Untersuchung der modernen Volksliedersammlungen ergiebt das
Resultat, daß beiläufig iwei Drittel aller Volkslieder in Dur gehen. Woher diese
eigenartige Erscheinung?
Tiersot glaubt die Ursache in dem Einfluß der Ragenversohiedenheit su
erkennen, sodaß die keltisch-germanische Durtonalität schließlich die romanische
Moütonalität — wozu auch die mittelalterlichen Kirchentonarten zu rechnen sind —
▼exdr&ngt habe. Wshrend henrorragende Theoretiker die moderne Tonalit&t als
Produkt der Harmonie auffaßten, sei es jetzt klar, daß diese schon lange in der
bloßen Melodie bestand, während die aus dem caniua planus entwickelte Harmonie
im Gegentheil dem modernen Geschmack durchaus nicht entsprochen habe.
Der leitende Halbton in Moll hat ebenfalls schon vor der Harmonie existirt,
ist also ein melodisches Charakteristikon des modernen Moll. Auch in dieser
Tonart sind eine Menge Lieder verfaßt. Schwierig sind die Untersuchungen jener
Tonarten, wo der Leitton ein Ganzton ist oder wo auf der siebenten Stufe ab-
wechselnd ein Ganzton und ein Halbton auftreten. Hierher gehören zwei dem
MoUgeschleehte angehörige Kirchentonarten, der erste plagale und der erste
authentiache (hypodorische und lokrische ^) Ton, beide mit kleiner Septime, jedoch
dadnreh Yon einander unterschieden, daß der erstere eine kleine, der andere eine
große Sexte enthält. Beide werden häufig angewendet; den hypodorischen Ton
findet man in geistlichen und weltlichen Liedern, in schriftlich aufgezeichneten
und bloß durch die Tradition überlieferten Liedern. Von den als Beispiel ange-
fahrten Liedern sind jedoch L'autrier S. 62 und DeUa la rivüre S. 131 zumindest
zweifelhaft, da sie, indem die Melodie nicht bis in die Sexte hinaufgeht, eben so
gut dem ersten wie dem zweiten Kirchenton angehören können. Je suis trop jeunette
S. 64 gehört jedoch wegen der großen Sexte unzweifelhaft dem ersten Kirohenton
an. Dieser erste Kirchenton entspricht der griechischen Lokrisiit die im Alterthum
wenig gebraucht war. Tiersot ist daher geneigt, sie ebenfalls wie das ganze Dur-
gesehlecht für ein Produkt der im Mittelalter neu auftretenden Völker zu halten.
Auch diese Tonart ist im Volksliede sehr beliebt. Nach einer statistischen Zu-
sunmenateUung findet Tiersot unter 1389 Volksliedern 843 in Dur, 378 in Moll
(197 modernes MoU, 117 hypodorisch, 62 im ersten Kirchenton, 2 zweifelhafte).
Die beiden antiken Durtonarten, die Hypolydisti und die Jasti sind im Volkslied
nur spärlich yertreten. Eine weitere Eigenthümlichkeit der antiken Melopoeie, der
Schluß auf der Mediante oder Dominante, übt auf die Tonalität des Volksliedes
keinen Einfluß, solche Schlüsse kommen manchmal vor, auch einigemal Schlüsse
auf der zweiten Stufe der Tonleiter, doch ist dies immer schwierig zu erkennen
und zu imterscheiden. Was die Frage nach der Einheit der Tonalität betrifft, so
kommt mitunter eine Ausweichung in eine andere Tonart vor; meist bei Dur-
melodien in die Oberdominante. In Liedern, welche Einfluß moderner Kunstmusik
Terrathen, kommen auch regelrechte Halbschlüsse vor. Chromatische Färbungen
der Melodie, besonders der Terz und der Sext, sehr selten der Quarte, sind häufiger
in Moll- als in Durmelodien yorzufinden. Das Resultat der sehwierigen Unter-
suchungen dieses Kapitels faßt Tiersot folgendermaßen zusammen:
1) Die Melodien der französischen Volkslieder sind der großen Mehrzahl nach
im Geiste der modernen Tonalität erfaßt, die aus dem Volksliede ihren ersten
Ursprung hat und in ihm zum ersten Mal angewendet wird.
2) Doch finden sich auch antike und mittelalterliche Tonarten in ihnen vertreten.
3) Die typische Form der Melodie ist Dur.
t Tiersot wendet diete Bezeichnung durchaus im antik-griechischen Sinne an.
J3S Kritiken und Referate.
4) Chromatische Färbungen der Ters, Sext und Sept, sehr selten der Qnarte
sind gestattet.
5) Der Schluß der Melodie kann auch auf der fünften und sweiten, manehmal
auf der dritten und sogar auch auf der vierten Stufe der Tonleiter stattfinden,
ohne die Tonalitftt zu beeinflussen.
In rhythmischer Beisiehung ist die Melodie vom Texte al^ftngig. Alle Tolks-
thümlichen Lieder haben Strophenform. Die einfachsten Strophen sind jene, die
nur aus einer Verszeile (richtiger aus zwei gleichen Verszeilen}, oder die aus einer
8- und einer 6 silbigen Verszeile bestehen. Die melodische Formung besteht darin*
daß die Melodie der ersten Verszeile die Protasis, die der andern die Apodosis
einer musikalischen Periode enthfilt Dreizeilige Strophen findet man außer den
bretonisohen Qwerz selten, vierzeilige sehr h&ufig, seohszeilige Strophen sind die
Lieblingsform der Complainten. Li den einzeiligen Strophen ist die melodische
Form ABGA eine häufig gebrauchte alte Form; die sechszeiligen bestehen zumeisC
aus drei musikalischen Perioden, die in den Formen ABC, ABA und ABB anein-
einander gereiht sind. Achtzeilige Strophen kommen im eigentlich französischen
Volkslied fast gar nicht, nur in den. fremdsprachigen Landschaften (Bretagne, Baa-
kenland, Beam, Elsaß) vor, ihre musikalische Form ist sehr mannigfaltig. Wieder-
holungen einzelner Verse bedingen auch die Wiederholungen der melodischen
Phrase ; hat die Melodie der Strophe mehr musikaüsche Kola als der Text metrisehey
so wird wohl auch eine Verszeile auf zwei verschiedene Kola repetirt. Weehsel
der Melodie ftlr verschiedene Strophen kommt nur ausnahmsweise vor, ist aber
immer von großer Wirkung. Der Refrain hat meist eine besondere, bemerkens*
werthe Melodie; steht er, was nicht immer der Fall, am Ende der Strophe, so
reicht sein Maß mitunter über das der eigentlichen Strophe hinaus. Der Refrain
nach dem Couplet ist so ziemlich das einzige, was das Vaudeville mit dem Volks-
lied gemein hat; der Gegensatz von Soli und Tutti ist im Volkslied nicht über^
sehen. Der Chor singt aber nicht nur den Refrain, sondern vielmehr die letzten
Melodiephrasen; in manchen F&Uen, wie z. B. bei einem Matrosenlied wechseln
der Vorsänger und der Chor ab. Gerade Taktarten sind nicht noihwendig ; ^4» Vs*
s/s und besonders ^1% sind die beliebtesten Taktarten; es wechseln ^/s und ^g; einmal
kommen auch fünffüßige Takte vor; der fünftheilige Takt ist sogar Regel beim
baskischen Zortziko. Sogar zum siebentheiligen Takt giebt es ein Beispiel aus der
Bretagne. Gewisse ländliehe Rufe, Schäferrufe und selbst sehr alte Complainlen
haben gar keinen Rhythmus, sie sind einfach zu deklamiren.
Die Prosodik ist mitunter sehr frei ; es kommen hoehtonige Silben auf schwache
Takttheile und umgekehrt. Das Volkslied weiß sich jedoch in den folgenden
Strophen durch Auftakte, leichte Änderungen der Melodie u..dgL zu helfen. Auch
Verzierungen kennt der Volksgesang; Ritardandos am Schlüsse der Strophe, Me-
Usmen und Coloraturen, Vorschläge, Mordente, ja sogar Triller. Sie alle werden
erst während des Vortrages, nach Bedarf und Belieben improvisirt.
Nun ist die Untersuchung soweit gediehen, daß die Frage nach dem Ursprung
und der Entwicklung des Volksliedes aufjgeworfen werden dsürf . Das Volkslied ist
jene lyrische Form, die dem intellektueUen Stande der großen Masse des Volkes
entspricht. Bis zum 16. Jahrhundert bildete das ganze Volk eine ungebrochene
Einheit, von dieser Zeit an scheidet sich der gebildete, gelehrte Stand von dem
»Volke«. Noch im 16. Jahrhundert tanzt man bei Hofe zu Volksliedern; seither
erscheint den gebildeten Ständen die Kunstmusik allein angemessen und das Volks-
lied bleibt auf die ungelehrten Kreise beschränkt Das Volkslied ist zwar immer
Schöpfung eines Einzelnen. Dieser Einzelne aber und sein Werk gehen, weü die
von ihm ausgesprochenen Empfindungen nicht individuelle, subjektive, sondern
Julien Tiersot) Histoire de la ohanson populaire en France. j 39
9oIehe sind, die der gesammten Allgemeinstimmung und Empfindung des ganzen
Volkes eigen, in der Allgemeinheit unter. Keltische Barden und germanische
Sfinger waren wohl die ersten dieser yolksthüml^hen Dichter, deren Werke durch
mündliche Tradition sich fortpflanzen. Bis jetzt aber sind, wenngleich nur mehr
Terlüütnißmäßig schwache Triebe der Fortentwicklung, lebendig. So lebte in der
Bretagne noch im jetzigen Jahrhundert ein Weber, Namens K^rambrun, der durch
die Ton ihm gedichteten Lieder berOhmt war; so werden bis heute zu den alten
liedem noeh immer neue Strophen hinzugedichtet. Auch die auf die freie schöpfe-
rische Thfttigkeit des Augenblicks angewiesenen Improvisationen der Bretagne, die
baskisefaen und proyen9alischen Serenaden, die corsisohen voceri zeigen, daß die
dichterische fijraft im Volke noch nicht erloschen ist Freilich ergiebt sich daraus
auch eine nach Zeit und Art sehr verschiedene Beweglichkeit des Volksliedes, die
sich nicht nur in Veränderungen der Texte, sondern noch viel mehr in zahllosen
Varianten der Melodie offenbart.
Die Gemeinsamkeit gewisser Typen des Volksliedes ließe auf gemeinsamen
ÜTsprung noch vor der Trennung des arischen Urvolkes sehUeßen. Eine Recon-
stroktion dieser Urvolkslieder ist natürlich wegen der vielen Wandlungen, die sie
erlitten haben, unmöglich; doch lassen sich gewisse charakteristische Züge immer
feststellen. Wenn man nun den ganz eigenthümlichen Charakter der bretagnisohen
Lieder betrachtet, so sollte man erwarten, daß sie als Zweige des gemeinsamen
Stammes mit andern keltischen Liedem, mit waUisisohen, schottischen, irischen
Übereinstimmung zeigten; sie findet sich aber in weit geringerem Maaße als man
erwartet. Es ist also das Volkslied autochthon, nicht anders woher einge-
wandert. Nach dem unterschiedenen Charakter der Volkslieder lassen sich, gemäß
den drei Faktoren, die auf die Bildung der französischen Nationalität eingewirkt
haben, auch drei entsprechende Entwicklungsstadien des französischen Volksliedes
unterscheiden :
1. Die der keltischen Urbevölkerung entstammenden Lieder, die breto-
nischen Lieder und die chansons ä grand vent mit kurzen noch ungegliederten me-
lodiechen Phrasen und eigenthümlicher Chromatik.
2. Die unter dem Einfluß des Kömerthums, des Provinziallateins und der
ersten christlichen Jahrhunderte entstandenen mSlodies romoMs, die in den Hym-
nen und Flposen des 9. Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen haben — auch im
Umm peregrinus der kirchlichen Psalmodie will Tiersot Spuren volksthümlichen
l^nflusses erkennen — einförmig rhythmisirt, psalmodisch melodisirend, mit gleich-
langen Verszeilen ohne Refrain: die Complainten und der größte Theil der nar-
rativen Poesie.
3. Die nach Festsetzung der französischen Sprache entstandenen duuuons und
rmmmees, die eigentlich charakteristischen firanzösisohen Volkslieder mit klarer,
fiEiseher Melodie und Rhyüunisirung, mit durchbrechender Durtonalität, Strophen
mit Refrains: anekdotische und Tanzlieder. Im 13. Jahrhundert steht diese Form
sehon fest; was Adam de la Halle im Jeu de Robin et Marion bietet, sind nicht
snne Kompositionen, sondern ältere, von ihm aufgenommene Volkslieder.
Erst mit dem 17. Jahrhundert tritt das Volkslied in den Ejreis der litera^
rissen Beachtung; das ist aber schon die Zeit des Niederganges. Die schöpfe«
ris^e Kraft des Volkes ist erlahmt, es werden nur mehr unter dem Einflüsse der
Städte zu alten Melodien neue Texte gemacht, neue musikalische Formen ent-
stehen nieht mehr ; das Vaudeville, die letzte Entwicklungsstufe des Volksliedes,
dringt aus den Städten auf das Land und damit ist die musikalische Entwicklung
des Volksliedes abgeschlossen.
Der dritte Haupttheil des Werkes untersucht, welchen Einfluß das Volkslied
I ^2 Kritiken und Referate.
Melodie tritt im Sopran auf und damit hat der alte Kontrapunkt sein Ende
erreicht.
Die letBte große Umwälzung erfährt die Musik durch die Oper. Schon die
ältesten liturgischen Dramen, die Mysterien, weltliche Komödien, wie der Jtu de
Hohin et de Marion verwenden weltliche Lieder ; auch in den dramatischen Werken
des 16. und 17. Jahrhunderts werden, wo Gesang eintritt, nur Volkslieder Ter-
wendet; seit dem Auftreten LuUy's aber, seit der Entwicklung der kunstmäßigen
Opemmusik schwindet jede Spur des Volksliedes. Die zarten, gefälligen Melodien
Rameaus Üben einen gewissen Einfluß auf das Volkslied seiner Zeit aus, werden
aber davon nicht beeinflußt; er knüpft nicht an die alten Überlieferangen an, er
ist durchaus modern. Erst 1754 kommt in einer Oper Mondonvilles »Daphnie et
Aleinutd&ureti eine wirkliche Volksmelodie, eine proven9ali8che Pastourelle, zum
ersten Male auf die Bühne und Rousseau ist es, der mit seinem graziösen Geiste
den Ton des Volksliedes wiedergefunden hat. Gluck und seine ganze Schule ver-
wenden das Volkslied nicht und erst die nationale Bewegung der Revolution übt
ihren Einfluß auch auf das Theater aus.
Reichlicher fließt die Quelle des Volksliedes in der komisehen Oper. Eigentlich
ist der Jeu de Mohin et Marion das älteste Werk dieser Gattung; auch die Fewcee
des 16. und 17. Jahrhunderts enthalten nur Volkslieder, und was sich seit dem
Anfang des 18. Jahrhunderts als komische Oper zu entwickeln beginnt, besteht
seinem musikalischen Theile nach, fast ausschließlich aus Gesängen, die auf Timbres
von Volksliedern gesungen werden ; langsam nur wagen es die Zusammensteller
dieser komischen Opern — Komponisten kann man noch nicht sagen — einzelne
Stücke eigener Erfindung hinzuzufügen. Erst mit Monsigny und Philidor beginnen
wirklich komponirte komische Opern; aber auch diese tragen dem Charakter des
Volksliedes durch Anklänge an die alten volksthümlichen Tonarten Rechnung.
Später werden dann die Opernarien selbst Timbres von Vaudevilles.
Es ist ein prächtiges Werk, welches uns hier dargeboten ist. Man muß nicht
nur den eisernen Fleiß und die staunenswerthe Belesenheit bewundem, mit welcher
dem Verfasser das ungeheuere Material aller Zeiten zur Verfügung steht, und
welches er mit Sicherheit beherrscht; doppelt erfreulich ist es auch zu sehen, daß
der Verfasser, obwohl Franzose, von jeder nationalen Engherzigkeit frei und mit
den Werken deutscher Kunst nicht nur vollständig vertraut ist, sondern ihnen
auch die gebührende Werthschätzung zu Theil werden läßt.
Der größte Vorzug des Buches liegt indessen noch wo anders. Es ist die
konsequente Methodik der Untersuchung, die in streng genetischer Weise die historisehe
Entwicklung darlegt. Dadurch gewinnen die neuen und überraschenden Resultate
über den Zusammenhang der Stilverschiedenheit des Volksliedes mit ethnischen
Verschiedenheiten, über den Ursprung des Volksliedes einen hohen Grad von Glaub-
würdigkeit. Es giebt nicht viel musikhistorische Werke, die mit einem gleichen
Grade von historischem Sinn geschrieben sind. Möge das deutsche Volkslied bald
gleicher Untersuchungen durch einen gleich gewissenhaften, geschulten und zu ver-
läßigen Geschichtschreiber theilhaftig werden.
Kremsier. Oswald Koller.
Herbert Spencer, The origin of Music. Mind, Okt. 1 890. S. 449—468.
Spencer bekämpft zuerst die Darwin'sche Lehre vom Ursprung der Musik
aus der Liebeswerbung der Thiere. Vögel singen auch bei anderen Gelegenheiten
und aus anderen Motiven. Singen und Liebeswerbung stehen nicht im Kausal-
verhältniß, sondern sind Wirkungen einer gemeinsamen Ursache, des Überschusses
Herbert Spencer, The Origin of Music. J 43
an Lebenskraft. Die den Menschen sunächststehenden höheren Thiere singen nicht.
Unter den Liedern der Wilden finden sich verh<nißmäßig wenig Liebeslieder
und keines, welches auf den Zweck der Liebeswerbung yon Seiten des Mannes zu
deuten wäre. Die Gründe scheinen mir im Ganzen treffend, aber nicht ganz neu.
Sodann vertheidigt Sp. seine eigene bekannte (übrigens auch keineswegs originale)
Theorie, den Ursprung des Singens aus erregtem Sprechen, gegen Gumej, dem
er ungenügende Kenntniß der allgemeinen Entwickelungsgesetze Torwirft. Dafür
Terstand sich aber Gumey besser auf die Musik. Sp. ignorirt immer noch den
Hauptpunkt, daß Musik im engeren Sinne auf die Verwandtschaftsverhältnisse der
Töne gegründet ist. Bei allen Ähnlichkeiten und Wechselwirkungen zwischen
Singen und Sprechen bildet dieser Umstand eine scharfe Grenze. Dann geht Sp.
auf die Gründe des musikalischen Vergnügens näher ein und findet selbst, daß
wesentliche Züge der entwickelten Musik aus seiner Hypothese nicht ableitbar
sind. Was er hier vorbringt, hätte er bei Sully (Sensation und LituitionJ viel
besser durchgeführt finden können. Natürlich kennt er um so weniger meine aus-
führliehe Studie über ihn selbst, Darwin, Sully und Gumey^ Er schließt mit Ci-
taten begeisterter Schilderungen der Zigeunermusik, welche, wie er meint, jedes
weitere Argument für seine Theorie überflüssigmachen. »The origin of mime as
ihe developed language of emotion seems to he no longer an inferenee hut simply a
deteription of tke faetA Welcher Schnitzer ! Langtuige of emotion und emotional
language ist doch zweierlei. Für die alte Trivialität, daß die Musik Sprache des
Gefühls ist, bedurfte es keiner seitenlangen Citate aus Reisewerken ; etwas anderes
wird aber wirklich nicht dadurch bewiesen.
München« G. Stumpf.^
1 Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft, 1885, S. 261—349.
2 Aus der Zeitschrift für Psychologie und Physiologe der Sinnesorgane. Heraus-
geben von H. Ebbinghaus und A König. Hamburg und JLeipzig, Leopold Voss. 1890.
Adressen der Heraasgeber:
Professor Dr. Spitta, d. Z. geschäftsführender Herausgeber, Berlin^ W.
Burggrafenstraße 10; Dr. Friedrich Chrysander, Bergedorf bei Hamburg;
Professor Dr. Ghiido Adler, Prag, Weinberge, Celakoyskygasse 15.
J. P. Sweelinck imd seine direkten deutschen
Schüler.
Von
Max Seiffert.
Die Entwickelung der deutschen Orgelmusik im 17. Jahrh. voll*-
lOg sich in dxei Schulen: der süd*, mittel- und norddeutschen.
Diese äußerliche Eintheilung findet ihre Berechtigung darin, daß jene,
veischiedenen , nichtdeutschen Einflüssen nachgebend, in sich be*
sondere Eigenthümlichkeiten der Spieltechnik, der Formen und des
Stils ausbildeten, welche als charakteristische Merkmale der einzelnen
Schalen bestehen blieben. Dabei strebte aber jede Richtung nicht
in starrer Abgeschlossenheit gegen die anderen ihren Zielen nach,
sondern stand vielmehr mit ihnen in regem Verkehr. Wo immer
gioBe Meister des Oi^elspiels auftraten, welche ihrer Kunst einen
besonderen Aufschwung gaben, dahin strömten von allen Seiten
Schüler herbei. Sie trugen die neuen Errungenschaften in die Hei-
math zurück und förderten ihrerseits wieder neue, fruchtbare Ideen
zur Reife. Fast gleichmäßig, oder nur um eine Wellenhöhe difFe-
ri^end stieg so das Niveau der verschiedenen Kunstrichtungen, bis
sie endlich im 18. Jahrh. den Gipfel erreichten, auf welchem sie
Joh. Seb. Bach mit umfassendem Blick zur höchsten künstlerischen
Potenz vereinigte.
Von der Aufgabe nun, deren Erfüllung die Musikgeschichte zu
Teilangen hat, nämlich jene Strömungen in ihrem ganzen Verlaufe
SU verfolgen, das dichte, oft bunte Gewebe von Beziehungen aufzu-
decken und die mannigfachen Verkettungen in die einzelnen Be-
standtheile au&ulöseh — davon ist bis jetzt nur ein Theil geleistet.
Es fehlt vor allem noch das Wichtigste, die Grundlage. Wegen der
Unzugänglichkeit der Quellen besitzen wir noch keine zusammen-
hängende Darstellung der Anfänge und der weiteren Entwickelung
des italienischen Orgelspiels, welches von jeher auf die süddeutsche
Richtung einen bedeutenden Einfluß ausübte. In derselben Lage
1891. *^
j^g Max Seifert,
befinden wir uns der englischen Viiginalmusik gegenüber, deren
ganze Technik von den Niederländern acceptiert und nach Nord-
deutschland weitergeleitet wurde. Als eine Folge dieses Mangels ist
es anzusehen, daß eine jenen Beziehungen nachgehende Betrachtung
der deutschen Orgelschulen noch nicht angestellt wurde. Der Ver-
fasser der Torliegenden Arbeit will es nun yersuchen, die norddeutsche
Orgelschule, und zwar zunächst die erste Periode derselben, welche
durch den Niederländer J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen
Schüler repräsentirt wird, von dem gegebenen Standpunkt aus ein-
gehender zu prüfen.
Die Lücke, welche in unserer Kenntniß über die Beziehungen
zwischen England und den Niederlanden auf dem Gebiete der Orgel-
musik besteht, muß hierbei freilich offen bleiben; sie wird nur durch
eine besondere, gründliche Arbeit ausgefüllt werden können. Daß
jener Zusammenhang aber in der That bestanden hat, werden wir
im Verlaufe der Arbeit an der Übereinstimmung gewisser musika-
lischer Formen erkennen. Die dadurch bedii^te gemeinsame äußere
Technik hat nun ein^e Eigenthümlichkeiten der Notation als prak-
tische Konsequenzen nach sich gezogen , die uns ebenfalls auf jene
Verbindung hinweisen. Die auffallendsten Erscheinungen sind etwa
folgende :
1. Die englischen Virginalstücke sind auf zwei Systemen zu je
6 Linien notiert* Die Niederländer nehmen nach Belieben 6 oder
5 Linien. J. A. Reincken, der Hamburger Organist, bedient 'sich
in seiner Bearbeitung von Sweelinck's Lehrbuch^ beim Abschnitt
»Von den dissonantienti zweimal eines Systems mit 6 Linien. In
Mitteldeutschland waren die 6 Linien, weil sie die Übersicht er-
schwerten, nicht recht heimisch. Der Hallenser S. Scheidt erklärt:'
»Das in dieser Tabulatur ein jeder Stim nur mit Fünff vnd nit mit
sechs Linien auff Engel- ynd Niederländische Manier adomieret^ ist
der Ehrliebenden Deutschen Organisten halben, weil ich auch ein
Deutscher, geschehen, welche denn mehrentheil sich auff die Nieder-
ländische art entweder gahr nicht, oder aber nicht recht gründtlich
verstehen, in deren sechs Linien auff die rechte, vnd sechs auff die
lincke Handt gerichtet, biß weilen auch die Parteyen so wunderbar-
lich vnter einander springen, das manch guter Gesell sich nicht
recht drein schicken, vnd welches Dißcant, Alt, Tenor oder Baß
sey, wissen kan.«
2. Ein Überrest aus der Mensuralnotation ist der Gebrauch ge-
1 Vgl. Abschnitt 1.
3 TabuL Nova, Hamburg 1624, I, Vorrede »An die Organisten.«
J. P. Sweelinek und seine direkten deutschen Schaler.
147
foUtei Noten beim Eintritt dreizeitiger Messung, sowie eine eigen-
thümliche Auffassung der Triole. Die Engländer und Niederländer
schreiben eine dreizeitige minima als 0 . oder J u. s. w. Die Auf«
ftssnng der Triole schwankt zwischen mittelalterlicher und modemer
Anzehauung hin und her. Bald werden drei Noten der nächst
niederen Gattung unter Entziehung von je Y12 ihres Werthes:
bald drei Noten der um zwei Grade tieferen Gattung unter Hinzu-
fagung von je Y24 ihres Werthes zu Triolen zusammengesetzt:
fegz&^i
i^^-4
Der letzteren Auffassung folgt noch D. Buxtehude und Joh. Seb.
Bach.^ Die geschwätzten Noten werden in Vokalkompositionen in
obigem Sinne von Joh. Stobaeus und Joh. Eccard^ ebenfalls nord-
deutschen Meistern, noch angewendet.^
3. An die Mensuralnotation erinnert die Schreibung der Syn-
kopen. Die Engländer, Niederländer, häufig auch die deutschen
Orgeltabulaturen, sowie Scheidt in seinen beiden Orgelwerken zer-
spalten nicht Noten, deren Geltung aus einem Takt in den andern
reicht, durch den Taktstrich in seine einzelnen Theile, sondern
schreiben am Schluß des ersten Taktes den vollen Werth der Note.
S. Scheidt sagt darüber:^ »Was im Ersten vnd andern Parte dieser
Tabulatur wegen der Puncten vnd Syncopationen erjnnert, wird
^ Dietrich Buxtehudes Orgelkompositionen, hrsg. von Fh. Spitta, I S. X«
2 C. y. Winterfeld, Der eyangelisehe Kirchen gesang, I Leipzig 1843, Beispiele
S. 144 f.; U Leipsig 1845, Beispiele S. 32 ff.
3 Tabul. Nova, 1621. III, Vorrede »An den Musieverständigeh Leser.^
10*
1*48 ^^^ Seifert,
der . . Leser auch in diesem dritten Theil zu observiren wissen:
Dann ich mit wissen vnd willen solchs also gesetzt, zum Theil w^en
der Drucker, zum Theil auch, das ein jeder verständiger Organist
baldt sehen vnd mercken wirdt, (so er änderst der Welschen Par-«
titur berichtet) das solcher Punct oder Rest in der Syncopation
in das nachfolgende vnd nit yorhergehende Tempus gehört. Weil
dann das gantze Werck den ehrliebenden deutschen Organisten, so
sich gemeiniglich der Buchstaben Tabulatur gebrauchen, vnd nicht
gewehnet, solche Puncten oder Syncopationes zu theilen, zu Dienst
angefangen.«
4. An Versetzungszeichen gebrauchen die Engländer, Nieder-
länder und Scheidt |f und t^. Die Anwendung dieser Zeichen ist
eine sehr einfache : sie gelten nur für die Note, vor welcher sie stehen ;
für die folgende noch gleichzeitig, wenn diese in derselben Lage und
Stimme erscheint wie die erste Note und beide durch Pausen oder
Taktstriche nicht von einander getrennt sind. Sollen chromatische
Erhöhungen oder die allgemeine Verzeichnung beseitigt werden, so
hebt k die Bedeutung von 1? und [? die ▼on^ auf. Daneben kennen
die Stiederländer noch zwei Arten von Vr iderrufungszeichen : sie
schreiben entweder den Tonbuchstaben vor die Note:
1
F=fi&l T
oder sie bedienen sich des Zeichens x , welches sowohl || als b wider*
ruft. Die Einfuhrung des }^ scheint von Italien aus erfolgt zu sein.
Die subtile Unterscheidung der Wirkung des ^ und j) bei den Italienern
und den von ihnen beeinflußten Süddeutschen' findet sich in den
norddeutschen Orgelwerken nicht.
5. Die Verzierung mit oberem Hülfston bezeichnen die Englän-
der durch zwei kleine dicht am Notenkopf quer durch die Cauda
gezogene Striche : ^ z]: • Dasselbe thun die Niederländer, nur rücken
sie die]Striche mehr über oder unter das Liniensjstem. In den deutschen
Orgeltabulaturen stehen die Striche vertikal über dem Tonbuch-
staben: II . J. A. Reincken giebt nach der Vorrede zu seinem »jETor-
iu8 Mtmcus^^ folgende ytAdmonüio, Si quis forte ignoraverity quidnam
Simplex^ sibi velit, is sciattremul, siffmficare, quitnfeme tonum feriat:
quemadmodtim hae duae \\ tremuL notani, qui supeme tonum coniingit^
. 1 VgL H. Schote, Gesamtausgabe von Pb. Spitta, I S. IX; Christ Demant,
Vierteljahrsschr. f. Musikw. 1890. S. 515 von R. Eade.
' Als Publikation der »Maatschappiß neu ediert von J. C. M. van Kiemsdijk,
1886.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler.
149
6. Bei den Engländern und Niederländern fuhrt die Gewöhnung,
bei einem Zusammentreffen zweier Stimmen in einem Ton die schrift-
Hohe Fixierung durch doppelte Streichung der gemeinsamen Note
zu erleichtem, zu folgenden Gebilden:
1^
-^
*
^
i
^
*
^9-^
^
i
7. Die Engländer und Niederländer bezeichnen eine Bindung
durch einen einfachen Strich: — , welcher der ersten der beiden
gebundenen Noten ziemlich nahe steht. Auch die deutschen Orgel*
tabulaturen ersparen sich oft auf dieselbe Weise den Bindebogen.
DaB sich nun die deutsche Orgelmusik überhaupt dem nieder-
ländischen Einfluß zu Anfang des 17. Jahrh. so ganz hingeben konnte,
findet seine Erklärung in dem damaligen, eigenthümlichen Zustande
derselben. Nachdem sie in etwa hundertjähriger Entwickelung durch
Männer, wie K. Paumann, A. Schlick, P. Hofheimer und H. Buch-
ner, auf eine ziemlich hohe Stufe der Ausbildung gebracht war,
machte sich eine in ihren Ansätzen schon früher bemerkte Strömung
um 1550 mit elementarer Gewalt geltend, welche, wie man gewöhn-
lich annimmt, alle Errungenschaften der vergangenen Kunstblüthe-
zeit in ihren Wellen begrub: die Periode der Koloristen hub an. Es
ist wahr, daß diese mit ihrem Schaffen an die schon einmal gewonnene
Höhe nicht heranreichen, aber man thut doch Unrecht daran, diese
Periode als eine Zeit des völligen Verfalls und Niedergangs der
deutschen Orgelkunst anzusehen. Denn wenn sie es wäre, wie sollte
man sich dann das plötzliche und stetige Aufblühen der Orgelkunst
vom Anfang des 17. Jahrh. an erklären? Die fünf deutschen Schüler
Sweelincks, selbst wenn sie gemeinsam in den Hauptstädten Nord-
deutschlands ihre Hand ans Werk legten, wären doch nicht imstande
gewesen, einer fremden Kunstpraxis' zu einem so durchschlagenden
Erfolge zu verhelfen, wie es durch diese Männer geschah, wenn ihnen
nicht gewisse gleichartige Bestrebungen entgegenkamen, welche
schon vorher den Boden gelockert und empfänglich gemacht hatten.
Und daß diese Bestrebungen eben gerade von den Koloristen aus-
gingen, darf man ihnen nicht vergessen. In mehrfacher Hinsicht
haben sie die deutsche Orgelkunst gefordert. So sicher auch die
älteren Meister die Art der technischen Behandlung der Orgel durch
^50 ^^^ Seiffert,
Trennung der beiden Manuale und Verselbständigung des Pedals
klar Yorgezeichnet und eine Reihe von musikalischen Formen aus-
geprägt hatten,^ so fehlte ihnen doch noch etwas Wesentliches, ein
selbständiger Orgelstil. Ihre Schreibart schloß sich dem Wesen der
vokalen Polophonie an. Davon sich zu befreien war das Ziel der
Koloristen. Sie zerstörten den durch die Mensur genau geregelten
FluB der Stimmen, indem sie die Melodien mit Koloraturen behängten
und längere Töne in mehrere kleinere zerschlugen. Dies Verfahren
zwang aber dazu, nur im Großen und Oanzen der Folge von Zu-
sammenklängen, wie sie die zu kolorierende Vorlage bot, gerecht zn
werden, ohne Rücksicht darauf, ob die einzelnen Töne der Zusam-
menklänge in jedem Falle auch durch eine kontrapunktisch regel-
rechte Stimmenfiihrung erreicht wurden. In Wegfall kamen ferner
die für die Trefbicherheit beim Gesänge existenzberechtig^n Gresetze
der Melodiefortschreitung; denn die Orgel konnte nichtdiatonische,
chromatische Töne und verminderte oder übermäßige Intervalle be-
quem intonieren. Dadurch wurden gleichzeitig die Grundvesten der
Kirchentonarten stark erschüttert. Von großer Tragweite war zweitens
die Hinüberleitung weltlicher Elemente in die bisher nur kirchliche
Kunst des Orgelspiels. Die Tabulaturen der Koloristen sind nicht
mehr für die Orgel allein, sondern auch für die übrigen beweglicheren
Tasteninstrumente mitbestimmt. Die spezielle Orgeltechnik wurde
so durch eine Fülle für sie neuer Ausdrucksmittel bereichert. Auch
das Formengebiet erweiterte sich; neben kirchlichen wurden welt-
liche Gesänge koloriert, deutsche, französische, italienische Lieder und
Tänze, in welchen sich eine Reihe von Formenkeimen befanden, die
später zur Ausbildung gelangten. Die Orgelmusik der Koloristen-
periode befindet sich also in einem ähnlichen Werdeprozeß, wie die
gleichzeitige kirchliche Vokalmusik. Beide öffnen ihre Pforten der
weltlichen Partnerin und lassen sich von ihr durchdringen. Aber wäh-
rend die vokale Kunst sich erst mit dem Ende des 17. Jahrb. in eine
weltliche und kirchliche sonderte und letztere dann erst die ihr an-
haftenden weltlichen Elemente entweder umprägte oder ausschied,
geschah dies in der Orgelmusik bereits im Anfang des 17. Jahrh.
Als der Orgel die Begleitung des Chorals anvertraut wurde, erhielt
sie zugleich damit den festen Kern, um den herum die bisher ge-
wonnenen, aber wesenlos gebliebenen Formengebilde sich zu aus-
geprägten Gestaltungen krystallisieren konnten. Nun begann die
Orgelkunst sich auf sich selbst zu besinnen; sie schied die nicht
* Vgl. Karl Paesler, Fundamentbuch von Hans Buchner, Viertel] ahrsschr. f.
Musikw. 1889. S. 84 ff.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. { 5 {
umgeformten weltlichen Elemente aus und durchdrang nach allen
Seiten hin wieder ihre kirchliche Bestimmung. Die Klaviermusik
andererseits, welche bisher auf die Orgel immer eine gewisse Rück-
sicht zu nehmen hatte, P^9 ^^^^ geworden, nun unbekümmert ihre
eigenen Wege.
Um die Wende des 16. Jahrb. machten sich in Deutschland von
iwei Seiten her Einflüsse geltend, welche jene Errungenschaften
der Koloristen höheren Kunstidealen dienstbar machten und auf den
durch sie eingeschlagenen Entwickelungsgang belebend und fördernd
einwirkten. Die Kunst der Venetianer A. Willaert, Cl. Merulo und
der beiden Gabrieli wurde yorbildlich für die Süddeutschen H. L.
Hassler, Ch. Erbach, U. Steigleder u. a., sowie für den Niederländer
Sweelinck, dessen Schüler sich über Norddeutschland verbreiteten;
es entstand die süd- und norddeutsche Schule, deren Oegensätze eine
mitteldeutsche ausglich. Den Samen spendeten fremde Länder ; daß
er aber auf fruchtbaren Boden fiel, haben wir der redlichen Arbeit
der deutschen Koloristen zu danken.
1.
Jan Pieters Sweelinek in Amsterdam. (1562—1621).
Die holländische „Maatschappij tot bevordering der toonkunst^^
hat es sich seit einer Reihe von Jahren in dankenswerther Weise
angelegen sein lassen, das Studium der Geschichte niederländischer
Tonkunst durch Quellenforschimgen zu fördern. Eines ihrer ersten
Ziele war es, die Lebensumstände Sweelincks, ihres berühmten Lands-
mannes, nach allen Seiten hin zu ergründen und seine Kompositionen
durch Neudrucke der Gegenwart zugänglich zu machen.^ Zu einer
um&ssenden kunsthistorischen Würdigung seiner Werke ist es in-
dessen noch nicht gekommen. Im folgenden wollen wir es nun ver-
suchen, Sweelincks künstlerische Individualität als Orgelmeister, der
er ja in erster Linie war, zu betrachten und sodann bis ins Einzelne
hinein die Anregungen nachzuweisen, welche die norddeutsche Orgel-
kunst in der ersten Hälfte des 17. Jahrb. ihm verdankt. Für diesen
Zweck wird es wichtig sein, auch auf die Lebensgeschichte der in
Betracht kommenden Meister einzugehen. Wo der Verfasser in dieser
> J. P. S., Hegina Coeli, hrsg, von H. A. Viotta, 1869, Einleitung von F. H. L.
Tiedeman; Ztven Orgelatukken , hrsg. von R. Eitner, 1870; Drie Madrigalen van
C, Sehuijt, ttcee chansons van j. P. S.^ hrsg. von R. Eitner, 1873; Acht zes-stem-
mige psalmen, hrsg. von R. Eitner, grQndliche bio- und bibliographische Einleitung
ton F. H. L. Tiedeman, 1876; Zes vier-stemmige Psalmen, hrsg. von R. Eitner, 1883.
152 ^^^^ Seiflfert,
Hinsicht nichts Neues bieten konnte, hat er sich darauf beschränkt,
die bisherigen Forschungen kurz zusammenzufassen. Wo ihm dagegen
noch nicht verwerthetes Urkundenmateiial zur Verfügung stand, da
ist auch dem biographischen Theil ein größerer Raum vergönnt
worden.
Jan Pieters Sweelinck wurde in der Zeit zwischen dem 28. April
und 16. Oktober des Jahres 1562 zu Amsterdam geboren als Sohn
des an der dortigen Alten Kirche bestellten Organisten Pieter Swee*
linck. Die erste musikalische Ausbildung erhielt der Knabe bei
seinem Vater, der ein nicht unbedeutender Musiker gewesen sein
soll, die wissenschaftliche bei dem Pfarrer der Alten Kirche. Im
Jahre 1573 starb der Vater; was mit dem 11 jährigen Knaben und
seinen anderen Geschwistern, deren er noch einige hatte, jetzt ge-
schah, erfahren wir nicht Vermuthlich wird er fleißig seine musi-
kalischen Studien fortgesetzt haben und so zu einer gewissen tech-
nischen Sicherheit auf seinem Instrumente gelangt sein, welche ihn
dann veranlaßte, behufs weiterer Ausbildung sich nach Italien zu
begeben. Den äußeren Anstoß dazu scheint ein politisches Ereigniß
gegeben zu haben. .Am 26. Mai 1578 wurde die römisch-gesinnte
Regierung aus Amsterdam verjagt; die Klöster wurden geplündert
und die Hofkirchen von den Reformierten in Besitz genommen.
Diese Vorgänge mögen bei Sweelinck oder bei denjenigen Personen,
welche seine Erziehung zu überwachen hatten, den Plan einer Studien-
reise zum schnellen Entschluß haben reifen lassen. Viel früher
wenigstens wird Sweelinck nicht nach Italien gereist sein, und auch
nicht viel später. Da er 1580 bereits wieder in seiner Heimath war
und die Studienzeit, wie damals üblich, etwa zwei Jahre dauerte, da
femer die Reise nicht in ein zu jugendliches Alter verlegt werden
darf, so müssen wir das Jahr 1578 als das Jahr seiner Abreise nach
Italien annehmen. Daß der 16 jährige Jüngling gerade Venedig als
den Ort aufsuchte, wo er seinem künstlerischen Können den letzten
Schliff geben wollte, muß man für die Beurtheilung seiner späteren
Wirksamkeit wohl beachten. In dieser reichen, Kunst liebenden und
pflegenden Stadt wirkte der große epochemachende Theoretiker 6.
Zarlino, Schüler A. Willaerts und seit 1564 Nachfolger Cipriano de
Rore^s als Kapellmeister an S. Marco. Zarlino, welcher mit der an
niederländischen Mustern gebildeten Kunstfertigkeit eine scharfe
Beobachtung und umfassende Bildung vereinigte, wurde der specielle
Lehrer des jungen Sweelinck. Als Organist an der ersten Orgel zu
S. Marco wirkte seit 1557 Cl. Merulo, der Meister der Toccata; Or-
ganist an der zweiten Orgel war seit 1566 A. Gabrieli. Dessen Neffe,
Gio. Gabrieli, hatte bereits als 1 8 jähriger Jüngling 1575 eine Madrigal-
J. P, Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. I53
Sammlung erscheinen lassen. Beide, Oheim und Neffe, waren eifrige
Pfleger verschiedener instrumentaler Formen. Daß Sweelinck mit
dem nur um 5 Jahre älteren Gio. Gabrieli in direkte Berührung
gekommen ist, dürfen wir wohl ebenso gut annehmen, wie wir es
Ton H. L. Hassler, welcher 1584 nach Venedig kam, wissen. Die
Überlieferung meldet, Sweelinck sei nach Venedig gegangen, um bei
Zaihno die Komposition zu studieren. Schwerlich aber war dies allein
der Grund. Oder wenn er es war, so ließ doch Sweelinck gewiß
nicht die Grelegenheit unbenutzt vorübergehen, sich unter Anleitung
der ersten Meister in der Orgelkunst weiter auszubilden. Dies darf
man schon daraus schheßen, daß er nach seiner Rückkehr 1580 die
inzwischen seit dem Tode seines Vaters von verschiedenen Organisten
Terwaltete Stelle sofort erhielt. Die Kirchenvorsteher mußten doch
wohl die Erwartung hegen dürfen, daß der 18jährige Künstler im
Stande sei, jenen wichtigen Posten ganz auszufüllen.
Von 1580 au bis an sein Lebensende wirkte Sweelinck in
Amsterdam. Er hatte sein gutes Auskommen, welches ihm gestattete^
sich im Mai 1590 zu verheirathen. Die in dieser Ehe geborenen
Kinder waren gleichfalls musikalisch begabt. Der Buf seiner großen
Kunstfertigkeit verbreitete sich bald durch die Niederlande und über ihre
Grenzen hinaus. Es muß hier gleich bemerkt werden, daß die vor-
liegende Arbeit sich nicht auf Sweelincks Beziehungen zu seinen
zeitgenössischen Landsleuten einlassen wird. Diese Aufgabe fällt in
den Bereich derjenigen Untersuchung, welche sich mit den Beziehungen
der englischen Virginalmusik zu den Niederländern befaßt. Es kommt
hier nur darauf an, den Einfluß der Virginalmusik durch Sweelincks
Vennittelung auf die norddeutsche Orgelkunst nachzuweisen. In
England waren seine Instrumentalkompositionen wohl geachtet ; einige
derselben wurden für werth befunden, in das Virginalbuch der Kö-
nigin Elisabeth au%enommen zu werden. > Mit dem berühmten eng-
lischen Virtuosen Dr. John Bull scheint Sweelinck in engerem
Verkehr gestanden zu haben. Er nahm einen Kanon desselben in
seine Kontrapunktlehre '^ auf; und als Sweelinck am 16. Oktober 1621
gestorben war, komponierte Dr. Bull bald darauf, am 1 5. Dezember,
eine ufantazia op de fuga van Mr. Jan pietersn, a Dieses Zusammen-
treffen ist zu aufTällig, um als zufällig gelten zu können. Man darf
wohl annehmen, daß Dr. Bull auf einer seiner vielen Kunstreisen
auch Amsterdam berührt hat; seit 1613 war er übrigens als Organist
in Brüssel angestellt. Von deutschen Schülern kamen zu Sweelinck:
^ VgL. unten S. 155.
2 VgL unten 8. 179 ff.
J54 ^^^ Seiffert,
S. Scheidt aus Halle, M. Schildt aus Hannover, H. Scheidemann
und J. Praetorius aus Hambu^ und P. Siefert aus Danzig. Der
Verkehr Ewischen dem Lehrer und seinen Schülern scheint ein hen-
licher gewesen zu sein; er dauerte noch fort, als diese wieder in
ihre Heimath zurückgekehrt waren. Zwei Liedbearbeitungen ^ sind
von Sweelinck und Scheidt gemeinsam komponiert; daraus hat man
geschlossen, daB Scheidt Sweelincks Lieblingsschüler gewesen sei. Zur
Hochzeitsfeier des J. Praetorius verfertigte Sweelinck 1608 ein »CVn»-
ticum nuptiale^i;^ zu Ehren H. Scheidemanns schrieb er einen Ka-
non: i>Ter eeren des vromen Jonffkmans Henderich Sckeyfynan, van
Hamhorgk^ is dit geschreven hij mij Jan P, StoeKnck^ orgamst tot
Amsterdam, op den 12den Novemb, 1614,^^^ Die Hamburger Stadt-
bibliothek besitzt mehrere Yokalkompositionen Sweelincks. Nach
PreuBen hin bestanden ebenfalls Beziehungen; in den Stadtbiblio-
theken zu Königsberg und Danzig sind auch mehrere Kompositionen
zu £nden. Für den Königsberger Kantor Job. Stobaeus schrieb
Sweelinck ein itCanticum in honorem nuptiarumn, 10. Juli 1617.^
Stobaeus brachte diese Komposition mit einem andern Text 1638 in
Danzig noch einmal zum Druck.^
Wir besitzen von Sweelinck zwei Bildnisse. Das eine,^ mit der
Umschrift versehen: ^Etatis 44. ao. 1606, M. JO. PET. SWEL.
AMS. OB.n zeigt uns ein schönes männliches Gesicht, aus dessen
Zügen Ernst, aber auch Wohlwollen und Güte spricht. Das zweite,
ein Holzschnitt aus dem Jahre 1624, ist mehrfach al^edruckt.^ In
der Unterschrift wird Sweelinck genannt* »Musicus et Organista toto
orbe celeberrimus. Vir singulari modestia ac pietate, cum in vita,
tum in morte omnibus suspiciendus. « Charakteristisch genug für
Sweelincks Ansehen außerhalb Hollands sind einige Distichen, welche
Plemp auf das zweite Bild verfertigte:
r>Joannes Petrtis Swelingius Amsterodamus^
Qui fuit organica Pallas in arte minor.
Cujus fama Italos tetigit scdsosque Britannos^
Quique, Orlande^ tuis notus erat Bavaris.
Omnibus ex terris peregrinas traxerat aures . . . «
^ VgL unten S. 172. Möglicherweise rührt aber diese Zusammenstellung nur
vom Schreiber her, der nach eigenem Qeschmaek auswfihlte.
2 Exempl. auf der Hamburg. Stadtbibl.
> desgl.
^ Exempl. auf der Königsberg. StadtbibL
B desgl.
^ Original auf der Großherzogl. Biblioth. su Darmstadt; eine photographische
Abbildung desselben steht vor den »Acht ZM-stemmigen PBolmen,» 1876.
7 VgL Acht tea-stemmige Fsalmenf Einleitung S. 38 ff.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schfller. I55
Dafi Plemp zu diesem Lobe wohl berechtigt war, ist, wa| England
betrifil, oben . angedeutet worden. Bei der Besprechung von Swee-
lincks Kompositionen werden wir auf seine Beziehungen zu der
mit Frescobaldi anhebenden neuen italienischen Kunstblüthe sowie
txL dem südwestlichen Deutschland zu sprechen kommen. —
Nach diesen historischen Bemerkungen wenden wir uns zur
konstgeschichtlichen Würdigung Sweelincks. Wir betrachten ihn
zaerst als Orgelkomponisten und Virtuosen, sodann als Theoretiker
and Lehrmeister.
Die Quellen für unsere Kenntniß der EJavier- und Orgelkom-
positionen Sweelincks sind folgende:
i. Mscr. fol., Bibliothek des grauen Klosters in Berlin: 3 Fan-
tasien (2 davon »auf die manier eines Echo«), 5 Toccaten, 3 Lied-
bearbeitungen. Eine Auswahl hieraus veröffentlichte B. Eitner.^
2. BIscr. fol. 191, Kgl. BibUothek, Berlin: 1 Fantasie, 1 Choral-,
1 Liedbearbeitung.2
3. Mscr. fol. 88S, Universitätsbibliothek Lüttich: 1 Echo.»
4. Virginalbuch der Königin Elisabeth, Cambridge : 2 Fantasieen,
1 Toccata, 1 Choralbearbeitung.
5. Mscr. der Bibliothek von Christ. Church, Oxford: 1 Fan-
tasie.^
' Zeven Orgehtukken, 1S70 (auch bei N. Simrock, Berlin, erschienen). Bis
IQ welchem Grade diese Ausgabe maßgebend ist, hat bereits H. Bellermann nach-
gewiesen; TgL A. M. Ztg. 1870. S. 410 ff. Folgendes ist noch hinsusufagen.
Die anonyme Liedbearbeitung »Unter der linden grünem ist identisch mit Sweelincks
•AUemande* im Mscr. 191. Über Scheidts Antheil an den von ihm und Sweelinck
gemeinsam angefertigten Liedbearbeitungen h&tte die Tabtdat, Nova, Hamburg
1624, Aufschluß geben können; die Scheidt'schen Variationen sind dort wieder-
gedruckt Die anonyme »cantio Belgiern steht Ttib, Nav, L 7. Die »Toceaia S,S,t
steht nicht in der Tab. Nov., ist also eine bisher unbekannte Komposition Scheidts ;
ebenso die »Paduana Hiepania.v
< Vgl. darflber C. ▼. Winterfeld, Johannes Gabrieli und sein Zeitalter, Berlin
1S34, II S. 107 ff; Ritter, Zur Geschichte des Orgelspiels, Leipsig 1884, I S. 49.
Folgendes ab Ergänzung : Den Inhalt schrieb eine erste Hand, von Fol. 1 — 60 y ;
der Rest sowie einige ergänsende Stücke und Bemerkungen gehören einer iweiten
Hand an. Der zweite Schreiber sehrieb um 1625 und fertigte auch ein Register
über das Ganze an, wo er Pietro Comet »mio tnaesiro« nennt, dessen Schüler er
«lio war» Der erste Schreiber, welcher anscheinend ein Süddeutscher war (»Toecada»!
£ibaehs und Oabrielis Stücke hat er zumeist geschrieben) schrieb also zu Anfang
der 20er Jahre.
3 VgL Ritter, a. a. O. S. 48 f. Mir ist diese Hdschr. nicht zu Gesicht ge*
kommen.
* Sie ist der letzte Abschnitt der im Virginalbuch enthaltenen Fantasie über
du Hezachord.
156
Max Seiffert,
6. Mscr. 23, 623, British Miiseum, London: r^Fantazia op de fuga
van Mr. Jan pietersn faecit Doctor Bull, 1621. 15, Decemb,^^
Wir besitssen also von Sweelinck 7 Fantasieen, 6 Toccaten, 2
Choralbearbeitangen und 3 Liedbearbeitungen — insgesamt 18 voll-
ständige Stücke. Dazu kommt noch eine Reihe von Kanons, über
deren selbständige Stellung und Verwendung im zweiten Theil un*
serer Betrachtung das Nähere angegeben werden wird.
Von den 7 Fantasieen fehlt dreien in der Überschrift jeglicher
Zusatz; sie sind fugenartig gebaut, wie man leicht erkennt. Drei
sind »auff die manier eines Echo«, die letzte bearbeitet das Hexachord.
Um zunächst die den drei ersten Fantasieen zu Grunde liegende
Kompositionsform zu erläutern, betrachten wir eine derselben genauer.
Die uFantasia ä 4. M. P, S,«,^ in der phrygisch-transponierten
Kirchentonart (A ^) stehend, beginnt mit dem von der obersten
Stimme allein vorgetragenen Thema:
1
BE
t
■ys — ri — g
i
Sf
■^-
X
3
S
i 2=^=22:
"-jw
Bei der Schlußnote tritt die zweitoberste Stimme in der Unterquinte
mit dem Thema ein, wozu die Oberstimme nach einer halben Pause
eine sehr ausdrucksvolle und bestimmt geführte Gegenmelodie vorträgt:
i
i> c; -
-^-
--# — ^-
J^T-
t=^
2^
-^9-
X
i
-?v»»-
■Diese erscheint als ständige Begleiterin des Themas die ganze erste
Durchführung hindurch. Nach einer äolischen Kadenz folgt die
zweite Durchführung, in welcher sich aber eine neue, sequenzenmäßig
gebildete Gegenmelodie :
3=fc4^
* Die »Vereeniging voor Noord-Nederlands Muziekgeschiedenis,« welche im Be-
sitE einer Kopie dieser drei englischen Handschriften ist, hat mir durch die gütige
Vermittelung des Herrn J. C. M. van Riemsdijk die Benutzung derselben hier an
Ort und Stelle ermöglicht und mich dadurch zu Dank verpflichtet.
2 Mscr. Fol. 191, Berlin, Fol. 74 v. Die » Vereeniging^ besitzt eine von Eitners
Hand sauber angefertigte Kopie der in dieser Hdschr. befindlichen Stücke Swee-
lincks. Weil der Titel der Fantasie unter der ersten Zeile steht, so setzt Eitners
Kopie gleich mit der zweiten Zeile ein. Diese hebt aber mit einem Sextakkord an ;
Eitner sieht sich also genöthigt, den vermeintlich fehlenden Anfang zu konjicieren.
Daß die erste Zeile den richtigen Anfang bietet, hat er wohl übersehen. VgL die
Notenbeilagen.
J, P. Sweelinek und seine direkten deutschen Schüler.
157
mit dem Thema verbindet. An den mit * bezeichneten Stellen
erlaubt sich Sweelinek eine kleine rhythmische Veränderung: er
Terkürzt die zweite Viertel- zur Achtelnote und punktiert die erste
Viertelnote. Solche kleinen rhythmischen Änderungen finden sich
sehr häufig in Sweelincks Kompositionen. Nach einem mit Hilfe
der zweiten Gegenmelodie gebildeten Zwischenspiele, welches mit
einer phrygischen Kadenz abschließt, beginnt die dritte Durchführung,
welche das Thema auf mannigfache Art mit sich selbst in die Enge
fahrt. Wo die Engfiihrung nicht in ihre Rechte tritt, zeigt sich das
Bestreben, die Kontrapunkte aus den in der ersten und zweiten
Durchführung benutzten abzuleiten. Melodien, wie diese:
•#. 42
1
t
-f ( T r rirdg^
32:
-»w-
eiinnern deutlich an die erste, diese:
1
^
t
-^\rr r
e^^
rW
m
^
t
__Lj^J_
t
& ^
an die zweite Gegenmelodie. Über derartige motivische Um- und
WeiterbildtLngen werden wir noch besonders zu sprechen haben.
Auf den durch eine phrygische Kadenz beschlossenen ersten Haupt-
theil folgt der zweite, welcher nicht sowohl durch das Ineinander-*
Teiketten des Themas mit einer Gegenmelodie innerhalb einer fest*
gehaltenen Stimmenanzahl sein charakteristisches Gepräge erhält, als
vielmehr dadurch, daß sich dem in verlängerten Notenwerthen ge*
messen dahinschreitenden Hauptthema glatt fließende Rhythmen bei-
gesellen, während mit jedem neuen Einsatz die Stimmenanzahl wächst.
Die Gegensätze prallen freilich in dieser Fantasie nicht so hart auf
einander, wie in anderen Stücken; ein Zwischensatz, welcher eine
fließende Achtelmelodie:
HU < f itl^^^mhni^ r rn ^
-AV-
gegen das nicht verlängerte Thema durch alle vier Stimmen fuhrt
tritt vermittelnd auf. Aber schon vor der äolischen Kadenz hebt
eine Sechszehntelbewegung an, welche in verschiedenen Läufen,
158
Max Seifert.
Sprüngen und Figuren das nunmehr zu ganzen Noten yerlängerte
Hauptthema begleitet. Das Thema liegt zunächst in der Oberstimme
eines zweistimmigen Satzes , der sich zur Dreistimmigkeit erweitert,
sobald der Tenor das Thema aufnimmt. Bei dem nächsten Einsatz
desselben im Alt ist die Vierstimmigkeit wieder erreicht und nun
tritt an die Stelle der schweifenden Figuren wieder die logisch-
geschlossene motivische Verknüpfung. Das erste Motiv:
ij,t>J|J«>y r r FjHf —
erinnert uns wieder an die allererste Gegenmelodie Das zuletzt im
Baß liegende Thema wird durch kurze sequenzenartig verbundene
Imitationen der Oberstimmen begleitet. Jene ranken sich an einer
kurzen Melodie fort:
m
^
t
_j_j_ii_
Diese bildet nun wieder den motivischen Kern eines Zwischenspieles,
welches durch eine phrygische Kadenz zum Abschluß gebracht wird.
Daran schließt sich ein Zwischensatz in Y4Takt, mit dem Motiv*
^■z3=jbi
t
gebildet, während dessen das Thema, zu punktierten ganzen Noten
verlängert, einmal von der obersten Stimme vorgetragen wird. Swe^
linck liebte es, in den Verlauf eines Stimmengewebes hier und da
Triolen oder Sextolen einzuflechten und sie mit geraden Rhythmen
zu verbinden; sie wirkten belebend in dem Rahmen des Ganzen.
Besonders häufig finden wir diesen Gebrauch bei den englischen
Virginalisten, deren Kompositionen ihre Fertigkeit, die verschieden-
artigsten Rhythmen zu kombinieren, in glänzendem Lichte erscheinen
lassen.^ Ein solcher rhythmischer Wechsel spielt bei Sweelinck
eine Hauptrolle als Übergang vom zweiten zum dritten Haupttheil;
der musikalische Aufbau wird durch den Wechsel recht ohrenfallig
gemacht, die Form gesteigert und der Kontrast zum dritten Haupt-
theil verschärft. Dieser vereinigt nun in sich das Wesen der beiden
ersten Theile. Er geht aus von der Zweistimmigkeit, erweitert sich
zur Drei- und Vierstimmigkeit und bedient sich ebenfalls lebhaften
Figurenwerks, aber er verbindet damit die Engfuhrung und knüpft
^ Vgl. A Qeneral History of Music von Charles Burneyi III London 1789.
S. 115 ff. stehen einige Proben von Dr. J. BuUs Technik in diesem Punkte.
J. P. Sweelinek und seine direkten deutschen Schüler.* ^59
80 an den ersten Haupttheil wieder an. Höchst beachtenswerth ist
die Steigerung im dritten Theil. Das Thema wird zunächst zu Vier-
tehioten yeikiiizt und erscheint in dieser Gestalt in einer Stimme
auf mehreren Tonstufen unmittelbar nach einander. Zu Achteln
yerkürzt, wird es sequenzenartig und wechselchörig verwendet. Jetzt
tritt ein Wendepunkt ein: das Thema erscheint wieder in Viertel-
noten, wird jetzt aber viel lebhafter behandelt. Es wird nicht mehr
real beantwortet, sondern muß sich die verschiedensten Rückungen,
Dehnung, Zerlegung und Kolorierung gefallen lassen, damit die Ab-
sieht des Komponisten auf möglichste Steigerung verwirklicht wir4.
Recht bemerkbar macht sich in diesem Abschnitt das Streben nach
motivischer Weiterverarbeitung eines gegebenen Gedankens. Bevor
das zu Vierteln wieder verkürzte Thema anhebt, werden die ersten
3 Noten desselben auf einer andern Stufe von derselben Stimme
antizipiert; erst dann tritt das Thema wirklich ein. Dazu erscheint
eine Gegenmelodie:
\b i j \ jp:~U'^i ff r Mfri^
deren erster Theil an die S. 157 oben angegebene erinnert. Der
zweite Bestandtheil rührt aus dem chromatischen Thema selbst her;
er muß auch zu einem motivischen Zwischenspiel herhalten. Der
Schluß des dritten Haupttheils kehrt zu den ursprünglichen Werthen
des Themas zurück. Noch dreimal tritt es auf, aber begleitet durch
ruhige Viertelbewegimg, die überdies durch Synkopen noch gehemmt
wird. Mit einer Passage der linken und rechten Hand schließt dann
die Kadenz und das ganze Stück ab.
Im großen und ganzen ebenso gebaut sind die beiden anderen
Fantasieen. Sie haben zwar in der Gruppierung und im inneren
Aufbau der einzelnen Theile ihre Besonderheiten, aber sie lassen
das Wesen der Form nicht verändert erscheinen. Da diese Kom-
positionen indessen nach anderer Seite hin bemerkenswerth sind, so
müssen wir doch auf sie näher eingehen. Wenn wir dabei jene
Besonderheiten mit berücksichtigen, so geschieht es im Interesse
einer vollständigen Darlegung von Sweelincks Kompositionstechnik.
Die zweite uFantasta, John Pietersen Sweeüng, Organista a Amstel-
reddi^ in dorisch-transponierter Tonart fG\^) beginnt mit dem Thema*
T^ I J -Ul-^^J — =
m
■?sr-^
lar
->vv»-
dessen melodische Fortsetzung:
^ Yirginalbuch der Königin Elisabeth in Cambridge.
160
Max Seiffert,
im ganzen ersten Haupttheil für die begleitenden Kontrapunkte aus-
gebeutet wird. Sweelinck entwickelt in dieser Fantasie eine ganz
besondere kompositorische Kunstfertigkeit, indem er die Beantwor-
tungen des Themas immer in motu contrario eintreten läßt. Im zweiten
Theil legt Sweelinck das in seinen Werthen verdoppelte Thema,
verlängert um die ohne Pause sich anschließende und ebenfalls ver-
doppelte melodische Fortsetzung desselben zu Grunde. Es fehlt so-
dann ein vermittelnder Abschnitt zwischen dem ersten und zweiten
Haupttheil, welch letzterer unmittelbar nach der Kadenz des ersten
mit der Zweistimmigkeit beginnt. Die Überleitung zum dritten Haupt-
theil geschieht anders als in der vorigen Fantasie. Hier wird der
C-Takt beibehalten; innerhalb desselben erscheint aber das Thema,
ohne seine Fortsetzung, zweimal so, daß die einzelnen Töne zu
punktierten ganzen Noten verlängert sind, wogegen die übrigen
Stimmen sequenzenmäßige Imitationen des Themas ausfuhren.
Diese Fantasie zeigt uns den Meister des Kontrapunkts von der besten
Seite ; spielend werden die schwierigen Probleme gelöst. Und es ist
kein schlechtes Zeichen für den künstlerischen Geschmack der Kö-
nigin Elisabeth, daß sie gerade diese Komposition Sweelincks für
ihrer würdig erachtete.
Das Thema dieser Fantasie hat Sweelinck in anderer Wendung
noch einmal zu einem Kanon benutzt;
Canon k 4. J. R S.i
te
1^
-^ — Of-
s^
-Ä?-
X
^ ^ iB
Si - ne Ce - re - re et Bac-cho fri - get Ve - nu8.
Diesem Thema begegnen wir auch bei anderen Komponisten. In
Klebers Tabulaturbuch (1520 — 1524) steht eine nFaniasiaa eines
gewissen ^Cored Sal.%'^ deren Thema lautet:
Ein aus der Umgegend von Salzburg stammender Druck mit In-
^ Orig. auf der Hamburg. Stadtbiblioth.; mitgetheilt vor den »Ttoee Charuans^t
Edit. der »Maatschappijaf 1873. S. 30.
^ Vgl. Ritter. Zur Gesch. des Orgelspiels, 1884, II S. 101; er yermuthet
•Conrad. Salisburgensis.n
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. \^\
Btrumentenbildern ^ stellt in Bild 6 eine Prozessionsfahne dar, auf
welche hinauf geschrieben ist:
»Canon in Vnisono.
^
[Mi] - se - [re] - ri — me - i.«
Diese Melodie hat also dieselbe Tonfolge wie das Sweelinck'sche
Thema« Was aus dieser Thatsache für Sweelincks Beziehungen
zum Süden und besonders zum Südwesten Deutschlands zu folgern,
weiden wir weiter unten sehen; hier sei sie einfach registriert. Im
Jahre 1607 erschien zu Hamburg von den zuerst im Jahre 1599 eben-
daselbst herausgegebenen ^Cantianes sacrae^ des Hieronymus
Fraetorius eine »editto altera^ ab ipsomet atictore aucta et correcta^,
Biese enthält eine sechsstimmige Motette^ des Autors zu dem Text:
MGaudete omnes et laeiamini.a Piaetoiius verarbeitet zu dem Worte
»Gaudetev das Thema:
Gau-de - - - te.
welches er gleichfalls immer in der Gegenbewegung beantworten
läBt Praetorius konnte zwar bei seinem Aufenthalte in ^Mittel-
deutschland ^ mit Klebers Tabulatur bekannt geworden sein, aber
das durchgeführte Prinzip der Gegenbewegung weist doch auf
nähere Beziehungen zu Sweelinck hin. Und dann erscheint uns
die Thatsache^ daß H. Praetorius seinen Sohn Jakob zu Sweelinck
schickte ) in einem ganz besonderen Lichte. Eine Entscheidung
darüber, wer von beiden dem andern vorbildlich gewesen ist, ob
Sweelinck oder Praetorius, ist aber vorläufig noch nicht zu treffen.
Dazu müßte erst festgestellt werden, wann Sweelincks Komposition
entstanden ist, und zweitens, ob auch schon die erste Ausgabe der
^Cantiones aacraea jene Motette enthält. In zwei Theile zerlegt er-
> Vgl. Dr. O. Fleischer, »Ein seltener alter Druck put Instrumentenbildern,«
Zeitsehr. f. Instrumentenbau, XI, S. 131 ff. Die Zeit des Druckes ist meiner An-
sicht nach vom Verfasser richtig als die 2. Hälfte des 16. Jahrh. angegeben. Vgl.
dagegen Eitner, M. f. M. 1891, Heft 3.
3 Exempl. in der KirchenbibL 2u Husum; die Kenntniß der Motette ver-
duike ich der Güte des Herrn Gesanglehrers G. Schmerberg 2u Berlin.
s Er hatte in Köln studiert und war dann in Erfurt Stadtkantor gewesen,
hl Mitteldeutschland wie auch in Stuttgart waren seine Kompositionen sehr be-
gannt; vgl. Jos. Sittard, Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Würtem-
bergischen Hofe, Stuttgart 1890, I. S. 339.
1891. 11
162
Max Seiffert,
scheint das Fugenthema in der »Fantasia 3, Toni di M. petro Gor-
9ietifj^ des Brüsseler Organisten; es lautet:
1
i
%> — — ?g-
-^9-
:a:
3z:
■ *v-
is:
und wird wiederum stets in der Gegenbewegung beantwortet. Daß
diese Übereinstimmung mit P. Cornet keine zufällige ist, werden
wir bald sehen. Mehr an Cornet als an Sweelinck lehnt sich Sc hei dt
mit dem Thema seiner -tiFuga ä 4 Voc Contraria«'^ an:
i
^0
?s:
-^-
-Ä>-
.JA-.
in welcher, wie die Überschrift andeutet, die Gegenbewegung auch
durchgängig festgehalten wird.
Der dritten r>Fantasia ä 4. M, J, P. S,fL^ in dorischer Tonart
liegt ein Thema zu Grunde, welches chromatisch absteigend eine
Quarte durchläuft:
g^£ZrT^~f^=^=^
X
f ''J-po
-»-
t
..A4L
Wie in den beiden vorher besprochenen Fantasieen wird die me-
lodische Fortsetzung des Themas:
A. B.
SO
X
F^^
X
-4^
"TK-
welche erst als Kontrapunkt zur Beantwortung auftritt, auch für die
weitere Verarbeitung des Themas festgehalten. Im übrigen bietet
die Form nichts wesentlich Neues. Zu beachten ist nur noch eine
motivische Umbildung der Gegenmelodie in ihrer zweiten Hälfte (B)
in Takt 181 f.:
1 Mscr. Fol. 191. Berlin, Fol. 17 v.
2 Tabul. Nova, Hamburg 1624, II 1.
3 Zeven Orgelstukken, hisg. t. R. Eitner, S. 20; mit Eitners Versehen, aber
in richtigen Notenwerthen bei Ritter, a. a. O. II S. 67.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. 163
Dies Thema mit seinen drei Kontrapunkten spielt nun in der gleich-
zeitigen und späteren Orgellitteratur eine große Brolle. Die chro-
matische Quarte wird entweder als Thema benutzt oder sie ist im
Verlaufe eines Stückes die motivische Weiterbildung einer diatonisch
durchmessenen Quarte. In der zweiten Art findet sie sich öfter bei
Peter Philips, dem Organisten zu Soignies; z. B. in einer tGaliard^
und in der ^Pavana dolorosat^^ in welch letzterer die chromatische
Quarte au&teigt. Demgemäß wird die Melodie B auch geändert:
3=¥
^3=i-J4-^-jg^J
—«>-
JpS3^^^3^
etc.
Als festgehaltenes Thema erscheint die chromatische Quarte in zwei
anscheinend niederländischen Stücken, denen leider die Autorangabe
fehlt, nämlich in einem ^Battelta und in einer Fantasie.^ In letz-
terer wird die chromatische Quarte sowohl auf- wie absteigend als
Thema benutzt. Nachdem verschiedene motivische Umbildungen
von B das Thema begleitet haben, erscheint endlich auch O fast
Note für Note, wie oben angegeben. In der Fuge^ von Matthias
van den Gheyn, Organist zu Löwen im 18. Jahrh. wird auch die
chromatische Quarte noch durchgehends bearbeitet. Man ersieht
aus diesen Angaben, daß die von A nnd E sowohl auf- wie abstei-
gende chromatische Quarte ein beliebtes Thema war und daß sich
dazu bestimmte Gegenmotive ausgebildet hatten, deren Grenzen durch
die untere und obere Terz und Sexte gegeben waren. Daß diese
chromatische Behandlungsweise durch Sweelinck ihren Eingang in
die norddeutsche Orgelmusik fand, wird man erklärlich finden. Es
genüge, hierfür ein Beispiel nur anzuführen. In der JtFarUasia super
tJo 8on ferito cctsso» Puga quadruplici. ä 4 Voc.a behandelt S.
Scheidt^ die auf- und absteigende Quarte, indem er als Gegen-
melodie A und C verbunden benutzt. Aber auch außerhalb der
norddeutschen Orgelschule findet sich die gleiche Anwendung der
* Mscr. Fol. 191. Berlin: »Galiard« Fol. 8r.; »Pavana dolorosa^ Fol. 6r.
Letztere ist nach Angabe des von der zweiten Hand gefertigten Kegisters »Com-
poUa in Frigione del P. P.«
^ ^BalletU a. a. O. FoL 78 r.; die Fantasie Fol. 82 y. ist voll von Zusammen-
klängen, welche für jene Zeit frappieren. Das Ballet erinnert in seinem Anfang
sehr stark an die erste Fantasie Sweelincks (s. oben S. 1 59, das chromatische Motiv
betreffend). Die Fantasie ist so vollendet und sicher in der kontrapunktischen
Stin^mfÜhrung, daß ich sie wohl Peter Philips zuschreiben möchte.
3 Mitgetheilt Ton Ritter a. a. O. II S. 65.
* TahuL Nova, Hamburg 1624, I 2.
|g4 ^^^ Seiffert,
Chromatik; zunächst bei 6. Fiescobaldi.^ Fr. X. Haberl nimmt
nun in der Vorrede zu seiner Ausgabe Frescobaldis für diesen
das Verdienst in Anspruch, zuerst die Chromatik in ausgedehnter
Weise in die Orgelmusik überhaupt eingeführt zu haben. Die
italienische GesaDgsmusik des 16. Jahrh. ist mit der Chromatik
bereits ganz vertraut ; sie dient hier aber nur dazu, dem Texte, wo
es nöthig ist, das Chroma zu geben und ihn so musikalisch ent-
sprechend zu illustrieren. Anders ist es bei der Instrumentalmusik;
hier wird die Chromatik, mit welcher sich der Begriff eines beson-
deren Affekts verbindet, Selbstzweck; und in dieser Anwendung
findet sich die Chromatik bei den Orgelmeistern Italiens vor Fresco-
baldi nicht; er hat sie erst bei ihnen eingebürgert. Diesen Oe-
brauch der Chromatik hat aber [Frescobaldi nicht aus sich selbst
heraus gefunden, sondern er hat ihn von den Niederländern über-
nommen. Als er, noch ein Jüngling, in Flandern weilte, waren
Männer wie Sweelinck, P. Philips, '-P. Cornet längst fertige Meister
ihrer Kunst. In wiefern nun allerdings die niederländische in-
strumentale mit der italienischen vokalen Chromatik Zusammen-
hang hat, ist eine Frage, die hier nicht erörtert werden kann. Bei
Frescobaldis Schüler, J. J. Froberger, finden wir sogar das Swee-
linck'sche Thema in verkürzter Fassung wieder vor. Es bildet in
einer y> Toccata t^ den Grundgedanken für ,den fugierten Mittelsatz.
Glücklicherweise meldet uns eine handschriftliche Überlieferung'
Zeit und Ort der Entstehung des Stückes: nfatto a Bruxelles anno
1650] (i wir werden also wieder nach den Niederlanden geführt.
Frescobaldi und Froberger wirkten nun, was die Chromatik anlangt,
wieder vorbildlich für die süddeutsche Orgelschule. Aber bevor sich
hier ihr Einfluß geltend machte, war der Bruf von Sweelincks Kunst
schon bis hierher gedrungen. Der Augsburger Organist Christ.
Erb ach schrieb eine y>Canzon Cromatttcaa^^ in welcher er die chro-
matische Quarte Sweelincks auf- wie absteigend als Thema verar-
beitet und dazu die melodische Fortsetzung A als Gegenmelodie
festhält. Wir überspringen nun die große Reihe von süd- und nord-
deutschen Oi^elkomponisten, welche hier noch zu nennen wären,
und erwähnen nur noch Joh. Seb. Bach. In seiner »Canzona*^
1 Auswahl der Orgelkompositionen Frescobaldis, hrsg. y. F. X. Haberl, Leipcig,
S. 10, 22, 86; Die chromatische Quarte als Kontrapunkt S. 16, 43, 51, 77.
2 Ritter, a. a. O. II S. 225.
• Mscr. der Pariser Nationalbiblioth. Vm 2115; Fol. 7 im zweiten Theil
desselben; freundlichst mitgetheilt von Herrn Dr. O. Fleischer in Berlin.
* Mscr. Fol. 191. Berlin, Fol. 70 v.
6 Orgelkompositionen, Ed. Peters, IV. nr. 10.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. |ß5
▼erarbeitet er zunächst die chromatische Quarte; als Gegenmelodie
Terwendet er (7 im ersten und B im zweiten Theil. Wenn er die
Form von Frescobaldi entlehnte, so rühren doch die musikalischen
Grrundgedanken aus dem vererbten Schatze der norddeutschen Orgel-
schule her.<
Es ist nunmehr die Frage zu erörtern, woher Sweelinck seine
groBe dreitheilige Fantasieform erhalten hat, oder, falls er sie selber
schuf, an welche bestehenden Formen er anknüpfte. Die erste Frage
läfit sich leicht beantworten. Soweit sich nach dem bisher zugäng-
lichen Material urtheilen läßt, so findet sich die groBe dreitheilige Form
▼er Sweelincks Meisterzeit in dieser Vollendung weder bei den Eng-
ländern noch den Italienern oder Niederländern. Wir müssen also
annehmen, daß er sich diese selbst geschaffen hat. Allerdings waren
ihm die Elemente dazu gegeben; und an Versuchen, dieselben in
ähnlicher Weise zu gruppieren, hat es auch nicht gefehlt Die bei-
den Hauptfugenformen bei den Italienern, Ricercare und Canzone,
worden durch Niederländer eingeführt und angebaut. Jaques Buus,
Adriano Willaert und durch sie beeinflußt, die beiden Gabrieli^
haben das Wesen beider Formen ziemlich scharf ausgeprägt. Das
Ricercare verarbeitet mehrere Themata gegeneinander in der Weise,
daB möglichst wenig neues kontrapunktisches Material nöthig wird.
Die Canzone begnügt sich dagegen mit einem Thema und seiner
melodischen Fortsetzung, stellt sich aber durch Einfahr ung der
Gegenbewegung oder durch leichte motivische Umbildung ein neues
Thema her, welches in einem besonderen Abschnitt für sich be-
handelt wird. Im Ricercare wendet A. |Gabrieli auch die Ver-
längerung des Themas an, die einfache sowohl wie die doppelte ; wo
es angeht, imitieren dann die übrigen Stimmen das Thema in kür-
zeren Werthen. Beide Formen vereinigt Sweelinck zu einer drei-
theiligen. Die Themata der drei Theile hängen nach dem Prinzip
der Canzone mit einander zusammen ; die Verarbeitung der Themata
geschieht dagegen nach dem des Ricercare. Allerdings wird das
Wesen des letzteren etwas gestört. Denn Sweelinck begnügt sich
nicht damit, immer dieselben Kontrapunkte nur in anderer Verbin-
dung wieder vorzubringen, sondern er läßt auch hier, wie wir sehen,
motivische Weiterbildung eingreifen. Während Haßler bei der Ri-
cercarform seines Lehrers stehen blieb, erweiterte sie also Sweelinck»
Mit diesem Versuch steht er indessen nicht allein da; mehrere
1 Blan vergleiche Phil Spitta, Joh. Seb. Bach, I Leipzig 1873, S. 418 ff.
^ Vgl. W. J. V. Wasielewski, Oesch. der Instrumentalmusik im 16. Jahrh.,
BerHn 1878, Beisp. S. 27 ff.
|gß Max Seiffert,
Niedeiländer gingen in ähnlicher Richtung weiter. Die ^Fuga suavisst-
maa von Karl Luython,^ einem Zeitgenossen Sweelincks, zerfällt
in drei Theile, welche gar nicht, oder nur sehr lose zusammenhängen.
Es ist eine*rein äußerliche Aneinanderreihung von drei Ricercaren, deren
Themata nicht motivische Fühlung haben. Einen dritten Weg sehen
wir von dem Brüsseler Organisten Peter Cornet^ eingeschlagen.
Das Thema erscheint im Verlaufe seiner Fantasieen mehrere Male
umgebildet; aber der motivische Zusammenhang ist stets klar zu er-
kennen. Er liebt es auch, die Umbildungen mit dem ursprünglichen
Thema zusammenzuführen. Die Kontrapunkte werden dafür nicht
motivisch weiter verarbeitet. Diese Form finden wir in den Capricci
Frescobaldis wieder. Was ihn von Cornet unterscheidet, ist
das Streben nach Gegensätzlichkeit in dem Charakter der einzel-
nen Theile. Er läßt Taktwechsel eintreten und prägt die Kontra-
punkte schärfer aus. Im Princip aber stimmt er völlig mit Cornet
überein. Wenn nun Fr. X. Haberl bemerkt, daß Frescobaldi diese
mehrtheilige Fugenform zuerst in die Orgelliteratur eingeführt habe,
so trifft dies nach obigen Andeutungen für Italien zu. Die Origi-
nalität kommt ihm aber nicht zu; hierin, wie in der Anwendung
der Chromatik, steht er auf den Schultern der Niederländer. —
Es ist sehr wichtig, diese verschiedenen Abarten der großen Fugen-
form auch fernerhin zu verfolgen; man kann daran ermessen, was
alles noch nöthig war, ehe man zu den einfachen Gesetzen der
modernen Fuge gelangen konnte.'
1 Vgl Ritter a. a. O. H S. 55.
2 Vgl oben S. 162.
s Man vergleiche mit dieser Darlegung die Definition des Mich. Prätorius,
Synt. muB. III S. 21 :
T^Fantasia : Capriccio.
Wenn einer nach seinem eignem plasier vnd gefallen eine Fugam zu tractiren vor
sich nimpt, darinnen aber nicht lang immoriret, sondern bald in eine andere fugani,
wie es ihme in Sinn kömpt, einfället : denn weil ebener massen, wie in den rechten
Fugen kein Text darunter gelegt werden darff, so ist man auch nicht an die Wörter
gebunden, man mache viel oder wenig, man digredire, addire, detrahirej kehre
vnd wende es wie man wolle. Vnd kan einer in solchen FanioBien vnd Caprie-
den seine Kunst vnd artißcium eben so wol sehen lassen : Sintemal er sich alles
dessen, was in der Music tollerahile ist, mit bindungen der Discordanten, propor-
tionibus ^c. ohn einigs bedencken gebrauchen darff; doch daß er den modutn vnd
die Ariam nicht gar su sehr vberschreite, sondern in terminis bleibe.
Fuga: Ricercar,
dieweil in tractirung einer guten Fugen mit sonderbahrem fieiß vnd
nachdencken aus allen winckeln zusammengesucht werden muß, wie vnd vif mancher-
ley Art und weise dieselbe in einander gefügt, geflochten, duplirt, per directum et
indirectum seu contrarium, ordentlich, künstlich vnd anmuhtig zusammen gebracht,
'vnd biß zum ende hinausgeführt werden könne.«
J. P. Sweelinck und seine direkten deutsehen Schüler. jg7
Mehrfach yon der festgestellten Form abweichend ist die lydische
Fantasie über » Ut re mi fa sol la, ä 4 voci. Jehan Petersen Swelling,
1612^,^ Der Komposition liegt abwechselnd das hexachordum naturale
und molle zu Grunde, welches bei jedem Auftreten seinem ganzen
Umfange nach auf- und absteigend benutzt wird. Dies geschieht
beim ersten Haupttheil in ganzen, beim zweiten in halben, beim
dritten in Viertel- und Achtelnoten. Der erste Haupttheil beginnt
mit einem Gegenthema,
WVIZ ^ -pzi-^ ^=g=: p" f— ^^
-AVi..
welches dreimal durchgeführt wird. Es wird aber nicht Note für
Note beantwortet, sondern wandelt sich allmählich um, bis es endlich,
noch vorm Beginn des zweiten Haupttheils, ganz übergeht in eine
neue Gegenmelodie; diese macht dann wieder einer anderen Platz.
Unter stetiger Steigerung der Kontrapunkte und des Themas in ihrer
Beweglichkeit gelangt die Fantasie bis zur Engführung in Achtel-
noten und schließt dann mit einer viertaktigen Passage ab. Die Be-
handlung des Hexachords war, wenn man yon den discantisierenden
Stücken des 16. Jahrh. absieht, im 17. Jahrh. anscheinend sehr be-
liebt. Dr. John BuU^ hat eine Reihe von Variationen darüber ge-
schrieben. Nach Frescobaldis ^ Vorgang behandelten das Hexachord
noch Froberger, G. Muffat u. a. Von den Norddeutschen ist S cheidt
zu nennen. Dieser benutzte übrigens Sweelincks Gegenthema als
Hauptthema eines Echo und einer dreistimmigen Fantasie.^
Die drei Fantasieen muff die manier eines Echo«^ wenden sich ganz
von der großen dreitheiligen Form weg; die Berechtigung, den Namen
^Fantasiea zu führen, beruht nur auf der motivischen Um- oder
Weiterbildung, die in ihnen durchgeführt wird. In der ersten,
jonischen Echofantasie wird 26 Takte hindurch eine Melodie, welche
diatonisch auf und absteigend eine Quarte oder Quinte durchläuft,
von den beiden untersten Stimmen kanonisch vorgetragen. Vom
26. Takt an entrollt sich nns sodann ein buntes, oft wechselndes
Büd. Die Grundmelodie wird auf die mannigfaltigste Weise motivisch
verändert. Auf diesen in seinen Farben sich stets verändernden
Faden sind die ganzen perlenden Echomanieren aufgereiht. Anders,
aber nicht minder geschickt ist die Weiterbildung in der zweiten,
^ Virginalbuch der Königin Elisabeth.
2 Vgl. S. 158. Anm.
8 Frescobaldi- Ausgabe von Haberl, S. 74.
* Tab. Nova U 2 und 6.
5 Eitners Ausgabe, S. Iff.
Igg Max Seiffert,
äolischen Echofäntasie. Diese beginnt mit einer diatonisch eine Quarte
durchlaufenden Melodie, also ähnlich wie die erste Echofantasie; die
Melodie erscheint übrigens im weiteren Verlaufe auch chromatisch
erweitert.^ Die innere Entwickelung wird nun durch eine geschickte
Verkettung wechselnder Kontrapunkte herbeigeführt. Die letzten
kontrapunktischen Bewegungen irgend einer Stimme beim Eintritt
einer Kadenz werden von einer anderen Stimme aufgenommen und
von den übrigen so lange imitierend weitergesponnen, bis sich auf
dieselbe Weise wieder eine andere kleine Melodie in den Vorder-
grund stellt. Beide Echofantasien beginnen also zwar fugenartig,
die Fortsetzung bleibt aber nicht so kompakt, sondern löst sich mehr
oder weniger in die glitzernden Echofiguren auf.
Auch zu dieser instrumentalen Form bekam Sweelinck aus Italien
die Anregung. Das Echo wurde zuerst in der italienischen Schäfer-
poesie angewendet; es fand dann bald seinen Weg nach dem Süden
Deutschlands und wurde hier ein beliebtes Kunstmittel für Kom-
ponisten weltlicher, und geistlicher Lieder. Sweelinck übernahm es
auch in die instrumentale Musik. Die beiden von ihm ausgeprägten
Arten der Echobehandlung haben sich durch die ganze norddeutsche
Orgelschule hindurch erhalten. Auf dem Grunde oder unter der
Oberfläche von ruhig fortschreitenden oder nur leicht bewegten Har-
monien ergeht sich eine rhythmisch lebhafter gestaltete Stimme,
welche meist kurze Melodietheile zuerst in einer höheren, dbnn in
einer tieferen Lage (oder umgekehrt) ausführt. Längere oder kürzere
Tonfolgen und Akkordverbindungen werden entweder ganz oder in
ihrem letzten Theile in derselben Lage, in welcher sie zuerst er-
tönten, wiederholt. Mit diesen beiden Arten verbindet nun Swee-
linck ein anderes Kunstmittel niederländisch-italienischer Herkunft,
die Wechselchörigkeit Willaerts. Ein zweistimmiger Satz wird von
2 äqualen Stimmen vorgetragen; am Schlüsse setzen 2 andere Stim-
men ein, die dasselbe nur eine Oktave tiefer oder höher wieder-
holen. Eine andere Art ist es, wenn drei Stimmen innerhalb der
Vierstimmigkeit einen Satz ausführen und dieser in höherer oder
tieferer Lage wiederholt wird, indeß die beiden Mittelstimmen ruhig
weitergehen. Die Wechselchörigkeit war ebenfalls, wie das Echo,
in Deutschland bald bekannt geworden ; sie war durch die Koloristen
sogar schon in die deutsche Orgelmusik, wenn auch noch nicht als
selbständiges Kunstmittel, eingeführt worden. Als solches erscheint
sie erst bei Sweelinck und seinen Schülern. R. Eitner^ macht nun
1 Vgl oben S. 163.
2 »Hassler und Sweelinck,« M. f. M. IV. S. 41 ff.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. ] gQ
auf eine Übereinstimmung in diesem Punkte zwischen H. L. Hassler
und Sweelinck aufmerksam, die nach dem Gesagten nicht weiter auf-
fällig sein sollte. Beide fanden ihie musikalische Ausbildung an der
Stätte, wo Willaert gewirkt und die beiden Gabrieli noch wirkten.
Von einer geistigen Beeinflussung beider Männer gegenseitig kann
schon gar nicht die Bede sein. Zunächst ist es schon sehr unwahr-
scheinlich, daß sich beide persönlich gekannt haben ; Sweelinck war,
als Hassler 1584 nach Venedig kam. bereits vier Jahre lang in seiner
Heimath ein angesehener Organist. Von einem Einfluß Sweelincks
auf Hassler könnte man nur, wie wir später sehen werden, mit Be-
zug auf das erste Dezennium des 17. Jahrh. reden; — und damals
war doch Hassler schon längst zu einer selbständigen Meisterschaft
gelangt. Die gemeinsame Art der Ausbildung ist ausreichend und
allein zulässig, um die Übereinstimmung im Gebrauch gewisser Kunst-
mittel bei beiden Männern zu erklären.
Sweelincks Stellung zur zweiten freien Orgelform, der Toccate,
erkennen wir aus 6 Vertretern^ derselben. Auch in ihnen ist er,
was die Form anlangt, von venetianischen Einflüssen nicht frei ge-
blieben. Cl. Merulo und A. Gabrieli hatten jeder in besonderer
Weise die Toccate bestimmt:^ ersterer, indem er die ruhig fließen-
den Harmonien und die strömenden Passagen, die gegensätzlichen
Elemente der Toccate, sich beide mehr durchdringen ließ, ohne doch
ihren Gegensatz aufzuheben; jener, indem er beide Gegensätze durch
einen fugierten Zwischensatz trennte und vermittelte. In Merulos
Art komponiert sind nun die ersten 5 Toccaten Sweelincks. Breite
und volle Harmonien gehen in schneller fließende Melodien über.
Wechselchörigkeit, Sequenzen, kurzes imitatorisches Stimmengewebe,
echoartige Wiederholungen, gebrochene Intervalle und Akkorde: das
' sind die einzelnen Bestandtheile, aus deren buntem Spiel sich auch
bei ihm die Toccate zusammensetzt. Mehr Gabrieli'schen Gepräges
ist dagegen die letzte, äolische Toccate. Nach einem motivisch ge-
arbeiteten Präludium, welches zu einer phrygischen Kadenz leitet,
setzt die Toccate mit einem fugierten Satze ein, nach dessen Schluß
erst sich jene Toccatenelemente einfinden.
Überblickt man den bisherigen Gang der Darstellung, so müssen
wir zugestehen, daß Sweelinck, was die Formen betrifft, bei den
Venetianern gelernt hat. Bei ihnen fand er die Vorbilder seiner
Fantasien, Echos und Toccaten. Ein Moment ist es aber, welches
1 Fünf befinden sich im Mscr. des Grauen Klosters, eine im Virginalbuch der
Königin Elisabeth ; drei der ersteren s. in Eitners Ausgabe S. 32 ff.
2 Ritter a. a. O. I S. 18, 23.
j 70 Max Seiffert,
seinen Fortschritt über jene hinaus kennzeichnet, nämlich die Kunst,
einen gegebenen melodischen Grundstoff mit allen zu Gebote stehen-
den instrumentalen Mitteln rhythmisch -motivisch weiter- und um-
zubilden. Diese Beobachtung giebt uns überhaupt das Mittel an die
Hand, die Kompositionen der Merulo-Gabrieli'schen Schule von denen
der Niederländer und deutschen Schüler Sweelincks scharf zu unter-
scheiden. Jene erscheinen uns, weil sie der motivischen Fortbildung
entbehren und sich an der mannigfaltigen Kombination festgehaltener
Themata genug sein lassen, wie ein klares, durchsichtiges und glattes
Gewebe; diese dagegen scheinen auf den ersten Blick hin ein rauhes,
verworrenes und unklares Gefüge zu haben. Umgekehrt dazu aber
im Verhältniß steht der innere musikalische Werth. Die italienischen
Orgelkompositionen erfreuen durch ihren Glanz auf der Oberfläche,
unter welcher sich aber kein tieferer Kern birgt. Wer sich dagegen
von der rauhen Außenseite der norddeutschen Orgelmusik nicht ab-
schrecken läßt, sondern durch jene hindurchdringt, dem offenbart
sich die Kraft der Empfindung und die Tiefe des Gemüths, welche
ihr innewohnen. Diese Erwägung bestimmt uns auch, ein Ricercare,
welches Ritter, * der Autorität seiner Vorlage mit vollem Rechte
folgend, Gio. Gabrieli zuweist, Eitner^ aber mit nichts beweisen-
den Gründen für Sweelinck in Anspruch nehmen will, nicht als
Sweelinck'sche Komposition anzuerkennen; weder Form noch Kom-
positionstechnik spricht für Sweelinck.
Die Kunst der motivischen Weiterbildung, welche Sweelinck
also bei den Italienern nicht lernen konnte, fand er bis zu einem
hohen Grade ausgebildet vor in den Variationen der englischen Vir-
ginalmusik. Die Variation war eine beliebte Form in der Hausmusik
des 16. Jahrb. sowohl bei Italienern wie bei Deutschen. Das vor-
züglichste Hausinstrument, die Laute, war aber natürlich nicht im-
stande, die Variationen bis ins Einzelne hinein charakteristisch und
fein zu zeichnen. Die Koloristen, welche den Gesichtskreis der Orgel-
musik auch auf das weltliche Gebiet hin erweiterten, führten ihm
so zwar das akkordische harmonische Element zu, jedoch bestand die
Variationstechnik nur in ihrem Kolorieren. Allen Völkern weit
vorauf auf diesem Gebiet waren schon im 16. Jahrh. die Engländer.
Material, um dies Verhältniß genügend überblicken zu können, bietet
Farrencs Publikation ; 3 es wäre nur zu wünschen, daß endlich einmal
1 a. a. O. n S. 18 f. aus Mscr. Fol. 191 Berlin; die erste Hand bezeichnet
Gio. Gabrieli als Komponisten, ohne von der zweiten korrigiert zu werden.
2 seine Kritik über Ritters Werk, M. f. M. XVII S. 73 ff.
3 »X« tresor des pianiste»* II Paris 1863, Heft 1: »Parthenia . . • eotnpoaed
hy three famous Masters: W, Byrd, Dr, J, Bull ^' O, Gibbons.»
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. |7J
alle Quellen hierfür wieder ans Licht gezogen würden. Besonders
zeichneten sich die drei großen englischen Zeitgenossen Sweelincks
aus: "William Bird durch melodischen Stimmenfluß und liehlich-
innigen Ausdruck; Orlando Gibbons und John Bull durch virtuose
Technik und Kraft. Ihnen stellt sich Sweelinck ebenbürtig zur Seite.
Wir kennen von Sweelinck 5 Variationsreihen : 3 über weltliche
Lieder, 2 über Choralmelodien. Zwei Faktoren sind es, welche das
Wesen der ersteren bestimmen: die Folge der Grundakkorde und
die Umbildung der Melodie. Die mit der Melodie mitgegebenen
Harmonien werden alle Variationen hindurch festgehalten;^ ein Prin-
zip, welches in der Lautenmusik und von den Koloristen streng
beobachtet wird, und welches überhaupt von jeher mit der Variation
eng verknüpft gewesen zu sein scheint. Nach dieser Richtung
konnten also Sweelincks Schüler der deutschen Kunst nichts Neues
bringen; wohl aber in dem zweiten Punkte. Auf dem feststehenden
harmonischen Grunde entfalten sich die verschiedenen Gebilde. Die
Melodie wird in mannigfacher Weise melodisch und rhythmisch
g^uidert; ihre einzelnen Töne werden umspielt. Letzteres geschieht
aber nicht nach der Koloristen Art, so daß das ganze Figurenwerk
nur als ein äußerlich aufgeklebter Zierrath erscheint, sondern so,
daß die Umspielungen frische, lebenskräftige und selbständige Ge-
danken sind, welche motivisch das ganze Stimmengeflecht durch-
dringen und mit den Harmonien innig verschmelzen. Die Koloristen-
Variationen rufen den Eindruck hervor, als ob sie versuchen wollten,
die blendende Weiße einer Marmorstatue mit einem ganz durch-
sichtigen Schleier zu verdecken. Ein ganz anderes Gesicht haben
die englischen und niederländischen Variationen. Man sieht die
plastisch hervortretenden Formen des harmonischen Gefuges; ihnen
schmißt sich jedoch ein farbenprächtiges, viel gefaltetes Gewand an,
welches den Linien nachgiebig folgt. In der Gruppierung folgt
Sweelinck dem Prinzip der Steigerung. Den Anfang machen die
voller gesetzten, mit Imitationen ausgestatteten Variationen, dann
folgen die lebhafter gestalteten, deren Figuren sich in immer flüssigere
Elemente auflösen. Die verschiedenen Variationen lassen sich im
einzelnen auf zwei Grundformen zurückführen, wir unterscheiden
motivische und figurierende Variationen. Zur ersten Gruppe gehören
diejenigen, in welchen die Melodie freikanonisch von zwei Stimmen
vorgetragen wird, während die übrigen Stimmen die harmonische
Gresamtwirkung herstellen. Femer rechnen dazu alle, in welchen
1 Kur in seltenen Fällen wird davon der motivischen Arbeit zu Liebe abge-
wichen.
172
Max Seiffert,
eine geschickte und zwanglose Verkettung oder Aufeinanderfolge
wechselnder Motive die Umkleidung für den inneren Kern der Grund-
akkorde abgiebt. Als figurierende Variationen können wir diejenigen
bezeichnen, in welchen die Melodie durch allerhand Figuren, Lauf-
werk, gebrochene Intervalle und Akkorde begleitet wird oder selbst
in diese Elemente aufgelöst wird.
Der mixolydischen »Allemande: Unter der linden grüne n^ liegt
die Melodie zu Grunde:
$
T
♦i-
e
£
1:
t=F
^JJIp. rüT
^-^-^-cf
Text wie Melodie stammen beide aus England. Hier sang man die
Melodie 2 zu dem Texte : i^All in a garden twee lovers sai at ease.ft In
den Niederlanden muß der deutsche Text zu Anfang des 17. Jahrh.
bekannt gewesen sein. Im Liederbuch des Thysius^ wird eine
Allemande des Grafen von Lingen »AUemande Linde «r genannt,
welcher Name dem Schreiber offenbar geläufiger war. Die späteren
Schicksale des Textes und der Melodie nachzuweisen, ist die Auf-
gabe des Liedforschers. Es genügt hier darauf hinzuweisen, daß die
Melodie, allerdings nur im ersten Theil unversehrt, sich erhalten hat
zu dem Liede: »Drei Lilien, ij, die pflanzt' ich auf ein Grab.«* Die
beiden anderen Variationen sind von Sweelinck und seinem Schüler
Sam. Scheidt, gemeinsam komponiert. Von letzterem rühren her
die Variationen 4, 5 und 6 über die »englische Fortuna «r,* Variation
2 und 4 über die y>Paduana Hispania«]^ die übrigen sind also Swee-
^ Mscr. Fol. 191 Berlin, Fol. 10 r; Mscr. des grauen Klosters; Tgl. oben S. 155.
Anm. 1. Eine Vergleiohung beider Vorlagen ist wichtig für die Versetsung^zeiohen ;
beide haben in Takt 5 übereinstimmend T
2 W. Chapell, Populär Music of the olden^Time, 1 London, 1855-1857,
S. llOff. ; er hat übrigens in Takt 5 der Melodie Ss.
^ Tijdschrift der Vereeniging voor Noord- Nederlands Muzieckgtsehiedenis,
J. P. N. Land: »JJ«< Luithoek van Thysius,^ Deel II S. 289 f.
^ Man vergleiche die Kommersbücher.
^ Mscr. des grauen Klosters ; vgl. ob. S. 155. Anm. 1.
0 ebenda; s. Eitners Ausgabe S. 48.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. ^73
linck zuzuschreiben. Die »englische Fortuna u war ein in England
und außerhalb desselben beliebtes Lied. Eine Yirginalbearbeitung
lieferte W. Bird für das Virginalbuch der Königin Elisabeth.^ Ver-
schiedene Lesarten der »Paduana Htspantm^ theilt Land mit; darunter
auch die Melodie Sweelincks, jedoch nach Eitners unkorrekter Aus-
gabe. Die richtige Lesart deckt sich aber ziemlich genau mit der
von Chappell^ mitgetheilten Fassung. Es ist beachtenswerth, daß
Sweelinck mit der technischen Behandlungsweise zugleich den melo-
dischen Stoff der englischen Yirginalmusik entnahm.
An dieser Stelle sind noch einige Bemerkungen über eine kom-
positorische Eigenart Sweelincks einzuschalten. Er liebt es nämlich,
kleinere oder größere Strecken von bestimmten Tonfolgen und -Ver-
bindungen ein oder mehrere ^Male auf verschiedenen Tonstufen
nach einander zu wiederholen, also Sequenzen zu bilden. Eitner^
bemerkt i^hierzu: »Bei den Orgelstücken tritt die Vorliebe für Se-
quenzen sehr hervor und seine Nachfolger haben nicht versäumt,
gerade dieses billige Hilfsmittel bis zum Überdruß zu kultiviren.a
Vom Standpunkte eines modernen Musikers aus mag dies Urtheil
wohl berechtigt sein, das 17. Jahrh. dachte aber über die »Billigkeit«
offenbar anders. Die Italiener führten, wie die Wechselchörigkeit
und das Echo, so auch die Sequenzen ein, um den Text musikalisch
lebendiger zu illustrieren; so gewöhnte man sich, .mit den Sequenzen
den Begriff eines gesteigerten Affects zu verbinden. Aus der Vokal-
musik gelangten jene auch [^in die Übertragungen der Koloristen,
wurden aber damit noch nicht selbständige, instrumentale Ausdrucks-
mittel. Dies geschah anscheinend erst durch die Anregung der
engUschen Virginalmusik. Das englische und schottische Volkslied
jener Zeit braucht zum Aufbau seiner Melodie nur sehr geringe
Mittel. Sie setzt sich zusammen aus wenigen Melodiestückchen, die
mannigfach mit einander kombiniert und wiederholt werden. Es
war natürlich, daß sich die Virginalbearbeitungen der einfachen
musikalischen Struktur anpaßten und daß überall da, wo gleiche
Melodietonfolgen eintraten, sich auch gleiche Harmoniefolgen ein-
stellten, welche dann in den Variationen die Wiederholung von
^ Charles Bumey, A General History of Mustc, III London, 17S9, S. 118.
* Tijdächrift der Vereenig, v. N.-Nederl. Muzickgeschied., Deel II 1885, S. 312.
Eine kleine Bezichtigung möge hier Platz finden. Eitner theilt als Titel mit:
•Paduana et Hispania, M, J. P. S, S, O. ;« Land konjiciert daraus: »Faduana de
Hispania.9 Im Mscr. des grauen Klosters steht aber ganz deutlich: »Paduana
Ritpania, M. J, P. S, et S. S, O.«
» Populär Musie of the olden time, I London 1855-1857, S. 240 f.
* Vorrede zu seiner Ausgabe, S. VI.
174 Max Seifltert,
Figuren mit sich brachten, welche aus dem Akkompagnement
entsprangen und sich der instrumentalen Technik anpaßten. Hier
war also das Kunstmittel der Sequenzen ein rein instrumentales
und Sweelinck vermittelte es durch seine Schüler an die norddeutsche
Kunst. Wenn spätere Meister alle bis dahin vorhandenen Kunst-
mittel mit Auswahl zu benutzen und jedes geschmackvoll an seine
richtige Stelle zu setzen verstanden, so darf man dies noch nicht
vom Anfang des 17. Jahrh. verlangen. Die Meister dieser Periode
leisteten das Ihrige, indem sie das neue, noch ungewohnte Kunst-
mittel für ihre Technik geschmeidig zu machen suchten.
Die beiden Choral Variationen sind über ein ^^Da pacema^ und
über die Melodie des 3. Psalms^ komponiert. Letztere ist die noch
heute zu dem Liede: »Wenn wir in höchsten Nöthen sein« übliche
Melodie; sie hat bei Sweelinck eine etwas abweichende Fassung:
' ^ f^ S^ ^ ^'
■Sh
■f-
■^ ^ ^ ^ <9
3^_^_25-
X
—^' r^ <g ^-
Die Behandlung beider Melodien ist prinzipiell verschieden von der
weltlichen Liedvariation. Die Melodie bleibt in allen Variationen
unverändert; nicht sie, sondern ihr kontrapunktisches Gewand wird
variiert. Damit ist gleichzeitig ausgesprochen, daß die begleitenden
Kontrapunkte zu den einzelnen Melodietönenen nicht immer wieder
dieselben Harmonien andeuten, wie bei der Liedvariation, sondern
daß sie ihren Standpunkt möglichst wechseln. Das Formenprinzip
der Choralvariation ist es also, den der Melodie innewohnenden har-
monischen Keichthum durch die begleitenden Stimmen möglichst
allseitig zu erschließen und zu entfalten. Denselben Gesichtspunkt
hatte die Entwickelung der deutschen Orgelmusik von K. Paumann
an im Auge. Die höchsten Bresultate, welche hier erzielt wurden,
finden wir bei H. Büchner.^ Hier machte aber die Entwickelung
Halt ; sie kam nicht über den vokalen Stil hinaus. Auf demselben
Wege waren dagegen die Engländer dazu gelangt, die begleitenden
Kontrapunkte zu abgerundeten instrumentalen Figuren und Motiven
zu verdichten. 4 Dasselbe ist bei den Niederländern der Fall. Peter
1 Mscr. Fol. 191. Berlin. Fol. 26 v.
2 Yirginalbuch der Königin Elisabeth..
3 Karl Paesler, Fundamentbuch von Hans Buchner, Yierteljahrsschr. f. M.
1889, S. 84 ff.
^ Proben aus John BuUs Variationen über das Hexachord und ein Miserere
bei Charles Burnev, a. a. O. S. 115 ff.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. ilb
Coxnet^ hat eine Choralbearbeitung hinterlassen, deren erster Ab-
schnitt den Choral motettenartig durchfuhrt. Der letzte hält zu der
Melodie eine Gegenmelodie fest, welche Yop den Begleitstimmen
motettenartig durchgeführt wird. Sweelincks j>Da pacem«^ in wel-
chem die Melodie viermal auftritt, ist in der Form dem zweiten
Haupttheil einer Fantasie nachgebildet. Ausgehend von der Zwei-
stimmigkeit,. erweitert sich der Satz beim zweiten Einsetzen der Me-
lodie zur Drei-, beim dritten zur Vierstimmigkeit. Zu Anfang führt
die zweite Stimme gemessene und einfache Begleitungsfiguren aus,
die sich dann allmählich in der Lebendigkeit steigern. Sowie aber
die Dreistimmigkeit erreicht ist, macht sich immer mehr die imitie-
rende und motivische Schreibart geltend. In dem dritten Abschnitt
befindet sich ferner ein dreizeitig gemessener Zwischensatz. Von der
Fantasieform abweichend ist dagegen die Bildung der Kontrapunkte.
Diese imitieren namentlich in den Einsätzen die Anfangsnoten der
Choralmelodie; bevor die Melodie zum vierten Male ertönt, wird sie
motettenartig durch ein aus ihr gebildetes Motiv in den drei Begleit-
stimmen eingeleitet. Der dritte Psalm wird in 5 selbständigen, von
einander getrennten Variationen behandelt; die ersten beiden sind
zwei-, die anderen dreistimmig, — eine Anlehnung an die Fantasie-
form liegt also nicht vor. Die 1. und 4. Variation zeigen motivische
Anlehnung an die Choralmelodie; die übrigen drei figurieren ganz
frei in der Art, wie es John Bull auch thut. Wir finden also bei
Sweelinck wohl einige Ansätze zu späteren Formen der Choral-
bearbeitung vor, zu völliger Klarheit ist aber bei ihm noch keine
ausgeprägt. Diesen Fortschritt in der Kunstentwickelung zu machen,
blieb seinen deutschen Schülern und vor allem Scheidt vorbehalten.
Man unterschätzt ihr Verdienst auf diesem Gebiet, wenn man das
Unheil Eitners^ als richtig unterschreibt, welcher von Scheidt und
damit zugleich von seinen Mitschülern sagt: »Nirgends geht Scheidt
über sein Vorbild hinaus, meistens erreicht er seinen Meister nicht.«
Wir haben bis jetzt von Sweelincks Orgel- und Klaviermusik
gesprochen, ohne die Grenzen und die Berechtigung dieser Bezeich-
nung näher nachzuweisen. Wenn wir dies jetzt nachholen, so ist
zunächst zu bemerken, daß uns die Überlieferung keine direkte Aus-
kunft irgend welcher Art ertheilt. Auf indirektem Wege werden
wir jedoch genügende Klarheit erhalten. Wir haben gesehen, daß
Sweelinck sich aus Italien die Fantasie-, Echo- und Toccatenform
mitbrachte, daß er sie aber durchdrang mit Ideen, welche ihm die
» Mscr. Fol 191 Berlin, Fol. 28r.ff. Mitgetheilt bei Ritter, a. a. 0. II S. 63 f.,
aber ungenau in den Verzierungen.
* Acht tes-stemmige Psalmen^ Einleitung von F. H. L.. Tiedeman, S. 24 i
176 ^*^ Seiffert,
englische Yirginalmusik eingegeben hatte. Die Form verdankte er
Italien ; den Inhalt aber, den er hineinströmen ließ, England. Es
liegt für uns nahe, hior auch die Antwort auf die Frage, welche wir
gestellt, zu holen. Die Hauptrepräsentanten der Tasteninstrumente
in England waren die Orgel und das Yiirginal, ein spinettartiges
Instrument. Der Ton des letzteren hat zwar immittelbar nach dem
Anschlage, wozu ein gewisser nachhaltiger Druck des Fingers er-
forderlich ist, etwas Spitzes, Hartes und Durchdringendes an sich.
Dies verliert sich jedoch sehr schnell und macht einem sanften und
weichen Nachhall Platz. So kommt es, daß breite Akkorde dem
Yirginal eine mächtige Klangfülle entlocken, daß diese aber durch-
sichtig genug ist, um die musikalische Struktur des Gehörten nicht
völlig zuzudecken. Das Instrument eignet sich also für eine poly-
phone, akkordliche und passagenartige Behandlungsweise ebenso gut
wie die Orgel. Diese hat dem Virginal gegenüber zwar den Vor-
theil größerer Tonfülle, dafür aber andererseits den Nachtheil
größerer Schwerfälligkeit. Es ist nun bezeichnend, daß die Eng-
länder ihre Kompositionen vor allem dem Yirginal zuwiesen. Die
Orgel begünstigte nicht eben die Neigung für flüchtige, hin und
her streifende Passagen, für das Spiel gebrochener Intervalle und
Akkorde; alles dies war aber der Spielweise des Yirginals adäquat.
Spielte man nun ein für das Yirginal komponiertes Stück auf der
Orgel, so ist klar, daß man dazu nicht der Hilfe des Pedals benöthigt
war, welches jedem Yirginal fehlte. Ausgeschlossen war es freilich
nicht, daß hier und da ein Baß ton, um der Harmonie ein festeres
Fundament zu geben, vom Pedal mitgehalten wurde. Aber das
Pedalspiel war dann doch kein obligates — und so blieb es auch in
England bis in die Mitte des 17. Jahrh. hinein. Aus diesem Ghrunde
hat Ritters^ Ansicht, daß nicht das Yirginal, sondern die Orgel den
englischen Klavierstil bestimmt hätte, für uns wenig Wahrscheinlich-
keit. Wären die englischen Komponisten wirklich von der Orgel-
technik ausgegangen, so wäre das Yirginal ohne ein Pedal nicht im
Stande gewesen, dasjenige wiederzugeben, was die Orgel mit ihren
größeren Hilfsmitteln zu leisten vermochte. So müssen wir also für
England dasselbe schließen, was wir von Italien bis über Frescobaldis
Zeit hinaus wissen, daß nämlich die großen Orgelmeister ihre virtuose
Technik nur auf die Manuale beschränkten. Auch für die deutschen
Koloristen kam, sowie sie ihre Tabulaturen dem Klavier geöffnet
hatten, das obligate Pedal der vorhergehenden Meister in Wegfall.
Wir dürfen nun wohl annehmen, daß Sweelinck in der Spiel-
1 a. a. O. I S. 45.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutaohen Schüler. j^77
^^^ ■ ■ I. ^ -■■ ■ _i ■ I . i.i ■ I ■ I ■■■■■IUI» ■— « I ■ ■ ■ . ■ .!■ ^^mm,^^ ■■■■■■. I M^ I ■ JS
technik der Orgel dem Gebrauche der Engländer folgte, daß er
demgemäB dem Pedal keine obligate Behimdlung zu Theil wer-
den lieB; sondern es nur hier und da verwendete, um etwa einem
in der Tiefe erscheinenden Fugenthema mehr Nachdruck oder
breiten Akkorden durch Unterstiit^ng des tiefsten Tones mehr Fülle
la geben. Ein Herausgeber Sweelinck'scher Kompositionen müfite
sich also mit Vorsicht für die Stellen zu entscheiden wissen, wo er
den Eintritt des Pedals yorschreiben darf. Eitner hat nun in seiner
Ausgabe durchweg obligates Pedal angenommen. In unangemessener
Weise wird so der schwankende Charakter, welcher den Kom-
positionen anhaftet, gänzlich zerstört. Auch der musikalische Bau
der Kompositionen selbst hat darunter zu leiden. Kontrapunkte,
welche innig zusammengehören, sollen halb vom Pedal ausgeführt
werden, weil hier gerade nur Viertelnoten zu leisten sind; die andere
Hälfte, welche in Achtelnoten weitergeht, muß dann rasch das Ma-
nual wieder übernehmen. Und andererseits werden dem Pedal die
kühnsten Sechszehntelpassagen zugemuthet. Dazu bemerkt Eitner^
noch: »Die heutigen Organisten werden wohl Respekt vor den alten
Virtuosen erhalten, und wenn die Kompositionen auch nicht im
Entferntesten mit den Schwierigkeiten der Seb. Bach'schen Orgel-
Stacke zu vergleichen sind, so verrathen sie inmierhin schon eine
bedeutende Technik.a Der sei. Seb. Bach würde den nöthigen
Respekt auch nicht haben vermissen lassen, wenn er gesehen hätte,
was Sweelinck schon geleistet haben soll. Müssen wir schon bei
Stücken, deren Charakter dem kirchlichen Geist nicht widerspricht
und welche sich zwanglos in den Gang des Gottesdienstes einfügen
ließen, die Annahme eines obligaten Pedals als inkorrekt bezeichnen,
80 müssen wir die Existenzberechtigung desselben überhaupt be-
streiten bei Stücken, welche mit der Kirche absolut nichts zu thun
haben. Seine Fantasien, Echos, Toccaten und Choralvariationen
mag Sweelinck zur Einleitung oder am Schlüsse des Gottesdienstes
in der Kirche haben höien lassen; auf keinen Fall that er dies mit
den weltlichen Liedvariationen, dagegen mußte sich der Geist der
Kirche auflehnen. Hierauf weist schon, die verschiedenartige Be-
handlung des Liedes einer- und des Chorals andererseits hin ; Scheidt
wird uns später diese Ablehnung bekräftigen. Wir halten also daran
fe8t, daß Sweelincks Liedvariationen für das Spinett ausschließlich,
die übrigen noch für die Orgel mit bestimmt sind und daß, falls letztere
das ausföhrende Instrument war, das Pedal nur gelegentlich, nicht
obligat zur Anwendung kam.
^ Ausgabe der Kompositionen, S. V.
1891. 12
178 Max Seiffert,
Was uns sonst über Sweelinck als Virtuosen überliefert wird,
ist recht wenig. Einstmals soll er sich dazu haben drängen lassen,
was er sonst nicht gern mochte, seinen Freunden etwas vorzuspielen.
Da habe er denn 25 Variationen über das Lied »Z^an lusteliken Mey
is nu in zyf'nen tijdt^ improvisiert. ^ Mag die Anzahl übertrieben sein,
etwas bestätigt uns doch diese Erzählung, was wir durch die Be-
trachtung der Kompositionen bereits wissen: daß Sweelincks Stärke
auf dem Gebiete der Variation lag. Diese drückte seinem ganzen
künstlerischen SchaiFen ihr Gepräge auf. Wir erfahren femer noch,
daß Sweelinck^ einmal vom Käthe seiner Vaterstadt als Sachverstän-
diger beauftragt wurde, zum Geschenk für eine höhere Persönlich-
keit ein Glavicymbel anzukaufen. —
Wir wenden uns nunmehr zum zweiten Theil unserer Betrach-
tung uud suchen Sweelincks Wirksamkeit als Theoretiker und Lehrer
zu kennzeichnen. Unsere älteren Lexicographen berichten, daß
Sweelinck die nJsiüutioni harmonichet Zarlinos übersetzt habe, und
A. Werkmeister^ sagt bei der Aufeählung seiner Quellen für die
Darstellung des doppelten Kontrapunkts: »Im Teutschen weiß ich
auch keine Autares, als das wenige, was Herbst geschrieben, dann
ein Manuscriptj so in Niederländischer Sprache und aus derselben
ins Hochteutsche versetzet, welches doch aus dem Zarlino mehren-
theils genommen ist.« Von Sweelincks Werk besitzen wir weder
ein gedrucktes Exemplar noch ein Autograph, sondern zwei Manu-
skripte, deren Titel den Inhalt als von Sweelinck herrührend be-
zeichnen. Es gilt festzustellen, in wie weit wir dieser handschrift-
liehen Überlieferung trauen dürfen. Es braucht kaum noch gesagt
zu werden, daß hier nicht auf alle theoretischen Einzelheiten ein-
gegangen werden kann; das würde uns zu tief in die Geschichte dei
Theorie der Musik hineinziehen. Wir wollen nur Sweelincks
Thätigkeit auf diesem Gebiete skizzieren und dabei mitnehmen,
was für seine Kompositionen und seine Unterrichtsmethode etwa noch
beaohtenswerth sein wird.
Auf der Hamburger Stadtbibliothek befinden sich unter den
Signaturen »N. D. VI. nr. 5383 und 5384a zwei Quartbände, deren
erster den Titel trägt:
iCamposiion (1) Kegeln
Herrn
M: Johan Peterssen
Sweling
^ Acht zes-stemmige Psalmen, Einleit. v. Tiedeman, S. 16.
2 Tijdachriß, Deel II, Swedinckiana, J. C. M. t. Riemsdijk, 8. 201.
^ Hannonologia Musica, Frankfurt und Leipzig, 1702, S. 110.
J. P. Sveelinck und seine direkten deutschen Schüler. 179
Gewesenen
Yoinehmen Organisten in
Ambsterdam. c
• ■
Nr. 5384 eiweist sich dem Titel nach als eine Überarbeitung von
BL 5383; dieser lautet:
*/. N. D. J. CA. Erster unt Anderter theil, seehr Nöthiger,
iint Nützlicher lehren unt unterrichtungen Von der Compositian,
welche anienglich Von dem weltberühmten musieo Yndt arffcmisten,
Johannes Peiri Schweeling, der alten Kirchen zu Amsterdam hooch-
geachten Organisten^ ist herauß gegeben unt an den tach gebracht,
hemacher aber, Von Etzl: Andern, in Ettwaß Vermehrt, unt Erwei-
tert worden.« Der Schreiber des zweiten Manuskripts nennt sich
^ber: »Johan Adam Beincken gehört diß buch zu, unt haet EB
mit Eigener hant geschrieben, soo geschehen 1670.« Der Inhalt von
nr. 5383 ist kurz dieser:
S. 2 ff. Die verschiedenen Kon- und Dissonanzen.
12 ff. Verbindung von beiden, 2 stimmiger Kontrapunkt,
Note gegen Note und mit gemischten Noten; der
cant. firm, ist gegeben oder frei erfunden.
54 ff. Kadenzen.
60 ff, Auflösung der Dissonanzen.
87 ff. 3-, 4-, 5- und 6 stimmige Kadenzen.
90 Hymnus: Vexüla regis prodeunt,
- 116 ff. Die 8 Kirchentöne.
- 128 ff. 4 stimmige Beispiele, in denen der Charakter der
Tonarten nach ihren melodischen Hauptwendungen
scharf ausgeprägt wird.*
' 160 ff. Die 12 aus der Oktave abgeleiteten toni.
- 177 ff. Gebundener und ungebundener Kanon.
- 187 ff. Doppelter Kontrapunkt. .
- 217 ff. 8 dreistimmige Kanons nher j>Veni creator spirittts.v
" 241 3 stimmiger Kanon über »O Mensch, bewein' dein
Sünde groß, ff )>/. P. Sweling.^
- 263 4 stimmiger Kanon von »A, fVillar.n
' 269 5 stimmiger Kanon über »Wenn wir in höchsten
Nöthen sein.«
- 273 5 stimmiger Kanon über denselben Choral von
»Doctor BtdLü
Hieifor. sind benutzt worden die capp. 29, 38, 42 f., 51 — 56, 58 f.,
61 f., 65 f. aus dem 3. Buch von Zarlinos »Istitutioni harmonichea.
1 Von R. Eitner mitgetheüt, M. f. M. IIl S. 133 ff.
12*
ISO ^^^^ Seiffert,
Nicht daselbst zu finden sind die Kanons von Sweelinck, RuU, die
4 stimmigen Tonartenbeispiele, der Kanon über »Wenn wir in höchsten
Nöthen sein« und die 8 ELanons über »Veni creator spiritus^t um von
kleineren Beispielen ganz abzusehen. Wir müssen nun die Frage
beantworten, ob diese Erweiterungen von Sweelinck oder von dem
Schreiber der Handschrift herrühren; in letzterem Falle wäre das,
was Sweelinck zuzuschreiben ist, nur ein pures Excerpt aus Zarlino
gewesen. In diesem Falle würde dann weiter die Fra^e sein, ob
der Schreiber im Stande war, selbst die Erweiterungen hinzuzufügen,
oder ob er sie aus anderen Quellen schöpfte. Nun erschien 1624 zu
Berlin Johann Crügers nat/fwpsis musices^ (2. Aufl. 1630),^ welche
dieselben 5- und 6 stimmigen Kadenzen, dieselben 4 stimmigen Bei-
spiele für die transponirten wie nichttransponirten Kirchentöne (do-
risch, hypodorisch, phrygisch, hypophrygisch, mixolydisch, hypomixo-
lydisch), den Kanon über »O Mensch, bewein' dein Sünde groBa und
die beiden über »Wenn wir in höchsten Nöthen sein« enthält wie
Mscr. nr. 5383. Wenn aber Job. Crüger nicht alle Tonartenbeispiele
giebt, ferner die Angabe der Komponisten (John Bull, Sweelinck)
unterläßt und dann, statt die Melodien nach ihrem Textanfang zu
bezeichnen, sie nur nthemafi nennt, so können wir daraus schließen,
daß Crüger jene Stücke nicht selbst schuf, sondern sie aus einer
vollständigeren Quelle schöpfte. Da sich bis jetzt noch keine bessere
hat auffinden lasseii, als nr. 5383, so steht die Annahme frei, daß
dies für Job. Crüger die Vorlage gewesen ist. Damit sind gleich-
zeitig Anhaltepunkte gewonnen, um die Entstehungszeit von nr. 5383
zu bestimmen. Nach dem Titel war Sweelinck bereits todt; das
Mscr. müßte also zwischen 1621 und 1624, dem Erscheinungsjahi
• der »8f/nopsisi(, entstanden sein. Wir werden aber durch nichts zur
Annalmie gezwungen, daß Crüger nur die Hamburger Kopie von
Sweelincks kurzgefaßtem Lehrbuch benutzt haben muß; wir können
die Bekanntschaft mit jenen Stücken auch auf andere Weise erklären.
Sweelincks Lehrbuch scheint nämlich abschriftlich bei seinen Schü-
lern weitergelebt zu haben, welche es dann jedenfalls auch zu
Unterrichtszwecken benutzten. Ein Schüler von Paul Siefert in
Danzig, Christopher Bernhard, hat mehrere theoretische Abhandlun-
gen geschrieben, welche in manchen Zügen auf Sweelinck zurück-
weisen. Bernhard war später freilich Stadtkantor in Hamburg imd
konnte hier das Mscr. 5383 kennen lernen; aber der grundlegende
Unterricht Sieferts hatte doch wohl bestimmender gewirkt. S. Scheidt
soU^ einen ritraciatus de oompositionea verfaßt haben, dessen Gliede-
1 Exemplar der seltenen ersten Ausgabe auf der kgL BiblioUi. Berlin.
3 Matthesons Ehrenpforte, Hamburg 1740, S. 106.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. \g\
rang in zwei Theile auch eine Hinneigung zu Sweelincks Arbeit
venath. Von irgend einem Schüler also konnte sich Crüger eine
Kopie verschaffen. Etwa von Scheidt durch Yermittelung des Mich.
PraetoriuB, dessen i^Syntagma mustcumfn für Crüger auch stärk her-
halten mufite. Crüger konnte ja auf einer seiner vielen Reisen mit
irgend einem Schüler Sweelincks in Verkehr getreten sein. Drittens
wären direkte Beziehungen zu Sweelinck selbst nicht undenkbar,
schon wenn man den lebhaften politischen und kommerziellen Ver-
kehr zwischen Holland und Brandenburg damals mit in Betracht
zieht. Dazu kommt, daß Sweelincks Name in Berlin durch eine
Ausgabe seiner Psalmen hierselbst (1616 und 1618)^ wohl bekannt
war. Ist eine von diesen Möglichkeiten eingetreten, so folgt daraus,
daB nicht der Hamburger Schreiber erst, sondern schon Sweelinck
jene Erweiterungen vornahm. Letzteres ist auch für den Fall, daß
Crüger doch das Hamburger Mscr. benutzte, aus inneren Gründen
wahrscheinlicher. Einen Kanon von Dr. Bull aufzunehmen, hatte
Sweelinck bei seinen Beziehungen zu England viel mehr Grund, als
der Schreiber der Kopie; femer kehren in den Kanons gewisse
Wendungen wieder, denen wir in den Orgelkompositionen bereits
begegnet sind. Aus all dem Gesagten ziehen wir also den Schluß,
daß nr. 5383 eine Kopie von Sweelincks Lehrbuch ist. Dieses
entnimmt den Stoff aus Zarlino, ordnet ihn aber selbständig an und
erweitert ihn. Dem Verfasser kommt es nicht darauf an, eine Ent^
Wickelung Schritt für Schritt zu geben und jeden Fortschritt durch
breite Ausführungen zu begründen, vielmelur ist nur das für den
anmittelbaren praktischen Gebrauch Nöthige zusammengestellt. Nicht
viel Worte, sondern Beispiele erläutern.
•Auf S. 280 ff. des Mscr. 5383 schließt sich an das eben Be-
spiochene ein Abschnitt über den doppelten Kontrapunkt an, welcher
hier noch einmal, aber in instrumentalem Sinne durchgenommen
wird. Es ist nicht ganz sicher, ob dieser Abschnitt noch zu dem
Ton Sweelinck entworfenen knappen Lehrplan hinzugehört oder bloß
ein Nachtrag des Schreibers ist. Zu dem Bilde, das wir uns von
Sweelinck gezeichnet, würde der Zug wohl passen, daß er auch in
der Theorie dem Ausdruck gab, was er in der Praxis geleistet
hatte. Er gab der norddeutschen Orgelmusik ein selbständiges in-
strumentales Gepräge ; dieses spiegelt sich wieder in jenem Abschnitt.
Eührt dieser aber nicht von Sweelinck her, so müssen wir ihn einem
Manne zuschreiben, der sein Schüler gewesen war und auf dem von
ihm gewiesenen Weg weiter vorging. Und das kann dann nur H.
Scheidemann gewesen sein.
1 Vgl. die Einleitung von Tiedeman, 1876, S. 64 ff.
n
1S2 ^A^ Seiffert,
Auf S. 354 ff. folgt nämlich wieder ein neuer, von einer zweiten.
Hand geschriebener Abschnitt mit der Überschrift: v/. N. D^ J. C
A. Jean Adam JReincken: Musica Amums. ob schon die weldt ver-
gehet, Musica doch bestehet.! Reincken erklärt die daran sich an-
schließenden Regeln als eine »folge derer Contrapunct ahrten, da
hiefom von gedacht, doch mehrentheils durch andere exempelen voor-
gesteldt.« Was folgt, ist auch thatsächlich nur eine Reproduktion
des eben genannten instrumentalen Abschnittes mit einigen eigenen
Zusätzen. Vergleicht man nun Reinckens Handschrift hier mit der
im Mscr. 5384 vom Jahre 1670, so ergiebt sich, daß zwischen beiden
ein Zeitraum von etwa 30 Jahren liegt. Den letzten Theü von
Mscr. 53^3 schrieb Reincken noch als ganz junger Mann;^ die Züge
sind hier sehr sorgfaltig und noch nicht so ausgeschrieben wie im
Mscr. 5384. Reincken, welcher 1621 zu Deventer geboren wurde
und in jungen Jahren nach Hamburg kam, wurde hier der Schüler
Scheidemanns, später sein Nachfolger. Von ihm kann er nur das
Mscr. 5383 erhalten haben. ^
Mscr. 5384 ist nach dem bereits mitgetheilten Titel eine mehr-
fache Überarbeitung des ursprünglichen Lehrbuches. Hauptsächlich
unterscheidet es sich von diesem durch die offene Gliederung
in 2 Theile; Sweelinck hatte den Stoff fortlaufend und zusammen-
hängend behandelt. Im Nachwort zum ersten Theil sagt Reincken:
jiDüseß voorgeschriebene trc^täpen Von der Music, ist voor denjenigen
Nützlich, soo da einen guten Anfang zur Composition begehren zu
machen, soo sie dan hierinnen waß foort gebracht haben, werden
sie leicht sehen können waß ihnen noch fohlt, soo sie dan daß gelück
haben können, daß Ihnen daß zuhanden kömpft, waß man sonderlich :
Arcana geheimnisse oder Handtgriffe der wahren wißenschafft der
Composition Nennen mach wie diseß Buch In nachfolgendem Trtictaet
guten theilß, benachrichtigen kan, soo Eß anderß Jemant für Augen
kömpft, der die Application oder die schlüßelein, zu Allen und Jeden
Cappittelen Recht weiß zu gebrauchen. Wer diseß haet,- der kan viele
thuen, midt weinich mühe, daer sich andere über Verwundem müBen
und wen manniger die zeidt seines lehbens sich zerarbeitete und ser-
plagte so wirdt Er doch Nichteß gewißeß treffen.« In der Vorrede zum
1 Vgl. Eitner in Tiedemang Einleitung '1876) S. 51, welcher Mscr. 6383 noch
nach 5384 ansetzt Die Orthographie Reinckens ist nicht die um die Mitte des
17. Jahrh. allgemein übliche, sondern ihre Eigenthümlichkeiten erklSren sich, wie
die mitgetheilten Proben zeigen, zur Genüge durch seine Herkunft.
2 Bewiesen würde diese Vermuthung erst, wenn man Schriftstücke von Scheide-
manns Hand mit Mscr. 5383 Tcrgleichen würde. Leider haben sich solcher trotz
angestellter Nachforschungen nicht auffinden lassen.
J. P. Sweelinok und seine direkten deutschen Schüler. |g3
2. Theil sagt Reincken : a AlBda seint Von Yielerley ahrt fugen soo ge-
bunden als auch ungebunden, soo Tirohl in unisono, alß in der quarty
qtdniy und octava, alß auch von den Consequentzen, oder auch Imi-
taiioneny alß auch von dehnen Contrapuncten^ soo wohl Einfache alB
die soo man sonst pfleget gedoppelte Contrapuncten zu nennen, soo
wol In motu Hede (!) alß In motu Contrario , soo wol midt 2, alß
midt 3 und 4 Stimmen, auch nicht allein auffEinerley, sondern auiF
iwey, drey, und mehrerley ahrten Yoor gestellet, umb den begierigen^
lerlinck 2U Veranlaeßen, Ein mehreß vnd Neyeß, dahinzu zusuchen
und zu Erfinden. Solcheß alleß ist Erfunden Von dehnen zwey
YooTtrefflichen Kunsdern alß Erstlich Von den gaer großem und
Ruhmwürdigen siffnor. Josep/o Zarlino Vnd den zu seiner Zeit un-
vergleichlichen Mag: Johanee Petri Swelingky Organist zu Amsterdam
Von der alten Kirchen, disen beiden trefflich Männern haet die
Nachweldt £ß billig zu dancken, waß von der Composition und
dehrer sonderlichen Hantgriffen, In disen volgenden Regelen ist ab^
ge£aBet. c Von Wichtigkeit sind nun für uns einige Stellen, in denen
Reincken über die Art des Unterrichtens und über die Behandlung*
und Ausfuhrung gewisser Kompositionsgattungen spricht. Was er
da sagt, ist, nach dem gewählten Ausdruck zu schließen, in der
Haunburger Schule seit langem üblich gewesen. 9 Man pfleget die
lernenden der Composition Nach dehme sie Etwaß per/ect worden,
anzuführen die Setzung Eineß Contrapuncts gegen Einen Chorael : a
2 : Item wen sie etwa Ein oder 2 oblighen wie Eß die Italianer Nen-
nen, dagegen fuhren Können, weiter anzuführen zu den fugen, und
besonderß, daß sie solche Ins kurtze Imitiren oder kurtz hinter
Einander herbringen können. : Eß ist hier aber nicht alle zeidt Nöhtich,
daß die Nachfolgende Stimme, der Ersten Ihre intervallen, soo directe
imd gäntzlich Nachfolge, wie sie sein solte« Alß dise ist directe und
Eigentlich Mit allen intervaUen, der voorgehenden imitirett Wie
solche kanonischen Choralbearbeitungen ausgeführt werden sollen,
darüber ertheilt folgende Stelle Auskunft: aln Contrapuncten oder
sonsten (1) über oder gegen Einen Chorael . . . nimbt man gern die
Nehgesten Parteyen zusammen Alß In Einem bicinio Alt und discant,
Tenore und Alty Bass und Tenor, Nicht soo wohl Alt und Boss,
Jedoch lieber alß Bass und Discant. NB. Diseß ist Eigentlich zu
verstehen, soo Eß auffß Ciavier oder derogleichen Instrumenta ge^
meinet oder Aber Im singen Alter Motetischen Stylus ist. Woo es
aber Concerten, oder auff andern Instrumenta gerichtet ist, kann man
Bass und discant Im singen Alß auch In instrumental Music Ein^
Comeityn oder Chormessiges duldaen oder fagott und dei^leichen
zusammen setzen.« Die Kanons von Sweelinck sind also nicht bloß
Ig4 ^^ Seiffert,
als kontxapunktische Übungsstücke aufiEufisissen , sondern zu den fiir
Orgel und Klavier bestimmten Choralvariationen hinzuzurechnen.
Praktischen Zwecken dienten also auch die Kanons bei Scheidt im
ersten Theile seiner Tabul. Nova, Das Höchste auf diesem Gebiete
leistete dann später Joh. Seb. Bach. Der kanonischen Behandlung
werden nun von Reincken gewisse Freiheiten eingeräumt: »Man
pfleget auch 2 , oder Mehr fugen zusammen zu führen und zinraer
Nicht cantinuirlich sondern auch wohl Einzelnen auch wohl EinB
umbß andere und dann auch Etzliche mahl zusammen und gegen
Einander, welcheß soo viel kunstlicher, Item. Ein Jede absonderlich,
und per se in imitaiione hinter Einander her soo kurtz alß sichs
schicken, und thuen wil laJBen, wo nicht gantz directe doch Accommo--
dabei, Nuhr pfl^et man solche zusammen zu Accammodiren ^e
sichß am besten schicken wil, alsoo daß Eine Stimme oder parteyj
der Anderen zu Hülffe kömpt, quarten und dei^leichen Verhüten und
Vergüten hilfft, und Endert man auch Ettwa Eine oder andere Nota
iet fuffa: oder punct: oder Verlengert sie sunst oder Verkürtzet sie
etc\ dsdB sichs zusammen Enüich fügen oder schicken Muß.« Die-
selben Freiheiten gestattet sich Sweelinck im 3. Haupttheil seiner
großen Fantasieen in vollstem Maße.^
Das Tonsystem, welches Sweelinck mit seinen Kompositionen
umfaßt, erstreckt sich von C bis a. Die in diesem Raum vorkom-
menden chromatischen Töne sind:
Fis, fis, fis, ffs.
B, b, b. —
— eis, eis, eis.
— gis, giß.—
■""" es, es, es.
Als Grundton zu Dreiklängen werden von ihnen nur B und Es be-
nutzt. Fisj Oisy Gis und Dis (» Es) werden nur als Terzen zu D,
A, E und £r verwendet. Nach der i?- Seite hin bezeichnet der Drei-
klang mit großer Terz, auf £« die äußerste Grenze, nach der j^- Seite
der auf H.
Die Kirchentonarten, deren Charakter Sweelinck in seinem
Lehrbuch noch im alten Sinne scharf ausprägte,^ erscheinen in sei-
nen Kompositionen (wir sehen hier von den mehr vokal gehaltenen
Kanons ab), durch moderne Elemente stark zersetzt. Wir findei|:
dorisch: 2 mal.
^ dorisch transponiert: 4 mal.
1 Man vergleiche hierzu Prätorius' Definition, 8. oben S. 166. Anm. 3.
2 S. oben S. 179.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. }gg
phrygisch transponiert: Imal.
lydisch (i?): Imal.
mixolydisch* 3 mal.
äolisch: 3 mal.
jonisch: 3 mal.
Der dorische Charakter ist in einem Falle ziemlich rein erhalten -^
B wird nur beim Hinneigen zu F gesetzt; in dem andern wird
er aber durch die Anwendung der Chromatik ^Uizlich zerstört In
den transponierten dorischen Stücken ist die Neigung zu Es^ der
Ueinen Sexte, ziemlich stark. Phrygisch ist {gleichfalls durch Chro->
matik stark zersetzt. Lydisch und Jonisch sind fast ganz unser Dur\
ebenso mixolydisch, obwohl sich hier das F noch öfter bemerklich
macht; Äolisch andererseits entspricht ziemlich unserm Moll. Wir
sehen also, wie deutlich Swedinck dem modernen Dur* und Moll-
system zustrebt. Lydisch, Mixolydisch, Jonisch und Äolisch brauch-
ten nicht viel geändert zu werden; und die kleinen Änderungen
nahm auch schon eine altere Zeit Tor. Aber gerade die Tonarten,
die durch ihre besonderen Eigenthümlichkeiten dem modernen System
den energischsten Widerstand entgegensetzten. Dorisch und Phrj^gisch,
worden durch Chromatik auf das Niveau der anderen Tonarten ge-
bracht. Diese Beobachtung werden wir auch bei Sweelincks Schülern
machen können.
Noch eine SchluBbemerkung über die beiden Hamburger Manu--
skripte! Eitner äußert bei der Besprechung derselben den Wunsch,
daB die Maatschappij eine Herausgabe veranstalten möge. Falls
dies geschehen sollte, macht er den Vorschlag, beide Bücher in
einander zu verarbeiten, weil sie sich gegenseitig ergänzten.^ Es
wgre zu wünschen, daß dieser Weg nicht betreten wird. Aus den
obigen Ausführungen geht klar hervor, was Sweelincks Eigenthum
in beiden Handschrifben ist und daß sich in ihnen eben zwei ver-
schiedene Lidividualitäten aussprechen. Sweelincks Art ist knapp
und gedrungen, sie beschränkt sich auf die nöthigsten Worte; an
der Hand von Beispielen lehrt er. Ganz anders geht Beincken vor.
Er setzt die Beispiele in Worte um, erklärt mit aller Umständlich-
keit und vermehrt die ganze Darstellung durch die Mittheilung
eigener Erfahrungen. Dies zeigen uns die oben mitgetheilten Stellen';
außerdem stellt er bei jeder Gelegenheit Vergleiche an zwischen
»der ahen Componüten gegebenen Kegeln« und der »itzigen Neuen
ahrt Composition,^ Wollte man nun beide Werke in einander ver-
arbeiten, so würde man damit nur die Eigenart eines jeden gänzlich
1 VgU Tiedemans Einleitung (1876) S. 53.]
\g^ Max Selffert.
zerstören. Korrekt ist ein Neudruck dieser Manuskripte nur dann,
wenn er die Darstellungen beider Männer unvermengt neben ein-
ander darbietet. Ferner: es ist Sweelinck gewiß als ein Verdienst
anzurechnen, daß er Zarlinos Errungenschaften direkt seinen Schülern
vermittelte und daß er sie anregte, sich, ebenfalls über die Theorie
ihrer Kunst klare Rechenschaft abzulegen; aber die »ungeheure
Tragweite,« welche Eitner Sweelincks Lehrbuch beilegt, müßte nian
erst nachweisen. Im Ghrunde genommen, that doch Sweelinck nichts
anderes, als was jeder Meister that. Er stellte sich die Lehren seines
Meisters zusammen und benutzte sie als Leitfaden für den Unterricht
seiner Schüler; und diese machten es wiederum so. Eine ungleich
wichtigere Aufgabe wäre es zunächst, Sweelincks Orgel- und Klavier-
kompo^itionen vollständig und kritisch bearbeitet erscheinen zu lassen..
Dadurch würde einem viel größeren Forschungskreis der Boden ge-
sichert und geebnet werden. Denn auf dem Gebiete der Lustrumen-
talmusik hat Sweelinck, wie man nun wohl mit vollem Rechte
sagen darf, zusammenfassend, weiterbildend und anregend gewirkt.
Zwar kann man den Gelüsten gegenüber, ihn als »Gründer der Li-
strumentalmusikff hinzustellen, nicht streng genug betonen, daß
Englands Kunst es war, in deren Anschauungen Sweelinck großge-
zogen wurde, und hier die Wurzeln seiner Kunst liegen, daß ferner
Italien den fruchtbaren Boden gewährte, auf welchem sich der kräf-
tige Trieb reich entwickeln und entfalten konnte. Wenn er aber
die künstlerischen Bestrebungen beider Nationen in sich vereinigte, zu
einem einheitlichen Granzen verschmolz und mit den neuen Keimen
den des Sämanns harrenden Boden der norddeutschen Orgelkunst
befruchtete, so hat er sich dadurch eine epochemachende Stellung in
der Geschichte der Orgelmusik errungen.
Samuel Scheidt in Halle. (1587-1654).
Samuel Scheidt^ wurde nach dem unter seinem Bild an der
Moritzorgel in Halle befindlich gewesenen Distichon^ im Jahre 1587
zu Halle geboren, wo sein Vater, Konrad Scheidt, als Salinenmeister
lebte. 3 Wessen Unterricht den Grund zu der musikalischen Aus-
bildung des jungen Samuel legte, erfahren wir nicht. Vielleicht
^ So schreibt er sich selbst, nicht Scheid.
2 Walther, Lexikon, Sp. 548 f. - -
3 O. Kade, M. f. M. X, S. 145 ff.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. \^'J
leitete sie der Vater. Denn in der Familie scheint die Musik ein
lieber Grast gewesen zu sein : wir dürfen dies wenigstens daraus ent-
nehmen, daß ein Bruder Samuels, Gottfried Seh., sich ebenfalls
kompositorLSch' bethätigte.^ Seine künstlerische Vollendung suchte
und fend aber S. Scheidt bei dem berühmten Sweelinck in Amsterdam.
Ztt ihm begab sich Scheidt, wie Ritter^ annimmt, »um das Jahr 160S
wenn nicht früher; wann er zurückkehrte, ist noch weniger zu be-*
stimmen, c Die äußersten Zeitgrenzen lassen sich aber doch angeben.
In dem Begleitschreiben zu dem Dedikationsexemplar seiner Tabulatura
Nova, welches er am 22. Dez. 1624 an den Kurfürsten Johann Georg I.
T. Sachsen richtete,^ sagt Scheidt, daß er sich in der »bestallung« seines
Herren^ des Fürsten und Administrators Christian Wilhelm, nn das
15. Jahr erhalten.« Da er demnach seit etwa der Mitte des Jahres 1609
im Amt war, so muß er spätestens 1607 abgereist sein; aus anderen
Gründen that er dies aber wahrscheinlich schon früher. Daß er
gerade Sweelinck aufsuchte, läßt sich wohl erklären. Süddeutsch-
lands Orgelmusik nahm, zwar wieder einen Aufschwung — neue feste
Formen zusammen mit einer bestimmten Art instrumentaler Technik
wurden hier durch Haßler, Chr. Erbach u. a. gepflegt. Wenn er
keinen von diesen Meistern aufsuchte, so li^ der Grund, was Haßler
betrifit, wohl darin, daß dieser schon zu kränklich war, um sich noch
der Lehrthätigkeit voll hingeben zu können; die andern Vertreter
aber der- süddeutsch-italienischen Bichtung waren mehr oder weniger
mit Scheidt gleichalterig. Dazu kommt noch ein anderer Umstand.
HaUe, an der Hauptverkehrsstraße von den südlichen Handels-
städten einerseits und Tom Kurfürstenthum Sachsen andererseits
nach den norddeutschen Hansestädten hin gelegen, mußte also vom
Süden und Norden immer neue Anregungen empfangen. Haßler,
der einen neuen deutschen Stil geschaffen hatte, befand sich schon
längere Zeit auf der Höhe seines Ruhmes. Wir können annehmen,
daß Scheidt mit dessen Bichtung schon vertraut war, bevor er nach
BoUand ging* Von Norden her machte sich aber zu Anfang des
17. Jahrh. eine Strömung bemerkbar, welche, bezeichnend genug,
von England ausgeht. Englische Musik und Musiker beginnen jetzt
1 Die beiden Brüder komponierten auf den Tod ihres Tielleieht erst kürzlich
Terstorbenen Vaters Stücke: Cantiones aacrae, 1620, nr. 33 u. 35: vLesaum hunc in
chiktm Conradi Seheidt Pigarchae (vulgo fontium Magiatri) in Salinia Sazonicia
parentia opiimi et desiderätiaaimi moeatua author appoauita; »Parodia in obitutn
parentia optime de ae meriti deeantata a Gadofredo Scheidt, authoria jVatreA
2 a. a. O. I S. 183.
3 0. Kade, M. f. M. X, S. 145 ff.; ebenfalls mitgetheilt bei La Mara, Musikei^
briefe, I Leipzig 1886, S. 97 ff., aber unterm 22. Okt. (?)
2gg • Max Seiffert,
in Deutschland einen großen Einfluß auszuüben. An den Fürsten-
höfen, z. B. in Dresden, Stuttgart, Wolfenbüttel, in Städten wie
Hamburg, waren englische Instrumentisten begehrte und angesehene
Leute. Männer, wie Michael Frätorius, Valentin Hausmann u. a.
ließen englische Kompositionen in Deutschland nachdrucken.^ Auf
diesem Wege drang nun der Buhm Sweelincks durch Deutschland
und nach Halle, als der eines Mannes, welcher wie Haßler die Unter-
weisung der großen Yenetianer Meister genossen, welcher aber mit
den hier gewonnenen Errungenschafiten die Technik der englisch-
niederländischen Kunst vereinigte. Hier konnte Scheidt also noch
etwas Neues kennen lernen; und daß er die richtige Quelle auch
fand, wissen wir. Spätestens 1609 kehrte er zurück und trat in der
Mitte dieses Jahres in den Dienst des Administrators Christian Wil-
helm ein.
Halle ^ war im 16. Jahrh. der Sitz eines Erzbischofes gewesen,
welchen das Magdeburger Domkapitel jedesmal zu wählen hatte.
Nachdem sich dieses aber 1561 zur evangelischen Lehre bekannt,
jppostuliertev es nun nicht mehr katholische Erzbischöfe, sondern welt-
liche protestantische »AdminiBtratorenc als Regenten des Landes. Dem
ersten Administrator und späteren Kurfürsten von Brandenburg,
Joachim Friedrich, folgte 159S dessen Sohn Christian Wilhelm, für
welchen aber in Anbetracht seiner Jugend das Domkapitel bis 1608
die Regierung führte. In diesem Jahre nahm er selbst die Zügel
in die. Hand; in die Anfangszeit seiner Regierung fiel also die An-
stellung des 22jährigen Samuel Scheidt. Man hat bisher geglaubt,
Scheidt hätte sein ganzes Leben hindurch als »Organist und Kapell-
meister« gewirkt; über den Ort, an welchem er seine Pflichten zu
erfüllen hatte, war man gänzlich im Unklaren. Unsere Untersuchung
wird alle Angaben in erheblicher Weise modifizieren.
Scheidt selber nennt sich auf dem Titelblatt seiner »Cantiones
S€u^ae% Hamburg 1620, ausdrücklich nur nOrffanista^y auf dem Titel-
blatt des ersten Theils seiner ^»Geistlichen Concertec, Hamburg 16 12,
sowie in der Tabulatura Nova, Hamburg 1624, »Orffanista et Capellae
Magister,fi in seinen späteren Werken dagegen nur »fT« (Htdiensis)
oder nCt (Capellmeister). Die Sachlage, die sich hieraus schon ziem-
lich deutlich ergiebt, gewinnt noch an Klarheit durch folgende No-
1 Jahrb. d. Vereins f. niederdeutsche Sprachforschung, 1887, J. Bolte, das
Liederbuch des P. Fabricius, 8. 66. Es ist übrigens beachtenswerth, daß V. Hauss»
mann sich im Besitz Ton S. Scheidts Kompositionslehre [ygl. S. 180) befand.
2 Die Mittheilungen über die politischen und kirchlichen Verhfiltnisse in HaUe
Terdanke ich den freundlichen Nachricht^'n des Herrn Dompredigers H. Alberts.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. |g9
tuen. Der Wolfenbüttelei Kapellmeister Michael Prätorius^ wurde
Yon Christian Wilhelm des öfteren dazu in Anspruch genommen, in
Halle die Kirchenmusik su leiten. Da ihm die nöthigen ausführen-
den ELräfte fehlten , so wandte er sich an den Kurfürsten Johann
Geoi^ I. y. Sachsen mit der Bitte, ihm auszuhelfen. Dies geschah
im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrh. Femer berichtet uns der Hallen-
ser Chronist Joh. Christoph v. Dreyhaupt:^ »Die Orgel (zu St. Moritz)
hat der gelehrte und damahls berühmte Orgelmacher zu Halle, Esaias
Beck ao. 1569 zuerst verfertiget, selbige haben die Kirchenväter ao.
1624 in der Woche Trinüatis (23.— 30. Mai) abtragen und die
«oietzo (1755) annoch vorhandene samt dem groBen Schüler-Chor,
unter direction des damahligen berühmten Ertzbischofflichen Capell-
meisters Samuel ScheidSy der vorher etliche Jahr bey dieser Kirche
Organist gewesen, auch selbst ein ansehnliches dazu verehret, durch
den Oigelmacher Johann Compenium erbauen, und durch den Kunst-
mahler NicoL Rossmann mit biblischen Figuren und andern Bil-
dern zieren lassen, welche am 14. Febr. 1625 bey einer Brautmesse
zum erstenmahl gebraucht worden.« Scheidt war somit von 1609 bis
Trinitatis 1624 Organist an der Moritzkirche und das »Vermächtnis,«
von welchem spätere Lexikographen berichten, bestand aus einem
ansehnlichen Beitrag zum Bau der neuen Orgel, welcher nach seiner
Leitung vor sich ging. Die Stelle eines Erzbischöflichen Kapell-
meisteia scheint im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrh. nicht besetzt
gewesen zu sein, so daB sich Christian Wilhelm genöthigt sah, Mich.
Prätorius des öfteren nach Halle zu berufen. Im Jahre 1620 dedi-
zierte Scheidt seine im Stil des Prätorius komponierten ibCantionee
Mcraet dem Administrator, welcher mit Anbruch des 30jährigen
Krieges Halle verlassen hatte, um gegen die Kaiserlichen zu kämpfen.
Scheidt wurde infolgedessen, und zwar wohl nach 1620, zum Kapell-
meister ernannt; die Probe für seine Brauchbarkeit hatte er ja ab-
gelegt. Bis zum Mai 1624 hatte er also den doppelten Dienst als
Oi^anist und Kapellmeister zu verrichten. Nach dieser Zeit war er
dann bis zu seinem Tode nur Kapellmeister.^ Als solcher mußte er
in der Hofkirche aufwarten. Es muß hier festgestellt werden, ob
1 LaMara, Musikerbriefe I, Leipzig 1886, S. 57 ff., M. Prätorius schreibt aus
Haue, den 30. April 1616.
2 »Besebreibung des Saal-Creyses Halle,« I Halle 1755. S. 1084. Diese wich-
tige Noti2 verdanke ich der freundlichen Mittheilung des Herrn Dr. Fleischer in
Berlin.
3 Aktenm&ßige Belege ließen sich in den Archiven zu Halle nicht finden.
Vielleicht würde sie eine Nachforschung im Magdeburger Dom zu Tage fördern,
da 1742 die Regierung von Halle nach Magdeburg verlegt wurde und hierher auch
die Akten wanderten.
] 90 ^^^ Seiffert,
die damalige Hofkirche mit dem heutigen Dom oder mit der Monte-
kirche identisch ist. Beim Wegzuge des Kardinals Albrecht aus Halle
1541 war der Dom zugeschlossen worden und er stand leer, bis ihn
1589 der erste Administrator Joachim Friedrich reinigte und 2ur
lutherischen Hof kirche weihte. Als nun Christian Wilhelm 1626
geächtet und 1628 ^ vom Domkapitel wegen dauernden Entferntseins
seines Fürstenamtes entsetzt worden war, begehrte der Kaiser das
Erzbisthum für seinen Sohn. Kaiserliche Truppen besetzten Halle
und der Dom wurde auf kurze Zeit wieder katholisch. Bis 1628
und nach dem Wegzuge der kaiserlichen Truppen sind aber die
lutherischen Gottesdienste im Dom fortgesetzt worden. Die Hof-
kirche und der jetzige Dom sind also identisch.
In dieses Bild passen die Einzelzüge, die wir den Vorreden von
Scheidts Werken entnehmen, sehr wohl hinein. Er sagt:^ »Ob es
wol nicht ohn, das ich guten Leuten mit solchen ynd dergleichen
Psalmen, Fugen, Tocaien. Echo, Passomezerij Canonen vnd andern
Weltlichen Liedern . . . auch wol vber Land gedienet, viel meiner
discipel auch solche wider meinen willen, vnter die Leute gebracht.^
Ist doch in diesem Werck alles mit mehrern vartationibus —
ougiretM Ferner:^ ^Negociis Aulicis distentus, DisciptUos Phüamusos^ id
passtm per literas hinc inde a me petenies, privatim insiituere et w^
formare non possum.ii Als Organist unterrichtete Scheidt viele Schü-
ler, viele instruierte er durch übersandte Kompositionen. Dazu fand
er aber nicht mehr die nöthige Zeit, als sich die Last seiner Arbeit
durch die Übernahme der Kapellmeisterthätigkeit verdoppelte. Um
nun doch allen Wünschen Rechnung zu tragen, entschloß er sich,
seine Orgelkompositionen gedruckt erscheinen zu lassen. In der
ersten Hälfte des Jahres 1624 kam zu Hamburg die Tahidatura
Nova in 3 Theilen heraus. Dies Werk, welches Scheidts Laufbahn
als Organist würdig beschloß, trug seinen Namen durch ganz Deutsch*
land hin.
Wie sehr sich Scheidt bewußt war, hiermit den deutschen Or-
ganisten einen ganz neuen Weg erötfhet zu haben, beweisen die
Worte des Begleitschreibens, welches . er dem Dedikationsexemplar
an Kurfürst Johann Georg L mitgab:^ «Und demnach meine bishero
gepflogene art und manier vff der orgel und instrument zu schlagen,
nicht wenigen beliebet, begehret und gesucht worden, insonderheit,
1 Bitter a. a. O. I S. 184 giebt 1638 an.
^ Tab. Nov. I »an den guthertzigen Musicverstendigen Leser.«
3 Wir denken an das Mscr* des grauen Klosters.
* Tab. Nov. IL Dedikation.
5 Vgl. S. 187. Anm. 3.
J. P. Sweelinck und Beine direkten' deutschen Schüler. ^91
däB sich bis dato niemandt teutschei Nation unterfangen, welcher
emtzige cardion in orgehi oder Instrumententabulatur hette bringen
wollen, als habe ich solche meine art und manier in öffentlichen
Druck ausgehen zu lassen kein bedenken haben können«
(Halle, 22. Dez, 1624). Der Kurfürst be&hl seinem Kapellmeister
Heinrich Schütz, darüber an den Kammersekretär Bericht zu
erstatten. Schütz schrieb nun am ^0. Dez. 1624: »Nachdem der-
selbe wegen Samuel Scheidten Capelmeister zu Halle eingeschickten
musicalischen Sachen eigendtlichen Bericht und darüber mein Judicium
begehret, als füge ich Ihme dienstfreundtlichen zu wissen, daß
jetziges Werk . . . seyen Sachen für Oiganisten auff die Niederlän-
dische art, gar wol zu hören . . . Über dieses aber weis mein grosg.
L Cammersecretair sich vielleicht noch zu erindern, da berürter Samuel
i Scheidt noch zwei andere opera vordem eingeschickt, daB von ohb-
I gefahr das Schreiben, als ich einst^n zum Aufwarten gang, von der
Knaben einem verloren worden. Dieselben opera aber seindt . . . nicht
dediciret, sondern nur praesentiret w^orden, seindt auch noch für-
I banden, aber bis dato (weil noch kein recompens darauf gefallen)
noch nicht in den Cataiogum der Bücher gebracht worden.« Auf
den Vorschlag einer gewissen Abfindungssumme entschied der Kur-
' fürst am 1. Jan. 1625, »dem Capellmeister zu Hall Samuel ASbA^ie/^an
einen Becher von 25Yq Reichsthaler Werth hinwieder verehren zu
lassen.« Unter den beiden schon früher eingeschickten Werken
können nur die i>Cantiones sacrae^it 1620, und' der erste Theil der
»Geistlichen Concertea verstanden sein. DaB sich Schütz mit einer
gewissen Wärme der Sache Scheidts annahm, findet seine Erklärung
.in. der persönlichen Bekanntschaft, die beide bei einer früheren Ge-
legenheit mit einander gemacht hatten. Scheidt sagt:^ TuCerte quam
dm vivcgm, meminero, quanta ammi voluptate beatam illam animam
Michadem Praetorium^ Henricum Schuzium et me . , , in aula illustri
Birutkina in consessu Principum et Moffnatum Dei summi taudes con-
citmentes audierisu (Halle, 18. Sept. 1621). Die drei Meister hatten
also einmal gemeinschaftlich in Baireuth eine Kirchenmusik aufge-
fiihrt. Michael Praetorius, welcher erst vor kurzem im Jahre 1621
gestorben war, muß auch in Halle öfter mit Scheidt zusammenge-
kommen sein.^ Daß er sich für die Niederländische Instrumental-
komposition interessierte, zeigen seine Worte :^ »Ynd ob ich zwar
^ Erster Theil. der Oeistliehen Konzerte, Dedikation in der Tenor- und Oe-
neralbaßstimme.
« Vgl oben S. 189. . .
^ Syniagma musieutn^ .Wolfenbüttel 1619, in S. 23 unter »Tocaia;^^ vgl. dazu
8. 188.
192 ^^ Seiffert,
viel herrliche Tocaten von den Yomembsten Italiänischen vnd Nie-
derländischen Organisten zusammen bracht, auch Selbsten nach mei-
ner Einfalt vnd Wenigkeit etliche darzu gesetzt, in Drillens dieselbige
in Druck zu publiciren: So habs ich doch noch zur Zeit . . . nicht
zu Werck richten woUen.c Daß dieser Verkehr nicht bloB ein äußer-
licher war, sondern auch auf die Kompositionsthätigkeit Scheidts
einen gewissen Einfluß ausübte, ist bereits angedeutet.^ Es wäre
eine lohnende Aufgabe, Scheidts Yokalkompositionen nach dieser
Richtung hin einer näheren Prüfung zu unterziehen. Nicht ohne
Einfluß mag femer die Bekanntschaft mit dem Quedlinburger Stadt-
kantor, Heinrich Baryphonus, gewesen sein, welcher seinerseits
ebenfalls mit Michael Praetorius und Heinrich Schütz in Verbindung
stand.2 Andreas Werckmeister berichtet uns:^ »Der berühmte Sa-
muel Scheit schreibet an Baryphonum, anno 1651. den 26. Januar
also : Es ist jetzo eine so närrische Music, daß ich mich verwundern
muß, da gilt falsch imd alles, da wird nichts mehr in acht genom-
men, wie die lieben Alten von der Camposition geschrieben. Es soll
eine sonderliche hohe Kunst seyn, wenn ein hauffen Consonantien
unter einander laujQTen. Ich bleibe bey der reinen alten Composüiony
und reinen Kegeln. Ich bin oflt aus der Kirche gangen, daß ich
die Bergmanieren nicht mehr anhören wollen. Ich hoffe, es soll
die neue falsche Müntze abkommen, und neue Müntze wieder nach
dem alten Schrot und Korn gemüntzet werden.«
Wie weit und nach welchen Richtungen hin sich sonst die Ver-
bindungen Scheidts erstreckten, erkennen wir aus den Dedikationen
seiner Tabtdaiura Nova. Der erste Theil ist dem Markgrafen
Christian von Brandenburg und dem Kurfürsten Johann Oeorg L v.
Sachsen gewidmet. Die Bekanntschaft mit H. Schütz ist bereits er-
wähnt. Die Hohenzollem standen zum Erzbisthum Magdeburg in
einem besonderen Verhältniß, da immer einer der Markgrafen zum
Administrator ernannt wurde. ^ Der zweite Theil ist den Senaten
von Nürnberg, Danzig und Leipzig dediziert. In Nürnberg hatte
Scheidt, wenn nicht persönlich bekannte, so doch künstlerisch ihm
nahestehende Freunde, auf welche wir bei Besprechung der Kompo-
sitionen zurückkommen werden. In Danzig lebte Paul Siefert, ein
Mitschüler Scheidts, als angesehener Organist; seine mannigfachen
1 Vgl. oben S. 189.
> E« Jacobs, Zwei hanische Musiktheoretikei des 16. u. 17. Jahrb., Viertelj«
f. M. 1890, S. 114.
3 Cribrum mttsicum oder Musikalisches Sieb . • . lum Druck befördert durch
Johann Georg Carlui« Quedlinburg u. Leipzig 1700, S. 41.
* Vgl. hiersu oben S. 188.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. \93
Berührungen mit Mitteldeutschland sind bisher noch nicht recht be-
achtet worden. Inwiefern Leipzig Scheidts Kunstübung nahestand,
UeB sich nicht ermitteln; vielleicht kommt hier das Thomaskantorat
in Betracht. Jedenfalls erhielt er die einmal hier angeknüpfte Ver-
bindung aufrecht; 1640 ließ er in Leipzig den vierten Theil seiner
Geistl. Concerte drucken. Den dritten Theil der Tab. Nov. widmete
er den Senaten von Lübeck, Hamburg, Lüneburg und Magdeburg.
In den drei ersten Städten wirkten direkte und indirekte Schüler
Sweelincks; auf Magdeburg wurde Scheidt durch lokale Verhältnisse
hingewiesen.
Von Scheidts späterem Leben erfahren wir recht wenig. In der
Dedikation seiner »Lieblichen Krafft-Blümeleina^ an Joachim VizlaiF,
Kiiegsrath und Oberst der evangelischen Fürsten und Stände, sagt
er: »Dessen ich selber Zeuge seyn kann; mit was großer attention,
Sie mich, als ich Ihr allhier zu vnterschiedenen mahlen musictret,
gehöret, auch was großen Favors sie mir hierob erweiset, vnd sich
zu einem mehren anerbotten; Auch zu dem Ende, ihren Cammer
Diener Zacharias Eckharden, mir in meine Institution vbergeben«
[Halle, 15. Aug. 1635). Als Probe des Lehrerfolges ist dem Werk
ein Konzert des Schülers beigefiigt. Über die Persönlichkeit dieses
Zach. Eckhard geben die Lexika keinerlei Auskunft. Folgende
Notizen sind deshalb nicht unangebracht. In der Kapelle zu Stuttgart*
lebten zu Anfang des 17. Jahrh. vier Vertreter des Namens »Eckhardt«
als Instrumentisten ; einer von ihnen war Hoforganist. Aus einem
Elbinger Aktenstück theilt G. Döring^ folgendes mit: »1643 wird
dei Bau der Orgel zu St. Marien durch Meister Samuel Werner be-
endigt. Die mit der Abnahme beauftragten Personen, unter denen
auch ein Organist Zacharias Eckard aus Pr. Holland, erklären, »sie
wüßten nicht, daß dergleichen Werk von so viel Stimmen in solch
kleinem corpore in gantz Preußen wäre. er« Man könnte beide An-
gaben ganz gut vereinigen. Einer der Stuttgarter Eckhards
stammte aus Pr. Holland, schickte von hier seinen Sohn Zacharias
E. zu dem im Süden berühmten S. Scheidt und dieser wies seinem
Schüler wieder den Weg nach dem Norden hinauf. Ein zweiter uns
namhaft gemachter Schüler* Scheidts war Adam Krieger, später
> »Liebliche Krafft-Blümelein, aus des Heyligen Geistes Lustgarten abge-
brochen . . . CaneertweiBe mit zweyen Stimmen, sampt dem General-BtiQ com-
ponirgi.<i Halle 1635. ExempL Kgl. BibL Berlin.
2 Jos. Sittard, Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Württemberg.
Hofe, I Stuttgart 1890, S. 33, 40, 46, 49.
3 Zur Geschichte der Musik in Preußen, Elbing 1852, S. 49.
^ »Herrn Adam Kriegers . . . Neue Arien , . in 6 Zehen eingetheilet ... so
naeh seinem seel. Tode erst zusammengebracht, und zum andemmahl zum Druck
1891. 13
]94 ^^ Seiffeit,
Hoforganist in Dresden. Da dieser 1637 geboren wurde, so kann
er nur während der letzten Lebensjahre des Meisters dessen Unter-
richt genossen haben. Am 19. Juni 1642 wandte sich Scheidt^ an
Herzog August v. Braunschweig, ihm Kompositionen anbietend,
welche Scheidt 9 nicht in Druck will kommen lassen, darmit sie nicht
gemein (werden).« Diese Motivierung zwingt uns nicht durchaus
dazu, pekuniäre Verlegenheiten vorauszusetzen.^ Er kann auch die
Absicht gehabt haben, dem Herzog persönlich eine angenehme Freude
zu bereiten, indem er ihm allein die Kompositionen dedizierte und
sie nicht durch den Druck jedermann zugänglich machte. Jener
Brief enthält übrigens die einzige Stelle, aus der wir schließen
dürfen, daB Scheidt eine Familie besaß; er redet dort von den
«Seinigen.«
Fast am Schlüsse seines Lebens kehrte Scheidt wieder zur
Orgelmusik zurück. Im Jahre 1650 erschien von ihm als das Werk
eines gereiften und geläuterten künstlerischen Geschmackes zu Gör-
litz ein Tabulaturbuch mit 100 Chorälen. Er widmete das Buch
dem Bürgermeister und Bath der Stadt Grörlitz, bewogen durch tdie
genugsam verspürte Benevolenz und Wolgewogenheit gegen meine
wenige Person, und dann das sonderbahre Verlangen nach dieser
musicalischen Arbeit, welche Sie in dero berühmten Stadt und Weich-
bilde zum Druck zu befördern sich groBgünstig belieben lassen« (Halle,
Sonntag Cantate [22. April] 1649).
Einige Jahre später erreichte die bedeutsame Thätigkeit Scheidts
ihr Ende; er starb am Charfreitag den 24. März 1654.^ Zu seinem
Andenken wurde sein Bild an der Moritzorgel aufgehängt. Der
Chronist Joh. Christ, v. Dreyhaupt^ berichtet: «An Epitaphiis und
Bildern sind in dieser (Moritz-) Kirche befindlich ... an der Oi^el
das Bild des Capellmeisters {Samuel Scheids.t Darunter befanden
sich Distichen, welche Walther^ mittheilt:
Haec est effigies Samuelis Scheidiif acumen
Ingenii cujus nuttaßgura capit,
befördert irorden,« Dresden 1676| Vorrede in der / voee. Vgl. Becker, N.'Ztsohr«
f. M., Jahrg. 31, S. 205.
1 Fr. Cbrysander, Jahrb. f. musilu Wissensch., I S. 158 ff.
2 Ritter a. a. O. I S. 184.
> Witte, diar. biogr., giebt den 24. Mai an; ebenso Walther, Lexikon, Sp.
548 £; G. Y. Winterfeld, der evangeL Kirchengesang, II Leipsig 1845, 8. 611, den
25. Mftrz; ebenso Becker, a. a. O.; Ritter a. a. O. den 14. Mfirz. Maßgebend sind
obige Distichen. An der Hand yon den sehr praktischen »Kalender -Tabellen«
Dr. F. Müller's, Berlin, O. Reimer 1885, gelangen wir zu obigem Datum.
« Vgl. oben 6. 189, Anm. 2.
5 Lexikon, Sp. 548 £.
J. P. SweeUnck und seine direkten deutschen Schüler. \9b
Musicus hie quantus, vocale et chroma vibratum
Ecstaticis digitis^ Organa, scripta docent.
Defunctus in Domino die cruc^xi Salpatoris Anno M.DC.LIV.
aetatis LXVII.t
Scheidts Fertigkeit als Orgelspieler preisen auch die Worte,* welche
•einsten eine hohe Fürstliche Person von seinem (A. Kriegers) Lehr-
meister Herr Samuel Scheiden zu Halle gesprochen: Ach schade
und immer schade, daß diese Hände dermaleinst verfaulen sollen. er
Recht bezeichnend ist ferner ein Lobgedicht bei Joh. Rud. Ahle,^
welches uns die damals berühmtesten deutschen Musiker aufzählt:
»Es hat S im Abc, was Music thut anlangen.
Wie bekantlich ist, bißher allen Preiß fast eingefangen;
Schütze, Schein, Scheid, Schop, Schild, Schnitze, Seil' und letzlich
Scheidemann,
Diese, diese, deucht mich gantz, solten füglich schwimmen oben.
Diese sinds, die hochhertraben mit gedachter Himmelskunst;
Diesen Achten allen bleibt diese Zeit der Preiß und Gunst, er
Scheidts virtuose Meisterschaft im Orgelspiel wird ferner hervorge-
hoben in den Distichen unter seinem Bilde in der Tahulatura Nof>a:
»In effigiem Samuelis Scheiti Musicorwn principis.
Hie nie est Samuel cuius vultum aenea cernis
Sckeitius organici gloria prima chori.
O numeris natam liceat quoque sculpere mentem,
Pegaseas liceat sculpere posse manus,
Nil tibi laudo virum, sat cum tibi publica laudant
Scripta: sat artißcem nobile laudat opt^A
feiner von G. Endermann in der Görlitzer Tabulatur:
nNon sunt artißces hoc tantumßne creati,
Ut sint artißces^ praetereaque nihil.
Artem qui callet, pariter coryfungit et usum,
Hunc reor artificis nomen habere meri.
Scheitius ante omnes hoc unus praesiat utrumque,
Illius ergo latis altius ire nequit.t^
Jenes Bild in der Moritzkirche ist mit dem Abbruch der alten und
Bau einer neuen Orgel im Jahre 1840 abhanden gekommen. Ein
1 Vgl oben S. 193, Anm. 4.
' »Neu-gepflaxuster ThOringiseher Lustgarten,« Erster Theil, Mühlhausen 1657,
90X prima, swdtes Lobgedioht
^ Vgl. Ritter a. a. O. I S. 208 »die Vokalkompositionen zunächst» nicht seine
Orgelwerke, machten ihn zn einem der berühmten drei S:«
13*
196
Max Seiffert,
Halleschei Kunsthändler besaß nun zwar vor einiger Zeit zwei aus
der Moritzkirche stammende Oelbilder, deren eines den Pfarrer Se-
ring (Ende des 16. Jahrh.j darstellte; das andere hätte dem Äußeren
nach wohl zu Scheidt passen können. Indessen ergab eine sach-
kundige Prüfung, daß dies zweite Bild erstens stümperhaft gemalt
sei, was für Scheidt keine besondere Ehre gewesen wäre, und daß
es zweitens seine Entstehung dem vorigen Jahrh. verdanke. Jenes
Oelbild muß sonach als verschollen gelten. Einen Ersatz dafür aber
bietet die Tabulatura Nova, Auf der Rückseite des Titelblatts zum
ersten Theil derselben zeigt uns ein Holzschnitt Scheidts Bild, wel-
ches besonders anziehend ist durch die unter einer hohen, freien
Stirn uns voll und wohlwollend anblickenden Augen. Die Brust
ziert eine Münze an einer Ehrenkette.
Wenn wir uns nun anschicken, Scheidts Bedeutung als Orgel-
meister an der Hand seiner Kompositionen näher zu untersuchen,
so ist zunächst zu bemerken, daß auf eine genauere bibliographische
Beschreibung seiner Orgelwerke hier verzichtet werden kann, da eine
solche des öfteren gegeben worden ist.* Femer werden wir zwar
die beiden Tabulaturbücher für sich gesondert betrachten, nicht aber
auch die drei Theile des ersten. Vielmehr werden wir denselben
Weg einschlagen, wie bei der Besprechung Sweelincks, nämlich die
der Form nach zusammengehörigen Stücke herauszunehmen aus den
einzelnen Theilen und zusammenzustellen. Die Tabulatura Nova
enthält 3 Fantasieen, 2 Fugen, 2 Echos, 9 Liedvariationen, 18 Cho-
ralvariationen, 1 Choralfantasie, 1 Choraltoccata, 1 Kyrie, 9 Magni-
ficat, 12 Kanons. Dazu kommt 1 Toccate und 1 Liedbearbeitung
aus dem Mscr. des grauen Klosters.^
Mit dem Namen nFantasian bezeichnete Sweelinck, wie wir
sahen, eine große dreitheilige Fugenform und gleichzeitig noch das
Echo. Scheidt trennt die Namen Fantasie, Fuge und Echo; wir
wollen zusehen, nach welchem Prinzip er dies thut. Der äolischen
^)Fantasia super aJo son ferito cassoy> Fuga quadruplici. ä 4 Vool
(I. 2.) liegen 4 Themata zu Grunde:
1.
2.
i
I
^=^=g^=fg=?
SE
-^-
:^
3:
~:w
1[T-rr-^=^
5
_!_.
-^ — »*♦*-
1 C. T. Winterfeld, Ev. Kirchenges.; E. Bohn, Katalog der beiden Breslauer
Bibliotheken; E. Vogel, Wolfenbütteler Katalog; Ritters Angaben sind nicht
gans korrekt.
^ s. oben S. 155. Anm. 1.
J. P. Sweeliuck und seine direkten deutschen Schüler.
197
3.
4.
■^r, - rl^J \fj ^
M
-Of-
-AV-
^L_ty - ^\f~^^Y^'
-i— J
In der Verarbeitung derselben sucht Scheidt die Inkonsequenzen
SweeUncks und Luythons^ zu vermeiden und die Vorzüge beider
Männer zu vereinigen. Im ersten Haupttheil der Fantasie, deren
Formenumrisse dieselben wie bei Sweelinck sind, läßt er die Kontra-
punkte nicht sich motivisch weiterbilden, sondern fuhrt statt dessen
die drei Gegenthemata ein, welche ricercarmäßig in einander ver-
webt werden. Im zweiten Haupttheil wird nicht durch das Wachsen
der Stimmenanzahl und durch die zunehmende Beweglichkeit der
Kontrapunkte in Sweelincks Art eine Steigerung bewirkt- Das
Thema wird zunächst, wie es auch Sweelinck thut, durch Ver-
knüpfung mit den drei Gegenthemen erweitert und das Ganze zu
ganzen Noten verlängert. Daran hängt nun aber von vornherein
ein Komplex von drei Stimmen, die sich gegenseitig fortwährend
imitieren. Die Melodiefiguren sind frei oder mit Anlehnung an ir-
gend einen Bestandtheil des Themas gebildet; sie gehen durch ge-
schickte Verkettung in einander über oder bilden sich motivisch
weiter. Der dritte Haupttheil bringt dann die Engführung und
Verkleinerung aller Themata, Scheidt nimmt also nicht einen ein-
zigen Faden, auf den er die verschiedensten, wenn auch innerlich
zusammenhängenden Dinge aufreiht, sondern mehrere durch ihre
Farben kontrastierende Fäden, welche er nie aus den Händen ver-
liert und welche er mit erstaunlicher Kunstfertigkeit zu drehen
und zu wenden weiß, um immer wieder neue Farbenwirkungen zu
erzielen.
Über den Ursprung der verarbeiteten vier Themata sind die An-
gaben Ritters*^ nicht korrekt. »Jb son ferito ahi lassoa sind die An-
fangsworte einer Motette Palestrinas, welche durch eine Nürnberger
Au^abe^ auch in Deutschland bekannt wurde. Aus dieser Motette
stammen nicht alle 4 Themata, sondern nur das erste; mit den
übrigen hat es eine eigene i^ewandniß. Die chromatischen Motive
hat Scheidt von Sweelinck entlehnt; auch Christ. Erbach benutzte
sie* Diesem Augsburger Meister begegnen wir hier wiederum und
1 Vgl. oben S. 165 f.
2 a. a. O. S. 190; korrekt dagegen die C. v. Winterfelds, Ev. Kirchengea.,
IS. 611 ff.
^ oGemma musicalis selectisstnuis varii styli Cantiones . . . conttnens . . . studio
^ opera Fridertd Ltndneri Lignicensis ... I Noribergae . . . /öÄ5.«
♦ Vgl. oben S. 163 f.
198 ^^^ Seiflfeit,
mit ihm dem Nürnbeigei H. L. Haßler. Erb ach schrieb ein
äolisches Ricercar i^sopra le fuge Jo son ferif hat lasso ^ Vestiva
colli <i,^ in welchem er zu Thema 1. einen frei erfundenen Kontra-
punkt durchgehends festhält. Haßler komponierte ein in der hand-
schriftlichen Vorlage^ nicht näher bezeichnetes Stück, ein Ricercar in
der Form, wie wir sie bei A. Gabrieli fanden, •* welchem Thema 1 und 2
zu Grunde liegt. Hinter diesem scheinbar nur zufälligen Zusammen-
treffen bergen sich indes einige tiefere Beziehungen, welche uns
wieder auf Sweelinck zurückfiihren. Daß Sweelincks Name im
Südwesten Deutschlands wohl bekannt sein konnte, dürfen wir aus
dem lebhaften Verkehr, welcher im 17. Jahrh. zwischen den großen
südwestdeutschen Handelsstädten und den Niederlanden bestand,
schon im voraus vermuthen. Dazu gesellen sich nun Anzeichen
einer gewissen gegenseitigen künstlerischen Einwirkung. Ein Fugen-
thema Sweelincks findet sich bereits in Klebers Tabulaturbuch;^ ein
mit Erbachs Kompositionen vertrauter Süddeutscher^ fertigte in den
Niederlanden eine Handschrift an, die mehrere Kompositionen Swee-
lincks der Nachwelt erhalten hat. Ein anderer Süddeutscher^ sam-
melte Kompositionen berühmter süddeutscher Meister vom Anfang
des 17. Jahrb.; Sweelinck und Scheidt sind außerdem noch hier
vertreten. Der Schreiber war anscheinend einer jener »brieflichen«'
Schüler Scheidts. Zu beachten ist hier auch der Umstand, daß man
Sweelincks Oelbild in Darmstadt^ gefunden ; es mag früher irgend einem
deutschen Schüler desselben gehört haben. Mattheson^ erzählt ein-
mal von Praetorius und Scheidemanu, daß sie Sweelincks «gemahltes
Ebenbild mit zu Hause brachten vnd in ihren besten Kammern auf-
stellten.« Was nun Haßler anlangt, so ist auch hier nicht^^ ein
Einfluß Sweelincks durch Scheidt auf ihn nachzuweisen. Das Pa-
lestrina'sche Thema konnte er durch die Nürnberger Ausgabe längst
kennen, und das 2. Thema hat er in ähnlicher Weise bereits 1601
benutzt:**
1 Mscr. Fol. 191. Berlin, Fol. 46 v.
2 ebendort, Fol. 71 v.
3 Vgl. oben 8. 165.
* Vgl. oben S. 160 f.
^ Vgl. S. 155. Anm. 2.
6 Vgl. S. 155. Anm. 1.
7 Vgl. S. 190.
8 Vgl. S. 154.
^^ Grundlage einer Ehrenpforte, Hamburg 1740, S. 331.
10 Vgl. S. 168 f.
11 »Lustgarten Neuer Teutscher Gesänge. . . Nürnberg 1601,« nr. 8: »Mir träumt
in einer nacht,« XV. Publikation der Gesellsch. f. Musikforsch, hrsg. F. Zelle. S. 6.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler.
199
&
n=^
3z:
^
5
«-
^s
/w
1^
Andererseits aber braucht auch Scheidt nicht das zweite Thema erst
Ton HaBler zu haben. Es war ein in der niederländischen Lauten-
musik, welche auch Sweelinck pflegte,^ bekanntes Thema.^ In an-
derer Besiehung läßt sich jedoch eine Einwirkung Haßlers auf
Scheidt nicht verkennen. Sie zeigt sich in dem konsequenten Fest-
halten von kleinen kontrapunktierenden Melodieen, welches wir in
dem Maße bei Sweelinck noch nicht finden, ferner in der gesteiger-
ten Anwendung von Wechselchörigkeit, endlich in dem Gebrauch
gewisser rhythmischen Figuren, die von allen Stimmen kurz nach
einander imitiert werden. Hierher gehört namentlich die beliebte
Frottolenfigur :
nj nj nj
Von Erbach dagegen dürfen wir annehmen, daß er ebenso, wie er
das chromatische Thema Sweelincks nach Scheidts Vorbild bearbei-
tete, auch das Palestrina'sche durch Scheidt angeregt sich vor-
nahm. Auf die Posteriorität Erbachs läßt auch die Bezeichnung
tsopra le fugen schließen. Es ist übrigens nicht unmöglich, daß
Scheidt sowohl Haßler als Erbach persönlich gekannt hat. Wenn er
Ton Halle aus doch Kunstreisen machte und so nach Baireuth kam,^
so war es von dort bis nach Nürnberg und Augsburg eben kein zu
großer Weg mehr.
Die äolische nFanUisia ä 3 Voc.a (II. 6) mit dem Thema:
U.8.W.
i
I
li fl fi
t
-*-
t
^m
-»*v-
verändert in anderer Weise die Sweelinck*sche Fantasieform. Die
drei Haupttheile sind zwar da, aber ihr innerer Aufbau gestaltet
sich anders. Im ersten Haupttheil vermissen wir die Sonderung in
drei Durchfuhrungen; der zweite bringt das Thema in ganzen, halben
und Viertelnoten, dann wieder aufsteigend in halben und ganzen
Noten. Statt der Engführung im dritten Haupttheil steht nach den
^ Vgl. Einleitung Tiedemans (1876) S. 48 f. und R. Eitner, M. f. M. IX
8. 59 f.
2 Tif'dsehriß, Deel II 1886, J. P. N. Laud, *Het Luithoek van Thysius, S. 162,
165 f.
> 8. oben 8. 191.
* Vgl. oben S. 167.
200 ^^ Seiffert,
sequenzenartigen Wiederholungen des Themas in Viertelnoten ein
aus dem zweiten Abschnitt des Themas motivisch gebildeter Satz, in
dessen Verlaufe das ursprüngliche Thema nur zweimal und dazu
rhythmisch verändert auftaucht. Die kontrapunktierenden Stimmen
bewegen sich in Melodieen und Figuren, die weder motivisch um-
gebildet, noch in einander verkettet werden ; eine folgt zwanglos der
andern. Aber die Gegensätzlichkeit der Figuren zum Thema wird
doch erreicht.
Der nFantasia super Vt. Re. Mi, Fa. Sol. La, ä 2. 3. 8f 4. Voc.^
(L 4) 1 liegen zu Grunde die beiden Hexachorde auf G und C, die
in ihrem ganzen Umfange auf- und absteigend verwendet werden.
Die große Dreitheilung läßt sich auch hier nicht verkennen; der
erste Haupttheil nimmt allerdings mit seinen 278 Takten gegen 3S
des zweiten einen übermäßig großen Raum ein. Die erste Durch-
führung des ersten Haupttheils ist zweistimmig, die zweite drei-, die
dritte vierstimmig. Der zweite Haupttheil verlängert das Thema zu
Breves; der dritte entspricht völlig der bekannten Form. In dieser
Fantasie liegt vor uns ein Stück rfundamentum organüandin aus dem
17. Jahrb., an welchem man den gemachten Fortschritt so recht er-
kennen kann. Die Figuren und Gegenmelodien sind so eingerichtet,
daß sie möglichst bis zu dem jedesmaligen Höhepunkt des Hexachords
von den begleitenden Stimmen sequenzenartig festgehalten werden
können; beim Umschlag tritt dann entweder eine leichte motivische
Änderung oder vollständige Gegenbewegung ein. Während man bei
ähnlichen Stücken der Meister des 15. und 16. Jahrh. ihre Unsicher-
heit dem Tonmaterial gegenüber herausmerkt an der Art, wie sie
sich mit Hilfe von gewissen Regeln von einem Tone zum andern
forthelfen, so erkennt man hier, daß inzwischen bis zum 17. Jahrh.
eine Wandlung zur Beherrschung des Tonmaterials eingetreten ist,
und zwar nicht zum geringen Theile von den Koloristen vorbereitet.
Statt der immer wieder ausweichenden und sich fortziehenden vokalen
Gegenmelodien stehen hier instrumentale, in die knappe Form von
charakteristischen Figuren gegossene. Und diese werden nicht will-
kürlich bunt durcheinander gewürfelt, sondern konsequent festge-
halten und umgebildet. Die Figuren und Melodien, welche wir bei
den Niederländern verstreut finden, — es lassen sich hier bis ins
Einzelne hinein Nachweise liefern — hat nun Scheidt in einem
klaren Bilde vorgezeichnet und somit seinen deutschen Organisten
die fremde Technik übermittelt. Diese historische Stellung Scheidts
muß man bei der Beurtheilung dieser Fantasie im Auge behalten;
1 Vgl. oben S. 167.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler.
201
mit dem Prädikat: »eine trotz allen Figuren > Aufwands ermüdende
Studie«^ ist es nicht abgethan.
In dei ersten Fantasie erweitert also Scheidt Sweelincks Fan-
tasieform, indem er auf dessen Wegen weiterschreitet; in den beiden
andern schlägt er dagegen Nebenpfade ein. Er nimmt sich die Um-
risse der Form, verwischt aber innerhalb derselben die feineren Zeich-
nungen. Die Grenzen, welche bei Sweelinck wegen des überreichen
Inhalts die Tendenz haben, sich nach außen zu erweitern, rückt
Scheidt mehr aneinander; er nähert sich somit wieder, wenn man
Yon dem immer noch großen Umfang absieht, der einfachen drei-
theiligen Fuge. Ganz strikte wird dagegen die Sweelinck'sche Form
durchgeführt iu den beiden »Fugen« von Scheidt. Die dorisch-trans-
ponierte nFuga ä 4 Voc. Contrariaik (IL 1) hat zum Thema:
m
e
3?=
s>-
M
X
-^'
X
die mixolydische TuFuga ä 4 Voca (II. 3) :
Eine kleine Änderung in der Haltung des dritten Haupttheils der
eisten Fuge bewirkt zwar auch eine andere Gruppierung im zweiten ;
dies geschieht aber nur zum Yortheil für die Form. Aus dem dritten
Haupttheil entfernt nämlich Scheidt die Engfuhrung, statt dessen
läBt er noch einmal das vollständige Thema in der Oberstimme in
seinen ursprünglichen Werthen erscheinen und läßt es durch breite
Harmonieen von den übrigen Stimmen begleitet werden — den An-
satz hierzu fanden wir bereits bei Sweelinck. Indem der Schluß
noch einmal ganz sichtbar zum Anfang zurückgreift, erhalt die Form
eine schöne Abrundung. Die Engführung kommt dafür in den zweiten
Haupttheil und erscheint dort mitten in der Verlängerung, über-
haupt tritt die Gruppierung der drei Haupttheile bei Scheidt viel
deutlicher auf als bei Sweelinck. Auch in der Einzelbehandlung
zeigt sich die fortgeschrittene Zeit, in welcher der Schüler lebt. Die
Kontrapunkte haben bei ihm ein schärferes rhythmisches Gepräge,
sie stützen und heben so den Eindruck des Themas und ordnen sich
ihm unter. Bei Sweelinck ist dies noch nicht in dem Maße der
Fall; die Gegenmelodieen sind oft viel zu gleichartig in ihrem Aus-
sehen und verdrängen das Thema aus der Machtstellung, welche ihm
1 lütter a. a. O. I S. 191.
2 Vgl. oben S. 162.
202 M*^ Seiffert,
gebührt. Wo Verkettung oder Umbildung der Kontrapunkte ein-
tritt, da läßt Scheidt jedes einzelne Gebilde eist zur vollen Wirkung
kommen, fuhrt es durch alle Stimmen hindurch, während Sweelinck
eine gewisse Hast zeigt, zu etwas Neuem zu gelangen.
Scheidts größere Entschiedenheit sowohl in der Behandlung der
Form als auch in der Wahl und Durchführung seiner musikalischen
Ausdrucksmittel zeigt sich auch bei der Echoform, die er von der
Fantasie lostrennt. Das erste von den beiden äolischen Echos (II. 2}
wird durch einen fugierten Satz mit dem Thema:
eingeleitet, geht aber nach einmaliger Durchführung desselben zur
Echobehandlung »ad mantcale duplex forte 8f lenev über. Mehrere
Akkordfolgen oder Tonverbindungen erklingen zuerst auf einem stär-
keren Manual; das ganze oder nur das letzte Stück wird unmittel-
bar darauf in derselben Tonhöhe, nur auf einem schwächeren Manual
wiederholt. Das zweite Echostück »sinisira manu semper in eodem
manuali permanente j dextra vero Cantus Varianten beginnt ohne Ein-
leitung. Bei beiden Stücken ist also Wechselchörigkeit ausge-
schlossen, welche Sweelinck noch mit dem Echo verbindet.
Von den beiden Toccaten wird die eine bei den Choralbearbei-
tungen besprochen werden. Die andere,^ in dorisch-transponierter
Tonart, ist nur von geringem Umfang, aber sie bringt die Form in
voller Abrundung genügend zum Ausdruck. Den Anfang und Be-
schluß bilden breite und volle Harmonieen, welche einen lebhafter
gehaltenen Mittelsatz umgeben. Durch das Ganze zieht sich als
leitender Faden die Melodie:
i
lEE^E^^E^^^
-w —
Die 10 Liedvariationen sind über Lied- oder Tanzmelodieen
komponiert, deren Beliebtheit sich zum Theil noch nachweisen läßt.
Über die nPavana Hispania^d^ y^Fortuna Afiglicav (IL 8)^ und die
nCantio Belgicaa (I. 7) ^ ist in diesem Sinne bereits gesprochen wor-
den. Die y>Cantio Gallica: Est ce Mars^ (I. 11) war in den Nieder-
landen bekannt zu dem Text: ulsser ijemant uijt Oost- Indien ge-
1 Vgl oben S. 199.
^ Mscr. des grauen Klosters ; Tgl. oben S. 155. Anm. 1. S. die Notenbeilagen.
3 Vgl. oben S. 173.
* Vgl. oben S. 173.
ß Vgl. oben S. 155. Anm. 1.
J. P. Sweelinok und seine direkten deutschen Schüler.
203
hörnern, ^ In Deutschland sang man zu der Melodie ein 6strophiges
lied mit dem Anfang: »Ehrlich, freundlich und schön dabei«. ^ Die
drei Fassungen der Melodie weichen in einzelnen Punkten von einan-
der ab; diejenige bei Scheidt lautet:
\^ ^rri^^^^
<p-
3?:
azipii^
Die Melodie der nAllemande. Also stehU, also gehts^ (IL 11) gehört
zu einem 12strophigen Gedicht, dessen erste Strophe mit sList und
Neid«, dessen zweite mit »Also gehts« anfängt. Die Melodie wird
bald mit dem Textanfang der ersten, bald mit dem der zweiten Strophe
zitiert. Sie findet sich noch in einer Auricher^ und in einer Dresdener
Handschrift.^ Die Melodie lautet bei Scheidt:
i
i
j=t
-^h-
t
s
m
I
iju-r r rTT^^^S
t=±
-«-
-^^m
-^-
und in der Dresdener Handschrift:
i
ä
E
X=3t
-}»■
^^^
-Ä>-
gj^^ß^J^y^
Die übrigen Melodieen nachzuweisen, war dem Verfasser, zur Zeit
nicht möglich.
In der Variationstechnik Scheidts macht sich nach verschiedenen
Seiten hin ein Fortschritt gegen Sweelinck bemerkbar. Die Anord-
nung der Stücke folgt dem Sweelinck'schen Prinzip der Steigerung,
^ Oud Nederlandsche Liederen uti den »NederlandUchen Gedmckclanchi van
Adriamu Valerius (1626). Publikation der MaaUchappij, hrsg. von Dr. A. D. Loman,
1871. nr. 10.
2 Mscr. saec. XVII., kgl. Staatsarchiv Aurich, nr. 6. (vgl. M. f. M. VI. S. Iff.
Friedlander). Aurich als eifrige Pflegestätte der Kunst preist Phil. v. Zesen in
einem «Lob- und fireuden-lied auf die mit der taht und nahmen goldstrahlende
Ost FriesUche Hof- Stadt Aurick« (s. dessen »dichterisches Bösen- und Liljenthal,«
Hamburg 1670, S. 278).
3 a. a. O. nr. 17.
* Mscr. Dresd. M. 297, S. 57, in französ. Lautentab.
204 ^^^ Seifert,
die einzelnen Fonuengebilde gestalten sich jedoch chaiakteristischer.
I>ie Figuren, mit welchen Scheidt am Anfang die Melodiefortschritte
umspielt, hält er fest und bestimmt dadurch auch die Führung der
begleitenden Stimmen, welche jene Figuren in gerader oder umge-
kehrter Bewegung fortwährend imitieren. Von den beiden Haupt-
grundsätzen, welche bei der Variation eines weltlichen Liedes zu
befolgen sind, steht bei Scheidt derjenige der unveränderten Grund-
harmonieen voran. In den ersten Variationsabschnitten lehnt er sich
noch an die Hauptmelodieschritte an: je weiter er sich aber vom
Anfang entfernt, desto freier macht er sich von ihnen, betont die
Harmoniefolgen und läßt eine reiche, ungezwungene Figuration sich
darüber ergehen. Zum Schlüsse aber kehrt er wieder zum Anfange
zurück. Die ursprüngliche Melodie erscheint ziemlich rein, nur in
der proportio tripla; der Charakter einer solchen Schlußvariation
nähert sich deutlich dem der Gigue. Die Quelle, aus welcher Scheidt
dies neue Formenprinzip schöpfte, liegt nicht allzu fem. An die
deutschen Tanzlieder im C-Takt schließt sich gewöhnlich ein »Nach-
tantztf in der proportio tripla an, welcher seinen melodischen Grund-
stoff dem ersten Theil entnimmt. Daß durch die Verbindung mit
dem deutschen Tanzliede die Variationsreihen ein geschlosseneres Ge-
füge erhalten als bei Sweelinck, läßt sich nicht verkennen. Sweelinck
paßt sich ferner in seinen Variationen genau der Spielweise des Vir-
ginals an; seine Polyphonie ist nur eine scheinbare, eine umspielende.
Die Stimmenanzahl beschränkt oder erweitert sich innerhalb eines
AbscHnittes willkürlich, je nachdem es die Ausfüllung der Harmonie
fordert. Man kann nicht sagen, daß eine bestimmte Stimme pausiere
und nachher wieder einsetze. Es tritt häufig einmal eine Stimme
ein, welche den melodischen Gesang einer andern übernimmt und
fortsetzt; das Stimmengewebe ist eben ein ganz lockeres. Scheidt
dagegen hält an der einmal gewählten Stimmenanzahl fest und ver-
stärkt so den straffen Zug, den er auf andere Weise schon in seine
Variationen hineingebracht hat. Aus der strengeren Behandlungs-
weise bei Scheidt resultieren nun auch strengere Einzelformen, in
welchen die Anwendung des doppelten und dreifachen Kontrapunktes,
sowie beider Arten der Wechselch örigkeit einen Austausch der Stim-
men zu Stande bringt.
Die Choralvariation war bei Sweelinck dadurch von der Lied-
variation prinzipiell unterschieden , daß sie die Melodie , nicht aber
auch die Harmonie unverändert beibehielt. Besondere Formen fanden
sich bei ihm nicht ausgeprägt; die Figuration wurde nur an einzel-
nen Stellen durch Ansätze von motettenartigen Einleitungen unter-
brochen. Auf dieses von Sweelinck also nur spärlich angebaute Feld
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. 205
leitet nun Scheidt den ganzen breiten Strom weltlicher Variations-
technik hinüber und aus dem so befruchteten Boden sprieBt nun
äppig eine reiche Fülle zum Theil neuer Formen empor. Daß Scheidt
es erst war, welcher die bisher getrennten Gebiete vereinigte, muß
man bei der Beurtheilung seiner Choralvariationen wohl beachten.
Aus der eben erst vollzogenen innigen Verschmelzung erklärt sich
manches, was uns, wenn wir von Werken späterer Meister auf Scheidt
zurückblicken, als ein Mangel desselben erscheinen könnte. Die ein-
zelnen Gebilde sind ihrer Form nach noch nicht so scharf ausge-
prägt, wie es bei späteren Meistern der Fall ist. Aber als Glieder
einer Kette von Variationen sind sie genügend von einander unter-
schieden durch die Wahl des jedesmaligen Ausdrucksmittels. Als
eine spätere Zeit das fesselnde Band der Variation gelöst hatte, da
konnten die einzelnen Glieder ihren vorher etwas eingeengten Spiel-
raum je nach Bedürfnis erweitern und ihre Form bis in die letzten
Konsequenzen ausprägen. Dafür hat aber Scheidt etwas anderes ge-
leistet, was für die spätere Zeit von großer Bedeutung war. Die
Choralbearbeitungen halten die Melodie unverändert fest und suchen
auch eine möglichst große Abwechselung in den Zusammenklängen
zu erreichen. Aber der ganzen kontrapunktischen Kunst haftet ein
Wesen an, das von jetzt an die norddeutsche Schule nicht verläßt,
sich vielmehr immer noch steigert: die kontrapunktierenden Motive
sind ein Ausfluß einer logisch verlaufenden Folge von Harmonieen;
die Harmonieen sind nicht mehr das zufällige Produkt von zusam-
mentreffenden, in sich selbständigen Melodieen. Damit hat Scheidt
die Koloristenperiode zu dem Ziele gefuhrt, welchem sie nachgestrebt
hatte, und zur Entwickelung der norddeutschen Orgelkunst auf dieser
neuen Grundlage den ersten Schritt gethan.
Daß bei Scheidt eine Änderung in der Auffiassung der Form ein-
getreten ist, erkennen wir auch an dem Wechsel der Bezeichnung.
Das weltliche Lied in seinen vei-schiedenen Gattungen war ursprüng-
lich dazu bestimmt, je seinem Zweck entsprechend gesungen, gefiedelt
oder gepfiffen zu werden. Auf Tasten- oder Zupfinstrumente über-
tragene Lieder und Tänze sind also als bereits abgeleitete Produkte
anzusehen, und sie sonderten sich von ihren ursprünglichen Vorbil-
dern dadurch noch mehr ab, daß sie eine innige Verbindung mit der
Variationsform eingingen. So erklärt es sich zur Genüge, daß die
Engländer und Niederländer schon die mehrstimmige Behandlung
einer Melodie am Anfange einer Reihe als erste Variation bezeich-
neten, nicht als Thema. Losgelöst von d«m Texte konnte die Lied-
variation rein musikalischen Gesetzen nachgehen und so zur Ent-
wickelung bestimmter charakteristischer Listrumentalformen gelangen.
206 ^" Seiffert,
Denselben Ausgangspunkt nimmt die Ghoialyariation ; sie löst die
Melodie ebenfalls vom Text ab und gestaltet mit ihr, wenn auch
nach anderen Prinzipien, gewisse Formen. Wie es nun öfter in der
Musikgeschichte geschehen ist, daß sich auf einem gemeinsamen
Untergrunde zwei Formengebilde neben einander aufbauen, welche
sich, nachdem sie einen gewissen Höhepunkt der Entwickelung er-
reicht, gegenseitig ausgleichen, um dann gestärkt mit desto größerer
Entschiedenheit nach zwei entgegengesetzten Richtungen weiter zu
streben, so ist es auch hier der Fall. Lied- und Choralvariation in
ihrer Sonderstellung neben einander sehen wii bei Sweelinck ; Scheidt
vereinigt das Wesen beider Formen und steigert so ihre Entwickelungs-
fähigkeit. Die Liedvariation acceptiert sofort ein für die Instrumen-
talmusik sehr geeignetes Formenprinzip und entläßt dafür aus sich
heraus die fester gefugten Gebilde, welche sich nunmehr die Choral-
variation aneignet. Diese dagegen wird durch andere Umstände
veranlaßt, den großen Schatz von neuen Ausdrucksmitteln nicht in
rein instrumentalem Sinne auszubeuten, wie es die Lied Variation
thut, sondern ihn anzuwenden, um zunächst den harmonischen Reich-
thum der Melodie und sodann die kirchliche Bedeutung des Chorals
überhaupt zum Ausdruck und zur Entfaltung zu bringen. Infolge-
dessen macht bei der Choralbearbeitung die »Variation dem wersus^i
Platz. Und wenn sich Scheidt in der Anzahl der wersustt derjenigen
der Textstrophen nahe hält, so ist damit deutlich die Annäher iing
zum Ursprung ausgesprochen.
Um nun übersehen zu können, was Scheidt auf dem Gebiet der
Choralvariation geleistet hat, werden wir nicht die Yariationsreihen
als Ganzes ins Auge fassen, — denn die aus dieser Anordnung sich
ergebenden Konsequenzen haben wir bereits betrachtet — , sondern
werden uns wiederum die gleichartigen Gebilde in Gruppen ordnen
und zusammenstellen. Und zwar wird es zu diesem Zweck genügen,
die vierstimmigen Stücke allein vorzunehmen. In ihnen sind sämt-
liche Formen vertreten: dazu noch in so klarer Fassung, wie wir sie
bei den zwei- und dreistimmigen Stücken nicht finden. Hier mußte
manchmal eine Verschmelzung mehrerer Formenprinzipien die durch
die geringere Stimmenanzahl beschränkten Ausdrucksmittel vermehren
helfen; eine strenge Gruppierung ließe sich also hier nicht immer
durchfuhren.
1. Akkordische Satzweise ist angewendet im letzten Vers des
nKyrien und der 9 »Magnificatt (TU: 1. 12; 2. 6; 3. 6; 4. 6; 5. 6;
6« 6; 7. 6; 8. 6; 9. 6; 10. 6). Hierher sind zu rechnen die beiden
»modi, pleno Organa ludendi,^ obwohl sie im vokalen Stil geschrieben
sind. (III|: 19; 20.)
J. P. 8weelinck und seine direkten deutschen Schüler. 207
2. Die akkoidische Satzweise wiid durch kolorierende Figuren
belebt, sei es, dafi die Melodie allein koloriert erscheint (1: 3. 9),
oder daß die begleitenden Stimmen sich ebenfalls mehr oder weniger
an der Koloratur betheiligen (I: 5. 12; II: 4. 2; 9. 8), oder daß
endlich die obenliegende Melodie mit den beiden Mittelstimmen in
ruhigen Harmonieen dahingeht, während der Baß sich in allerlei
:en austobt (I: 5. 11; II; 9. 7).
3. Die Melodie beginnt in einer Stimme und geht gleichmäßig
weiter. Die nacheinander einsetzenden Begleitungsstimmen imitieren
sich gegenseitig kleine Motive nach, welche hier und da sich die
ersten Noten der einzelnen Choralzeilen verkürzen und sich in der
bekannten Sweelinck'schen Manier um- oder weiterbilden (I: 5. 3;
12. 6; 11: 7. 3; 7. 4; III: 4. 4; 7, 5; 10. 2; 11. 5; 13. 5; 14. 2;
14. 4).
4. Bevor der Choral beginnt, setzen die übrigen Stimmen mo-
tettenartig mit einer frei erfundenen Melodie ein, die sie bis zur mo-
tivischen Weiterbildung festhalten (I: 3. 2; III: 7. 4; 11. 2; 13. 4).
5. Bevor der Choral beginnt, setzen die übrigen Stimmen mo-
tettenartig mit einer motivisch aus der ersten Zeile gebildeten Me-
lodie ein; sie kontrapunktieren aber frei weiter, sobald der Choral
erklingt. Nur hin und wieder werden auch die anderen Zeilen so
eingeleitet. Die Zwischenspiele entwickeln sich sonst motivisch aus
den Kontrapunkten selbst. Würde man die Einleitung und die
Zwischenspiele streichen, so erhielte man einen einfachen akkordi-
schen Satz mit bewegteren Mittelstimmen. Die kontrapunktische
Kunst ist also noch nicht tief in den Grund des harmonischen Bo-
dens eingedrungen; sie berührt nur eben die Oberfläche. (I: 1. 1;
3. 1; 5. 1; 12. 1; II: 5. 1; 7. 1; 7. 5; 9. 1; HI: 4. 2; 7. 2; 11. 3;
U. 4; 12. 3; 13. 3; 15. 2; 16. 4; 18. 3).
6. Die erste Choralzeile wird motettenartig eingeleitet, aber nicht
mit Hilfe der Zeile allein, sondern unter Hinzunahme einer freien
Gegenmelodie, die so lange festgehalten wird, bis motivische Weiter-
bildung eintritt (I: 5. 2; H: 5. 2; 7. 2; 9. 2; III: 1. 5; 1. 10; 2. 2;
2. 3; 2. 4; 2. 5; 3. 2; 3. 5; 4. 3; 4. 5»; 6. 2 ; 6. 3; 6. 5; 7. 3;
8. 2; 8. 3; 8. 4; 15. 3; 18. 4).
7« Der Choral wird von zwei Stimmen nacheinander vorgetragen,
erst von der höheren, dann von der tieferen; so concertieren Tenor
und Baß (II: 5. 5; 7. 9; 9. 6; HI: 5. 5; 8. 5; 9. 5; 10. 5; 14. 5;
18. 6), Alt und Tenor (IH: 9. 4). Für den Anfang sind die bisher
beschriebenen Arten der Einleitung (s. nr. 3, 4, 5 und 6] maß-
gebend.
8. Die kanonische Behandlung ist doppelter Art. Die Melodie
208 ^^^ Seifert,
liegt im Baß und beginnt, wenn die übrigen Stimmen da sind. Can-
tus und Tenor vollführen einen Kanon in der Oktave, der Alt fiillt
die Harmonie aus (III: 9. 5; 13. 7; 16. 7). Andererseits nimmt
Scheidt nur die erste Choralzeile und spinnt sie melodisch frei weiter.
Dieses Produkt wird von allen vier Stimmen im » Canon contrarius in
vorgetragen (I: Canon nr. 1, 2, 3, 10).
9. Die Choralmelodie wird nicht von einer Stimme allein vor-
getragen, von wo aus sie das ganze Gebilde beherrscht, sondern sie
durchzieht alle Stimmen ; ihre einzelnen Abschnitte werden motetten-
artig verarbeitet. Der Komponist bindet sich hier auch nicht an
die eigentliche Geltung der Melodietöne, sondern verkürzt und ändert
wie es die gewählte Form erheischt (III: 1. 1, 2, 3, 4, 6, 8, 9, 11
2. 1; 3. 1; 4. 1; 5. 1; 6. l; 7. 1; 8. 1; 9. 1; 10. 1; 12. 1; 13. 1
14. 1; 15. 1; 16. 1; 17; 18. 1).
10. Die Choralfantasie ist mit der motettenhaften Behandlung
nicht identisch (I. 13), sondern vereinigt mit dieser noch zwei andre
Arten. Zunächst wird jede Zeile durch Verkürzung der Werthe zu
einer motettenartigen Verarbeitung tauglich gemacht; daran schließt
sich eine wechselchörige Durchführung der nunmehr in ihren ur-
sprünglichen Werthen wieder auftretenden Zeile: den Beschluß
macht dann ein mehr akkordischer Satz, in dessen Oberstimme die
Melodie meist liegt. Ahnlich gebaut von den zweistimmigen Stücken
ist II: 5. 3.
11. Die Choraltoccata über »In te. Domtne, speraviv (II. 12)^ be-
nutzt in geschickter Weise die einzelnen Schritte und Wendungen
der Melodie, um durch Verkürzung und Umbildung derselben für
den Aufbau geeignete Motive herzustellen. Die Form ist die von
Sweelinck her bekannte. Sie beginnt mit getragenen Harmonien,
die allmählich in immer leichtere Figuren übergehen. Zweimal macht
Scheidt einen fugierten Zwischensatz.
Als eine Folge von Scheidts reformierender Gestaltung der Lied-
und Choralvariation ist es anzusehen, daß wir bei ihm zuerst nach
der langen Koloristenperiode Klavier- und Orgelmusik wieder zu
unterscheiden haben. Direkt betont er diesen Unterschied zwar
nicht; aber man liest ihn aus seinen Worten leicht heraus. Den
ganzen dritten Theil der Tab, Nov.^ sowie die Choralbearbeitungen
der ersten beiden Theile verweist er mit nackten Worten auf die Orgel,
wie wir sehen werden. Über die Toccaten, Fantasieen, Fugen und
Echos äußert er sich nicht. Wir werden wohl nicht weit das Ziel
^ Die Melodie gebraucht Scheidt auch für I: Canon nr. 10, welcher sich eben-
falls unter seinem Bilde (Titelblatt der Tab, Nov.) befindet.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler.
209
verfehlen^ wenn wir annehmen, daß er ihnen den schwankenden
Charakter; welchen sie bei Sweelinck hatten , nicht nahm. Die welt-
lichen Liedvariationen und Tänze erfordern aber zu ihrer Ausführung
nur das ELlavier. Scheidt hatte sich eine Spielmanier angeeignet,
über welche er am Schlüsse des ersten Theils der Tab. Nov. S.
262 sagt:
NB.
Wo die Noten, wie allhier; zusammen gezogen seind, ist solches
eine besondere art , gleich wie die Yiolisten [mit dem Bogen
schleiffen zu machen pflegen. Wie dann solche Manier bey für-
nehmen Yiolisten Deutscher Nation, nicht vngebräuchlich, gibt auch
auf gelindschlägigen Orgeln, Regalen, Clavicymbeln vnd Instru-
menten, einen recht lieblichen vnd anmuthigen concentunij derent-
wegen ioh dann solche Monier mir selbsten gelieben lassen, vnd
angewehnet. a DaB er die Orgel hier mit erwähnt, hat seinen Grund ;
er wendet die r^imitatio Vioüsticaa auch in Choral Variationen an.
Eine andere Spielmanier ^ findet sich in der 5. Variation über «Ach
du feiner Reuter a (I. 10). Das Stück ist ein r^Bicimum imitatione
Tremuia organi duobus digitis in una tantum clave manu tum dextra,
tum simstra.^ Von einer »tmitatton^ kann doch nur die Rede sein,
wenn die Orgel nicht dasjenige Instrument ist, für welches das Stück
bestimmt ist. An dieser Stelle macht Scheidt übrigens auch Finger-
flatzangaben :
3234 3232 3234 32 3 2
S
4— t-
■+— f
m
2 123 2121 2121 2121®*
^^ '^h jTrrtTrrTffrr^
Wie nun die Choralbearbeitungen auf der Orgel ausgeführt werden
sollen, darüber belehrt uns Scheidt ausführlich am Schlüsse des dritten
Theils der Tab. Nov. in einem' Nachwort:
»An die Organisten.
Diese Magnificat vnd Hymnos, wie auch in meinem 1. vnd 2. theil
etzUche Psalmen zu finden, kan ein jeder Organist welcher ein Orgel
mit zwei Ciavier vnd Pedal hat, sie sein im Discant oder Tenor ab-
sonderlich auff dem Rückposetif mit einer scharfFen Stimme (den
Choral desto deutlicher zu vernehmen) spielen. Ist es ein Bicinium
vnd der Choral im Discant, so spielet man den Choral mit der
' Sie findet sich berelta bei den Virginalkomponisten und Sweelinck.
1891. 14
210
Max Seiffert,
Rechten Hand auff dem Ober Ciavier oder Werck, vnd mit der
Lincken Handt die 2. Partes auff dem Rückposetif. Ist der Choral
im Discant mit 4. Parteyen, so spielet man den Choral auff dem
Rückposetif mit der rechten Handt, den Alt, Tenor auff dem Ober
Clavir oder Werck mit der Lincken Handt, vnnd den Baß mit dem
Pedal. Ist der Choral im Tenor, so spielet man den Choral auff dem
Rückposetif mit der Lincken Handt vnd die andern Partein auff dem
Ober Clavir oder Werck mit der rechten Handt, den l^aß mit dem Pedal.
Den Alt kan man auch absonderlich spielen mit 4. Partein auff
dem Rückposetif, aber man muß den Discant auff dem Ober Clavir
nehmen mit der Rechten Handt, den Tenor vnd Baß auff dem Pedal
zugleich 2 stimmen, aber es muß sonderlich darzu Componirt sein,
das der Tenor nicht höher als c den man das d auff den Pedalen
seiden findet vnd auch nicht weit von einander setzet, nur ein 8.
oder 5. oder 3. den man solches sonsten mit den Füssen nicht wol
erspannen kan.
N. B. Aber diese Manier, ist die schönste, vnd zum aller be-
quemsten zu thun, den Alt auff dem Pedal zu spielen, der Handtgrieff
vnd Vortheil aber, ist an den Registern vnd Stimwerck in der Oi^el,
das man dieselben wol zu disponiren weiß, von 4. vnd 8. Fuß Ton.
S Fuß Ton muß stets auff dem Posetif sein. Vnd 4. Fuß Ton im Pedal.
Exempel den Choral auf dem Pedal zu spielen.
Diese 3. Stimmen, als Cantus^ Tenor, Bassus, werden auff dem Rück-
posetif gespielet, einer Stimme von 8. Fuß Ton etc.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. 211
Stimmen von 4. Fuß Thon im Pedal schai-ff:
4 Fuß Octaf Zimmel
— Gedackt Zimmel
— Cornet Baß und dergleichen etc.
Wenn solche 4. Füssige Stimmen gezogen werden, so kompt der
Alt recht in seinen Thon.
Exempel [fc^'
--ö» -■
-<5» 5-2 ^^
25^
Etzliche Register oder Stimwerck zuziehen wenn man einen
Choral auff 2 Clavir spielen wil, solchen deutlich zuvernehmen.
Im Werck.
Grob Gedact. 8. Fuß Thon.
Klein Gedact. 4. Fuß Thon.
Diese beide zusammen. Oder Principal allein von 8 Fuß Thon, vnd
andre Stimmen mehr nach eines jeden gefallen.
Jm Rückposetif scharffe Stimme den Choral deutlich zuvernehmen.
Quinta dehn oder Gedact 8. Fuß Thon,
Klein Gedact oder Principal 4. Fuß Thon
Mixtur oder Zimmel oder super octaf ,
Diese Stimmen zusammen, oder andre nach eines jeden gefallen.
Im Pedal den Choral deutlich zuvernehmen.
Vntersatz 16. Fuß Thon. Posaunen Baß. 8. oder 16. Fuß Thon,
Dulcian Baß, 8. oder 16. Fuß,
Schalmei,
Trommete,
Baur Flöte,
Cornet :
vnd andere, welche in kleinen vnd grossen Orgeln genugsam zu finden
Welches ich jedoch nur allein denen zugefallen wil gesetzet haben,
welche solche Manier noch nicht kündig, vnd gleichwol beliebung
daran haben möchten, andern Fiirnemen vnd verstendigen Organisten
aber solches nach ihrem Humor zu dirigtren heimgestellt sein lassen. »
Die Disposition der unter Scheidts Direktion 1624/25 erbauten
Moritzorgel in Halle ist nun folgende:^
»Im Brustwerck:
Principal 8 Fuß, Gedackt 4 Fuß,
Quintaden 16 Fuß, Octave 2 Fuß,
Octave 4 Fuß, Mixtur 3 fach,
Gedackt 8 Fuß, Trompete 8 Fuß.
Quinte 3 Fuß,
* Joh. Christ. V. Dreyhaupt a. a. O.
/
14*
212 ^lax Seiffert,
Im Rück-Positiv:
Principal 4 Fuß, Octave 2 Fuß,
Gedackt 8 Fuß, Spitzflöte 1 Fuß,
Quintaden 8 Fuß, Mixtur 3 fach,
Quinte 3 Fuß, Krumhom 8 Fuß,
Gedackt 4 Fuß, Schallmey 4 Fuß.
Gemshom 2 Fuß,
Im Pedal:
Subbaß 16 Fuß, Spitzflöte 1 Fuß,
Principal 8 Fuß, Posaune 16 Fuß,
Oktave 4 Fuß, Cornet 2 Fuß.
Nebenzüge : Stern, Tremulant, Sperr- Ventil, Calcantenglocke. Es hat
aber dieses Werck noch kurtze Octaven. «
Bei den Angaben über die Ausführung der Choralbearbeitungen
sind die dreistimmigen Stücke nicht berücksichtigt worden. Betrachtet
man sich nun diese näher, so findet man, daß Scheidt darüber auch
nicht gut hätte Vorschriften machen können, ohne sich auf weit-
schweifige Erörterungen einzulassen. Er überließ es dem Geschmack
und Verstand eines Jeden, zu beurtheilen, wo das Pedal am Platze
ist und wo nicht. Liegt etwa die Melodie im Baß und die beiden
oberen Stimmen figurieren dagegen, so kann hier das Pedal die
Melodie übernehmen; ebenso kann es sein, wenn die Mittelstimme
die Melodie führt und nicht die Grenzen des Pedals nach oben
überschreitet. Das Pedal würde man aber nicht anwenden, wenn
die Melodie im Diskant liegt und die beiden luiteren Stimmen in
parallelen Figuren sich ergehen ; hier wäre das Spielen mit getrennten
Manualen angebracht. Die Ausführung der vierstimmigen Choral-
bearbeitungen kann sich femer auch nicht unter allen Umständen
nach Scheidts Angaben gerichtet haben; wir haben hier nr. 2 der
Choralbearbeitungsformen im Auge. Die erste Art derselben kann
wohl mit getrennten Manualen und Pedal vorgetragen werden, nicht
aber die beiden andern. In der zweiten Art liegen die beiden Mittel-
stimmen manchmal so weit auseinander, daß sie von einer Hand
unmöglich gespielt werden können; hier kann nur ein Manual und
höchstens noch das Pedal zur Ausführung herangezogen werden.
Aber auch das Pedal muß man auslassen bei der dritten Art: die
Sprünge und Figuren, die hier der Baß auszufahren hat, sind nicht
pedalmäßige.
Ein Vergleich der Registriningsangaben mit der Orgeldisposition
zeigt, daß Scheidts Bestreben mehr darauf gerichtet war, die Töne
der Choralmelodie aus dem begleitenden Stimmengewebe möglichst
scharf hervorstechen zu lassen, als darauf, die Klangfülle charakte-
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen SchOler. 213
ristisch abzutönen und die Farben allmählich* in andere überzuleiten
Wo er einen Wechsel eintreten läßt, da geschieht er plötzlich und
unvermittelt zu einem bestimmten musikalischen Effekt, beim Echo.
Sonst finden sich nicht die geringsten Anzeichen dafür, daß Scheidt
inmitten eines Stückes andere Register eingeschaltet, das Manual
gewechselt und dadurch, wenn auch noch so vermittelt, den FluB
der Stimmen unterbrochen hatte.
Das Tongebiet, auf welchem sich die Klavierstücke bewegen,
reicht von C bis H. Die chromatischen Töne innerhalb desselben sind:
Fis, fis, fis, fis.
Gis, gis, gis. —
B, b, b. —
— eis, eis, eis.
*""" eSj es, es.
Die Anwendung der Chromatik ist dieselbe wie bei Sweelinck. ' Das
Orgelmanual hat denselben Umfang und dieselben chromatischen
Töne, nur kommt hier noch gis hinzu. Daß die tiefen Oktaven kurze
waren, bestätigt uns die Disposition. Das Pedal reicht von D bis
c^ und hat alle Tasten mit Ausnahme von Es.
Was die Tonalität anbelangt, so gebraucht Scheidt — wir sehen
hierbei von dem n Kyrie a und den 9 i^MagnificaH ab^ —
dorisch : 7 mal,
dorisch transponiert: 9 mal,
phrygisch: 3 mal.
äolisch : 5 mal,
mixolydisch : 7 mal,
ionisch: 5 mal.
Die Chromatik spielt in der Tab, Nova dieselbe Rolle wie bei Swee*
Unck; sie dient dazu, um ein sonst diatonisch verlaufendes Motiv
weiterzubilden, oder sie erscheint als durchgeführtes Motiv. Die
Tonarten, in welchen sie vorkommt, sind Jonisch, Aolisch und
Phrygisch. Im übrigen läßt sich hier dieselbe Hinneigung zum
modernen Dur und Moll konstatieren, wie bei Sweelinck.
Bevor wir die Tabulatura Nova ganz verlassen, müssen wir noch
einige Andeutungen über die äußere Anordnung und den kirchlichen
Zweck des dritten Theils derselben machen. Zwischen dem 3. und
4. Abschnitt des » Kyrie dominicalen (III. 1) macht Scheidt die Be-
1 Vgl. oben S. 184.
2 Vgl. oben S. 210.
3 Vgl. C. von Winterfeld, Ev. Kirchenges., II S. 617, der sie bespricht.
214 ^^ax Seiffert.
merkung: n Gloria canit pastor((\ zu dem »Psalmus Jesus Christus unser
Heylandt« (III. 18) setzt er hinzu Jtsub communione« und dem zweiten
n31odus pleno Organo pedalitei^a (III. 20) legt er ein nt Benedicatntis
suh finem Condoms Vespertinae ludi solitaa zu Grunde. Beachtens-
werth ist es nun, daß auch die übrigen hier enthaltenen Stücke
eine ganz bestimmte Stellung innerhalb des Gottesdienstes einnahmen.
Die katholische Liturgie war ihrem Wesen nach unverändert in der
protestantischen beibehalten worden. Auch hier wurden Sequenzen,
Antiphonen, Kesponsorien, Hymnen etc. gesungen. An der Ausfuh-
rung derselben betheiligten sich der Geistliche, Chor, die Gemeinde
und Orgel. Zum Gemeindegebrauch dienten Gesangbücher, die jene
katholischen Melodieen enthielten, in denen sich aber mit der Zeit
die Anzahl der Hymnenübersetzungen, wie sie von Luther begonnen,
zusehends mehrt. Die Reihenfolge der einzelnen Liturgietheile war
in Norddeutschland wohl ziemlich die gleiche. Von der Ordnung
des Lüneburger Gottesdienstes^ weicht die in Hamburg^ wenig ab.
Vergleichen wir damit den 3. Theil der Tahxih Nova, so entspricht
die Reihenfolge der hier enthaltenen Stücke dem dortigen Gebrauche.
Den Anfang machen )) Kyrie« und nMa ff nificatjd den Beschluß nBene-
dicamus.a In der Mitte stehen die nHymni de tempore^n Eine Lüne-
burger Verordnung von 1649^ zahlt als nllymni de tempore ^^^ auf:
))Adventus: Nun kom der Heyden Heyland.
Nativitatis: Christum wir sollen loben schon.
Epiphanias . Waß fürchstu feind Herodes.
Quadragesim. : Christ der du bist tag und licht.
Paschatos : Heut triumphiret Gottes Sohn : oder Erschienen ist der
herrlich tag: oder Christ lag in Todesbanden.
Pe7itecostes : Kom heiliger Geist : oder Kom Gott schöpffer heiliger
Geist.
Trinitatis: Der du bist drey in Einigkeit.«
Die Tab. Nov, III enthält nach den r>Maffnificat<s:
y^Hyjnnus de adventu JJomini'. Vcni lledemptor gentium.
H. de nativitate Christi: A Solis ortus cardine.
H. Ckriste qui lux, Christe der bist tagk vnd licht.
Vita Sanctorum Decus Angelorum.
Veni Creator Spiritus.
0 Lux beata TrinitasM
Die nun folgenden » Credo iii unum Deum « und » Jesus Christus unser
^ Johann Seb. Bach als Schüler der Partikularschule zu St. Michaeli« in
Lüneburg. "W. Junghans, Programm, Lüneburg 1870. S. 14 ff.
2 »Cantica Sacraa . . . Franciscus Elerus, Hamburg 1588. Vorrede.
3 Junghans a. a. O. S. 16.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. 215
Ilevlandtd gehören in die »Missaa hinein. Die Ordnung derselben
ist, nachdem die Einleitung vorbei ist, diese :^ »Finita conciofie cani-
tur a populo Wy gelöuen. aliquando Symbolum Nicenum velj Liiania,
Exhortatioßt ad communicaturos a Ministro Ecclesiae ad altare, Deinde
ab eodem canitur praefatio, Sanctus latine, velj Esaia dem Prophe-
ten, etc. Oratio Dominica canitur a Ministro ^ Deinde Verba Coenae
Domini, Suh Communione^ Agnus Dei etc, et st multi sunt communi-
caturij^ addatur Jesus Christus vnser Heilandt, vel, Godt sy gelauet,
etc.« Mit dem III. Theil seiner Tab. Nov. schließt sich also Scheidt
eng dem Verlaufe des Gottesdienstes an. Dieser Theil ist somit ein
lichtiges Orgelbuch, während die ersten beiden Theile Klavier- und
Oi^elmusik nebeneinander in sich aufnahmen. Erklärt wird diese
Gemeinschaft durch die lange Praxis der Koloristen; die innere
Trennung der Klavier- und Orgelmusik wird aber dadurch nicht
au%ehoben, denn die Organisten brachten sich erst »in die gemeine
Buchstaben Tabulatur, « was sie spielen wollten. Und sie werden zu
beurtheilen gewußt haben, was in die Kirche gehört und was nicht.
Wir kommen nunmehr zu der Besprechung des zweiten Orgel-
werks von Scheidt; dies ist ein n Tabulatur-Bnch Hundeit geistlicher
Lieder und Psalmen . . . Für die Herren Organisten, mit der
Christlichen Kirchen und Gemeine auff der Orgel, desgleichen auch
zu Hause, zu spielen und zu singen,« Görlitz 1650. Über die
Stellung der Orgel zum Gemeindegesang und über das VerhältniB
seiner Choralsätze ^ zu denen anderer Meister spricht sich Scheidt
in der Dedikation folgendermaßen aus: d Sonderlich aber so ist nun-
mehr von vielen Jahren bey Christlichen Versammlungen gebräuch-
lich, daß nicht nur in Lateinischer Sprach die Psalmen Königs
Davids, die Hymnen oder Lobgesänge der alten Kirchen, auff Moteten,
Madrigalien und Concerten Manier von alten und neuen Componisten
aufgesetzt, mit menschlichen Stimmen, Orgeln und allerley Instru-
menten figuriret und musiciret. sondern auch in der Teutschen
Mutter-Sprach obgedachte und andere Lobgesänge, des Herrn Lutheri
und vieler gottseliger Männer, choraliter gesungen, und die so kost-
baihch verfertigte künstliche Orgel- und Pfeiffen-Wercke darzu ge-
braucht und mit eingespielet werden, nicht ohne sonderbare Erbauung
der Einfaltigen, auch Ermunterung und mehrer Andacht-Erweckung
aller gegenwertigen Kirchen-Glieder; dannenhero unterschiedene be-
hihmte Musici, solchen löblichen Zweck desto mehr zu befördern,
* »Cantica Sacra,(i Fr. Eier. Vorrede.
^ Man verbessere Ritter a. a. O. I S. 195, 2.
3 welche wiederum »die Herren Organisten und Music Liebhaber — leicht-
lich in die gewöhnliche Tabulatnr absetzen . . . können.«
216 Max Seiffert,
die Teutschen Christlichen Lieder und Lobgesänge mit vier Stimmen
in Noten abzusetzen ihnen mehrmal haben angelegen seyn lassen . . .
mit vier Stimmen, mit solchen Bässen und Mittel-Parteyen, etliche
mehr, als einmal, und zwar dergestalt componiret, als weder von
anderen deren Arbeit ich zur Hand gehabt, noch von mir selbsten
vorher geschehen, solche Compositionen auch, wie andere mehr, vor
vielen Jahren in die Noten gebracht.«
Ehe es dazu kommen konnte, daß der Gemeindegesang in der
Kirche allgemein üblich wurde, mußte sich zweierlei ereignen.
Erstens mußte ein Instrument zur Stelle sein, welches geeignet war,
die Gemeinde zu fuhren und zu stützen, und sodann mußte die
polyphone Mensuralmusik zu Gunsten einer akkordischen Satzweise
weichen, in welcher, allen verständlich, die Melodie den obersten
Platz einnahm. Die Ansätze dieser allmählichen Überleitung und
Umwandlung reichen über ein Jahrhundert zurück. Von Conrad
Celtis,^ einem der Hauptbegründer des Humanismus, ging eine An-
regung aus, die zunächst für die Musikübung des 16. Jahrh. von
großer Wichtigkeit werden sollte. Tritonius zuerst, dann Michael,
Senfl und Hofheimer komponierten die Oden des Horaz, sowie
andere carmina^ in einer ganz neuen Art, welche mit der wesentlich
deklamatorischen Natur des gregorianischen Gesanges ein ziemlich
geregeltes, dem Metrum entsprechendes Längen verhältniß der Töne
vereinigte; die Melodie lag immer in einer der Mittelstimmen des
naturgemäß einfach akkordischen Satzes. Zunächst beeinflußt davon
wurden die Chorgesänge des lateinisch-deutschen Schuldramas,^ wel-
ches sich sehr rasch durch Deutschland und andere Länder ver-
breitet hatte und an den Schulen eifrig gepflegt wurde. Durch die
Kantoren nun, in deren Händen die Pflege des Schulgesanges und
gleichzeitig auch die des kirchlichen Chorgesanges lag, fand eine
Einwirkung jener metrischen Musik unmittelbar auf die kirchliche
statt. Man übersetzte nunmehr auch die Psalmen metrisch und
komponierte sie demgemäß (Goudimel, Olthof, Lobwasser). Hier
setzte nun eine Bewegung ein. die sich schon seit einiger Zeit fühl-
bar gemacht hatte. Durch den Einfluß des weltlichen Liedes, wie es
aus Italien nach Deutschland gekommen war, verlegte man die Me-
lodie aus dem »tenora in die oberste Stimme. Indem sich nun mit
diesem neuen Prinzip die einfache akkordische Satzweise verband,
so war damit der Boden gewonnen, auf welchem das protestantische
Kirchenlied sich rasch entfalten konnte. Ein Gemeindegesang war
1 Vgl. R. V. Liliencron, Vierteljahrsschr. f. M. III S. 26fr.
2 Vgl. R. v. Liliencron, Vierteljahrgschr. f. M. VI. S. 309 ff.
J. P. Sweelinck und aeine direkten deutschen Schaler. 217
freilich nar bis zu einer gewissen Grenze möglich, so lange es ein
Cesangschor war, an dessen einfachen akkordischen Satz sich der Ge-
meindegesang anlehnen konnte. Sang die volle Gemeinde mit, so
mußte diese Massen Wirkung den Chor erdrücken; da der Chor nicht
sur Geltung kommen konnte, gewährte er also auch dem Gemeinde-
gesang nicht die nöthige Stütze. Sang nicht die volle Gemeinde
mit, sondern wie es früher öfter geschehen sein mag, nur der-
jenige, welcher etwa aus dem Gesangbuch die Melodie verfolgen
konnte, dann war die Gemeinde kein selbständiger Faktor mehr
neben dem Chor, dessen Wirkung sie weder beeinträchtigte noch er-
höhte. Hier trat die Orgel helfend ein. Sie konnte in Bezug auf
Vielstimmigkeit den Platz des Chores einnehmen, aber sie war auch
selbst bei der größten Entfaltung des Gemeindegesanges im Stande,
sich ihm gegenüber als gleichberechtigter Faktor zu behaupten. Und
dies ist der Gesichtspunkt, von dem aus wir die Werke der Choral-
setzer des 17. Jahrh. betrachten müssen.^ Bei Lucas Osiander (1586)
ist noch ein Chor der Führer der Gemeinde. In dem Hamburger
Melodeyen-Buch (1604) tritt die Orgel zum ersten Male auf; sie wird
aber noch mit einem Singechor vereinigt, was sich jetzt noch öfter
zeigt, oder wechselt mit ihm ab (Gese 1607, Hassler 1608). Die
Oigel befindet sich hier also noch in einer ganz untergeordneten
Stellung; nicht ihre Technik, sondern die Rücksicht auf den Gesang
des Chors und der Gemeinde ist bei der Komposition maßgebend.
Jetzt nahm aber die Orgelmusik einen gewaltigen Anlauf. Das
Stieben der Koloristen hatte ihre Bewegimgen von den Schritten
der Vokalmusik frei gemacht, an ihre Stelle trat der Choral; um
ihn als festen Kernpunkt gruppierten sich die inzwischen aus den
Niederlanden herbeigeholten neuen Formenkeime. Und nun war
die Orgel stark genug, um neben den Gemeindegesang als über-
legener Genosse hinzutreten. Sie ist jetzt das herrschende Instrument.
Auf diesem Höhepunkt befindet sich Scheidts GörUtzer Tabulaturbuch.
Seine Choralsätze sind aufzufassen als konsequente Fortsetzung der
Prinzipien, auf welchen die Tab. Nov, beruht, und als erste Schritte
in der Richtung derjenigen Entwickelung, welche zu den Choral-
sätzen Joh. Seb. Bachs führt.
Es verlohnt sich der Mühe, dies Urtheil durch die Erläuterung
einzelner Punkte noch anschaulicher zu machen. Wie die protestan-
tische Kirche hinsichtlich der liturgischen Ordnung des Gottesdienstes
an die Traditionen der katholischen Kirche anknüpfte, so that sie
es auch in der äußeren Anordnung der Gesangbücher. Dem alten
> Vgl. Ritter a. a. O. S. 193 ff.
218 ^ax Seiffert,
Gebrauch folgend, gruppierte man die Lieder nach der Reihenfolge
der Feste des Kirchenjahres. So geschieht es auch bei den nCanttca
Sacraa (15S8) von Franz Eier. Der größte Theil (53) der hier ent-
haltenen Lieder findet sich mit denselben Melodieen (nur wenige
haben einer anderen Platz gemacht) und fast in derselben Reihen-
folge bei Scheidt, der somit auch dem alten Usus sich anschließt.
Scheidt behält femer die alte rhythmische Fassung der Choral-
melodien bei, die wir fast übereinstimmend im Hamburger G-esang-
buch wiederfinden. In der rhythmischen wie in der melodischen
Fassung des Chorals mußte sich Scheidt natürlich nach dem Gebrauche
richten, wie er sich in seiner Gemeinde herausgebildet hatte. An
der Art, wie nun Scheidt die rhythmischen Melodien harmonisch
behandelte im Gegensatz zu den älteren Meistern, zeigt sich ganz
deutlich die veränderte Stellung der Orgel zur Gemeinde. Die
Choralsätze der älteren Periode sind einfach akkordisch ; der Wechsel
der Harmonieen wird durch die Fortschritte der Melodie herbeigeführt.
Eine solche Satzweise war nöthig, da ein Singechor in erster Linie
zur Ausführung in Betracht kam. Wenn ein Zusammenwirken von
Chor und Gemeinde überhaupt möglich sein sollte, so mußten die
rhythmischen Verhältnisse der l^egleitstimmen sich nach denen der
Oberstimme regeln, damit in jedem Moment alle sich gleichzeitig
dem Gemeindegesang anpassen konnten. Sobald aber die Orgel ihre
Selbständigkeit durchgesetzt hatte, brachte sie Leben und Bewegung
in die starren Massen der Akkorde. Die neueren Melodieen, welche
einem bestimmten Taktmaß folgen, wie z. B. die in 3 zeitigem Takte
und einige liedmäßig gehaltene im C-Takt (nr. 9. 10. 15. etc.). ge-
statten freilich den begleitenden Stimmen nicht viel freie Bewegung,
wohl aber die älteren rhythmischen. Soll die Behandlung derselben
orgelgemäß sein, so darf sie die Harmoniefolgen nicht an die rhyth-
misch wechselnden Schritte der Melodie binden; denn die Orgel ist
ihrer Natur nach nicht im Stande, jene rhythmischen Verhältnisse so klar
zu legen, wie es wohl ein Chor vermag. Einfachheit und namentlich Ein-
heitlichkeit der rhythmischen Verhältnisse ist für sie erforderhch. Diesen
Anforderungen kommen Scheidts Choralsätze getreuhch nach. Die har-
monischen Unterstimmen sind bei den rhythmischen Chorälen nicht im
geringsten an die Melodie gebunden. Sie entfalten sich frei; ihre Bewe-
gungen sind geregelt nur durch den vorgeschriebenen C-Takt, nicht
durch die wechselnde Rhythmik der Melodie. Diese mag noch so sehr
durch Synkopen Rückungen erfahren, die darunter liegenden Har-
monieen schreiten weiter in ruhigem Fluß. Man darf nun ja nicht
meinen, daß dies Verfahren der Orgel den Gemeindegesang eher
störte als stützte. Die Orgel — ganz abgesehen davon, daß die Ge-
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. 219
meinde doch gewohnt war, rhythmisch zu singen — hatte ja ein
Mittel, jene scheinbar nicht zu vereinigenden Gegensätze gleichwohl
einander zu nähern. Die rechte Hand spielte die Melodie auf dem
scharf registrierten Riickpositiv, die linke die beiden Mittelstimmen
auf dem Oberwerk, das Pedal ^ den Baß. So leuchtete, allen sicht-
bar, die Melodie durch das zartere Gewebe der Unterstimmen hin-
durch und diese wiederum machten durch ihre einfache Zeichnung
den rhythmischen Wechsel der Melodie anschaulich. Dabei konnte
die Orgel ihre eigene Technik zur Geltung bringen, sowohl hinsicht-
lich der Spielweise, als auch der Schreibart.
Schon oben^ bemerkten wir, daß, wenn man bei den motetten-
artig eingeleiteten Choralbearbeitungen der Tab. Noca Vorspiele und
Zwischenspiele striche, ein rein akkordischer Satz übrig bliebe, dessen
Fortschritte nur durch eine scheinbare Polyphonie verdeckt würden.
Man kann dies namentlich bei denjenigen Stücken bemerken, in
denen der Choral im Diskant liegt. Den Grund für diese eigenartige
harmonische Polyphonie fanden wir in dem Verschmelzen des poly-
phonen Wesens der Choralvariation mit dem akkordlichen Wesen der
Liedvariation. In den Choralsätzen der Görlitzer Tabulatur zieht
nun Scheidt die letzte Konsequenz aus dem 1G24 begonnenen Ver-
fahren. Die Choräle folgen demselben Prinzip; nur haben die Aus-
drucksmittel, die damals noch eine gewisse Zurückhaltung an den
Tag legten, an Bestimmtheit des Auftretens zugenommen. Die Be-
gleitung von Melodieen in den Kirchentonarten bewahrt in der Tab,
Nov. noch — abgesehen natürlich von den Stücken, in welchen
Scheidt ausgesprochenermaßen die Chromatik durchführen will —
das Wesen derselben, wenn sie auch hier und da nicht vor Tönen
zurückschreckt, die außerhalb der Tonarten gelegen sind; dadurch
bleibt jenen Stücken wenigstens im ganzen der Charakter der dorischen
etc. Tonart gewahrt. Die Görlitzer Tabulatur dagegen macht von
der Chromatik den weitgehendsten Gebrauch ; diese wirkt hier gerade
bei den charakteristischsten Kirchentonarten, Dorisch, Phrygisch, gänz-
lich destruierend und wir stehen hart an der Grenze des modernen
Dur- und Mollsystems. Dazu gesellt sich eine große Reihe von har-
monischen und kontrapunktischen Kühnheiten, die uns zeigen, wie
souverain die Orgel damals über ihre musikalischen Ausdrucksmittel
verfugen durfte. Zur Zeit der TabuL Nova mußte sich die Orgel
jene erst aneignen, jetzt steht sie über ihnen. Aus der reichen Fülle
jener Besonderheiten seien ein paar herausgegriffen:
' Vgl oben S. 210. Das Pedal reicht hier übrigens von C bis c und hat sämt-
liche chromatischen Töne mit Ausnahme von Cis und Es.
2 Vgl. 8. 207.
220 ^** Seiffert,
1) Die überaus häufige Anwendung des Dreiklangs mit über-
mäßiger Quinte in der Sextakkordlage.
2) Der uneingeschränkt freie Eintritt der Dominantseptime.
3) Der unvorbereitete Eintritt des verminderten Septimenakkordes.
4) Der kühne, oft überraschende Gebrauch von Nebennoten, deren
oft mehrere zusammengeführt werden.
5) Die Anwendung von Durchgangsnoten zu Vorhalten.
6) Ein Vorhalt wird durch eine Pause unterbrochen, nach der-
selben frei eingeführt und dann erst aufgelöst.
In dieser Richtung geht von nun an die Entwickelung des Choral-
satzes weiter ; die Orgel ist das Instrument, nach dessen Eigenart dieser
sich richten muß. 35 Jahre nach dem Erscheinen der Görlitzer Ta-
bulatur wurde der Mann geboren, welcher die Entwickelung zum
Abschluß und zur höchsten Vollendung bringen sollte. In seinen
Choralsätzen vereinigt sich die tiefe Innigk^t des harmonischen Em-
pfindens mit der größten Freiheit des kontrapunktischen Gestaltens.
Scheidt ist der Begründer, Bach der Vollender. —
Überblicken wir nun am Schlüsse unserer Darstellung noch ein-
mal Scheidts Wirksamkeit als Orgelmeister, wie sie in seinen beiden
Tabulaturbüchern vor uns liegt, so muß es uns mit Befriedigung er-
füllen, zu sehen, wie gewissenhaft Scheidt seine Lebensaufgabe ge-
löst hat. Tief in sich aufgenommen hat er die Kunst seines Lehrers ;
er ist aber dabei nicht stehen geblieben, sondern er hat die einzelnen
Richtungen weiter verfolgt und ein ganz neues Gebiet erschlossen,
welches die Quelle einer ungeahnten reichen Entwickelung werden
sollte. An der starken Orgelmusik gewann die kirchliche vokale
Kunst, die an den Folgen des 30jährigen Krieges darniederlag, ihren
festen Halt; von ihr gestützt, konnte sie sich wieder erholen. Orgel-
meister waren es, die jene ihrer Vollendung durch Seb. Bach ent-
gegenführlen.
3.
MeleUor SchUdt in Hannover. (1592—1667).
Was unsere Lexikographen über Schiidts Lebensgeschichte zu
berichten wissen, beschränkt sich auf wenige dürftige Notizen, und
diese sind zum größten Theil noch unrichtig. Zum Glück haben
sich einige Kirchenbücher und Urkunden erhalten, die uns dasjenige,
was sie bieten, wenn auch nicht in reichlichem Maße, so doch wenig-
stens in unzweifelhafter Form bieten.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. 221
In Hannover wie auch in Wolfenbüttel waren zu Anfang des
17. Jahih. verschiedene Vertreter des Namens Schildt als Organisten
thätig. Gleichwohl ließen sich Geburtsort und -jähr von Melchior
Schildt ^ aus Taufakten nicht ausfindig machen. Denn diese reichen
an der Marktkirche zu Hannover nur bis 1613, an der Hauptkirche
m Wolfenbüttel nur bis 1612 zurück. Das erste Dezennium des
17. Jahrb. wäre aber der späteste Zeitraum, innerhalb dessen M. Schildt
geboren sein könnte. Die Auskunft, welche uns die Taufregister
versagen, gewähren uns nun in ausreichender Weise spätere Urkun-
den. In einer später näher besprochenen Urkunde von 1660 erklärt
Schildt selbst, daB er 1655, obwohl schon im 63sten Lebensjahre
stehend, einen gewissen Entschluß gefaßt habe. Daraus geht also
hervor, daß er 1592 geboren ist; bei diesem Thatbestande mußte
freflich eine Durchsuchung der Taufregister resultatlos verlaufen.
Die Geburtsstadt war aller Wahrscheinlichkeit nach Hannover. Dieser
Stadt vermachte er, wie wir später sehen werden, bedeutende Sum-
men für wohlthätige Zwecke. Die Zeitgrenzen für seinen Aufenthalt
bei Sweelinck liegen ziemlich weit auseinander; die Möglichkeit
desselben erstreckt sich auf den Zeitraum von 1608 — 1621. Genauere
Angaben lassen sich bis jetzt wenigstens darüber nicht machen. Besser
unterrichtet werden wir über Schiidts Thun vom Jahre 1623 an. In
diesem Jahre wurde er als Nachfolger von Christoph Seile Organist
an der Hauptkirche B. M. V. in Wolfenbüttel; hier wirkte er bis
1626.* In diesem Jahre folgte ihm hier sein Bruder Ludolph Schildt,
welcher das Amt von 1626 bis 1630 und, nachdem inzwischen Delphin
8tnmck von 1630 bis 1632 den Dienst versehen, zum zweiten Male
Yon 1632 bis 1637 verwaltete. Wohin Melchior Schildt 1626 seinen
Aufenthalt verlegte, erfahren wir leider nicht; erst von 1629 an tritt
er wieder in unseren Gesichtskreis, er wurde nämlich 1629 als Or-
ganist an der Marktkirche (SS. Jacobi & Georgii] zu Hannover an-
gestellt.^ Seine Vorgänger in diesem Amte waren gewesen: Anton
Schildt (Vater von Melchior und Ludolph?) von 1593 bis 1621;
Ludolph Schildt von 1621 bis 1626, worauf er sich nach Wolfen-
hüttel begab; Anton Schildt zum zweiten Male von 1626 bis 1629.
Dem letzteren folgte dann also 1629 Melchior Schildt, der nun bis
an sein Lebensende hier in Hannover wirkte. Es ist erfreulich, daß
1 So schreibt er sich selbst, nicht Schild.
' Geschichte der alten Orgel in der Hauptkirche B. M. V. in Wolfenhüttel
Sehnar Müller, Braunschweig 1877, S. 8.
> Kirchliche Nachrichten aus der Stadt Hannover Ton 1533-1883, Wilhelm
Höpfoer, Hannover 1883, 8. 39 f.
222 ^** Seiffert,
wenigstens über die Zeit seines hauptsächlichsten Wirkens verschie-
dene Dokumente uns Aufschluß geben. ^
Anton Schildt erhielt sein letztes »Deputat« für das Osterquartal
1629 mit 20 Gulden- ausbezahlt.^ Das Gehalt für das Johanms-
quartal wurde aber bereits an den Nachfolger, Melchior Schildt, ver-
abfolgt, der demnach im Juli d. J. etwa sein Amt in Hannover an-
getreten haben wird. Wenn man es für nöthig befand, das Gehalt
Melchior Schiidts auf vierteljährlich 45 Gulden zu erhöhen, so wird
der Grund dafür darin gelegen haben, daß jener schon eine berühmte
Persönlichkeit war. Er hatte außerdem eine Dienstwohnung umd,
der Sitte jener Zeit gemäß, wahrscheinlich auch Nebeneinkünfte an
Naturalien und Emolumenten; näheres ließ sich jedoch darüber nicht
ermitteln. Die Besoldung von jährlich 180 Gulden hat M. Schildt
bis zu seinem Tode gehabt.
Am 26. Nov. 1640 verheirathete sich M. Schildt mit Margarethe
Cassel.^ Diese war die Tochter des Pastors Cassel zu Lenthe bei
Hannover und, bevor sie die eheliche Verbindung mit Schildt ein-
ging, bereits zweimal verheirathet gewesen.^ Aus diesen beiden vor-
aufgegangenen Ehen stammte gewiß das ansehnliche Vermögen,
welches sie in die dritte Ehe mit M. Schildt hineinbrachte. Daß
dieser selbst aber auch nicht ohne Vermögen war, beweisen spätere
Urkunden. Da die Ehe kinderlos blieb — die Taufregister beweisen
wenigstens nicht das Gegentheil — , so beschlossen beide, ihr Ver-
mögen zu frommen Stiftungen zu verwenden. Schon vor seiner Ver-
heirathung, im Jahre 1645, hatte M. Schildt dem Armen- und Waisen-
haus in Hannover ein Kapital von 400 Gulden geschenkt. <^ Am
S. JuU 1652 errichtete er sodann mit seiner Ehcfran eine gemein-
schaftliche Stiftung, welche nach dem Tode beider Eheleute ins
Leben treten sollte. Die Stiftung wurde dotiert:
1] mit einem Kapitale von 3000 Thir., 1652 bei der freien Stadt
Lübeck belegt, welches unter dem Namen »Schildt-Cassersches Stipen-
dium« verwaltet und mit seinen jährhchen Zinsen von 150 Thlr. für
Darme studirende Knaben auf Universitäten« verwandt werden sollte ;
1 Ich möchte es an dieser Stelle nicht unterlassen, Herrn Stadtk&mmerer
E. Behre in Hannover für die liebenswürdige Bereitwilligkeit, mit welcher er sieh
der Durchsicht der oben besprochenen Aktenstücke unterzogen hat, nochmals meinen
verbindlichsten Dank auszusprechen.
2 1 Quid. ^ 20 Mariengroschen, 1 Thaler » 36 Mgr.
3 Kirchenregister der Marktkirche.
^ Trauregister, von 1612 an geführt.
^ Privatnaehrichten zufolge.
^ Diese und die folgenden Urkunden werden bei der Marktkirehe aufbewahrt
I J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. 223
2) mit einem Kapitale von 500 Thlr., laut Obligation bei »Herr
Johann Niemann, Jiürger und Handelsmann binnen Hamburg« be-
legt, dessen jährliche Zinsen von 25 Thlr. an die Patronen und Pro-
visoren des Armen- und Waisenhauses am Steinthore zu Hannover
auf »dessen Unkost« gezahlt werden sollten ;
3) mit einem Kapitale von 600 Thlr., laut Obligation bei dem
Rathe der Stadt Hannover belegt, von dessen jährlichen Zinsen
(30 Thlr.) die durch die Stifter ernannten Administratoren und Exe-
kutoren 10 Thlr. empfangen sollten. Das Übrige sollte aber unter
die armen Currendenschüler »zu zweien Zeiten« vertheilt werden.
Margarethe Schildt starb nun nach 7 jähriger Ehe im Februar
1653.* Für den Fall des Todes des einen und der Wiederverhei-
rathung des andern Ehegatten war im genannten Legat keine nähere
Bestimmung getroffen worden. M. Schildt selbst dachte auch wohl
zunächst nicht an eine Wiederverheirathung; denn am 17. Juni 1654
belegte er bei der freien Stadt Lübeck wiederum md pias causasa
ein Kapital von 2000 Thlr. Erst in seinem 63sten Lebensjahre, dem
dritten Jahre nach dem Tode seiner Frau, fühlte er sich »durch
podagraische Flüsse an Haupt, Händen und Füßena und durch den
Mangel an gehöriger Pflege veranlaßt, wieder zu heirathen. Am
12. Juli 1655 führte er «Jungfer Use Margarethe Scher« (Scheer) zum
Traualtar. 2 In dieser Ehe wurden ihm 4 Kinder geboren :3
»1656, 7. May. Sophie Margarethe.
1657, 14. Sept. Melcher Cordt.
1662, 27. Febr. Anna Catharine.
1664, 17. May. Ilse Margarethe.«
Die älteste Tochter starb aber schon 1659.* Nunmehr trat M. Schildt
dem Gedanken näher, wie er die Vergünstigungen des obigen Stipen-
diums seinen Kindern zuwenden könne, um wenigstens ihre Zukunft
zu sichern, falls er stürbe. In der Osterwoche des Jahres 1660 er-
richtete M. Schildt eine als zweite Dotation bezeichnete Urkunde
bezüglich des bei der freien Stadt liübeck belegten Kapitals von
2000 Thlr. Er ordnete darin an, daß die jährlichen Zinsen von
100 Thl. 25 Jahre lang zu seiner Kinder Unterhalt und Erziehung
verwandt werden sollten. Nach Ablauf dieser Zeit sollten, der ur-
sprünglichen Bestimmung entsprechend, von den 100 Thlrn. 24 Thlr.
an die beiden untersten Schulkollegen ^ gezahlt, 64 Thlr. unter arme
* Sterbelisten von 1611 an geführt.
2 Trauregister.
^ Taafregister.
* Sterbelisten.
^ an der alten Stadtschule, dem spateren Lyceum.
224 M" Seiffert,
»Bettlägerige, Lahme, Blinde und Krippeiu vertheilt und 12 Thlr.
zu den Administrationskosten verwandt werden. In demselben Jahre,
1660, »uff Pfingsten« errichtete M. Schildt sodann eine als Zusatz
und Nachtrag zu der Stiftung vom 8. Juli 1652 bezeichnete Urkunde.
Er erklärt hierin, daß sein und seiner verstorbenen Frau gesamtes
Kapitalvermögen im Betrage von 6322 Thlr. 8 mgr. y>ad pias causas
verordnet« sei, beklagt mit vielen wehmüthigen Worten, daß dieses
seinen Kindern entzogen werde; dadurch fühle er sich in seinem
Gewissen sehr bedrängt. Er verordnet nun, daß von den jährlichen
Zinsen (205 Thlr.) des gesamten Stiftungskapitals der Betrag von
145 Thlr. zur Alimentation seiner Eander verwandt werden solle.
Für das Stipendium sollen zunächst nur jährlich 50 Thlr. zurück-
gelegt werden. Demnächst soll sein Sohn »Melchior Curdt Schiiten«,
wenn derselbe, wie er hoffe, die Universität beziehen und Theologie
studieren würde, das Stipendium 8 Jahre lang erhalten. Von den
übrigen Modalitäten, Eventualitäten u. s. w. der umfangreichen und
weitläuftigen Schriftstücke können wir hier absehen. Die Stiftungen
sind übrigens noch gegenwärtig in Wirksamkeit. Daß der Stamm-
halter dem Wunsch des Vaters entsprach, erfahren wir durch Walther :*
»Der Sohn hat zu des Vaters-Lebzeit studiret, und ist nachgehends
Rittmeister; die Tochter aber an einen Amtmann verheyrathet worden«.
Als Todesjahr M. Schiidts ist bisher immer 1668 genannt wor-
den, diese Angabe ist aber unrichtig. Die letzte Gehaltszahlung^
erfolgte für das Johannisquartal 1667 mit 45 Gulden. Zu Michaelis
1667 erhielt »die Witwe« das Gnadenquartal mit 36 Gulden. Die
Sterbelisten bekunden, daß M. Schüdt am 22. ijai 1667 gestor-
ben ist. 38 Jahre hat er der Kirche als Organist gedient und ein
Alter von 75 Jahren erreicht. Es folgte ihm im Amte Andreas
Kniller. Eine Vermuthung sei hier noch ausgesprochen, betreffs der
Thätigkeit M. Schiidts in den Jahren 1626—1629. Es liegt nahe
anzunehmen , daß er in dieser Zeit an der alten Stadtschule als
Schulkollege beschäftigt war. Weil er aus persönlicher Erfahrung
die dortigen Verhältnisse kannte, bedachte er in einer seiner Stiftungen
auch die beiden untersten Lehrer »zur Verbesserung ihres Gehaltes«.^
Von M. Schiidts Kompositionen sind nur 4 auf uns gekommen,
2 Orgel- und 2 Klavierstücke. Die beiden Choralbearbeitungeu :
»Hertzlich lieb hab ich dich o mein Herr. Ad manuale duplexn und
^ Lexikon Sp. 552. »Zu des Vaters-Lebzeit« kann er unmöglich studiert
haben; der Vater starb 1667, Melchior Curt hätte also als lOj ähriger Knabe schon
studieren müssen.
2 Kirchenregister.
3 Vgl oben S. 223.
r
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schiller. 225
•Allein Gott in der Höhe sey Ehr« ^ bewegen sich in uns von Scheidt
her bekannten Formen; die innere Ausgestaltung derselben ist aber
eine besondere. Der erste Choral löst die in der obersten Stimme
liegende Melodie in Figuren auf; die begleitenden ünterstimmen
gehen dagegen in ruhigen Harmonieen. Die Ausfuhrung auf der
Orgel geschieht, wie es auch Scheidt vorgeschrieben hat: die kolorierte
Melodie ist auf dem Rückpositiv , die tiefste Stimme auf dem Pedal
zu spielen; die Mittelstimmen übernimmt das Oberwerk. Vergleicht
man aber die musikalischen Ausdrucksmittel Schiidts mit denen
Scheidts in derselben Form, so fällt bei Schildt ein gewisser Fort-
schritt auf. Er fuhrt in die Choralbearbeitung auch die echoartige
Wiederholung von Akkorden ein; Scheidt benutzt dort nur die von
Figuren einer Stimme. Femer importiert Schildt zwei Elemente aus
derToccate: gebrochene Akkorde, deren einzelne Töne so lange aus-
gehalteu werden, bis durch das Eintreten des letzten von ihnen der
Akkord vollständig zum Erklingen kommt. Scheidt verwendete diese
Manier in seiner Choraltoccata; bei Sweelinck findet sie sich noch
nicht. Letzterer gebraucht dagegen öfter das zweite Element, von
welchem sich wieder Scheidt fernhält: das weite Ausschweifen einer
Stimme über das ganze Manual hinweg, wodurch der Zusammenhang
der übrigen Stimmen in ihrem akkordischen Fluß für kurze Zeit auf-
gehoben wird ; sowie das Heruntersteigen der obersten Stimmen unter
die begleitenden. Schildt macht davon am Zeilenende öfter Gebrauch.
Schiidts Chromatik bewegt sich in den allermeisten Fällen nur inner-
halb der beiden Quarten A — D und E — A, Die toccatenartige Coda
von Schiidts erster Choralbearbeitung durchläuft am Anfang 1 ^2 Oktave
vollständig chromatisch. Der zweiten Choralbearbeitung liegt nicht
die einfache, sondern die durch eine kleine Achtelfigur noch leb-
hafter gestaltete Melodie zu Grunde. Bevor die Oberstimme mit den
einzelnen Choralzeilen beginnt, wird sie von den Unterstimmen moti-
visch eingeleitet. Dies geschieht aber in einer Weise, wie wir sie
bei Scheidt noch nicht gefunden haben. Die einzelnen Stimmen
setzen nicht motettenartig mit ihrem Zeilenmotiv ein; sondern der
Satz ist, die Einleitung der ersten Zeile ausgenommen, von An-
fang an dreistimmig und erweitert sich beim Eintritt der Melodie
zur Yierstimmigkeit. Charakteristisch ist es, daß die Komposition
nicht beim Schlußton des Chorals ihr Ende erreicht, sondern
daB sich daran noch ganz frei 4 Takte toccatenartiger Figuren an-
schließen.
1 Mscr. Fol. K. N. 209, Stadtbibliothek Lüneburg, vgl. darüber W. Jung-
hans, a. a. O. S. 31 ff. S. die Notenbeilagen.
1891. 15
226 ^^*^ Sdffert,
Die beiden Klavierkompositionen ^ sind Variationen über ein
Lied «Gleich wie daß feuwr« und über den Tanz »Paduana Lfigrimcß.
Die erste Melodie war vom Verfasser nicht nachzuweisen ; die zweite
stammt von John Dowland her, weicht aber bei Schildt von der durch
Land 2 mitgetheilten Fassung ab. Die Variationstechnik ist im Ver-
gleich zu Scheidt glatter und abgerundeter. Die Figuren sind flüs-
siger ; durch ihre Geschmeidigkeit fließen die Harmonieen vermittelter
in einander über.
Was den Tastenumfang der Instrumente betrifit, so gestattet die
geringe Anzahl der Kompositionen keinen verbindlichen Schluß. Die
Kirchentonarten sind in diesen nicht eigentlich mehr vertreten. Die
erste Choralbearbeitung steht in cdur, die zweite in fdur. Von den
weltlichen Stücken verleugnet allerdings weder das erste den dorischen
(g [;); noch das zweite den äolischen Charakter gänzlich.
Es ist sehr zu bedauern, daß wir von dem Schaffen dieses Swee-
linck'schen Schülers, der anscheinend auch seine eigenen Wege
weiterging, augenblicklich nicht zahlreichere Überreste besitzen; um
so mehr, als wir erfahren, daß er ein zu seiner Zeit berühmter Mann
gewesen ist.^ Die Familie, welcher er angehörte, hat mehrere Ge-
nerationen hindurch Organisten unter ihren Mitgliedern gehabt. Ein
Gerdt (Kurt) Schildt starb 1569 als Organist an der Agidienkirche
in Hannover;^ von den oben genannten Männern genoß Anton Schildt
eine gewisse Berühmtheit, da er als 11. unter den 53 Organisten
sich befand, welche die Orgel zu Groningen zu prüfen hatten.'^ Von
Melch. Schildt berichtet uns noch Walther, ^ »daß man von ihm ge-
sprochen: Er könne, nachdem es ihm gefallig, spielen, daß man
lachen oder weinen müsse: hat die Gnade gehabt, daß Hertzog
Christian Ludwig ihn öffters in seinem Wagen nach Hofe holen
lassen.«
^ Handschriftlicher Adnex zu G. VoigÜänders Oden 1642, kgl. Bibl. Kopen-
hagen; mitgetheilt yon Hortense Panum, M. f. M. 1888, S. 27, 35 ff.
2 Tijdschriß v, N. Ned. Muziekgeschied., Deel II 1887, 8. 309.
3 Vgl. oben S. 195.
* Vgl. Höpfner, a. a. O. S. 40.
* A. Weickmeieter, ^Organum Gruningense redivivum^vi Quedlinburg u« Aschen-
Icben 1705, §. 11.
6 Lexikon, Sp. 552.
J. P. S-weelinck und seine direkten deutschen Schüler. 227
4.
Heinrich Seheidemanii in Hamburg (159?— 1663.)
Der Brand Hamburgs 1842 hat der Musikgeschichte übel mit-
gespielt; werth volle Dokumente nnd Notenscbatze haben dabei ihren
Untergang gefunden. Was ihm entronnen ist, besteht meist aus zu-
sammenhangslosen Nachrichten. Es ist ein glücklicher Zufall zu
nennen, daß sich darunter auch einige über H. Scheidemann ^ be-
finden, die in seine Lebensverhältnisse etwas mehr Klarheit hinein-
bringen.
Heinrich Scheidemann wurde, wie die späteren Lexikographen
berichten, um 1600 als Sohn des O^anisten an der St. Katharinen-
kirche zu Hamburg Hans Scheidemann geboren. Auf Kosten dieser
Kirche soll er im Jahre 1616 nach Holland gegangen sein, um bei
Sweelinck sich in der Musik weiter auszubilden. Als um 1625 Hans
Scheidemann starb, soll ihm sein Sohn im Amte gefolgt sein.^ Die
Richtigkeit dieser Nachrichten läßt sich nicht mehr kontrollieren.
Die Taufregister der Katharinenkirche beginnen erst mit dem Jahre
1614; die Rechnungsbücher, welche über die Reise nach Holland
Auskunft geben könnten, heben mit ihren Angaben erst Michaelis
1629 und die Sterbelisten gar erst 1783 an. Das Bestallungsbuch
aber, in welches die Kontrakte oder Ltistruktionen eingetragen wur-
den, spricht bis zum Jahre 1631 überhaupt nicht von einem Orga-
nisten. Wir müssen also jene Angaben auf Treue und Glauben hin-
nehmen. Nur die Richtigkeit des Geburtsjahrs und der Zeit des
holländischen Aufenthalts dürfen wir anzweifeln. Am 15. Nov.
1614 schrieb Sweelinck zu Ehren des »vromen Jongkmans« Heinrich
Scheidemann einen Kanon.' Diese Thatsache und der hier gewählte
Ausdruck beweisen, daß Scheidemann nicht allein schon vor 1616
mit Sweelinck bekannt war, sondern daß auch schon der Unterricht
bei demselben wahrscheinlich 1614 zu Ende war. Zum Abschied
mag Scheidemann von seinem Lehrer den Kanon erhalten haben.
1 Für die zeitraubende und mahevolle DurchfoTSchung aller Aktenstücke
nach Notixen über Scheidemann sowie für die Mittheilung der gefundenen Re-
sultate bin ich Herrn F. G. Schwencke, Organist an St Nikolai in Hamburg,
Bu besonderem Danke verpflichtet.
2 Gerber, Alt. Lexik., ü Sp. 418 f.; Signale für die musikalische Welt, Leipzig
1870. S. 817.
3 Vgl. oben S. 154.
15»
228 ^*^ Seiffert,
Dann ist aber das Geburtsjahr noch weiter zurück zu verlegen,
wenigstens bis 1596.
Am 27. Sept. 1631 wird Scheidemann zum ersten Male in den
Rechnungsbüchern erwähnt; unter diesem Datum steht die Notiz:
ytHenrico Scheidema7m, dem Organisten, weil ihm in seiner Krank-
heit viel auf Apotheker und Doctoren gegangen, verEhrt 6 ^^..^
Er muß also 1631 oder auch schon 1630 von einer schweren Krank-
heit heimgesucht gewesen sein. Zu seinem Organistenamte über-
nahm nun Scheidemann im Jahre 1633 noch die Funktionen eines
Kirchenschreibers. Den Amtseid als solcher legte er nach dem Be-
stallungsbuch am 10. Juli 1633 ab. Über das Gehalt, welches er
bezog, geben zwei große Rechnungsbücher, die Jahre 1640 bis 1664
enthaltend, genügende Auskunft. Er bezog als vierteljährliches
Gehalt. 212 ^. 8 y.?:
Johanni Zulage wegen der Rechnung ... 40 - —
Michaelis, zum Ochsen (zur Küche) ... 80 - —
Weihnacht, Opfergeld 9 - —
auf Neijahr 9- —
10 Sack Kohlen in natura geliefert.
Ostern Pasch-Semmel 9 - — «
Die Höhe des letzten Postens, für den sich auch die Bezeichnung
»Proben« oder »Pröven« findet, variierte sehr. Im Rechnungsjahr
1651/52 betrug sie 18 c%., in den Jahren 1659/60 und 1660/61 nur
6 J%'., durchschnittlich etwa immer 10 ^. Dazu kamen im Jahre
1649 zuerst noch
»wegen der Bier-Accise 24 ^
für Papier 6 -.«
Diese für damalige Verhältnisse günstige pekuniäre Lage setzte nun
Scheidemann in den Stand, sich ein eigenes Heim zu gründen; am
Sonntag Trinitatis (1. Juni) 1634 wurde er mit Maria Bökels »pro-
clamirt.ö2 Der Ehe entsprossen 5 Knaben und 4 Mädchen;^ es wur-
den getauft:
»1635. Febr. 18: Elisabeth.
1636. Aug. 16: Henrich.
1637. Oct. 5: Catharina.
1639, Sept. 29: Margaretha Maria.
1 Trauregister.
2 Taufregister.
k
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. 229
1642. Jun. 20: Julius Johan.
1644. Apr. 4: Anna Maigaretha.
1646. Dec. 21: Johan Henrich.
1649. Oct. 24: Daniel David.
1652. Jul. 8: David.«
Aus dem Vorkommen des Namens »David« darf man wohl schließen,
daß jener David Scheidemann, welcher an der Herausgabe des »Ham-
burger Melodeyen-Buch« (1604) betheiligt war, ein Oheim Heinrich
Scheidemanns väterlicherseits war. Mattheson^ berichtet: "H. S. ließ
seinen Sohn die Medicin studiren, darin er auch Doctor wurde«;
welcher der 5 Söhne es war, konnten wir nicht feststellen.
»Ao. 1636 zur Zeit des Organisten Hinrich Scheidemann ist die
Brust (an der Katharinenorgel) von dem Orgelbauer Fritsch verfer-
tigt mit folgenden Stimmen: 1. Principal 8 Fuß, 2. Octava 4 Fuß,
y>. Quintatön 4 Fuß, 4. Waldpfeife 2 Fuß, 5. Scharf 7 fach, 6. Dul-
eian 16 Fuß, 7. Regal 8 Fuß<(.2 Daß diese Vergrößerung auf
Scheidemanns Anregung vorgenommen wurde, dürfen ^vir wohl daraus
scUießen, daß er einige Jahre später als Sachverständiger zur Prü-
fiing der Marienorgel nach Lübeck berufen wurde. Dies geschah
kuTz vor Michaelis 1641, bevor dort Franz Tunder sein Amt antrat.
Scheidemann kam »auf der Herren Vorsteher begehren« herüber,
»die grosse örgell zu beschlagen, dafür ihme ist verehret 50 ^r,
was ehr an fuhr Von Vnd nach Hamburgk auch in seiner Herbergen
Veraehrett thut 20 J^.a,^ Scheidemann war also, ebenso wie Scheidt
und auch wohl Schildt, des Orgelbaues wohl kundig.
Von Schülern, welche Scheidemann im Orgelspiel ausbildete,
wird uns zunächst Werner Fabricius genannt. Dieser war am
^0. April 1633 zu Itzehoe geboren, kam noch jung nach Hamburg, wo
ihn Th. Seile, der Stadtkantor, liebgewann. »Auch die übrigen Pro-
fessores unterrichteten den gut begabten Knaben mit Vergnügen,
besonders Heinrich Scheidemann mit seiner kunstreichen Manuduction
anf dem Clavir«.* Fabricius war später Organist an St. Nikolai in
Leipzig und mit H. Schütz besonders befreundet. Die Lehrzeit des
Fabricius in Hamburg mag etwa um 1650 anzusetzen sein. Ein
^ Ehrenpforte, S. 332. Anm. 2.
' H. Sehmahl, Nachrichten über die Entstehung, Vergrößerung und Ueno-
virnng der Orgel der St. Catharinen - Kirche in Hamburg, Hamburg 1869, S. 6;
^^' S. 4 f. die ganze Orgeldisposition.
3 C. Stiehl, M. f. M. XVIII. S. 122.
* Leichensermon auf Fabricius, M. f. M. VII. S. 181.
230 ^^ Seiffert,
zweiter Schüler war Matthias Weckmann, welcher vorher von
Gio. Gabrieli im Singen unterrichtet worden war. Auf Vorschlag von
H. Schütz gewährte ihm Johann Geoi^ I. von Sachsen jährlich
200 Thlr., um bei Jakob Praetorius das Orgelspiel zu studieren.
»Da er femer das Glück hatte, den angenehmen Scheidemann zu
St. Cathaxinen zu hören, und dessen Vespern zu besuchen, gab ihm
solches Anlaß, die prätorianische £rnstha£ftigkeit mit einer scheide-
mannischen Lieblichkeit zu mäßigen; und also viele galante Erfin-
dungen einzuführen«. ^ Da nun Weckmann sogleich nach seiner
Kückkehr aus Hamburg nach Dresden als Hoforganist angestellt
wurde und als solcher schon 1637 in den Akten ^ genannt wird, so
müssen wir etwa 1635 bis 1637 als seine Lehrjahre in Hamburg an-
nehmen. Im Jahre 1654 starb der Organist an St. Jakobi, Ulrich
Cernitz. Zum Probespielen wurde auch M. Weckmann aus Dresden
berufen; bei dieser Gelegenheit kam Scheidemann noch einmal mit
ihm in Berührung, da er mit zu den Kunstrichtern gehörte. ^
Daß Scheidemann als hochgeachteter Organist zu allen Musikern
Hamburgs mehr oder weniger lebhafte Beziehungen hatte, ist eigent-
lich selbstverständlich. Besonders deutlich für uns treten diejenigen
zu Thomas Seile, Johann Schop und Jakob Prätorius hervor.
Thomas Seile war Stadtkantor und hatte die Kirchenmusiken zu leiten :
Johann Schop, als Violinist der Stadt Hamburg, hatte ebenfalls
mehrfach amtlich mit Scheidemann zu thun. Zu einem intimeren,
mehr freundschaftlichen Verkehr gestalteten sich aber diese Be-
ziehungen wohl deshalb, weil sie im Hause von Johann Rist, dem
Pastor zu Wedel, den vereinigenden, gesellschaftlichen Mittelpunkt
fanden.^ Hier versammelten sich die Organisten und Kantoren,
welche Joh. Bist dadurch näher getreten waren, daß sie zu seinen
geistlichen Liedersammlungen die Melodien komponiert hatten. Rist^
selbst erzählt uns: »da fand sich in meiner Kirche eine schöne und
( Mattheson, Ehrenpforte, S. 394 f.
^ Kgl. Hauptstaatsarohiy zu Dresden, Loc. 8297, Bl. 19 und 22, enth< anter
dem 31. Juli 1637 einen Paßbrief fflr »Matthes Weckmann, kursächs. Musicw
und Organist« nach Hamburg. Er sollte aus Hollstein und Dänemark Musikgegen-
stände des Kurfürsten holen. Nach freundlicher Mittheilung des Herrn Archiv-
raths Dr. Th. Distel in Dresden.
3 Mattheson, Ehrenpforte, S. 396 f.
* Vgl. Dr. Th. Hansen, Johann Rist und seine Zeit, Halle 1872, der leider
nur die für die Musiker 'wichtigen Stellen übergeht
^ »Die Terschmähete Eitelkeit und die y erlangete Ewigkeit.« . • . Lüneburg
1658, Vorrede.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. 231
wohlklingende Orgel, worauf mit Zuziehung unterschiedlicher Kunst-
reicher Musicanten, Saitenspieler und Singer aus der Nachbar schafft,
als von Hambui^, Stade und anderen nahegelegenen Ohrten, manches
herrliches Stüklein zum Lobe Gottes und Erwekkung einer wahren
Christi. Andacht von uns ist gemachet. ... In meinem geringen
Hüttlein hatte ich femer meine Haußmusik, da wir gemeinigUch
nach Essens Gott dem Herrn ein Lobopffer zubringen, uns nebenst
den lebendigen Stimmen, auch der Geigen, Lauten, Flöhten, In-
struments oder Clavicimbel und anderer mehr mit solcher Lust ge-
braucheten, daß wir aller anderen Ergetzlichkeit leicht dabei ver-
gessen«. Für Rist komponierte Scheidemann die Melodien zum
5. Theil der »Neuen Himmlischen Lieder« (Lüneburg 1651); Rist
bezeichnet diese Kompositionen als »Sehr anmuhtig gesetzt«. Von
Scheidemann rühren ferner die Melodien her zu folgendem Werke
Rists: »Die verschmähete Eitelkeit und die verlangete Ewigkeit((
■ Lüneburg 1658) ; ihnen giebt Rist das Prädikat »so herrlich gesetzet«.
Rist, welcher Scheidemann in der Vorrede zu den »Neuen Himm-
lischen Liedern« (1651) »dieser hochlöblichen Statt (Hamburg) fur-
trefflichen Arionc nennt, preist ihn in der Vorrede zu dem zweiten
Werke (1658) als »sonderbahre Zierde unseres gantzen Deutschlands
und der wahren Evangelischen Kirchen«. Rist besuchte seine Freunde
auch in Hamburg selbst; bei ihnen fand er seine Zuflucht, als
schwedische und dänische Kriegshorden sein kleines Pfarrdorf schwer
heimsuchten und brandschatzten. So geschah es zuletzt im Oktober
des Jahres 1658;^ die »bewegliche« Kirchenmusik seiner »edlen«
Freunde erquickte und tröstete sein bekümmertes Herz.
Sehr besucht waren immer die Vespergottesdienste in der Katha-
rinenkirche, so oft Scheidemann und Schop sich miteinander hören
heßen; die Lobgedichte von Georg Neumark ^ und Ph. v. Zesen^
legen Zeugnis davon ab. Beachtenswerth ist noch eine zeitgenössische
Charakteristik Scheidemanns und Prätorius , »des alten wohlgeübten
Hamburgischen Jubal«. Rist nennt die Melodien des Jak. Prätorius
(4. Theil der »Neuen Himmlischen, Lieder«, 1651) »beweglichst ge-
setzet«, die von Scheidemann dagegen »Sehr anmuhtig gesetzt«. Aus-
1 Joh. Rist, »Bas alleredehte Leben der ganzen Welt,« 1663, S. 158 ff.; vgl.
Dr. Th. Hansen, a. a. O, 8. 160 f.; ferner »Hütarica ei Memorahüia ... So sich
über das Lutherische Gesang -Buch . . . begeben und zugetragen.« . . . Hrsg. t.
Phil. Schmidt, Altenburg 1707, S. 580 ff.
2 »Poetisch- vnd Musikalisches Lustwftldchen,« Hamburg 1652, S. 222.
3 »Dichterische Liebesflammen'« Hamburg, 1651, S. 5S.
232 ^^" Seiffert,
fuhrlicher schildert die Verschiedenheit der Charaktere Mattheson:^
'Diese beide wurden also von einem Meister unterrichtet, und hatten
täglichen Umgang mit einander; dennoch waren ihre Gemüths-
Neigungen gar nicht gleich. Prätorius bezeigte sich immer sehr
gravitätisch und etwas sonderbar; nahm seines Lehrherm hohes Wesen
an; und liebte die äuserste Nettigkeit in allem seinen Thun, wie
der Holländer Gewohnheit ist. Scheidemann hing^en war freund-
licher, und leutseeliger , ging mit jedermann frey und frölich um,
und machte nichts sonderliches aus sich selber. Sein Spielen war
eben der Art; hurtig mit der Faust, munter und aufgeräumt: in der
Composition wohl gegründet; doch nur mehrentheils so weit, als sich
die Orgel erstreckte. Seine Sätze liessen sich leicht spielen. . . .
Schultzens Sachen fielen schwerer zu spielen, und wiesen mehr Arbeit,
worin er vor allen andern was voraus hatte».
Als Scheidemanns Todesjahr ist bisher immer 1654 ang^eben
worden ; die Unrichtigkeit desselben hätte man aber schon an mehre-
ren Punkten erkennen können. Scheidemann ist noch 1655|^ bei
der Wahl Weckmanns zum Organisten betheiligt; 1658 wurden seine
Lieder für Rists Werk gedruckt; dieser spricht aber von Scheide-
mann keineswegs wie von einem schon seit 4 Jahren Toten. Dazu
kommt ein anderes Moment. Nachfolger von Scheidemann war Joh.
Ad. Reincken; als Jahr seines Amtsantrittes wird 1660 angenom-
men.^ In einem 1718 aufgesetzten Memorial^ sagt aber Reincken,
daß er »nunmehro 60 Jahr hiesiger St. Catharinenkirche in Ham-
burg als Organist treulich und unverdrossen gedienet,c er muB ako
bereits 1658 die Stelle bekommen haben. Wenn nun Scheidemann
1654 wirklich gestorben ist, so müßte doch Reincken schon früher
eingetreten sein. Glücklicherweise klären nun die Rechnungsbücher
noch die ganze Sachlage auf. Das letzte Yierteljahr^ehalt erhielt
Scheidemann Weihnachten 1662; das Gehalt für das Osterquartal
1063 bekam die »Witwe«. Scheidemann muß demnach zu Anfang des
Jahres 1663 gestorben sein. Maria Scheidemann bezog auch von
Ostern 1663 bis Weihnachten 1664 das volle Gehalt weiter. Hält
man damit Reinckens Angabe zusammen, so gelangt man zu dem
Schlüsse, daß J. A. Reincken seit 165S Scheidemann adjungiert war.
1 Ehrenpforte, S. 329.
2 Signale für die musiktilisehe Welt, Leipzig 1870, S. 865.
3 ebendort S. 818.
* Zeitung fQr Literatur, Kunst und Wissenschaft des Hamburgischen Corre-
spondenten, 1889, nr. 10, F. G. Schwencke, »J. A. Reincken,« S. 75.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. 233
Job. Rist^ berichtet uns übrigens, daß es Gott >^gefällig gewesen^ in
disem 1663. Jahr, unterschiedliche öhrter, zufoderst auch die weltbe-
rühmte Stadt Hamburg, mit klebenden Seuchen und beschwehrlichen
Krankheiten heim zu suchen«. Es ist wohl anzunehmen, daß durch
sie Scheidemann dahingerafft wurde. Das Verhalten der Kirchenvor-
steher zu Scheidemanns Witwe , die nunmehr mit ihren wenn auch
schon zum Theil erwachsenen Kindern allein stand, zeugt von der
großen Ächtung, deren sich der Verstorbene zu erfreuen hatte. Be-
?or das Gnadenjahr ablief, richtete die Witwe am 15. Aug. 1664
ein Schreiben an den Kirchenvorstand mit der Bitte um eine Pen-
sion. »1664, 15. Oct. ist der Wwe. des Heinrich Scheidemann, in
Betrachtung ihres sei. Mannes geleisteten Dienst mit seiner weitbe-
rühmten Orgelkunst, die Zeit ihres Lebens 50 ^ von der K. St.
Cath. als freiwillige Gabe zu genießen, zugesicherter. Es wird dem
aber hinzugefugt: «auch soll sich in künftigen Zeiten, Niemand der
Nachfolger dieses zu einem praejudicato bedienena. Am 23. Febr.
1665 ist dann der Witwe »auf nochmaliges bittliches Ersuchen oben-
stehende freiw^iUige Gabe bis auf 100 äi^. verbessert worden, welches
sie mit dankbarem gemühte erkennt«. In einem y^Haur-Contrach
vom 29. April 1667 erhielt sie 100 ^. jährlich zur Wohnung von der
Kirche zugesichert. Über Reinckens Stellung im Jahre 1664 und
1665 erfahren wir ebenfalls Näheres. Unter der Rubrik »Mangelei
Ausgaben« ist die Auszahlung von 31 J>^. 8 ^ an Reincken als
halbjährliche »Beliebung« verzeichnet. Die Kosten für seine Stell-
vertretung bezahlte also nicht die Witwe. Zu Weihnachten 1664
erhielt er aber wohl seine definitive Anstellung. Denn am 20. Dez.
d. J. werden ihm 120 ^, gezahlt, »weil die Wwe. Scheidemann
noch die vollen 4 Quartale ausgenossen hat,« und im Neuen Jahre
1665 auch die Nebeneinkünfte, »Pasch-Semmel« u. s. w.
Ein Bild des »berühmten« ^ Heinrich Scheidemann, einen 1652
zu Nürnberg gefertigten Holzschnitt, erwähnt Gerber ;3 dem Ver-
fasser ist es nicht gelungen, einen Fundort nachzuweisen. —
Was nun die Orgelkompositionen Scheidemanns anlangt, so hat
uns ein gütiges Geschick 18 an der Zahl erhalten, dazu noch l Kla-
Tierkomposition. Es sind:
1. »Vater Vnser im Himmelreich, 2 claviefa.
2. »Jesu Du wollest Vns weisen«.
^ »Neue Hoch-heilige Paßions- Andachten,« Hamburg 1664, Bedikation.
- Vgl. oben S. 195; Josef Sittard, Geschichte des Musik- und Concertwesens
in Hamburg, Altona u. Leipzig 1890. S. 9 ff.
^ Altes Lexikon, Anhang.
I
1
234 ^^^ Seiffert,
3. j»In dich hab ich gehoffet Herr«.
4. AKom Heyligei Geist. 2 Ciavier pedalitent.
5. »Nun bitten wir den heiligen Geist. 2 Clavier
pedal,(i
6. uToccata 2 Clavier pedaliter^.
7. f>Fuga9.
8. »Godt sey Gelobet Vnd gebenedeyet«.
9. "»Alleluia 2 Clavier pedalitera. ^
10. »Benedicam Domino Orlandusv,
11. »J9tb no6f« Maria quid vidisti in via. Auff 2 Cla-
vier ti,
12. »^ 5. Surrexit Pastor Bonus, Or. d. Las: Auff
1 Claviem.
13. »De ore prudentis Procedit mel a 5. Orldi: lassust.
14. »Maria Dixit ad Angelum auf ein Clavier Peda-
liiert,'^
15. TuBenedicam Hier: Praet: Manucditerv.^
16. »Canzon^^
17. »Mensch wiltu lehben säliglich«. 4 Verse. ^
18. »Lobet den Herren, ad duplex manualev.
19. »Englische Mascarada oder Jüden-Tantz«.^
Was uns zunächst in diesem Verzeichnis auffällt, das sind die
kolorierten Stücke, 7 an der Zahl, welchen Kompositionen von Or-
landus Lassus und Hieronymus Prätorius zu Grunde li^en. Wir
erkennen hier an Beispielen ganz deutlich, wie Sweelincks Schüler
die Bestrebungen der Koloristen nur fortsetzten und deren Aus-
drucksmittel durch die englisch-niederländischen erweiterten und ver-
mehrten. Scheidemanns kolorierte Stücke folgen dem Prinzip der
1 In »MBcr. Fol. K. N. 208,« Stadtbibliothek Lüneburg (vgl. W. JunghsoB.
a. a. O. S. 30 ff.) stehen die Stücke 1—9; die folgenden in pMscr. Fol. K. N. 209;«
die Toccate steht in beiden Büchern.
2 Am Schluflse steht die Zeitangabe: f^Coü. Anno 1637 d. 3. Martiu8.it
3 Eine Kopie der Stücke 1 — 15 hat mir Herr Prof. Spitta gütigst sur Ver-
fügung gestellt.
* Am Schlüsse steht: »Anno 1657 d. 10. 7*^ Äcrift«.«
s 9 Anno 1648 Hodie 29. Novemb.«
6 Vgl Hortense Panum, M. f. M. XX S. 29; s. oben S. 226 Anm. 1. Ge-
nannte Dame war so liebenswürdig, für mich in Kopenhagen eine Kopie herstellen
zu lassen.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. 235
Koloristen, die langen Noten werden in kleinere zerlegt und die
kürzeren noch umspielt. Hier sind aber die Figuren organisch mit
dem Ganzen verbunden, ihre Imitation beschäftigt alle Stimmen.
Dazu kommt als zweiter Fortschritt die Ausnützung der Orgeltech-
nik. Zwei Manuale und das Pedal sind beschäftigt. Innerhalb eines
Stückes wechseln erstere sehr häufig mit einander ab, und zwar nicht
bloß bei den beiden Arten des Echos, sondern auch — und das tritt
uns bei Scheidemann zum ersten Male entgegen — bei der Wechsel-
chörigkeit. In der Freiheit der Orgelbehandlung geht Scheidemann
noch einen Schritt über Schildt hinaus. Dieser ließ nur am Zeilen-
ende etwa die Oberstimme einen toccatenartigen Gang nach unten
nehmen, während die anderen Stimmen einen Akkord in höherer
Lage dagegen aushielten. Bei Scheidemann kommt es jetzt öfter
vor, daß die Baßstimme nicht zugleich die tiefste ist, sondern viel-
mehr eine Zeitlang die nächsthöhere übersteigt. Es steigert sich also
die Freiheit des Pedals gegen die Manuale und die der letzteren
unter einander.
In den freien Formen der Fuge, Canzone und Toccate zeigt sich
Scheidemann wesentlich von Frescobaldi beeinflußt, dessen Musik
g^en die Mitte des Jahrhunderts hin im Nordwesten Deutschlands
zu wirken begann. Die Entstehung der Canzone im Jahre 1657 ist
ja bezeugt; bei den übrigen macht der innere Aufbau die Annahme
einer ähnlich späten Entstehungszeit wahrscheinlich. Scheidemann
hat weder die große Fantasieform Sweelincks, noch auch dessen
Toccatenbehandlung acceptiert. Naher auf die Form, wie sie Scheide-
mann anwendet, einzugehen, verbietet der Zweck der Arbeit; diese
Untersuchung gehört in die Betrachtung der zweiten Periode der
* norddeutschen Orgelmusik. Es genügt zu konstatieren, wie weit
Sweelincks Einfluß gereicht hat.
Von Scheidemanns Choralbearbeitungen hält noch eine an Swee-
lincks Form fest (nr. 17). Sie besteht aus 4 Versen, deren je zwei
aber ineinander übergehen und zusammengehören. Der letzte wird
toccatenartig mit einem freien Figurenwerk beschlossen, ähnlich wie
es Schildt that. Das Merkwürdige ist nur, daß sich zu diesem Zweck
hier erstens der bisherige dreistimmige Satz zum vierstimmigen er-
weitert und daß mit dem Eintritt des Pedals zweitens die linke Hand
nach dem Oberwerk geht, während die rechte auf dem Rückpositiv
bleibt. Die äußerliche Trennung fällt aber ganz weg bei nr. 18;
hier sind zwei Variationen eng miteinander verknüpft. Für unsere
folgende Betrachtung wollen wir sie indessen auseinanderhalten. Auf
diese Weise ei^iebt sich uns eine neue Grundform, welche bei Schildt
und Scheidemann vermischt mit anderen auftaucht, welche aber in
236 ^^^^ Seiffert,
der zweiten Periode sich mit in den Vordergrund des Interesses der
norddeutschen Organisten drängt. Die Formen, in denen sich Scheide-
manns Choralbeavheitungen bewegen, sind diese:
1. Die Choralmelodie, in der obersten Stimme liegend, erscheint
koloriert, während die übrigen Stimmen mehr oder weniger nur das
harmonische Fundament abgeben (nr. 2); dasselbe Verfahren kennen
Scheidt und Schildt. Diese Grundform der weltlichen Liedvariation
läßt nun aber Scheidemann viel tiefer noch in die Orgelmusik ein-
dringen.
2. Die nicht kolorierte Melodie in der Ober- oder Unterstimme
wird durch frei gebildetes Figurengewebe der Begleitstimmen dra-
piert (nr. 17, 2; 17, 4); vgl. Scheidt. Die Melodie wird nur durch
kurze Pausen am Zeilenende unterbrochen.
3. Motettenartige Einleitung mit Hilfe des Chorals und einer
freien Gegenmelodie vor dem Beginn der ersten Zeile und kurze
Zwischenspiele (nr. 8; 17, 1); vgl. Scheidt.
4. Der Choral liegt im Diskant und wird vor dem Beginn der
einzelnen Zeilen von den übrigen Stimmen motivisch und motetten-
artig eingeleitet. Die Melodie erscheint aber koloriert; sie sondert
sich so noch schärfer von dem Stimmengewebe ab (nr. 5) ; vgl. Schildt.
5. Es beginnt eine motivisch aus dem Choral gebildete motetten-
artige Einleitung; alternierend setzt die Unter- und Oberstimme ein
mit der Choralmelodie. Sie wird vom Diskant bald in eigentlichen
Werthen, bald koloriert voi^etragen (nr. 4) ; vgl. Scheidt.
6» Die in der Oberstimme liegende gänzlich kolorierte Melodie
beginnt, die Begleitstimmen setzen später ein. Während der kurzen
Pausen am Zeilenschluß wird die nächste Zeile von irgend einer
Stimme im voraus angedeutet (17, 3). Scheidemann vereinigt somit
die nur kolorierende oder nur motettenartig einleitende Behandlungs-
weise in eins.
?• Nach motivisch -motettenartiger Einleitung beginnt der kolo-
rierte Choral in der Oberstimme. In den kurzen Pausen am Zeilen-
ende tritt nicht regelmäßig Imitation der folgenden Choralzeile ein
(18, 1). Hauptsächlich unterscheidet diese Form sich von der eben-
besprochenen durch die Klaviermäßigkeit des Satzes. Form 6 hält
die einmal gewählte Stimmenanzahl fest; Form 7 dagegen bedient
sich einer lockeren Polyphonie. Die Stimmen treten je nach dem
Bedürfnis der Harmonie ein. Das ist also ganz wie die Behandlung
eines weltlichen Liedes, wenn man von der Einleitung absieht.
8. Die Melodie, in der Oberstimme liegend und koloriert, wird
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. 237
nicht ununterbrochen vorgetragen, sondern durch echoartigen Wechsel
der beiden Manuale etwas zerstückelt [18, 2); vgl. Schildt.
9. Die Choralfantasie; vgl. Scheidt. Scheidemann verkürzt aber
die Choralmelodien nicht zu Motiven, die sich vielfach in einander
verweben und fortbilden ließen, sondern beläßt die einzelnen Noten
in ihrer Geltung. Von den drei Elementen, die Scheidt bei dieser
Form benutzte, schließt Scheidemann die Wechselchörigkeit aus und
statt der einfach akkordischen Satzweise koloriert er die Melodie in
der Oberstimme und läßt den Satz auf zwei Manualen ausfuhren.
>r. 1; 3).
Vergleicht man die Choralbearbeitungen Scheidts mit denen
Scheidemanns, so zeigt sich, daß beide zwar auf einer gemeinsamen
Basis stehen, welche durch Vereinigung der akkordischen Lied-
Variation mit der kontrapunktischen Choralvariation Sweelincks her-
gestellt ist, daß sie sich aber dadurch unterscheiden, auf welches
von beiden Formprinzipien sie den größeren Nachdruck legen. Im
Vordergrunde steht bei Scheidt die Kontrapunktierung der unver-
änderten Melodie durch rhythmisch bewegtere Figuren, welche die
zu Grunde liegenden Akkorde arabeskenartig umschlingen. Scheide-
mann löst von dem akkordischen Untei^runde vorzugsweise die Ober-
stimme los, falls sie die Choralmelodie vorzutragen hat, und um-
kleidet sie mit allen Figuren, welche ihm die Variationstechnik an
die Hand giebt. Indem nun ferner Scheidt an der einmal vorgeschrie-
benen Ausfuhrungsart festhält, Scheidemann dagegen die Mannig-
faltigkeit der Orgelbehandlung zur Geltung zu bringen sucht durch
Wechsel und verschiedenartige Mischung der Manuale unter einander.
80 ist der Charakter, welchen die Kompositionen erhalten, je nach-
dem mehr vokal oder instrumental. Daß der instrumentale Zug bei
* den mehr nach Norden zu lebenden Schülern Sweelincks (Schildt,
Scheidemann] im Zunehmen begriffen ist, wollen wir fiir unsere fer-
nere Darstellung im Auge behalten.
Die eine Liedvariation besteht aus zwei unmittelbar verbundenen
Einzel Variationen. ' Neues läßt sich über die Formbehandlung: nicht
sagen. Die Melodie erscheint entweder koloriert, oder sie wird durch
Figurenwerk begleitet. Der Satz ist klaviermäßig; auf strengere Ein-
zelformen stoßen wir nicht. Interessant sind hier noch einige Finger-
satzangaben :
^ Die Melodie verläuft anders als die von Land mitgetheiltc , Tijdschrift,
Beel III, S. 53 f.
238
Max Seiffert,
t 3i| 3 4 3 2| 5
Was die Tonalität anlangt, so hält sich Scheidemann in den
bescheidenen Grenzen, wie Scheidt in seiner Tab, Nova, Er wendet an:
dorisch: 4 mal.
dorisch transponiert: 1 mal.
phrygisch: Imal.
lydisch: 3 mal.
mixolydisch; 3 mal.
— von den kolorierten Stücken sehen wir natürlich ab. Chroma-
tische Gänge wendet Scheidemann nur einmal an (nr. 6) und zwar
ebenfalls auf dem Grunde einer ruhenden Harmonie. Dagegen
finden häufiger chromatische Einzelfortschreitungen statt.
TJber den Tastenumfang der Orgel, welchen Scheidemann fiir
seine Kompositionen in Anspruch nimmt, läßt sich nur sagen, daß
das Pedal von C bis c, das Manual bis a reicht. Bei dem beschränkten
Gebrauch der Chromatik läßt sich vorläufig nicht bestimmen^ wie
weit die Obertasten reichten. Es steht indessen zu erwarten, daß
wir später mit Hilfe der diplomatischen Kritik noch mehrere Kom-
positionen als von Scheidemann herrührend bezeichnen dürfen. In-
dem wir dann gleichzeitig seine Beziehungen zu Frescobaldi zu unter-
suchen haben, werden wir wenigstens ein ftnnähemdes Bild von der
Wirksamkeit des Hamburger Meisters erhalten, der die Eigenart seines
holländischen Lehrers, noch in anderer Weise als Scheidt und Schildt,
in der deutschen Orgelmusik zur Geltung brachte.
J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler. 239
o.
Jakob Prätorius in Hamburg, Paul Siefert in Danzig.
Von Paul Siefert ist bis jetzt keine Oigelkomposition zum Vor-
schein gekommen. Er kommt also für unsere Darstellung nicht in
Betracht. Dagegen ist eine Reihe von zum Theil eigenhändigen
.Vktenstücken Sieferts erhalten, die uns die eigenartigen musikalischen
Verhältnisse Danzigs in hellem Lichte zeigen. Auf jene näher ein-
zugehen, wird das Ziel einer kleinen Spezialuntersuchung sein.
Noch trauriger steht es mit unserer Kenntnis über Jakob Prä-
torius. Trotz Eitners^ und Schwenckes^ Bemühungen gelingt es
nicht, sämtliche Differenzpunkte aufzuklären. Da nun ferner die
Kirchenakten selber hartnäckig die Auskunft verweigern, welche sie
über Scheidemann gnädig gewährten, so wäre es vergebliche Mühe,
durch Kombinationen und Konjekturen die Lücken ausfüllen zu
wollen und so einer etwaigen %meuerten Quellenuntersuchung den
Weg zu verdunkeln. Wir beschränken uns also auf ein paar kurze
Worte über Prätorius' bis jetzt einzige Orffeikomposition, eine Choral-
bearbeitung »Christum wir sollen loben schon«. ^ Der Choral liegt
im BaB, die einzelnen Töne sind zu ganzen Noten gedehnt. Bevor
jede Zeile einsetzt, wird sie von den Oberstimmen eingeleitet. Dies
geschieht aber in verschiedener Weise. Am Anfang steht eine
motettenartige Einleitung, aus der ersten Zeile gebildet. Die zweite
ZeUe wird motivisch verkürzt und so von den Oberstimmen nach
einander vorgetragen. Bevor die dritte Zeile im Baß ertönt, wird
sie einmal im Tenor, dann im Diskant zu Gehör gebracht unter Be-
gleitung von zwei frei gebildeten Motiven. Die letzte Zeile wird
durch ganz freie Figuren eingeleitet. Das Stück, in phrygischer Ton-
art stehend, nimmt einen durchaus ruhigen und gemessenen Verlauf,
der gegen die Lebendigkeit und »Hurtigkeit« Scheidemanns sehr grell
kontrastiert.
1 B. Eitner, Jakob Fr. und seine Familie, M. f. M. III S. 65 £P, sucht mit
bibliographischen Mitteln zur Klarheit zu gelangen.
« F. G. Schwencke, Signale für d. musik. Welt, Leipzig 1870, S. 801—803,
S65, benutzte angeblich aus alten Akten stammende Nachrichten.
' Mscr. FoL K. N. 209. Lüneburg. S. die Notenbeilagen.
240 ^*^ SeiflFert,
Überschauen wir hier am Schlüsse der ersten Periode der nord-
deutschen Orgelmusik im 17. Jahrh. den Entwickelungsgang, den
diese genommen hat, so muß freilich der halbmythische Nimbus,
welcher unsere Meister bis jetzt in den musikgeschichtlichen Dar-
stellungen umgeben hat, schwinden. Sweelincks Kunst war eng ver-
knüpft mit der der Engländer und Italiener, sie war ein einheitliches
Produkt beider. Bei ihm fanden seine deutschen Schüler, welche
in den Kunstanschauungen der Koloristen aufgewachsen waren, ein
höher entwickeltes Stadium derselben vor. Sie kehrten in ihre Hei-
math zurück, erfüllt von den neuen Ideen, die jeder in seiner Weise
für die Kunst weiter zu entwickeln sich bestrebte. Sollte es aber
dem Verfasser gelungen sein, jenes Halbdunkel durch ein anschau-
licheres und lebenswarmes Bild jener Zeit und jener Männer ersetzt
zu haben, so wäre dies der beste Lohn, welchen er für seine Arbeit
selbst erwartete.
Drnckfehler«
S. 188» Zeile 5 von unten: lies 1622 statt 1612.
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(K. N. 20e. Lüneburg. StKdtbibllolk.)
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Jakob Prätorius, Christum wii sollen loben schon.
(K. N. 209. Lttnebarf . Stadtbiblioth.)
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4} Original) A.
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260
über die handschriftliche Überlieferung
des Dialogus Domni Oddonis.
Von
Peter Wagner.
Dem Dialogus de Musica des Oddo, wie ihn Gerbert Script. I.
252 ff. abdruckt, liegen folgende Handschriften zu Grunde: 1] ein
Corf. San. Blasianus; 2) ein Cod, San. Emmeranensis ; 3) ein Cod.
ÄEbnantensis ; 4) ein Cod. Vtennensts. Die Stadtbibliothek in Trier
besitzt nun in einem Sammelband, der die Signatur 1923 trägt, neben
Traktaten theologischen, philosophischen u. s. w. Inhaltes auch eine
Handschrift aus dem 14. Jahrb., welche denselben Dialogus, aber
nur von Gerb. 254b, Zeile 5 an, enthält. Zuerst hat auf diese Hand-
schrift aufmerksam gemacht P. Bohn in den Monatsheften für Musik-
geschichte 1880, No. 2. Derselbe begnügte sich aber damit, einige
Varianten aus derselben anzugeben. Im Folgenden soll der Versuch
gemacht werden, ihren Werth für die Herstellung des originalen
Textes des Dialogus festzustellen.
Es wird jedoch vorher nöthig sein, einiges über die Gerbertschen
Handschriften zu bemerken, soweit dies durch das von Gerbert mit-
getheUte handschriftliche Material ermöglicht ist. Wir beginnen
mit dem
Cod. San. Blasianus. Derselbe hat nicht, wie die übrigen Codd.
den Titel: Dialogus, sondern überschreibt: Inciptt Musica Domni
Oddonis, vielleicht aus dem Grunde, weil in dieser Handschrift auf den
Dialogus unmittelbar ein andrer Traktat folgt, (der auch von Gerbert
265 ff mitgetheilt ist) und zwar ohne Titel. Musica wäre demnach
i ia dem Cod. San. Blas, der Gesamttitel für die beiden dem Oddo
I lugeschriebenen Abhandlungen. Gerbert stützt sich in seiner Aus-
I gäbe vorzüglich auf diesen Cod. und dies mit Recht, denn er ist wohl
der älteste, nach Gerbert stammt er aus dem 12. Jahrh. Er bietet auch
im Ganzen den echten Text.
Nur singuläres Interesse kommt den andern Codd. zu. (Ihre
1S91. 18
262 ^®*®^ Wagner,
Lesarten sind von ^Gerbert unter dem Texte, Auslassungen und Zu-
sätze auch innerhalb des Textes angegeben). So ist offenbar Cod,
Admont, (XIII. Jahrh.) vielfach interpoliert. Darauf deutet schon
der Titel: Incipit dialogus de Musica arte Domni Ottonis primi Clu--
niacensis coenobü^ quem Enchiridion appellavit^ ob brevitatem viiae hin.
Die Attribute, welche der Dominus Oddo hier erhält, sind — ihre
Richtigkeit zugegeben — nur deshalb hinzugefugt worden, weil der
Schreiber das Bedürfniß hatte, über den Autor mehr zu sagen, als
die anderen wußten. Die Frage, welche Bewandtniß es mit dem
»Endiridion« hat (vergl. auch den Schluß des Dialogus im Admont.)
kann ich mit den mir zu Gebote stehenden Mitteln nicht lösen.
Schon früh muß der Dialogus diesen Titel erhalten haben, wenn
anders er es ist, auf den Guido am Schlüsse seiner Epistola ad
Michaelem Monachum (Gerb. II. 50b) hinweist.
Spätere Zusätze sind die im Admontensis sich findenden Hexameter,
welche die Finales und den Ambitus der einzelnen Modi angeben.
Gerbert hat sie unter dem Texte. Wohl ein Magister hat sie zu Nutz
und Frommen seiner Schüler gemacht. Daß sie ursprünglich nicht
zum Dialogus gehören, geht auch daraus hervor, daß sie nicht immer
mit diesem übereinstimmen. So erlaubt der Dialogus für den sextus
modus (Gerb. 261 rechts unten) ein Hinaufgehen zur undectma;
der entsprechende Hexameter im Admont erlaubt nur den Ton c.
Ebenso sind die Zusätze zur Monochordeintheilung (S. 254 a) späteren
Ursprungs. Der erstere mit Tonos autem omnes beginnende ist über-
flüssig, da von der novenaria divisio schon vorher die Kede war; der
zweite mit ideoque una earum beginnende ist erklärende Bemerkung
eines Schreibers. Über die beiden, bei Gerb. S. 262 und 263 rechts
unten angeführten Varianten werden wir gleich noch zu reden haben.
Die anderen Handschriften Gerberts sind ohne besondere Be-
deutung.
Nun zu der Trierer Handschrift; ich bezeichne sie mit Cod,
Trev, Wie eingangs bemerkt, enthält sie nur den zweiten Theil des
Dialogus, die Lehre von den Modi.
Geschrieben ist sie von einem außerordentlich flüchtigen Schrei-
ber. Viele Endungen sind falsch geschrieben, manche Worte stehen
zweimal, andere sind ausgelassen; zuweilen scheint es auch, als ob
der Schreiber seine Vorlage selbst nicht habe lesen können. Nicht
selten fehlt das M (magister) oder D (discipulus). An einigen Stellen
finden sich Zusätze, die auf den ersten Augenblick als späteren Ur-
sprunges zu erkennen sind. So fügt z. B. die Handschrift bei Er-
wähnung der Finales und der durch sie gekennzeichneten Modi, so
oft ein griechisches Wort, wie deutei^us^ tritus u. s. w, vorkommt,
über die handschriftliche Überlieferung des Dialogus Domni Oddonis. 263
jedesmal hinzu: i. e, secundttSy teriius u. s. w. wenn dieselbe Erklärung
auch schon vorher gegeben war.
Von allen bekannten Handschriften des Dialogus unterscheidet sich
Cod, Trev. durch consequente Umstellung von Worten oder Wort-
Terbindungen. Hält man die Lesart des Cod. Trev. neben die Ger-
bertsche, so wird man kaum einen längeren Satz finden, in dem nicht
irgend etwas umgestellt ist. Besonders gilt dies vom Yerbum. Bei
Greibert steht es meist am Ende der Sätze, in Cod. Trev. meist in
der Mitte. Häufig bezieht sich die Umstellung auch auf Substantiv
und dazu gehöriges Adjektiv. Hier mag auch erwähnt werden, daß,
wenn Grerbert einen Satz mit einer der Conjunktionen vero, autem,
sedu. s. w. beginnt, der Cod. Trev. fast regelmäßig eine der anderen
hat. Ich glaube nicht zu übertreiben ; wollte ich alle einzelnen Bei-
spiele fiir die Umstellung anfuhren, so müsste ich den ganzen Dialogus,
soweit ihn Cod. Trev. bietet, abschreiben. Damit jedoch der Leser
sich eine Vorstellung von dem Umfange machen kann, in welchem
diese Umstellung zutrifft, setze ich einen beliebigen Passus aus Gerbert
her und füge die Lesart des Cod. Trev. bei.
Gerb. I, 258a, Zeile 7 von unten:
At vero in humiUoribus cantibtiSy
ut in secundo, quarto et sexto, et
octavo, nulla depositio alicuius vocis
anteßnem invenietur, qtcae adfinem
ipwm secundum sex praediotas con-
sonantias non iungatur. Elevatio
vero eorum afine secundum easdem
comonanticts ad quinque voces pro-
greditur. Aliquando autem ad
sextam usque .procedit. In quibus
autem vocibus omnium modorum
cantus secundum praesentem usum
ioepius incipianty in eorum for-
mtdis pervidebis.
Cod. Trev.
Sed in humilioribtis cantibus nulla
depositio alicuius vocis invenietur
anteßnem, quae non iungatur ad
ipsum finem secundum sex prae-
dictam (!) consonantia (!)^ ut in
secundo, quarto, sexto, octavo tono.
Sed elevatio eorum progreditur a
fine ad quintam vocem secundum
easdem consonantias. Sed ali-
quando procedit usque ad sextam
vocem. Sed in quibus vocibus can-
tus omnium modorum saepius inci-
piat secundum praesentem usum,
pervidebis in formis eorum.
Wie zu ersehen, hat Gerbert im letzten Satz des Passus das
'^ ori formula, Cod. Trev. forma; bei Aufzählung der einzelnen Modi
und Beschreibung ihres Ambitus dagegen spricht Cod. Trev. von den
formulae modorum, Gerbert nennt ^\e formal.
Mit dieser Umstellung steht Cod. Trev. allein da. Was die Um-
stellung des Verbum angeht, so könnte man vielleicht an die Eigen-
lieit der neueren Sprachen gegenüber den antiken denken, welch
«rstere das Verbum meist in die Mitte stellen; der Mönch aus dem
IS*
264 Peter Wagner,
Kloster St. Matthias bei Trier (aus dem der gaaze Sammelband laut
Bemerkung auf der ersten Seite desselben stammt), der diese Hand-
schrift verfertigte , war vielleicht ein Franzose, oder schrieb von einer
in einem französischen Kloster hergestellten Handschrift ab.
Verwandt mit Cod, Trev, ist Cod. Admontenais. Dies geht aus
folgendem hervor: Bei Gerbert 262a heißt es vom modus septimus:
Notandum est autem^ quodsi ei prima nona h concedaiur^ nihil res tat,
nisi ut a sexta ad eam diatessaron fiat, eritque per omnia primus etc.
Cod. Adm. fiigt hinter nihil restat fiisi einiges hinzu, so daß der Satz
folgenden Wortlaut hat: nihil restat, nisi ut a duodecima e ad eam
diatessaron fiat et ad semitam (!) contrahatur, eritque per omnia pri^
mus. Cod. Trev, dagegen schreibt: mhil restat, nisi duodecima e
contrahatur semitonio, ut diatessaron fiat ad eam i, eritque per omnia
primus. Was die Lesart des San. Blas, nisi ut a sexta ad eam dia-
tessaron fiat angeht , so giebt sie keinen rechten Sinn ; wenigstens
ist nicht einzusehen, warum die eventuell entstehende Quarte f — b
ein Hinderniß sein sollte, das i in !^ zu vertiefen. Richtig ist wohl
die Lesart des Cod. Admont. und des Trev. Ihr Sinn ist klar; ge-
meint ist, daß bei Einführung des b unter Umständen des Tritonus
b — e wegen letzterer Ton um einen Halb ton vertieft werden muß.
So entsteht eine Leiter gabcdefg; um den Triton zu ver-
meiden, wird jedoch das e in es vertieft. Dadurch wird aber nicht
der Charakter der Leiter geändert, ebensowenig, wie ein sporadisches
b statt h die Tonalität des primus altericrt. Mit Recht kann also
der Autor von obiger Tonreihe sagen, sie sei per omnia primus. Die
ursprüngliche Lesart wird gelautet haben : nihil restat, nisi, ut a duo-
decima e ad eam (b) diatessaron fiat, »e« (so statt des e() semitonio con-
trahatur, wie Cod. Adm. nahe legt. Die Lesart des Cod. Trev, ist
wieder durch Umstellung entstanden.
Daß durch unsere Interpretation der Ton es gestattet wird, darf
nicht abschrecken; denn noch andere nicht minder auffällige Dinge
stehen in unserem Dialogus, die noch gar nicht genug gewürdigt
sind. Ich verweise nur auf die Intervallangabe des Quintus modus,
von dem es in allen Handschriften heißt: habebit ergo per ordinem
tonos duos et semitonium, ac deinde ires tonos et ultimum semitonium
in suo fine. Hier wird also für den Quintus der Ton b als wesent-
lich erklärt. Dem entsprechend hat auch Cod Trev. in dei/ormula
quinti modi nicht b, sondern einfach K
Noch ein anderesmal stimmt Cod. IVev. mit Cod. Admont.
überein, bei der Antiphonenangabe zum octavus modus (Gerb. 263a).
Cod. Admont. und Trev. haben andere Antiphonen als Cod. San.
Blas.; nämlich
Über die faandBchriftliche Überlieferung des Dialogus Domni Oddonis. 265
Cod, Admont,
für C: no8 qui vivimus; dum ve-
nerit Paraclttus;
- D: Spiritus Domini;
- E: ornaverunt fadem;
- F: j'ucuhdare;
- G: in üla die\
- a: completi sunt;
- c: ecce ancüla Domini,
Cod. Trev.
dum venerit Paraclitus:
virgines Domini;
hodie Maria virgo\
Spiritus sanctus;
completi sunt;
ecce ancilla Domini,
Nur beim octavus modus führt Gerbert aus dem Cod, Admont.
andere Antiphonen an; Cod. Trev. weicht auch bei den andern modi
Ton den Antiphonenangaben Gerberts ab. Ich möchte aus dei Über-
einstimmung des Cod. Admont. mit Cod. Trev. beim octavus modus
Teimuthen, daß auch bei den anderen modi beide Cod. übereinstim-
men, d. h. daß in Cod. Admont. auch für die modi außer dem octavus
theilweise andere Antiphonen genannt seien, als die bei Gerbert an-
gefahrten. Übrigens sind in Cod. Trev. sämtliche Antiphonenanfänge
mit darüber gesetaten Buchstaben notiert, deren Steigen und Fallen
die Bewegung der Melodie angiebt. Bei Gerbert fehlen sie überall.
Zwei Interpolationen hat Cod. Trev. Die erste zu Gerb. 261a,
Zeile 19. Hinter secundi erit modi wird hinzugefugt: Ita: ndrcum-
dantes; Deus meus, ad te de luce vigilo; assumpsit Jesus discipulos
suos^. Et plures aliae. Es ist dies aber sicher eine Interpolation,
denn im ganzen Dialogus werden Antiphonen erwähnt nur bei den
Principia der einzelnen modi. Nur an einer Stelle, Gerb. 261a,
Zeile 12 und 13 finden sich zwei Antiphonen angeführt, ohne daß von
den Principia die Rede ist; aber auch diese sind interpoliert (Cod.
Trev. hat sie übrigens nicht), denn von den im Zusammenhang an-
geführten Fällen wird ohne ersichtlichen Grund nur dieser eine durch
Beispiele erläutert.
Einen zweiten Zusatz bringt Cod. Trev. zu id. Zeile 21. Dort
lautet das Ganze: Sed nos magis secuti sumus communem usum et
sonoriiatem cantuum , i^quia bona sonoritas ac necessitas frangit regu-
lOITlff.
Bei den formen modorum (Cod. Trev. nennt sie, wie oben be-
merkt, permanent /ormulae) fehlen in Cod. Trev. die Intervallbe-
zeichniuigen t VLnd s] ebenso am Ende des Dialogus die Worte: quod
fnonsirat haec ßgura^ mit der darauffolgenden Tabelle.
Einen besonderen Werth hat Cod. Trev. deshalb, weil er an
emigen Stellen allen anderen Handschriften gegenüber die richtige
Lesart bewahrt hat. Es sind das folgende:
266
Peter "Wagner.
Cod, Trev.i
ad quintam vocem;
aucttia
comprobari
Unde
itaque quae
Geibeit :
258a letzte Zeile: ad quinque
voces (cf. S. 258 b, Zeile 1: ad
sextam vocem).
260b, Zeile 5 von unten: acuto
261 b, Zeile 15: reprobare
262b, Zeile 7: Unum
263 b, Zeile 1 1 von unten : quae ita \
Als bemeikenswerthe Variante, ebne sie für echt erklären zu
wollen, führe ich an: S. 262a, Zeile 7 hat Gerbert: Sed hoc inveniri
maztme in antiphonia raro contingiU wo Cod. Trev. hat: Sed hoc de-
cachordum raro contingity invenitur maxitne in antiphonis.
Cod. Trev, nimmt, das haben die vorausgegangenen Ausführungen
ergeben, innerhalb der bekannten Handschriften des Dialogus eine
singulare Stellung ein; gewisse Dinge unterscheiden ihn vor allea
anderen Handschriften; er scheint auf eine Handschrift zurückzu-
gehen, die mit keiner der bekannten wenigstens direkt etwas zu thun
hat. Er bildet gewissermaßen eine Familie für sich. Ist seine Ver-
sion auch vielfach entstellt, zuweilen interpoliert, so hat er dennoch
an einigen Stellen die bessere Lesart erhalten ; und letzterer Umstand
dürfte wohl meine Bemerkungen über ihn rechtfertigen.
Kritiken und Referate.
Kcispar Jacoh Bxschoff^ Haimonielehre. Mainz, J. Diemer, 1890.
YI und 475 Seiten gr. 8. Mit über 1200 Noten-Beispielen.
Das Buch Bischoffs zerfällt in zwei Hauptpartieen von sehr ungleichem Schnitt
und aehr ungleichem Werth: eine Einleitung von etlichen 20 Seiten, und den
ganzen übrigen Rest. Die Einleitung ist so merkwürdig, daß ich den Leser längere
Zeit bei ihr aufhalten muß. Sie enthält Alles das, was der Verleger in seinem
Prospect »neue Bahnen« nennt. Referent gesteht seine angeborene Abneigung gegen
diese Spitzmarke ein, und glaubt in Folgendem zeigen zu können, daß die Stimme
der Natur ihn auch diesmal nicht irre geleitet hat.
Bisehoff beginnt, wie schon Mancher vor ihm, mit Bildung des Dominant-
Septaccordes aus den Theiltönen. Wenn dies nun auch das Ziel überschießt, in-
d^n nicht blos der Dreiklang als Basis aller Harmonie und Tonart heraus-
geschält wird, so freuen wir uns doch, dem Verfasser als ehrlichem Harmoniker
zu begegnen. Ist es auch falsch, daß die Natur-Sept, der Ton »', im harmonischen
Systeme als Orundton der Unterdominante zu verwenden sei — leider, will ich hin-
zusetzen, da er wunderbar klingt ^ so war doch zu hoffen, daß der Verfasser auf
diesem Wege fortschreiten würde; ja auch er selbst hat das ursprünglich gehofft,
denn er schließt den ersten Satz mit dem richtigen Worte : »All' unsere Tonkunst
beruht hierauf«.
Nun aber verläßt er schon zu großer Überraschung des Lesers den kaum be-
tretenen Weg, und fahrt so fort:
•Schon 2000 Jahre vor unserer Zeitrechnung war dieser von der Natur gegebene
Accord den Ägyptern bekannt. So schön derselbe in den sich nach und nach auf-
reihenden Tönen erklingen mag, immerhin bleibt er ein Accord, der das Verlangen
nach einem darauffolgenden anderen Accorde in uns erregt, nach einem Accorde,
der das »Hangen und Bangen« des ersten Accordes zu einem Ziele der Befriedigung
fOhre. Die Natur gab uns auch nicht den geringsten Anhaltspunkt, dieses Sehnen
nach einer Auflösung zu stillen«.
»Es war dem menschlichen Scharfsinne vorbehalten, die Lösung aufzufinden,
die so lange unterbleiben mußte, als verbindende, dem Wesen des Naturaccordes
entsprechende Töne zwischen den Klärigen desselben nicht gefunden waren. Das
Auffinden dieser Zwischentöne nun ist das unsterbliche Verdienst des altgriechischen
Volkes, dem man ohne Übertreibung die Erfindung unserer heutigen Tonkunst zu-
sehreiben könnte«.
. Danach schiene es nun , als ob die Ägypter blos aus den Tönen des Domi-
nant-Septaccordes ihre Melodien gebildet , also nur eine vierstufige Terzreihe zur
Verwendung gehabt hätten ; ihre Melodien müßten danach eine vergnügliche Ähn-
lichkeit mit dem »Jodler« gehabt, und allerdings wie ein sehnsüchtiges Fragezeichen
268 Kritiken und Referate.
geklungen haben. Die Pyramidengräber sind dunkel, und die Hierogl^rphen
schweigen, darum kann man über die Musik der Ägypter frischweg behaupten,
was man für gut findet.
Diese Annahme ist aber psychologisch wie historisch ebenso falsch, wie die
Behauptung, daß die Griechen (wann?) durch Ausfüllung der Lücken die Ä^jrpter
Tom Hangen und Bangen befreit, und so gleich die ganze siebenstufige Tonreihe
entdeckt haben sollen. Warum haben aber die Griechen, die für ihren Scharf-
sinn belobt werden, so bald darauf die siebenstufige Skala wieder aufgegeben, um
sie erst viel später, und recht mühsam aus Zusammenfügung von Tetrachorden,
neu zu bilden? Ich will sonst ihre unsterblichen Verdienste ^- gerade um die
Entwickelung der Tonkunst — gewiß nicht schmälern: in diesem Falle jedoch
hätten sie ihre Sache auffallend schlecht gemacht.
In den oben angeführten Sätzen giebt es noch Einiges, was unser Bedenken
erregt So z. B. kann ich nicht Tcrstehen, warum die gütige Natur die Mensch-
heit so lange mit dem unaufgelösten Septaccorde im Stich gelassen hätte» Ist
denn das Auffinden des Auflösungs-Accordes nicht auch eine Gabe der Natur?
Und, giebt uns denn diese Auflösung wirklich alle sieben Stufen? Ich bringe
es hierbei nur auf sechs. Und was soll es heißen, den menschlichen Scharfisinn
in einen solchen Gegensatz gegen die Natur zu stellen? Auf der Titelvignette
des Buches ist doch deutlich zu lesen: i>Natura magistra magistrorumt. Danach
hätte der Verfasser handeln sollen.
Zögernd folgen wir ihm nun, denn wir fühlen uns unsicher unter seiner Lei-
tung. Der gute wenn auch nicht ganz richtige Anfang ist nun YöUig aufgegeben,
und wir sehen, wie er wieder bei den »alten« Griechen einsetzt, um uns im besten
Falle eine Tonreihe, gewiß aber kein Harmonie- System zu geben.
Er fährt fort:
»Den alten Griechen gelang es, eine Tonreihe aus stufenweise aufeinander-
folgenden Tönen im Bahmen des Naturaccordes herzustellen. Aus den vier Tönen
desselben: CEGB entwickelten sie ihre enharmonische (d. h. in der Harmonie,
im Accorde bleibende) Tonleiter: CdEfGaB^.
Hier begegnet uns wieder ein starker Irrthum: Die »alten« Griechen haben
in ihrer Jugend blos Tetrachorde und deren Zusammenfügung, aber keine Reihe
gekannt, die mit dem ausgestopften Sept-Accord identisch wäre. Auch fingen sie
bekanntlich mit den dorischen Tetrachorden E F G A — HC DE an, die wir heute
die phrygische Tonart nennen. Dieser Irrthum wird für unseren Autor noch sehr
verhängnißYoU werden. Auch ist meines Wissens die Definition des Wortes »en-
harmonischa sehr willkürlich. In dem Sinne des Autors bleibt jede der yersohieden
gebildeten Tonreihen der Griechen innerhalb irgend eines Accordes, da
wir — seiner Methode uns anschließend — nun umgekehrt auch überall die aus-
stopfenden Töne wieder weglassen könnten.
Ich übergehe eine etwas dunkle Stelle, als deren Ergebniß wir zu unserer
Überraschung plötzlich »das Grundgesetz aller harmonischen Fortschreitung V:I
(Dominante zu Tonica) in unumstößlicher Weise für alle Zeiten« finden, und er-
tappe den Autor sofort im nächsten Absatz bei einer offenbaren Zerstreutheit.
Hier sagt er: »Als man den Umfang der enharmonischen Tonart erweiterte durch
Wiederholung des ersten Tetrachordes über dem zweiten« . . Also doch Tetra-
chorde? Gab er uns nicht gleich beim ersten Auftreten der alten Griechen auf
der Bildfläche die ganze siebenstufige Skala? Sehen wir aber weiter: • • .
»und durch Erfindung eines hinzugefügten Tones (proslambanomenos) — zwischen
dem letzten Tone des zweiten Tetrachordes und dem Anfangstone des um eine
Octaye höher liegenden ersten Tetrachordes — die Härte der Tonfortschreitung zu
Kaspar Jacob BischofT, Hannonielehre.
269
mildeni suchte, so war ^amit schon 600 Jahre v. Chr. eine Tonleiter geschaffen, wie
sie Tollendeter nicht hätte gefunden werden können«.
Der Proslambanomenos soll das erste »obere« mit dem zweiten »unteren« Tetra-
ehorde lu verbinden haben, das w&re also bei Bischoff der Ton H\
:^.
-^-
-^-
-b
».
k
ä
22:
-^-
-SL
und offenbar in allen Lagen und Octaven sich wiederholend. Technische Aus-
drücke sollten stets nur in jenem Sinne verwendet werden, welcher ihnen in spe-
eieller Anwendung gegeben worden ist. Es ist unvermeidlich, daß durch späteres
Zurückgreifen auf den objectiven Wortsinn oft große Verwirrung hervorgerufen
werde. Übersetzen wir nun auch »Proslambanomenos« mit »hinzugefügter Ton«, so
wild unt«r diesem Namen doch nur ein ganz bestimmter Ton gemeint, näm-
lich der unter das zweite, nach der Tiefe versetzte, dorische Tetrachord ange-
fügte Ton A ^
In höheren Octaven wiederholt sich zwar dieser Ton,
dann aber als Familienglied eines der verschiedenen Tetrachorde, nicht mehr
unter dem Namen Proslambanomenos, was dann ja auch gar keinen Sinn mehr
hätte. Auch giebt der Schritt vom Proslambanomenos zum tiefsten Ton des
nichstgelegenen Tetrachordes, H, einen Ganzton, und keinen Halbton. Ich glaube,
es schwebte dem Autor eine dunkle Erinnerung an das genui durum und das
^enus moüe vor; das erstere giebt bekanntlich JT im zweiten unverbundenen
Tetraehord:
|3E
'^-
-ö»-
g g
-ö"-
3:
das zweite B im zweiten verbundenen Tetrachord:
'.SL
-g> ^-^= <g
tzs:
jsl
In der Folge drückt der Autor seinen Wunsch deutlicher aus: jeder der beiden
Tetrachorde soll vor dem Anfangston einen Leitton haben, also :
9'-^
ISC
^— fcz
und: P=l!?^
-^^
-^ — ö.
So freundlich dies auch für das obere Tetrachord gedacht ist, so muß ich doch
gleich bemerken, daß es die Wahl'zwischen den beiden ganz ebenmäßig gebildeten
Tetrachorden erschwert. Eines muß doch das vorherrschende sein, wo wir dann
auch die Tonic a zu suchen hätten. In der Hitze des »Heureka« läßt uns aber
der Autor mit Beantwortung dieser berechtigten Frage im Stich, und fährt fort:
■Auf dieser Tonleiter: f g a b h c d e f« (nun plötzlich kleine Buchstaben!) »von
dem Verfasser die »harmonische« genannt, ist das Harmonie-(Accorde-) System des
Torliegenden Werkes aufgebaut«. Und nun in gesperrter Schrift: »Das Riesen-
gebäude unserer modernen Tonkunst beruht einzig und allein auf diesem, vor
zwei und einem halben« (hier also schon genauer bestimmte Zeitangabe!) »Jahr-
tausend gelegten Grundstein. Daß der Weiterbau auf diesem Grundsteine unter-
blieb« (»zeigt, daß die Sache falsch war« würde unser Einer sagen; aber nein:)
"lag in dem verlockenden Reiz für Mathematiker und Metaphysiker«, (wäre der
270 Kritiken und Referate.
einfache »Phygiken nicht eher am Platze?) »welcher sich denselben in der Berech-
niing der Töne des Naturaccordes darbot«.
Die »Metaphysikei« und Mathematiker kämen, wenn das wahr wäre, in ein
recht schlechtes Licht; diese Intriganten hätten dann nur den traurigen Trost
der Schadenfreude, wenn es ihnen wirklich gelungen wäre, die Entwickelung der
Kunst aufzuhalten , oder auf falsche Bahnen zu leiten. Die Evolutions - Theorie»
auf die Entstehung und Fortbildung der Kunst angewandt, zeigt uns aber im
Gegentheile, daß im Kampfe um die Wahrheit alle sterile Grübelei von selbst und
ohne Schaden für das lebendige Wachsthum der Kunst abstirbt.
Leider läßt sich nun auch Bischoff durch diesen Reiz verlocken , und taucht
aus einer kurzen Untersuchung mit Zuhülfenahme der bekannten Bruchzahlen mit
dem seltsamen Ergebniß wieder an die Oberfläche auf, daß der Unterschied zwi-
schen großem und kleinem Ganzton ein böser Schwindel sei, obgleich er die
natürliche Terz, wohl ohne es zu ahnen, an dieser Stelle noch acceptirt. »Es
überkommt den Verfasser ein eigenthümliches Gefühl, wenn er — von theoretischen
Werken abgesehen — sogar in Gesangschulen von einem großen und einem klei-
nen ganzen Ton u. s. w. sprechen hört, nachdem die moderne Wissenschaft schon
längst die Tonleiter in zwölf gleiche halbe Töne eingetheilt (1^2, 2*2 u. s. w.) und
die Berechnung « '. q q .' f a ^' ^' ^- ^^® ungenau verworfen hat«. Ich will keine
Kritik in der Kritik schreiben, lasse daher jene Vertreter der »modernen« Wissen-
schaft ungeschoren, die zu diesem elenden Resultat gelangen konnten. An Bischoff
aber habe ich mich zu halten, der auf solcher Grundlage ein Harmonielehrbuch
verfaßt hat.
Neue Bahnen! Neu - Orthographie ! Neu - Claviatur ! Zwölfstufige Skala! so
tönt's von allen Seiten, als ob blos im Neuen das Heil lägel Jede Wahrheit ist
neu und alt zugleich, und fällt wie eine Frucht im Herbst vom selben Baume,
welcher im Frühling blühte. Was in unseren Tagen ein Hauptmann, ein Helm-
holtz gefunden, ist in seinem innersten Kern nichts Neues; sie gaben gewisser-
maßen zur alten Wahrheit nur die klare Definition, und auch das nur, weil die-
selbe eben reif geworden war. Allerdings ist dabei nicht zu übersehen, daß sie
von heißer Wahrheitsliebe und allen größten Fähigkeiten , sie zu bethätigen , er-
füllt waren.
Was Bischoff von den Gesangschulen sagt, ist mir — mit wenigen Ausnah-
men — ganz neu, erfüllt mich aber mit freudiger Hoffnung für die Zukunft: ja,
der Sänger ist der einzige Vertreter einer reinen Melodie, und eine Gruppe von
Sängern die einzigen Vertreter einer reinen Harmonie. Warum soU man ihnen
zu dem, was ihre Natur fordert, nicht die Ausbildungsmittel an die Hand geben?
Der Verfasser ist ein zu gewiegter Musiker, als daß er nicht den Wohlklang des
reinen Dreiklanges im Chor empfunden haben «sollte. Hätte er doch einmal ver-
sucht, den Raum zwischen Grundton und natürlicher Terz des reinen Dreiklanges
mit zwei gleichgroßen Secund-Intervallen auszufüllen, und dann mit diesem
gefundenen Verbindungstone die Gegenprobe als Quint des Oberdominantdrei-
klanges gemacht, ich glaube, wir hätten an ihm einen der eifrigsten Vorkämpfer
für Zugrundelegung der reinen natürlichen Stimmung bei allen' harmonischen Unter-
suchungen gewonnen.
Ein sehr musikalischer Hörer kann jederzeit mit einem sehr musikalischen
Sänger folgendes ebenso überzeugende wie schlichte Experiment machen: er lasse
f^g^
ihn die Tonreihe 7!fk ^ — ^ ^ -— — singen, natürlich ohne Begleitung, und
Kaspar Jacob BischofT, Harmonielehre. 271
gebe ihm auf, sich das eine Mal die Harmonisirung
dr\ ^ -g ^ ^ -- das andere Mal: jfrc ^ ^ wej
-^.
dabei su denken. Der S&nger ist nicht im Stande, beidemale den Ton a in gleicher
Höhe KU singen, und wollte er seinen Zuhörer einmal betrügen — denn dieser er-
kennt natürlich sofort die Wendung, welche jener im Sinne hat — so merkt dieser
die unnatürliche Anstrengung, und entlarvt den versuchten Betrug. Dasselbe läßt
sich auch mit:
^^=^^ und: j}r-g-^
IS"
erreichen. Die Dinge, von denen ich rede, sind also wirklich da ; Jeder kann die
Probe versuchen, und Herrn Bischoff bitte ich allen Ernstes darum.
Lange und dornenvoll ist der Weg, der nun endlich, auf Seite 24, zum be-
klagenswerthen Resultat führt, daß die Cdur-Tonleiter durch das ganze umfang-
reiche Werk den Ton jP<>, oder^« — man kann dies natürlich nicht unterschei-
den — als modulatorischen Pfahl im Leibe mit sich führen wird. Gut ist's nur,
daß der Verfasser am Anfange dieses, unsere letzten Hoffnungen so grausam ver-
nichtenden, Absatzes diese Äußerung thut: »Auf welche Weise die enharmonische
Urtonart der Griechen, nach beinahe 2000j ihrigen Verirrungen (!), wieder zur
Grundlage unserer modernen Musik wurde, soll hier nicht erörtert werden«. So
geht wenigstens dieser Kelch an uns vorüber.
Referent ist der übernommenen Verpflichtung redlich nachgekommen, und hat
das Buch aufmerksam durchgelesen. Für seine Person fand er auch viel Gutes ja
Vortreffliches, sobald der sichere Boden der Praxis einmal betreten war. Da zeigte
es sieh zu seiner Freude, daß der Verfasser als guter vielseitig gewandter und um-
sichtiger Musiker und Lehrer der Aufgabe, ein brauchbares Lehrbuch zu s/ihreiben,
ToUst&ndig gewachsen gewesen wäre. Ist ihm aber die Lösung dieser Aufgabe ge>
lungen? Könnte ich dies Buch, selbst nach Ausscheidung der einleitenden Capitel,
Collegen und Schülern ohneweiteres empfehlen? Leider nein; denn es fehlt jene
Schlichtheit der Methode, welche allein ein Lehrbuch brauchbar machen kann. Ich
hatte voriges Jahr die Freude, im Harmonie-Lehrbuch Piel's einem solchen Werke
zu begegnen. Im Vergleiche zu dem Bischoff'schen ist es nicht ausgeführter als etwa
ein Leitfaden oder ein Katechismus, und doch weitaus werthvoller.
Von Anderem zu schweigen, ist es namentlich die ganz merkwürdige Verwen-
dung der Sequenz, als Basis der Methode, welche meine Bedenken erregt. Wo
immer wir das Buch in seinem Verlaufe aufschlagen, sehen wir die Beispiele
durch alle Tonarten modulirend die geforderte Accord -Verbindung oder Vor-
halt-Bildung etc. in's Unendliche wiederholen. Die Wirkung davon vergleiche
ich jenem Schwindel, der uns in einem Spiegel-Saale erfaßt. Der viel wichtigeren
Accord - Gruppirung innerhalb Einer Tonart wird nur ein knapper Raum zuge-
messen; der Verfasser geht hierin auch nicht weit über die bekannten Gadenz-
Ordnungen hinaus. Ist es aber nicht richtiger, das Bild der einfachen Tonart
^is in den kleinsten Zug auszuführen, und dann erst die Brücken zu anderen Ton-
arten aufzusuchen? Ich fürchte sehr, daß die Impfung der Cdur-Tonart mit dem
^<^fährlichen Fis daran die Hauptschuld trägt, daß der Verfasser sich so früh schon
Jn dem Wirbel aller Tonarten verliert Wenn Bischoff nicht auf eine ihm ganz
272 Kritiken und Keferate.
€igenthümliche Weise diesen Ton den »uralten« Griechen extrahirt hätte, und sein
Werk nicht vor Erscheinen meines Aufsatzes »Tonalität« im Octoberhefte 1890
dieser Zeitschrift, veröffentlicht worden wäre, so fühlte ich dabei eine ganz beson-
dere Unruhe, die dem schlechten Gewissen nahe verwandt wäre.
Liegt auch bei Bischoff der Einführung des Fis in die Cdur-Tonart wahr-
scheinlich ein dunkles Gefühl für Vorhandensein des übergreifenden Systems xu
Grunde, so ist dieses doch ganz falsch verstanden, und in dieser Anwendung
höchst bedenklich, da es in die Reihe der primären Tonart-Bildung ge-
stellt wird. Da Bischoff temperirt denkt, so ergiebt bei ihm jede Einfügung des
Fia in die Accorde von Cdur eine wirkliche Modulation, kein Übergreifen. Jeder
Dur- und Moll-Dreiklang, dem er bei Construction der Tonart, mit oder ohne FU.
begegnet, hat für ihn nothwendig den Rang einer Tonica; so erscheint auf seiner
Liste sogar h-d-ßs als leitereigen in Cdur. Wo dieser Accord zur Verwendung
kommt, verschweigt er zwar; er läßt sich aber nicht von seiner Liste streichen.
Sehr merkwürdig ist sein Kampf gegen die melodischen Neben-Accorde der
Molltonart, z. B. d-ßs-a oder h-d-ßs in a-moU. Er gestattet die Erhöhung der
0. Stufe nur bei gleichzeitiger Erhöhung der 4., also ^ mit dis, und bekämpft
die Verbindung::
O'
iä
^Ö
aufs Nachdrücklichste, ohne sich aber auf
eine Motivirung einzulassen. Das glaube ich gerne ; wo anders wäre eine Begrün-
dung zu finden, als in der Weichlichkeit und Wehleidigkeit unserer Zeit, welche
seltsamerweise gegen unlogische Harmonie- Verbindungen weniger empfindlich ist,
als gegen brave tonale »Härten«.
Sehr verwirrend ist überdies seine Terminologie; der Verfasser ist jedoch hierbei
in manchen Fällen in Schutz zu nehmen: er konnte nicht anders, da jede Idee,
auch die verkehrteste, ihre Oonsequenz hat. So spricht er von großer und kleiner
Quinte und Quarte, nennt f-h zuerst eine unreine Quarte, später eine große Quarte,
und stallt Seite 3S den Satz auf, daß die Dur -Tonart weder verminderte noch
übermäßige Intervalle kenne. Die Motivirung lese man dort nach. Den ganzen
Kern seines Lehrgebäudes finden wir auf Seite 40 wie auf zwei erzenen Gesetzes-
tafeln eingegraben, und zwar links : Gesetze der Accordverbindungen, rechts : Ge-
setze der Stimmführung. Durch das ganze Werk beruft er sich auf diese Para-
graphen. Natürlich ist hier zum größten Theile wirklich Richtiges zu finden;
es kostete mir aber keine geringe Mühe diesen aufgehäuften Stoff zu meinem
eigenen Verständniß zu sichten und zu ordnen. Sind doch in diesen Qesetzes-
Bündeln die allerverschiedensten Disciplinen in Eins vereinigt, als ob eine Lehre
dann an Klarheit gewönne, wenn die so wohlthuende Decentralisation einer starren
Centralisation zu liebe aufgegeben würde! Das gliche einem Versuche, unter
Einer Disziplin Griechisch, Lateinisch und Italienisch, als eine Einheit, zu lehren.
Die Eintheilung des Stoffes erregt meine Bedenken im höchsten Grade. Ich
glaube, daß auch Bischoff erst bei Verfassung dieses Buches dazu kam, die ver-
schiedenen Disziplinen der Harmonie - Lehre in so seltsamer Anordnung durch-
einander zu mengen. Vorhalte und Durchgangsnoten erscheinen schon Seite 42,
Appoggiaturen und Wechselnoten Seite 43. Die Lehre des Dreiklangs beginnt
sofort mit moduiirenden Sequenzen durch den Quintenzirkel; Chromatische und
Durchgangsnoten, »herum- oder durchlaufende« Noten, Wechselnoten, Alles tritt
früher vor die geblendeten Augen des Schülers, als die Cadenzen, welche erst auf
Seite 115 etwas Ruhe in das bunte Treiben des Vorausgehenden bringen. Auf
Seite 155 ungefähr befindet sich der Leser jedoch wieder in 12 Tonarten auf einmal,
und lernt doch erst im dritten Theil, auf Seite 221 die Septimenaccorde zum ersten
I
Kaspar Jacob Bischofif, Hannonielehre. 273
}ii\e kennen. Also ein fortwährendes [Schwanken zwischen tonalen und modu-
htorischen Capiteln, was meines Erachtens das Verstandniß der Tonart in ihren
feinsten Krfiften sehr erschweren muß. Im dritten Theile werden die Septaccorde
nach ihrer Zusammensetzung einzeln vorgenommen, und dabei stets ihre Vieldeu-
tigkeit zur Sprache gebracht, bevor die Eindeutigkeit eines jeden, sein Platz inner-
halb der Tonart, gehörig festgestellt ist. Di^s verwirrt nur, statt zu befestigen.
Ein Schüler, der den Reigen aller Haupt- und Nebenharmonien innerhalb der ein-
fachen Tonart zu einem festgezeichneten Bilde sich zusammenschließen sah, wird nicht
in die Versuchung fallen, eine zuföllige Mehrdeutigkeit als Gleichwerthigkeit auf-
lufassen. Im Gegentheile : er wird den Qleichklang als solchen gering zu schätzen
lenen, da für ihn das ganze Wesen des Accordes in neuer Umgebung ein anderes
werden muß, selbst wenn er aus ganz denselben Tönen sich zusammensetzt. Eine
Aecordlehre, welche all diese Nebenproduete der Tonart schematisch nach der Ver-
theilung großer und kleiner Intervalle im Accord aufreiht, wäre überhaupt in die
Elementar -Lehre zu verweisen; in der Harmonielehre hat die Wichtigkeit
der Fundamente die Reihenfolge zu bestimmen.
Gegen Ende des Werkes greift er wie in einem cyklischen Traume auf seinen
Froslambanomenos zurück, giebt uns sogar eine altgriechische Melodie seiner Er-
findung zum Besten, mit vollgriffigen Accorden der Leyer und »Cythare« [nicht
jedes griechische Wort schreibt sich mit y!) begleitet, und mit Nachspielen der
Flöten in lieblichen volksthümlichen Terzgängen ausgeschmückt Da finden wir
die Stelle :
l^ös
nrr^
9^
und nun weiß ich mit einem Male, »warum ich bo traurig bin: ein Märchen ai s
alten Zeiten, das will ihm nicht aus dem Sinn«. Den Ton h erklärt er als Pros-
lambanomenos ; die Art wie er ihn hier und in der sich daranschließenden Skalen-
begleitung behandelt, degradirt ihn jedoch zu einem ganz gewöhnlichen chro^
matischen Durchgangstone, was die ganze Arbeit seines umfangreichen Werkes
einlach aufhebt.
Die dem Text mit großem Luxus eingedruckten Beispiele sind zumeist richtig
und oft sogar gut, wenn auch stets zu reichlich ausgeführt. Läßt sich ihnen auch
nicht der Vorwurf einer gewissen weichlichen Manierirtheit ganz ersparen, so ver-
liugnet doch der Verfasser hier seine langjährige Praxis als Musiker und Lehrer
keineswegs. Daß Manches mit unterläuft, was nicht schön ist, sondern blos der
Consequenz eines Lehrsatzes sein Leben verdankt, will ich nicht allzuscharf tadeln .
Von dieser Sorte könnte ich aus anderen Lehrbüchern eine viel größere Emdte
halten. Eine sonderbare Gewohnheit haftet ihm an, nämlich eine Phrase, in wel-
cher irgend eine Harmonie-Verbindung gezeigt werden soll, zweimal hintereinander
lu wiederholen; ist das bei mündlichem Unterrichte am Claviere ganz empfehlen s-
▼erth, um den Gehörsinn des Schülers zu wecken, so macht es doch das gedruckte
^erk aber Gebühr anwachsen, und stört durch unnütze Zerreißung des Textes
sebe Übersichtlichkeit — Ich glaube, zur allgemeinen Charakterisirung des Werkes
und seines Verfassers genug gesagt zu haben. Das Buch wird große Verbreitung
finden, dafür sprechen viele Anzeichen; ob ganz zum Heil für unsere Jugend,
muß ich im Allgemeinen doch bezweifeln, wenn auch viel Gutes und Richtiges
darin enthalten ist. Es wird den Lesern dieser Zeitschrift bald in die Hände
fallen, wenigstens den Lehrern unter ihnen. Die sollen dann selbst urtheilen, ob
si^ den praktischen Theil des Werkes verwenden können, woran ich sie gewiß
nicht hindern wilL Ich selbst würde mich dieses Leitfadens beim Unterricht nicht
274 Kritiken und Referate.
bedienen, und zwar aus einem gans positiven Gründe, der aber mit der verfehlten
Einleitung desselben nichts zu thun hat.
Ich habe an mir selbst die Erfahrung gemacht, daß ein Lehrbuch dann am
brauchbarsten ist, wenn es sich darauf beschränkt, den wohldefinirten Stoff in
strammer Methodik und in scheinbar kühlem Vortrage zu geben. Das Werk von
Bischoff jedoch muthet mich an wie das Stenogramm eines begeisterten Schülers,
der nicht nur die Lehre , sondern auch die Persönlichkeit des verehrten Lehrers,
mit allen seinen Lieblings- Sprüchwörtem, heißen Ausfällen, momentanen Ein-
fällen, ja sogar seinen in der Hitze oft recht mangelhaften Styl, auf die Nachwelt
bringen möchte. Ein gutes Lehrbuch sei wie ein indifferenter aber wohlgefügter
Orund auf welchen jeder Lehrer die Blüthe seiner eigenen Natur einweben könne.
Gewiß ist im mündlichen Unterricht die persönliche Kraft des Lehrers Alles; als
Leitfaden in der Hand Vieler nützt es aber gar nichts, wenn das Buch den Zauber
persönlicher Aussprache — die doch immer auf Wechselrede basirt sein sollte —
nachzumachen sich bemüht
Zum Schluße — da ich gerade von der Persönlichkeit des Verfassers sprach —
möchte ich doch an die Herren Verleger die Bitte richten, künftig solchen Erschei-
nungen nicht wieder das Bildniß des Verfassers beizulegen. Wenn der Referent
sich auch von jedem Gedanken an die Person freihält, so zuckt seine Hand doch .
ohnedies bei mancher Äußerung, die er thun muß, wenn ihm aus der Schaar der
Leser plötzlich das enttäuschte oder gar erzürnte Gesicht des Verfassers vorschwebt,
der ja ganz menschlicher Weise ohnedies geneigt ist, ein abfälliges Urtheil mit
einem feindlichen zu verwechseln. Kann er nun gar, wie hier, in das edle Antlitz
eines gereiften Mannes blicken, der am Abend seines Lebens die Frucht jahre-
langen Bemühens, das Werk vieler und ausdauernder Liebe (und gewiß auf dringend-
sten Wunsch seiner Verehrer) sammelt und zu Buch bringt, so möchte der Re-
ferent alle Wahrhaftigkeit am liebsten wegsperren, und dem warmen, lebendigen
Menschen, der in der Feme sich kränkt, die Hand reichen, um ihn zu versöhnen,
und ihm recht deutlich zu machen, daß der Kampf gegen Meinungen kein Kampf
gegen Brüder sei. Mit dem vortrefflichen Musiker und tüchtigen Lehrer ver-
stünde er sich dann gewiß aufs Beste; glaubt er doch bestimmt, daß alles Übel:
dieser fatale Proslambanomenos und die ganze folgende Irrfahrt, nur von dem
«Buch« kam.
Berlin. H. v. Heraogenberg,
Gaetano Gaspari, Catalogo della Biblioteca del Liceo Musicale
ili Bologna . . . compiuto e pubblicato da Federico Parisini. Vol. I.
Bologna, Libreria Romagnoli dair Acqua, 1890. XXXIX und 417 S.
gr. 80.
In der Nununer 7 des IX. Jahrgangs (16. Febr. 1851) der Gazzetta Musicale
dt Milano kündigte der verdienstvolle Konservator an der Estensischen Bibliothek
zu Modena, Angelo Catelani, das Erscheinen einer Ntwva Bibltograßa della Mu-
aica von Oaetano Qaspari an. Catelani, der lebhafte Beziehungen zu Qaspari unter-
hielt, mußte ohne Zweifel in die Manuskripte seines Freundes näheren Einblick
gethan haben. Sein Artikel, in welchem er Gaspari's Arbeit eine opera grandio$a
e d'immensa faiica bezeichnet, empfiehlt dieselbe mit warmen Worten und weiß in
geeigneter Form das Interesse weiterer Kreise dafür zu erwecken. Es mag hier
Gaetano Oaspari, Catalogo del Liceo Musicale di Bologna. 275
onerftitert bleiben , weßhalb Gatelani's Lob allzu vorzeitig gekommen ist; die zu
erwartende Publikation verzögerte sich nfimlich von Jahr zu Jahr und erschien
erst, nachdem nahezu 40 Jahre seit ihrer ersten Ankündigung verflossen. Die vor-
liegende Arbeit ist nämlich', trotz ihres veränderten Titels, keine Andere als die
von Catelani in seiner Anzeige vom Februar 1851 gemeinte Nuodo Bibliograßa
ieOa Musica, Leider hat Gaspari die Veröffentlichung seiner Arbeit, der er seine
ganze Kraft gewidmet, nicht mehr erlebt. Am 31. März 1881 ist er gestorben,
und es war erst seinem Amtsnachfolger vergönnt, das Resultat seines rastlosen
Eifers und seiner peinlichen Gewissenhaftigkeit der gelehrten Welt zu überliefern.
Wenn ich Gaspari's Catalogo, wie oben geschehen, mit einer neuen Musik-
bibliographie identifizirt habe, so soll damit schon von vom herein die hohe Achtung
ausgesprochen sein, welche ich dem Werke entgegenbringe. Gaspari hat mehr als
einen trockenen Katalog einer einzelnen Bibliothek veröffentlicht: Er hat nicht
allein das Wissenswertheste und geschichtlich Wichtigste aus den Dedikationen
und Vorreden der beschriebenen Werke ausgezogen und mitgetheilt, er hat auch
seine reichen Erfahrungen aus dem Gesamtgebiete der einschlägigen Litteratur
hineingetragen und somit für die Musikwissenschaft ein Werk von höchster Be-
deutung geliefert Gaspari hat das Glück gehabt, mehr aU 40 Jahre in der be-
rühmten Bibliothek des Bologneser »Liceo musicale« arbeiten zu dürfen; 25 Jahre
lang war er sogar der Vorsteher nnd Leiter derselben. Was er in dieser bevorzugten
Stellung für die Musikgeschichte leisten konnte, davon giebt die Ordnung jener
Bibliothek auf Schritt und Tritt das glänzendste Zeugniß, das beweist ferner jede
Seite des vorliegenden Katalogs. Der Verfasser dieser Zeilen hat fast sämtliche
größeren Musikbibliotheken Europas aus eigner Anschauung kennen gelernt; man
viid daher seinem Urtheile wohl trauen dürfen, wenn er rückhaltslos anerkennt,
daß die Bibliothek des »Liceo musicale« zu Bologna mit Fug und Hecht die Be-
deutendste und Reichste der ganzen Welt genannt zu werden verdient. Sollte
Jemand darüber entgegengesetzter Meinung sein, so wird ihn ein Blick in den
veröffentlichten Catalogo eines Besseren belehren.
Der erste Band umfaßt den theoretischen und litterarischen Theil der Biblio-
thek. Er enthält Beschreibungen der Werke älterer und neuerer Zeit, vornehmlich
aus dem XVL und XVII. Jahrhundert. Kenner alter Musikdrucke, die an Selten-
heiten ersten Banges genugsam gewöhnt sind, werden über die Reichhaltigkeit
des aufgespeicherten Materials in hohem Maße erstaunen und dem zielbewußten
Sammelfleiße der Gründer und Beförderer der Bibliothek — ich nenne nur Bottri-
gari, die PP. Martini, Mattei und den Cav. Gaetano Gaspari — aufrichtigen Dank
aussprechen. .Die theoretischen Werke aus älterer Zeit sind, wie es scheint, mit
Vorliebe gesammelt worden, während die Litteratur der neueren und jüngsten Zeit
nicht so reichhaltig vertreten ist. Dieser Mangel, der offenbar in nicht genügen-
der pekuniärer Unterstützung begründet ist, sollte so bald als möglich beseitigt
Verden; denn nur dann wird sich die wahrhaft großartige Sammlung für die Zu-
kunft auf der Höhe der Bedeutung halten können, die sie jetzt unbestritten
einnimmt
Der innere Zusammenhang des Bestandes einCr Bibliothek mit der Beschrei-
bung derselben möge mich rechtfertigen, wenn ich mich vielleicht allzu lange hier
mit ausschließlich die Bibliothek betreffenden Dingen aufgehalten habe. Sie er-
seheinen mir indessen zu wichtig, um übergangen zu werden, sie kennzeichnen
übrigens, was der Leser von dem Catalogo erwarten darü
Die Eintheilung des Buches folgt der systematischen Ordnung. Man kann
über eine solche Vertheilung des Stoffes streiten und der Meinung sein , daß die
^"^ Abschnitte, in die nunmehr das Ganze zerfällt, der Übersicht weit eher schaden
276 Kritiken und Referate.
als nützen. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß ein derartiges Zerpflücken
in kleine und kleinste Unterabtheilungen nicht seine volle Berechtigung habe»
wenn einmal das Vorhandene nach systematischem Prinzip zergliedert werden aolL
Jedenfalls aber dürften dann die ominösen »Miscellanee« und »Libri diyersi« keine
Sonderabtheilungen bilden, sondern irgendwo — natürlich nur in bestimmt charak-
terisirte Orte — eingereiht werden. Leider hat dies der Herausgeber des Katalogs
unterlassen und ist dadurch in den leicht begreiflichen Fehler der öfteren Wieder-
holung und Einordnung eines und desselben Buches in verschiedene Fächer ver-
fallen. Man findet s. B. Hugo von Keutlingen's »Flores« auf S. 181 und S. 225,
das eine Mal unter »Metodi di Canto fermo«, das andere Mal unter »Trattati di
Musica«.
Auffallend ist ferner die willkürliche Übersetzung namentlich deutscher Titel
ins Italienische, während zahlreiche andere fremdsprachliche Bücher ihrem Ori-
ginaltitel nach aufgeführt werden. So erscheinen z. B. Anton Schmid's »Petruccia
(S. 24). Bellermann's »Mensuralnoten« und Brambach's »Reichenauer Sängerschule«
(S. 28) mit italienischen Titeln! Weßhalb der Herausgeber diese Inkonsequenz
beliebt hat, ist nicht recht einzusehen. Noch viel weniger aber läßt sich die mehr-
fach inkorrekte Wiedergabe von Dedikationsbriefen , Vorworten u. s. w. recht-
fertigen. Hier wäre ein genauerer Vergleich mit den betreffenden Originalien wohl
am Platze, in einigen Fällen sogar höchst noth wendig gewesen. ^ Dadurch wären
denn auch die vielen, vielen Druck- oder Korrektorfehler ^, die oft recht störend
wirken, vermieden oder wenigstens auf das zulässige Maß herabgedrückt worden.
Der Herausgeber hat es femer unterlassen, sich mit den Regeln der Wortab-
theilung fremder Sprachen bekannt zu machen und hat auf diese Weise oft reeht
komisch wirkende Wortbildungen geliefert. So lesen wir z. B. auf S. 237 (Mu-
sicus] handg-riffen y S. 340 (Ritter) das Wort Orgeh-pieU etc. Dies sind, ich ge*
stehe es gern, im Grunde genommen Kleinigkeiten, die gegen die vielen Vorzüge
des Buches kaum ins Gewicht fallen und den hohen Werth desselben gewiß nicht
vermindern, die aber doch auf alle Fälle beseitigt werden mußten.
Der Musikgelehrte, besonders der -Historiker und -Bibliograph, wird Gaspari's
Catalogo als ein überaus werthvoUes Hilfsmittel für seine Studien begrüßen und
^ Man vergleiche z. B. Jahrgang V, S. 565 (Separatabzug S. 105 ff.) dieser
Zeitschrift mit S. 77 des Catalopo. Es heißt nicht Sperando che nel medesimo
tempo, aiccanie spesso sono som%ghanU\ cost suole auuenire . . . sondern ssperando
nel medesimo tempo, si come spesso in somiglianti casi suole auuenire«, nicht
e della piü cara cosa sondern »ed h la piü cara cosa«, nicht paträ restare apptsgatC
sondern »potran restare appagati«, nicht voglian sapere sondem »voglin sapere«,
nicht facienda raggione sonaern »facendo ragione«, nicht tratiauan me sondern
»trattauan di me«, nicht mi h pottUo mai riusctre sondern »mi h potuto mai venir
fatto«, nicht ia tnia volontä ristrinsero via sondern »la mia voglia ristrinsero
vie«, nicht quanto meglio aurehbero sondern »auanto meglio aurebbon«, nicht
fuor del dovero sondern »fuor del douere«, nicnt le scuoU delf intendersi Boudem
»le scuole dell' intendenti« u. s. w.
'^ So erschien z. B. Saverio Mattei's auf S. 87 citirtes Werk nicht 1875 son-
dern 17 85; S. 93 (Riva) sollte es performers heißen stsitt p/rfortners; S. 105
(Evangelisches Gesang- Buch) Haus statt Flaus; S. 116 (Zeile 1 und 2) Kirch-
lichen Musikschule statt Kirchlithen Mtisiksthuls ; S. 11t) (Gerber) Säender
für Soenger; S. 131 (Delmotte) Lassus für Lassos; S. 219 (Gallucci) Margarita
für Murgarita; S. 264 (Weber) Tonsetzkunst für Tonsetkunst; S. 289 (Sechterj
am für au; S. 310 (Spieß) Musicalischer für Musicarischer ; S. 311 (Zeile 7;
der für dev etc.
Emil Bohn, Die musikalisol^en Handschriften. 277
sehr bald gewahr werden, daß das Bueh sowohl durch die Fülle der Torhandenen
Werke als auch durch die Art der Besehreibung zu den besten Biblioihekskata-
log^ gehört, die bisher in die Öffentlichkeit getreten sind. Lebhaften Dank hat
sich Herr Prof. Federieo Parisini um die Herausgabe des Ganzen erworben. Wer
jemals ähnliche Arbeiten publicirt hat, weiß auch die Mühen zu schätzen, die bei
einem derartigen Werke zu überwinden sind. Prof. Parisini konnte seinem Vor-
ginger kein pietätvolleres Denkmal setzen als durch die Publikation des Catahgo.
Die äußere Ausstattung gereicht der Verlagsbuchhandlung Romagnoli dall' Acqua
xur Ehre, der Druck ist sauber und übersichtlich, die mehrfach Torhandenen Titel-
hobsclinitte und Notenbeispiele yerrathen großen Fleiß und ungewöhnliche Sorg-
falt Besondere Anerkennung gebührt endlieh dem Municipium von Bologna, welches
die gewiß nicht geringen Mittel bewilligt hat, daß das umfangreiche Manuskript
in der yorhandenen Form veröffentlicht werden konnte. Möchten nun auch, dahin
geht sicher der Wunsch aller Fachgenossen, die Übrigen beiden Bände recht bald
vollendet werden. Sie werden der Wissenschaft gewiß in gleicher Weise herror-
ragende Dienste leisten wie der vorliegende erste Theil.
Berlin. BmU Vogel.
Emü Bohn, Die musikalischen Handschriften des XVI. und
Xyn. Jahrhunderts in der StadtbibUothek zu Breslau. Ein Beitrag
xur Geschichte der Musik im XVI. und XVEE. Jahrhundert. Breslau,
Commissions- Verlag von Julius Hainauer. 1890. XVI und 423 S.
gl. 8«.
Seit dem Jahre 1883, als Emil Bohn Über die älteren Musikalien der Breslauer
BiUiotheken in seiner »Bibliographie der Musik- Druckwerke bis 1700« genauen
und für die geschichtliche Forschung so hochbedeutsamen Bericht erstattete, war
es auch für die räumlich femstehenden Fachkreise kein Qeheimniß mehr, daß die
Breslau er Stadtbibliothek an Musikhandschriften ebenso reich wie an -Druck-
werken sei, und daß eine Katalogisirung und Veröfifentlichung jenes handschrift-
iichen Bestandes einen gleich großen Gewinn für die Musikwissenschaft bringen
wflrde. Mit dem vorliegenden umfangreichen Werke hat der gesohätate Verfasser
einem wohl oft gehegten Wunsche der Fachgenossen entsprochen und uns nun-
mehr einen Überblick über den ganzen handschriftlichen Musikschatz der Stadt-
bihliotfaek der sehlesischen Kapitale unterbreitet. Hier auseinandersetzen zu wollen,
welche Resultate damit gewonnen worden, das würde zu weit führen — genug,
Emil Bohn war wie kaum ein Anderer seiner Breslau er Kollegen gerade zu dieser
Arbeit berufen und hat auch seine Aufgabe in YorzQglichster Weise gelöst. Wer
nch einen Begriff machen kann, wieviel Geduld und Saohkenntniß nothwendig
sind, ganye Stöße wirr durcheinander liegender Musikalien zu ordnen und zahl-
lose anonyme Werke längst verflossener Zeiten ihrem Autor zuzuweisen, der wird
Bohn's Arbeit gebührend würdigen und nach Verdienst anerkennen können. Das
ganze Buch bezeugt in beredtester Weise die große Sorgfalt und ausgebreitete
Litteraturkenntniß seines Verfassers, Gaben, welche freilich bei einem Bibliographen
als nothwendige Postulate anzusehen sind, die aber doch in dem Maße wie bei
Bohn nur selten angetroffen werden.
Im ersten Theile des Buches, von S. 1 — S. 194 reichend, beschreibt der Ver-
Suser 356 Handschriften. Die Inhaltsangaben sind in kuner, doeh dem Gegen-
1891. 19
278 Siitiken und Referate.
Stande yöUig genügender Form abgefaßt Die übrigen Abschnitte enthalten ausführ-
liche Verzeichnisse, die zur Erläuterung des L Theiles dienen und das AufBachen
einer jeden, im 1. Abschnitte beschriebenen Komposition von den verschieden-
sten (Gesichtspunkten aus erleichtem und überhaupt möglieh machen. Das Yer-
zeichniß I giebt eine alphabetisch und nach Sprachen geordnete Übersicht über
die Textanfänge, verweist auf die Nummern der einzelnen Handschriften, bezeichnet
den betreffenden Verfasser und enthält gleichzeitig die sehr werthvoUen Angaben,
ob und in welchen Werken die citirten Stücke gedruckt zu finden sind — An-
gaben, die für kritische Untersuchungen äußerst schätzbares Material bieten. Bei
anonymen Werken hat Bohn die Anfangsnoten der Oberstimme in recht praktischer
Weise dursh Buchstaben angeführt und dadurch ein bequemes Mittel zur etwaigen
Bestimmung einer solchen Komposition gegeben. Der ganze Abschnitt ist mit
großem Fleiße und weit ausschauender Sachkenntniß abgefaßt und wird ähnlichen
Arbeiten sicher recht willkommene Fingerzeige darbieten. Im IV. Verzeichnisse
(S. 325 — 371) sind die vorkommenden Autoren und die Textanfänge ihrer vorhan-
denen Werke genannt, darauf folgt eine Übersicht über die als gedruckt nach-
gewiesenen Nummern und endlich ein ausführlicher Index zu Puschmann's Meister-
singerbuch.
Für die Übersicht über den Inhalt der »Handschriften« wäre es wohl besser
gewesen, das IV. Verzeichniß ganz an den Schluß zu stellen. Man hätte dann
die Beihe der Autoren und ihrer Werke an derjenigen Stelle gehabt, wo man
dieselbe zu suchen gewöhnt ist. Zeitraubendes Herumsuchen wäre erspart ge-
blieben. Zu der Anführung der den einzelnen Autoren zugehörigen Werke im
rV. Verzeichnisse konnten auch die Verweise auf die Nummern der Handschriften,
in welchen die angeführten Stücke enthalten sind, mitgetheilt werden. Man hätte
nicht nöthig gehabt, aufier dem IV. noch das I. Verzeichniß einzusehen, um
dann erst die Nummer des gesuchten Kodex zu erfahren. Damit man mich recht
verstehe, gestatte man mir, ein Beispiel anzuführen. Nehmen wir an, ich habe
vor mir eine alte Handschrift des Schütz'schen Psalms »Die mit Thränen säen«
und möchte gern einen Vergleich mit anderen Handschriften derselben Komposition
anstellen. Ich nehme Bohn's Werk zur Hand. Im IV. Verzeichnisse finde ich,
daß Breslau in der That den gesuchten Psalm von Heinrich Schütz besitzt, er ist
auf S. 364 citirt. Allein um zu wissen, in welchem Kodex er enthalten ist, muß
ich erst Verzeichniß I nachschlagen und erfahre dann erst (auf S. 267), daß ich
den Kodex 46 für meine weiteren Untersuchungen nöthig habe.
Die erwähnte Ausstellung ist übrigens zu geringfügig, um dem Werthe des
Bohn'schen Buches irgend welchen Eintrag zu thun; sie bezieht sich auf rein
Äußerliches und betrifft nur die bequemere Handhabung des Bandes. Die Arbeit
selbst ist eine der besten und fleißigsten, welche seit Jahren auf dem einschlägigen
Gebiete erschienen sind; sie sei hiermit allen Lesern dieser Zeitschrift zur An-
schaffung und allen Herausgebern ähnlicher Handschriftenverzeichnisse zur Nach-
ahmung aufs Wärmste empfohlen.
Berlin. Emil VogeL
A. Bertolotti, Musici alla Corte dei Gonzaga in Mantova dal
secolo XV al XVIII. Notizie e documenti laccolti negli Archivi
Mantovani. (Vortitel :) La Musica in Mantoya. In Milano, appresso
G. Ricordi & C, o. Jahr (doch 1890). 130 S. gr. 8«.
A. Bertolotti, Musici alla Corte dei Gonzaga in Mantova. 279
Das Erscheinen dieses Buches mag wohl ?iele Leser der »Vierteljahrsscfarift
für Musikwissenschaft«, welche den italienischen Publikationen der jüngsten Musik-
litteratur Aufmerksamkeit und Interesse schenken, mit freudiger Erwartung erfüllt
haben. Eine neue Spezialgeschichte einer für die Entwicklung der Musik so be-
deutsamen Stadt wie Mantua, eine neue Schilderung der musikalischen Strömungen
am Hofe des kunstsinnigen Fürstengeschlechtes der Qonsaga , die mehr als zwei
Jahrhunderte hindurch mit den größten Tonmeistern Europas in engem Verkehr
gestanden haben und gar Viele der Musikheroen längere oder kürzere Zeit hin-
durch an Mantua zu fesseln wußten, ein solche neue Spezialgeschichte mußte von
TOinherein umso mehr hohe und gespannte Erwartungen erzeugen, als eine ganze
Reihe, namentlich in dieser Zeitschrift veröffentlichter Vorarbeiten, besonders aber
die ausgezeichneten Schriften eines Pietro Oanal (»Della Musica in Mantova.
Venesia, Antonelli, 1881) und eines Stefano Davari (vergL Vierteljahrsschrift f.
Muflikw.« Jahrg. IV. S. 528) bereits seit längerer Zeit das Fundament zu einer
Musikgeschichte Mantuas gelegt haben. Nichts lag also — so sollte man meinen —
für den Verfasser näher, als sämtliche Vorarbeiten fleißig zu benutzen, ihren
Werth nach Art eines gewissenhaften Historikers genau abzuwägen, etwaige neu-
Bufgefimdene Dokumente tüchtig zu verarbeiten, in summa, auf der anerkannt
soliden Grundlage so vieler beachten swerther Mitarbeiter weiter zu bauen. Leider
hat dies Bertolotti verschmäht; er ist seinen eigenen Weg gegangen und hat sich
nicht einmal die Mühe gegeben, die einschlägige Litteratur, die an Zahl doch nur
gering ist, selbst auch nur flüchtig einzusehen. Was er uns geliefert hat, ist ein
bedauemswerthes Zerrbild, das zwar Manches geschichtlich Neue und Vieles an
sich Mächtige enthält, das aber durch die ungemein flüchtige und ganz kritiklose
Art der Verwendung hervorragender und minder bedeutender Dokumente sehr
iweifelhaften Werth repräsentirt, vor dessen allzu vertrauensvoller Entlehnung und
Benutzung daher nicht eindringlich genug gewarnt werden kann.
Nach meiner Ansicht standen dem Verfasser vornehmlich zwei Wege zum er-
sprießlichen Ziele offen: Die Arbeit konnte entweder eine rein archivalische Lei*
stung sein, oder, die Lösung der gestellten Aufgabe in weiterem Sinne aufgefaßt,
eme musikhistorische. Im erstgenannten Falle boten Davari's treffliche Studien
em leuchtendes Vorbild, im anderen durfte Ganal's Arbeit als höchst nachahmens-
werthes Muster gelten. In beiden Fällen aber waren Genauigkeit und Gewissen-
haftigkeit die ersten Erfordernisse, sobald es überhaupt in der Absicht des Ver-
fassers lag, mit seinem Buche der wissenschaftlichen Welt und nicht dem großen
Haufen einen Dienst zu erweisen. Die Stellung des Autors, Herr B. ist Direktor
des Staatsarchivs in Mantua, bietet genügende Gewähr dafür, daß sich seine De-
tailforschungen an ein ernstes Publikum richten sollten. Zu meinem Leidwesen
muß ich bekennen, daß Bertolotti's Veröffentlichung weder eine archivalische noch
musikhistorische Leistung ist. Der Verfasser wollte zwar, wie aus dem Ton des
Garnen hervorgeht, eine Arbeit ähnlich derjenigen Canal's bieten, doch fehlen ihm
dazu alle Voraussetzungen ; er besitzt weder musikhistorische Durchbildung noch die
nothwendige Kenntniß der einschlägigen Musiklitteratur. Sein ganzes Wissen in
musikkritischen und musikgeschichtlichen Dingen ist — abgesehen von den wenigen
hierhergehörigen, in seiner Muttersprache erschienenen Publikationen — : lediglich
aus F6tis' Biographie universelle geschöpft, als ob die Musikwissenschaft in den
Petiten 25 Jahren geschlafen oder sich dem dolee far niente hingegeben hätte 1
Um das oben ausgesprochene herbe Urtheil zu begründen, müßte ich das Buch
B-'s sowohl nach seiner archivalischen , als auch musikgeschichtUchen Seite be-
leuchten. Was der Verfasser in ersterer Beziehung gesündigt hat, ist aber,un-
libkgst dnrch Alessandro Luzio im Oi&male starieo della LetUratura Italiana
19*
280
Kritiken und Räfente.
(Jahrg. 1891, S. 98 ff.) yeröffentliclit worden; ieh darf also darauf Terweisen' und
mich auf die munkgeaehiehtliche Seite beschränken.
1 Man traut kaum seinen Augen, wenn man liest, wie fehlerhaft B. die ge-
fundenen Dokumente wiedergegeben hatl Lusio sagt geradezu: »Fossiamo aner-
mare recisamente che nella riprodnsione del B. nessun documento e un' esem-
plasione accurata del teste in senso assoluto . . .« (1. c. S. 99) Die unglauhUchsten
Verdrehungen und Verkehrtheiten tischt B. mit ernster Miene auf. Man gestatte
mir, hier aus Lusio's Kritik eine kleine Blüthenlese su halten:
Original.
falfeto (falsetto)
falso
exaltanda
oldeno
piacere, che ye invito e vi facio di
quarta, e perch^ ui aspetto
mi portarä
vero h
vivere e morire
in desiderio
la fami^a et robbe sue
oondursi
connumerarlo
Colabaudi
in questi tempi assai ociosi
compiacere
questo non in dono
Bapt. de Abbatibus
Tndapaleus
lo habbi earo per le Yirtü sue et per la
ereansa havuta in easa di quella
per satisfare a quelH altri che gH hanno
seryito de dinari per poter perficere
un opera tanto singulare al mondo
in unum
vi si ritroTomo
partito che sarö io
il mastro di capella novo
attendarö a serrire
creparanno de inuidia
dieci anni
non parlo
acciö mi favorisca
servitio
{irofessione
ei
riputato
mutate
incerti
che non si^ renderä immeritevole
credendomi
D. Camilla sta salda
prostrata
supplica della sua sicura protettione
Bertolotti.
falexeto (S. 11)
falle (8. 12)
exaltandola (S. 13)
desidereno (8. 13)
piacere e perche ui aspetto (S. 21;
ui portara (S. 21)
vuo e' (S. 23)
venire et morire (S. 24)
mi desideraria (S. 24)
la famiglia et robbe me (S. 24
condurla (S. 24)
conumemorarlo (S. 27)
Colabardi (S. 27)
in questi assai ociosi (S. 26}
comprere (S. 29)
questi non mi dono (S. 29)
Bapt. de Abbafr. (S. 30)
Tndapalens (8. 30)
lo haobi caro di quelle (8. 33]
per satisfare a quelli altri e possa per-
ficere un opera tanto magiore ,'S. 33,
in noYum (S. 40)
vi si trovano (8. 40)
per tale che sarö io (8. 40)
il mastro di capella anco (8. 40;
attendarö a scnuere (8. 41)
mi paragni de inuidia (8. 41)
dieoi giomi (8. 42)
ne pano (8. 42)
acui mi favorisca (8. 42)
Ministro (8. 44)
perfettione (8. 49)
lui (8. 50)
ripetute (8. 50)
inutile (8. 50)
diuersi (8. 53)
cui si renderä meritevole (8. 89y,
uedendomi (S. 100)
Don Camillo sto saldo (8. 100)
prostrato (8. 100)
supplico della sua flrma per lettere (8.100)
Diese Proben werden, wie ich glaube, genügen I
A. Bertolotti, Muaiei alla Corte dei Gbnzaga in Mantoya. 281
Bertolotti's Buch folgt der chronologischen Ordnung. Dem XV. Jahrhundert
sind die ersten 18 Seiten eingeräumt, dem folgenden die Seiten 19--*75 und endlich
dem XVn. Jahrhundert der Rest des Werkes. Was sunäohst in die Aug^n fällt,
ist die wenig sorgfältige Sichtung des gesamten Materials, die geringe Scheidung
des Wesentliehen Yom Unwesentlichen und die dadurch bedingte Verschiebung des
Gänsen su Gunsten des bei dem Thema in nebensächlicher oder doch nur in imter-
geordneter Weise in Betracht kommenden Stoffes. Die ersten 40 Seiten enthalten
I. B. mehr Briefe von Mitgliedern der markgräflichen Familie, Ton Verwandten
oder befreundeten Fürstlichkeiten, von Gesandten, Sekretairen etc. als Yon Mu-
sikern. Unwesentliche Dinge, Jemand wird z. B. beauftragt, irgend ein (nicht
näher bestimmtes) Instrument von einem nicht einmal namhaft gemachten Verfer-
tiger XU kaufen, werden durch wörtliche Wiedergaben des betreffenden Dokuments
aiisgeseiehnet , während Briefe hervorragender Musiker oft nur nebenher citirt
werden. So sind die auf S. 17 (oben) und S. 18 angeführten Briefe nur von sehr
geringer Bedeutung. Bertolotti hat wohl kaum einen Begriff von dem verschieden-
artigen geschichtlichen Werthe der von ihm erwähnten Männer gehabt, denn sonst
würde er fruchtbare Komponisten (wie Tromboncino, Gastoldi, Gagliano etc.) nicht
mit nur wenigen Zeilen bedacht und umgekehrt Andere (wie Fietro Bono, Antonio
Rissi, Fftles, Evangelista dall' Orto, Gio. Maria Lugharo etc.) nicht durch aus-
führüohe Mittheilungen von Briefen und facsimilirten Wiedergaben ihrer Namens-
süge in eine ihnen nicht zukommende hellere Beleuchtung gerückt haben. Seite 9
hätte die Vermuthung hinzugefügt werden müssen, daß unter dem eieco nUraeolosOf
der von München nach Mantua gekommen, höchst wahrscheinUoh Faumann gemeint
seL Wunderlich klingt die auf S. 12 stehende Bemerkung über Tromboncino:
Era adun^ue non goitanto sonatore, tna compoaitore — als ob Über die komposi-
torische Thätigkeit Tromboncino's erst durch Bertolotti der Nachweis erbracht
und nicht schon in den Inkunabeln des Notendruckes genug Beweise davon yer-
öffentUcht worden wären! S. 15 wird ein Filippo Lapacino erwähnt und be«
hauptet, er sei »Sänger, Organist und Autor von Frottolen« gewesen — viel-
leicht ist damit Filippo de Luprano (oder Lurano) gemeint, von dem sich in den
Petrueci'schen Drucken eine stattliche Anzahl Frottolen befinden. Unangenehm be-
rühren femer Phrasen wie 8i crede ehe , , . (S. 7), n ha un »Trattato dt numcan
(S. 7), si ha numoscritta . . . (S. 60), Si hanno varie 8ue opere (S. 61) etc. In den
meisten Fällen ist unter dem »si« F6tis zu verstehen, den (wie ich schon oben be-
merkt habe) Bertolotti nach Herzenslust ausschreibt und doch in ihm geeignet er-
seheinenden Fällen tüchtig durchhechelt. Solchem unwürdigen Treiben ist auch
Canal zum Opfer gefallen: In den kleinsten Dingen, wo nur immer B. von Canal
und Anderen abweicht, ist dies mit komischer Emphase und seltsamer Hervor-
hebung geschehen.
Den ersten Sati des 2. Abschnittes (S. 19) fCkhre ich hier wörtlich an, um den
Lesern dieser Zeilen von der Urtheilslosigkeit und Ignoranz des Verfassers eine
weitere, recht drastische Probe zu geben : Per gran parte dt questo eeeolo aneora
regnd la musiea ßamminga, eioh queüa trasformazione bizzarra, emgmaiica, artifi-
ctale, ehe eist U feeero prendere; ßnch^ sorsero il Palestrina a rteondarla euUa vera
na praiieamenie, ed aUri teoretieamenie con buoni libri , fta cui Vineenzo Galilei.
Die Entwicklung der Musik habe also nur auf Palestrina gewartet, um die
»bizarren, räthseUiaften und gekünstelten« Bahnen zu verlassen und in den einzig
wahren Weg einzulenken! Mehr Verkehrtheit konnte wohl schwerlich in so
wenigen Worten zum Ausdruck kommen. Ob Bertolotti jemals irgend eine Kom-
position der alten Niederländer gesehen und vor Allem verstanden hat, scheint
mir sehr zweifelhaft. — Seite 20 hätte an Stelle von Vernareoci Anton Schmid
2S2 Kritiken und Beferate.
erwähnt werden müssen, dessen Buch über »Petrucci« 36 Jahre früher ersdiien als
Vemareccrs Arbeit.
Die Torkommenden bibliographischen Angaben sind, soweit sie sich auf alte
Ausgaben der Werke der Komponisten des XVI. und XYII. Jahrhunderts besiehen,
sämüich aus F^tis' berühmtem Werke entlehnt — natürlich auch mit denselben
gelegentlichen Fehlem und den gleichen Ungenauigkeiten : Seite 39 wird von
Giaches de Wert behauptet, er habe im Jahre 1558 sein erstes Madrigalbueh in
Venedig durch Oardano publicirt. Gemeint sind die fünfstimmigen Madrigale, die
in der That 1558 zum ersten Male das Licht erblickten, aber nicht durch Gardano,
sondern durch Girolamo Sooto^ in Venedig. Bei Erwähnung des Komponisten
Testore (S. 40) mußte bemerkt werden, daß sich derselbe auf dem (natürlich aus
F^tis entnommenen) Titel seines Madrigalbuches Guglielmo Textoris nennt. Weß-
halb B. (S. 57) nicht den Titel der von Gioyanelli besorgten raceoüa namhaft
macht, ist schwer zu verstehen. Es bandelt sich, wie ich hinzufüge, um die von
Ant. Gardano gedruckten 5 Bücher des »Nov. Thesaurus«. Alessandro Striggio er-
scheint (S. 59) als Strigi, Marenzio als Marenzi (S. 60), Ruggiero Trofeo als Tro*
peo (S. 63), Masenelli (oder Masnelli) sogar als Macinelli (S. 64 u. 126) ! Alessandro
Striggio (Sohn) gab nicht gemeinhin le apere seines Vaters heraus, wie B* auf
S. 59 und S. 86 behauptet, sondern nur das 3. (1596), 4. (1596) und 5. (1597) Buch
der fünfstimmigen Madrigale seines berühmten Vaters. Daß Marc' Antonio In-
gegneri in Mantua, im Dienste der Gonzaga gelebt habe, wird mit bedauerns-
werther Konsequenz immer wieder (S. 59) glauben gemacht, obgleich B. nicht einen
einzigen Beleg dafür finden kann und sogar selbst zugiebt, daß das Archiv Gon-
zaga überhaupt kein Ingegneri betreffendes Dokument enthalte. Der genannte
feinsinnige Meister des Kontrapunkts sagt ausdrücklich in der Vorrede zu Saerth
rum Cantümum cum quatuor vocibus . . . lib. primtu. Ven. ap. Ang, Qard. 15S6
». . . Ego, qui tot iam annos Cremon. Ecdesiae Musices chorum rego . • .a Die
Dedikation ist »Cremonae, Kai. Aprilis 1586« datirt. Es ist hier nicht der Ort,
weitere Beweise dafür anzuführen, daß Ingegneri in Mantua selbst oder am Man-
tuanischen Hofe niemals ein Amt bekleidet habe ; möge man sich an dieser Stelle
mit den obigen eigenen Worten Ingegneri's begnügen und alle gegentheiligen und
immer wieder nacherzählten Behauptungen ein für alle Male zurückweisen.
Falsch ist femer der dem Mantuaner Nicola Parma (S. 60) gewidmete Passus.
Das erste Buch der »Motecta« desselben erschien (»nunc pr. in lucem edita«) erst
1606 bei R. Amadino in Venedig und nicht schon dal 1580 al 1586. S. 61 h&tte
erwähnt werden müssen, daß sich Orazio Crisci in der Dedikation von Sabino's
2. Buche der sechsstimmigen, von Angelo Gardano gedruckten Madrigale
Schüler Sabino's nennt. Die auf derselben Seite stehende »Berichtigung« zu La-
voiz's Hietoire konnte ganz wegbleiben; denn es dürfte wohl keinem Musikhisto-
riker einfallen, Lavoix als Autorität oder als eine Quelle anzusehen, welche der
Berichtigung Überhaupt werth sei. — Der Abschnitt über Benedetto Pallavicino
folgt den althergebrachten Angaben. Wie ich schon vor 4 Jahren (auf S. 324 des
ni. Jahrgangs dieser Zeitschrift) nachgewiesen habe, starb Pallavicino nicht schon
im Jahre 1601 (wie B. auf S. 62 und S. 76 versichert), sondern lebte noch im
Herbst 1605. Ich füge dem a. a. O. Gesagten hinzu, daß sich Pallavicino sogar
noch im Frühling 1612 seiner vollen geistigen Frische erfreut haben muß, da er
selbst im angeführten Jahre das 8. Buch seiner fünfstimmigen Madrigale (bei
Rice. Amadino) publizirt und die darin enthaltene Dedikation (an Francesco Mo-
^ Das Werk (Alfonso Gonzaga dedicirt) befindet sich in der obigen Ausgabe
compl. in der Münchener Hofbibuothek.
A. Bertolotti, Musici alla Corte dei Gonsaga in Mantova. 283
cenigo) selbst unterzeichnet ^ Unrichtig ist auch» daß das Amt Perabovi's (S. 62)
.aus dem Widmungsbriefe seines citirten Madrigalbuches hervorgehe; B. hat das
erwümte Werk sicher nie in den H&nden gehabt, denn sonst hätte er gewahr
Verden müssen, daß unsere Kenntniß der in Rede stehenden Stellung Peraboyi's
meht aus der Dedikation, sondern aus dem Titel des betreffenden Buches ge-
schöpft sei. S. 63 bemerkt B., daß Qastoldi im Jahre 1582 in Mantua vierstinunige
Cansonette, und (S. 74) daß Orfino Vittorii Madrigale und Messen Teröffentlieht
habe — den Nachweis ist er freilich schuldig geblieben« Was über Ruggiero
Trofeo (bei B. heißt derselbe Tropeo) berichtet wird, ist ganz unbrauchbar; es er-
aehienen n&mlich nicht aleune canzoni desselben e<m quelle del Bovigo, nel 1683,
sondern erst im Jahre 1600 »Canzonette leggiadre & tre voci« mit Kompositionen
Ton Oio. Dom. RognonL^ Beide Autoren waren Anno 1600 Organisten in Mai-
land. Ruggier Trofeo bezeichnet sich auf dem Titel des ersten Buches seiner
sechsstimmigen Canzonette, die 1589 bei Rice. Amadino erschienen, als »Organista
deDa Chiesa ducale di Mantova«.
Auf S. 69 finde ich, ohne irgend welche Quellenangabe den Satz Claudio
MaiUeoerdi eortl i natali, ä di 16 fnaggio 1667 , in Cremona, Man gestatte mir die
bescheidene Frage an Herrn B. zu richten, woraus er das Datum vom 15. Mai
1567 entlehnt habe. Im Jahre 1885 habe ich tagelang in den verschiedensten
Kirohenarchiven Cremonas nach dem Taufdokument Monteverdi's gesucht, es nach
Tielen Mühen gefunden und zum ersten Male in diesem Organ veröffentlicht (vergl.
Jahrg. 1887, S. 317 u.S. 427), ohne Aufhebens davon zu machen. Nun erscheint
das wichtige Datum bei B. wieder und auf S. 78 die überraschende Bemerkung :
So ehe ü signor E, Vogel pubblied un' opera in tedeseo eul Monteverdi^ la quäle io
non vidi . . . Ich überlasse es dem Leser, aus den angeführten Thatsachen den
naheliegenden Schluß selbst zu ziehen. Neu ist die auf S. 74 stehende Behaup-
tung, daß Girolamo Casati »maestro di eapella in Mantova« gewesen sein soll; er
war vielmehr im Jahre 1609 Organist am Dom zu Novara^ und 1625 Organist an
der Kirche zu Romanengo ^ bei Cremona.
Um diese Kritik nicht allzu sehr über den mir zugemessenen Raum auszu-
dehnen, muß ich mich im Folgenden kurz fassen. Die auf S. 77 citirte Oper des
Grafen Scipione Agnelli heißt nicht Peleo e Orti, sondern »Feleo e Tetide«, auf
derselben Seite (Zeile 8 v. u.) nicht 1618, sondern *1617« und endlich (ebenfalls
auf derselben Seite, Zeile 5 v. u.) nicht Eleonora, nel 1620, sondern »Caterina
Medici-Oonzaga, nel 1619«. S. 78 (letzte Zeile) sollte für Morl veno il 1644 das
genaue Datum vom »29. Nov. 1643« stehen. Den auf S. 82 (Zeile 16 v. u.) er-
wähnten Fassus korrigire man nach Jahrgang 1887 (Seite 348) dieser Zeitschrift.
Wer unter dem ChiozzoUo, mastro di Capella (S. 87 u. S. 124) zu verstehen sei,
hat B. offenbar selbst nicht gewußt Man setze dafür den Namen des berühmten
Kapellmeisters an S. Marco, Giovanni Croce, der aus Chioggia gebürtig war und
sich deßhalb meist »il Chiozzotto« nannte. S. 76 und S. 89 erscheint ein Mario (!)
da Qaglianoy doch nicht ein einziger Brief von ihml Unrichtig sind femer die
^ Della Badia, 16. IV. 1612. D. Bened. FaUavicino, Monaco Camaldolense. —
Exempliur in Oxford, Christ Church.
' Das Werk ist dem Grafen Fio Simonetta gewidmet. — Exemplar in Ox-
ford, Ch. Ch.
^ Vergl« Gio. Ghizzolo's 1. Buch der »Madrigali et Arie per sonare et can-
tare, Ven. (Aless. Raverii) 1609«. Exemplare in Brüssel (B. r.) und London (K.
College).
^ Siehe Bohn's »Bibliographie«, S. 90.
284 Kritiken und Referate.
Andrea Falconieri betreffenden, auf F^tis fußenden bibliographisehen Angaben.
Das 1. Buch der Villanellen Falconieri's erschien 1616 in Rom (bei Gio. Batt.
Robletti), das 5. Buch 1619 in Florenz (bei Zanobi Pignoni). Von Qirolamo Belli
heißt es (S. 95), er habe il primo libro de' mwi MadrigaU dem Henog von Mantua
gewidmet. Man streiche primo und setze dafür »secondo libro de' suoi Madiigali
ä sei Toci«.i 8. 97 (Z. 12 u. Z. 20} lese man »Guivizzani«, Gemahl der Settimia
Caccini, für C^Wzzant, auf der gleichen Seite (Z. 21) »Effrem« für E. und >Salo-
mon Rossi« für A. Roni.
Hiermit schließe ich meine Besprechung. Der Leser, welcher mir auf der
Wanderung durch das B.'sche Buch bis hierher gefolgt ist, wird gewiß nicht noch
einmal ein zusammenfassendes Urtheil verlangen. Es thut mir leid, daß genuie
an diesem Buche soviel typographischer Fleiß verschwendet worden ist. Das Er-
freulichste an dem ganzen Bande sind n&mlich die faesimilirten Wiedergaben der
Namenszüge und sogar ganzer Briefe von berühmten und nnberühmten Musikern.
Die zahlreichen Portraits, Instrumentendarstellungen und sonstigen Bildchen konn-
ten, da sie ohne Quellenangaben und ohne erkUlrenden Kommentar gegeben sind,
ganz wegfallen; sie sind, in dieser Form veröffentlicht, nichts als Spielereien.
Berlin. Emil VogeL
1 Das 1. Buch der sechsstimmigen Madr. (Hrolamo Belli's ist dem Herzog voi
Ferrara, das 1 . Buch der fünfstimmigen Madr. der Herzogin von Ferrara gewidmet
Adressen der Herausgeber:
Professor Dr. Spitta, d. Z. geschäftsführender Herausgeber, BerUn, W«
Burggrafenstraße 10; Dr. Friedrich Chrysander, Bergedorf bei Hamburg;
Professor Dr. Guido Adler, Prag, Weinberge, Celakovskygasse 15.
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik
des sechszehnten Jahrhunderts.
Von
Ernst Badecke.
In der Eutwickelung der christlich -abendländischen Tonkunst
gelangte die Vokalmusik früher zu künstlerischer Bedeutung als die
Instrumentalmusik. Während jene unter dem Schutze und im
Dienste der Kirche seit dem frühen Mittelalter eine sorgsame Pflege
erfuhr, und ihre praktischen und theoretischen Erzeugnisse in zahl-
reichen, fleißig geschriebenen Handschriften aufbewahrt wurden,
während sie ferner im weltlichen Liede, vor allem in Deutschland,
eine herrliche Blüthezeit erlebte, lag diese ausschließlich in den
Händen der nicht sonderlich angesehenen, fahrenden Spielleute und
tänftigen Stadtpfeifer, und keine schriftlichen Au£seichnungen geben
Kunde, welcher Art ihre Kunstübung war. Erst mit dem Beginne
des 16. Jahrhunderts tritt sie auf den Plan, in der Zeit Luthers und
der Humanisten, in der Zeit der Entdeckungen und Erflndungen.
Die Erfindung des Notendruckes erleichterte die Verbreitung der
Kunstwerke und machte das Kunstleben allgemeiner, indem sie die
einzelnen Zweige der Tonkunst in gemeinsame Beziehungen zuein-
ander setzte.
Reichlicher als bisher fließen nun die Quellen der Musikge-
schichte; und zahlreiche Druckwerke bezeugen, daß die Meister
in der Musik jetzt auch der Instrumentalmusik ihr Interesse zu-
wandten. Ein Blick auf die Werke jener Kindheit der Instrumen-
talmusik lehrt, daß sie außer den Tänzen, die sicher schon seit lange
in ihnen eine Bolle gespielt hatten , aus der Vokalmusik ihre Nah-
ning sogen. Zunächst waren es meist nur Übertragungen von geist-
lichen, kirchlichen und weltlichen Gesängen; ein eigener Instru-
mental-Kompositionsstil war noch nicht vorhanden, er mußte sich
eist bilden.
Die Orgel hielt sich naturgemäß vorzugsweise an die Kirchen-
mnsik, die sich damals ihrer höchsten Vollendung näherte, nachdem
die Kunst der großen niederländischen Meister sich über fast ganz
Europa verbreitet hatte, und fand namentlich seit der Reformation
im protestantischen Gottesdienst ein reiches Feld zur Entfaltung
1891. 20
286 Ernst Radecke,
Die andern Instrumente, unter denen die Geige, das KlaTier und
die Laute selbständig hervortraten, zogen neben der geistlichen
auch die weltliche Gesangsmusik in ihren Bereich.
Die Laute war sehr beliebt; an Popularität scheint sie in jener
Zeit sogar das Klavier übertreffen zu haben, wenigstens in Italien
und Deutschland. In Deutschland war sie im 16. Jahrhundert das
eigentliche Hausinstrument der musikliebenden Dilettanten. Alle
Kompositionen kirchlichen und weltlichen Stils, die die Aufmerk-
samkeit des Publikums auf sich zogen, wurden für Laute übertragen,
damit sie im Hause auch von einem einzelnen oder wenigen Aus-
fuhrenden genossen werden konnten. Bei der großen Bedeutung
und Beliebtheit, welche das deutsche weltliche Lied in jener Zeit
hatte, konnte es nicht ausbleiben, daß bald Bearbeitungen desselben
in den Lautenbüchern einen großen Raum einnahmen.
Das deutsche weltliche Lied im 16. Jahrhundert läßt sich scharf
in zwei Gruppen sondern. Der ersten Gruppe gehören die Lieder
der ersten drei Yierteljahrhunderte an. Sie bauen sich wie das Lied
des 1 5. Jahrhunderts auf einem Tenor auf, dessen Melodie meist von
Alters her im Volke beliebt war; Cantus, Altus und Bassus kontra-
punktieren gegen diese Melodie , gewöhnlich unter Benutzung and
Nachahmung kleinerer Abschnitte derselben. Den Höhepunkt dieses
kontrapunktischen Liedstiles, der durch die Zugrundelegung des
Volksliedes ein ausgesprochen nationales Gepräge erhielt, bezeichnet
Ludwig Senfl. Nach seinem um 1555 erfolgten Tode ist kein be-
deutender deutscher Vertreter des kontrapunktischen Liedstiles mehr
aufgetreten; denn die Hofkapellmeister von München und Dresden,
Orlandus Lassus und Antonio Scandelli, die auch mit Glück im
deutschen Liede thätig waren, gehörten ihrer Geburt nach dem Aus-
lande an. Mit Beginn des letzten Viertels des Jahrhunderts trat
eine ganz neue Liederart in Deutschland auf; sie kam von Italien.
Hier war auf die Pflege der Frottole im 15. Jahrhundert die Aus-
bildung des Madrigals und seiner Nebenform der Villanelle im 16.
Jahrhundert gefolgt. Beide Liedarten erfreuten sich großer Beliebt-
heit und wurden, in Deutschland eingeführt, auch dort sehr bald
populär und nachgeahmt. Der Hauptunterschied der Villanelle und
des Madrigals von der alten deutschen Liedart war, daß in ersteren
die Melodie im Cantus lag, wie es auch im deutschen Tanzliede im-
mer der Fall gewesen war, während sie in letzterem vom Tenor ge-
sungen wurde. Bei der Villanelle war von kunstvollem Kontrapunkt
keine Spur, sondern Note für Note folgten die ünterstimmen der
Melodie, so daß sie eine Art akkordlicher Begleitung bildeten,
teilweise primitivster Art mit vielen Quintenfolgen. Die leichte
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 287
Ausfiihibarkeit dieser Lieder mag zu ihrer raschen Verbreitung bei-
getragen haben. Jacob Regnart war der erste, der 1576 »kurtzweilige
teatsche Lieder zu dreyen Stimmen, nach Art der Neapolitanen oder
Welschen Yilanellen« herausgab. Er fand bald viele Nachahmer.
Natürlich wurde auch noch in der alten deutschen Weise weiter-
komponiert; die beiden Formen beeinflußten sich gegenseitig, so daß
eine Mischung der Stilarten stattfand, wie sie jede Zeit des Über-
ganges aufweist. In Hans Leo Hassler vermählte sich die deutsch-
nationale Art mit der italienischen auf das glücklichste; er vertiefte
letztere und machte erstere eleganter und geschmeidiger. Auch er
setzte die Melodie in die Oberstimme, aber die begleitenden Stimmen
ermangelten nicht der kontrapunktischen Führung. Er ist zweifel-
los der bedeutendste Komponist der zweiten Gruppe des deutschen
weltlichen Liedes im 16. Jahrhundert.
Diese Bewegung auf dem Gebiete des deutschen weltlichen Lie-
des spiegelt sich getreu in den Lautentabulaturen jener Zeit; bis
zum Jahre 1575 finden sich außer den Tanzliedern die beliebtesten
Lieder des kontrapunktischen Stiles, von 1576 an treten die Villa-
nellen und die Lieder des Übergangsstiles in den Vordergrund und
Terdrängen die Lieder älterer Art bald gänzlich.
Für die Erforschung der Lautenmusik des 16. und 17. Jahr-
hunderts ist noch nicht viel gethan. Abgesehen von einer vortreff-
lichen Abhandlung über die französische Lautenmusik des 17^ Jahr-
hunderts von Oskar Fleischer ^ und der interessanten Veröffentlichung
und Besprechung des Leidener Lautenbuches des Thysius von
J. P. N. Land 2, die ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Lie-
dermelodieen ist, beschränkten sich die Forscher darauf, die Ent-
zifferung der verschiedenen Lautennotationen festzustellen und die
Titel, Inhaltsangaben und Auszüge aus den Vorreden und Spielregeln
der Lautentabulaturbücher^ zu veröffentlichen. Die Kompositionen
fui das Listrument sind bis jetzt von ihnen noch keiner eingehenden
wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen worden; Ambros^ und
1 Oskar Fleischer: Denis Gautier, in der Vierteljahrsschrift für Musikwissen-
schaft, 2. Jahrg. 1886. Heft 1. Auch separat erschienen.
^ In der Tijdschrift voor Noord-Nederlands Muziekgeschiedenia. I. 1885.
^ K. y. Siesewetter in der Leipziger musikal. Ztg. Bd. 18. No. 19 u. 20.
Bd. 33. No. 3. — A. W. Ambros: Geschichte der Musik. Bd. HL 2. Aufl. 1881.
S. 435—443. — C. F. Becker: Die Hausmusik in Deutschland in dem 16., 17. u.
IS. Jhdt Leipzig. 1840. S. 51—57. — W. J. v. Wasielewski: Geschichte der In-
strumentalmusik im 16. Jhdt. Berlin 1878. S. 29—49, S. 109—118, S. 130—133.—
Monatshefte für Musikgeschichte hrsg. v. Hob. Eitner: Jahrgang 1869. S. 115 ff.;
1871. S. 152, S. 210; 1872. S. 38, S. 52, 1876. S. 6, S. 119; 1877. S. 59; 1879.
S. 211; 1882. S. 121; 1885. S. 29; 1886. S. 101.
« Ambros : Geschichte der Musik. Bd. H. 2. Aufl. 1S80. S. 282— 284, 492— 498.
20*
288 'Ernst Radecke,
Wasielewski,^ auch Robert Eitner^, machen Ansätze dazu, bleiben
aber zu sehr an der Oberfläche. Da die Fülle des Stoffes sehr groB
ist, macht sie dem, welcher zuerst in eine Betrachtung des Inhaltes
der Lautenmusik eintreten will^ Beschränkung zur Pflicht. Wir wen-
den daher unsere Aufmerksamkeit auf die Lautenmusik des 16. Jahr-
hunderts in Deutschland und innerhalb derselben wieder nur auf die
Bearbeitungen deutscher weltlicher Lieder, die sich wie oben erwähnt
so zahlreich in den Lautenbüchem finden. Zu Grunde legen wir
451 Liederbearbeitungen für Laute, die aus nachstehend verzeichneten
Druckwerken und Handschriften aus der Zeit von 1507 — 1615 ent-
nommen sind:
L Druckwerke.
1) Intabulatura de Lauto. libr. L u. IL [Auf der letzten Seite]: Impressum
Venetiis Per Oetavianum Petrutium Forosemproniensem. Cum privilegio in-
victissimi domisi Venetiarum Die ultimo Martij 1507.
K. B. BerUn. P. 680.
2) Tabulaturen Etlicher loblgesang und liedlein uff die orgeln un lau{ten,
ein theil mit zweien stimen zu zwicken 1 un die drit dartzu singe, etlich on ge-
sank I mit dreien, tö Amolt Schlicken Pfaltzlgravischen Churfarstliehen Organiste |
Tabulirt uii in den truck in d ursprungklichen stat der truckerei zu Meintz, wie
sie noch volgt verordnet. (Hinten) : Getruckt zu Mentz durch Peter Schöffern. Uff
sant Mattheis abent. Anno 1512.
K. B. Berlin. S. 680. (Dem Berliner Exemplar fehlt das Titelblatt).
3) Musica Teusch (!) auf die Instrujment der grossen und kleinen Oeygen,
auch Lautten, | welcher masssn die mit grundt und art jrer Compo-|sicion auss
dem gesang in die Tabulotur zu ord-|nen und zu setzen ist | sampt verborgner |
applieation und kunst | Darynen ein liebhaber un anfenger berurter Instrument so
darzu lust und neygung | tregt, on ein sonderliche Meyster mensQrlich durch täg-
liche ubung leichtiich begreiffen | und lernen mag, vormals im Truck nye und ytxo
durch Hans Gerle Lutinist 1 zu Nurenberg auszgangen. | 1532.
K. Bibl. BerUn. G. 883.
Musica Teutsch (etc. wie oben) durch Hans Gerle Lute-
nist I zu Nurenberg aussgangen. | 1537. (2. Auflage).
K. B. Berlin. G. 882.
4) Musica und Tabulatur | auff die Instrumet der kleinen und grossen Geygen,
auch Lautten .... (etc. wie oben) .... durch Hans Gerle Lutenist zu Nurenberg
aussgangen. 1546. (Spätere vermehrte Auflage der Musica Teutsch).
K.. Bibl BerUn. G. 884.
5) Ein Newgeordent künstlich Lau-{tenbuch, In zwen theyl getheylt. Der erst
für die anfahenden | Schuler die aus rechter kunst und grundt nach der Tabulatur,
sich one | einichen Meyster darin zu fiben haben, durch ein leicht Exempel dieser |
punctlein wohin man mit einem yede finger recht greiffen | sol.
Weyter, wie mä die Tabulatur auch dis Men-Isur, uii die gantz Application recht
grundtlich lernen uii versteen sol.
Im andern theyl sein begriffen, vil ausserlessner kunstreicher stuck, [ von
Fantaseyen, Preambeln, Psalmen und Muteten, die von den hochberumbjten un
besten Organisten , als einen schätz gehalten , die sein mit sonderm fletss auff |
die Organistisch art gemacht und colorirt, für die geübten und erfamen di-jaer
kunst, auff die Lauten dargeben. | Dergleichen vormals nie im | Truck, Aber yetio
' V. Wasielewski a. a. O.
2 Monatshefte, Jahrgang 1869. S. 115.
Das deutsche veitliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 289
daich mich Hansen Newsidler Lutenisten | und Borger zu Nürnberg, öffentlich
ausseangen. |
Mit Rfim. Keys, und K5ni(^l. Ma. freyheit in funff iaren nit nach zu trucken,
begnadet [Auf dem letzten Blatt]: Oetruckt zu Nürnberg beym Petreio, durch |
Tenegung Hansen Newsidlers Lutinisten. | Anno 1536.
K. Bibl. Berlin. N. 175.
6) Tenor-| Lautenbuch vonn mancherlei schönen | und lieblichen stucken mit
iweyen lauten zusamen zu schlagen, Itabenische lieder, Pass'emezi, Saltarelli,
Paduane. Weiter Frantzösische , Teütsche, | mit sampt | mancherley däntzen,
durch Hans Jacob Wecker yon Basel auffs aller fleissigest auff zwo lauten | zü-
samen gesetzt Gedruckt zu Basel, durch Ludwig Lück, im MDLH. Jar.
FOrstL Stolbergsche Biblioth. Wernigerode a./H. Ue. 273.
7} Discant-| Lautten Buch, von mancherley | schönen und lieblichen stucken,
mit iweyen Lautten | zusamen zuschlage, und auch sonst das mehrer thevl | allein
für sich selbst. Oute Teutsche, Lateinische, Frantzösische, Italienisclie Stuck
oder lieder. Auch | vilfaltige Newe Tentz, sampt mancherley Fantaseyeii? | Recer-
cari, Payana, Saltarelli, una Gassenhawer, | etc. Durch Wolffen Heckel yon Mlin-
ehen, Bur-|ger zu Strassburg Auff das aller lieblichst in I ein yerstendige Tabula-
tor nach geschribner art | aussgesetzt und ^usamengebracht, weliches yor nie also
f:e-|sehen worden. J Getruckt zu Strassburg durch Urban | Wyss Rechenmeister,
m Jar M. D. L. VI.
K. Bibl. Berlin. H. 690.
8) Tenor- 1 Lautenbuch .... (etc. wie oben] ... durch Wolffen Heckel ... zu-
samengebracht. | Getruckt zu Strassburg am Kommarckt bey Christian Müller,
Im Jar, IM. D. L. XH. (Spätere Auflage).
£. BibL BerUn. H. 695.
9) Tabulatur-|buch auff die Lautten, yon Moteten, | Frantzösischen, Welschen
und Teutschen Geystlichen und | Weltlichen Liedern, sampt etlichen jren Texten,
mit Vieren, Fünffen, | und Sechs stimen, dergleichen yor nie im Truck aussgangen,
zu sondern | hohen Ehren, und underdenigsten wolgefallen, dem Durchleuch-|
tigsten Hochgebomen Fürsten und Herren Ott Hein-|ricnen Pfaltzgrayen bey Rhein,
des heyligen Römischen | Reichs Ertzdruchsessen und Churfürsten, Hcrtzogen | in
Nidem und Ober Bairn, etc. Durch Seba-|stian Ochsenkhun jrer ChurfürsUichenj
Gnaden Lutinisten zusamen | ordinirt und gelesen.
Hab Gott für aueen
Sebastian Ochsenkun
Mit Kaiser. Malest Freyheit begnad | nit nachzutrucken.
Gedruckt in der Churfdrstlichen Stat Heydelberg | durch Johan Kholen.
[Auf dem letzten Blatt:] 155S.
K. BibL Berlm. O. 60.
10} Das Erste Buch | Newerlessner | Fleissiger ettlicher yiel | Schöner Lauten-
stück, yon artlichen | Fantaseyen, lieblichen Teutschen, Frantzösischen | und Ita-
lianischen Liedern, künstlichen Lateini-jschen Muteten, mit yier und funff stim-
men, Auch I lustigen allerhand Passomezen: in die Teutsche Tabulatur, zu nutz
und gefallen allen diser Kunst | lehrbegirige , für nämlich denjenigen, so der
fremb-|den Welschen Tabulatur etwas unerfahr-|nen auff das yerstandlichest und
Tich-jtigeat zu samengetragen, geord-jnet, und auch selber | getruckt | Durch Bern-
hard Jobin I Burger zu Strassburg. | M. D. L. XXH.
Stadtbibliothek Breslau. Mus. 404.
11} Teutsch Lautenbuch | Darinnen | kunstliche Mutete, lieb-|liche Italiänische,
Frantzösische, Teüt-|sche Stuck, fröliche Teutsche Täntz, Passoe-|mezo, Saltarelle,
und drei Fantaseien Alles mit | fleiss aussgesetzt, auch artlich und | zierlich Co-
loriert, | durch | Melchior Newsidler, Bur-|ger und Lautenisten in | Augspurg.
Getruckt zu Strassburg, durch | Bemhart Jobin, Im Jar. | 1574.
Mit R5m. Key. May. Freiheit | auff zehen Jar.
UerzogL Bibhoth. Wolffenbüttel.
12) Tabulatura | noya | Continens Selectis-|simas Quasque Cantiones ut | sunt
290 Ernst Radecke,
Madrigalia, Mutetae, PaduTanae et | VilaneUae, testudini sie aptatas, ut quilibet
singulas | duplici modo, ludere et concinere possit iam recens edita | per | Oi^orium
Krengel Francostenensem Silesium. [Folgt ein Bild: Frau mit Laute]. Franco-
fordiae eis Viadrum, in offi-|cina Andreae Eiohom. 1 Anno | MDLXXXIIU. Com
Gratia et Frivilegio Caesareae Maiestatis.
Stadtbibl. Breslau. Mus. 414.
13) Lautenbuoh 1 Darinn | von der Ta|bulatur und Application der Lauten |
gründlicher und voller Unterricht: Sampt ausserlesenen Deutd-Ischen und Pol-
nischen Tentzen, Passamesen, Oailliarden, Deudtsehen Vi-|lanellen, Neapolitanen,
und Phantasieen: | Auff der Lauten zu schlagen gantz iTeißig zugerichtet, und
allen Lieb-|habem dieser Kunst zu nutz und gefallen in den Druck gegeben .
Durch I Matthaeum Waisselium Bartensteinensem Borussum.
[Folgt ein Bild: Frau mit Laute].
Gedruckt zu Frankfurt an der Oder, durch Andream | Eichorn, Anno MDXC1I|
K. BibL Berlin. W. 70.
14) i^lorilegium | omnis fere | generis | Cantionum suayissimarum | ad testudinis
tabulaturam ac-lcomodatarum, longe iucun- | dissimum. | In quo praeter Fantasias
Lepidissimas, | continentur diversorum Authorum cantiones selectissimae, utpote:
Motetae, Neapolitanae, Madrigales triü, quatuor, quinq, sex | vocum. Item Passe-
mezi, Galiardae, Alemandi, Courätes | Voltae, Bransles, et eins generis Choreae
variae : Om-{nia ad testudinis tabulaturam fideliter | redacta, per 1 Adrianum Denss. |
Indicem cantionum et choraearum post praefationem videre licebit. |
[Darunter ein Bild: Schiff].
Coloniae Agrippinae 1 Excudebat Gerardus Greüenbruch. Anno redemptionis, 1
M. D. XCN.
Stadtbibliothek Breslau. Mus. 269.
15) Flores Musicae, | hoc est | Suayissimae et Lepidissimae Cantio-jnes, Ma-
drigalia vulgus nominat, | Una cum variis Payanis, Paduanis, Galliardis, Intra-|dis,
Fantasiis et Choreis, ex quam plurimis autoribus Italicis, | Gallicis et Germanicis
ma^nÄ industriä collectae, et nunc | primum ita descriptae, ut testudinis fidibus 1
cani possint | per Joannem Kudenium Lipsiensem 11. stu-|diosum et cptXöfjiouaov i
Una veneunt Matthaei Reymanni Toronensis Noctes Musicae per^uam artifiiciose
com-{positae , in quibus yariata Praeludia et Passemezae cum Triplis ac Ripresis
ad notas | musicales dintinctas tam in cantu B mollari quam B durali ; Variae item
Fantasiae, Pa-|yanae, Galliardae, et Choreae Germanicae cum Triplis | suis; ut ita
corpus quoddam integrum artis Musicae | studiosi habeant. | Catalogum horum om-
nium post Praefationem inyenies. |
[Folgt ein Bild: Crucifix, darunter Sf^rkophagl.
Heidelbergae | Typis Voegelinianis. | M. D. C.
Stadtbibl. Breslau. Mus. 634.
16) Testudo Gallo-Germanica | Hoc est: | Noyae et nun- {quam ante hac editaej
recreationes Musicae, ad testudi-|nis usum et tabulaturam, tam Gallicam | quam
Germanicam, accomodatae: ex praestantissimus hujus aeyi et artis | Magistris,
Italis, Gallis, Germanis, aliisque collectae, noyo typorum genere, | in gratiam sua-
yissimae hujus artis amatorum, nunc primum J in lucem productae. | In ouibus
continentur, ut in sua cuiusque | lingua appellantur Praeludia, Fantasie, Ricer-
cari, Canzoni, Motete, Madrigali, | Canzonette, Payane seu Paduane, Passomezi,
Gagliarde, Intrade, Bransles, Voltes, | Alemandes, Courantes, et aliae yariae supra-
dictarum, aliarumque | Nationum cantiones et Choreae. |
[Folgt ein Bild: Laute].
Peculiari cura et sumptu | Georgii Leopoldi Fuhrmanni, ciyis, chalcographi et |
Bibliopolae Norici ; | Anno Christi | M. D. C. XV.
Stadtbibliothek Breslau. Mus. 330.
II. Handschriften.
1) Lautentabulaturbach ohne Titelblatt in deutscher Lautentabulatur. Modemer
Pappeinband mit Leinwandrücken. 40. Hof-undStaatsbibliothek. München Mus. Mss.
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 291
1512. Inhalt: S. 1. Ein Lautenkragen aufgezeichnet. S. 2 u. 3. Hegeln über die Men-
sur. Von 8. 4 ab folgen 105 Stücke, die auf Blatt 28 durch Theoretisches über die
Laute unterbrochen werden.* Von den 105 Stücken sind 28 : deutsche Lieder, von
denen 25 weltlieh sind, 6 : französische Chansons , 40 : deutsche und 23 : welsche
Tfinze. 4: Preambeln, 2: Motetten. Alles von einer Hand geschrieben. Die Hand-
schrift stammt wohl aus der Zeit um 1540, da sie meist Lieder enthält, die auch in
den obengenannten Lautenbüchem von Hans Oerle und Hans Neusidler gedruckt sind.
2) Lautentabulaturbuch ohne Titelblatt, in italienischer Tabulatur geschrieben,
in modernen Fappband mit Leinwandrücken gebunden. Folio. Hof- und Staats-
Bibliothek. Müncnen. Mus. Mss. 266. Inhalt: 189 Stücke, und zwar: 24 Ricercari,
11 Fantasie, 1 Priambolo, 1 Bataglia, 6 Motetten, 21 Madrigali, Villanelle, Villotte,
58 Chansons, 8 Lieder, darunter 6 weltliche, 28 Tänze, 25 Stücke ohne Bezeich-
nung. 6 defecte Stücke (No. 103. 107. 129. 155. 157.) Blatt 137/38 ist in deut-
scher Tabulatur geschrieben. Verschiedene Schreiber sind erkennbar. Die Hand-
schrift stammt aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, da S. 60 am Schlüsse
des Stückes No. 83 die Bemerkung steht: Fantasia auffs vatter unser der du bist
im himelreich Anno 1587.
3) Handschrift 5102. BibL d. k. Hochschule für Musik zu Berlin. Inhalt:
9S Lautenstücke auf 107 foU. (bis 91 von derselben Hand paginirt). FoL 1 fehlt.
Auf ihm stand wahrscheinlich der Titel und Passomezo I. Die Handschrift ist von
verschiedenen Händen geschrieben. Die zweite Hand hat die erste ergänzt, pagi-
niert und die einzelnen Teile mit roter Tinte numeriert. Wo sie selbst fortsetzt,
sind auch die Anfangsbuchstaben und vereinzelt die ersten Takte mit roter Tinte
geschrieben. Zum Einband sind 2 Fergamentblätter benutzt , deren Buchstaben
und Neumen schwarz überstrichen sind. Als Bücken dient fein gepresstes Leder.
Das Papier ist, wie das Wasserzeichen beweist, aus Dresden. Auf der Vorderseite
des Einbandes oben IVL; darunter ein Wappen; darunter die Jahreszahl 1588.
Inhalt: Hauptsächlich Tänze, nur 2 deutsche weltliche Lieder. ^
4) Handschrift in Duodezformat der k. öffentlichen Bibliothek Dresden Msc.
M. 297. Dunkler Ledereinband. Auf dem Deckel die Buchstaben: B. K. S. S..
darunter 1603. Inhalt: Liedertezte, deren 14 Musik in französischer Lautentabu-
latur beigegeben ist. Diesen geht der Vermerk voraus : »Folgen andere noch mehr
weldtliche züchtige Lieder und Keimen, Ein jeder auf seine darob verzeichnete
Mdodey«.*
5) Handschrift der Herzogl. Bibl. Wolfenbüttel 1. 31. Mus. nunc Mss. 1. S. 7.
und 1. 3. 2. Mus. nunc Mss. 18. 8. Zwei starke Foliobände in rotbraunem Leder-
band. Auf der äui3eren Deckelseite eines jeden: P. H. A. 1604. Von einer Hand
vortrefflich geschrieben; ursprünglich mit Kupferstrichen geziert, die leider im
Laufe der Jahre aus der Handschrift entfernt sind.
Inhalt des ersten Bandes:
Erster thaü | Philippi Hainhoferi Lautenbucher , darinnen begriffen | Gayst-
liche Hvmni, Psalmen, Slirchengesäng und | lieder, so von vilen gueten Maistern
in Ita-|lia-|nischer tabulatur auf der lauten zu spilen aussgesetzt | under Jedliches
der tezt geschrieben mit schonen ku-|pferstuckhen hin und wider gezieret und zur
nach-.richtung Volgende Begister beygefuegt | sein, so folio 1. 7. et 8. zu fündenj.
Anoo 1603.
Anderer Thayl | Philippi Hainhoferi Lautenbucher, welcher Muteten, J Madri-
gal], Canzoni, Vilanelle, J Arie, und sonst underschiedliche weltli-|che Lieder In
sich helt, als aus volgendem Kegister zu sehen | Ist.
Dritter Thayl | Philippi Hainhoferi Lautenbucher darinnen begriffen | Preludi
^ Die Beschreibung dieser Handschrift stammt von Herrn Dr. Max Seiffert,
der ne vor Jahren vollständig abgeschrieben hatte, und so liebenswürdig war mir
seine Abschrift zur Verfügung zu stellen.
2 Herr Dr. Bolte, der sich die Handschrift hatte nach Berlin kommen lassen,
machte mich auf dieselbe aufmerksam und gestattete mir gütigst, eine Abschrift
der Lieder zu nehmen.
294 ^r^Bt Hadecke,
16. Jahrhundeits , deren Lieder für Laute bearbeitet wurden, seien
hier genannt: Heinrich Finck, Thomas Stoltzer, dessen Lied nch
klag den Tag und alle Stund« beispielsweise in 7 verschiedenen
Bearbeitungen vorliegt, Paul Hoffheymer, von dessen Lied »Tröst-
licher Lieb ich mich stets ueb« 8 Übertragungen sich finden, Lud-
wig Senil , dessen Lied »was wird es doch des Wunders noch« neun-
mal vorkommt, Wolff Grefinger u. a. Unter den Komponisten der
zweiten Periode finden sich Jacob Begnart , dessen dreistimmige
Lieder nach Art der welschen Villanellen sich einer ungeheuren Be-
liebtheit erfreuten,' wie der Umstand beweist, daß die meisten derselben
in mehrfachen Bearbeitungen vorliegen, Leonhard Lechner, Valentin
Haußmann, nicht zu vergessen Hans Leo Haßler, der jener Zeit ihr
charakteristisches Gepräge verlieh und dem deutschen Liede den Weg
wies, den es im 17. Jahrhundert zu gehen hatte, wenigstens was die
Mehrstimmigkeit betrifft, Gregor Lange u. a. Eine vollständige Auf-
zählung der Lieder mit Nachweis ihrer Komponisten und ihrer
Originale an dieser Stelle erscheint nicht angebracht, da sie den Zu-
sammenhang der Darstellung allzusehr unterbrechen würde; sie ist
daher als Anhang an den Schluß der Arbeit gewiesen.^
2.
Die Art der Llederbearbeitnngen für Laote.
1. Die Bearbeitungen der Lieder des älteren, kontra-
punktischen Stiles.
Bei Eintritt in die Untersuchung, in welcher Weise die deutschen
weltlichen Lieder für die Laute bearbeitet wurden, wenden wir uus
zunächst den Liedern des älteren kontrapunktischen Stiles, den Lie-
dern Thomas Stoltzers, Ludwig Senfls und ihrer Zeitgenossen zu.
Diese Lieder waren meist vierstimmig gesetzt, manchmal mehrstimmig,
nie zwei- oder dreistimmig. ^ Ihre Bearbeitungen sind teils zwei-
stimmig, häufig dreistimmig, teils vierstimmig oder der Stimmenzahl
des Originals entsprechend. In welcher Weise geschah nun die Be-
arbeitung, wie fand sich das Instrument mit der kontrapunktischen
Stimmführung ab, die seinem Bau und Charakter doch nicht entsprach,
was blieb von einem vierstimmigen Liede übrig, wenn es zwei-
oder dreistimmig übertragen wurde, herrschte ein bestimmtes Princip,
nach dem arrangiert wurde? Die letzte Frage glaube ich dahin bejahen
zu können, daß innerhalb der verschiedenen Arten der Bearbeitungen,
^ Zu diesem Teil I. vgL den Anhang S. 35—49: Alphabetisches Verzeichnis
der Liederbearbeitungen mit Nachweis der Komponisten und Angabe der Originale.
2 Ich spreche hier nur von den Liedern, die für die von mir gesammelten
Bearbeitungen in Betracht kommen.
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 295
je nachdem sie zwei-, drei- oder mehrstimmig waren, sich im Laufe
des Jahrhunderts allerdings ein allgemein feststehender Brauch bildete.
Zweistimmige Transscriptionen finden sich nur in den Lauten-
büchem Hans Gerles und Hans Newsidlers, sowie in dem Münchener
Manuscript Nr. 1512. Sie waren für den Unterricht bestimmt, »für
die anfallenden Schuler« wie die Bearbeiter ausdrücklich be-
merken, machen also keinen Anspruch darauf, freie künstlerische
Leistungen zu sein, und dürfen nicht als solche beurteilt werden.
Für den Forscher sind sie von Wert. Ein Beispiel erläutert am
besten, wie die Bearbeitung vor sich ging ; gewählt sei eines, das bei
Gerle, Hans Newsidler und im Münchener Manuscript zweistimmig,
bei denselben auch dreistimmig, bei Wolff Heckel vierstimmig vor-
kommt : »ich klag den Tag und alle Stunda in der Komposition von
Thomas Stoltzer; das Original, das hier auch Platz finden möge, ist
zu finden in Georg Forsters »Außbund schöner teutscher Liedlein«
I. Nr. 33. Nürnberg 1549.
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Lautenbearbeitung bei Hans Newsidler: »Ein neugeordent künstlich
Lautenbuch etc.« Teil I. Nürnberg. 1536.
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Hans Newsidler hat sich, wie man sieht, damit begnügt, den
Tenor und den Baß des Stoltzerschen Liedes Note für Note zu über-
tragen, jedoch eine Quinte höher. Diskant und Alt fehlen einfach.
1 Ueber die Bedeutung des Kreuzes s. Abschnitt 3, S. 32 u. 33.
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 297
Hierdttrch erreicht er zwar, daß die Hauptsache^ die Melodie des
Liedes im Tenor, deutlich hervortritt; aber der zweistimmige Kontra-
punkt anstatt des vierstimmigen nimmt sich doch gar zu dürftig aus.
Das Fortlassen der oberen beiden Stimmen war Princip; es findet
bei allen zweistimmigen Bearbeitungen statt, für die ich ein Original
gefunden habe. Daß durch diese mechanische Verstümmelung der
Lieder der zweistimmige Kontrapunkt nicht immer der beste war, da
doch eine Baßstimme, die mit Rücksicht auf vierstimmigen Satz gut
erfunden, nicht notwendig in derselben Führung im zweistimmigen
Satze am Platze war, läßt sich denken, scheint aber die ehrsamen
deutschen »Lutenisten« nicht sehr gestört zu haben. Die höhere Lage
ist gewählt, damit die Sangsaiten die Melodie übernehmen können,
und weil nach der damaligen Beschaffenheit der deutschen Laute —
sie hatte bekanntlich elf Saiten in der RegeL die zu sechs Chören
vereinigt waren in der Stimmung A-d- g - h-e-ä — die Töne F und
(r, die im Baß des Liedes einigemale vorkommen, nicht gespielt
werden konnten. Die wenigen x\bweichungen , die beide Stimmen
aufif eisen erUären sich aus dem Charakter des Instruments: Da die
Saiten desselben mit den Fingern gerissen werden, ist der erzeugte
Ton von beschränkter Dauer, im Anfang stark, dann ziemlich rasch
▼erklingend ; verlässt der Finger der linken Hand den Bund, weil er
in einer anderen Stimme beschäftigt wird, so ist es mit dem Tone
natürlich vorbei. Daher zerlegen die »Lutinisten« längere Noten gern
in kleinere Werte, indem sie Tonwiederholung eintreten lassen. So
zerlegt im obigen Beispiel Hans Newsidler im dritten Takte die
Semibrevis mit einem Punkt in beiden Stimmen in eine Semibrevis
und eine Minima, die punktierte Minima im Baß des zehnten Taktes,
ebenso die punktierte Minima im Tenor des 19. Taktes in je eine
Minima und je eine Semiminima, die aneinandergebundenen Halben
auf der Grenze des 19. und 20. Taktes in ein Viertel, das bis zum
Werte einer Halben fortklingend zu denken ist, und eine Halbe.
Desgleichen sind die Minima im Tenor des 1 1 . Taktes und die Semi-
minima im Baß des 20. Taktes bis zu ihrem doppelten Werte fort-
klingend zu denken. Im 19. Takte ändert Hans Newsidler den Gang
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des Basses in Viertelnoten c d e f dahin ab , daß er e-e f setzt,
während Hans Gerle in seiner Bearbeitung die Noten des Originals
beibehält. Vielleicht hatte ersterer das richtige Gefühl, daß seine
Änderung für den zweistimmigen Kontrapunkt eine Verbesserung be-
deutete, vielleicht aber schien es ihm für Anfänger zu schwer zu
sein ; denn es ist in der That unbequem zu greifen : das y des Tenors
298 EfQst Radecke,
ist der dritte Bund der kleinen Sangsaite, das c des Basses der dritte
Bund des »GroBbomharts« , beide wären also mit demselben Finger,
dem Ringfinger zu greifen; es liegen aber drei Cböre dazwischen.
Indessen sehr groß kann die Schwierigkeit doch nicht gewesen sein,
da auch Gerle für »anfahende Schuler« schrieb.
Im übrigen zeigt des letzteren Übertragung keine großen Ab-
weichungen von der Hans Newsidlers — dasselbe gilt auch von der
im Münchener Manuscript Nr. 1512 — : nur im 10. Takte, wo New-
sidler streng nach dem Original das h in den drei ersten Vierteln
des Taktes festhält, setzt Gerle drei Viertel h c h\ desgleichen im
Baß des 10. Taktes statt der punktierten Minima g drei einzelne
Viertel g f g* Die längere Note, welche zu schnell verklingen würde,
wird eben durch kleinere Werte ersetzt und, um die Steifheit der
Tonwiederholung zu vermeiden, wird ein Mittelton als Bindeglied
eingeschoben, so daß eine kleine Verzierung entsteht. Wir haben
hier den Anfang jener »CoUeraturen und Leuffleina, die bei den
fertigen Lautenspielem so sehr beliebt waren. Sie dienten in erster
Linie dazu Töne von großen Notenwerten, die zu schnell verklingen
würden, durch kleinere Noten auszufüllen. Dadurch wurden die
Stücke belebter und dem Wesen der Instrumentalmusik entsprechen-
der; freilich entfernten sie sich auch, wenn ^hr stark koloriert
wurde, mehr vom Original. Auch in den Bearbeitungen von Ge-
sangsstücken für Klavier und Orgel aus jener Zeit finden sich solche
Verzierungen; ja hier scheinen sie schon früher angewandt worden
zu sein, da Hans Newsidler in dem Titel zum zweiten Teile seines
»newgeordent künstlich Lautenbuchsa^ ausdrücklich vermerkt: »vil
außerleßne kunstreiche stuck , die von den hochberämbten
und besten Organisten als einen schätz gehalten, die sein mit son-
derm fleiß auff die Organistisch art gemacht und colorirt
für die geöbten und erfarnen diser kunst . . . .« Im ersten Teil
seines Werkes, der für die »anfahenden Schuler« bestimmt ist und
aus zwei- und dreistimmigen Stücken besteht, verwendet er bei
ersteren die Verzierungen mit Maß, jedoch nur bei bekannten
Stücken: »hie folgen noch mehr ettlicher guter alter lieder, die noch
von menniglich am meysten vor den newen liedern gelobt und ge-
r&mpt werden, die hab ich darumb gesetzt, das sie vorhin in vil
landen weyt und preit erkannt und vil dester leichter zu lernen sind
weder die unerkannten; hab sie auch mit leuflein ein wenig
scherpffer gemacht, dann die vorigen, dem schüler zu gut, das
einer die finger dester ehe abriebt und inn gepraucht pringt«: bei
* Vgl. oben das Verzeichnis der Druckwerke Nr. 5.
Das deutsche weltliehe Lied In der Lautenmusik des 16. Jahrh. 299
letiteren aber gar nicht: »hie enden sich die newen liedlein. Ich
hab keins coleriren woellen, dan sie sind an in selbs gut, wie
sie in noten sthen, und seind dem schüler nützer, als wan sie col-
lernt weren.«^
Von den übrigen zweistimmigen Bearbeitungen, deren sich bei
Gerle noch 4, bei Hans Newsidler noch IG, im Münchener Manus-
cript Nr. 1512 noch 11 finden, ist nichts neues zu sagen, da bei ihnen,
wie schon bemerkt ist, ein und dasselbe Princip herrscht. Verweilen
möchte ich noch einen Augenblick bei der Übertragung des Liedes
lieh weiß ein stolze Möllerin« von Ludwig Senfl, welche die Münchener
Handschrift enthält. In diesem Liede beginnt nämlich der Alt allein,
xwei Breven später setzt der Baß ein und drei Minimen nach diesem
der Tenor. Der unbekannte Bearbeiter verfährt nun folgendermaßen :
Der Alt beginnt auch bei ihm, wird aber nur so lange gespielt bis
der Tenor eintritt ; dann wird dieser Note für Note aus dem Original
herübergenommen; überall da aber^ wo er länger pausiert, vertritt
üin der Alt. Der Baß geht seinen Gang dem Original gemäß. Man
sieht auch hier waltet dasselbe Princip. Der Tenor ist die Haupt-
sache, wo er pausiert, wird der Alt zu Hülfe gerufen, um einen
iweistimmigen Satz zu ermöglichen. Die durch dieses Abwechseln
des Tenors und Altes entstehende , fortlaufende Melodie hat freilich
ein ganz anderes Aussehen , als die ursprüngliche > die sie in sich
schheßt.
In der dreistimmigen Bearbeitung desselben Liedes tritt noch
der Diskant hinzu, so daß hier also vier Stimmen thätig sind, der
Alt allerdings nur hie und da stellvertretend für den Tenor. Bei
allen den Liedern, in denen der Tenor nicht so oft pausiert, und
das sind weitaus die meisten, fehlt der Alt vollständig. Der Dis-
1 Ich habe die beiden Stellen vollständig citiert, da sie interessant sind ive-
gen des Unterschiedes, der zwischen alten und neuen Liedern gemacht wird. Da-
Bach waren 1536 alte beliebte Lieder: »Mein einiges A.«, »Zucht ehr und loba,
»Tröstlicher lieb«, »Ach beb mit leid«, sämmtlich von Paul Hoffheymer; >0 weib-
lich Art« von Heinrich Isaac ; »wol kumpt der May« von WolflF Orefinger. »Ach
Küff mich leid«, dessen Tenor ich in Amt von Aichs Liederbuch 1518 ohne Nennung
des Komponisten gefunden habe; schliesslich »Ich stund an einem Morgen« und
der berflhmte »Tannemack« (To Andemacken up dem Rhin), fOr welche beiden ich
das Original nicht habe finden können; die gleichen Lieder von Ludwig Senfl bei
Ott, Liederbuch 1534 und 1544, stimmen nicht überein mit ihnen.
Zu den »newen« Liedern gehören: »Wan ich lang klag«, »£unt ich schön
reines werdes weyb«, »In dieser weit hab ich kein gelt«, »On tugent freyd die leng
nit wert«, »Wer wenig behelt«, »Sie ist mein glück«, »Lieb ist subtil«, »Diss fass-
;iaeht solt ich«, »Mir würt intrew getheylet mit«, deren Komponisten in meinem
Anhang verzeichnet sind.
300 Ernst Radecke,
kant aber steht im VordergTunde als diejenige Stimme, die auf den
Sangsaiten gespielt wird; der Tenor dagegen, der als Trager der
Melodie eigentlich die Hauptsache ist, tritt hinter ihn zurück. Wie
ein völlig anderes Stück nimmt sich ein Lied in dreistimmiger Be-
arbeitung verglichen mit demselben in zweistimmiger Bearbeitung
aus, und es bedarf erst schärferer Aufmerksamkeit, die gemeinsame
Abstammung zu erkennen.
Gleich die frühesten deutschen dreistimmigen Bearbeitungen,
die bis jetzt bekannt sind, enthalten in Arnold Schlicks »Tabulator
etlicher Lobgesang und Liedlein<r, beweisen, daß der Diskant in ihnßu
zur Hauptsache geworden ist; denn er wird gesungen, Tenor und
l^aß werden dazu »gezwicktor. Dies Faktum ist auch deßhalb inte-
ressant, weil man daraus lernt, daß schon neunzig Jahre vor dem
Auftreten des monodischen Gesanges dasselbe Princip waltete, näm-
lich von einer Komposition fiir mehrere Singstimmen einfach die
oberste allein singen zu lassen, «während die unteren auf einem In-
strument als Begleitung dazu gespielt wurden.
Einen weiteren Beweis für die Ansicht, daß es bei dreistimmigen
Lautenbearbeitungen von Liedern Princip war, den Alt fortzulassen
und die übrigen drei Stimmen getreu zu übertragen, liefert die
Lautentransscription von Franciscus Bossinensis der Frottole i^Afflitti
spirti miei siate contentü von Bartolomeo Tromboncino, die Ambros
im zweiten Bande seiner Musikgeschichte' abdruckt. Ambros hat
nicht genau hingesehen, wenn er in Bd. HI. S. 440 von dieser be-
hauptet im Gegensatz zu den Arrangements von Schlick, es wurden
drei Stimmen »gezwickter und eine gesungen. Nein, man vergleiche
und man wird finden, daß auch in ihr nur Tenor und Baß »gezwickt«
werden und der Alt nicht vorhanden ist.- Wenn diese italienische
Bearbeitung, die noch drei Jahre vor der ältesten deutschen ver-
öffentlicht wurde, dieselbe Behandlungsart des Liedes aufweist, ist
wohl der Schluß gestattet, daß ein festes Princip der Übertragung
allgemein bestand; zumal da auch alle mir zu Gesicht gekommenen
dreistimmigen Lautenlieder bei Gerle, Newsidler und in dem Münchener
Manuscript Nr. 1512 dasselbe Gesicht zeigen. Am besten wird
wiederum ein Beispiel darthun, wie transscribiert wurde. Der Ein-
fachheit halber bleiben wir bei dem Liede «ich klag den Tag und
1 Ambros, Musikgeschichte Bd. IL 8. 492 — 495.
2 Zum Überfluss besagt auch schon der Titel des Werkes, aus dem er die
Bearbeitung entnommen hat, dass der Alt nicht mit übertragen ist. Er lautet,
wie ihn Ambros selbst citiert: Tenor i e contrahcusi tntahulati col sopran in canto
ßgurato per cantar e sonar col lauto. Libro primo. Fransisci Bossinensis opus.
Petrucci 1509.
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 3OI
alle Stund« von Thomas Stoltzer, dessen Original bereits oben be-
kannt gemacht ist. Dreistimmige Bearbeitungen enthalten Gerle,
Hans Newsidler und das Münchener Mauuscript Nr. 1512, von denen
die beiden letzteren mitgeteilt sein mögen (s. Musikbeilage Nr. t).
Da sie etwas koloriert sind, lassen sich an sie gleich die Bemerkun-
gen über die Coloraturen anknüpfen.
Beide Transscriptionen stehen einen Ton hoher, als im Original,
weil der Ton F nicht vorhanden war. Der Ton G kam vor, wenn
das Instrument »in den Abzug(( gesetzt wurde; hierunter verstand
man das Herabstimmen der tiefsten Saite, »des großen Bomharts« , um
einen Ganzton, so daB die Stimmung nicht A^d-g -h-e-äy sondern
(r-d^g-h^e-a war. Hans Gerle bemerkt hierüber : »Nun folgen
sway stückleyn, die geen im abzug, da mustu den obern Bumhart
herabziehen, das merck also, wie der klein Bumhart ledig laut, also
muB die kleyn sait ledig bei dem grossen Bumhart lauten, das sie
in einer hoch steen. Damach zeuch den bumhart ein octaff niderer
zu der klayn saytten, so stehet die Lautt in dem abzug, unnd wann
du ein stückleyn siehst, das der schlag darinnen steet einmal oder
mer, So geet dasselb stückleyn in dem abzug.« Im Abzug steht die
Bearbeitung von »ich klag den tagtt in der Münchener Handschrift;
Bhns Newsidler aber vermeidet denselben, obwohl er dieselbe Ton-
art anwendet, indem er jedesmal g statt G schreibt. Er hat über-
haupt eine Abneigung gegen das Herabstimmen der tiefsten Saite,
denn er sagt: »Auch sind etliche stuck darin begriffen, die man wol
het mögen im abzug setzen oder machen, hab ich dieselben der-
maBen mt gesetzt, der ursach halben, wie mich anlangt, hab jr auch
selbs viel gesehen und gehört, die sich vor dem abzug entsetzt, und
Verdruß daran gehabt. Und an den stucken mit vier stymen der
gleichen, und sagen, es komen in etlichen stucken kaum drey oder
rier noten, die im abzug gehn, warumb man die lauten von drey
oder vier noten wegen zu rütten solt, es sey vil besser, man laB sie
bey jrem rechte volkomen zug. Dan allen liebhabem diser kunst
dienst und guten willen zu erzeigen, sol möglicher fleis an mir nit
erwinden.«
Der in ganzen und halben Noten dahinziehende Diskant des
Originals ist in beiden Bearbeitungen des öfteren unterbrochen und
umspielt von Verzierungen in Viertel- bezüglich Achtelnoten; aber
jeder Ton desselben ist vorhanden. Nur im 19. Takt bei Newsidler
fehlt das Viertel c und die folgende Minima h\ an derselben Stelle
des Münchener Manuscripts fehlt nur das Viertel c. Der Baß des
letzteren stimmt mit dem Gesangsbaß iiberein, nur statt der
1891. 21
302
Ernst Iladecke ,
punktierten Minima d mit folgender Semiminima e steht der Viertelgang
d eßs ffj während sich Newsidler mit Ton Wiederholung auf d be-
1111
^* 4 G G
i I I I I
0 4 0 4^
gnügt, statt d e f g schreibt er: rf d etc.; hiervon, sowie von
dem schon erwähnten Ersetzen des G durch g abgesehen ist auch
sein Baß getreu übertragen. In der Mittelstimme erkennen wir den
Tenor, die eigentliche Melodie. Diese ist also in den Bang einer
harmonischen Füllstimme herabgedrückt. Schwerlich wird man sie
beim Spielen deutlich herausgehört haben: freilich sind alle Töne
des Originals vorhanden, aber statt der Semibreven und Minimen er-
scheinen Minimen, Semiminimen, ja Fusen. Und wenn man auch
annimmt, daß die Töne länger fortklangen, als das Mensurzeichen
angiebt, so konnten sie doch schwerlich die Dauer und Deutlichkeit
der gleichen Töne des gesungenen Liedes erreichen; zumal wenn
man bedenkt, daß die Finger nicht so lange auf einem Bund liegen
bleiben konnten, da die Saite für andere folgende Töne in Anspruch
genommen wurde oder die Finger auch noch die Verzierungen aus-
fuhren mußten. Je weniger solche vorhanden waren, desto deutlicher
konnten die einzelnen Stimmen wiedergegeben werden; je mehr, desto
verwischter wurde die Stimmführung.
In den besprochenen Beispielen sind die Coloraturen mit Maaß ver-
wandt; anders ist es in den dreistimmigen Bearbeitungen HansNewsid-
lers im zweiten Teile seines Lautenbuches. Hier wimmelt es von »Leuff-
lein«. Die Verzierungen bestehen in Fiorituren, unsern Doppel-
schlägen ähnlich, die in verschiedener Schnelligkeit, in Vierteln, Ach-
teln, Sechszehnteln, sogar Zweiunddreißigsteln ausgeführt werden, in
schnellen Tonleiterläufen durch eine oder mehrere Octaven; auch
Ansätze zum Triller finden sich. Auf den guten Taktteilen erscheint
gewöhnlich ein Ton des Diskants mit seinem zugehörigen Akkord
darunter, zwischen ihnen jagen die Passagen einher, die sich ent-
weder im oberen Bereich der Laute oder [im unteren bewegen, oft
aber auch vom Baß bis in die höchsten Lagen hinaufstürmen. Mit
Vorliebe wurden die Cadenzen koloriert. Die beliebteste Form war
diese :
doch finden sich auch andere wie
i3^=i
Das deutsche weltliehe Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 303
Im allgemeinen war die Stelle, an der eine Verzierung einzu-
treten hatte, nicht fest bestimmt. Aus den angeführten Beispielen
ist ersichtlich, daB es dem Belieben des Bearbeiters überlassen war,
wo er seine »Leufflein und lieblichen Colleraturen« anbringen wollte.
Am meisten schmückte Hans Newsidler seine Übertragungen mit
ihnen. In seinem zweiten Teile findet sich unter andern auch das
Lied sTo Andernacken up dem Rhina in zwiefacher Bearbeitung, die
eine trägt den Zusatz: Jacob Obrecht, die andere: Alexander Agri-
cola. Beide Komponisten haben also das Lied, dessen Melodie schon
lange sehr bekannt und beliebt war, mehrstimmig gesetzt, und der
Lautenist hat beide Sätze für sein Instrument zurecht gemacht. Von
den zugrundeliegenden Liedern und ihrer Melodie ist aber nicht mehr
viel zu erkennen ; es scheinen schon mehr freie Fantasieen über die-
selben zu sein ; schon ihre ungeheure Ausdehnung weist darauf hin.
Mit Coloraturen und Läufen sind beide wahrhaft überladen.
Auch der Sohn des vorigen Melchior Newsidler kolorierte gem.
Maßvoller sind : Sebastian Ochsenkhun , Jobin und Wolff Heckel in
seinen Bearbeitungen für eine und zwei Lauten. Alle vier haben
Tier- und mehrstimmige Bearbeitungen. In ihnen trat also noch der
Alt des Originals hinzu, und falls das Lied mehrstimmig war die
Quinta vox und der Vagans. Bei starker Kolorierung war von diesen
Mittelstimmen nicht viel zu sehen, ohne dieselbe jedoch traten die
einzelnen Akkorde des Originals ziemlich getreu hervor, wie ein ein-
faches Beispiel aus OchsenkhunsTabulatur beweist (s.MusikbeilageNr.2.).
Nach dem Gesagten ist über die Art der Transscription Ochsenkhuns
nicht mehr viel hinzuzufügen. Im 5. und 12. Tatet sind die Kadenzen in
die bei den Lautenkadenzen beliebte Form geändert. Alle Stimmen
sind, sozusagen, fast wörtlich übertragen. Nur vom Alt fehlen im
•1. Takt das g auf der zweiten Minima, im 9. Takt die vierte Minima
^, im 11. Takt die dritte Minima i", für die allerdings ein im Ori-
ginal nicht vorhandenes h als Füllton eintritt.
Der springende Punkt, der bei allen drei- und mehrstimmigen
Bearbeitungen immer wieder hervortritt, ist eben : die Natur des In-
strumentes widerstrebte der Polyphonie und drängte auf akkordische
Behandlung hin; was man greifen konnte von den Stimmen, spielte
man, das andere lieB man fort und suchte dafür einen Ersatz in
Verzierungen geringerer oder größererer Ausdehnung. Demgemäß ge-
staltete sich die. Bearbeitung : die Zusammenklänge, wie sie die kon-
trapunktische Führung der einzelnen Stimmen ergab, wurden mög-
lichst getreu übertragen; der Diskant, auf den höheren, äußeren
Saiten gespielt, mußte ein Übergewicht gewinnen über den Tenor,
21*
304 ^^^^ Radecke.
der die eigentliche Melodie enthielt,^ aber auf den mittleren Saiten
gespielt wurde. Nächstdem erfuhr der BaB Berücksichtigung; Dis-
kant und Baß geben gewissermaßen den Umriß des Tonstückes. So-
dann kommt bei der Übertragung der Tenor an die Reihe ; man er-
innerte sich augenscheinlich noch daran^ daß er ursprünglich das
Fundament war, auf dem das mehrstimmige Gebäude aufgeführt
worden war. War die Bearbeitung vierstimmig, so wurde auch noch
der Alt übertragen, der bei den dreistimmigen Transscriptionen nur
vorübergehend als Vertreter des pausierenden Tenors auftaucht, so-
weit für ihn gewissermaaßen noch Platz ist. Erst wenn er geborgen
ist, finden bei mehrstimmigen Arrangements, Quinta vox, Yagans etc.
ein Unterkommen. Es wird also förmlich ein Rangunterschied zwi-
schen den einzelnen Stimmen gemacht. Dieses vorübergehende Auf-
tauchen und Verschwinden der Mittelstimmen gab den Liedern in
den Lautenbearbeitungen das Aussehn von Melodieen mit akkordischet
Begleitung, wenngleich ja das kontrapunktische Gewebe hier und da
noch durchblickte, bald deutlicher, bald unklarer. Je vielstimmiger
die Übertragimgen waren, desto mehr kamen die Mittelstimmen zu
kürz; ja oft wurde dann ihre Lage nicht mehr dem Original getreu
wiedergegeben, sondern Versetzungen in die höhere bezüglich niedere
Oktave, auch Verdoppelungen einzelner Intervalle zum Ersatz für an-
dere ausfallende fanden statt.
Innerhalb dieser, teilweise allerdings sehr weitgezogenen, Grenzen
sind die Bearbeitungen ganz getreu : d. h. wo im Original alle Stimmen
in Breven ausruhen, oder auch pausieren, thun sie dies auch in der
Lautenübertragung; teilt man das Original in Takte, oder besser ge-
sagt Abschnitte nach Art unserer Takte, so stimmt ihre Zahl — von
verschwindenden Ausnahmen abgesehen — genau mit der Anzahl der
Takte in der Lautenbearbeitung überein. Auch die Tonarten — wir
befinden uns bekanntlich noch im Zeitalter der Oktavengattungen —
werden streng gewahrt; nur die Tonhöhe wird oft geändert zu Gunsten
einer bequemeren Spielart auf dem Instrument.
Nach diesem Schema, wurden auch die Liederbearbeitungen für
zwei Lauten angefertigt. Jacob Wecker scheint der erste gewesen
zu sein, der solche in Deutschland drucken ließ. Vier Jahre später,
im Jahre 1556, gab Wolif Heckel in Straßburg eine Sammlung von
Stücken für zwei Lauten heraus, die 10 deutsche Lieder enthält.
Unter ihnen findet sich auch das uns bereits bekannte »ich klag den
Taga, das als charakteristisches Beispiel diese Art der Bearbeitung ver-
1 Nur ausnahmsweise lag die Hauptmelodie im Diskant, z. B. in dem be*
kannten Liede »Ach Elslein, liebstes Eislein mein« von Ludwig Senfl, s. meinen
Anhang.
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 305
anschaulichen soll (s. Musikbeilage Nr. 3). Man sollte meinen, daß auf
swei Lauten alle Stimmen des Originals bequem verteilt werden konn-
ten, indem die eine z. B. Diskant und Tenor, die andere Alt und BaB
wiedergaben. Dem ist aber nicht so , sondern auch hier waltet das Prin-
rip, die äuBeren Stimmen zu bevorzugen, die mittleren mit Unter*
biechung in akkordischer Form wiederzugeben und über das Ganze
reichlich Coloratur auszugießen. Häufig finden Verdopplungen statt,
manchmal spielen beide Lauten dasselbe.
Dieser Bearbeitung, wie der in Musikbcilage Nr. 1 aus dem Mün-
chener ManuscriptNo. 1512 mitgeteilten, ist noch eine Cadenz in Achtel-
läufen von drei Takten angehängt, um den Schluß wirkungsvoller zu ge-
stalten. Schön kann man sie nicht nennen; sie ist nicht organisch mit
dem Ganzen verknüpft. Jedoch derartige Schlußformeln waren sehr
beliebt und sind namentlich in stark kolorierten Stücken häufig anzu-
treffen. In dem Lauf bei Heckel und im vierten Takt seiner Be-
arbeitung berührt die auffallende Verwendung chromatischer Töne
eigentümlich, eis und c unmittelbar nach einander; jedoch darf
man sie nicht nach dem modernen harmonischen Gefühl beurteilen,
sondern unter dem Gesichtspunkt melodischer Stimmführung. Hart
klingt auch der Achtellauf in Quarten, den beide Lauten zusammen
in der ersten Hälfte des 7. Taktes vollführen; dergleichen war aber
in jener Zeit nichts besonderes; auch in Gesangskompositionen gab
es Quartenfolgen.
Überhaupt wirken die Lautenbearbeitungen der Lieder, die wir
hier einer Betrachtung unterzogen haben, auf ein modernes Ohr be-
fremdend. Da der Fluß der Stimmführung oft unterbrochen wurde,
aber wenn ein Akkord angeschlagen wurde, immer derjenige genom-
men wurde, der im Original an der betreffenden Stelle stand, auch
wenn andere dazwischen ausgefallen waren, machen diese Transscrip-
tionen oft den Eindruck des Zerrissenen und Unvermittelten.
Von Verwandschaft gewisser Akkorde wußte man ja damals noch
nichts, oder wenn man doch ein unbewußtes Gefühl dafür hatte, wie
mir die gleichzeitigen Tanzlieder anzudeuten scheinen, so fand sie
keine Berücksichtigung in Liedern, bei denen die Akkorde durch
zufälUge Zusammenklänge selbständig geführter Melodieen entstanden.
2. Die Bearbeitungen der Lieder des unter italienischem
Einfluß stehenden Übergangstiles und der Tanzlieder.
Mußten sich die Lieder des älteren kontrapunktischen Stiles bei
Übertragung für Laute mannigfaltigen Änderungen unterwerfen,
konnten sie in ihrer Eigenart nur unvollkommen wiedergegeben
werden , weil ihrem Charakter das Wesen des Instrumentes
306 Erast Radecke,
widerstrebte, so war dies nicht der Fall bei den Liedern in italienisclier
Villanellenform, die Jacob Regnart in Deutschland einführte. Es ist
daher nicht zu verwundern, daß bald nach ihrem Auftauchen die
Lautenmusik sich ihrer bemächtigte und die ältere Gattung des deut-
schen Liedes bei Seite liegen ließ. Bis in's 17. Jahrhundert hinein
behaupteten Regnarts Lieder ihren Platz, auch noch, nachdem ein
Haßler seine meisterlichen Gesänge hatte ertönen lassen. Die Ta-
bulatüren Krengels und des Waisselius, die Handschriften Hainhofers,
des Fabricius und des Naukleros enthalten zahlreiche Bearbeitungen
derselben. Der Umstand, daß in ihnen die Melodie in der Oberstimme
lag und nur von zwei unteren akkordisch in völlig kunstloser Har-
monie begleitet wurde, gestattete eine Übertragung Note für Note.
Ferner da das Tempo, in dem sie gesungen wurden, belebter war,
sich hauptsächlich in Vierteln und Achteln bewegte, so brauchte in
der Regel auch kein Ersatz für zu schnell verklingende Töne einzu-
treten. Daher verschwanden mit einem Schlage die vorher bis zur
Überladung angewandten »Leufflein und CoUeraturena so gut wie
gänzlich. Verzierungen kleinerer Art, in bescheidenem Umfange ge-
braucht, blieben indessen bestehen, da sie eigentlich für instrumen-
talen Stil unentbehrlich sind. Je nach dem Geschmack der ver-
schiedenen Bearbeiter schließen sich die Transscriptionen eng an das
Original an oder variieren dasselbe; immer aber tritt die Vorige in
ihnen deutlicher hervor, als in den kolorierten Bearbeitungen des
älteren Liedes. Der Grund hierfür lag eben in dem einfachen har-
monischen Satzbau, der mit seinem überwiegenden Durcharakter
und seinem mehr oder minder unbewußten Gefühl für die Wechselbe-
ziehung der Tonika und Dominante, der Vorbote einer neuen Zeit war.
Viele Bearbeitungen des Waisselius sind nichts weiter als noten-
getreue Übertragungen. Krengel liebt es hier und da, besonders an
den Schlüssen der einzelnen Teile, kleine Verzierungen und Schleifen
anzubringen, die aber den Fortgang und Zusammenhang des Ganzen
nicht im mindesten stören, Hainhofer ist an vollere Griffe gewöhnt,
er setzt manchmal zu den drei Stimmen noch eine vierte hinzu, die
aber nichts weiter ist, als eine Oktavenverdopplung des Basses oder
eines Quint- oder Terzintervalles der andern Stimmen. Fabricius
giebt häufig dasselbe Lied in zwei, drei, ja vier Bearbeitungen, unter
der Bezeichnung mlio modou. Zuweilen unterscheiden sich zwei der-
artige Stücke fast nur durch die Wahl einer andern Tonart, wie dies
auch bei Krengel der Fall ist, der seine sämmtlichen Lautenstücke
in zwei verschiedenen Tonarten (einzelne sogar in vier) auf einander
gegenüberstehenden Seiten abdrucken läßt. Oft aber bilden die fol-
genden eine Art Variation des ersten : Die in Vierteln dahinziehende
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 307
Melodie wird von kleinen Achtelfiguren umspielt, gelegen tlicli auch
die zweite oder die tiefste Stimme; während der Baß als Fundament
in der Regel unangetastet bleibt in seinen Intervallverhältnissen zur
Melodie, ändert die Mittelstimme des öfteren ihre Lage; war sie im
Original untere Sexte des Melodie- und obere Quinte des Baßtones,
wird sie Unterterz des ersteren und Oktave des letzteren. Ähnliches
fanden wir, wie man sich erinnern wird, auch bei den vier- und
mehrstimmigen Bearbeitungen der älteren Lieder. Der Unterschied
ist nur, daß eine solche Lagenveränderung bei diesen den Charakter
des Originals verwischte, während die mehr harmonische Konstruk-
tion der neueren derartige kleine Verschiebungen verträgt, ohne daß
sie ihre Physiognomie einbüßen. Ein Beispiel mag genügen, um das
bisher Gesagte durch den Augenschein zu verdeutlichen (s. Musik-
beilage Nr. 4).
Da das Lied bei Regnart in den sogenannten Chiavette steht,
muß es etwa eine kleine Terz tiefer, also in D gesungen werden.
In Z> stehen auch zwei der mitgeteilten Bearbeitungen; bei der mitt-
leren ist die Tonart eine Quarte höher gelegt, sonst unterscheidet auch
sie sich nicht wesentlich von dem Original. Wie man sieht, ist von
einer eigentlichen Variation bei diesem Beispiel nicht die Rede, es
finden sich nur kleine Varianten, über die nach dem vorausgeschickten
nichts mehr zu sagen ist.
R^narts Beispiel wurde von Leonhard Lechner und Gregor
Lange nachgeahmt ; auch ihre Lieder fanden den Weg in die Lauten-
bücher. Ihre Behandlung in denselben war natürlich dieselbe.
Lechnersche Lieder finden sich in dem Florilegium von Denß. Außer
der Lautenbearbeitung ist hier auch noch Gesang gegeben. Gewöhn-
lich steht nur der Diskant und der Baß neben der Lautenstimme.
Vermutlich wurden also nur sie gesungen, das Dazwischenliegende
aber von der Laute übernommen; da diese aber außerdem Melodie
und Haß mitspielte, war das Lied auch ohne Gesang verständlich.^
Nur zwei von diesen Liedern sind noch dreistimmig, andere vier-
und fiinfstimmig. Auch die fiinfstimmigen Bearbeitungen Lechners
von den beliebten Regnartschen Villanellen wurden für Laute über-
tragen, wie die Flores Musicae des Rudenius beweisen. Überhaupt
^e die Lieder durch die Mischung des kontrapunktischen und des
neueren Stiles wieder mehr an Polyphonie und Tiefe gewannen.
^ £igenthümlich ist die Art , wie das Florilegium gedruckt ist : links steht
die Lautenmusik , rechts die Singstimmen, aber verkehrt, so dass das Buch auf
den Tisch gelegt werden mußte , damit Sänger und Spieler einander gegenüber-
titzend zusammen musicieren konnten.
30S Ernst Radecke,
befleißigte man sich auch auf der Laute wieder vollerer, schwierigerer
Wiedergabe von Gesangskompositionen.
Sieht man z. B. die Übertragungen des Rudenius an, so muß
man schließen, daß die Lautentechnik damals auf sehr hoher Stufe
stand. Es sind nur vier- und mehrstimmige Kompositionen, aber alle
sind im großen und ganzen getreu wiedergegeben; ein voller Akkord
reiht sich an den andern, sogar die Achtelbewegung entsagt der
Doppelgriffigkeit nicht. Was die Kräfte des Instruments überstieg,
fiel natürlich fort oder wurde anders arrangiert. Hierbei gelten die-
selben Gesetze, die im vorigen Abschnitte- entwickelt sind, sie brauchen
daher hier nicht wiederholt zu werden. Sechszehntelpassagen lassen
sich als Ersatz für fortgefallenes auch hier und da blicken, über-
wuchern aber nicht die Konturen des Bildes, sie geben ihm nur
Farbe.
Erstaunlich ist es zu nennen, daß Kompositionen wie »ach Fräu-
lein zarta oder »ein alter Greiß« aus dem Lustgarten von Johann Leo
Haßler in der Testudo Gallo-Germanica des Georg Fuhrmann sozu-
sagen wörtlich übertragen sind. Natürlich steht statt einer Halben
des Originals oft nur ein Viertel — ein Liegenlassen und Aneinan-
derbinden der Töne ließ doch dieses Zupfinstrument nicht zu — aber
jeder Ton desselben ist vorhanden, die Stimmführung läßt sich genau
verfolgen ; das Nacheinandereinsetzen der Stimmen, das Ablösen einzel-
ner Stimmgruppen (z. B. das Wiederholen der von den Oberstimmen
gesungenen Phrase durch die Unterstimmen in dem Liede »ach Fräu-
lein zart«) u. a. fehlt nicht. In derselben Weise wurden auch die
Lieder Valentin Haußmanns u. a. übertragen. VoUgrifiige Akkorde
waren in jener Zeit beliebter als ausgedehnte Lauftechnik, die früher
die Hauptrolle gespielt hatten. Daher wurden manchmal Verdop-
pelungen vorgenommen und die Mittelstimmen aus ihrer Lage ge-
bracht, wenn das Instrument eine bequemere erheischte, wie wir das-^
selbe ja schon bei den Bearbeitungen der dreistimmigen Villanellen
erwähnten.
Das Princip ist eben immer dasselbe. Eine Bearbeitung unter-
scheidet sich von der andern nur durch kleine Abweichungen tech-
nischer Art, die dem Geschmack des jeweiligen Autors entspricht.
Um doch auch von dem größten Komponisten jener Epoche ein
Lied in Lautenbearbeitung zu geben, will ich eines hersetzen, das
durch seine Übernahme in die Kirchenmusik noch heute als einer
der schönsten protestantischen Choräle* lebt: »Mein Gemüth ist mir
verwirret, das macht ein Jungfrau zart« aus dem Lustgarten Haßlers.
^ Bekanntlich: »Herzlich thut mich verlangen.«
Du deutiche weltliche Lied in der I.autenmuBik des 16. Jahrh. 3()9
Da das Original' allgemein zugänglich ist, stehe hier nur die Beai-
bfituDg Aus der Handschrift M. 297. K. Bibl. Dresden.
Die Handschrift ist was die Mensur Rnbetrifft seht schlecht und
finchtig geschrieben ; einige Veibesserungen , die ich vorgenommen
babe, sind durch Kreuze bezeichnet; andere auffallende Stellen sind
durch Fragezeichen gekennzeichnet. So zählt z. B. der erste Teil
statt sechs nur 4'/2 Takte, obwohl alle Töne der Melodie vorhanden
sind. Im großen und ganzen sind Melodie und Harmonie in ihrer
Reinheit gewahrt; kleine Verzierungen sind in der bekannten Weise
angebracht.
Hainhofers Handschrift enthält eine Anzahl Haßlerscher Lieder
aus den neuen deutschen Gesangen zu 4, 5 und 6 Stimmen von 1596.
Darunter befindet sich auch: iiFeiusIieb du hast mich gefangen«, und
' Ausser in der Neu-Ausgabe des Lustgartens, Ton Dr. Zelle. Publicat. d.
(■' f. M. Bd. lä, steht das Lied auch in; Conimer: Geistliche und weltliche Lie-
der »u 3, *, 5 und 6 Stimmen aus dem XVL— X\'IL Jahrb. Berlin. Trautwein.
3]^0 Ernst Radecke,
zwar auffallender Weise mit der Bezeichnung d deutscher Dantz«.
Nachdem zuerst das Original getreu im zweiteiligen Takt übertragen
ist, folgt dasselbe noch einmal als j»Nachtanza im dreiteiligen Takt.
Man kann daraus schließen, daß das Lied sehr populär geworden
war. Deutsche Tanzlieder besitzen wir auch schon in Lautenbear-
beitungen aus der Zeit vor Eindringen des italienischen Liedes in
Deutschland. Wolff Heckel und Melchior Newsidler weisen eine
ganze Reihe auf. Li ihnen lag die Melodie ebenfalls in der Ober-
stimme und wurde von den* unteren ganz kunstlos begleitet. Was
die Tonarten betrifft, so ist ein entschiedenes Vorherrschen des ioni-
schen, das unserm Dur entspricht, zu bemerken, sowie ein häufiges
Gebrauchen des Dominantdreiklanges, der in unabweisbare Beziehung
zum Tonikadreiklang tritt. So schließt oft ein Theil, der in der
Tonika beginnt, auf dem Dreiklang der Quinte. Oft entsteht auch
eine seltsame Mischung von (modern gesprochen) Moll und Dur, die
ganz eigentümlich anmutet. Bearbeitet wurden die Lieder nach dem
bekannten Princip; es ist nichts neues hinzuzufügen. Leider ist es
mir nicht gelungen für die Tanzlieder Originale nachzuweisen. Es
ist sehr wahrscheinlich, daß wie ursprünglich ohne Rücksicht auf
den Tanz erfundene Lieder zu Tänzen und Tanzliedern umgearbeitet
wurden (z. B. das oben erwähnte Lied von Haßler), so auch umge-
kehrt Instrumentaltänze durch Unterlegung eines Textes, der bereits
bekannt war oder auch, wie Hainhofer einige Beispiele aufweist, zu
bestimmtem Zweck neu gedichtet wurde. Diese Tänze waren nicht
immer deutscher Herkunft, auch Gäste aus Italien wurden aufge-
nommen. Gleich der erste Tanz bei Hainhofer ist ein solcher ita-
lienischer Fremdling. Sein Charakter ist unzweifelhaft rein instru-
mental und der Text »ich gieng bei eitler Nachtue erst von Hainhofer
oder einem andern untergelegt. Er trägt auch die Überschrift: »il
ballo, che si chiama la Spagnoletta«. Es ist ein reizvolles Stück im
Dreivierteltakt in ausgesprochen moderner Tonart, in der Art den
Stücken ähnlich, die man heute mit »Siciliano« bezeichnet (der Name
Spagnoletta weist allerdings nach Spanien). Von den drei Bearbei-
tungen für Laute, die Hainhofer bietet, ist die erste die beste. Sie
steht in ^-moU. Wie einen modernen Satz kann man sie in Perioden
von 8, wenn man will 4 Takten teilen. Die ersten 8 Takte werden
eine Oktave tiefer wiederholt und schließen in jB-dur, dann folgen
8 Takte, die nach ^-moll zurückleiten. Die neue Periode setzt wie-
der in B ein, gelangt nach 4 Takten zur Dominante F und führt
von ihr nach ^-moU zurück. Dann wechseln zweimal 4 Takte
i^-dur mit 4 Takten ^-moU, und das symmetrisch gebaute Stück von
48 Takten ist zu Ende.
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahih. 311
Auch die Handschrift der k. HochschiQe für Musik in Berlin
weist eine Liederbearbeitung auf, die den Zusatz hat: uGalliarda Dio-
medüt, Diomedes war ein berühmter italienischer Lautenspieler.
Seine Galliarda ist ein von vornherein für Laute komponiertes Stück,
das erst in Deutschland mit einem Text versehen wurde, also keine
Bearbeitung eines Liedes.
3.
Zasanimenfassmig der Ergebnisse. Die Tonarten. Die Stimmnng.
Ergänzende Bemerkungen zur Lanten-Notation und -Teehnik«
In Kürze noch einmal zusammengefaßt, sind die Ergebnisse der
Untersuchung folgende : Die zweistimmigen Bearbeitungen der Lieder
bestehen durchweg aus einfacher Übertragung des Tenors und des
Basses aus dem Original auf die Laute; sie kommen nur bei den
Liedern des älteren kontrapunktischen Stiles vor. Bei den dreistim-
migen Bearbeitungen derselben werden Diskant, Tenor und Baß
übertragen, der Alt nicht, es sei denn, daß er für den pausierenden
Tenor eintritt ; und zwar erhält der Diskant, der ursprüngliche Kon-
trapunkt, ein Übergewicht über den Tenor, die eigentliche Melodie.
Die mehrstimmigen Bearbeitungen berücksichtigen Alt, Quinta vox,
Vagans erst, wenn Diskant, Tenor und Baß ihre Stelle gefunden
haben. Das schnelle Verklingen der Töne wird Anlaß einmal zur
Tonwiederholung, zweitens zur Entstehung der Koloraturen. Letztere
erlangen ein solches Übergewicht, daß die Stimmführung verwischt
wird. Durch das Auftauchen und Verschwinden der Mittelstimmen,
sowie durch das Verändern ihrer Lage erhalten die Bearbeitungen
ein akkordhaftes Aussehn. Durch das Bestreben, die Oberstimme
zur Hauptsache zu machen, und das Hindrängen zu melodisch- akkor-
discher Gestaltung der lursprünglich kontrapunktischen Kompositionen
hilft die Lautenmusik an ihrem Teile mit, einen Umschwung in der
musikalischen Anschauung der Zeit herbeizuführen . Die nach Deutsch-
land gebrachte italienische Liedform und die mehr und mehr Ein-
fluß gewinnenden deutschen Tanzlieder begegnen sich mit ihr in
gleicher Absicht. Daher werden sie gern von ihr aufgenommen und
eifrig gepflegt. Sie verdrängen auch in der Lautenmusik den älteren
Stü. Sie werden möglichst genau übertragen; nur unwesentliches,
was nicht spielbar ist, bleibt fort. Die Vorliebe für volle Akkorde
beseitigt die Übertreibungen der Koloratur älterer Art. Kleinere
3J2 • Ernst Radecke,
Verzierungen, die den harmonischen Gang des Ganzen nicht stören,
bleiben bestehen und sind der Ausgangspunkt für eine sich im 17.
Jahrhundert bildende Art von Variationsform; jedoch ist diese vor-
läufig noch nicht allgemein üblich. Es hat sich also allerdings ein
feststehender und allgemein gebräuchlicher Stil der Bearbeitung ge-
bildet; aber zur Entstehung eines eigenen Kompositionsstiles ist es
durch den Einfluß des deutschen weltlichen Liedes auf die Lauten-
musik nicht gekommen. Immer bleibt das deutsche Lied in ihr in
seiner ursprünglichen Gestalt, denn die Änderungen werden einzig
durch die Technik des Instrumentes bedingt, es bleibt eine Bearbei-
tung niederer Art, und fuhrt nicht zu einer Verarbeitung im höheren
Sinne, aus der neue Formen entstehen. Ein reiner Instrumental-
kompositionsstil scheint vielmehr aus den Tänzen sich entwickelt zu
haben .
Es dürfte noch von Interesse sein, einen Blick auf die Tonarten,
in Bezug auf die alten Lieder besser gesagt Tonhöhen, zu werfen,
in welchen die Lautenbearbeitungen der Lieder stehen. Die Notations-
zeichen der Lautenmusik bezeichnen ja allerdings nur die Griffe auf
dem Instrument, die je nach der Stimmung der leeren Saiten höhere
oder tiefere Töne hervorbrachten. Da aber die Stimmungen fest-
stehende waren, für die deutsche Notation A^ d- g-h-e -ä^ für die
italienische und französische G -c -f-a-d-g^ so muß man doch
annehmen, daß die Männer, welche Gesangskompositionen für Laute
übertrugen, sich bewußt waren, in welcher Tonhöhe ihre Bearbeitung
erklingen würde, und daß also die Tonhöhe, welche wir erhalten,
wenn wir unter Zugrundelegung der festgesetzten Stimmung die Ta-
bulatur in moderne Notenschrift übersetzen, der vom Bearbeiter be-
absichtigten gleich ist. Die Spieler freilich, großenteils Dilettanten,
werden nicht immer genau gestimmt, sondern die Normalstimmung
häufig um einen halben, ja ganzen Ton nach oben oder unten ver-
schoben haben, wodurch dann auch die Tonart des Stückes eine
andere wurde. Nun ist es auffallend, daß nicht nur die Tonarten,
die sich auf den diatonischen Tönen aufbauen, vorkommen, sondern
auch sämmtliche chromatischen. Für die chromatischen Halb töne
gab es nur je ein Zeichen , gleichviel ob sie durch Erhöhung der
untern oder durch Erniedrigung der oberen Tonstufe entstanden:
man unterschied also auch beim Spiel nicht zwischen eis und de%,
dis und es^ fis und ges etc.. ganz so wie auf dem modernen in gleich-
schwebender Temperatur gestimmten Klavier. Die gleichschwebende
Temperatur hatte man aber damals noch nicht, auch nicht auf der
Laute. Denn einmal wurden die Intervalle der leeren Saiten:
(Quarte - Quarte - große Terz - Quarte - Quarte rein gestimmt, außerdem
Das deutsche weltliche lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 313
eigab eine an einet Laute der Berlixfei Instrumentensammlung voi-
genommene Messung ^ daß die ganze ungeteilte Länge der Saite
,'66 cm) zu der durch den dritten Bund geteilten Länge (55 cm) sich
verhielt wie 6:5, zu der durch den siebenten Bund geteilten Saite
(44 cm) wie 3:2, d. h. daß die kleine Terz und die Quinte auf jeder
Saite rein waren, folglich auch die Differenz beider Intervalle: die
grofie Terz zwischen dem dritten und siebenten Bund. Die andern
Bünde ergaben untereinander unreine Verhältnisse. Folglich war
auch die große Terz, welche zwischen der leeren Saite und dem
vierten Bunde lag, unrein. Man hatte also reine große Terzen und
unreine, reine kleine Terzen und unreine bunt durcheinander. Das
ist merkwürdig. Trotzdem wurden die chromatischen Halbtöne nicht
nur als Konsonanztöne, sondern auch als Tonika gebraucht, auch
die, welche auf den Tasteninstrumenten jener Zeit wegen des soge-
nannten Orgelwolfs nicht zu benutzen waren. ^
Immerhin waren die Tonarten wie des oder cisj es oder dis^ ßs
oder ges^ as oder ffis, b oder ais, selten. Am häufigsten waren a, ff,
d, e und c. War die Stimmung u4-d-^-^Ä -e -5, so war die Ton-
art a sehr bequem zu spielen, da die leeren Saiten den Grundton
zweimal, die Quinte einmal enthielten und die übrigen häufig vor-
kommenden Intervalle auf den ersten Bünden gespielt werden konnten.
Dementsprechend war. g bei der 6r-Stimmung die bequemste Tonart.
Jedoch war die Fertigkeit der Spieler so entwickelt, daß auch die
hohen Lagen, um einen Ausdruck der modernen Violintechnik zu
gebrauchen, nicht selten in Anwendung kamen.
Wichtig sind für uns die Übertragungen der Lieder für Laute
femer dadurch, daß in ihnen die sogenannten Accidentien (Erhöhung
des Leitetones etc.) bestimmt durch die Notenschrift ausgedrückt
wurden, während sie in der Mensuralnotation nicht bezeichnet wur-
den. Aus einer Vergleichung einer Liederbearbeitung mit ihrem
Original kann man also ersehen, an welcher Stelle erhöht oder er-
niedrigt wurde. Indessen darf man hieraus nicht mit Sicherheit
schHeßen, daß die Accidentien stets genau so gesungen wurden, wie
die Tabulatur der Bearbeitung angiebt. Denn verschiedene Bearbeiter
desselben Liedes weichen zuweilen in diesem Punkte von einander
ab. Während z. B. bei einer Modulation nach d der eine schon
am Anfang des vorletzten Taktes c in eis erhöht, läßt der andere
diese Erhöhung erst auf dem letzten Viertel eintreten. Es gab also
^ Zur Lösung dieser Schwierigkeit bedarf es eingehender fachmännischer
Untersuchungen und Berechnungen, die durch die obige Feststellung der Thatsache
Tieüeicht angeregt werden.
314 Ernst Hadecke,
hierüber keine bestimmten Ge^tze, sondern die Anwendung der Ae-
eidentien blieb dem Geschmack und der Willkür des einzelnen über-
lassen.
Die meisten Tabulaturbücher des 16. Jahrhunderts enthalten
außer den Stücken noch in Vorreden und Regeln umständliche Aus-
einandersetzungen über den Bau, die Stimmung, die Technik und die
Geschichte des Instruments, von denen vieles heute schon wieder
an's Licht gezogen ist. Auf das bekannte brauche ich daher nicht
einzugehen; jedoch glaube ich einiges hinzufügen zu können, das
Anspruch auf Neuheit machen kann.
Am meisten in Gebrauch war die Laute mit 11 Saiten. Davon,
daß ihre tiefste in den j)Abzuga gesetzt werden konnte, habe ich in
Teil II 1 . schon gesprochen. Daneben gab es aber schon früh Lauten
mit dreizehn Saiten, die zu sieben Chören vereinigt waren. Schon
Hans Gerle giebt Anweisung, wie die unterste Saite zu stimmen sei:
nämlich eine Quarte tiefer als die tiefste Saite (GroBbomhart) der
Laute mit elf Saiten; bei der ^-Stimmung als E. Jedoch scheint
sich diese Art nicht recht eingebürgert zu haben, denn noch 1574
sagt Melchior Newsidler in seiner »Vorred an den günstigen Leseric
»Wie wol vil Jar her die Lauten mit eilff Seitten breuchlich gewesen,
so befind ich doch im grund, nachdem die Musica in kunst und lieb-
ligkeit hoch gestigen, das man auff solchen Lauten fast die aller
artigsten und lieblichsten Concor dantzen oder griffe nit haben kau,
derohalben hab ich auff ein weg gedacht, dadurch solcher mangel
möchte erstattet werden. Ob nun wol die anzal der Saiten, nach
eines jeden gütduncken mag gemehret werden so muß
doch, wie in allen dingen, also hie auch, maas gehalten werden, und
kann unsere heuttige Musica auff der Lauten noch mit einer Saite
sampt ihrer Octafe zu den vorigen eilffen also ergäntzet und perficiert
werden, das eine Laute mit 13 Seitten recht bezogen, eines jeden
gesangs Clausein erreichen und voUkömlich geben mag.« Er stimmt
die unterste Saite aber nicht eine Quarte unter den GroBbomhart,
weil es wenig so tiefe Stücke gebe, sondern »nur umb ein Secund,
das ist ein Octafe von dem mittleren BomhArtlein niderer, unnd das
auß folgenden Ursachen: Dann erstlich find ich, das inn der recht
alten und gemeinen Scala, welche aller alten uud newen Componisten
einiger grund und Regel ist, nit mehr dann ein Noten unter dem
Gamaut, auch fast alle die besten Kunststück nit tiefer componiert
seind. Nun ist aber der ober oder große Bomhart auff einer gemeinen
Lauten mit eilff Seitten, wann der lähr geschlagen wirt, das
rechte natürliche Gamaut Sovil dann die Cha-
rakter in der Tabulatur belangt, habe iqh den obersten oder
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 315
alten großen Bomhart mit nachfolgenden VersalbAchstaben be-
schriben, als nemlichi wann er soll lähr geschlagen werden t
unnd dann vom ersten Bund an einen nach dem andern also A B
VDEFGHIK. Den newen Bomhart mit der gleichen, allein
ist dieB der unterscheid , das ob einem jeden Bflchstaben ein strich
gefunden wirt, wie folget: A B CJJEFGHIK unnd
wann er soll lähr geschlagen werden mit disem Charakter angedeuttet
wirt« Aus dieser Stelle geht auch hervor, daß die Laute zu
Melch. Newsidlers Zeit 10 Bünde hatte, und daß er, obwohl er in
deutscher Tabulator notierte, die Stimmung G -c -f-a-d^ g an-
nahm.
Lauten mit Baßchorden, die neben dem Griffbrett herliej^en und
unter einander den Abstand einer Sekunde hatten, traten in Deutsch-
land erst im 17. Jahrhundert auf. Leopold Georg Fuhrmann notiert
diese ^Chori inferiores^, in »tabulatura Germanicaa mit 7, 8, 9, 10; in
•tabulatura Gallicac mit: a ä ä. Unter letzterer versteht er die No-
tationsart, die wir die (mittel-) französische nennen, mit folgenden
Mensurzeichen! ^ J J ^ ^^ />, unter ersterer dieselbe mit den
Mensurzeichen der deutschen Notation: | P T F p- Rudenius hat
auch ein Zeichen, um Zweiunddreißigstel zu bezeichnen: ußignum
hoc 2 posi p plerumque positum eandem temporis quantitatem noiat,
ar ii lineola quinque virgülarum apposita situ
Daß Gerle und Hans Newsidler den Fingersatz der linken Hand
durch Punkte bezeichneten und »ein einiges pünct-
leini für die rechte Hand anwandten, ist bekannt. Für das letztere
hatte Bernhart Jobin eine noch einfachere Bezeichnung: »Will der-
halben nichts anders den Lautenschläger (der vileicht noch etwas
ungeübter) nun zum eingang verwarnet haben, dann besondere ge-
nawe achtung in dieser Tabulatur auff die schlSg und Mensur, die
also / I / I ^'^ strichen verzeichnet und angedeitet, zu geben,
dieweil es im zu sonderer fürdernuß im schlagen mag gedewen. Dann
so der eine strich an vorgesetztem Mensurzeichen gerad und strackh
hinabgeht , soll er mit dem Daumen under sich geschlagen werden,
wo er aber krumb gestalt were , würd er mit dem zeigfinger über
sich geschlagen . . . .«
In der Begel wurden die Finger der linken Hand gleich auf-
gehoben, wenn ein neuer Ton eintrat; sollte ein Ton länger fort-
Hingen als das Mensurzeichen angab , so wurde dieß , für Schüler
wenigstens, besonders bezeichnet: »Nun hab ich dir«, bemerkt Hans
316
Ernst Radecke,
Newsidler, »die clausein auch verzaichnet, da mustu alweg den zeig-
finger, auff dem klagen über zwerch stilhalten, in dem bundt, da dei
buchstab mit dem sternlein « jnen stet, biß die clausein aus ist,
also mustu in den Prcambeln und Tentzen auch thun, wenn ein
colloratur in einem schlag ist.«
z. B. :
d. h. in moderner Notenschrift : <
Ein Schlag ist nach Hans Gerle gleich einer Semibrevis. Man
übersetzt daher den Buchstaben , bei welchem ein Stern steht, mit
einer ganzen Note. Der Umstand, daß ein längeres Aushalten eines
Tones besonders angemerkt wurde, beweist, daß diejenigen Unrecht
haben welche bei der Übersetzung in unsere Notenschrift den imteren
Stimmen eine von der der obem verschiedene Mensur geben, um der
sprunghaft unterbrochenen Stimmführung eine fließende Gestalt zu
verleihen, so daß die Lautenstücke ein modernen Klavierstücken ähn-
liches Aussehen erhalten. Derartige Modernisierungen sind un-
historisch und unwissenschaftlich und verdecken das Wesen der
Sache. Das z im obigen Beispiel darf also nicht durch eine Ganze
e übersetzt werden, sondern muß als Viertel e übertragen werden,
wie das ä der Melodie.
Wenn mit zwei Lauten zusammen musiciert wurde, konnten zwei
Arten von Stimmungen angewandt werden: »In diesem Buch«, be-
richtet Wolff Heckel, »werden zweyerley richtung begriffen. Die ersten
viertzehn stuck oder Lieder biß auff das flinfftzehend Lied, sollen mit
zweyen Lauten zusammen geschlagen werden . wölche ein secund
vo einander gericht sind, nämlich der Discant soll ein secund höher
über den Tenor gericht werden .... Dise nachvolgende stuck alle,
sollen mit zwo Lauten züsamen geschlagen werden, wölche ein quart
von einander gericht sind, nämlich der Discant soll ein quart Aber
den Tenor gezogen werden.« Also:
1 . Diskantlaute : A- d- ff -h-e-ä
Tenorlaute : G - c -f- a-d-ff,
2. Diskantlaute : A-d- ff -h^e- ä
Tenorlaute : E- A^ d-fis- h- e.
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 317
Im 17. Jahrhundert musicierte man auch mit 3 oder 4 Lauten
xusammen, wie aus Notizen in der Handschrift des Naukleros her-
vorgeht ; jedoch kann die dort angegebene Stimmung nicht richtig
sein, da alsdann die Tenorlaute höher sein würde als Alt- und Dis-
kantlaute. Es muß ein Schreibfehler vorliegen.
Die zahlreichen Kegeln und die mannigfachen Transscriptionen,
welche die deutschen Tabulaturbücher aus dem 16. Jahrhundert ent-
halten, veranlassen Ambros^ zu der Bemerkung, daß die Lautenmusik
hauptsächlich Musik von und für Dilettanten war in jener Zeit.
Hierin kann man ihm im großen und ganzen beistimmen. Denn in
der That war sie Hausmusik der Liebhaber; und die Bearbeiter
waren vielfach nicht Musiker von Fach, die auch in anderen Zweigen
ihrer Kunst hervorragendes oder tüchtiges geleistet hätten. Hans
Gerle und Hans Newsidler z. B. waren ihres Zeichens Instrumenten-
macher, Jbbin war Notendrucker und Musikalienverleger, Fabricius
war Student, Hainhofer war Diplomat. Die meisten Lautenisten be-
merken in ihren Vorreden auch ausdrücklich, daß sie sich nicht mit
den Meistern der Tonkunst in eine Reihe stellen können; sondern
nur »aus sonderlicher Lib zu diser Kunsta sich unterfangen ihren
Mitbürgern eine Sammlung beliebter Musikstücke darzubieten. Aber
gerade der Umstand, daß ehrsame Bürger sich der Kunst befleißigten,
beweist, wie tief die Musik in jener Zeit in die Volksseele einge-
drungen war; und die Volkstümlichkeit der Lautenmusik läßt sich
vergleichen mit der schönen Blüthe, welche das einfache Lied ein
Jahrhundert früher im Schöße des Volkes erlebt hatte. Eine gewisse
Nüchternheit und Unbeholfenheit in Handhabung künstlerischer Formen
läßt sich nicht läugnen. Aber Ambros und Wasielewski thun Un-
recht, wenn sie auf diese Musik mit Geringschätzung herabblicken in
dem Gefühle, wie herrlich weit es die Instrumental-Musik unserer
Tage gebracht habe. Nicht mit unserm Geschmack sondern aus dem
Geiste des 16. Jahrhunderts heraus will sie beurtheilt sein. Ihre Be-
deutung an sich und für die Fortentwickelung der Tonkunst glauben
wir dargethan zu haben. Welchen Eindruck sie aber auf ihre Zeit-
genossen machte, ist ersichtlich aus den zahlreichen prosaischen und
poetischen Lobeserhebungen, die sich nicht nur in den gedruckten
und handschriftlichen Aufzeichnungen der Tabulaturbücher, sondern
auch in den Werken der Schriftsteller und Dichter jener Tage fin-
den. Daß ein Luther die Lautenmusik hochhielt ist bekannt. Im
» a. a. O.
1891. 22
318
Ernst Radecke,
•17. Jahihundert schwang sie sich zu einer größeren künstlerischen
Höhe auf, und ein Seb. Bach und ein Haydn haben noch im 18.
Jahrhundert für das Instrument geschrieben. In Mißachtung ist das-
selbe bei der großen Menge wohl namentlich seit Matthesons weg-
werfendem Urtheil gekommen, und seine unvollkommene Mechanik
und leichte Verstimmbarkeit haben es vor anderen besser organisierten
Instrumenten in Vergessenheit gerathen lassen. Aber wie im 16. Jahr-
hundert das deutsche Lied in der Laute lebendig war, so lebt diese
noch im 19. Jahrhundert im deutschen Liede eines Eichendorff u. a.
Alphabetisohes Yerzeiolmiss der Liederbearbeitungen
mit Angabe der Komponisten^ und Nachweis der Originale^.
Liedftnfang.
Lantonbearbeitang.
1. Ach, ach wie brendt so un-
geheuer. . ..
2. Ach Amor wie ganz wider-
werdig
3.
4.
5. Ach ELschen, liberBule mein..
6. [Ach] Elslein, liebstes Elslein
mein
7. Das Elselein. . .
8. Ach Fräulein zart. . .
9. Ach Gott wem soll ichs klu
gen . . .
Liederbuch des Fa-
bricius.Bibl.Kopen-
hagen.
desgl.
Lautenbuch d. Nau-
kleros. Bibl. Berlin.
Mn8cr.l)resd.M.29T.
Naukleros.
Lautenbuch V. Hans
Newaidler 1536 I.
Musica Teutsch von
Hans Gerle 1532/37
1546.
Testudo Gallo- Ger-
manica* von G. L.
Fuhrmann 1615.
Hans Newsidler* I.
Komponist.
Ludwg.Senfl.
Joh.LeoHass-
1er.
W. Grefinger.
Ausgabe der Lied» ia
Vokalsatz.'
lOtt'sLiederh. 1534
Nr. 37. Melodie im
CantuBbeiOtt:115
guter newer Lied-
lein 1544. Nr. 15.
lassler : Lustgarten
neuer teutscher Ge-
sang etc. Partitur-
ausg. V. Fr. Zelle.
65 teutscherLied.ge-
dr. bei Peter Schöf-
fer. Nr. 54.
^ Bei den Bearbeitungen, die mit einem * bezeichnet sind, steht der Name in der
Lautentabulatur, bei allen übrigen habe ich ihn durch Vergleichung festgestellt
'^ Die Originale sind sammtlich von mir durch Vergleichung festgestellt
3 "Wenn sich ein Lied in mehreren Liederbüchern findet, begnüge ich mich mit An-
gabe eines einzigen.
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 319
Liedftsfang.
10. Ach hertziges Hertz. .
11.
11
13.
M.
15.
16.
17.
IS. Ach hüff mich leid. . .
19. Ach Jupiter
20.
21. Ach lieb mit leyd
K.
' 13.
; 24.
25.
26. Ach meidlein rein , ich hab
allein mich dir eigen ergeben..
27. Ach möcht es doch iresein* . . .
28. - •
29. _ ♦
30. - ♦
31. Ach schönste Zier, wie hastu....
32. Ach Unfall wes zeihestu
33. (wigstu) mich....
^* Ach was seindt. . . .
35. Ach werde frucht. . .
36.
37.
3^.
39.
40.
41.
42.
43. Adonis zart. . .
Ach wie bin ich von hertzen
betrübt. .
Ach wie hertslich und schwer..
Ach woher kumbt meim Uer-
tien, jetzundt so seltam. . .
Ade ich muß mich scheiden..
Lantenbearbeitang.
Komponist.
Ausgabe der Lieder im
Vokalsatz.
FabriciuB.
Philipp Hainhofers
Jjautenbücher.Bibl.
Wolffenbüttel.1603.
Fabricius.
Naukleros.
desgl.
Flores Musicae von
Joannes Rudenius.
1600.
llans Newsidler I.
Tenorlautenbuch v.
JacobWecker. 1552.
B.Wernigerode.
Discant- und Tenor-
Lautenbuch V. Wolff
Heckel. 1556/62.
Hans Newsidler I.
desgL
desgl. IL
Tabulaturbuch von
Seb. Ochsenkhun
1558.
Naukleros.
Hans Newsidler I.
Tabulatura nova von
Gregor Krengel.
1584.
Rudenius.
Hans Newsidler I.
desgl. IL
Mnscr. Dresden. M.
297.
Hans Oerle.
DreS(l.Mnscr.M.297.
Rudenius.
desgl.
desgl.
Dresd.Mnscr.M. 297.
Fabricius.
desgl.
Florilegium von *
Adrian Benss. 1594.
Leonhard
Lechner.
Paul Hoff-
heymer.
Wolff Gre-
finger.
Gregor
Lange.
Ludwig Senfl.
L. Lechner.
Der erst und ander
Theild.Teutechen
> Villanellen Leo-
nardi Lechneri.
1590. Nr. 10.
Tenor imLiederbuch
gedr. b. Amt von
Aich. 1518.
Oeglins Liederbuch
1512. NeueParti-
> turausgabev.Rob.
Eitner und Jul.
Jos. Maier. Nr. 6.*.
Aussbund. . . Teut-
scher Liedlein von
GeorgForster. 1 549.
I. 62.
^Greg. Lange : Neue
teutsche w. Lieder.
1598. Nr. 20 des].
Theüs.
Ott's Liederbuch.
1534. Nr. 86.
^ Publicationen der Gesellschaft für Musikforschung. Bd. IX
Lechner : Teutsche
Vilanellenk3v.l590.
Nr. 9.
22*
320
Ernst Kadecke,
Liedanfang.
Lantenbearbeitang.
Komponist.
Ausgabe der Lieder in
Vokalsatx.
44. Ainsmahlß that ich spazieren...
45. Aide...
46. All ding mit radt. . .
47. Allein hab ich auserwelt. . .
48. Alle Wacker Magdlin...
49. Magdtlin....
5d. An banden hart, das ich nu
"wart im Venusberg ver-
schlossen ....
51. An dich stätiglich dencket
mein . . .
52. An die lieb bin ich geraten...
53. Auff mein Gesang u. mach
dich ring. . . .
54. Au ser weite. .
65. Beschaffens glück ist unver-
sampt ....
56. Betrübe dich nicht so sehr. . .
57.
58. Bey dir Mein Hertz...
59.
60. Bey myr mein Hertz...
61. Bist du des Goldschmidts
Töchterlein . . .
62. Bitt wollet mir ein Tänslein
klein . .
63. Crefftige Liebe...
64. Gupido hat. . .
65. Das du von meinetwegen. . .
66. Das Herz thut mir aufsprin-
gen . . .
67. Das ist die Zeit, die mich
erfreut
68. Dat unse Grete...
69. Dein freundtlichs gesiebt. . .
70. Dein trawren macht daß ich
kaum . . •
Hainhofer.
Discant-Lautb. von
Heckel.
Tabalaturbuch von
AmoltSchlickl512.
Fabricius.
Fabricius.
Fabricius.
Mnscr. 5102 d. k.
Hochschule Berlin
von 1588.
Rudenius.
Fabricius.
Fuhrmann.
Naukleros.
Teutsch Lautenbuch
V. Melchior New-
sidler. 1574.
Fabricius.
desgl.
Dresd.Mn8cr. M.297.
Naukleros.
Fabricius.*
Fabricius.
Hainhofer.
Fabricius.
Schlick.
Rudenius.
Valentin
Haussmann.
Valentin
Haussmann.
Valentin
[Haussmann.
Hainhofer.'
K.rengel (hdstLzuge-
fügt).
Dresd Mnscr. M.297.
Gerle.Musica U.Tab.
1546.
Rudenius.
Regnart-
Lechner.
Hassler.
Neue artige u. liebL
Täntzek4v. V.H.
1598/1600.
Haussmann : Venus-
garten. 1602.
} Haussmann: Neue
liebL Melodieen.
159S-1600.Nr.6,
Oeglin's Liederbuch
1512. Nr 5.
Regn.-Lechner: N.l.
Lieder ä5 v. 1 5 7 9 Nr.
18.
Neue teutsche Ge-
sang von Hassler.
1596.
Heinr. Finck. Liederbuch v. Hein.
' rieh Finck. 1M6.
I Nr. 13.1
Valentin Val. Haussm. Teut-
Haussmann. ; scheweltLLieda^T.
I 1597.
1 Neue Fartitürausgabe von R. Eitner. Fublicationen Bd. VIII.
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 321
Liedftnfkng.
Laiitenb«Arbeitiing.
Komponist.
Ausgabe der Lieder im
Yokalsatz.
71. Der Ehelich Stand ist billig
gnant. . •
72. Der hund mir vor dem liecht
ambgat . . .
73. Der Pfaffe mit den Stelzen...
74. Der wein der schmackt mir
also wol. . •
75. Dich als mich selbst. . .
76. Die allerholdseligstauff erden
! 77. Die Fisch' im wasser wonen...
7S. Die pronlein die da fließen...
79.
81.
n.
63.
M. Die schöne Atalante. . . .
85.
86. Die weyber mit den flöhen. . .
87. [AuffI Diß faßnacht soll ich
hoch.. .
88. Dort niden an dem Rheyne . . .
S9. Durch liebeskrafft. . .
90. Eilendt hat sich verkehrt. . .
91. Ein Abt den wöU wir wey-
hen...
92. Ein adeliches Bildelein. . •
93. Ein alter Greiß...
^ Ein freuiein lebet uf dieser
erdt. . .
95. Ein frölich Wesen . . .
96. Ein liedlein zum Ehren. . .
97. Ein Mägdtlein sagt mir freund-
lieh zu . .
98. Ein (ge-)trewes Herz in eren
99. hab ich mich außerweit. ...
100.
101. Eitel sut dunck. . .
102. Elend nat mich umbgeben. . .
103. Ein meidlein jung am laden
stundt. . •
104. Entlaubet ist der walde...
105. Entlaubt ist uns der walde. . .
Ochsenkhun.*
H.Newsidler I*
Fabricius.
Jobin : Das 1. Buch
newerlesner Lau-
tenstück 1572.
Gerle 1532/37/46.
Oohsenkhun.*
Hainhofer.
Di scantltb.y .Heckel.
Gerle.
H. Newsidler I.
H. Newsidler II.
Münch. Mnscr. Nr.
1512.
desgl.
; Fabricius.*
desgl.*
! Ochsenkhun.*
H. Newsidler I.
Ochsenkhun.*
Fabricius.
Kudenius.
Ochsenkhun.*
Dresd.Mnscr. M.297.
Fuhrmann.*
Mnscr. 5102 d. K.
Hoch. B.
Heckel D. u.T.Ltb.
Fabricius.
Fabricius.
Fabricius.
desgl.
Naukleros.
Fabricius.
desgl.
desgl.*
Münch. Mnscr. 1512.
H. Newsidler I.
Ludw. Senfl.
Orlandus
Lassus.*
Gregor
Fetschin.
Ludw. Senfl.
Leonhard
Lechner.
Ludw. Senfl.
Thomas
Sporer.
Gregor
Fetschin.
Ludw. Senfl.
Hassler.
Meiland.
I
Ott'sLiederbueh von
1544. Nr. 9.1
O.L. : Teutsche Lie-
der mit 5 St. 1583.
Forster'sLiederbuch
1549.Nr.ld.LTeils.
Ott's Liederbuch
1534. Nr. 44.
}
L.Lechner:Teutsch.
Villanellen ä 3 voc.
1590. Nr. 3.
65 teutsch. Lieder ge-
druckt bey Peter
Schöffer. Nr. 16.
•Thomas
Stoltzer.
Ott'sLiederbueh von
1544. Nr. 23.
Hassler: Lustgarten.
\For8ters Lieder-
/ buch. 1549. L 61.
1 Neue Partiturausgabe von R. Eitner. Publicationen Bd. I. IL III.
322
Ernst Radecke,
Lied&nfftDg.
Lantenbearbeitang.
Eonponisi.
Ausgabe der Lieder in
Yokalsato.
106. Es ist ein Bawr in Brunn
Fabricius.
gefallen...
107. Es solt ein Bau wer sein
desgl.
Haber sehen...
108. Es sout ein meskin holen
Gerle, Musica u. Tab.
Sampson.
Forsters Liederbuch
win. ..
1546.
1549. n. 1.
109. Es taget for dem walde. . . .
Münch. Mnscr. Nr.
266.
110. Es war ein junger heldt. . . .
111. Es wolt ein Fraw zum Weine
Fabricius.
desgl.
gehn ....
112. Es wolt ein Medlein wasser
Münch. Mnscr. Nr.
holen ....
1512.
.
113.
desgL
114. Es wolt gu et reyher fischen. . .
Hainhofer.
115. Ey du lieber Bottenbueb
Hainhofer.
(Imthon: ein goldtschmidt
wolt ein Bader werden).
116. Feinslieb du hast mich ge-
Hainhofer.*
Hassler.
Hassler : Neue teut-
fangen . .
sehe Gesang. 15%
117. Fraw ich bin euch von hertzen
Ochsenkhun.*
L. Senfl.
hold...
118. Freundtlicher grüß mit büß...
H. Newsidler I.
0 egiin's Liederbuch
1512. Nr. 14.
119. Freundtlicher Held ich hat
Ochsenkhun.*
L. Senfl.
Ott's Liederbuch
erweit. . .
1544. Nr. 46.
120. Frisch auf last uns ein guet
Hainhofer.*
Hassler.
Hassler: Neueteut-
glas . . .
sche Gesang. 1596.
121. Frisch auff mein Hertz...
Fabricius.
1 22. Frölich will ich Singen, ich
Naukleros.
Kanns . . .
123.
desgl.
Kudenius.
124. Frölich will ich singen mit
lust zu . .
125. Frölich zu sein in ehren . . .
Hainhofer.*
Hassler.
Hassler: Neueteut-
sche Gesang. 1596.
126. Für eines hirschen jagett
Fabricius.
Achaeon ...
127. Gar lustig ich spazieren ging
Hainhofer.
(Ich ging einmal spazieren
durch einen grünen waldt. )
128. Gar lustig ich spazieren
Hainhofer.
g^^»:- . .
129. Gar lustig ist spazieren
Fabricius.
gehn . . .
130.
Naukleros.
131. Geliebtes hertz wie thustu
Fabricius.
Valentin
V. Haussm. Teut.
(magstu) . . .
Haussmann.
weltl.Lied.ä5. 1594.
Nr. 23.
132. Gesell wiß urlawb
Gerle, Musica. 1516.
Matth. Eckel.
Forst Liederb. 1.20.
1 33. Glaube nicht das ich köndt. . .
Krengel.*
1 Jacob
1 Regnart.
ITricinia von Jacob
i 134.
Krengel.*
} Regnart 1593.>Y
•
•
J 14.
^
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh.
323
Liedanfftug.
Lantenlearbeitang.
Komponist.
Aasgabe der Lieder im
Yokalsatz.
135. Glück mit der Zeit. . .
136. Gott behüte dich. . . .
137. Gott grüß mir die im grü-
nen . . .
13S. Groß liebe thut mich zwin-
gen...
139. Gut gsell (und) du mußt
wanaem . . .
140.
141. Gut Singer und ein Orga-
nist . . .
141 Ueckerling u. Uaberstroh. ...
1 4 3. Hebe das new Jar Gott geb. . . .
144. Hertzi^es Hertz . . .
14ö. Hertzlich thut mich erf rcwen ..
146. Uertzliebstes pild.. .
147. Herziges Herz, ach Enge-
lin...
US. Henlieb zu dir allein . . .
149. Hummer die Hum . . .
l&O. Jauchzen will ich. . .
151. IcharmcsKcutzlcin kleine...
152,
153.
154.
155.
I 156.
1 101.
159.
Ich armes Maydlein klag
mich sehr. . .
Ich bin gen Baden zogen. . .
Ich bin zu lange gewesen . . .
160.
161.
162.
163,
164. Ich ging bey eitler nacht.
165.
166.
167. Ich ging einmal spazieren . .
16S.
169.
Ochsenkhun.*
Rudenius.*
Fabricius.
desgl.
desgl.
Hainhofcr.
Denss.*
Fabricius.
Ileckel, Discantltb.
Fabricius.
dcsffl.
Schlick.
Hainhofer.
desgl.
Fabricius.
Hainhofer.
) Ochsenkhun.*
fMünch.Mnscr.1512.
I desgl.
Ochsenkhun.*
Münch.Mnser. 1512.
desgl.
\ Krengel.*
/desgl.*
Waisselius' Lauten-
buch.
Fabricius.
desgl.
desgl.
desgl.
Hainhofer.
desgl.
desgl.
Melch. Newsidler.
Münch. Mnscr. 266.
Lautenbuch hrsg. v.
Chilesotti.
Caspar
Ottmair.
liconh. Lech-
ner.
Leonh. Lech-
ner.
P. Hoflfhey-
mer.
Hassler.
Hainhofer? 1
IStcifanMahn
I oder L. Senil.
Ludwig
Senfl.
Jacob
Regnart.
Lechner: tcutsche
Vilanellenä3.l590.
Nr. 1.
Oeglin's Liederbuch
1512. Nr. 37.
Hassler: N. teutOes.
1596. Nr. 13.
Ph. Hainhofers Lau-
tenbüch.Theiin.1.
Ott*8 Liederbuch
1544. Nr. 59.
Ott's Liederbuch
1544. Nr. 47.
! Regnart : Tricinia
1 593. Nr. 29.
^ Das Lied trägt in der Hds. den Zusatz: Ain lied der J. Regina Waiblingerinui
dem Namen nach zue ehren gemacht durch J. H A.
324
Ernst Radecke»
Liedanfang.
Laatenbearbeitang.
Komponist.
Ausgabe der Lieder in
Yokalsata.
170. Ich ging mir nachten abendt
spat. . .
171. Ich ging wol bey der nacht...
172. Ich hab dich lieb
173. Ich habs gewagt...
174. Ich habs gewagt. . .
175.
176.
177.
178.
179.
Ich hatte mir vorgenom-
men . . •
Ich hct mir ein Endlein
fürgenommen. ..
Ich hört ein Jungfraw kla-
gen . . .
Ich klag den tag und alle
stundt. ..
180.
181.
182.
183.
184.
185.
186. Ich reuw und klag....
187.
188.
189.
190.
191.
192.
193.
194.
195.
196.
197.
198.
199.
Ich schrei und rueff. . .
Ich schell (schwing) mein
hom ins . . .
Ich seg adiu...
Ich stel leicht ab von sol-
cher hab . . .
Ich stund an einem morgen.. .
Ich weiß ein frewlein habsch
und . . .
Ich weiß ein hübsch Jung-
frewelein . . .
Ich weiß ein stolze Mülle-
rin. . .
Ich weiß mir ein hübsch
Paumjcartelein . . .
Ich weiß mir eine schöne
Müllerin...
Ich weiß mir ein Testgebau-
tes Haus...
200. Ich weiß mir gahr ein hüb-
sches Haus . . .
201. Ich weiß nit wie es kommen
mag. .
Fabricius.
H. Newsidler.
Fabricius.
Fuhrmann.*
Oerle, Musica u. Tab.
Rudenius.
Gcrle.
Krengel.*
desgl.*
Gerle.
desgl.
Heckel. I). u. T.Ltb.
H. Newsidler I.
desgl.
Münch.Mnscr. 1512.
desgl.
M. Newsidler.*
Schlick.
Ochsenkhun.*
Gerle,M.u.Tab.l546.
Heckel, Discantltb.
Fabricius.
H. Newsidler I.
Fabricius.
desgl.
Münch.Mnscr. 1512.
desgl.
Gerle, Mus. u. Tab.
Heckel, Tcnorlautb.
Jobin.*
Fabricius.
Ochsenkhun.*
Hassler.
Ludw.Senfl.
Gregor
Lange.
Thomas
Stoltzcr.
Gregorius
Brack.
}
Ludw. Scnfl.
L. Lechner.
Valentin
Haussmann.
}
L. Senfl.
Antonio
Scandelli.
Martin Zilte.
Hassler, Lustgarten.
Nr. 3.
Forster'sLiederbuch
I. 16.
Ott's Liederbuch.
1544. Nr. 22.
iNeue teutsehe Lie-
I der mit 3 St.yon G.
J Lange.l584.Nr.l9.
Forster's Liedcr-
l buch. 1549. I. 33.
Forster's Liederbuch
1540. L 121.
lott's Liederbuch.
I 1544. Nr. 57.
Discant in Forster IL
27.
Lechner: T. ViIä-
nell.&3.1590.Nr.21
V.H.N. t. w.Canxo-
nen. 15%.
}
Ott's Liederbuch
1544. Nr. 58.
A.ScWeltl.deutsch.
Liedlein mit 4,5,6
St. 1578. Nr. 6.
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh.
325
Iiiedftnfang.
Lanten'bauboitnBi^
Konponut.
Ausgabe der Lieder im
Yokalsats.
ttl lek für mich über rein.,.
203. Ick Ritte eines Mals zue
Braunsweich auß....
294. Idt is ein Boicken kamen. .
205. Jetit bringt Sankt Martin . . .
M, Jetst scheyden pringtmir. . .
307. Im Meyen.. ..
20S. In dieser weit hab ich kein
gelt. .
209. In Gottes Namen faren wir . . .
210. In klein und großen Sa-
chen. .
211. In liebes brunst. . . .
212. In rechter lieb und trew. . .
213. Ist keiner hie, der spricht. . .
lli
215.
216. Jung^raw dein schöne ge-
217. JungfraweuerWankelmuth..
218.
219. Jungfräwlcin ihr seid ge-
liert..
220. Jungfraw von Euretwegen. . .
221.
222.
223. Jungfirewlein soll ich mit
euch...
224. Junker Hans. . . •
225. Kein Adler in der Welt so
schön..
226. Kein ding auf erden . . •
227. Kein großer freud mag
sein...
228.
229.
230. Kein Mensch auf Erden
soll...
231. Ketterlein von Torgaw...
232. Kunt ich sch6n reines wer-
des weyb....
233. Liebr Egel laß mich leben. .
234. Liebes meidlin gut, was hast
im mut. . . .
Naukleros.
Naukleros.
Fabricius.
Ochsenkhun.*
H. Newsidler I.
Lud. Senfl.
Jobin.*
H. Newsidler.
Manch. Mnscr. 1512.
Rudenius.
H. Newsidler I.
desgl.
Jobin.*
Krengel.*
desgl.*
Hainhofer.
Krengel.*
desgl.*
Rudenius.
Fabricius.
Krengel.*
desgl.*
Fabricius.
desgl.
Manch. Mnscr. 266.
Ueckcl, Discantltb.
Fabricius.
KrengeL*
KreneeL*
Naukleros.
Orlandus
Lassus.
Paul Wust.
Orlandus
Lassus.
IHenningius
jWinstmann.
Hassler.
\ Jacob
/ Regnart.
}
Gregor
Lange.
Fabricius.
H. Newsidler I.
Fabricius.
H. Newsidler I.
Jacob
Regnart.
Valentin
Haussmann.
L. Senfl.
Ott's Liederbuch.
1544. Nr. 49.
Tenor im Lieder-
buch b. Amt von
Aich. 1518.
O. L.: 5 stimm. Lie-
der. 1583. Nr. 26.
65 teutsoh. Lieder,
gedr. bey Schöffer.
Nr. 17.
Forster'sLiederbuch
1549. L 76.
O. L.: 5 stimm. Lie-
der. 1582. Nr. 12.
N. t. Gesänge. 1596.
V. Hassler.
\ Regnart: Tricinia.
/ 1593. Nr. 26.
}GregorLange : Neue
teutsch. weltl. Lied.
&3v. 1598. Nr. 13.
Jricinia. 1593. Nr.
' 21 V. Regnart.
Val. Haussm. Neue
artige und liebl.
T&ntzei4 v. 1598/
1600.
Oeglin's Liederbuch
1512. Nr. 34.
326
Ernst Radecke,
Liedanfang.
Laiitenbearb«itang.
Komponist.
Ausgabe dsr Ltedor im
Yokalsatz.
235. Lieb ist subtil, fürt gfer-
lich.. .
236. Lieb kann alles Überwinden...
237. List und Neidt. . .
238. Lucretia. . .
239. Mag ich hcrtzlieb erwer-
ben . • .
240. Mag ich unglück nicht
241. Mag nicht
Schoß..
aus Venus
H. Newsidler I. T. Sporer.
242.
243.
244.
245.
246.
247.
248.
249.
250.
251.
252.
253.
254.
255.
256.
257.
258.
259.
260.
261.
262.
263.
264.
265.
266.
267.
268.
269.
270.
271.
Mancher nach Reichthumb
freyet. . .
Mancher wünscht im gro-
ßes. ..
Man sieht nun wohl. . .
Man spricht waz got zusam-
men . . .
Maria zart. . .
Mein Aup;entro8t. . .
Mein einiges A.
Mein Euglein weinen, mein
hertz muß seuffzen . . .
Mein fleiß und muhe...
Mein freud allein. . . .
Mein gemüth ist mir ver-
wirret. .
Mein gmut und geblut. . .
Mein hertz allzeyt hat
groß. . .
Mein hertz hat sich mit
lieb...
Mein hertz hat ihr doch . . .
Mein hertz ist frisch. . .
Mein hertz ist frisch, mein
gmüt ist. . .
Mein hertz mir lieb verkün-
det. . .
Fuhrmann.
Dresd . Mnscr.M.297 .
Fabricius.
Ochsenkhun.*
H. Newsidler L
Fabricius.
Kudenius.
Ochsenkhun.*
Fabricius.
Heckel, Discantltb.
Schlick.
Fabricius.
II. Newsidler I.
desgl. I.
desgL II.
Fabricius.
Gerle 1532/37/46.
Münch. Mnscr. 1512.
desgL
H. Newsidler IL
M. Newsidler.*
Ueckcl, Discantltb.
Ochsenkhun.*
Münch. Mnscr. 1512.
desgl.
Dresd.MnscT.M. 297.
Heckel,D.u.T. Stb.
H. Newsidler II.
Heckel, D.u.T.Stb.
H. Newsidler I.
desgl.
Münch. Mnscr. 1512
Fabricius.
desgl.
M. Newsidler.
Fabricius.
Lud. Senfl.
Lud. Senfl.
Valentin
Haussmann.
Jobst von
Brand.
}
Paul Hoif-
heymer.
Ludw. Senfl.
Heinrich
Isaac.
Hassler.
65 1. Lied, gedruckt
bey Schöffer. Nr.40.
Ott's Liederbuch.
1 534. Nr. 48.
Forster, Liederbuch.
1549. L 102.
V.H. : NeueUebl.Me-
lodieen unter neue |
teutsch. weltL Text»
1598/1600. Nr. 25.
iForster's Lieder-
buch. 1549.L289.
iForstcr's Lieder-
buch. 1549. L 101.
[ott's Liederbuch.
1544. Nr. 3.
Hassler : Lustgarten.
JohanWenck. ' Forster's Liederbuch
! 1549. I. 85.
Forster's Lieder-
buch. 1549. 1. 7S.
Dafi deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 327
Liedanfang.
Lautenbearbeitnng.
Komponist.
Ausgabe der Lieder im
Yokalsatz.
273. Mein herts mit schmertz. . •
173. ^ -
2'4. Mein junges Leben hat ein
endt. . .
275. Mein lieb ist weg. . .
27t». Mein M. ich hab. . .
277. Mein selbs bin ich nit
gwaltig mehr...
278.
279.
[280. ^ -
2S1. Metzkin Isaac. . . .
282. Mir habe ich gentzlich mit
begier. .
283. ^ - ^
281. Mir ist ein feins brauns
Magetlin gefallen in mei-
nen sin. , .
285. Mir wurd untrcw getheylet
mit. . .
286. Mit großer begier zu dir. . .
287. Mit lieb bin ich umbfan-
gen....
288. Möcht es gesein . . .
289. Muß den die Treuwe mein. . . .
1290.
291. Muß denn mein treuw. . . .
292. Nach lust hab ich. . . .
293. Nach meiner lieb viel hun-
dert Knaben trachten. . .
294.
295. Nach willen dein
296.
297.
298.
299.
300. Nie noch nimmer . . .
Fabricius.
desgl.
desgl.
Schlick,
desgl.
Ochsenkhun.*
desgl.*
Münch.Mnscr. 1512.
desgl.
Schlick.
Denss.*
Kudenius.
M. Newsidler.
H. Newsidler I.
Rudenius.
Hainhofer.
Schlick.
Fabricius.2
Naukleros.
Fabricius.
Schlick.
KrengcL*
desffl.^
Gerle, 1532/37/4H.
Heckel, Disc. u. Ten.
Lautb.
H. Newsidler. I.
desgL I.
desgl. IL
H. Newsidler I.
Tenor im Liederbuch
gedruckt bei Amt
von Aich.
SteffanZirler.
It ..1™ G««fl iForster's Liederb.
jLudw. Senfl. , J jjj jO. 1549.
I
Lconhard
Lechner.*
Mathias , 65 t. Lied. gedr. bei
Qreites.
Valentin
Schöffer. Nr. 11,
Val.Haussm. N. t. w.
Haussmann. L. ä 5 v. 1 594. Nr. 1 5.
{Valentin
Haussmann.
Jacob
Regnart.
Paul
Hoffheymer.
} Val.Haussm.: Neue
lieb. Melodieen.
1598/1600. Nr. 7.
Tenor im Liederbuch
Amt von Aichs.
J. Regnart : Tri-
cinia. 1593. Nr. 43.
Oeglin's Lieder-
^ buch. 1512. Nr. 26.
Tenor im Liederbuch
von Arnt von Aich.
* Dieses Lied steht als Nr. 12 in Lechners »Neuen lustigen teutschen Liedern nach
art der welschen Canzonen«, wie aus dem Verzeichniss bei Goedeke: Grundriß zur Ge-
«ehichte der deutschen Dichtung, II. Aufl. 1886, Bd. II, S. 52, Nr. 6 zu ersehen ist.
£s Ist offenbar dasselbe wie die obigen, da es sonst nicht vorkommt und Denss ja
Leekner als Komponisten angiebt. Ich habe es jedoch nicht vergleichen können, daher
liabe ich das Original oben nicht angegeben.
2 Fabricius hat den Zusatz : Caspari Husmanni ; das ist wohl ein Versehen !
328
Ernst Radeeke,
Liedanfang.
t
LaatenbearlMitiuig. Komponist.
1
Ausgabe der Lieder im
Tokalsata.
301. Nun bin ich einmahl frey. . .
WaisseliuB. * \
<
302.
Fabricius.
303.
304.
desgl.
Hainhofer.
>Jac.Regnart.
Regnart: Tricinia.
' 1593. Nr. 3.
305.
Naukleros.*
306.
desgl.
307. Nun fall du lleiff . . .
Fabricius.
308. Nun grüß dich Qott du mein
Gerle, 1532/37/46. , Sixtus Diet-
Forster's Liedeib.
Drusserlein. .
rieh.
1549. L 82.
309.
Naukleros.
310. Nun hab ich all mein tag
Schlick.
gehört..
311. Nun hab ich doch einmal
Fabricius. J. Regnart
Regnart: Tricuia.
erlebt....
1593. Nr. 7.
312. Nun reiff nun reiflf du küh-
desgl.
ler Tauw..
v_/
313. Nur nerrisch sein ist mein
H. Newsidlerl.
Sixtus Diet-
65 t. Lied, gedr.b«
Schöffer. Nr. 34.
monier..
rich.
314. O auffenthalt meines Le-
Rudenius.
Hassler.
N.teut8ch.Gc8,1596.
bens . • .
Ni-. 6. Haasler.
315. 0 du armer Judas. . .
Gerle, 1532/37/46.
316. Offt wünscht ich ihr. . . .
Krengel.*
1 Gregor
1 Lange.
317.
desgl.
318. Ohn dich muß ich mich
Denss.*
Regnart-
Regnart-Lechner, N.
aller Freuden massen. . .
Lechner. t.L.ä5.v.l579.Nr.l.
319.
Krengel.*
l \
320.
Krengel.*
[Jacob Reg- 1 Regnart: Tncinia.
321.
Waisselius.
f nart. ( 1593, Nr. 50.
322.
Fabricius.
1
)
323. 0 Nachbaur, lieber Robert,
Hainhofer,
mein . . .
324. On tugent frcyd die lang
H. Newsidler I.
S. Dietrich.
65 t. L. gedr. bei
nit wert..
Schöffer. Nr. 49.
325. 0 Venus banth...
Intabul. de Lauto.
1507.
326. 0 weiblich art
H. Newsidler I.
Ueinr. Isaac. Forster's Liederbuch
1 1549. L lOS.
327. Pacientiam muß ich han...
Gerle, 1532/37/46.
Ludw. Senfl. Forster'sLiederbiich
1549. L 104.
328. Proficiat jr lieben herrcn. . .
329. Recht sehr hadt mich yer-
M. Newsidler.
Naukleros.
wundet. .
330.
Naukleros.
331. Regina. . .
Fabricius.
332. Rosina edler schaze mein. . .
Hainhofer.
333. Rosina wie war dein Ge-
Fabricius.
•
stalt.. .
1
334. Sag, gib mir rath, zart
Rudenius.
Vnl. Hauss-
V.H.T.L.^5v.l594.
schöns Jungfrewlein
mann.
Nr. 17.
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 329
Liedanfang.
Laotenbearbeitung.
Komponist.
Ausgabe der Lieder im
Yokaleatz.
}35. Sagt mir Jungfraw rech-
ter....
»6.
337. Schöns lieb ich thu dir
klagen...
338. Schöns lieb mich krenckt
der massen..«
339. Seidt ihr der Schwanen-
dreher. . .
340. Sie acht vielleicht mein trew
fOr nicht..
Krengel.*
Krengel.*
Fabricius.*
Rudenius.
Hainhofer.
Fabricius.
311. Sibilla zart schöns frawen Hainhofer.*
bildt... I
342. Siehet ihr mein Hertz (?) Naukleros.
343. Sie ist die sich heldt. . . ' Heckel, Discantltb.
34i Sie ist mein glück, wenn H. Newsidler. I.
ich mich schick..
345. Sih lieb ich muß dich las-
sen..
346. Sih Paurenknecht, laß Trös-
lein stehn
347. Soll sieh den in lieb. . .
348.
349.
350.
351.
352.
So sehaid ich nun mit
schmerz...
So soUtu doch mein Liebgen
sein . .
So wünsch ich jr ein gute
nacht. .
353.
354.
355,
356.
357.
358. Tandemaken . . .
359. Tannemack
3«0.
Ochsenkhun.*
desgl.*
Dresd.Mn8or.M.297.
Hainhofer.
Dresd.Mnscr.M.297.
Fuhrmann.*
H. Newsidler I.
Ochsenkhun.*
Fabricius.
Hainhofer.
desgl.
Naukleros.
desgl.
Intabul. d. L. 1507*
H. Newsidler I.
desgl. n.*
Jacob Reg-
nart.*
laussmann.^
Leonh. Lech-
ner.
Johannes
Mair?3
P. Wfist.
Hans Kilian.
Ludw. Senfl.
Val. Hauss-
mann.
E. M. A.*
]Mar. Wolff
> od. Thomas
j Stoltzer.
Francesco
Spinacino.
P. Hoffhey-
mer.
} Regnart: Tricinia.
1593. Nr. 44.
Lechner , Teutsche
Villanellenä3.1590.
Nr. 7.
05 t. Lied. gedr. b.
Schöffer. Nr. 27.
Otfs Liederbuch
1544. Nr. 24.
Haussmann: Neue
liebl. Melod. 159S.
Nr. 3.
\Forster's Liederb.
/ 1549. I. 130.
* Bei Regnart beginnt das Lied: »Sagt mir Jungfrawe wohere, wann ich euch seh,
mein hertz mir wird so schwere«..., die Musik stimmt aber mit den Bearbeitungen bei
Knngel genau überein.
^ Bei Fabricius steht : Gaspari Husmanni.
^ Das Lied trä^ in der Hds. den Zusatz: Johannes Mairs Dantz. Lied so Herr
Joh. Mair seiner budfschafft Jungfer : Sibilla Weissingerin zu ehren componiert.
* Elias Mertelius Argentinensis.
330
Ernst Radecke,
Liedanfang.
Lantenbearbeitnng.
Komponist.
Ausgabe der Lieder ia
VokalnU.
361. [To] Andernaken up dem
Rhin . . .
362.
363.
364.
365.
366.
367.
368.
369.
370.
371.
372.
373.
374.
375.
376.
377.
378.
379.
380.
381.
382.
383.
384.
385.
386.
387.
388.
389.
Tröstlicher lieb ich mich . . .
Und wer der Winter noch
so. . .
Unfall wan ist deins . . .
Unglück ist widerfahren..
Ursach hab ich eu klaeen . .
Venus du und dein K.ind .
Vertrawt ehliches Bildt. . .
Viel hinderlist...
Vil glückh man spricht. . .
Von edler art...
Von (?) ehrlos ist d. . . (?)
[unleserlich]
Von godt ist myr nach
Hertzen begir. . .
Von nöthen ist, das ich iezt
trag . . .
390.
391.
392.
393.
394. Wan ich den gantzen Tag. . .
395.
396.
397.
398.
399.
400.
401.
Wan ich lang klag alle
tag...
Wann ich des morgens
früh. . .
Was seltzam ist man auser-
list. .
Was würt es doch des Wun-
ders noch . . .
U. Newsidler I.
desgl.
desgl.
IL*
II.*
Oerle, 1532/37/46.
Heckel,D. u.T.Ltb.
H. Newsidler I.
desgl. I.
desgl. II.
M. Newsidler*
Oehsenkhun*
Münch. Mnscr. 266.
Oehsenkhun.*
Heckel, Discantltb.
Münch. Mnscr. 1512.
desgl.
Hainhofer.
Rudenius.
Waisselius.
Naukleros.
Fabricius.
Schlick.
Hainhofer.
Heckel,D. u.T.Ltb.
H. Newsidler L
desgl. I.
desgl. IL
Naukleros.
Fabricius.
Waisselius.
Fabricius.
desgl.
Naukleros.
Hainhofer.
Fabricius.
H. Newsidler I.
M. Newsidler.
Oehsenkhun.
Gerle, 1532/37/46.
HeckeliD. u.T.Ltb.
H. Newsidler I.
desgl. IL
JacobObrecht
Alex. Agri-
cola.
Paul Hoff-
' heymer.
Gregor
Petsehin.
Ludw. Send.
VjacRegnart.
Val. Hauss-
mann.
Georg
Schönfelder.
.J. Regnart.
J. Regnart.
H. Brättel.
I
Ludw. Senfi.
.Forster's Liederb.
1549. L 123.
Ott's Liederb. 1534
[Nr. 50.
\Reg^art: Tricinia.
/ 1593. Nr. 67.
Haussmann: N. t.
w. Canzonen. 1596.
Forster's Liederb.
i 1549. L 35.
[Regnart: Trieinit.
1593. Nr. 9.
Regnart: Tridnia.
1593. Nr. 23.
65 t. L. gedr. bei
Schöffer. Nr. 2ß.
)
Forster's Liederb.
1549. L 24.
Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des 16. Jahrh. 33}
Lieduifang.
LaatenlMarlMitiiiig.
Komponiit.
Ausgabe der Lieder im
Yokalaatz.
Fabricius.
Hainhofer.
Schlick.
Kudenius.
Krengel.*
des^l.*
Waisselius.
Waisselius.
Schlick.
402. Was würt es doch deswun- M. Newsidler.*
ders noch . . .
403. - Wecker Tenorlautb.
4<M. - Manch. Mnscr. 266.
4115. - Münch. Mnscr. 1512.
406. - ! desgl.
407. Was soll ich aber heben ! Hainhofer.
an. . . (überschrieben : Zie-
hen wir in Portugal.)
408. Was woUn wir auf den
abendt. . .
409,
410. W^egwart dein art. . .
411. W^elcher Jungfrawen lieb
wil erlangen
412. Wenn ich gedenk der Stun-
de..
411
414.
415. Wenn ich der Zeyt. . .
416. Wer gnad durch klaff. . .
417. Wer mir mein glück nit , Rrengel(hdschr.hin-
ffönnt.. I zug.).
41S. Wer soll mich trautelen (?) ' Fabricius.
419. Wer wenig behell und vil | H. Newsidler I.
verthut. . |
\ 410. Wer wird denn trösten Waisselius.
mich . . .
I 42j. Wie kann ich frölich wer-
den...
421 Wie kannstu so listig sein . .
423. Wie möcht ich fröhlich wer- M. Newsidler.
den ... I
424. Wie nach einer Wasser- ! Dresd.Mnscr.M. 297.
quelle..
425. Wie schön bluet uns der
meyn . .
426. Wie will (wirdt) mir dan ge-
schehen . .
427.
42S. Wie wol sich viel zum wi-
derspiel . .
429. Willig und trew...
•Ludw. Senf.
I-J. Regnart.
Forster's Liederb.
f 1549. L 24.
Heckel, Tenorlautb.
Rudenius.
Fabricius.
Fabricius.
Naukleros.
Rudenius.
430. Wiltu zu dir mein gunst. . .
GerIe,Musica u.Tab.
Rudenius.
desgl.
431. Wil uns das Mägdlein nim-
mer haben ... |
432. Wir lieben sehr . Dresd.Mnscr. M.297.
433. Wo bleibt dein Hertz Rudenius.
J. Regnart.
Regnart: Tricinia.
1593. Nr. 55.
Tenor im Liederb. v.
AmtvonAich. 1518.
Regnart: Tricinia.
1593. Nr. 16.
GeorgForster
Regnart-
Lechner.
Regnart-
Lechner.
V. Hauss-
mann.
Forster's Liederbuch
1549. L 42.
Regn.-Lechn. N. t.
L.ä5.v.l579.
Regn.-Lechn. N.t.L.
ä5. V. 1579. Nr. 22.
Haussmann: T.w.L.
ä5. 1594. Nr. 8.
332
Ernst Radeoke.
Liedanfang.
Lantettbeaibeitang.
Komponist.
Ausgabe der Lied«
YokftlMti.
434. Wo iemandt lust zum bulen
Denss.*
L. Lechner. ^
hat..
■
435. Wol kumpt der May...
TT. Newsidler I.
1 Wolff
[Förster'« Lieder
436.
desgl. I.
1 Grefinger.
1 1549. I. 66.
437. Wollauff gut Gsell von hin-
Fabricius.
nen..
438.
desgL
439. WoU auff mein junges Hertz
desgl.
440.
desgl.
1
441.
Naukleros.
442. Worumb seindt die Studen-
Fabricius.
ten..
443.
desgl.
444.
desgl.
445.
Dresd.Mnscr.M. 297.
446. Wo soll ich hin...
desgl.
447. Wu Bol ich mich hinkeren
Gerle, 1532/37/46.
G. Vogelhu-
Forster'sLiederbuch
ich..
ber.
1549. U. 57.
448. Wyr trinken alle gerne... , Fabricius.
449. Zart schöne fraw geaenek. . .
Heckel,D. u.T.Stb.
450.
H. Newsidler I.
451.
desgl. I.
i.
452. Zucht ehr und lob. ... ! TT. Newsidler I.
\Paul Hoff-
/ heymer.
\ Forster's Liederb. i
/ 1549. I. 30.
1
453.
Manch. Mnscr. 266.
1 Nach Goedeke Grundriss IL Aufl. S. 52 Nr. 6 , findet sich dies Lied in »Neue
teutsche Lieder nach Art der welschen Cansonen« 1586. Nr. 2.
Musikbeilagen. I. 333
„Ich klag^ den Tag and alle stundt'*
aas „Ein newgeordent künstlich Lautenbuch*' Teil I. von Hans Newsidler. 1586. Nur nb erg.
1)
,,Ich klag den Tag und alle stundt"
[im Abzug] aas Manuscript N9 1512 d. k. Staatsbibliothek München.
jf « j j j;]j3'TO
<^j;j3J|j^UiiJj^^^^^
' ' *»< r die B'-dfutaiii; drs Kreuzes k. S 82.93.
334 n.
„Ich armes Keuzlein kleine'f Ludwig Senfl(?).*)Au8 dem Liederbudivon Joh.Ott. 1544.
Partiturausg^abe Ton Eitner und Kade
Pablioationen der Oesellsokaft für Mnaikforechuig^ Bd. I. n.m. ]I.Bd. S.158.
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lei-
.ne, bringt mir
gar man
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Qravs.
. . . . .ne» bringt mir ....- gar man ... chen
„Ich armes Kenzlein kleine'! Stefifan Mahn(?).*>
Aus dernnTabolaturbuch aufPdie Laatten'' Ton Seabastian Ochsenkhnn. tftS8.
i) Ob Senfl oder Mahn der Komponist des Liedes ist, mnss nnenf s<4ileden bleiben. Jedoch
neige ich zu der Ansicht, dass Forster Recht hat. wenn er Senfl annimmt. 0ch8enkhnn,de8sen
BfHrbeitunsr def* Liedes später ist, kann sirh geirrt haben
m. 335
„Ich kla^ den tag und alle stundt^
Ans dem Dueant- und dem Tenor-Lautenbnch YonWolff HeckeL 1566. 1582.
Disoant-;
Laute.
Tenor-
Laate.
f^^ffp
Lodovico Zacconi
als Lehrer des Kunstgesanges.
Von
Friedrich Chrysander.
I.
Über die Gorgia oder die Koloratur, und über die freien
Verschönerungen im Vortrage des Gesanges.
Es liegt in der Natur der Musik und erklärt sich aus ihrer Ent-
stehung wie auch aus ihrer Aufzeichnung durch Schrift oder Druck,
daB bei ihr stets etwas Unausgesprochenes vorhanden ist, was keine
Au&eichnung wiedergeben kann und daher dem vortragenden Vir-
tuosen allein überlassen bleibt. Hiermit nach den Gesetzen des
künstlerischen Ausdruckes, im übrigen aber völlig frei schalten und
walten zu können, war von je her sein Privilegium.
Die Quelle hiervon ist der Gesang, und zwar ausschließlich.
Diejenige Ansicht, welche im Gesänge den Ursprung aller Musik
erblickt, ist in diesem begrenzten Sinne unzweifelhaft richtig.
Selbst aus den dunkelsten Zeiten fehlt es nicht an Urkunden,
welche, recht verstanden und in geschichtlichen Zusammenhang
gebracht, beides beweisen — sowohl den improvisatorischen Charakter
dieses Gegenstandes wie auch seine gesangliche Quelle. Jene Zeiten
Wer aber nicht weiter berührend, wenden wir uns sofort derjenigen
Periode zu, in welcher die Musik ihre erste allgemeine Aufblüthe
erlebte, dem sechzehnten Jahrhundert. Um die Mitte desselben
mehren sich die Versuche, das, was durch eine undenklich lange
Praxis bis dahin gereift war, in schriftlichen Erläuterungen zu ver-
anschaulichen, bis jene Versuche sich dann im letzten Jahrzehnt dieses
Jahrhunderts zu formlichen Lehrbüchern verdichten. In denselben
ist die Praxis der Sänger und auch der-Instrumentisten für die Mu-
sik jener Zeit nach allen Seiten hin vollständig aufgedeckt. Das
einzige, was dabei noch fehlt, ist nur dies, daß es bekannt wird.
Eine erkünstelte Blindheit hat bisher verhindert, die Augen offen
auf den Gegenstand zu richten. Sobald wir alte eingewurzelte Vor-
urteile als das erkennen, was sie sind, wird uns jene Praxis kein
1S91. 23
33S ^'' CJhrysander: Zacconi über Qorgia,
Bäthsel mehr sein. Unsere Praxis dieser älteren Musik wird dabei
freilich arg in's Wanken gerathen, zum Theil sogar dahin stürzen.
Aber was schadet das? Tritt doch etwas Besseres an ihre Stelle.
Indem ich mich anschicke, den Gegenstand — zunächst soweit
er das sechzehnte Jahrhundert betrifft — im Zusammenhange darzu-
stellen, wähle ich zum Anfange den LodOYico Zacconi» einen der
besten Sänger und Tonlehrer jener Zeit. Seine Mittheilungen sind
zur ersten Einfuhrung in ein dunkles Gebiet, wo uns noch Weg
und Steg fehlen, ganz besonders brauchbar. Denn Zacconi beleuchtet
die Sache von allen Seiten, prägt dieselbe den Unkundigen durch
kräftige Gedanken und eine schulmeisterliche Breite nachdrücklich
ein und formt seine vielen Musikbeispiele absichtlich so, daß sie den
Schülern als erste grundlegliche Übungen dienen können.
Sein großes theoretisches Werk
Prattica di Musica vtile et necessaria si al Composi-
tore per comporre 1 Canti suoi regolamente, si anco
al Cantore per assicurarsi in tutte le cose cantabili
erschien zuerst 1592 in Venedig in vier Büchern, und sodann eben
daselbst 1596 als bloße Titel- Ausgabe. Zacconi, der um die Mitte des
sechzehnten Jahrhunderts geboren wurde, gab noch 1622 im hohen
Alter einen andern Band unter dem Titel »Prattica di Musica c her-
aus, welcher den zweiten Theil des Werkes von 1592 bilden sollte,
obwohl der Autor solches nur gelegentlich im Texte, aber nirgends
auf dem Titel angegeben hat. Auch diese zweite Schrift zerfällt in
vier Bücher.
Wie sehr jener frühere Band von 1592 darauf berechnet war,
auch den gesanglichen Theil der Kunstpraxis darzustellen, er-
hellt schon aus dem Titel, der den Sänger ebenbürtig neben den
Komponisten stellt. Verschiedene Kapitel des ersten Buches be-
handeln gesangliche Verhältnisse, nicht in methodischer Folge, son-
dern meistens bunt durch einander. Dasjenige dieser Kapitel, welches
für uns einen ganz besonderen Werth hat, ist zum Glück weitaus das
beste, ausfuhrlichste und geordnetste von allen. Mit diesem Kapitel
die Darstellung zu beginnen, wird daher in jeder Beziehung vor-
theilhaft sein.
Alles weitere, was Zacconi noch in reicher Belehrung über den
Gesang mittheilt, lasse ich in dem zweiten Abschnitte folgen« Und
aus dem Ganzen wird erhellen, daß der außerordentliche Werth seiner
Mittheilungen ausschließlich die Musik seiner Zeit betrifft; denn weder
für die Vergangenheit noch für die in seinen Tagen beginnende neue
musikalische Zukunft findet sich bei ihm eine Ausbeute. Zacconi
Koloratur und AuBschmüokung des Gesanges. 339
ist damit der beste Zeuge der von ihm selber geübten Kunstweise,
an deren Erhellung uns hier auch zunächst gelegen sein muß, näm-
lich des kontrapunktisch-mehrstimmigen Gesanges.
Das erwähnte Kapitel, welches sich ausschließlich und ausfuhrlich
mit dem in der Überschrift genannten Gegenstande beschäftigt, ist das
66ste des ersten Buches (Folio 58 bis 76), und der Verfasser legt ein
solches Gewicht auf den Inhalt desselben, daß er dem Titel seines
Buches die Bemerkung beifügt, es gewähre endlich auch noch Beleh-
rung über die Art, wie man eine Stimme mit anziehenden und zur
Zeit beliebten Beitönen ausschmücken könne. (Ultimamente sHnsegna *
ü modo di ßorir una parte can vaghi et moderni accenti.) Dieses Ka-
pitel ist es, welches hier in der Übersetzung nach Text und Musik
vollständig mitgetheilt wird.
Außer den be^efügten Anmerkungen wird dasselbe einer weiteren
vorläufigen Erläuterung nicht bedürfen, um verständlich zu sein,
da die Übersetzung hoffentlich so eingerichtet ist, daß sie zugleich als
Erklärung dienen kann. Aber der Name, welchen Zacconi dem
Ganzen beilegt, muß noch besprochen werden, denn dieser ist auf-
fällig. Unser Autor spricht beständig von der Gorgia^ indeß nicht,
um ein neu erfundenes Wort einzuführen, sondern nur, um einen
alten passenden Volksausdruck zu erhalten. Diese Sangesweise wird
vom Volke gewöhnlich Gorgia genannt, sagt er Seite 338. Der Aus-
sprach deutet ebenso wohl auf ein hohes Alter des Namens, wie
auf eine allgemeine, in alle Schichten gedrungene Kenntniß dieser
Kunstweise. Der Name ist später ungebräuchlich geworden; bei
L. Penna (Li primi albori musicali, Bologna 1684 p. 49) heißt er
Gorga und bedeutet Triller. Von den Lexikographen wird sein
musikalischer Sinn wenig beachtet, sondern gorgia oder gorga nur
als Schlund oder Gurgel (lat. guttur] erklärt; Castelli (im Lexicon
um 1730) hat noch ntirata di gorgia^ ein Trill oder Colloratur in
der Music, chromata, artificiosa modulatio«, aber im «Vocabolario
degF Accademici della Crusca« von 1763 findet man überhaupt nichts
Musikalisches mehr unter gorgia i). Der alte Sinn erhielt sich noch
eine Zeitlang in dem Verb gorgheggiare^ welches Castelli erklärt als
«einen Triller schlagen, colorirena, und der Vocabolario der Crusca
von 1763 deutlicher als »termine de mtmci, e vale ribaitere cantando
mezzo in gola i passag gi (lat. vocem crispare)(t, womit auf die Kehle
^j Die 1840 begonnene neue Auflage des Vocabolario der Crusca, von welcher
der 1. Band 1863 fertig war, ist bis 1889, also in 50 Jahren, noch nicht zum G ge-
kommen. Wer noch in diesem Jahrhundert geboren wird, hat daher keine Aussicht,
die Beendigung desselben zu erleben. Diesen thätigen Akademikern sollte auf der
nächsten Weltausstellung ein Ehrendiplom für besonderen Fleiß zugebilligt werden.
23*
340 ^'' (^hiyB&nder: Zacconi über Oor^a,
als den eigentlichen Sitz dieser Passagen-Bildung hingewiesen wird.
Die Crusca fügt zwei bezeichnende Beispiele aus bekannten älteren
Schriften hinzu. AUegri schreibt (Verona, 1605): Quando e coniatan
la novella d! Orfeo poeta GrecOj e dt lui dicevano, che sottämente gor-
gheggiando dl dilicato suon de ribechino diminuito in std bordone, e si
maneva dietro gli animaii salvatichL Lorenzo Lippi sing^ in »Malman-
tue racquistato« (Firenze, 1688):
E cht Galeno, e il medico Avicerma
In musica metiean le tnedtcine^
' Perö se il corpo sempre a cht le piglia
Gorgheggia, e canta, nan e maraciglia.
Beide Citate sind lehrreich : das erste vereint mit dem subtilen Gor-
gheggiren der Stimme das Diminuiren des Instrumentes; das andere
deutet auf die gegensätzliche Thätigkeit des Halses (gorgheggiare,
wobei nur Ton in Betracht kommt) und des Mundes (cantare, wobei
Sprachlaute mitwirken) . deren Vereinigung erst den wirklichen vollen
Gesang erzeugt. In einer noch früheren Zeit bezeichnete man diesen
Gegensatz als Singen und Jubiliren. Der Name Gorgia weist also
geradeswegs auf den ursprünglichen Sinn dieses stimmlichen Vor-
ganges und ist durch keinen andern völlig zu ersetzen. >)
Bei den wichtigsten Stellen der folgenden Übersetzung ist das
italienische Original mitgetheilt, und zwar in Zacconi's Schreibweise.
Alles, was von der Übersetzung in eckigen Klammern steht, habe
ich der Deutlichkeit wegen hinzu gefügt. Ferner habe ich die zahl-
reichen Musikbeispiele, welche bei Zacconi ohne Ordnung und Über-
sicht hinter einander gedruckt sind, überschriftlich mit der Bezeich-
nung der betreffenden Stimme versehen, sowie mit Nummern. Eben-
falls ist die Vorschrift »Thema« und »Ausführung« von mir, wobei
beide Notenreihen genau und deutlich unter einander gesetzt sind;
über den Linien stehen jf t; [^ als Wegweiser, ohne indess überall mit
Sicherheit den richtigen Halbton angeben zu können. Durch alles
dieses ist der unschätzbare Werth und Nutzen jener Beispiele hoffent-
lieh noch eingänglicher gemacht.
Für mannigfache Beihülfe in dieser Arbeit bin ich den Herren
E. Langelütje, E. Geisler und Dr. Fleischer zu Dank verpflichtet.
i) Bei jedem Versuche, der Bedeutung und geschichtlichen Metamorphose
musikalischer Ausdrücke nachzugehen, ist die Wahrnehmung zu machen, daß
man überall rein auf eigene Hand arbeiten muß. Die vorhandene Musik-Literatur
st zu einem solchen Zwecke noch nicht einmal versuchsweise ausgebeutet Ein
Du Gange oder ein Lexicon musikalischer Bezeichnungen, die etymologisch, he-
grifilich und geschichtlich aus den Quellen entwickelt wären, unter Angabe der
Belegstellen, würde für die Musikwissenschaft eine große Wohlthat sein.
Koloratur und Ausschmückung des Gesanges. 341
Die Gorgia.
über die Ausführung der Koloraturen und den Gebrauch
der modernen Passagen.
(Che stüe si tenghi nel far di gorgia^ e delT uso de i
moderni passaggi.)
Von
LodOTico Zacconi.
hl dem Grade, ^vie das veraltet, woduich der künstlerische
Gebrauch die Dinge früher verschönert hat, in demselben Grade
werden durch emsiges Studium wieder neue Verschönerungen gefun-
den, denn die großen Genies kommen immer auf neue Schönheiten.
Und fürwahr, wer diese Sache wohl in's Auge faßt, der findet, daß,
wie sehr Etwas auch schon ein Mal verschönert worden sein mag,
man dennoch durch stetiges Nachdenken und viele Mühe neue
Schönheiten zu den alten hinzu fugen kann.
Um mich aber nicht weiter zu verbreiten über Dinge, deren Be-
schreibung nicht in meiner Absicht liegt, unterlasse ich es, von den
besonderen Verschönerungen zu reden , die in Folge der Bemühungen
der Kunst und der Natur zu Stande gebracht sind, und beschränke
mich zu sagen, daß die Musik immer schön gewesen ist und sich
noch stündlich mehr verschönert durch den Fleiß und das Studium,
woniit die Sänger sich darauf legen; die Musik erneuert sich nicht
[bloß] noch verändert sie sich vermittelst der Tonzeichen^ die stets die
gleichen sind, sondern durch die Verzierungen oder freien
graziösen Ausschmückungen und Accente der Sänger
macht man sie immer schöner erscheinen. (, . . dirö che
la Mtisica ^ siata hella sempre, et ogni hora piü per la diltffenza, et
per lo studio che et /anno % cantori si abellisce : la quäle non si rinoca,
osi muia per via delle ßffure, che sempre le sono duna sorte; ma con
k ffratie, et gtaccenti la si fa parer sempre piü hella,)
Diese Liebreize (vaghezze) und die Accente werden ^ervor ge-
bracht durch das Zertheilen und Brechen der Tonfiguren, so nämlich,
daß man alle mal in einem ganzen oder halben Takte eine Anzahl
Ton Noten anbringt, deren Natur es ist, rasch vorgetragen zu werden.
Der Vortrag derselben kann ein so großes Vergnügen bereiten, als
342 '^'- ^lury Sander : Zacconi über Gorgia,
ob wir wohl geschulte Singvögel hörten, die uns mit ihrem Gesänge
das Herz entzücken und dauernd befriedigen.
Solche Leute, welche die Fertigkeit und Fähigkeit besitzen, eine
so große Menge von Tönen im richtigen Zeitmaß und zugleich mit
der nöthigen Schnelligkeit auszufuhren, haben unsere Gesänge so an-
ziehend gemacht und thun es noch immer (fanno si vaghe le can-
tilene)^ daß jetzt Einer, der dieselben nicht vorträgt wie sie, den
Zuhörern wenig Befriedigung gewährt und von den Sängern gering
geschätzt wird. Diese Sangesweise mit ihrem Schmuck vrird vom
Volke gewöhnlich »GORGIA« genannt, welche denn in weiter nichts
besteht, als in einer Anhäufung und Sammlung von vielen Achteln
und Sechzehnteln, die unter irgend einem Takt-Theilchen vereinigt
sind; und sie ist von solcher Natur, daß man wegen der Schnellig-
keit, mit welcher so viele Töne zusammen zu ziehen sind, dieselbe
weit besser durch das Gehör lernt, als durch [ausgeschriebene] Bei-
spiele, und dies darum, weil man in die Beispiele nicht jenes genaue
Taktmaß l^en kann, wie es ein fehlerfreier Vortrag verlangt. (Questo
modo dt cantare, et queste taghezze dal Volgo communemente den chia-
mala Gorgia : la quäl poi non e altro che un aggregato, et collettume
dt motte Chrome, et Semichrome sotto quäl si voglia particella dt tempo
colligate : Et e di tal natura, che per la velocita in che si restringono
tante ßgure^ molto meglio sHmpara con Pudito che con gVessempij: et
questo perchd negV essempij quella misura, et tempo non si pud porre,
in che le hanno a esset e senza diffetto pronuntiate,) Sie beruht mehr
auf Takt und Maß, als auf Schnelligkeit, denn wenn man zu früh oder
zu spät am festgesetzten Ende ankommt, so hat die ganze Sache
keinen Werth mehr.
Zwei Dinge sind nöthig für den, der diese Profession ausüben
will, nämlich Brust und Kehle; Brust, um eine so große Mannig-
faltigkeit und Menge von Tönen bis zum vorgeschriebenen Ende
auszuhalten ; Kehle dann, um sie mit Leichtigkeit herzugeben. Viele,
die weder Brust noch Zwerchfell {ne petto neßanchoJhBheiij müssen
nach vier bis sechs Tönen abbrechen und auf halbem Wege endigen,
oder wenn sie gleichwohl nicht aufhören, sind sie doch so sehr mit
der Anstrengung beschäftigt, aufs neue Athem zu holen, daß sie
nicht im nöthigen Tempo bleiben können. Andere wieder, mit
mangelhafter Kehle, trennen die Töne nicht stark genug von ein-
ander ab, das heißt, sprechen sie nicht so gut aus, wie es bei der
Gorgia dar Fall sein sollte.
Einige pflegen sie leicht zu haben, und das sind Jene, denen
die Natur sie zeigt und darreicht. Einige Andere haben sie mit
Mühe, und das sind Jene, welche sie nur durch anhaltendes Studium
Koloratur und Ausschmückung des Gesanges. 343
erworben haben. (Alcuni la sogliano haver facile^ et questi sono
qiteUi che la natura gli Vinaegna et porge : Alcuni altri Vhan con fa~
ticaj et questi sono quellt che per lo studio grande n^han fatto acquisto.)
Die Enteren werden immer mehr Anmuth zeigen und werden mehr
ergötzen, als die Letzteren; aber Jene, denen die Natur sie gewährt
und die Kunst sie anpaßt, sind glücklich vor allen Andern in dieser
Profession.
In allen einzelnen Künsten macht derjenige mit der Zeit großen
Fortschritt, welcher sich ganz und vollständig damit beschäftigt. Aber
müht Jemand sich in flieser Kunst ab, so ist die harte Mühe alle
mal vergeblich, wenn die Natur ihm nicht ein wenig hilft. Daß
dies wahr ist, sehen wir deutlich, denn der, gegen den die Natur so
gütig und liberal gewesen ist, wenn er auch vom Gesänge eigent-
lich wenig verstehen mag, nimmt oft dem ersten, in den besten
Kreisen verkehrenden Sänger den Platz weg, und das blos des-
halb, weil diese [natürliche Begabung] eine vor allen andern aus-
gezeichnete Eigenschaft des Sängers bildet. Obgleich nun jeder gern
diese Liebreize im Gesänge hört, so muß der Sänger doch Acht dar-
auf haben, daß die Leute nicht über ihn lachen und deshalb zu-
nächst alle größeren Fehler und jene abscheulichen Manieren, die
oben [in den vorher gehenden Kapiteln] erwähnt sind, sich abge-
wöhnen, jenes zwitschernde Singen (gorgheggia) besonders; denn der
Stümper wird von den Zuhörern mehr beobachtet und betrachtet,
ab der geschickte Sänger, welcher sie durch einen schönen, mit an-
muthigen Manieren ausgeschmückten Gesang ergötzt.
Wer die Gorgia lernen will, der muß darauf bedacht sein, sie
so gut wie möglich zu machen, oder sie lieber ganz fort lassen, wenn
er sie nicht ordentlich machen kann, weil es keine Sache giebt, die
mehr des richtigen Zieles und vollkommenen Maßes bedarf, als
diese; denn jeder kleine Fehler und Mangel, wenn man ihn merkt
und kennt, verdirbt das, was sonst schön an sich ist, und anstatt zu
gefallen und zu ergötzen, macht es satt und überdrüssig, erregt Ekel und
beleidigt. Wer daher nach Gebühr und Vernunft seine Ehre retten
will, der muß von Anfang an ängstlich bemüht sein, die Gorgia mit
Grazie und gut zu machen, damit er nicht Spott und Hohn erntet.
Jedes mal also, wenn der Sänger sich prüfen will, ob ihm die
gelernten Gorgien, gewöhnlich Passagen genannt, gelingen, so thue
er dies zuerst, wo er mit Andern in Kompagnie singt. Jene aber,
die keine Kollegen zur Seite haben, müssen sich prüfen, ob alle ihre
Töne auch eine vollkommene Harmonie bilden, und so viel müssen
sie sich auf diese Art üben, daß sie sich nachher mitunter können
öffentlich hören lassen. Aber weil der, welcher so verfährt, über sich
. j
344 ^'' Cl^Tysander: Zaoeoni über Gorgia,
selbst Sichter sein muß, und ^eil nun der Mensch, wenn er sich
selbst beurtheilt, nur zu oft, um nicht zu sagen immer, irre geht,
so ist es gut, um eine aufrichtige und gerechte Meinung zu ver-
nehmen, daß man sich bei treuen Freunden erkundigt, ob die Gor-
gia, die man macht, Vergnügen erzeugt und ob sie gut tönt; denn
Viele bilden sich ein, sie machen zu können, leisten aber so gut wie
gar nichts.
Ich habe sogar Einige gesehen, die mit dem Zittern der Stimme
und mit dem Bewegen des Kopfes sich einbilden, die Gorgia zu
machen, und sie machen sie doch nicht, und wenn es ihnen Jemand
sagt, so zwingen sie sich es besser zu machen, und sie machen es
schlechter: so daß die Zuhörer noch lieber sie hören würden, wenn
sie die Melodien sängen wie sie dieselben vorher gesungen haben,
denn so schlecht mag man sie nicht vortragen hören.
Deßhalb sage ich, daß der Mensch vielen Steinen des Anstoßes
ausweichen und vor vielen Mißbräuchen und Irrthümern bewahrt
bleiben kann, wenn er sich von Andern beurtheilen läßt und gern
auf ihre Meinung hört.
Das Schönste und das Vollkommenste, was ein kunstgerechtes
Koloriren erfordert, ist Takt und Zeitmaß. Diese sind es, welche
jene Gruppen und ganzen Beihen von Noten schmücken und
würzen, und wer ohne Maß und Takt dieselben dahin fuhrt, der
verdirbt wieder das, was er sonst mit der Goi^ia an Schönheit stiftet,
und erntet schließlich keinen Dank. (La piü beüa et perfetta cosa
che nel gorgheggiare si ricerca, d il tempo et la misura, ü quäle tutto
quel raccolto et aggregato dt ßgure oma et condittce, et cht ftiori dt
queeta misura et tempo le guida d mena; cioehe con essa di hello se-
mirui, senza veruna gratitudine perde nel fine.)
Dieser Punkt ist also der schwierigste, den es in der Gorgia
giebt, und derselbe bedarf viel mehr des Fleißes und Studiums, als
so viele Töne zusammen bezwingen zu wollen. Desshalb wird auch
immer jener Sänger mehr gelobt werden, der mit wenig Gorgia im
richtigen Takt sich nur wenig [von den Haupttönen] entfernt, als ein
anderer, der sich weit davon entfernt und zu spät oder zu früh bei
dem Ende anlangt. Fürwahr, die da zuhören und lauschen, spen-
den dem, der nur sparsam die Gorgia gebraucht, aber gut, imend-
liches Lob, haben ein Auge auf ihn und erwarten immer, daß er es
noch besser machen werde. Und es ist doch auch weit besser, daß
die Hörer mit wenig aber guter Gorgia zufrieden scheiden, als daß
sie von vielem und schlechtem Koloriren Mißfallen und Ekel be-
kommen und unzufrieden davon gehen.
Deßhalb, wer an dieses Unternehmen heran tritt, der habe zuerst
Koloratur und Ausschmückung des Gesanges. 345
Acht darauf, die Goigia gut zu machen, und sodann, sie nach dem
Tempo zu messen, damit er jeden Hörer mit ihr erfreue und zufrie-
den stelle. Er beachte insbesondere, als Hauptregel, daß er beim
Anfange irgend eines Gesanges, wenn die andern Stimmen schweigen,
nicht mit der Gorgia [oder dem Zertheilen der gegebenen Töne] be-
ginnen darf. Nicht einmal unmittelbar nach einem solchen Anfange,
wenn die Andern noch pausiren, lasse er sich mit jenen Ausschmü-
ckungen hören, weil man zu sagen pflegt, daß das Hohe erst ge-
fallt durch den Gegensatz des Tiefen, und weil eine Stimme allein,
wie Alle wissen, wenig Vergnügen gewährt, viele Stimmen zusam-
men aber eine liebliche und süße Harmonie geben. (, , , et si guardi
per la prima regola^ che nel principiare quäl si voglia canto, tacendo
taltre parte di non principiar con gorgia; ne meno immediatamente
depo detto princtpio non cantando gValtri si facd con quelle vaghezze
sentire; perche si suol dire che piace Facuto, per V Opposition del grave,
et una voce sola come tutti sanno poco diletto rende: ma bene molte
voce insieme^ dolce et soave harmonia fanno.)
Deßhalb gewahrt man, daß der Kontrapunkt in langsamen oder
in lebhaften Schritten allein, ohne den andern Theil, nicht gefällt,
weil erst der Gegensatz das wahre Ergötzen bewirkt. So entsteht
denn auch die Lieblichkeit der Gorgia aus jener anmuthigen und
kurzen f&uccinto) Bewegung, welche die Stimmen dann machen, wenn
eine von ihnen sich rascher bewegt. ')
Die Anfänge der Stücke also, wenn sie nicht ganz bekannter
Art und Wiederholungen sind, müssen immer mit einfachen und
schlichten Accenten ausgesprochen werden, damit man besser alle ver-
schiedenen Stimmen eintreten hört. (J principij dunque se non sono
ctmmuni et seguenti, si debbano sempre pronuntiate con gVaccenti sem-
pUci et sehietti, accioche meglio s^odino entrar tutte le parte) : denn
jede Sache ist um so angenehmer, je weniger man davon erwartet,
and das um so mehr, je plötzlicher und unvorhergesehener sie kommt.
Um noch besser ersehen zu lassen, wie unschicklich es ist, wenn
eine einzelne Stimme ihren Part mit Gorgia [oder Koloraturen] an-
fängt, während die übrigen Stimmen des Stückes pausiren, so sage
ich, daß ein jeder beim bloßen Solosingen die Gorgia sehr wohl an-
wenden kann, denn wenn die Hörer von solchen Ausschmückungen
auch nicht das volle Vergnügen haben, welches die Begleitung durch
andere Stimmen gewähren würde, so können sie doch mit keinem in
Dissonanz gerathen. Aber das Schöne und die Schwierigkeit besteht
^) Der Sinn ist: Während die Schmuokstimme ausgiebige Bewegungen macht,
sind die Tonschritte der Begleitstimmen nur klein und kurz.
346 ^^' Chrjsander: Zacconi über Gorgia,
darin, Andern zu gefallen , ohne durch Ungestalt und Mißton Ton
dem rechten Wege abzuweichen, und den Spieler in jeder Sache, die
man auch nehmen mag, lobt man nicht dafür, daß er eben allein
spielt, sondern dafür, daß er gut spielt wenn er in Begleitung spielt.
Um so mehr verdient jener Sänger, der beim Eintritt von an-
dern, ihm noch unbekannten Sängern sich mit seinen Verzierungen
breit macht, nicht nur Tadel, weil er sie glauben zu machen sucht,
er verstehe es aus dem Grunde, sondern er setzt sich auch der Ge-
fahr aus, Schande und Unehre davon zu tragen.' Denn wenn es sich
trifft, daß Einer der Anwesenden es noch besser vermag, als er selbst,
so kann nun, während er noch mitten in seiner Anstregung ist, jener
vollkommenere Sänger unvermuthet mit neuen Künsten seinen Platz
einnehmen und so ihm alles das wieder entwinden, was er sich bis
dahin erworben hatte. Deßhalb handeln Jene klüglich, die in den
musikalischen Kreisen, wenn sie singen müssen, niemals gleich beim
ersten Zug zeigen, was sie können, sondern mit Klugheit und Kunst
piano piano vorwärts gehen und zuerst die Andern anhören, um zu
vernehmen, was Andere leisten, weil der Mensch an jedem Orte und
zu jeder Zeit lernen kann. Man lege sich daher fleißig aufs Zu-
hören, und danach fange man allmälig an mit seinen Lieblichkeiten
heraus zu treten ; denn indem man so die Zuhörer zu neuem Ver-
gnügen anregt, erwirbt man sich unsterblichen Ruhm.
Ferner hüte sich der Sänger, am Schlüsse irgend eines Gesanges
das zu thun, was Viele thun, die noch wenig gewitzigt sind und in
dieser Profession nur sehr geringe Erfahrung besitzen. Diese näm-
lich entfalten eine riesige Menge von Ausschmückungen und wollen
Alles so recht am Ende aufzeigen, haben aber mittlerweile die ganze
Mitte leer und trocken gelassen.
Denn auch die Kinder laufen ohne irgend eine Gefahr und
Mühe über einen geraden Balken, wenn dieser Balken in einer langen
und gestreckten Ebene auf der Erde liegt, weil sie den Boden
dicht unter sich sehen und wissen, daß sie im Fallen sich nicht
wehe thun können. Aber ist der Balken in die Höhe gehoben und
sie sehen von beiden Seiten die Gefahr und den Abgrund, bei der
Leichtigkeit zu fallen, so scheuen nicht nur sie sich hinüber zu
gehen, sondern auch erwachsene Menschen furchten und scheuen
sich vor dem drohenden gefährlichen Falle.
So muß derjenige, der die Gorgia anwendet, nicht nur am Ende
eines Stückes seinen künstlerischen Werth offenbaren, sondern schon
in der Mitte desselben muß er mit Dreistigkeit sein kühnes Herz
zeigen. (Cosi colui chefa di gorgia^ non deve solamente ^lelfine mostrar
il suo valore : ma nelmezzo ancoradeve con audatia mostrare lardito euore.j
Koloratur und Ausschmückung des Gesanges.
347
In ähnlicher Weise mag man Jene tadeln, die am erwähnten
Ende nicht satt werden können zu koloriren (di gorgheggiare) : und
sie bewirken damit nur, daB alle begleitenden Kollegen bei der Be-
endigung der Gesänge ungeduldig auf sie warten; die Entscheidung
darüber, ob es schön war, überläßt man dann kühl Jedem zur Beur-
theilung, der ein Urtheil darüber zu haben glaubt. ^)
Es ist wohl erlaubt, am Schlüsse etwas weiter auszuholen und
auszuschweifen, jedoch nur dann, wenn man solches auch in der
Mitte gethan hat; sonst kann man es nicht zugestehen (E ben lecito
alquanto di scorrere nel ßne et vaghare : quando perö anco nel mezzo
si e vagkafo e scorso : altrimenie non si concede) ; und wer es dennoch
thut, verdient vielen Tadel, weil er, der eine Sache nicht gut machen
kann, auch noch die Andern stört, die da sind, um etwas Schönes
KU leisten.
Auch ist nicht mit Stillschweigen zu übergehen der Fehler Jener,
die da, weil sie sich mit der Goi^a befreundet haben, nun bei jeder
Note etwas derartiges anbringen wollen, und wenn sie es im übrigen
auch noch so gut machen, doch die Silben und die Wörter verderben.
Damit nun viele Fehler vermieden werden, will ich den andern
Begeln noch diese Ermahnung beigeben, daß man sich hüten möge,
Passagen zu machen auf Viertelnoten, hauptsächlich wenn sie mit
den Textsilben versehen sind, weil die Natur ihrer Geschwindigkeit
eine große Verminderung nicht zuläßt und weil sie das Zerbrechen
frotturqj der Töne nicht begünstigen, es sei denn in nachstehenden
und andern ähnlichen Fällen.
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Jedes mal also, wenn es sich findet, daß eine solche Noten-
grappe auf eine einzige Silbe fällt, können sicherlich die Verzie-
rungen entfaltet weiden, denn dadurch kommt es nur um so schöner
heraus. In den halben Noten (J), die ja von Natur länger sind und
1) — veil die Begleitsänger froh sind, des anstrengenden Aufpassens, wann
sie den Schlußakkord einsetzen sollen, endlich überhoben zu sein.
*) Der Text ist auch bei Zacconi, wie in allen Drucken der damaligen Zeit,
höchst ungenau und nachlässig unter die Noten gelegt, muß daher vielfach unbe-
stimmt bleiben.
348
Fr. Chrysander: Zacconi über Oorgia,
mehr Zeit erfordern, kann man munter thun was man will, nur muß
man dabei nicht die gegebenen Silben oder Worte des Textes verderben.
Sogar wenn sich mehrere halbe Noten zusammen finden, kann
man sie alle ausschmücken, jedesmal nämlich, wenn die Ausschmü-
ckung dem Sänger bequem kommt und nicht die Worte yerdunkelt
In den ganzen (<9) und den doppelganzen (H), sowie in den andern
noch größeren Notenwerthen, die natürlich längere Zeit in Anspruch
nehmen je nach ihrem Tempo, in diesen kann man gar viele Zier-
rathen anbringen und sie dadurch ausschmücken, wie es Jeden
gut dünkt, oder man kann sich dieser Verschönerungen an den
nothwendigsten und bequemsten Stellen bedienen, aber ebenso pas-
send unter einer Silbe wie unter einem Worte. Und damit der,
welcher Verlangen hat, eine solche Kunst, die Gorgia, zu erlernen,
sehen kann, wo und wie man die Ausschmückungen gebrauchen soll,
biete ich ihm diese wenigen ausgeschriebenen Beisspiele dar.
Thema.
1.
Ausfuhrung.
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, Fr. Chrysander: Zacconi über Gorgia,
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Obige Beispiele möge man immer wieder ansehen und zu singen
versuchen, und sich so sehr in ihnen üben, daß man sie mit der
Zeit bemeistert.
Es lassen sich diese Beispiele auch in jeder beliebigen Stimme
gebrauchen, sowohl im Tenor fnaiuralej und Alt (acuta) ^ wie auch in
Bässen (gravej und Sopranen {sopra acutaj. Aber weil die Profes-
soren des Gesanges über diese meine Kleinigkeiten lachen möchten,
indem sie meinen, dieselben seien für sie bestimmt, die doch etwas
Gelehrteres und Reiferes nöthig haben, deßhalb sage ich zu meiner
Entschuldigung, daß ich keineswegs bemüht bin, diese Dinge Jene
zu lehren, denen ich als hirnlos erscheinen würde, sondern ich be-
absichtige lediglich, sie lernbegierigen Schülern vorzulegen, um diesen
mit einem klaren und sichtbaren Beispiele alle jene Dinge zu zeigen,
die sie zu sehen und zu wissen wünschen, weil sie in ihrer Unkennt-
niß vor Verlangen brennen und sich abzehren, um etwas Licht
darin zu bekommen.
Jene also, die diese meine kleinen Sachen sammt den folgenden
haben und gründlich fassen wollen, die mögen sich zuerst mit Ge-
duld wappnen und dann sie oft studiren, denn bei der Mühe, welche
ich mir gegeben habe, werden sich dieselben durch ein anhaltendes
Studium leicht bemeistern lassen.
Um solchen Schülern den Weg noch mehr zu erleichtern, als
bereits oben geschehen ist, sage ich ihnen, daß, wenn auch Einer, der
die Noten von einem schweren sogenannten Duo zu singen hat, sich
beim Sprechen anstrengt und sich bemüht, die Töne in solchem
Tempo auszusprechen, daß besonders die darin befindlichen Achtel
keinen Fehler oder Mangel haben, er doch zugleich daran denken
muß, daß er sie nach den Regeln der Gorgia auszusprechen hat;
und wenn er darin einen guten Stil erwerben will, so wähle er ein
Duett mit recht vielen Achteln, und wenn er es [ohne Text] singen
kann, versuche er einige Wörter unter zu legen, und zwar da, wo
eine Menge von Achteln vorhanden ist, singe er nur eine einzige
Silbe: so wird er in kurzem gewahr werden, worin die Schwierig-
keit beteht; und er übe sich ein, zwei, drei oder mehrmal, so aus-
dauernd bis er merkt, daß er gute Fortschritte macht.
Koloratur und Ausschmückung des Gesanges. 351
So lange Einer nun beim Aussprechen der genannten Silben
noch Mühe hat und es ihn anstrengt, ist es nöthig, sie so viele Male
zu singen, daß er sie aus Gewohnheit gut singen kann. Und er
achte darauf, die Töne mit den Silben so schnell und so laut oder
kräftig fpolposej zu singen, wie wenn die ganze Sängerschaft sie von
Noten sänge, oder wie wenn er sie auf einem Bruchstück von Wör-
tern sänge, um sich dadurch in der Sache so heimisch zu machen,
daB er nicht nur versteht, das oft und lange Studirte ganz fertig mit
den Silben auszusprechen, sondern, wenn es nöthig ist, auch alles
andere, was man ihm vorlegen mag^.)
Denn aus jener Übung gewinnt er eine Grundlage, die Stimme
mit Schnelligkeit zu bewegen, so daß er später sich selbst ohne
Lehrer, ganz nach der Bequemlichkeit seiner Natur, in die Gorgien
oüd Passagen einfuhren kann.
Um ihm diesen Weg gleichfalls zu erleichtern und ihn auf die rechte
Straße zu bringen, auf welcher er zum wahren Professor und wirklichen
Meister in dieser Sache sich ausbilden kann, sage ich, daß es nöthig
ist, bei jedem beliebigen Übungs- Muster alle fünf Vokale zu singen,
nämlich A £ I O U; weil, — indem einige von ihnen geschlossen
aasgesprochen werden wollen wie I und U, einige andere halb offen
wie E und O, und einer breit wie A — , er dann sehen wird, daß
man ganz leicht I und U aussprechen kann, und daß man mit ein
wenig mehr Mühe sich das £ verschafft und das O, aber daß man
bei dem A, weil es mehr Athem haben will als alle die andern, sich
auch mehr abmühen muß es auszusprechen.
Bei einer solchen Übung wird kein ernstliches Hindemiß ein- )
treten, weil alle italienischen Wörter ftutte le parole volgarej auf
einem Vokal endigen und auch ein großer Theil der lateinischen.
Um nun bei meinem großen Eifer und Wunsche, den Sängern zu
helfen, in dieser Materie nichts zu übersehen, bemerke ich noch, daß
das Tremolo [der Triller], das heißt die zitternde Stimme, die
^Tahre Thür ist, um in die Passagen einzudringen und die Gorgien
zu bemeistern (. . . dico ancora^ che ü tremolo, cioi la voce tremante \
^ la Vera porta d'intrar dentro a passaggi^ et di impatronirse delle
gorgie)] denn das Schiff fährt mit größerer Leichtigkeit dahin, wenn
es zunächst in Bewegung gesetzt wird, als wenn es beim Beginn der
Fahrt sich erst bewegen soll; und der Springer springt besser, wenn
er, bevor er springt, zum Sprunge einen Anlauf nimmt.
^) Zacconi empfiehlt hier beim Üben das Sttfksiugen. Der Schaler soll neben
der Leichtigkeit auch Kjraft in die Stimme bekommen. Eine alte, überaus wichtige
italienische Gesangsregel, die von unserer Zimperlichkeit sehr abweicht.
352
Fr. Chry Sander: Zacconi über Gorgia,
Dieser Triller muß kurz und doch abgerundet sein und lieblich, weil
der überhastete ebenso wie der unmäßige und erzwungene ermüdet und
nur Verdruß macht. ^) Und er ist von solcher Natur , daß, wenn man
ihn gebraucht, man ihn immer gebrauchen muß, damit der Gebrauch
sich in Gewohnheit verwandeln kann: weil jene beständige Stimm-
bewegung der Bewegung der Gorgien Hülfe und willigen Anstoß
giebt und wunderbar die Anfangsstudien der Passagen erleichtert.
Diese Bewegung, von der ich spreche, muß also in angemessener,
jedoch nicht hastiger Eile ausgeführt werden, aber lebhaft und kräftig.
(Questo tremolo deve essere succinto, et vago ; perchd Vingordo^ et for-
zato tedia, et fastidisce: Et e di natura tale che usandolo, sempre usar
8% deve; acciochd Puno st converti in habito; perche quel continuo mo-
ter di voce, aiuta^ et volontieri spinge la mossa delle gorgie^ et faci-
lita mirabilmente i principij de^ passaggi, Questa mossa che io dico nmi
deve essere se non con gitista fretta, ma gagliarda, et vehemente.)
Das Ende muß richtig sein und in sich vollendet, die Mitte ganz
ebenso, und so weiter: so daß man den Anfang nicht mehr heraus-
hört, als die Mitte oder das Ende ; das Ende oder eben den Anfang nicht
mehr, als die Mitte; denn jedes Zurücktreten [eines Theiles] darin
beraubt uns ganz und gar des guten Vergnügens, abgesehen davon
daß es [bei dem Sänger] eine gewisse Zaghaftigkeit verräth. (Ilßfie
deve esser giusto^ et compito ; il mezzo tutto equale^ et seguente, che non
piü ioda il detto principio, che e il mezzo, et il fine: ne piü il ßne.
et esso principio, che il suo mezzo : perche ogni occultazione che se li
faccia, oltra che dimostre un timore tutto il buon diletto toglie,)
Und wenn Einer da sein sollte, der an dem emsigen und ein-
gehenden Studium Gefallen findet und dem meine obigen Beispiele
so viel Vergnügen bereitet haben, daß er dieselben völlig bemeisterte:
diesem gebe ich Gelegenkeit, nach jenen einfachen Übungen nun
auch einige andere und größere durchzumachen, indem ich ihm diese
nachfolgende Reihe bilde.
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1; Der Triller muß hiemach vor Allem prompt vor sich gehen, aber weder «u
schnell (ingordo) noch zu langsam oder erzwungen (forzato)^ damit seine Schön-
heit (vago) nicht darunter leidet. Zacconi ist besonders bemüht, dieses einzuprägen,
denn in dem zweitfolgenden Satze wird auf die mit Maßhalten und Ausdruck
Terbundene Promptheit nochmals der Ton gelegt.
Koloratur und Ausschmückung des Gesanges.
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354
Fr. Chrysander: Zacconi über Gorgia,
Dabei kann man mit mehr als acht Ächtein in die Breite gehen
und sich weitläufig ausdehnen. Aber es ist zu bemerken, daß die
menschliche Stimme in solchen Geschwindigkeiten nur schwer sprung-
weise gehen kann, weil unsere Stimme nicht jene Leichtigkeit be-
sitzt, mit welcher die Hände die Tasten der Instrumente berühren.
Deßhalb werden ihm hier die Singnoten stufenweise mit obigen
wenigen Brechungen (rotturej vorgeführt, um ersehen zu lassen, in
welcher Weise sie zu brechen sind. Nun möge das Studium vor-
w^ärts gehen zu dem Sprunge (salto), und um des Sängers Ungebun-
denheit und Freiheit zu befordern, werden wir nicht verfehlen, im
Fortschritte der Passagen zu zeigen, auf welche Weise man die
Sprünge machen muß.
Jene Stellen nun, die den Sänger ganz besonders einladen, Fio-
rituren und Passagen anzubringen, das sind die Kadenzen, welche
von einer j^so empfindlichen] Natur sind, daß, wer sie nicht gut
macht, ihnen jede Schönheit raubt und sie ruinirt, so daß sie unsern
Ohren als völlige Mißbildungen erscheinen . (Quei luochipoi cVinvitano i
cantori afarßoretti^ et passaggi sono le ccuienze, le quali sono dt una
natura che cht non le fa bene; li toglie^ et guasta ogni bellezza, et le
rende alV orecchie fiostre dt difformitä pienej Um deßhalb einige
Kadenzen zu zeigen, bilde ich alle hier folgenden einschlägigen
Beispiele.
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Fr. Ghrysander: Zacconi über Oorgia,
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bedienen, jeder für die Lage seiner Stimme.
Es findet sich ferner noch eine Weise, die Kadenz auszuschmücken
(un modo difiorire una cadema), welche gut heraus ziehen und voll-
kommen zu Ende führen zu können ein Sänger sich glücklich schät^n
kann. Diese tritt nur mit dem Tonfalle to,/a, la [der großen Sexte
und Quarte] auf, wie man hier sieht.
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Koloratur und Ausschmückung des Gesanges.
357
Nicht bloB in dieser Singmanier, sondern überhaupt, um die
Kadenz gut zu machen, ist es nöthig, daß ihr das^a accidentale vor-
auf gehe, wenn man will, daß es so klinge, wie es gemäß seiner
Natur eben ertönen muß. Weil ich aber zweifle, von Allen genügend
Terstanden zu sein, und wünschen muß, daß jeder mich verstehe und
daß eine so schöne Singmanier sich nicht verliere, so bilde ich außer
dem obigen noch ein anderes Beispiel in dem ihm eigenthümlichen
Modus und an derjenigen Stelle, wo man es zu gebrauchen hat.
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Es finden sich noch einige Gänge (passi) , von denen man sagen
kann, sie seien wie die gewöhnlichen Kadenzen, weil sie fast in jeder
Melodie wieder vorkommen; und jene Sänger, die von Gorgia nicht
mehr als soviel verstehen, fühlen sich dennoch dazu aufgefordert und
mochten gleichwohl gern etwas Gutes machen, wissen es aber wegen
ihier Unfähigkeit nur schlecht einzurichten. Um diese nun von
schlechten und häßlichen Dingen abzuziehen und um ihnen etwas
Hülfe und Licht zu gewähren, damit sie sich korrigiren und gute
Manier lernen können, habe ich die hier aufgeschriebene Beihe von
Übungen gebildet.
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Fr. Chiy Sander: Zacconi über Gorgia,
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Koloratur und Ausschmückung des Gesanges.
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Wenn Einer nun dazu kommen sollte, was ich sehnlichst wünsche
und was doch auch sehr zu wünschen wäre, nämlich daß er sich in
diesen Schmuckwerken und Passagen zum Herrn und Meister machte :
so erinnere ich ihn daran, daß es nicht gut ist, sie immer zu ge-
brauchen, sondern daß bisweilen, wie an einer Frau, ein einfacher
Schmuck gefällt.
Um solchen daher einzufügen und dadurch die andern Verzie-
rungen nur noch lieblicher erscheinen zu lassen, stelle ich die fol-
genden einfachen [Koloraturen oder] Brechungen (rotturej hiexheij
die man sich nach Maßgabe des Ortes und der Zeit noch zu Nutze
ziehen kann.
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Alle diese Dinge erfoidern Gewandtheit, Schnelligkeit (agiliiä)
und Festigkeit im Takthalten, ohne welche man nichts aus-
richtet. Der Sänger, welcher sich ihrer bedient, hat die Rücksicht
zu nehmen, nur so viele Töne in einem Athem zu singen, als er
bequem aussprechen kann. Dies muß gesagt werden, da Viele, wenn
sie die Gorgia machen, die Zahl von acht Noten im Takte über-
schreiten; aber weil sie es gut einzurichten und anzupassen wissen,
so mag solches immerhin Annehmlichkeit und Vergnügen gewahren
und Niemand (sei er auch ein guter Sänger oder Komponist) wird die
Überzahl so leicht merken. Aber sobald man die bestimmte 2jahl
von Noten unter ihre Taktbewegung setzt und diese Zahl dann nicht
in das richtige Zeitmaß fällt, so wird ein solches Mehr oder Weniger
ernstlich getadelt. Deßhalb erinnere ich die Schüler daran, daß,
wenn auch in ihren Gorgien die Zahl der Töne der Zahl der Noten
des Taktes nicht entsprechen sollte, solches nichts zu bedeuten hat,
falls sie nur ohne Fehler unter ein Maß und Tempo fallen und
man bei ihrer Aussprache nicht eine Unrichtigkeit erkenne oder eine
Dissonanz. Denn in dieser Fertigkeit und Kunst machen Viele, die
die Gorgia verstehen, liebliche und gute Passagen; wollte man die-
Koloratur und Aussehmückung des Geaangea. 361
selben aber in Noten aufzeichnen, so würde sich darin immer bald
zu viel bald zu wenig finden, und trotzdem erkennt man in ihnen
nicht den allergeringsten Fehler oder Mangel.
In ähnlicher Weise kann man bei den Kadenzen jener Wieder-
holungen von solj fa^ sol; la, sol, la; fa, mi, fa^ und so weiter, so
lange halten, wie der ganze erforderliche Takt dauert. Es giebt
Einige, die sie wiederholen in Noten von Sechzehnteln, und weil sie,
mit derartigen Noten wiederholt, nichts weiter sind, als dieselben
Gänge vervielfältigt, so stelle ich deßhalb kein Beispiel weiter auf,
da mir hier das Wort zum Verständniß auszureichen scheint ; wer nun
dieser erweiterten Gränge sich bedienen will^ kann ja davon nehmen,
soviel er deren bedarf. Daran will ich aber erinnern, daß man sich
hüten möge, das Ende der Kadenzen matt und todt auszusprechen, wie
Einige thnn, die da, indem sie sich einbilden, sie lieblich und schön zu
machen, sie so mißgestaltet, häßlich und unschicklich erscheinen lassen,
daß die Zuhörer fast die Ohren schließen, um sie nicht zu hören ; denn
eine solche fehlerhafte Darstellung des tiefer gelegenen Theiles der
Kadenzen^) läßt sie so roh erscheinen, daß sie wild und bäurisch wer-
den. Ich glaube verstanden zu sein, und wenn vielleicht Einer mich
nicht versteht, so sage ich, damit auch er mich verstehen möge, daß,
wenn man den letzten Theil der Kadenz, d. h. jenen, der dem Ende
am nächsten ist, mit doppeltem oder einfachem Accent betonen will,
man niemals die untere Terz so matt aussprechen darf, daß der Ein-
druck entsteht, als ob wir uns beim Aufsteigen der Töne mit Ge-
walt hinauf ziehen oder schleppen ließen. (, . . dico^ che t ultima
parte della citdenza^ che d quella piü propinqua ai fine volendola accen^
tuare dt doppio accento d semplice, non debba mai la sua terza infe-
riore pronuntiar si languida, che nelf ascendere dimostri dt lasciarvici
ürar per forza , et farsici strascinare.) Dieses kann man nicht mit
einem Beispiele zeigen, weil ein solcher Fehler in der schlechten
Aussprache der Noten besteht. Wenn also hier nicht Alle mich ver-
stehen sollten, so mögen sie mich für entschuldigt halten, indem ich
nicht weiß, wie ich mich besser ausdrücken soll und mit welchen
Worten ich es besser darthun könnte. Unter Sängern pflegt man
diese Ausführung die schlaffe, geschleifte oder halb lebendige Ka-
denz zu nennen wegen der geringen Lebendigkeit und Kraft, die
der Sänger ihr giebt. 2)
Es ist auch ferner noch eine Weise vorhanden, um in dem Basse
>) Mit diesem tiefer gelegenen Theile ist das fa aceidentale, die Unterterz der
Finalis gemeint.
^ Was der Autor nicht völlig klar machen konnte, dürfte uns anscheinend
noch weniger gelingen. Weil aber unsere vollkommenere Notenschrift eine bessere
362
Fr. Chrysander: Zaccoiii über Gorgia,
oder in den Grundstimmen einige Töne mit einfachen Accenten (con
accenti ordinarij) zu verschönern, die überall da angebracht werden
können ) wo die tieferen Stimmen die oberen stützen. Um davon
einige Beispiele zu geben, folgen hier nachstehende Proben.
Aufzeichnung gestattet und überdies der ganze Absatz eine Erklärung wünschen
läßt, folgen hier nachstehende Bemerkungen.
Als einfache Kadenzformeln giebt Zacconi im Texte beispielsweise an:
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und
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einfachen Brechungen durch Wiederholung der genannten Töne, von denen er oben
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S. 355 Beispiele gegeben hat, sind in diesem Falle (n) J ij J J J -Tl ITa^
la 8ol la fa mi
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Diese Brechung oder, wie andere gleichzeitige Schriftsteller sie nennen, Diminii-
tion kann man auch schneller ausführen, also die Wiederholung verdoppeln, s. B.
8ol fa 80l
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80l
schnellster Bewegung, nämlich in Sechzehnteln:
8ol fa
denn, sagt Zacconi, es ist Jedem unbenommen, so viele Noten für eine einzusetzen,
als er will. Nur kommt es oft vor, daß man sich übernimmt; und namentlich bei
zu vielen Noten erlahmt die Stimme leicht und am Ende reicht der Athem nicht
mehr aus, was gewöhnlich an der Stelle geschieht, wo die tiefste Note, die Unter-
terz, eintritt, von welcher aus sich die Stimme zur Finalis aufzuschwingen hat
Erlahmt dort nun die Kraft, so wird dieser Aufschwung matt und todt; statt einen
Beweis von unerschöpflicher Stimmkraft darzulegen, zeigt der Sänger durch solche
Ermattung nur, daß er za viel unternahm, als er die Trillerbewegung und Breeh-
ung in so kleinen Notenwerthen ausführte. Also das Ende der Kadenz gut her-
aus zu bringen, das ist die Hauptsache, und das meiste zur guten Ausführung
thut ein strenges Augenmerk darauf, daß der letzte Aufschwung von der kleinen
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Unterterz zur Finalis
nicht etwa so:
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Dieser Sinn von Zacconi's Worten stimmt zu einer Wahrnehmung, die man
noch heute machen kann ; denn in der That hört man von effect-haschenden Sängern
sehr häufig die widerwärtige Manier, den Eintritt der Finalis möglichst lange in
Koloratur und Aussohmückung des Gesanges.
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einem zerfließenden smarzando hinzuhalten, um dann, wenn die Ungeduld des
Hörers aufs höchste gestiegen ist, brüsk und brutal mit der Schlußbewegung
schnell abzuschnappen. In den Kadenzen zeigt sich der Sänger : diese alte Wahr-
heit prägt Meister Zaoconi nachdrücklich ein und beleuchtet sie von yerschiedenen
Seiten. Nicht bloß die Kunst, sondern auch der Charakter des Vortragenden
kommt in der Kadenz mehr zum Vorschein, als an irgend einer andern Stelle. Die
Kadenz wird daher immer derjenige Ort bleiben, wo sich Kunst und Unkunst am
deutlichsten scheiden.
364
Fr. Chrysander: Zaeconi über Gk>rgia,
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Übrigens, damit die Schüler noch besser angeleitet werden, meine
Passagen zu gebrauchen und in denselben sich zum wirklichen Mei-
ster zu machen, habe ich das unten stehende Beispiel gebildet, welches
eine vollständige Motette vorstellt. Aus demselben werden sie er-
sehen, wie man die Gesänge ausschmückt; und zu noch besserem
Verständniß habe ich mich nicht darauf beschränkt, die einzelne aus-
geschmückte Stimme herzusetzen, sondern ich habe ihr auch den-
jenigen Part beigefügt, welcher die Noten in natürlicher Aufzeichnung
1] Dieses Beispiel enthält bei Zaeconi, außer falschen Noten, im Thema vi^
Viertel und in der Ausführung z^rei Viertel su viel.
Koloratur und Ausschmückung des Gesangee.
365
«ntliält. Deßbalb zeigt die erste Linie den Aufputz und die zweite
den nackten Theil. (Perd sempre il primo ordine di corde dtmostra
Taccondaturaj et il secando la parte nudaj Das Beispiel ist dieses.
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Fr. Chrysander: Zacconi über Gorgia,
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Fr. Chrysander: Zaeeoni über Gorgia,
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Diese wenigen Verzierungen und Verschönerungen können bei
allen andern Gelegenheiten dienen, und jener Sänger, der diese
wenigen gut ausfuhren kann, darf damit zufrieden sein. Denn über-
reiche Ausschmückungen, wenn sie auch unsem Ohren ergötzUch
sind, gefallen darum noch nicht immer, vielmehr habe ich gefunden,
daß die Komponisten bisweilen sogar der Gelegenheit aus dem Wege
gehen, einige ihrer Stücke vortragen zu lassen, um sie nur nicht
solchen [Koloratur-] Sängern zur Auffahrung in die Hände zu geben,
aus keinem andern Grunde als weil sie die betreffenden Komposi-
tionen gern mit den schlichten und einfachen Accenten hören möchten,
auf daß man die Kunststücke, mit denen sie gewebt und gemacht
sind, [besser] heraus hören könne, f, . . che le molte vaghezze se
bene sono delettevole alP orecchie nostre, non per guesto le piacciano
sempre; anzi che io ho trotato alle volte i Compositori haver fuggito
Foccasione dt far cantar alcune cose loro: per non farle cantaref et
darle in mano ä simili Cantori: non per altro solo perche haveano a
piacere dt seniirle con gli accenti schietti, et semplici: accioche s^udii-
sero gli ariifidj con che le haveano tessute, et fatte,)
Aber wenn Einer sich wundem und nach der Ursache suchen
sollte, warum ich mir lieber eine Motette, als ein Madrigal gewählt
habe, um sie auszuschmücken und dann ausgeschmückt als Beispiel
aufzustellen, der soll wissen, daß ich es gethan habe, weil die Ma-
drigale gewöhnlich schwerer sind, als die Motetten. Deßhalb glaube
ich, daß letztere für Anfanger und Unkundige nützlicher sind, als
andere Stücke. Wer erst in diesen wenigen Sachen ordentlich ge-
übt ist, der wird das Gelernte auf alles, was er will, anwenden können.
Damit man nun lerne, es noch besser zu machen, lege ich hier
folgende Reihe von Beispielen vor.
1) Der Text ist untergelegt wie er bei Zaeeoni steht, soweit die Willkür der
damaligen Drucke solches ermöglicht. Den richtigen Untersati der Silben habe
ich durch SLlammer angedeutet Weil aber die geschwänzten Noten, wie Achtel
und Sechzehntel, in den alten Musikdrucken unverbunden für sich stehen, ist es
unmöglich überall das Bichtige zu treffen. So kann z. B. die vorletzte Silbe /i
auch auf — -J-J— oder — g->-#-j-i: oder
s genau so in der Vorlage steht. Auch
diese Text-Placi ung gehörte zu den unantastbaren Sänger-Freiheiten.
Koloratur und Auflsohmückung dag Ofmnfw
L Canto primo.
369
*) Bei Zacooni stehen
(Fol. 64V). Merkwürdigrer Weise sind bei der Wiederho.
l«i|r dieser Fi^nr (FoLTS; siehe unten 8. 889) ebenfalls iwei Achtel g^esetst, und twar
achtmal. 1891 25
370
Fr. Chrysamder: Zaeconi über Gorgia,
Koloratur und Aussehmückung des Gesanges.
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Ft. Ohrysander. Zaoooni aber Qorgia,
II. Canto secondo.
Koloratur und Aussohmüokung des Gesanges.
374
Fr. Cluryaander: Zaeooni über Gorg^,
Koloratar und Aunohmflekung des Geunges.
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Fr. Chryaander: Zaeooni aber Gorgia,
Kolontur und AuSMhniückiuig des OesangM.
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Fr. Chrysandert Zacooni über Oorgia,
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Koloratur und Ausgehmüokung des Geaaages.
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Vorhergelieiide. Die etwas fremdartige Variation lässt sieh aber nicht mit Sioherheit korri-
girea. Vielleicht solider Sohlnss lautem S
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Koloratur und Ausschmückung des Gesanges.
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Von diesen Beispielen mag sich der Eine an das Eine halten
und der Andere an ein Anderes, so lange bis am Ende alle genom-
men sind, weil jener Handschuh, der dem Einen nicht paßt, doch
wieder dem Andern gut steht. Auf diese Weise sind am Ende alle
a^esetzt und an den Mann gebracht.
Aber weil vielleicht einige darunter sein könnten, die mehr ge-
fielen, als die andern, und auch solchen Sängern gefallen möchten,
welche nicht die dem entsprechende Stimme und Stimmlage be-
sitzen, so soll diesen nun der Weg eröfinet werden, wie man eine
einzige Sache allen Tonlagen anpassen kann. DeBhalb setze ich das
erste Beispiel der obigen allgemeinen Passagen ;S. 365) noch einmal
hierher und gebe es in allen Lagen, in denen es sich setzen läßt, um
auf diese Weise zu zeigen, wie man es ähnlich mit den andern Bei-
spielen machen kann und in wie vielen Lagen der [Guidonischen]
Hand eine einzige Sache zu verwenden ist.
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•) Bei Zacconi stehen überall 2 Achtel statt 2 Viertel; siehe oben S. 369 die
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394 ^'- ChrysandcT: Zacconi über Gorgia,
Und aus keinem andern Grunde habe ich zeigen wollen, wie
vielstellig man eine einzige Sache mit Erfolg verwenden kann, als
allein, um zu einer solchen vielseitigen Benutzung einer und der-
selben Passage anzuleiten, denn durch Neigung und Hülfe der Natur
oder durch besonderes Studium pflegt der Eine mehr dies, der An-
dere jenes zu bemeistem. Und zugleich soll demonstrirt werden, daß
die Gorgia nicht so sehr in der mannigfaltigen Veränderung oder
Verschiedenheit der Passagen besteht, als vielmehr in einer ange-
messenen und begrenzten Anzahl von Noten (che la Gorgia nan tanto
consiste nella variatione, d nella diversitä de^ passaggi, qtianto che in una
giusta, et tenninata quantitä di ßgure), eben mit Rücksicht darauf, daB
die Schnelligkeit, die sie erfordert, nicht unterscheiden läßt, ob das, was
vorher gesungen ist, sich beim Singen abermals wiederholt. Man
kann sehr wohl eine geringe Anzahl von Noten nach der Weise
des Zirkels oder des Kranzes mehrere Male wiedersagen und wieder-
holen, weil wer zuhört und lauscht, durch das Lauschen und Zuhören
ein so großes Vergnügen an jener süßen und schnellen Bewegung
der Stimme empfindet, daß er wegen ihrer Lieblichkeit und Schnellig-
keit dieses ununterbrochen mehrmalige Wiederholen einiger wenigen
Noten gar nicht gewahr wird. Auch ist es sicherlich weit besser, eine
Sache oft und gut, als verschieden und auf verschiedene Weise schlecht
zu machen. Hauptsächlich bei der Ausführung der Verzierungen und
Läufe (ßoretti e passaggi) zeigt sich dies. Denn im Punkte solcher
Wiederholungen trägt man wenig Tadel davon, es möchte denn sein,
daß man eine große Menge von Kennern als Zuhörer hat, die wissen
oder gewahr werden, ob der Sänger etwas nur wiederholt, oder ob
er Neues vorbringt. Aber selbst diese, die als Komponisten oder
durch ihre Profession es merken, haben in Gegenwart von Zuhörern ,
die Gefallen an jenen gut ausgeführten Wiederholungen finden,
keinen Tadel für den Sänger und entdecken seinen erlaubten Betrug
nicht; denn wenn man irgend eine seiner Handlungen mit gutem
Gewissen entschuldigen kann, so ist es sicherlich jene verdienstliche
Weise der Gorgia. Die Stimme besitzt nicht die Geschicklichkeit der
Hände, von denen jede Taste nach Belieben berührt werden kann
und oft so schnell berührt wird, daß wir in Erstaunen und Ver-
wunderung gesetzt werden.
Wenn wir nun wahrnehmen, wie viele Mühe es der menschlichen
Stimme verursacht, jene Noten so schnell dahin zu tragen und mit
ihr alles das zu machen, was der Mensch ausfuhren möchte, so laßt
uns auch ein wenig bedenken, wie viele Sänger durch die Welt gehen
mit anmuthiger, ziemlich glücklicher Stimme, die sicher alle Canti-
lenen singen, welche ihnen vorgelegt werden, aber wegen einer ge-
Koloratur und Ausschmückung des Gesanges. 395
wissen natürlichen XJngeschichkeit keine Passagen oder Gorgia haben.
Könnten sie nun jenen Glücklichen, welche die Gorgia verstehen,
ihre Ausschmückungen und Passagen wegnehmen, sollen wir glauben,
daB sie es gern thun würden? Gewiß; denn wenn sie ihnen die-
selben wegnehmen könnten, so dürften Viele, die bei mittelmäßiger
Stimme nur mittelmäßig eicistiren, mit der Begleitung der Gorgia
als große Herren leben.
Hören wir von einem Sänger die Sachen nicht nach unserer
Weise und in ganzer Vollkommenheit, oder nur immer eins und das-
selbe, so urtheile man dennoch, daß er wenigstens die Absicht hat,
es Tollkommen und gut zu machen, denn Jeder treibt es gern über
seine Kräfte. Deßhalb habe ich alle obigen Passagen und Aus-
schmückungen weniger sprungweise und gebrochen (rampere) ge-
macht, als ich es gekonnt hätte, um den Schülern nicht mühevolle
und ihnen einstweilen noch unmögliche Dinge vorzulegen, denn ich
möchte nicht gern, daß meine Bemühungen unnütz und eitel wären
und ich, wenn ich sie für unnütz hielte, damit der reine Selbstmörder
würde. Wenn ich gesagt habe, die Passagen der menschlichen Stimme
seien in stufenweis auf einander folgenden Tönen zu machen und
nicht gebrochen oder sprungweise (sequenti, et non spezzati), und den-
noch einige Beispiele in sprungweisen Folgen beifugte, so habe ich
mir damit nicht selbst widersprochen; denn wenn es auch scheinen
möchte, daß keine Stimme das ausführen kann, so giebt es doch
genug Sänger, die dazu im Stande sind. Deßhalb habe ich einige
Folgen gebrochen, nicht nur um zu zeigen, wie es gemacht wird,
sondern auch damit man nicht glaubt, es sei nöthig, die Intervalle
immer stufenweise einander folgen zu lassen.
Nachdem ich hiermit alles gesagt habe, was zu sagen war, kann
ich nunmehr das Kapitel über die Gorgien beschließen. Nur dies
sei noch erwähnt, nämlich, daß ich recht gut weiß, wie Einige ganz
fleißig über diese meine kleinen Sachen grübeln und, nachdem sie
dieselben besehen, eingetheilt und betrachtet haben, nicht verfehlen
werden zu sagen, daß sie wenig oder gar keinen Werth besitzen.
Aber ich tröste mich damit, daß ich andern theils von Demjenigen
auch wieder Lob erhalten werde, der fühlen wird, daß ihm ge-
holfen ist.
Ich verfehle nicht, hier ferner noch die Ursache anzugeben, weß-
halb ich in den obigen Passagen-Beispielen keine Übungen von
Sechzehnteln angestellt habe. Es ist geschehen, weil ich eine be-
sondere Rücksicht darauf nahm, die ersten schnellen Erhebungen für
trs^e Stimmen zu zeigen. Deßhalb sind nur Beispiele von Achteln
gegeben, damit die Anfänger um so leichter sie lernen mögen. Denn
27*
396 ^^' Chry Sander: Zaceoni über Oorg^a.
diese Übungen sind nicht für Den gemacht, der in dieser Profession
bereits gelehrt ist, sondern nur für Jene, die bloß so viel davon
wissen, dabei aber den Willen haben, zu lernen.
Wer nun dahin gelangt, sich in diesen Dingen so zum Meister
auszubilden, daB er die Passagen gut heraus bringen kann, und da-
bei das Bedürfiiifi hat nach schnelleren Noten, als hier angegeben
sind, der verändere diese Beispiele von Achteln in solche von Sech-
zehnteln, vrodurch er selbständig andere Übungen gewinnen und die-
jenigen Hül£9mittel erhalten wird, die er für sein Weiterstieben
nöthig hat.
(Prattica di Musica I. 1592.
Libro primo, Capitolo 66, Folio 58 — 76.,
Paul Siefert.
(1586 — 1666.)
Biographische Skizze
von
Max Seiifert.
Vor einiger Zeit machte mich Herr Dr. Bolte in Beilin darauf
aufmerksam^ daß sich auf dem Danziger Stadtarchiv ein Band mit
Suppliken aus dem 17. Jahrh. befände, in welchen er den Namen
Paul Sieferts des öfteren gelesen hätte. Der Stadtarchivar, Herr
Aichidiakonus Bertling in Danzig, war auf meine Bitte hin so ge*
fallig, mir eine persönliche Einsicht in die vorhandenen 24 Doku-
mente zu ermöglichen. Es sind Eingaben verschiedener Personen
an den Bürgermeister und den Rath der Stadt. Auf der Adreßseite
findet sich zumeist der Verhandlungstag und Rathsbescheid vermerkt ;
nach diesem Datum werden die Aktenstücke im Folgenden citiert
werden, da sonstige Bezeichnungen nicht angebracht sind. Was in
jeoen enthalten war , ließ mich weiteres Urkundenmaterial in Breslau
vermuthen. Durch die freundliche Vermittelung des Herrn Dr. Münzer
daselbst war Herr Dr. Kronthal so gütig, für mich Nachforschungen
anzustellen. Er fand denn auch in den ,,libri signaturarum^*^ mehrerer
Jahre auf Siefert bezügliche Hreslauer Rathsbescheide, welche er mir
im Auszuge mitgetheilt hat. Es ist mir eine angenehme Pflicht,
allen genannten Herren für ihre freundliche Hilfe auch an dieser
Stelle meinen verbindlichsten Dank auszusprechen.
Jene Dokumente werden uns zwar für den — bis jetzt wenig-
stens — gänzlichen Mangel an Instrumental- Kompositionen Sieferts
nicht entschädigen können, immerhin jedoch uns einen in seine per-
sönlichen und künstlerischen Beziehungen viel tiefer eindringenden
Blick verstatten, als die bisher nur benutzten, dürftigen Notizen
älterer und neuerer Lexikographen. Die Dokumente sind sehr reich
an interessanten Einzelheiten, welche nicht nur das Musikleben
Danzigs, soweit Siefert damit in Berjährung stand, hell beleuchten,
sondern auch auf andere, zum Theil in der Musikgeschichte recht
398 ^^ Seiffert,
bekannte Männer ein Streiflicht fallen lassen. Wir wollen es im
Folgenden versuchen, aus dem bunten Durcheinander von Einzel-
heiten zusammenhängende Fäden herauszulösen und auszubreiten.
So wird es dann möglich sein, die einzelnen Züge zu gewinnen,
welche, an einander gefügt, ein ziemlich anschauliches Bild von
Faul Siefert als Mensch und Künstler aus dem Dunkel der Ver-
gangenheit emportauchen lassen.
Paul Siefert^ scheint einer schon während des 16. Jahrh. in
Preußen wohnhaften und geachteten Familie anzugehören. Ein
»Michael SifFert« starb am 9. Januar 1578 als Senator in Thom.^
Ein anderer ^»Michael Sieffertv aus Elbing starb 1588 als Bathsherr
in Danzig.3 In den späteren Jahrhunderten und auch heute noch
ist der Name »Sievertff oder »Siewert« in Preußen ein sehr häufig
vorkommender. Der Vater von Paul Siefert wird uns mit seinem
Namen nicht genannt. Wir erfahren aber, daß sein Ruf hinsicht-
lich seiner Friedfertigkeit wohl nicht der beste war.*
Paul Siefert wurde in Danzig geboren; auf den Titeln seiner
späteren Werke fugt er seinem Namen immer ^^Dantiscanus^^ hinzu.
Das nähere Datum seiner Geburt ließ sich aus den Taufbüchern der
Marienkirche nicht ermitteln. Wir erfahren jedoch wenigstens sein
Geburtsjahr aus einem späteren Bilde* Sieferts. Gestochen wurde
es 1649, rechts oben trägt es den Vermerk: ,,-^T. Sü-^ 63." Siefert
wurde demnach 1586 geboren, ein Jahr vor Scheid t.
Seine künstlerische Ausbildung erhielt Siefert bei J. P. S weelin ck
in Amsterdam. Der Verfasser des unter Sieferts Bild befindlichen
Gedichtes bestätigt es uns ausdrücklich. Das Gedicht lautet :
^ So schreibt er sich selbst in allen Dokumenten; die Schreibung »Syfert«
ist nur eine latinisierte.
^ Simon Starovolscius, nMonumenta Sarmatarum , Beatae Aeternitati Adscrip-
torum*, Krakau 1655, S. 398.
3 Dr. G. Löschin, »Die Bürgermeister, Rathsherren und Schoppen des Dan-
ziger Freistaates«, Danzig 1868, S. 31.
* Die »Supplicatwn Catpari Försteru vom 19. April 1628 erwähnt »die pro-
pheceiung des in Gott ruhenden Seel: Hm. Bürgermeisters von der Linden, daß
nemlich Pauli Syfert es nicht besser machen würde, alß sein Vater.« (Danzig. Stadt-
archiv). Über die Familie »von der Linde« vergl. Dr. G. Löschin, a. a. O. S. 28.
* »Psalmorum Davidicorum . . , pars secunda^ publicata a Paulo Syferto,
Dantücano«, Danzig 1651, s. die Diskantstimme. Exempl. Danzig. Stadtbiblioth.
Paul Siefert, BiogrephiKhe Skiiie. 399
Effigiem Pauli Sieferti cemü, amice
Spectator, ut natura mater ßnxerat:
Belga artem docuit SweUngiua, ommbus orbit
Celebris in oris, omnibusque seculia.
Discipului perfectm habetur in arte, magistro
Si par: hie illum ni superat, haud est mint
htvidid 61 qtii slimulantur, res novo non est.
Artem nihil magis odit ignoranixä.
'
400 ^^x Seiffert,
Wir dürfen wohl annehmen, daß Siefert mit dem fast gleich-
alterigen Scheidt ziemlich gleichzeitig, also etwa um 1605, sich bei
Sweelinck aufgehalten hat.^ Wie inhaltsschwer übrigens die beiden
letzten Zeilen des Gedichtes sind, welche Summe von Hader, Zwistig-
keiten und unerquicklichen Nörgeleien sie in sich bergen, werden
wir im Verlaufe der Darstellung genugsam verspüren können.
Wann Siefert zurückkehrte, wohin er sich zunächst wandte, was
er that, erfahren wir nicht. Wir wissen nur , daß er vor seiner An-
stellung als Organist an der Danziger Marienkirche Mitglied der
Kapelle König Sigismunds III. von Polen (1587 — 1632) war und
demgemäß auch in Warschau leben musste. Obwohl es Siefert
nicht ausdrücklich bezeugt^, so dürfen wir doch wohl annehmen,
daß er die Obliegenheiten eines Organisten zu erfüllen hatte. Sein
Vorgesetzter als Kapellmeister war Asprilio Pacelli*, welcher am
4. Mai 1623 im Alter von 53 Jahren starb. So ganz friedlich
scheinen beide Männer nicht mit einander ausgekommen zu sein.
Wenn bei der Auffuhrung von Sieferts Kompositionen irgend etwas
in Unordnung kam, so schob Siefert die Schuld auf das schlechte
Taktieren des Kapellmeisters.^ Trotzdem scheint sich Siefert in
Warschau wohlgeföhlt und der Gunst seines Fürsten erfreut zu
haben. Es läßt sich nicht verkennen, daß er in den Titeln seiner
beiden Psalmenwerke einen gewissen Accent legt auf die Erwähnung
seiner früheren Anstellung in Warschau. Daß auch die Söhne
Sigismunds IIL, Wladislaw IV. (1632—1648) und Johann IL Casimir
(1648 — 1669), ihm Wohlwollen entgegenbrachten, werden wir öfters
bemerken.
In Warschau bildete Siefert einen Schüler aus, Namens Andreas
Neunabe r. Wir lassen diesen am besten selbst zu Worte kommen;
er sagt in einer Eingabe an den Danziger Rath^:
1 Vergl. Vierteljahrsschr. f. Musikw. 1891, S. 187.
2 Auf dem Titel des I. Theils seiner Psalmen (Danzig 1640; ExempL Dan-
zig. Stadtbiblioth.j steht: »Vor zeiten in Königl. Capelle Königs in Polen Sigis-
mundi IIL Sei. Hochl. Oed&chtnüß«; auf dem Titel des II. Theils (1651) ähnlich:
aolim Serenissimi Regis Sigismundi IIL B. M. in Capella.^
3 Vergl. über ihn Sterovolscius , a. a. O. S. 247; femer Walther, Lexikon,
S. 457; Gerber, Neues Lexik.; F6tis, Biogr. univ.
4 Aus ähnlicher Veranlassung berichtet darüber die ^ Supplication Caspari
Försteri« vom 19. April 1628: Siefert habe gesagt »Der Capeümeister hatt iaeti-
ret "wie ein Schelm, Vndt der Kazgraue Schelm Asprilius hette es ihm su Hofe
auch also gemacht, wen seine Compositiones in CapeUa gesungen worden.« (Dan-
zig. Stadtarchiv).
5 vLibellus supplex Andreae Neunabers«, ohne Datum, aber Anfang 1620
(Danzig. Stadtarchiv).
Paul Siefert, Biographische Skizze. 4OI
»kan Ewer Ehrnfeste Herrligkeitten ich dienstschuldig nicht bergen,
das dem Chor in S. Marien Kirchen ich vor einen Diseantiaten 6 Jahre lang im
singen mich gebrauchen laßen , wie dan auch der Schule bestem Vermögen nach
im lernen abgewarttet Alß hab ich mich, weil ich in der Music und sin-
gen, auch comp&niren einen zimlichen anfang gehabt, in Gottes nahmen die Orga-
nisten kunsti bey Matthias Ledern, domaln Organisten zu S. Peter [in Dan-
xig], in die zwei Jahr, itzo aber zu warschaw bey Paul Siefert auch fiber zwei
Jahr gelemet Weil aber Paul Siefertt seinen Abscheid (wie man sagt) von Kön.
May. nehmen wird, woltte ich nicht gerne, dieweil ich einen zimlichen anfang
gemachet, auch es meinem lieben Vater schon etwas gekostet, ablaßen, besondern
vielmehr der kunst weiter nachtrachten, mich auch nicht gerne von hinnen [War-
schau] weg begeben, nach dehme man alhier yiele gute und kunstreiche Mt*si-
caäen hatt, und sonderlich den Italianisehen Organisten Tarquinium Meruli,
welcher offtmalen zu meinem Herrn, dem H. Modli#e/«Ay, Kö: May. Küchen-
meister kompt, bei welchem Herrn ich gute gelegenheitt zum atuditen habe, Ist
derohalben mein ynterdienstliches bitten, Ewer E. Hk. wollen bei einem
£. H. Rath, meiner geringen person im besten gedencken, damitt ich [weil mei-
nem Täter wegen der andern kinder die hand zu kurtz feltt, mir mehr Zuschub
xa thun) mich alhier bei gedachtem Organisten noch eine zeittlang zu lernen mir
.... ein lehrgelde , so ich monatlich geben muß , großgönstig zusteuer kommen,
▼il solche eines E. H. Raths gutthatt .... nimmer vergeßen, und meinem lieben
Vaterland künfftiger zeitt, so fem mir Gott das leben gönnen wird, wiederumb
SU dienen willig gebrauchen laßen« ....
Welchen Bescheid der Rath darauf ertheilte, erfahren wir nicht.
Jedenfalls werden wir doch über die Persönlichkeit Neunabers unter-
richtet, sowie über den Aufenthalt Tarquinio Merulas in Warschau,
wo er demgemäß mit Siefert zusammengetroffen sein muß.
Die Absicht Sieferts, aus dem Dienste des Königs Sigismund zu
scheiden, muß im Jahre 1620 bestanden haben. In diesem Jahre
befand er sich kurz vor Ostern in Danzig, wo er dem Bathe ein
Verzeichniß neuer Kompositionen überreicht, um deren Auffuhrung
während der Osterfeiertage in der Kirche er nachsucht:
•REGISTER der Newen officia Magnißcat Muteten vndt Psalmen So Paul
Siefert Auf die Heilige Ostern fertig gemacht Tndt Einem Erb. Hochw.
Raht, in Aller ynterthtoikeit, vndt gebürender reverenig überreichen tuht.
1) Ein New officium auf 3 Cohr mit 17 Stimmen, gesteh auf Singer, Po-
saunen. Cometen, Violen vndt Positif. ^
2) Ein New officium Auf 3 Cohr welche «^ortret werden mit 12 Stimmen
Auf Singer Vndt beigesetzte instrumenta gericht mit 3 Orgeln.
3) Ein New officium mit 13 Stimmen Auf Einen Cohr mit Singer, Posaunen,
Corneten, Violen vndt Positif.
In diesen offieiie sindt 20 Stücke
4) Surrexit Pastor honus mit 14 Stimmen Auf Singer vndt Vorgedachte imtru-
mento absonderlich concert^tiQ gesetzt.
5) Congratulamini mihi otnnes mit 15 Stimmen concertvreiQ mit Symphonii
^dt gedachten insirumenten,
6) Victime Pasehali mit 16 Stimmen concertweiQ gesetzt
7) Ad laudeSj mit 12 Stimmen Concelehrent laudes Summi Auf 3 Vnterschied-
liche Cohr.
402 ^" Seiffert,
8) Ad laudes, mit 19 Stimmen Foelix irmumera Dei que facta. Auf Singer
Yndt gedachte instrumenta,
9) Moffnificat eoncert^eiQ gesetzt mit 8 Stimmen.
10] Dixit Dominus mit 16 Stimmen, Cancertweiß auf Singer vndt gedachte
instrumenta.
Soli Dso Gloria.
Diese Arbeit ist fertig, mit allen Partituren Vnndt GeneraJhaßen.ft
Am 13. April 1620 faßte der Rath den Beschluß <, daß Siefert
seine Kompositionen zu Ostern auffuhren könnte, sich jedoch vorher
darüber mit Kaspar Förster verständigen sollte.
In Danzig lebten während des 17. Jahrh. zwei Männer, Namens
Kaspar Förster.^ Nachrichten über sie geben Walther, Mattheson,
Löschin, Hirsch und Döring; aber die Angaben über ihr verwandt-
schaftliches Yerhältniß zu einander, über ihre amtliche Stellung sind
zum Theil so widersprechend und ungenau, daß wir an der Hand
unserer Dokumente einmal erst die beiden Persönlichkeiten fest-
stellen wollen. Man muß die beiden Ämter als Kapellmeister an
der Marienkirche und als Kantor am akademischen Gymnasium
recht auseinander halten, wenn auch der Marienchor mit dem Chor
des Gymnasiums oft vereinigt wirkte.^
Im Jahre 1602 wurde Nikolaus Zange Kapellmeister als
Nachfolger von Johann Wanning (f 1604)*. Zange verließ aber
1602 schon wieder Danzig aus Furcht vor der Pest; 1605 kehrte er
erst zurück, ging aber 1606 zum zweiten Male weg. Daß der Rath
diesmal nicht gesonnen war zu warten, bis es Zange belieben möchte
wiederzukommen, war ganz natürlich. Indessen vergingen doch bis
zur Wiederbesetzung der Kapellmeisterstelle zwei Jahre. Unter den
Bewerbern ist auch »Caspar Forste rusMusicus«; er richtet im
Jahre 1607 folgendes Gesuch an den Rath:
«S.
Secessit iterum^ nisi omnino discessit Nicolaus Zangius Musicus vester
Dubitatur communit&r, num reversurus iüe! num item Magnißcentiae vestrae ab-
sentem pristina patientia praestolaturae! Utrumque vereor ut ßat, Quod si sup-
plere locum animus est, Magnißcentiae vestrae sine dubio Musicum et sua MajesUtte^
et iüo etiarn apud exteros honestato loeo dignum constituent Viinam in me
1 vLect: in sen: den 13 Aprilis Ao. 1620a (Danzig. Stadtarchiv). »Lest £, £,
Raht geschehen, dass Paul Siuerdt auff die feyertage seine componirte stücke mOge
singen lassen iedoch dass Vorgengigk mit Caspar Förstero geredet verde damit
er hierin oonsentire damit er sich nicht ins künfftige zu beschweren habe.«
2 So ist der Name zu schreiben; »Forster« ist eine latinisirte Form.
3 Dr. Th. Hirsch, »Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig*,
Danzig 1837, S. 44 f.
* Vergl. Dr. G. Löschin, »Beiträge zur Geschichte Danzigs und seiner Um-
gebungen«, Danzig 1837, L S. 37; G. Döring, »Zur Geschichte dar Musik in
Preußen«, Elbing 1852, S. 54.
Paul Siefert, Biographische Skizze. 4Q3
€9iet iila, quam magno lahore, muHis peregrinationibus adnüus sum, in re Mtisica
ferfedio! tota unis chori vestri mancipareiur laudibus. Si quid tatnen est in me
iite ingenii, sive artis, quod ad EccUsiae usum , et vestrum Patres heneplacitum
faeiat, quantum iUud est, non possum nan Magnificentiis vestris Offerte, petendo
^ in ordinatione Magistri Capeüae mei quoque rationem habeant, Faxo ego, ut
aures vestrae dornig ei Musica vestra apud exteros hene audiant.fi
Der Rath beschloß, einen definitiven Bescheid erst zu ertheilen,
sobald die Anstellungen im Kirchenchor zur Sprache kämen: ^ *
K. Förster nennt sich »Musicus«; er war also Mitglied der
Kirchenkapelle von St. Marien. Seit wie lange er dies war, erfahren
wir aus späteren gelegentlichen Bemerkungen : ^ seit 1600 oder 1602.
Als städtisches Kapellmitglied bewarb er sich also um den von
N. Zange verlassenen Posten. Jedoch erhielt er ihn nicht, sondern
Andreas Hackenberger^ aus Pommern, der 1608 sein Amt an-
trat und bis 1625 lebte. Dagegen eröffioiete sich K. Förster eine
andere Aussicht. Am 24. Januar 1606 starb Daniel Asaricus,
welcher seit 1584 Professor der griechischen und orientalischen
Sprachen, Kantor und Bibliothekar am akademischen Gymnasium in
Danzig gewesen war.^ In dessen Stelle rückte K. Förster unmittel-
bar, wie es scheint,^ nicht erst 1613^ ein. Das Danziger Gymnasium
genoß im Anfange des 17. Jahrh. einen großen Ruf^; der Kantor
hatte einen Singe- und Kaiendechor nebst Instrumentisten unter
seiner Leitung. <^ In pekuniärer Beziehung waren selbst die untersten
Lehrer, y^coUegae^, gut gestellt: sie erhielten gegen 500 fl. Gehalt und
dazu das Schulgeld ihrer Klasse^, und durch ihr Amt erwarben sie
* ^Leet. 10. Sept. Ao. 1607. Vnd stelln ein £. R. die saohen auß biß von
bestallang des Choreß wirdt geredet werden« (Danzig. Stadtarchiv).
2 14. JuH 1617 (Danzig. Stadtarchiv): »wie das Ich nun in die funfzehen
Jahr dieser guhten Statt mit meinen wenigen Dinsten in kirchen vndt schulen
aufgewartet«. 15. Mai 1628 (Danzig. Stadtarchiv): »£. £. Hochw. Raht, dem ich
meine patientiam Vnd ßdelitatem in anbefohlenen Dinsten nun über die sechs
Vnd zwanzig Jahr gnugsam probiret«^.
^ Dr. G. Löschin, »Beiträge zur Geschichte Danzigs und seiner Umgebungen«,
Danzig 1837, I. S. 37; inkorrekt sind die Angaben von G. Döring, »Zur Geschichte
der Musik in Preußen«, Elbing 1852, S. 54.
* Chr. G. Jöcher, Gelehrten-Lexikon, Leipzig 1733, Sp. 248, Dr. Th. Hirsch,
■Geschichte des academischen Gymnasiums in Danzig«, Danzig 1837, S. 63.
^ »D. Casparus Fifrsterusft, 14. Juli 1617 (Danzig. Stadtarchiv): »damit ich
anderer geschweige, an meinem antecessore S. Herren Daniel Asarico«,
* vgL Anm. 3.
^ Dr. Th. Hirsch, Gesch. d. acad. Gymn., S. 13 ff.
s ebendort S. 44 i
0 ebendort S. 41 Anm. 13.
404 ^^^^ Seiffert,
sich Ehrenbürgerrecht. 1 Daß K. Förster nicht bloß als Musiker
sondern auch als Lehrer hier thätig war, darf man aus Scacchis Worten *
wohl herauslesen.
Im Jahre 1617 kam indessen K. Förster trotz seiner günstigen
Stellung in eine mißliche pekuniäre Lage; er wandte sich infolge-
dessen mit folgendem Bittgesuch an den Sath:
pkan £. £. Hkt. Ich der nothurft nach nicht unerinnert lassen, —
wie in hac omnium verum difficuUaie allerley defectus in re familiari sich erei-
gen , welchen zu remediren .... Ich mich allzeit eusersten Vermögen nach be-
flissen , vndt dennoch die handt zu kurtz gefallen : Als hab Ich ietziger Zeit ad
8ublevandam,rei famüiaris angustiam ein solches mittel an die handt genommen,
so nicht alein meiner profeasion gemes, sondern auch unsem GH/mnasio erspriß-
lich sein möchte, nemlich nebenst meiner profession einen kleinen Buchhandel
zutreiben.
Weil dann zu solchen meinen proposito E. E. Hkt. patroeinium vnjt *«6-
sidium Ich zum höchsten benötigt, E. E. Hkt auch aus angebomer keroisehgH
naiur vndt liberalitet Ihrer unterthanen vndt gehorsamen Diener wolfart gern be-
fördern, Ihnen Jura civitatis conferiren, wie sie dann solches magna cum laude an
vielen literatis erwisen, auch, damit ich anderer geschweige, an meinem atUe-
cessore S. Herren Daniel Asarico:
Als gelanget auch deßfals an E. £. Hkt. mein untertheniges bitten, £. E.
Hkt. wollen meiner wenigen Person grosgönstiglichen geruchen, solches ben^/icmm
juris civitatis Ihren Diener gönnen vndt bey E. E. ratte zu wege bringen, damit
ich desto sicherer vndt unturhirt in solchem meinen proposito fortfahren vndt be-
harren könte
Caspar Försterus^ Can-
tor Gymwmi.*
Am 14. Juli 1677 bewilligte der Rath beides.^ Aus dem
Dokument geht übrigens hervor, was schon Löschin^ nachzuweisen
sucht, daß nämlich K. Förster keine eigene Druckerei, sondern nur
einen Buchladen besaß. Den Buchhandel übernahm nach K. Försters
Tode dessen Sohn Georg ^, welcher auch in Amsterdam einen Buch-
laden besaß. — Über den zweiten Kaspar Förster werden unsere
Dokumente ganz neue Auskunft später geben können.
Als Siefert im Jahre 1620 nach Danzig zurückkehrte und dem
Rathe seine Kompositionen anbot, war also Hackenberger noch
1 ebendort S. 40.
2 »Cribrum musicum«, Venedig 1643 (nach Matthesons Ehrenpforte S. 6$ff.):
nCum scirem te diversis scientiarum generibus excultwn, et in dantiscano Gymnasio
aliquas disciplinas, summa cum laude publice olim profectum [professum?] fuisse.*
3 »£. £. Raht hatt geschlossen, dass supplicanten 40 fl. zum burgerrecht
auß der Kammerey verehret werden sollen. Act: in senatu 14. Julg 1617« (Dan-
zig. Stadtarchiv).
^ »Geschichte der Danziger Buchdruck ereien«, Danzig 1840, S. 14.
5 Vgl. über ihn auch Walthers Lexikon, S. 255 f.; Matthesons Ehrenpforte»
S. 68 ff.
Paul Siefert, Biographische Skizze. 405
Kapellmeister an St. Marien. Wenn sich behufs der Aufführung
derselben Siefert mit K. Förster in Einvernehmen setzen mußte » so
geht daraus hervor^ dass der Singechor des Gymnasiums während der
Osterfeiertage den Kirchenchor Ton St. Marien unterstützen und
demgemäß Siefert, um eine sorgfältig vorbereitete Aufführung zu er-
möglichen, dem Kantor von dem Rathsbeschlusse Mittheilung machen
muSte. Daß jene für Siefert einen sichtbaren Erfolg nach sich zog,
erfahren wir nicht; die bedeutendsten musikalischen Amter in Danzig
waren alle besetzt. K. Förster und Hackenberger sind schon .mehr-
fach genannt; Organist an der Marienkirche war seit 1613 Michael
Weyda.^ Dieser starb jedoch schon 1623, und nun war Siefert der
geeignetste Mann, um sein Nachfolger zu werden. Er hatte die
Orgelkunst bei Sweelinck erlernt, und Proben seiner kompositorischen
Tüchtigkeit hatte er nicht bloß früher am Warschauer Hofe, sondern
auch vor dem Danziger Rathe abgelegt. —
In seiner neuen Stellung erging es Siefert bald so wie in
Warschau: er konnte sich mit s^inepi Kapellmeister nicht recht ver-
tragen, ^ sobald es sich darum handelte, seine eigenen Kompositionen
zu Gehör zu bringen. Es sollte aber noch viel schlimmer kommen.
Im Jahre 1625 starb Hackenberger.^ Der Rath ließ, wie sich aus
den später mitgetheilten Dokumenten ergiebt, die Stelle vorläufig
frei. Es bewarben sich K. Förster und Siefert um sie, welche beide
des Öfteren Proben ihres Geschickes in der Leitung der Kirchen-
musik ablegten. Zu Anfang des Jahres 1627 entschied sich endlich
der Kath. K. Förster wurde Kapellmeister; Siefert erhielt dagegen
die Weisung, sich auf die KapeÜmeisterstelle keine Hoffnung mehr
zu machen. Daß der Rath den 20 Jahre hindurch als Kantor be-
währten K. Förster wählte, ist wohl erklärlich. Ebenso erklärlich
ist es aber auch, daß Siefert von der Wahl nicht sonderlich erbaut
war. Abgesehen davon, daß er selbst auf die vakante Stelle reflek-
tierte, konnte er es jetzt und auch später noch K. Förster mit
Recht vorwerfen, daß dieser fast gar nicht mit eigenen, sondern nur
mit fremden Kompositionen hervorträte. Siefert war sich seiner
künstlerischen Überlegenheit über K. Förster bewußt, während dieser
* VergL S. 403. Anna. 3. • • • •
' ^Supplieation Caspari Försterin vom 19. April 1629, (Danzig*. Stadtarchiv):
'»Gestalt Er [Siefert] es dan auch mit dem S. CapeUmeiater [Hackenberger] anders
nicht gemachet, den als derselbe seine, des Pauli Syferts Compoeiiion ausingen
flieh bereden laßen , Vndt eine Canftmon darin entstanden , hat er auff denselben
Mann ganz ungestümm ausgegoßen undt gesagt, der Capellmeisier hatt iactket
wie ein Schelm«; vergl. oben 8. 400. Anm. 4.
' Vergl. Anm. 1.
406 ^^ Seiffert,
die Autorität eines Vorgesetzten in Anspruch nahm. Aus einer an-
fänglich wohl nur kleinen Spannung zwischen Siefert und seinem
Kapellmeister entwickelte sich so sehr schnell ein arger Streit^ dessen
Verlauf wir an der Hand von erhaltenen Beschwerden und Gregen-
beschwerden, disciplinarischen Untersuchungsakten u. s. w. noch ver-
folgen können.
Als erster auf dem Kampfplätze erschien Siefert; er forderte
Förster zu einem öffentlichen musikalischen Wettkampf auf:
» Vndt kan hiemit Euer Ehrenreste Herlik., Vntert&hnigst nicht ver-
halten, Nach dem ich meine Arbeit zu Vnterschiedlichen mahlen K E. Herl.:
offeriret auch itzo abermaln mit gebürender JRevereniz übergebe. E. E. H. auch
die Vorige übergebene Sachen, auf Ihren befehl in der Kirchen abgehmi hören.
Als hette ich Verhoffet , Es solte Casparus [Förster] , als welcher solch officium,
Chori 3fu8iei8 [!] Magiatri eu aeeeptiven sieh Vnterstehet, mit seiner Vndt nicht
mit frembder Authcften arbeit, sich auch haben hören lassen, Insonderheit, wdl
er so lauge zeit darzu gehabt. Es ist aber nicht allein biß dato noch nichts
Meisterlichs herfür kommen, Sondern er hat an stat deßen auf meine Persohn
mit allerhandt tractica gestachelt, Welches ich alles dem lieben Gott heimstellen
tuhe. Er Vermeinet aber Vieleicht, das die leute scheinen VergeBen zu
haben , das es eine freye Kunst sey, Vndt das er also durch frembder Autkatea
Kunst vndt Arbeit woU werde können ad gradum Artis Musiees Magitiri, Vndt
dero Titul Vndt Nahmen eines Künstlers gelangen. Ich glaube aber, wen man
diese Kunst Von Jugendt auf, mit großer mühe Vndt arbeit nicht itudisen.
durffte...., das sich Viel competitores Fastigii 3fagistrali8 finden würden, Vmb
des Nahmens hoheit willen
Auß diesem Fundament wie auch aus diesem , dass Kein Gapelmeister
in arte muaica, mit frembder ^u^oren Arbeit magiatriren Könne. Weill Ich von
Jugent auf die musicam in arte componendif nicht ohne mühe, Vndt große Arbeit
gestudiret, Vndt bey Königlichen Vndt Fürstlichen CapeUen geübet habe, JPro-
vocire ich den Casparum ad certamen Musictim Publicum, wie es £. E. H. ge-
fallen wirdt, das er zum Wenigsten 3 Sontage, mit seiner Vnterschiednen Eige-
nen, Vndt nicht mit frembder Compositum, die gantze Mwica officio, Vndt was
dazu gehörigk, zu halten solle schuldig sein, dieselbige arbeit auch forstellen,
Vndt drüber Judicia erleiden, ob es auch seine Arbeit, vndt ob auch vitia contra
Ariern Musicam darinnen, wie den in seinen Vorigen de ore prudentis, deroselben
mehr als ich inmier Verhoffet gewesen, zu finden sein.
Damit er sich aber hierüber nicht zu beschweren habe, so bin Ich eben daß
erbötigk, durch meine Vnterschiedliche , Vndt nicht durch frembde Kunst Vndt
arbeit, 3 Sontage, Wen es E. E. H. gefeilig ist. Publice in der Kirchen zur Ehre
Gottes die Musicam Vollkömlich zu halten, dieselbe auch Aufzuweisen, Vndt
Judicia darüber zu erleiden. Vndt zweifele gantz nicht E. E. H solch Certamen
.... mit besonderer affection deroselben beywohnen zuhören vndt Vrteilen
werden« ....
Der Rath beschloß am 2. Dezember 1627, den definitiven Be-
scheid erst zu ertheilen, sobald der augenblicklich abwesende Bürger-
meister V. Bodeck zurückgekehrt sei.^ Der Rath bewilligte nach der
1 »Demütige supplication Pauli Sieferts Pfarrorganisten«. »Lect: in sen: den
2. Dec: Ao. 1627 Vnd wirdt diese supplication verleget biß zur ankun£ft deß H.
Paul Siefert, Biographische Skiaze. 40*^
Ankunft des Bürgenneisters das Gesuch Sieferts. K. Förster ver-
suchte indessen, den Beschluß rückgängig zu machen, indem er auf
Terschiedene ünzuträglichkeiten aufmerksam machte, welche jener
Beschluß für ihn im Gefolge hätte.
»So treibet mich doch die unumbgängliche noht, den Pauli Syfert
meinem sugenöhtigten Wiedersacher lenger nicht zuzusehen, sondern bey Zeiten
meine gravamina wieder denselben £. E. Hochw. Habt demütigst vorzutragen,
lumahlen derselbe mit unzeittigen seinen posiulatis bey E. E. HrL mir daß ChoTy
so unl&ngst auf E. E. Hochw. Rahts Schluß, undt folgige Introduction , nicht
ihme, sondern mir anbefohlen worden, allgemach zu sperren, oder ie zum wenig-
sten sich per Ctmicuhs in dasselbe mit einzudringen, vndt zuor Unruhen sich
h&chlieh bemühet, In dem er seine Compaaitiones in Vorstehenden Osterfest auff
dem Chor zu singen begehret, auch soviell gewircket, das der Herr Prae9%d%rendL.e
Bürgermeister . . . mir dieselbe zu machen, verschienen Freytagk angesaget, dem-
selben ich auch nachzukommen .... ich mich keinesweges eusern wolte, wan
nicht solches zu meinem höchsten despect gereichen, Vndt über dem auch große
ineonvenientas hinder sich ziehen thette; den ob zwar woU auch die berümbsten
Musici , nicht immerdar ihre selbst eigene Arbeit singen , sondern pro henepladto
baldt Diesen, baldt Jenen autorem Vornehmen, So hat doch niemahln irkein
Ckori Magister Ihm wieder seinen willen eines andern Musici Compositiones auf-
dringen laßen , Weill solches . . dermaßen verkleinerlieh, das auch woU die Can-
tcres in prtrafechuelen sich damit ungerne despectir&x laßen dahero auch
der Vortreffliche Musicus vndt Organist zu Venedig Hr. Joan Gahrieli, als
£r Königl. Mayt. in Fohlen undt Schweden [Sigismund IH.] zu Warschaw seine
Compositiones offeriret, selber die Capell zure^tren, oder auch auff einer gewißen
zeit dieselben zumachen nicht begehret, sondern alles in des damahligen CapeUae
Magistri Herrn Asprüij PaceUi gefallen undt gutachten gestellet, Dergestalt es
dan auch an allen Örtem vemunfftige Musici noch halten, Von dero
Zahl aber Pauli Syfert, wie es scheinet, sich ganz undt gar abzusondern gedencket,
Indem er mit beregten seinen postulatis das mir anvertraute Chor, ungeachtet E.
E. Hochw. Raht hiebevor per expressum geschloßen, daß nemlich Pauli Siefert
hinfort sieh keine gedancken mehr auff dasselbe machen solte, nicht allein ipso
facto zubeschimpffen . • sich bemühet, sondern auch in selbigen attentatis
ie mehr undt mehr turbas mir in meiner funetion zu erwecken , nicht unterlaßen
wirdt Inmaßen er nicht allein mit unglimpfilicher Protestation kegenst meine
Introduction den Kampff mir gleichsam angekündiget sondern auch so-
woll schrifftlich, als mundtlich noch an Vergangenen Freytagk, mich warnen,
undt per expressum sich yerlauten laßen, es mit mir so nicht yerbleiben solte,
ja auch anderweit ganz unbesonnener weise sich vernehmen lassen, das wofern
£. £. Hochw. Raht ihn zu seinen Vorhaben nicht verhelffen würde, Er sich an
die Gemeine , so mich bey den Haaren Vom Chor herab ziehenn solte, schlagen,
aneh vor seine Person nicht allein kommen, sondern ein guttes Rohr undt Xne-
helspieß (welches dan einen wunderbahrlichen Tact gebehren würde) mit sich
bringen, undt damit demselben, der Ihm zuwieder sein würde, soviel geben wolte,
daß er es woll solte- vergeßen. Aus welch . hoohbeschwerlichen bedrawung undt
dißdatumibus E. E. Hochw. Raht gnugsam abzusehen hat, dass es mit exhibi-
Hing imd ohtruditnn^ seiner Compositionen nirgents anders hin gemeinet sey, als
Bürgermeisters von Bodeck.« (Archiv der St. Marienkirche), tber v. Bodeek
vcrgl. Dr. G. Löschin, die Bürgermeister u. s. w., S. 35.
408 ^'^ Seiffert,
daß Er, im fall er das Chor aelbsten z\iregmn sich eindringen wOrde, wie er
dan solches bey Menniglich sich yerlauten lest, auch wieder (?) vergangenen Frey-
tagk in allen gassen undt Courtegarden herumbgelauffen , Vndt die Leute darzu
mviiiret, meine Person, gleich yermücht ich dem Hohen Fest mit der Munc nicht
sein Recht zuthuen, beschimpfe, oder auch, im fall ich dieselbe zusingen, an
mich nehmen solte, mit mir zuzanken undt zuhadem gelegenheit nehmen milchte,
Oestalt Er es dan auch mit dem S. CapeUmeister [Hackenberger] anders nicht ge-
macht ^ Auff welche Ahrt undt weise er auch unlängst auff der Hoch-
zeit des H. Wichmans dem Altisten Soccoll, wie auch dem Organisten auff dem
Chor, da doch die schuldt nicht bey dem Organisten^ sondern bey ihm Faulo ge-
wesen, inmaßen er selbsten aus der Partitur ezliche tact ausgelaßen gehabt, ge-
than. Ja so ist Er mit den H. Kirchvätern, mit dem Signatore, seinen Cakan-
ten etc. etc. seiner Alten gewonheit nach vmbgegangen dannenhero die
mehrere, auch Vornembste zu Chor Von dem Vorbenanten Pauli Syfert sich der-
maßen abalienirt befinden, das sie auch auff das Chor nicht zukommen sich ex-
presse yerlauten laßen, Dafem Er entweder zure^iren sich untelrstehe, oder auch
seine Compositiones gesungen werden solt^n : .'
. . . bittende E. E. hochw. Raht geruhe großgünstig die allegirte incom-
moda, so aus der Pauli Syferts unzeitigen suchen undt beginnen ent-
springen kunten, zuerwegen, Vndt Ihn zu seiner Orgel, auff welcher ihm die Elöst-
lichsten stücke in der Welt zumachen, frey undt offen stehet, zu verweisen, mich
aber bey meiner funciion undt deßen anbefohlener Verwaltung, Darauff ich mich
zum Vorstehenden Osterfest dermaßen geschick'et, das E. E. Hochw. Raht . . .
ohne Zuthuung d&s Pauli Syferts oder deßen Compositionen eben woll ein groß-
gunstiges genügen daran wirdt haben können, großgunstigk zuschüzen, undt mich
mit dem Unruhigen Menschen nicht zu Committiren* '
Der Rath versprach darauf am 19. April 1628^ K. Förster, ihm
allen Schutz zukommen zu lassen, hob jedoch die einmal ertheilte
Erlaubniß nicht wieder auf. Die Aufführung ging vor sich. Dieser
ganze Vorfall gab natürlich dem Ansehen Försters einen starken
Stoß. Bitter beklagt er sich denn auch in einem Schreiben an den
Rath, daß seine vorher geäußerten Befürchtungen eingetroffen seien:
». nach dem mal E. Ernv. Hochw. Kaht cLem Paul Syfert im Ver-
flossenen Österlichen Feurtagen dasselbe [chorus musicus] eröfnet, ist nicht alein in
der waiheit dasselbe, welches ich darbey befahret, auch E. Ernv. Hochw. Bäht
schriftlich Vorgetragen^ .erfolget, sondern es bricht auch des Vorbenannten Si-
ferten muhtwiU Vnd bösgemeintes Hertz an ietzo recht aus, in dem er sieh
kegenst glaubwürdige leute, die dessen in keiner abrede sein, hören Vnd Verneh-
men lassen, Er habe mir gleichwol nun diesen schimpf bey gebracht, das Ich Ihm
hette auf die Ostern weichen müssen , es solte nicht Pfingsten werden , ja venn
nur das festum Ascensionis heran kome, solte es wieder gescheen, Vnd was der
Verdrißlichen Vnd despectirlichen Dinge mehr Vorlaufen, wordureh ich nicht aleia
bey menniglichen in dieser Statt, sondern auch bey hof Vnd anderswo, bevonb
bey MusieiSf welchen solches proeedere nie Vorkommen, auch gar inauditum ist,
merklichen despeetirt werde Darumb ich E. Ernv. Hochw. Kaht . • . •
i Vergl. S. 405. Anm. 2.
2 »Supplication Caspari Försteri.« i^Lect: 19. Aprilis Ao. 1628 Vnd leaset es
E. E. Raht bey Vorigem schluß bewenden das des Paul Sieferts eomposäion auf
dieser heiligen tage eilten pauge gesungen werden.« (Danzig. Stadtarchiv).
Paul Siefert, Biographische Skizze. 409
solche des Paul Syferten Boßheit, Vnd das alles selbiges sein Vorhaben, nicht
ad honestandunif sondern ad turbandum chorum Musicum, Vnd zu meiner be-
aehimpfung gemeinet, nochmaln . • zu erkennen geben wollen, hoffende Vnd
bittende, E. E. Hochw. flaht .... da PtxiU Syfert sich fortan weiter zu dem
mir an Vertrautem ehor nöhtigen Vnd einflechten wurde, die defensionem honoris
mei .... mir nicht verargen werde.«
Der Rath versicherte darauf Förster am 15. Mai 1628^ noch
einmal seines Schutzes, betonte aber gleichzeitig auch sein Recht,
über den Chor nach seinem Belieben zu bestimmen.
His jetzt hatte Siefert unstreitig den Sieg davongetragen. Statt
sich aber mit diesem Erfolge zu begnügen, trieb er die Feindselig-
keiten bis zur äußersten Grenze. Auf die dringenden Beschwerden
Försters hin, sah sich nunmehr der Rath 1630 genöthigt, die An-
gelegenheit vor sein Forum zu ziehen. Die betheiligten Parteien
wurden vorgeladen, und die Streitigkeit wurde dadurch vorläufig
beigelegt, daß der Rath Sieferts aggressives Verhalten scharf rügte
and für die Zukunft untersagte. Das Protokoll '^^ über die Verhand-
lung lautet:
»Auf forgengiges suppliciien vnd vielfeltiges beschweren des Capelmeisters
Caapari Forsten wie auch des Altisten Sokol kegens Pauel Sieferd Organisten
wegen deßen vngeburlichen Verhaltens, ausgegoßenen m»fir»en vnd Schmeheworten
faatt ein Erb. Raht sambtliche 3 Personen vorfordem laßen vnd eines ieden munt-
lieh anbringen angehöret. Dorauf dan ein Erb. Kahtt geschloßen, das dem Pauel
Sieferd sein vngebuer solte hart verwiesen werden, das er nemlich mit frembden
heiducken den eingangk zur Orgel wehren wollen, mit ehrenrührigen wortten umb
sieh geworffen vnd dergestalt den Kirchen frieden turbiret, mit ernstlicher ver-
wamung wofeme er von solchem bösen vornehmen nicht abstehen wurde, vnd
«ich mit Worten oder werken an irkeinen forbenanten Personen vergreiffen vnd sie
solehes beweisen konten, das er als dan in continenii ohne weitere inquisition oder
Aufschub seines Dinstes soll verlustigk sein. Imgleichen das ihm solte auferlegt
werden den Capelmeister in Verrichtung seines Ampts, in keinerley wege su hin-
dern weder auf dem Chor noch auf der Orgel sondern deßelben anordnung sich
gemeß suuer halten vnd diejenigen so zur 3fusic bestellet, nicht zu excludiren oder
ihnen sich vnzimlich zuwiedersetzen noch den Sokol mit falschen verleumbdungen
an seinem verdinst bey den hochzeiten zuuerkurzen, bey obgesagter condition
vnd straff so vnfelbahr erfolgen solL Welches alles in namen E. E. Bahts dem
Pauel Sieferd in publica sessione angesaget worden. Actum in Senatu 29. Aprilis,
Anno 1630.
Seinrieus Frederus Secret.^
* »Supplieation Caspari Försterir. »Leet: in Sem 15. May Anno 1628. £. E.
Rahtt hatt geschloßen vndt verbleibet bey Ihrem vorigen Schluß den supplic. wie-
der allen vngebühr in seinem officio zu schützen. E. E. Rahtt wü sich aber ihrer
Hoheit vorbehalten haben, jemandt frey zugeben auff Ihr belieben in künftig
seine probe zu singen.« (Danzig. Stadtarchiv}.
2 Danzig. Stadtarchiv.
' VergL über ihn Dr. G. Löschin, Die Bürgermeister u. s. w., S. 33.
1891. 28
410 ^^^ Seifert,
Welches £. E. Rahts Schluß vnd Abscheid der herr Pramdent auf der Parte be-
geren im Amptbuch suuerschreiben Ambtshalben nachgegeben.
Ad, 10. May, Anno 1630.
Ex Actis Praecox, Speetab. Dni Eeeardi ä Kemp^^ Praeeo$s. Praesidis.v
Es yerstTeichen nun einige Jahre^ ohne daß wir von einem Kon-
flikt zwischen dem Kapellmeister und dem Organisten etwas hören.
Beide scheinen also doch einen Weg gefunden zu haben, auf welchem
sie leidlich gut nebeneinander hergehen konnten, ohne sich gegen-
seitig viel zu stören. Siefert war außerdem, wie wir sehen werden^
nach zwei Seiten hin anderweitig in Anspruch genommen. Indessen
lange dauerte die Buhe nicht. Im Jahre 1636 wandte sich Förster
an den Rath mit der Bitte um eine amtlich beglaubigte Abschrift
des Beschlusses vom 29. April 1630 :
..... »Wan ich dann nun sothanes Schlusses lu meiner beschutsung . .
Kegenst selbigen Manne [Siefert] schon vor diesem woU bedürftig gewesen ; Ynndt
an itzo desselben sub sigiUo civitatis hoch benötigt bin , als hab ich bey £. Emv.
Hoehw. Raht supplicando des fals anhalten wollen .... mir selbigen schluß de
dato 29. ApriL ao, 1630 sub sigiUo Civit^Uis awthentioe zu extradiren .... da-
mit ich mich meines erhaltenen Rechtens zu informiren, vnnd auff einen oder an-
dern begebenden fall zu schützen habe.«
Der Rath lehnte in seinem Bescheide vom 14. November 1636
die Zustellung einer amtlichen Kopie ab, wie er es auch bei Siefert
einmal that.^ Dagegen hätte jedoch Förster wohl eine persönliche
Einsicht in die Akten gewährt werden können, wie es bei Siefert
geschah. Wenn der Kath sich aber in diesem Falle nicht darauf
einließ, so geschah es, weil es ihm nicht heb war, den Streit wieder
erneut zu sehen, und ihm daran lag, den Ausbruch desselben auf
möglichst lange Zeit hinaus zu verschieben. Aber schon im nächsten
Jahre, 1637, geriethen die beiden Gegner heftig aneinander, und
nun mußte der Bath die beiderseitigen Klagen wieder hören. Förster
beklagt sich zuerst über den »unruhigen Menschen«, Paul Siefert,
der )>von seinen alten tüken nicht ablassen« will:
»Darumb ich privat Rache zu Vermeiden £. £. Hoohw. Raht, de-
mütigst antreten , Vnd unterdinstlichst umb schütz Vnd schirm , so sie bevor per
Senattu decretum mir ist Versprochen worden [I], auch außer dem den Rechten
gemes ist, anruffen wollen , Nicht zwar dero auf mich außgegossenen Vielfeltigen
calwnnien halben alein, womit der unruhige Mann mich hin Vnd her aufs aller-
schmeligste Verunglümpf et , Ja meine gütter auch zum caduc an J. Gn. Herrn
Signu Güldenstem , Vnd andere hohes Standes personen außgeboten,
1 Vergl. über ihn ebendort S. 26; Eggert v. Kempen starb im Jahre 1636.
2 »CapeUmeisters Supplication.^ i>Lectum in senatu den 14. Novemh, .4fmol636
vndt hat £. E. Rath geschloßen, daß dem supplicanti der schluß sitb sigülo ci-
vitatis nicht kan außgegeben weiden maßen es vngebrfiuohlich ist Es siebet auch
E. E. Raht nicht ab, worzu es Ihm könne behülffllch sein, weil sie alle beyde
hier bürger seindt, vndt ihre ordentliche oberkeit haben.« ^anxig. Stadtarchiv).
Paul Siefert, Biographische Skizze. 4 1 1
Kmdern auch des unfugs halben insondeiheit , so mir in anbefolenen Ckw Vndt
Kirchen Mtuio Vielfeltig von Ihm zugefuget wirt, In dem er meine Chor Music
in gemein aufs aller schmelichste hin vnd her verhönet, vernichtet, yerachtet, Vnd
noch neulieher Tage, in speeie über das Tb deum laudamusj welches ich nach
längst gehaltener kühr Predigt, mit Vorbewust des damaligen praesidirenden H.
Burger Meisters, wie auch H. Burger M. Czirenberges ^ . . . gemaohet, sein böses
giftiges Maul dermasen rahten Vnd walten lasen, das er auch nicht hönischer
.... davon reden können, denn er uns vor Barenleiter, Vnd die eampoaition
tn sieh vor lauter cujonerei ausgeruffen, da doch eben dasselbe Te deum läudamus
auf des königs in Ungarn^ Coronaiion exhibirtj vnd sothane Musica an Keyser-
liehen, Polnischen, dähnischen. Sächsischen vnd allen andern Fürstlichen höfen,
bey dero gleichen festiviteten nicht ungebreuchlich , diesem ehrenschender aber
mir wehe zuthuen, eine cujonerei vnd Barenleitrey sein müssen, worbey er es dann
auch noch nicht bleiben lassen, sondern den ßingst bestalten Violinisten, Caro-
lum Farina^, dessen ich, weil er eine principal stimm zu spielen gehabt, nicht
entrahten können, zu sich auf die Orgel genommen, bey sich daselbst, mii; zu
trotz vnd wieder willen, behalten, vnd zu mir aufs Chor nicht wollen kommen
lassen, ob Ich gleich durch meinen Jungen denselben bey seiner stimm sich ein-
lustellen , vnd seiner bestallung zu obsecundiren freundtlich erinnern lassen , wel-
chen meinen Jungen aber der Paul Sifert Vnd seine Tochter theils mit unver-
schämten, theils mit trotzigen werten . . abgewiesen ..... Carolo aber so lang
ausgeblieben, Vnd seine stimtn vaciren lassen, das wir alle auf Ihm alein eine ge-
raume zeit warten müssen, meinende diese Unordnung vieleicht damit za bedecken,
das er auf der Orgel besser habe können gehört werden, als auf dem Chor, so
Ihm aber zu keiner entschuldigung dienen kan, denn thni gebüiren wollen, esselbe
Vorgengich mit mir zu communieiren , Vnd nicht Vor seinem köpf sich Von mei*
aem Chor zu absentiren. So hette es sich auch auf dem Chor, welches dem Raht-
stuel^fx opposito, Viel besser geschicket, wenn er je der Obrigkeit zu ehren ein
Canzon Solo spielen wollen, zumalen er gar wolgewust, das der Neunah er^ mit
ans aufwarten wurde, mit welchen er auch zu vor gespilet, vnd also des Orga-
nisten halben sich nicht ausreden kan, sondern alle umbstende geben es, das
dieses werk zwischen Paul Sifert Vnd den Farina ex condictamine also sey ange-
stellet worden, wie sie dann auch in dessen haui3 ihre sachen probiret ....
wordurch der Carolo .... von den unruhigen Organisten dermasen . . Verleitet
worden, das er auch nach der zeit sich zu mehren malen gar abalienat vnd wie-
derlich erzeiget, Vnd weder auf den folgenden Palm Sontag, noch auf den
Grünen Donnerstag zu chor gekommen .... wiewol er dennoch sich
ziemlich negligenter, sowohl im fest, als auch hernach eingestellet, vor-
gebende, er wer mit der condition angenommen, das er möchte spielen wenn
was vnd wo es Ihm gefiel etc. Auch damals auf die Orgel ziun Concert, un-
geacht er von mir deshalben begrüsset worden, nicht gegangen, weis nicht
aus was Ursachen, Vnd ob es Paul Sifert gerne hab also haben wollen , damit er
Ihm ursach auf mich zu dehacchiren nehmen möchte, Gestalt er dann eben da-
^ VergL über ihn und seine schöne Tochter, »Die baltische Sirene«, sowie
über ihre beiderseitigen Beziehungen zu M. Opitz : Dr. G. Löschin, Beitr. z. Gesch.
Danz., n. S. 17 if.; derselbe, Die Bürgermeister u. s. w., S. 25 f.
2 Ferdinand III., 1637—1657.
^ Farina war im Jahre 1626 in Dresden, vergl. M. f. M. XXIII, S. 34.
* Dies ist wahrscheinlich Jeremias Neunaber, seit 1623 Organist an St. Bar-
tolomaeus, seit 1616 an St. Johannis; vergl. weiter unten.
28*
412 ^^^^ Seifert,
hero gesagt, das wann Ich Ihm den Violisten nicht schicken vollen, so
solt Ich Ihm doch die Trompetter hinauf verschaffet haben, so wolte er auch am
Heiligen Ostertage des Herrn Maraehaiks deeret haben ausblasen lassen S ^i^d
was der unertregUchen • . . • calumnien mehr sein, wormit der böse giftige
Mensch auch obbenanten Vioiistenf der da bevor, in abwesen des Paul
Siferts, gar willig vnd bequem in allen gewesen , mir abspendig zu machen ....
sich bemühet so nun mehr . . mir unertreglich , Vnd meinen Kindern
auch, bevorab dem, dessen ich nun mehr auß Italia erwarte, zur besorglichen
commotion leicht könte anlaß . . geben«
Der Rath beschloß am 19. Mai 1637,^ von Siefert nach Zu-
stellung der Anklageschiift einen Gegenbeiicht einzufordern. Die
»deme Edlen Hochw. Kaht übergebene Antwordt Pauli Syferts, auff
des Caspari Forsteri eingegeV.ene supplication Ao, 1637 den 19. May«
ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Sie bringt ganz merk-
würdige Dinge zu Tage:
»erstlich, muß ich mit sonderbahrer Hertzensbekümmemus er-
fahren, das Ich von dem Unruhigen Suppltcanten ^ nicht allein bey vielen Ebr-
liebenden Bürgern nun etzliche Jahr her jämmerlich angestochen, sondern auch
bey £. E, Hochw. Raht .... mit allerhandt verveindung achterfolgt werde, ge-
rade, als wen ich der zanksüchtigste, ja der ergste Mann in der ganzen Stadt
were, da Ich doch je und allewege dahin gestrebet, das Ich friedlieh
Leben, und die gaben, so mir . . Qott in meiner Kunst verliehen, zu seiner Ehren
anwenden möchte
.... ja es ist noch bey denn Calumnien nicht verblieben, sondern es hatt
deßenn Vätter auch Caaparus Forst er genanndt, so damahlen in seinem brodt,
itzo noch in seinem Diensten in Polen ist, und die Bücher herumbführet mir
nach Leib und Leben gestandenn, auch einsmahls bey finsterer nacht schkffen-
der Zeit, wie Ich aus der Hochzeit nach hause gehen wollen, mit einem Mordt-
beyl, auff öffentlicher Straße angefallen, zur erdenn gestoßen, verwundet, und
wann nicht durch Schickung Gottes, einer mit der Latem were gehen kommen,
wodurch er zu verlaßung meiner, und hinterlaßung seines Mantels und Beyles
gebracht worden, so hette er mich umbs Leben gebracht, und Jenunerlich ermor-
det, solche schnöde that hat der Supplicant und deßenn Haußfraw, bey dem
Schneider so denn Mantel gemachet, wie auch bey dem Elterman der Schneider
ganzer 4 Jahre [1632—1635] vertusehen . . helffen, biß Ich fürm Jahr [1636] sol-
ches allererst erfahren, darauff ich den Thätter zu Warschaw gefundenn, und be-
klaget, auch ein Decrei, wo durch er ad carcerem et refusionem damnorum con-
demnitet und mir actio adversus complieee aUiie reserviret worden, erhalten, und
W3nn ich die Obductionem Vulnerum daselbst gehabt hette, er solche Unthat mit
seinem Leben hette büßen müßen.
was den Zanck und Wiederwillen, deßenn er mich beschuldiget,
belanget, gestehe Ich durchauß nicht .... das Ich jemahln deßen eine Ur-
^ Dies bezieht sich auf die Entscheidung eines Prozesses, welchen Siefert in
Warschau gegen Kaspar Förster jun. führte; vergl. unten.
2 aSupplication Caspari Forsteri Capellmeisters.« »Xec^tim in Sen. 19. Mm/
Ao. 37 Vnndt hatt £. £. Rhadt geschlossen, dass Paul Siverten die SuppUcaUon
sol zugestellet werden, damit er seinen kegenbericht einbringen könne.« (Danzig*
Stadtarchiv}.
Paul Siefert, Biographische Skizze. 413
Bache gewesen, sondern das contrarium wirdt sich bey der Untersuchung Klär-
lichen ereugenn, das nemlich Supplieant anfenglich meine Compositionesj so Ich
bey Königl. und Fürstl. höfenn ostendirei ohne Ursache yerworffen, und ob es
Ihm gleich anbefohlen auff dem Chor nicht singen wollen, mit Ehrenrührigen
seh&ndlichen injurien mich betastet, process^ wieder mich aufgewiegelt, allerhandt
Rahtschläge, wie mir meine aeddentia'^ möchten benommen werden, gehaltenn
und ob er sich woU mit mir, in beysein des Königl: Cape^meisters^ . . .
vertragen, so hat er doch solchen Vertragk stracks gebrochenn, denn Sokol ange-
hexet, das er mich eines Ehebruchs beschuldiget, Ein Weib incarceriret wordenn,
über welche er doch nichts noch über mich erweisen können
Das er femer setzet, als solte ich seine Oütter zum (mduc grossen Herren
außgebotten haben, ist seinen ungegründeten querelis gleich ein ertichtetes vorge-
ben, wie auch nichtsto weiniger eßelbe ist. das Ich seine Muaic verachtet habe, sinte-
mahl ich seine^tMtc die er mit Warheit für die seine Vertreten könte, niemahl gehöret,
auch nie gelesen oder gesehen, das er ein einziges stücklein jemahls gemachet, und an
den tagk gegebenn was er biß daher absingen Laßenn, ist frembder Leute arbeit
gewesenn Nun sein zu mehrmahlen mängel vorgefallen welche wen ich
Sie dem Supplicanii umb zu enden auß gutter meinung zugemüth führen Laßenn,
80 hab ich stracks von Ihm , für ein Unruhigen Kopff und Ehrenschender müßen
außgeruffen werden, ja der seine Chor musica aufs aller schmäligste verhönet
Was femer das Te Deum laudamus .... belanget, zweiffeie ich sehr, das
er der Leute so darüber Judiciret mit der comparation der Königl: und Fürstl.
Hoffe wirdt abweisen können, und habe weder ich noch die Auditoren inn der
Kiichenn vor dem starcken Schall der Trompeten, kein wordt davon vernehmen
können, was für ein Text gesimgen worden, und Klinget in meinenn Ohren Das
Beudtsche H. Gott Dich Loben wir, mit der Orgel und ganzen Gemeine ungleich
beßer, weil er es aber so hoch rühmet , ist dieß die proba darauff, Er mache es
noch Einmahl 2. 3 und je mehr er es machen wirdt, je erger es wirdt abgehen,
und aures offendiren.
Das Er aber mir beymüßet, als solte Ichs für eine Berenleiterey gehalten
haben, darann thut er mir ungüttlich, in dem er mich damit beleget, was vielleicht an-
dere in meinem abwesen, unter den Zuhörern in der Kirche, da ich auff der Orgel
gewesen, mögen von dem Trompetenscha]! , der auch bey dem Behrentanz ge-
braucht wirdt, geurtheilt habenn. Ich allewege bin daran unschuldigk
Ebenso hatt er es auch in diesem Heiligen Piingstfest gemacht, da er im
ersten tage zur vesper vor der Predigk ein Stück abgesungen, in welchem die
melodey auff solchen text gemacht , Tutti venite armati li forti mei soldati, fa la
h la la la la etc, und auff die melodey Mundo runda runda, la rundineUa, offters
repetirei wordenn, welches stück er auch den andern Heiligtag vor der Commu-
nton, auff dem Chor zum andern mahl absingen Laßen mit solchen
Madrigal melodeyen, ob er gleich einen andern text darunter setzen möchte, ver-
ursachet er seltzame Judicia der Zuhörer.
Was num anbelanget das Jenige, was er von dem berühmten Mr. Carolo
Farina .... zuschreiben sich erdreistet , darin thut er mir ebenmeßig unrecht,
denn das ich denselben Ihm zu trotz . . auff die Orgel solte genommen, behalten,
1 Die Untersuchung vor dem Rathe 1630 ist wohl gemeint.
2 Dies bezieht sich auf eine Streitfrage mit den übrigen Organisten Danzigs ;
vergl. weiter unten.
3 Ist Marco Scacchi, der Nachfolger Pacellis, gemeint, oder der Vicekapell-
meister Bartholomäus Pekel?
414 ^^^ Seiffert,
und aufs Chor nicht wollen kommen Laßen, oder auch das er Ftarina wieder ge-
bühr gehandelt, ist ein pur lauters ung^rQntes außsprengen ange-
sehen, das wir .... bezeugen können, das wir das (>ii43erfehen nach der Kflhr-
predigt gemaehett und gespielet habenn . * • . £r Carola Forma stracks
darnach aufis Chor gangenn, und wie ich noch im Spielen des PraeambuU gewe-
sen, alda sich su seiner behörlichen Stimme eingestellet
Wie er dann mich, da Ich die große Strassen gewolt, und atsasginium so an
mir verübet worden , zurechte a ietnpore tei&ntiae pmietAationem jttridieam einge-
leget, mit einer ehrenrührigen Injurien schrifft, bey dem Erb. Geridit anzugreiffen
Keine schew getragenn. Welcf^es Ich doch modesiüsime Ihme rtiorquiret, wie
auß beygelegter schrifft^ zu sehenn, in welchen terminis modestiae Ihä auch im-
mer halten werde
Zwar aus den Zeugnissen, so Ich bey den Erb. Ger. Yerhören Laßen, auß
den Potiiümen und antwordt des Syheaier MyUra im aditen und 9. Punet, wie
auch des Andreae Winnen im 5. und Q. puncto femer des Carl Hnäze im 11. Punet
sich KUUrUchen außweiset, das Er und seine Fraw mit dem Casparo FortUro,
den der Cronen Marschalck zu Warsohaw zur straffe geiogenn, das oMatnnktm
haben vertuschen hellffen, wie die beyliegenden ieBÜmonia und das Deeretom
Mmi Dn* Marsehalei außweiset^ wie weit er nun darann schuldig, oder Unschul-
digk, werde ich auch zu untersuchen wißen.«
Nach Eingang dieser Gegenschrift Sieferts beschloß der Bath
am 7. Juli 1637, beide Parteien zur Kühe zu verweisen: Siefert solle
sich der Sticheleien enthalten und Förster nicht Gespenster sehen,
wo keine sind.^ Noch einmal wandte sich Siefert an den Bath mit
der Bitte um die Aushändigung amtlich beglaubigter Kopien gewisser
Akten, damit er sich daraus über seine Bechte, K. Förster gegenüber
informieren könne. Der Bath folgte dem Gesuche nicht, erlaubte
Siefert aber, beim Bichter die Akten einzusehen.^ Das ist das
Letzte, was wir aktenmäßig über die Zwistigkeiten zwischen Förster
und Siefert erfahren. Jene scheinen also damals, für die Öffentlich-
keit wenigstens, beigelegt worden zu sein. Aber damit waren sie
nicht ganz vergessen ; wir werden sie gelegentlich noch einmal wieder
hervortreten sehen.
^ 8ie lag dem Original nicht bei.
2 Sie fehlten ebenfalls. Die angeführten Personen eind die Zeugen, welche
um den Überfall wussten.
8 »Ein E. R! CommittiTei dem hr. Presidenten ... so wol den Paul Siver-
ten, als den Capelmeiater zu beschicken, t. dem Siverten anzudeuten, daß er
sich des stachelen t. schimpffen enthalten soll, solte er sich nicht moderiien, wirt
ein Khadt den Schluß ao. 1630 ergangen, exequiren: dem Capelmeister aber wirt
angesaget werden, dass er nicht alles zu boltzen drehen soll etc. Actum in Sen.
7. Juli Ao. 1637.«
* »Paul Sieferts Supplicatiom (Danzig. Stadtarchiv). »Lectum in Senaiu den
22. Julii Anno 1637, vndt hat E. E. Raht geschloßen, daß supplicanten mit er-
^roJtrung der ac^en, weil sie t;2»tm'ensachen co7icemiren, nicht kan gefolget wer-
den: Infall aber solte supplicant beym h. Richter besprechen, und aldar diesel;-
ben actQn begehret werden, alsdan können dieselben dem H. Richter ad req^isi-
tionem eiust wie es bisshero gebräuchlich gewesen, gefolget werden.« Vgl. hierzu
S 410.
Paul Siefert, Biographische Skisse. 415
Aus Anlaß der Gegenschrift Sieferts sind hier noch einige Be-
merkungen über den zweiten Kaspar Förster einzuschalten. • Man
findet ihn als Sohn oder Neffen des ersteren öfters bezeichnet. Das ist
aber unrichtig; der Kapellmeister Förster ist der Vetter des Warschauer
K. Förster. Dieser war zuerst im Buchladen seines Vetters be«
schäftigt, kam dann in die Polnische Kapelle nach Warschau, wo
er dessen kaufmännische Interessen noch weiter vertrat. Der
Warschauer K. Förster ist es offenbar, den Scacchi im ^Oribrum
musicumui als Kapellmitglied in Warschau anfährt; von ihm rührt
auch die neue Komposition »Z)nt Oaspart Forsterit her, welche
Scacchi in sein nOribrum musicamt aufgenommen hat. ^ Des Danziger
K. Försters Sohn hieß Georg^; er kehrte nach einer Studien- und
wohl auch Geschäftsreise aus Italien 1637 zurück. Will man beide
K. Förster unterscheiden, so mag man den Danziger senior und den
Warschauer Förster junior nennen. Dieser wurde 1617 geboren,
^ wahrend jenes Geburtsjahr noch vor 1600 anzusetzen ist. Was den
nächtlichen Überfall in Danzig betrifft, so wird vielleicht das
Warschauer Archiv ausführlichere Dokumente besitzen.
Der ganze, durch 20 Jahre hin sich erstreckende Streit zwischen
Siefert und Förster nimmt hier wohl einen ziemlich großen Raum
ein. Bedenkt man aber, daß diese Männer vermöge ihrer Stellung
die beiden größten musikalischen Autoritäten Danzigs repräsentierten
und daß jeder von ihnen einen Theil der Bürgerschaft auf seiner
Seite hatte, so wird dem Musikhistoriker eine breitere Darstellung
des Konflikts nur angenehm sein. Er gewinnt so einen unmittel*
baren Einblick in das spezielle Musikleben Danzigs in der ersten
Hälfte des 17. Jahrb., und dieser wiederum ist für die allgemeinere
Musikgeschichte nicht ohne Nutzen. Eine kurze und knappe Dar-
stellungsweise dürfte sich jedoch für das Folgende empfehlen. Es
handelt sich hier nur um die Vertheidigung gewisser »accidentiat
und um ganz private Angelegenheiten, obwohl wir auch hier noch
manches Neue erfahren. —
Auf eine Eingabe Sieferts hin beschloß der Rath am 11 . Oktober
16.32 : wenn jemand im Kirchspiel »zur Pfarr« (St. Marien) Hochzeit
halten würde und Sieferts Dienste nicht gebrauchen wollte, so sollte
der Organist ihm dafür »Einen Keichstaler in specie zu geben schuldig
«ein«. Gleichzeitig wurde Siefert, der noch eine gewisse Summe
för Holz zu beanspruchen hatte, mitgetheilt, daß der Rath nicht
wüßte, »wie Ihm nach itziger Zeit Vngelegenheit^ zu willfahren sey.«
1 Vergl. sonst über ihn Matthesons Ehrenpforte, S. 73 ff.
2 Vergl. oben S. 404.
3 Der schwedisch-polnische Krieg dauerte yon 1621 bis 1635.
416 ^^ Seiffert,
Die übrigen Oi^nisten beruhigten sich nicht bei jenem BeschluB.
Der Kath sah sich daher genöthigt, ihn etwas genauer zu präzisieren
und zu modifizieren; es geschah dies am 25. Oktober 1632. Wenn
in irgend einem Kirchspiel eine oder mehrere Hochzeiten vorfallen
und der bestellte Organist des Kirchspiels nicht hinzugezogen wird,
so sollen die fremden Organisten dem Ordinarius, weil er übergangen
wird, je einen Thaler geben. Sowie aber der Ordinarius selbst bei
einer der Hochzeiten beschäftigt ist, so sind die anderen Organisten
zu keiner Abgabe verpflichtet. Diese Vorschrift solle fiir alle Kirch-
spiele gelten, unbeschadet des Abkommens, welches «die andern in
den übrigen Kirchspielen, außerhalb der Pfarrkirche Ynter sich ad
beneplacitum Senatus^ getroffen haben. Wiederum beschwerten sich
sämmdiche Organisten außer Siefert. Darauf beschloß der Rath am
12. November 1632 , daß der vorige Beschluß zu befolgen sei; die-
jenigen Hochzeiten nur seien nicht in Betracht zu ziehen, bei
welchen der Organist selbst keine große Einnahme hätte: wenn
jemand sein Gesinde verheirathet und die Gäste mit Wein traktiert,
wenn der Bräutigam Bier, nicht Wein schenkt, oder wenn die Graste
Wein verschaffen.
Den Organisten waren auch diese Bedingungen noch zu lästig,
so daß sich Siefert an den Rath um Hilfe wandte. Er hätte jene
»mit Vielen Vnkosten, für den dazu Verordneten Herren, Ihr. Herl.
Michael Wieder i fdrladen laßen, ofßcios&a, aber hätte von ihnen
nichts erhalten, »davon ich mit leben, Vndt die meinen in diesen
Kummerlichen Zeiten erhalten mußa. Wir erfahren hier die Ur-
sache, weshalb jene Accidentien 1632 noch einmal vom Rath be-
stätigt wurden.
.... »waßmaßen Von mir im Yerwichenen Jahr begehret worden, das ich
die Geistlichen Lieder, Vor Vndt nach der Predigt auf der Orgel spiden, Vndt
mit der Gemeine einstimmen solte, Vndt mir für solche Newe Vnndt nicht ge-
ringe Arbeit* (nach dem ich Vmb ein recompens, Vndt sonderlich, das ich her den
in meiner bestallung Versprochenen accidentien , so mir Von den Andern Orga-
nisten in meinem Kirchspiel mit Vnfug benommen worden, möchte erhalten wer-
den, supplicando angehalten) diese großgünstige susage durch einhelligen Schluß
wiederfahren.« . . • .
Siefert bittet darum, entweder den ersten Beschluß vom
1 1. Oktober 1632 zu bestätigen oder ihm anderweitig eine Vergütung
zu gewähren, »sonderlich wegen der Newe mir aufgelegten arbeit,
so ich hertzlich gerne nach Vermögen zu Verrichten erbötigk«. Der
Rath hielt den BeschluB wegen des Thalers aufrecht und beauftragte
^ VergL aber ihn Dr. G. Löschin, die Bürgermeister u. s. w., S. 36.
2 Die Begleitung des Gemeindegesangen durch die Orgel wurde also in Dan-
2ig 1633 eingeführt. Vergl. Vierteljahrsschrift f. Musikw. 1891, S. 216 f.
Paul Siefert, Biographische Skizse. 4|7
Michael Wieder »alß der Musicanten Verordneten Herrn«, die andern
Organisten zur Erlegung des Thalers zu veranlassen. Wenn mehrere
Hochzeiten stattfänden, brauchte nur ein Thaler gezahlt zu werden,
da der Ordinarius auch nicht auf mehr als einer Hochzeit spielen
könnte.^ Der Beschluß war da, aber die Organisten befolgten ihn
samtlich nicht. Forderte Siefert, was ihm zukam, persönlich ab, so
machten sie Schwierigkeiten, indem sie die erledigte Frage der Bier-
hnchzeiten wieder erörterten; öffentliche Vorladungen waren für ihn
nur kostspielig, sie führten auch zu nichts. Als ihm nun gar
Michael Wieder den Vorschlag machte, auf die noch schuldige Summe
für 14 Hochzeiten zu verzichten . so daß alle Mühe umsonst gewesen
sein sollte, da wandte sich Siefert^ wieder an den Rath, der am
6. Oktober 1633 einen Bericht von den übrigen Organisten einzu-
fordern beschloß.
Den Gegenbericht, welcher noch im Oktober 1633 eingereicht
wurde, unterzeichneten fünf Organisten:
»Andres Grabau, Bürger vnd Organist zu S. Barbem ge-
dienet 41 Jahr.
Michael Zwedorff,^ Bürger vnd Organist zu S. Katrinen
gedienet 38 Jahr.
Derck v. Schwallen, Bürger vndt Organist zu S.Elisabethen
Gedienet 19 Jahr, zu S. Peter vndt Pauli 12 Jahr.
Jeremiß Neunaber,** Bürger vndt Organist zu S. Bartolomes,
Gedienet 10 Jahr, zu S. Johannis 17 Jahr.
Daniel Mensig, Bürger Vnndt Organist zu S. Bartolomes.
Gedienet 6 Jahr.«
Die beiden ersten konnten wohl mit Recht von sich sagen :
»Wir haben so viel Jahr und fast unsere lebenn bei dieser gutten
Stadt zugebracht.« Sehr freundlich ist der Ton gerade nicht, den
sie. gegen den in die beste Stelle eingedrungenen Siefert anschlagen,
welcher «doch noch wenig von seiner Kunst ans licht gebracht«.
Siefert dagegen macht ihnen in seinem letzten Gesuch den Vorwurf,
daß »Von Vielen Kein Vnterscheidt auf die Kunst gemacht wirdt«.
^ »Demütige Supplication Pauli Sieferts«, »Leet, in Senatu 12. Augitsti Anno
1633« [Danzig. Stadtarchiv). Der Supplication liegen die Kopien der ersten drei
Beschlüsse beL
2 »Demütige Supplication Pauli Sieferts«, nLect: in Sen: 6. Oct: Ao. 1633«
(Danz. Stadtarchiv).
3 Vergl. Dr. O. Löschin, die Bürgermeister u. s. w., S. 44.
* Vergl. oben S. 411 Anm. 4. Ein »Tiedemann Neunaber« war 1619 Instru-
mcDtenmacher in Dansig; vergl. Döring, 2. Gesch. d. Mus., S. 66.
418 ^^^ Seiffert,
Im einzelnen sind ihre Ergiisse nicht der Erwähnung werth;
interessant ist nur folgende kleine Schilderung;
»Dann in unsem Kirchspielen Keine *Weinhoebseiten werden, ww
nur etwas Vomemes ist, leufft alles naoh der Rechten Stadt, Ein Handwereks-
man, es sei Schuster, Schneider, Schnizker, Stuldreher etc. wie sie alle mögen
nahmen haben, machen auf ein Tisch 2 oder 3 hochzeit, und geben einen gutten
trunck Danzkerbier, Ja unter Zehen Kaum einer fordert einen Organisten auf
seine Hochzeit, sondern gebrauchen die gemeinen Fiedeler« ^
Der Rath beschloß am 19. Oktober 1633, daß, wenn beide
Parteien von dem Thaler abstehen würden, »dem Paul Sifert ex
beneplacito Senaius jehrlich au holtz funfitzig gülden von der Kern-
merey soll gegeben werden.«
Von dem letzten gegen ihn vereinten Vorgehen der Organisten
erhielt Siefert erst ein Jahr später, Ende des Jahres 1634, Kunde.
Er sah sich dadurch veranlaßt, dem Rathe die Machinationen der
Organisten au&udecken:
»Vndt treibt mich die hohe noth £. E. Hw. Rath . . zu Klagen,
was maßen etliche gewifie personen, aus bloßem frevel vndt giftigem neid, damitt
Sie mich, wegen dem von Oott mitgetheilten gaben, anfeinden, .... sich wieder
meine ehr vndt glimpf, ia alle meine zeitliche wolfart schon lengst zusammen Ter-
schworen, vndt nicht allein der Sokoi auf der andern anstiftung in des H. Proiten
hochzeit den anfangk zum werck selbst gemacht, Sondern auch drauf solche
meinen wiedersacher eonjundia viribus weiter fortgefahren , numehr so
weit befodert, das man eine xnquisiiion kegenst mich anstellen müßen.
Ob nun wol .... ich mich meiner vnsehuldt gnugsam bewust vndt getröste,
auch Keine iudicia dawieder Können gebracht werden, weil ich mich ieder Zeit
also verhalten, wie einem ehrlichen Man wol anstendig, inmaßen ich mit Tnter-
schiedenen vhrkunden von Kön. Mtt. vndt andern ortten in continenti Kan dar-
thun. So ist dennoch subesorgen , das man allerlei exrnnifta contra nu
4ibsentem instituire.« ....
Er bittet nun darum, ihn, wenn Klagen vorliegen, »ördentUcher
weise vorlademc zu lassen; femer um eine Kopie der Gegenschrift,
weil Ich vernehme das ihrer Sechs in specie eine Schrift wieder
mich eingegeben, vndt ihre Nahmen subscribiiet^\ endlich dartun,
seine Gegner, da sie nichts beweisen könnten, in Strafe zu nehmen.
Der Rath entschied am 16. Januar 1635^, daß Siefert nordinaria
juris via, wider seine Widersacher wirt verfahren müssen«. —
Wie mit den Organisten, so mußte Siefert auch mit dem Stadt-
violinisten sich auseinander setzen , welcher bei Hochzeiten die
Leitung der Instrumentisten in seinen Händen hatte. Daß Siefert
1 »Demütige supplicaiio der sämbtlichen Organisten dieser Stadt die Kirch-
spiel haben.c (Danzig. Stadtarchiv). Der Bescheid des Raths ist auf dem letsten
Schreiben Sieferts vermerkt.
2 »Demütige Supplication des Paul Siefert contra deßeir etliche Mißgönner.«
(Danzig. Stadtarchiv). ^Lect. 1635. 16. Janu.^
w
Paul Siefert, Biographische Skiize. 419
ak intellektnellen Urheber dieser ganzen Unannehmlichkeit K. Förster^
ansah, iaX bei dem erneuten Ausbruch des Streites mit diesem im
Jahre 1636 erklärlich. Sieferts Beschwerde vom Jahre 1637 enthält
wieder einige wichtige Daten :
»Demnaeh, so Kan ich . . . nicht Ynterlaßen, meine beschwer
Tndt großen schaden, so mir Von deir Caspart Fornieri Capellmeisters seinen con-
foederatü, in den aecidentien der Hochzeiten zugefüget, Bchmertzllchen zu Klagen • . .,
Insonderheit über den Michel Meyer, welcher, weil er das commendo die Hoch-
leiten anzunehmen, nach dem Seligen Mr. Martin Hintze, gantz an sich ge-
zogen, mich gantz Vndt gar hindangesetzet , Yndt teils mit meinen DMctpdn,
teils mit andere biß dato aufgewartet. Ja da mich oflFtermals Vornehme leute be^
gehret haben, er solches widersprochen, Vndt Vorgewendet, Er Vndt Sokol,
begerten mit mir nicht au&u warten. Welchen sehaden ich Järlioh rechne au&
wenigste 200 Reiohstaler, so dieser Gast mir auf solche weise, Vndt meinen armen
Kindern deren 5 Megdlein,^ so noch Viel bedurffen, entzogen ..... dadurch
dieser Michel Meyer, seinen eigen Nutz suchende, sich stattlich bereichet, daß er
Selbsten offters gesagt, er habe genug, Vndt achte der fidel nicht mehr
Vndt ist Ihm sehr zuwieder gewesen, daß andere beßere Violisten alhie Von
mir, bey Einem Erb. Hochw. Raht, seindt commendiret worden, deßwegen er an
V^nterschiedenen Örtem, wo er mit mir aufzuwarten zusamen Kommen, ....
mich bey dem inatrument über fallen wollen, also daß Ihn der Breutigam Vndt
der braut bruder wider zurük gestoßen Vndt Ihm zu frieden zu sein bedreuet, Er
aber da er nicht weiter gekönt, gesagt, des Gapellmeisters Knecht hette mir noch
Viel zu wenig schlftge gegeben, er würde mir noch woU beßer geben
Auch hat er mit 2 seinen confoederatis den Sn. Engelischen ViolUten^y
welchem ich auch bey meiner lieben Obrikeit befördern helffen, dazu beredet, er
aohe wider mich mit Ihnen in ein hörn blasen, so weiten sie alle seine gutte
freunde sein.
Solches sie auch, nach dem der Carolo Farino, an seiner Stadt angenommen,
mit großem fleiß zu Vnterschiednen mahlen gesucht^ daß er mir in allem zuwieder
sein möchte, auch nicht mit mir femer conversiren Vndt weil sie solches
bey Carolo Farino nicht erhalten können, haben sie sich in allem Ihm zuwieder
«neiget.
Derow^en gelanget an £. E. Hn. mein Vntertheniges bitten, sie geruhen
. . dem Michel Mever, das Commendo hochzeiten anzunehmen, welches Ihme Von
der Obrikeit niemals zugeordnet, wie auch das er nach seinem gefallen die aclfu-
tanien disponiren mag, nicht lenger zu concediren , sondern dem Carolo
Farino f als einem weitberühmten Meister deme billig die priorUet für Ihme ge-
büret, weil er solches mit der proha stets ostendiren kan, großgünstig zuzuordnen.
Femer in der Zeit weil ich zu warsaw gewesen,^ ist eine mwic auf dem Hofe
[Kniephof] zu halten geordnet, zu welcher sie 2 Organisten Von der Altstadt ad-
^Hfiret, So nu solches eines Erb. H. Rahts befehl ist, 'bin ich erbötig . . . solches
au hofe zu Verwalten.«
^ VergL oben S. 413.
< Vergl. oben S. 411.
s Wie dieser Vorgänger Farinas hieß, habe ich nicht ermitteln können. Vgl
übrigens Viertel] ahrsschr. f. Musikw. 1891, S. 187 f.
* Es geschah wohl in den Prozeßangelegenheiten gegen K. Förster jun. oder
^egen des Breslauer Erbschaftsstreites.
420 ^^^ Seifert,
Die Zeitumstände waren fiir Siefert nicht günstig: K. Förster
hatte kurz vorher seine große Anklageschrift eingereicht, auf welche
Siefert hier baldigst seine Antwort verspricht. Der Rath entschied*
denn auch ablehnend: ein jeder könne sich nach seinem Beheben
einen Organisten nehmen, und Siefert solle »des regiminis der Mu-
sicken sich nicht anmassen vnndt andere auffwiegeln. Die Musica
aufim Hofe werde wie anitzo femer continuiret.^ —
Im Jahre 1640 erschienen zu Danzig bei Georg Rhete, im Ver-
lage des Autors, von Paul Siefert:
»Psalmen Davids, Nach Franeöischer Melodey oder Weise in Music oompo-
nirt, Tnterschiedliche Theil mit 4. vnd 5. Stimmen zu singen vnd mit allerhand
InstrumenUra, zu gebrauchen, nebenst einem General-^^Q .... Erster Theil«-
Die hierin enthaltenen Kompositionen veranlaßten den KapeU-
meister der Warschauer Kapelle, Marco Scacchi, zu einer Kritik,
welche er unter folgendem Titel drucken ließ:
^Cribrum muaicum ad tritieum Syferiieumj aeu JSxaminatio succineia Ptal-
morum, quos non ita prtdem Paulus Sifertus Dantiacanus, in aede Parochialt ibidem
OrganoeduSf in lucem edidit, in qua clare et perspicue mulia explicantur, qvae
summe neeessaria ad artem melopoetieatn esse solent. VenetiiSj 1643.^
Scacchi war durch den Warschauer K. Förster über Siefert«
Streit mit dessen Vetter in Danzig jedenfalls orientiert, wenn nicht
schon durch den Danziger Kapellmeister selbst, mit welchem Scacchi
wohl ebenso gut Briefe wechselte, als mit dessen Nachfolger Christian
Werner.^ Wenn Scacchi seine Kritik K. Förster sen. widmete,
so dokumentierte er damit öffentlich, daß er dessen Partei ergriff.
Am 29. Ai^ust 1644 verfaßte Scacchi noch einen Orientierungsbriet
für den Leser des tCribrunvi] der Brief wurde in der Kgl. Druckerei
zu Warschau gedruckt.** Dem nCribrumK sind am Schlüsse y^Xenia
Apollineav angehängt; in ihnen theilt Scacchi je einen Tonsatz der
einzelnen Warschauer Kapellmitglieder ^ mit. Unter ihnen befindet
1 »Demütige supplication Pauli Sieferts« (Danzig. Stadtarchiv). »Lect. 22. May
Ao, 1637.«
^ Vollständiges Exemplar auf der Danzig. Stadtbibliothek.
3 Der Titel ist angegeben nach Forkels A. L. d. M., S. 477. Exemplare
dieses und der folgenden Werke sind meines Wissens in deutschen Bibliotheken
nicht vorhanden; dagegen besitzt die Bibliothek des Liceo Musicale in Bologna
Kopieen, welche nach den Originaldrucken angefertigt sind. Bei der Schwierig-
keit, aus italienischen Bibliotheken nach Deutschland etwas zu erhalten, musste
ich leider auf eine persönliche Einsicht in jene Kopieen verzichten. Vergl. Gae-
tano Oaspari, Catalogo della Biblioteca del Liceo Musicale di Bologna ... pu-
blicato da F. Parisini, I. Bologna 1S90, S. 254. Auf diese Quelle hat mich Hr.
Dr. Emil Vogel in Berlin freundlichst aufmerksam gemacht.
* Vergl. Matthesons Ehrenpforte, S. 70.
5 Cbisparo-Parisini, a. a. 0.
« Vergl. ihr Verzeichniß in Matthesons Ehrenpforte, S. 71 flf.
Paul Siefert, Biographische Skizze. 421
sich ein »Kaspar Föistera, welcher, wie schon angedeutet,^ eben der
jüngere ist.
Siefert schwieg zu den Angriffen nicht still; 1645 erschien von
ihm, König Wladislaw IV. gewidmet, in Danzig:
* Anticribratio musieay ad avenam Se€Uiehianam , h. e. ocularis demonstratio
erasnssimantm errorum, quoa Marcus Scacchtus , Auetor Libri, an. 1643. Venetiis
editt, quem Cribrum mttsicum ad triticum Syferticum baptizavit , passim in eo com-
wmty cum annexa Syferti justa defensione honoris ac honae famaSy adversus am-
puäas ei falsitates Scacchianas^ in usum studiosorum MusiceSj et defensionem
vmocentiae Autoris, publieae lud commissa.«^^
Er sagt es auf Seite 23 denn Scacchi auch ganz unumwunden,
daß das aOribruma nur K. Försters^ wegen in die Welt gesetzt sei:*
v/n dedicatione te optimum ^ aptissimum tutelarem in tali materia retorquenda
degisse narras, inde apparet j* haec tela <$* calumnias fol. 52 ab ipso [Förster] pro-
feeta esse. Nam <$* Stylus latinus, cum discursu suo theoretico^ 8f tela sua periculosa
mihi noia sunt. Sed quare in tuo libro omisisti opera tui tutelaris inter tot ex-
eeUentes Musicos, ut nimirttm omnibus constaret insigniter sua a te commendata
praxis in tua epistola dedicatoriat teque de f ender et arte, non calumniis. Cum
cero ipsius defensio artis tibi desit, consilio meo vivas in pace.«
Hierauf antwortete Scacchi wiederum. Von verschiedenen
Musikern waren ihm Uitheile über das vCrtbruma zugegangen. Diese
stellte er nun zusammen und ließ sie als Antwort auf Sieferts »An-
ticribratioK erscheinen :
»Judicium Cribri Musici, id est Litterae quaedam certo tempore a Praestantis-
timis Artis Musioae in Germania Professoribus, et Peritis transmissae, mihique
Marco Scacchio S. It. M. Joannis Casimvri Poloniae ei Sveeiae Regis Capeüae
Magistro ahlatae, a me diligenter coUectfie, et ipsismet Authoribus ad maiorem animi
henevolentiam dedicaiae, atque consecratae, — Varsoviae In Ofßcina Petri Eiert
S. R. M. Typographi.«^ o. J.
Die einzelnen Autoren, deren Namen das Briefdatum beigefügt
ist, sind:
»H. Schütz, 1646, 1648.
Joh. Stobaeus, 1646.
Laurentius Starck, 1646.®
Tob. Michael, 1646.
Benjamin Du eins, 1648.®
David Cracowitta organista, 1646.®
Christopher Werner, 1646.
Matthias Krinkovius, 1648.®
Ambrosius Profe orffantsta, 1649. 4. Jan.a
* VergL oben S. 415.
* Titel nach Forkel, A L. d. M.; vgl. Gasparo-Parisini, a. a. 0.
8 Verel. oben S. 414 und 419.
* Nach Mattheson, Ehrenpforte, S. 68 ff.
5 VergL Gasparo-Parisini, a. a. O. Ein Petrus Eiert vird von Scacchi auch
als Mitglied der Kapelle auf^efQhrt (Matthes. Ehrenpf. S. 72).
® Diese Männer sind mir nicht bekannt
422 ^^^ Seiffert,
Eine weitere Kritik, wenn man es so nennen darf, findet sich in
der Überarbeitung von Sweelincks Lehrbuch durch J. A. Reincken,'
welcher gewisse Dinge Scacchis ablehnt. Reincken dokumentiert
dadurch seine Bekanntschaft mit der ganzen Angelegenheit. —
Haben wir bis jetzt Siefert seine künstlerische Stellung und
Anschauung, sowie die mit seinem Amte verbundenen Rechte ver-
theidigen sehen, so werden wir ihn jetzt von einer ganz anderen
Seite aus kennen lernen. Wir müssen dazu allerdings wieder emige
Jahre zurückgehen. Es handelt sich um einen groBen Erbschafts-
prozeß, welchen Siefert für sein Mündel führte.
Am 11. Juni 1627^ machte der Rath der Stadt Breslau in der
Erbschaftsangelegenheit des yerstorbenen Adam Priesterschen Ehe-
paares folgende thatsächliche Feststellungen. Am 12. Juni 1625 war
der Goldschläger Adam Priestel und bald nach dem 20. Juni sein Weib
Anna an der damals grassierenden Seuche gestorben, ohne daß sie
Kinder und Leibeserben hinterließen und ohne daß ihre Hinter-
lassenschaft inventarisiert werden konnte. Es wurden daher zu
Kuratoren ihres Vermögens Paul Priestel und der Goldschläger
Kaspar Weiß bestellt.
Diese Kuratoren machten nun dem in Danzig lebenden Bruder
des Adam Priestel, Melchior Priestel, durch ein Schreiben vom
16. November 1625 Mittheilung von den obigen Vorgängen. Melchior
Priestel aber sowie seine Frau, eine Halbschwester Sieferts,^ waren
»bey der auch alda zu Dauzig eingerissenen infecHoim selbst inzwischen
verstorben; deshalb eröffneten die Vormünder des einzigen zurück-
gelassenen Kindes j eines Töchterchens Anna, nämlich Paul Siefert
und Hans Schmietelbach jenes Schreiben. Sie setzten am 30. April
1626 Hans Lönbach zu ihrem Vertreter ein und verlangten münd-
lich durch ihn, sowie auch schriftlich genauen Bericht über die
Hinterlassenschaft des Ad. Priesterschen Ehepaares. Schließlich er-
schien Paul Siefert selbst in Breslau mit einer Legitimation des
Danziger Rathes vom 1. Mai 1627. Die Beschuldigungen, welche
Siefert gegen die Administratoren der Ad. Priesterschen Hinter-
lassenschaft, besonders hinsichtlich der Verwaltung der Liegenschaft
und des PriesteV sehen Hauses vorbrachte, konnte der Rath von
Breslau nach Vernehmung der Administratoren nicht für b^ründet
erachten.
i Vergl. Vierteljahrsschr. f. Musikw. 1891, S. 179 und 182 ff.
2 »X»6cr Bxgnaiurarwm, 1627, foL 70—73. (Bresl. Stadtarchiv).
3 Dies veTwandtschaftllche VerhSltniß geht aus dem Aiher aignaturarum* 1630,
foL 45 hervor. Paul Sieferts Vater muß also zweimal verheirathet gewesen sein.
Paul Siefert, Biographische Skizze. 423
Darauf wurde nun die Trennung der Priesterschen Hinterlassen-
schaft Torgenommen, nach dem Gesichtspunkte, was Eigenthum des
Ad. Priestel und was dasjenige seiner Frau gewesen sei. Hierbei
wurde festgestellt , daß die Anna Priestel das am Neustadter Thurm
gelegene Haus irrthümlieh als ihr Eigenthum nach dem Tode ihres
Mannes betrachtet hatte, daß sie also auch nicht berechtigt gewesen
war, in ihrem Testamente vom 20. Juni 1625 (vom Rathe publiziert
am 1 1 . Oktober) dieses Haus den Vorstehern des gemeinen Almosens
IQ vermachen. Eigenthümer sei vielmehr als nächste Erbin des
Ad. Priestel das Mündel von Paul Siefert.
Nach Taxierung der Hinterlassenschaftsobjekte und nach den
nöthigen Abzügen ergab sich als Eigenthum des Mündels von Seiten
Ad. Priestels eine Summe von 129 Thlr. , 2 gr., V2 Heller. Was
dem Mündel als Miterbin von Seiten der verstorbenen Anna Priestel
zukäme, ließe sich erst feststellen, wenn sich die im Testament der
Anna Priestel als Miterben eingesetzten Verwandten gemeldet hätten.
Es wurde demnach Paul Siefert aufgegeben , durch einen Vertreter
die nächste Verwandtschaft der Frau zu eruieren und zur Stelle zu
bringen, oder sich mit den Kuratoren der Hinterlassenschaft, den
Vorstehern des Almosens (welche auch noch anderweitig im Testa-
mente bedacht waren) und den übrigen Erben zu einigen.
Am 20. Juni 1627 ^ kaufte Kaspar Weiß das dem Mündel ge-
Körige Haus; der zwischen ihm und dem Advokaten Paul Schmiedt
ab Bevollmächtigten Sieferts abgeschlossene Kaufvertrag wurde am
13. Juli in die Akten eingetragen.
In einem Schreiben vom 23. Oktober 1630^, sowie mündlich
durch seinen Mandatar Christian Bemus und dessen Substituten
Friedr. Kitzingen (seit dem 26, April 1631 substituiert) hatte sich
Siefert beim Breslauer Käthe über die Kuratoren des PriesteFschen
Nachlasses beklagt, daß sie dem Rechtsbescheide des Rathes vom
U.Juni 1627 nicht nachgekommen seien, und besonders über Kasp.
Weiß, daß er die letzten Kaufgelder, dem Kaufvertrag entgegen,
iK)ch nicht bezahlt hätte. Nach Vernehmung der Kuratoren ent-
schied der Rath, daß K. Weiß die letzten Kaufgelder samt den
versprochenen Zinsen für 3 Jahre (vom 18. Oktober 1628 bis zum
6. Januar 1632) zu diesem letzten Termin zu entrichten hätte. Den
als Erben mit eingesetzten Anverwandten der Anna Priestel aus der
Herrschaft Mielitsch, welche sich bisher aus verschiedenen Ursachen
noch nicht legitimieren konnten, wurde ein letzter Termin festge-
i nLxber signaturarum't 1627, foL 92 f.
2 »Liber aignaturarum^ 1631, fol. 62.
424 ^^^ Seifert,
setzt. Am 20. September 1631 ^ endlich konnten sich die Mielitschei
Verwandten der Anna Priestel durch eine Urkunde der Stadt MieUtsch
vom 20. Juni, sowie auch durch Signaturen in den Büchern der
Breslauer Elisabethkirche genügend legitimieren. Als Miterbberech-
tigte wurden sie neben dem Mündel zur Hälfte des Nachlasses d(T
Anna Priestel zugelassen.
Bald nach 1631 wandte sich Siefert, da ihm die Almosenherren
in Breslau gewisse Abzüge bei der Auszahlung der Gelder machen
wollten, an den Danziger Rath,^ dass dieser ein Intercessionsschreiben
an den Breslauer Bath richten solle. Dies geschah, fruchtete aber
wenig. Siefert bat um ein zweites Intercessionsschreiben, welches
ihm auch am II. Oktober 1633^ bewilligt wurde; und nun kam die
Angelegenheit wieder in Fluß.
Der Kath von Breslau,^ welcher am 7. Oktober 1634 genauen
Bericht über die PriesteVsche Erbschaftssache an den Rath von
Danzig gesandt hatte, wies auf eine dritte Intercession desselben
vom 7. Dezember 1634 am 6. Februar 1635 die Vorsteher des ge-
meinen Almosens zu Breslau an, die bei ihnen deponierten 233 Thaler
an Paul Siefert auszuzahlen und sich mit der von Siefert gebotenen
Abfindungssunmie von 20 Thlr. ^ wenn sie auch mehr zu fordern
berechtigt wären, zu begnügen, »damit also diesen langwierigen
streittigkeitten dermoleinsten ein ende gemacht werden möge. Ob
auch wohl der zwischen der Stadt Danzig und dieser Stadt bey Erb-
gangsfallen üblicher abzug diesfals zurückbehalten und genommen
werden solte, weil aber der Sifriedt seine seidthero angewandte
mühe und auffgewandte Spesen, darzu er doch nur selbst die groste
Uhrsach gegeben, so gar hoch beklaget und wier insonderheit die
von Ihr. Königl. Majestät^ zue Polen hiebeuen vor Ihn eingelegte
gnädigste intercession in obacht genommen, so wollen wier vor diesmal
aus blosser guttwilligkeit und höchstgedachter Ihr. Majestät zue ehren
geschehen lassen, das besagte 233 Taler 6 Heller dem Sifriedischea
Mandatario, ohne abzug, passiret werden möge.«
Das Jahr 1635 führte so das Ende des durch zehn Jahre hin-
durch sich erstreckenden Prozesses herbei. Am 22. Juni^ quittierte
Bartholomäus Modrach, Breslauer Substitut des Danziger Handels-
i ebendort, fol. 124.
3 »Demütige Supplication Pauli Sieferts«, o. J. (Danzig. Stadtarchiv).
3 »Demütige Supplication Pauli Sieferts« (Danzig. Stadtarchiv). «Lectum 11
Octob. 1C33.«
^ »Liber signaturarufm 1634, fol. 92.
5 Wladislaw IV.
ö »Liber signaturarumn 1635, foL 88.
Paul Sieferty Biographische Skizze.
425
mannes Peter Heinrich, des Mandatars Paul Sieferts, über den
Empfang der 233 Thaler. Am 21. August^ quittierten auch die
Vorsteher des gemeinen Almosens über den Empfang der ihnen von
Siefert bewilligten 20 Thaler. —
Der Zwischenfall mit Scacchi hatte , wie es scheint, dem An-
sehen Sieferts am Hofe zu Warschau nicht gerade viel geschadet.
Im Jahre 1648 kam Johann H. Casimir zur Regierung; ein Jahr
darauf vermählte er sich, und Siefert komponierte zu dieser Feier
ein Epithalamium (Psalm 120]^. Johann Casimir ist auch der zweite
Theil der Psalmen Sieferts gewidmet, welche 1651 auf Kosten des
Autors bei Georg Rhete erschienen unter dem Titel:
»Psalmomm Davidieorum, Ad ChiUicam melodiam arte compositorum Musicali,
qul diTersis sistuntur partibns, ä 4. 5. 6. 7. 8 Vocibus decantandi, cum praeviis
Symphoniis sonandis, ut et Oeimanicis Latinisque Textibus metriee Buppoflitis cum
Basso Generali. Pars secunda« ... .3
Die Diskantstimme dieses Werkes enthält Sieferts Bild in Holz-
schnitt vom Jahre 1649. Gefurcht ist seine Stirn und etwas gebeugt
die Haltung des Kopfes, aber eine Fülle weißen Haares bedeckt
Kopf und Kinn des 63jährigen Greises, der uns mit klugen und
immer noch frischen Augen aus dem Bilde anschaut. Es ist eine
sinnige Huldigung für Johann Casimir^ wenn Siefert in der rechten
Hand ein aufgeschlagenes Notenbuch hält, auf dessen offenen Blättern
folgendes zu lesen ist :
i>Canon per arsin et Thesin a 4.
Cantua et Bassus,
if
AT - J^^'
^OT f o - «u - U9fl 0« - BT - un
ins'
f
X
t
^
-&-
t
1
Vi - vat, Vi - vat Rex Jo - an - nes Ca - si - mi
äUm et Tenor,
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rus.
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j^]-A«;^9X £0-«U-U9B Q«
8i-mi
==F^
ins'
■2t
Vi-vat Rex Jo-an-nes Ca
si^mi
ms.«
Im Jahre 1651 traf Siefert auch ein schwerer Schicksalsschlag.
Seine »Häußfrau«, welche ihm fiinf Töchter geschenkt hatte, starb
^ ebendort, fol. 45.
' Im 2. Theil der Psalmen nicht befindlich; yergl. Döring, a. a. O.
' VoUstftnd« Exemplar auf der Daniig, StadtbibÖothek,
1891. 29
426 ^*^ Seiffert,
im November, 56 Jahre alt; am 20. November wurde sie begraben. ^
Während der nächsten Jahre raifte der Tod auch Sieferts Haupt-
gegner dahin. K. Förster sen. starb 1652;^ es folgte ihm im Kapell-
meisteramte Christian Werner^ von 1652 bis 1655. Scacchi, welcher
unter Sigismund III. und Wladislaw IV. 30 Jahre lang,* etwa von
1623 bis 1653, sein Kapellmeisteramt verwaltet hatte, ging nach
Italien zurück, wo er bald starb. Sein Weggehen aus Warschau
veranlaBte wohl auch dasjenige K. Försters jun. Dieser zog nun in
die weite Welt hinaus,^ ging nach Italien, besuchte Bom und
Venedig, wo er vielleicht Scacchi noch einmal sah. Er kehrte dann
nach Danzig zurück, wo er 1655 die erledigte Kapellmeisterstelle
übernahm. Aber schon am 15. September 1655 quittierte er den
Dienst. Der Grund hierfür ist nicht schwer zu ünden. K. Förster jun.
mochte es sehr bald eingesehen haben, daß bei den früher zwischen
ihm und Siefert vorgefallenen Ereignissen ein Zusammenleben und
-wirken besser vermieden würde. Förster fand ziemlich schnell eine
neue, für ihn geeignete Thätigkeit. Friedrich III. von Dänemark
wollte seine Kapelle neu einrichten ; er berief dazu Förster, welcher,
dem Rufe folgend, im Mai 1656 nach Kopenhagen zog; sein Nach-
folger in Danzig wurde Balthasar Erben (1658 bisl6S6). Im Jahre
1657 fiel nun Karl X. von Schweden in Dänemark ein und trotz
des Friedens zu Boeskild, 1658, in demselben Jahre noch einmal.
Förster nahm aus diesen und anderen Gründen seine Entlassung
und begab sich zum zweiten Male nach Italien. Der Friede zu
Oliva, 1660, führte wieder ruhige Zustände in Dänemark herbei und
Förster übernahm wieder das Kapellmeisteramt. Aus Italien brachte
er sich einen Organisten mit, da der Organist Ewald Hinsch aus
Danzig, welchen er 1656 oder 1657 in die dänische Kapelle hinein-
gebracht hatte, 1660 »eine Bedienung in Dantzig an der Hauptkirche
bekommen«. Da nun Siefert im Jahre 1666 als »E. E. Rahts Stipen-
1 Vgl S. 411 und 419. Über Sieferts Trauung und die Taufen seiner Kinder
^ar in den Büchern der Marienkirche nichts su finden. Obiges Datum iiat mir
Herr Archidiakonus Bertling gütigst mitgetheilt
* VergL StarovolaciuB, a. a. O. S. 344 f.
3 Mattheson, Ehrenpf. S. 70; Döring, z. Gesch. d. Mus., S. 55.
* Walther, Lexikon, S. 543 f.
5 Vergl. Mattheson, Ehrenpforte, S. 73 ff. Döring, z. Gesch. d. M., S. 72ff,
will die Lebensführung K. Försters jun. durchaus mit derjenigen Christopher
Bernhards in Parallele bringen und weicht, was die hier in Betracht kommende
Zeit betrifft, ohne erkennbare Gründe von Mattheson ab. Obige Darstellung sucht
Mattheson's Erzählung mit einigen mir von Herrn Archidiakonus Bertling, allerdings
auch ohne Nennung der Quelle, mitgetheilten Daten in Einklang zu bringen.
Paul Siefert, Biograpliisehe Skizze. 427
^ata am 6. Mai starb ^ und als sein Nachfolger Ewald Hintze
(1666 bis 166S), ein Schüler Frobergers, bezeichnet wird; so liegt es
nahe anzunehmen, daß Ewald Hinsch und Ewald Hintze identisch
seien. Danach wäre Ewald Hintze ^ 1660 Substitut des 74jährigen
Siefert geworden, welcher sein Oehalt Vom Bathe weiterbezog, und
im Jahre 1666 de&sen wirklicher Nachfolger. Am 10. Mai 1666
wurde Siefert in der St. Marienkirche begraben, wo auch seine Frau
ihre Ruhe gefunden hatte. ^
Als Schüler Sieferts wird uns außer dem oben erwähnten Andr.
Neunaber noch Christopher Bernhard^ genannt, welcher hernach
unter den deutschen Musikern einen bevorzugten Platz einnahm.
Es wird uns berichtet, daß der Kapellmeister Erben ihn im Singen,
Siefert ihn im Generalbasse unterrichtete. Urgiert man den Titel
jEapellmeistera , so kann der Unterricht frühestens 1658 begonnen
haben. Dann ist es aber auffällig, daß Bernhard, der 1612 geboren
war, erst als 4 6 jähriger Mann zum musikalischen Studium gelangte,
nach wissenschaftlicher Ausbildung strebte und daß, nachdem er
bereits einige Zeit sich in Dresden angehalten hatte, sich »sein Alt
in einen angenehmen Tenor« umwandelte. Dieser Widerspruch läßt
sich auf zwei Wegen lösen. Entweder war Erben noch nicht Kapell-
meister oder das Geburtsjahr ist viel zu früh angesetzt. Der erste
Weg würde zu neuen Widersprüchen führen, auf dem zweiten aber
löst sich alles glatt. Wenn Bernhard viel später geboren wurde, so
war er noch jung genug, um 1658 sich nach verschiedenen Seiten
hin auszubilden und für die Zukunft die besten Hoffnungen zu
machen ; dann konnte er den alten H. Schütz noch durch seine Alt-
stimme erfreuen. Für die Unrichtigkeit des Geburtsjahres spricht
auch die Thatsache, dass sein »opus primumv 1665 erst zu Dresden
erschien. Wie dem auch schließlich sei, soviel geht aus diesen An-
deutungen hervor, daß unsere Quellen in diesem Falle sehr der
Bestätigung bedürfen. Daß Sieferts Anregungen bei Bernhard auf
guten Boden fielen, ist bereits bemerkt worden.^
Wir blicken zurück auf das eigenartige Künstlerbild, welches
sich vor unsem Augen entrollt hat. Ein Künstler mit allen seinen
1 Döring, Z. Gesch. d. M., S. 200.
^ Dem Namen »Hintze« begegneten wir schon oben S.414 und 419.
3 Nach Mittheilung des Herrn Archidiakonus Bertling.
* Die beiden Quellen für Bernhards Leben sind bisher nur Walther und
Matthesons Ehrenpforte.
* Vergl. Vierteljahrsschr. f. Musikw. 1891, S. 180.
29*
428 ^^^^ Seiffert,
Vozzügen und Schwachen war wohl Paul Siefert. Ein starkes Bechts-
gefuhl, mit Zähigkeit und Hartnäckigkeit verbunden, bildet den
Grundsug seines Charakters. Damit paarte sich ein leicht verletzter
KünstlerstolS; und es entstand ein Streit, der fast 3 Jahrzehnte hin-
durch beiden betheiligten Männern die Beru&freudigkeit vermindern
muBte; — Sorge um das Wohlergehen der FandJie, und auch der
Verkehr mit den Berufsgenossen ward preisgegeben; — Sorge för
das Recht des Mündels, und keine Geringeren, als einen mächtigen
König und eine mächtige Stadt wuBte er zu Wlfe zu rufen.
Es ist bedauerlich, dass wir von liefert auBer den beiden Fsal-
menwerken nichts sonst besitzen. Freilich würden wir, wenn wir
diese mit den Yokalkompositionen Sweelincks und seiner Schüler
zusammen betrachten wollten, an jenen fiir diese eine Seite der
künstlerischen Bethätigung gerade genügend ausreichendes Material
besitzen; aber dann fehlt uns immer noch die Anschauung von
Sieferts rein instrumentaler Kompositionstüchtigkeit. Denn daS
Siefert mit seinen Orgelkompositionen eine von dexjenigen seiner Mit-
schüler in manchen Punkten ziemlich abweichende Weiterbüdung
der Sweelinck'schen Kunst vornahm, glaube ich seinem ganzen Bil-
dungsgang entnehmen zu können. Es wäre somit nur dringend zu
wünschen, daB die Forschung nach Sieferts Kompositionen systematisch
ins Werk gesetzt wird. Sollte das Glück einige wieder zu Tage
fördern, wir würden sie freudigst begrüBen,
Kritiken nnd Eeferate.
Carl Stumpf, Tonpsychologie. Zweiter Band. Leipzigs
Teilag von S. Hirzel. 1890. 8. XIV und 582 Seiten.
Darf es in der Regel ah eine Hauptaufgabe jedes litterarischen Berichtes gelten,
«ber neuen Veröffentlichung das Interesse jenes Leserkreises zuzuwenden, auf
welchen dieselbe ihrer Natur nach Anspruch hat, so finde ich mich in der ange-
nehmen Lage, die Arbeit in dieser Hinsicht bereits gethan anzutreffen. Wenigstens
steht zu hoffen, daß der erste Band des Werkes , dessen zweiter den Gegenstand
der folgenden Besprechung ausmacht, diesem letzteren das Interesse aller Sach-
kundigen in zuverlässigerer und dauernderer Weise gesichert haben wird, als irgend
eine litterarische Anzeige es vermöchte. Sofern man überdies von einer solchen
Aufschluss aber die im Grunde freilich nicht sehr wichtige Stellung zu verlangen
pflegt, welche der Berichterstatter der Püblication gegenüber einnimmt, habe ich
wenigstens den Lesern der »Yierteljahrsschrift« nichts mitzutheilen, was nicht bereits
meiner Besprechung des ersten Bandes ^ zu entnehmen war. Das dort
Gesagte könnte ich heute höchstens noch nachdrücklicher wiederholen :
denn jener erste Band ist mir in den Jahren seither ein Handbuch
geblieben , dessen vielfältige Brauchbarkeit mich noch so manches Mal
überrascht hat: daß aber Gewissenhaftigkeit und Fleiß, Umsicht und Scharfsinn
des Verfassers dem zweiten Bande gleichen Charakter und in so weit gleichen
Werth verbürgt, darüber scheint es unnöthig, Worte zu verlieren. Speciell der eben
berührten Verwendung als psychologisches Nachschlagebuch wird nunmehr ein
Sachregister über beide Bände besonders zu Statten kommen, durch welches einem
im Referate über den ersten Band ausgesprochenen Wunsche in dankenswerther
Weise entgegengekommen erscheint. Sofern indess der Verfasser dies mit einigen
^e Disposition dCs ersten Bandes kritisirenden Bemerkungen in Znsammenhang
bringt, indem er meint, »mit Hilfe des Registers kann sich nun Jeder nach Be-
darf das Buch unter verschiedenen Gesichtspuncten umschreiben« (Vorrede S. VI],
80 habe ich dieser wunderlichen Wendung entgegenzuhalten, dass Umschreiben
wie Schreiben, so weit es einmal die Sache erfordern sollte, jederzeit Aufgabe des
Autors bleibt, im gegenwärtigen Falle aber die allem Anschein nach im Obigen
hervortretende Empfindlichkeit des Verfassers durch den leichten Dissens in einer
▼on Natur ziemlich unwichtigen Angelegenheit denn doch nicht ausreichend moti-
Tirt sein dürfte. Ich will darum selbst aiff die Gefahr hin, abermals anzustossen,
nieht verschweigen, daß auch im gegenwärtigen zweiten Bande die Disposition
nicht dasjenige ist, was mich daran am meisten befriedigt. Dieser Band behandelt
ausschliesslich die Frage : Wie verhält sich unser Bewußtsein gegenüber mehreren
^elchzeitigen Tönen, abgesehen, noch von aller eigentlich musikalischen Auffassung?«
Vgl Bd. I dieser Zeitschrift (1885), S. 127 ff.
430 Kritiken und Referate.
(S. VI); soweit liegt Alles völlig klar: nicht das Nämliche möchte aber von der
Gliederung des diesem Gesichtspuncte unterstehenden Stoffes gelten, an deren
Detail mir wenigstens Manches nicht sofort, Anderes überhaupt nicht verständlich
geworden ist Hinter der sachlichen Wichtigkeit des Gebotenen tritt natürlich dieses
fast formelle Moment auch hier sehr in den Hintergrund; auch könnte es immer-
hin sein, daß Änderungen in der Anordnung Unzukömmlichkeiten zur Folge haben
müßten, denen der Verfasser mit gutem Vorbedacht entgangen ist Jedenfalls aber
wird die Inhaltsübersicht, in deren Beibringung ich auch diesmal meine erste
Berichterstatterspfiicht erblicke , unter den eben gekennzeichneten Umstän-
den am besten jeden der dreizehn Paragraphen abgesondert behandeln, ihren
Beziehungen zu einander aber nur gelegentliche Berücksichtigung zu Theil werden
lassen.
Nach einigen »Vorbemerkungen«, welche theils der Terminologie dienen, theils
dem bereits im ersten Bande definirten, für die Untersuchungen des zweiten Bandes
aber besonders wichtigen Begriffe der »Analyse oder Zerlegung« ^ gewidmet sind,
wendet sich der Verfasser in den §§16 und 17 sogleich dem Hauptprobleme dieses
Bandes zu, welches , da das Empfindungsmaterial durch Analyse nicht wohl ver-
ändert werden kann [S. 9 ff.), in der Frage Ausdruck findet: »Werden bei gleich-
zeitiger Einwirkung mehrerer einfacher Wellen mehrere oder nur ein Ton em-
pfunden? Und wie erklärt sich im ersten Fall die Auffassung der Mehrheit
als Einheit im letzten Fall die Auffassung der Einheit als Mehrheit?« (S. 12;. —
Die Einwirkung als nicht zu kurz dauernd angenommen, involvirt diese Frage
drei mögliche Auffassungen : »es können entweder mehrere Empfindungen
gleichzeitig, oder nur eine Empfindung, oder mehrere Empfindungen nach einander
vorhanden sein«, in welch' letztem Falle »die einzelnen Töne ... in einem soge-
nannten Wettstreit gehört würden und . . . nicht ihre Mehrheit, sondern nur ihre
Gleichzeitigkeit Täuschung wäre», (ibid.). Die sonach in Frage kommende Mehr-
heits-, Einheits- und Wettstreitslehre werden nach ihrem Für und Wider aufs Sorg-
fältigste erwogen (S. 13 ff.). Dabei erweisen sich die Gründe gegen die beiden
letzten Ansichten als durchschlagend (S. 23 ff.) , so daß § 17 nur noch die Schein-
gründe zu Gunsten der beiden Ansichten zu beseitigen, (S. 40 ff.), namentlich aber
die Argumente gegen die Mehrheitslehre zu widerlegen hat, um letztere endgiltig
sicher zu stellen. Vor den Augen [oder Ohren) etwa des praktischen Musikers oder
sonst eines theoretisch Naiven mag zwar diesen Argumenten von Haus aus wenige
Überzeugungskraft eignen; doch kommen bei ihrer eingehenden Widerlegung ein
paar psychologisch sehr wichtige Angelegenheiten zur Sprache. Das erste Argu-
ment [zwei gleichzeitige Töne, denen man doch nicht verschiedene Orte zuschreibt,
sind so unannehmbar als etwa zwei Farben zu gleicher Zeit am gleichen Orte), von
vornherein kraftlos unter der [empiristischen) Voraussetzung, »daß den Tönen an
und für sich in der Empfindung gar kein Ort zukomme«, sondern dieser erst nach-
träglich mit Hilfe der Erfahrung hinzuassociirt wird, (S. 43), betrifft auch die ent-
gegengesetzte (nativistische) Auffassung nur, falls diese »den sämmtlichen Tönen^
wenigstens denen des nämlichen Ohres, einen gemeinsamen unveränderlichen Ort«
zuschreibt. »Läßt man dabei für das rechte und linke Ohr noch eine verschiedene
1 Der übereinstimmend^ mit Bd. I. S. 96 gegebenen Definition: »Analyse ist
Wahrnehmen einer Mehrheit« muß ich entgegenhalten, daß sie mir auch noch in
anderem als dem vom Verfasser selbst ebenda vermerkten Sinne »weit« scheint
Um in drei Faukenschlägen oder Kanonenschüssen , die hinter einander abgegeben
worden sind, Mehrheit wahrzunehmen, dazu möchte nach gewöhnlichem und meines
Erachtens auch natürlichem Sprachgebrauche weit eher Synthese als Analyse er-
forderlich sein«
Stumpf, Tonspychologie. 431
Ortsempfindung bestehen«, so ist zwischen einem Tone im rechten und einem im
linken Ohre jedenfalls strenge Gleichzeitigkeit möglich, und dann lehrt das Experi-
ment, daß die betreffenden zwei Töne auch auf ein Ohr keinen wesentlich anderen
Eindruck machen^ (S. 45 f.). Zieht sich jedoch der Gegner auf die Annahme zu-
rück, daß auch »die Töne des rechten und linken Ohres nur einen gemeinsamen
Ort in der Empfindung« besitzen, dann muß endlich auch die Berechtigung des
Princips der Beweisführung selbst zur Sprache kommen. »Auf welchem Wege
leuchtet es denn ein, daß gleichzeitige Empfindungen eines Sinnes nothwendig ver-
schieden localisirt sein müssen?- Inductiv aber l&ßt sich nicht von vier Sinnen
emua incognita kurzweg auf den fünften schließen, zumal auch die Thatsachen bei
den betreffenden Sinnen gar nicht unbestritten sind, und der Analogie zwischen den
Terschiedenen Sinnen bei ihrer sonst so weitgehenden Verschiedenheit ein erheb-
liches Gewicht nicht beigemessen werden kann (S. 46 ff.). Überdies zeigt ein »Ex-
curs über die räumlichen Eigenschaften der Tonempfindungen« (S. 50 ff.), daß bei
diesen streng genommen nur von einem »Pseudo-Kaum« (S. 58) die Rede sein
kann. Zwar eignet ihnen ein »immanentes Moment«, das »neben Qualität (Höhe)
and Intensität als ein drittes genannt werden muß, um die Tonempfindung voll-
ständig zu beschreiben. Bezeichnen wir es vorläufig mit räumlichen Ausdrücken,
80 ist weiter zu sagen, daß es nur zwei Unterschiede des Ortes aufweist, welche
den Tönen des rechten gegenüber denen des linken Ohres eigen sind, außerdem
aber zahbeiohe Unterschiede der Ausdehnung, welche im Allgemeinen parallel der
Höhe der Tonqualitäten jedes Ohres abgestuft sind« (S. 51). Zu Gunsten solcher
räumlichen Bezeichnungsweise führt der Autor auch Gründe an (S. 59) : »aber es
wäre«, wie er meint, »auch nichts einzuwenden, wenn einer für die besprochene
Seite der Tonempfindungen einen besonderen Ausdruck erfinden will, mir ist nur
kein passender eingefallen« ^ (ibid.) Jedenfalls ist sonach dargethan, daß auch
der Grundgedanke des fraglichen Argumentes auf das Tongebiet unübertragbar ist.
1 Was das Experiment hier allein ergeben kann, ist der Schein der Überein-
stimmung zwischen ein- und zweiohrigem Hören, und es fragt sich eben, ob dieser
berechtigt ist Darum wird das Beweismittel gerade demjenigen gegenüber ver>
sagen, bei dem allein ein Bedürfniß danach vorhanden wäre.
2 Wie aber, wenn man »Sinn« durch >»Qu alitäten-« oder »Inhalts-Continuum« er-
setzte? Zwei Farben (im weitesten Sinn) zugleich am selben Orte — Grenzen ge-
hören natürlich nicht hierher — halte ich für schlechthin unverträglich, ob sich
nun dafür mögen Gründe beibringen lassen oder nicht.
3 Daß die Daten des rechten und linken Ohres durch keine Erfahrung räum-
lich verwerthbar gemacht werden könnten ohne ein den Empfindungen jedes der
beiden Ohren als solchen immanentes (oder wenigstens, wie noch beizufügen wäre,
mit ihnen besonders eng verknüpftes) Merkmal, scheint mir durch den Verfasser
unwiderleglich dargethan. Ob er dagegen in Sachen der »Ausdehnung« seine Po-
sition aus Bd. I mit Recht aufgegeben nat? Daß hohe von tiefen Tönen sich noch
in Anderem unterscheiden als in der Tonhöhe, einer solchen Annahme scheint
directe Empirie allerdings in hohem Grade günstig. Schwerer möchte es fallen,
sich hier wie dort von der Räumlichkeit oder »Raumähnlichkeit« der betreffenden
Daten zu überzeugen. Jedenfalls scheint mir die Anwendung räumlicher Bezeich-
nungen unter den vom Autor selbst charakterisirten Umständen nichts weniger als
»secundär« (S. 51), weil sie irreführen kann. Was berechtigt insbesondere, wenn
man dieses terminologische Band bei Seite läßt, das Ei^enthümliche des Rechts-
oder Linksgehörten mit dem Quasi-*Ausdehnung3unterschied tiefer und hoher Töne
unter denselben Titel zu rangiren ? Was der Erfasser über die »räumlichen Eigen-
schaften der Tonempfindungen« festgestellt hat, läßt sich meines Erachtens ein-
deutig eher dahin resumiren, daß man nicht das geringste Recht hat, von solchen
Eigenschaften zu reden.
432 Kritiken und Eeferate.
— Bas zweite Argument (im Falle einer Mehrheit gleichseitiger Töne müßten diege
«leichter unterscheidbar sein als aufeinanderfolgende, da xwei Inhalte um so leiditer
in irgend einer Beziehung unterschieden werden, je mehr sie in den übrigen Be-
ziehungen gleich sind« , Erfahrung lehrt aber das Gegenteil — S. 60 , Tgl. S. 22)
vermöchte in seiner KünstHchkeit meines Erachtens wohl niemanden der Mehr-
heitsansicht abspenstig zu machen ^ ; doeh bietet es dem Verfasser Gelegenheit su
ersten Aufstellungen über das wichtige VerhSltniß der Verschmelzung gleichzeitiger
Empfindungs-Inhalte (S. 64), vermöge dessen die betreffenden Qualitäten, ohne »im
Geringsten verfindert, geschweige denn zu einer einzigen neuen Qualität umge-
wandelt« zu werden, gleichwohl zu einer »engeren Einheit« zusammentreten. Wa«
dieses Moment für die gegenwärtige Frage eigenüieh zu bedeuten hat, dürfte seine
Position im Scheingefechte der Gründe und Gegengründe kaum ausreichend zur
Geltung konmien lassen: denn viel wichtiger als die Eignung, einen Beweis als
hinfällig darzuthun, der ohnehin niemanden überzeugt, ist meines Erachtens der
Umstand, daß der Hinweis auf die Tonverschmelzung demjenigen wirklichen Be-
dürfhisse Rechnung trägt, welches vor aller dialektischen Kunst und mächtiger als
diese zur Einheitsansicht hindrängt. Die Empirie zeigt im Zusammenklange eine
unverkennbare Einheit; darum wird eine theoretische Ansicht, welche nur von
Mehrheit wissen will, am Ende auch den Musikalischen nicht zufriedenstellen: erst
indem er erkennt, daß was zu einer Einheit verschmolzen ist, immer noch eine
Mehrheit von Empfindungen sein kann, vermag ihm die durch diesen Beisatz rid-
leicht nicht theoretisch, (vgl. S. 66), sicher aber praktisch modifcirte Mehrheitsan-
sicfat zu genügen. ^ — Nachdem so die unerläßlichen Voraussetzungen aller Klang-
Analyse sichergestellt sind, wendet sich der Autor zu den Bedingungen dersdben.
Von den psychologischen Bedingungen konmit an dieser Stelle, ohne daß der Grund
dieser Auswahl ersichtlich gemacht würde, der Einfluß der Erfahrung (S. 69 fL,
zunächst polemisch gegen Helmholtz), dann der Einfluß des Klang- oder Har-
moniegefühls (S. 81 ff.) zur Sprache: beiden Momenten wird eine entscheidende
Bedeutung für die Analyse mit Becht abgesprochen. Dabei steht der Grund für
die Ablehnung der zweiten Eventualität dem Interesse des Musikers besonders
nahe. Harmoniegefühl , meint der Verfasser , setzt jederzeit bereits Analyse vor-
aus : Belege bieten Quintenparallelen, die nur denjenigen stören, der sie als solche
erkennt, und mehrdeutige Accorde (z. B. der Dominantseptimenaccord von ^-dur
und der wenigstens auf dem Klavier gleichklingende übermäßige Quintsextaccord
über der vierten Stufe von C-dur}, wo die Verschiedenheit der an sie geknüpften
Gefühle von der Auflassung im einen oder anderen Sinne abhängt. ^ Die »physi-
^ EntsoJiiedenere Stellungnahme des gegen gegnerische Positionen sonst manch-
mal sehr entschiedenen Autors wäre hier der Klarheit dienlich gewesen. Wie zu-
mal »das Princip des Argumentes .... unangetastet« bleiben (S. 67 AnnL) kann,
oder gar muß, nachdem Verfasser selbst dargethan, daß es für alle gleichzeitigeD
Empfindungen nicht zutrifit, ist aus sachlichen Gründen schwer einzusehen. Aber es
hat auch sonst an manchen Stellen dieses Bandes den Anschein, als ob es dem Ve^
fasser geradezu darum zu thun wäre, sich zu einer Art Parteistellunff zu bekennen.
^ Ungefähr so ist es wenigstens mir selbst ergangen. Erst Mehrheitsansieht,
dann um so mehr Neigung zur Einheitstheorie, je mehr ich auf psychiaehe
Complexionen achten lernte. Im Augenblicke, da ich durch vorliegendes Buch
angere^, in der Octave das Verschmelzungs - Phänomen erfaßt hatte, war alle
theoretische Schwierigkeit beseitigt.
3 Verfasser anticipirt damit später näher darzulegende Ergebnisse, über die
man sich darum ein abschließendes Urtheil noch nicht wohl bilden kann. Weil es
mir aber nicht darum zu thun ist, Recht zu behalten, sondern der Weiterführung
der Untersuchung förderlich zu sein , verschweige ich nicht , daß mir der Sat« :
Stumpf, Tonpsychologie. 433
oiogischen Vorauseetzungen der Klanganalyse«, im Besonderen die Hypothese der
»SehneekenclaviatuT« und die Theorie der spezifischen Energien, für welche der
Autor mit bekannter Sach- und Literatur kenn tnis eintritt , bilden im § 18 (S. 86
ff.) den Gegenstand physiologisch wie psychologisch werthvoUer Erörterungen.
In den §§19 und 20 erf&hrt das in § 17 doch nur nebenher berührte Phä-
nomen der Tonverschmelzung jene Würdigung exjprofesso, welche der Wichtigkeit
und Neuheit der Sache angemessen ist. Mit Rücksicht namentlich auf den letzt-
erwähnten Umstand sei hier jedoch yor Allem der Hinweis des Autors auf die
Unentbehrlichkeit directer empirischer Kenntnißnahme (S. 129} vom Standpuncte
des litterarischen Berichterstatters besonders nachdrücklich wiederholt: ich wüßte
nicht, wie die folgenden dürftigen Mittheilungen ihren Zweck gründlicher verfehlen
könnten , als wenn jemand versuchte, auf Grund derselben statt auf Grund von
Experiment und Beobachtung zu einem Urtheil zu gelangen. Verschmelzung nennt
der Autor (mit £. H. Weber, vgl. S. 65) »dasjenige Verhältniß zweier Inhalte,
speeiell Empfindungsinhalte, wonach sie nicht eine bloße Summe sondern ein Ganzes
bilden« (S. 128) ; der Ausdruck wird mithin weder im Sinne Herbart's noch im
Sinne Wandt' s ^ angewendet Die Ton Verschmelzung insbesondere weist verschiedene
Stufen auf, d. h. »Gradunterschiede . . . ., die doch nicht stetig vom höchsten bis
zum niedrigsten Grade in einander übergehen« (S. 135 f.)* Verfasser macht, von
der »stärksten« Stufe beginnend, namhaft: 1. Octave, 2. Quinte, 3. Quarte, 4. die
sog. natürlichen Terzen und Sexten (groß und klein), 5. »alle übrigen musikalischen
und niehtmusikalischen Toneombinationen« (innerhalb der Octave), unter denen
höchstens der sog. natürlichen Septime ein etwas höherer als der niedrigste Ver-
schmelzungsgrad zukommen könnte. Weitere Gesetzmäßigkeiten (S. 136 ff.): a.
•Der Verechmelzungsgrad ist unabhängig von der Tonregion«, b. unabhängig von
der absoluten wie relativen Tonstärke, c. er wird durch Hinzufügen eines beliebigen
dritten und weiteren Tones nicht beeinflußt (speciell Obertöne und Klangfarbe
ändern also nichts am Verhalten zweier Grundtöne; , d. Abweichungen von den zu
obengenannten Intervallen gehörigen Verhältnißzahlen erzeugen, wenn sehr klein, keine
merkliche Änderung imVerschmelzungsgrade: Vergrößerung dieser Abweichungen aber
führt auf die niedrigste Verschmelzungsstufe, ohne die etwaigen Zwischenstufen (ver-
stimmte, unreine Intervalle) , e. Verschmelzung behält ihren Grad, wenn nicht beide Töne
demselben Ohr geboten, f. wenn sie nur eingebildet vorgestellt, g. wenn die
Sehwingungsverhältnisse um eine oder mehrere Octaven erweitert werden. ^ Den
»Kein Hannoniegefühl ohne Analyse« in seiner Allgemeinheit derzeit sehr angreif-
bar seheint, nicht minder die Beweiskraft der gebrachten Beispiele im Besonderen.
Verschiedenheit der Gefühle beim nämlichen Zusammenklang scheint mir nur dar-
auf hinzuweisen, daß für diese Gefühle jedesmal auch noch der (etwa in Gedanken
Torweggenommene] Auflösunesfall maßgebend ist. Bezüglich der Quinten spricht
^egen den Autor die an schleuderhaft oder allzu »frei« gearbeiteten Folyphonien
XU machende Erfahrung , daß der arglose Zuhörer , dem es eben noch ganz fem
lag, die einzelnen Stimmen besonders verfolgen zu wollen, sich plötzlich durch
etwas aufgestört findet, was er nun nachträglich als Quintenfolge erkennt. —
Immerhin könnten aber Tonfolgen der Ansieht des Verfassers günstiger sein; wie
aber läßt sie sich auf alle eigentlichen Zusammenklanggefühle ausdehnen?
i In der Polemik gegen letzteren hätte wohl hier und sonst manches auch
weniger aggressiv vorgel^acht werden können, vielleicht, dass es dann derzeit
auch um einen Gelehrtenstreit weniger gäbe, oder dieser doch minder unerfreu-
lichen Verlauf genommen hätte.
* Versuche, die zunächst nur zur Selbstbelehrung bestimmt waren, haben mich
auf Ergebnisse geführt, die von diesen Aufstellungen zum Theil nicht unerheblich ab-
weichen. Ich hoffe Näheres hierüber demnächst an anderer Stelle mittheilen zu können.
434 Kritiken und Referate.
diiecten Beobachtungen hierüber hat Verfasser Controlversuche an Unmusikalischen
(S. 142 ff.) zur Seite gestellt, ausgehend von der Voraussetzung, daß »die verschiedenen
Verschmelzungsgrade . . . sich in ebenso verschiedenen Graden der Schwierigkeit der
Analyse kundgeben« müssen, daß sonach stärker verschmelzende Toncombinationen ce-
teris parihus seltener als zwei beurtheilt werden als weniger stark verschmelzende: die
mit großer Sorgfalt angestellten und discutirten Experimente bestätigen im Allge-
meinen die obigeStufenreihe derintervalle ; zugleich führen sie auf dieVermuthung, »daß
mit zunehmender Verschmelzung zugleich der Abstand zwischen den Verschmelzungs-
stufen zunehme« (S. 174). Auch in der musikalischen Praxis (Naturgesang in
Octaven und Quinten, gemischte Stimmen untör den Orgel-Registern) desgleichen
in Äußerungen von Theoretikern findet der Autor Bestätigungen (S. 179 £). —
Was die Ursache der Tonverschmelzung (§20, S. 184 ff.) anlangt, seheinen
dem Verfasser an psychologischen Erklärungsgründen fünf in Betracht zu kommen:
»allgemeine Gesetze über Wechselwirkung der Vorstellungen, wie solche von Her-
baxt entwickelt wurden , die Ähnlichkeit der bezüglichen Empfindungen, die Mi-
schung der begleitenden Gefühle, der Glättegrad der Empfindungen (relativer
Mangel an Schwebungen}, die Häufigkeit ihres Zusammenseins im Bewußtsein«
[S. 185). Das negative Ergebniß ihrer Prüfung, sowie die Erwägung, daß die Ver-
schmelzung »eine Thatsache der Empfindung, ein den gleichzeitigen Tonqualitäten
immanentes Verhältniß, und von der Übung im individuellen Leben unabhängig
ist,« deutet darauf hio, daß der Grund der Tonverschmelzung nicht psychisch son-
dern physisch ist (S. 211). Näher vermuthet der Autor eine Art »specifischer Ener-
gien höherer Ordnung, noch besser specifische Synergien«, indem er »unter einer
solchen eine in der Hirnstruktur gründende bestimmte Art des Zusammen-
wirkens zweier nervösen Gebilde« versteht, wodurch jedesmal, wenn diese beiden
Gebilde die ihnen entsprechenden Empfindungen erzeugen , ein bestimmter Ver-
schmelzungsgrad dieser Empfindungen miterzeugt wirda (S. 214). »Dem Individuum
angeboreo, könnte . . . immerhin diese physiologische Einrichtung im Leben der
Generation erworben und sogar unter Mitwirkung psychischer Thätigkeiten erwor-
ben sein« (S. 215).
Wieder zu den Fragen der Analyse zurückkehrend, behandelt § 21, während
»bisher ... im Allgemeinen gleiche Stärke der Klangelemente vorausgesetzt«
wurde (S. 219), nunmehr Analysiren und Heraushören bei ungleicher Stärke der
Klangtheile, unter Stärke zunächst die Empfindungsstärke verstanden, »wie sie er-
scheint, wenn jeder der bezüglichen Töne bei unveränderter Reizstärke allein er-
klingt« (ibid.). Stärkeverschiedenheit erschwert Analyse und Heraushören und
»macht sie zuletzt bei einem gewissen Betrag ganz unmöglich« : für die Musik ist
das »vom höchsten Werte. Müßten wir ja sonst schon durch die unvermeidlichen
inneren Ohrgeräusche und die subjektive Nachdauer der Tonempfindungen ebenso
belästigt werden, wie wir es durch das objektive Nachklingen eines schlecht dSm-
pfenden Klaviers wirklich werden« (S. 220 f.). »Verschwindet nun der viel schwä-
chere Ton überhaupt aus dem Empfindungsinhalt, oder nur aus der AVahmeh-
mung?« Verfasser nimmt aus theoretischen Gründen an, »daß bei fortgesetzter
Abnahme der physikalischen Tonstärke zuerst die Wahrnehmung, dann aber auch
dieEmpfindung wegfällt«, — Wahrnehmungs- bezüglich Empfindungsschwelle (S.221f.;.
Nach allgemeinen Erwägungen über die Veränderung dieses Intensitätsschwellen-
werthes bei veränderten Tonstarken und Tonhöhen (S. 224 ff.) wendet sich der Autor
noch im besonderen zur Untersuchung von Beitönen, zunächst solchen, die, ^ie
die Obertöne und Combinationstöne, mit einer gewissen Regelmäßigkeit Haupt-
töne begleiten (S. 229 ff.). Daran schließt sich die Frage nach dem Vorhandensein
einfacher Töne (S. 257 f.] : die Prüfung entgegenstehender Ansichten (S. 258 ff.),
Stumpf, Tonpsychologie. 435
darunter namentlich H. Eiemann's Annahme von Untertönen und £. Mach's Com-
plemententheorie» führen in überzeugender Weise zu dem Ergebniß, daß weder
Schlüsse aus Beobachtungen, noch allgemeine Erwägungen irgend einen Grund an
die Hand geben, das erfahrungsm&ßige Vorkommen gänzlich einfacher Tonempfin-
dongen zu leugnen« (S. 276).
Einer anderen Bedingung des Analysirens und Heraushörens ist § 22 gewid-
met, der Aufmerksamkeit. Anregenden, doch keineswegs einwurfsfreien Aufstel-
lungen über aWesen und primäre Wirkung« derselben, welche das in Bd. I Über Auf-
merksamkeit Gesagte theils zu ergänzen, theils zu modificiren bestimmt sind (S. 277 ff.),
folgt die specielle Anwendung auf das Tongebiet. Besonderes Interesse wird hier
■die Verstärkung der herausgehörten oder herauszuhörenden Klangtheile durch die
darauf gerichtete Aufmerksamkeit« finden, welche Verfasser nur an schwachen, E.
Mach dagegen auch an starken Tönen beobachtet hat^ (S. 290 ff.}. Sie ist nicht
auf Muskelthätigkeit zurückzuführen (S. 294 ff.), es bleibt daher »nur Übrig, sie
als Folge eines im sensiblen Nerven (Ganglion) central erregten Processes anzu-
sehen«. Wir müssen eben i»dem Willen einen direkten Einfluß auf sensible Nerven
.Ganglien) zuschreiben, ähnlich wie er einen solchen auf motorische übt« (S. 305):
also Veränderung der Empfindung durch Innervation, aber darum noch keine »In-
nervations-Empfindung« (vgl. S. 306 f.).
Die Bedingungen für die (objektive) Zuverlässigkeit der Analyse und des Her-
aushörens hat § 23 zum Gegenstand. Die auf Vollständigkeit abzielende Über-
sicht der maßgebenden Faktoren (S. 319 ff.): umfaßt a) die «qualitative Distanz
der gleichzeitig empfundenen Töne, — es giebt eine qualitative Schwelle der Unter-
scheidbarkeit gleichzeitiger Tön&f, welche bedeutend höher liegt als die für auf-
einanderfolgende Töne (S. 319), was schon daraus erhellt, daß man den Höhen-
unterschied zwischen den Empfindungen beider Ohren successiv meist wahrnimmt,
gleichzeitig aber nur Einen Ton zu hören meint (S. 319 f.^); die Unterscheidungs-
fiüiigkeit ist auch bei gleichzeitigen Tönen nicht konstant, die relative insbeson-
dere aninunt von der Tiefe bis zu einer mittleren Region zu, dann wieder ab«
,S. 324), also analog dem Verhalten bei aufeinanderfolgenden Tönen und wie dieses
»Inder Konstruktion der die Tonempfindungen vermittelnden nervösen Einrichtungen«
begründet (S. 324 f.), indeß die Erhöhung der Unterscheidungsschwelle, mindestens
soweit beide Ohren wesentlich betheiligt sind, auf die Verschmelzung zurückgehen
wird (S. 325 ff.), — b) die absolute und relative Stärke der gleichzeitigen Töne
[S. 328 f.], c) die Verschmelzungsstufen (S. 329], d) die Zahl der gleichzeitigen zu
analysierenden oder herauszuhörenden Componenten (S. 329 ff.), e) die Dauer des
Klanges (S. 334 f.), f) gleich- oder ungleichseitiges Hören (S. 335 f.), g) partielle
Veränderungen, d. h. Stärkeschwankungen oder stetige (auch geringe diskrete)
Höheschwankungen einzelner Componenten« (S. 337 ff.), h) der augenblickliche
Aufoierksamkeitsgrad (S. 344 ff.), i; das Gedächtniß (die Vorstellungsübungj für Töne der
bezüglichen Region (S. 346 f.). Besondere Untersuchung erfahren hierauf noch
der (scheinbare) Einfluß der Klangfarbe (S. 348), das unter gewissen Umständen
eintretende Verschwinden des höheren Oktaventons (S. 352 ff.), endlich die Ana-
lyse von Nachempfindungen und Gedächtnißbildern (S. 35S ff.). Interessante Daten
' An Klavier und Harmonium gelingen mir die Versuche bei beliebigen Stärken,
bei geringeren aber allerdings in auffälligerer Weise.
2 Verfasser bringt bei dieser Gelegenheit noch interessante Nachträge zu den
Baten des ersten Bandes über binaurales Hören: es hat sich herausgestellt, daß
die Differenz seiner beiden Ohren zwischen der großen und der viergestrichenen
Oktave dreimal das Vorzeichen wechselt (S. 320 f. Anm.i.
436 Kritiken und Keferate.
über »indiTiduelle Unterschiede im Analysieren und Heraushören«, zun&ehst Be-
obachtungen an Unmusikalischen und an Kindern entnommen, finden sieh in § 24
ausammengestellt (S. 362 ff.) ; dem dabei eingeschlagenen Versuchsverfahren mißt
Verfasser als PrQfmittel für musikalische Veranlagung mit Recht aueh einigen
praktischen Werth bei (S. 382).
Stand das Problem der Analyse bisher im Mittelpunkte der Untersuchung, so
faßt § 25 und § 26 Qualitftts- bezüglich Intensitätsurteile einer gleichzeitigen Ton-
mehrheit ins Auge, sei sie eine analysierte oder nicht (S. 383). Im ersteren Para-
graphen interessieren den Theoretiker so gut wie den praktischen Musiker insbe-
sondere die Angaben des Autors über eigentümliche Täuschungen. Bei analysierten
Kl&ngen scheint das Ganze die Höhe des tiefsten Tones zu haben, auch wenn dieser
nicht zugleich der stärkste ist (S. 384 ff.}^; in Folgen von Zusammenklängen maeht
das Ganze scheinbar die Bewegung der in den größten Sehritten bewegten Stimme
mit (S. 393 ff.)J2; ein zu einem gegebenen Tone »hinzutretender beträehtlidi tie-
ferer Ton scheint den Yorhandenen zu Tertiefeui ein höherer ihn zu erhöhen« [S.
397 ff.) 3. Bei nicht analysierten Klängen führen beigemischte Obertöne den Schein
der Erhöhung mit sich und da der Musiker die Vorstellungen cS a^ u. dergl. immer
schon an ziemlich zusammengesetzten Klängen gewinnt, erscheinen ihm nicht nur
einfache Klänge neben zusanunengesetzten zu tief, sondern werden auch, wenn
isoliert angegeben, zu tief geschätzt und zwar im letzteren Falle um ein bis zwei
Oktaven (S. 406 ff.). Einige an den Schluß des Paragraphen gestellte Bemer-
kungen über die Bedeutung der Oktave für die Instrumentation (S. 411 ff.), denen
ich auf Grund oft gemachter Beobachtungen nur vollinhaltlich beipflichten kann,
möchten insbesondere solchen, die nur mit Hilfe der Augen Klavierauszüge anfer-
tigen, wärmstens zu empfehlen sein. — Der Intensitäts-Paragraph (26) behandelt
zunächst kurz Urtheile über das Stärkeverhältniß gleichzeitiger Töne; noch klarer
als bei aufeinanderfolgenden Tönen lehrt hier die Vergleichung, »daß die höheren
Töne bei gleicher Beizstärke größere Empfindungsstärke besitzen« : die Praxis, die
Melodie in die Höhe zu legen, beruht hierauf; sie trat historisch um so mehr her-
vor, je mehr die harmonische Musik sich entwickelte (S. 417 f.). Die Frage, ob
»sich die Stärke eines objektiv gleichbleibenden Tones« verändert, »wenn er mit
i An sich beachtenswerte Beobachtungen über eine gewisse Prärogative tieferer
Töne finden hier eine keineswegs völlig überzeugende theoretische Bearbeitung.
Das gilt auch von der Heranziehung der sogenannten räumlichen Eigenschaften
der Töne (S. 386 ff.), durch welche, so weit ich sehe, der schon in Bd. I berührte
»Standpunkt« so wenig erklärt wird, als er selbst das obige Phänomen verständ-
lich macht.
2 Soll damit gesagt sein, daß die liegen bleibende Stinune bewegt schönt, so
muß ich auf Grund der von mir angestellten Versuche den Schein in Abrede
stallen. Daß man andererseits ein Qanzea nicht leicht ruhend nennen wird, wenn
man Theile desselben in Bewegung findet, ist freilich sehr natürlich, ab^ schwer-
lich die vom Autor angesprochene Täuschung, die mir auch durch die interessanten
Partitur-Beispiele des Autors nicht näher gebracht wird.
8 An Klavier und Harmonium habe ich diese Täuschung in keinem einzigen
Falle herbeiführen können. Dagegen wird eine Art Accommodationsfähigkeit, wie
sie der Verfasser den Schlaginstrumenten im Orchester zuspricht (S. 399 ff.), diesen
wohl zukommen; aber sollte, solches zu verstehen, die natürliche Unbestimmtheit
oder Undeutlichkeit des durch das charakteristische Geräusch gleichsam beherrschten
Tones hier nicht ausreichen? Das sich im Melodram auch die Sprechstimme accom-
modiere (S. 403), widerspricht meinen Erfahrungen ; vielmehr hat das gegentheilige
Verhalten mir schon in ziemlich jungen Jahren, wie ich mich deutlicn erinnern
kann, diese »Kunstform« verleidet.
Stumpf, Tonpsyohologie. 437
anderen suBammen gehört wird«, beantwortet sich auf Qrund leicht zu wieder-
holender Yeraachei £. Mach's dahin, »daß der Ton im isolierten Zustande st&rker
eneheintc (S. 418), indem »die gleichzeitigen Tonempfindungen oder besser die
^eiehseitigen Erregungen des Nervus aeuzticus^ sich gegenseitig einen
Abbruch« thun (S. 420). Daß »ein Tonganzes einen stärkeren Eindruck« machen
muß, »als jeder seiner Theile«, scheint auf den ersten Blick selbstverstfindlich ; der
Verfasser tritt aus sehr beachtenswerthen QrQnden für das Qegentheil ein (S. 423 ff.),
schon wegen der Mehrheit der in der Empfindung vorhandenen Töne »kann ein
Zusammenklang bei genauer Beobachtung nicht stftrker geschätzt werden als der
stirkste Theil« und das direkte Experiment bestätigt dies^. Auch gleiche Empfin-
dungen des rechten und linken Ohres verstärken sich wahrscheinlich nicht (S.
430 ff.)- Einschlägige ohrenärztliohe Beobachtungen sind am Schlüsse des Para-
graphen zusammengestellt (& 440 ff.).
»Sebwebungen und darauf bezügliche Urtheile« beschäftigen den Autor in § 27
(8. 449 ff.). Wesen und Begleiterscheinungen derselben , ihre Entstehung und ihr
8iti, sowie die für sie bestehenden Sehnelligkeitsgrenzen, andererseits die Zuthei-
lung der Schwebungen an das Ganze oder bestimmte Theile des Klanges« findet man
mit bekannter Gewissenhaftigkeit erörtert. Das größte Interesse aber dürften hier
wohl die Ausführungen über »Tonhöhe bei Schwebungen« (S. 471 ff.) auf sich
liehen» insbesondere einige neue (theilweise von J. Joachim und G. Engel bestä-
tigte) Beobachtungen hierüber. Wird etwa gis^ und a^ auf der Violine zusammen
angegeben, so hört Verfasser außer diesen beiden Tönen »einen dritten, der zwi-
schen ihnen liegt, etwas näher an dem tieferen als an dem höheren. Derselbe besitzt
eine sehr weiche Farbe, wird bei starker Aufmerksamkeit innerhalb des Ohres
lokalisiert, und er ist es, welcher schwebt, während die Frimartöne ruhig bleiben*^
(S. 480).
' Sie gelingen mir besonders deutlieh am Harmonium, ja so auffallend, daß
ieh in der Konstruktion des Instrumentes unterstützende Moment^ vermuthen muß,
die mit dem vorliegenden Fragepunkte gar nichts zu thun haben.
2 Gegen Mach's Zurückführung der Verstärkung auf Aufimerksamkeit ; aber
man entschließt sich schwer, auf jede Verbindung mit den oben (S. 434) berührten
Aufmerksamkeits-Fhänomenen zu verzichten. Ob sich nicht doch noch ein Zusam-
menhang entdecken ließe?
* Nach meinen Erfahrungen doch nicht immer. Zwar der Klavierversuch
8. 425 gelingt auch mir, und wenn im Acoord F c* f* a* etwa a* forte angegeben
wird, das Übrige piano oder pianissimo, so kann ich den Zusammenklang auch
nicht stärker finden, als wenn a^ idlein eben so stark wie vorher angescnlagen
wird; ebenso bei einem beliebigen anderen Bestandtheile des Accordes. Nehme
ich dagegen alle Töne des Accordes forte, so klin^ mir das Ganze unzweifelhaft
beträchüich stärker als wenn dieses aus dem einen starken und sonst lauter
sehwachen Tönen besteht. Weniger Werth möchte ich auf eine vor Jahren beim
Oiffelspielen gemachte Erfahrung legen. Wenn sich beim freien Fantasieren das
Bedürmiß nacn einem crescendo geltend machte, suchte ich diesem zuweilen, ohne
nene Register zu ziehen, durch größere Vollstimmigkeit nachzukommen, und zwar,
wie mir schien, namentlich in höheren Tonlagen nicht ohne Erfolg. Ob es
auch Anderen so schien, und inwieweit die vom Verfasser sorgfältig berück-
lichtigten Täuschungsursachen, sowie Differenztöne« Obertöne u. dgl. eine KoUe
spielten, vermag ich freilich nicht zu entscheiden. Übrigens wird dem Autor das
\erdienst, die Frage in Fluß gebracht zu haben, auch dann zuerkannt werden
müssen, wenn die von ihm gegebene Antwort nicht durchaus befriedigen soUte.
* Den letzten Umstand fand ich im Versuche sofort bestätigt. Zuerst fiel
mir auf, daß jedenfalls nicht a^ schwebe, die Schwebung also wohl tiefer liefen
müsse. Minder auffällig doch unzweifelhaft, ergab sich dann das gleiche negative
438 Kritiken und Referate.
Bei weiter auseinanderliegenden Tönen derselben Eegioni wie g^ und a* hört
er nichts mehr von dem mittleren Ton , sondern nur die beiden Prim&rtöne, und
diese beiden scheinen selbst zu schweben ; wird dagegen die Aufmerksamkeit Tor-
zugsweise dnem Ton ihnen zugewendet, scheint immer dieser der schwebende.^
Bei sehr nahe an einander liegenden vernimmt er nur einen Ton und diesen sehwe-
bend (S. 461). Eine glücklich koncipierte »physiologische Theorie« (S. 484 ff.) ver-
sucht den Thatsachen mit ziemlich einfachen Mitteln gerecht zu werden.
Von den Ausfahrungen über »Geräusch und Klangfarbe«, welche den letzten
Paragraphen (28) des gegenwärtigen Bandes ausmachen, mißt der Verfasser den
ersteren nur yorläufige Bedeutung bei (S. 500). Man kann zweifeln, ob es Ge-
räusche ohne Töne gebe, sicher aber giebt es Töne ohne Geräusche (8. 500 ff.;.
Eine »Besprechung der Ansichten über den Begriff des Geräusches« (S. 503 ff.)
fällt im Wesentlichen zu Gunsten der »nativistischen« Auffassung der GerSosehe
als »Empfindungen besonderer Art« aus (S. 510 ff.]. — Dagegen beabsichtigen die
Untersuchungen über Eiangfarbe in Betreff dieser schwierigen Angelegenheit
einiges endgiltig auszumachen. Aus der Mannigfaltigkeit der hier anzutreffenden
Prädikate wird zunächst unter dem Namen vKlangcharakter« ausgeschieden, vas
»in bloß.associierten Vorstellungen und Gefühlen« seinen Sitz hat (S. 515 f.). Dann
steht aber immer noch der Klangfarbe im engeren die im weiteren Sinne gegen-
über »als das Unterscheidende der Instrumente«! außer auf jene noch auf »die eigen-
thümliche Art und Dauer des An- und Ausklingens«, begleitende Geräusehe u.A.
gegründet (S. 516 ff.); theoretischer Untersuchung bedarf nur jene, Helmholts's
»musikalische Klangfarbe« (S. 520). Ihr thatsächlicher Zusanmienhang mit den
empfundenen Obertönen ist zweifellos, aber er selbst bedarf psychologisdier £^
klärung: kommt dem einzelnen Tone keine Farbe zu, wie soll sie dem Ganzen
eignen? »Aus Nichts wird Nichts«, darum muß zunächst schon den einfachen
Tönen eine Farbe zuerkannt werden, welche der Verfasser »Tonfarbe« nennt, und
direkte Beobachtung lehrt, »dass die Tonfarben eine mit der Tonhöhe fortschrei-
tende Reihe bilden von der dunkelsten bis zur hellsten« (S. 524 ff.). Aber Ton-
farbe ist nicht, wie der Autor anfänglich meinte, Tongefühl: denn »Klangfarbe
ist nicht wie das Klanggefühl eine direkte Funktion der Empfindungen, sondern
der Auffassung der Empfindungen« (S. 529). Dagegen weisen die für Klangfarbe
im engeren Sinn charakteristischen Gegensätze: dunkel und hell, stumpf und
scharf, toU und leer auf die im Ganzen parallel veränderlichen Momente der Ton-
höhe, -stärke und -große (S. 531 ff.): Tonfarbe ist nicht etwas neben der Stärke
und Höhe, sondern theils Stärke, theils Höhe, theils Größe (S. 540). Weil aber »die
höheren einfachen Töne höher (heller), stärker und spitzer sind, darum scheinen
uns auch die Klänge, in denen sie unanalysiert enthalten sind, gegenüber anderen
Ton gleicher Höhe, Stärke und Breite des Grundtons höher (heller), stärker,
schärfer«, und dies um so mehr, »je zahlreichere und je höhere Obertöne dabei
sind« (S. 539), von Nebenempfindungen und namentlich Schwebungen zwischen den
Partialtönen (S. 533 ff.) ganz abgesehen. Für den, der ihn analysiert, hat »der
Klang als eine Verbindung von Tönen .... weder Höhe, noch Starke, noch
Farbe« (S. 540). Verfasser zieht aus dieser Auffassung die wichtige Konsequens,
Kesultat für gis^ Nur den zwischenliegenden Ton habe ich nicht auffinden können,
was aber bei der geringen Anzahl der von mir gemachten Experimente nur dem
Mangel an Übung zuzuschreiben sein wird.
1 Lieber würde ich hier sagen: »scheint dieser immer nicht der schwebende«;
nehme ich einen Ton recht fest in den Mittelpunkt des Aufmerkens, so gelingt es
mir regelmäßig , ihn continuirlich zu hören , was natürlich dann die Tendenz mit
sich fünrt, die Unterbrechungen auf Kechnung des anderen Tones zu setzen.
Stumpf, Tonpgychologie. 439
»daß die Xlangfarbe keineswegs nur von der relativen sondern in erster Linie von
der absoluten Höhe der Theiltöne (einschließlich des Orundtones) abhängt« (S. 543).
Die Schluß-Ausführungen des Torliegenden Bandes suchen von diesen theoretischen
Positionen aus die Heimholts'schen Regeln sowie Thatsachen der musikalischen
Praxis, insbesondere die Unterscheidung verschiedener Klangfarben in einem Zu-
ninmenklang, dem Verst&ndniß näher zu bringen. Daß dies dem Autor wirklich
gelungen ist, daß sonach die Theorie der Klangfarbe durch die Aufstellungen des-
selben dankenswerthe Förderung erfahren hat, steht mir außer Zweifel, nicht ebenso
die Berechtigung des theoretischen Hauptgedankens, welcher die Klangfarbe im
Grunde doch zu einer Scheinthataache zu verflQchtigen droht. Daß die Klangfarbe
auf Höhe, Stärke der Obertöne u. dgl. beruht, das ist durch Stumpfs Dar-
legungen durchsichtiger geworden als je zuvor: daß aber Klangfarbe nichts An-
deres ist als dieses, dagegen sträubt sich, was direkte Empirie mich lehrt, auf
das Entschiedenste, nicht zum geringsten Theile vielleicht deshalb, weil ich mich
auch mit den Täuschungen aus § 25 f., wie oben bemerkt, nicht recht vertraut
machen kann. Nebenbei fehlt es, wie übrigens unserem Autor nicht unbekannt
(vgl. S. 540 f.)» auch an theoretischen Bedenken keineswegs; wer weiß zumal, ob
der hier vertretene Gedanke einer, wenn man so sagen darf, psychischen Mischung
allemal unverfänglicher ist als der vom Verfasser so eifrig abgewehrte Gedanke
einer »psychischen Chemie«? Gerade, was der Autor daran »am falschesten« findet,
die Eventualität, »daß eine neue Gfattung von Inhalten entstehen könnte« (S. 540],
scheint mir vorerst den direkten Erfahrungen am besten zu entsprechen. Wäh-
rend nun aber dieser »psychische Chemismus« weiter zu verlangen scheint, daß das
Element im Produkte gleichsam aufgehe, drängt des weiteren die in unserem Falle
erfahrungsgemäß fortbestehende Möglichkeit psychologischer Analyse, welche nie-
mand der chemischen wird an die Seite stellen wollen, dazu, ganz im Gegentheil
den Bestandstücken un verkümmertes Fortbestehen neben dem Produkte zuzuer-
kennen. Das Verhältniß des letzteren zu den ersteren, also der Klangfarbe zu
den P&rtialtönen , charakterisiert sich dann wohl am einfachsten als das des fun-
dirten Inhaltes zu seinen Grundlagen, obgleich, wie ich bereits an anderer Stelle
berührt habe^, das sonst für fundirte Inhalte durchschlagendste Argument durch
das, was unser Autor zu Gunsten der Bedeutung der absoluten Tonhöhe für die
Klangfarbe beibringt, an Boden verloren haben dürfte. Ob dann übrigens der
nämliche Gedanke nicht auch geeignet sein möchte, in Sachen der Zusammenklänge
in billiger Vermittlung zwischen Einheits- und Mehrheitsansicht das Seine beizu-
tragen?
Aber hier ist nicht der Ort, Gedanken dieser Art noch weiter nachzugehen.
Ich habe sie nicht völlig unterdrücken wollen, weil mir der Werth einer litterarischen
Leistung nicht nur in dem zu Tage zu treten scheint, was sie als abgeschlossenes
Ergebniß niederlegt, sondern auch in der Fähigkeit, zur Weiterführung des darin
noch Unabgeschlossenen anzuregen. Nicht aber geschah es in der Absieht, aus
•Wenn« und »Aber« das Recht zu jenem Überlegenheitsbewußtsein abzuleiten, das
es zuweilen den »Recensenten« so leicht macht, über die Leistungen ihrer Faoh-
genossen zu Gericht zu sitzen. Gfanz im Gegentheil ist meines Erachtens der Au-
tor eines guten Buches naturgemäß der Lehrer, zu dem sich der Leser, gleichviel
ob Fachgenosse oder nicht, fürs Erste in die Schule begiebt; wem aber der gute
* VgL den Schluß meiner den »fundirten Inhalten« (Chr. v. Ehrenfels' »Ge-
staltqualitäten«) gewidmeten Abhandlung »zur Psychologie der Complexionen und
Relationen« in der »Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane«
Jahrgang 1891, S. 264 f.
440 Kritiken und Referate.
Wüle und damit die Fähigkeit fehlt, tou Anderen lu lernen , mag er sie nie be-
sessen , mag er sie in selbstgefälliger Überhebung verloren haben, dem ir&re doeh
wenigstens ein QefÜhl dafür zn wünschen, daß er bei solchem Mangel wohl der
Letzte sein möchte, dem es zusteht, die ehrliche Arbeit Anderer durch Wort und
Schrift nach Kräften zu discreditiren.
£s entspricht dem Umfange der bisher TerGffentliehten Abschnitte des Werkes,
daß für das Ganze derzeit vier Bände in Aussicht genommen sind» deren dritter
»die Intenrallurtheile oder das eigentlich musikalische Denken, der vierte die Ton-
und Musikgefühle untersuchen« soll (S. VII). In Betreff ihres Erscheinens erschtet
es der Verfasser mit Rücksicht auf die ihm selbst unerwartete Verzögerung in der
Veröffentlichung des zweiten Bandes für rathsam, daß man »doeh lieber yon yom-
herein mit größeren Pausen rechnen möge« (S. VI). Und ohne Zweifel sichert
unserem Autor das, was er thatsächlich geleistet hat, einen Anspruch darauf, bei
der Weiterführung eines so groß angelegten Unternehmens auch Neigungen und
Stimmungen zu folgen. Aber zu tief liegt es in der menschlichen Natur begründet,
vom gegenwärtigen Besitz auf künftigen Gewinn auszuschauen, als daß unser Au-
tor denjenigen der Undankbarkeit wird zeihen dürfen, der die ihm angerathene Zu-
rückhaltung nun doch nicht recht zu üben vermöchte. Derjenige zumal, für den
zunächst die musikalischen Interessen das Entscheidende sind, dem sonach der
zweite Band zwar schon beträchtlich näher steht als der erste, der sich indess gleieh-
wohl nicht verhehlen kann, daß dasjenige, was er sich von einer »Tonpsjchologie«
eigentlich erwartet, immer noch aussteht, kann nicht wohl anders, als begehihehe
Blicke auf die Pforten werfen, die ihm immer noch verschlossen bleiben. Aber
auch der psychologische Forscher weiß Probleme genug, an deren Bearbeitung er
sich heranzutreten scheut, weil er doch nicht erst suchen möchte, was unser Autor
vielleicht bereits gefunden hat. So wird es trotz der Mahnung des Verfassers am
Ende doch wohl geschehen, daß jeder Leser auch dieses zweiten Bandes denselben
in der Hoffnung oder doch mindestens mit dem Wunsche aus der Hand legt, es
möchte ihm recht bald Gelegenheit werden, den beschrittenen Weg unter der Ua-
her so wohlbewährten Führung fortzusetzen.
Graz. A. Meinong.
Johannes Fresal^ Die Musik des baiwarischen Landvolkes, vor-
zugsweise im Königieiche Baiem. I. Theil: Instrumentalmusik.
München, Lindauer. 1888. 8. 66 Seiten.
Das kleine Werk erschien zwar bereits vor einigen Jahren, indessen recht-
fertigt das bisher unerfüllt gebliebene Versprechen des Verfassers, einen zweiten
Theil seiner Arbeit zu liefern, die Verspätung unserer Kritik. In dem ausge-
bliebenen zweiten Theil wollte der Verfasser den Gesang und die Kunst des
Pfeifens im bairischen Volke behandeln; es scheint vorläufig, als ob der vorlie-
gende erste Theil auch der für die Musikwissenschaft wichtigere sei.
Fressl hat sich durch seine wissenschaftlichen Untersuchungen als Sprach-
forscher einen ziemlich eigenartigen und von den Vertretern der einschlägigen
Wissenschaft durchaus nicht allgemein gebilligten Standpunkt geschaffen. Be-
sonders mit seinem Werke »Die Skythen- Saken, die Urväter der Germanen« (Mün-
chen 18S6) rief er gerechte Bedenken hervor. Auf dieses sein Hauptwerk greift
er auch zuweilen in der vorliegenden Abhandlung zurück, welche er überhaupt
mit einigen nicht hierhergehörigen Erörterungen rein sprachforschender Natur be-
lastet hat. Ganze Fartieen S. 21 f., 2S f., 52 sind unsachliche Abschweifungeo
Johannes Fressl, Die Musik des baiwarischen Landyolkes. 44 1
Tom Thema. Freeal ist ein eifriger Verfechter der Emancipation der jgperma-
niiehen Kultur yom klassischen Alterthume. Die germanischen Völker, zu denen
er Tor allem die noch immer hinsichtlich ihrer Stammesxugehörigkeit unbekannten
Skythen und Thraker rechnet, deren germanischen Ursprung aber Freasl nach-
suweisen sucht , hatten bereits in der geschichtlichen Vorzeit — so ist seine
Orundanschauung — eine eigenartig entwickelte, von der der Griechen ab«
▼eichende aber ihr ebenbürtige Kultur erworben. Nordische Völker haben ihre
Kultur also nicht bloß von den Griechen erhalten, sondern sie haben umgekehrt
in mannigfacher Weise auf die späteren klassischen Völker bildend eingewirkt. Er
Terweist auf die Rolle, welche die Thraker in der ältesten Musikgeschichte Grie-
chenlands gespielt haben, »was bereitwillig yon Bömern und Griechen anerkannt
wurde, welche überhaupt, insbesondere was ihre Dichter, Weisen und auch Ge-
schiehtsachreiber anlangt, mit dem steten Hindeuten auf fremde Beeinflußung
durchaus nicht hinterm Berge halten, was wirklich einer gewissen Biohtung un-
serer Zeit zur Beschämung gereichen dürfte.« (d. 42).
Man muß zugestehen, daß die klassische Philologie in dem jahrhunderte-
langen Bestreben, alles europäische Kulturleben als Ausstrahlung der griechisch-
römischen Kultur zu erklären, der Musikgeschichte gegenüber einen allerdings
sehr bedenklichen Standpunkt einnimmt Das tritt klar zu Tage, wenn man ea
ontemimmt, die Musikmstrumente der nordischen Völker nach ihrem Ursprünge
hin zu untersuchen. Schon die Namen der nordischen Hauptinstrumente bereiten
der etymologischen Erklärung, welche, gewöhnlieh griechische und lateinische
Wörter zum Ausgangspunkte macht, unlösliche Schwierigkeiten. Die Namen
•Fiedel«, »Harfe« u. a. wufden bis yor kurzem allgemein als Entlehnungen aus
den klassischen Sprachen betrachtet; doch hat die neuere Forschung diese An-*
sieht für unhaltbar erklärt Die f^klärung ßdula (schon im 9. Jahrhundert bei
Otfrid bezeugt) von vüulari »wie ein Kalb übermüthig springen«, welche Diez auf-
stellte, ist abgesehen von der Geschraubtheit auch spracUich unmöglich. Aus
wbdari hätte nach den Lautgesetzen toidel^ wMel werden müssen. (S. 29 f.). Auch
Kluge 1 hält den germanischen Ursprung des Wortes für wahrscheinlicher als den
lateinischen und läßt die Möglichkeit offen, daß umgekehrt, als man bisher glaubte,
die Romanen die Wörter viola u. s. w, von den Germanen entlehnt haben« Das
gleiche ist nach Kluge mit den Namen Harfe und Geige der Fall.
Das ist eine Anzahl Ton Beispielen, welche zeigen, daß man allerdings in
dem Bestreben, aUe Kulturelemente und deren Bezeichnungen aus dem klassischen
Alterthume herzuleiten, zu weit gegangen ist Gerade die Musik muß gegen
diese Auffassung entsehiedenen Einspruch erheben, will sie anders nicht auf eine
natürliche Erklärung der geschichtlichen Entwickelung der Tonkunst venichten.
Da diese Frage von prinzipieller Bedeutung ist, so muß jeder Beitrag zur Funda-
mentirung einer freieren Auffassung vom Wesen der Musik willkommen geheißen
▼erden.
Fressl giebt nun yon den einzelnen Instrumenten, welche der bairische Volks-
stamm heute besitzt, etymologische Erklärungen ihrer Namen, indem er zahlreiche
Belegstellen für deren Vorkommen aus der altdeutschen Literatur anführt. Diese
Citate sind für den Musikforscher wichtig; sie bilden zum Theil eine Ergänzung
ähnlicher Sammlungen, wie z. B. die in dem Werke »Das höfische Leben zur Zeit
der Minnesänger«, yon Alwin Schultz (Leipzig 1879 S. 120 ff.) enthaltene. Solche
Sammlungen bieten yor allem eine gewisse sichere Unterlage für die Forschung
^ Etymologisches Wörterbuch der deutsehen Sprache, Strassburg 1883 unter
Fiedel, Geige, Harfe.
1891. 30
442 Kritiken und Referate.
über alte Instrumente dar, wenngleich der etymologische Nachweis allein durchaus
nicht zu sicheren geschichtlichen Folgerungen ausreicht. Denn um zu behaupten,
daß ein Instrument eines bestimmten z. B. germanischen oder griechischen Ur-
sprungs ist, bedarf es noch einer Menge anderer Untersuchungen. Der Sprachverglei-
eher späterer Zukunft würde sonst die Entstehung unserer heutigen Instrumente Har-
monium, Harmonika, Ariston, Herophon und wie sie alle heißen auf den Einfluß
der Qrieohen zurückführen müisen, mit denen unser moderner Instrumentenbaa
als solcher doch sicherlich nichts zu thun hat.
Eine übersichtliche Ordnung der Instrumente ist im Yorliegenden Werke zu
yermissen . Die Blasinstrumente des bairischen Volkes beschreibt Fressl s. B.
auf S. 1—8, 2&— 29, 37—44, 54^59. Es ist überflüssig zu bemerken, dass die In-
strumente, welche allerwärts gebräuchlich sind, wie Klarinette, Flöte, TVompete,
Hom, Posaune, Fagott, auch in Baiem bekannt sind. Auch Kinderinstramente,
welche sich die Knaben aus Weidenbäumen (Feier- oder Felwerpfeifen)
schneiden, auf dem Jahrmarkt iftn einen Kreuzer kaufen (Kreuzerpfeifen],
oder aus einem Hornkamm, Birkenblatt u. s. w. improvisiren , erregen kein
besonderes Interesse. Ich hebe daher nur einige Instrumente heraus, welche in
Deutschland nicht überall beim Volke in gleicher Weise üblich sind, oder welehe
zu kleineren Bemerkungen Anlaß bieten. 1) Maultrommel oder Brummeisen
ist besonders beliebt und zwar beim weiblichen Qesohlecht ebenso wie beim männ-
lichen, dasselbe ist der Fall mit der Mundharmonika; 2) der Fozhobel
(foz SS Mund) ist eine Art Panflöte aus Schilf oder Metall; 3) die Schwigel
oder Schwegel die Querpfeife und der Piccolo, ebenfalls eine Querpfeife aber
mit Klappen. Wenn Fressl erstere auch Schalmei nennt, so kann das nur ein
Irrthum sein, denn die Schalmei als Oboenart hat mit der Querpfeife wenig zu
thun; und wenn er femer den italienischen Namen des Piccolo bedauert, so be-
weist das, wie sehr er auf Kosten anderer Momente an der Namenserklärung
klebt. Eine größere Art der Schwegel ist die Flöte. 4) Das Flaschinet,
heißt auch schlechthin beim Volke Pfeife, trotz des französischen aus Flageolet
yerstümmelten Namens beim Volke sehr beÜebt und überall verbreitet. Es ist die
alte Schnabelflöte, worauf der Name Pfeife hindeutet, also wohl kaum eine Kla-
rinettenart, wie der Verf. angiebt. Den Unterschied zwischen Schnabelflöte und
Klarinette scheint Fressl nicht zu kennen, denn er nennt die letztere eine grössere
Auflage des Flaschinets. Die Klarinette unterscheidet sich bekanntlich von
der Schnabelflöte durch das am Mundstück angebrachte und beim Anblasen in
Schwingung versetzte Rohrblatt. Bemerkenswerth ist, daß die Klarinette niemals
in der Kirche verwendet wird und eine Hauptrolle in der Tanzmusik spielt.
Fressl nennt sie die Königin der Tanzmusik und führt als bedeutenden Klarinettspie-
ler Biglmair an. 5) In ähnlicher Weise wie Flöte und Klarinette verhalten sieh
Posaune und Trompete zur Kirchenmusik. Posaune und Flöte dienen vor-
zugsweise kirchlichen Zwecken, Trompete und Klarinette fast ausschließlich der
Profanmusik. 6) Beliebt als Baßinstrument während des Marsches, wo man sich
der Baßgeige nicht bedienen kann, ist das Bombardon, ein Nachkomme des
alten Baßpommer (Bomhart).
Die Streichinstrumente finden sich auf S. 29 ff. unter Geige und Fidel be-
sprochen. Bemerkenswerth ist der Name Fiselbogen, welcher neben Fidelbogen
gebrauche wird (von fiseln = hin- und herfahren). Berühmte bairische Geigen-
spieler waren der Durnerwasdl von Degendorf a. d. Donau und der Schullehrer
Kaveri zu Mariakirchen in Niederbaiem. Als wichtiger Fabrikationsort für Gei-
gen in Baiem. wird neben Mittenwalde auch Linz genannt.
Die übrigen Saiteninstrumente sind besonders Harfe, Guitarre, Ziter und
Johannes Fressl, Die Musik des bai warischen Landvolkes. 443
Haekebrett, die Harfe heißt auch große Zupfgeige zum Unterschied von der
kleinen Zupfgeige oder Guitarre, denn beide sind Zupfinstrumente. Es giebt
außer der großen Harfe (Davidsharfe) auch noch die kleine oder Spitzharfe
oder Harfenet, die alte Swalwe, d. i. eine mit der Spitze nach oben aufrecht-
stehende und mit Metallsaiten versehene Harfe, welche in anderen deutschen Ge-
genden wohl ausgestorben sein dürfte. — Bei der Ziter giebt der Verfasser die
beaehtenswerthe Darlegung, daß die Schreibweisen Giter, Zither und gar Cither
keine Berechtigung haben, weil das Wort nicht unmittelbar aus cithara abgeleitet,
sondern erst durch das althochdeutsche vitera hindurchgegangen ist. Harfe und
Ziter sind eigentliche Volksinstrumente, w&hrend die Guitarre ein »herrisches«
Instrument ist d. b. nur von den Beamten und Geistlichen, welche nach der Mei-
nung des Volkes das Herrenthum darstellen, geübt wird. £s stimmt das zu der
geschichtlichen Thatsache, daß Harfe und Ziter uralt im Volke eingesessen sind,
während die Guitarre erst im vorigen Jahrhundert bei uns verbreitet wurde.
Die Ziter ist wohl dasjenige Instrument, welches den übrigen deutschen
Volksstämmen als am meisten charakteristisch-bairisch erscheint £& ist verbreitet
in den Gegenden vom Fichtelgebirge bis Welschtirol und vom Lech bis nach Un-
garn. Trotzdem ist, wie schon der Name andeutet, die Ziter (eithara) nicht ur-
sprünglich bairiseh. Seit wann sie aufkam und woher, ist ohne weiteres nicht zu
entscheiden, läßt auch Fressl dahingestellt. Li den Kreisen der Gebildeten führte
sie Herzog Maximilian von Baiern ein, dessen Lehrer Petzmaier sich einer großen
BerOfamtheit in Volksweisen erfreute. Ein anderer volksberühmter Ziterschläger
war der Wirthsseppel von Garching in Oberbaiem. Das Instrument paßt übrigens
für das Volk am besten, da es schwielige harte Fingerspitzen erfordert. Jetzt ist
es von Baiem aus auch nach Norddeutschland gedrungen, und besonders in Klein-
büigerkreisen beliebt, ja es hat sich sogar eine ganze Ziterliteratur gebildet, und
eine große Menge von Abarten der Ziter (Tenor-, Baß-, Salon-, Gonoert-, Elegie-,
Stieichziter) ist entstanden.
Auch das Haekebrett und das Hölzene Gelächter sind dem Nord*
deutschen weniger gebräuchlich. Das letztere Instrument ist als Xylophon oder
Holz- und Strohinstrument auch in Norddeutschland bekannt geworden. Der
bairische Name Hölzenes Gelächter findet sich bereits in Virdungs Musica ge-
tuscht 1511, ein Werk, dessen Verfasser ja auch ein Süddeutscher war.
Über die Verwendung dieser Instrumente in der volksthümlichen Musik
macht der Verfasser vereinzelte Angaben. In Baiem, Tyrol und Steiermark giebt
es ganze Musikbanden von lauter Pfeifern mit einfachen Holzblasinstrumenten.
Ich vexmuthe einen Zusammenhang dieses Gebrauches mit dem alten Namen
Schweizerpfeife für die Querflöte. Überhaupt ist es sehr bemerkenswerth, — und
der Verfasser legt mit Recht einen starken Nachdruck auf diese Thatsache —
daß sieh das Volk keineswegs mit dem einfachen Solospiel eines Instrumentes
oder mit der bloßen Melodieführung begnügt Selbst auf den primitivsten In-
strumenten, wie Brummeisen und Birnbaumblatt und Birkenrinde, werden Duette
sosgeführt, meist unter Begleitung von Ziter und Guitarre. Auf Pfeifen und Flö-
ten werden kunstgemäß Ländler und Märsche zweistimmig gepfiffen und, wie ge-
wöhnlich, geben Ziter und Guitarre die Harmonien dazu an. Diese beiden Be-
gleitinstrumente zu Gesang oder zu melodieführenden Instrumenten fasst man auch»
besonders im Gebirge, unter dem Namen glambbe(r)n oder glambfe(r)n zusammen.
Bei der Tanzmusik, die in Ländlern, Walzern, Hopsern und Drehern besteht,
spielt die Klarinette im Verein mit der Geige die erste und zweite Stimme, wäh-
rend die Trompete mit ihrem 1. dadda, ^ dadda auf die Begleitstimmen ange-
wiesen ist Wenn Fressl aus dem U.mstande, daß das Gefühl für Harmonie sich
30»
444 Kritiken und Referate.
auch im Volke überall geltend macht, auf eine besondere den Baiem vorzugsweise
charakterisirende musiluiliscbe Begabung schliessen will / so seheint das ein wenig
lu weit gegriffen. Die Sanges- und Spiellust des bairischen Volkes ist sicherlieh
bemerkenswerth , aber gehört ihm nicht ausschliesslich an. Indessen kann nieht
geleugnet werden, daß die süd- und mitteldeutschen St&mme musikalisch höher be-
anlagt erscheinen als die norddeutschen, und wenn der Verfasser die Beobachtung
gemacht hat, daß die norddeutschen Musiker, welche (bei der Militärmusik) nach
Baiem versetzt wurden, nicht zu improvisiren und ohne Noten zu spielen vermochten,
was doch dem bairischen Musiker ein Leichtes war, so pflichte ich ihm darin bei,
dass dieses Talent in der That in Norddeutschland selten ist
Über den Charakter der bairischen Volks-Melodien macht Fressl eine sehr
wichtige Bemerkung. Die gesammten bairischen Volksst&mme vom Fichtelgebirge
bis zum Welschlande, von den Gebieten der Schwaben und Franken bis zu dem
der Slaven und Magyaren (d. h. alle Süddeutschen und Oesterreicher) bedienen
sich, nach Aussage Fressl's (S. 65 f.) und Franz von KobelVs (Schnadahüpfln und
Geschichtin S. 173) in ihrer Instrumental- und Vokalmusik, insofern beide un-
mittelbar aus dem Volke erwachsen, niemals der Molltonart. Selbst traurige
Weisen erklingen nur in Dur. Wenig Gewicht will ich auf die durchaus irrige
Meinung legen , daß die Molltonart eine niedere Kulturstufe verriethe ; denn daß
vthatsächliche Erfahrungen an den verschiedensten Völkern der Erde dafür spre-
chen« ist längst widerlegt Wohl aber scheint es mir nöthig, auf den behaupteten
durchgängigen Gebrauch der Durtonart in süddeutschen Liedern und Weisen be-
sonderes Augenmerk zu haben, weil die Feststellung einer solchen Thatsache ftr
die Musikwissenschaft von grösstem Werthe sein kann. Fressl giebt selbst zu,
daß auch in der ländlichen Musik zuweilen die Molltonart begegne und schiebt
dies auf eine »erlemte« Musik. Ohne gründliche Kritik lässt sieh also augen-
scheinlich diese Frage nicht abthun, und es wäre daher zu wünschen, daß der
^verheißene zweite Theil des vorliegenden Werkes über Pfeifen und Singen des
bairischen Volkes den Schlusssatz der ersten Abhandlung bewiese, nämlich daß
dem Baiern kein musikalischer Sinn für die Molltonart angeboren und sie infolge
dessen für ihn so gut wie nicht vorhanden sei.
Berlin. Oskar Fleiaoher.
Alfred Toller^ Kühreihen oder Kuhreigen, Jodel und Jodellied
in Appenzell. Mit 7 Musikbeilagen. Leipzig und Zürich, Gebrüder
Hug, 1890. 80, 82 und 30 SS.
Der Verfasser der vorliegenden Arbeit hat sich der Lösung einer Aufgabe
unterzogen, welche sich nicht leicht jeder Musikhistoriker stellen dürfte. Um aus
dem tiefen Borne der Alpenges&nge zu schöpfen, muß man die Pfade kennen,
welche dorthin führen. Nur wer selbst ein Kind der Alpen ist, wer sich im
Denken und Fühlen eins weiß mit ihren Bewohnern und wer mit dem natür-
lichen Verstfindniß noch eine genügende wissenschaftliohe Bildung vereinigt, nur
der kann uns den Blick öffnen für die eigenartige Schönheit und Pracht der
Alpengesfinge. Beiden Ansprüchen genügt der Verfasser. Mit großer Wfirme
und lebendiger Anschaulichkeit schildert er uns die technische Ausführung und
klangliche Wirkung der Kühreihen und Jodel, welche er als geborener Appen-
zeller aus eigenster Erfahrung hat kennen lernen können. Daneben hat er ei
nicht vers&umt, die ganze bisherige Literatur über seinen Gegenstand einer Prü-
Alfred Tobler, Kahreihen oder Kuhreigen« Jodel in Appenzell. 445
fang SU unterziehen. In dieser letzteren Beziehung ^äre freilich ein noch größe-
res Maß selbständigen, kritischen Urtheils zu wünschen gewesen. Des Öfteren
nimlich werden wir im Unklaren darüber gelassen, welchen Standpunkt denn der
Verfasser den aufgeworfenen Fragen gegenüber selbst einnimmt. Er führt das
Für und Wider an, entscheidet sich aber nicht. Noch einige Momente hindern den
Oesammteindruck eines einheitlichen Ganzen. Die Abhandlung erschien zuerst
in der »Schweizerischen Musikzeitung", Gebr. Hug, Zürich, Jahrgang 1890, Heft
2 ff. Als die Verleger die Abhandlung in Broschürenform erscheinen zu lassen
sieh entschlossen, hätten sie wohl die kleine Mühe nicht zu scheuen brauchen,
eine Notiz, welche nur für das Erscheinen in der Musikzeitung berechtigt war,
in der Broschüre selbst auszumerzen (S. 9). Und die Beantwortung der Frage,
ob der Zwinger-Hofer'sche Kühreihen in Dur oder Moll und ob der ffr\ - Schlüssel
L
auf der ersten oder zweiten Linie steht (S. 66 ff.), hätte ein Musikhistoriker zur
Erledigung bringen müssen, bevor er an die Ausarbeitung seines Materials heran-
ging. Diese Dinge sollen nun keineswegs den Werth, welchen die Abhandlung
fikr die Musikwissenschaft ohne Zweifel besitzt, beeinträchtigen ; aber ihre Er-
wähnung wurde doch durch die Pflicht der Kritik erheischt.
Im ersten Abschnitte untersucht Tobler das Wesen des Kühreihens, haupt-
sSehlich nach der textlichen wie musikalischen Seite hin. Kühreihen sind
einstimmige, ohne Begleitung gesungene Melodieen, deren Text, gemäß der ur-
sprünglichen Bestinunung des Zu- und Eintreibens der Kühe, sich auf die ein-
gehen Loba-Lockrufe beschränkte. Am reinsten kommt dies Wesen zum Aus-
druck in den beiden ältesten Kühreihen, dem Khau'schen von 1545 und dem
Zwingei^Hof ersehen von 1710. Die übrigen mitgetheilten Kühreihen sind moder-
neren Gepräges. Sie haben textliche Erweiterungen erfahren und zum Teil auch
eine mehrstimmige Umkleidung erhalten. Was übrigens die Örtliche Heimat
(S. 78 ff.) und das AlteV des Zwinger-Hofer'schen Kühreihens anbetrifft, so giebt
uns eine bekannte Stelle in Glareans Dodekachord einen beachtenswerthen Wink,
wohin wir uns zu wenden haben. Im Dodecach, (Basel 1547) pag. 137 steht zu
lesen, daß das H3rpoionische »muHum gratiae höhet in diukimis et amatoriiSf lin-
gua potisaimum CeUiea , qua Helvetii utuntury nee minus Germanica transrhenana.
Tubarum aonitus hodie inier huitu Modi limites constat, integra amnibus chordie
diapentef sed diatessaron extremis potissimunw. Hier ist also die Rede von einer
instrumentalen Melodiebildung innerhalb des Hypoionisohen , welche sämmtliche
Töne von der Mediante c bis zum oberen Endton, von der unten gelegenen
Quarte aber nur die Grenztöne berührt. Genau nach diesem Prinzip ist die Me-
lodie des Zwinger-Hofer'schen Kühreihens zugeschnitten ; die Quarte "g -T wird
nur sprungweise hergestellt, während die Töne der Quinte T -y sämmtlich vor-
handen sind. Die Melodie besteht ferner nur aus den Naturtönen, welche auf
dem Alphorn vorhanden sind — auf dieses nimmt augenscheinlich auch Glarean
mit dem Ausdruck ntuba<i Bezug, wie es auch andere thun — . Das Alphorn
hat ein unreines, etwas zu hohes /; die Kühreihenmelodie hat nie /, sondern stets
ß$. Letztere ist endlich reich ausgeziert mit den sogenannten Alphornfiguren, die
wir im Rhau'schen Kühreihen vergebens suchen. Aus dem Gesagten ziehen wir
mehrere Sehlussfolgerungen. Die örtliche Heimat des Zwinger-Hofer'schen Küh-
reihens, welchen Tobler selbst für Appenzell ablehnt, ist in der westliehen'
Schweiz zu suchen. Die engere Heimat festzustellen wird Tobler am besten
Gelegenheit haben. Der Hauptkem des Zwinger-Hofer'schen Kühreihens, wenn
nicht schon dieser selbst, ist zeitlich nahe an den Rhau'schen heran zu verlegen.
446 Kritiken und Referate.
Endlich sind die Stellen bei Glarean und der Zwinger- Hof er'sche Kühreihen
beide als authentische Belege dafür anzusehen, daß es eine Zeit gegeben hat, in
welcher die Ausführung des ursprünglich gesungenen Xühreihens dem Alphorn
zufiel. Die unreine Qarte f- f und die Alphomfiguren sind als Spuren dieser
Einwirkung zurückgeblieben (vgl. S. 13). Diese instrumentale Begung mag yiel-
leicht ein charakteristisches Merkmal des Westens gewesen sein; dann ist aber
das östliche Appenzell sicher nicht frei davon geblieben. In der That ist die
»gewisse Art des Appenzeller Jodeis« (S. 13 und 46 ff.) nichts anderes als* die
durch die Alphomtechnik beeinflusste Kühreihenmelodie, im Anfange mit der
Bhau'schen und Zwinger-Hofer'schen übereinstimmend.
Der Rhau'sche Kühreihen ist frei von jenem instrumentalen Zuge. Die Me-
lodie durchbricht die Oktave c - c nicht und durchläuft alle Töne der Oktave.
Ihr fehlen also die beiden charakteristischen Merkmale der instrumental ange-
hauchten Kühreihen. Eins hat jedoch der Rhau'sche Kühreihen mit dem Zwinge^
Hofer'schen gemeinsam, die Melodiebildung am Anfang. Die Melodie betont zu-
nächst die Haupttöne des tonischen Durdreiklangs, Tonika, Terz und Quinte, um
sodann zur Tonika mehr oder weniger schnell zurückzukehren. Die übrigen Küh-
reihen lassen dazu die Berührung der Sexte hinzutreten. Das Gerippe der An-
fangsmelodie, um das sich mehr oder weniger kolorierende Umspielungen legen,
sieht also so aus:
m
(?)
Darauf folgen dann die Alphomfiguren. Tobler geht nun auch auf die
schon von Anderen vor ihm gemachte Beobachtung ein, daß dieser melodische
Kern der Kühreihen sich bereits in Kadenzbildungen Notker'scher Sequenzen
findet (S. 6 ff.), und zieht den Schluß daraus, daß Notker den Hirtenliedem des
9. Jahrhunderts viel abgelauscht habe. Dagegen läßt sicl} indessen doch manches
einwenden. Daß die Anschauungen der weltlichen Musik oft in überraschender
Weise die Systeme der auf antikem Grunde stehenden mittelalterlichen Schrift-
steller durchbrechen, ist nicht zu leugnen. Es bedürfte aber erst eines näheren
Kachweises dafür, daß auch die praktische weltliche Kunst auf die kirchliche
einen derartigen unmittelbaren Einfluß gewonnen hat, wie ihn Tobler anzu-
nehmen geneigt ist. Wenn die Kühreihen die Quelle waren, aus der Notker
schöpfte, wie konomt es, daß ihre älteste Überlieferung erst aus dem 16. Jahrhun-
dert stammt, während die Notker'schen Sequenzen in viel älteren Handschriften
vorliegen? Die Notker'schen Sequenzen femer haben einen viel schweifenderen,
regelloseren Zug , während die Kühreihen kurze und knappe Perioden bilden und
diese oft wiederholen. Rein musikalisch betrachtet, gehören also die Kühreihen
einem späteren Entwickelungsstadium an. Demgemäß neigen wir gerade zu der
entgegengesetzten Ansicht hin, daß die Kühreihen aus Notkers Sequenzen her-
vorgegangen sind. Die Kühreihen stellen sich dar als komprimierter Niederschlag
der Tonfälle, welche in den Sequenzen stetig wiederkehren und welche die Alpen-
bewohner so tief in sich aufgenommen hatten, daß sie wie mit ihrem Eigenthum
damit umgingen. Am reinsten Notkerisch ist der Rhau'sche Kühreihen,- Tom
Zwinger-Hofer'schen an aber zeigt sich daneben noch der Einfluß des Alphorns.
Es ist auffallend und höchst beächtenswerth, in wie breiten Volksschichten die
aus Notkers Sequenz entlehnte und im Kühreihen ausgeprägte einfache Melodie-
bildungsform sich bekannt erhielt und wie oft sie bewußt oder unbewuBt bei der
Bildung neuer Melodieen wieder auftaucht. Vollständiges Beweismaterial kann
hier freilich nicht von mir geboten werden, aber die ausgewählten Beispiele wer-
Alfred Tobler, Kühreihen oder Kuhreigen, Jodel in Appenzell. 447
den, denke ich, genügen, um den historischen Verlauf im großen und ganzen zu
skiiziren. Zunächst führe ich eine Reihe kirchlicher wie geistlicher Lieder nach
chronologischer Keihenfolge auf:
]. Strassburg. K. Amt. (1525) ; Zahn I. 1783:
Je - BUS der hat uns zu - ge - seit u. s. w.
2. über primus sacrarum cantionum. T}'lman Susato, Antwerpen 1546.
tette »Pro foelici senecia.^ Lupus Hell ine. Das Thema lautet im Baß:
Mo-
i
^r^^rm^^— g
-^-
-^^ — ^
^
^-=—
-tW*-
Nepro ' ü - das
me.
3. Berwald (1552). Ein Abendreihen. Ist offenbar eine geistliche Über-
tragung der Kühreihenmolodie ; Zahn I. 10:
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Wie steht ihr al - le hier und war - tet mein und meint ich soU
% \ ■* r~r^^?==^
eur Vor - sin - ge - rin sein.
4. Bure k (1594); Zahn I. 163:
^^
t
t.
iS^
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t
ts^
jäüU
Der Hei-land ist ge - bo-ren uns, die wir warn ver-lo-ren.u. s.w.
5. Vulpius (1609); Zahn I. 508. Im 17. Jahrhundert taucht sowohl auf
Tokalem als auch instrumentalem Gebiete die Mollfassung auf. Die Kirche sucht,
wie es vielfach geschieht, dadurch das weltliche Wesen abzustreifen:
Lr. j 12J^r -^ jf y f-i
-7*V-
Be - scher uns Herr das täg-licbBrot. u. s. w.
6. J. Crüger (1640); Zahn I. 583:
^^
fe
t=t
^ — »w^
:;:
Ge - lo - bet sei Is - ra - eis Gott. u. s. w«
7. J» Schop (1642); Zahn L 1036:
m
t
A^
T^
Was darfst du doch. u. s. w.
448
Kritiken und Referate.
8. Cant. Qoth. II. [1648); Zahn I. 617:
^^
3
2
3t
t=i.
t
ä
-»***-
O treu- er Gott ins Him-mels Thron, u. 8. w.
9. J. Crüger (1653); Zahn II. 2530. Man beachte hier die Quarte ^-cü
m
-Ä»-
t
i9-
Ef^rl
-»*4<^
Ich will er - hö - hen im - mer - fort. u. s. w.
10. Herzogin Sophie Elisabeth (1667); Zahn I. 1408:
[it^zirz:^^^-
t
-^'
-rr
■tV»*-
Sor - gen ist der groß- te Schmer -ze. u. 8. w.
11. P. S Ohren (1668); Zahn I. 930:
^
>~r7
^
t
:?^
X
%
3Ö:
.tfC.
Das wal - te Gott, der uns aus lau - ter Ona - den. u, 8. ▼•
12. Neuss (1703); Zahn I. 839:
B^
nxii^LZX:!^
5
-i%V-
Herr ha - de - re
mit mei - nen Ha - de - rem. u. 8. ▼•
13. Störl (1710); Zahn I. 752:
X
f /i rf I 'J J
.iML.
Ganz neu ist, wer in Chri - sto le - bet. u. 8. w.
14. Strassburg. G. B. (1713); Zahn I. 1357o:
"|i^> j ;: ^
■^^
f^
Sollt es gleich bis - wei-len schei-nen. u. s. w.
15. (1727); Zahn IL 3544:
/T^
fa=ig=J
Ji6U
Hü - ter, wird die Nacht der
Sün - den. u. s. w.
Alfred Tobler, Kühreihen oder Kuhreigen, Jodel in Appenzell. 449
Mftn vergleiche ausserdem noch Zahn I.: 27 a und b, 188, 478, 481, 501, 812;
ü: 2565, 2580, 2595, 2626, 2696, 2997, 3117, 3186, 3294 und das PassionsUed
• 0 Lamm GoÜs», unschuldig,* Welche Bolle die Kühreihenmelodie in der
norddeutschen Orgelmusik spielt, habe ich in meiner Arbeit über Sweelinck nach-
gewiesen (vergl. Vierteljahrssehr. f. M. 1891, S. 159 ff.). Noch heute lebt die
KOhreihenmelodie fort Schlägt man £. Qriegs »Nordische T&nze« auf (Edit.
Peters nr. 1482), so findet man unter nr. 1 einen »Springtanzv, dessen Melodie:
iliS rCTia-f .j
m-^MS' r/ 1 f c-gf^^
mit der des » Chüäräierlt* (S. 46 f.) die grösste Ähnlichkeit hat. Die Melodie
Ton dem »Kuhreigena (Grieg, nr. 22) :
iji'ii JifgJLiHTr pi J J' j r^^
rtJ dJ I
i
1
/TN
J^l-' O.IJ.I^
enthält wieder die Alphcmfiguren und lehnt sich im Anfange an die Sequenz-
melodie an.
Über den Jodel und die Jodellieder können wir uns kürzer fassen; sie
sind ja auch die verhältnissmäßig jüngeren Erzeugnisse, da ihre historischen Be-
siehungen direkt nicht so weit zurückreichen, wie es bei den Kühreihen der Fall
war. Die Jodel sind indessen nicht weniger wichtig. Der Verfasser weist uns
nach (S. 37 ff.), daß ihre Melodieen sich dem Alphorne oder der Schalmei an-
passten, also im Gegensatze zu dem Kühreihen von vornherein instrumentale
waren. Dazu kommt, daß ein Jodel nie unbegleitet ausgeführt wird, sondern
stets durch 2 oder 3 Brummstimmen seinen, wenn auch einfachen, harmonischen
Untergrund erhält. Wir dürfen zweifeln, daß die kurzen Ausrufe, welche heute
den Jodeln als Texte untergelegt werden, von jeher mit ihnen verbunden gewesen
und, und 'können Tielmehr annehmen; daß die Jodel zu irgend einer Zeit einmal
tfüch auf dem Alphorne ausgeführt wurden unter Begleitung von anderen Instru-^
menten oder menschlichen Stimmen.
450 Kritiken, und Keferate.
Alfred Tobler plant, wie wir hören, eine Ausgabe alter, echter Appenzeller
Volkstanzweisen. Ihr charakteristisches Merkmal ist gleichfalls eine harmonische
Begleitung, an welcher sich Violinen, Violoncell, Baß und Hackebrett betheiligen.
Der Form nach sind die Tfinze eine lange Reihe Ton Variationen über ein Thema.
Die Schweizer, zähe im Festhalten ihrer Melodieen wie einst die Spartaner, haben
doch gewiß diese Art des Musizierens seit alten Zeiten gepflegt und aus dem
Mittelalter überkonunen. Sollte es nicht möglich sein, Ton diesen Volkstftnsen
aus einen Weg zu finden in das unbekannte Gebiet der mittelalterlichen. Orchester-
musik, in ähnlicher Weise, wie man ihn von den durch Melgunow herausgegebe-
nen russischen Volksliedern zu der altgriechischen Musikübung finden kann?
Freilich müßten dann die Verleger auf eine moderne Klavierbegleitung yeisichten
und der Herausgeber müßte nach einer möglichst getreuen Aufzeichnung des
volksthümlichen harmonischen Gewändes trachten. Ich glaube, daß man so zu
einer korrekteren Ansicht über das ^Ensemble eines mittelalterlichen Orchesters
gelangen kann, als man sie bisher ausgesprochen findet. Noch eine andere That-
Sache, als die wohlthuende Ordnung in den mehrstinunigen russischen Volkslie-
dern, läßt sich nicht mit der Vorstdlung von dem wüsten Chaos des mittelalter-
lichen Orchesters zusammen reimen. In England, dem Geburtslande der euro-
päischen Polyphonie, ist die Variation bereits im 16. Jahrhundert zu einem
solchen Grade der Vollendung gelangt, daß wir nothwendig einen großen Zeitraum
Torhergehender Ausbildung ansetzen müssen. Auch hier ist die Variation, wie in
der Schweiz, aufs engste verknüpft mit dem weltlichen Lied und Tanz, auch
hier macht sich der harmonische Grundzug durchaus geltend. Wenn Tobler sieh
mm auch der instrumentalen Seite seiner heimischen Volksmusik mit Liebe und
Sorgfalt annehmen wollte, so würde er die Musikwissenschaft zu noch größerem
Danke. verpflichten, als er es ndt seinen Untersuchungen über die Kühreihen und
Jodel gethan hat.
Charlottenburg. Max Beiffert.
Notizen.
Die Wiener Hofkapellmeister-Ordnuxig vor 300 Jahren.
Im Reichsfinanz- Archiv zu Wien befindet sich unter der Rubrik «Hofstaat,
Hofstellen etc. 66 D« ein Aktenstück von musikhistorisch interessantem Inhalt.
Es bildet einen Theil der »Beschreibung der kaiserL Hofstatt, Hofstellen und unter-
geordneten Aemtem mit beygefügten Instructionen, worin sich auf die Jahre 1540—
1576 bezogen wird, sonst ohne Jahrzahl, scheint der Hofstatt von Kaiser Maxi-
milian I. zu seyn, weil es im Eingang heißt: Burgundischer Hofstatt.«
Besondem Nachdruck legt die Instruction auf die leibliche Wohlfahrt der
dem Capellmeister zur Pfiege anbefohlenen Capell-Sängerknaben. Sie lebten, nie
aus dem in ungef&hren Zügen vorgeschriebenen Küchenzettel ersichtlich, dazumal
gute Tage, und die Wiener Capellknaben von heute, nicht minder die Alumnen
der Leipziger Thomana und andere jugendliche Sänger ähnlich künstlerisch ^
Schulter Chöre, dürfte etwas wie Neid anwandeln angesichts der goldenen Zeit,
die ihren einstigen Collegen beschieden war.
Wörtlich lautet das Schriftstück wie folgt:
Capelmeister
hat monatlich • ^
Des Capellmeisters Instruction, wie solche vor Alters üblich geweßen, folgt hie^
^ Der Posten ist unausgefüllt.
Kritiken und Referate. 451
nacL Und obwohlen dabey Veränderungen fürgangen , so hat man doch solche
alhier 2u corrigiren für unnoth erachtet» weil man sich dergleichen Kapel-Knaben
nicht bedienen wird.
Capellmeisters Instruction.
Instruction und Ordnung, wie vnd waß gestalt unsere Capel Singerknaben
hinführo mit ihrem Ordinari, und Extraordinari unterhalten werden sollen.
Erstlich soll unserm Capelmeister, oder anderen, so Bemelte unsere Capelsinger
Knaben hinfüran mit der Unterhaltung bey ihme haben wird, auf ieden Knaben
für Speiß, und trankh, Herberg, Beth, holtz» Li echt, wascherhalten, flickerlohn,
Barbier, und Badgeldt, auch alles anders dergleichen Sachen, nichts außgenohmen,
das Monath 4 fl. 50 kr. in Baitung^ passirt werden, doch sollen die Knaben, wie
sich gebühret in Speiß undt trankh nach ihrer Nothdurfft, alß an fleischtagen mit
drey, ynd an fischtagen mit 4. gutten speisen, und in 3, Wochen dreymahl gebrattenes,
wohl ynd sauber gehalten, und soll suppen, und Fleisch nicht für zwo, sondern nur
für ein Gericht, und mit dem Kraut und Fleisch gleichfals verstanden werden.
Gleichfahls soll im Tranckh des Weins auch ein Ordnung gehalten werden,
nemblich auff jeden Knaben zur mahlzeit anderthalb seydel Wein, doch daß es ein
solcher Wein seye, damit die Knaben nicht davon krankh werden, und Ers gegen
Unß wisse zu verantworten.
Und nachdem die Junge Knaben pflegen alle morgen eine suppen und unter
Tags ein Brodt zu essen, soll ihnen dasselbe auch jederzeit gutwillig gereicht,
und der nothdurfft nach erfolgt werden.
Über das soll noch auf ein Knaben daß Monath Ein Thaler, bringt das Jahr
Vierzehn gülden Beinisch, gerait werden, davon soll jedem das Jahr Sechs neue
Hembter eins in das andere zu 40 kr. und drey paht Hosen, im Winter ein
wüllens, und im Sommer Zwey lideme, auch zwey parchente wammeß, das eine
im Winter mit Baumwoll, das ander .im Sommer ohne Baumwoll, sambt den
Nestelen und macherlohn zu 6 fl. 30 kr. und noch darüber alle monath ein pahr
Schue zu 14 kr. angeschlagen, solches alles Sommers, oder Winterszeit wanns die
Nothdurfft erfordert, gereicht werden. Bringt also auf jeden Knaben von wegen
solcher Leibs Kleider das Jahr zwölff gülden 54 kr.
Koch soll hinführan auf jeden Capel Knaben für Pappier, Federn, Tinten,
und dergleichen Sachen zu der Schreiberey gehörig, auf ieden Knaben 6 kr.
passirt werden, und' solches soll Er iedem monatlich reichen.
Und dieweil Wir Sie alle Jahr von Hoff kleiden, und im Winter Nothdürff-
tiglieh für die Kälte versichern lassen, und über solches noch Eine solche statliche
Nothdurfft, wie oben gehört, darzu insonderheit reichen, sollen Sie billiger desto
Sauberer gehalten werden mögen.
Und damit hinführan eine bessere richtigkeit gehalten, so soll ein Jeder
Capelmeister oder ander, denen die Knaben mit der Unterhaltung befohlen, allweg
zu außgang deß Monaths seine Kaitung ordentlich, dieser Ordnung nach, wie
sich gebühret, unterschiedlich fürbringen, und waß Einem jeden Knaben monat-
lichen in solcher Unterhaltung der Leibs Kleider pro rato erfolgt, das soll von
jedem Knaben unterschrieben werden.
Demnach stellen wir die Extraordinari Außgahen hinfürter ab, es wäre dan
saeh, daß der Capelmeister oder ander Capel Persohnen etwaß von Gesang machen
wolten, oder daß ein Knab Kranckheit halber artzney pflegen müste, solches soll
in Baitung angenohmen, und nach billiohen Dingen passirt werden.
1 »Raitungff ist Rechnung.
452 Notizen.
Gleichfalls soll hinführan in der Knaben neuen oder alten Kleidungen die-
selben eigens gefallens zu yerkauffen, oder su yerhandeln kein Capelmeister oder
ander kein yermeinte Gerechtigkeit haben , oder sich gebrauchen , dann solche im
Hofstatt durchauß aufgebebt worden seyn.
Vnd falls die Knaben zu Zeiten außzu singen, oder eine Mtuiea zu halten,
von ehrlichen Leuthen erbetten, und ihnen den Knaben selbst insonderheit der-
halben waß verehret würde, das solle unter Sie, wie sich gebühret, außgetheilt
werden.
Beschließlichen sollen die Knaben in guter zucht, und forcht Gottes ge-
halten, und mit ihrer Lemung zu ihren gebührlichen stunden vor- undt nachmittag
in der Musiea durch den Capelmeister selbst, mit ihren ordentlichen iectiofun
durch ihren Praecepiorem fleißig gehalten, und unterwiesen werden, und alles das
thuen, waß zu pflÄntzung und aufferziehung eines Ehrlichen zuchtigen wandels,
und der Jugend zugehöret wie dann Er Capelmeister und gedachter Praeeeptor n
ihnen schuldig, und unser ernstlicher will und meinung ist. geben zu N.
Vice Capelmeister.
Monatliche 30 fl, —
Capel Knaben
Sind Sechzehn gehalten, und zu ihrer Unterhaltung monatlich Ton 90 bis in 100 fl.
und mehr gerait, und bey dem Capelmeister gespeiset worden.
Es ist aber allhier dieser modus obaerviit worden, daß der Capellmeister,
monatlich seine auf die Knaben verrichte aufigaben, auf nachfolgende weiß wb A,
verzeichnet, solche Specißcation dem H. Obristen Hofmeister zu dessen Subscri-
ption fürbracht, welche hernach auch der Hof Cammer Praesident, oder Dtreetor
unterzeichnet, darauff der Hofzahlmeister gegen gebührliche quittung, die wieder-
bezahlung gelaistet
A.
Ich N. N. Rom. Kay. May. Capelmeister habe höchstemanter Singer Knaben
ihre gebührliche unterhalt, nach Ordnung reichen lassen, in nechst verschienen
monath Augusto des N. Jahres wie folget.
^ Erstlich den Acht Knaben zu feder, tinten undt Papier fl. 1 kr. 30.
Item einem Jeden Knaben auf ein pahr Schue das pahr
umb 35 kr fl. 4 kr. 40.
Summa . . . . fl. 66 kr. 10.»
Wann dieser Knaben einer erwachsen, oder sonsten seine stimme mutirtt ist
ihme zu Einem Stipendiat^^diX 75 fl. durch eine ordinanz, welche der Obrist Hof-
meister unterschreiben, und der Hof Cammer Praesident mit seiner Subseription
im Hofzahlambt zu bezahlen angeschafit, bewilliget worden^
Diese Ordinanzen wie hiemach aub B folgt.
B.
Römischer Kay. May., unser allergnädigster Herren, wohlverordnete Herren
Hof Cammer Praesident und Räth Höchstgedacht ihr Kay. May. haben N. N.
welcher in dero CapeUen, in das aylffte jähr, für einen Singer Knaben, treulieh
und fleißig gedienet, und nunmehr anjetzo mit der stimmen mutirt^ außzumustem,
ihme auch das gewöhnliche Siipendiat%A<di!t fünff und Siebensig gülden Rheinisch
reichen und geben zu lassen allergnädigst bewilliget worden, derowegen die EH.
hierüber in mehr höchstgedacht ihrer Kay. May. Hofzahlmeister Ambt die fernere
Verordnung zu thuen wissen. Actum Prag den 18. Aprü Ao. N.
1 Soll jedenfalls heissen 6 fl. 10 kr.
I^otlsen. 453
Singer Knaben Fraeceptor»
Monatliche 12 fl.
Jihrl. Kleidergelt 20 fl.
NenJahrgeldt 12 fl.
Mus i et.
Denen von allerhand Mtmealiaehen ifutmmenien, so man Cammer Mutiet
genant» deren gemeiniglieh Vier gehalten worden, hat man Monatlich nachdem Sie
fuaUßeiTt 14. 18, und gar biß in 30 fl.
Item Kleidergelt von 16. in 20 fl.
Neujahrgeldt soTiel, alß ein Monat Sold gereicht.
Cantores.
Die BauisUn sind auch unterschiedlich besoldet -worden, also daß mancher
15. 20. biß 25 fl. monatliche Besoldung gehabt. Darumben 20 fl. für ein Jahrs
Kleydt, und 15 in 20 fl. (: nemblich soTiel alß ein Monath Sold :) zum neuen Jahr,
und werden deren etwa Vier in Sechs unterhalten.
AÜiiien und Tenoriaien ingleichen von 18. biß in 20 fl. monatlich, beneben
jährlich Kleidergeidt und neu Jahr, wie oben, und wurden deren 10 in 12 gehalten.
Diseantisten, so Spanier, waren Zween, die Unterhaltung wie den obenbemelten.
Organisten
haben 25 fl. monatlich, und da Sie benebens Componisten, noch 10 fl. Besoldung
gehabt Kleidergelt jährlichen 20 fl. — Wann Sie etlich Jahr
gedienet, und sonsten qudlißcirtj hat man ihnen ein Zubuß von 60 in 100 fl.,
auch neu Jahrgeldt so yiel alß ein Monathsoldt bewilligt
Sind deren gemeiniglich zween gehalten worden.
Capein Noiiit.
Monatlich 8 fl. Besoldung.
und fOr ein Jahrs Kleid 8fl.—
Diese NotkUn Besoldung hat gemeiniglich ein Bassist, oder
Tsncriai, so mit den Noten umbgehen können, neben seiner andern
nnterhahung gehabt.
Acfiordier,
Monatliche 12 fl. —
und für ein Jahrs Kleydt 20 fl. —
Neu Jahrgeldt 12 fl. —
Lauttenist.
Monatliche 15 fl. —
Kleidergeldt 16 fl. —
Neu Jahrgeldt 15 fl. —
Die Jahre 1540 — 1576, auf welche sich die vorstehende Capellmeister-Iu-
struetion, wie amtlich bemerkt, zunächst bezieht, fallen in die Regierung der
Kaiser Ferdinand I. (1521—64) und Maximilian IL (1564—76) , denen Rudolf IL
(1576—1612) folgte.
Den Capellmeisterstab fahrten zu jener Zeit die Niederländer Arnoldus
de Frugkh — in den Acten des österreichischen Haus«, Hof- und Staatsarchivs
auch als von Prunkh oder Brugg angeführt — von 152? bis 1545; Petrus
Moessanus — verschiedentlich auch als Maessenus, Moesons, Manssenus, Masce-
454 Notizen.
nius Moderatus, Massenus bezeichnet — von 1546 bis 1562; sodann Johann
Castiletti vom November 1563 bis November 1564; Jacob Vaet — oder »Vode<
— vom 1. December 1564 bis zu seinem Tod am 8. Januar 1567 und endlieh
Philippus de Monte vom 1. Mai 1568 bis zu seinem am. 4. Juli 1603 erfol-
genden Ende.
Wechselnd wie die Zahl der Capelimitglieder war der Gehalt der Capell-
meister; sodass dementsprechend auch der betreffende Posten in der Capellmeiater-
Ordnung unausgefQllt blieb. Im »Hofstatt Kaiser Ferdinand I. 152?« heisst es:
»Capellmeister Amoldt van Prugkh hat über essen und trinkhen, Alle Monath zu
Solde zehen gülden.« Petrus Moessanus werden, laut dem Status von 1550, seine
Dienste mit monatlich 20 fl. vergütet. 1554 ist sein bares Einkommen mit 40 fl.,
1556 — 58 mit 30 fl. pro Monat verrechnet. Sein Nachfolger Johann Castiletti steht
im Status von 155? bis 1564 mit 25 fl. monatlich verzeichnet. Philipp de Monte
empföngt, den Acten von 1576 zufolge »30 fl. m[onatlich] und 3 Pferd.«
Als Vicecapellmeister wirkte unter letzterem von 1598 bis 1599 der be-
deutende Komponist Jacobus Regnart, der der Capelle zuvor als Te-
norist und weiter auch als Musiklehrer der »Capein Singer Knaben« angehört
und als solcher seit 1573 einen monatlichen Lohn von 15 fl. bezogen hatte. Erst-
malig taucht sein Name im »Hofstat Max v. Böhmen 1560« als Tenorist mit 7 fL
Monatsgehalt auf. Orlando di Lasso empfahl ihn in einem Brief vom 13. Februar
1580^ dem Kurfürst August von Sachsen, als er die Berufung zu dessen CapeU-
meister ablehnte, an seiner Statt mit den Worten: »Ich mag in der warheit sagen,
das es ein treflich Kerlt ist, bescheiden und vernunftig. Es ist ein Niederlender,
redet guth deutzsch, und kan auch andere sprachen. Und in Summa, es ist ein
gutter Musicus, und zu einem solchen dienst sehr artig.« Doch verblieb Regnart
bis zu seinem 1599 erfolgenden Tod in österreichischen Diensten.
Ganz ungenannt bleibt in den von d. Verf. emsig durchsuchten Acten des
Wiener Staats- und des Reichsflnanz-Archivs wie in denen des Archivs des Mi-
nisteriums des Innern, Jacobus Gallus, der grosse Kontrapunktist, der am
18. Juli 1591 als Hofcapellmeister Kaiser Rudolf U. .in Prag starb.^ Keine Notiz
deutet an dieser Stelle auf den Meister hin, dessen 300 jähriger Todestag in
diesem Monat wiederkehrt.
Leipzig. M. Liiwius.
1 La Mara, Musik erbriefe aus fünf Jahrhunderten. L Leipzig, Breitkopf &
Härtel. 1887.
2 Auch Köchl »Die kaiserl. Hofmusikcapelle in Wien.« (Wien, Beck 1569)
erwähnt Gallus mit keinem Wort.
Brnokfehler.
S. 288, Zeile 9 und 292, Zeile 2 von 4inten: 453 statt 451.
. S. 292, Anm. 1 Zeile 2: Vesonhinus atatt Vconhinus.
S. 299, Zeile 2 von unten: untrew statt intrew.
S. 316, in dem Beispiel in Lautennotation z z
g statt z
*g *g
S. 316, Zeile 17: ^ statt z.
S. 333, Erstes System, Takt 3 im letzten Accord ßs statt /.
S. 333, Zeile 1 von unten: S. 316. 317 statt S. 32. 33.
S. 336, Unterstes System, Takt 2, die letzten beiden Töne als zwei
Achtel.
Nochmals Johann Valentin Meder.
Von
Johannes Bolte.
Durch die Freundlichkeit des Herrn Anton Huchholtz in
Riga bin ich in den Stand gesetzt, nachträglich noch einige Nach-
richten über Meders Lebensgang aus den von ihm durchforschten
Acten des Rigaer Stadtarchivs mitzutheilen. Vor allem ist die That-
sache bemerkenswerth^ daB Meder 1698 nicht zum ersten Male diese
Stadt besuchte, sondern schon in den Jahren 16S5 und 1686, also
vor seiner Anstellung in Danzig, dort einen längeren Aufenthalt
nahm. Ob er ein bestimmtes Amt bekleidete, bleibt zweifelhaft,
trotzdem er in den Verhandlungen als Kapellmeister, einmal auch
als Komponist, titulirt wird.
Meder hatte »die Passion secundum Lucam in eine neue Musik
gebracht und selbige mit vielen geistlichen Liedern gezieret« und
überreichte dies Werk dem Rathe mit der Bitte, es auf der Stadt
Kosten drucken und während der bevorstehenden Passionszeit in der
Kirche singen zu lassen. Der Rath beschloss am 25. Februar 1685,
zunächst das Gutachten des Konsistoriums einzuholen i. Dies ent-
schied sich auf die Anfrage des Bürgermeisters von Schultzen am
10. März 1685 dahin, »daß das Werk an und vor Ihm selbsten ohn-
tadelhaffl; sein möchte und Ihm privatim beim Cantore probiren und,
da er Er wolte, selbst drucken zu laßen frei und nachgegeben wer-
den könte, daß man es aber in der Kirchen wolte singen laßen,
wolten Sie nicht suadiren, sondern vielmehr bitten, daß es nicht
geschehen möchte, angesehen diese itzige schon vor einige Jahre
eist introducirett, itzo der Gemeine, die alle Ihr Büchelchen in der
Handt und Kirchen hetten, so bekandt, daß Sie alles andächtig mit
«ingen, und so balde diese gesungen werden würde, dürffte Sie nicht
allein von der Andacht abkommen, sondern auch, da dieses mehr
1 Rigaer Stadtarchiv, Publica 29, 307. Die Supplik Meders ist bisher noch
nicht aufgefunden.
1891. 31
456 Johannes Bolte,
figiiraliter als die itzige gesetzet und länger und weitläufftigei were,
auch so balde Ihnen nicht bekandt werden würde, mit minderer An-
dacht in der Ejrchen auffgehalten und andere gar weg zu bleiben
veranlaßet werden diir£ften er ^. Diesen ablehnenden Bescheid beschloB
der Rath am folgenden Tage dem Komponisten mitzutheilen und
ihm wegen der Dedication 12 Bthlr. Alb. aus dem Stadtkasten
reichen zu lassen 2. Ein solches Verfahren kränkte begreiflicherweise
unsem Meder tief; er begehrte, wie der Bürgermeister am 13. Deßrz
berichtete^, seine Komposition zurück, weil er sie nun auf seine
eigenen Kosten drucken lassen wolle; auch seien ihm »die 12 Rthlr.,
so zur Discretion ihm zugelegt worden, viel zu geringe und seines
Erachtens diese Arbeit ein 50 Rthlr. und höher zu schätzen«. Aus
jenem Vorsätze wurde jedoch nichts; die Partitur blieb ungedruckt
und fand sich später in seinem Nachlasse^.
Im folgenden Jahre wirkte Meder als Sänger bei Kirchenauf-
führungen mit, wie ein Rathsprotokoll vom 12. Mai 1686 ergiebt^.
Auf Antrag des Cantors Rade wurde, »weil kein Sänger itzo hie und
die Music in der Kirchen nicht wohl bestellet war, auch Msr. Meder
umbsonst nicht auffwarten wolte«, diesem dieselbe Gage bewilligt,
welche 16S5 der Lieutenant Ajrmal von Danzig als Sänger »wegen
Auffwaitung auff dem Cohrc genossen hatte ^.
Aus den Jahren 1702 und 1703 ist zu dem früher Berichteten
nachzutragen ein Streit mit dem neuen Cantor Joh. Georg Andrea.
Dieser klagte am 18. Januar 1702 dem Rathe, daß Meder am Drei-
königstage die Orgel im Dome von einem Substituten habe spielen
lassen, wobei »einige Fauten vorgegangen«, und verschaffte ihm da-
durch einen dienstlichen Verweis^. Dafür setzte es Meder durch,
daß der Cantor am 19. November d. J. Befehl erhielt, seine dem
Rathe gewidmete Lob- und Danck-Music auf den Sieg bei Klissow
am folgenden Tage aufzuführen^. Von der Chorleitung aber wußte
Andrea seinen Nebenbuhler fernzuhalten; auch wenn bei feierlichen
Leichenbegängnissen »auf zweien Chören musiciret« wurde und somit
zwei Dirigenten nöthig waren, sollte Andrea den einen Chor imd
den andern der Schul-CoUega Jahni dirigiren, wie bei dem BegräbniB
des Majors Diedrichs am 9. Januar 1703 von neuem festgestellt
wurde ®.
Von den hinteilassenen Kompositionen Meders hat sich leider
1 Consistorialia 7, 54. 2 Publica 29, 322. 3 Publica 29, 344. * Oben S. 50,
Nr. 34. 5 PubUca 31, 201. « Publica 29, 268. ? Cameralia 18, 29. » Publica
55, 354. Vgl. unten Nr. 4 des Verzeichnisses. ^ Cameralia 18 ohne Seitenzahl.
Vergeblich berief sich Meder darauf, daß er schon beim Begr&bniß des Obersten
Albedyl den zweiten Chor geleitet habe.
Nochmals Johann Valentin Meder. 457
in Riga keine Spur auffinden lassen, auch nicht unter den Musi-
kalien der Petri- und Domkirche. Dagegen verdanke ich Herrn
Anton Buchholtz noch das folgende Verzeichniß von gedruckten
Texten zu seinen in Riga aufgeführten Kantaten:
1) Text- Worte So bey dem Von Ihro Königl. Majest. von Schweden AUer-
gnädi^ angeordneten Danckfest, In der St. Peters-Kirchen zu Riga musiciret
werden aollen, Einfältigst entworffen und in eine vollständige Composition gebracht
durch J. V. M. 2 Bl. 40 (Bibliothek der Kigaer Gesellschaft für Geschichte und
Alterthumskunde). Auf die Schlacht bei Narva am 20. Nov. 1700.
2) Joh. Val. Meder, Die lehrreiche Himmels - Lichter bey des Herrn Joh.
Breveri Ober-Pastorie Begräbniss-Solennität. Eiga 1701. 40 (Petersburg, KaiserL
Bibliothek; vgl. Catalogue de la section des JRtissica 1873 1, 655).
3) Auff die erlangten Sieges-Palmen erfolgen die Lob- und Danck-Psalmen.
Als nehmlich von . . . Herrn Carolo dem XII .... wegen der den 9. July dieses
noi. Jahrs jenseits der Düna bey Riga... erhaltenen Glorieusen Victorie, den
10. Septembr. jetztbesagten Jahres Ein solennes Danck-Fest . . . verordnet ... an
berührten Danck-Fest zu Kiga folgendes in der Music präsentirt worden von J. V.
Meder. Kiga, gedr. bei G. M. Möller, fol. (Kigaer Ges. f. Alterthumskunde).
4) Lob- und Danck-Music über die Von Ihro Königl. Maytt. Sein Aller
Durchlauchtigsten Groß-Mächtigsten^ Monarchen, Carolo XH Der Schweden, Gothen
und Wenden Könige &c : wider den Pollnischen König Den 9. Julii dieses 1702 ten
Jahrs bei Kliszow in Pohlen Erhaltene Glorieuse Victoria An dem Von Ihro
Königl. Maytt. durch dero gesamte Keiche und Provincier den 20. Novembr. an-
gestellten Solennen Danck-Feste Zu Bezeugung allerunterthänigsten Pflicht In eine
besondere Composition gebracht Und Einem Hoch- Edlen und Hochweisen Bäht
Dieser weit berühmten Königl. See- und Handel-Stadt Kiga Gehorsamst und De-
mütigst überreicht von Joh. Valentino Medero. Kiga, Gedruckt in der Königl.
Buchdruckerei, bei Wilckens Wittibe. 1 Bl. grossfol. (Kigaer Ges. f. Alterthums-
kunde und Stadtbibliothek.)
5) Der Melpomene Klag-Lied Über den in der blutigen Action auf Lutzoffs-
Holm Bey Riga den 9. July 1701 .... erlittenen . . . Tod des . . . Hrn. Magnus
Benedictus von Hellmerssen . . . vermittels eines beweglichen Trauer-Marches . . .
vorgestellet von J. V. Meder... Kiga, Wilcken (1703). 1/2 Bogen 40. (Kigaer
Stadtbibliothek.)
6) — An dem, Dem Allmächtigen Großen Gott und Herrn der Heer-schaaren,
ta
Zu Lob und Ehren, Von dem Allerdurchläuchtigsten . . . Herrn Carolo XII . . .
Wider den König von Pohlen bei Pultoowsk abermals Heldenmütig befochtenen
Glorieusen Victorie Und Eroberung Derer beyden Haubt-Städte und Vestungen in
Preußen nemblich Thoren und Elbing Den XII. Febr. Anno 1704 angesetzten
Solennen Danck-Fest, Wolte Mit gegenwertigen einfeltigst selbst entworffenen und
in die Music gesetzten Keim- und Text-worten Seine aUerunterthänigste Pflicht
mit beytragen, Und Einem Hoch-Edlen und Hochweisen Kath Dieser weitberümten
Königl. See- und Handels-Stadt Kiga, gehorsamst überreichen Joh : Valentin Meder.
Riga, Gedruckt in der Königl. Buchdruckerei, bey Wilckens Wittibe. 1704. 2 Bl.
foL (Kigaer Ges. f. Alterthumskunde und Stadtbibl.)
7) Neuer Lob- und Danck-Gesang, Und Davidscher Psalter-Klang, Bey dem
von Ihro Königl. Majest. von Schweden Carolo XH. Unserm allergnädigsten
Könige und Herrn, wegen Dero In beyden verwichenen Jahren, als nemlich 1704
und 1705. Durch Göttlichen Beystand glücklich voUfÜrten Heer- und Feld-Zügen,
31*
458 JohanneB Bolte.
Den 9. Martii dieses instehenden 1706ten Jahres angeordneten solennen Danck-
Fest, Vermittelst einer Musicalischen Composition aus allerunterthänigster Pflicht
mit angestimmet, Und Einem Hoch-Edlen und Hochweisen Bäht dieser Treu-er-
gebensten Kdnigl. See- und Handels-Stadt Higa gehorsamst und dienst -fertigst
überreichet von Joh : Val : Meder. 2 BL 40. (Kigaer Oes. f. Alterthumskunde.)
8} Lob- und Danck-erklingende Harffe Auff des Von . . . Carolo XII . . .
wegen des . . . friedens den 28. April Ao. 1707 angeordneten solenne Danck-fest,
Über die beyden in der Vor- und Nach-Mittags-Predigt zu erklähren bestimmte
Texten, In gegenwärtigen Worten einfaltigst entworffen, und in die Music gesetst:
So dann Einem Hoch-Edlen und Hochweisen Rath dieser Königl. See- und Handel-
Stadt Riga aus gehorsamster Pflicht überreichet von Joh. Val. Meder. 2 BL 4.0
(Rigaer Ges. f. Alterthumskunde.)
9) Musicalische Cantata, welche bey bevorstehender fröhlichen Feyer, Des
andern Jubilaei Lutherano-Evangelici, Zur Ehre des Drey- Einigen GOttes, Von
J. V. M. in die Music gesetset, und In hiesiger Haupt-Kirchen aufführen wird
J. H. Beuthner; Cant. & Direct. Music. Riga, bei Samuel Lorentz FrölicL
2 BL 40 (1717). (Rigaer Ges. f. Alterthumskunde.)
Von Meders Sohn Erhard Nicolaus erzählen die Bathsproto-
kolle unter dem 9. December 1710', wie er einundzwanzigjährig in
die Feme reisen wollte und beim Käthe darum anhielt, dass ihm
zehn Thaler, die ihm der verstorbene Kirchenknecht Hundschläger
am Dom vermacht, aus dessen Gelde, das während der Belagerung
der Stadt im Keller des seligen Superintendenten Depkins vermauert
worden war, verabfolgt werden möchten. Der Bath ließ, obwohl er
seine Angabe nicht weiter beweisen konnte, die Mauer öffnen und
ihm das Geld als Viaticum aushändigen. — Über den späteren
Schwiegersohn des jüngeren Meder, den Pastor Gustav Bergmann,
macht mir Herr Professor Dr. Leo Meyer in Dorpat die freundliche
Mittheilung, dass er in Leipzig zusammen mit dem jungen Goethe
studirte und ihn auf dem Fechtboden am Arme verwundete^.
1 Publica 67, 214.
2 O. Jahn, Goethes Briefe an Leipziger Freunde 1867 S. 26 (nach Blum, Ein
Bild aus den Ostseeprovinzen S. 29).
Heinrich Pipegrop (Baryphonus).
Von
Eduard Jacobs.
Im Jahi^nge 1836 des Gemeinnützigen Wochenblatts für Halber-
stadt und Umgegend S. 102 bemerkt ein mit B. unteizeichnetei
Einsender von »Merkwürdigem von Quedlinburger Sängern« mit
Bezug auf den gelehrten Musiker Henr. Barjrphonus: »Wie dieser
Mann zu dem sonderbaren Namen gekommen ist, ob er ihn von
seinem Vater geerbt oder selbst erfunden hat, lässt sich wohl nicht
mehr ausmitteln«. Die letztere Annahme mußte noch mehr begrün-
det erscheinen, als sich später ergab, daß bereits der 22jährige
Sänger sich mit seinem Gelehrtennamen in die Helmstädter Ma-
trikel eintragen ließ^. In unserer Litteratur und insbesondere auch
in den Werken von Forkel, Gerber, F6tis u. a. erscheint unser
Landsmann daher auch nur mit seinem griechischen Namen, der
hier, wie fast überall, und so auch von dem ebengenannten Mitar-
beiter des Halberstädter Wochenblatts ungut und irrig mit »Grob-
stimm « wiederg^eben ist. Ein günstiger Umstand brachte uns nun
aber bei eingehender Benutzung des Stadtarchivs zu Wernigerode
ein eigenhändiges Schreiben unseres Tonkünstlers zu Händen, bei
welchem er sich veranlaßt sah, seinen gelehrten Zopf abzulegen und
sich mit seinem angestammten eigentlichen Namen zu nennen. Es
ist eine Bittschrift, die er an den Büi^ermeister seiner Vaterstadt
richtet und bei welcher es nicht angemessen gewesen wäre, in dem
fremden gelehrten Kleide zu erscheinen.
Der Brief, der sich in einem großen von uns nach der Zeitfolge
geordneten Stoße von Prozess-, Nachlaß- und dergleichen Sachen IH
£. 45 des Stadt-Archivs befindet, giebt uns so merkwürdige Kunde
ober die Eltern des Künstlers, daß sich der Abdruck desselben ge-
YgL über ihn Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft VI. Jahrg. 1890.
8. 111—122, das. S. 121.
460 Eduard Jacobs,
wiß lohnt. Er lautet wie folgt : Ehrnvester, achtbarer vnd wollweiser
großgunstiger Herr Burgermeister vnd Schwager; demselben kan
ich hochdringender nott nicht bergen, wie das mein lieber vater vor
diesem sein haus vnd hoeff einem manne aus dem Nöscbenroda
mit nahmen Heinrich Schöne vmb eine gewisse Summa geldes, doch
mit dem Reservat vnd vorbehält, das er so woU meine liebe Mutter
Zeit ihres lebens ihre habitation vnd wohnung darin haben weiten,
verkaufft, darauf den derselbige — aber ohn allen meinen vorbewuBt
— das haus nicht allein bezogen, sondern auch sich alßbald unter-
standen die Scheune abbezubrechen vnd aus deroselben alten holtze
im hauße zu bawen, schlecht seines gefallens, als wen es sein eigen-
thumb were, da er doch nicht einen einigen heller zum GottesPfen-
nig, will geschweigen der angäbe vnd erster Termin des Kaufgeldes,
gegeben vnd erleget. Wie er aber von meinem vater wegen voln-
ziehung des Kaufbriefies vnd erlegung der Kauf- vnd angelder er-
innert worden, hatt er ihm den kauff auigesaget, drei andere heuser,
vnd darunter zwei mit dem blossen GottesPfennige, das dritte end-
lich auf der Steingruben mit 120 Gulden angäbe gekaufft, vnd ihm
nicht allein sein hauß dergestalt wüste gemachet, sondern auch da-
rinnen allen Gottlosen frevell vnd mutwillen mit den seinen verübet
mit ehrenrührigen schelt- vnd lesterworten, mit mördlichen wehren,
dan auch mit knütteln vnd handanlegen, indem er dem alten eiß-
grawen Senioren, welches wol hoch zu erbarmen, mit einer harten
zweimahl zu halse gelauffen, ihn bei dem hart erwischet, denselben
außgerauffet vnd noch mit einem Prügel darzu abschlagen wollen.
Will anderer frevelthaten mehr geliebter kurtze halben hie geschwei-
gen. Weil mir aber solches hertz: vnd schmertzlich wehe thut vnd
in die lenge zu leiden nicht gebüren will, als will ich ganz vnter-
dienstlich gebeten haben, der Herr Burgermeister, als mein groß-
gunstiger Herr vnd beforderer, amptshalben gedachten Schönen auf-
erlegen wolle, nicht allein das hauß alßbald zu reumen, sondern
auch daßelbige in vorigen Stand wiederumb zu bringen, vnd den
Schaden, so er in Verwüstung deßen verursachet, weil er noch zur
Zeit mit bawen darinnen nicht befugt, zu ersetzen, dan auch den
haußzinß vor die zeit, so er darinnen gewohnet, wie hoch derselbe
von einem Ehm. v. woUw. Bathe kan erkant werden , erlegen müsse,
damit meine lieben Eltern nicht allein solches großen frevels möch-
ten geübriget sein, sondern auch ihres zugefügten Schadens sich zu
erholen haben. Hierin wird sich der Herr Burgermeister, als ein
besonder liebhaber der Justitien, befordersamb erzeigen vnd mein
großgunstiger herr und beforderer bleiben. Solches bin ich mit allen
müglichen diensten iederzeit zu verschulden erböttig, denselben Gott-
Heinrich Pipegrop (Baryphonus). 461
lichex Allmacht zu langwieriger bestendiger gesundheit und glück-
licher regierung getrewlich entpfelend.
Datum Quedelburgk, den 9. Julii 1622.
Des Hern Burgermeisters vnd Schwagers
ieder Zeit dienstgefliessener
Henricus Pypgrop der Junger,
Quedelburg. Schulen Cantor
vnd Musicus ^
Das zum Verschluß aufgedrückte Siegel ist abgesprungen und
nicht mehr vorhanden, doch kennen wir das Schildzeichen der Fa-
milie Pipegrop, welches in zwei ins Andreaskreuz gelegten mit den
Zinken nach oben gekehrten Heugabeln besteht 2. Dieses Sinnbild
ist ganz bezeichnend für die echte Ackerbürger-, etliche Zeit vorher
gewiß Bauernfamilie, als welche wir nun, nach Entschleierung des
Namens, die Vorfahren und Freundschaft des gelehrten Sängers
kennen lernen.
Die Pipegrop, welche in Wernigerode über ein Jahrhundert
lebten, wohnten zuerst und zumeist in der noch lange halb länd-
lichen Neustadt. Erst seit etwa 1570 treffen wir sie auch in der
Altstadt 3. Im Jahre 1528 lernen wir einen Curt Pipgrup kennen^.
Dreißig Jahre später wohnte Curt Pipgrob der Alte in der 25., Curt
Pipgrob der Jüngere in der 30. neustädtischen Rotte ^. Wohl der
Sohn des letzteren ist Heinrich Pipgrop oder Pipgroppe in der Neu-
stadt, der Vater unseres Tonkünstlers, der Martini 1569 Bürger wird.
Daß er, obwohl schon länger in Wernigerode lebend, hier nicht als
Bürgerssohn geboren war, müssen wir daraus schließen, daß er ein
Bürgergeld zahlen mußte, wenn maus ihm auch, da er sich früh-
zeitig gemeldet, noch zu dem niedrigen alten Satze von vier Gulden
ließ*. Der Name Heinrich P's wird dann öfters in den Akten
genannt, so in den Schoßregistem zwischen 1574 und 1609, wo er
1 presentirt den 12. Juli: von Hinricus pripgroben.
^ Von den nicht seltenen Abdrücken dieses Siegels erwähnen wir den, mit
welchem Curdt Pypgropp am 24. April 1589 ein Schreiben an den Grafen Wolf
Ernst zu Stolb. yerscÜossen hat. Vgl. Justiz- und Parteisachen bei Gräfl. Hof-
kanilei und Regier, zu Wem. Abth. C. des Fürstl. Archivs. ;
' Die Schoßregister nennen 1574 Curt Pipgroppen Witwe in der Altstadt.
Bas ELirchenbuch der Oberpfarrgemeinde erwähnt in dem Pestjahr 1598 nach ein-
ander das Ableben einer Magd von^Piepgrope und Carsten Piepgrobs sowie zum
7. Febr. 1611 des lahmen Sohnes eines Bibgrob.
* Wem. Amtsrechn. Galli 1528/29 C. 1. FOrstL Archiv.
5 Stadtarchiv HI, C. 22, 1.
• Ältestes Bürgerregister von 1563 — 1623 im Stadtarchiv.
462 Eduard Jacobs,
mit 1 Gulden 11 bis 15 Gr. angesetzt ist^ Daß seine äußeren
umstände nicht die besten Tiaren, ist daraus zu schließen, daß er
mit dem Schoß mehrfach im Rückstande blieb. Im Jahre 1599
machte er seine Schuld richtig. Dann aber konnte er wieder längere
Zeit seiner Bürgerpflicht nicht genügen, bis es im Jahre 1605 heißt:
»heut dato freitag nach Martini 1605 hat Heinrich Pypgrope alle
seine retardat schos, derer noch viel gewesen, alle richtig gemacht
und zalt; es ist im auch damals das schos gedingt, das er ides jar
liefert 24 gr. schos geben sola 2. Vielleicht half der damals in ein
festes Amt eintretende Sohn seinen Eltern aus. Wie dieselben dann
in der folgenden bösen Zeit zurückgingen und ihr Haus einem un-
zuverlässigen Menschen veräußern mußten, ersehen wir aus dem
hier mitgetheilten Schreiben des Sohnes. Wenn dieser den «Vater
als alten eisgrauen Mann bezeichnet, so mußte er ja auch wegen
der bereits im November 1569 erfolgten Aufnahme als Bürger etwa
77 — 80 Jahre alt sein. Wenn nun nach dem ältesten Kirchenbuch
der Oberpfarrgemeinde am 9. August 1631 »Fiprobpen von S. Georgii
Hofe« verstirbt, so muß {derselbe ein Alter von 86 — 89 Jahren er-
reicht haben.
Was nun die Bedeutung des Geburts- und die Erklärung des
griechischen Gelehrtennamens betrifft, so scheint hinsichtlich des
ersteren Schiller-Lübbens Mnd. Wörterbuch HI, 330 einen sicheren
Fingerzeig zu bieten, indem es pipegrove als = Ffeifengrube, Abzugs-
röhre, Wasserleitung kennen lehrt. Es sind jedoch die Formen
pipegrope, pipegroppe, -grob.-grop so durchaus vorherrschend, daß
darnach die Zusammensetzung mit grope = Topf, Kessel näher
zu liegen scheint. Da nun aber wohl Pfeifenkasten, nicht aber
Pfeifentopf oder Ffeiffenkessel ein bekannter Begriff ist, so erschwert
dies eine solche sprachlich nahe liegende Deutung. Hierzu kommt,
daß neben Fipegrop und den ähnlichen Formen der Name Friperot
in Wernigerode hergeht, so 1523 (Wachtregister) Hans Friperot 3.
Derselbe erscheint unter den Brandbeschädigten des Jahres 1528 als
Hans Friperot alias Kock^. Dagegen 1595 (Bürgerbuch) Fipgrob und
1604 im Schoßregister 1604/4 VI, D. 8 Hans Prypgrope oder Hans
ßon. Aber auch Kurt und Heinrich jPipegrop der Ältere und der
Jüngere erscheinen in den Quellen zuweilen als (Curt) Fiproper 1557.
Rathshandelsbuch 1553 (63 HI, E. 33) Frippegrop (Heinr. 1579
Schoßreg.) und Fripgrob (vgl. das präsent, des hier mitgetheilten
^ Schoßiegister VI D, 8 im StadtarchiT.
^ Ebendaselbst.
« St.-Arch. V, C. 2, 1546 Priprott III, E. 33.
« St.-ArcL in, F. 3, 18.
Heinrich Pipegrop (Baiyphonus). 463
Schreibens). Priperot, Priprott würden wie Klaproth, Silkrott auf
einen mit -rot, -rode endigenden Ortsnamen deuten, obwohl wir auch
an einen wendischen z. B. in Mecklenburg vertretenen Ortsnamen
Freberede erinnert werden.
Die Erklärung des Gelehrtennamens Baryphonus, der einfach
den Bassisten bedeutet, kann bei dem Tonkünstler und Sänger auch
ohne Heranziehung des Herkunftsnamens von seiner Stimme herge-
leitet werden. Da aber doch eine Anlehnung an letzteren beliebt
und üblich war, so scheint diese doch noch leichter gefunden werden
SU können, als die von uns früher vermuthete Benutzung des wemi-
gerödischen Familiennamens Barde oder Bare. Pipegrope, Pipegrob
läset sich als aus pipe und grob, grof oder grobe zusammengesetzt
also als = Pfeife, grobe oder umgedreht grobe Pfeife = Basspfeife ver-
stehen oder vielmehr missverstehen und deuteln, eine Weise, die
man der Gelahrtheit jener Zeit wohl zutrauen darf. Die grobe
Stimme oder Pfeife ist nämlich die tiefe oder Bass-Stimme beziehungs-
weise Pfeife. — Herr Musikdirektor Stöbe in Halberstadt erinnert
nns an igrob gedackt« bei einem Orgelwerk.
Johann Andreas Herbst.
Neue Biographische Beiträge.
Von
Benedikt Widmann.
Im Anschluß an die Mittheilungen Robert Eitners in der lAll-
gem. deutschen Biogr.« (12. Bd. 1880, S. 50) beabsichtige ich, mit
nachstehenden Auszügen aus den »Schulakten des Frankfurter Ar-
chivs« Tom, /, de anno 1518 — 1626 und Tom, IL de anno 1626—1677,
die Biographie Herbsts zu vervollständigen. Eine Nachforschung in
Nürnberg, der Geburtsstadt Herbsts, zur Feststellung seines Geburts-
tages hatte keinen Erfolg, und so müssen wir uns mit der bloBen
Jahreszahl begnügen, welche auf einem gestochenen Bilde in einem
seiner Werke, nämlich der ^Mtisica Poeticaa verzeichnet ist. Eine
Umschrift um dasselbe heißt nämlich: Ji Johannes Andreas Herbst^
Norimberg. Musicus Po'eticus. Pro tempore Francofurti Musices Direc-
tor, 1635. Natus A"" 1588«. Unter dem Bildniß steht die Bemerkung:
j>Praeclari Autumni facies hie 3Ittsici in aere \ Stat^ dofia ingenij caniica
scripta probant. (Hier. Ammon.)a
Daß Herbst schon frühzeitig sich der Tonkunst gewidmet haben
muß, geht aus seiner im Jahre 1613 in Nürnberg herausgegebenen
Sammlung deutscher Lieder zu 5 Stimmen hervor. Im Jahr 1619
bezeichnet er sich auf dem Titel eines Hochzeitgesanges (Königl.
Bibliothek zu Berlin) als einen Musiker in Nürnberg und auf einem
den Bürgermeistern in Frankfurt a. M. zum neuen Jahre 1621 ge-
widmeten Gesänge als Kapellmeister beim Landgrafen zu Darmstadt ^
Sein Augenmerk muß von da an stets auf Frankfurt a. M. gerichtet
gewesen sein; denn ein Dankschreiben an den Bürgermeister und
1 Siehe R. Eitner a. a. O.
Johann Andreas Herbst. Neue Biographisobe Beiträge. 465
Bath der Stadt vom 1. Sept. 1623 bestätigt dessen Anstellung zum
^praefecto Musicesa daselbst, worin ei sich verpflichtet, »vff alle
Sonn- vnd Festtage bey der Music in der Baifussei Kirche (dem
ehemaligen KlcNSter der Barfußei, jetzigen Faulskiiche) nit allein
Persönlich erscheinen, dieselbe nach seinem Besten Verstand mode-
riren, bestellen vnd anrichten, alle darbei Befundene mängel ab-
schaffen, vnd hergegen, so viel ihm müglich verbessern, sondern auch
ettwa 7 bis 8 Knaben in der Lateinischen Schul, welche er darzur
qualifizirt vnd tüchtig befinden werde, gutwillig vnd ohne einige
Acompens in der Musica getreulich vnd mit allem Fleiß underrich-
tan, sich auch der verordneten Herrn Scholarchen befehl vnd Ver-
ordnungen vnderwerffen, vnd vff dieselbe in Zeit wehrendes seines
Dienstes sein aufsehens haben«. Seine Besoldung bestand in 120
Beichsthalern, 7 Ellen Tuch und 12 Achtel Korn. Daraus geht zu-
gleich hervor, daß Herbst auch als Musiklehrer thätig war.
Nachdem durch das Ableben Matthias Nicolai in Nürnberg die
EapeUmeisterstelle daselbst erledigt worden war, erhielt Herbst vom
Burgermeister und Bath seiner Vaterstadt folgende Aufforderung:
»Vnser Förderung zuvor Lieber Herbst, Du weist Dich zu entsinnen,
daß Du bishero Deiner bey vns anererbten Burgerrechten Dich nicht
ledig gemacht, sondern vns bis dato mit Bürgerlichen Pflichten ver-
haffitet bist. Wann Wir dann Deiner Person vnd Dienst vm dieser
Zeit Selbsten zugebrauchen haben möchten, als befehlen Wir dir
hirmit. Du wollest Dich nach Empfahung dieses vnsern Schreibens
mit dem Allerforderlichsten anhero erheben, Bey vnserm Jüngern
Bürgermeister gebührlich anmelden, vnd darauff ferner bescheidt
erwarten.
Hieran thustu was deine Bürgerlichen. Pflichten erfordern, vnd
wir verbleiben Dir vff solchen fall mit gunsten wol gewogen. Da-
tum. Vnter Vnserm Eltern Burgermeister des Edlen Ehrenvesten
Georg Paul Nützel Petschier verschlossen den 13. Augusti 1636«.
In einer »Supplication vom 25. August 1636« bittet sodann H«,
welcher nun 13 Jahre lang in Frankfurt als Kapellmeister gewirkt,
am seine Entlassung mit den Worten: »Wenn mir dann in solcher
TQgezweiffelt von Gott zugeschriebener Vocation zu folgen in vnder-
thenigkeit obliegen vnd gebüren will, So habe derowegen im Namen
Gottes meinen Dienst allhier in optima forma hirmit zu resigniren
Ich nicht vmbgehen können. . . .«
Seine Bitte fand nicht sogleich Gehör; denn am 13. September
1636 bittet er wiederholt »umb großgünstige Dimission« und empfiehlt
zugleich zu seinem Nachfolger Joannem Jeepium »einen vortrefflichen
Musicum, welcher in die 23 Jar bey dem Hochwolgeborenen pp Graven
4g ß Benedikt Widmann.
zu Hohenlohe . . . für einen Kapellmeister sich gebrauchen lassen.«
— Endlich am 26. September genehmigte der Bath der Stadt Frank-
furt die Bitte Herbsts »Alldieweil er als ein noch verpflichteter
Burger der Stadt Nürnberg laut dem vorgelegten schreiben daselbst-
hin vocirt worden«.
Herbst scheint sich in der neuen Stellung in seiner Vaterstadt nicht
sonderlich behagt, wohl aber der Stadt Frankfurt eine besonders
treue Anhänglichkeit bewahrt zu haben; denn unter dem »Datum
Nürnberg, Dominica Palmarum. Anno 1642« widmet er den »Herren
Schultheisens Burgermeister, Schopffen vnd Bath deß H. Köm. Beicbs
Stadt Frankfurt am Main etc. aus schuldig-gebührender Danckbar-
keita die Musica Practica^ und unter dem »Datum Nürnberg, Dami^
nica Laetare^ Anno 1643« die Mtisica Poetica.
Als sodann die Kapellmeisterstelle zu den Barfüßern in Frank-
furt durch den Tod Christian Völckels frei geworden war, be-
warb sich Herbst am 15. März 1644 zum zweiten Male um diesen
Dienst, indem er einleitend auf jenes Werkchen verweist, »das er
der lieben heranwachsenden Jugend zum besten, in ofifnen Druck
außgehen lassen . . .a Schon am 22. März d. J. wurde er vom
Bürgermeister und Kath aufgefordert, » den anbetrauten Dienst anzu-
treten; er und am 26. März erwiedert Herbst: »Also werde Ich mir
in solchem meinem anvertrauten Dienst, gewißlich alles getreuen
Yleißes, eiffrig angelegen sein lassen, damit durch die edle Music,
vor allem Gott im Himmel geehrt, die Andacht derer im Hauße deB
Herren versambleten christlichen Gemein vermehret, auch die liebe
heranwachsende, darzu lusthabende Jugend, in derselben gelehrt vnd
vnterrichtet werde . . .«
Mit Glücksgütern war Herbst nicht gesegnet; im Gegentheil
hatte er mit des Lebens Noth sehr zu kämpfen; und die Schrecken
und Leiden des 30 jährigen Krieges gingen auch an ihm nicht spur-
los vorüber. Dies beweist sein »vntertheniges Nothdringliches Bitten
vnd ersuchen vmb Gnedige Hülffreichende handbietung, mit eines
viertel Jars, sonst gebräuchlichen AuSzugs Honorario«, datirt vom
15. August 1644. Es heißt unter anderem darin: »Wie ich mich
nun darauff(r (nämlich nach dem erhaltenen Vocations- Schreiben)
i»mit meinen angehörigen den 9. May im Namen Gottes vff den
Weg begeben, alß sind wir, Gott sey lob vnd Danck gesagt, den
15. dito glücklich anhero kommen. Wenn ich aber zu Nürnberg
in meinem Patria, die verflossene achthalb Jahre vber, wegen der
schweren kriegszeiten, in nichts prosperiren können, ia noch daB
jenige, waß ich andern ortten, von diesen zu einem Zehrpfennig,
meiner vnd der meinigen im Alter erworben, schmerzlich einbüßen,
Johann Andreas Herbst Neue Biographische Beiträge. 467
zusetzen, vnd mit schaden veikauffen, auch zu meiner bevorstehenden
ReiB, fün&ig Gulden nothdringlichem entlehnen vnd vffwenden
müssen . . . «
Weitere Nachrichten über Herbst finden sich in den Acten des
Frankfurter Archivs nicht vor ; aber in den sogenannten Beerdigungs-
listen des Standesamts der Stadt steht verzeichnet: »Johann An-
dreas Herbst, Freitag den 26. Januar 1666«. Derselbe ist also
am 24. Januar des genannten Jahres ''gestorben und hat ein Alter von
78 Jahren erreicht. Seine Asche ruht auf dem ehemaligen, jetzt in
einen Park mit Spaziergängen verwandelten Peterskirchhof.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker.
Von
Hermann Gehrmann.
Die Geschichte der musikalischen Theorie zeigte daß auf Grund
des Studiums vorhandener Kunstwerke einer Periode Gesetze aus den-
selben abstrahirt werden; hieraus entwickelt sich eine Lehrmethode,
mit deren Hülfe der Schüler auf die Bahn des eigenen Kunstschaffens
geleitet wird. Die Theorie folgt der praktischen Kunstthätigkeit nach
und spiegelt die Wandlungen und Umformungen wieder, welche jene
durchläuft, indem entsprechende Veränderungen auch in der Kom-
positionslehre erscheinen.
Eine Zeit großer Wandlungen in der Musikgeschichte beginnt
um das Jahr 1600 und endigt erst im Anfange des 18. Jahrhunderts.
Auch in der Kompositionslehre des 17. Jahrhunderts gehen dem-
gemäß bedeutende Veränderungen vor sich. Die bis dahin gültige
Alleinherrschaft des Kontrapunkts wird erschüttert, die Lehre vom
Kontrapunkt muß bald mit der Harmonielehre einen Vergleich
schließen, durch welchen diese fast zur Alleinherrschaft gelangt.
In diesen großen theoretischen Entwicklungsprozeß gewährt die
handschriftliche Kompositionslehre Joh. Gottfr. Walthers einen be-
friedigenden Einblick. Hier wurde die gesamte musiktheoretische
Litteratur des 17. Jahrhunderts, soweit sie für einen strengen Kom-
positionsunterricht in Frage kam, in wissenschaftlich gründUchei,
philologisch-kritischer Weise verarbeitet, wie es in keinem andern
Werke jener Epoche geschehen ist. An wissenschaftlicher Genauig-
keit überragt das Walther^sche Werk bei weitem die Kompositions-
lehren eines Printz, Werckmeister , Heinichen und Mattheson und
nimmt überhaupt den hervorragendsten Platz unter den Lehr-
büchern der Zeit ein.
Da diese handschriftliche Lehre, abgesehen von dem kurzen Ka-
pitelverzeichniß in den Monatsheften für Musikgeschichte von B. Eitner,
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 4g 9
Jahrgang 1872, Nr. 8, ziemlicli unbekannt geblieben ist, so hat
eine Beschreibung und historische Würdigung derselben um so mehr
Berechtigung, als damit zugleich die ihr beigelegte große Bedeutung,
einen Einblick in die historische Entwicklung der Musiktheorie des
17. Jahrhunderts zu geben, näher begründet werden soll.
I.
Die Idtteratur Walthers.
Die nachstehend näher beschriebenen Werke, auf welche die Lehre
Walthers gestützt ist, sind mit Ausnahme von Zarlinos Institutionen
und Reinckens handschriftlicher Lehre ausschließlich Werke, die Wal-
ther selbst benutzt hat.
1.
Wandlung in der äußeren Anordnung des musikalischen
Lehrstoffs im 17. Jahrhundert.
Die Veränderungen, durch welche der Übergang von einer auf
kontrapunktischem Prinzip beruhenden Lehre zu einer auf harmo-
nischer Unterlage basirenden Methode gekennzeichnet wird, zeigen
sich am deutlichsten in der Melopoiia des Calvisius, der Synopsis des
Lippius, den Plejaden des Baryphonus und der Synopsis Crügers.
Diese Werke gehören einer Epoche an, welche mit dem Er-
scheinen der Istitutioni Harmoniche des Zarlino im Jahre 1558 be-
gonnen hatte.
In diesem großartigen Werke wurde das ganze musikalische Lehr-
gebäude, wie es bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts aufgebaut war,
nicht nur umfassend in streng wissenschaftlicher Methode dargestellt,
sondern besonders in Bezug auf die Kompositionslehre zum Theil neuge-
staltet. Das bisherige diaton-diatonische Tonsystem verwirft Zarlino und
setzt an seine Stelle das diaton-syntonische, welches unserer modernen
Musik zu Grunde liegt. In diesem Werke werden auch die Vor-
boten einer harmonischen Anschauung entsandt. Denn zum ersten
Male wird ein Unterschied gemacht zwischen Modi, in denen die
große Terz unter der kleinen liegt, und solchen Modi, wo die kleine
Terz unter der großen liegt; die ersteren Modi seien frischer, leb-
hafter, die letzteren betrübter. Es ist dies derselbe unterschied, den
wir heute zwischen einer Dur- und Mollskala wahrnehmen, und der,
wie Zarlino ebenfalls berichtet, in der harmonischen oder arithmeti-
schen Theilung der Quinte beruht.
J
470 Hermann Gehrmann,
Ferner erfahren wir zum ersten Male das Verbot verdeckter
Quinten- und Oktavparallelen; zum ersten Male wird gründlich der
doppelte Kontrapunkt gelehrt, zum ersten Male wird auch von acccrdi
gesprochen und in einer Tafel alle möglichen Arten von Lagenwechsel
gezeigt, neben dem Dreiklang tritt der Sext- und Quartsextakkord auf.
Wegen all dieser Neuerungen kann Zarlino mit Hecht der Vater
der modernen Musiktheorie genannt werden. Daß bis auf unsere
Zeit sein Einfluß reicht, beweisen die Lehrbücher eines Fux und
Bellermann, die in der Hauptsache auf ihm fußen. Je weiter wir
aber in die frühere Zeit zu Zarlino zurückgehen, desto breiteren
Raum sehen wir seine Anschauungen in der Musiktheorie ein-
nehmen. Wir werden später wahrnehmen, wie nicht nur die bereits
genannten Männer, sondern sämtliche hervorragende Musiktheoretiker
des 17. Jahrhunderts im Wesentlichen der Lehre des Zarlino folgen.
Es würde zu weit fuhren, auf den ganzen Lihalt der Institutionen
einzugehen. Jedoch wollen wir eins seiner Hauptverdienste, die Be-
gründung des neuen Tonsystems, wegen seiner Bedeutung für die
gesamte moderne Musik näher beleuchten. Da jene vier Theoretiker,
denen dieser Abschnitt gewidmet ist, bereits dieses neue System ihren
Betrachtungen zu Grunde legen, so werden wir vorher, ehe wir zu
jenen übergehen, im AnschluB an Ist. II zeigen, wie Zarlino die neue
diatonische Skala fand.
Bei den Alten gab es drei Geschlechter der Melodie, das diato-
nische, chromatische und enharmonische {Ist II cap. 9), Diese waren
durch die verschiedene Theilung eines Tetrachords bestimmt (Ist, II
cap, 16] . Jede der drei Arten wurde von den einzelnen Theoretikern
durch subtilere Theilungen des Tetrachords in mehrere Species ge-
theilt. Zarlino zählt in Ist, II cap. 16 die Ptolemäischen Arten des
diatonischen, chromatischen und enharmonischen Geschlechts auf.
Dem bisherigen Tonsystem lag das Genere diatonico-diatono zu Grunde,
dessen Tetrachord nach Ptolemaeus Harmonica l, I cap. 12 folgende
Verhältnisse zeigt:
6144 Hypate meson [e]
Tuono
6912 Lichanos hypaton (d)
Tuono
mß Par hypate hypaton [c]
Semituono minore
8192 Hypate hypaton [S]
Mit Zugrundelegung dieses Tetrachords ordnet Zarlino [Ist. II
cap, 28) den aus 1 6 claves bestehenden Tonumfang der Alten auf dem
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 47 J
Monochord an. Die Anordnung erweist sich aber als unvollkommen
{Ist. II cap, 31), Denn die hier auftretenden Intervalle der Terzen,
sowie ihrer Zusammensetzungen (Sexten) wurden von den Alten nicht
als Konsonanzen betrachtet.^
Die große Terz besteht hier aus der Addition zweier gleichen
(9 9 81\
__ _[_ ^ = J j die kleine Terz aus der Addition eines
r j TT lu* /9 , 256 2304 288 96\ „ „
Ganz- und Halbtons (_ + _ = .^-^ = _ = _) . Ihre Pro-
Portionen liegen nicht im Genere moltiplice oder superparticolarej
sondern im Genere superpartiente, sie überschreiten die Sechszahl, und
die große Terz ist aus zwei Intervallen gleicher Proportion zusammen-
gesetzt. Ebenso wie die Terzen sind auch die Sexten (Quarte + Terz)
nach der Theorie der Alten als Dissonanzen zu betrachten. Daher
verwirft Zarlino das Genere diatonico-diatono .
Auch die Eintheilung der Töne im Getiere diaionico-molle, diät,-
toniaco , diat.-equale ^ chromaticOy e?iharmonico und diaton,-diatono in~
»pessato dalle chorde Chromatiche e dalle Enharmomche widerspricht
dem Verstände und der Berechnung. Nur das Genere diatonico-sin-
iono giebt brauchbare Verhältnisse, da dieses Tetrachord nach der
Natur der harmonischen Zahlen getheilt ist:
36 Hypate meson
Sesquinona
40 Lichanos hypaton
Sesquiottava
45 Parhypate hypaton
Sesquiquintadecima
48 Hypate hypaton.
Um dies zu beweisen, theilt Zarlino die Intervalle innerhalb
einer Oktave harmonisch [ht, II cap. 39).^ Durch Theilung von
2 3
~ (Oktave) erhält er an unterer Stelle — Quinte und an oberer
i Bei den Alten mußten die Konsonanzen drei Bedingungen genügen: 1) Ihre
Proportionen müssen im Genere moltiplice oder superparticolare liegen; 2) sie dür^
fen den Senarius nicht überschreiten, und 3) darf eine Konsonanz nicht aus 2 ein-
fachen Intervallen von gleicher Proportion zusamengesetzt sein (Ist, II cap. $1).
2 Um die Oktave harmonisch zu theilen, sucht man erst ihre arithmetische
Proportionalität {IH. I cap. 36 u. 39). Man verdoppelt zunfichst die Begriffe ihrer
Proportion 2 und 1 ss 4 und 2, man addirt beide =» 6. Diese Zahl zerlegt man
in 2 gleiche Theile und findet so 3. Man hat nun 4, 3 und 2, in welchen Zahlen
4 3
die arithmetische Proportionalität enthalten ist, -- und k-* Um nun eine harmo-
472 Hennann Ctehnnann,
^ 1
Stelle - (Quarte). Durch dasselbe Verfahren gewinnt er aus - die
5 6 5 9 10
— (gr. Terz) und — (kl. Terz), aus — den ~ (gr. Ganzton) und —
4 5 16
(kl. Ganzton). Die Differenz zwischen - und — ist — (gr. Halb-
6 5
ton), und subtrahirt man - von -, so erhält man den kleinen Halb-
o 4
25 .
ton -—. Die harmonisch getheilte Oktave weist demnach folgende
24
Verhältnisse auf: c^ rf, q e^ f^ g^ a^ h^ c.
Diese Kationen stimmen genau mit jenen des Tetrachordo dia-
tofitco-sintono iiberein. Die Terzverhältnisse liegen nicht mehr im
Genere superpartiente , sondern superparticolare , sie überschreiten
nicht den Senartus und werden nicht von zwei gleichen Proportionen
gebildet. Diese Terzen, wie auch ihre Zusammensetzungen (die Sex-
ten) sind nun wirklich als Konsonanzen zu betrachten. Die Ein-
theilung der Töne in diesem Geschlecht geschieht folgendermaBen
auf dem Monochord [Ist, II cap, 40, s. Tabelle S. 470) :
Wir zerlegen zunächst die Saite AB in ^ gleiche Theile und
AB 9
finden so -^-^ == ^ = ^- Ganzton; wir fügen diesem Ganzton das
Tetrachord Hypaton zu, indem wir CB in 4 gleiche Theile zerlegen
CB 4
und so D finden j^ß = — = Tetrach. Hypaton. In diesem Tetra-
chord tragen wir den kleinen Ganzton in der Höhe ab. Wir zer-
legen zu diesem Zwecke D B in ^ gleiche Theile und fügen einen
dieser 9 Theile von Punkt D aus nach der Tiefe hinzu, wir finden
E, EB beträgt 10 und DB 9 gleiche Theile: -j-^ = — = klei-
ner Ganzton.
Es wird nun EB in % gleiche Theile zerlegt und über E in
der Richtung nach C ein solches Achtel hinzugefügt, wir erhalten
nische Theilung zu erzielen, multiplizirt man von jenen 3 Zahlen 4 und 2 mit 3
und 4 mit 2 und erhält so:
12 8 6.
Man hat nun das Verhältniß der Quinte an unterer Stelle und das der Quarte an
oberer, nämlich:
12 , 8 3 j 4
— und — = TT- und — .
8 ü 2 3
In derselben Weise werden auch die Verhältnisse der Terzen und Töne gefunden.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. ' 473
, FB 9
F: -ttd = F ""^ S^- Granzton. Zwischen CB und FB liegt der Halbton
5
des Tetrachords , denn wenn wir zu einem Ditonus — den großen
♦ 4
16 . .4
Halbton — hinzufügen, so erhalten wir -• das Verhältniß der Quarte,
der beiden äußeren Töne des Tetrachords. Hiermit ist die Auf-
stellung des ersten Tetrachords beendigt ; wir ordnen nun das Tetra-
chord Meson an, indem wir DB m 4 gleiche Theile zerlegen.
7) Ä 4
jr^ = ö • Zwischen D und G liegt also das Tetrachord-Meson.
In derselben Weise wie vorhin werden innerhalb dieses Tetrachords
die einzelnen Töne abgetragen : zuerst der kl. Ganzton = =
— , dann der gr. Ganzton = -- und der Halbton -f^ = — .
" JdLJtß 8 J Jj 1 5
Durch das gleiche Verfahren finden wir die Töne des Tetrachords
Diezeugmenon in KB^ NB, MB und LB\ des Tetrach. Hyperbol.
mLB, QB, PB und OB und des Tetr. Synemmenon in G B , SB,
NB und RB,
In dieser Eintheilung sind aber nicht nur 16, sondern 17 Töne
enthalten; nicht nur haben wir den kleinen Halbton zwischen SB
81
und KBy sondern auch das Komma -— . Dieses Intervall entsteht,
80
wenn man in der Mese (a) das Tetr. Synemmenon mit dem Tetr. Meson
zusammenfugt. Es zerlegt der höchste Ton {Nete) des Tetr. Synemm.
das mittlere Intervall des Tetr. Diezeugm. in 2 Theile, nämlich in
A7 D R B
einen kleinen Ganzton und in ein Komma -^-0 . Oder mit
anderen Worten : Die reine Oberquart der Mese a ist nicht die Pa-
ranete diezeugmenon (d), sondern die um ein Komma tiefere Nete
synemmenon (dj . Diese Differenz suchte Zarlino durch eine Temperatur
auszugleichen, welche in der Vertheilung des Komma auf die 7 Töne
der Oktave besteht. Das von Zarlino gefundene diaton-syntonische
System, dem er noch chromatische und enharmonische Töne zumischte,
verdrängte jenes bis dahin gebräuchliche dia ton- diatonische System
völlig und bewahrte die Herrschaft bis auf unsere Zeit.
Kehren wir nach diesem Exkurse zu unserer Aufgabe zurück, so
wenden wir uns zunächst zu Calvisius. Seine Melopoiia stve melodiae
condendae ratio explicata a Setho Cahisio erschien 1592 in Schulpforta
und 1630 in zweiter von Grimm besorgter Auflage zusammen mit des
32*
474
Hermann Oehnnann,
Motiochordo Dia-
Diviso secondo la
de i veri numeri
trovato
Tetr.
Hypb
Nete hyperholeon
Paranete hyperholeon
hyperholeon
diezeugmetion
' Paranete diezeugm.
faraneie ny}
. I IVite hyperh
[ Nete diezeug
Tetr,
Diez.
<
Tetr,
Meson
Tetr.
Hypat.
Trite diezetigni.
Paroftiese
Mese
Lichanos meson
Parhypate mesofi
Hypate meson
Lichanos hypaton
Parhypate hypaton
Hypate hypaton
ProsUxinhanomenos
B
216
aa-
0
240
9'
P
270
f'
Q
28S
e-
L
320
d-
M
d-
R
360
c-
N
384
n
K
h-
S
432
a-
G
480
G-
H
540
F-
I
576
JE-
D
640
D-
E
720
C-
F
768
ti'
C
864
A-
A
tonico Sintono
fiatura e passiofie
hamionici, ri-
da Tolofneo.
324 Nete sytiefnmenon
360 Paranete synemtn,
405 Trite synemm,
432 Mese
Tär.
Synemm.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 475
Baryphonus' Flejaden in Magdeburg. Das ganze Werk ist ohne neue
Zuthaten aus Zarlino's Institutionen geschöpft. Während die gelehrte
Einleitung, in welcher die neue syntonische Skala beschrieben wird,
gleichsam als eine Zusammenfassung des zweiten Theils der Institu-
tionen erscheint, wird die Melopöie selbst aus dem dritten und vierten
Theile jenes Werks geschöpft.
Das aus 21 Kapiteln bestehende Werk zerfällt in einen zwar
nicht ausdrücklich angegebenen, aber aus dem Inhalt sich ergebenden
allgemeineren und spezielleren Theil. Das Hauptverdienst des Cal-
▼isius liegt nun darin, daß er die für Unterrichtszwecke unpraktische
Weitläufigkeit von Zarlino's Kontrapunkt vereinfachte, und so ge-
wissermaßen eine Schulausgabe der Zarlinoschen Lehre veranstaltete,
wobei die spekulativen Auseinandersetzungen Zarlino's bis auf das
kleinste Maß zurückgewichen sind, und alles sonstige, was für einen
Anfänger nicht wichtig ist, wie z. B. der Trugschluß, das Kompo-
nieren über ein selbsterfundenes Soggetto^ die subtilere Unter-
scheidung der Konsonanzen, wodurch bei den Modi die Verschieden-
heit nach ihrem Dur- oder Mollcharakter angedeutet wird, sowie die
Sonderung von Fuge und Imitation weggelassen ist.
In seiner Melopöie fasst Calvisius zunächst die Intervallfortschrei-
tangen, welche Zarlino für jeden Satz und für jede Art des Kontra-
punkts einzeln angiebt, so zusammen, daß er sie nur einmal und
zwar für alle Fälle brauchbar lehrt. Daher fängt er, nachdem in
cap, 1 über das Wort Melopoiia gehandelt wurde, seine eigentliche
Lehre in cap. 2 sogleich mit der Beschreibung der vier Stimmen
Tenor, Sopran, Baß und Alt an. Ebenso wie bei Zarlino ist nicht
der Baß die wichtigste Stimme, sondern der Tenor, welcher ))o6«er-
varUisstmus tnodi est eumque in certis clausulis et in loco proprio
ostendit. «
In den folgenden Kapiteln stellt er wie Zarlino die Kon- und
Dissonanzen mit ihren Proportionen und der Anzahl ihrer Arten dar.
Aber hierbei ist eben neu, daß er zugleich mit den einfachen auch
die zusammengesetzten Intervalle darstellt. Nach einem allgemeinen
Kapitel über Gesangsstücke und Tempus lehrt er von cap. IX an
die Fortschreitungen der Intervalle. In klarer übersichtlicher Weise
ordnet er sie unter gemeinsame Gesichtspunkte; kurze präcise Regeln
giebt er, wodurch es dem Schüler leicht wird zu wissen, welche Fort-
schreitungen erlaubt, welche verboten sind. Die Kapitel, welche die
Fortschreitungen der Dissonanzen behandeln, tragen als XJberschrift
die beiden Hauptfiguren , in welchen die Dissonanzen angewendet
werden, nämlich : IJe Celentate und De Syncope, Im nächsten Kapitel
zählt Calvisius die Schlüsse für den zwei- bis vierstimmigen Satz auf.
476 Hennann Gehrmann,
Bei der Anordnung der Modi folgt er der schon von Zarlino gegebenen
Reihenfolge von Jonisch- Aolisch. Interessant ist es^ wenn Calvisius
diese Eintheilung damit unter anderem rechtfertigt, daß die Orgeln
und Clavichorde von o C in gravibtcs^ anfangen. In einem allge-
meinen Kapitel über die Fugen verwirft er, wie schon angedeutet,
ebenfalls Zarlino^s Unterscheidung zwischen Fuge und Imitation, »cum
haec distinctio subtilis videatur et stvdia incipienttum impedire possit*
und will beides Fugen genannt wissen. Mit cap. 17 beginnt ein
speciellerer Theil. Es wird gezeigt, wie ein Anfänger überhaupt
beim Komponieren zu Werke gehen soll. Strenger als Zarlino hält
Calvisius darauf, daß der Schüler nicht einen selbsterfundenen Tenor,
sondern einen bereits vorhandenen als Subjektum nimmt. Die Aus-
führungen über den Text, sowie die besondere Abhandlung über die
Ftiga ligata bieten Zarlino gegenüber nichts Neues; namentlich das
Kapitel über Harmonia gemina sive tergemitia (doppelter oder drei-
facher Kontrapunkt] darf als eine dem Sinne nach genaue Über-
setzung aus Zarlino's Institutionen gelten, woher auch die meisten
Beispiele stammen. Ebenso, wie Zarlino's eigentliche Kompositions-
lehre hört sein Buch mit der Harmonia üla extemporanea ^ quam
avTOöy^edutaTiyJiv dicere possumus auf, wo über oder unter einem
Soggetto eine zweistimmige Fuge, unter Umständen ex tempore^ ge-
sungen wird. Hierzu giebt er 21 verschiedene nicht aus den In-
stitutionen genommene Beispiele und schließt damit sein Werk ab.
Steht Calvisius noch ganz auf dem Standpunkt des Zarlino, und
liegt seiner Lehre noch der Kontrapunkt zu Grunde, so finden irir
bei Lippius, dem nächsten hier zu besprechenden Theoretiker, bereits
eine Änderung dieser Auffassung. Diese Wandlung hängt mit jener
zusammen, welche die musikalische Kunstthätigkeit genommen hatte.
In Zarlino's Institutionen war die Lehre von der Mensuralmusik,
wie sie sich bis in das 16. Jahrh. hinein entwickelt hatte, in um-
fassendster Weise abgeschlossen. Seine Lehre vom Kontrapunkt ist
neben manchem Neuen schließlich doch nur der prägnante Ausdruck
einer Lehre von der figurirten kirchlichen Chormusik. In dieser
kam die Gesamtempfindung einer Volksmenge zum Ausdruck, die
einzelne Person tritt hier ganz zurück. Als aber durch die Refor-
mation die Individualität höhere Rechte zu gewinnen begann, genügte
die bisherige Mensuralmusik nicht mehr; das Streben nach indivi-
duellerem Ausdruck im Gesänge zeitigt die Monodie, oder den EinMl-
gesang mit harmonischer Begleitung. An die Namen eines Viadana,
der diese Art zuerst in der Kirche pflegte, sowie eines Vincenio
Galilei, Caccini, Emilio del CavaUere und Peri knüpfen sich die
ersten Anfänge der Monodie, welche besonders auch in der weltlichen
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 477
Musik eine kunstmäßige Behandlung erfuhr. Mit der Ausbildung
des Sologesanges aber wandte man auch an die Begleitung allmählich
eine größere Sorgfalt. Man begann daher die Regeln der Begleitung
aufzuschreiben und ihnen ein eigenes Studium zu widmen, wodurch
die Kenntniß der Harmonie an sich erweitert wurde. Dieses führte zu
der Lehre vom Generalbaß.
Zu gleicher Zeit aber machte die Verbesserung der Tasten-
instrumente, Orgel und Clavichord, große Fortschritte, und das Solo-
spiel auf denselben wurde bald eifrig geübt. Diese Erscheinungen
blieben nicht ohne Einfluß auf die Musiktheorie. Besonders die
große Beliebtheit der Tasteninstrumente mochte die Ursache werden,
daß man insofern den Kompositionsunterricht vom Clavichord aus
begann, als man zuerst den Schüler Generalbaßübungen machen ließ.
Bei Joh. Lippius tritt zum ersten Male diese neuere harmonische
Auffassung uns entgegen. Seine Synopsis musica erschien zuerst im
Jahre 1612 zu Straßburg, die 2. Auflage, welche auch Walther be-
nutzte, kam 1614 zu Erfurt heraus, und zwar als 1. Theil einer
Phüosophia synoptica.
Lippius analysirte zum ersten Male, wie er in seiner biographischen
Einleitung erzählt, harmonisch die mehrstimmigen Stücke eines Luca
Marenzio, Walliser und Anderer. Dadurch kam er zu neuen Ge-
sichtspunkten, denen zufolge er in seiner Musiklehre das Haupt-
gewicht auf den harmonischen Zusammenklang der Töne legt, nicht
auf die melodische Führung der Stimmen gegen einander. Nach
ihm behandelt die Musik einerseits die principia cantilenae harmo'
niae, andererseits die species jener cantilena. Die Principien, durch
welche ein Gesang erkannt wird, findet man in der Metaphysik,
Physik, Greometrie und Arithmetik. Besonders genau beschreibt er
hierbei die Zahlenverhältnisse.
Die Principien aber, wodurch eine Kantilene entsteht, sind
1 externa, nänüich Fints (Streben des Mikrokosmos nach Tugend),
Efßciens (Gott, die Natur und die Kunst des musikalischen Menschen) ,
2) interna^ und zwar Materia (die Theile, aus welchen ein Gesang
gebildet wird) und Forma (welche in der kunstreichen, dem Text
entsprechenden Disposition der Theile der Materie besteht). Auf
Materie und Form läßt sich Lippius im weiteren Verlaufe seines
Buches näher ein.
Die Materie ist entweder einfach [Monas musica)^ oder zusammen-
gesetzt {Dyas und Trias musica). Nach Schilderung der Monas
(Noten, Takt etc.) und Dyas musica (Beschreibung der Kon- und
Dissonanzen) kommt er zur Trias harmonica^ welche ytnon quidem
ratione Extremarum, sed tantum ratione Mediae per Semitonium minus
478 Hermann Gehrmann,
mutataeu. doppelt sei, nämlich naturalior, perfectior oder molUor ei
imperfectior. Nach Zarlino weist er diese Verschiedenheit auf
die harmonische oder arithmetische Theilung der Quinte und da-
durch bedingte Stellung der großen Terz zurück. Es folgt die Ab-
handlung über die Jbrma, welche in der Composttio besteht. Diese
ist entweder pura oder oriiata. In der ersteren läßt er sich weit-
läufig über die vier Stimmen aus und erwähnt hier zum ersten Male den
Yortheily auf Grund eines Basses die übrigen Stimmen zugleich zu
komponiren. Seine eigenen Worte lauten : Colligitur ex hü campen-
diosissimum esse rb fiekoTtotslv sincere discentij st primo Melodia ftin-
damentalis, quae est Bassus in Systemate coniuncto ipsi proponakar
statutis punctis contra puncta in loca partium radicalitim Triadis
harmonicae , Ut huic Melodiae fundamentali deinde assignet Mehdiam
principalem seu regalem Teuerem , tum superiores Altum, denique Dis-
cantum superaddat ittxta modo praecepta et percepta pure componendi
momenta.di
Wichtig ist noch seine Eintheilung der Modi, die viel mehr wie
bei Zarlino auf unser Dur und Moll hinweist. Er kennt zwei Arten
von Modi, die Erstere ist naturalior, weil in ihr die Trias naturalm
sich befindet, die Andere ist aus ähnlichem Grunde moUior. Zur
ersten Art gehören Jonisch, Lydisch, Mixolydisch, zur andern Dorisch,
Phrygisch und Äolisch. Mit einer durch den Text bedingten Unter-
scheidung der Kantilene in eine kirchliche und weltliche schließt
dieses bedeutende Werkchen. — Hier sehen wir bereits einen großen
Schritt vorwärts gethan. Ein ganz anderer Geist tritt uns ent-
gegen, als bei Zarlino. Neigt Zarlino dadurch, daß er nur aus der
Antike schöpft und ausschließlich diese als höheres Gesetz anerkennt,
entschieden zur älteren heidnischen Philosophie hinüber, so vertritt
Lippius den Standpunkt der neueren, und zwar speciell der chrisdichen
Philosophie. In Dei gloriam will Lippius die Musik geübt wissen, Jesus
wird dulcissimus karmonicorum coryphaeus, noster Mercurius, Apollo
et Orpheus genannt. Wie früher schon das dreitheilige Tempus mit
Beziehung auf die göttliche Trinität das i> perfekte a genannt wurde,
so sieht Lippius jetzt auch in Triade harmonica eine imago magm
Mysterii Divinae solum adorandae Unitrinitatis, Sowohl die Listitutionen
des Zarlino, wie auch diese Schrift des Lippius sind zwei gelehrte
Werke, welche für Unterrichtszwecke schlecht zu gebrauchen sind.
Zarlino's Buch enthält für den praktischen Unterricht zu viel, Lippius
Schrift zu wenig. Beide haben ein Medium nöthig : für Zarlino wurde
dies in Calvisius gefunden, für Lippius ist Crüger der Vermittler.
Doch ehe wir zu diesem übergehen, müssen wir noch Henricus Bary-
phonus erwähnen, dessen Hauptwerk, Plejades musicae, in erster Auf-
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 479
läge 1615 zu Halberstadt, und 1630 in zweiter von Grimm besorgter
Auflage zusammen mit des Calvisius' Melopoiia zu Magdeburg er-
schien. Bei Baryphonus kommt das Schwanken zwischen älterer und
neuerer Auffassung am deutlichsten zur Geltung. Dem neuen har-
monischen Princip kann er sich nicht verschlieBen, andererseits aber
wurzelt seine Natur tief in dem vokalen Princip. Diesem Dilemma
aus dem Wege zu gehen, legt er seinen Plejaden eine dem musi-
kalischen Wesen geradezu entgegengesetzte Anordnung nach der Sieben-
zahl zu Grunde. Die sieben Hauptabschnitte zerfallen in je sieben
Unterabtheilungen, die 6. Plejade in zweimal sieben. Doch gereicht
diese Eintheilung dem Werke nicht immer zum Vortheil. Hinsicht-
hch der logischen Folge ragt es an die bereits genannten Werke
nicht heran ; oft hat man das Gefühl, daß der Verfasser Mühe hatte,
immer sieben Abschnitte in jeder Plejade herauszubekommen. Da-
durch aber, daß er durch seine Siebeneintheilung gezwungen war,
die Begriffe allzusehr zu specialisiren, wird oft Unwesentliches gleich-
berechtigt neben Wesentlichem hingestellt, wodurch der Blick auf
das, worauf es eigentlich ankommt, getrübt wird. Leider scheint
dies bei Baryphonus selbst der Fall gewesen zu sein; denn als ein
Mangel muß man das Fehlen der Dissonanzfortschreitungen empfinden.
Statt in der 7. Plejade diese Fortschreitungen zu bringen und so die
natürliche Fortsetzung der vorhergehenden Plejaden zu bilden, fällt
er mit einem Male aus der praktischen Darstellung in die gelehrte
zurück und bringt eine allbekannte Anordnung der sieben Konso-
nanzen auf das Monochord. So wurde die Siebenzahl, diese dem
Wesen der musikalischen Spekulation, welche auf die gerade Zahl
basirt ist, so entgegengesetzte Zahl, das Verhängniß für Baryphonus.
Wer weiß, ob nicht gerade jene Unübersichtlichkeit und jener gerügte
Fehler des Werks Schuld daran sind, daß trotz aller einflußreichen
Empfehlungen keine Besserung in den äußeren Lebensverhältnissen
des vom Schicksal nicht begünstigten Mannes eintrat.^)
Daß wir nun trotz der gerügten Mängel Baryphonus einen großen
Theoretiker nennen müssen, hat darin seinen Grund, daß die Ple-
jaden nicht nur eine seltene Fülle von Material bieten, sondern auch
eine selbständige Verarbeitung dieses Materials liefern, welche, wenn
auch in der äußern Form nicht ganz geglückt, doch berufen war,
neue Gesichtspunkte in die Lehrmethode hineinzubringen. Mit rich-
tigem Blick erkannte Baryphonus, daß in einer Kompositionslehre
die Behandlung der Kon- und Dissonanzen das Wichtigste sei. Alles
1 Näheres über sein Leben findet sich in der Vierteljahrsschrift für Musik-
vissensehaft 1890} 1. Heft: Zwei harzische Musiktheoretiker von Eduard Jacobs.
480 Hermann Gehrmann,
hierauf Bezügliche hat er gesammelt und verarbeitet und bot somit
in den Plejaden eine Intervallenlehre von noch nicht dagewesener
Gründlichkeit. Die drei ersten Plejaden sind den rein spekulativea
Betrachtungen gewidmet. Hier kommt er unter Anderem auf die
von Zarlino dem System zu Grunde gellte Scala syntona ausführlich
zu sprechen, femer auf die Zahlen Verhältnisse , die er, eine Folge
der Siebeneintheilung, genauer als Zarlino darstellt, und auf die Ver-
richtungen der Proportionen. Die zwei folgenden Plejaden beschreiben
die Natur der Kon- und Dissonanzen. Nicht nur werden hier die
Verhältnißarten und species derselben angegeben, sondern auch ihre
Bezeichnung durch die Solmisationssilben , die Möglichkeit der har-
monischen oder arithmetischen Theilung und eine Etymologie des
Namens. Die sechste Plejade handelt von den Affektionen der Kon-
sonanzen. Diese Affektionen sind entweder Syzygiae oder Progressiones,
Wie bei Lippius wird hier die Trias harmonica in dur und moü
unterschieden, und ebenfalls die Komposition auf Grund eines General-
basses empfohlen. Bei den Fortschreituugen der Konsonanzen wird
zum ersten Male das schon von Calvisius angeregte, aber noch nicht
zum Princip erhobene Verfahren konsequent durchgeführt, nämlich
die Verbindungen jeder einzelnen KonsoQanz so zu zeigen, daß man
mit der vollkommensten Konsonanz, der Oktave, beginnend, die Ver-
bindungen beschreibt, welche sie mit der Quinte, Quarte u. s. w.
eingehen kann, dann zur Quinte geht und deren Fortschreitungen zeigt
u. s. f. Diese für den praktischen Unterricht wichtige Neuerung bheb
für die spätere Darstellung der Intervallfortschreitungen maßgebend.
Wie schon gesagt, fehlen die Fortschreitungen der Dissonanzen;
mit der 7. Plejade, welche eine Eintheilung der Konsonanzen auf
dem Monochord enthält, schließt das Werk, dem als Anhang noch
mehrere unwesentliche Zahlentabellen folgen.
Weicht Baryphonus durch seine Eintheilung einer ausschlieBhch
melodischen oder ausschließlich harmonischen Auffassung der Lehre
noch aus, so vertritt Crüger entschieden den harmonischen Standpunkt.
Seine Synopsis mtcsica erschien zum ersten Male 1624 zu Berlin
und wurde später wiederholt aufgelegt. Hinsichtlich der klaren
Fassung verdient die Ausgabe von 1630, welche Walther kannte,^
den Vorrang. Auch unsere Ausführungen werden an der Hand dieser
Ausgabe gegeben. Als Quellen benutzte Crüger die Schriften eines
Lippius, Calvisius, Walliser, Praetorius und Sweelinck. Wiewohl
nun Crüger mit einer geradezu naiven Aufrichtigkeit besonders Cal-
visius und Lippius wörtlich abschreibt, so bietet er trotzdem in seiner
Synopsis ein selbständiges Werk, dessen Bedeutung darin liegt, daB
1 S. sein Lexikon.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 4§j
es das erste ünterrichtsbuch ist, welches auf harmonischer Grundlage
beruht. Dem Lippius war es hauptsächlich darum zu thun, die
höhere Bedeutung der Trias harmonica gegenüber der bisherigen
melodischen Anschauung geltend zu machen; eine praktische Lehre
deutet er nur in Umrissen an. Alle specielleren Regeln für Fort-
schreitungen der Intervalle, ferner genauere Aufschlüsse über Takt,
Kadenzen und Fugen fehlten hier. Crüger fügt nicht nur diese
Gegenstände in seine Synopsis ein, sondern handelt auch bei der
monadischen Musik über die Solmisation und die Elemente in der
Musik. Die große Bedeutung dieses kleinen Werks liegt also nicht
nur in der Verquickung und Verarbeitung der kontrapunktischen
Satzlehre eines Calvisius mit den harmonischen Gesetzen von Lippius,
sondern auch darin, daß das Werk durch Einfügung einer elemen-
taren Lehre den Werth einer ersten umfassenden Kompositionslehre
des 17. Jahrhunderts erhält.
In cap, 1 handelt er über die Principien der Musik, besonders
über die Materie; von cap. 2 beginnt die Schilderung der Monas
musica. In cap, 3 geht er genauer als Lippius auf die Namen der
Töne ein. welche er in Buchstaben und Solmisationssilben mittheilt.
In cap. 4 beschreibt er die Noten und Pausen. Cap, 5 handelt über
den Takt, cap. 6 über die einfachen Intervalle. In cap. 7. welches
die Dyas musica betrifft, werden die Kon- und Dissonanzen frei nach
Calvisius dargestellt. Mit der Trias harmonica^ deren beide Arten, dar
und moll^ er genauer, als Lippius noch in nativae nndßctiles scheidet,
schließt in cap. 8 die Darstellung der Materie. Schöpfte Crüger bisher
hauptsächlich aus Lippius' Synopsis, so tritt jetzt bei der Form des
harmonischen Gesanges, welche sich mit der Darstellung der Kom-
positionslehre im engeren Sinne beschäftigt, auch die Melopoiia des
Calvisius als Hauptquelle auf. Nach einem allgemeinen Kapitel,
worin, wie bei Lippius, das Wesen der Form, beschrieben wird, spricht
Crüger in cap. 10 vom Baß, Discant, Tenor und Alt, in cap. 11 von
den Modi, welche von Jonisch an aufgezählt werden. Wie bei Lip-
pius zerfallen diese einerseits in natürlichere und weichere, anderer-
seits auch in authentische und plagale, je nachdem man der Trias
harmonica oben oder unten eine Quarte hinzufügt. Doch mit diesen
Anschauungen des Lippius verknüpft er auch jene ältere des Calvi-
sius (resp. Zarlino) , wenn er aus dem Tenor den Modus erkennen
will, und wenn er den Satz wiederholt, daß gegenüber einem authen-
tischen Tenor und Discant, Baß und Alt plagal sein müssen oder
umgekehrt. Von jedem Modus wird dann die für die authentische und
plagale Lage gemeinsame Tria^ harmonica angegeben, und zwar im
regulären und transponirten System ; eine äußerliche Neuerung ist die
4S2 Hermann OehnnanD,
Anwendung von runden Noten, welche in manchen Beispielen hier
schon auftreten. Cap. 12. De coniungendis et ita disponendts Melodik^
ut exinde prodeat et enascatur Melo9 harmonicum lehrt wörtlich nach
Lippius, daß fiir den Anfänger der beste W^ sei, bei der Kompo-
sition eines Stückes zuerst den Baß zu setzen und diesem dann die
Trias hartnonica hinzuzufügen. Hierzu giebt er Fortschreitungsregeln
der Konsonanzen, die zum großen Theil wörtlich aus Calyisius ge-
schöpft sind. In den folgenden Kapiteln beschreibt er genau nach
Calyisius den Gebrauch der Dissonanzen und Kadenzen. Für die
Letzteren bringt er funfstimmige und für jeden Modus vierstimmige
Beispiele aus einer als Kompositionsregeln Sweelincks bezeichneten
Handschrift. Etwas knapp und nicht so eingehend wie Calvisius
behandelt er die Fuge. Während der Text fast wörtlich dem 15. Ka-
pitel der Melopöie des Calvisius entlehnt ist, sind die Beipiele über
die Choräle : »Wenn wir in höchsten Nöthen sein« und »O Mensch,
bewein dein Sünde große wieder aus jener Sweelinckschen Lehre.
Mit einer aus Praetorius' Syntagma mtisicum zusammengestellten Auf-
zählung aller gebräuchlichen Arten von Cantione^, sowohl mit als
ohne Text (Instrumentalformen) schließt das Werk. Werfen wir aut
dasselbe einen letzten Blick, so sehen wir im Vergleich zu den frü-
her geschilderten Theorielehren manche Veränderungen. Zunächst
empfinden wir das Fehlen jeder mathematischen Spekulation, außer
bei dem Takt, als einen Vortheil. Auch sonst fehlt jede tiefere
Spekulation. Sahen wir bei Calvisius bereits ein Zurückweichen der
Zarlinoschen Philosopheme, so verzichtet hier Crüger auf die Grübe-
leien eines Lippius und zieht das, was nicht ganz zu umgehen ist,
wie z. B. die Principienfrage in der Musik, zusammen. Dagegen
bemerken wir eine direkte und indirekte instrumentale Beeinflussung.
Als indirektes Moment begrüßen wir das der Methode schon voa
Lippius zu Grunde gelegte harmonische Prinzip. Aber auch die
direkte Rücksichtnahme äußert sich bei Crüger schon in vielen klei-
nen Zügen. Bei ihm fangen die Töne nicht vom tiefsten A mehr
an, sondern vom großen (7, welches auf den Tasteninstrumenten der
tie&te Ton ist ; cw, dis^ fis und gis werden als besonders in der In-
strumentalmusik vorkommende fictile Töne erwähnt, ferner weist die
Abbildung der Tabulaturzeichen , sowie die Aufzählung aller mög-
lichen Instrumentalformen nach Praetorius auf ein Eindringen des
Instrumentalen in die Lehre hin. Wie aber jede große Erscheinung
in ein Extrem fällt, so geschieht das auch hier. Zwar sind die Ke-
geln für die Intervallfortschreitungen im wesentlichen dieselben ge-
blieben, wie bei Calvisius, aber die dem Wesen des Kontrapunkts
so eigen thümlichen Formen sind zurückgewichen: der doppelte
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 4g3
Kontrapunkt fehlt ganz, und auch die Fuge wird nicht mehr ausfuhrlich
behandelt, sondern nur in ihren wesentlichsten Punkten knapp zu-
sammengefaßt; die schweren fünf- und sechsstimmigen Beispiele der
Sweelinckschen Lehre, welche Crüger gleichsam als Ersatz für den
kaum genügenden Text folgen läßt, mögen für den Schüler ein
schöner Trost gewesen sein. Doch thut dies der Bedeutung des
Werks keinen großen Abbruch. Die Hauptsache war ja eben, daß
Ton jetzt an der strenge Satz von einem harmonischen Princip aus
gelehrt werden konnte. — Die wesentlichsten Wandlungen in der
äußeren Anordnung des Lehrstoffs finden hiermit insofern einen ge-
wissen Abschluß, als nun diese Methode die allgemein herrschende
wurde und durch Joh. Seb. Bach die höchste Weihe erhielt.
Li diesem Sinne lehren besonders Herbst, Printz, Weickmeister,
Niedt und unser Walther. Die nach dem Erscheinen von Crügers
Synopsis stattfindenden Erweiterungen im Lehrgange entspringen aus
der zunehmenden Entwicklung des Lehrmaterials selbst. Diese in-
nere Entwicklung wird ganz besonders durch die von jetzt an immer
größer werdende Rücksichtnahme auf die instrumentale Komposition
befordert. Crügers Synopsis wies uns schon auf die zwei Werke hin,
von denen die Rücksichtnahme auf die Instrumentalmusik haupt-
sächlich ausging. Sie sind das Syntagma musicum von Michael Prae-
torius und ein in deutscher Sprache verfaßtes , auf der Hamburger
Stadtbibliothek befindliches Manuskript. Für die instrumentalen Ein-
flüsse in einer streiken Satzlehre kommt nur dieses letztere Werk
in Frage. Wir gehen daher auf dasselbe etwas näher ein.
2.
Die Kompositionsregeln Sweelincks.
Das Hamburger Manuskript enthält in einem ersten Theile die
Sweelinckschen Kompositionsregeln, im zweiten Theile eine Lehre
vom doppelten Kontrapunkt, wozu die Beispiele fast sämtlich im
instrumentalen Toccatenstil verfaßt sind. Gerade das Vorherrschen
dieses Toccatenstils im zweiten Theile ist charakteristisch für eine
erste bedeutende Beeinflussung der Lehre durch die Instrumental-
musik. Von dieser Bedeutung des Manuskripts konnte Crüger keinen
vollen Begriff haben, denn den zweiten Theil des Manuskripts kannte
er nicht, seine Abfassung fällt aus weiter unten gezeigten Grün-
den später, als jene von Crügers Synopsis,
484 Hermann Gehrmann,
In dem ersten Theile des Manuskripts aber, aus welchem Crüger
schöpfte, tritt dieser eigentliche instrumentale Stil noch so gut wie
gar nicht auf.
Das fast unbekannt^ gebliebene, aus 372 quartförmigen Seiten
bestehende Manuskript, welches auf dem Lederrücken des starken
braunen Einbandes in goldenen Buchstaben die Inschrift trägt:
»P. Sweelii^cks Kompositionsregeln«, zerfällt, wie schon gesagt in
einen Haupttheil, der Seite 1 — 275 (incl.) umfaßt und die Kompo-
sitionsregeln der Sweelinckschen Periode beschreibt, und in einen
kleineren Theil, welcher die Lehre vom doppelten Kontrapunkt in
einer neuen Weise behandelt und von Seite 2 SO — 351 reicht.
Bis hierher erstreckt sich das schön und deutlich geschriebene Werk,
welches von einer ausgeschriebenen Hand zu Papier gebracht ist und
zwischen den Schriftzügen des 1. und denen des 2.Theils keinen Unter-
schied aufweist. Wiewohl damit der Vermuthung Baum gegeben wird,
daß das Ganze auf einmal, zu einer und derselben Zeit, nieder-
geschrieben wurde, so steht dieser Annahme doch der sehr verschie-
dene Inhalt beider Theile im Wege. Denn die im zweiten Theile
niedergelegte neue Eintheilung und Behandlung des doppelten
Kontrapunkts muß einer späteren Periode zugewiesen werden, als
die Behandlung desselben Gegenstandes im ersten Theile. In wiefern
aber diese neue Behandlung des doppelten Kontrapunkts einer spä-
teren Periode angehört, als jene ältere Zarlinosche Darstellung des-
selben, wird bei Walthers doppeltem Kontrapunkt gezeigt werden.
Daß nun aber die Schriftzüge des Manuskripts in den beiden zeit-
lich ungefähr zehn bis zwanzig Jahre auseinanderliegenden Theilen
keine Verschiedenheit aufweisen, mag darin eine Erklärung finden,
daß die Schrift von einer ausgereiften, festen, männlichen Hand her-
rührt, die höchstens im Greisenalter des Schreibers etwas von ihrer
Festigkeit wird verloren haben, aber im Mannesalter desselben einer
Veränderung nicht unterworfen war. Ein Zeitraum von zehn bis
zwanzig Jahren wird keinen Einfluß auf die Züge einer ausgeschrie-
benen Hand ausüben, und somit hindert auch die gleiche Schrift
beider Theile nicht, die Abfassung des ersten Theils einige Decen-
nien früher zu setzen, als jene des zweiten Theils.
Daß der Inhalt des zweiten Theils aber etwas Neues war, kann
auch äußerlich daraus gefolgert werden, daß der junge Adam Reincken
* Rob. Eitner: Monatshefte für Musikgeschichte III. Jahrg., theilt aus dem
Manuskripte sämtliche Beispiele über die Modi mit. Im zweiten Theile der Ab-
handlung von Max Seiffert : J. P. Sweelinck und seine direkten deutschen Schüler
wird von ihm gehandelt; s. Vierteljahrschr. für Musik wissensch. J891. S. 178 ff.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 485
auf den leergebliebenen letzten Seiten des Buches sich sofort einen
übersichtlicheren Auszug von dem unmittelbar vorhergehenden zweiten
Theile macht. Dieser Auszug, der mit ganz wenigen Ausnahmen nur
Text und Beispiele aus dem zweiten Theile bringt, umfaßt die Sei-
ten 354 bis 371 (incl.) und schließt somit das Buch. Daß er von
Reinckens Hand stammt, ergiebt sich abgesehen von der Überschrift
aus einem Vergleich mit einer späteren beglaubigten Handschrift
Reinckens vom Jahre 1670. Der Unterschied ist aber der, daß die
Schrift des Auszugs im Vergleiche zu der ausgeschriebenen Hand
von 1670 noch einen unentwickelten Charakter trägt und daher
von Heincken geschrieben sein muß, als er noch jung war. Der
Auszug mag .demnach, da Reincken 1623 geboren war, wohl um
1645 niedergeschrieben sein. Für die Abfassung des vorhergehen-
den zweiten Theils nehmen wir 1640 als runde Zahl an, während der
erste Theil zwischen 1622 — 1623 verfaßt sein muß. Denn diesen
kannte Crüger bereits vollständig, als er die Synopsis 1624 heraus-
gab. Daß der erste Theil nicht vor 1622 geschrieben ist, geht aus
der Überschrift desselben hervor, wo von Sweelinck als dem »ge-
wesenen Organisten zu Ambsterdamv gesprochen wird. Also nach Swee-
lincks Tode, der am 16. Oktober 1621 erfolgte, wurde dieses Manuskript
verfaßt. Daß Crüger aus dem ersten Theile schöpfte und nicht etwa
der Hamburger Schreiber dieses Buches aus Crügers Synopsis^ dafür
möge schon der eine Hinweis genügen', daß Crüger mit Vorliebe
solche Beispiele von dort in seine Synopsis herübemahm, die aus-
drücklich als solche von Sweelinck oder Dr. Bull verfaßte bezeich-
net waren, oder die sich wenigstens in keiner andern Lehre wieder-
fanden.
Wer nun der Verfasser des Manuskripts ist, läßt sich leider
nicht bestimmen; daß dasselbe in Hamburg sich befindet, läßt auf
einen Hamburger Schüler Sweelincks als Verfasser schließen. Ob
dieser aber in Heinrich Scheidemann oder Jakob Praetorius, die hier
zunächst in Frage kämen, zu sehen ist, oder ob schließlich doch
ein Anderer der Schreiber war, läßt sich nicht eher entscheiden,
ak bis beglaubigte Manuskripte dieser Männer mit unserem vorlie-
genden Werke verglichen sind. Daß das Manuskript schon früher
in Reinckens Besitz gelangt ist, darf man wohl daraus schließen, daß
der bestimmt in seiner Jugendzeit verfertigte Auszug die letzten
leeren Seiten des Buches fällt, und Reincken mit seiner jugend-
lichen Hand auch in dem Text des zweiten Theils bei einigen Bei-
spielen noch besonders erklärende Worte hinzuschrieb. Das würde
er doch bei einem so werthvollen Exemplar nicht gethan haben,
.wenn es in fremdem Besitz gewesen wäre. Da er aber speciell Scheide-
4^5 Hennann Oehrmann,
inanns Schüler war und ilim später im Organistenamte dei St.
Catharinenkirche zu Hamburg folgte, so mag vermuthet werden, dafi
dieses Exemplar sich erst in Scheidemanns Händen befand und vou
diesem in Keinckens Besitz gelangte, und zwar schon zu Lebzeiten
Scheidemanns. ^ Der erste Theil des Manuskripts ist durchaus keine
selbständige Verarbeitung des 3. Theils der Harmonischen Institutio-
nen des Zarlino, in der Art, wie z. B. Calvisius sie bot, sondern nur
eine Aufhäufung von Material, in welcher eine getreue Wieder-
gabe des Zarlinoschen Kontrapunkts und die Lehren einer neue-
ren Anschauung unvermittelt neben einander gefunden werden.
Dabei ist die Eintheilung verworren, und oft wird zwei ja drei
Mal dasselbe wiederholt. Nur in groben Umrissen läßt sich die
Eintheilung erkennen. Der erste und Haupttheil des Werkes
behandelt nach der Überschrift auf Seite 1 die Kompositionsregeln
Sweelincks.
Sie zerfallen in drei Abschnitte: im 1. Abschnitt wird von den
Intervallen, schlechtem und gebrochenem Kontrapunkt, Kadenzen und
vier- und mehrstimmigem Satz gehandelt , im 2. Abschnitt von den
Modi, im 3. Abschnitt von den Formen des Kontrapunkts, also
Fuge und doppeltem Kontrapunkt, und zwar erst zweistimmig, daim
drei-, vier- und mehrstimmig. Auch hier wird also das Zarlinosche
Princip der Eintheilung in zwei-, drei und vierstimmigen Satz nicht
mehr streng befolgt. Besonders sehen wir dies bei den Intervall-
fortschreitungen : neben den Beispielen für den Duosatz werden immer
gleich drei- und mehrstimmige Beispiele gegeben. Der 1. Abschnitt
des ersten Theils reicht von Seite 2 bis 114. Von Seite 2 — 21 han-
delt der Schreiber in allgemeinerer Weise von den Intervallen, den
Fortschreitungen der Konsonanzen. Hauptsächlich folgt man hier den
ersten 38 Kapiteln von Zarlin. Ist, Uly und hat man das Bidnium
im Auge. Doch fällt als eine Neuerung auf, daß diejenigen Fort-
schreitungen, welche im zweistimmigen Satze zwar verboten, im
mehr als zweistimmigen aber erlaubt sind, jedesmal mit dem für das
Verbot gegebenen zweistimmigen Beispiele, welches dann im mehr-
stimmigen Satze gesetzt und dadurch zulässig wird, gezeigt werden.
Auf Seite 22 beginnt eine eingehendere Lehre vom i» schlechten«
Kontrapunkt (Ist. III cap. 40), Die in ihm geltenden Fortschreitun-
gen, welche schon vorher beschrieben waren, werden hier wieder-
holt und genauer nach Ist, III cap, 29/30 dargestellt. Ebenso genau
nach Ist. III cap. 42/43 folgt die Lehre vom »gebrochenenc Kontra-
^ Zu gleichen Ergebnissen gelangte Max Seiffert in der genannten Abhandlung.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 487
punkt. Das erste gröBere Beispiel auf Seite 44/45 stammt aus
Ist, III cap. 43.
Es folgen die Regeln über Wiederholung derselben Passage
[Ist III cap. 55), das Verbot der verdeckten Parallelen [Ist cap. 36),
die Beschreibung der Kadenzen [Ist cap, 53) und des Trugschlusses
[Ist cap, 54), In all diesen Dingen wird treu dem Zarlino in Text
und Beispiel gefolgt. Von Seite 60 an beginnen die Zarlino gegen-
über erweiterten Resolutionen der Dissonanzen. Zur Yergleichung
ißt hier für Seite 66 — 73 und 74 — 77 Ist III cap. 42 und 61 heranzu-
ziehen. Es folgen Seite 78 — 103 (Ist. cap, 59, 61, 65, 66) Regeln für den
Gebrauch der Semiminimen, ferner alle mögHchen Beispiele für den
dreistimmigen Satz, für mehr als zweistimmige Kadenzen nnd allge-
meine Vorbemerkungen nebst Beispielen zum vierstimmigen Satz.
Von Seite 104 an wird jene vierstimmige Akkordtabelle aus Ist III
cap. 58 in Noten ausgeführt, mitgetheilt. Mit fün&timmigen Kaden-
zen, die nicht aus Zarlinos Institutionen sind, aber von Crüger in
seine Synopsis hinübergenommen wurden, schließt der 1. Abschnitt
dieses Theils. Von Seite 115 — 176 reicht der 2. Abschnitt. Zunächst
wird eine Beschreibung der acht Kirchentöne gegeben. Nachdem sie
einzeln erklärt worden, folgen vierstimmige Beispiele,^ sowohl regu-
läre, wie transponirte, welche sich in Crügers Synopsis finden und
dort durch Beispiele für die hier fehlenden vier anderen Modi ver-
mehrt sind. Hierauf folgt von Seite 160 an »Unterrichtung von allen
zwölf Tönen«, die wie vorhin die Kirchentöne von D anfangen.
Was von den Kirchentöneü gesagt wurde, wird hier noch einmal
wiederholt und für alle 12 Modi je ein einstimmiges Beispiel ^ gege-
ben im regulären und transponirten System. Auf den Unterschied
der Anordnung der Modi weist der Schreiber auf Seite 176 hin, wenn
er sagt, daß der 5. Ton für den ersten und der erste für den dritten
genommen werde. Seite 177 — 275 umfaßt den 3. Abschnitt des
Haupttheils. Es werden verschiedene »Manierena von Fugen, die in
»ungebundene«, »gebundene« und Imitationen zerfallen, gezeigt. Hier
wird ganz genau in Text und Beispiel dem Zarlino gefolgt : Seite 177
bis 182, welche von Fugen handeln, entsprechen Ist. III cap. 51 ,
Seite 182 — 186 [Ist. III cap. 52) beschreiben die Imitation, und
Seite 187 — 197 [Ist. III cap. 56) werden die fünf Arten des doppel-
ten Kontrapunkts Zarlino's besprochen. Alles ist zweistimmig. Nach
mehreren anderen Beispielen von Kanons, die erst nur in einer
Stimme mit Trauspositionsschlüsseln , Pausen und den nöthigen
1 Mitgetheilt von R Eitner, Monatshefte für Musikgeschichte III.
2 Desgl.
1891. 33
453 Hermann Gehrmann,
Zeichen der Presa und Coronata hingeschrieben sind und nachher
ausgesetzt folgen, beginnt von Seite 209—216 der doppelte Kontra-
punkt zu drei Stimmen, der die vier Arten Zarlino's enthält (Ist, III
cap. 62,]*
Nicht wörtlich aus Zarlino, aber doch nach den in c. 63 ge-
gebenen Vorschriften ausgeführt sind die acht verschiedenen Ma-
nieren zweistimmiger Kanons über oder unter dem Choral: »Veni
Creator spiritus.ff Auch über den Choral: »O Mensch, bewein dein
Sünde groß« folgt in dieser Weise ein Kanon von »Sweling.« Alle
diese Beispiele werden erst zweistimmig hingeschrieben, nämlich
Choralstimme und die mit den nöthigen Zeichen für den Comes ver-
sehene Prinzipalstimme des Kanons, sodann vollständig zu drei
Stimmen ausgesetzt. Von Seite 246 — 261 folgen nun unendlich
viele Beispiele von Kanons zu zwei und drei Stimmen, die nicht über
einen Choral komponirt sind, von doppelten Fugen oder Kanons,
die aus den beiden Fugenstimmen und einer Mittelstimme bestehen,
femer Beispiele von ganz einfachen zweistimmigen Fugen in ver-
schiedenen Intervallabständen und schließlich kleine Exempel vom
doppelten Kontrapunkt zu zwei Stimmen. Diese ganze Beispiel-
sammlung stammt nicht aus Zarlino. Von Seite 262 folgen vier-
stimmige Kanons, darunter ein solcher von Willaert, der bereits in
Ist III c, 66 sich findet. Zum Schluß kommen noch zwei große
fünfstimmige Beispiele, von denen das letztere von Doktor Bull ver-
faßt ist. Beiden Beispielen liegt der Choral: »Wenn wir in höch-
sten Nöthen sein« zu Grunde. Bei dem ersten Beispiele liegt der
Choral in der Mittelstimme, die 2 höheren und die 2 tieferen
Stimmen bilden je dazu einen Kanon motu recto. Bei dem BuU-
schen Beispiele jedoch liegt der Choral in der Oberstimme und die
zweite und dritte Stimme von oben an gerechnet, sowie die vierte
und £unfte Stimme bilden dazu je einen Kanon in Gegenbewegfung.
Nach Aufzählung der Bezeichnungen: 1) Fuffa in Unisono^ 2) F, in
Epidiatessaron, 3) F. in Hypodiatessaron^ 4) F, in Epidiapente, h] F. in
SubdiapentCj 6) F. in Epidiapason^ 7) -F. in Subdiapason schliesst auf
Seite 275 der Haupttheil. Wurden hier nun die Sweelinck'schen
Kompositionsregeln geschildert, so beginnt nach mehreren leeren
Blättern wohl in einem vom Schreiber selbständig verfaßten Theile
die ausfuhrlichste Lehre über den modernen doppelten Kontrapunkt,
welche je im 17. Jahrhundert geschrieben wurde. Auch in diesem
Theile haben wir wieder den Eindruck des nicht verarbeiteten, nicht
gesichteten, sondern nur angehäuften Materials. Zunächst wird von
Seite 280 an der Kontrapunkt alla Ottava behandelt. Nach allge-
meinen Regeln über den hierbei zu beachtenden Gebrauch von Kon-
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 4S9
und Dissonanzen folgen unzählige Beispiele. Hierbei tritt die fast
ausschliessliclie Anwendung eines Toccatenstils als wichtiges Merkmal
hervor, auf die instrumentale Komposition wird somit das größte
Gewicht gelegt. Diese Beispiele, in welchen alle möglichen Kanons
(per augmenfationem ä 2j 3 u, 4 vor,, perpetuus] und doppelte Fu-
gen (in Terz, Quart und Quint) ausgeführt sind, reichen von
Seite 281 — 286. Auf Seite 287 wird die Lehre des doppelten
Kontrapunkts alla Ottava zwar von vorn wieder angefangen, aber
mit anderen Heispielen von doppelten Fugen und Kanons gezeigt.
Auf Seite 300 werden zum dritten Male die Regeln für den dop-
pelten Kontrapunkt in der Oktave mitgetheilt. Von Seite 305
beginnt der doppelte Kontrapunkt alla duodecima, der nament-
lich durch zweistimmige Beispiele erläutert wird. Auch hier finden
Wiederholungen der Regeln statt. Es folgt dann die Lehre vom
doppelten Kontrapunkt alla decima, der ebenfalls beschrieben und
durch zwei-, hauptsächlich aber durch drei- und vierstimmige Bei-
spiele anschaulich gemacht wird. Auch kurze Angaben mit Bei-
spielen über den drei- und vierfachen Kontrapunkt finden sich hier.
Auf Seite 333 kommt der Schreiber noch einmal, also zum vierten
Male, auf den doppelten Kontrapunkt alla Ottava zu sprechen und
bringt neue Beispiele für seinen Gebrauch herbei. Es folgen von
Seite 341 — 348 zwei sechsstimmige Synkopationen der Dissonanzen,
es wird ferner gelehrt, wie man aus zwei Stimmen drei oder mehrere
mache, und zum Schluß gezeigt, wie drei Fugen zugleich verkehrt
werden können. Hiermit schließt auf Seite 351 dieses Manuskript.
Nach zwei leeren Seiten beginnt nun der aus diesem letzten Theile
gemachte Auszug über den doppelten Kontrapunkt von Reincken.
Doch behandelt dieser nur den Kontrapunkt alla ottava und
duodecima, da das Papier des Buches nicht ausreichte. Wiewohl
Reincken in seinem Vorworte sagt, daß er den schon weiter vorn
gezeigten Kontrapunkt durch neue Beispiele erläutern wolle, so hält
er sein Wort doch schlecht, denn mit ganz wenigen Ausnahmen
sind alle Beispiele, wie auch der Text von vom entlehnt. Da hier
nichts Neues gesagt wird, so brauchen wir auf den Auszug nicht
weiter einzugehen.
Im Anschluß an dieses Buch verdient das bereits erwähnte
Manuskript Reinckens von 1670 Erwähnung. Hierin sind seine
Kompositionsregeln enthalten, welche aber nur die Regeln Sweelincks
in erweiterter Form wiedergeben. Das stattliche, grau eingebun-
dene Buch hat einen kleineren Umfang, als das vorige Manuskript.
Es zerfällt in zwei Theile, von welchen der erste selbständig von
Reincken verfaßt ist.
33*
490 Hermann Qehnnann,
Hier wird der Reihe nach von den Intervallen, Modi, Fugen,
Taktarten und Text gehandelt. Besonders bei den Intervallen folgt
er der Sweelinckschen Lehre im vorigen Manuskript Aber abge-
sehen davon, daß das verworren aufgehäufte Material Sweelincks
zusammengezogen und so übersichtlich gemacht ist, bekommt dieser
erste Traktat dadurch, daß neben die Sweelincksche auch immer
die neue Anschauung gesetzt wird, einen originalen Werth. Mehr
wie bei den IntervaUen wird bei den anderen Gegenständen auf den
Unterschied zwischen älterer und neuerer Auffassung hingewiesen.
So wird, um nur Einiges hervorzuheben, neben der regulären Trans-
position eine transpflsitio ficta bei den Modi gelehrt, bei den Fugen
nicht nur die ältere Form, welche den Modus nicht überschreiten
durfte, sondern auch die neue Quintenfuge gezeigt und schließlich
auch bei den Takten überwiegend auf den neuen Gebrauch die
Aufmerksamkeit gerichtet. In einem Schlußworte, daß der Yor-
stehende Traktat für denjenigen nützlich ist, der einen guten An-
fang zur Komposition begehrt zu machen, wird darauf hingewiesen,
daß die «Handgriffe der wahren Wissenschaft« zum Theil im folgenden
Traktat behandelt werden. Die zweite Abhandlung beginnt mit
einem längeren Vorwort, in welchem wir erfahren, daß im folgen-
den Traktat verschiedene Kompositionsarten gezeigt werden sollen,
wie sie Zarlino und Sweelinck lehrten. Es folgt nun in diesem
Theile eine ganz genaue Abschrift der Seiten 177 — 268 jenes ersten
Hamburger Manuskripts , welche ja von Fugen und doppeltem
Kontrapunkt handeln. In dieser Abschrift sind die Beispiele mit-
unter abgekürzt ; am Ende solcher Abkürzungen stehen gewisse Zei-
chen, welche sich an derselben Stelle des Beispiels auch in dem
ersten Manuskript finden. Diese Zeichen also sind ein Hinweis
darauf, daß die hier abgekürzten Beispiele vollständig in dem
älteren Manuskripte nachzusehen sind. Auch hinsichtlich des Textes
ist die ältere Handschrift ausfuhrlicher, als diese. Daß die Ab-
schrift etwas flüchtig gemacht wurde, geht daraus hervor, daß in
mehreren Beispielen Noten ausgelassen sind, welche man leicht aus
denselben Beispielen des älteren Manuskriptes ergänzen kann. Trotz
wiederholter Abkürzungen gelang es Reincken nicht, den vollstau-
digen letzten Abschnitt der Sweelinckschen Lehre in dieses Buch
zu bringen, und so fehlen denn lediglich aus Papiermangel die sie-
ben letzten Seiten (269 — 276) jenes letzten Abschnitts aus dem ersten
Theile des älteren Manuskripts. Dadurch aber, daß dieser 2. Theil
eine ganz genaue Kopie der Sweelinckschen Regeln enthält, geht
noch deutlicher, als aus dem ersten Traktat hervor, daß Reincken
völlig auf der Sweelinckschen Lehre fußt, wie sie in diesem älteren
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 49 1
Hamburger Manuskript vorlag. Dieses allein also bleibt für die Be-
urtheiluug der Sweelinckschen Lehre und der von ihm fortentwickel-
ten Kichtung maßgebend. Daß aber diese nordische Richtung bald
in Mitteldeutschland Eingang fand, bezeugt Spitta in seiner Bach-
biographie. Zunächst weist Spitta (Bach I Seite 192 — 194) nach,
daß Joh. Seb. Bach sich »neben einigen andern auch Reincken zum
Master genommen habe.« Dort ist zu lesen, wie Bach, als er
1700 — 1703 dem Chore der Michaelisschule zu Lüneburg angehörte,
mittelbar durch einen Schüler Reinckens, den Organisten der Jo-
hanniskirche, Georg Böhm, auf Reincken hingewiesen wurde, daß
er Reinckens persönliche Bekanntschaft wohl schon in den Ferien-
besuchen bei seinem Vetter Joh. Ernst Bach, dem Sohne des Arn-
Städter Joh. Christoph Bach, zu Hamburg gemacht haben könne;
daß schließlich die noch aufzubringenden Orgel- und Klavierstücke
Reinckens wahrscheinlich in gerader Linie aus Seb. Bachs Musikalien-
schranke stammen. Weiter erfahren wir durch Spitta (Bachl S.252],
daß Bach im Herbst 1705 zu Buxtehude, dem berühmten Lübecker
Organisten reiste, indessen Ausbildung zuverlässig in der Richtung
der Sweelinckschen Schule geschah.'r Als Walther und Bach 1708
in Weimar für längere Zeit zusammen trafen und nach Spitta (Bach
I S. 387) ein lebhafter Verkehr zwischen beiden Männern stattfand,
mag auch durch Bach Walthers Ansicht von dem Werthe der
nordischen Richtung verstärkt worden sein. Auch Christoph Bern-
hard, jener große Künstler, der bei Paul Siefert in Danzig, einem
Schüler Sweelincks ausgebildet war, und später lange in Hamburg
weilte, befolgt in der Lehre vom doppelten Kontrapunkt die aus
dem 2. Theile des Hamburger Manuskriptes stammende neue Ein-
theilung desselben. Schließlich scheinen Werckmeister und Walther
direkt mit dem Hamburger Manuskript bekannt gewesen zu sein.
Werckmeister schreibt in seiner Harmonolbgia von 1702 in § 186
also : Unter den besten Autores, die vom »gedoppelten« Kontrapunkt
geschrieben haben, habe er »im Teutschen nur das wenige gesehen,
was Herbst geschrieben , dann ein Manuskript so in Niederländischer
Sprache y und aus derselben ins Hochteutsche versetzet, welches
doch aus dem Zarlino mehrentheils genommen ist.« Diese Be-
schreibung paßt ganz auf das ältere Hamburger Manuskript. Sehr
wahrscheinlich ist es, daß durch Werckmeister Walther auf dieses
Manuskript hingewiesen wurde; daß dieser es genau gekannt haben
muß, geht aus den sehr vielen Beispielen hervor, welche Walther
aus dem zweiten Theile des Manuskripts entlehnt. Werfen wir noch
einen letzten Blick auf dieses Hamburger Manuskript, so drängt sich
unwillkürlich ein Vergleich mit der Melopoiia des Calvisius auf.
492 Kenmum Oehrmann,
Beide sind aus den Institutionen des Zarlino als Urquelle geschöpft.
Doch tritt in dem Äußeren beider Werke, wenn man so sagen darf,
die verschiedenartige Natur ihrer Verfasser entgegen: Sweelinck, der
große Orgelvirtuose, widmet offenbar seine Hauptthätigkeit diesem
Instrumente; er begnügt sich bei dem theoretischen Unterrichte da-
mit, einfach nach der Lehre des Zarlino so zu unterrichten, wie er
es selbst wohl von diesem erfahren hatte ^ und wie sie im Allge-
meinen im 3. Theile der Institutionen^ niedergelegt ist. Da die
Theorie nicht sein Hauptinteresse beanspruchen kann, so besteht
auch seine Lehre nicht in einer wissenschaftlichen Verarbeitung
Zarlino's, sondern in einer bloßen Übersetzung desselben mit zeitge-
mäßen Erweiterungen. Anders verhält es sich mit Calvisius. An
Stelle der zeitraubenden, ermüdenden Thätigkeit eines Virtuosen
und Orgellehrers führt er zur Zeit der Abfassung seiner Melopöia
als Kantor zu Schulpforta ein für die beschauliche Betrachtung der
Dinge geeigneteres Dasein. Daher ist ihm, der als Kantor sein
Hauptinteresse mehr auf die Vokalmusik gerichtet und somit für
Zarlino's Institutionen , die vollendetste vokale Satzlehre, von vorn-
herein eine besondere Neigung gehegt haben mag, ein tiefes Ein-
dringen in dieses Werk eher möglich, als jenem großen Organisten.
Zum Theil aus solchen Gründen mag es kommen, daß Calviaius'
Melopöia von einem dem Zarlino verwandten Geiste verfaßt zu sein
scheint, was gerade durch die fremde äußere Form noch bekräfkigt
wird, daß die Sweelinckschen Kompositionsregeln dagegen äußerlich
wohl eine getreuere Wiedergabe der Zarlino'schen Lehre bieten, aber
durch das allzufeste Kleben am todten Buchstaben Zarlino's nicht
nur eine selbstschöpferische Neubearbeitung, sondern damit zugleich
auch ein tieferes Erfassen des Zarlinoschen Geistes vermissen
lassen. Daher erklärt es sich denn wohl, daß selbst gegen Ende
des Jahrhunderts, wo ein lebhafter Verkehr mit der nordischen
Richtung und die Bekanntschaft mit jenem Manuskripte nachzu-
weisen ist, unsere mitteldeutschen Theoretiker mit richtigem Gefühl
für das Bessere, im strengen Satze, stets aus Calvisius und seiner
Kichtung schöpfen, dagegen aus der nordischen Quelle nur das
wirklich ^eue herübernehmen.
Darf somit dieses Manuskript hinsichtlich der Verarbeitung des
Stoffes nicht der Melopöia des Calvisius und der Synopsis von Crüger
an die Seite gesetzt werden, so besitzt dasselbe inhaltlich Bedeutung
genug, um ein näheres Eingehen auf dasselbe, wie es hier geschah,
zu rechtfertigen. Zum ersten Male wird in diesem Werke eine Ver-
quickung des Zarlinoschen und nordischen (englischen) Kontrapunkts
angestrebt. Das geht besonders im 1 . Theile aus der Nebeneinander-
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 493
Stellung Zarlinoscher und (so zu sagen) nordischer Beispiele hervor.
Während die Zarlinoschen Choralbearbeitungen und Fugen eine
größere Plastik und hinsichtlich ihrer Klarheit einen der griechischen
Blüthezeit verwandten Geist zeigen, tritt auch in den Beispielen,
die nicht nachweislich von Sweelinck oder Bull herrühren, eine
^öBere Betonung der technischen Fertigkeit und ein in geistreiche
Äußerlichkeiten zerfließender Charakter hervor , der echt nordisch
ist. Wie wir aber sahen, hat der 2. Theil jenes Manuskripts ganz
besonders historischen Werth. Noch einmal betonen wir, daß von
hier aus das Eindringen des Toccatenstils in die Kompositionslehre,
sowie der Unterricht des doppelten Kontrapunkts in neuer Form
seinen Ausgangspunkt nimmt. Wir gehen zum letzten Theile unserer
Vorbemerkungen über, der uns durch einen kurzen ÜberbUck über
das ganze Gebiet der von Walther als Quellen benutzten musika-
lischen Litteratur zu diesem selbst hinüberleiten wird.
3.
Gesamtüberblick über die von Walther benutzte
Litteratur.
Von den wenigen, unwesentlichen Citaten aus antiken und mo-
dernen, aber nicht musikalischen Werken sehen wir hier ab. Die
musikalischen Schriften theilen wir, je nachdem Walther von ihnen
Gebrauch machte, in Haupt- und Nebenquellen. Es läßt sich be-
obachten, daß Walther für die einzelnen Disciplinen hauptsächlich
jedes Mal nur aus wenigen Theoretikern schöpft und diese durch
eigene Zusätze oder solche aus anderen Schriftstellern, die für ähnliche
Disciplinen in Frage kommen, ergänzt. So sind beispielsweise für
die elementaren Theile seiner Lehre die Isagoge des Snegassius, Job.
Georg Ahles Schriften und Janowkas Clavis ad thesaurum die wich-
tigsten Quellen, welche durch Beiträge aus Gumpelzhaimers Com"
pendium musicum und Wallisers Musica figurcdis ergänzt werden.
Bei den Intervallfortschreitungen beherrscht namentlich Baryphonus
und Bernhard das Feld; für die Lehre vom vierstimmigen Satz kommt
vor allem Crügers Synopsis in Frage, während für Kanon und Fuge
Bononcinis Musico prattico als wichtigste Quelle erscheint, und der
doppelte Kontrapunkt aus zwei bedeutenden Schriften zusammen-
gemischt ist: aus Christoph Bernhards Lehre vom doppelten Kontra-
pimkt und jenem 2. Theile des Hamburger Manuskripts. Als Er-
gänzung zu diesen Schriften und als viel benutzte Quellen, die sich
durch das ganze Werk hinziehen, werden herangezogen die Schriften
494 Hermann Gehrmann,
eines Werckmeister, unter welchen wiederum dem Hodegua musicae
mathematicae der hervorragendste Platz eingeräumt wird; ihm folgt
Printz mit seinem Satyrischen Komponisten und der historischen
Singkunst, sodann Kircher mit der Musurgia^ Prätorius' Syntagma^
Andreas Herbstens Musica practica und ferner die besprochenen Werke
von Calvisius und Lippius.
Von ganz geringer Bedeutung für Walther sind jene Werke, die
ihm zufällig in die Hände gekommen sein mögen, oder die er nur citiert,
entweder um seine große Vertrautheit mit der sonstigen einschlägigen
Litteratur zu zeigen oder aus persönlicher Rücksichtnahme auf Kol-
legen. Unter solchen Werken sind zu nennen: Matthaeus Aquaviva
Dtsputationes de virtute mordli. Für die Abfassung erwähnt Walther,
der allein in seinem Lexikon darüber Auskunft giebt, kein Datum.
Als Todesjahr des Verfassers giebt er 1528 an. In den letzten
26 Kapiteln der 1. Disputation wird von musikalischen Materien ge-
handelt. Georg Beischius : Margarita phüosophica^ 1503 zu Freibuig
zuerst erschienen, spricht im 5. Buche de Musica speculativa et
practica. Caspar Schott: Organum mathematicum^ beschäftigt sich
im neunten Buche mit der Musik. In den zwei ersten Kapiteln
lehrt er, wie ein Unerfahrener aus ZifferntabeUen einen vierstimmigen
Kontrapunkt setzen lernen könne, die anderen Kapitel dieses Buches
enthalten eine Musurgia, welche ganz auf Kircher fußt. Das Werk
wurde nach seinem Tode vom Collegium Societatis Jesu zu Würzburg
1668 edirt. Folgende Werke waren uns nicht zugänglich: Abraham
Bartolus: Musica mcUhematica 1614, Joh. Christ. Stierlein: Trifolium
musicale consistens in Musica theorica, practica et poetica 1691 zu
Stuttgart.
Weiter sind noch als unwichtige Nebenquellen zu nennen: Com-
pendium Musices , tarn figurati quam plani cantus ab Auetore Latn-
padio Luneburgensi congestum 1537,* Heinrich Grimm: Melopoesis 1624,
Carissimi: Ars cantandi (deutsch übersetzt von einem »Musikfreund«)
zu Augsburg 1693, Georg Motz: Vertheidigte Barchen-Musik 1703,
Johann Kuhnau: Musikalischer Quacksalber 1700 zu Dresden, Jo-
hannes Beer: Bellum musicum 1701; Werckmeister : Musikalische
Temperatur 1691 zu Frankfurt und Leipzig, Cribrum musicum 1700
zu Quedlinburg und Leipzig, Hypomnemata musica 1697 zu Quedlin-
burg und Harmonologia 1702 zu Frankfurt und Leipzig, Principia Mu-
sicae von Joh. Peter Sperling 1 705 in Bautzen und Fr. Ehrhardt Niedts
Musikalischer Handleitung 2. Theil 1706. Von diesen Werken hat
allein das zuletzt genannte einen größeren Werth. Daß Walther das-
> Siehe den bereits erwähnten Aufsatz von Eduard Jacobs in der Vierteljahra-
schrift far Musikwissenschaft 1890, 1. Heft.
Johann Gottfried Walther ala Theoretiker. 495
selbe nur wenig benutzte, findet unter anderm darin seine Erklärung,
daB zur Zeit der Abfassimg von Walthers Schrift nur die beiden er-
sten Theile erschienen waren, der dritte Theil aber, der vom Kontra-
punkt handelt, viel später, erst 1717 herauskam. Die Bedeutung
dieses Werks, welches methodischer als Werckmeisters Harmonologia,
aus dem Generalbaß eine Kompositionslehre entwickelt, konnte nur
dann gewürdigt werden, wenn das Werk vollständig zur Einsicht
vorlag. Eine richtige Würdigung war unserm Walther 1708 daher
noch nicht möglich, und die geringe Berücksichtigung des damals
noch unvollständigen Buches ist begreiflich. Kommen diese Neben-
qnellen wegen ihrer geringfügigen Benutzung durch Walther für
uns hier nicht weiter in Frage, so müssen wir bei den Hauptquellen
ein wenig länger verweilen. Unter diesen befindet sich ein Theore-
tiker, dessen musikalische Aufsätze nur in Kopien zugänglich sind:
Christoph Bernhard, der berühmte Dresdener Kapellmeister. Von
dessen Aufsätzen befinden sich auf der Königl. Bibliothek zu Berlin
folgende Kopien:
1) Aufiführlicher Bericht
von dem Gebrauche
der
Consonam- und Dissonantien
Nebet einem Anhang von denen doppelten und Vierfachen
ContrapunctiSy
Autore
Christoph Bemhardi
tceyland gewesenen ChurfüreÜichen Sächsischen Capell Meister zu den
Zeiten Churfürsten Johann Georgii des Vierten zu Dresden.
Bestehet aus 29 Capitteln.
2) ' Tractatus Compositionis
augmentatus
Domini
Christophori Bemhardi
bestehet in XIII Capitteln,
*^) Resolutiones Tonorum Dissonantium
in
Consonantes
conscriptae
a
C. Bemhardi
4) Christoph Bernhard
mit Bleistift von modemer Hand darunter geschrieben: Generalbaß.
496 Hermann Gehnnann,
Die vierte Kopie zerfällt in zwei Theile, von denen der erste
lateinisch, der zweite deutsch von einer anderen Hand {geschrieben ist.
als die vorhergehenden Kopien. Der erste lateinisch geschriebene
Theil macht den Eindruck einer selbständigen Arbeit, die nicht von
Bernhard stammt. Mit Zugrundelegung des vierstimmigen Satzes wird
hier über die Komposition in allgemeiner Weise gehandelt. Der ano-
nyme Verfasser dieses Theils stützt sich auf Christ. Bernhard als größte
Autorität, doch werden auch Calvisius, Crüger, Herbst, Kircher, Printz,
Bononcini und Werckmeister oft herangezogen. Daraus aber, daS
hier Werckmeisters Hodegus citirt wird , geht hervor, daß dieses Ma-
nuskript erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts verfaßt sein kann.
Denn der Hodegus erschien 1687. In dem zweiten Theile folgt der
ausführliche Bericht Bernhard's von den Kon- und Dissonanzen,
welcher mit Ausnahme des letzten 29. Kapitels völlig mit der 1. Ko-
pie übereinstimmt. Während aber in der als Nr. 1 bezeichneten Kopie
das 29. Kapitel vom vierfachen Kontrapunkt handelt, wird hier im
29. Kapitel eine etwas zusammengezogene Abschrift des Traktats
von den Resolutionen der Dissonanzen in Konsonanzen gegeben ; doch
ist diese Abschrift nicht vollständig, sie reicht nur bis in das 5. Ka-
pitel jener aus 7 Kapiteln bestehenden 3. Kopie. Walther schöpfte
wesentlich aus der 1., 3. und 4. Kopie. Der Tractatus Composittonis
augmentatus, welcher von Intervallen, Modi und Fugen handelt, und
namentlich in seinem letzten Theile einen durch viele Auslassungen
fragmentarischen Charakter trägt, kommt für Walther nicht beson-
ders in Frage. Wann nun die drei Aufsätze Bernhards verfaßt sind,
läßt sich nicht genau bestimmen. Dürfen wir dem Inhalte nach die
Entstehungszeit der originalen Handschriften nur vermuthungsweise
in das Ende des 17. Jahrhunderts legen, so wissen wir von den Ko-
pien bestimmt, daß sie zu dieser Zeit geschrieben sind. Aus der
Überschrift des ersten Aufsatzes ergiebt sich, daß derselbe nach dem
Tode Bernhards, also nach 1692, abgefaßt ist. Daß aber von den
drei Werken Bernhards dieser ausführliche Bericht etc. die älteste
Arbeit ist, geht, abgesehen von inneren Erweiterungen der Lehre, aus
einem Vergleich der äußeren Anordnung der Intervallfortschreitun^en
in den 3 Kopien hervor. In der ersten Kopie ordnet Bernhard seiner
nordischen Schule folgend, ähnlich wie Sweelinck, die Fortschrei-
tungen der Konsonanzen so an, daß er zuerst die Fortschreitungen
der perfekten Konsonanzen zu einander darstellt, dann diejenigen
der imperfekten und schließlich solche von perfekten zu imperfekten
Konsonanzen. Die Dissonanzen jedoch stellt er in den einzelnen
Figuren dar, in welchen sie auftreten können, wie in der Superjectio,
Subsumptio^ Variatio etc. (siehe bei Walther selbst). Im zweiten Traktat,
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 497
deiYOD der Komposition überhaupt handelt, nicht nur wie der 1. Traktat
Ton einem Theile derselben, werden die Kon- und Dissonanzen zum
ersten Male von Bernhard in eine Lehre vom strengen Satz eingefügt.
Hier treten neue Gesichtspunkte auf: Wurden in dem vorher-
gehenden Traktat alle zu Bernhards Zeit üblichen Fortschreitungen
der Intervalle dargestellt, so wird hier das, was nur im alten Stil
gebräuchlich ist, von dem im neuen Stil Üblichen gesondert. Es
werden also in diesem Traktat zwei Stilarten geschieden: der alte
Stylus gravis umfaßt den Contrapunctus aeqtmlis und inaequalis. Zum
Contrapunctus aequalis gehörig stellt Bernhard die Konsonanzen dar
und zwar nach der Methode des Baryphonus. Hierauf werden zum
CofUrapuncius inaeqitalis diejenigen Figuren dargestellt, welche für
die Dissonanzen im alten Stil maßgebend sind. Nachdem so der
Stylus gravis abgethan, folgt der Stylus luxuria7is, der seinen Namen
von dem Beichthum an Dissonanzen hat. Hier kommt nur ein
Contrapunctus inaequalis oder ßoridus in Frage. Die hierher ge-
hörigen Figuren der Dissonanzen theilt er in solche, welche im Stylus
luxwrians communis und solche, welche im Stylus luxurians theatralis
auftreten. So sehen wir also hier durch eine Scheidung der Intervall-
fortschreitungen im alten und jener im neuen Stil bereits ein tieferes
Eindringen in das Wesen der Intervalle, als in dem ersten Traktat.
Aber die Darstellung der Dissonanzen in den einzelnen Figuren
mochte sich wohl bei dem Unterrichte nicht bewähren; deshalb be-
schreibt Bernhard in seinem dritten Traktat die Dissonanzen in einer
praktischeren Weise, indem er wiederum nach dem Muster des Bary-
phonus die Auflösungen jeder einzelnen Dissonanz zeigt und zwar
diejenigen der Secunde in cap, /, der Quarte in cap, 2, der Septime
in c<^. 3y der None in cap. 4, der Quarta f aha in cap. 5^ der kleinen
Quart in cap. 6 , der falschen Quint in cap, 7. — Prüfen wir die
Hauptquellen Walthers hinsichtlich ihrer Totalität des Inhalts, so
finden wir nur ein Werk, welches in dieser Beziehung dasjenige
Walthers übertrifft, nämlich Athanasius Kirchers Musurgia, welche
1650 zu Rom erschien. Daß dieses Werk aber in anderer Beziehung
8ich mit Walthers Compendium nicht messen kann, wird an geeigneter
Stelle gezeigt werden. Alle übrigen Hauptquellen können hinsicht-
lich der Totalität des Inhalts neben Walthers Werk nicht in Betracht
kommen. In der Regel wird in den Schriften über Musik nur eiA Gebiet
der Musiklehre behandelt. Eine Gruppe lehrt hauptsächlich die Ele-
mente der Musik: so die Musica von Nie. Listenius 1540 zu Nürnberg^
> Dieselbe erschien bereits \ 533 unter dem Titel : Rudimenta musicae zu Wit-
tenberg, wurde später aber sehr erweitert und erschien so unter dem Titel Musica
▼on 1540 an in vielen Auflagen.
498 Hermann Gehrmann,
so die Isagoges musicae Libri duo Autor e M. Cyriaco Snegassio ßfDXCl
zu Erfurt mit einem Anhang, in welchem zuerst ein Uiilis Tractattdus de
quibusdam circa compositas cantilenas scitu necessariis mitgetheilt wird,
sodann eine Nova Monochordi dimensio ; femer ist zu nennen das
Compendium Musicae latino-germanicufn von 1595 von Adam Gumpelz-
haimer zu Augsburg und Musicae ßguralis praecepta von Thom.
Walliser zu Straßburg 1611. Alle diese Werke sind ünterrichts-
bücher für Gesangsschüler. In ihnen werden die musikalischen Ele-
mente und Begriffe, soweit sie ein Sänger wissen muß, auseinander-
gesetzt: also die Schlüssel, Noten, Pausen, Taktzeichen, Ligaturen
und dergleichen , ferner die Guidonischen Silben und die dazu ge-
hörige Mutation. Mit Übungsbeispielen für Pausen und Synkopen etc.
schließt dann meistens ein erster Abschnitt (wir schildern besonders
nach Snegassius' Isagoge). Im weiteren Verlaufe wird dann gewöhn-
lich in monadischer Weise von Intervallen und Modi gehandelt; von
mehrstimmiger Musik wird fast ganz in diesen Gesangunterrichts-
büchern abgesehen, und die mehrstimmig gegebenen Beispiele sollen
lediglich ein praktisches Übungsmaterial für den Sänger sein. Wird
aber auch im Text von mehrstimmiger Musik gesprochen, so wird
der Schüler nur in knappster Form mit den wesentlichsten Begriffen
des mehrstimmigen Gesangs vertraut gemacht. Unter den genannten
Theoretikern ragt Snegassius in textlicher Beziehung besonders
hervor, Gumpelzhaimer aber durch eine große Fülle aller denk-
baren Beispiele, von denen die meisten von ihm oder Orlando Lasso
stammen. Auch in Wallisers Musica ßguralis wird das Hauptgewicht
auf die 100 Fugenbeispiele gelegt, welche mit solchen zu zwei Stim-
men beginnen und mit sechs- oder mehrstimmigen aufhören. Diese
Gruppe von theoretischen Schriften weist insofern, als das hier zu
Grunde liegende Tonsystem dem Genere diatono^iatonico angehört,
noch auf eine vor Zarlino liegenden Periode zurück.
Diejenigen Theoretiker nun, welche einen Kompositionsunterricht
im Auge haben, geben wohl eine Lehre vom strengen Satz auf Grund
der Zarlino'schen Anschauungen, lassen aber eine Elementarlehre
vermissen. Hierher gehören die Melopoiia des Calvisius von 1592
und das ältere Hamburger Manuskript, dessen erster Theil die Swee-
linckschen Kompositionsregeln enthält. Einige berücksichtigen hierbei
in ziemlich gleicher Weise eine mathematisch-philosophische Dar-
stellung neben einer praktischen, so Lippius, bei dem allerdings die
spekulative Betrachtung überwiegt, und Bar3rphonus, der in seinen
Plejaden neben einer praktischen Darstellung der Kon- und Disso-
nanzen auch die mathematischen Proportionen der Intervalle in streng
wissenschaftlicher Weise entwickelt.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 499
Ein bedeutendes eigenartiges Werk tritt uns in dem Syntagma
musicum von Michael Praetorius entgegen. Von diesem Werke er-
schien der 1. Tomus in lateinischer Sprache 1614 zu Wittenberg,
der 2. und 3. Tomus hauptsächlich in deutscher Sprache 1618 zu
Wolfenbüttel. In den beiden letzteren Theilen wird zum ersten
Male der Instrumentalmusik eine große Aufmerksamkeit gewidmet;
neue Temperaturen der Tasteninstrumente und dadurch bedingte
größere Transpositionsfähigkeit der Modi werden hier gezeigt; zum
ersten Male werden die Generalbaßregeln eines Agostino Agazzario,
Bernardo Strozzi und des Praetorius selbst mitgetheilt und über das
Verhältniß der Vokal- und Instrumentalmusik zu einander wichtige
Aufschlüsse gegeben. Doch bleiben alle diese theoretischen Aus-
eiuandersetzungen insofern elementarer Natur, als eine Darstellung
der instrumentalen Einflüsse in die strenge Satzlehre noch nicht er-
folgt war. Sicher würde diese wohl in dem letzten, 4. Tomus, der
eine Melopoiia mtisica enthalten sollte, erschienen sein, wäre der
Verfasser nicht darüber hingestorben. Einigen Ersatz bietet in dieser
Beziehung, wie wir sahen, der 2. Theil des Hamburger Manuskriptes.
Trotzdem das Syntagma unvollendet geblieben ist und auch fast keine
einheitliche Darstellung bietet, hat es doch insofern eine große Be-
deutung, als von ihm aus eine lebhaftere instrumentale Bewegung
in der Musiktheorie Platz greift, und dasselbe noch bis auf den heu-
tigen Tag für die Geschichte der Instrumentalmusik eine der wich-
tigsten Quellen ist. Auf Praetorius fußt bereits Crüger, dessen Synopsis
musica zuerst 1624 erschien. Auf dem harmonischen Princip beruht auch
iie Mi^ca poetica A^H 36)i, Andreas Herbst, welche 1643 in deutscher
Sprache in Nürnberg herauskam. In diesem zum größten Theil aus
Crügers Synopsis geschöpften Kompositionsunterricht fehlen eine Ele-
mentarlehre und eine Darstellung des doppelten Kontrapunkts. Wir
kommen zu Kircher's Mttsurgia vom Jahre 1650 , einem Werke, welches
hinsichtlich der Totalität des Inhalts über die Walthersche Lehre ge-
stellt werden muß, aber durch die mangelhafte wissenschaftliche Ver-
arbeitung eine nur geringe Bedeutung beanspruchen darf und somit
an wirklichem Werth weit unter dem Waltherschen Compendium steht.
Hier ist in größter Fülle ein Material aufgestapelt, wie es in ähn-
lichem Umfange weder vor-, noch nachher wieder geschah: Neben
der Darstellung der neuen Lehre fand die ganze antik-heidnische und
mittelalterlich -mystische Betrachtung der musikalischen Disciplinen
ihren letzten umfassenden Ausdruck. Gerade durch diese seltene
Fülle des Stoffs mochte das auch äußerlich voluminöse Werk den
Zeitgenossen Kirchers imponiren, und die zum Theil unverdiente
Verehrung, welche es im 17. und 18. Jahrhundert genoß , mag
500 Hermann Oehrmann,
daraus erklärt werden. Denn Kireher war nicht der Mann, die-
sen großen Vorrath an Material sichten und verarheiten zu können;
^emssermaßen wuchs ihm die Fülle des Stoffs über den Kopf; dazu
kommt weiter, daß er ohne philologisches Ehrgefühl arbeitete und
infolgedessen wenig skrupulös in dem einen Buche etwas behauptet,
wovon er in einem andern Buche das Gegentheil sagt: so nennt
er, um nur ein Beispiel zu geben, von Hb. 3 cap, 5 an stets
1 R
die Form des grossen Halbtons — als die des Semitonium minus und
erst in lib 5. cap. 6^3 entschließt er sich nach reiflicher Überlegung,
jenen Halbton nicht mehr minus, sondern richtiger maius zu nennen.
Solche Widersprüche, die aus einer verworrenen Darstellung von
antiker und neuerer Anschauung sich ergeben, beweisen die Ober-
flächlichkeit und mangelhafte Beherrschung des Gegenstandes. Die
Besseren unter den nachfolgenden Theoretikern erkannten bald, daß
Kircher nur mit Vorsicht zu gebrauchen sei, und so wurde denn,
namentlich was den strengen Satz anbelangt, nur Allgemeineres aus
der Musurgia geschöpft, besonders aber aus den Werken der früheren
Theoretiker, namentlich des Baryphonus und Calvisius. Auch die
nach der Entstehung von Kirchers Musurgia fallenden Hauptquellen
Walthers sind von solchen einsichtsvolleren Männern verfaßt. Aber
wiederum bieten sie Alle keine erschöpfende Darstellung der Musik-
theorie. So sehen wir Christoph Bernhards Augenmerk auf die Dar-
stellung der Kon- und Dissonanzen gerichtet: diese nimmt auch in
seinem Tractaius Compositionis den bei weitem größten Theil ein;
eine Elementarlehre fehlt in den drei Bemhardschen Abhandlungen.
Printzens Satyrischer Komponist, dessen 1. Theil 1676, 2. Theil 1677,
3. Theil 1679 erschien, und von dem wir eine vollständige Ausgabe
von 1696, zu Dresden und Leipzig erschienen, sahen, verträgt eben-
sowenig eine strenge Kritik, wie Kirchers Musurgia. Besonders ge-
reicht diese witzelnde, geistreich sein sollende Dialogform dem Werke
zum Nachtheil, denn allzuhäufig wird dadurch die Aufmerksamkeit
auf Nebensächliches hingeleitet und Wichtiges, wie eine Lehre vom
doppelten Kontrapunkt und Beschreibung der Elemente vergessen.
Nur im 1. Theil von cap. 5 an ist die kleine Synopsis wegen ihrer
klaren Fassung von wirklichem Werth, doch wird hier, wie über-
haupt in dem ganzen Werke, nicht wesentlich Neues geboten. Wissen-
schaftlicher gehalten, als der satyrische Komponist, ist desselben
Verfassers »Historische l^eschreibung der edlen Sing- und Klingkunst«
1690 zu Dresden.
Werckmeisters Stärke liegt in den mathematisch physikalischen
Gebieten der Musik. Durch ihn vrird zum ersten Male eine Art von
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 5()j[
gleichschwebender Temperatur, eine Tonausgleichung, wissenschaft-
lich begründet. Spin bedeutendstes Werk ist der Hodegus musicae
mathematicae^ welcher 1686 zu Leipzig erschien. Hier wird in selb-
ständiger Weise von den mathematischen Begriffen und Vorgängen
in der Musik gehandelt, femer von Temperatur, ja auch von den
Intervallen, Modi, Takt und Fugen, soweit hier mathematische Fragen
berührt werden können. Mit einem Anhang über allegorische und
moralische Musik, wobei wiederum die Beziehungen zwischen den
einzelnen Zahlen eine Hauptrolle spielen, schließt das Werk. Später
stellte er einzelne Gegenstände ausführlicher in besonderen Schriften
dar: so erschien 1697 die Musikalische Temperatur zu Frankfurt und
Leipzig und 1702 seine Harmonologia musica ebenfalls zu Frankfurt
und Leipzig. Ist das erstere ein rein mathematisches Werk, so
enthält das letztere eine auf Generalbaß beruhende Kompositions-
lehre. In dieser fehlt wiederum eine Daistellung der musikalischen
Elemente. Wie auch in der Harmonologia die mathematische Be-
trachtungsweise Werckmeisters immer von neuem sich geltend macht,
so tritt sie auch in den für Walther weniger wichtigen Schriften auf :
in den Hypomnemata musica von 1697 und im Cribrum musicum
von 1700.
Bei Janowskas Clavis ad thesaurum magnum Musicae, dem 1701
zu Prag erschienen guten alphabetischen Yerzeichniß musikalischer
Begriffe, vermissen wir eine genauere Darstellung der Kompositions-
regeln. Weiter müssen hier einige Schriften von Johann Georg Ahle
genannt werden, zunächst sein Musikalisches Frühlings (1695)-, Sommer
1697)-, Herbst (1690)- und Wintergespräch 1701. Alle diese in
Dialogform gehaltenen Gespräche, welche in den angegebenen Jahren
zu Mühlhausen erschienen, handeln von Dingen, welche bei der
Komposition beobachtet werden müssen, so das Frühlings-, Herbst-
und Wintergespräch wesentlich von den Kon- und Dissonanzen, das
Sommergespräch hauptsächlich von Kadenzen und den in der Musik
gebräuchlichen rhetorischen Figuren und Accenten und das Winter-
gespräch außer den Intervallen auch noch von den Modi. Noch
wichtiger als diese Dialoge sind seine 1704 zu Mühlhausen heraus-
gekommenen Anmerkungen zur Singekunst des Vaters Job. Rudolf
Ahle, in welchen oft in historischer Form sehr werthvoUe Aufschlüsse
über die gegen früher fortgeschrittene Entwickelung der Elemente
gegeben sind. Wiewohl Ahle hauptsächlich aus den Printz'schen
Schriften (Satyrischer Komponist und Historische Singkunst) schöpft,
so finden doch die von ihm behandelten Gegenstände durch eine
selbständig prüfende Verarbeitung, die in der Quellenforschung bis
zu den Schriften eines Lippius und Baryphonus hinabsteigt, eine ver-
502 Hennann Gehnnaim,
tieftere, mit vielen neuen Erningenschatten glücklicher verquickte
Darstellung, als bei Printz.
Von diesen Hauptquellen benutzte Walther diejenigen Schriften
am häufigsten, welche ihm zeitlich am nächsten standen, oder am
leichtesten zugänglich waren. So wurden Ahle, Werckmeister, Bern-
hard, Printz und Snegassius am meisten herangezogen. Von diesen
wurde er zu Kircher, Herbst, Crüger, Baryphonus , Lippius und Cal-
visius geleitet, und durch Crüger und Lippius mußte er auf Gumpelz-
haimer und Walliser hingeführt werden. Die Schriften dieser Männer
mögen wohl meistens in seinem Besitz gewesen sein. Bedenkt man,
daB Walther 1703 zur Herbstmesse nach Frankfurt reiste, 1704 nach
Magdeburg und Halberstadt kam, wo ihm Werckmeister die Plejodei
musicae des Baryphonus verehrte, 1706 Pachelbel in Nürnberg be-
suchte, bedenkt man ferner, daB er bis 1707 in Erfurt lebte und von
hier oder von 1708 an von Weimar aus die nahe Leipziger Messe
sicher oft besuchte, so darf man annehmen , daß er bei diesen Ge-
legenheiten leicht in den Besitz der Bücher kam, die ja zum größten
Theil in den angegebenen Städten erschienen waren. Rechnet man
den Böhmen Janowka mit zu den deutschen Theoretikern, so sind
die Hauptquellen Walthers nur mit einer Ausnahme sämtlich von
Deutschen verfaßt. Diese Ausnahme ist Bononcinis Musico Prafttcoy
der in zwei Theilen 1673 zu Bologna erschien. Paul Treu in Stutt-
gartließ von dem 2. Theil eine deutsche Übersetzung 1701 erscheinen.
Dieser Übersetzung scheint das Werk Bononcinis seine große Verbrei-
tung zu verdanken. In jener als Nr. 4 bezeichneten Bernhard'schen
Schrift wird dasselbe zum ersten Male angeführt ; und dieser Hinweis
mag dem Walther gerade recht gewesen sein. Denn ihm mochte
daran gelegen sein, die in der Lehre, z. B. in Werckmeisters Harmo-
nologia, durch das Überwiegen des harmonischen Princips vernach-
lässigte Polyphonie wieder zu Ehren zu bringen. Daher stellt er die
poly honen Satzformen nach Bononcinis Lehre dar. Der Unterschied
zwischen der Lehrmethode deutscher und italienischer Theoretiker tritt
uns hier charakteristisch entgegen. Die Deutschen, z. B. Werck-
meister, besonders aber Niedt beginnen mit einer homophonen, vier-
stimmigen Satzlehre und schreiten von dieser fort zum polyphonen
Satze; Fugen und doppelter Kontrapunkt werden daher als die
schwersten Formen am Schlüsse behandelt, Bononcini aber, ein wür-
diger Epigone der Zarlinoschen Sichtung, beginnt mit dem strengen
Satze und erst nach der Abhandlung von Fuge und doppeltem Kontra-
punkt folgen freiere Formen des mehr als zweistimmigen Satzes.
Nachdem in den 15 Kapiteln des 1. Theils allgemeinere Vor-
bemerkungen gegeben sind, die sich auf das Wesen der Musik, auf
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 5Q3
die Proportionen, Entstehung der Kon- und Dissonanzen und Er-
klärung elementarer Begriffe beziehen, folgt im 2. Theile in 21 Ka-
piteln eine eingehende Lehre vom Kontrapunkt, welche sich der
Zarlinoschen Darstellung anschließt. Ähnlich wie Zarlino bietet
Bononcini eine Satzlehre, welche es hauptsächlich mit der geistlichen
Musik zu thun hat, die im Konzert- oder A capella Stil komponirt
wird. Von der weltlichen Musik wird weiter nichts gesagt, als daß
zu ihr Arien^ Kanzonetten, Lieder und die Stili recitativi und madri-
galt gehören ; von der instrumentalen Musik schweigt Bononcini ganz.
Will man einen Einblick in das musiktheoretische Treiben des
17. Jahrhunderts haben, so muß man alle die genannten Schriften
auf einmal zusammen betrachten. Das that eben Walther in seiner
Kompositionslehre, auf die wir nun näher eingehen wollen.
n.
Beschreibung Ton Walthers Kompositionslehre.
1.
Die äußere Form des Werks und allgemeine
Vorbemerkungen.
Die fast unversehrt erhalten gebliebene Kompositionslehre J. G. Wal-
thers ist in ihrer äußeren Form ein starkes, in gelbbraune dicke Pappe
eingebundenes Buch von großem Quartformat. Von den 183 Quart-
seiten des Werkes haften 167 Blätter noch fest im Einbände, die
übrigen Blätter haben sich allmählich losgelöst und sind nicht voll-
zählig vorhanden. Doch entsteht dadurch keine Lücke in dem Werke,
denn die einzige fehlende Quartseite 169 wird durch eine andere
Handschrift in kleinem Quartformat ersetzt. Überhaupt liegen zwi-
schen den losen Blättern des Originals mehrere Blätter dieses anderen
Manuskripts, welche außer jener eben genannten Ergänzung nur
Abschriften aus dem Original enthalten. Das sauber und mit großer
Soigfalt niedergeschriebene Original rührt von Walthers eigner Hand
her. Der deutsche Text ist häufig mit lateinischen Citaten aus den
bereits genannten Werken durchsetzt; auch sonst werden einzelne
technische Ausdrücke mit ihrem lateinischen, oft auch griechischen
Namen erwähnt. Seltener kommen italienische oder gar französische
Bezeichnungen vor. Eigentliche Schreibfehler finden sich vereinzelt
1891. 34
504
Hermann Qehrmann,
in den Notenbeispielen. Der Lehrstoff wird in einzelnen Kapiteln,
deren jedes in mehrere Paragraphen zerfällt dargestellt.^
Die Handschrift Walthers beginnt auf Fol. 1 mit einer Dedikation
des Buches an den Prinzen Johann Ernst von Weimar zu dessen
Namenstage, dem 13. März 1708.^ Nach dem leeren Fol. 3 beginnt
Fol. 4 die Kompositionslehre selbst. Dieselbe zerfallt in 2 TheQe.
Der erste Theil handelt von den Elementen in der Musik, der zweite
enthält eine Melopöia. Beide Theile haben je eine allgemeinere und
eine speziellere Abhandlung.
Die erste allgemeinere Abhandlung des ersten Theils reicht von
Folio 4 — 51. Das Inhalts verzeichniß der Kapitel ist folgendes:
«Erster Abhandelung
Cap. 1: Was die Music sey, und wie dieselbe abgetheilet
werde.
Cap. 2 : Vom Gesänge und deßen Abtheilung.
Cap. 3: Von denen Noten, und ihrer Geltung,
Cap. 4: Von denen Pauseji und deren Geltung,
Cap. 5: Vom Tacte^
Cap. 6: Von denen Puncten^
Cap. 7: Von denen Ligaturen,
Cap. 8: Von denen übrigen Char acter ibus.
Es folgt von Fol. 31 an ein großes alphabetisches Verzeichniß
musikalischer Kunstausdriicke. Von Fol. 51t? — 65r reicht die zweite
Abhandlxmg des ersten Theils, in welcher dem Schüler ausscUieß-
lieh die Claves erklärt werden. So handelt
Cap. t : »Von denen Clavibtts^i,
Cap. 2 : «Von unterschiedlicher Stellung der Music-SchlüBelf,
Cap. 3 : »Von Ursprünge und Zunehmung derer Clamium,
Cap. 4 : »Von denen Diatonischen , Chromati&aixffn. und Efh
harmonieren Clavibusvj
Cap. 5 : »Vom rechten Gebrauch und Eigenschaft des i| und 7*.
1 Nach den Monatsheften für Musikgeschichte von Eitner 4. Jahrg. 1872 S. 165
kam dies Autograph aus der Bibliothek eines Grafen von Voss in die Hände des
Antiquars Emanuel Mai in Berlin. Von diesem erhielt es die Antiquariatshand-
lung von List und Francke in Leipzig, und dort kaufte es Spitta an.
2 Prinz Joh. Ernst von Weimar, der hauptsächlich das Violinspiel pflegte,
»traktirte anbey das ELlavier und ohngefähr vor seinem Tode, welcher o». 1715 den
Isten Augusti zu Franckfurt am Mayn erfolget, auch drey viertel Jahr lang die
Komposition . . . unter meiner geringen und unterthänigsten AnfOhrung^ . . . (Wal-
ther, Lexikon pag. 331).
Johaiin Gottfried Walther als Theoretiker. 505
Nach einem leeren Blatte trägt Folio 66 die Aufschrift »An-
derer Theil«, Folio 67 — 113 umfaßt »Mtcsicae Poeitcae Pars genera-
lis^. Nach einer Einleitung, in welcher dem Schüler das Nöthigste
über die Stellung der Musik als einer mathematisch-philosophischen
Wissenschaft gesagt ist, beginnt die eigentliche Melopoiia auf Folio 79.
Zunächst lernt hier der Schüler die Intervalle, die Kon- und Disso-
nanzen, sowie die einfachsten Akkordverbindungen kennen.
Cap. 1 handelt: »Von denen mtmcaliscYieii Intervallis^j
Cap. 2
Cap. 3
Cap. 4
Cap. 5
Cap. 6
Cap. 7
Cap. 8
Cap. 9
»Von denen beyden Semitoniis^,
»Von denen beyden ganzen Thonen«,
»Von der Tertiaa,
»Von der Quartody
»Von der Quiniaa^
»Von der Sextaa^,
»Von der Septimaa,
»Von der Octavm.
Alle Intervalle werden darauf übersichtUch in einer Tabelle dar-
gestellt. Es folgt eine Beschreibung kleinerer Intervalle, wie Komma,
Apotome, Diesis, Limma, Schisma und Diaschisma; Kap. 10 handelt
»Von denen gebriluchlichen und ungebräuchlichen Intervallena und
bildet den Übergang von der Monas zur Dyas mtcsica.
Cap. 11 handelt: »Von denen Consonantiena^
Cap. 12
Cap. 13
Cap. 14
»Von denen Dis8onantien<x,
»Von der Triade harmonicatUf
»Von denen Stimmen, und sonderlich denen Prm-
ct/>a^Stimmen ct.
Hier werden die einfachsten vierstimmigen Akkordverbindungen
gelehrt und zwar zunächst die Verbindung von einfachen Drei-
klängen, dann solche von Sextakkorden ; es folgen besondere Regeln,
wie man Quarte, Tritonus, Quinte, Sexte und Septime im harmoni-
schen Satze zu behandeln hat.
In Mtmcae Poeticae Pars specialis j die Folio 114 beginnt, wird
der Schüler zur Lehre vom strengen Satz geführt.
Cap. 1 handelt: »Vom Gebrauch und Folge der Cansonantien
in gener ea,
Cap. 2: »Vom Gebrauch und Folge der perfecten Cansonantien
in specie«^
Cap. 3: »Vom Gebrauch und Folge der imper/ecien Concor^
dantien in specienj
Cap. 4: »Vom Gebrauch der Dissonaniienvy
34*
506 Hermann Oehrmann,
Cap. 5: »Von der JRelatione Non^Harmonicaa,
Cap. 6: »Von dem Texte«,
Cap. 7: »Von denen Modis mustcis in gener et,
Cap. 8 : ohne Überschrift, handelt von den »Modis mtuicis in
8pecie<if
Cap. 9: ebenfalls ohne Überschrift läßt sich auf die Trans-
Position, Rßduction und Hepercussion ein,
Cap. 10 handelt ^De Fugis«,
Cap. 11 : »Von der Imitation oder f\iga impropria^^
Cap. 12: »Von der Fuga totalis.
Ohne Kapitelbezeichnung folgt zum Schluß die Lehre »Von de-
nen doppelten Contrapuncten «. Bei dieser Anordnung folgt Walther
vor allem der in der Crügerschen Synopsis gegebenen Eintheilung.
Wie dieser stellt auch er neben einer Melopöia eine Elementarlehre
dar. Aber trotzdem zeigt sich eine äußere Verschiedenheit der An-
ordnung. Bei Crüger erkennen wir die Lippsche Eintheilung des
gesamten Stoffes nach Materie und Form. Die Materie hat es mit
den Elementen zu thun, die nach ihrer Zugehörigkeit zu einer Mo-
naSy Dyas oder Tritzs musica beschrieben werden, unter Form ver-
stehen Lippius und Crüger die Komposition selbst. Während nun
zu Crügers Zeit der Lehrstoff insofern noch ein kleines Gebiet um-
faßte, als hauptsächlich nur der vokale Stil in Frage kam, so war
zu Walthers Zeit durch die Berücksichtigung alten und neuen Ge-
brauches namentlich in Bezug auf die Elementarlehre dieser Stoff
mächtig erweitert worden. Um denselben übersichtlich darzustellen
theilt Walther sowohl die Elementar-, wie Kompositionslehre in eine
allgemeinere und speziellere Abhandlung. Zu dieser Sonderung
mochte er durch Calvisius angeregt sein, der in der Anordnung seiner
Melopöia diesem Principe folgt.
Der ganze erste Theil bei Walther entspricht in seinem Inhalte
einem großen Theil dessen, was bei Crüger in der Monas musica dar-
gestellt wird ; die ganz einfachen Elemente und Begriffe werden hier
gegeben. Der ^. Theil, die eigentliche Melopöia, folgt ziemlich ge-
treu der Crügerschen Anordnung. In der allgemeinen Abhandlung
wird das noch übrige Gebiet der Crügerschen Monas musica^ werden
die Intervalle beschrieben; es folgt wie bei Crüger die Dyas und
Trias mtcsica. Während Crüger aber die Lehre von der Form mit
dem vierstimmigen Satze beginnt, zieht Walther diesen in die all-
gemeinere Abhandlung noch mit hinein. Im übrigen deckt sich die
speziellere Abhandlung noch mit dem, was Crüger als zur Form ge-
hörig dargestellt. Wie bei diesem folgen auf die Fortschreitungen
der Kon- und Dissonanzen die Schlüsse, die zusammen mit den Modi
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 5Q7
dargestellt werden, sodann die strengen Formen der Fuge und des
doppelten Kontrapunkts, von denen ja bei Criiger nur wenig zu fin-
den war. Fast das ganze Werk ist aus den früher erwähnten Schrif-
ten zusammengestellt. Größere Abschnitte, für die eine Vorlage
nicht aufzufinden war, sind: I. 2. Abhandl. Kap. 5 § 10 — 20, wo über
die Eigenschaften des ja und 7 gesprochen wird, femer II. 1. Abbandl.
Kap. 14, die größere letzte Halte, in welcher die einfache harmoni-
sche Behandlung des Tritonus, der Quinte (besonders Quinta f aha) ^
Sexte und Septime gezeigt wird, sodann II. 2. Abhandl. Kap. 7 § 1,
die Annahme dreier Modi für den modernen Gebrauch und schließ-
lich noch n. 2. Abhandl. Kap. 9 § 12 — 17, die Choralbearbeitung.
Doch auch sonst ist das Werk reich an originalen Erweiterungen
der Lehre, wie wir an geeigneter Stelle sehen werden. Ehe wir
nun zu einer Darstellung des Inhalts übergehen, berühren wir zum
Schlüsse dieser allgemeinen Vorbemerkungen noch die Frage, in
welcher Weise Walther den vokalen und instrumentalen Stil der Kom-
position berücksichtigt.
Wie wir sahen, datirt seit dem Erscheinen von Fraetorius'
Syniagma musicum und des Hamburger Manuskripts eine neue Epoche
in der Musiktheorie. War bis dahin die äußere Form verschiedenen
Wandlungen unterworfen gewesen , so begann von jetzt an durch
Berücksichtigung der Instrumentalkomposition die innere Ausbildung
des Lehrmaterials selbst. Crügers Synopsis, in der die äußere Wand-
lung zu einem gewissen Abschluß gebracht ist^ richtet das Haupt-
augenmerk noch fast ausschließlich auf den besonders in der kirch-
lichen Musik zu Tage tretenden vokalen Stil. Dieser kam bisher
allein für die ernste kunstmäßige Komposition und deren Unterricht
in Frage. Aber bald werden in den Musikkompendien mehrere Stil-
arten aufgeführt. Kircher führt in der Musurffia folgende an:
■
1) Stylus EcclesiastictiSf
2)
»
CanonicuSj
3)
Jl
MotecticuSj
4)
»
PhantasticuSy
5J
»
Madriff alescuSy
6)
»
Melismaticus,
7)
»
Theatricus et Choricus,
8)
»
Symphoniacus,
9)
9
Recitativus,
In dem 1. Theile jener 1. Kopie Bernhardscher Aufsätze werden
diese neun Arten jedoch in 3 Gruppen zusammengefaßt, nämlich in
50g Hennann Qehnnann,
Stylus ecclesiasticuSj theatricus, und recitativusA Bernhard selbst zieht
sie im Tract. Comp, augment in zwei zusammen, nämlich SL gravis^
der dem St eccleaiastictis entspricht, und St. luxurians, dessen beide
Theile, communis und comicus dieselben Gebiete, wie der Stylus theo-
trieus und recitativtcs umfassen.
Dieser Bernhardschen Scheidung eines St. gravis und luxterians
folgt im gewissen Sinne auch Walther, wenn er in seiner Lehre den
alten Anschauungen die neuen gegenüberstellt. Daß diese Schei-
dung auch sonst schon üblich geworden war, geht daraus hervor,
daß Adam Beincken in dem 1. Theile seines Manuskripts von 1670
das Material in derselben Weise sondert.
Findet aber durch diese Darstellung alter und neuer Lehre schon
insofern eine indirekte Kücksichtnahme auf die Instrumentalmusik
statt, als die neue Lehre nur aus dieser entstanden ist, so nimmt
Walther auf die Instrumentalkomposition Rücksicht. Jedoch unter-
scheidet er sich hierbei wesentlich von Printz, Werckmeister
und besonders Niedt. Alle diese legen einen zu großen Nachdruck
auf die Instrumentalkomposition zum Nachtheil des vokalen Satzes.
Niedt bietet hier das prägnanteste Beispiel: In dem 1. Theile seiner
Handleitung wird das Generalbaßspielen auf dem Klaviere gelehrt,
es folgt dann im 2. Theile eine Formenlehre, wie man aus einem
Generalbasse Ciaconen, AUemanden etc. erfinden könne, und erst
im letzten Theile wird von strengen Satzformen: Kontrapunkt, Ka-
non etc. gehandelt. Im vollen Gegensatze dazu steht Walther. Bei
diesem bleibt das Hauptaugenmerk auf den vokalen Satz gerichtet
und nur beiläufig, doch ausreichend werden instrumentale Eigen-
thümlichkeiten berücksichtigt.
2.
• Die wissenschaftlich-spekulativen Betrachtungen in
Walthers Lehre.
Diese Betrachtungen sind auf ein kleinstes Maß zusanmien-
geschrumpft. Nur zwei größere Abschnitte handeln ausschließlich
in philosophischer Weise von der Musik, nämlich fast das ganze
erste Kapitel und die Einleitung in die eigentliche Melopöia. In I.
^ Es heißt dort cap, 2l: IJ JEcclesiastieus tractat cantiones sacras in TrnnpUt
et in piis conviviis, 2J Theatricus tractat cantiones profanas , quas Aüemand Cou-
rant Saraband Menuet Gique Ouvertüre aliisque eiusmodi peregrinis nominibus appel-
Jamus, ae in ludis tarnen TheatralibiM et aliis Festivis et Frofanie adhibemus. 3)
JRedtaiivtu tractat et saeroe et profanoe textue, ac proinde utique Dramatibue fa-
miliaris legibus metrorum adstringitur.
Johann GoUfiried Walther als Theoretiker. 509
1. Abhandl. Kap. 1 bezeichnet Walthei nach Werckmeisters Hod,
cap, 3 die Musik als »eine himmlisch-philosophische und sonderlich
auf Mathesin sich gründende Wissenschaft«.
Musica kommt entweder her von Movaa (Snegass. laag. I c, 1)^
oder &7th rov fiioad-ai investiffare (Snegass.) oder Ton Moys das Wasser
(Eircher Mus, l. IIc, 1). Ihre himmlische Natur wird mit Bibel-
stellen und einem Citat des Fythagoras (Werckmeister Harmonologia
i. d. Dedikationszuschrift) begründet. Ihr philosophisches Wesen
wild dadurch nachgewiesen, daß sie ihre Fiincipien aus Metaphysik,
Physik, Geometrie und Arithmetik holt (Lippius Synopsis) ; ihr Zweck
aber ist, den Menschen zur Andacht gegen Grott zu bewegen (Har-
monologie, Hodegus c. 46). Durch Citate aus Augustins Confessionen
wird gezeigt, wie dieser durch die Musik zum christlichen Glauben
bekehrt worden sei (Printz Histor. Singk. c. XIV § 30).
Aus der Einleitung zur Melopöia im engeren Sinne erfahren
wir, daß die Materie der Sonus sei, der in Monas^ Dyas oder Trias
musica auftreten könne, die Form beruhe in der künstlichen Dis-
position der Töne (Lippius und Crüger). Aus den Zahlen werden
Proportionen gebildet, in denen alle Intervalle enthalten sind. Es
folgt eine Aufzählung dieser Bationen oder Proportionen nach Werck-
meisters HodeguSy Frintz' Satyr. Comp, und der 1. Fleiade des Bary-
phonus. Nach Frintz Hist. Singk. c. V wird das Märchen von der
ersten Auffindung der Proportionen durch Fythagoras in einer
Schmiede mitgetheilt. Es folgt ähnlich dem von Frintz Satyr. Comp.
Lc, XII § 20 — 24 gegebenem Muster die Eintheilung der einfachen
Konsonanzen auf einer über ein vier Schuh langes Brett gespannten,
in c gestimmten Saite. Wird diese in zwei gleiche Theile zerlegt,
so erhält man das VerhältniB der Oktave; wird sie io drei Theile
zerlegt, bekommt man das VerhältniB der Quinte u. s. f. Aber in
7 Theile zerlegt giebt sie nicht das VerhältniB einer Konsonanz. Hier
läB sich Walther nach Werckmeisters Hodeg, c. 5 und Musik. Tem-
peratur c. 26 in mystischer Weise auf die wunderbare Natur der
Siebenzahl ein. Auch auf den Streit des Fythagoras und Aristoxe-
nos über den Bichter in musikalischen Dingen kommt Walther im
AnschluB an Printz Hist Singk. c. VI zu sprechen. Die Schlichtung
dieses Streits durch Ftolemaeus wird nach der 1 . Fleiade des Bary-
phonus berichtet. Zum Schlüsse dieser Einleitung weist Walther
noch auf die Ansicht eines Snegassius, besonders aber Lippius, Werck-
^ Wenn es nicht ausführlich gesagt wird, woher die einzelnen Partien ent-
lehnt sind, so stehen Walthers Quellen für die einzelnen Ausführungen kurz in
Klammem angegeben.
510 Hermann Gehrmann,
meister und Frintz hin, welche glauben, daB zur vollkommenen Be-
herrschung der Musik eine nEncyclopedia nrnsico-philosophica von
Arithmetik, Geometrie, Historie, Physik, Dialektik, Rhetorik,
Ethik« u. s. w. gehöre. In einer Anmerkung vrird noch das Wesen
und der Nutzen des Monochords beschrieben.
Außer diesen beiden größeren Abschnitten philosophischer Be-
trachtung in Walthers Lehre, finden sich auch im Texte der prak-
tischen Darstellung hie und da philosophische Bemerkungen. In
I 2. Abth. cap. 4 wird nach Janowkas r^Clavis ad thesaurumt etc.
darauf hingewiesen, daß in der heutigen Musik drei genera modulandi
vermischt gebraucht werden: das genus chromatico-diatonicum^ dia-
tonico-chromaticum und das genus chromatico-diatonico-enharmomcum.
Je nachdem nun in einem Stücke diatonische oder chromatische
Töne vorherrschen, gehört das Stück einem der beiden ersteren Ge-
schlechter an, treten aber die diatonischen Töne vor den chroma-
tischen und enharmonischen zurück, so gehört es dem letzten Ge-
schlechte an. In II 1. Abhandl. Kap. 11, 13 und 14 finden wir noch
philosophische Äusserungen. Schon vorhin wurde darauf hinge-
wiesen, daß die Intervalle bestimmte Zahlenproportionen haben.
Dieser Satz wird nun genauer ausgeführt: Je näher eine Proportion
der Unität ist, desto vollkommener ist sie, je weiter entfernt, desto
unvollkommener (Werckm. Hod, c, 23). Diejenigen Intervalle nun,
deren Proportionen in der ersten Quadratzahl 4 enthalten sind, heifien
vollkommene Konsonanzen, die in der 1 . vollkommenen Zahl 6 und
in der 1. Kubikzahl sich finden, heißen unvollkommene Konsonanzen.
Intervalle aber, deren Proportionen außerhalb dieser harmonischen
Zahlen 12 3 4 5 6 8 liegen, heißen Dissonanzen, weil sie wegen
ihrer grösseren Entfernung von der Unität von unserm Verstände
und Gehör nicht so leicht begriffen werden, wie die Konsonanzen.
Solche Zahlen sind beispielsweise 8, 9, 10; 15, 16; 24, 25; 80, 81.
Diese Ausführung schöpft Walther in wörtlicher Übersetzung aus
der 4. Pleiade des Baryphonus, der diese Disciplinen wiederum aas
Lippius^ Synopsis entlehnt hat. Die natürliche Stellung der Kon-
sonanzen im mehrstimmigen Satze hat Gott in die Reihenfolge der
harmonischen Zahlen gelegt:
8
6
5
4
3
2
1
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 5J[j[
Darnach kommt der Oktave der tiefste, und den Terzen der
höchste Platz zu: _
' 8 c
\ ß g
I 5 e
i 4 c
I ^ ff
2 c
1 C
Die meisten Verdoppelungen darf der Grundton einer Trias
haben, die wenigsten die Terz derselben. Die drei tiefsten Töne
C D E leiden nur Oktaven, die folgenden Töne F und G nur Ok-
taven und Quinten unmittelbar über sich. Diese alten Betrach-
tungen nimmt Walther wörtlich aus dem Frühlingsgespräch Ahle^s
pag. 21 herüber, der aus Baryphonos und Lippius, der allgemeinen
Hauptquelle für diese Dinge, schöpft.
Aber auch auf die religiös-mystischen Darstellungen eines Lip-
pius, Werckmeister und anderer weist Walther hin. In einem länge-
rem Citat aus Lippius' Synopsis wird die Trias harmonica als ein
Abbild der göttlichen Dreieinigkeit angesehen. An einer anderen
Stelle wird noch ausführlicher der Lippiussche Text wörtlich angeführt.
Im diesem Citat ist der Baß mit der Erde, der Tenor mit dem Wasser,
der Alt mit der Luft und der Diskant mit dem Feuer verglichen. —
Überblicken wir noch einmal diese gelehrten Betrachtungen Walthers,
so vermissen wir Vieles, was in der theoretischen Darstellung
früherer Zeiten eine große Rolle spielte. So erfahren wir, um nur
das Wichtigste hervorzuheben, nichts von dem der neueren Musik
zu Grunde liegenden diatonisch-syntonischen Tonsystem. Die ganze
heidnische Spekulation, wie sie Zarlino in den beiden ersten Theilen
der Institutionen darstellt, fehlt so gut wie ganz. Nicht mehr hat
bei Walther die Musik das Frincipat über alle sieben freien Künste
(Zarl. Ist I c, 2) ; nichts mehr hören wir von einer Musica mundana
(Sphärenmusik, Z. Ist. I c. 6)^ von den wunderbaren Wirkungen
der Musik bei den alten Völkern (Z. Ist. I c. 2) und von akustischen
Betrachtungen (Z. Ist, II c. 10 und 11).
Aber auch die christliche Mystifikation der Musik, die ein hal-
bes Jahrhundert nach Zarlino, seit Lippius, gang und gäbe war,
findet bei Walther nur noch eine geringe Berücksichtigung. Die
Art, wie er auf diese hinweist (z. B. IL 1. Abb. c. 13 § 26 »Von
der Triade harmonica hat Lippius gar schön also geschrieben — «)
bezeugt, daß er diesen mystischen Betrachtungen gegenüber einen
objektiv-historischen Standpunkt einnimmt. Das Einzige, worauf er
512 Hermann Gehnnann,
überhaupt näher eingeht, sind die Proportionen. Aber auch hier
verzichtet er auf eine ausfuhrliche mathematische Entwicklung,
wenn er in der Einleitung zur eigentlichen Melopöia § 15 sagt:
»Wie man die Froportiones addire, copulire, medüre, subtrahire,
aequiparire und radicire, solches ist zu finden in des Baryphoni
Pleiadtbtis musicis] und H. Werckmeisters seel.^ Mtmcae nuUhematwae
Sodego curioso. Denn eine völlige Mttsicam arühmolofftcam aufisu-
setzen ist unser jetziges Vorhaben nicht; sondern durch angeführtes habe
nur zeigen wollen, daß die M usic eine mathematische Wissenschaft sey.c
Aus diesen beiden Umständen, 1) aus den äußerlich sehr be-
grenzten philosophischen Betrachtungen, 2) aus der Behandlungs-
weise der betreffenden Themata kommen wir zu folgenden Schlüssen :
Für die geringe Berücksichtigung der Spekulation mag der Haupt-
grund darin liegen, daß diese Musiklehre kein gelehrtes Werk, son-
dern ein Unterrichtsbuch sein sollte. Wie bei Calvisius und Crüger
findet daher zunächst aus pädagogischen Gründen eine Beschränkung
dieser Betrachtungen statt. Dafür aber, daß Walther bei den be-
rührten philosophischen Disciplinen auf eine vertieftere DarsteUung
verzichtet, daß er in spekulativer Beziehung nicht wissenschaftliche
Entwickelui^en , sondern nur Resultate der Forschungen giebt, da-
für mögen außer pädagogischen Rücksichten auch noch andere
Gründe maßgebend gewesen sein. Es scheint sich im Gegensatz
zur bisherigen von Zarlino und Lippius befestigten Anschauungsweise
die Überzeugung bei Walther Bahn zu brechen, daß die Musik mit
den philosophischen Wissenschaften durchaus nicht in einem so engen
Zusammenhange stehe, wie bisher geglaubt wurde, und daß bei ihrer
speziellen Betrachtung von philosophischen Darstellungen eigentlich
ganz abgesehen werden könne; kurz die spätere Ansicht, daß die
Musik keine gelehrte Wissenschaft, sondern eine selbständige Kunst
sei, mag hier von unserm Freunde voraus empfunden sein.
Durch diese noch dunkel geahnte neue Anschauung von dem
Wesen der Musik wird ein ganz gehöriger Fortschritt in der Theorie
bezeichnet : Der Gegensatz zwischen Praktiker und Theoretiker ver-
schiebt sich. Wurde seit Boetius der Theoretiker höher geschätzt als
der Praktiker (Inst. mtis. I cap, 34), wozu auch der Komponist gerechnet
wurde, so steht in der neueren Anschauung der Komponist über dem
Theoretiker. Wie aber die früheren philosophischen Betrachtungen
ihren Ursprung einer vorausgehenden Musikthätigkeit verdanken, so
ist auch die von Walther geahnte neue Anschauung eine natürliche
Folge der neueren Entwicklung der praktischen Musik selbst. Auf
* Werckmeister war am 26. Okt. 1706 gestorben.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 5^3
die praktische Musiklehre Walthers gehen wir in den folgenden Ab-
schnitten ein.
3.
Die Elementarlehre, soweit sie in den beiden Abhand-
lungen des ersten Theils von Walthers Werk
enthalten ist.
Zunächst werden in der ersten Abhandlung in Kap. 1 § 2 und 3
und Kap. 2 noch allgemein oiientirende Vorbemerkungen für die prak-
tische Musiklehre gegeben. Wörtlich nach Printz Satyr. Comp. /
cap. 5 ist die Abtheilung der Musik in theoretica und practica ge-
geben. Zur ersteren gehört:
1) Musica JSistorica,
2) Mtmca Didactica^
3) Musica Signator ia;
zur Practica gehört:
1) Micsica Modulatoria,
2) Musica Poetica,
Die M, poetica^ mit der wir es in Walthers Lehre hauptsächlich
zu thun haben, unterrichtet, wie man eine »Zusammenstimmung der
Klänge erstlich inventiren und hernach zu Papier bringen soll, da-
mit selbige hernachmals kan gesungen oder gespielet werden. Und
solche Zusammenstimmung nennt man nachgehends einen Gesang«.
Dieser kann sowohl Choral- als Figuralgesang sein. Nach einer
kurzen Erklärung beider Arten läßt sich Walther ausführlicher nach
Joh. Georg Ahles Anmerkungen zu seines Vaters Singkunst Kap. 1
auf den letzteren ein. Der Figuralgesang ist entweder naturalis (ohne
\'orzeichnung von ^ oder 9) oder artißcialis (mit Verzeichnung fik-
tiler Zeichen) . Jede von beiden Arten ist Dur^ wenn sie von ihrem
Grrundton an beim melodischen Aufstieg eine große Terz hat, und
Molly wenn sie eine kleine Terz hat. Es werden weiter die tech-
nischen Bezeichnungen des Gesanges erklärt und in ihren gegen-
seitigen Beziehungen dargestellt. So gehört Cantusßctus (oder trans-
positus in laUore sensu) sowohl zum C. artißcialiter durus^ wie mollis;
ein C. transpositus [in sensu strictiore^ d. h. im älteren Sinne) gehört
nur zum C. ariificialiter mollis , aber nicht umgekehrt, außer dem
transponirten Dorisch. Mit demselben Rechte müßte Walther dies
auch von dem transponirten äolischen und phrygischen Modus er-
wähnen, denn beide haben ein ^ vorgezeichnet und behalten ihre
kleine Terz. Zum Schlüsse des zweiten Kapitels wird noch gesagt.
514 Hermann Gehnnann.
daB ein Gesang aus CkaractertbtM y Clavibus^ Intereallis und Modis
besteht.
In diesen Ausführungen sind, wie wir sehen, bereits neue und
alte Anschauungen vermischt. Alt ist die nach Frintz gegebene Ein-
theilung der Musik, in welcher der theoretischen Lehre vor der prak-
tischen der erste Platz eingeräumt wird. Neue und zum Theil origi-
nale Anschauungen Walthers begrüßen wir in der Beschreibung des
Figuralsgesangs. Hier folgt er theilweise der Darstellung der beiden
Ahle (Vater und Sohn]. Auch dort (Kap. 4 der Singkunst von Ahle]
wird der C. naturalis von dem C, artißcialü oder ßctits geschieden
und der C fictus ist durus oder mollis. Daß hier aber das alte Dur
und Moll gemeint ist, geht daraus hervor, daß C, naturalis nicht
Dur und Moll sein kann, und das femer der C. fictus Dur genannt
wird, wo Kreuze, und Moll, wo h rotunda vorgezeichnet sind. Es
ist hier also nur eine unwesentliche Erweiterung der uralten Unter-
scheidung der Modi hinsichtlich ihres natürlichen und transponirten
Systems, eine Unterscheidung, wie sie sich fast in der ganzen bis-
herigen theoretischen Litteratur angegeben fand. Walther stellt
jedoch nicht nur die oft doppelsinnigen Ausdrücke, so besonders den
des Moll klar, sondern die moderne Auffassung von Dur und MolL
der Unterschied nach großer und kleiner Terz wird maßgebend für
die obige Eintheilung. Dieser zuerst von Zarlino angedeutete Unter-
schied eines harten und weichen Dreiklangs wurde zunächst von
Lippius deutlich ausgesprochen und zum Frincip für die Anordnung
der Modi erhoben; in allem schließt sich ihm Crüger an, nur er-
weitert er in cap, VIII, seiner Synopsis noch äußerlich den Unter-
schied der harten und weichen Dreiklänge dadurch, daß sie theils aus
natürlichen (diaton.) ^ theils aus natürlichen und fiktilen (chrom,) Tönen
vermischt bestehen. Aber in der Folgezeit traten diese neuen Ansichten
in der Lehre wieder ganz zurück. Erst Werckmeister unterscheidet im
Hodegus cap, 42 die Modi wieder nach großer und kleiner Terz. Auf die
ältere Lehre nimmt Walther wieder Rücksicht, wenn er von einem Ccm-
tus transpositus (in latiore sensu) einen Cantus transpositus (va striciiore
sensu) scheidet und hierbei die früher allein übliche Transposition
eines Modus in die höhere Quart oder tiefere Quint auseinandersetzt.
In Kap. 3 handelt Walther von den Noten. Diese merken
die Zeitdauer des Klanges an. Im Gegensatz dazu stehen die
ClaveSj welche die Höhe oder Tiefe eines Klangs bestimmen. Nach
Snegassius Isaff. 1, I cap, S und besonders Janowkas Clavis ad
thesaurvm zählt Walther die Notae figuratae , die im Gegensatz zu
den planae verschiedenen Werth haben, von der Maxima, die 8 Takte
gilt, bis zur Subsubsemifusa , von denen 64 auf einen Takt gehen,
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. blb
auf. Auch die deutschen Namen: »Ganze« Note, weil sie einen
ganzen Takt ausmacht, »Halbe«, »Viertel« u. s. w. finden sich hier.
In einer Tabelle, die aus Janowkas Clavis entlehnt ist, werden die
gebräuchlichsten Noten von Semibrevis bis Subsemifusa dargestellt.
Original ist die Bemerkung, daß die von Walther zum ersten Male
mit aufgezählte Subsubsemt/usa außer von deutschen Organisten fast
gar nicht angewendet werde: aus Ahles Anmerk. zur Singk. Kap. 2
stammt die Notiz, daß man die Maxima nur noch so gebrauche, daß
sie über viele Worte geschrieben werde, die taktlos auf diesen Ton
gesungen werden. Bei der Brevis werden die Regeln der alten Ligatur ae
rectae und obliquae nach Snegassius, Gumpelzhaimer und Walliser mit-
getheilt. Daß bei der Darstellung derselben ebenfalls nur äußere histo-
rische Gründe maßgebend waren, wird ausdrücklich betont : in § 12 sagt
Walther, daß er sie mehr aus CuHosite^ als Nutzen habe beifugen wollen
(Ahles Anmerk. zur Singk. Kap. 3), und in §21 weist er auf Lippius
hin, der sie bereits entbehrlich findet. In Kap. 7 der 1. Abhandlung
werden die modernen Ligaturen nach Crügers Synopsis, besonders
aber nach Ahles Anmerk. zur Singk. Kap. III und Janowskas Clavis
dargestellt. Die Bindebogen können darnach wegbleiben, wenn sehr
viel Noten über eine Silbe gesungen werden. In der Instrumental-
musik zeigen Bogen gebundene Noten, Bogen mit Funkten über den
Noten ein Non-Leffatos^ie\ an. Werden zwei in einer clavis stehende
Noten verbunden, so hört man die letztere nicht. — Kehren wir
zu Kap. 3 zurück, so wird dort nach den alten Ligaturen die Quantitas
ex- und intrinseca genau nach Printz, Sat. Comp. I cap. 6 beschrieben.
Die Quantitas extrinseca ist gleich einer Quantitas tactualis; von dieser
war bisher in diesem Kapitel gehandelt. »Werden nun etliche dem
ValoT nach sonst gleichgeltende Noten ganz ungleich tractiereta so
tritt uns hier die Quantitas intrinseca entgegen. So werden z. B.
von vier gleichen Noten im zweitheiligen Takt die 1. und 3. Note
länger sein, als die 2. und 4. Namentlich im dreitheiligen Takt
werden verschiedene Möglichkeiten dieser Betonung mitgetheilt. Die
Erfindung der Notenwerthe durch Johannes de Muris wird wörtlich
nach Printz Histor. Singk. cap. X § 21 und 22, der aus Kircher
schöpft, erzählt. Aber der letzte Paragraph dieses Kapitels, in welchem
begründet wird, daß Joh. de Muris die kleineren Noten nicht er-
funden haben könne, weil er »die halbschlägige (^ Minimam oder die
Eleineste genannt«, sowie die ganze daran sich knüpfende Unter-
suchung stammt aus Ahles Anmerk. z. Singk. Kap. 2.
Im engsten Zusammenhange mit den Noten stehen die Pausen,
welche in Kap. 4 der 1. Abhandlung nach Snegassius und Janowka
beschrieben sind. Pause, welche von Trauait; kommt, ist nach Sne-
516 Hermann Gehrmann,
gassiu8 ein character supprimendi soni. Es folgt ähnlich wie bei
Janowka die Au&ählung derselhen von der Maxima pattsa, die durch
2 Longapausen in gleicher Höhe dargestellt wird, bis zur Subsubse-
mifusa, bei welcher ähnlich wie vorhin, erwähnt wird, daß sie nur
mstrumentaliter, nicht vocaliter im Gebrauch sei. Nach Beers Bellum
mustcum cap. 8 wird darauf hingewiesen, daß die Pausen in Tripla
maior nur den halben Werth haben, den sie im gleichen Takte gelten.
Ferner erfahren wir daß der Ausdruck » Pausa^ den Instrumentisten,
yiSuspiriumvL den Vokalisten zukomme. Besonders hervorgehoben
werden die Pausa generalis, (wenn alle Stimmen schweigen) und
P. ßnalis (Doppelstrich am Ende einer harmonischen Periode). Der
vielfache Nutzen der Pausen wird nach Snegassius und Herbstes Musica
poetica angegeben. Die Pausezeichen in deutscher Tabulatur bilden
den Schlußparagraph dieses Kapitels. Das folgende 5. Kapitel handelt
vom Takt. Hier wird Ahles Anmerk. z. Singk. cap. IX. als Haupt-
quelle benutzt, doch auch Snegassius, Janowka und Crüger kommen
hier als nächstwichtige Quellen in Frage, dagegen wenig Listenius
(Musica cap. 10). Nach einem Hinweis auf die Namen des Taktes
(Mensur ay Chronometron^ Battuta) und seine Erfindung, die von der
verschiedenen »Beweg- und Klopfung des menschlichen Herzensc
herrühre, zerlegt Walther den Takt in einen T. simplex und propt^r-
tionatus, eine Eintheilung, die sich schon bei WalUser findet. Der
T. simplex zerfällt wiederum in einen T. totalis oder maior und
T. generalis oder minor. Der erstere macht eine Brevis, der letztere
eine Semibrevis aus. Nach Crüger bekommt der T. totalis das Äüa-
jßrcrezeichen mit dem Strich, (^, weil ein aus langen Noten be-
stehendes Stück einen schnelleren Takt erfordert, der T. generalis
erhält das langsamere Taktzeichen ohne Strich C. Weiter gliedert
Walther nach Ahle den T. proportionatus in einen aequalis und
i?iaequalis. Aber während Ahle nur allgemein sagt, daß der gleiche
proportionirte Takt aus 6 oder 12 Noten, der ungleiche aus 3 oder
9 Noten bestehe, so sondert Walther beide Arten schärfer ab: dem
T. aequalis giebt er beim Nieder- und Aufschlag gleich viele Noten,
deren Hälften unter sich betrachtet ungleich sind, so daß ein solcher
Takt aus kleineren zusammengesetzt zu sein scheint z. B.
dt
^
ß dg^
t^
Zum T. aeqtcalis proportionatus gehören : — , — , -^, — etc.
Der ungleiche proportionirte Takt erhält beim Niederschlag mehr
gleich geltende Noten, als beim Aufschlag. Hierher gehören folgende,
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 5^7
zum Theil wörtlich nach Ahle angegebene Proportionen : Tripla maior
3 . . .
- [3 Semibreves bilden einen Takt); sind nun in Tripla maior die
Noten geschwärzt, so wird ein geschwinder Takt gegeben, der dadurch
3
eine Art von Sesquialtera wird. Bei dieser Proportion — bilden 3 Mi-
nimae den ganzen Takt. Auch hier kann durch Schwärzung aller
Noten ein schnelleres Tempo angezeigt werden, der Takt wird dann
zum Unterschied von der mit weißen Noten geschriebenen Sesquialtera
3
Hemiola nigra genannt Weiter folgen: Prep, Subsesquitertia j, Prop.
3 , 9 / .
Subdupla superbipartiens tertias — , Prop. Dupla sesquiquarta — (beim
Niederschlag j, beim Aufschlag — j, Sesquioctara — 1 beim Nieder-
ß ^ \
schlag — beim Aufschi. —1 und Subsuperseptempartiens
0 o /
9
nonas — -
16
(fi ^ \
beim Niederschi. — ■ beim Aufschi. -—). Alle anderen Taktarten
10 Ib/
verwirft Walther. Mit einem das Obige erläuternden Citat aus der
Ars cantandi von Carisimi und dem Hinweis, daß nähere Auskunft
in Janowkas Clavis etc. zu finden sei, schließt dieses Kapitel.
Die äußere Darstellung dieses Abschnitts folgt der älteren Lehre.
Noch spielen die Proportionen eine große Rolle, und zum Theil durch
diese wird das Tempo bezeichnet. Doch hören wir nichts mehr vom
Tempus perfectum und imperfectum. Ganz fehlen hier die Tempo-
bezeichnungen Modus major und minor ^ welche für Maxima, Longa
und Brevis in Betracht kommen, sowie die Prolationen, zu denen
die kleineren Notenwerthe gehörten. Nur die Schwärzimg der Noten,
welche bei den Alten die 3. Bezeichnungsart des Tempo w^ar, und
namentlich für sehr schnellen Takt angewendet wurde, hat sich bis
zu Walthers Zeit noch erhalten. Geht aus solchem Schwund schon
eine Änderung der Auffassung hervor, so erkennen wir besonders in
dem Überwiegen des geraden Taktes über den ungeraden eine wichtige
Neuerung, welche namentlich in dem durch die Instrumentalmusik
hervorgerufenen homophonen Kompositionsstil die größte Berück-
sichtigung fand. * Von den vier größeren Taktgattungen Walthers
1 Genauere Ausführungen über das Zurücktreten des ungeraden Taktes siehe
C. Paesler : Fundamentbuch von Hans von Constanx. Viertel] ahrssehr. f. Musik-
wissensch. V. Jahrg. 1889 Heft I S. 57/58.
51 S Hermann Oehrmann,
gehören drei dem geraden Takt an : 7. simplex totalis, T. 8. generalis
und T. proparttonatus aequalis; für den ungeraden bleibt allein der
T, proportionatus inaeqtuilü übrig.
3
Schon vor Walthers Zeit waren der Allabreve- und -rtBiki mit
4
3
ihren Abarten allein in Gebrauch. Was den —takt anbetrifft, so
4
schreibt Reincken, in dessen handschriftlicher Lehre von 1670 wir
zum ersten Male allen diesen den Takt betreffenden Neuerungen be-
gegnen, daß dieser heutigen Tags den italienischen Sängern gar gemein
sei. Auch Ahle macht in den Anmerk. zu cap. XI der Singk. den
Schüler mit folgenden Worten auf ihn aufmerksam: »EQer ist zu ge-
3
denken, daß ich in der 14. Fuge vorn die Zahlen j vorgefugt: weü
diese Proportion itzund gar gebräuchlich wird«.
Auch in der Vorzeichnung des Taktes tritt uns bei Walther
eine schon in Beinckens Lehre bemerkbare Änderung entgegen.
Nur der Vierviertel- und Allabrevetakt wird dauernd durch das alte
Signum imperfectionis bezeichnet, für die Vorzeichnung aller anderen
Taktarten dienen die Proportionszahlen. Diese Änderung wurde
durch die wachsende Bedeutung kleinerer Notenwerthe nöthig. Um
im bewegten Toccatenstil und in den lebhaften Violinpassagen die
große Zahl der Achtel- und Sechszehntelnoten übersichtlich darzu-
stellen, griff man zu den Verhältnißzahlen von denen nach Ahle die
obere Ziffer die Anzahl der durch die untere Ziffer bezeichneten
Notenwerthe in jedem Takte angiebt.
Über die eigentlichen Tempobezeichnungen bringt Walther in
diesem Kapitel nichts; aber in dem später folgenden Verzeichnis
musikalischer Begriffe kommen jene zuerst bei Beincken auftretenden
italienischen Ausdrücke, wie Adagio^ Allegro etc. vor, welche an die
Stelle von Modus^ Prolatio etc. getreten sind. Schließen wir mit
dem Takt die Besprechung der Klangzeichen hinsichtlich ihres Zeit-
werths, so wollen wir im Anschluss daran die Klangzeichen hinsicht-
lich ihrer Unterscheidung nach hoher oder tiefer Stellung, mit einem
Worte die Claves betrachten, welchen in der Lehre Walthers die ganze
2. Abhandlung des l.Theils gewidmet ist. Wir verlassen daher ein
wenig die Walthersche Ordnung und kommen auf die noch übrigen
Kapitel der 1. Abhandl. nach der Schilderung der Claves zu sprechen.
Die in Kap. 1 und 2 enthaltene Darstellung beginnt mit der
Aufzählung der 7 Buchstaben AB C D E F G und deren Anord-
nung auf dem Klaviere. Diese reicht vom großen bis zu dem drei-
gestrichenen c und umfaßt also 4 Oktaven. Zunächst werden die
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 5|9
chves signatae besprochen. Die 3 Hauptschlüssel f^ c und g werden
hinsichtlich ihrer verschiedenen Stellung auf dem Liniensystem und
ihrer verschiedenen Bezeichnung in Choral-, Figural- und Instru-
mentalmusik dargestellt.
Auf die Claves minies principdles !?, i[, ft ^^^ ^ 8®^* Walthei
später ein. Die 4 übrigen Buchstaben A S D E werden Claves
inteüectae genannt, weil sie aus den Claves signatae leicht erkannt wer-
den können. Alle diese Ausführungen sind hauptsächlich aus Janowka,
doch auch von Snegassius, Carissimi und Kircher entlehnt. Die
Solmisationssilben fehlen hier. Als Grund dafür giebt Walther I.
l.Abhandl. Kap. 8 an, daß »sie heutigen Tages etlicher maaßen in
decadenz gerathen sind«. In Kap. 3 wird eine fast wörtlich aus
AMes Anmerk. zu Kap. 5 d. Singk. entlehnte vollständige Geschichte der
Chwes gegeben. Ahle schöpfte seinerseits aus Frintz Hist. Singkunst,
Kircher Mursurgia und Praetor ius Syntagma.
Nach der Vermehrung des durch Merkur erfundenen Tetrachords
auf 15 Töne, erhalten diese 594 durch Papst Gregor die 7 er-
sten alphabetischen Buchstaben zu Namen. Durch Guido, der die
15 Töne um 5 vermehrte (F; ^ cde)^ vraxAe Aas semitonium ßctum ein-
geführt und von dem b rotundum das b quadratum unterschieden. Da
nun das b molle oder rotundum keine reine Quinte unter sich hatte,
wurde das tiefere e txjl es erniedrigt u. s. fort. Aus demselben Grunde
verlangte das b durum oder quadratum ein ^ u. s. w. Jede Clavis
hat nun 3 Benennungen, z. B. ces c cisA Außerdem giebt es Be-
zeichnungen mit Doppelkreuzen z. B. cisis oder eis durum; da diese
Supersemitonia im Klaviere fehlen, so nimmt man die folgende
Clavis z. B. statt ^* durum das g u. s. w. Daß diese »halben Halb-
tone« im Klaviere fehlen und »an deren statt ein anderer (tempe-
rirter) Clavis gebrauchet« werde, ist auch im folgenden Kap. 4 § 4
betont.
Während das Doppelkreuz |;^ oder x enharmonisch und das
Intervall ^5 ^Ä durum eine Diesis genannt wird, heißen die Töne mit
einfacher fictiler Überzeichnung, oder mit j? und ^, chromatisch und
mit diatonischer Vorzeichnnng 5 oder ohne jede Vorzeichnung dia-
tonisch. Nach Janowka, resp. dessen Quellen Schott und Kircher
werden die heute gebrauchten drei vermischten genera modulandi
in Kap. 4 dargestellt, von denen weiter vorn die Rede war. Wich-
tig und zum großen Theil Original sind Walthers Ausführungen über
i Casp. Lange in seiner Methodus, Hildesheim 1688 vill in cap. 3, daß man
statt ce9, des, es u. s. w. cel, del, el, sage, um den Mollcharakter dieser Töne mehr
hervortreten zu lassen. Ahle schlägt in cap. 5 Anmerk. zur Singk. für h und h
die Bezeichnung hes und bis vor.
1891. ^^
520 Hermann Gehrmann,
den Gebrauch des i; und [? in Kap. 5. Nach Ahle und Janowka
stellt Walther zunächst fest, daß in der älteren Musik i ^^^ ^^ ^
und b nur für b gebraucht wurde. Später aber seien beide Zeichen
auch anderen Claves vorgesetzt. Jetzt, fährt Walther selbständig fort,
streite man sich darüber, ob ^ gleiche Eigenschaften bei den mit jt
versehenen Claves habe, wie bei den mit i? versehenen, daß es näm-
lich nur erhöhe. Diese Streitfrage löst er im heutigen Sinne dahin,
daß das '^, wenn ein oder viele ^ in einem Gesänge vorgezeichnet
sind, erniedrigt, dagegen wenn b rotunda vorgezeichnet sind, diese
damit versehenen Töne erhöht. Will man z. B. ais oder as in den
diatonischen Ton a verwandeln, so geschieht dies durch Vorsetzung
von h. Bei Walther hebt ein chromatisches Zeichen das andere
chromatische signum nicht nur auf, sondern verwandelt die Clavis
wieder in einen chromatischen Ton; setzt man z. B. vor ais ein 6,
so wird nicht a , sondern as daraus. ^ Die falsche Meinung Vieler,
daß ^ immer erhöhe, erklärt er daraus, daß zur Zeit der Alten, wo
nur mit b transponirt wurde, ij immer erhöhte.^
Walthers Verdienst ist es , hier zum ersten Male Klarheit ge-
schaffen zu haben. Durch scharfe Sonderung der älteren Auffassung
von der neueren fand er, daß das Wesen des b quadratum rein dia-
tonischer Natur ist, während das, angeblich von Guido eingeführte,
b rotundum ein chromatisches Zeichen sei. In Bezug auf das alte
Mollsystem jedoch ist das letztere als ein diatonisches Zeichen zu
betrachten. Denn die durch das b rotumdum selbst bezeichnete clavis
b blieb insofern ein diatonischer Ton, als er nur ein transponirtes,
diatonisches / ist. Andererseits blieb den Alten das Bewußtsein seiner
fictilen Natur erhalten, wie durch die schon lange übliche Erniedrigung
der Claves e zu es, a zu as u. s. w. bestätigt wird. Bedenkt man
diese doppelte Bedeutung des b rotundum, so wird auch der Schluß-
satz Walthers klar, wenn er das b rotundum für den größeren Scher-
wenzel hält, als das b quadratum, weil dieses stets einen diatonischen,
jenes aber bald einen diatonischen , bald einen chromatischen Ton
bezeichne. Diese diatonische Natur des b quadratum finden wir
unter den Waltherschen Quellen nur bei Calvisius bestätigt, wenn
er ausdrücklich Melop, cap, VI, erklärt, daß S) nicht nur erhöhe,
sondern auch erniedrige. Walthers Ansichten über diese signa finden
wir auch in der 1. Abhandlung Kap. 8 § 10, 11 und 12 wieder.
Dort weist er darauf hin, daß ein diatonisches Zeichen einen Ton
^ Bei Casp. Lange in der Methodus wird jedoch || durch t^ und umgekehrt 7
durch |t aufgehoben.
^ Diesen Glauben theUen Ahle in den Anmerk. zu cap, 8, Werckmeister jHar*
manologia § 26 und Lange Methodus cap. 3.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker.
521
diatonisch, ein chromatisches chromatisch und ein enharmonisches
Zeichen eine c/at^ts enharmonisch mache.
Nur zwei Kapitel fehlen noch unserer Darstellung des ersten
Theils. Beide gehören der ersten Abhandlung an: cap. 6, welches
von Punkten, und cap, 8, das von » denen übrigen Characteribtcs han-
delt. Fünf verschiedene Arten von Punkten zählt Walther auf: 1)
den.Punctus augmentationis, 2) P. divisiohis^ 3) P. syncopattcSy 4) P.
percutiefis und 5) P. serpens. Auf die bekannte Bedeutung der bei-
den ersteren gehen wir nicht näher ein. Von den drei anderen ist
der PuncttLS percuUens der wichtigste. Er zeigt an, daß die Noten,
über denen er steht, gestoßen werden sollen.
Subtilere Unterscheidungen des P. augmentationis erblicken wir
in dem P. syncopatus und serpem. Der Erstere macht eine Note
synkopirt, doch muß der Punkt gegen die andere Stimme, über
welcher er steht, konsoniren. Eine neue Erscheinung tritt uns in dem
P. serpens entgegen. Er verlangt, daß die auf folgende Art gesetzten
Noten sollen »geschleifet« werden:
In cap. 8 werden zunächst die fünf Linien als das Systema mu-
stcum vorgestellt. Aus Janowka's Clavis, Snegassius' Isagoge^ Walli-
sers Musica figuralis und Printz* Satyr. Comp, stammt die Beschrei-
bung anderer Characteres, Alle Arten von Wiederholungszeichen
werden aufgezählt :||:, |: :|, —, — i-, ferner die Signa Fugarum: §. .S.,
darch welche der Eintritt einer anderen Stimme angegeben wird. Es
folgt die Beschreibung des Custos w, ^, ^, der am Ende einer Zeile
steht. Kommen diese Zeichen mitten in der Zeile vor, so bedeuten
sie einen Schleifer, z.B.:
^
f^
±
^^
5=5:
-1 »♦v
B
■ AY...
-^ • 7^
-i^— F
Resolutio.
Der Circuitus hat folgendes Zeichen: (* oder (.
Resolutio,
-rr^^^
.OL
^
35»
r _t___f>
522
Heimann Gehimann,
Es folgen noch Beschreibungen des Ccule, . , ^F^ Besolutio :
^
m
der Triller, des Mordent ^, des Accenttis simplex
ascendens und descendens {" und '^] und Aceentus duplex ^ z. B.:
li II
¥
EO
:5
£
Reaolutio,
fUT^-^^^mB
:^f=tJ
t
Besonders diese Accente geben einem Stücke eine große Zierde,
aber ihre geschickte Ausführung erfordert ein Jahre langes Studium
nach Kuhnaus Musikal. Quacksalber S. 251, femer werden beide
Zeichen für Arpeggio mitgetheilt :
^
I.
JRetolutio.
und das diatonische, enharmonische und die chromatischen Signa auf-
gezählt.
Nehmen hier die Zeichen, welche für die Instrumentalmusik in
Frage kommen, bereits einen großen Raum ein, so überwiegt in dem
nun folgenden alphabetischen Yerzeichniß technischer Ausdrücke die
Darstellung der instrumentalen, sowie die der einer neueren Epoche
angehörigen Termini bei weitem jene der älteren und der rein vo-
kalen Musik angehörigen Begriffe. Dieses Yerzeichniß reicht von
Folio 3 1 ^ — 5 1 und enthält außer den Termini in lateinischer Sprache
hauptsächlich neuere Bezeichnungen in italienischer und französischer
Sprache. Die Hauptquellen sind hier Praetorius' Syntagma und
Janowka's Clavis. Aus dem ersteren Werk schöpft Walther seine
umfassende Beschreibung der wichtigsten Instrumente und der in-
strumentalen Formen. Diese Ausführungen werden ergänzt durch
Zusätze aus dem Register musikalischer Termini, welches sich in
Sperlings Principia Musicae und in Niedts Handleitung 2. Theü
findet.
Nach Janowka's Clavis sind hauptsächlich die bereits der frühe-
ren Lehre angehörigen Formbegriffe und allgemeinere fiir jede
Art von Musik gültige Ausdrücke dargestellt. Doch schöpft hier
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 523
* ■■■-=■- . ■ ■ . - ■ ■■ ■ ..,— -■ ■ . ^
Walther häufig auch aus dem Yerzeichniß, welches in Kap. 12 von
Ahle's Anmerk. z. Singk. sich findet. Auch Bononcini und Lippius
werden herangezogen; häufig aber erweitert Walther selbst den ent-
lehnten Text. Gerade dieses Verzeichniß wurde für Walthers Lexikon
eine wichtige Vorarbeit. Aus diesem Grunde werden wir auf das-
selbe später noch näher eingehen.
4.
Die Elementarlehre Walthers, soweit sie in der
allgemeinen Abhandlung des 2. Theils enthalten ist.
(Kap. 1—13).
Während der 1. Theil von Walthers Lehre rein elementarer
Natur war, wird im 2. Theile eine eigentliche Kompositionslehre
gegeben. In ihm finden auch jene Elemente eine Beschreibung,
welche im 1. Theile nicht berücksichtigt waren, nämlich die Liter««
▼aUe und die Modi. Daß diese erst hier zur Besprechung kommen,
mag folgenden Grund haben.
In dem 1. Theile werden nur einfache, ursprüngliche Elemente
dargestellt. Die Intervalle nun sind keine einfachen Elemente, son-
dern nehmen, da sie aus zwei einfachen Elementen, Tönen, immer
bestehen müssen, eine höhere Stufe, als jene Noten oder Clave»
ein. Aus diesem Grunde finden sie in dem 1. Theile keinen Platz,
sondern erst bei der Melopöie, als deren unmittelbare Elemente sie
zu betrachten sind. Mit demselben Rechte werden auch die Modi
eist im 2. Theile erwähnt; auch diese haben im gewissen Sinne der
Komposition gegenüber einen elementaren Charakter, doch ist der-
selbe geringer, als bei den Intervallen, aus welchen die Modi gebil-
det sind. Wegen ihrer speciellen Bedeutung für den strengen Stil
leiten sie bei Walther zur Darstellung der strengen Formen über.
Im Verhältniß zu dem kleineren 1. Theil weist der umfang-
reichere 2. Theil noch folgenden Unterschied auf. Jener hat in-
sofern einen allgemeinen Charakter, als alle denkbaren Termini,
welche für alle musikalischen Zweige, nicht nur für eine Komposi-
tionslehre in Frage kommen, aufgezählt wurden. Nicht so allge-
meinen Charakters ist der 2. Theil, in welchem die eigentliche Me-
lopöie enthalten ist. Wurden im 1. Theil, die Instrumente und
die durch sie hervorgerufenen freieren Formen kurz erklärt, so hat
Walther mit pädagogischem Scharfblick hier den Generalbaß, sowie
eine freiere Formenlehre, worin, wie bei Niedt, gezeigt wird, wie
man Tänze, Variationen, Fantasien etc. komponiren muB, fortge-
524 Hermann Gehrmann,
lassen und nur auf die strenge Komposition sein Augenmerk ge-
richtet. Daß die äußere Anordnung des 2. Theils von Crügers
Synopsis entlehnt ist, wurde schon früher gezeigt. Der Musicae
poeticae pars generalis ^ Folio 67 — 113, beginnt mit jener wissen-
schaftlichen Einleitung, in welcher die Rationen angezahlt werden.
Es folgen in 14 Kapiteln die Monas y Dyas, Trias musica, sowie
der einfache Satz. Kap. 1 handelt in allgemeiner Weise über die
Intervalle, die wichtigste Quelle für dieses, wie auch für die folgen-
den Kapitel sind die Plejaden des Baryphonus. Durch Intensio oder
Remissio eines Tons entstehen Intervalle oder Stimmweiten [PL I
qttaest. 2) ; Wurzel der Intervalle ist der Unisontis (Snegass. Isag, L II
c. 2]y der im Gegensatz zu den Intervallen immer im gleichen Tone
bleibt und in proportione aeqtialitatis steht (Werckmeister Mus. Tem-
peratur Kap. 8].^ Es werden dann die einfachen Intervalle aufge-
zählt : Semitonium minus und maius, Secunda minor und maior (großer
und kleiner Ton), Tertia minor und maior , Quarta, Quarta deficiens
und abundans, Quinta, Quinta deßdens und abundans, Sexta mitior und
maior, Septima minor und maior, Octava. Die zusammengesetzten In-
tervalle werden ebenso behandelt, wie die einfachen, ausgenommen
die None. Diese Aufzählung lehnt sich ganz an Janowka an. Daß
die Intervalle in der natürlichen Ordnung aufeinander folgen, beweist
von neuem, daß wir es mit einem Unterrichtswerke zu thun haben.
Denn in solchen Werken werden die Intervalle immer nach diesem
Princip aufgezählt, so bei Snegassius, Calvisius und Crüger. Im
Gegensatz zu diesen stehen Zarlino , Baryphonus , Lippius und
Werckmeister, welche in ihren gelehrten Werken die Intervalle nach
der Ordnung der Rationen auf einander folgen lassen, wo also die
Aufzählung mit der Oktave beginnt und mit der Septime aufhört
Außerdem sind hier in Kap. 1 nur die in der Praxis ausführbaren
Intervalle aui^ezählt, die kleineren nur für die Berechnung wichtigen
Intervalle werden später erwähnt. Anfechtbar ist die gesonderte
Aufzählung von Semit minor und maior und Secunda minor imd
maior. Denn sie giebt zu der falschen Vorstellung Veranlassung,
daß Secunda maior und minor dem großen und kleinen Ton allein
entsprechen. Das ist aber nicht der Fall. Denn in einer Tabelle,
wo alle diese Intervalle in Noten dargestellt sind, bezeichnet Wal-
ther richtig nach Crügers Synopsis cap. 6 den großen und kleinen
Halbton als Secunda minor und den großen und kleinen Ganzton als
Secunda maior.
1 Werckmeister unterscheidet von Unisonug den Aequisonus {Temp, eap. 6).
Snegassius rechnet UnisontM mit su den Intervallen, was Walther nicht thut.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 525
In den folgenden Kapiteln wird nun das Wesen dieser Intei-
valle in der Weise durchgesprochen, daß bei jedem Intervalle der
Name, die Anzahl ihrer durch die Lage des H^btons yerschiedenen
Species, ihre Bezeichnung mit Silben und Buchstaben, die Propor-
tion, sowie eine Anzahl Transpositionen angegeben werden. Fast
ausschließlich wird hier aus der 4. und 5. Plejade des Baryphonus
geschöpft und das vorgefundene Material nur wenig durch Zusätze
aus Snegassius, Kircher, Werckmeister und Printz erweitert. Selb-
ständig ist von Walther die Darstellung der mit Kreuz- und J-Vor-
zeichnui^ versehenen Transpositionen eines jeden Intervalls hinzu-
gefügt. Aber auch im einzelnen sind hie und da originale Zusätze
zu dem alten bekannten Stoffe gegeben. Bei den Halbtönen wird
auf die äußere Stellung derselben hingewiesen. Haben die 2
Töne ungleichen Grad und Namen, z. B. c des^ so ist der Halbton
groB, stehen die beiden Töne aber in einer Linie oder in einem
Zwischenraum des Systems zusammen, und haben sie also gleichen
Grad und Namen, z. B. c eis, so bilden sie das Intervall des kleinen
Halbtons.
Auch bei den Terzen giebt er als äußeres Erkennungszeichen
den Sprung »von einer Linie oder Spatio in die andere nechst drüber
oder drunter folgende« an. Die Quinta imperfecta erkennt er dadurch,
daß im System an unterer Stelle das ^ oder an oberer das j? gesetzt
ist. Die ganze Beschreibung der einfachen Intervalle schließt mit
einer Tabelle ab, auf welcher sie übersichtlich in Noten dargestellt
sind. Walther weist hierbei darauf hin, daß mancher Ton zweierlei
bedeuten kann; z. B. ist die Clams fis zu c eine Quarta superfltia,
als auch in ges verwandelt eine Quinta diminuta. Im Anschluß an
diese Intervalle werden noch die der älteren Theorie angehörigen
Begriffe, wie Comma, Diesis, Apotome, Limmaj Schisma und Dia-
schisma auseinandergesetzt. Namentlich über die Diesis schafft Wal-
ther Klarheit. Er stellt nach Kircher die Ansichten der Griechen
(besonders der Pythagoriker) den Ansichten der Neueren (Snegassius
und Printz) gegenüber und kommt zu dem Resultat, daß Diesis heut-
zutage chromatisch und enharmonisch genannt werden kann. Die
chromatische Diesis^ der Nachkomme der pythagorischen Bezeich-
nung des kleinen Halbtons durch Diesis oder Xtmma, ^vird durch
das b cancellatum ausgedrückt, die enharmonische Diesis, welche wie
das Diaschisma die Hälfte des kleinen Halbtons angiebt und die
Diesis in strictiore signißcatu ist, wird durch ein Kreuz oder durch
das verdoppelte b cancellatum bezeichnet.
Es folgt eine nach Snegassius gebildete Eintheilung in gebrauch-
526 Hennann Oehrmann,
liehe und ungebräuchliche Intervalle. *) Gebräuchlich sind Semit min,
und mai,, Secunda min, und mai, , Tertia min, und ma«., Qtiarta^
Quarta deficiens^ Quinta, Quinta diminuta (nur descendendo in Gebrauch]
Sezta min, und mat., Septima diminuta (nur descendendo in Gebrauch)
und Octava. Die ungebräuchlichen IntervaUe sind: Secunda superftua,
Quarta abu7idans, Quinta abimdans, Sexta auperfluxi, Septima minor und
maior. Zum ersten Male begegnet uns hier die Secufida superflua.
doch sind die dazu gegebenen Beispiele falsch; denn sie bezeichnen
Terzen: eis es, fis as u. s. f.; es müßte heißen c dis u. s. f. Die
schon vorhin erwähnte Sexta superfiua erscheint zum ersten Male in
Bernhards Tractatus Compositionis augmentatus. Mit dieser erschö-
pfenden Darstellung der Intervalle, welche cap. 1 — 10 umfaßt, schheBt
Walther die monadische Musiklehre ab und kommt nun, von cap, 11
an, zur Beschreibung der harmonischen Musik. In der Dyaa musica
handelt er von den Intervallen als harmonischen Zusammenklängen,
also von den Kon- und Dissonanzen. Die Konsonanzen werden aber nicht
nur ratione ordinis naturalis^ sondern ZMchratioyie perfectionis da^estellt :
Octava, Quinta, Quarta (Walthersetzt hxnzafundata), Tertia matbrund
minor,Sexta major und minor. Die Erklärung, inwiefern Bieperfeciae oder
imperfectae sind, ist schon früher gegeben. Hier schöpft Walther nicht
nur direkt aus der ^.P/^'arfe des Barj'phonus, sondern auch aus Lippius*
Synopsis, von der er die Beschreibung der harmonischen Zahlen und
der Affekte der Konsonanzen wörtlich entlehnt. Wurden die 7 Kon-
sonanzen getreu nach Baryphonus aufgezählt, so weicht Walther bei
der Darstellung der Dissonanzen in cap, 12 beträchtlich von diesem
ab. Auch Walther behandelt wie Baryphonus erst die Dissonanzen
per se und dann diejenigen per accidens. Während aber Baryphonus
die Dissonanzen per accidens in abundantes und deficientes, ja selbst
diese noch in verschiedene Arten aufs genaueste eintheilt, giebt
Walther hier kurz nur die wichtigsten Dissonanzen an und verzichtet
auf jene gelehrten, allzu subtilen Unterscheidungen.
Auch von den Dissonanzen per se fuhrt Walther nur 3 Arten
im Gegensatz zu den 7 Arten des Baryphonus auf. Als Dissonanzen
per se bezeichnet Walther : Secunda, Quarta non fundata und Septima,
als Dissonanzen per accidens: Quarta diminuta, superfiua, QuifUa
diminuta, superfiua und Octava superfiua. Für dieses 12. Kapitel
ist Calvisius die Hauptquelle, der die Eintheilung der Dissonanzen
in solche per se und per accidens direkt aus Zarlinos Institutionen
^ Bei Snegassius waren gebräuchlich: Unisouus, Semitonium, Totius; Semiditonxu,
Ditomu, Diatessaron, Diapetite, Semitonium cum Diapente, Tonus cum Diapente, Dia-
pason; nicht gebräuchlich : Tritonus, Sefnidiapente, Semidiapason, Ditonus cum Dia-
pente, SemiditontM cum Diapente,
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 527
heiübergenommen hatte. Auch die Ausdrücke diminutua und super-
flum hat Walther von Calvisius entlehnt. Baryphonus wendet diese
nicht an, sondern dafür abundam und deficiens.
Trotzdem ist dieses Kapitel mit einer gewissen Nachlässigkeit
niedergeschrieben. Mit demselben Rechte, wie die besonderen Arten
der Quarte, die Quarta non fundata^ diminuta und mperflua an-
gegebenj werden, konnten auch die Unterscheidungen der Sekund-
und Septimenarten angeführt werden, wie es Calvisius thut; die
Octava diminuta ist vergessen worden; desgleichen fehlt unter den
Dissonanzen per accidens die None, von welcher Walther an anderer
Stelle ausdrücklich sagt, daB sie »mit der Sekunde nicht einerley sey.«
Im folgenden Kapitel 13 handelt Walther in derselben Weise,
wie Crüger und Lippius von der Trias harmonica, welche simplex
oder composita sein kann. Es wird auch wie dort darauf hingewiesen,
dafi die verschiedene Stellung der Terzen für den Dur- oder Moll-
charakter der Trias imd weiter für den eines Cantus maßgebend sei.
AuSer Dreiklängen sind Sextakkorde unbedingt statthaft, ein Quart-
sextakkord wird aber nur dann erlaubt, wenn die synkopierte Quart
sich in eine Terz auflöst. Wird ein Ton einer Trias verdoppelt,
wodurch eine Trias composita entsteht, so geschieht das am besten
mit der Funtamentalclavis oder mit der Quinte; die Terz soll da-
gegen gamicht, oder nur aus Noth verdoppelt werden. Aus der Folge der
harmonischen Zahlen erhellt auch der natürliche Sitz der Konsonanzen,
worauf schon früher hingewiesen wurde. Wörtlich nach Ahles Früh-
lingsgespräch sind die Auseinandersetzungen über die Syzygia (Akkord).
Hier wird der Hauptunterschied nach enger und weiter Lage ge-
macht. Alle diese letzten Ausführungen findet man auch in der
6, Pleiade des Baryphonus (Quelle von Ahle), oder Satyr. Comp,
von Printz und Hodegus von Werckmeister.
5. ^
Die ersten Anfänge des eigentlichen Kompositions-
unterrichts.
*
Einfache Akkordverbindungen, [cap. 14.)
Mit cap. 14 beginnt der erste eigentliche Unterricht in der Kom-
position. Zunächst scheidet Walther selbständig die Principal- von
den Komplementstimmen. Die Ersteren müssen immer rein gesetzt
sein und können sowohl Vokal- wie Instrumentalstimmen sein. Sind
beide Arten zugleich zu setzen, so haben stets die Vokalstimmen das
528
Hermann Oehrmann,
Principat und sind zuerst zu komponireu; die Instrumentalstimmen
aber werden nur dann, wenn die Yokalstimmen pausiren, zu Prin-
cipalstimmen. Nach diesen Ausführungen , durch welche von neuem
die Rücksichtnahme auf die Instrumentalmusik erhellt, kommt Walthei
auf die 4 Hauptstimmen Cantus, Alt, Tenor und Baß zu sprechen;
dem schon früher erwähnten Lippius'schen Vergleich mit den 4 Ele-
menten folgt die Erklärung der 4 Namen durch 4 Hexameter, welche
sich bei Snegassius finden.^ Völlig auf Lippius-Crügerschem Boden
steht Walther, wenn er es für die » kompendiöseste Art zu kompo-
nireu« hält, über den Baß als das Fundament die andern Stimmen
aufzubauen. Ausdrücklich weist er in § 11 dieses Kapitels darauf
hin, daß wir »den Anfang zu komponiren mit 4 Stimmen (als woran
gar viel gelegen) machen wollen.«
Statt vieler Regeln giebt Walther 2 Tafeln, in welchen die ein-
fachsten Akkordverbindungen dargestellt werden. Diese Tafeln sind
aus Herbst' Mmica poetica cap, 5 entlehnt.
Tabula Naturalis.
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Ascendendo.
Descendendo.
In jeder T^i^el werden 8 Akkordverbindungen gegeben, und zwar
vier, in denen der Baß in die Sekunde, Terz, Quarte und Quinte
aufsteigt, und vier, in denen der Baß in diesen Intervallen herab-
steigt. Alle Akkorde bilden Dreiklänge. Beide Tafeln unterscheiden
sich aber dadurch, daß in der ersteren die 3 Oberstimmen wie bei
dem Generalbaß in enger Lage sich befinden, wodurch die Stimmen
insofern natürlich fortschreiten, als sie entweder liegen bleiben oder
^ Snegassius, Tractatultts de quihusdam circa compositas cantilenas scitu net€%-
sariis cap. II: Discantus dicor: pueros me discere fas est] Altus ego : reliquis quod
me juvat altitis ire. Dum teneo mediam vocefn, Tenor est mihi namen. Appelhr
Bassus, haseos quia munere fungor.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker.
529
fast nur schrittweise weitergehen (diese Tafel heißt daher auch Tabula
naturalis) ; daß aber in der 2. Tafel die Stimmen zuweilen in weiter Lage
sich finden und deshalb eine sprungweise, oft gezwungene Fortschrei-
tung vorherrscht, die nicht so gut wie die schrittweise Verbindung
ist. Diese Tafel heißt die Tabula Necessitatts.
Tabula Necessitatts,
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2z:
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22:
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22:
2:
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3:
3:
32:
In Übereinstimmung mit Herbst sagt Walther von ihr, daß sie
inur dann ordinarie zu gebrauchen sei, wenn eine oder die andere
von den Oberstimmen zu viel auf- oder absteige, « oder, wie er selb-
ständig noch hinzusetzt, wenn eine Stimme an eine gewisse 9 Melodie
oder Choral gebunden a ist. Von beiden Tabellen ist, wie Herbst
hervorhebt, die weitaus wichtigste die Tabula naturalis ; sie ist gleich-
sam die Hauptregel für die einfachen Dreiklangsverbindungen, wäh-
rend die Tabula Necessitatts gewissermaßen die Ausnahmen von dieser
Hauptregel enthält. Auch Walther widmet ihr aus diesem Grunde
eine größere Berücksichtigung, als der 2. Tafel. Denn ausführlicher
sind die Kegeln dargestellt, welche er aus der 1. Tafel abstrahirt,
als jene, die er in wörtlicher Übereinstimmung mit Herbst aus der
2. Tafel schöpft.
Die aus der 1. Tafel sich ergebenden Kegeln werden erst in
deutscher Sprache, sodann in anderer Weise in lateinischer Sprache
gegeben. So heißt es zunächst : Wenn der Baß steigt in die secundam
Stiam, 4tam, und Ötam^ so wird aus der 8tava die öta
» » öta » 3tia
n A 3tia » 8tava,
fällt der Baß, so wird aus der 8tava die 3tta u. s. w.
Hier muß ein Fehler Walthers gerügt werden ; die Regeln passen
nicht für den Fall, daß der Baß in die Quinte steigt oder fällt; denn
in diesem Fall wird aus der Stava nicht die Öta, sondern die 3tia, aus
530 Hermann Qehrmann,
der 5ta nicht die 3tia^ sondern die Stava und aus der Stia nicht die
Stava sondern die 5ta, Die obige Regel muß daher folgendermaßen
lauten: Wenn der Baß steigt in die Sekunde Terz, Quarte und
fällt in die Quinte, so wird aus der Oktav die Quinte etc. Ebenso
muß es in der Umkehrung heißen: Wenn der Baß steigt in die
Quinte, so wird aus der Oktav die Terz etc.
In dieser 1. Fassung der Regeln werden die Veränderungen der
einzelnen Stimmen in ihrem harmonischen Verhältniß zu einander
betrachtet. Bei der 2. lateinischen Fassung aber werden die Ver-
änderungen der einzelnen Stimmen hinsichtlich ihres melodischen
Ganges angegeben. Um nur ein Beispiel zu geben ^ führen wir die
erste Regel an: Nota ascendente in 2dam: Stava prioris in tertiam:
tertia et quinta in secundam descendunt d. h. wenn der Baß eine
Sekunde aufsteigt, so macht diejenige Stimme, welche in dem 1. Akkord
die Stava zu dem Baßton bildete, von dem 1. zu dem 2. Akkord
einen Terzsprung und die Terz und Quinte des 1. Akkords je einen
Sekundschritt abwärts zum 2. Akkord. Diese doppelte verschiedene
Fassung der Regeln, welche hier zum ersten Male auftritt, erscheint
uns von großer Wichtigkeit.
Harmonie und einfacher Kontrapunkt werden hier gleichsam ver-
einigt dargestellt, indem schon bei diesen einfachen harmonischen
Verbindungen die Aufmerksamkeit des Schülers zugleich auf die Be-
wegungen der einzelnen Stimmen selbst gerichtet wird. Dadurch
aber wurde von Anfang an jede Einseitigkeit vermieden, wie sie eine
ausschließlich auf Generalbaß oder ausschließlich auf Kontrapunkt
beruhende Lehre mit sich bringen mußte. Gerade dieser Umstand,
daß Walther schon bei den einfachen Akkordverbindungen das Augen-
merk auch auf die Stimmführung gerichtet wissen will, stempelt das
Werk zu einer aus neuesten Anschauungen hervorgegangenen Lehre,
die als Ideal eine völlige Verquickung harmonischer und kontra-
punktischer Kunst anstrebt, ein Ideal, das in dem großen Bach ver-
wirklicht unserm Walther nahe genug vor Augen stand. Die zur
2. Tafel gehörenden Erklärungen sind wörtlich nach Herbst' Musica
poetica pag. 37 gegeben. Die vierstimmigen Beispiele in diesem
Kapitel werden wie bei Herbst auf 4 Systemen geschrieben; erst in
den später folgenden Kapiteln tritt die niederländische Manier auf,
alle Stimmen auf 2 Systemen zu schreiben, und zwar den Baß auf
dem unteren und die drei anderen Stimmen auf dem oberen System.
Aus den Tabellen schöpft Walther die alte Regel, daß perfekte Kon-
sonanzen, Unisoni, Quinten und Oktaven motu recto nicht folgen
dürfen. War für die Tabellen und alles, was damit zusammenhängt,
Herbst als Hauptquelle erkennbar, so läßt sich für den noch übrigen
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 531
Theil der einfachen Akkordlehre eine bestimmte Quelle nicht nach-
weisen.
Wurden bisher nur diatonische Dreiklänge verbunden, so kommt
Walther jetzt auch auf solche Akkorde zu sprechen, in denen die
Diesis (jt) eine Rolle spielt. Die Diesis liebt die Sexte über oder
unter sich. Wörtlich nach Praetorius sagt Walther, daß die Regula,
quod Diesis sequentem notulam ascendentem requirat, in vielstimmigen
Sachen, namentlich in Instrumentalstimmen nicht streng beobachtet
werden kann. In einer Tabelle werden für den Gebrauch der Diesis
23 verschiedene Beispiele dargestellt. In einer Gruppe von Beispielen
Uegt die Diesis im Baß und die Sext über derselben, dies sind in
der Regel Verbindungen des Dominantsextakkordes mit seinem Drei*
klang z. B.:
5 /
e d
a a
[Diesis) eis d
In einer andern Gruppe liegt die Sext unter der Diesis und
diese in einer der 3 höheren Stimmen z. B.:
gis [Diesis) ä
e e
h eis
e A
Im Anschluß an den Gebrauch der Diesis weist Walther durch
ein der alten Lehre angehörendes Citat über Mi darauf hin, daß auch
die Fundamentaltöne A und E nicht nur Terzen und Quinten, son-
dern auch, wie die Diesis Sexten über sich haben können, ein Ge-
brauch, auf den auch Christ. Bernhard in seinem Tract. Comp,
augment, cap, 4 aufmerksam macht.
In jener kurz erwähnten Beispielsammlung für den Gebrauch
der Diesis ist wie in den beiden Haupttabellen noch eine gleiche
Bewegung der Stimmen in ganzen Noten. Doch wird in einigen
Beispielen bereits statt einer ganzen Note eine halbe Note und eine
halbe Pause gesetzt und dadurch schon eine lebhaftere Bewegung
der Stimmen vorbereitet. Die weiteren Ausführungen in diesem
Kapitel sind einem bewegteren harmonischen Satze gewidmet. Es
werden für den Gebrauch der Quarte 9 Beispiele gegeben und genau
durchgesprochen. Es folgen Beispiele für den Tritonus und die Quinta
falsa^ ferner 31 Beispiele für den Gebrauch der Sext und 17 Bei-
spiele für den der kleinen Septime. In diesen vierstimmigen Bei-
spielen werden bald in dieser, bald in jener Stimme halbe Noten
Sext
532 Hermann Gehnnann,
gegen die ganzen Noten der 3 anderen Akkordstimmen gesetzt, so
daß die regelmäßige Bewegung nicht mehr in ganzen, sondern in
halben Noten geschieht. Doch finden sich an Stelle einer ganzen
Note auch punktirte Halbe mit 2 folgenden Achteln, oder 4 Viertel-
noten, oder eine Halbe und 4 Achtelnoten.
Diese Beweglichkeit der Stimmen ist nicht kontrapunktischei
(motivischer), sondern rein harmonischer Natur. Denn sie dient dazu,
den starren fundamentalen Akkordverbindungen durch Verzierungen
wie Vorhalte, Synkopationen, melodische Durchgangs- und Wechsel-
noten individuelles Leben einzuhauchen. Wurden aber bei der frü-
heren starren Akkordmasse nur Konsonanzen und besonders voll-
kommene gebraucht, so verlangt die zunehmende Beweglichkeit der
Stimmen die häufigere Anwendung von unvollkommenen Konsonanzen
und von Dissonanzen. Eben deshalb sind ja die zuletzt erwähnten
Beispiele für den Gebrauch solcher unvollkommenen Konsonanzen
und Dissonanzen, für die Quarte, Tritonus, Quinta falsa ^ Sext und
Septime gegeben. Die hier gezeigten Fortschreitungen wiederholen
sich später in den ausführlicheren Regeln über alle denkbaren Ver-
bindungen. Erwähnenswerth ist aus diesem Abschnitte Walthers
Ansicht über die doppelte Natur der Quarte. Wenn sie an ihrem
rechten Orte (also im oberen Theile der Oktave) steht und nicht
fundamentalis ist, so ist sie eine Konsonanz, wenn sie ganz allein
erklingt oder im Fundament steht, ist sie Dissonanz. Auch diese
Wandlung ist bedeutsam. Zarlino, Calvisius, Baryphonus und Crüger
zählen die Quarte mit zu den vollkommenen Konsonanzen. Herbst
in seiner Musica poetica cap. 4 bringt zum ersten Male diese Walthersche
Scheidung der Quarte, welche Christ. Bernhard und Werckmeister
näher ausfuhren. Ferner findet sich unter den Erklärungen zar
Quarte eine der 6. Pleiade des Baryphonus entlehnte Beschreibung
des FaUobordone.
6.
Die Lehre von den Fortschreitungen der Kon- und Disso-
nanzen (H 2. Abth. Kap. l — 5).
Schließt die allgemeinere Abhandlung des 2. Theils mit Bei-
spielen und Erklärungen, welche nur der ersten Unterweisung im
vierstimmigen Satze gewidmet sind, so beginnt nun die speciellere
Abhandlung mit einer Schilderung aller Fortschreitungen der Inter-
valle. Diese Fortschreitungen zerfallen in 2 große Gruppen. In
der ersten Gruppe werden die Verbindungen der Konsonanzen, in
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 533
der 2. Gruppe die der Dissonanzen beschrieben. Die 1. Gruppe
zerfallt in 3 Kapitel, von denen das erste in allgemeiner Weise über
den Gebrauch der Konsonanzen handelt, die beiden nächsten Kapitel
aber die besonderen Verbindungen der vollkommenen und unvoll-
kommenen Konsonanzen schildern. Die 2. Gruppe umfaßt zwar nur
ein Kapitel, dieses aber gliedert sich ebenfalls in 3 Abschnitte.
Nach einer allgemeinen Vorbemerkung folgen 2 speciellere Theile
über die Figuren, in welchen die Dissonanzen auftreten. Diese An-
ordnung entspricht im allgemeinen der von Printz im Satyr. Kom-
ponisten befolgten. Auch dieser behandelt in 2 symmetrischen
Gruppen von je 3 Abschnitten die Fortschreitungen der Kon- und
Dissonanzen. Beide Gruppen werden bei Printz durch ein dazwischen
stehendes Kapitel von der Relatio non harmonica von einander ge-
trennt. Bei Walther wird diese Figur erst nach den beiden Gruppen
besprochen.
Auch in Bezug auf die besondere Anordnung der 1 . Gruppe war
die Printzsche Eintheilung maßgebend. Printz folgt hier treu der
von Baryphonus in der 6, Pleiade gegebenen Anordnung. Beide sind
auch die Hauptquelle für Walthers Darstellung der Konsonanzver-
bindungen. Das 1. allgemeine Kapitel bei Walther entspricht der
5. — 7. Sektion der 6, Pleiade bei Baryphonus oder dem 14. Kapitel
des 1. TheiU des Satyr. Komponisten von Printz. Das 2. Kapitel
folgt der 8. und 9. Sektion der 6, Pleiade oder dem 15. Kapitel bei
Printz, und das 3. Kapitel ist aus der 11.— 14. Sektion der 6, Pleiade
oder dem 16. Kapitel entlehnt. Weshalb die 10. Sektion der 6. Pleiade^
welche die Fortschreitungen der Quarte enthält, bei Walther nicht
hier, sondern an anderer Stelle angeführt ist, wird später erklärt
werden. Die Anordnung der 2. Gruppe aber folgt nur äußerlich
der Printzschen Eintheilung. Auch bei Printz werden erst Vorbe-
merkungen gegeben und dann die Figuren beschrieben unter denen
die Dissonanzen auftreten. Während aber bei Printz nur die in der
älteren Lehre gebräuchlichen Figuren, Syncopatio und Transittis^ be-
schrieben werden, zählt Walther nicht nur diese, sondern auch die
neueren Figurae superficiales mit auf. Dieses Verfahren tritt uns
zum ersten Male in Christoph Bernhardts »Ausführlicher Bericht vom
Gebrauch der Kon- und Dissonanzen a entgegen. Diese Abhandlung,
sowie jener ebenfalls von Bernhard verfaßte Traktat über die Reso-
lutionen der Dissonanzen ist für die 2. Gruppe Walthers die Haupt-
quelle. Der Inhalt ,des angehängten Kapitels über die Relatio non
harmonica stammt hauptsächlich aus dem Satyr. Komponisten von
Printz.
In dem l. Kapitel der 1. Gruppe wird das Parallel verbot aus-
534 Hennann Gehrmann,
fuhrlich besprochen. Die Aufeinanderfolge perfekter Konsonanzen
einer Art wird motu contrario in Yollstimmigen Sachen gestattet.
Große Freiheiten hat der ühüoniM. Nach Printz, Satyr. Comp. /.
cap, 14 sind aufeinanderfolgende Ufitsoni in allen den Fällen gestat-
tet, wo es sich um Verstärkung einzelner Stimmen durch unisone
Begleitungsstimmen handelt. Das Verbot der Parallelen gilt daher
besonders von Quinte, Oktave und Quarta fundata. Verdeckte Pa-
rallelen dürfen nach Werckmeisters Hodeg. cap. 30 und Hypomnemaia
cap. 4 in vier- oder mehrstimmigen Sätzen in Mittelstimmen auftreten.
In Mittelpartien dürfen auch vollkommene und unvollkommene Quin-
ten nach Werckmeisters Hodeg, cap, 37 wegen ihrer verschiedenen
Proportion aufeinanderfolgen. Weiter ist noch hervorzuheben, daß
auch die Quintenfolgen, welche durch Figuren, wie Accento, Tremolo,
Groppo , Circolo mezzo , Cercare della Nota und Tirata mezza ent-
stehen, nach Ahlens Herbstgespräch gestattet sind. Nachdem noch
eine Anzahl anderer Möglichkeiten angegeben ist, unter denen Konso-
nanzparallelen erlaubt sind, schließt das allgemein gehaltene 1. Kapitel«
Mit größter Ausführlichkeit werden in Kap. 2 die Fortschreitungen
jeder vollkommenen Konsonanz zu allen andern Konsonanzen ge-
zeigt und erklärt. Unter diesen Fortschreitungen fehlen die der
Quarte, auf welche Baryphonus in der 10. Sektion der 6. Pleiade
und ebenso Printz, Satyr. Comp. /. cap. 15 zu sprechen kommt. Dar-
aus aber, daß die Quarte hier in Walthers Lehre keine Stelle findet,
ergiebt sich von neuem, daß die früher dominirende Auffassung der
Quarte als Konsonanz bereits das Übergewicht über den Dissonanz-
charakter derselben verloren hat, und zwar mit vollem Recht. Denn
selbst bei Baryphonus ist die Einordnung der Quarte unter die Kon-
sonanzen doch nur eine rein äußerliche, die im Widerspruch zu ihrer
Behandlung durch Baryphonus steht. Denn in allen Fällen tritt sie
auch bei Baryphonus als ein synkopirtes Intervall auf, das eine
Auflösung in die Terz verlangt. Sie wird also wie eine Dissonanz
behandelt.
Die Fortschreitungen jeder einzelnen Konsonanz mit den 6 an-
deren Konsonanzen werden in je einer Regel dargestellt. Nur bei
der Quinte fehlen die schon im vorigen Kapitel besprochenen Ver-
bindungen mit der Quinte selbst; hier, bei der Quinte, werden dem-
nach die Fortschreitungen nur in 5 Regeln dargestellt. Jede Regel
zerfällt wieder in mehrere Gruppen; in der 1. Gruppe werden die
Fortschreitungen motu recto^ in einer 2. Gruppe diejenigen motu
contrario j und in einer 3. Gruppe, falls sich dafür Möglichkei-
ten finden. Fortschreitungen motu ohliquo aufgezählt. So werden,
um ein Beispiel zu geben, bei der Oktave, in der 1. Regel die
Johann Gottfried Walther als Theoretiker.
535
Foitschieitungen in die Oktave , in der 2. Segel die in die Quint,
in der 3. Regel jene in die große Terz, in der 4. Regel die in die
kleine Teiz, und in der 5. und 6. Regel die Verbindungen mit der
groBen und kleinen Sext gegeben. Alle 3 Gruppen von Bewegungen
finden sich, um das Beispiel der Oktave beizubehalten, in der 4. Re-
gel derselben, also bei <len Fortschreitungen in die kleine Terz. Es
werden dort 4 Fälle motu recto gegeben : 1) wenn die obere Stimme
in die Quarte, die untere in <Ue Sekunde aufsteigt, 2) wenn die
obere in die' große Teiz und die untere in die Quinte herunter-
geht 3) wenn die obere in die Quinte und die untere in die große
Terz hinau%eht , 4) wenn die obere in die Sekunde und die un-
tere in die Quarte absteigt. In Beispielen ausgeführt, sind diese
4 Fälle bei Walther in folgender Weise dargestellt.
<9
^ yg>—
1 *^
^ Ä
o?
O'
n
cP
ö^
— 3 — ^~"
ß/
Von diesen finden sich Fall 1 und 4 bereits bei Baryphonus;
alle 4 Fälle aber treffen wir bei Printz an, sie fehlen sämmüich bei
Bernhard.
Motu contrario werden 5 Fälle aufgezahlt, von denen wieder
zwei bei Baryphonus sich finden, alle aber bei Printz:
1) Wenn die obere Stimme eine Teiz herunter und die untere
in die Quart herauf springt, 2) wenn die obere in die Quarte hinab, die
untere in die Terz hinaufspringt, 3) wenn die obere in die Sekunde
absteigt und die untere in die Quinte hinaufspringt, 4] wenn die
obere in die Quinte hinabspringt, die untere aber gradatim aufsteigt,
5) wenn beide Stimmen von einander abweichen, eine per semito-
mum maiuSf die andere per tonum. In ähnlicher Weise wie oben
wird für jeden Fall ein Notenbeispiel gegeben.
Motu obliquo werden Fälle aufgeführt, welche aus Chr. Bern-
hards Traktat von der Komposition genommen sind: Die Oktave
geht in die große oder kleine Teiz, wenn eine Stimme still steht,
und die andere sich bewegt. Die hierzu gegebenen Beispiele sind
fiedsch, denn statt der Terzen finden sich hier lauter Sexten.
In dieser Weise werden alle Fortschreitungen aufgezählt. Von
der Oktave fuhrt Walther 37 erlaubte und 3 verbotene Fälle an, von
der Quinte 34 erlaubte und 2 verbotene Fälle. In Kap. 3 werden
189L
36
536 Henuann Oehrmann,
die Fortschreitungen der unvollkommenen Konsonanzen durchge-
sprochen. Von der Tertia maior werden 29 erlaubte und 2 verbotene
und von der Tertia minor 28 erlaubte und 3 verbotene Fortschrei-
tungen mitgetheilt. Femer zählt Walther von der Sexta maior 19
erlaubte und 2 verbotene und von der Sexta minor 16 erlaubte und
4 verbotene Fälle auf.
In einer ebenso ausführlichen Darstellung folgen in Kap. 4
die Dissonanzen. Nach den Vorbemerkungen werden im 1. Theile
die Fundamentalfiguren, in denen die Dissonanzen auftreten, dar-
gestellt^ in dem 2. Theile die Figurae euperficiales. Diese Zwei-
theilung entspringt einer Unterscheidung älterer und neuerer An-
schauung. In der älteren Lehre traten die Dissonanzen nur in
den beiden Figuren der Syncopatio und der Celeritae (auch Com-
missura oder Transiitis genannt) auf; diese werden daher auch zu-
erst und am ausführlichsten dargestellt, sie gehören überwiegend
dem strengen vokalen Satze an. Ihnen folgt die Beschreibung der
superficialen Figuren, welche erst in neuerer Zeit nach Bernhard
durch »künstliche Sänger und Instrumentisten a erfunden sind. ^
Die Scheidung beider Theile ist aber insofern äuBerlich, als bei den
Fundamentalfiguren auch moderne Auflösungen gezeigt werden,
welche der älteren Lehre fremd waren, so z. B. bei der Synkopation die
moderne Behandlung der None. Immerhin aber wird durch diese
Sonderung die Darstellung übersichtlicher gestaltet. Wie wir aber
schon früher darauf hinwiesen, ist dies kein originales Verdienst
'Walthers, sondern Bernhards, der in seinem »Ausführlichen Bericht
von den Kon-* und Dissonanzenc zum ersten Male diese Trennung
bewuBt vorgenommen hat. Wir wiederholen, daß das ganze Kapitel
getreu in Text und Beispiel aus Bernhards Schriften geschöpft ist
'Nach einer allgemeinen Vorbemerkung, in welcher genau nach CSal-
visius Melopöia Kap. VT auf den Nutzen der Dissonanzen hingewiesen
wird, beginnt mit einer Etymologie und Definition des Ausdrucks
^ In Bernhards »AusfOhrl. Bericht vom Gebrauch der Kon- und Dissonanzen*
heißt es in Kap. 13: »Bisher haben vir von den Fundamentalfiguren gehandelt.
Wie nu^ die Alten von denselben nicht geschritten, so soll man sieh auch ihrer
bei ihren Arten der Composition bedienen. Nachgehends aber hat man observiret,
daß künstliche Sänger und Instrumentisten, wenn dergleichen Sachen su machen
gewesen seien, von den Noten hier und da etwas abgewichen und also einige an-
mutige Art der Figpiren su erfinden Anlaß gegeben; denn was mit vemflnftigeii
Wohllaut kan gesungen werden, mag man auch wohl setien. Dahero haben die
Componisten im vorigen 15. Jahrhundert allbereit angefangen , eines und das an-
dere lu setsen , was den Vorigen unbekannt war. Bis daß auf imser Zeiten die
Munca so hoch gekommen, daß wegen Menge der Figuren, absonderlich aber in
dem neu erfundenen Stylo recitativo sie wohl einer JRhetoriea su veqpleiehen«.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker.
537
^Syncopat%o9i die Daistellimg dieser Figur. Der von avy-KOTtTO) ab-
geleitete Begriff bedeutet, daß die Noten gegen den Takt traktirt
werden. Die Synkopation kann mit und ohne Beimiscbung von Dis-
sonanzen ausgeführt werden. Nach weiteren Bemerkungen über die
Beschaffenheit der synkopirten Note folgen im AnschluS an Bern-
hards Traktat von den Dissonanzen die Auflösungen derselben.
Doch ist die Reihenfolge nicht ganz genau dieselbe. Während
Bernhard alle Dissonanzen per- se und dann jene per ctccidens be-
spricht, werden von Walther beide Arten vermischt dargestellt,
indem hier die natürliche Ordnung streng befolgt wird: Secunda,
Semidiatessaron , Quarta, Tritonus, Quinta diminuta, superfitca, Se-
ptima und Nona. Die Synkopationen und Resolutionen einer jeden
Dissonanz werden in der Weise dargestellt, daß zuerst die ge-
bräuchlichsten und z. Th. schon früher bei der Akkordlehre mit-
getheilten Falle in zweistimmigen Beispielen aufgeführt werden. Es
folgen dann ungewöhnliche Auflösungen, welche Walther nach
Bernhards Muster zunächst in zweistimmigen Beispielen darstellt.
Vielfach werden diese ungewöhnlichen Fortschreitungen durch Fi-
guren, Anticipatioj Retardatio und Heterolepsis entschuldigt. Den
zweistimmigen Beispielen folgen wie bei Bernhard solche zu drei
und vier Stimmen. Hier werden am liebsten die schon zweistimmig
gegebenen Beispiele, durch harmonische Stimmmen ergänzt, wieder-
holt. Was nun die Auflösungen selbst betrifft, so finden sie meistens
in die Terz oder Sext, und im Grunde genommen nur in diese
statt; denn alle anderen Auflösungen sind gewissermaßen melodische
Umschreitungen, welche schließlich doch erst in einer darauf folgen-
den Terz oder Sext Ruhe finden. Eine besondere Bedeutung haben
die zum großen Theil originalen Ausfuhrungen Walthers über die
Nene. Diese ist nicht mehr eine mit der Oktave zusammengesetzte
Sekunde, sondern eine von dieser ihrer Natur nach ganz verschie-
dene Dissonanz. Vier Differenzen zwischen None und Sekunde
zählt Walter auf. 1] Die None muß in der Oberstimme vorher schon
liegen und der Baß wird angeschlagen; bei der Sekunde aber muß
die Grundstimme vorher liegen und die obere Stimme wird ange-
schlagen.
i9-
SC
e
hR=^
None.
P
* r^ -
-^-
zz:
Sekunde.
^^
•^
36*
538
Hermann Oebrmann,
Aus diesem Beispiele geht hervor, daB die Sekunde sowohl mit
der Oktave, als auch mit der Doppeloktave zusammengesetzt sein,
kann. Walther verwirft bei der Beschreibung der Sekunde in diesem
Kapitel die von vielen angegebene Auflösung in den ünisonus.
Mit Becht weist er darauf hin, daB solche Auflösung »in denen Sim-
plicibus nicht sowohl, als denen Compositis, nämlich in der Nonä nnd
Octavä angehen will«. Hier aber fällt, wie wir oben aus dem Bei-
spiele sehen, die Auflösung der Sekunde in den Unisonus in das
Gebiet der None, nicht in das der Sekunde. Ein anderer Unterschied
ist der, daB zur None über den BaB noch Terz und Quint gesetzt
werden muB, zur Sekunde aber über den BaB Quart und Sext ver-
langt wird, z. B.:
Tg==
:^
-«-
=^
«:
e
t
t
ze:
«:
1
')'r -
•^
z:
^
32t
-^
32=
Die 3. Differenz ist die einzige nicht originale Walthers, sie er-
hellt aus den Kesolutionen der None, welche sich auch bei Bern-
hard finden. Sie löst sich auf 1) in die Oktave, 2) Sext, 3} Terz,
4) Quart, 5) Semidiapente und Diapentej, 6} Septime und 7] None:
1) _ ^1 — J \
Johann Gottfried Walther als Theoretiker.
539
Bei diesem letzten Falle fügt Bernhard hinzu: »Dieses kann
nicht wohl entschuldigt werden und klinget dennoch gut«. Die erste
Hälfte dieses Zusatzes steht auch bei Walther, dagegen fehlt: »und
klinget dennoch gut«.
Hierbei wurden die in den beiden ersten Differenzen angedeu-
teten Merkmale der Nene streng gewahrt. Eine vierte Differenz ist,
daß die None bei ihrer Resolution sich herunter begiebt, die Se-
kunde dagegen mehr »aufwärts springend, oder liegend gefundene
wird.
Nach der speciellen Darstellung von den Resolutionen der syn-
kopirten Dissonanzen werden noch einige allgemeine Bemerkungen
über die Synkopation nachgetragen. So wird häufig die synkopirte
Note ganz dissonirend gesetzt, »wenn nemlich der Text eine Härtigkeit
andeutet.« Zu der Bernhardschen Bemerkung, daß die Dissonanzen
nur in einer Stimme anschlagen dürfen, fügt Walther noch die Aus-
nahme hinzu, daß die anschlagende Sekund und Quart verdoppelt
werden können:
fe
2t
-jBL
3
ymzL
—f^rr
-^^
IJ' C <q:
3
J:
-^-
-ZL
221
t^
^2=
T
f
zz:
In ähnlicher Weise darf eine nota resohens, wenn sie scharf ist,
also eine Art Leiteton bezeichnet, nicht verdoppelt werden, wohl aber
wenn sie weich ist:
f
E
-».
ist
i
?=
^
z:
rJ J I J^
(g -I ^ Tl . '
P
-«-
i
|J J
-*-
^=^=^
■jS.
S
2z:
■^-
ZjBL
Zum Schluß der Betrachtimg über die Synkopation erfolgt eine
Au&ählung der gebräuchlichsten Akkorde, in welchen Dissonanzen
Yorkommen. So tritt uns der Sekundakkord entgegen, wenn Wal-
ther mit Bernhard sagt: die Sekunde leidet neben sich die Quart
und Sext; eine Umkehrung dieses Akkords haben wir, wenn es heißt:
die Semidiapente leidet neben sich die Terz und Sext. In derselben
540 Hennann Qelirmann,
Weise wird als charakteristischer Akkord für die dissonirende Quarte
der Quartsextakkord und für die Septime der Septimenakkord be-
schrieben. Folgte die Darstellung der Synkopation mit ganz gerin-
gen Ausnahmen getreu dem Bemhardschen Traktat von den Disso-
nanzen, so wird die Figur des Transitus ganz genau in wörtlicher
Übersetzung und mit denselben Beispielen nach dem 1. Theile der
4. Bemhardschen Kopie dargestellt. Transitus ist die Bewegung
einer Stimme im Zusammenklang mit einer ruhenden Stimme.
Diese Bewegung ist derart, daß zwischen zwei konsonirenden Noten
sich eine dissonirende befindet. Dieser Transitus ist regelmäBig,
wenn die in thesi stehende Note gegen die andere Stimme konso-
nirt und die in arsi stehende Note dissonirt. Ein solcher Transi-
tus findet nur in kleineren Noten statt, die sich alle schrittweise
bewegen müssen. Der Transitus ist dagegen unregelmäßig, wenn
die in ihesi stehende Note dissonirt und die in arsi stehende kon-
sonirt.
Im 2. Theil dieses Kapitels zahlt Walther die Fiffvrae superficiales
in derselben Weise, wie Bernhard im Ausfuhrlichen Bericht etc. von
Kap. 13 — 22 auf. Die Beschreibung derselben sowie die dazu gege-
benen Beispiele sind abgesehen von wenigen Erweiterungen ebenfalls
von Bernhard entlehnt. Als 1. Figur wird die Supersectio erwähnt,
die auch Accent heißt. Die frühere Darstellung des Accent in der
Elementarlehre deckt sich sachlich völlig mit dieser, doch ist hier
eine andere Beschreibung und neue Beispiele, welche aus Stierleins
Trifolium stammen sollen. Es folgen die Subsumptio, Variaiio oder
Passagioj von der die Tirata, ein Oktavenlauf, eine besondere Art ist
Eine der Variatio verwandte Figur ist die Multiplicatio , »die Ver-
kleinerung einer Dissonanz durch mehrere Noten) in einem Clctci.*
Es folgt weiter die Mlipsis, Hetardatio, Heterolepsis j Abruptio und
Qucisi-Transitus. Mit dem Hinweis auf rhetorische Figuren, die
in Ahles Sommergespräch eingesehen werden könnten, schließt dieses
bedeutsame Kapitel. Kap. 5 handelt von der Relatio non harmomca.
Da diese eine Figur ist, welche schon bei den Fortschreitungen der
Konsonanzen im allgemeinen beobachtet werden muß, so gehört sie
eigentlich in jenes i. Kapitel der speciellen Abhandlung, in welchem
solche Fortschreitungen behandelt werden. So wird sie z. B. von
Zarlino und Baryphonus angeordnet. Doch jetzt sind andere Gründe
für eine neue Eintheilung maßgebend geworden. War früher die
Behandlung der Relatio non harmonica insofern einfach, als sie gänz-
lich verboten wurde (so bei Zarlino und Baryphonus), so ist dieselbe
in neuerer Zeit (seit Printz Satyr. Kompon.) wo die Relatio non
harmonica als wichtiges musikalisches Ausdrucksmittel reiche Ver-
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 541
Wendung fand, sehi erschwert worden. Denn um solche an sich
dissonirende Belationen geschickt anzubringen, müssen .dieselben
durch konkurrirende Dinge dem Gehör angenehm gemacht werden.
Da nun durch die Beschreibung dieser Dinge die früher mit ein
paar Worten abgethane Darstellung der unharmonischen Relation
wesentlich erweitert wird, so nimmt die ganze Darstellung dieser
Belation einen besonderen Abschnitt für sich in Anspruch. Sodann
aber ist die Beschaffenheit dieser Dinge, wie wir später sehen wer-
den, eine derartige, daß nicht nur in technischer Beziehung eine
große Gewandtheit in allen Mitteln der Intervallverbindung voraus-
gesetzt wird, sondern schon eine gewisse Selbständigkeit des Ge-
schmacks vom Schüler gefordert werden muß, eine Selbständigkeit^
die er nur durch vorausgehende lange Übung im Setzen eines
reinen Satzes erlangen kann. Also aus pädagogischen Gründen
schreitet Walther zur Darstellung der unharmonischen Belation
nachdem Alles gezeigt ist, was zur Komposition eines reinen Satzes
gehört.
Walther stellt den Inhalt dieses Kapitels aus den in Werck-
meisters Harmonologia^ namentlich aber in Printz' Satyr. Kompon.
I Kap. 17 und III Kap. 13 niedergelegten Regeln zusammen. Re--
latio non harmontca findet statt, wenn »zwei Soni, welche in dem Pro-
grsBSu einer Konsonanz in die andere quer überstehen, dissoniren«.
Durch konkurrirende Dinge kann sie aber erträglich gemacht werden.
Solche sind 1) progreäsus consonantiae, 2) affectus^ 3) qualitas modi,
4) qualitas intervallorum, 5) celeritas mteroallorttm^ 6) voces concomi-
tantes. Wird die Relatio nicht durch solche Dinge unterstützt, so
bleibt sie unerträglich. Die Begründui^ des Gegensatzes zwischen
älterer und neuerer Anschauung ist ein originaler Zusatz Walthers.
Er weist darauf hin, daß die Alten deshalbdie Relatio non harmonica
gemieden hätten, weil sie i» nämlich das gentcs diatonicum recht pur
behalten und keine chromatische claves mit einmischen wollten; aber
heutiges Tags werden die genera modulandi vermischt gebraucht,«
und daher können mehrere Relationea non harmonicae hintereinander
gesetzt werden.
7.
Übergang zur Formenlehre, Text, Cadenzen und Modi,
(n 2. Abhandl. Kap. 6—9 erste Hälfte).
Nach einem Kapitel, in welchem alles mitgetheilt wird, was bei
der Komposition eines Textes beachtet werden muß, und das aus
542 Hennann Qehnnann,
hierauf bezüglichen Regeln in Herbsf s Musiea poetica, Prints' Satyr.
Komp. und Geo^ Ahles Frühlings- und Sommergespräch lusammen-
gestellt ist, folgt in Kap. 7 und 8 die Beschreibung der Modi.
Diese findet nicht nur aus historischen Gründen statt, sondern
hauptsächlich deshalb, weil die Modi seu Walthers Zeit noch insofern
eine grofie Rolle spielten, als die Choräle in denselben gesetzt waren,
und der O^anist ihrer Kenntniß nicht entrathen konnte. Diesen
mit dem Wesen der einzelnen Modi yertraut zu machen, ist die spe-
cielle Aufgabe des 8. Kapitels, während das vorhergehende in all-
gemeiner Weise über die Modi handelt. Kap. 7 beginnt mit einer
Definition des Wortes Modus^ welches dem griechischen v<{^^ gleich-
gesetzt wird, und eine gewisse »Weise und Schranken c bedeutet, in
der die Melodie eines Stücks sich befinden soll. Durch ein Citat aus
Kirchers Musurgia l, V cap, 7 wird diese aus Werckmeisters Hodegus
cap. 39 geschöpfte Definition noch erMrtet. Weiter nach Herbst wer-
den die 12 Modi kurz beschrieben und von Jonisch an au%ezählt.
Die Erklärung dieser von den griechischen Stämmen genommenen
Namen geschieht durch ein aus Snegassius' Isctgoge 1 I ca^. 5 ge-
nommenes Citat. Nach Printz Satyr. Komp. I Kap. 9 wird ein Modus
erkannt 1) durch den Ambitusj 2) durch die Claustdae formalem und
3) durch die JRepercussio. Während der Amhitus^ der im allgemeinen
eine Oktave groß ist, kurz abgethan wird, läßt nach Printz Satyr.
Komp. I Kap. 8 sich Walther eingehend auf die Schlüsse ein. Diese
betrachtet er melodisch und harmonisch. Bei der melodischen Be-
trachtung, oder wenn wir, um mit Walther zu reden, den besonderen
Gebrauch einer jeden Stimme zu klausuliren beachten, finden
wir folgende SchluBarten: Clattsula formaiis perfectisstma^ wenn die
letzte Fundamentnote eine Quarte herauf oder eine Quinte herabsteigt
Ch perfecta oder düsecta^ cl. minus perfecta oder altizanSy cl, cantizans
und tenorizane. »In Ansehung des Modi« oder genauer in Bezug
auf die verschiedene Stellung des Schlusses zur Trias des Haupt-
modus ist die clausula formaiis entweder essentiaUs (wenn sie in der
Trias des Modus liegt), affinalis^ die in der Trias der Unterdominante
liegt und daher ein oder zwei Töne mit dem Tonikadreiklang gemein
hat; oder sie ist peregrina^ »die gar keinen clavem der Triadis des
vorhandenen Modi« in sich hat. Die chxusuia esseniialis wird noch
genauer unterschieden in primaria , wenn sie aus dem Grundton,
secundaria, wenn sie aus der Quinte, und tertiaria wenn sie aus der
Terz der Trias des Hauptmodus gebildet wird. Diese Eintheilung
ist die wichtigste in Walthers Lehre. Clausula primaria ist stets
ein Ganzschluß, cl. secundaria ein Dominantschluß und cL (tfßnalis
und peregrina sind Kadenzen auf anderen Stufen der Tonleiter. Die
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 543
:^^
cL teriiaria bezeichnet, wenn sie von einei Durtonart (z. B. Jonisch)
gebildet wird, einen Dominantschluß in der parallelen Molltonart
(Aeolisch), oder, wenn sie in einer Molltonart (z. B. Dorisch] auftritt,
einen Ganzschluß in der Paralleltonart (Lydisch). Bei den Schlüssen
wird auch die Wirkung ang^eben, welche sie ausüben. So heißt
es z. B von der cL perfectis&ima^ daß sie »eine Harmonie dergestalt
zur Ruhe führet, daß mit derselben ein Gesang völlig kann ge-
schlossen werden.« Dementsprechend wird von der cl. primaria
gesagt, daß sie meistentheils in principio widßne gebraucht werde.
In ähnlicher Weise äußert sich Walther über die Wirkungen der
anderen Schlüsse. Ganz kurz sind die Andeutungen über die Me-
percussio, auf welche Walther später genauer eingeht. Zum Schlüsse
dieses allgemeinen Kapitels werden noch Regeln des Snegassius über
die Reperctuiio und den Ambitus der Modi mitgetheilt, sowie über
den Stimmungscharakter derselben ebenüedls nach Snegassius Auf-
schlüsse gegeben.
Der 1. Satz des 8. Kapitels lautet: Obwohl bey denen heutigen
Musicis nicht mehr als Darius, AeoUus und Jonicus im Gebrauch sind,
so wollen wir sie doch sämmtlich (zumahl die Choralgesänge fast
aas allen Modis gesetzet sind) sambt ihrem Ambitu, Clausulis und He-
percussionibus ordentlich durchgehen.« Hier wird uns also eine höchst
wichtige und originale Mittheilung über den Gebrauch der Modi zu
Walthers Zeit gemacht. Die Modi mit Durcharakter sind auf eine
Tonart, die mit Mollcharakter auf zwei Tonarten zusammengeschrumpft.
Dieser Yerschmelzungsproceß wurde durch die harmonische Betrach-
tungsweise der Musik hervorgerufen. Lippius schied zum ersten Male
von diesem neuen Gesichtspunkte aus die 6 Oktavengattungen in je
3 mit großer, und je 3 mit kleiner Terz. Demnach gehören zu den
auf natürlicher Trias beruhenden : Jonisch, Lydisch, Mixolydisch und
XU den auf weicher Trias beruhenden; Dorisch, Phrygisch und
Aeolisch. Schon zu Glareans Zeit erfreut sich der Jonische Modus
einer so großen Beliebtheit, daß viele Cantilenen aus dem lydischen
Modus in diesen übertragen werden. So schmolz denn das Lydische
bald mit dem Jonischen zusammen. Aber auch das Mixolydische
verlor bei anwachsender Homophonie die charakteristische kleine Se-
ptime und ging in den jonischen Modus über. Nicht so glatt verlief
der Proceß bei den Tonarten mit kleiner Terz. In Spittas Bach 11
pag. 609/610 erfahren wir, daß bereits Joh. Rosenmüller nur 2 Modi:
Jonisch und Dorisch anerkannte, wie femer Werckmeister, der an-
fangs in Hodeg. cap. 42 die Molltonart als modus minus naturalis
bezeichnet und somit noch unentschieden läßt, ob er Dorisch oder
Aeolisch dabei im Auge hat, später in der Harmonologia Dorisch und
544 Hermann Oehrmann,
wiederum einige Jahie später in den Paradoxaldiscursen Äolisch als
die Molltonart bezeichnet.
Von den uns sonst bekannten Schriftstellern entscheidet sich
zuerst Georg Ahle 1701 im Winteigespräch für den Äolischen Modus
als einzige Molltonleiter. ^ Während so Ahle und Werckmeister als
analoges Gegenstück zu der Durtonart des Jonischen , welches aus
großer Terz, großer Sext und großer Septime besteht, die Molltonait
des Äolischen, welche aus kleiner Terz, kleiner Sext und kleiner
Septime besteht, aufstellen, läßt Walther neben dem äolischen noch
den dorischen Modus für den modernen Gebrauch gelten, der wegen
seiner großen Sexte einen nicht so ausgesprochenen Mollcharakter,
wie der äolische Modus hat. XJber die Gründe, welche die Annahme
beider Modi rechtfertigen, giebt Spitta in Bach II pag. 610 klarer
und präciser gefiißte Aufschlüsse, als Winterfeld im Evangel. lürchen-
gesang und Marx: Kompositionslehre I. pag. 422. Damach spricht
für das Dorisch als Hauptmolltonart der Umstand, daß es nicht nur
auf der ersten Stufe, sondern auch auf der Ober^ und Unterdominante
Kadenzen zuläßt, ohne daß, abgesehen von dem erhöhten Leiteton,
das diatonische Geschlecht verlassen zu werden braucht. Dagegen
besitzt die äolische Tonart nicht die Mittel, in die Tonart der Do-
minante auszuweichen, denn hier ist nur auf dem Grundton und
der Unterdominante eine Kadenz möglich, aber nicht auf dem der
Oberdominante. Denn für den zu der Modulation in die Oberdomi-
nante nöthigen Akkord h- dis- fis- a fehlt im Äolischen dis und fis.
Das diatonische System kennt kein dis und fis versagt, weil f ein
der äolischen Tonart wesentlicher Ton ist
Andererseits kann auch das Äolische als Hauptmolltonart be-
trachtet werden. Während das Dorische durch die große Sext in
der Unterdominante einen Durdreiklang erhält und dadurch einen
der Durtonart näher stehenden Charakter trägt, hat die 4. Stufe der
äolischen Tonleiter einen durch die kleine Sext bedingten Molldrei-
klang. Hierdurch, sowie durch die geringere Fähigkeit zu moduliren
(nur Halbschlüsse auf der Dominante sind möglich) und schließlich
durch das dem Dorischen entgegengesetzte Hinneigen zu der plaga-
Uschen oder transponirten Lage, erhält diese Tonart der Dorischen
^ Es heißt in Ahle's Wintergespräch : »Es meinen viele, sprach Muselieb lum
Beschlüsse, die dorische Singahrt sei gebreuchlicher als die Eolische : aber daß jene
mit dieser allezeit vermischet werde, zeigen genugsam an die moduli und clauttde»,
so mit dem h formiret werden. Ja oft hat es das Ansehen, als sei es der Dorius,
und ist doch der Aolius, maßen dieser im Sysiemate moÜi selten so geaeichnet
wird, wie sichs eigentlich gehöret o.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 545
gegenüber einen sanfteren, in sieh abgeschlosseneren, ruhigeren und
wehmiithigeren Charakter. Außerdem begünstigt die neuere Art der
Fugenbeantwortung ein Zusammenschrumpfen der Modi auf Jonisch
und ÄoUsch, nicht Dorisch. Doch davon später.
Im Kap. 8 nun werden die Modi hinsichtlich ihrer charakteri-
stischen Merkmale durchgesprochen. Es werden die authentische
und plagale Lage eines jeden Modus dargestellt. Bei jedem Modus
wird in der Regel zuerst die Herkunft des Namens, dann der Ambitus
und die Mepercitssio angegeben, ferner viele Transpositionen und Clau-
sulen in Noten ausgeführt und zum Schluß ein Verzeichniß von
Chorälen gegeben, die in jedem Modus gesetzt sind. Diese Choräle
werden nach dem von Snegassius im Anhang zur Isagoge gegebenen
Verzeichniß au%ezählt. Jedoch wird bei Walther eine größere Zahl,
ab dort, angefahrt. Für den lydischen und hypolydischen Modus
fehlen Choräle.
Das Wichtigste in diesem Kapitel sind die Transpositionen und
Clausulen. Die Transpositionsbeispiele sind gegen früher bedeutend
erweitert. Bereits Praetorius gestattet außer den alten Transpositionen
eine solche in die höhere oder tiefere Sekunde. Lippius spricht sich
zuerst für die Transposition in die Sekunde, Terz oder ein anderes
Intervall aus. Auch Herbst in seiner Mtuica poetica weist am
Schlüsse des 6. Kapitels darauf hin, daß man j»auch auff den Musi-
calischen Instrumenten durch die Terz, Quint und andere Intervalla
zu transponiren pflegt.« Doch fägt er hinzu, daß »solches, wenn
man das Fundament dieser Kunst recht betrachtet, leichtlich ver-
worfen wird.« Im Gegensatz dazu führt ungefähr 30 Jahre später
der anonyme Verfasser des I. Theils der 4. Bemhardschen Kopie
aus : » Transpositio est irreffularü, quando transponuni Neoterici etiam
per secundanif 3^ J, 6, 7, qtiod mea quidam sententia laudandum^ si
elavium soni in Organü ex arte sint temperaii.fi Daraus geht hervor,
daß diese Transpositionen erst mit der Verbessserung der Temperatur
zur Anerkennung gelangten und daß ihre Verwerfung durch Herbst
in der früher nicht so entwickelten Tonausgleichung der Tasteninstru-
mente ihren tieferen Grund hat. So ist denn der größere Umfang der
Transpositionen eines Modus der Beweis für eine bessere Temperatur
der Instrumente. Werkmeister sagt in r^Hypomnemata^ cap, 9: »Je
besser die Temperatur ist, desto besser kann man transponiren. u
Walther transponirt die Modi nach allen 12 Tönen der Skala hin.
Daraus darf man schließen, daß er eine Art gleichschwebender Tem-
peratur in der Praxis anwandte, eine Vermuthung, die durch die in
der Elementarlehre gezeigte enharmonische Verwechslung z. B. von
ßs und ffeSj oderßs durum [ßsis) mit g bestärkt wird.
546 Hermann Qehrmann.
Im anonymen Theile jener 4. Bernhaidschen Kopie Kap. 5 fimd
Walther das Muster für seine ausgeführten Transpositionen. Dort
wird der dorische Modus ganz genau in dieselben Töne, wie bei
Walther transponirt. Aber während Walther nur für die authen-
tische Lage Transpositionen bringt, fuhrt jener Anonymus auch solche
für die plagale Lage des Dorisch aus. Bei den andern Modi fehlt
allerdings die Ausfuhrung der Transpositionen ; doch darf man daraus,
daß bei jedem Modus 2 Reihen Platz gelassen sind, schlieBen, daß
diese noch nachgetragen werden sollten. Die Waltherschen Trans-
positionen werden sowohl mit Kreuz-, als auch mit B-Yorzeichnung
gegeben, deren jede von einem einzigen bis zu neun chromatischen
Zeichen aufsteigt, (wobei nach altem Gebrauch mehrere Zeichen nur
verdoppelt sind). Bei der Transposition des Lydischen nach eis kommt
auch eine Diesis (Doppelkreuz) vor, um das dem regulären h ent*
sprechende ßsis zu bezeichnen. Die Transpositionen finden nach
allen übrigen Tönen einer temperirten Skala statt. Die geschwärzten
Noten betragen das Intervall eines Halbtons. Eine Erklärung der
Transposition, sowie die Kegeln für dieselbe, wird im folgenden
Kap. 9 gegeben. Demnach ist sie eine Versetzung eines Modus aus
seiner natürlichen Skala in eine andere, in welcher ein oder mehrere
Signa chromatica vorkommen. Ferner müssen in einer transponirten
Skala die Litervalle ebenso aufeinanderfolgen, wie in einer natürlichen
Tonleiter. Hierbei ist von Wichtigkeit, daß ein Tonua maicr in der
Transposition sowohl mit einem Tonus maior als minor beantwortet
werden kann. Es hört somit die Unterscheidung der verschiedenen
Oanztonverhältnisse allmählich auf, ein (Jmstand, der durch den zu-
nehmenden Einfluß temperirter Stimmung bedingt zu sein scheint.
Macht man aus einem transponirten Modus einen regelmäßigen, so
heißt dies Verfahren Beductio. Schließen wir mit dieser Vorausnahme
aus Kap. 9 unsere Betrachtung der Transpositionen, so müssen wir in
Kap. 8 noch einen Blick auf die vierstimmig ausgeführten Kadenzen
eines jeden Modus werfen. Von allen 6 Modi werden zuerst die essentiakn
(primäre, sekundäre und tertiäre), sodann die affinalen und pere-
grinen Schlüsse dargestellt. Von den affinalen und peregrinen Schlüssen
wird in der Regel je ein, höchstens zwei Beispiele gegeben. Auch
von den primären, sekundären und tertiären Kadenzen wird bei Phry-
gisch, Lydisch und Mixolydisch nur ein oder zwei Beispiele gegeben.
Anders ist dies bei den drei gebräuchlicheren Modi. Hier werden die
essentialen Schlüsse specialisirt, je nachdem sie perfectissitnaef per-
fectae, minus petfectaej cantizantes , dltizantes oder tenorizantes sind.
Durch die verschiedene Zusammensetzung dieser der melodischen
und harmonischen Gruppe angehörenden Begriffe wird ein groSer
Joliann Gottfried Walther als Theoretiker. 547
Reichthum neuer Bezeichnungen gebildet, durch welche die Kadenzen
in der subtilsten Weise unterschieden werden. Wie schon ange-
deutet ist die Reihenfolge der Schlüsse so geordnet, daß zuerst pri-
märe oder Ganzschlüsse, sekundäre oder Dominantschlüsse, tertiäre
oder Dominantschlüsse für die Paralelltonart, affinale und peregrine
gegeben werden.
8.
Formenlehre. (2. Hälfte des Kap. 9 bis Schluß).
Auf die Reperkussion kommt Walther ausführlich in der 2. Hälfte
des Kap. 9 zu sprechen. Dieses Kapitel ist einerseits ein Nachtrag
zu den beiden vorhergehenden, indem es zunächst die Transposition
imd Reduktion, und dann die Reperkussion beschreibt; andererseits
aber enthält es wichtige und zum Theil originale Neuigkeiten. Da
wir das Wesentlichste, was hier über Transposition und Reduktion
gesagt ist, schon früher berührt haben, so handeln wir gleich
Ton der Reperkussion. Diese wird in Bezug auf ihren besonderen
Werth für die Fuge dargestellt und somit wird auch von dieser ge-
sprochen. Daher beginnt mit diesem De Reperctissione überschriebenen
Abschnitte des 9. Kapitels gleichsam die Formenlehre Walthers im
engeren Sinne. Diese umfaßt fünf größere Abschnitte, die so ge-
ordnet sind, daß die drei mittleren als Kapitel bezeichneten Ab-
schnitte von Fuge, Imitation und Kanon im älteren, mehr vokalen
Sinne handeln, der erste und letzte Abschnitt dagegen die Fuge
und den doppelten Kontrapunkt mit Rücksicht auf den durch die
Instrumentalmusik entwickelten neueren Gebrauch lehren. Auch
die benutzten Quellen sind charakteristisch. Während die drei
mittleren Kapitel aus Bononcinis Musico prattico II geschöpft sind,
stammen die beiden andern Abschnitte aus Schriften der Bernhard-
sehen und Sweelinckschen Schule.
Doch kehren wir zu'Walthers Ausführungen über die Reper^
cussio zurück!
Schon in Kap. 7 dieses Abschnitts wurde dieselbe mit Citaten
aus Snegassius' Isagoge 1. 2 und Printz Satyr. I Komp. Kap. 9 erläutert.
Darnach ist sie ursprünglich ein Intervall, welches in einem Modus
oft repetirt wird. Bei den authentischen Modi ist dies mit Aus-
nahme des Phrygischen die Quinte, bei den plagalen wird sie durch
andere Intervalle ausgedrückt. Nudae reperctMsioneSj wie Snegassius
548 Hermann Qehrmann,
sagt, werden durch Schlüsse und Fugen repräsentirt. Doch ist sie
(die Reperkussion] im letzteren Falle noch ein nebensächliches Mo-
ment; nur weil sie in einer Quintfuge, die nicht so häufig vorkam,
wie eine Fuge im Unisonus oder Oktave, deutlich hervortrat, wird
sie von Snegassius als Repräsentator einer Fuge erwähnt. Ihre Be-
deutung für die Fuge ist aber mit der Zeit sehr gestiegen. In dei
4. Bernhardschen Kopie sagt der anonyme Verfasser des 1. Theils:
nSunt qui reperctissionem, tamquam infallibile fugarum fundamenium^
commendant.9 Es folgt dann ein langes deutsches Citat aus einem
uns nicht bekannten Manuskript von Printz, in welchem die Bedeu-
tung der Reperkussion fiir die Fuge genau auseinandergesetzt wird.
Die 9 ersten Paragraphen von Walthers Ausfahrungen über die Be-
perkussion sind eine wörtliche Entlehnung jenes eben erwähnten
Citats aus der 4. Bernhardschen Kopie. Von § 10 bis zum Schluß
des Kap. 9 finden wir dagegen zum Theil originale Erläuterungen
Walthers.
An einem Beispiele wird gezeigt, in wiefern die Repercussio iw
Fundament der Fugen sei. Es soll ein Thema im regelmäßigen Jo-
nisch beantwortet werden. Um nun zur Beantwortung die entspre-
chenden Töne zu finden, werden 2 Oktaven ausgesetzt : die eine vom c
bis c fiir den Dux und die andere von ff bis ff für den Komes.
Die Claves beider stellt man einander gegenüber, doch so, daß die
im vorigen Kapitel in der Repercussio gegen einander gesetzten Ola-
ves auch hier gegen einander kommen, also: ff c ff c. Die Clwes
beider Oktaven haben nun folgende Beziehungen zu einander-
c d e f ff a h c
^ _ _/^
ff ah c ä e f g.
Hieraus ergiebt sich die Beantwortung : wo der Dux c hat, muß
der Komes ff haben u. s. w. ; ^ und f korrespondiren mit cl Das j
" muß der Reperkussion wegen, das / aber hinsichtlich der natürlichen
Ordnung der Tonleiter dem c" entsprechen. Der Zweifel des Schülers,
"ob / oder ff für die Beantwortung des c zu nehmen ist, wird da-
durch gehoben, daß die Berücksichtigung der Reperkussion als Haupt-
'regel hingestellt wird. Das Thema 4^ | | fjP^
wird daher so beantwortet: ||^ (*; 1 »f> # : f ' ' "'
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 549
Doch auch Freiheiten einer dem Kanon sich nähernden Beantwor-
tung sind gestattet. Zunächst kann in einer Kadenz die Dominante mit
ihrer Dominante beantwortet werden, also im folgenden Beispiele g
mit d\
^ '" f r gT"^' I f ^ i|i^fr— ■ ^ r I tf r -^
Dux. Comes.
Der Ambitus des jonischen Modus wird in diesem Falle um
eine Sekunde überschritten.
Diese Ausnahme stimmt im gewissen Sinne mit dem, was Rein-
cken im 1. Traktat seiner handschriftlichen Lehre von 1670 sagt,
überein. Während Beincken im Anfange der Fugen den Ambitus
des Modus nicht überschritten wissen will, gestattet er dies im wei-
teren Verlaufe eines Stücks. Eine Kadenz aber, in welcher die
Dominante mit ihrer Dominante beantwortet wird, ist eine Dominant-
kadenz, ein sekundärer Schluß, der nach Walther selbst nicht im
Anfange, sondern in der Mitte eines Stücks gebraucht werden kann.
Wenn nun durch solche Kadenz der Ambitus des Modus überschrit-
ten wird, so geschieht dies wie bei Reincken erst im weiteren Ver-
laufe eines Stücks. Aber noch eine andere Freiheit in der Beant-
wortung findet sich hier. Bei den Imitationen genügt es, wenn in
beiden Tonleitern die Töne sich [nur natürlich entsprechen, also keine
Bücksicht auf die Beperkussion genommen wird. Dieses stimmt mit
den Ansichten des Zarlino, Calvisius und Anderer überein, welche
eine Imitation dadurch von der Fuge unterscheiden, daß in der
ersteren der Kornes dieselben Fortschritte in Zwischenräumen und
Linien macht, wie der Dux, aber nicht dieselben Intervalle, beson-
ders Ton- und Halbtonschritte. Das hierzu gegebene Oktavenschema
ist £Edsch, da hier ganz dieselben Beziehungen, wie in dem 1. Schema
gegeben ;sind und dadurch eine der Imitation fremde Rücksicht-
nahme auf die Beperkussion und Korrespondenz der Halbtonschritte
stattfindet. Das Schema darf also nicht so, wie bei Walther aus-
sehen :
c d e f g a h c
• g a h c d e f g,
sondern muß, wie in der 1. Bernhardschen Kopie also aufgezeich-
net sein :
cde/gahc
g a h cd e f g.
550
Hennann Gehrmann,
Entgegen der Reperkussion entspricht sich hier g = cf, femer wird
der Gamstonschritt a h mit dem Halbtonschritt e fy und der Halb-
tonschritt Ä 'c mit dem Ganztonschritt f g beantwortet. Eine solche
Beantwortung darf aber, wie wir wiederholen, nur in einer Imitation,
nicht in einer Fuge geschehen.
Weiter wird für den dorischen und äolischen Modus neben einem
Oktavenschema noch ein gleichsam harmonisches gegeben. In diesem
wird die Beperkussion gezeigt, in jenem hauptsächlich die Halbton-
schritte markirt. Die Beispiele für die Reperkussion sind in beiden
Modi in gleicher Weise gegeben:
Dorisch :
Aolisch :
E
3Z
^
^
-»
s
s
X
^
-*
^
3
^^
£
SL
Nicht so verhält es sich mit den Oktavenschemata beider Modi,
da durch die verschiedene Lage der Halbtöne die Beziehungen ver-
schieden sind. Das Schema des dorischen Modus wird in abmrts
gehenden Tonleitern gegeben, um die Korrespondenzverhältnisse an-
schaulicher zu machen:
dchagfed
O' g f e d c ha.
Hier entspricht das d dem a als Reperkussionston , das c'dem
g wegen der natürlichen Ordnung, das c~ entspricht aber auch dem
y als 1. Faktor des Halbtonschritts c h, der mit dem Halbtonschritt
f e beantwortet werden muß. Da in der nun verschobenen natür-
lichen Ordnung auch die Reperkussionstöne in richtiger Beziehung
bleiben, so ist dieselbe fehlerfrei.
Die Tonleitern des äolischen Modus weisen folgende Verhält-
nisse auf:
a h c d e y g a
^ f g a h c d e
a korrespondirt als Reperkussionston mit e
h 1 als 1. Faktor des Halbtonschritts h "c ebenfSEtUs mit
e, als entsprechendem Faktor von ef.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker.
551
e
e
7
9
»
)>
»
»
»
konespondirt alg 2. Faktor von h e^ dem 2. Faktor von ef^ also
dem f.
» wegen natürlicher Ordnung dem g.
w^en der Reperkussion dem a,
wegen Halbtonschritts dem h.
wegen Halbtonschritts dem c.
wegen natürlicher Ordnung dem 7.
wegen Reperkussion dem e.
So weit reichen die aus der Bernhardschen Kopie entlehnten
Printzschen Ausführungen, Welche er noch einmal dahin zusammen-
faßt, daß neben der Reperkussion auf eine dem Modus gemäße reine
Transposition gesehen werden müsse. In der 2. Hälfte dieses Ab-
schnitts handelt Walther zum Theil selbständig von Ohomlbearbei-
tnngen. So weit es sich hierbei noch um Fugenbeantwortung han*
delt, sind diese Ausßihrungen von Werckmeister Hodeg. aap. 45 ent-
lehnt und durch Zusätze erweitert. Zunächst wird nun gezeigt, wie
die ßeperctissio rhodi bei Beantwortung von Chorälen nicht so genau
beobachtet werden kann. Denn hier muß der Cornea dieselben In-
tervalle, wie der Dux behalten. Da aber hierdurch der Umfang
eines Modus überschritten wird, so muß bisweilen der Comes eine
Quarte unter, oder eine Quinte über dem Dux anfangen, während er
?on rechtswegen eine Quinte darunter, oder Quarte darüber begin-
nen sollte. Dieses wird durch ein Beispiel erläutert: Def im Dori-^
sehen stehende Choral »Vater unser im Himmelreich«
t=t
s
*
s
22
22:
i
müßte nach der Hauptregel in der Tonika, also eine Quinte tiefer
oder Quarte höher beantwortet werden:
3!
25:
t
2£
■£
3
-Ä^
Da aber hierdurch die Grenzen des Modus um eine Sekunde nach der
•Tiefe überschritten werden, so läßt man den Cotnes eine Quarte
unter dem Dux anfangen ; der Ambitus des Modus wird dann nicht
überschritten, die Antwort heißt dann also:
I
35:
..^s^
^
j2
1891.
37
552
Hermann Gehrmann,
Andererseits aber muß der Comes bisweilen eine Quinte unter,
oder eine Quarte über dem Dilx anfangen, wo es von rechtswegeu
umgekehrt sein müßte. Auch hier wird ein Beispiel gegeben. Dei
im Phrygischen stehende Choral: »Christus, der uns selig macht«:
I
r r r r
r-^-
ISl
sollte mit dem Reperkussionston, dem tieferen A, so beantwortet
werden :
3i3E
f f f f I r~r^
Weil aber in diesem Falle »der Comes im,ßs aushält und noch eine
Secunda fehlet, ehe die Octava e — e erfüllet ist, so lasse ich den
Camitem in der Quinta unter dem Dax anfangen als:
^EEl
^
.Ä.
22:
^^'
■u
Hieraus ergiebt sich, daß Walther zu Anfang einer Fi^e den
Ambitus des Modus unter allen Umständen gewahrt wissen will, und
daß aus diesem Grunde bei der Beantwortung von Chorälen die Be-
perkussion nicht so streng gewahrt zu werden braucht. Zum Schluß
dieses Abschnitts folgt bei Walther eine wichtige Aufzählung der
üblichsten Choralbearbeitungen. Da hierfür bei keinem Theoretiker
eine Vorlage zu finden war, so mögen sie an dieser Stelle überhaupt
zum ersten Male aufgezählt sein. Die Arten sind folgende: >§ 13:
Eine stimme, entweder der Discant, Alt, Tenor oder Baß führet den
Choral, die übrigen certiren und coloriren oder wenns Instrumenta
sind können sie geschleiftes machen, § 14: Zwo stimmen führen den
Choral eine clausulam umb die andere oder per Canonem, die übri-
gen certiren oder coloriren oder machen geschleiftes ,§15: Drey
stimmen führen zusammen oder wechselweise den Choral, die übri-
gen coloriren, certiren oder machen geschleiftes, § 16: Vier stimmen
machen den Choral auf Art einer Fugen oder Canonis, können bis-
weilen etwas coloriren, § 17: Vier stimmen machen den schlechten
Choral, sind Violinen dabey, so können dieselben certiren, coloriren
oder geschleiftes machen.«
Diese Arten können mit einander verwechselt werden, namentlich
folgt die letzte gern nach einer der vier ersten Arten. Auch der
Anfang in einer der vier Stimmen ist beliebig.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker.
553
Hiermit schließt dieser Abschnitt über die Beperkussion, in dem
nicht nur die Aufzählung dieser Choralbearbeitungen als etwas ganz
Neues uns entgegen tritt, sondern, was wichtiger ist, auch die Thema-
beantwortung in der Fuge. In wiefern diese einen Fortschritt gegen
die ältere Fugenlehre bedeutet, wird nach einer Schilderung der-
selben, durch einen Vergleich mit dieser gezeigt werden.
Die drei folgenden Kapitel, Kap. 9 , 10 und 11, in Walthers
Lehre enthalten jene ältere Behandlung der Fuge, wie sie von Zar-
lino begründet und von den hervorragendsten Theoretikern bis gegen
1670 ausschließlich gelehrt wurde. Kap. 10 ist überschrieben De
Fugis und stammt fast ganz aus Bononcinis Mitsico Prattico II cap, 10,
Das Wesen der Fuge wird in der bisher üblichen Weise erklärt,
ihre verschiedenen Namen und ihre große Bedeutung für einen
Komponisten hervorgehoben. Der Dux beginnt im Grund- oder
Quintton des Modus, der Comes im Unisonus, Oktave, Ober- oder
ünterquarte oder Ober- oder Unterquinte. Nach der bekannten
Sonderung in Fitga libera und ligata wird die erste Gattung in Fuga
propria, impropria ( = Imitaiio), authentica (aufsteigend) plagalis
[absteigend) recta oder F, aequalis motus und contraria oder F, in-
versa genauer eingetheilt. Es folgen Regeln über das, was man bei
Verfertigung einer Fuge zu beobachten hat. Hier wird Alles zu-
sammengestellt, was sich bei den wichtigsten Theoretikern seit Zar-
lino in dieser Beziehung findet. So handeln, um nur Einiges her-
vorzuheben, diese Regeln von der Vertheilung des Dux und Comes
auf die 4 Stimmen, von ihrer Verwechslung, ferner von den zur Aus-
füllung einer Harmonie gesetzten Stimmen. Auch über Modulation
und über dem Modus gemäße Kadenzen, über die Pausen vor Ein-
tritt des Themas und Verkürzung der Themanoten wird gesprochen
und schließlich auf die Engführung hingewiesen, wenn am Schluß
einer Fuge »das Thema so viel möglich dicht untereinander ge-
bracht wird«. Zum Schlüsse dieses Kapitels folgen noch Betrach-
tungen über die Fuga contraria. Während in dieser die Stimmen
beliebig sich begegnen können, z. B. :
3. Beispiel aus Bononcinis 11. cap. 10.
^—^—^
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37
554
Hermann Gfehnnann,
jnüssen in einer Fuga contraria inversa die durch das folgende
Schema gegebenen Beziehungen beobachtet werden:
z. B. :
aus Bononeini cap. 10.
dchagfed
d ß f g a h cd
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-er
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I I ! J I
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s.
jZ
■«-
1
Doch auch Yerkehrungen nach anderen Schemata finden sich.
Solche Schemata sind:
d € f g a h cd ^^^^ ^ ^ ^ c d e f g
agfedcHA dchagfed.
Auch dasy was in Kap. 11 über die Imitation mitgetheüt wird,
schließt sich in Text und Beispiel getreu der Darstellung des Bo-
noneini U Kap. 11 an. Hier wird die Hauptdiffetenz zwischen Fuge
und Imitation, die in der Behandlung der Halbtonschritte liegt, nicht
besonders hervorgehoben; nur durch das Intervall der Beantwortung
werden sie unterschieden. Während bei der Fuge die Beantwortung
im Unisonus, Quart, Quint und Oktave stattfindet, geschieht sie in
der Imitation in der Sekunde, Terz, Sext und Septime. Die von
Bononeini entlehnten Beispiele sind zum Theil von Walther falsch
bezeichnet. So ist das 1. Beispiel nicht »eine Fuga in der Sekunda
imitiretff, sondern in der Septima, und dementsprechend das 8. Bei-
spiel nicht eine Fuge in der Septime, sondern in der Sekunde. Die
Imitation kann sciolta oder ligata sein, und sowohl motu recto als
contrario stattfinden.
Auch Kap. 12 folgt mit größter Treue dem Kap. 12 in Bonon-
cinis Musico prattico II und handelt in Zarlino'scher Weise vom
Canon oder Fuga totalis^ ligata, reditta, int^gra oder mera, Ihre Be-
schreibung nimmt gemäß ihrer herrschenden Stellung in der alten
Fugenlehre einen größeren Baum ein, als die Beschreibung der an-
deren Fugenformen. Nach dem wiederholten Hinweis auf den
Unterschied zwischen einer F. sciolta und dieser Fuga ligata wird
der Begriff Kanon erklärt. Dieses Wort bedeutet seit Picerli, daß
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 555
die erste Stimme, deren Noten von den anderen Stimmen nachge-.
holt werden müssen, für diese eine Regel ist, von welcher die an-
deren Stimmen nicht abweichen dürfen. Die ursprüngliche Bedeu*
tung dieses Worts hat sich somit verschoben. Unter Kanon verstand
Zarlino jene Zeichen, Devisen und Regeln für die Auflösung des in
einer 2^ile notirten Fugenthemas. Er schilt, daß wenig intelli-
gente Musiker das Wort Kanon auf die mit jenem Zeichen geschrie-
bene Fuge selbst übertragen. Bei Calvisius und Sweelinck sind die
Ausdrücke Fuga Ugata und Canon bereits Wechselbegriffe. Aus den
weiteren Äußerungen heben wir hervor, daß der Kanon sowohl frei,
wie gebunden sein kann. Im ersteren Falle darf der Komponist
jede Kon- und Dissonanz gebrauchen, im letzteren Falle aber muß
er »sich einiger Konsonanz oder Dissonanz äußern«. Femer ist ein
Kanon in jedem Intervall möglich, die Bewegung kann gerade, ent-
gegengesetzt oder zurückgehend auf vielerlei Arten geschehen. Von
einem Canon ßnito wird ein Canon inßnito getrennt, der auch Cir-
kelkanon genannt wird. Werden mehrere Stimmen aus einer Reihe
gesungen, so hat man einen geschlossenen Canon (chittso)^ weil die
folgenden Stimmen in der ersten gleichsam verschlossen sind. Hier
muß das Signum repeiitionis : :§. über oder unter diejenigen Pause
oder [Note gesetzt werden, bei welcher die andere Stimme anfangen
soll; das Signum conclusionis aber steht da, wo sie endigen solL Dies
entspricht jener ursprünglichen Bedeutung des Begriffs »Kanon«.
Ist aber der Kanon vollständig ausgesetzt, so heißt er aperto overo
risoluto. Durch 14 Beispiele, unter denen sich auch die wenigen
bei Bononcini aufgezeichneten finden, werden die verschiedenen Arten
von Kanon vor Augen gestellt und damit diese Betrachtungen ge-
schlossen.
Werfen wir nun einen Blick auf die gesamte die Fuge betref-
fende Darstellung Walthers, so dominirt noch die ältere Anschauung«
Ihr wird der bei weitem größte Platz, drei Kapitel, in der Darstel-
lung eingeräumt. Doch tritt schon in dem Abschnitte y>De Beper^
cu9tione^ eine neuere zu der modernen Quintfuge überleitende Be*
handlung der Fuge auf.
In jener älteren Lehre, wie sie z. B. Zarlino, Calvisius, Walliser,
Sweelinck, Crüger und Herbst darstellten, wurden nach Absonderung
der Imitation die Fugen selbst in eine Fuga sciolta und Ugata ge-i
schieden. Während die letztere ein ganzes Stück hindurch dauert^
wird in der F. libera nur ein Theil einer Cantilene nachgeahmt. Ein
anderer Unterschied ist der, daß eine Fuge meistens nur in einer voll-;
kommenen Konsonanz, ein Kanon dagegen in allen Intervallen beginnen
darf. Daher gleichen sich Fuga sciolta und Ixgßta in so fern, als in
556 Hennanil Gehnnann,
der ersteien ebenso, wie in der ligata, also wie in einem Kanon,
ohne Kücksicht auf Ambitus und JReperctissio das Thema immer in
dem Intervall beantwortet wird^ in welchem die Fuge überhaupt ge-
setzt ist. Dies bezeugen die Beispiele jener genannten Theoretiker.
Im Gegensatze hierzu steht nun die in dem Abschnitte De Reper-
cussione gezeigte Themabeantwortung. Hier versteht man unter
Fuge im engsten Sinne nur eine Nachahmung in der Quinte, nicht
mehr wie früher auch eine solche in dem Unisonus, Oktave und
Quarte. Diese Beantwortungen ziehen sich mehr und mehr auf das
Gebiet des Kanons zurück. Vor allem ist aber auch die Beantwor-
tung im weiteren Verlaufe dieser älteren Quintenfuge eine von der
des Kanons verschiedene geworden. Der Ambitus des Modus soll
unter allen Umständen gewahrt werden ; dazu ist aber die Reperkus-
sion ein geeignetes Mittel. Diese Dinge, die früher nicht streng
gehandhabt wurden, treten jetzt mit größter Schärfe als das We-
sentliche einer Fugenbeantwortung hervor. Wurde früher in der
Quintenfuge die Tonika mit der Dominante, diese wieder mit ihrer
Dominante u. s. f. beantwortet, so entspricht jetzt die Dominante
der Reperkussion gemäß nur der Tonika. Was früher Hauptsache
war, daß die Dominante wieder mit ihrer Quinte beantwortet wird,
tritt jetzt als Ausnahme auf. Einmal findet, wie wir sahen, diese
Ausnahme statt, um den Ambitus des Modus nicht zu über-
schreiten, ein anderes Mal in Kadenzen , wobei der Ambitus des
Modus überschritten wird. Dieser Umstand aber weist auf eine
Fugenbeantwortung hin, die nicht mehr, wie alle übrigen Ausfuh-
rungen vom melodischen Gesichtspunkt aus geschieht, sondern in-
direkt zum ersten Male von einem harmonischen. In dem weiter
vorn gezeigten Beispiele jener Ausnahme wird eine Tonikakadenz
mit einer Dominantkadenz und somit die Quinte des tonischen Drei-
klangs mit jener des Dominantdreiklangs beantwortet. Dieses Ein-
dringen des harmonischen Princips in die Fugenlehre ist aber ein
höchst bedeutendes Moment. [Denn dadurch wird eine ganz neue
Behandlung der Fuge hervorgerufen, (welche jmit der älteren Dar-
stellung in manchem Widerspruche steht. Es ergeben sich mithin
für die Fugenlehre zwei große Epochen. In der ersten Periode,
welche mit Zarlino beginnt, wird der melodisch -kontrapunktische
oder rein vokale Standpunkt vertreten ; es ist das Zeitalter des Ka-
non, der eine herrschende Stellung einnimmt. Seit Christoph Bern-
hard und Reincken aber beginnt eine Änderung in der Behandlung
der Fugen. In dieser Übergangszeit, der auch Walther angehört,
beginnt man ein? größere Sorgfalt der Fuga sciolta zuzuwenden,
welche sich jetzt vom Kanon dadurch wesentlich unterscheidet,
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 557
dass bei ihrer Beantwortung die Reperkussion und der Ambitus ge-
wahrt werden müssen. Wurde aber in dieser Termittelnden Zeit
noch wesenstich der kontrapunktische Gesichtspunkt gewahrt, so
gelangt der hier erst leise hervortretende harmonische Gesichts-
punkt in der 2. großen Epoche, welche seit dem Erscheinen
von Seb. Bachs Fugen werken zu rechnen ist, zur herrschenden
Stellung. Diese moderne Periode, welche das Zeitalter der Quinten-
fuge genannt werden kann, weist zu jener ersten folgende Gegen-
sätze auf: Die Herrschaft des Kanon ist gebrochen und die Quinten-
fuge, welche sich aus jener untergeordneten Faga sciolia entwickelt
hat, dominirt. An Stelle der nur vom melodischen Standpunkte
aus gehandhabten Beantwortung ist eine solche getreten, bei welcher
in erster Linie die harmonischen Beziehungen und in zweiter Linie
erst die melodische Tonfolge beobachtet wird. War die Hauptform,
der Fuge bisher die, daß über eine Choralmelodie ein Kanon gesetzt
wurde, so ändert sich auch diese Form: Häufiger als eine kanon-
hafte Choralbearbeitung tritt jetzt eine selbständige vom Choral los-
gelöste Form der Fuge auf.
Daraus erklärt es sich, daß bei der älteren Darstellung der Fuge
fast ausschließlich von der Beantwortung des Themas und nur wenig
von der Form der Fuge selbst gesprochen wird, da diese ja durch
den Choral vorgezeichnet war. In der modernen Darstellung aber
wird gerade auf die selbständige dreitheilige Form der Fuge, welche
mit dem Choral nichts mehr zu thun hat, der Nachdruck gelegt.
Wie nahe aber Walther dieser neuen Epoche stand, wird klar, wenn
wir noch ein wenig uns auf die in dem Abschnitte De Repercussione
behandelt Themabeantwortung einlassen.
Setzen wir, wie es Walther bei dem jonischen, dorischen und
äolischen Modus thut, auch von den drei anderen Modi die Oktaven-
schemata und merken wir ihre Beziehungen hinsichtlich der Reperkus-
sion, der natürlichen Ordnung und der Halbtonschritte an, so finden
wir, daß im Jonischen, Dorischen, Phrygischen (wenn die Reperkussion
dieses Modus ehe ist) und Lydischen die Clavesfxxn^ g stets einem
c, im Mixolydischen und Aolischen die Claves a und h immer einem
e korrespondiren. Außer bei dem Jonischen und Aolischen finden
diese Korrespondenzen nur wegen Rücksichtnahme auf Halbton-
schritte statt. Bei dem Jonischen aber liegt in dieser Beziehung
öines f und g auf ein c eine Rücksichtnahme nicht nur auf den
Halbtonschritt, sondern auch auf die Reperkussion und die natürliche
Ordnung vor, und ebenso fallen bei dem Aolischen, wenn man das
Schema abwärts steigend darstellt, alle diese drei Rücksichtnahmen
in dem Verhältniß a und h zm e zusammen. Daher haben diese
558 Hermann Gehnnami,
beiden Modi eine gewisse Überlegenheit über die anderen. Der
praktische Musiker hatte überhaupt nur die Schemata dieser beiden
Modi nöthig. Wandte er das Schema an, in welchem f und g dem
c entsprechen, so hatte er in diesem Schema fnr Jonisoh, Dorisch,
Phrygisch und Lydisch alle richtigen Verhältnisse; und im anderen
Falle, wenn er jenes Schema nahm, in welchem a und h auf e be-
zogen werden, fand er zusammen für Mixolydisch und Äolisch die
richtigen Korrespondenzen. So schrumpfen denn mit Beziehung auf
die Fugenbeantwortung die sechs Modi auf zwei Tonarten zusammen,
in deren Schemata, zusammen betrachtet, alle Verhältnisse einer
harmonischen Themenbeantwortung zu finden sind. Denn wenn/
und g dem c; und a und h dem e entspricht, so ist im diatonischen
System c — c folgende moderne Beantwortung möglich. Der Grund-
ton des tonischen Dreiklangs [c] wird mit dem Grundton des Domi-
nant- \g) oder Unterdominantdreiklangs (/) beantwortet; die Quinte
des tonischen Dreiklangs (^) wird entweder, und zwar ist dies das
Regelrechte, als Dominante mit der Tonika c, welche zugleich die
Quinte des Unterdominantdreiklangs ist, beantwortet, oder mit der
Quinte des Dominantdreiklangs {d) ; die Terz des tonischen Dreiklangs
[e) entspricht der Terz des Ober- oder Unterdominantdreiklangs (a
oder h). Wie schon gesagt, bildet die Walthersche Darstellung zu
dieser ganz modernen Auffassung eine Art Ubei^^g. Dieser Über-
gang von einer älteren Anschauung zu einer neueren tritt uns am
frühesten in dem Tractatus compositionts augmentatus von Chr. Bern-
hard entgegen. Denn hier wird zum ersten Mal auf die Beperkus-
sion und den Ambitus des Modus eine größere Rücksicht genommen.
In Kap. 53 wird darauf hingewiesen, daß in einer Consociation der
Modi (d. i. Vereinigung der authentischen und plagalen Lage) die
Fugen am besten dem Ton gemäß angebracht werden, und daß hier
die Quarte mit der Quinte und umgekehrt beantwortet wird z. B.
c g mit g c oder g c mit c g. Dieser Consociation der Modi wird in
Kap. 54 die Aequatio modorum gegenübergestellt, wo die andere
Stimme einer Fuge der ersten nur Ratione quintae oder quartae
ähnlich ist und Quarten wie Quinten in der Antwort unverändert
bleiben. Es wird hinzugefügt, daß diese Art mehr in Gängen, als
Sprüngen und mehr in der Mitte, als im Anfange gebraucht werde.
Ein anderer Theoretiker, der in dieser Weise die Fugen beantwortet
wissen will, ist, wie wir schon sahen, Job. Adam Reincken, der im
1. Traktat seiner handschriftlichen Lehre näher auf diese Art der
Beantwortung eingeht. Sodann weist Werckmeister im Hodegus
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 559
cap. 45 anf den neuen Unterschied zwischen Ftiga soluta nnd Canon
hin, der eben darin besteht, daß in der Fuga soluta die Repercussio
beobachtet wird, was im Canon nicht der Fall ist. Schließlich be*
tont noch Frintz im Satyrischen Comp, die Bedeutung der Reper-
kussion für die Fuge; von ihm soll ja auch nach Angabe des ano-
nymen Verfassers des 1. Theils der 4. Bernhardschen Kopie jenes
Citat stammen, welches Walther aus jener Kopie schöpfte. Diese
neuere Art von Beantwortung wird also namentlich von mitteldeut-
schen Theoretikern verfochten und ^scheint in der Sweelinckschen
und Bernhardschen Schule, wie wir sahen, zuerst gebräuchlich ge*
wesen zu sein. Besonders dadurch wird diese Yermuthung verstärkt,
daß Bononcinis Musico prattico^ der 1673 also 3 Jahre später» als
Reinckens Lehre erschien, ausschließlich in jener alten Zarlino'schen
Weise von den Fugen handelt. Es ist das ein Beweis dafür, daß in
Italien jene ältere aus der Vokalmusik abstrahirte Fugenlehre sich
länger erhielt, als im Norden, wo infolge der größeren instrumentalen
Einflüsse die Fuge bereits in einem Wandlungsproceß zu einer neuen
Form begriffen war.
Schneller und deutlicher aber, als bei der konservativeren Fuge
vollzog sich eine Wandlung in der Lehre des doppelten Kontrapunkts.
Walther, der zum Schluß seiner Lehre eine Abhandlung »Von denen
doppelten Kontrapunkten a folgen läßt, steht hier ebenfalls auf jenem
neuen Boden. Ehe wir aber auf seine Darstellung eingehen, wollen
wir einen Blick auf die frühere Geschichte des doppelten Kontra-
punkts werfen.
Zailino, der diesen Kontrapunkt zum ersten Male gründlich
lehrt, beschreibt ihn Ist. III im allgemeinen so : In einem doppelten
Kontrapunkt können die beiden Stimmen in der Umkehrung in ein
beliebiges Intervall versetzt werden, doch dürfen keine Fehler gegen
die Stimmführungsregeln stattfinden. Da nun eine Versetzung jeder
einzelnen Stimme in jedes Intervall stattfinden kann, so giebt es eine
große Menge von verschiedenen Arten dieses Kontrapunkts. Zarlino
zählt von diesen die 5 gebräuchlichsten auf. Um nur ein Beispiel
zu geben, wie er dies thut, fuhren wir seine Erklärung der als dop-
pelter Kontrapunkt alla duodecima ausdrücklich bezeichneten Art an:
Die höhere Stimme des Principals wird in der Meplica eine Duodecime
tiefer und die tiefere eine Oktave höher motu recto gesetzt. Eine
andere hiervon verschiedene Art ist bei ihm diejenige, in welcher
bei der Umkehrung die höhere Stimme eine Quinte erniedrigt und
die tiefere um eine Oktave erhöht wird. Diese Art wird von Zarlino
nicht, wie von uns, als ein Kontrapunkt in der Duodecime bezeichnet.
Hieraus geht hervor, daß die obige Bezeichnung »Kontrapunkt alla
5gf) Hermann Oehrmann,
Duodecimai^ dadurch bestimmt ist, daß in der That die höhere Stimme
um eine Duodecime versetzt wird. Es ist hier, bei Zarlino, noch
eine rein äußerliche Unterscheidung der Arten. Von seinen 5 näher
beschriebenen Arten gehören je 2 unserem doppelten Kontrapunkt
alla duodecima und decima an; während eine Art den doppelten
Kontrapunkt in motu contrario betrifft. Es ist von Interesse, daß
ein Kontrapunkt alla octava von Zarlino nicht besonders aufgeführt
wird ; dieser gehört also noch nicht zu den gebräuchlichsten Formen.
Den 1. Platz räumt Zarlino vielmehr dem doppelten Kontrapunkt in
der Duodecime ein. Dieser ist also die bevorzugteste Form in der
älteren Lehre. Es tritt aber hier eine umgekehrte Wandlung ein,
als diejenige ist, welche in der Fugenlehre vor sich geht. Während
in der älteren Lehre im Reiche der Fugen der Kanon in der Oktave
und gleichsam als künstlerischer Gegensatz dazu im doppelten Kontra-
punkte der in der Duodecime, oder was dasselbe ist, in der Quinte
herrschte, die Quintfuge aber und ein doppelter Kontrapunkt in der
Oktave nur unbedeutende Bollen spielten, kehrt sich dieses Ver-
hältniß in der neueren Lehre um. An Stelle des nicht mehr domi-
nirenden Oktavenkanons ist die Quintfuge und dementsprechend an
Stelle des doppelten Kontrapunkts in der Duodecime der alla octava
getreten, während jene beiden früher vorherrschenden Formen jetzt
bescheidene Stellungen einnehmen. Wie schon angedeutet, vollzog
sich die Wandlung in der Lehre vom doppelten Kontrapunkt schneller
als bei der Fuge. Ähnlich wie bei dieser ist auch bei dem doppelten
Kontrapunkt die Entwicklung schneller im Norden, als im Süden
erfolgt. Denn in jenem 2. Theil des Hamburger Manuskripts tritt
uns zum ersten Male die Darstellung einer modernen Lehre vom
doppelten Kontrapunkt entgegen. Diese Darstellung ist aber so
gründlich und umfassend, daß man daraus auf eine schon lange vor
jener Aufzeichnung gang und gäbe gewesene Anwendung dieser
Formen schließen muß.
Nicht so rasch also wie im Norden vollzog sich im Süden diese
Wandlung. So steht 1673 Bononcini im Musico pratiico noch gani
auf Zarlinoschen Anschauungen. Doch unterscheidet er sich darin von
Zarlino, daß er dessen verschiedene Arten der Umkehrung nach
gemeinsamen Gesichtspunkten zusammenfaßt und bestimmt nun ver-
schiedene doppelte Kontrapunkte aufzählt. Diese sind doppelte Kon-
trapunkte alla Terza^ Quarta, Quinta^ Sexta^ Sepitma, Octava, Decima,
Ufidecima und Duodecima. Jede dieser Arten kann man in mehr-
facher Weise ausführen. Unter einem Kontrapunkt alla Duodecima
wird jetzt nicht nur, wie bei Zarlino, eine Art verstanden, sondern
drei. Die erste Art ist die, in welcher eine über das Subjekt um
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 5g |
eine Duodecime höher stehende Stimme um eine Duodecime erniedrigt
wird, während das Subjekt, das stets ein Cantus ßrmus ist, unver-
ändert bleibt. In der 2. Art wird die kontrapunktirende Stimme
unverändert gelassen und das Subjekt wird um eine Duodecime er-
höht; in der 3. Art wird der Kontrapunkt um eine Quinte vertieft
und das Subjekt um eine Oktave erhöht. Daß eine vollständige
Zusammenziehung aller zum doppelten Kontrapunkt alla Duodecirnq
gehörigen Arten hier doch noch nicht stattgefunden hat, geht- daraus
hervor, daß der doppelte Kontrapunkt in der Quinte bei Bononcini
besonders betrachtet wird. Einen Fortschritt gegenüber Zarlino be-
grüßen wir insofern bei Bononcini, als bereits dem Kontrapunkt in
der Oktave eine größere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Diesen
stellt Bononcini ebenso ausführlich mit Beispielen dar, wie den dop-
pelten Kontrapunkt alla Quinta, Decima, Duodecima oder Terza. Der
erste Italiener, welcher diese Disciplin in neuer Form darstellt, ist
Berardi. Dieser handelt im 2. Buch seiner Documenti armonici von
1687 in moderner Weise vom doppelten Kontrapunkt in der Oktave,
Decime und Duodecime. Auch auf dem Gebiete der Fuge wandelt
er neue Wege, indem er eine mehr vom harmonischen Gesichts-
punkte aus stattfindende Beantwortung des Fugenthemas lehrt. (Do-
cumento XVI Hb,).
Die ältere und neuere Lehre des doppelten Kontrapunkts unter-
scheiden sich in folgenden Punkten: Die Menge der verschiedenen
Arten, welche schon bei Bononcini gesichtet wird, schrumpft auf drei
Hauptarten zusammen, denen aber eine große Vielseitigkeit der Aus-
fuhrung gewahrt bleibt. In der älteren Lehre richtete man das
Augenmerk auf die in einer Stimme aufeinanderfolgenden Intervalle ;
eine möglichst getreue Nachahmung dieser in der Umkehrung war
der Zweck. In der neueren Darstellung aber betrachtete man die
von den beiden in Frage kommenden Stimmen gebildeten Intervalle;
auf eine möglichst entsprechende Umkehrung dieser kommt es jetzt
an. Also die aus einer ursprünglisch melodischen Betrachtung ent-
sprungenen Regeln wurden gegen neue, aus einer harmonischen An-
schauung entstandene Kegeln vertauscht, welche in einer übersicht-
licheren und zweckentsprechenderen Weise dasselbe Resultat erzielen,
wie jene älteren Regeln. In drei Schemata, die zuerst Berardi auf-
stellt, ist gleichsam die Quintessenz der ganzen neuen Lehre vom
doppelten Kontrapunkt enthalten:
552 Henaann Oehrmaim,
Schema füi den Schema f&r den Sdiema für den
dopp. Kontrapunkt dopp. Exintraponkt dopp. Kontrapunkt
in der Oktare : in der Deeime : in der Duodecime :
1
8
2
7
3
6
4
5
5
4
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1
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4
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3
11
2
12
1
Ferner wird der doppelte Kontrapunkt nicht mehr über einen
Canius firmuSy was zum Theil in der älteren Lehre geschah« kompo-
nirt, sondern besteht ans gleichberechtigten bewegten Stimmen.
Ein weiterer Gegensatz ist der, daß in der älteren Lehre die Bei-
spiele nur im gebundenen, vokalen Stile, in der neueren Lehre aber
sowohl im gebundenen^ wie instrumentalen Toccatenstile g^eben sind.
So herrscht im Hamburger Manuskript 2. Theil Toccatenstil vor, bei
Berardis Beispielen aber vokaler Stil.
Walthers Lehre von diesem Kontrapunkt ist durchaus aus nor-
dischen Quellen zusammengestellt und zwar schöpft er aus Chr. Bern-
hards Traktat vom doppelten Kontrapunkt, der als »Anhang« die
letzten Kapitel im Ausfuhrlichen Bericht von den Kon- und Disso-
nanzen ausmacht, femer aus dem 2. Theil des Hamburger Manu-
skripts.
Bei der Eintheilung geht Walther insofern selbständig vor, als
er die Arten des drei- und vierfachen Kontrapunkts, die im Ham-
burger Manuskript und bei Bernhard, wie in der älteren Lehre, erst
nach dem doppelten behandelt werden, in die Darstellung des dop-
pelten Kontrapunkts einordnet.
Mit allgemeinen Vorbemerkungen, die sämmtlich aus Bernhards
Abhandlung entlehnt sind, beginnt Walthers Darstellung. »Der dox>-
pelte Kontrapunkt ist eine Komposition, in welcher 2, 3 oder 4 Me-
lodeyen also in einander geflochten werden, daß sie alle zugleich,
die eine unten, die andere oben, die dritte und vierte in der mitten,
et vice versa zu stehen kommen c
Nach der Stellung des Halbtons in der Umkehrung zerfällt der
Kontrapunkt in 2 Gruppen. Kommt der Halbton an seinen ge-
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 5jg3
hörigen Ort, so ist es der Kontrapunkt alla Ottata, koBunt er nicht
an seiiien gehörigen Ort, so ist es ein Kontrapnnkt alla ßecima oAet
Duodecima.
Mit größter Ausführlichkeit folgt die Lehre vom doppelten Kontra-
punkt in der Oktave. Bei der Verwechslung setzt man die untere
Stimme eine Oktave höher, die höhere eine Oktave liefer. Dur^th
das bekannte Zahlensohema werden die Umkehrungen der Intervalle
gexeigt. Da die Quinte in der Umkehrui^ eine Quarta non/undata
wird, so ist sie zu meiden. Es folgen Stimmführungsregeln, um ver-
botene Fortschreitangen sowohl in der FrincipaLstinune, wie in der
Beplica zu vermeiden. In einem Beispiel werden alle Kon- und Disso-
nanzen vorgestellt. Doch auch die Quinte darf gebraucht werden,
wenn durch sie keine verbotenen Fortschreitungen entstehen. Am
' besten kann sie daher in einem Kontrapunkt mot contrario gebraucht
werden; bei gerader Bewegung aber muß sie synkopirt sein.
Es folgen besondere Arten vom doppelten Kontrapunkt allu
Ottava^ die in derselben Reihenfolge, wie im Hamburger Manuskript
aufgezeichnet sind.
In der 1. Art macht die andere Stimme nach einer kleinen Pause
der ersten Stimme alles nach, und zwar entweder motu recto oder
contrario im Unisonus, 4, 5 oder 8.
Eine andere Art ist der Camm per augmentationem^ wo die zweite
Stimme alle Bewegungen der ersten noch einmal so langsam motu
recto oder contrario nachmacht.
Die letzte oder wie im Hamburger Manuskript gesagt wird die
1 künstlichste« Art ist die, in welcher ein Kontrapunkt vor- oder
rückwärts entweder 1) motu recto oder contrario oder 2) per augmen-
tationem motu recto oder contrario zu verkehren ist.
Je komplicirter diese Arten sind, desto beschränkter sind die
Freiheiten in Bezug auf die Intervallfortschreitungen. Besonders für
ditee letzte Art fährt Wolther noch einmal die StimmfiUimngstegeln
an. Ehe er nun zu dem d.oppelten Kontrapunkt in der Decime
und Duodecime übergeht, kommt er kurz noch auf den drei- und
vierfachen Kontrapunkt zu sprechen. Und zwar behandelt er des-
halb an dieser Stelle den dreifachen Kontrapunkt, weil für diesen
die Regeln des doppelten Kontrapunkts in der Oktave gelten.
Der vierfache Kontrapunkt aber wird deshalb hier eingeordnet,
weil in der gebräuchlichsten Replica die beiden Außenstimmen Dis-
kant und Baß im doppelten Kontrapunkt alla Ottava gesetzt werden.
Hier fehlt ein Beispiel. Es werden nach Bernhards Ausführlichem
Bericht Kap. 29 nur noch Stimmführungsregeln und noch einige andere
Umkehrungen mitgetheilt.
5g 4 Hermann Gehimann,
Es folgt der doppelte Kontrapunkt alla Decima, also nicht wie
im Hamburger Manuskript oder bei Bernhard erst der Kontrapunkt
in der Duodecime. Hier wird besonders aus dem Hamburger Manu-
skript geschöpft.
Eine von beiden Stimmen muß in der Umkehrung eine Terz oder
Decime höher oder tiefer angebracht werden. Die ümkehrungen der
Intervalle werden durch das bekannte Schema gezeigt, und im An-
schluß an das Hamburger Manuskript durch Beispiel und Stimm-
fiihrungsregeln dieser Kontrapunkt näher dargestellt.
Aus Bernhards Ausführlichem Bericht ist Walthers Beschreibung
des doppelten Kontrapunktes in der Duodecime geschöpft. In der
Umkehrung dieses Kontrapunktes wird eine von beiden Stimmen eine
Duodecime oder Quinte tiefer oder höher angebracht, während die
andere Stimme in entgegengesetzter Weise eine Oktave höher oder
tiefer zu stehen kommt. Auch hier werden besondere Stimmfuhrungs-
regeln gegeben. Zum Schlüsse folgen noch Regeln für einen vier-
fachen Kontrapunkt per motum confrarium, die aus dem Ausführ-
lichen Bericht von Bernhard stammen. Daß diese Form an dieser
Stelle dargestellt wird, hat darin seinen Grund, daß Diskant und Baß,
die beiden wichtigsten Stimmen, hier in der Umkehrung im doppelten
Kontrapunkt alla Duodecima gesetzt sind. Nach wenigen Stimm-
fiihrungsregeln für diese letzte Form eines mehrfachen Kontrapunkts
schließt die Walthersche Lehre und damit auch unsere Beschreibung
derselben.
III.
Die Betrachtung der Lehre Walthers als einer Yorarbeit za seinem
Lexikon«
1. Allgemeines.
Auf dem Titelblatte jenes Musikalischen Lexikons vom Jahre 1732
weist Walther darauf hin, daß im Lexikon nicht nur die Musici alter
und neuer Zeit angeführt, »Sondern auch die in Griechischer, La-
teinischer, Italiänischer und Frantzösischer Sprache gebräuchliche
Musikalische Kunst- oder sonst dahin gehörige Wörter, nach Alpha-
betischer Ordnung vorgetragen und erkläret, Und zugleich die meisten
vorkommenden Signaturen erläutert werden«.
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 565
Für diesen theoretischen Theil des Lexikons aber darf Walthers
Lehre als eine Vorarbeit gelten. Denn ein großes hier niedergelegtes
Material wurde in das Lexikon herübergenommen. Doch nicht im-
mer in derselben Weise, wie in der Lehre wird das große Material
im Lexikon verwendet. Im Vergleich zur Lehre weichen die lexiko-
graphischen Darstellungen in mehrfacher Beziehung ab. Häufig be-
gegnet uns freilich eine nicht nur sachliche, sondern zum Theil auch
wörtliche Übereinstimmung zwischen den Ausführungen in Walthers
Lehre und Lexikon; so decken sich große Iheile der Beschreibung
von den Ligaturen, Punkten und einigen Figuren, ferner von den
Proportionen, Intervallen und Modi.
Daß selbst hier nur von einer theilweisen Übereinstimmung ge-
sprochen werden kann, hat darin seinen Grund, daß die in der Lehre
gegebene Beschreibung eines Begriffs oder einer Disciplin im Lexikon
theils beschnitten, theils erweitert wird.
Vielfach geschieht beides zugleich. Dies gilt als Regel für die
mehr melopoetischen Begriffe, unter denen eine Form gedacht wird,
wie Kanon, Fuge u. s. w. Bei diesen Begriffen wird, wie in der
Lehre, eine Erklärung und kurze Erläuterung der Begriffe selbst ge-
geben; die in der Lehre folgende ausführliche Darstellung ihrer An-
wendung fehlt im Lexikon, insofern ist also die Darstellung aus der
Lehre im Lexikon beschnitten. Andererseits aber .werden noch sämt-
liche andere Namen für diese Begriffe und ihre Varianten angegeben,
die in der Lehre fehlen, insofern ist die Darstellung aus der Lehre
im Lexikon erweitert.
Es wird im Gegensatze zu den elementaren Begriffen bei den
melopoetischen nur zum kleineren Theil der Darstellung in der Lehre
gefolgt. Der Umstand nun, daß bei den elementaren Begriffen ihr
Gebrauch ganz ausführlich, bei den melopoetischen nur sehr kurz
beschrieben wird, beweist, daß für den theoretischen Theil des Le-
xikons eine vorherrschend elementare Darstellung gewählt wurde.
Warum nun Walther dies thun mußte, soll jetzt gezeigt werden. In
der Darstellung der Theorie sind zwei verschiedene Arten maßgebend.
Die erstere Art, welche bei der Abfassung von Gesangunterrichts*
büchern befolgt wird, ist diejenige, in welcher die einzelnen Ab-
schnitte einen in sich abgeschlossenen Eindruck machen und daher
auch, wenn sie aus dem Zusammenhange herausgenommen werden ^
jeder für sich ein verständliches Ganzes bilden. Ihre Aufeinander-
folge im Zusammenhange ist nicht immer streng logisch. Anders
verhält es sich bei der zweiten Art, welche für die Anfertigung von
Melopöien in Frage kommt.
Hier sind die einzelnen Abschnitte, wenn sie aus dem Zusammen-
556 Hennann Oehrmann,
hange herausgeoommen und für sich betrachtet werden, weniger ver-
ständlich; sie sind in sich weniger abgeschlossen. Sie stehen alle
durch gegenseitige Ergänsting in einem viel innigeren Zusammen-
hang, und ihre Aufeinanderfolge ist an eine bestimmte logische Ord-
nung gebunden. Angeregt durch die Lippius'sche Eintheilung des
theoretischen Stoffes in Materie und Form, bezeichnen wir jene erste
Art der Darstellung als die materiale, elementare oder äußerliche,
die zuletzt geschilderte als die formale oder innere Beschreibung.
In einem Lexikon nun, wo ja eine alphabetische Anordnung des
Materials stattfindet, wird auch die Darstellung der Theorie nur eine
überwiegend elementare sein können, da infolge dieser alphabetischen
Ordnung von einer zusammenhängenden Beschreibung der Theorie
nicht die Rede sein kann, sondern nur von einer getrennten Dar-
stellung ihrer einzelnen Abschnitte.
So tritt zwischen der theoretischen Darstellung einer Melopöie
und eines Lexikons, außer den äußeren Gegensätzen in der Anord-
•nung, die einerseits logisch oder innerlich, andererseits alphabetisch
und äußerlich ist, noch folgende Discrepanz auf: In einem Lexikon
vdrd der Hauptnachdruck auf das gelegt, was zwar in einer Kom-
positionslehre ein wesentlicher Bestandtheil , aber nicht die Haupt-
sache selbst ist, auf die Elemente; in einer Kompositionsldhre aber
wird das Augenmerk hauptsächlich auf ein richtiges kuiiBtmäOiges
Operiren mit den zur Komposition nöthigen technischen HilfiBmittehi;
eben den Elementen, gerichtet, auf die Formenlehre.
Für die Erweiterungen der elementaren Darstellung im Lexikon
sind auch historische Gründe maßgebend.
Nicht nur nach der antiken, sondern auch nach der modernen
Seite hin wird die elementare Darstellung in der Lehre von jener
des Lexikons übertroffen. Italienische, namentlich aber französische
Bezeichnungen sind hier reichhaltiger, als in der Lehre. Dies liegt
ganz natürlich schon darin begründet, daß das Lexikon 20 Jahre
später, als die Lehre abgefaßt war.* Für den theoretischen Theil des
Lexikon standen Walther neue Quellen zu Gebote, welche er vor
•1708, dem Abfassungsjahr seiner Lehre nicht kannte. Unter den
"vielen Schriftstellern, deren Werke er hier zum ersten Male heran-
zieht, ragen besonders drei Theoretiker hervor, und unter diesen ab
der am meisten benutzte Mattheson. Seine Schriften, soweit sie
zwischen 1708 — 172-9 erschienen sind, wurden die einflußreichste
Quelle für das Lexikon überhaupt; für den theoretischen Theil des-
1 Das Lexikon wurde 1728 im Winter begonnen, wie Walther im Vorberiefet
mittheih, und erschien vollstftndig 1732.
Johann Gbttfried Walther als Theoretiker. 557
selben kommen von Mattheson namentlich die drei Eröffnungen des
Oichesters (1713, 1717 und 1721), seine Bearbeitung von Niedts Hand-
leitung 1724 und seine Critica mtmca I 1722 und 11 1725 in Frage;
femer ist Loulii^ Elements ou Principes de Musique divisez en träte
Parties Amsterdam 1698 und Gasparini, Armonico prattico al Cim-
hole Venedig 1708 viel herangezogen.
Als eine Vorarbeit zu diesem Lexikon treten uns hauptsächlich
die Abschnitte von Walthers Lehre entgegen, welche in elementarer
Weise von der Theorie handeln. Es ist dies der ganze elementare
1. Theil, sodann sind es solche Abschnitte aus dem 2. Theil, welche
ebenfalls noch von der Beschreibung der Elemente handeln, sowie
alle begrifflichen Erklärungen in diesem letzten Theile.
2.
Die erste Abhandlung des ersten Theils.
Aus Kap. 1 der ersten Abhandlung, welches vom Wesen und der
Eintheilung der Musik handelt, finden wir Stellen im Lexikon wieder
unter den Begriffen y>Musicav und li Harmoniav, Die Ableitung des
Wortes Musica von den Musen , von b^iowvaa , ctTto tov jucDaS-ai ==
investiffare, und Moys, femer die Beschreibung der Musica Theoretica^
Practica t Historica, Didactica, Signatoria^ Modulatoria und Poetica
stimmt in beiden Werken überein. Doch ist im Lexikon die Auf-
zählung dieser 7 Arten noch um eine große Anzahl vermehrt. Auch
die kurze Erklärung der Harmonia findet sich im Lexikon in er-
weiterter Form wieder. Die Ausfuhrungen über den Cantus (Kap. 2)
sind im Lexikon unter den Artikeln: Cantofermo, — figurato, Can^
tus arti/icialis, — artificialiter durus und molliSy — chromatictis, —
naturalis und naturaliter durus und mollisj — transpositus vertheilt.
Doch ist die Aufzählung dieser Begriffe, sowie die Anzahl der Bei-
spiele {Tab. VII) im Lexikon bedeutend erweitert worden. Der In-
halt des dritten Kapitels ist im Lexikon sehr vertheilt. Die Defini-
tion der Noten finden wir unter Nota verzeichnet, die Aufzählung
der einzelnen Notenwerthe MaxtTnaj Longa etc. wird der alphabetischen
Ordnung gemäß einzeln gegeben. Der Begriff der Subsubsemifusck
fehlt im Lexikon. Im übrigen aber stimmt die Beschreibung wört-
lich in beiden Werken übeiein. Auch die alten Ligaturae rectae
werden wörtlich in Text und Beispiel [Tab, XI und XII) aus de*
Lehre herübergenommen; nicht wörtlich, aber sachlich übereinstim-
mend werden die obliquen Ligaturen dargestellt (Tab, XU). Auch
auf die Quantitas extrinseca und intrinseca kommt Walther im Lexikoui
1891. 38
5ßS Uennann Oehnnann,
ganz kurz zu spiechen. Doch ist ihre Darstellung in der Lehre yiel
ausführlicher. Was zum Schluß des Kapitels über die Erfindung
der Notenzeichen gesagt ist, findet sich unter dem Artikel «Jfuriat
wieder. Den Inhalt von Kap. 4 finden wir zum Theil wörtlich in
Text und Beispiel [Tah, XVIII) unter dem Artikel »Poci^ac wieder.
Doch fehlt im Lexikon die rt SubsubsemifttsapausaiL und das tSuspi-
riunvk] dagegen ist ihr Nutzen ebenso ausführlich, wie in der Lehie
mitgetheilt, desgleichen ihre Bezeichnung in der deutschen Tabulator
[Tab, XXI). Die Definition des Taktes in Kap. 5 steht im Lexikon
imter dem Artikel »Battuta^, Die specielleren Angaben über die
einzelnen Taktarten finden wir an verschiedenen Stellen. Alla Breve-
und Alla /S^mtir^ß- Taktzeichen werden unter dem Buchstaben C
genauer, als in der Lehre beschrieben. Die hier gegebene Daistel-
lung wiederholt sich zum Theil unter den Artikeln Modw major und
minorj SemicirculOy Semiditas und Signa quantitatis. Im Lexikon fehlt
aber eine Beschreibung der Begriffe Tacttis simplex imd proportionatus.
Die Angaben über Tactus totalis und generalis decken sich mit dem, was
bei *Alla Brevem und in Tempo alla Semibrevea im Lexikon gesagt ist
Doch sind die Ausführungen in der Lehre eingehender. Die nähere
Unterscheidung zwischen Tacius aequalis und inaequalis fehlt im Lexi*
kon. Unter Artikeln, wie z. B. Tripolaj HemioUa, Sesquialtera minore
imperfetta^ Sesquiottava, Subsesquiterza^ Subdupla, Subsupersettipar-
tiente nona und anderen werden die einzelnen in der Lehre ange-
zählten Taktarten wiedergegeben. Auch sämtliche Beispiele für diese
einzelnen Arten sind aus der Lehre in das Lexikon [Tah. XKIFj
herübergenommen. Die Ausführungen über Arsis und Thesis^ De-
pressio und Elevatio decken sich in beiden Werken. Die ganze Lehre
von Takt und Tempo ist im Lexikon nach der älteren Seite hin er-
weitert. Das 6. Kap. ist getreu unter dem Artikel i^Punctus^ wieder-
gegeben, dieselben Beispiele finden sich Tab. XVIII. Die Ausfüh-
rungen über die modernen Ligaturen sind nicht so eingehend, wie in
Kap. 7 unter den Artikeln »Bindungen«, y^legatom und vsignum ccn-
nexionisd gegeben.
Den ganzen Inhalt von Kap. 8 treffen wir im Lexikon wieder.
Das Fünfliniensystem wird etwas kürzer, als in der Lehre, unter
»Systemad mitgetheflt, die Wiederholungszeichen werden unter »jBh
presafk und i^ Reprise t beschrieben und in Tab. XIX yeranschaulicht,
Das in der Lehre noch stehende Zeichen für Wortwiederholung fehlt
im Lexikon. Das Signum fugartan steht unter Presa. Ausfuhrlicher
in der Lehre ist die Beschreibung des CoulS, OustoSy Mordent^ TrSUf
und Arpeggio* Der Oircuitus fehlt ganz im Lexikon. Dagegen decken
sich die Ausfuhrungen über Accent zum Theil wörtlich in Text und
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 569
— •-■' — ... ■ -^
Beispiel {Tab. I), Die Zeichen t{, K j| und ^ werden unter »i ro-r
tundum^ und »qtuidratum<ij sowie unter Diesis mitgetheilt. Die Dai7
Stellung der Zeichen in Kap. 8 wird durch jene Tabelle ergänzt,
welche in Kap. 1 der 2. Abhandlung des 2. Theils gegeben wird. Die
hier ausgeführten Beispiele für Accent^ Tremolo^ lirata mezza^ Groppo^
Circulo u. 6. w. stimmen sachlich mit den Erklärungen und Beispielen
im Lexikon überein. Besonders beim Groppo und Oirculo mezzq
schließt sich Walther der schon in der Lehre vertretenen Frintzsche^
Anschauung an und eifert gegen Brossard, der Groppo und Oirculo
mezzo für gleichbedeutende Begriffe hält.
Ganz besonders kommt das nun in der Lehre folgende Ver-
zeicbniß musikalischer Ausdrücke als Vorarbeit für das Lexikon in
Betracht. Mit wenigen Ausnahmen finden wir sämtliche Beschreib
bungeUj welche hier über die einzelnen Kunstausdrücke gegeben wer-
den, im Lexikon wieder. Bei der Aufzählung dieser Ausdrücke folgen
wir, wie bisher der in der Lehre gegebenen alphabetischen Reihen-
folge und orthographischen Aufzeichnung dieser Namen. In diesem
Verzeichniß werden manche Begriffe kurz mitgeüieilt, die an anderer
Stelle in der Lehre ausführlicher beschrieben werden, das betrifft
namentlich die Beschreibung des Canon, der Fuge, des Groppo^ des
Modus, der Syncopatio und Syzygia, sowie des Trillo. Während
wir jene ausführlichere Beschreibung dieser Begriffe an anderer Stelle
mit der lexikographischen Darstellung derselben vergleichen, be-
trachten wir hier nur die im Verzeichniß gegebene Darstellung dieser
Begriffe als eine Vorarbeit für das Lexikon.
Nicht berücksichtigt im Lexikon sind folgende im Verzeichniß
erklärten Ausdrücke: Amener; Barytonus, Caliciono, Completnentum,
Come de chasse pr emier und second; Dolciano, Fresco , Favorito;
Grosso, Gay; Uimhrichezza; Malinconico, Melismaticus Stylus, Mesto ,
Missodia, MotecHcus Stylus; Paysans^ Piccolo; Misposto, Ricantate ;
SchiettOj Se piace, Sestini, Stapelte, Suavement, Schryari; Tempo
giusto, Trasversa, Trezza, Tous, Tout doucement; Uno, Viola Baryton,
Voltate, Zoppicamento.
Alle übrigen Ausdrücke sind nun entweder mit oder ohne Zu-
sätze in das Lexikon au%enommen.
Von der ersten Gruppe zählen wir zunächst diejenigen auf,
welche entweder mit demselben Wortlaut, wie in der Lehre, oder nur
mit geringen unwesentlichen Abweichungen von diesem beschrieben
werden. Hierher gehören: Ab initio, Alternat/im, Ardito, Arpichor-
dum, Audacsy AI mit seinen Zusammensetztmgen, wie älpü^ adagio etc.;
Cantatricej Cangiamento , Chorus instrumentalis , — vocalis, /avorito
und palchetto, Cembalo, Cimbal, Clarino mit Beispielen für den Stimm-
38»
570 Hermann Oehrmann,
umfang in Tab. VIII ^ Cametto, Comeito dkitto^ — muto^ — curvo^ —
tortOy — di eaccia; Diphamum, Director tnusicae; Flautaney Fin, Charo
favarüo; Crrave, Oiardimero, Griphtu; Harlequinado ; Inoolucrum^
JoyetiXj In unisono; lAuto; Madrigale^ Mezzo, Moüe; Octiphomm^
OmneSj Organo; Plainte; Hastrum^ -Repetaturj Ripieno\ Bisposia;
Sdltarelli, Sarabande^ Scherzi musicali, Schnackade, Sonatina, Spedito^
Subito, Syzygia; Tarda, Threnodiae; Vagatu, Veloce, Violine piccohy
Viola da braccioy Vite, Vivace, due Volte, Volti, a una Voce u. 8. w.
Weiter gehören zur ersten Gruppe solche Beschreibungen, welche
nicht mit demselben Wortlaut mitgetheilt sind, aber dem Inhalt nach
in beiden Werken übereinstimmen. Es sind dies Ausfuhrungen über:
AffettaoBO, Agusto, Accompagniren; Basso continuo, Bicinium, Bonh
bardo; Claviatura, ComposiÜo, Contra-Tenor; Dous oder Doux; Eniree,
Exotica compositio; Fantasia; Gaülard, Chroppo, Falset und Voce contra
fatta, Galliarde, Guido; Hautcontre; Lento; Ouvertüre; Passepied,
Piü, Presto j Proposta; Sdegnoso, Serenata, Solicinium, Sonetto, So-
prano, Spiccato, Spiritoso, Syncopatio, Toccata.
Viele Ausfuhrungen sind im Lexikon kürzer, als in der Lehie
gefaßt. Hier ist die Beschreibung der Paduana wörtlich entlehnt,
die anderen hierher gehörigen Begriffe haben einen Wortlaut, der
nicht aus der Lehre geschöpft ist: Ballo; Commissura; Da capo;
Motus, Musicus; Organo piccioh; Poco, Praeambulum , Psalmodiot
Stanza, Tutti.
Von der zweiten Gruppe betrachten wir zuerst solche Aus-
führungen, die abgesehen von den Erweiterungen im Lexikon mit dem-
selben Wortlaut, wie im VerzeichniB beschrieben werden. Hierher
gehören die Ausfuhrungen über Canon, Canzone, Cometiino; Fuga
und Ricercare; Harpeggiando ; Lamento; Madrigale, Messanza; Vü-
lanella, Vinette^ Violine, Violetta, Violone,
Es folgen zum Schlüsse Ausdrücke, deren erweiterte Beschreibung
eine wörtliche Anlehnung an jenes VerzeichniB nicht mehr aufweist.
Hier finden wir die größte Anzahl von Begriffen: Accord, Adagio,
Atta breve, Allegro, Allemanda^ Andante, Aria, Arciviola di Lira,
Assai, Bassono, Bassetto, Bizzaria, Bourree^ Branle, Cadentia, Can-
tata, Canzonetta, Capella, Chalumeau, Chitarra, Cldtarrone^ Chorus,
Concerto, Consonantia, Contrapunctus, Cornetto^ Ciaccona, Chorea, Cou-
rante; Dessus, Dialogo, Diminuzione, Dissonantia, Drama, Double;
Echo; Falso bordone, alle Arten von Flaute oder Flute; Gavotte,
Gigue; Harmonia, Hautbois, Hardiment; Largo; Mascherata, Menuet,
Mandora, Monodium, Modus, Motetto; Ondeggiando ; Palimpsesius
phonotacticus, Partes, Passacaglio, Passamezzo, Passagio, Piano, Piefw,
Pleno choro, Psalmus; RecitativOjRitornello, Rigaudon,Rondeau; SalU^
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. blt
reUa, Sciocchezza, Senza, Si, Sommeil^ Sonata^ Sostenuto, Staccato^
StrometUi; Tamburo, Tempo moffgiore, Tasto solo, Tßstatura, Tiorha^
Tirate, Tremolo^ TriUo, Tromba, Arten der Trombone; Viola di Gamba^
' — (famourj Violoncello,
3.
Die zweite Abhandlung des ersten Theils.
Alles, was in Kap. 1 und 2 über die claves, über ihre Einthei«-
Inng in Hgnatae und intelleciae, in principales und minus principalee
und was ferner über die yerschiedene Stellung der Muidkschlüssel
gesagt ist) deckt sich völlig mit dem, was im Lexikon unter den
Artikeln dA.B C D E F Ga ^Chiaveai und r^Clavee^L angegeben ist«
Auch aus dem 3. historischen Kapitel ist vieles in das Lexikon her*
übergenommen, so die lateinischen und griechischen Namen der Te*
trachorde und 16 Töne. In der Lehre fehlt ganz das Tetrachordum
st/nemmenon. DaB die 15 resp. 16 Namen durch Gregor auf die 7 ersten
alphabetischen Buchstaben reducirt worden seien, wird im Lexikon
unter i^A B C D E F Gd^ imd ^ Greg orius Magnus d mitgetheilt. Daß
Guido diese Töne vermehrt habe, erfahren wir im Lexikon überhaupt
nicht, auch nicht unter dem dürftigen Artikel »Guidos. Die im hi-
storischen Kapitel an einem Beispiel gezeigte mehrfache Benennung
eines Tones : c, eis, ces sowie das Supersemitonium eis durum wird im
Lexikon eingehend von allen i Buchstaben mitgetheilt. Ein Unter-
schied zwischen Subsemitonium (b vorzeichnung) und Supersemitonium
(Kreuzvorzeichnung) wird im Lexikon nicht mehr gemacht.
Der Inhalt des 4. Kapitels entspricht zum Theil wörtlich dem,
was unter den Artikeln: Chordes chromatiques^ -diatoniques und -en-
harmoniques; CAromatico, Diatonico, EnAarmomque, Genus modulandi
chramaticum, — chromatico-diatonicum, — diatonicum^ — diatonico^
chromaticumj und dem Schlußsatz über die Genera gesagt ist. Die
in Kap. 5 folgende Abhandlung über ^ und ^ ist im Lexikon unter
dem Buchstaben vi« ebenso umfassend und dabei praciser, als in
der Lehre dargestellt.
4.
Musioae poeticae pars generalis.
Aus der wissenschaftlichen Einleitung ist vieles in das Lexikon
herübergenommen. Ebenso wie in der Lehre wird der Ausdruck
»Musica poetica<i von Ttoiiw abgeleitet. Die Mittheilung, daß die
Musik eine mathematische Wissenschaft sei, fehlt bereits im Lexikon.
574 Hermann Oehrmann,
rangen über diese Figur sind im Lexikon genauer. In der Lehre
werden nur zwei verschiedene Unterarten erwähnt, im Lexikon deren
Tier. Vom Transitus jedoch wird eine ganz knappe Erklärung ge-
geben, während gerade diese Figur in der Lehre sehr eingehend dar-
gestellt ist.
Auch die folgende ausführliche Darstellung von anderen Figuren,
in welche sich die Dissonanzen auflösen, ist nur theilweise in das
Lexikon herübergenommen. So wird von der Supertectio nur eine
kurze Definition gegeben. Ihre ausfuhrliche Beschreibung in der
Lehre deckt sich nicht mit dem, was im Lexikon unter Supertectio
oder Accento und A. doppio in Text und Beispiel mitgetheilt ist.
Für diese Artikel kommen die an früherer Stelle gegebenen Aus-
führungen in Frage. Was unter Subsumptio gesagt wird, stimmt
sachlich mit dem überein, was im Lexikon ausführlicher unter Cercar
della noia, Anticipatione della nota und Antidp. deUa sillaha mit-
getheilt ist. VariiUio wird wieder viel kürzer, als in der Lehre be-
sprochen; jedoch ist die Tirata im Lexikon ausführlicher beschrieben
und durch eine größere Anzahl von Beispielen {Tab, XX und XXI)
vor Augen gestellt. Die Multiplicatio fehlt überhaupt im Lexikon,
desgleichen die Heierolepsis und der Qudsi-Tramittts. Fast wörtlich
kehren die Ausführungen über EUipsis und Retardatio im Lexikon
wieder, auch dieselben Beispiele sind in Tab. X und XIX ange-
zeichnet. Die Beschreibung der Relatio non harmonica aus Kap. 5
ist zum Theil ebenfalls wörtlich im Lexikon wiedergegeben. Über den
Text, von welchem Kap. 6 handelt, erfahren wir im Lexikon nichts.
Aus den folgenden Kapiteln über die Modi ist besonders viel in
das Lexikon übergegangen
Die Aufzählung der 12 Modi erfolgt aber nicht wie in Kap. 7
von Jonisch, sondern von Dorisch an. Ausführlicher als in der Lehre
ist im Lexikon die Beschreibung des Ambitus, der harmonischen und
arithmetischen Theilung und der authentischen lud plagalen Lage
eines Modus. Ganz bedeutend erweitert ist die Darstellung der
Clausülae.
Namentlich unter den Begriffen Cadenza und Cadence treten
viele Arten auf, von welchen in unserer Lehre noch nicht gesprochen
wird. Hier sind neben italienischen auch französische Namen häufig.
Weniger zahlreich sind die unter Clausula mitgetheilten Arten von
Schlüssen, die sich vielfach mit Kadenzarten decken. Zwischen Ka-
denz und Klausula besteht nun in Walthers Lexikon der Unterschied,
daB eine Kadenz stets einen )> Harmonie-Schluß«, eine Klausula aber
einen «Absatz« bedeutet, »wobey die Stimmen und Partien ent-
weder gantz und gar aufhören, oder nur einigermassen zur Ruhe
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 575
kommen.« Mit dem in der älteren Theorie allein üblichen Begriffe
der Klausula operirt man also mehr in melodischer oder kontra-
ponktischer Musik, während der neuere Ausdruck Cadenza Schlüsse
bezeichnet, die in Stücken mit harmonischer Grundlage vorkommen.
In Walthers Lehre wird nur von Clausula gesprochen. Was in Kap. 7
unter Clausula perfectissima und perfecta verstanden wird, entspricht
dem, was im Lexikon unter Cadence parfaite und imparfaite tmd den
dazu gehörigen Beispielen in Tab. V mitgetheilt ist. Claustda minus
perfecta finden wir im Lexikon unter Clausula altizans wieder. Die
hierzu gehörten Beispiele in Tab, IV sind aus der Lehre genommen.
Die Claustda cantizans und tenorizans sind im Lexikon unter den Be-
griffen Cadentia cantizans und Cadenza semplice descendendo di grado
eingeordnet; ein Beispiel für die Cadentia cantizans in Tab. IV
stammt aus der Lehre. Kürzer nnd knapper als bei den Kadenzen
sind unter dem Artikel d Clausulae peregrinaea alle in der Lehre aus-
fuhrlich erklärten Schlüsse zusammengefaßt. Hier werden die von
verschiedenen Stufen der (7 durtonleiter gebilden Kadenzen mit den
in der Lehre gegebenen Ausdrücken bezeichnet. Demnach sind in
Cdur die A- und J'kadenz Clausulae affinaleSj die D~ und ^kadenz
Clausulae peregrinae ; die Ckadenz aber ist eine Clausula perfectissima
primaria ßnalis, die £kadenz eine Clausula tertiaria imperfecta und die
(rkadenz eine Clausula secundaria. Die Clausula dissecta, welche in
der Lehre einfach nur als ein anderer Ausdruck für die Clausula
perfecta erwähnt ist, wird im Lexikon ausführlicher noch in Unter-
abüieilungen gesondert.
Eingehender als in der Lehre ist die Darstellung der einzelnen
Modi; jedoch ist der größte Theil dieser Beschreibung aus Kap. S
entlehnt. Wie an dieser Stelle wird auch im Lexikon jeder Modus
einzeln durchgesprochen, und wie in der Lehre wird in den Tab. XIII
und XIV^ X VI und X VII ihr Ambitus und die gleiche Anzahl von
Transpositionen angegeben. Doch sind nicht, wie in der Lehre die
Reperkussionen und ausführlichen Kadenzbeispiele für jeden Modus
mitgetheilt. Einige Beispiele, welche für Schlüsse im jonischen
Modus in Kap. 8 gegeben sind, finden wir auch im Lexikon [Tab. IV)
wieder; aber nicht für den jonischea Modus, sondern für die Ca-
denza composta maggiore und minore kommen sie hier in Frage. Auch
eine Anzahl von Chorälen, die mit Ausnahme des lydischen und
hypolydischen, in allen Modi gesetzt sind, findet sich hier. Aber
ihre Auswahl ist kleiner, als in der Lehre.
Haben wir so die im Lexikon auftretenden Einschränkungen der
früheren in der Lehre gegebenen Darstellung der Modi hervorgehoben,
so kommen wir nun zu den Erweiterungen dieser Darstellung. Im
576 Hermann Qehnnann,
Anschluß an die Aufzählung der Choiale spricht Walther einige der-
selben hinsichtlich ihrer Abweichungen von dem betreffenden Haupt-
modus durch und kommt hierbei auch auf den Ambitus und die
Kadenzen des betreffenden Modus noch einmal ausführlicher zu
sprechen. Femer giebt Walther im Lexikon noch eine neuere Dar-
stellung der Modi, welche auf einer Unterscheidung nach großer und
kleiner Terz beruht.
Außerdem werden noch viele, andere mit »Modusa bezeichnete
Begriffe erklärt, so Modus auihentus und plagalia^ ferner Modtis colla-
teralis, — compositus, — impar etc. Alles Wesentliche, was in Kap. 9
von der Transposition und Reduktion mitgetheilt wird, steht im
Lexikon unter T>Tran^oa%t%oti. in einer etwas knapperen Darstellung.
Besonders bei der Repercussio ist der Gregensatz groß zwischen der
ausführlichen Beschreibung in der Lehre und der kurzen Erklärung
im Lexikon. Hier tritt uns auch eine viel größere Anzahl von Fugen-
formen entgegen, als in Kap. 10. Die Erklärung des Ausdrucks
«Fuge« stimmt dem Inhalt nach in beiden Werken überein. Duz
und Cames sind im Lexikon nicht unter Fuge, sondern an anderer
Stelle, die durch die alphabetische Ordnung bestimmt ist, erwähnt.
Nach Kap. X sind im Lexikon die Fuga pariialis oder libera, Fuga
propria oder regularUt — impropria oder irregtilaris^ — plagalü un-
gefähr ebenso kurz beschrieben, wie in der Lehre. Fuga contraria
wird dagegen im Lexikon nicht so ausführlich, wie in der Lehre
beschrieben. Auf einige andere im Lexikon angeführte Fugenarten
kommen wir bei dem Kanon zu sprechen.
Fast in ganz gleicher Weise ist die Imitation in beiden Werken
dargestellt. Doch fehlen die Beispiele aus der Lehre.
Ähnlich kurz, wie in Kap. 12 wird im Lexikon das Wesen des
Kanon selbst, sowie das des Canon aperto, cancherizante^ diviso^ ßnito;
drcolare und risoluto beschrieben. Während aber in der Lehre zur
Erläuterung der einzelnen Arten sehr viele Beispiele gegeben werden,
geschieht dies im Lexikon nur in geringem Maße. Die wenigen
Beispiele in Tab. V und VI stammen nicht aus der Lehre. Aber
gerade in den Beispielen der Lehre werden noch andere Arten von
Kanon aufgezählt, wie Canon aequalis motus in Hypodiatessaron oder
C, perpeiuus contrarii mottis etc. Ähnliche zusammengesetzte Begriffe
aber treffen wir im Lexikon bei den Fugen, und es entspricht bei-
spielsweise der Canon perpeiuus der im Lexikon beschriebenen Fuga
perpetua . Auch sonst decken sich im Lexikon selbst viele Fugen-
arten mit Kanonbezeichnung. So sind Fuga in consequema^ libera,
pariialis und Kanon Wechselbegriffe , die alle dasselbe bedeuten.
Aus der Abhandlung vom doppelten Kontrapunkt in Walthers Lehre
Johann Gottfried Walther als Theoretiker. 577
ist nichts in das Lexikon herübergenommen. Die im Lexikon ge-
gebene kurze Erklärung des doppelten Kontrapunkts stammt aus dem
alphabetischen Verzeichniß der Signa. Es fehlt im Lexikon eine
ausfuhrliche Beschreibung der Canonea per atigmentationem^ wie sie
in der Lehre bei dem doppelten Kontrapunkt alla Octava gegeben
wird. Auch hier beschränkt sich Walther auf eine kurze Erklärung
der Begriffe Canon per auffmentationem , C, p. ougmenL duplex und
Fuga doppia.
Nunmehr ist auch unsere letzte Au%abe, Walthers Lehre als
eine Vorarbeit zu seinem Lexikon darzustellen, erschöpft. Stehen
wir so am Schlüsse unserer gesamten Betrachtung, so fassen wir
noch einmal die wesentlichsten Resultate derselben zusammen.
Wir haben gesehen, daß in der That die Lehre Walthers ge-
eignet ist, einen befriedigenden Einblick in das musiktheoretische
Treiben des 17. Jahrhunderts zu geben. Die umfangreiche Litteratur,
welche seinem Werke zu Grunde liegt, gewährte uns einen Einblick
in die äußere Wandlung der Musiktheorie jenes Jahrhunderts. Auf
die innere Wandlung dieser Theorie wies uns das Werk durch seine
ganze Anlage selbst hin. In ihm werden bei den meisten Disci-
plinen ältere und neuere Anschauungen entweder einander gegenüber-
gesteUt, oder miteinander verquickt. Und zwar dient die Darstellung
älterer Anschauungen hauptsächlich zur Unterlage für die der neueren
Lehre. Es ist somit in Walthers Werk selbst vielfach die Anregung
zu einer historischen Entwicklung der einzelnen Disciplinen gegeben
worden. Wie wir nun gesehen haben, bestand diese Entwicklung
hauptsächlich darin, daß das harmonische Princip, welches für die
Anordnung des Kompositionsunterrichts bereits maßgebend geworden
war, auch auf die noch kontrapunktisch dargestellten einzelnen Dis-
ciplinen selbst Einfluß gewann, so daß diese an Stelle ihres früheren
melodischen Charakters ebenfalls ein harmonisches Gepräge erhielten.
So haben wir zunächst in dem Überwiegen des geraden Taktes über
den früher herrschenden ungeraden Takt einen harmonischen Einfluß
erkannt, femer ist der harmonischen Scheidung des Cantus in durtis
und mollis eine gründlichere Darstellung gewidmet, als jener älteren
Sonderung in Cantus planus undßffuralis. An Stelle "^ des einfachen
Kontrapunkts ist die Akkordlehre getreten. Eine Unterscheidung
zwischen None und Sekunde wurde durch harmonische Anschauung
angeregt. Überhaupt wird aus diesem Grunde der Gebrauch der
Dissonanzen gewandter. Durch harmonischen Einfluß wurde die
Melatio non harmonica erträglicher gemacht. Auch bei den Schlüssen
dominirt die harmonische Eintheilung. Femer war die Verschmel-
57S Hermann Oehrmann.
zung der Modi nur durch harmonische Einflüsse möglich. Selbst die
strengsten Formen der alten Lehre, der doppelte Kontrapunkt und
die Fuge haben sich dem harmonischen Strome der Zeiten nicht
mehr iridersetzen können. Der doppelte Kontrapunkt hat in Folge
der harmonischen Anschauung eine ungleich koncisere Fassung, wie
vordem, erhalten und an Stelle des früher dominirenden Quinten-
kontrapunkts ist jener in der Oktave getreten. In der Fuge, deren
Wandlung allein noch nicht abgeschlossen ist, bemerkten wir eben-
falls die Anfänge einer harmonischen Beantwortung des Themas und
ein wachsendes Hervortreten der allerdings noch melodischen Quinten-
fuge gegenüber dem herrschenden Oktavenkanon.
Trotz dieser einzelnen Wandlungen aus einem melodischen in
einen harmonischen Charakter sank Walthers Lehre nicht zu einer
GenerasbaBlehre herab, sondern wahrte das Gepräge eines strengen
Kompositionsunterrichts, indem nicht wie z. B. bei Niedt die Kom-
position auf Grund des Generalbasses gelehrt wird, sondern auf
Grund des vokalen vierstimmigen Satzes. Hierdurch aber erhielt
Walthers Lehre einen hohen pädagogischen Werth, indem sie den
Schüler vor einer rein mechanischen Kompositionsübung bewahrte.
So ist denn unser Urtheil berechtigt, daß das Walther'sche
Werk den hervorragendsten Platz unter allen theoretischen Schriften
einnimmt, die seit Zarlino bekannt geworden waren. Denn erstens
ist es das umfassendste Compendium der für den Kompositionsunter-
richt am Ende des 17. lahrhunderts gültigen Gesetze und dazu ge-
hörigen Disciplinen, ein Compendium, welches aber nicht nur diese
zu Walthers Zeit gebräuchliche Lehre zusammenstellt, sondern auch
auf das in früherer Zeit Übliche, soweit es für den Schüler zu wissen
nöthig ist, Rücksicht nimmt, und Beides, alte und neue Lehre, oft
einander gegenüber stellt. In dieser Vollkommenheit ist das Werk
die erste deutsche Musiklehre. Sodann aber ist dieses Compendium
insofern vom originalen Werth, als der Verfasser mit sorgfältigster
Prüfung dasjenige, was seit Zarlino die hervorragendsten Musik-
gelehrten übereinstimmend lehrten, aus den Büchern dieser heraus-
schälte und die so gewissermaßen gewonnene Quintessenz des älteren
Lehrstoffs mit seinen der heraufdämmernden neuen Blüthezeit nahe-
stehenden Anschauungen schöpferisch verarbeitete und dadurch ein
Werk schuf, welches auch in pädagogischer Beziehung einen hohen
Werth beanspruchen darf. Schließlich aber hat auch dieses Werk
noch eine besondere Bedeutung, indem es als eine Vorarbeit zu jenem
Lexikon in Frage kam, welches als eine der wichtigsten Quellen für
die Musikforschung angesehen werden muß.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Olodius.
Von
Wilhelm Niessen.
Auf der Königlichen Bibliothek zu Berlin wird unter der Si-
gnatur: Ms. Germ. Octavo 231 eine Handschrift aus der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts aufbewahrt, die eine Sammlung von
Studentenliedem mit Melodien darstellt.
Sie besteht aus 108 Blättern, von denen das erste und die letzten
fünfzehn nicht beschrieben sind. Ebenso ist die hintere Seite des
letzten beschriebenen Blattes frei.
Auf der Vorderseite des ersten Blattes befindet sich der Titel :
»C: C: N: M:
HYMNORUM STÜDIOSORUM PARS PRIMA
Denuo coUecta ä quodam Philomusö, cogita u^vtovvfÄCp aut Jvatovvfxti
Anno 1669 die 29 Novembur
Lipsiae Impensis eiusdem
a
Auf der Rückseite des Blattes stehen drei lateinische Verse, in
denen der Verfasser versichert, das Buch niemandem leihen zu wollen.
Die Initialen auf dem Titelblatt sind hier ausgeführt in :
Christianus Clodius Neostadius Mißnicus. ^
1 Über diesen Clodius war Folgendes zu ermitteln. Ei wurde am 18. October
1647 in Neustadt bei Stolpen geboren. Sein Vater war der dortige Diakonus
Johann Klöde (Clodius), die Mutter hieß Sabina Klöde. (Ich verdanke diese
Notizen dem Herrn Pfarrer Große aus Neustadt). £r studierte in Leipzig und
scheint dort als |Student eine KoUe gespielt zu haben. Er war späterhin als
Schulmann in seiner Vaterstadt thätig. In den Fortsetzungen und Ergänzungen
zu Christian Gottlieb Jöchers Allgemeinem Gelehrten-Lexicon von Johann Christoph
Adelung steht (Band II S. 375 Leipzig 1787) eine kurze Biographie des Zwickauer
Bektors M. Christian Clodius. Er war zu Neustadt 1694 geboren, wo sein Vater
gleichfalls ein Schulmann war, dessen Bruder Johann war Superintendent zu Gro-
ßen-Hayn. Johann Clod? ^s ist (Allgemeines Gelehrten Lezicon. Leipzig, 1750
Spalte 1967] ari 15. Aug 1645 ebenfalls zu Neustadt geboren. Da er auf Grund
5S0 Wilhelm NieMen.
Es folgt eine Vorrede an den Leser, die sich von Satz zu Satz
an Unflätigkeiten überbietet, so daß von jeder Besprecbong Abstand
genommen werden muB. Sie zeigt die üblen Nachwirkungen, die
der dreißigjährige Krieg auch unter der studierenden Jugend hinter-
lassen hatte.
Sieben Widmungen in gebundener Bede schließen sich an, von
Freunden des Sammlers eingeschrieben. Sie sind in deutscher, grie-
chischer, lateinischer u. s. w. Sprache abgefasst. Von Wichtigkeit
ist nur die Nachschrift der dritten. Aus ihr geht hervor, daß Clodius
Vorsteher einer »Paulinischen Tischgenossenschaftc war. Im übrigen
beschränken sich die Widmungen darauf, den Sammler wegen des
Aufiseichnens der nachfolgenden Lieder zu loben.
Wir zählen 109 verschiedene Lieder*, sie sind ohne jede syste-
matische Ordnung hinter einander niedergeschrieben. Daraus und
aus der theils flüchtigen, theils sauberen Schrift, (die aber nur von
dem einen Clodius herrührt] geht hervor, daß die Sammlung ganz
allmählich entstanden ist.
Für die zu den Texten gehörige Musik sind fast durchweg drei
Systeme bestimmt, von denen das oberste die Melodie enthält, das
unterste den meistens bezifferten Baß, während das mittlere System
gewöhnlich freigelassen ist. •
Bei Nr. 6, 31, 53, 58, 68, 75, fehlen die Melodien. Acht Melo-
dien sind zu je 2 Texten vorhanden, eine sogar zu 3 Texten. Wir
erhalten demnach 91 verschiedene Melodien.
Die Texte stehen nicht unter der Oberstimme, sondern mit allen
Strophen unter dem Baß. Viele der Lieder tragen Überschrifiien, die
uns über Dichter oder Componist Aufschluß geben.
der MittheUungen des Herrn Pfarrer Große der Bruder unseres Christ. Clodius ist,
und andere Brüder nicht bekannt sind, so ist zweifellos der Verfasser des vor-
liegenden Liederbuches identisch mit dem obengenannten Vater des Zwickauer
Rektors.
1 Der besseren Übersicht halber habe ich die einzelnen Lieder mit Nummern
versehen, die im Originale fehlen.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Glodius. 581
L
Der literarisclie Inhalt der Handschrift.
Wenn wir den Werth des in der Handschrift niedergelegten
literarischen Materials gebührend würdigen wollen^ so empfiehlt es
sich wohl, vergleichsweise einen Blick auf die in unseren heutigen
Ck^mmersbüchem enthaltenen Texte zu werfen. .
Wir können unter den Liedern derselben drei Gruppen von
einander scheiden. Zunächst finden wir solche, die von ihren Dich-
tem nicht eigentlich für die Studenten bestimmt, sondern erst mit
der Zeit Eigenthum derselben geworden sind; femer solche, die aus-
schließlich der Studentenschaft gewidmet waren, endlich solche, die
aus den studentischen Kreisen selbst hervorgegangen sind. In der-
selben Weise können wir die von Clodius gesammelten Texte von
einander sondern und die zusammengehörigen mit den entsprechenden
unserer Tage vei^leichen. Eine solche Gegenüberstellung wird
natürlich hinsichtlich der ersten beiden Gruppen zu Ungunsten der
älteren Lieder ausfallen. Stammen doch dieselben aus einer Periode,
welche die unterste Stufe der gesammten deutschen Literaturgeschichte
einnimmt, während die in unsere heutigen Commersbücher angenom-
menen Gedichte zum nicht geringen Theile der zweiten Blüthezeit
unserer Poesie angehören.
Unter einem anderen Gesichtspunkte müssen wir über die aus
der Studentenschaft selbst hervoi^egangenen Texte urtheilen. Sind
sie doch ein getreues Abbild von den Sitten und dem Treiben der
Studenten selbst. Unter ihnen herrschte während des ganzen
17. Jahrhunderts eine sittliche Entartung und Verwilderung, die
hauptsächlich in den Unbilden nnd Schrecknissen des dreiBigjährigen
Krieges ihre Ursache hatte ^. Wie es draußen im Lager der Sol-
daten zuging, so trieben es auch die Studenten auf den Universitäten.
Sie wollten Krieg spielen wie jene, freilich auf ihre Art. Sie gingen
nicht auf die Universität, um den Wissenschaften zu huldigen, sie
folgten darin mehr der Mode, und wollten, heiBt es, die.Universitäten
»besehen«.
Diejenigen, welche direkt von der Schule kamen, wurden zu-
nächst nicht als den alten Burschen ebenbürtig angesehen, sondern
^ Der Oegenstand ist eingehend behandelt bei Dolch. Geschichte des deutschen
Btudententhums. Leipzig 1858. Kap. 3. Das deutsche Studentenleben vom An-
fang des Dreißig] fihiigen Krieges bis su den deutschen Freiheitskriegen. 1. Ab-
iheilung: Das 17. Jahrhundert, pag. 148 ff.
582 Wilhelm Niessen,
hatten unter den Unsitten des Pennalismus und der Deposition eu
leiden, Einrichtungen, die nicht im entferntesten mit unserem heu-
tigen harmlosen Fuchswesen in Vergleich zu bringen sind. Mit einer
noch größeren Koheit und Keckheit, als gegen die neuangekommenen
Pennale trat man aber gemeinsam gegen die Bürger der Stadt auf.
Mit blankem D^gen, in lüderlichster Kleidung zog man atif die
Straße, von da auf die Dörfer und jagte den Begegnenden Furcht
und Schrecken ein. Duell folgte auf Duell, ja auf ofiener Straße
wurden Studenten von ihren Commilitonen erstochen oder erschossen.
Das Trink- und Spielwesen war in erschreckender Weise ausgeartet.
Es dauerte das ganze Jahrhundert hindurch, ehe die deutsche Stu-
dentenschaft sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe zu besinnen
anfing.
Unter den von Clodius angegebenen Dichtem finden wir die
Namen: Simon Dach, Mitglied des Königsberger Dichterkreises,
Philipp Y. Zesen, Stifter der »Deutsch gesinnten Genossenschaft
in Hambui^, Christian Weise, Rektor zu Zittau und Gabriel
Yoigtländer. Von Dach ist ein Gedicht in die Sammlung au%e-
nonmien, das unstreitig zu den besten derselben gehört: dWoU dem
der sich nur lässt begnügen ff S. 16 (No. 13). Hier wird der hohle
Werth des Geldes in guten Gegensatz gestellt zu dem reichen Besitze,
der in der Kunst und einem freien Muthe liegt. Das Lied ist gewiß
beliebt gewesen, denn es kommt in mehreren damaligen Lieder-
sammlungen vor. ^ Bei weitem unbedeutender ist das einzige Gedicht
von Philipp v. Zesen (»Tugendreich mein selbst eigenes Hertze«
S. 164, No. 108], worin ein Liebhaber mit tändelnden, abgeschmackten
Worten die Gunst seines Mädchens zu erringen sucht. ^
Zahlreicher, nämlich mit 7 Gedichten ist Christian Weise ver-
treten. Ihn könnten wir zu den Dichtern rechnen, die geradezu für
die studierende Jugend schrieben. Jedenfalls ist es bekannt, daß er
sich sowohl als Student, wie auch später noch in Leijmg unter der
1 Es erschien zuerst in den Arien Heinrich Alberts, der bekanntlich viele
der Dach'schen Texte komponiert hat. Ferner in : Oesechste Tugend- und Laster-
Kose, oder Jungfräulicher Zeitrertieiber etc. von Gonstans Holdlieb. Nürnberg
1665, als Nr. 3 des 1. Zehen mit der Überschrift:
Reichthuem zersteuben
Die Künste bleiben.
Neugedruckt ist es in der »Bibliothek deutscher Dichter des siebzehnten
Jahrhunderts« Herausgegeben von Wilhelm Müller. Band V. pag. 92.
2 Clodius giebt an, daß dies das 1. Lied im 6. Dutzend aus der »Frühlings^
lust« Ton Fhihpp v. Zesen ist.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 5g3
Studentenschaft durch seine poetischen Arbeiten ein groBes Ansehen
zu verschaffen wußte. ^
Drei der von Clodius mitgetheilten Weise^ sehen Texte sind aus
folgender Sammlung entnommen:
DÜberflüssige Gedanken der grünenden Jugenda. Leipzig. 1668.
1. i>Mein Liebchen darf ich mich erkühnen« (Clod. S. 62, No. 45)
daselbst No. 9 im 4. Dutzend.
2. »Zwey Mädchen auf einmal <t (Clod. S. 160. No. 106) daselbst
No. 11 im 1. Dutzend.^ Dies ist verhältnissmäßig das beste unter
den Weise'schen Beispielen. In anmuthiger Weise wird der Konflikt
eines Liebhabers geschildert, der zwischen zwei Mädchen zu. wählen
hat und sich endlich entschließt, beiden zu gleicher Zeit sein Herz
zu schenken.
3. »Ach hl. Andreas erbarme dich« (Clod. S. 74, No. 53) a. a. O.
No. 10 im 10. Dutzend. Dieses Weise'sche Lied hat sich länger
erhalten und wurde zum Gegenstande späterer Umdichtungen.^ Von
den Tier anderen, nirgends gedruckten Gedichten ist das eine
(S. 80, No. 56) »Ihr Mädchen gute Nacht« ein AbschiedsUed , in
welchem ein spielerischer, kraftloser Ton vorwaltet. Die übrigen
Nummern (»Eilt ihr lieben Wäschermädchen « No. 48, S. 66, »Ihr
Najadenff No. 55, S. 78 und »Daß dich du schwartzer Dieb« No. 83,
S. 122) stoßen durch ihren lasciven und obscönen Inhalt ab, sind aber
nicht ohne Geschick gemacht. Das letzte ist in ein anderes hand-
schriftliches Liederbuch jener Zeit aufgenommen.^
i Vgl hierzu in der oben citirten »Bibl. dtsch. Dichter« Band XIY. Lpz. die
Vorrede zu Chr. Weise (pag. XLIV und XLV.)
2 Neugedruckt in »BibL dtsch. Dicht.« XIV, pag. 324.
3 Philipp ^Spitta erwähnt den Text in seiner Abhandlung über Sperontes
»Singende Muse an der Pleiße« (Viertel] ahrBschrift für Musikwissenschaft 1. Jahr-
gang 1885, pag. 65) gelegentlich einer darin enthaltenen Umdichtung in schlesischem
Dialekt und verweist dabei auf unsere Handschrift. Er giebt dazu die Quellen
der übrigen Fassungen^ die der Text erüahren hat. Ich kann noch folgende hinzu-
fügen : zunächst zwei, die lange vor Weise entstanden sind. Die erste bei Erasmus
Widmann. 1. Theil. Neuer Musical Xurtzweil. Nürnberg 1618. Dort steht unter
Nr. 30 ein Lied : »Des Mägdlein Abendsegen« und beginnt : »Ach lieber Herr Sanct
Florian, Bescher mir einen frommen Mann«. Daß hier für Andreas Florian steht,
ändert an dem sonst ähnlichen Inhalt nichts. Die andere Fassung beginnt mit den-
selben Worten und steht in: »Musikalischer Grillenvertreiber«. Quodlibete durch
Melchior Franck. MDCXXH im 2. Quodlibet
Aus dem 18. Jahrh. kann ich noch folgende Quelle nennen: »Recueil von
allerhand CoUectaneis und Historien.« Das XIX. Hundert. 1720. *S. 20, Nr. 38.
»Ach heiiger Andres !
Ach mach mich doch zum Weibe«.
4 KgL BibL Berl. Ms. Germ. Quarto 720. Nr. XXVI. pag. 56.
1891. 39
5S4 Wilhelm Niessen,
Von Gabriel VoigÜänder endlich sind 2 Lieder aus dessen Oden-
Sammlung vom Jahre 1642 benutzt: »Eine reiche Magd hat Matza^
(Clod. S: 126, Voigtl. S. 93) und »Giebt uns Gott Weint (Clod. S. 132,
Voigd. S. 106.)
Bei allen übrigen Texten giebt uns Clodius die Namen der Ver-
fasser nicht an. Diese rühren aber nicht ausschließlich Ton Studenten
selbst her, sondern in der Mehrzahl von verhältnissmäßig anerkannten
Dichtem des 17. Jahrhunderts. Immerhin bleibt noch ein kleiner
Theil wirklicher Studentendichtung übrig. Wir finden in diesem
vollauf bestätigt, was wir nach der Schilderung der damaligen stu-
dentischen Sitten erwarten dürfen.
Zunächst begegnen wir einer Anzahl Ton Texten, deren Inhalt
an Schamlosigkeit imd Frivolität schwerlich seinesgleichen finden
dürfte. Während aber ein groBer Theil unter ebenso großer Plattheit
des Ausdrucks, wie Dürftigkeit der Form leidet, zeugen andere von
einem guten Humor und einer Frische der Erfindung, wie wir sie bei
keiner anderen Liedergruppe der Sammlung antreffen. Von ihnen sind
noch heutigen Tages bekannt : «Es fuhr ein Bauer ins Holtza (S. 1, No. 1)
und nPertransivit Clericus durch einen grünen Wald« (S. 86, No. 60).
Wir besitzen zwei Lieder mit dem Anfang »Es fuhr ein Bauer
ins Holtz.« Das eine ist ein harmloses Eänderlied (genannt »der
Kirmesbauer^r) und wird zu Kreisspielen gesungen. Ludwig Erk hat
eine ganze Reihe Varianten desselben in seinen Volksliedersamm-
lungen gegeben. Das andere behandelt die alte Geschichte, wie ein
Schreiber die Frau eines Bauern während dessen Abwesenheit ver-
führt. Dies ist auch der Inhalt des von Clodius mitgetheilten Textes.
Die Menge der Lesarten giebt F. M. Böhme im j»Altdeutschen Lieder-
buchett zum großen Theile wieder. Danach lassen sich die Quellen
bis in das 15. Jahrhundert zurückführen. Ein anderes Zeugniß für
das hohe Alter des Liedes bringt Hoffinann v. Fallersleben bei. Er
theüt mit, daß König Jacob I. von Schottland (geb. 1393 gest. 1437)
das Lied schon kannte.^ Die jetzt gebräuchlichste Lesart des Textes
1 Auch in folgender Sammlung vorhanden : »Venus-Gärtlein Oder Viel Schöne |
außerlesene Weltliche Lieder etc. Hamburg | Gedruckt bey Georg Papen. Im
Jahre | 1659« pag. 142.
^ Diese Mittheilung Hoffmann's v. Fallersleben fand ich in dem handschrift-
lichen Nachlaß Ludwig Erk's. Derselbe befindet sich auf der Kgl. Hochschule
für Musik zu Berlin. Er umfaßt u. A. etwa 40 Sammelb&nde, in die Erk während
eines Zeitraums Ton 40 Jahren mit unermüdlichem Fleiße alles nur mögliche, was
er an. Liedertexten, Melodien nnd Notizen auftreiben konnte, zusammentrug. Sa
ist mir gestattet worden, für die yorliegende Arbeit diese Bände durchzuarbeiten ;
ich habe auf die Weise ein reichhaltigeres Material erhalten, als mir sonst wohl
erreichbar gewesen wäre.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 585-
Stellt in Büschings »WöchentKchen Nachrichten« 11. S. 250 — 252
und ist so als letzte Fassung von F. M. Böhme angenommen worden.
Die von Clodius gegebene stimmt mit ihr nicht ganz überein. Sie
hat nur 1 0 Strophen (gegen 1 4) und weist auch ein paar Umstellungen
einiger Gedanken auf; der Inhalt ist sonst gleich.
Ein nicht viel weniger hohes Alter hat das an zweiter Stelle
genannte Lied ^iPeriraTmvit Clericus durch einen grünen waldt.«
Eine zuverlässige Nachricht darüber giebt wieder Hoffmann von
Fallersleben. Er theilt auf Spalte 35 in H. v. Aufseß' Anzeiger 1833
mit, daß der Text, den er schon vorher' in den Anfang des 16. Jahr-
hunderts gelegt habe, in der That schon um diese Zeit gedruckt sei
in einer kleinen Schrift des Magisters Olearius: »De fide concubinarum«
2. Ausgabe 1506. Dort präsentirt sich das fün&trophige Lied in einer
ganz erträglichen Form, während es bei Clodius um 4 Strophen ver-
mehrt, und in diesen dem Schmutz der weiteste Spielraum gelassen ist.
Die übrigen hierher gehörigen Nummern der Handschrift sind*
zum großen Theil Trinklieder. Besondere Erwähnung verdienen
unter ihnen die von Clodius mit »Rundac überschriebenen. Sie
wurden gesungen, während ein Trinkgefäß, gewöhnlich von mäch-
tigem Umfange, die Runde machte, wobei dann darauf geachtet wurde,
daß ja kein Tropfen übrig blieb. Hinsichtlich des Letzteren finden.
1 H. Y. F. Oesch. des deutschen Kirchenliedes. 1. Aufl. Seite 165. Daselbst
ist der Text mit dieser Angabe als Beispiel lateinisch- deutscher Mischdichtung
wiedergegeben. Der Gegenstand ist später Ton H. v. F. getrennt behandelt wor-
den in dem Buche: »In dulci Jubilo Nun Singet Und Seid Froh.a Ein Beitrag
2ur Geschichte der deutschen Poesie von Hoffinann y. Fallersleben. Hannover
1854. Kurze Geschichte der lateinisch-deutschen Mischdichtung. Daselbst Nr. 38
»Pertransivit Clerictun in der Fassung des Olearius.
Übrigens hat H. v. F. selbst im Jahre 1872 eine auf die damalige Zeit pas-
sende, geistreiche Umdichtung dieses Liedes veranstaltet. Ich habe dieselbe auf
einem Einzeldruck-Zettel gefunden, den L. Erk in seinem 34. Sammelband zwischen
pag. 484 und 485 mit eingebunden hat. Der Anfang lautet so:
Germania.
Ei pertransivit Clericus
Durch den Teutoburger "Wald.
Quid vidit ibi eminusf
Ein Mägdlein Wohlgestalt etc.
Eine Angabe über den ursprünglichen Text finden wir auch bei Rob. und
Rieh. Keil »Deutsche Studentenlieder des siebzehnten und achtzehnten Jahrhun-
derts«. Danach (Seite 69) enthalten die »Nugae venales« (sive Thesaurus ridendi
et iocandi etc. Anno 1642) dieses obscöne halb lateinische, halb deutsche Schelm-
gedicht
39»
586 Wilhelm Niessen»
wir oft ganz genaue Bestimmungen. So z. B. zu folgendem Liede
(No. 15, S. 20.)
»Hey kade
wieae wade
wiede wanne
nefanne
hey siede
niede fide
wiedewitz. *
Ausdrücklich heißt es: »Finita hac oda in vitro ne gutta supersiU,
während über den Vortrag des Liedes folgendes Distichon belehrt:
»Praepositum donec vacuavit Comhibo vitrum
Auribus in nostris hoc meletema soneta^.
Wie gern die jungen Gelehrten mit ihren Kenntnissen prahlten,
beweist ein anderes drastisches RundaUed, (No. 18, S. 22) welches
nicht weniger als 3 Sprachen umfasst, die griechische, lateinische und
deutsche. Es beginnt: liJta rot) S-av^ia^eivfi und bringt den i tief-
sinnigen« Gedanken zum Ausdruck, daß die Leute wegen der Ver-
wunderung anfingen zu philosophiren. Gleich die folgende Nummer
(No. 19, S. 22) »More Palatino«^ ist in ähnlicher Weise gebildet,
1 Ich gebe absichtlieh den Text vollständig wegen der Zusammenstellung die-
ser 80 höchst eigenartigen Wortbildungen. Wir finden dieselben noch heute. Es
existiren Texte, in denen Personennamen auf die Art Ton neckenden Leuten yet~
stümmelt werden. Vgl. Schulze, KindeTleben, Spiele, Reime, lUthsel. Olden-
burg 1851. S. 111/112.
»Hanne
Wiedewanne
wiedewinte, matranne,
Widewup ! schöne Hanne !«
oder
»Margrethe
Widewete
Wiedewinte matrete
Wiedewup! schöne Margrethe«.
2 Das Lied, ein trefiliches Beispiel für das sorgenlose Leben jener Studenten,
ist oft und gern gesungen worden. Ich habe es noch an 2 Stellen gesehen. Den
erwähnten »Nugae yenales« folgt in der Ausgabe yon 1648 ein Adnex; »Studentes.
Comoediac. Zu demselben gehört eine in Versen gehaltene Abhandlung: De
Zu9i%tud%ne Studeniiea, in der wir u. a. lesen:
Tuffa fdUda falala Speknatmi
gpeUite aantzum
Ha falala faJala, ha falala falala
Ifore Palatino bibimtu, ne gutta supersitf
Unde sttam possit musca levare sitxm etc.
Das Liederbuch des LeipzigeT Studenten Glodius. 587
indem einfach in der ersten Strophe die deutsch gehaltenen Worte
der zweiten ins Lateinische übersetzt sind. Wir treffen innerhalb
des Textes dieselben Bemerkungen wie bei No. 15 an:
«Auf gut Studentenweise
tnncken wir das Bier hinein
daß auch nicht eine Fliege
ein Tropfen davon kriege.cr
Gerade die Sprachvermischung und andererseits die schon oben
bemerkte Anwendung sonderbarer Wortbildungen möchte ich als
Hauptmerkmale dieser Bundalieder hinstellen. Ein besonders gutes
Beispiel für beides bildet die erste Strophe von No. 59 (S. 86.) :
(Potans) y>La€ti sodales
trinckt wacker fort.t
(Froficiens) «Seyd personales
an diesem Orth
diß gläßlein rundo
laßt nichts in fundo
rundisch runda
juchholl afalla.
Auch Tinser ^a 9a (^a 9a geschmauset) finden wir: in No. 79
(S. 116) i>Wohlan, sal sal wohlan!« Daneben konmit daselbst noch vor:
»Wolan dir dey,
Juch sa
Juchl he!
Für! he!«
Diese Abhandlung findet sich mit genannten Versen in einem ähnlichen Buche,
wie die Kugae renales:
Facetiae [Facetiarum | Hoe est Joco-Seriorum | Faseieulus novus
Pathopoli,
Apud Gelastinum Seyerum.
Ao. 1645.
Ferner citirt L. Erk (Bd. XXXVII, S. 219) den Text aus einem handschriftlichen
Liederbuch aus • Westfalen. Dasselbe stammt aus der 2. Hälfte des 17. Jahr-
hunderts, wie 2 Daten: 11. Oot. 1675 und 7. Oct. 1673 beweisen; daselbst steht
S. 66:
Alia«
1. More Palatino bibitur
ne guUa supersit
unde 9uam possit mtuca
levare Bttim
sie ediiur sie bibitur
in aidis prineipum.
5S8 Wilhelm Niessen,
Dieses Furl he! treffen wir noch einmal wieder in No. 66 (S. 96),
deren erste Strophe geradezu überfüllt ist von derartigen Worten.
Sie lautet:
»Raps rapsahe rapsahe
rastrum^ mein Mütgen
nur lustig courage.^
hop, hop, hop höchen
ist itzo gleich ^uitslich
verschwermet mein GKitgen
Sa sa sa vi ya va
por porhey porhey.«
Der Inhalt dieser Btmdgesänge ist meistens ein ginzlich zu-
sammenhangsloser, und oft sind in denselben allgemeine, witzig vor-
getragene Sentenzen bunt durch einander gemischt. So etwa in
No. 61 (S. 88.):
»Also spricht die Welt
hie et haec ein Ofengabel
nach den Taschen rieht den schnabel
hie et haec et hoc.«
In fiist allen den genannten TrinkUedem ergeht die Mahnung,
lustig zu sein und nur immer so lange darauf los zu trinken, als es
irgend angeht.
Ihnen gleich an Werth, ja sie beinahe überdreffend sind drei wei-
tere Nummern, in denen üppiger studentischer Übermuth mit beiBen-
der, treffender Satire wetteifert: No. 10. (S. 12) JiEisenbeißer, Lanaen-
brechercr, No. 32 (S. 43) »Wohl der die mehr Studenten liebetc und
No. 33 (S. 44) jiWas hab ich von dir gelesen.«
Wenn auch diese drei Beispiele an vielen Unebenheiten, Un-
klarheit der Gedanken, Ungelenkigkeit der Form und Schwulst der
Worte leiden, so haben sie doch den Vorzug eines derben, gesunden
1 Rastrum war die specielle Bezeichnung fOr LeipsigeT Bier. Siebe Scheible
»Schaltjahr« IX. 346. Femer »Monatliche Unterredungen Einiger. Guter Freunde
Von .Verband Büchern und Andern annemliohen Gosohichtentr. 1691. Leipzig,
3« Band. S. 864 ff. Daselbst wird u. A. auch nachgewiesen, daß der «Nähme
Rastrum schon 1590 dem Leipziger Bier gegeben worden ist«.
3 Etwas ähnliches finden wir in einem yon L. Erk (Sammelband XXXXI,
S. 609} citirten handschr. Liederbuch aus Halle (1720) auf Seite 105, wo ein Lied
so beginnt:
vSa, sa, sa, la, la, la!
Sa mon Coeur Courage!
Schlag in Wind, was sich findt,
Was dir macht ombrage etc.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 589
und eigenartigen Charakters. Sie haben — und das ist die Haupt-
sache — einen wirklich studentenhaften, burschikosen Ton.
Ein gleiches läßt sich von den nunmehr zu betrachtenden Lie-
dern, deren Ursprung wir meistens ziemlich genau feststellen können,
kaum sagen. Weitaus am zahlreichsten vertreten sind die Liebes-
lieder. Ein Liebhaber bittet das Mädchen, seine Liebe zu erwidern,
ihr stolzes Herz zu erweichen, ihn nicht in seinem Schmerze ver-
gehen zu lassen. Es heißt gewöhnlich, daß die «krystallnen« Augen
des Mädchens ihn » geblendet v und «seiner Sinne beraubt« haben.
Darum solle sie ihm ihre Gunst schenken und seine »Pein« benehmen.
Andererseits wird auch bemerkt, daß die »äußeren Vorzüge« ver-
gehen können, und es thöricht sei, auf sie zu pochen. So in No. 31
(S. 41):
j)Die Natur giebt nichts umbsonst
danimb weil sich ihre gunst
dir so treulich hatt erweist
laß mich seyn, der dein geneust.« ^
und in der nächsten Strophe folgende nichts weniger als tiefe Begrün-
dung:
»Warumb giebt die Traube Wein
wenn man nicht soll lustig sein
soll man leyden Hungers Noth
warumb gibt den Korb das Erodt.«
Mitunter findet man einen hübsch durchgeführten Gedanken oder
irgend welche interessante Gestaltung des Ganzen. Nr. 35 (S. 47)
sagt das Mädchen zu allen Wünschen des Liebhabers »Neina, aber
j»giebt sich doch geduldig drein.« Daraus wird der Schluß gezogen:
»Daß ja bey Vielen pfleget nein
und nein so viel als ja zu sein«.^
1 Der Text steht schon 1638 in H. Albert's Arien und ist vielleicht gar von
diesem selbst. Man findet ihn noch in der genannten »Geseohsten Tugend- und
Laster-Rose« etc. t. Constans Holdlieb. 1665 als Nr. 3 des 2. Zehen.
3 Der Text (»Amanda, darf man dich wohl küssen«) ist von Johann Georg
Sehoeh nnd steht in dessen »Neu-erbautem Poetischen Lust^ und Blumen-Garten |
Von Hundert Schäffer-Hirten-Liebes und Tugend-Liedern« etc. Leipzig 1660. pag.
116 als das LVIL Lied. Er ist aber schon firüher gedruckt worden in Ad. Krie-
ger's Arien von 1657. Schoch giebt auch den Grund an, warum er Um, wie die
anderen Gedichte »jetst gerade« (1660) veröffentlicht. £r beschwert sich n&mlioh in
der Vorrede, wie überhaupt Texte »sogar jämmerlich und erbärmlich geradebrecht,
xerstümpelt imd zerhümpelt werden, weil theils sie entweder so übel und undeut-
lich abgeschrieben! verstanden, und von so künstlichen Meister - Sängern gefasset,
590 Wilhelm Niessen,
Nr. 54 (S. 76) ist überschrieben: «Ein Lied worinne die Thame
den Gralahn aussieht «, und beginnt: «Liebgen ich habe kaum länger
konn harren«.^ Es ist in Dialogform abgeSetsst; jede Strophe setzt
sich aus 3X2 Versen zusammen, von denen der je erste Vers die
Worte des »Galahns», der zweite die der »Thame er enthält. Die
» Thame a beantwortet die drängenden AeuBerungen des »Gralahns«
immer mit dem Gegentheil, z. B. in Str. 5:
»Meine Gebürge sind alle voll Trauben
wer es will glauben
Land und Aecker sind alle voll Kömer
alle voll Dömer
Boden und Kammern sind alle voll Früchte
gehen zu nichtea
Nr. 24 (S. 28) ist formell diesem Liede ähnlich 2. Das Gespräch
wird aber nicht zwischen zwei, sondern, wie schon die Ueberschrift
sagt, (Dialogus Sponsi, Sponsae et Matris) zwischen drei Personen, ge-
fuhrt. Geschickt sind in diesem Liede die Charaktere der einzelnen
theils ihnen so gar ungeTeimte Melodeyen und Weisen auffgetrungen und an-
geschnürret weiden, daß einer sich wahrhafftig des Niesens kaum enthalten solte.«
Ob er damit auch die von Ad. Krieger herrührende Melodie gemeint hat? Im
übrigen ist der Text allerdings oft nachgedruckt worden, 1) als Nr. 57 in: »Gants
neuer Hans Quck in die Welt, Das ist: Neu-yermehrte weltliche Lust-Kammer,
in welcher mehr als siebenzig ausbündige neulichst ersonnene artige Schäffereye etc.
.zu finden. Anjetzo mit vielen Neuen Liedern vermehret worden. Zu finden bey
Joh. Jon. Felseokers seL Erben«. (Nürnberg.)
2) Nr. 4 in: »Tugendhafiter Jungfrauen und Junggesellen Zeitvertreiber Das
ist : Neu vermehrtes etc. Weltliches Lieder-Büchlein bestehend in vielen etc. SchS-
ferey-Wald-Sing-Tanz und keuschen Liebes-Liedem. Alle von bekannten an-
nehmlichen Melodeyen, in ein ordentlich verfaßtes Register zusanmiengetragen
Dufch Hilarium Lustig von Freuden Thal«.
3) Nr. 57 in: »Neues Weltliches Lieder-Büchlein Darin sich allerhand jetsiger
Zeit übliche lustige Lieder befinden etc. Gedruckt in demselben Jahr, Alß man
gerne lustig war«.
Diese 3 Sammlungen stammen aus der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts und
enthalten eine sehr große Anzahl der damals beliebtesten Lieder.
1 Zu finden auf pag. 599 in einem handschriftlichen Liederbuche des 17. Jahr-
hunderts. (Kgl. BibL Berlin. Ms. Oerm. Quarte. 734).
2 »Flora deine Zier« von Georg Greflinger; befindet sich in 3 Liedersamm-
-lungen desselben:
1) auf pag. 56 in: »Seladons (Grefiingers) Beständige Liebe«. Franckfurt am
Majn. 1644.
2) auf Blatt LVII a in : »G. G's. Gekröhnten Poeten und Notarü Poetisehe
Rosen und Dömer, Hülsen und Kömer«. Hamburg. 1655.
3) Nr. 7 im 3. Zehen in : »Celadonische Musa Inhaltende Hundert Oden « etc.
Gedmckt im Jahr 1663.
Das Liederbuch des Leipsiger Studenten Clodius« 591
Personen durch Verschiedenheit des Metrums gekennzeichnet. Der
entschlossene »Sponsus « spricht in festen Spondeen, die etwas einge-
schüchterte »Sponsa« in unruhigen Jamben, die keifende Mutter in
polternden Daktylen, und ihre Worte zeichnen sich durch belustigende
Derbheit aus«
In anderen Liedern kommt die Freude über den endlich erlangten
Besitz eines Mädchens zum Ausdruck. Oft gesellt sich die Bitte an
die Erwählte, auch die Treue zu erhalten und nicht auf die ji Kläffer«
zu achten. Eine Lobpreisung der Geliebten pflegt sich anzuschließen:
Venus die Göttin
an Schönheit ihr weichet,
Jupiters Ehgemahl
ihr auch nicht gleichet.'
Hübsche Vergleiche wechseln mit trivialen: »Die Augen glänzen wie
die Sterne am Himmel«.^ Die Blicke werden » Augengeschütze «c ge-
nannt.' Der Mund heißt Purpurotmündlein«.* Die Lippen und
Wangen sind »blutmilchem«,^ und was dergleichen mehr ist.
Wohl das beste Lied der Art ist Nr. 39 (S, 52): »Ich fragte
Dorinden mein eintziges Leben c,<^ es zeugt von einer gewissen Wärme
der Empfindung, die in erfrischendem Gegensatz zu der hohlen Ge-
schwätzigkeit anderer Lieder steht.
1 Str. 2 in Nr. 71 S. 104. »Lustig ich habe die Liebste bekommen «• Findet
sieh mehrmals, sowohl im Druck, als auch handschriftlich:
1) in dem genannten »Hans Guck« als Nr. 25.
2) in »Tugendhafter Jungfrauen etc. Zeitvertreiber « als Nr. 43.
3) In einer Handschrift aus Dresden aus dem 17. Jahrh. (enthaltend Lieder
und Lautenstücke). Msc. Dresd. M« 297 auf pag. 166.
4} Parodirt steht dieser Text in: »Nicolai Peuckers Lustiger Pauoke« etc.
(▼om Jahre 1702) auf pag. 490. Die erste Strophe lautet dort wie folgt :
»Lustig! wir haben itzt Frieden bekommen,
Sollten gleich alle Soldaten drum brummen,
Friede, die Mutter der seitlichen Qüter,
Füllet mit Freuden der Menschen Oemüther«.
« Str. 3 in Nr. 71 S. 104.
s Str. 2 in Nr. 92 S. 136. »Nun bin ich vergnügt«. (Sonst unbekannt.)
« Str. 1 in Nr. 41 S. 54. »Sey fröhlich bald ehlich«. Auch dieser Text ist
von Georg Greflinger und in iweien seiner Sammlungen vorhanden:
1) In: »Seladons« Weltlichen Liedern. Frkft. a. M. 1651. 8. Nr. 2 pag. 17.
2) In der Celadonischen Musa 1663. Nr. 8 des 2. Zehen«
5) Str. 3 in Nr. 71.
^ Ebenfalls von Greflinger und swar:
1) In Seladons WeltL L. Nr. 1 pag. 14.
2) In der Celadonischen Musa. Nr. 7 des 2. Zehen. Außerdem
3) In: »Tugendhafter Jungfrauen-Zeitvertreiber«. Nr. 167.
592 Wilhelm Niessen,
Einige Liebeslieder haben ausschlieBlich die VerheTrlicbung der
Vorzüge eines Mädchens zum Gegenstande. Die Augen sind wie
»Hencker und Feiniger«, werden in derselben Strophe zu »Crystallen«
und bereiten als solche b schreckliche Pein«^ Dann wird flriBig mit
Deminutiven gearbeitet. In Nr. 58 (S. 84) wird das Liebchen »Hüngen c,
»Täubgen«, femer »Hirschgen« und »Caningen« genannt. Wenn sie
dem Liebhaber ihre j» Lippgen« reicht, dann soll sie durch »Rosingenc
und »Süppgen« erquickt werden.
Die Abschiedslieder enthalten nur dürftige Gedanken. Der Lieb-
haber hofft die Sonne«, die ihn so oft »angestrahlt« und nun nicht
mehr »beleuchtet«, nicht auf immer zu verlieren 2. Andererseits jammert
er über sein Missgeschick, er bittet die »geneigten Wolkenbogen«', »die
beblühmte Rosenbahn«, die »verrauschten Silberwogen«, sich seiner
Schönen anzunehmen. Handelt es sich um die Zurückweisung seitens
der Geliebten, so drückt der Liebhaber meistens seine Freude aus, die
Fesseln abgestreift zu haben, nicht mehr an eine gebunden zu sein,
sondern mit allen Mädchen scherzen zu können. Er ist mit ähnlicher
Freude erfüllt, wie die »Nachtigall«, die ihrem »Vogelstalla entwischt
ist und jetzt »frei« im »Busch« ihre Stimme erklingen lässt.^ In andern
Gedichten wird von vornherein gegen das Ehejoch polemisirt. Hierher
gehört das lange beliebt gewesene »Schweiget mir vom Frauennehmen. ^
& Str. 1 in Nr. 12 (S. 14) »Schönste, wo hast du die Augen gen(Mmnenc
2 In Str. 6 von Nr. 84 (S. 122), »Adoranda das ist Pein«. Zu finden in dem
bereits genannten handschriftlichen liederbuohe aus dem 17. Jahrh. Ms. Genn.
Qu. 734. (Berl.) pag. 610. Das lied hat sieh bis in die Mitte des 18. Jahihunderts
erhalten. Wir begegnen ihm noch in dem:| »Neu-vermehrten Berg^Liederbadüein«
(etwa um 1740 gedruckt) als »Das hundert und drey und funfitiigste«.
^ Str. 6 in Nr. 90 S. 134, »Haibertheil von meinem Hertsen«. Gedruckt in
dem »Neuen weltlichen Liederbuche« unter Nr. 61.
^ »Wer ist doch wohl so seelig als ich bin«. Ebenfalls aufgenommen in fol-
gende bereits genannte Sammlungen:
1) »Hans Guck« Nr. 42.
2) »Tugendh. Jungfrauen-Zeitvertr.« Nr. 171.
3) »Neues Weltl. Lied.-Büchl.« Nr. 47.
^ Von Georg Greflinger.
1) in: »Seladons Wanckender Liebe« 1644, pag. 63.
2) in: »Seladons* Weltlichen Liedern« 1651, pag. 18, Nr. 3.]
3) in der »Celadonischen Musa« Nr. 1 des 7. X. Außerdem abgedruckt
4) in: Tugendhafter Jungfr.^Zeitvtr. Nr. 47.
5) im: »Neuen Weltl. Liederbuch Nr. 2.
Philipp Spitta theilt mit, daß Sperontes mit Anlehnung an diesen Text
dichtete :
»Nimmer kann ich mich bequemen,
Mir ein Weib an Hals zu nehmen«.
»Sperontes Singende Muse an der Pleiße« a. a. O. pag. 64/65.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 593
Werthyoller sind die Liebesliedei, denen das Motiv der verschwiegenen
Liebe zu Grunde liegt. ^
Von den noch übrigen Nummern gehören immer nur wenige in-
haltlich zusammen. Zwei schließen sich in ihrem Hauptgedanken an
das schon genannte Lied von Dach: »Wohl dem, der sich nur lässt
begnügen«, nämlich Nr. 28 (S. 36) d Lasstuns nur lustig seinc^ und
Nr. 88 (S. 130) «Muß ich denn sein darumb so sehr betrübet.«
Der Mensch soll fröhlich sein und danach streben, Tugend und
einen leichten Muth zu erwerben. In beiden Liedern ist der für
die Gesänge sorgenloser und munterer Burschen passende Gedanke
gut wiedergegeben. Noch höheres Lob verdienen die beiden einzigen
FrühUngslieder: Nr. 69 (S. 100) »Frey et ihr Menschen, denn Früh-
ling heißt fireyen« und Nr. 70 (S. 102) »Im Mayen ists überall lustig
und schön.« Mit Frühlings Beginn verjüngt sich alles, Himmel,
Winde, Wasser und Erde freien, da soll auch der Mensch aufthauen
und sich ein heiteres Gemüth anschaffen. In fließenden Versen und
hübschen Worten wird der Gedanke vorgetragen.
Ebenfalls büdet sowohl seinem Inhalt, als auch seinem Werthe
nach eine rühmliche Ausnahme das Lied Nr. 27 [S. 32) j>Ey Fair-
fax schäme dich. « ^ Es ist das einzige Beispiel der Sammlung, welches
einen historischen Vorgang behandelt. Der Inhalt bezieht sich auf
die Kämpfe der Farlamentstruppen unter General Fairfax gegen
i Vgl. Nr. 10 (S. 152) und Nr. 16 (S. 21). Letzteres ah Nr. 33, pag. 79 in
einem handschriftlichen Liederbuch des 17. Jahrh. (Ms. Qerm. 4^. 720. BeiL Bibl.)
Femer gedruckt im Anfang des 18. Jahrh. 's in: Joh. Friedr. Rothmann's J. U. C.
Lustigem Poeten. MDGCXI unter Nr. 29.
3 Gedruckt im: »Neuen weltl. Liedb.« Nr. 32. Femer auf pag. 617 in dem
genannten handschr. Liederb. des 17. Jahrh. Ms. 4. Germ. 734. Schließlich haben
es die Brüder Keil in ihre »Stndentenlieder«^ (a. a. O. pag. 136) aufgenonmien
und zwar nach einem Jenenser Blatt aus dem Jahre 1693.
3 Der Text scheint von Grefiinger zu sein, jedenfalls steht er in dessen Gela«
donischer Musa Ton 1661 als Nr. 4 des 10. Zehen. Allerdings findet er sich schon
früher in einem handschriftlichen Liedeibuche Ton 1649, wie Ditfurth angiebt in
seinen »Deutsch. Volks, u. GesellschL des 17/18. Jh. 1872«, woselbst er auf
pag. 78 unter Nr. 77 das Lied bringt. Er führt noch ein lateinisches Gedicht
an, das auch aus diesem handschr. Liederb. stammt und seiner Ansicht nach
das Vorbild zu diesem Texte gewesen ist. Greflinger bemerkt aber, daß er in
seiner »Musa« meistens schon längst von ihm verfasste Gedichte sammelt. Da er
nun 1600 geboren ist, so kann also dieses Lied gut vor 1649 von ihm gedichtet
sein und zwar mit Benutzung jener lateinischen Quellen. Übrigens existirt es
noch in einem Einzeldruck (Ye. 7171 auf der Kgl. Bibl. BerHn) unter dem Titel-:
»Königlicher Discurs Und Gespräch zwischen Ihr Kön. Majest. Carol Stuart Und
Herren Frotectoren Cromvell in England.« Ich bemerke, daß in allen den hier an-
gegebenen Fassungen für »Fairfax« der Name »Cromwell« steht.
594 Wilhelm Niessen,
Karl I. von England. Das Granze ist eine Unterredung des Königs
mit Fairfax, in welcher er dem General sein Unrecht vorwirft, das
aher dieser nicht einsieht. Das Resultat ist, daB der König geköpft
wird. Die Reden Karls sind in einem zu kläglichen Tone gehalten.
Dagegen schildern die ausgelassenen und energischen Worte des Fair-
fax den Trotz des abtrünnigen Unterthans in drastischer Weise.
Es bleibt noch übrig, auf einige hübsche, noch heute gesungene
Kinderlieder und ein komisches, wirksames Soldatenlied hinzuweisen.^
Ein buntes Bild ist es, das sich darbietet. Neben lasciven und
derben Nummern stehen solche mit zimperlich süßlichem Inhalt.
Manchem kecken, flotten Texte steht ein steifleinenes, langathmiges
Gedicht gegenüber. Echte Studentenpoesie ist nur in verhältnissmäBig
wenigen Fällen vorhanden, dafür sollen uns seichte und alberne Liebes-
lieder entschädigen, denen fast die Hälfte des Raumes gewidmet ist.
Mitunter ist der Ausdruck kernig und wirksam, die Form abgerundet
und knapp, meistens jedoch starrt uns Sprödigkeit und Plattheit der
Sprache entgegen, der Bau der Texte ist schief und oft zu weit aus-
gedehnt. Warme Empfindung, gesunder Humor, gar nicht zu sprechen
von wirklich poetischer Schönheit, sind selten, dafür müssen wir vorlieb
nehmen mit Phrasen und prosaischen Witzeleien. Vor allem aber: die
Lieder sind nicht musikalisch wegen ihrer unlyrischen Eigenschaften.
Der Eindruck, den wir beim Betrachten der Texte von dem Werthe der
Handschrift bekommen, ist im allgemeinen ein wenig günstiger. Wird
uns die Musik für das, was die Texte nicht geben konnten, entschä-
digen? Die nachfolgenden Untersuchungen sollen die Frage beantworten.
n.
Die Melodien des Liederbuches.
Mit dem Tode Ludwig Senfl's war die erste groBe Epoche des
deutschen Liedes beendigt worden. Bis dahin hatten die ehrwürdigen,
schönen Weisen des alten Volksgesanges die Unterlage gebildet, auf
der die Komponisten mit reicher Kontrapunktik, abwechslungsvoller
Rhythmik und edler Melodik ihre Tonsätze aufbauten. Da war
allerdings von einem Hervortreten einer charakteristisch ausgeprägten
Melodie nicht die Bede; dafür bildeten eine reiche Harmonie, eine
ausgedehnte, unaufhörlich strömende Melodik aller Stimmen einen
i »Hey Matter der Fink ist todt« (Nr. 4, S. 4),
vDr&y Oänß in Haberstroh« (Nr. 26, S. 30),
»Mars l&ßt ist Eur Tafel blasen« (Nr. 23, S. 26).
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 595
Ersatz, der bis jetzt noch nicht wieder in solcher Vollendung erreicht
worden ist.
Um die Mitte des 16. Jahrhunderts aber drangen allmählich aus-
ländische Elemente in das deutsche Lied ein, die demselben bald ein
ganz anderes Gepräge geben sollten. Namentlich machte sich ein
von Italien ausgehender Einfluß geltend. Und zwar waren es drei
Momente, die für die Umgestaltung der ganzen Liedcomposition von
Wichtigkeit werden sollten.
Erstens: Die Erfindung des Madrigals mit seinen Vorläufern und
Nebenzweigen, der Frottole und der Villanelle. Das wesentliche in
dieser Erfindung bestand darin, daß der Cantus firmus wegfiel, und die
in den einzelnen Nummern obwaltenden, lang ausgedehnten Perioden
einer durch motivische Weiterfuhrung entstandenen Melodiebildung
Platz machten.
Zweitens : Die Bemühungen der Florentiner Schöngeister, die in
den alten griechischen Tragödien übliche Gesangsweise wiederherzu-
stellen, das heißt, die Einführung der Monodie und die damit ver-
bundene erhöhte Werthschätzung der Textworte bei Abfassung der
Melodien.
Drittens: Das Aufkommen des Generalbasses, der als Anhalt
dienen sollte für die auf einem Instrumente (Laute oder Klavier) aus-
zuführende Begleitung.
Li innigem Zusammenhang mit diesen neuen Erscheinungen stand
die allerdings schon lange vorbereitete, nunmehr zum Durchbruch
kommende rein accordliche Begleitung der Melodie und ebenso das
Verschwinden der alten Tonarten.
Alle diese Vorgänge wirkten zusammen, um einen gänzlichen
Umschwung nicht nur in der deutschen Liedkomposition, sondern
überhaupt in dergesammten musikalischen Komposition herbeizuführen.
Zunächst komponierten in Deutschland nach dieser Manier die-
jenigen Tonsetzer, die eigentlich Ausländer waren, aber meist feste
Stellen an den deutschen Höfen inne hatten, z. B. Jvo de Vento,
Orlandus Lassus, Jacob Regnart u. A. Namentlich der letztere hatte
mit seinen a Kurtzweiligen Liedern« nach Art der Neapolitanen einen
sehr großen Erfolg. Mit Freuden wurden in Deutschland diese klei-
nen Gebilde, die strophisch gegliedert, Note gegen Note, ohne ernst-
liche Nachahmungen und mit den einfachsten Harmonien gesetzt
waren, aufgenommen und mit vielem Eifer von den deutschen Kom-
ponisten nachgebildet. Es wäre aber nicht richtig anzunehmen, daß
die Deutschen ganz sklavisch diesem neuen Zuge gefolgt wären.
Vielmehr haben wir eine stattliche Reihe von Meistern jener Zeit zu
nennen, die allerdings die neuen Anregungen sich zu Nutze machten.
596 Wilhelm Niessen,
abei dabei doch destrebt waren, die deutsche Eigenart nicht zu ver-
leugnen. An erster Stelle verdient hier Hans Leo Haßler Erwähnung:
ferner Melchior Franck, Joh. Herrn. Schein, Andreas Hammerschmidt,
Heinrich Albert.
Allmählich jedoch vereinfachten sich die deutschen Lieder immer
mehr zu solchen Gebilden, wie wir sie in den Liedern von Regnart
charakterisiert gefunden haben. Der fremdländische Geschmack nahm
mehr und mehr überhand, ja auch die Bezeichnung Lied verschwand,
um den stolzen Namen »Ariaa, »Oda« Platz zu machen. Unter diesen
Arien (die etwa den Villanellen zu vergleichen wären) und Oden (die
ungefähr den Frottolen gleichbedeutend sind) verstand man also kleine,
einfache , strophisch gehaltene Gesangsmelodien , zu denen ein be-
zifferter Baß die Begleitung andeutete.
Solche Arien uni Oden bilden denn nun auch in der Mehrzahl
den musikalischen Inhalt unserer Handschrift. Von den 91 ver-
schiedenen Melodien derselben tragen an und für sich 8 die Be-
zeichnung »Ariaff, 2 die Bezeichnung »Oda«. Die übrigen sind mit
verhältnissmäßig geringen Ausnahmen zu derselben Kategorie zu zäh-
len. Zu den Ausnahmen gehören einige Canons und diejenigen
Melodien, die unstreitig Volksweisen sind.
Was nun die Arien und Oden angeht, so könnte man dieselben
im Anschluß an das von Hoffmann von Fallersleben erfundene Wort
» Gesellschaftslied «r auch gut »G^sellschaftsmelodienc nennen. Diese
treten im 17. Jahrhundert in zweifacher Weise auf. Entweder finden
sie sich in Arien- oder Liedersammlungen, die nach den Komponisten
genannt sind, in denen also das Hauptaugenmerk auf die Melodien
gerichtet wird, z. B. in Heinrich Alberts Arien. Oder aber sie stehen
in Sammlungen, in denen die Texte augenscheinlich die Haupt-Rolle
spielen, während die dazu gehörigen Weisen nur nebenbei au%e-
zeichnet sind, z. B. in Seladons (G. Greflingers) Weltlichen Liedern.
In unserem Liederbuche sind nun beide Arten in ziemlich gleich-
mäßiger Weise vertheilt.
a. Melodien, die aus Ariensammlungen des 17. Jahr-
hunderts stammen.
Hier sehen wir drei hervorragende Liederkomponisten des 17.
Jahrhunderts vertreten: Heinrich Albert, Andreas Hammerschmidt
und Adam Krieger.
Von Albert sind 2 Melodien (in Nr. 13 und Nr. 31) benutzt.
Dieselben stehen in seinen berühmten Arien, die in mehreren Auflagen
erschienen in den Jahren 1638 — 1650, zum Theil gesammelt auch
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 597
unter dem Titel: »Poetisch Musikalisches Lust Wäldlein, das ist Arien
oder Melodeyen etlicher theils geistlicher, theils weltlicher etc. Lieder
Ton Heinrich Alberten.« In diesem Nachdruck sind die Lieder
mit fortlaufender Nummer versehen, (es sind 144), während sie be-
kanntlich ursprünglich in 8 Theile abgetheilt sind. Clodius citiert
nach letzteren, denn er bemerkt zu dem Liede Nr. 13: »Wohl dem
der sich nur lässt begnügen er, »JEf. Alberti Aria /X, partis priorisdi.
Allerdings macht er dabei einen kleinen Fehler, denn es steht nicht
im ersten, sondern im zweiten Theile.^
In einem Punkte unterscheidet sich nun die Fassung bei Clodius
wesentlich von der Originalgestaltung. Die letztere weist ein scharf
ausgeprägtes G dorisch auf, während in unserem Liederbuche daraus
ein modernes QmoU geworden ist. Wir erkennen dies aujs dem 4.
Takt, wo bei Albert der Accord auf der 5. Stufe d f a, bei Clodius
dagegen dßs a lautet und zwar beide Male so, daß die entscheidende
Terz in der Melodie liegt. Hier haben wir einen recht schlagenden
Beweis für den Umwandlungsprozeß , der sich hinsichtlich der Har-
monik in jener Zeit vollzog. Die Komponisten waren theüweise noch
im Banne des Alten befangen, das Volk dagegen^ und so auch die
Studentenschaft war schon ganz und gar von der neuen Strömung
fortgerissen und machte sich bereits vorhandene Weisen danach zurecht.
Uebrigens scheint die hier vorliegende Melodie sehr beliebt ge-
wesen zu sein, was allerdings bei ihren edlen Tongängen und vor-
nehmen Harmonien wohl zu erklären ist. Sie ist nämlich sehr oft
als »Thon « für verschiedene Texte angegeben. Zunächst in folgender,
bereits im vorigen Abschnitt kurz citierten Liedersammlung: »Ge-
sechste Tugend- und Laster-Rose oder Jungfräulicher Zeitvertreiber,
worinnen Allerhand schöne neue Poetische Lieder in bekandte Melo-
deyen versetzet so in folgende Sechs Zehen ordentlich verabfasset und
mit schönen Kupffem gezieret sind von Constans Holdlieb. Zu fin-
den bey Johann Hoffmann Kunsthändlern in Nürnberg 1665.« Wir
erwähnten, daß unser Text daselbst unter Nr. 3 im ersten »Zehen«
zu finden ist. Dazu ist nun bemerkt: »nach der Weise: Wohl dem
der weit von hohen Dingen.« Man könnte danach annehmen, daß
dies eine zweite Melodie für dasselbe Lied ist. Das scheint mir aber
nicht nothwendig.
Das Gedicht »Wohl dem der weit von hohen Dingen« ist von
Opitz.2 Erwägen wir , daß Albert dem Königsberger Dichterkreise,
1 In jener 1. Ausgabe von 1638 hat es übrigens die Nummer 34.
2 M. Opitz, Acht Bücher Teutscher Poematum. 1625. Buch Y. pag. 183.
gQg Wühelm Niessen,
bei welchem Opitz in hohem Ansehen stand, angehörte, so ist es
sehr wahrscheinlich, daB er seine Melodie zunächst zn diesem Texte
setzte. Simon Dach, ebenfalls ein Verehrer Opitzens, hat dann später
wohl unser dem Opitz'schen inhaltlich ähnliches, formell ganz gleiches
Gedicht gemacht, wozu Albert seine frühere Melodie gut benutzen
konnte. Einen ziemlich sicheren Beweis für diese Annahme haben
wir darin, daB Albert ausdrücklich in dem Vorwort zum 2. Theile
seiner Arien hervorhebt, er habe die Melodien meistentheils in seinen
Studentenjahren verfertigt. Da er nun 1604 geboren wurde, und
zwischen 1623 und 1626 Student gewesen ist, so ist es also sehr
wohl möglich, daß er diese Weise eben zu jenem Opitz' sehen Texte
geschrieben hat. Unter dieser Voraussetzung können wir aus der er-
wähnten Sammlung von Holdlieb 6 Gedichte nennen, die alle nach
dieser Melodie gehen, Nr. 2 und 5 im 1. X. Nr. 8 im 2. X, Nr. 1
im 3. X, Nr. 3 im 4. X und Nr. 3 im 5. X.
Dieselbe Bemerkung finden wir in dem bereits angeführten «Venus-
G^rtlein« vom Jahre 1659 auf pag. ISO zu dem Liede:
»Wer lieben will und bald verzagen
Der stelle seinen Vorsatz ein.«
Andererseits ist die Melodie selbst genau abgedruckt in »Seladons
Weltlichen Liedern«, pag. 99 zu Nr. 3 im 3. Dutzend :
»O wilstu dannoch von mir scheyden.
Du meiner Seelen Seele. a
Schließlich ist sie auch in unserer Handschrift noch zu einem
zweiten Liede gesetzt, zu jener Parodie des Dach'schen Gedichtes in
Nr. 32: »Wohl der, die mehr Studenten liebet.«
Die zweite von Clodius aus Alberts Arien angenommene Melodie
gehört zu Nr. 31 (S. 41) »Soll denn schönste Doris ich. Ewig leben
ohne dich.« Clodius giebt nur den Text wieder, während er die fux
die Musik bestimmten Notenlinien frei lässt und nicht angiebt, w^er
der Verfasser ist. Das Lied befindet sich aber als Nr. 13 im 2. Theile
der Arien Alberts, resp. als Nr. 38 in der betreffenden Sammel- Ausgabe
derselben. Wenn auch die zugehörige Melodie nicht die Tiefe und
Schönheit der vorherbesprochenen besitzt, so zeigt sie dafür in der
Auffassung des Textes eine sehr interessante Gestaltung, insofern das
drängende Verlangen des Liebhabers durch sequenzenartig aufwärts
gehende Durchfuhrung des zweitaktigen Anfangsmotivs lebhaft zum
Ausdruck gebracht wird.
Auch diese Melodie finden wir in der angeführten »Gesechsten
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 599
Tugend-Bose« zu einem anderen Texte angegeben, zu dem dor-
tigen Schlussgedichte :
»Nicht ein Haar frag ich nach dir,
Margaris du stolze Zier.«
Der nächste oben angeführte Meister war Andreas Hammer-
schmidt. Bevor -wir uns aber auf ihn einlassen, wollen wir eine
zeitlich zwischen seinen und Alberts Liederwerken liegende weit ver-
breitete, für uns sehr wichtige Sammlung einschieben. Es ist: »Erster
Theil iJlerhand Oden und Lieder, etc. ganz bequemlich zu gebrauchen
und zu singen. Gestellet und in Truck gegeben Durch Gabrielen.
Voigtländer, etc. Sohra MDCXLILa Obwohl Voigtländer nicht der
Komponist, sondern, wie wir wissen, der Dichter dieses Werkes ist,
so dürfen wir es doch hier erwähnen, da es augenscheinlich vor allem
bezweckt, fröhlichen Gesellschaften möglichst leicht verständliche und
ansprechende Melodien darzubieten. Leider sind uns die Quellen
für den musikalischen Theil dieser Sammlung noch immer unbekannt.
Das eine aber steht fest, daß wir hier 100 Melodien haben, die da-
mals beliebt waren und wohl in der Hauptsache aus italienischen
Canaonetten, französischen Chansons und Liedern der Haßler' sehen
und Franck'chen Periode herrühren. Auch scheinen mir Elemente
aus dem Volksliede eingedrungen zu sein. Einen Beweis dafür liefert
das von Clodius unter Nr. 86 entnonmiene Lied »Eine reiche Magd.a
Der 2. Theil desselben stimmt ganz und gar überein mit dem ent-
sprechenden Theile einer in unserer Handschrift befindlichen Volks-
melodie (Nr. 14, »Wer sich will begeben«). Als Ton zu anderen
Texten ist es nicht benutzt worden. Dagegen finden wir die zweite
von Clodius aus Yoigtländers Sammlung entlehnte Melodie (»Giebt
uns Grott Wein«), allerdings in etwas veränderter Gestalt, in einem
ans derselben Zeit stammenden Liederbuche wieder, in Enoch Gläsers
aSchäffer Belustigung« (2 Bücher 1653). Sie steht hier zu Nr. 11
des 2. Buches: »Werd' ich denn endlich wohl Sehn an die Freuden
voll.« Enoch Gläser, der Dichter dieser Lieder, bemerkt in der Vor-
rede, daß die in dem Buche abgedruckten Melodien theils bekannte
seien, theils von Franzosen, theils von Freunden herrühren. Er hat
gewöhnlich die Namen der Komponisten durch deren An&ngsbuch-
staben angedeutet. Dieses Verfahren wendet er bei unserem Stücke
nicht an; er bezeichnet dasselbe als ,, Sarabande. '^ Ein Unterschied
zwischen der Melodiefassung bei Voigtländer und der bei Gläser
zeigt sich besonders im Rhythmus. Während dort der Rhythmus:
I ! J I ganz durchgeführt ist, tritt bei Gläser an Stelle, des
2. Taktes eine Punktirung ein, so daß sich also das Hauptmotiv
1891. 40
600 Wilhelm messen,
rhythmisch so gestaltet: J J J | J. J J ||- Dazu kommen im
2. Theile einige bemerkenswerthe melodische Änderungen.
Interessant ist hierbei, daß Clodius, der Leipziger Student, in
seiner viel späteren Sammlung die Gestalt der Melodie, wie sie bei
Voigtländer auftritt, ziemlich genau beibehält, während Gläser, der
lange zu Altdorf thätig war, in seiner zwischen beiden liegenden
,,Schäffer-Belustigung" eine bei weitem abweichendere Fassung bringt.
Jedenfalls spricht der Umstand, daß die Weise sowohl an der Uni-
versität Leipzig, wie auch sicher zu Altdorf und dann zu Helmstedt,
dem späteren Aufenthaltsorte Gläsers, gesungen wurde, dafür, daß sie
in Studentenkreisen beliebt war.
Dasselbe kann wohl von einer ebenfalls in der Gläser'schen
Sammlung enthaltenen Melodie unserer Handschrift gesagt werden.
Sie ist von Clodius zu Nr. 71 ,, Lustig ich habe die Liebste bekommen"
gesetzt und rührt, nach seinen Angaben, von einem Joh. Krüger her.
Bei Gläser steht sie unter Nr. XYIU des 2. Buches zu dem Liede:
„Mein Lieb ist schön genug vor meinen Augen. ^' Dabei Enden wir
die Bemerkung: „Sarah. Hammerschmidt ^^ Wir sehen also für diese
Melodie zwei verschiedene Komponistennamen angegeben. Welcher
wird der richtige sein? ?
Zur Entscheidung dieser Frage wollen wir zunächst anführen,
daß noch bei zwei Liedern der Handschrift, bei den vorhergehenden
Nummern 69 und 70, der Name Joh. ELrüger angeführt ist, während
andererseits auch Hammerschmidt einmal, bei Nr. 103, als Komponist
bezeichnet wird. Unter letzterem ist natürlich der schon anfangs
erwähnte, rühmlichst bekannte Tonsetzer Andreas H. (1611 — 1675)
gemeint. Schwerer ist dagegen die Persönlichkeit des Joh. Krüger
festzustellen. Es giebt drei bedeutende Musiker dieses Namens im
17. Jahrhundert. Der erste ist der berühmte Kirchenliederkomponist
Joh. Crüger (1598 — 1662), Organist an der Nikolaikirche zu Berlin.
Der zweite der Weißenfelser Kapellmeister Johann Philipp Krieger
(1649 — 1725) und endlich der letzte dessen jüngerer Bruder Johann
Krieger (1652—1736).
Daß diese beiden Brüder nicht die Verfasser jener schon 1653
gedruckten Melodie sein können, geht aus ihrem Geburtsjahr hervor.
Inwiefern sie zu den beiden andern Liedern in Beziehungen stehen,
wollen wir vorläufig unerörtert lassen.
Es kommt also nur der Berliner Joh. Crüger * als Urheber der
^ Die Schreibart dieses Namens stimmt zwar ebenso wenig, wie die der bei-
den J. Krieger mit der von Clodius gewählten überein. Dies ist aber unwesent-
lich, da Clodius in der Hinsicht sehr sorglos verfährt.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. gQ{
zuerst geDannten Weise in Betracht. Von ihm rührt außei:» den seine
Größe hauptsächlich ausmachenden geistlichen Tonwerken, auch eine
weltliche Liedersammlung her. Sie fuhrt folgenden Titel: »iZecrea-
tiones musicae d. i. Neue poetische Amorösen entweder vor sich
alleine oder in ein Corpus zu musicierenc u. s. w. Leipzig 1651. 4^
35 Nummern enthaltend.^ Leider scheint dieses Werk verloren
gegangen zu sein, und wir müssen also verzichten, daraus irgend
welchen Aufschluß zu erhalten. Es bleibt uns nichts übrig, als nun-
mehr unter den Kompositionen von Hammerschmidt nach der
fraglichen Melodie zu suchen. Das Ergebniß ist ein ähnliches.
In der einzigen weltlichen Liedersammlung dieses Meisters, in den
«Weltlichen Odem, die in 3 Teilen, 1642, 1643, 1649 erschienen, ist
die Melodie nicht zu finden.
Auf die Weise kommen wir somit zu keinem Resultat und
müssen uns auf bloße Vermuthungen beschränken.
Ich möchte darauf hinweisen, daß Hammerschmidt als weltlicher
Liederkomponist bei weitem bekannter und beliebter war, als der
ausschließlich durch seine Kirchengesänge berühmt gewordene Joh.
Crüger. Dies geht schon daraus hervor, daß dem 1. Theile seiner
weltlichen Oden bald ein 2. und nicht gar zu lange später ein 3.
folgte. Femer sind seine Weisen oft und gern zu anderen Texten
gesungen worden. Wir können aber noch einen inneren Grund an-
führen, der uns schließlich bewegen muß, die Autorschaft des be-
treffenden Liedes dem Hammerschmidt zuzuerkennen. Derselbe
liegt in der großen Ähnlichkeit, die zwischen dieser und der von
ihm unzweifelhaft herrührenden Melodie zu Nr. 103 unseres Lieder-
buches sowohl hinsichtlich der Form, als auch in Bezug auf die Art
der Tonführung besteht. Demnach wird also wohl ein Irrthum des
Clodius vorUegen, wenn er hier einen Joh. Krüger als Komponisten
nennt, und Enoch Gläser hat jedenfalls die richtige Angabe gemacht.
Wir haben noch hinzuzufügen, daß die Melodie etwa 50 Jahre später 2)
als Ton zu 2 anderen Texten angeführt wird, zu den oben besprochenen
Parodien des vorUegenden Gedichtes in Nicolaus Peuckers Lustiger
Paucke vom Jahre 1702.
Hinsichtlich der anderen von Hammerschmidt stammenden Me-
lodie in Nr. 103 (S. 156) »Wohlan es muß doch sein«, können wir
angeben,, daß sie zu finden ist unter Nr. 9 im 3. Theil seiner »Geist-
und weltlichen Oden und Madrigalien. Mit 1. 2. 3. 4. und 5 Stim*
men nebenst dem Basso Continuo in die Musik versetzet etc. Ge-*
» Vgl. F^tis, Biogr. u. d. M.
' Nach ihrem Erscheinen bei Gläser.
40*
602 Wilhelm Niessen,
druckt im* Jahre 1649.« Sie ist daselbst als Sarabande bezeichnet.
Clodius giebt die Melodie ganz so irieder, wie sie bei Hammer-
schmidt lautet. Nur hat er in den je vorletzten Takten der beiden
Theile die im Baß eintretende Schwärzung der Noten untei^
lassen.
Wir müssen von diesem Liede sagen, daB es infolge seines
charakteristischen Ausdrucks und seiner schönen Tonfolge deutlich
den Meister verräth. Die guten Vorsätze des so blöden Liebhabers
werden am Anfang durch ein entschiedenes C Dur illustriert, das
aber bald der das Stück beherrschenden A Moll-Tonart weicht, wo-
durch die zaghafte Haltung des schüchternen Jünglings treffend aus-
gedrückt wird. Genau dieselbe gewissermaßen ironisch-musikalische
Wirkung wird auch durch eine zweite Weise erreicht, nach der dieser
Text gesungen werden kann.
Es ist nach Clodius' Angabe der Ton »Laßt uns nur lustig sein.«
Derselbe ist in unserer Handschrift zu dem gleichnamigen Gedichte
in Nr. 28 (S. 36) gesetzt und weist einen durchaus weichen und
traurigen Ausdruck auf. Ihm ist eine edle und wohllautende
Tonsprache eigen, die der in Nr. 103 geführten sehr ähnlich ist
und daher die Vermuthung aufkommen läßt, als wäre auch hier
Hammerschmidt der Autor. Leider ist es nicht möglich gewesen,
etwas genaueres über den Ursprung dieser schönen, ernsten Weise,
die sich ganz und gar im Charakter der protestantischen Choral-
melodien bewegt, zu ergründen.
Besser geht es uns schließlich mit jenen von Clodius dem be-
wußten Job. Krüger zugeschriebenen Nummern 69 und 70 auch
nicht. Ihre Melodien gehören ebenso wie die zugehörigen Texte mit
zu den besten Stücken des Liederbuches. Das eine scheint mir fest-
zustehen, daß diese beiden Nummern und die oben hinreichend
besprochene Nr. 71, da sie sowohl in ihrem Inhalt, als auch in
ihrer Melodieführung so sehr übereinstimmen und femer durch die
gemeinsame Bezeichnung »Job. Krügerr gewissermaßen zu einem
Cyklus von 3 Liedern verbunden sind, aus einer und derselben Zeit
stammen und vielleicht einen gleichen Ursprung haben.
So wie sich nun Clodius bei dem einen dieser Lieder in der
Angabe des Komponisten geirrt hat, kann er es auch bei den beiden
anderen gethan haben, und es ist daher sehr wohl möglich, daß die-
selben ebenfalls von Hammerschmidt herrühren. Sicherlich haben
die Melodien einen hervorragenden Komponisten jener Zeit zu ihrem
Urheber.
Können vrir ihn nicht unbedingt namhaft machen, so sind wir
bei einer ganzen Reihe anderer Lieder in dieser Beziehung glück-
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 603
lieber daran. Dieselben sind von dem dritten anfangs genannten
Meister, von Adam Krieger componiert. 11 Nummern der Hand-
schrift sind mit Musikstücken dieses Tonsetzers ausgestattet, und
zwar befinden sieb darunter nicht weniger als 7 verschiedene
Melodien. Bei der Mehrzahl ist der Autor schon von Clodius an-
gegeben worden« Sie lassen sich in 2, oder besser gesagt, 3 Samm-
lungen Kriegerischer Arien nachweisen.
Zunächst in den Arien vom Jahre 1657. Diese sind gänzlich
verschollen. Zum Glück aber existiert auf der Königlichen Bi-
bUothek zu Berlin eine Copie eines Theils derselben in einem Adnex
zu einem Exemplar von Voigtländers Oden (V. 725 fol.)*). Daselbst
sind von ii^end einem unbekannten Liebhaber dieser Sachen 19 Arien
aus dem betreffenden Werke aufgezeichnet worden und zwar nur
mit ihren Oberstimmen.
Außer dieser wertvollen Copie besitzt dieselbe Bibliothek auch
eine der für die zugehörigen Ritomelle bestimmten gedruckten In*
Strumentalstimmen mit folgendem Titel:
j»Adam Kriegers Arien Von Einer | Zwey und Drey Vokal-Stim-
men I benebenst ihren Ritomellen auff zwey Violinen und einem
Violon I samt dem Basso Continuo zu singen und spielen.
Violone
Leipzig I in Verlegung Martin Majers | druckts in Fried. Lanckischens
Druckey. Christophorus Cellarius 1657. «r
Leider sind in dieser Stimme zu den einzelnen Stücken die Text-
anfänge nicht angegeben. Wir erfahren aber daraus, daß die Samm-
lung 50 Nummern zählte.
Clodius hat nun aus derselben 4 Lieder aufgenommen. 2)
Das erste steht bei ihm auf S. 47 (Nr 35) : »Amanda, darf
man dich wohl küssentr. Er bemerkt dazu: »Aria IV. partis primo
ediiae im 3. X. A. Krügerv, womit also deutlich jene erste Samm-
lung bezeichnet ist. Dieselbe Weise kommt in der Handschrift zu
einem 2. Texte, loMein Liebchen darf ich mich erkühnen« (Nr. 45
S. 62] vor. Clodius giebt dazu nicht noch einmal die Noten
wieder, sondern er bemerkt kurz: »Im Thon Amande 47.« Aus dieser
^ Herr Dr. Johannes Bolte hat mich hierauf geffiUigst aufmerksam gemacht
Ich spreche ihm an dieser Stelle meinen veibindlichsten Dank aus, sumal er mir
auch hinsichtlich der im vorigen Theile nachgewiesenen Quellen der Texte des
liiederbuches einige sehr schätzbare Mittheilungen gemacht hat
^ Dieselben sind in der Beilage unter Nr. I— IV mitgetheilt
g()4 Wilhelm Niessen,
einfachen, knappen Bezeichnung geht hervor, daß dieser »Thon« ein
allgemein bekannter war.
Ein gleich günstiges Urteil verdient die folgende aus derselben
Sammlung herübergenommene Weise zu dem liede »So hast du liebes
Sand« (Nr. 64. S. 93.) Clodius giebt dazu an: Jria VI. ex parte
primo edüa A. Krüger in 4. X.a Auch zu dieser Melodie existieren
noch andere Texte in unserer Handschrift, nämlich gleich in der
nächsten Nummer (S. 95) »Gesteh es nur mein ELind« und in Nr. 72
(S. 105) »Ich frage nichts damachr. Jedenfalls liegt hierin wie-
der ein Beweis, daß man auch diese Weise gern sang und sie öfters
wählte, wenn es galt, neue Texte auf alte, bekannte Melodien zumachen.
Ein sicher in der Studentenschaft viel und gern gesungenes Lied
war wohl femer das dritte hierher gehörige Beispiel »Mein setzt euch
ihr lustigen Brüder doch wieder hernieder«, (Nr. 77. S. 112). Das
ist das echte Studenten-»Saufliedtt,^ das sowohl in Wort, als in Weise
den wüsten, dabei doch frischen, burschikosen Ton anschlägt.
Es steht, wie Clodius angiebt, als Nr. 2 im 5. Zehen jener
Kriegerischen Sammlung und ist ebenso, wie die beiden vorher-
genannten Beispiele, in der erwähnten Kopie zu finden. Wir haben
in diesem Fall einen Unterschied zwischen den beiden Aufiseichnungen
zu constatieren, insofern die Melodie bei Clodius in G Dur, an dem
anderen Orte dagegen in dem höheren D Dur notiert ist. Die er-
wähnte Yiolone-Stimme belehrt uns, daß letztere Tonart die originale
ist. Die Veranlassung zu dieser Änderung wird für Clodius sein
fast durchgängig bemerkbares Bestreben gewesen sein, die Melodien
in einer för den allgemeinen Gebrauch bequemen, mittleren Tonlage
niederzuschreiben. Außerdem ist zu beobachten, daß Clodius An-
gaben über das anzuwendende Tempo macht, die in der Copie fehlen.
Er schreibt für die erste längere Hälft^e der beiden Theile der Melo-
lodie Presto, für die zweite kürzere dagegen Adagio vor. Schließ-
lich bringt er diese Nummer nicht, wie die beiden zuvor besprochenen
nur zwei-, sondern dreistimmig. Sicher wird sie in der gedruckten
Ausgabe jener Arien von 1657 ebenso ausgesehen haben, da ja in
derselben nach dem Titel auch einige dreistimmige Gesänge ent-
.-halten waren.
Ein Tonartenwechsel in der Aufzeichnung des Clodius ist eben-
falls bei dem vierten derselben Sammlung entlehnten Beispiele zu
verzeichnen, bei Nr. 109 (S. 166): »O Rosidore edele Flore.« Clo-
dius nennt hier gar nicht den Autor, das Lied wird aber in jener
^ Biese Übersohrift hat der Diohter (J. G. Sohoch) selbst dem Text gegeben.
Er bringt ihn in seinen Hundert Schäffer-Liedem vom Jahre 1660 auf pag. 198.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 605
Kopie als Nr. 7 des 5. Zehen wiedergegeben. Auch diese Weise ist
sicher oft und gern gesungen worden; jedenfalls zeichnet Clodius
sie zu einem zweiten Texte auf: »Niedliches Kindchen, laß mich
dein Mündchen« (Nr. 81, S. 119). Joachim Neander fügte 1680 zu
ihr sein geistliches Lied »Eins ist Noth, ach Herr, dies Eine«.
Von den 3 anderen Kriegerischen Arien, die unsere Handschrift
enthält, sind zwei nachweislich aus den späteren gedruckten Samm-
lungen dieses Meisters. Dagegen ist die dritte daselbst nicht zu
finden. Sie wird, da ja in jenem Voigtländer'schen Bande nur ein
Theil der Arien von 1657 kopirt ist, wohl unter den übrigen dieser
ersten Sammlung gewesen sein. Clodius giebt sie unter No. 57
(S. 82) zu dem Texte: »Phillis und Am3rnthas waren an dem kühlen
WaBerstranda^ und bemerkt dabei ausdrückUch: [»Melodia Adam
Krüger: Gute Nacht ihr grünen Wiesen oder im Thon: Halber Theil
von meinem Hertzen.« Dieser zuletzt genannte Ton ist mit gleich-
namigem Texte unter No. 90 (S. 134) in unserem Liederbuche vor-
handen und zeigt eine im Ausdruck von der zu No. 57 gesetzten
Melodie ganz abweichende Art. Wir erkennen das schon äufier-
Uch daran, daß No. 57 aus BDur, No. 90 dagegen aus EMoll
geht; dazu kommt dann, daß die Rhythmisirung eine durchaus ver-
schiedenartige ist. Vielleicht sollte auf die Art eine möglichst ko-
mische Wirkung erzielt werden, indem man zu dem üppig frivolen
Texte in No. 57 unter Umständen auch diese weiche, sentimentale
Melodie aus No. 90 anstimmte. Ahnliche Beispiele haben wir meh-
rere in unserer Handschrift, und ich brauche nur an das bereits er-
wähnte Lied «Laßt uns nur lustig sein« (No. 28) mit seiner weh-
müthigen, klagenden Melodie zu erinnern.
Die beiden noch nicht besprochenen Melodien Adam Krieger^s
sind also aus seinen späteren Arienwerken entlehnt. Die eine gehört
bei Clodius zu No. 48 (S. 66) « Eylt ihr lieben Wäscher Mägdgenc und
ist bezeichnet: «Melod: Krüger. 3. Aria d. 5. Zehns im H. Theil.
Seht doch wie der Rein wein tanzt.« Mit diesem 2. Theile ist fol-
gende Sammlung gemeint: j» Herrn Adam Krieger^s etc. Neue Arien
in 5 Zehen eingetheilet von Einer, Zwo, Drey und Fünf Vokal Stimmen
benebenst ihren Ritomellen etc. zu singen und zu spielen So nach
seinem Seel. Tode erst zusammengebracht und zum Druck befordert
worden.« (Dresden 1667). Unsere hieraus stammende Weise zeichnet
sich durch Frische und Anmuth aus imd findet kaum ihres gleichen
in dem ganzen Liederbuche. Sie wird von Clodius ziemlich über-
einstimmend mit dem Original notirt. Nur wäre hier auf die Yer-
1 VgL die Beilage Nr. V.
goß Wilhelm Niesaen,
änderung, die mit der zu Grunde liegenden BaBstinune Torgenommen
ist, aufmerksam zu machen. Bei Krieger sind nur eben die iwich-
tigsten Grundbässe in halben und Viertel-Noten gegeben; bei Clodius
dagegen ist der BaB zu einer melodisch flieBenden Stimme umge-
wandelt worden, die sich ganz dem leichtbeschwingten Rhythmus
der fast durchweg in Achteln gehenden Oberstimme anschlieBt Falls
Clodius diese Umarbeitung selbst Toi^enommen hat, so giebt er uns
damit einen Beweis von musikalischer Beanlagung, da die Führung
des Basses mit der munteren und reizenden Tonsprache des Liedes
in vollem Einklang steht. Übrigens ist der in dieser Krieger sehen
Melodie enthaltene musikalische Inhalt in einem zugehörigen Bitomell
in vorzüglicher Weise verarbeitet worden. Mit einer schon weit
entwickelten Kunst motivischer Arbeit werden in demselben die
Hauptmotive der Melodie flott und keck von den einzelnen Instru-
menten vorgetragen.
Das Lied erschien dann wieder in der zweiten Auflage dieser
Arien, die w^en des groBen Erfolges derselben im Jahre 1676 noth-
wendig und noch um 10 Nummern vermehrt wurde, jetzt also im
ganzen 60 Arien enthielt.
In dem hinzugekommenen 6. Zehen steht nun als No. 9 die in
unsere Handschrift auf S. 53 unter No. 40 aufgenommene Arie:
])Wer sich mit mir in dieser Welt.« Sie ist ausgezeichnet durch
einen markigen, kräftigen Ton, dem melodische Anmuth und Bieg-
samkeit nicht abgeht; sie erscheint ganz vornehmlich dazu geeignet,
in den lustigen Zecherkreisen der Studenten zur Erhöhung der ge-
selligen Fröhlichkeit beizutragen.
Diese Eigenschaft besitzen aber fast durchweg die Arien von
Adam Krieger. Namentlich ist ihnen vor allen anderen jener Zeit
besonders eines eigen : sie tragen den Stempel der Yolksthümlichkeit.
Sie zeichnen sich einerseits durch eine edle und feine Tonfiihrung
aus, sie besitzen aber dabei noch eine innere, frische und lebendige
Kraft, die sie leicht dem Ohre des Volkes zugänglich macht. Diese
befähigt sie denn auch dazu, schnell bei einer gröBeren Gemeinschaft,
wie sie also von den Studenten gebildet wird, bekannt und beliebt
zu werden.
Dabei ist Adam Krieger im Stande, die verschiedenartigsten
Stimmungen mit treffendem Ausdruck musikalisch zu schildern. Er
vermag ein zartes, leises Liebesgeflüster, das fremden Ohren unver-
nehmlich sein soll, in eine ebenso liebliche, wie im guten Sinne sen-
timental angehauchte Melodie (No. 64) umzusetzen. Ln Gegensatz
dazu bringt er eine zwar heitere, aber doch mit MäBigung gepflegte
Freude durch markige, entschiedene Töne zum Ausdruck [No. 40},
Das Liederbuch des Leipsiger Studenten Clodius. 607
wie er andererseits auch fähig ist, der denkbar ungebundensten Aus-
gelassenheit (No. 77] seine musikalische Sprache zu widmen. Kein
Wunder also, daB Clodius so viele seiner Weisen zu den verschie-
densten Texten in das Liederbuch aufgenommen hat.
b. Melodien, die sich in Gedichtsammlungen des 17. Jahr-
hunderts nachweisen lassen.
Wir beginnen mit einem Beispiel aus des oben schon mehrmals
genannten »Seladon'sa WeltKchen Liedern. Li diesen treffen wir
die von Clodius zu No. 39 »Ich fragte Dorinden« mitgetheilte
Melodie mit dem gleichen Texte an. Es ist aber dort nicht an-
g^eben, wer der Componist ist. Indessen erfahren wir wenigstens
etwas darüber in der Vorrede zu desselben Dichters »Celadonischer
Mu8a,ff woselbst der Text aufgenommen ist. Es heifit da: »Celadon
hätte die Sachen gewiß verborgen gelafien, wenn nicht theils gute
Musici etliche seiner Oden unter ihre lieblichen Melodeyen zu setzen
gewürdigt 9 auch noch zu thun gesonnen, theils andere sich seiner
Sachen als ihrer Arbeit bedient hätten.« Es ist danach immerhin
anzunehmen, dafi ein wirklich guter Tonsetzer diese Weise komponirt
hat, wofür auch der frische, lebendige Flufi derselben spricht. Sicher
wird es einer der Hamburger Musiker gewesen sein, die mit den
dort ansässigen Dichtem, zu denen unser Greflinger gehörte, gewiß
in regem Verkehr standen.
Durch eine kleine rhythmische Änderung im vorletzten Takte
ist der Schluß der an sich recht anmuthigen Melodie bei Clodius
noch wirksamer gestaltet. Femer wäre eine Verschiedenheit in der
Notierung der Baßstimme zu bemerken. Bei Greflinger sind 2 Takte
hindurch im Baß geschwärzte Noten gesetzt, um dort eine Verände-
rung des dreitheiligen Taktes in den zweitheiligen bemerkbar zu
machen. Bei Clodius stehen jedoch dafür einfach ungefüllte ganze
Noten. Man sieht daraus, wie wenig man sich im Volke um solche
Feinheiten der musikalischen Rhythmik und Notierungsweise küm-
merte, die in gedruckten Musikwerken jener Zeit immer noch ab
und zu vor Augen gefuhrt wurden.
Bekanntlich steht in diesen j)Weltlichen Liedemcr auch das eben-
falls von Clodius au%eilommenen Lied »Schweiget mir von Frauen
nehmen.« Die von Clodius dazugesetzte Melodie ist aber eine andere,
als die bei Greflinger befindliche. Erstere gehört eigentlich als Ton
dem Texte »Komm mein Schatz und laß uns eilen« und kommt wohl
nur selten vor. Die letztere dagegen war sehr bekannt und wurde
allgemein gesungen. Sie findet sich zuerst in Froberger's Ciavier-
608 Wilhelm Nieasen,
Stücken von 1649 und wurde noch spät im 18. Jahrhundert gedruckt^
Die große Beliebtheit verdankt diese Melodie ihrer wirklich anmu-
thigen und lebendigen Tonfiihrung. Aber auch die von Clodius ge-
gebene ist munter und frisch gehalten.
In dem gleichen Jahre, in welchem die »Weltlichen Liedert er-
schienen (1651), finden wir nun ein Lied unserer Handschrift ge-
druckt, für welches wir nicht allein den Dichter, sondern auch den
Komponisten nennen können. Ich meine No. 43 (S. 58): »Kein
größer Narr ist weit und breit in dieser Welt zu finden-c Dasselbe
ist erschienen als No. 45 in folgendem Werke: »Des Edlen Dafnis
aus Cimbrien besungene Florabella. Mit gantz neuen und anmu-
thigen Weisen außgezieret und hervorgehoben von Peter Meiern etc.
Hambui^. Im Jahre 1651.« Mit dem Dafnis aus Cimbrien ist der
bekannte Dichter Johann Rist gemeint. Der auf dem Titel ge-
nannte P. Meier sagt in der Vorrede, daß »Herr Dafnis der welt-
lichen Sachen, wegen seiner vielfältigen und überaus herrlichen
geistlichen Arbeit, mit welcher er die meiste Zeit fast iiberflüßig be-
lästiget, nichts mehr achtet,« und er (P. Meier) aus diesem Grunde
vornehmlich die folgenden Gedichte herausgebe. Und damit sie dann
nicht vergraben bleiben, habe er »solche überaus schöne Lieder mit
gantz neuen und noch ohnbekanndten Melodeien versehen, ohn
etliche wenige, die zuvor schon ihre Weisen gehabt.« Zum großen
Theil sind also die hier vorliegenden Musikstücke von Peter Meier
componirt. Er lebte um die Mitte des Jahrhunderts als Rathsmusi-
kus in Hamburg. Von wem die anderen sind, lässt sich nicht er-
mitteln; es ist aber nicht unwahrscheinlich, daß Rist selbst der Kom-
ponist ist, da doch die Texte vorher nicht gedruckt waren und
vielleicht gleich mit den zugehörigen Weisen aus seinen Händen
in die Peter Meier's übei^egangen sind.
Die von Clodius aufgenommene Melodie wird wohl von Meier
herrühren ; sie weist in ihrem ganzen Aufbau eine £stchkundige Hand
auf, die Joh. Rist als musikalischer Laie sicher nicht besessen hat.
Zu den bedeutenderen Tonsetzem jener Zeit gehört Meier allerdings
nicht; er erscheint als ein Durchschnittskomponist, der sich gut auf
eine geschickte Mache verstand und ab und zu einen über das All-
tägliche hinausgehenden Gedanken fand.
Eine zweite zu demselben Rist'schen Texte vorhandene Melodie
finden wir in der »Aelbianischen Musen-Lust«, einer Liedersammlung
des Dresdner Komponisten Dedekind vom Jahre 1657. In derselben
1 Nachrichten über diese Melodie gibt Philipp Spitta in seiner Abhandlung
über Sperontes. a. a. O. pag. 64 flg. 75 flg.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. gQ9
sind Gedichte der bekanntesten Dichter des 17. Jahrhunderts (meist
mit Melodien von Dedekind] enthalten, so also auch von den schon
genannten Greflinger, Gläser u. s. w. Zu diesen gesellt sich, als
für unsere Handschrift in Betracht kommend, der vornehmlich in
der Liebeslyrik ausgezeichnete Jacob Schwieger. Er ist bei Clodius
mit 6 Beispielen anzutreffen. Diese sind aus zweien seiner Lieder-
werke herübergenommen und zwar zugleich mit den dort aufgezeich-
neten zugehörigen Melodien.
Die der Zeit nach frühere der beiden Sammlungen führt folgen-
den Titel : »Verlachte Venus aus Liebe der Tugend und teutsch-ge-
sinnten Gemühtem zur ergetzung, sonderlich auf begehren der Hoch-
Tugend Edelen und Ehren werthen Constantia, aufgesetzet Ton Jacob
Schwiegem. Glückstadt 1659.a
Das Ganze ist eine Prosa-Darstellung, die nur ab und zu durch
Gedichte unterbrochen wird ; die zu den letzteren gehörigen Melodien
folgen in einem Anhang. Das erste Lied beginnt mit den Worten;
»Verdammte Lust, Beherrscherin der Sinnen« und ist, wie wir bereits
wissen, bei Clodius unter No. 98 (S. 146) zu finden. Der Komponist
ist von Jac. Schwieger weder bei dieser, noch bei den anderen Me-
lodien genannt. Aus ihrer ungewöhnlichen Steifheit und Monotonie
kann man schließen, daß sie von einem unerfahrenen Laien oder
mindestens von einem sehr ungeschickten Musiker gemacht sind. Mög-
ticherweise ist Jac. Schwieger selbst der Komponist, zumal wir zeigen
können, daß er wirklich seine Gedichte mitunter in Musik gesetzt hat.
Ein ungleich günstigeres Kesultat ergiebt sich für die fünf dem
anderen Werke Schwieger's angehörenden Melodien. Der Titel
desselben lautet wie folgt: »Die Gehamschte Venus oder Liebes-
Lieder im Kriege gedichtet mit neuen Gesangsweisen zu singen und
zu spielen gesetzet nebenst etlichen Sinnreden der Liebe. Verfertiget
und Lustigen Gemühtem zu Gefallen herausgegeben von Filidor^ den
Dorfierer. Hamburg etc. 1660.a
Vor allem ist hier werthvoU, daß wir über den Ursprung der
Melodien aus der Vorrede einiges erfahren. Der Verfasser sagt unter
anderem: »Die Melodeyen betreffend, sind deren wenige entlehnet,
etliche von einem der berühmtesten Meister, auff deßen höchst ruhm-
würdigen Sazz weder der Neid noch einziger Tadler das geringste
Wort zu sprechen mir überschikket : Abermahls finden sich andere,
die zwar in der Eil, aber dermaßen gesezzet, daß sie deiner Lust;
wofern du nicht selbst ein Lust-Feind bist, sattsam Genüge tuhn
^ Dass unter diesem Filidoi unser Jac. Schwieger bestimmt zu Terstehen ist,
weist Th. Rfthse in dem Vorwort zu seiner Neuausgabe dieser Sammlung nach.
ß\Q Wilhelm Niessen,
werden. Die übrigen übelklingenden schreibe ich mir zu, als die
ich nach meiner Einfalt gedichtet, nur vor mich und wehm sie ge-
fallen. Mißfallen sie dir, so laß sie liegen.« Außer diesen Angaben
erhalten wir noch weitere Andeutungen über die Komponisten, indem
die Namen derselben stets durch die Anfangsbuchstaben markirt sind.
Ich habe folgende Buchstabenzusammenstellungen gefunden: C. S.
18mal. C, B. 14mal. J. S. 2mal. Jf. C. 22 mal. J. JT. 3 mal. /. M, J?.
2 mal. Außerdem finden sich bei einigen Melodien Bemerkungen
wie: »Französisches Ballet,« »Französische Blamande,« » Französische
Sarabande, a »Madrigal, t »Französische Arie.« In der Hauptsache sind
hier also Formen französischen Ursprungs vertreten.
Was nun die Entzifferung obiger Buchstabenverbindungen be-
trifft, so meint wohl Rähse mit Recht, daß die mit J. S. bezeich-
neten Melodien von Jac. Schwieger selbst herrühren, da dieser ja
ausdrücklich bemerkt, daß er einige verfasst hat.
Eine wichtige Frage ist die, wer unter dem in der Vorrede ge-
nannten »berühmten Meister <r zu verstehen sei. Hierauf versucht
C. F. Becker eine Antwort zu geben. ^ Er Ibespricht die »Gehamschte
Venus« und schließt aus dem häufig zu den Liedern gesetzten M. C,
daß wohl Martin Colerus dieser sogenannte »berühmte Meister a sei.
Colerus stammt aus Danzig^ (etwa 1620 daselbst geb.) und befand
sich gerade um die Zeit, als die »Geharnschte Venus« erschien, in
Hamburg. Zu dieser Stadt stand er überhaupt in engen Beziehungen,
da er z. B. 1648 »Melodien zu Risten^s Passionsandachten« heraus-
gab. Nachdem er an den verschiedensten Orten als Kapellmeister
thätig gewesen war, beendete er, hochbetagt, sein Leben in Hamburg.
Demnach ist er wohl sicher als Komponist der hier mit M. C. be-
zeichneten Melodien hinzustellen, zumal ein Musikemame mit glei-
chen Anfangsbuchstaben im 17. Jahrhundert nicht bekannt ist. Ob
aber Schwieger gerade diesen Colerus als den hochberühmten Meister
bezeichnet hat, ist doch zweifelhaft, weil sich hinter zwei der übrigen
Buchstabenverbindungen zwei andere nicht minder bedeutende Musiker
verbergen. So ist mit den bei 2 Melodien vermerkten Buchstaben
zweifellos Johann Martin Rubert gemeint. 1615 zu Nürnberg ge-
boren 3 hat er sich lange Zeit in Nürnberg angehalten und war dann
von 1640 bis zu seinem 1680 erfolgten Tode Organist zu Stralsund.
Unter seinen im Druck erschienenen Kompositionen finden sich aller-
^ Die Hausmusik in Deutschland in dem 16., 17. und 18. Jahrhundert.
Leipzig 1840.
2 Vgl. F. J. F6ti8, Biographie universelle des Musiciens.
8 F6ti8, a. a. O.
Das Liederbuch des Leipsiger Studenten Glodius. gj[J
dings die beiden Melodien nicht. Bei dem regen Verkehr jedoch,
der damals zwischen den norddeutschen Dichtern und auch Kompo-
nisten herrschte, ist wohl anzunehmen, daß auch Jac. Schwieger und
J. M. Hubert unter einander bekannt waren, und letzterer sich gern
bereit zeigte, Weisen zu den Schwieger' sehen Texten zu setzen.
Als dritten hier in Frage kommenden Komponisten möchte ich
hinter den Buchstaben C. B. den hochbedeutenden Meister Christoph
Bernhard suchen. Derselbe war zu dieser Zeit noch nicht in Ham-
burg thätig; es wird aber erzählt,^ daß er, zum Stadtkantor Hamburgs
als Nachfolger Thomas Seiles erwählt, bei seiner Ankunft daselbst
Ton den Vornehmsten der Stadt in sechs Kutschen, den berühmten
Orgelspieler Weckmann von St. Jacobi an der Spitze, eingeholt sei.
Dies geschah 1664, also 4 Jahre nach dem Erscheinen der »Ge-
hamschten Venus.« Ein Mann aber, dem solche Ehren erwiesen
wurden, musste in der Stadt schon lange bekannt sein und ein hohes
Ansehen genießen. Aus diesem Grunde ist wohl die Vermuthung
richtig, daß Jac. Schwieger gern die Melodien eines solchen Meisters
zu seinen Texten benutzte. Und da kein anderer Komponist »C. B.«
für Hamburg in Betracht kommen kann, so können wir mit einiger
Sicherheit den Christ. Bernhard als Tonsetzer der 14 in dieser
Sammlung mit C. B. bezeichneten Melodien ansehen. Das veranlasst
uns dann weiter zu schließen, daß J. Schwieger wohl unter dem
»berühmten Meister« nicht den Martin Colerus, sondern eben den
diesen bei weitem überragenden Christ. Bernhard meint.
Von den beiden noch übrigen durch die Buchstaben C. S. und
J. K. angedeuteten Komponisten konnte ich näheres nicht ermitteln.
Dies ist insofern nicht zu bedauern, als die in unsere Handschrift
aus der »G^hamschten Venus« angenommenen Melodien von keinem
der beiden herrühren.
Von Colerus sind 2 Lieder wiedergegeben: No. 4 aus dem 2.
Zehen »Legere läßt sich öfters grüßen« als No. 96 auf S. 144, und
No. 6 aus dem 5. Zehen »Gleich als du hättest still geseßen,« als
No. 99 auf S. 148. In beiden macht sich eine gewisse Steifheit, so-
wohl der Melodiebildung, als auch .(namentlich bei dem 2. Liede)
der Harmonisirung bemerkbar. Jedenfalls gehören sie nicht gerade
zu den besseren Nummern der Handschrift. Es darf aber nicht un-
erwähnt bleiben, daß ihnen trotzdem einige mehr oder weniger in-
teressante Züge eigen sind. So ist bei dem 2. Liede eine die Worte
»so schreib und sing ich« trefflich charakterisirende Viertelkoloratur
hervorzuheben.
i Vgl. Mattheson, Ehrenpforte pag. 20.
512 Wilhelm Niessen,
Von Joh. Mart. Hubert ist das 5. Lied des 6. Zehen: »Sisyfas
Gebirg erreichen» als Nr. 100 auf S. 150 in unser Liederbuch auf-
genommen.^ Die dazu gehörige Melodie ist eine der schönsten der
Clodius'schen Handschrift. Sie zeichnet sich durch wohllautende, edle
Tonfiihrung aus, mit der sich ein gemessener, wohlgeordneter Rhyth-
mus und eine ebenso einfache, wie schöne Harmonie vereinigt. Na-
mentlich ist in harmonischer Beziehung die feine Gegenüberstellung
der MoU- Tonart im 1. Theile und der parallelen Dur -Tonart im 2.
Theile zu erwähnen, wahrend melodisch besonders die motivische
Steigerung im 2. Theile hervorzuheben ist, die dann in einer sym-
metrisch gebildeten Senkung der Melodie am Schlüsse ein beruhigendes
Gegengewicht erhält. In Bezug auf die Tonfolge ist diese Melodie
von Clodius übereinstimmend mit dem Original^ angezeichnet wor-
den. Dagegen hat er sich einige rhythmische Aenderungen er-
laubt, die durchaus zum Yortheil des Ganzen gereichen. Durch
eine vom zweiten Theile an eintretende vollständige Verschiebung
vom ersten Takttheil auf den dritten, wird die zweite ursprünglich
neuntaktige Periode zur achttaktigen gemacht und auf die Weise
eine wirksame Belebung des Granzen herbeigeführt. Wir sehen wie-
der deutlich, wie der Yolksgeist, wenn er einmal eine Melodie sich
zu eigen gemacht, nun nach seinem Ermessen damit schaltet und
waltet und sie sich so zurecht legt, wie es für ihn am besten passt.
Das vorliegende Lied ist übrigens in dieser EEinsicht besonders lehr-
reich, da die Melodie noch zweimal in der Handschrift auftritt ; beide
Male in einer neuen Gestaltung.
Wir finden sie in zwei aufeinander folgenden Nummern wieder,
in Nr. 55 (auf S. 78) »IhrNajaden« und in Nr. 56 (auf S. 80) »Ihr
Mädgen gute Nacht.« Ein Vergleich mit dem in der »G^hamschten
Venus« gegebenen Originale zeigt, mit welchem Geschick man su
damaliger Zeit verstand, ein und denselben melodischen Kern ver-
schiedenartig zu gestalten.
Betrachten wir zunächst die erstgenannte Melodie.' Takt und
Tonart sind dieselben, wie bei Schwieger. Dagegen ist die Zahl der
Takte eine andere, an Stelle von zwölfen sind nur zehn getreten und
zwar sind einfach die Takte 9 und 10 ausgefallen. Die Melodie hat
dadurch nicht verloren, ist vielmehr interessanter geworden. Gerade
dieses scharfe Abgrenzen der Dur- und Mollgestaltung eines und des-
selben Motivs macht den Schluß wirksam. Es kommt hinzu, daß bei
1 Vgl. die Beilage Nr. VI.
2 Vgl. die Beüage VI 1.
3 Vgl. die Beilage VII.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 613
Clodius im zweiten und vierten Takte Verzierungen durch kleine
Sechzehntelfiguren eintreten. Sie verleihen dem Ganzen ein eigen-
artiges Gepräge und illustrieren tref&ich die in dem Texte liegende
Ironie. Es wird der Freude Ausdruck gegeben, daß jemand Hoch-
zeit macht, daher die hinaufeilenden Sechzehntel; diese Freude ist
aber nicht ernst zu nehmen, hinter ihr verbirgt sich nur Hohn und
Spott, daher die Moll -Tonart. Ein Geistesprodukt, welches den
Stempel des echt Studentischen trägt. Und nun der Kontrast, der
zwischen dieser Melodiegestaltung und der darauf folgenden desselben
melodischen Inhalts besteht.
In dem ersten Falle ist eine an sich ruhige, ernste Melodie in
übermüthiger Weise zu einem Spottlied verwendet und zugerichtet
worden; in dem anderen^ ist dieselbe zu Grunde liegende Melodie
zum Ausdruck eines wahren Schmerzes (beim Abschied von der Uni-
versität) benutzt und zu di^em Zwecke] gewissermaßen veredelt
worden. Die Tonart der neuen Form ist dieselbe, wie im Original;
dagegen wurde die Taktart und in Verbindung damit die An-
zahl der Takte geändert. Für den ^j^ Takt ist der ^4 Takt einge-
treten und infolgedessen für die zweitaktigen Phrasen dreitaktige,
so daß also aus 12 Takten 18 gemacht sind. Andererseits ist die
bei Nr. 55 weggefallene [zweitaktige Phrasefhier (dreitaktig) wieder
angenommen. War dort bei Nr. 55 die energische Sonderung des
Dur von der parallelen Moll-Tonart nothwendig zur charakteristischen
musikalischen Gestaltung des Textes, so ist hier, bei diesem an sich
ernsten, einem stülen, aber aufrichtigen Schmerze gewidmeten Liede
eine mehr ruhige, vermittelnd eingeführte Schlussbildung besser am
Platze. Auch sind im Gegensatz zu Nr. 55, wie zum Original, alle
zur Auschmückung dienenden Sechzehntel- und Achtelfiguren ver-
mieden und nur halbe und Viertel-Noten benutzt worden.
Mit einfachen Mitteln werden also hier aus einer Melodie heraus
mehrere neue nicht nur charakteristische, sondern auch wirklich
musikalisch (schöne Gestaltungen geschaffen. Sind diese Umwand-
lungen von Studenten vorgenommen (was immerhin wahrscheinlich
ist), 80 müssen diese einen nicht geringen Grad musikalischer Bil-
dung besessen haben.
Doch nun zu den beiden noch übrigen Liedern aus * der »Ge-
hamschten Venusa. Das mit C. 6. bezeichnete steht als Nr. 5 im
2. Zehen und ist von Clodius auf S. 146 als Nr. 97 aufgenommen.
Der Anfang lautet: :»Die Dellmane kriegt einen Stoß.« Die Melodie
unterscheidet sich von den meisten anderen imserer Handschrift da-
i Vgl die BeUage YHI.
514 WiUiefan Niessen,
durch, daß sie die weitaus gröBte Ausdehnung hat. Sie umüstast im
Ganzen 30 Takte und lässt außerdem die sonst bemerkbare Knapp-
heit und Ein&chheit der Form vermissen. In dieser Melodie ist
mehr als gewöhnlich von einer au^edehnten, oft etwas zu weit aus-
gesponnenen motivischen Durcharbeitung Gebrauch gemacht. Grerade
dies kann vielleicht als Beweismittel gelten für die dem C. Bernhard
zuzuweisende Autorschaft, insofern der genannte Meister vornehm-
lich Komponist geistlicher Sachen, und ihm somit eine in die Breite
gehende Schreibweise geläufiger war. Auch wird den Clodius vor
allem der etwas frivole Text angezogen haben, und weniger die an
sich ganz interessante, aber doch für studentische Kreise zu wenig
ansprechende und schwer aufzufassende Melodie.
Das fünfte aus der Gehamschten Venus entlehnte Lied finden
wir daselbst unter Nr. 4 des 4. Zehen, bei Clodius auf S. 136 als
Nr. 91, beginnend »Das Wolken Dach war mit der Nacht ümbzc^n.c
Hierzu ist bei Schwieger keine Andeutung hinsichtlich des Komponisten
gemacht worden. Dagegen ist es mit der Bezeichnung «Französische
Blamande« versehen, womit also wohl ein 9 Spottlied er oder irgend eine
Tanzform gemeint ist. Von der Melodie müssen wir nun sagen, daß
sich uns hier ein ähnlicher Fall darbietet, wie bei dem vorher be-
sprochenen Liede. Wenn sie auch nicht dieselbe äußerliche Aus-
dehnung aufweist, so ist doch die ganze Art und Weise der Ton-
führung ebenso wenig als dort dazu geeignet, das zu geben, was man
vom Studentengesange in erster Linie verlangt, nämlich eine ge-
drungene, dabei doch inhaltreiche und frische Tonsprache. Der An-
fang verspricht allerdings diese Forderung zu erfüllen; im weiteren
Verlaufe zeigt sich aber ein solches Ungeschick in der melodischen
Ausspinnung, ein solches, das Ohr verletzendes Abhacken im Rhyth-
mus, daß man in der That genöthigt ist, diese Melodie zu den am
wenigsten schätzbaren der Handschrift zu zählen.
Im Grunde genommen müssen wir aber den Beitrag, den die
Schwieger sehen Sammlungen hinsichtlich der Melodien zu unserem
Liederbuche liefern, als einen werthvollen bezeichnen. Wir lernen
aus ihnen einmal die Namen von Komponisten kennen, die einem
so berühmten Dichter, wie Jac. Schwieger, und wohl überhaupt dem
Hamburger Dichterkreise genehm waren; andererseits befindet sich
unter ihnen eben jene wunderschöne Melodie, die ohnstreitig eine
Perle der ganzen Handschrift ist.
Wenige Jahre nach der ))Gehamschten Venus« erschien folgende
uns hier angehende Gedichtsammlung : »Neu außgeschlagener Liebes-
und Frühlings Knospen Nachschößlinge. Mit beygefügten anmuthigen
Melodeyen etc. von Georgio Henrico Schreiber. Franckfurt am Mayn.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. g|5
1664.V Clodius bringt daraus 2 Melodien, aber mit anderen Texten.
Ueber den Komponisten derselben erfahren wir einiges aus den Vor-
reden zu den Nachschößlingen und zu einer diesen vorhergehenden
Sammlung desselben Dichters »Neu außgeschlagener Knospen Erst-
linge« etc. Der letzteren geht ein Gedicht vorher, das von dem
Komponisten an den Dichter gerichtet ist. Die Schlußstrophen (9 — 1 1)
lauten:
Inzwischen ich mich nenn'
Ein S C H laven dieser Sachen,
So sol und will ich denn
Ein Liedchen mit euch machen.
Ob in der Dichterey
Ich mich wohl schwach befinde,
Zu setzen Melodey
Ich mich dobh unterwinde.
Und so noch jemand ist,
Der mich gern möchte kennen.
Der wisse ohne List,
Daß ich mich pfleg zu nennen
C. H.
Org. zu W.
Es war nicht mögHch die Persönlichkeit festzustellen, die sich
hinter den hier gegebenen Andeutungen verbirgt. Auch die jenem
Gedichte folgende Prosa-Vorrede des Komponisten giebt keinen weiteren
Aufschluß. Er theilt daselbst nur mit, daß auch seine Melodien nur
»Erstlinge« meist »aus dem Garten seiner Jugend gebrochene« seien,
und bittet daher um Nachsicht, mit dem Versprechen, späterhin bessere
hervorschießen zu lassen. Vor allem aber hebt er hervor, daß seine
»Melodeyen für keine Ueberkluge und in der Musik Critisierende
sondern der Kunstliebenden Jugend zu beliebiger Uebung dargereicht
worden.« Als Unterschrift lesen wir wieder die schon in dem Ge-
dichte vorkommende eigenartige Wortbildung: »S C H laven.« Wir
werden also wen%stens über den Zweck au%eklärt, dem diese Me-
lodien gewidmet waren. Es sollten hier nicht regelrechte, strenge
Kunstprodukte geboten werden, sondern Weisen, die im Stande wären,
Fröhlichkeit und heitre Gesinnung zu erwecken und zu steigern.
Daß sie dies vermochten, bezeugt der Dichter Schreiber selbst in einer
Zuschrift zu den »NachschöBlingen«, wo er sagt, daß sie die lebende,
lustige und erfreuende Seele seiner dieses mal etwas zu düster ge-
1891. 41
616 Wilhelm Niessen,
rathenen Gedichte seien. Eine Betrachtnng der von Clodius gegebenen
Beispiele bekräftigt vollkommen die Richtigkeit dieser Behauptung.
Das eine bietet sich uns dar in dem Liede Nr. 42 (S. 56)
Y>Wer ist doch wohl so selig als ich bin«. Die dazu gesetzte Melodie
gehört bei Schreiber (in den »NachschöBlingen« auf S. 101, Nr. 17]
zu einem Texte »Ich bin und bleibe nunmehr wohl vergnügt, Weil
mir das Glück hat wieder zugefügt«. Abgesehen von unwesentlichen
rhythmischen Verschiedenheiten fallen bei Clodius wiederum ge-
schickte melodische Vereinfachungen und flüssigere Führung des
Grundbasses angenehm auf. Ahnliches ist von der anderen Melodie
zu sagen. Dieselbe findet sich S. 113 zu Nr. 20: «Spiel nur Glücke
wie du wilt, Weil dein Neid noch nit gestillte. Clodius bringt sie auf
S. 64 zu Nr. 47: »Lustig lieben Domini, Lustig omnes Populic. Ent-
sprechend dem Texte ist der Schreiber'schen Fassung eine mehr
weiche Stimmung eigen, die sich in gefälligen leichten Achtelfiguren
kundgiebt) sowie in häufig angewandten Sextaccorden. Bei Clodius
sind aus den Achteln strafie Viertelschläge, aus den Sexten -Bässen
wuchtige Grundbässe geworden und auf die Weise der derbe und
burschikose Ton des hier untergelegten Textes treffend zum Ausdruck
gebracht.^
Wir sind nun bei dieser Melodie zum 'ersten Male in der an-
genehmen Lage, dieselbe noch nach der uns vorliegenden Zeit, ja
noch in unserem Jahrhundert anzutreffen. Zunächst begegnen wir
ihr in der »Beggars operac von John Gay. |Darin befanden sich
nicht weniger als 69 Lieder, sämmtlich mit bekannten Melodien
versehen, die der in England lebende Komponist Johann Christoph
Fepusch aus Berlin für das Stück eigens zurecht gestutzt hatte.
Dasselbe erschien im Jahre 1728, gefiel bekanntlich über die Maßen
und hielt sich lange Zeit. Unsere Melodie finden wir dort zu dem
Liede: »Youth's the season made for joys,«^) in der 4. Scene des
2. Aktes als Air XXII auf pag. 47 (Auflage von 1765). Während
eines Liebesgespräches ertönt außen Musik. Der Spieler wird herein-
gerufen und muß zum Tanze eine »Französische Weise« spielen. Nach
dem Ende des Tanzes wird dann das betreffende Lied gesungen,
dessen Inhalt etwa der ist: Man soll die Jugend genießen, tanzen
und singen, da die Zeit Flügel hat und gar zu bald das traurige
Alter herankommt.
Konnten wir nun schon die Gestaltung der Melodie bei Schreiber
als bei weitem leichter und zierlicher, wie die markige und enei^che
1 VgL die BeUage IX.
2 Vgl. die Beilage IX 1.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 617
Tonfolge bei Clodius bezeichnen, so läßt sich das von der Fassung,
die Pepusch diesem Tonstück gegeben hat, in noch höherem Maße
sagen. Die hier so merklich auftretenden Achtelfiguren verleihen
dem Ganzen etwas ungemein Anmuthiges und Gefälliges. Jedenfalls
ist die Melodie in England gern und viel gesungen worden^ denn noch
1813, also 90 Jahre nach Erscheinen der Bettleroper und 150 Jahre
nach ihrem ersten Auftreten bei Schreiber wurde sie in folgende
englische Liedersammlung angenommen : »A select collection of
English Songs with their original airs. By the late Joseph Bitson.
Vol. III. pag. 184«. Es wäre so unmöglich nicht, daß sie vielleicht
heute noch hie und da in England vorkommt.
Wir schließen diese Betrachtungen mit dem Liede Nr. 102
fS. 154) »Bruder! willstu meinen Rath«. Es steht mit gleichem
Texte in folgendem Werke : »Georg Heinrich Webern Sing- und Spiel-
Arien, Das ist: zur Ehren-Lust etc. Anreitzenden Lieder Erster
Theil Auff gantz neue und anmuthige Melodeyen zu singen und zu
spielen unterleget von Herrn Johann Friedrich Zubern der Singe-
Kunst berühmten Liebhabern in Lübeck. Anno 1665.a
Von dem hier angefahrten Komponisten Zuber ist weiter nichts
bekannt, als daß er imi die Mitte des 17. Jahrhunderts als Stadt-
musikus und Violinist zu Lübeck lebte und daselbst 1649 einen
ersten Theil Paduanen, Gaillarden etc. von fünf Stimmen ver-
öffentlichte, während der 2. Teil 1659 zu Frankfurt] a. M. er-
schien. Die in dem Weber'schen Werke enthaltenen Melodien dieses
Musikers zeichnen sich durch frischen Ausdruck und Kürze der
Form vortheilhaft aus. Auch das von Clodius aufgenommene Lied
ist mit einer hübschen, nicht ganz unoriginellen Melodie ausgestattet.
Wir finden es bei Georg H. Weber im 1. Theil auf pag. 28, unter
Nr. 21.
Im Großen und Ganzen sind hiermit diejenigen Melodien unseres
Liederbuches, die als gedruckt vor seinem Entstehen nachzuweisen
waren, erschöpft. Abgesehen von den bisher nicht besprochenen
Volksmelodien ist natürlich noch eine ganze Reihe anderer vor-
handen, die sicher auch ihren Ursprung haben in ähnlichen Lieder-
sammlungen, wie die besprochenen. Leider war aber über dieselben
gar nichts zu erfahren, und wir müssen uns demnach mit den ge-
wonnenen Ergebnissen zufrieden stellen. Immerhin erhalten wir
durch diese eine Übersicht darüber, aus welcher Art von ge-
druckten Quellen die damaligen Studenten die Melodien zu ihren
Liedertexten nahmen. In der Hauptsache müssen wir unserem
Clodius, ganz abgesehen von den trefflichen Beispielen aus Adam
Krieger's, Heinrich Albert's Werken etc , einen guten Geschmack
41*
518 Wilhelm Niessen,
nachrühmen, der ihn ganz besonders beföhigte, das spezifisch für die
Studenten Passende gut und geschickt auszuwählen. Wir werden
sehen, daß ihm das noch besser bei der Wahl von Yolksmelodien
gelungen ist. Ehe wir uns aber diesen näher zuwenden, mögen kurz
noch einige Melodien Erwähnung finden, die, weil sie weder in
gedruckten Arien- noch in ebensolchen Gedichtsammlungen jener
Zeit nachzuweisen sind, besser getrennt von den übrigen behandelt
werden.
Zwei derselben sind enthalten in dem oben gelegentlich der
Textbesprechung genannten handschriftlichen Liederbuche von 1649,
aus welchem bekanntlich Ditfurth in seinen »Volks- und Gesellschafta-
liedem« eine ganze Reihe von Texten mit Melodien wiedergegeben
hat. Die eine besteht aus zwei, durch verschiedene Taktart streng
von einander getrennten Theilen; sie hat die Form des Vortanzes
und der zugehörigen Proportio. Wir finden sie bei Clodius unter
Nr. 27 (S. 32) »Ey Fairfax schäme dich«S hei Ditfurth unter
Nr. 77. Während nun Ditfurth die Weise ofienbar genau so wieder-
giebt, wie er sie in jener Handschrift gefunden hat, sind in der
Fassung bei Clodius wesentliche Unterschiede eingetreten. Wir
bemerken eine Veränderung der Tonart, Zusammenziehung von Takten,
harmonische und rhythmische Abweichungen. Gewiß ist die Art
und Weise, wie die Melodie in unserem Liederbuche gebildet ist,
bedeutend interessanter und enei^scher, als in jener Handschiift
von 1649. Bei dem zweiten sowohl hier, als auch bei Clodius be-
findlichen Liede »Mars läBt izt zur Tafel blasen« ^ ist an letzterem
Orte die zugehörige Melodie noch ungleich wirksamer und origineller.
Namentlich ist der zweite Theil von einem derben Humor und
einer wilden Ausgelassenheit erfüllt, gegen welche die entsprechende
Stelle der anderen Form bedeutend abfallt. Leider können wir bei
diesem Beispiel ebensowenig, wie bei den vorhergehenden etwas
genaueres über den eigentlichen Ursprung angeben. So geht es uns
auch bei zwei anderen Melodien. Wir sind aber bei ihnen insofern
besser daran, als wir sie noch lange nach der Entstehungszeit unserer
Handschrift nachweisen können.
Der Melodie No. 67 begegnen wir in einem etwa 20 Jahre später
erschienenen Buche in einer ganz eigenthümlichen Gestalt wieder.
Der Titel des Buches lautet: »Musicalischer Leuthe Spiegel Das ist:
1 Vgl. Beilage X.
5« Vgl. Beilage XI.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 619
Ein Extract auß dem Welt-berühmten Ertz-Schelmen Judas Tractat,
welcher Spiegel sich vor Ehrlichen Leuten darff sehen, und mit
I. Tenor-Sing-Stimmen nebenst 2 Violinen , doppelten General-Baß
(auch 2. Violen, so ad placitum) hören laßen. Gesetzt und
herausgegeben von einem Deutschen Spaniol in Griechenland, wie
auch Gedruckt daselbst im Jahr 1687.« Das Buch besteht aus 14
Musikstücken, 12 davon sind mit Text, 2 bloße Instrumental-
sachen.
Die Texte sind dadurch entstanden, daß einzelne Gedanken aus
Abrahams a Santa Clara »Judas der Erzschelm« (1. Band, Salzbui^
1686) weiter ausgesponnen und in Verse gebracht worden sind. Die
Art und Weise, wie dies geschieht, kann keine besonders glückliche
genannt werden. Sowohl inhaltlich sind die Texte dürftig, als auch
formell die Verse steif und ungelenk, ganz abgesehen von den ge-
schmacklosen und bombastischen Wortbildungen. Weder über den
Verfasser der Texte, noch über den der dazugehörigen Melodien er-
halten wir näheren Aufschluß. Es ist schwer zu erkennen, wer mit
dem deutschen Spaniol aus Griechenland gemeint ist. Auch das am
Anfang stehende Widmungsgedicht, dessen Empfanger noch dazu mit
umgestellter Buchstabenordnung des Namens genannt wird, giebt kei-
nen Anhaltspunkt. Der Herausgeber des Ganzen, sowohl des Textes,
als auch der Musik, wird aber dieselbe Person gewesen sein. Es
war sicher ein Musiker, dem dieses gewiß schrfell und allgemein ver-
breitete Werk Abrahams a Santa Clara wohl geeignet schien, der
Gegenstand einer musikalischen Darstellung zu werden, die — so
war zu hoffen — ebenso schnell ein lebhaftes und reges Interesse
hervorrufen würde. Von der Art und dem Werth der in dem Buche
enthaltenen Musikstücke erlangen wir am besten ein anschauliches
Bild, wenn wir sogleich auf die aus unserer Handschrift daselbst
benutzte Melodie eingehen. Sie gehört zu dem Liede »Ein schönes
Bild Liegt wie Diana mild« und ist in dem »Musikalischen Spiegel«
zu dem 4. Stück verarbeitet worden. »Von der meisten Weiber täg-
lichen Verrichtung, und Küchen- Gedancken, oder Hauß-Muffty,«
heißt es im Index. Das Ganze ist weiter nichts, als eine ermüdende,
witz-und sinnlose Schilderung der Weiber, denen in der Hauptsache
allerlei Schlechtes, nur wenig Gutes nachgesagt wird. Bemerkens-
werth ist, daß die Anfangsworte genau mit denen des Clodius' sehen
Textes übereinstimmen, während allerdings die Fortsetzung vollständig
anders ausgefallen ist. Ganz eigenartig ist nun die hier angewandte
musikalische Gestaltung. Zuerst, bevor überhaupt der Gesang beginnt,
ertönt ein »Polnischer Tanz« (für 2 Violinen, 2 Violen und Baß), der
mit der eigentlichen Gesangsmelodie nichts gemein hat. Dann folgt
520 WiDielm IHesflen,
diese selbst, ungefähr gleichlautend mit der Fassung des Clodius.
Im Anschluß daran erscheint sie abermals, aber so, daß sämmtliche
Melodiegänge in umgekehrter Stufenfolge gebracht werden. Nachdem
darauf der Tanz wiederholt ist, kommt von neuem die ursprüngliche
Gestalt der Melodie mit nur geringen Abweichungen. Die Ebupt-
Melodie tritt von da an nicht mehr in ihrer ganzen Ausdehnung auf,
sie erscheint nur bruchstückweise, bald bloß bis zur Mitte gehend,
bald erst mit dem Mitteltheil beginnend. Dabei finden jetzt bedeu-
tend mehr Abweichungen von der ursprünglichen Tonfolge statt.
Dazwischen ist dann noch einmal ein Instrumentalstück (Sarabande)
gelegt, während am Schlüsse des Ganzen die Singstimme sich mit
den Instrumentalstimmen vereinigt, und sowohl durch Taktwechsel,
als auch durch melodische Neuerungen ein ganz vrirksames Finale
erzielt vnrd. Wir könnten bei diesem absonderlichen Tongebilde an
die um die Wende des 16/17. Jahrhunderts so häufig erscheinenden
Quodlibets erinnert werden. Dieselben unterscheiden sich aber we-
sentlich dadurch, daß sie immer aus mehreren Melodien zusammen-
gesetzt sind. Am besten kennzeichnen vnr die vorliegende Form als
eine Vermischung von dürftiger variationenartiger und roher thema-
tischer Arbeit. Übrigens ist die zu Grunde liegende Melodie an sich
unbedeutend und nur insofern werthvoll, als sie uns einen Einblick in
eine neue Art musikalischer Gestaltung der damaligen Zeit gewährt.
Eine ungleich höhere Bedeutung hat die Melodie des Liedes
No. 63 »Sie schlafet schon, Die andere Dion.ai Wir können sie aller-
dings in keiner anderen der damaligen Sammlungen nachweisen;
sie muß aber gern gesungen worden sein, denn vnr sehen sie ein
paar Mal als Weise für andere Texte angegeben. Zunächst ist sie
in dem bekannten »Hans Gucka als Ton zu dem 46. Liede: »Mein
Abend-Stern, Bestrahle weit und fema angeführt. Dann wird sie in
einer Sammlung aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts für ein
geistliches Gedicht vorgeschrieben und zwar auf S. 425 in: »An-
muthiger Blumen Ejrantz aus dem Garten der Gemeinde Gottes . . .
Ans Licht gegeben Im Jahr 1712.v Der betreffende Text beginnt:
»Mein Bräutigam! Du wahres Gotteslamm It Es ist beachtenswerth,
daß zwischen diesem und dem Clodius'schen Texte eine gewisse Ähn-
lichkeit besteht, indem dort das Verlangen nach dem Seelen-Bräu-
tigam, hier die Sehnsucht nach der Geliebten laut wird. Beides wird
durch die von einer sentimentalen Stimmung durchdrungene Me-
lodie trefflich ausgedrückt. Sie ist aber in ebenso glücklicher
Weise zu einem empfindsamen Abendliede gesetzt worden, zwar
1 Vgl. Beilage XII.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. g21
nicht in jener früheren Zeit, sondern in der Mitte unseres Jahrhun-
derts. So steht sie zunächst unter No. 10 in folgendem Büchlein
abgedruckt : »336 Melodien des Choralbuches für katholische Kirchen
von Hermann Ignaz Knievel. Zum Schulgebrauche in Notenziffern
übertragen. Paderborn, 1843.«^ In ziemlich gleicher Fassung und zu
demselben Texte haben wir die Melodie als No. 106 auf S. 131 in:
»Peter Stein, Lieder und Gesänge zunächst für katholische Gesellen-
y ereine. Düsseldorf 1853.a Endlich ist sie noch 2 Jahre später an-
zutreffen und zwar unter No. 3 auf S. 21 in »Melodien zum Geist-
lichen Palmgärtlein, Redigirt von Theodor WoUersheim, Pastor zu
Jülichen. Köln und NeuB. 1855.v Diese 3 neuen Gestaltungen der
einen Melodie weisen nur ganz geringe Abweichungen unter einander
auf, und es genügt daher, die in der Beilage mitgetheilte mit der
Clodius'schen zu vergleichen. Sehen wir von der sehr verschiedenen
rhythmischen FaBung ab, so werden wir bemerken, daß nur am
Anfang und am Schluß eine melodische Ungleichheit vorliegt. Aber
selbst Anfang und Schluß sind nicht so sehr abweichend gestaltet.
Bei Clodius haben wir genaii, wie in dem jetzigen Abendliede, zu-
nächst ein Aufsteigen durch die fünf ersten Stufen der Tonleiter,
darauf ein sofortiges Zurückgehen bis zur Terz. Letzteres fallt aller-
dings in der modernen Fassung weg, ist aber auch unwesentlich, da
die Quinte hier die Hauptbedeutung hat. Am Schluß ist beiden
Melodien der abwärtsgehende Sekundenschritt gemeinsam, und nur
der bei Clodius etwas reicher ausgestattete vorletzte Takt in dem
Abendliede vereinfacht. Aber auf Grund der rhythmischen Ver-
schiedenheit erhält jede Melodie gewissermaßen ihr eigenes Kolorit.
Die Fassung bei Clodius wirkt mit ihren leichten, beweglichen Ach-
teln und den oft angewandten punktirten Noten ungemein zierlich und
schmeichelnd. Sie hat, so zu sagen, ein weltliches Gepräge gegenüber
dem durch die gehaltenen und ununterbrochen fortlaufenden halben
Noten herbeigeführten ruhigen und gemessenen Verlauf des geist-
lichen Abendlied^. Es fragt sich, welcher Rhythmus der ursprüng-
liche war. Man sollte zunächst meinen, der ruhigere sei das An-
fangliche. Aber gerade dieses Clodius'sche Lied »Sie schiäffet
schon« wird oft als Ton für andere genannt^ und so ist doch wohl
seine Fassung die ältere. Warum sollten auch nicht in derselben
Weise, wie weltliche Melodien früherer Jahrhunderte im 17. Jahr-
hundert zu Chorälen umgewandelt wurden, weltliche Melodien dieses
Jahrhunderts im 18. und 19. Jahrhundert zu geistlichen Liedern
verwendet worden sein!
1 Vgl. Beilage XU 1.
ß22 Wilhelm Niessen,
c. Melodien^ die ausschließlich Volksmelodien sind.
Wir wenden uns nunmehr denjenigen Liedern zu, deren Melodien
unbedingt als Volksweisen zu bezeichnen sind. Zuerst kommen solche
in Betracht, die mit den von Clodius dazu gesetzten Texten ander-
weitig nachzuweisen sind. Im Anschluß daran ist auf diejenigen
einzugehen, denen bei Clodius neue Texte untergelegt sind. Endlich
soUen die in Instrumentalkompositionen verwertheten Weisen vorge-
führt werden.
Wir beginnen mit der ersten Nummer des Liederbuches: »Es
fuhr ein Bauer ins Holz.« Schon bei der literarischen Würdigung
wurde auf das hohe Alter dieses Textes aufmerksam gemacht und
dabei auf die zweifache Gestaltung desselben hingewiesen. Ebenso
giebt es nun 2 verschiedene Arten von Melodien dazu, die eine zu
dem Texte, wie er auch bei Clodius vorliegt, die andere zu dem
Kinderliede: »Es fuhr ein Bauer ins Kürbisholz.a F. M. Böhme hat
im »Altdeutschen Liederbuche« auf S. 587/589 von der ersten Form
die verschiedenen Phasen der Entwicklung angegeben; danach geht
sie bis in das 15. Jahrhundert zurück. Die letzte Gestaltung der
Melodie, die Böhme mittheilt, stammt aus dem Jahre 1611 und findet
sich in Melchior Francks Fasciculus Quodlibeticus, Cobui^ 1611,
No. 2. Die bei Clodius aufgezeichnete ist dieser sehr ähnlich: sie
ist aber noch etwas weiter ausgeführt und wohl später anzusetzen,
als alle die von Böhme mitgetheilten. Immerhin aber ist der eigent-
liche, alte melodische Kern auch in dieser Fassung deutlich zu er-
kennen, wir haben demnach in der ersten Nummer unserer Hand-
Schrift in der That eine sehr alte Volksweise vor uns. Über ein
Vorkommen derselben im 18. Jahrhundert oder noch später konnte
ich nichts ermitteln. Dagegen seien noch zwei, wohl unbekannte
• Quellen aus früherer Zeit angegeben. Zunächst eine Liedersammlung
aus dem 16. Jahrhundert: »Newe Teutsche Geistliche und Weltliche
Liedlein mit viem, fünff, sechs, siben und acht stimmen etc. durch
Christianum HoUandum. München 1570.« Daselbst steht als No. 19
das Lied: »Es fuer ein bawer ins Holtz.« Von dieser Sammlung
sind nur der Altus und Tenor noch vorhanden^ so daß man über die
Melodie nichts recht Bestimmtes sagen kann. Aus der Gestaltung
der beiden anderen Stimmen ist aber zu schließen, daß dieselbe auch
aus dem gleichen Ursprünge, wie die übrigen hervorgegangen ist;
nur ist sie viel weiter ausgesponnen und ganz kontrapunktisch be-
1 Auf d. Kgl. Bibl. zu Berlin.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. ß23
handelt. Eine andere Fassung läßt sich aus dem Jahre 1611 nach-
weisen^ nämlich in M. Ambrosius Metzgers »Venusbliimleint, erster
Theil Nürnberg No. IV (»Es fuhr ein Wirth ins Häv, Bat die Frow
den Kellner «1. Die hier nur noch vorhandene Tenorstimme ^ be-
rechtigt zu der Annahme, daß die eigentliche Melodie wohl der üb-
lichen ähnlich gewesen ist.
Wir kommen zu einem Liede (No. 4 S. 4): »Hey Mutter der Finck
ist todt«,^ von dem allerdings ältere Quellen nicht anzugeben sind;
dagegen befinden wir uns in der angenehmen Lage, das häufige Vor-
kommen desselben in der Gegenwart zu erweisen. Die in der Beilage
mitgetheilte Faßung aus neuerer Zeit zeigt deutlich denselben Ur-
sprung, wie diejenige bei Clodius. ^ Besonders beachtenswerth er-
scheint hierfür die fast gleiche Gestaltung der so charakteristischen
Anfitngsphrase , die in ihrer heutigen Form etwas von der urwüch-
sigen Kraft ihrer Faßung bei Clodius verloren hat. Noch mehr tritt
eine solche Schwächung im Ausdruck bei einer anderen Lesart der-
selben Melodie ein, die Erk nach mündlicher Überlieferung in seinem
Nachlaß (Bd. 41. S. 39) mittheilt. Hier wird das knappe und kräf-
tige Anfangsmotiv zu doppelter Länge auseinandergezogen und dann
nicht mit gleicher Tonfolge, sondern mit wesentlichen Änderungen
wiederholt. Vor allem muß aber noch hervorgehoben werden, daß
diese Melodie bei Clodius als Thema zu einem dreistimmigen Canon
benutzt wird und infolgedeßen von einer Wiederholung des An-
fEuigsmotivs, die in den modernen Fassungen am Schluße stets ein-
tritt, abgesehen ist. Der Canon selbst ist nicht ausgeführt; dagegen
wird der Einsatz der folgenden Stimmen, der regelmiJbßig nach je
vier Vierteln erfolgt, durch das Zeichen » »z* « angedeutet. Zu dem
Ganzen ist ein in seiner starren Gleichförmigkeit sehr humoristisch
wirkender Basso ostinato gesetzt.
Genau nach demselben Prinzip gebildet ist ein anderes, ebenfalls
canonisch gehaltenes und auch noch heute vorkommendes Lied,
No. 26 (S. 30.) »Drey Gänß in Haber Stroh.«^ Die bei Clodius dazu
gesetzte Melodie ist in der Gegenwart nicht nachzuweisen, während
der gleiche Text unzählige Male angetroffen wird. Die heute zu
demselben gesungenen Melodien (die alle einen gleichen Ursprung
haben) weichen ganz und gar von der unsrigen ab.^
1 Ebenda.
2 Vgl. Beilage XHI.
a Vgl. Beilage XIII 1.
< Vgl. BeUage XIV.
s Eine dieser Melodien ist in der Beilage XIV 1 mitgetheilt.
524 Wilhelm Niessen,
XJbrigens ist wenigstens der Anfang des Textes bereits im
16. Jahrhundert nachweislich in Musik gesetzt worden, in »Bartho-
lomäus' Kriegers Spiel von den bäurischen Richtern und dem Lands-
knecht.« 1580. (Neu herausgegeben von Johannes Bolte, Leipzig
18S4.) In diesem Stück werden in der 5. Scene des 5. Aktes die
beiden ungerechten Kichter durch Satan abgeführt, und dazu wird
auf dessen Befehl ein Teufelsgesang angestimmt. Derselbe beginnt
mit den Worten : »/« duro Jubilo Nu singet und seid fro« und ist (wie
Bolte bemerkt) eine Parodie des alten lateinisch-deutschen Weihnachts-
liedes: nln dulci iubilo.a Die uns hier speziell interessirende 2. Strophe
hat folgenden Wortlaut:
))/n duro Jubilo
Drey Genss im Haberstro
Die Hünner Eyr und Fladen
Vorate ff audio,
Für fett heisch Fewr wir laden,
X. Z. F. G. et O.
Frest, saufit und seid nur froa.
Die Musik dazu ist nach Boltes Annahme wohl von dem Trebbiner
Organisten Bartholomäus Krüger selbst angefertigt und in ihrem Satze
(vierstimmig für Sopran, Alt, Tenor, Baß) nicht gerade sehr kunst-
gerecht gerathen.
Einen Canon haben wir femer in No. 22 (S. 24) »Heythumb
Fiedelmanns Locken.« Derselbe geht, wie die anderen, in Fdur und
ist als dreistimmig bezeichnet. Besonders zu erwähnen ist, daß die
Melodie nuf aus Tönen des Fdur Dreiklangs besteht, und fernerhin
dem Ganzen als Bassus Continuus der Ton F zu Grunde liegt. Das
letztere wird durch folgende Bemerkung angedeutet: »Bassistae F
ffrummiuntv Eine derartige Angabe kennzeichnet das Liederbuch des
Clodius. Aus der Studentenschaft allein konnte ein solcher Humor
im Wort-Ausdruck hervoi^ehen. Man begnügte sich aber bei An-
wendung solcher Wörter nicht mit einem einzigen. Das beweist uns
das kurz zuvor besprochene Beispiel »Drey Gans etc.a, woselbst eben
dieses Aushalten des tiefen F wieder anders angedeutet wird, nämlich
durch: nBassistae F murmurantd Ein weiteres Merkmal dieser Melo-
die liegt auch in ihrem entschiedenen Einsatz auf der Quinte C,
wodurch das auQauchzende »Heye besonders lebhaft [markirt wird,
ähnlich wie bei »Hey Mutter der Fink ist todt.«r
Von derselben Lebhaftigkeit ist das gleichfalls canonartig ge-
haltene Lied No. 34 (S. 46) »Hanso, haste nich meine Gritha gesehn ?c^
1 Vgl. Beilage XV.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. g25
Mit eilender Hast wird diese so »gewichtigecr Frage musikalisch vor-
getragen« Die Antwort: »Dorte sah sie stehn,(t erfolgt, indem die
dazugehörige, aus 4 aufwärts eilenden Achteln und einer aufhalten-
den halben Note bestehende Tonfolge 4 Mal hinter einander ertönt,
und daran sich eine ebenfalls 4 Mal gebrachte, plötzlich aus 2 tiefen
BaBtönen gebildete Tonphrase zu dem Worte »Hanso« anschlieBt.
Außer den genannten Kinderliedem ist nun noch eine ganze
Beihe anderer vorhanden, die aber nur die von Kindern gesungenen
Melodien geben, während die zugehörigen Texte durchaus studen-
tischen Charakter tragen.
Beginnen wir mit einem gleichfalls canonisch gebildeten Liede,
No. 15 (S. 20.) »Hey kade wiede wade.^c Dasselbe ist insofern ver-
schieden von den anderen Canons gestaltet, als außer der das Thema
eines fünfstimmigen Satzes bildenden Melodie und dem hier in Noten
ausgeführten, aber immer nur F angebenden Baß noch eine zweite
selbstständig und sehr interessant gebildete Stimme neben der Ober-
stimme einher geht. Über die Ausfuhrung des eigentlichen Canons
haben wir hier einmal eine direkte Bemerkung des Clodius: liJn
unisono out octava inter repetendum pausae priores omittuntur.v Die
hier vorliegende Melodie scheint in Zusammenhang mit einem unserer
beliebtesten Wiegenlieder zu stehen, mit: »Eia, popeia, was raschelt
im Stroh.« Wie wir von diesem Texte die denkbar verschiedenar-
tigsten Varianten besitzen, so können wir auch von der zugehörigen
Weise alle nur möglichen Formationen anführen. In der Beilage
ist die der unsrigen ähnlichste wiedergegeben.^ Es kommen für
einen Vei^leich nur die ersten 8 Takte (bis zum Zeichen 0.-) in
Frage, da der folgende zweite Theil bei Clodius nicht vorhanden ist.
Derselbe ist als ein später hinzugekommener Zusatz anzusehen und
fehlt übrigens bei den meisten anderen Melodiegestaltungen zu »Eia
popeia V. Zunächst sind die je ersten 3 Takte beider Melodien völlig
gleich, dagegen fehlt in der heutigen Gestaltung im 4. Takt der so
charakteristische Sprung von der Sexte zur Terz. Dafür lauten dann
die je fünften Takte wieder gleich, während andererseits der Schluß
beide Male verschieden gebildet ist. Jedoch ist wohl das unbe&ie-
digende Ende auf der Quinte in der Melodie bei Clodius absichtlich
zu Gunsten der canonischen Weiterführung angewandt worden.
Daher ist anzunehmen, daß ursprünglich ein gleicher Schluß, wie in
der von Erk mitgetheilten Weise vorgelegen hat. Die Übereinstimmung
der je 3 ersten Takte ist sicherlich keine zufällige« Ich weise vor
1 Vgl. BeiUge XVI.
2 Vgl. Beüage XVI. 1 .
626 Wilhelm Niessen,
allem auf den QuinteDsprung vom 2. zum 3. Takte und auf die sich
daran eng anschließende, kräftig hervortretende Sexte hin. Eine
derartige melodische Wendung kann man wohl nicht als eine rein
Conventionelle bezeichnen.- Wir können somit die interessante That-
sache feststellen, daB Melodien, die in der Gegenwart fast aus-
schließlich aus dem Munde der Kinder ertönen, vor mehr denn 200
Jahren dazu dienten, die frohe Laune und den kecken Ubermuth
fröhlicher Zecher zu erregen und zu steigern.
Zur weiteren Bestätigung des eben gesagten möge ein anderes
Beispiel herangezogen werden, in No. 61 (S. 88) »Also spricht die
Welt«i und No. 82 (S. 120) »Hopgen, hop, hop, he.«» Die Melo-
dien dieser beiden Lieder sind, abgesehen von ganz geringen Unter-
schiede, übereinstimmend.
Wir finden nun diese Melodie noch heute mit einer großen
Anzahl von Varianten im Volksmunde lebend vor. Aus keiner an-
deren Melodie dürfte eine so große Masse von Neubildimgen hervor-
gegangen sein. Ein einigermaßen vollständiges Bild gewähren die
Erkschen Sammelbände. Er bringt meistens den allbekannten Text:
»Schlaf Kindchen schlaf« oder plattdeutsch: »Schloap Kinneken,
schloap.« Aber auch eine ganze Reihe anderer Texte sind dieser
Weise untergelegt; ich habe etwa 40 völlig verschiedene gesählt
Die gebräuchlichsten sind noch: »Zieh, Schimmel, zieh,« »Maikäfer
flieg, <c » Ba , Lämmchen , ba^ «r » Ringel , ringel , reihdi, « » Tanz,
Püppchen, tanz,« »Ru ru rineken,« u. s. f.
Allen diesen Texten ist gemeinsam, daß sie am Anfang und am
Schlüsse eine im Wordaut übereinstimmende, metrisch immer gleiche
Versreihe haben, zwischen die dann zwei etwas längere, sich reimende
Zeilen gelegt sind. Dem entsprechend ist nun die Melodie gebildet
Sie geht meist im ^4 Takt und zeigt am Anfang und am Schluß eine
gleichlautende, zweitaktige Phrase, die am Anfang wiederholt ist.
Diese bildet fast überall (so auch bei Clodius) einen von der Ten
stufenweise nach dem Grundtone sich bewegenden Gang. Zwischen
diesen beiden Eckpfeilern liegt als Mitteltheil eine viertaktige Periode,
die bei den einzelnen Melodien die verschiedenartigsten Bildungen
aufweist. Bei Clodius sind in diesem Mitteltheil Takt 1 + 2 gleich
Takt 3 + 4. In der Beilage sind die bezeichnendsten Gestaltungen
der Melodie mitgetheilt. ^ In Nr. l ist der Mitteltheil so gebildet,
daß die 4 Takte desselben unter einander verschieden sind, jedoch
1 Vgl. Beilage XVn.
2 Vgl. Beilage XVÜI.
3 Vgl. Beilage zu XVII und XVIH. Nr. 1 — Nr. 11.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 627
SO, daß melodisch sich Takt 1 + 2 und 3 + 4, harmonisch sich Takt
1 und 4, Takt 2 und 3 entsprechen. Gerade diese Form ist eine
sehr gebräuchliche. Außerdem bemerken wir eine vorübergehende,
bei Clodius fehlende kleine Verbindung zwischen dem Anfangsmotiv
und der Wiederholung. Bei Nr. 2 tritt diese Verbindung in Gestalt
der Quinte viel bestimmter hervor. Der Mitteltheil ist daselbst im
Prinmp ganz wie bei Nr. 1 gestaltet, nur ist in Takt 6 und 8 neu
ein scharf markierter Sekundenschritt je am Anfang des Taktes. Ge-
rade hierin liegt ein entschiedener Gegensatz zu der Melodiefassung
bei Clodius. Bei diesem wird gleich von dem Schluß-C des fünften
Taktes in das B gegangen, während hier das C noch einmal recht
energisch angestimmt wird. In der folgenden Nr. 3 wird zunächst
die Anfangsphrase nicht einfach wiederholt, sondern eine Terz höher
gelegt, dem entsprechend ist der formell den bisherigen gleiche Mittel-
theil ebenfalls erhöht. Nr. 4 zeigt in der Mittelperiode eine Art Ver-
mischung zwischen den entsprechenden Theilen von Nr. t und Nr. 2.
Als wesentliche Aenderung tritt hier eine Erscheinung hinzu, die uns
in der Mehrzahl der folgenden Beispiele begegnen wird. Aehnlich
dem Vorgang in Nr. 2 wird eine Verbindung zwischen dem Anfang
und dessen Wiederholung hergestellt und zwar, wie dort, durch die
Quinte, aber durch die unterhalb des Grundtones liegende Quinte
der Tonart. Nr. 5 zeichnet sich vor allem durch eine reichere Rhyth-
mik aus. In Nr. 6 wird die Aehnlickkeit mit der Clodius'schen
Fassung dadurch verstärkt, daß Takt 1, resp. Takt 3 des Mitteltheila
ganz gleichlautend den dort entsprechenden Takten sind. Im Gegen-
satz dazu sind bei der folgenden Nr. 7 der 2., resp. 4. Takt aus der
Mitte den entsprechenden bei Clodius gleich. Nr. 8 bietet wieder
eine neue Erscheinung. Vergleichen wir nämlich diese mit Nr. 82
der Handschrift, so sehen wir, daß in der modernen Fassung einfach
eine Umstellung der Mitteltakte vorgenommen ist, namentlich in
harmonischer Hinsicht. In zweifacher Beziehung interessant ist Nr. 9.
Einmal sehen wir hier zum ersten Male eine andere Taktart, den
«/g Takt, angewandt, und femer sind hier nicht nur Takt 5 + 6 = 7 + 8,
sondern dieselben sind alle unter einander gleich. Außerdem be-
stehen sie nur aus den Tönen des F-Dur Dreiklangs mit flüchtiger
Einschiebung der Sexte D. In Nr. 10 haben wir die größte Ueber-
einstimmung mit dem Mitteltheil von Nr. 82 der Handschrift; nur
die 2. Note im 5., resp. 7. Takte lautet verschieden. Dagegen weicht
das hier angewandte Anfangsmotiv von allen bisherigen Fassungen
bedeutend ab. Diese Melodie setzt nicht, wie gewöhnlich mit der
Terz ein, sondern mit der Quinte und springt gleich mit zwei leichten
Sechzehnteln schnell über die Terz hinweg in den Grundton. In
ß28 Wilhelm Niessen,
Nr. 11 endlich begegnen wir einer abweichenden Gestaltung des
Mitteltheils: der Tonumfang wird hier auf eine Oktave ausgedehnt,
während er sonst meist geringer ist, gewöhnlich nur das Intervall
der Quinte umfasst. Uebrigens ist bei diesem Liede auch der SchluB
nicht gleichlautend dem Anfang, und dabei vor allem die nur hier
vorkommende Beendigung mit der Terz bemerkenswerth.
Diese wenigen Proben mögen genügen, um uns eine Vorstellung
davon zu geben, wie das Volk an einer Volksweise arbeitet, wie es
nach jeweiligem Belieben Aenderungen der verschiedensten Art mit
einer solchen vornimmt. Wir können eine vollständige Geschichte
der Entwicklung der vorliegenden Melodie nicht geben, da Beispiele
aus dem 18. Jahrhundert gänzlich fehlen. Dagegen können aus dem
17. Jahrhundert noch einige Belege beigebracht werden.
Melchior Franck giebt eine Bearbeitung der Weise in seinem:
»Newen Teutschen Musikalischen Fröhlichen Convivium. Coburg.
1621, Nr. 34, 8 vocum.« Das Ganze ist eine Komposition für 2 Chöre,
die streckenweise nach einander und dann wieder zusammen singen
zu dem Texte: »Zeuch Fahle zeuch« etc. Der Anfang hat zunächst
mit der bewussten Melodie nur den Rhythmus gemeinsam. Zu den
Worten »Morgen wolFn wir Haber dreschn« ertönt dann eine dem üb-
lichen Mitteltheile ähnlich klingende Tonphrase, bis schließlich auf
die Wiederholung von »Zeuch Fahle zeuch« das bekannte Anfangs-
motiv fällt. Dieses singt aber vorerst nur der 2. Chor, während der
1. einen eigenen Melodiegang bildet; 8 Takte später aber wird es
von beiden Chören »unisono« vorgetragen. In abwechselnder Reihen-
folge werden nun diese verschiedenen Melodietheile mehrfach vorge-
bracht, und auf die Weise ein ganz interessantes, nicht übel klingen-
des Tonstück geschaffen.
Anfang und Schluß dieser Melodie waren als sichere Grundstützen
derselben fest und unerschütterlich bestimmt, während in dem weniger
festgefügten Mitteltheile der Phantasie ein weiterer Spielraum gelassen
wurde. Das Vorkommen dieser Melodie bei Franck beweist, daß
sie sicher schon aus dem 16. Jahrhundert stammt.
Ein anderer nicht weniger berühmter Liedmeister jener Zeit,
Daniel Friderici, benutzte ebenfalls dieselbe Melodie. Zeugniß davon
giebt uns eine noch vorhandene Alt -Stimme zu folgendem Werke
»Newe Avisen oder Lustiges und gantz kurtzweiliges Musikalisches
Quodlibet etc. Rostock 1635.«^ Ein Fragment daraus lautet:
^Hr r r r I '^^ttTTjrrr-m c k r\" n
Zeuch f ah -le zeuch Mor-gen vilP wy Ha- ver treschen Zeuch fah-le leuch.
1 Auf d. Kgl. Bibl. zu Berlin.
Das Liederbach des Leipziger Studenten Clodius.
629
Danach muß die Oberstimme unserer Melodie sehr ähnlich ge-
wesen sein. Vielleicht war sie wie folgt gestaltet, (wobei für die
beiden ersten Takte nur zweistimmiger Gesang angenommen wird):
E^
^
u
E
f r r I ^'-tT-rT
t
^
Am Ende dieser Betrachtungen möge eine Melodie aufgezeichnet
werden, die ebenfalls am Anfang, aber auch am Schluß anders, als
gewöhnlich lautet und wiederum in ihren Mitteltakten ganz ähnlich
gebaut ist, wie bei Clodius. Beachtenswerth ist dabei, daß hier das
Anfangsmotiv nicht mit der Terz, sondern (wie in dem Beispiele Nr. 10
der Beilage) mit der Quinte einsetzt und gewissermaßen mit seinem
beweglichen Rhythmus eine Variation jenes bekannten, in sich fest
abgeschlossenen, Tonganges bildet. Hier ist die Melodie selbst:
O^r. i^D gj* f> jiij;|f ^ '^C.r Pl^Jf ^ g g g-g
') ^ C P p f. 0 M ^
£
o:r ^f^t en^^^
Ich habe dieselbe in einem handschriftlichen Liederbuche aus
dem 17. Jahrhundert (Ms. Germ, octav 230, Kgl. Bibl. Berl.) auf
pag. 213 mit einem schwer zu lesenden plattdeutschen Texte gefunden.
Bei genauer Betrachtung des Anfangs (resp. des Schlusses) be-
merken wir nun, daß derselbe (mit geringen Ausnahmen) genau so
gestaltet ist, wie derjenige der in der Beilage mitgetheilten, heute ge-
sungenen Melodie zu »Drey Gans im Haberstroh«. Wir haben also
hier ein Beispiel vor uns, in welchem die Elemente zweier sehr
beliebter Volksweisen mit einander verwoben sind, und ersehen daraus,
in einem wie nahen verwandtschaftlichen VerhältniB diese kleinen
Tonf^bilde unter sich stehen. Wir nehmen damit Abschied von
dieser so weit verbreiteten und weitverzweigten Melodie und gehen
zu einer nicht viel weniger bekannten und beliebten Weise über.
Dieselbe ist zu 2 Texten der Handschrift benutzt worden, näm-
lich zu Nr. 50 (S. 68) »Es ging ein Mönch ins Oberland a^ und zu
1 Vgl. Beilage XIX.
530 Wilhelm Niessen,
Nr. 62 (S. 90) »Der Sperling ist ein Wunderding«.* Wir erhalten
aber damit nicht 2 völlig übereinstimmende Melodien, da die je zweiten
Theile gänzlich verschieden sind. Insofern aber die gemeinschaft^
liehen ersten Hälften charakteristische Tonfolgen aufweisen, müssen
wir sie als aus einer Quelle hervorgegangen betrachten. Das wird
uns umsomehr einleuchten, wenn wir die Bildungen, die diese Melodie
allmählich, namentlich in unserem Jahrhundert, angenommen hat, ins
Auge fassen. Wir werden da stets den ersten Theil (abgesehen von
unwesentlichen Aenderungen) so antreffen, wie er uns bei Clodius ent-
gegen tritt, während der zweite Theil (ähnlich dem Mitteltheil der
vorigen Weise) die mannigfaltigsten Umwandlungen aufiveist. Auch
zu dieser Melodie sind alle nur möglichen Texte vorhanden. Die
wichtigsten sind in der Beilage mit den hervortretendsten melodischen
Gestaltungen wiedergegeben.^
An die Spitze dieser Beispiele ist das unter Nr. 1 aufgezeichnete
Lied deshalb gestellt, weil es nur aus jenem, allen folgenden zumeist
gemeinsamem Anfangstheil besteht und somit gewissermaßen die Grund-
form repräsentirt. Es unterscheidet sich wesentlich dadurch von der
Fassung bei Clodius, daß sowohl der Auftakt, als auch der erste
Theil des folgenden Taktes nicht mit dem Grundton, sondern
mit der Quinte anheben. Dasselbe bemerken wir auch bei Nr. 2,
jedoch wird hier nur auf dem Auftakt die Quinte gebracht, während
die folgende Note mit der entsprechenden bei Clodius übereinstimmt.
Uebrigens sind in dieser Weise fast alle Anfänge der folgenden Bei-
spiele gebildet. Bei Nr. 2 interessiert uns außerdem die Bildung
des 4 Takte zählenden zweiten TheUs. Dieser ist einfach dadurch
entstanden, daß Anfang und Schluß eines anderen Liedes vereinigt hier
angehängt sind. Jenes Lied ist aber unser bekanntes »Drey Gans in
Haberstroh«, dessen Anfangs- und Schlußmotiv wir schon einmal an einer
zweiten Stelle benutzt sahen. Unsere bei der Gelegenheit von der
Verwandtschaft der Volkslieder aufgestellte Behauptung erföhrt also
durch den gegenwärtigen Fall eine erhöhte Bekräftigung. Anderer-
seits aber ersehen wir daraus, wie wenig sicher der zweite Theil der
uns augenblicklich beschäftigenden Melodie festgestellt war, wenn
derselbe mit solcher Leichtigkeit durch Einführung fremder Melodie-
glieder gebildet werden konnte. Höchst monoton und steif ist dieser
zweite Theil in Nr. 3 ausgefallen. Auch bemerken wir im ersten
Theile erhebliche Abweichungen von den gewöhnlichen Gestaltungen.
Zunächst ist hervorzuheben, daß die Melodie, die mit Beginn des 2.
1 Vgl. Beilage XX.
2 Vgl. Beilage zu XIX und XX. Nr. 1—13.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. g31
Taktes (den Auftakt abgerechnet) sonst sofort abwärts geht, hier auf
dem Grundton liegen bleibt und somit mit dem nächsten Ton das
Intervall der Terz bildet. Im 3. und 4. Takt trittt aber eine noch
größere Unterbrechung der gewöhnlich stufenweisen MelodiebUdung
ein, indem daselbst nicht , wie sonst , allmählich in die Oktave des
Grundtons hineingeleitet wird. Diese wird vielmehr sofort mit einem
Quartensprung nach oben genommen, und dann der frei gewordene
Rest der betreffenden 2 Takte einfach durch die einzelnen Töne des
Grunddreiklangs ausgefüllt. In Nr. 4 ist eine Aenderung des An-
fangstheils durch kleine anmuthige melodische Biegungen der stufen-
weisen Tonfolge herbeigeführt worden. Der zweite Theil ist wieder
ganz anders gebildet, verhältnissmäßig weit ausgedehnt und rhythmisch
sehr bewegt. Zu diesem Beispiel bildet gewissermaßen Nr. 5 einen
Gegensatz, insofern hier im ersten Theile die dort bemerkten melo-
dischen Biegungen in der Gegenbewegung erfolgen. Andererseits ist
Nr. 5 selbst wieder der folgenden Nr. 6 gegenüberzustellen, und
zwar hinsichtlich des Schlußtheils. Derselbe zeigt in jenem Falle die
denkbar einfachste Gestalt, in diesem ist er so kompliciert, vne sonst
nirgends ausgefallen. Nr. 7 bringt uns den Anfangstheil in der üb-
lichen Gestalt, aber aufgelöst in schnell auf einander folgende Achtel.
Um so wirksamer tritt dann die zweite Hälfte mit ihren auf-
haltenden halben Noten hervor. Nr. 8 unterscheidet sich dadurch
von den übrigen Beispielen, daß die erste Hälfte des ersten Theils,
die immer zweitaktig ist, hier in einen Takt zusammengezogen ist,
der dann wiederholt wird. Im Gegensatz hierzu tritt bei Nr. 9 eine
Aenderung der zweiten Hälfte des Anfangstheils hervor. Während näm-
lich in fast allen anderen Fällen die Melodie sich an dieser Stelle
nach oben wendet, ist sie zunächst hier nach unten gerichtet und
geht erst in dem letzten Takte in die Höhe. Allen diesen Beispielen
war gemeinsam die gerade Taktart, sei es nun ^4 oder ^/4 Takt.
Wir kommen jetzt zu 2 Nummern (Nr. 10 und 11), die den Ys Takt
aufweisen. Im übrigen aber bieten sie uns in ihrem melodischen
Verlauf diejenige Form, die wohl jetzt die bekannteste und beliebteste
der vorliegenden Melodie ist. Dies gilt vor allem für den zweiten
Theil, der heute allgemein die hier verwendete Tonfolge aufweist,
aber ganz anders gestaltet ist, wie der entsprechende der Clodius*schen
Fassungen. Mehr aber noch, als die beiden Beispiele 10 und 11
sind die beiden letzten, Nr. 12 und 13, als maßgebend für die
heutige Bildung der Melodie anzusehen, da sie vneder die originale
Taktart, nämlich die gerade (2/4 Takt) aufweisen. Sie bieten uns ge-
wissermaßen das Endergebniß aller der Gestaltungen, welche diese
Melodie durchmachen konnte und schließen daher gut die gegebenen
lb9i. 42
632
Wflhelm Niessen,
Beispiele ab. Absichtlich ist das Lied »Ich nehm mein Gläslein in
die Hand« an das Ende gesetzt, weil es ein bekanntlich heute gern
und viel gesungenes, ausschließliches Studentenlied ist. Wir sehen
daraus , daß jene Melodie zu Nr. 50 und 62 unserer Handschrift
nicht nur, wie alle die mitgetheilten Formationen derselben beweisen,
allgemein noch in der Gegenwart gesungen wird, sondern ganz be-
sonders auch unter der heutigen Studentenschaft (wenigstens in ihrem
ersten Theile) sehr bekannt und beliebt ist.^
Es sind übrigens aus dem 17. Jahrhundert noch 2 Beispiele für
diese Melodie anzufahren. Dieselben entnehmen wir aus dem oben
eingehend besprochenen »Musikalischen Leuthe Spiegele Das erste,
weniger markante finden wir daselbst im 6. Stück (»Ach höret neue
Wunder u. s. f.) zu den Worten »Denn vorhin hatt ich alles gnug,
braf Geld und andre Mittel«. Wichtiger erscheint das zweite Bei-
spiel, da es eine weit größere Ähnlichkeit mit jener Weise hat.
Daher möge es auch hier aufgezeichnet werden. Es steht in dem
Spiegel im 10. Stück (»Es fliegen deß Abends die Vögel zur Ruhe.)
[ii3<r, h r M
r-i^' ^' r-gi^
t
I
Zum £ - sei hö - ret wird ein Mann der sei -nem schwängern Weib
U
1 1 g- t^Jh=^j p i'Tyt t' ^ n
im Hau-se al - les holt und trägt da -mit sie nur ver- bleib bey
IIa p' g C C |=|_g_gL-C
?c
M^
3^
sol-cher Bür- de un - er-zömt und sich ein - mal - len bück be - sor - gend
^ p p L^^S-j: p f, ^^
daß durch ein Ge-schäft sie ihr et - was ver - rück.
Der erste Theil dieser Melodie ist den anderen angeführten und
den entsprechenden bei Clodius ziemlich gleich. Der zweite Theil
geht allerdings seine eigenen Wege, ist aber in der Hauptsache dpch
im Charakter der übrigen gehalten.
Mit dieser so weit verzweigten Melodie ist aber das in unserer
Handschrift enthaltene Material allgemein bekannter Volksweisen
1 Es wäre hier nachzutragen, daß die Melodie bekanntlich auch zu dem
Texte »Auf unsrer Wiese gehet was« gesungen wird.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. 633
keineswegs erschöpft. Betrachten wir die gleichlautende Melodie zu
Nr. 5 (S. 6) »Dort da die Rose wüchse«* und zu Nr. 17 (S. 22)
lieh ging auf einer Wiesen«. Dieselbe ist identisch mit der noch
heutigen Tages viel gesungenen Weise zu dem Wilhelm MüUerschen
Studentenliede : »Im Krug zum grünen Kranze« und gehört ursprüng-
lich zu dem Volksliede : »Ich stand auf hohem Berge«. Einige in der
Beilage mitgetheilte Beispiele mögen dies bestätigen. 2. Die Unter-
schiede sind im großen und ganzen nicht sehr erheblich. Sie be-
ziehen sich in der Hauptsache auf den Übergang vom 3. zum 4. Takt.
Bei Nr. 2, 3 und 4 ist die Überleitung nach der Dominant-Tonart
scharf durch Erhöhung des Leitetons ausgedrückt. Bei Nr. 1 und
5 ist diese Erhöhung unterblieben. Wenn wir nun bedenken, daß
Nr. 3 (nach der Angabe Kretzschmers) aus dem 17. Jahrhundert
stammt, und daß femer auch die bei Clodius wiedergegebene Melodie
eine solche Erhöhung aufweist, so müssen wir wohl diese Gestaltung
für die ursprüngliche halten. Dieselbe wird sich allmählich abge-
schliffen haben und zu der jetzigen weicheren Form übergegangen sein.
Eine Sonderstellung nimmt unter den 5 Nummern die vierte ein.
Alle übrigen springen im 2. Takte zur Oktave, während hieran der
betreffenden Stelle nur die Sexte leicht gestreift wird. Auch die
Melodie bei Clodius geht daselbst nicht bis zur Oktave, sondern nur
bis zur Quinte. Vergleichen wir dieselbe näher mit den in der Bei-
lage notierten Beispielen, so ergiebt sich, daß sie eigentlich nur das
Gerippe mit diesen gemein hat. Dabei fallen . vor allem zwei be-
sonders charakteristische übereinstimmende Momente ins Gewicht:
Erstens der scharf hervortretende Sekundenschritt sowohl im 2. als
im 6. Takte mit Hauptaccent auf der 1. Note und zweitens die gleiche
harmonische Grundlage. Dagegen ist ein durchaus anders gestalteter
Rhythmus vorhanden, und vor allem verleiht die Ausschmückung
durch die reizenden Sechzehntel-Figuren dem Ganzen einen neuen,
anmuthigen Charakter. Ohne Zweifel ist die bei Clodius vorliegende
Fassung die hübscheste von allen.
Es fragt sich nun, ob diese Weise noch weiter über die Zeit
unserer Handschrift zurückreicht. Jedenfalls ist der ursprüngliche
Te^t (»Ich stand auf hohem Bergea) sehr alt und rührt mindestens
aus dem 15. Jahrhundert her. Aber auch die zu demselben gesungene
Melodie wird bereits im Jahre 1543 in dem Antwerpener Liederbuch
als Ton zu einem geistlichen Liede (Nr. 86] genannt. Ob das nun
unsere Melodie ist, erscheint deshalb fraglich, weil es noch mehrere
4 Vgl. BeUage XXI.
2 Vgl. BeÜage zu XXI. Nr. 1-5.
42*
g34 Wilhelm Niessen,
andere zu demselben Texte giebt, von denen namentlich eine^ wohl
ein hohes Alter haben kann. Im 17. Jahrhundert war jedoch die
hier in Frage kommende allbekannt. Das beweist außer unserer
Handschrift jenes oben unter Nr. 3 gegebene Beispiel von 1631.
Femer aber ist gerade die bei Clodius zu Nr. 1 7 (»Ich ging auf einer
Wiesentt) gesetzte Fassung oft als Ton zu anderen Texten angegeben
worden. Die nöthige Auskunft darüber giebt uns die schon oft ge-
nannte: »Gesechste Tugend- und Laster-Rose« von Constans Holdlieb.
Dort finden wir bei nicht weniger als 5 Gedichten die Bemerkung:
»nach der Weise, Ich gieng auf einer Wiesen«.
Wir können endlich noch eine Weise der Handschrift nennen,
hinter der sich vermuthlich ein heute ebenfalls viel gesungenes Lied
verbirgt. Wir meinen Nr. 3 (S. 4) mit dem Texte: nPtUchnie
virgwiculaea u. s. f. Sollte diese Melodie nicht in Zusammenhang
stehen mit dem allbekannten Liede: »Wenn ich ein Vöglein wärt?
Einmal ist die Taktzahl die gleiche, dann die Gruppierung zu je
6 Takten gemeinsam, femer der Rhythmus derselbe, und schließlich
sind die je ersten 4 Takte melodisch ganz gleichlautend. Damit
haben wir allerdings die übereinstimmenden Züge erschöpft. Wir
können jetzt aber ein geistliches Lied anführen, dessen Melodie so
zu sagen die Vermittlerin zwischen beiden abgeben kann^ da sie mit
jeder derselben gemeinsame Züge hat. In der Beilage sind alle 3
zusammengestellt.^ Der Hauptunterschied, der zwischen der ersten
(Clodius'schen) und zweiten (geistlichen) Melodie liegt, bezieht sich
auf die Takte 5 und 6, woselbst Nr. 1 eine eigenartige, aber für
jene Zeit charakteristische Cadenz auf D macht, während Nr. 2
daselbst einfach mit der Haupttonart schließt. Dagegen zeigt sich
eine auffallende Übereinstimmung in dem je 2. Theile, die nur
dadurch etwas aufgehoben wird, daß Nr. 2 stets die melodische Um-
kehrung des in Nr. 1 Gesagten bringt. Die Schlußtakte sind so
ziemlich gleich lautend. Nr. 2 und Nr. 3 stehen im Gegensatz
dazu in denselben Takten 7 — 10 gewissermaßen in dem Verhältnis
der harmonischen Umkehrung. Außerdem sind Takt 1 — 4 und die
Schlußtakte überhaupt ganz und gar gleichlautend. Wir sehen also
in der That in der 2. Melodie die bezeichnendsten Züge der beiden
anderen vereinigt und können also wohl mit Recht für die Melodie
zu nPulchrae virgunculae^ bei Clodius und für die bekannte Volks-
weise zu »Wenn ich ein Vöglein war« einen gemeinsamen Ursprung
annehmen. —
* S. L. Erk, Liederhort, Nr. 18a.
a Vgl. Beilage XXII. Nr. 1—3.
Das Liederbuch des Leipiiger Studenten Clodius. 635
Wir kommen zum letzten Punkte der Betrachtungen, zu solchen
Melodien, die sich in gleichzeitigen Instrumentalstücken nachweisen
lassen. Dazu gehört die Melodie des Liedes Nr. 19 »More Palatino« J
Wir begegnen derselben einmal in 2 Violinstücken und femer in
einem Lautenstück aus jener Zeit. Die erstgenannten sind in einer
Breslauer Handschrift zu finden. ^ Dieselbe (1 Band gr. fol.) enthalt
mit Ausnahme von Nr. 5 Violinstücke (53 — 64 und 70 — 74 für Viola
bastarda) und gehört in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die
uns angehenden Stücke sind Nr. 51 und Nr. 53 (letzteres also für
Viola bastarda.) Das erste derselben (überschrieben: More Palatino.
Cum Variatione) bringt 3 Variationen über unsere Melodie. Diese
verschwindet zwar oft unter den reichen Sechzehntel-Figuren, kommt
aber ab und zu immer wieder ziemlich deutlich zum Vorschein.
Das 2. Stück hält sich dagegen nur sehr wenig an das Haupt-Thema
und verläuft in viel freierer Weise, abwechselnd zwischen Achtel-
und Sechzehntel-Figuren. Übrigens lautet der Anfang im 1. Beispiel
anders als bei Clodius und zwar ist er so gebüdet, wie der Anfang
einer anderen Melodie unserer Handschrift, zu dem Liede Nr. 34
»Wer sich will begeben mitten auf die wilde See«.^ Li dem ge-
nannten Violinstück sind also 2 Melodien unseres Liederbuches ver-
schmolzen, indem von der einen vornehmlich die zweite Hälfte, von
der anderen nur die erste Hälfte verarbeitet werden.
Das oben citierte Lautenstück ist ebenfalls in einer Handschrift
des 17. Jahrhunderts aufgezeichnet. Die Handschrift befindet '<sich
unter der Signatur: »Msc. Dresd. M. 297« zu Dresden und weistauf
ihrem Deckel die Jahreszahl 1603 auf. Sie ist aber nicht allein in
diesem Jahre hergestellt, sondern scheint, wie aus dem Inhalt her-
vorgeht, in einem größeren, folgenden Zeiträume entstanden zu sein.
Sie enthält auf 204 Seiten (von denen die ersten fehlen] eine große
Anzahl weltlicher Liedertexte, die denen unserer Handschrift sehr
ähnlich sind. Einige dieser Lieder sind mit Melodien in Mensural-
notenschrift versehen. Meistentheils ist aber die französische Lauten-
tabulatur angewandt, überhaupt sind außer den Liedern sehr viel
selbstständige Lautenstücke hier vorhanden. Das nach unserer Me-
lodie gemachte Stück befindet sich auf pag. 132/133 mit der Über-
schrift: vMore Palatino«.^ Hier ist, gegenüber den genannten Violin-
1 Vgl. Beüage XXIH.
2 Vgl. Die musikalischen Handschriften des 16. und 17. Jahrhunderts in der
Stadtbibliothek zu Breslau. Ein Beitrag zur Geschichte der Musik im 16. und
17. Jahrh. von Emil Bohn. Breslau. Hainauer 1890. pag. 122/123. Nr. 114.
3 Vgl. Beilage XXIV.
* Vgl. Beüage XXHI 1 .
g36 Wilhelm Niessen,
stücken, der Verlauf der Melodie viel deutlicher zu erkennen, da
reich figurierte Variationen wie dort nicht vorkommen und nur zur
Ausschmückung des Ganzen leicht bewegte Achtel benutzt sind.
Auch hier ist der Anfang anders gestaltet, als bei Clodius, nämlich
genau so, wie in dem Violinstücke und in dem bereits citierten Liede
»Wer sich will begeben«. Diese Fassung des Anfangs scheint dem-
nach für das Lied »More Palatino« die allgemeine beliebte gewesen
zu sein.
Einen weiteren Beleg für diese Annahme giebt uns eine Schul-
komödie des Rektors Andreas Stechau (1653 — 1671 in Arnstadt
thätig]. In derselben ist auf Blatt 43a ein vierstimmiges Chorlied
zu dem Texte »More Palatino« gesetzt.^ Die daselbst angewandte
Melodie weicht gleichfalls in ihrem Anfang von der Grestaltung bei
Clodius ab, stimmt aber in ihrem zweiten Theile mit dieser überein.
Andererseits treffen wir aber genau dieselbe Melodiebildung, wie in
Nr. 19, also mit gleichem Anfang, noch an einer anderen Stelle
unseres Liedeibuches wieder: durch Sechzehntel und punktierte
Noten ausgeschmückt und mit einer neu hinzugefügten Mittelstimme
versehen steht sie bei dem Liede Nr. 80 (S. 118) »Ist das nicht
ein Hahnröh«.2
Zum Schluß die Bemerkung, daß der zweite Theil jener Melodie
zu »Wer sich will begeben« seinerseits in einem anderen Stücke
unseres Liederbuches in fast gänzlich übereinstimmender Weise zu
finden ist, nämlich in dem aus Voigtländers Oden entnommenen
Liede Nr. 86 »Eine reiche Magd hat Matz«.^ Es wurde darauf bereits
aufmerksam gemacht und dabei hervorgehoben, daß die zu Grunde
liegende Melodie Nr. 14 aus dem Volke stammt. Ihre an dieser
Stelle nachgewiesene Verwandtschaft mit der volksmäßigen Weise
»More Palatino« bestätigt das vollkommen.
Um die Frage nach dem Werth des im Liederbuche des Clodius
vorliegenden musikalischen Materials zu beantworten, seien die bisher
gewonnenen Ergebnisse einfach zusammengestellt.
Zunächst konnte eine ganze Reihe vortrefflicher Beispiele vorge-
führt werden, deren Verfasser als hochbedeutende Meister des 17. Jahr-
^ Ich verdanke diese Mittheilung Herrn Dr. Job. Bolte. Derselbe hat sich
diese Komödie aus dem Amst&dter Gymnasialarchiv schicken lassen und möchte
sie (sie hat keinen Titel und keine Jahreszahl) »Der wahre und der falsche Barba-
rossa von Kyburgff nennen.
1 Vgl. Beilage XXV.
3 Vgl. Beilage XXVI.
Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. g37
hunderte einen großen und wohlverdienten Ruf genießen. Diesen
schlössen sich in fast ehenbürtiger Weise solche Melodien an, die
zwar weniger namhafte Komponisten zu Urhebern haben, aber durch
Frische und Lebendigkeit des Ausdrucks, wie durch Anmuth und
Wohllaut der Tonführung sich vortheilhaft auszeichnen. Gerade sie
konnten als besonders geeignet für StudentenUeder bezeichnet werden.
Wir beobachteten auch, daß sie in dem Liederbuche des Clodius oft
vortheilhafte und wirksame Änderungen erfahren haben, und die Stu-
denten sie gewißermaßen als ihr rechtmäßiges Eigenthum betrachteten.
Fast noch mehr aber gilt dies von den an dritter Stelle angefahrten
Volksweisen der Handschrift. So wie wir den hier anzutreffenden
Volksliedertexten (resp. Kinderliedem) den größten Werth beilegen
mußten, haben wir auch die in dem Liederbuche enthaltenen Volks-
melodien als besonders schätzbar zu bezeichnen. Gerade ihr häufiges
Vorkommen beweist, daß selbst die Studenten der damaligen Zeit,
trotzdem bei ihnen das Wohlgefallen und die Lust am Gemeinen
und Frivolen vorherrschten, doch die gesunde und kräftige Kost
der Volksmusik willkommen hießen.
Unser Liederbudi ist gewißermaßen ein Brennpunkt, in welchem
sich die Strahlen zweier entgegengesetzter Richtungen treffen. Die
vor ihm sich vollziehende Entwickelung findet hier einen ent-
sprechenden Abschluß, während das Studentenlied der Folgezeit sich
in seinen Anfängen zeigt.
Äußerlich sehen wir dies dadurch bestätigt, daß in das Buch
(allerdings nur ganz vereinzelt) Studentenmelodien der Vorzeit auf-
genommen sind, während andererseits einige der in ihm enthaltenen
Melodien noch jetzt unter der Studentenschaft gesungen werden.
Innerlich aber tritt es zu Tage in der ganzen Art und Weise
der hier bemerkbaren musikalischen Gestaltung. Die Handschrift
steht ungefähr in der Mitte der Übei^angs-Bewegung und zeigt
deutlich, wie damals noch das Alte dicht neben dem Neuen anzu-
treffen war, wie aber doch in der Hauptsache das letztere schon die
Oberhand gewonnen hatte.
Während die alten Studentenmelodien ziemlich ausgedehnt und
formell wenig abgerundet waren, finden wir bei Clodius nur einige
der Art. Die meisten sind von geringem Umfange und weisen eine
nur kleine und knappe, wohlgefügte Form auf; was in gleichem, ja
höherem Maße von den heutigen Liedern zu sagen ist.
Der Rhythmus der studentischen Gesänge aus früherer Zeit war
komplicirt und schwerfällig; in unserem Liederbuche begegnen wir
einem solchen nur selten. Vielmehr zeichnen sich die daselbst auf-
638
Wilhelm Niessen.
gezeichneten Tonstücke durch leicht verständliche und bewegliche,
wohl abgemessene und bestimmte Rhythmisirung aus.
Genau in dem gleichen Verhältniß zur Vor- und Nachzeit steht
die speziell melodische ] Bildung der Weisen bei Clodius. Sie sind
nicht mehr streng diatonisch gehalten und zeigen ein weit geför-
dertes Anwenden der Chromatik ; diese wird aber natürlich noch nicht
in so ausgiebiger Weise benutzt, wie wir es später antreffen.
80 ist es denn auch mit der in dem Liederbuche bemerkbaren
harmonischen Gestaltung. Die alten Tonarten sind noch nicht ganz
verschwunden, im allgemeinen ist aber das moderne Dur und Moll
deutlich ausgeprägt. Namentlich ist auch das für die neuere Musik
so wichtige Verhältniß der Haupttonart zur Tonart der Oberdominante
schon kräftig ausgebildet.
Die Handschrift giebt in der That ein anschauliches Bild von
jenem Umwandlungsproceß, der sich damals in der gesammten musi-
kalischen Gestaltungsweise vollzog. Sie verdient daher für die Ge-
schichte des deutschen Liedes im 17. Jahrhundert eine aufmerksame
Beachtung.
Verzeichnis der Lieder.^
(Alphabetisch geordnet.)
Abscheulich bistu schätz ....
Ach hl. Andreas erbarme dich .
Adoranda das ist Fein
Also spricht die weit
Amanda darf man dich wohl . .
Bruder wilstu meinen Rath. . .
Clorinde will nicht mehr. . . .
Cupido Deus pertinax
Baß dich du schwartzer Dieb .
Das wolcken Dach war mit . .
Der Sperling ist ein Wunderding
^la rov &avfiäCstv
Die Dellmane kriegt einen. . .
Die lieblichen Blicke der schönen
s.
Kr.
72
52
74
53
122
84
88
61
47
35
154
102
128
87
8
8
122
83
136
91
90
62
22
18
146
97
67
49
Dorette meiner Seelen Seele
Doris hat sich lassen . . .
Dort da die Rose wüchse .
Dort drobn auf jenem Berge
Drei Gänß in Haber Stroh.
Du schöne Margaris du . .
Eilt ihr lieben Wäscher Mädgen
Eine reiche Magd hat Matz . .
Ein schönes Bild liegt wie Diana
Eisenbeißer lianzenbrecher . . .
Es ging ein Mönch ins Oberland
Es ging ein Schäfer unter bäumen
Es fuhr ein Bauer ins Holtz . .
Es saßn einmal 9 Muhmen. . .
Ey Fairfaz schäme dich ....
s.
138
159
6
64
30
110
66
128
98
12
68
30
1
8
32
Kr.
93
105
5
46
26
76
4S
S6
67
10
50
25
1
7
27
1 Die Zahlen in der ersten Rubrik geben die Seiten der Handachiift an, die
in der 2. Rubrik die von mir hinzugefügten Nummern.
Das Liederbuch de« Leipziger Studenten Clodius.
639
FHia visne habere rusticum. . .
Flora deine Zier
Fraget nicht warumb ich klag .
Freyet ihr Menschen, d. Frühling
F.i
Gesteh es nur mein Kind . . .
Gibt uns Gott wein
Gleich als hättest du still . . .
Haibertheil von meinem Hertzen
Hanso hastu nich meine . .
Hey Kade wiede wade . . .
Hey lustig mein Sinn . . .
Hey Mutter der Finck ist .
Heythumb Fiedelmanns . .
Hopgen, hop, hop, hei . .
Ich frage nichts darnach . .
Ich fragte Dorinden ....
Ich ging auf einer wiesen .
Ich weiß ein Mädgen . . .
Ihr Auen, Bach und Büsche
Ihr Mädgen gute Nacht . .
Ihr Najaden in den Pfützen
Ihr sagt ich könne nicht . .
Im Meyen ist überall lustig
Ist das nicht ein Hahnröh .
Kein größer Narr ist weit u. breit
Laeti sodales trinckt
Last uns nur lustig seyn ....
Legere last sich ofFters grüßen .
Liebchen ach! ich bin verliebt .
Liebgen ich habe kaum länger .
Liliana schönstes Liebgen . . .
Lustig ich habe die liebste . . .
Lustig lieben Domini
Mars last itz zur Tafel blasen .
Mein Liebgen darf ich
Mein setzt euch ihr lustigen . .
Mein weib hat gute Tage . . .
Mickgen ist denn da dein H.. .
Mir ist keine süße Lust . . . .
s.
2
28
12
100
6
95
132
US
134
46
20
99
4
24
120
105
52
22
141
21
80
78
152
102
118
58
80
36
144
60
77
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104
64
26
62
112
22
37
48
Nr.
2
24
11
69
6
65
89
99
90
34
15
68
4
22
82
72
39
17
94
16
56
55
101
70
80
43
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28
96
44
54
74
69
47
23
4n
I t
20
29
37
More Palatino bibimus
Muß ich denn seyn darumb . .
Niedliches Kindgen
Nun bin ich vergnüget
Nymphe laß doch meine Pein .
0 Rosidore, edele Flore ....
0 1 sind wir nicht schier ins Dorff
Pertransivit cUrieus ....
Philomene meine Schöne . .
Phyllis und Amyntas waren
Pulchrae virgunculae ....
Baps, rapsahe rastrum mein
Kegingen mein Hüngen . .
Schönheit muß ich lieben .
Schönste wo hastu die Augen .
Schweiget mir von frauen nehmen
Sey frölich bald ehlich
Sie schiäffet schon
Sisyfus Gebirg erreichen ....
So hastu liebes Kind
So ist es denn, daß sie ....
Soll denn schönste Doris ich . .
Solt ich Amapde mein . , • . .
Studiosus fuerat .•••••..
Tugend reich mein selbst eigener
Verdammte Lust
s.
22
130
119
136
106
166
162
86
124
82
4
96
84
50
14
35
54
91
150
Nr.
19
88
81
92
73
109
107
60
85
57
3
66
58
38
12
30
41
63
100
931 64
Was geht mich Doris an. . . .
Was hab ich von dir gelesen. .
Weil wir noch der schönen Zeit.
Wenn Dictynna lacht herunter .
Wenn gleich jener heyde kähme
Wer ist doch wohl so seelig . .
Wer sich mit mir in dieser Welt
Wer sich will begeben
Wohlan es muß doch seyn . • .
Wohlan sa! sa! wohlan ....
Wohl dem der sich nur läßt . .
Wohl der die mehr Studenten .
Wo weidest du komm schöne .
Zwey Mädgen auf einmahl . . . |
158
41
108
lOi
164
146
70
44
142
24
48
56
53
18
156
116
16
43
114
160
104
31
74
9
104
98
51
33
95
21
36
42
40
14
103
79
13
32
78
106
^ Textanfang nicht wiederzugeben.
1891.
43
640
Notenbeispiele
zu dem Liederbuche des Clodius vom Jahre 1668.
Bei Clodius pag. 47. N9 SR. *
her ich werd es wohl am be . sten wissen das war die Antwort un ^ge . fähr
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* Die Taktstriche sind von mir hinaugesetzt. Dieselben fehlen meistens bei Clodias.
Nur ab und zu sind einzelne Phrasen abg'egrenzt.
641
pag. 11». N9 77.
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* Seit 1680 aach als Choralmelodie („Sias ist Ifotli'O-
642
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V.
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Phil.lis und A . my^n.tas waren an demkühlen
Bei.de schön und jnnffTon Jahren, in der Liebe so entbrannt,
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das8 er endJieh all . zuJeeck such . te sei.nen Lie .bes . zweck.
b. 5 6.6 AS
j pag. 150. N? 100.
VI.
1 Si . sy. fus Ge.birg erzreichen Tantals We .ger-Tranek erstehn
i auf demSchlangenRadterUeiehen tausend Martern Tor sichseSln,
j r pir'Trri'T'pr ^v^ i\
ist A . mors grimme Dienst.bahrJieit die Ket . te der be.jung.ten
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Zeit achdass ich in frühlings Jahren muss solchen Zvrang er. f ah. .ren.
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SLsyfus etc.etc.
Grandstimme
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643
pag. 78. N9 55.
füg. 80. N9 S6.
VIII.
( Dir Mädffen ffu . te Naeht die ilur in Leip.zifc seid
( Uir Mädgen gu
(Und manchen dienstbahr macht durch eture Freundlich, keit.
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macht mir zu ge . rin . ger Freu.de ihr Mäd.gen gu . te nacht.
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pag. 64. N9 47.
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Lu.stig lie.ben Do-mi . ni, lu.stig omnes Po. pu.li,
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quicquid allhier? Ec.ce frisch Bier, bi.beüre lanubeLre sehadcts auch schier
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^ Di*r T^xt Ifif fi«»kr ohsrnn iinil 4iihi*r nlrM wii'4««rs(igt'liMi.
644
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wenn sich ei.ner ex.^r . eirt und den an. dem wohl Te.xiit.
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IXI
rtL!f nrfrf.r \i r r rr
(Touth'sthe season made for jojs, Loveis then our du . tj
\ She aJonewho that employs Well deserres her beaa.ty.
Lei'» be gtLj While we maj^XBeauty's a flower des . pis'd in deeay
pag. 8». N9 Z7.
X.
Ey Fairfax schäme dich, du bist mein Un.ter.than greif deinen
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Kö . nig nicht mit soLcher Bossheit an kenst du den Himmel nicht der
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Recht, und schla.ge den Kd.nig nnd Kö . nigs.ge . schlecht.
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645
pag. *9. N? M.
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XI.
Mars last itit tnr Ta.fel blasen der berühnute Waf .fenheld
> Er hat in den grünen Rasen ein gemein Panjq[aet bestellt
B^^ I ^ififtfrf iiffffoui^m
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pom tM.ra . tan ta.ra . paff puff ta.ra . tanjta.ra puff paff.
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pag. 91. N9 68.
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* Dir Znhirn i^rben die Stufen in der Tonleiter an.
647
pag. 4. N9 4.
XIII.
a 8. ^®y Mut.ter der Finck ist todt, hätt l
,\' 7"p p ^ "J^r ' '^ r pTp
Tres personae In unisono. Bassus säum tempuster canit.
Duude Finken. *
4^ r' i\ i' m
Mlindlich aus Cöln a.Rh«in.
(se
Moo - der, de Fin . cken sin duud.
fres . se kei Orüm . mel . ehe Bruua!
ün hAttSB doo d& Fin.ken so fres-se ge.gerjreydann wS.ren de FinJien am
XIV.
Ley.Te ge.bleT.Te.
pag. 80. N9 ee.
Moo.der^ de Fin-ken sin duud.
l Z
a 6. DrejrGanss in Ha.ber Stroh, die sassn und wahren froh
■4— *
kahmderFachsge. gangen mit einerlangen Stangen al - lo al.lo al . lo.
^"^' ^'ij,\jhH\im
Drei Oans im Ha.ber.strohdie sas^nund wa.ren froh
jh-p-^-f
kam der Fuchs ge . gan . gen mit seLner langen
. gen imd
sprach al . so, drei Oans im Ha.ber.stroh,drei Oäns im Ha.ber - stroh.
* Entnommen aus der„If«uen Sammlung deutscher Volktilieder mit ihren eigenfliiim-
lic*ht?n Melodien. Herausgegeben von Ludwig Erk. Berlin l84l.''NV 86.
** Von L. Erk mifgetheilt indem 7***° seiner Sammelbünde auf pag. 158. Er bemerkt
dazu, dass er diese Melodie im Jahre 1840 mündlich ans dem Oderbrache, erkalten
hat.
648
XV.
pag. 46. N? 84. -2
a 8. Han - so ha . tte nich mei . ne Ori . tha ge . sehn?
l^|^|^|y^Bf J |j^|y| w^
Dorte sah sie stehn
. pag. »0. N? U(
Hanjio.
XVI.
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le nie.ae fi . de wieLde wits.
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^! |,'»^p;]ijjjif^^
Ei.a po . pei.a etc.
fi' ii'ii||ii i| iii| |iriJjiir|iflijJiJji j I
xvn.
AI . 80 spricht die weit, hie et haee ein o.fen.ga.bel
irr r r ur -ip
g^
nach der ta. sehen rieht
I r r r ^ i f p r^ p
en rieht den schna.bel hie et haee et
Ä.
3E
i
^^
hoc.
* Von Erk in seinen Sunmelkänden miigetkeilt.
649
pag. l«0. N9 8«.
XVIII.
Hop . gen nojp hop
Ler . cnen Mad . ffen
he
gen steh
geh gas . sa . ten
i
Beispiele zu XYII und XVIII.
Sämmtlich aus Erk's Sammelbänden entnommen.
Ln&wig Erk: Bd. m. S. 93.
N?l.
Aas y. HaxthausenH Liederbach. 1839.
r.«: DQ. lii. ö. 93. Aas v. HaxthausenH Lie«!
-^'il > I ]:--}> I ^> ^ > ^
S
Zi^ Schimmel sieh, in Dreokhis an die Knie,
m
Mor . gen wolTn wir Ha . her dre. sehen, dann sollst du die
^ J) J) J, I J ^g^^H^^H-
Hül.sen fres.sen, sieh Schimmel etc.
L.E. m. 93.
N?2. in J J^-J>i j f B \Iii>iiii
Zieh Schimmel sieh a.8.i.
Mandlich aas Schwedt. 1889.
^ pppp
L.E. III. 93.
AuH dem Liegnitz*-Haynaa^8chcn. 1889.
Z. Seh, s. in Dreckhis an die Knie.
L.E. m. 408.
Z. Seh. s.
N94. ^H J J) J)| J ^ J
Schloap Kindtken sdiloap iLS.f.
-iij »jij'pi^
#^-ftT^H4>
650
L. E. III. Zft9.
MGndlich aus Prenzlow.
N9 6. ^►a J j) ji \ j ^
Ba, Lämmchen ba! Die VÖg.lein flie.gen in den
^^ J ^ J; I J' > J) J> J) I i* i) > > Ji I
Wald, Sie flie.gen im Wald bald auf und nie. der und
j) «biJ H
bringen dem KindJein die ' Ruh wohl wieder, Ba, Lämmehen, ba!
US d. Oderbruch. 1840.
N9e.
Sujse Bubiken su.se u.s.f.
L.E.VIL68.
N?7.-j,l>g J >>J-M J J)^
Sehloap Kinne Jien schloap u.s.f.
L.E.VILsa.
N?8. ^►g J j) j) \j f
Aas der Grafschaft Ravenberg (Westfalen). 1840.
Schloap K. u.8.f.
4^ i>i'tii<
i>ii\f J)J'|J J>j>|j 1 1
L.E. m. 408.
Aus Treptow a.d.Tollense in Yorpommern. 1846.
N9 9.
Schl.m. kl. Kindchen etc.
L. £. Y. 6S.
N? 10. ^H p
Mündlich ans Schwi*dt.
Schloap, KinjieJien schloap
iloap u.s.f. '
j)j)j)p ip J)j ir J>>j)ij I II
L.E.VI. «4.
651
Neustadt H.d. Dosse. 1842.
N? 11.
Bä lämme-ken bä dät Lämmekengingin Schnee etc.
p 1JJ> p I p J^J^js I j) J^J) p I p J) J^^ I p i->>^^ J; Uli
XIX
pag. «8. N? 60.
Es ging ein Mönch ins O.berland na na nu mit
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pag. 90. N? 6;^.
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Der Sperling ist ein Wanderding eto. *
Beispiele zu XIX und XX.
L. E. IX. 196.
Es kömmt ein Herr aus Ni.ni.yeh hei..8aTi.va la . tus.
L.E. IV. 76. Zerbst. 1840.
N? 2.
P P P P Ifs
Qei . ne Oans ire . stoh . ]
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Wer mir mei . ne Oans ge . stoh . len hat, der
Ist ein Dieb. Wer sie mir a.ber
^-r I n R rt * 1^
wie . der bringt^n hab ieh
lieb. Da steht aer Ofin.se . dieb, da
^ Der T<'xt ist nicht gut wii*dersug«*bea.
steht tier Gfän.se . dieb.
652
L. E. I. S«. De Orofsmed.
N9 3. ^Hj^ IJ) J) j) J) IJ) I j^ J) I ,^
En Grof.smed satt in goo.der Roh, en Orof . «med
m
M
-^-^J^IJ> J) J) JilJi Jij> J)i
satt in goo.der Roh, un rookt sin Piep To . baJi da.to, Sieh
t^'j' j' j» ii\.
f I j) -ii j^ j^ I j * I
dtlt, sieh dat, sieh da! sieh dut, sieh dat, sieh da.
L. E. III. Ztio.
N?4. -j.'8 j,jAjs h ^1 >i>l^
Aus Bisleken.
jOr.la-mim-de war ei ne schöbe Stadt j^^ OrJa. münjde!
( Was haben sie denn für ne Kir.che drin?
Die Kb.che ist mit Stroh be. deckt, in Klingel. sack ha. ben die
SperJin.ge geheckt! Jo, hol ha, hol die s^ne Or.la . mün.de.
L.E.VI. «Ol.
Ans Dreieichenhain bei Frkf. a.M. 1889.
Das 01a8.chen das muss wan.dern Ti?e la Com.pa . gni . a Ton
4' jiji ii jmji^
ei.nem Ort zum an . dem rive la Com.pa . gni . a. Tire ia Tiye la
|±±ia=[:
Yiye la la Tire la rire la hop.sa sa rive
L. E.XXXI. 67«. Aus: Lieder tum Gebrauch d. Logen.
ive la Com.pa . irni . a.
N? 6. JLhj5^
Breslau. 1777.
Zei . ten, Brü . der, sind nicht mehr u.8.f.
j) j>ij II
ffglE^^t^E^rrTTTT
m
653
L. £. IX. 6ft.
N?7. AjlJ
(Die Lei.ne.we.ber ha.ben ei.ne sau.be.re Zunft
(Mit • fa . sten hal.ten sie Zu . sam.men . kunft
Harum ditscfaarum Hi«*r wird mit
dpm Pu«*o gv-
MtAmpft.
AjBcfaengraue, dnnkeLblaue
Mir ein Viertel, dir ein Viertel
n n n
fein o.der grob, Geld gibt*s doohl
L. £. XIX. M.
rane, dunkel.blaue
Hinter^ O . fen
liegt ein al.ter Ran.fen.^'*''-
m
t-rtü-r
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ID. C.
Mi
Fine.
Seht mir mal den Ransen an, wie der Ransen tanjen kann.
L. E. VI. «00. Ans Bannen. i84i.
^^^li r «
1 1 (I Jn
(Nimm das öläs.lein in die Hand ^ fj^^ Com-pa . gni . al
(Fahr da. mit ins I^e.der.land
N?10.
X fi fla fa
L.S.VI. »08.
a y. hopsa sa fi fla Compa . gni • a.
Ans Meurs. 1888.
J J)IJ^ >J)I
j Wo mag der Wirth so lan . ge blei . ben yi _ ye la
t Wir wollen dem Kerl die Oh . ren rei . ben
j' I M J
Com.pa . gni . a.
^
Ti.ye la yi-yela hop.sa sa li.Te ia Com.pa . gni . a.
L.E.VIL9. Bairisehes Bettlerlied.
N?li.
I Ick und mein jun.ges Weib können schön
( sie mit dem Bet_tel _ Sftck ick mit dem
^ - '* Schenk mir mal
sie mit dem Bet.tel.sack ick mit dem Ran.sa.
bairiseh ein, wollen mal lustig sein, bairisch,
, bairiseh
654
L. £. lY. 68.
Aas Berlin.
A . dam liat.te sie.ben Soh.ne, sie.ben Sohn* hatt*
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r p p ip p ^
Ä . dam, sie a.ssen nicht, sie tranJten nicht, sie wa.ren al.le
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Sie mach-tea ai . le so
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lie • der. lieh, sie maeh-tea al . le
so wie ' ich
Fink: Musikalischer Haasschatz der Deutsehen, pag. 807.
N? 13. ^t J)
Ich nehm' mein Oläseheii in die Hand rire la Corapa . gni . a
vivelaTivela rive la la rivelaTirela hopsa, sa rire la Compa. gm. a
y pag. e. N? 6.
XXI.
gUi »-^j-JiJ J f JBiJ j J iJ Jüp jpri
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Dort dadieRo.se wüchse, war meine lieb.ste
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hier, Ich ge . he hin und such se die lauffenjde von mir.
6« . « « _^
l^n .1 i'iijj j jijjjj i jijj jj^i
Beispiele su XXI.
Erk. Liederhort N9 18. pag. 54.
Ich stand auf ho . hem Ber. ge und schaut ins tie.fe
N?2.
Thal, em Sehif Hein sah* ick schwimmen, schwimmen, wo . rin drei Grafen warn.
L. £. I. 51.
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I r^mm
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u. n. f.
siehe N? 1.
Ich stand u.s.f.
Kretsschmer. I. N9 «.
N9 3.^Viijr]iJ.^^
Ich stand u.8.f.
L. E. I. 49.
N?4.
Eisleben.
i'-iMtipipcjir^
H^p * ir p fM
J' I j ^ I
Leipsiger Commersbuch. pag. 67. N9 88.
Im Krug Bom grü.nen Kran.se, da kehrt* ich dur.Btig
ein, da sass ein Wandrer drinnen
Wird yon-0- an heute aach so. gesollt en:
am Tisch bei kühlem Wein.
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XXII'
pag. 4. N9 S.
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656
N9 JS08. (pag. ise) in: Melodien sum geistl. Palmgärtlein. Redigirt
Ton Theodor Woilersheim, Pastor su Jüchen.
XXII? ^» jjjiJ^J)Tir rrir'rr'
Mari-a Mutter mein^einJe8iis.)dn.aelein,]
Ichmnss jetzt scheiden.
^' ' J f r I r f r. I j .t .^^
Von diesem Onadenort Mass ich jetzt geuhenfort; O Schinerz,o Leiden.
L.E. Liederhort. If? 90. pag. less.
XXIIf =^
Wenn ieh einVöglein wär'ond auch zweinngieinhattjf Ifig leh zn dir;
XXIII :
weils aber nicht kann sein,weil8
pag. %Z. N9 18.
kann sein, bleib ich all . hier.
r-iir rr'
pa.ia .ti.no bibi. mus ne gutta si .persit g^^
unde suam pos.sit mn . sca le.vare si . tim
[;-"MirJn ir r rirn ni in iii
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M I ii|i'i iii rifrf-i'i'' II
bibunns sie
TirimuB in Ä . cadcmi . eis in A.eade.mi . eis.
ri'i- JNjJ-J^i ji
XXIII!
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657
j pag. t8. N? 14
XXIV.
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1 Wer sich will be . ge . ben mit.ten auf diewlLde See
) Muss in fuTcbten schwe.ben dassseinSchiffgenun^ter. geh.
so wer sich su weit will wa . gen in der Bu . le . . rey
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der kann wohl Ton
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Olü.cke sa.gen kömbt er
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j pag. ti8. N9 80
XXV.
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Ist das nicht ein Hahnjröh etc.
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* Der Text ist nirkt wic'deringrben.
658
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füg. Vt9. N9 86.
XXVI.
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( Ei.ne reiche Magd hat Matz der Haussknecht nu ge. nommen
iMit ihr einen rei.chen Schatz Tor an . de . ren be . kommen
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denn sie hat an Reichthumb, wie ich hö . re guth und ga . ben
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ja an al _ len
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dop.pelt mehr, was an.dre Mag . de ha . ben.
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Kritiken und Referate.
Joachim Steiner , Grundzüge einer neuen Musiktheorie. Wien,
Alfred Holder, 1891.
Die gleichschwebende Temperatur, als praktischer Nothbehelf zur Stimmung
der Tasten-Instrumente erfunden, gelangte in der ersten Hälfte des vorigen Jahr-
hunderts zu allgemeiner Anerkennung, ja, ihr nivellirender Einfluß erstreckte sich
sogar bis in die Untersuchungen der Musik -Theoretiker hinein, und richtete hier
bedeutenden Schaden an, der bis heute noch nicht ganz überwunden ist.
Mit Beginn unseres Jahrhunderts erwuchs der zum Theil auf ihr begründeten
Lehre ein sehr gefährlicher Feind in den Untersuchungen der Physiker, welche
die von ihnen gewonnenen Gesetze unmittelbar auf die harmonische Tonlehre über-
trugen. Ungeachtet mancher Abirrung verdanken wir ihnen doch das festgefugte
Gebäude unseres heutigen Systems, welches trotz allen Widerstreites der Meinungen,
immer stärkere Wurzeln schlägt.
Aber selbst diese Lehre — das System der harmonischen Tonart — so klar
sie auch das Bild tmseres heutigen musikalischen Empfindens wiedergiebt, scheint
sich, je mehr sie mit unmittelbarer Musik- Ausübung in Berührung kommt, eben
nur als ein Bild erweisen zu wollen, welches wohl den Geist, aber nicht immer
auch die sinnliche Erscheinung der Tonverhältnisse zur Darstellung bringt.
Wenn auch schon viele scharf beobachtende Musiker und Gelehrte sich der
Wahrnehmung nicht verschlossen haben, daß die wirkliche Intonation gewisser
Töne von derjenigen abweicht, welche von dem harmonischen System gefordert
wird, so hat doch noch Niemand versucht, diese Erscheinungen in ein bestimmtes
System zu fassen, wie es Steiner in vorliegendem Buche thut
Die Frage ist wichtig genug, um ihr eine eingehendere Erörterung zu wid-
men. Handelt es sich doch um nichts Geringeres als um die Untersuchung, ob in
diesen Erscheinungen der Keim einer neuen Evolution der Kunstgesetze Hege. Diese
Besprechung nimmt daher mehr den Charakter einer Mitarbeit an, und ich darf
meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, in dem Verfasser einem so wohlaus-
gerüsteten Vorkämpfer zu begegnen, wenn ich auch nicht in allen Stücken zu
seiner Fahne schwören kann.
Seine neue Lehre beruht auf strenger Sonderung der melodischen von den
harmonischen Elementen der Tonkunst; er nimmt zwei von einander unabhängige
StilrPrinsipien mit sieh widersprechenden Entstehungs- Ursachen an, die sich im
Kunstwerk bald befehden, bald ergänzen, und nur selten in einseitiger AUeinherr-
1891. 44
ggQ Kritiken und Referate.
gchaft zur Geltung gelangen. Dem naelodischen Stil-Prinzip legt er die pythago-
reische Quintstimmung, dem harmonischen die heute geltende gemischte Quint-
und Terzstimmung zu Gründe.
Ich will der Übersichtlichkeit wegen meine Untersuchung an folgende Fragen
knüpfen :
1 . Können die in Rede stehenden Widersprüche zwischen Theorie und Praxis
Anspruch darauf erheben, als neue Glieder in das Gebäude des heutigen
Tonsystems eingefügt zu werden, oder sind sie zu jenen Imponderabilia
zu zählen, welche jede Kunstausübung ganz nothwendigerweise im Ge-
folge hat, welche also ihrem inneren Wesen nach den der Kunst zu Grunde
liegenden Kanon nicht tangiren?
2. Sollen wir annehmen, daß es zu allen Zeiten solche Erscheinungen gab,
oder daß erst in unserer Entwicklungs-Phase dieselben zu Tage treten?
3. Können die Intonations-Verschiedenheiten, von denen die Rede ist, ihrer
inneren Natur nach streng commensu^abel sein, — und
4. Besteht die pythagoreische Quint- Stimmung die Probe dafür, daß in ihr
die theoretische Begründung dieser Erscheinungen liegen könne?
Für den ruhenden Dreiklang nimmt auch Steiner die harmonische Stimmung
als die einzig richtige Konstructions- Weise unserer Tonart an. Er macht aber
eine wesentliche Unterscheidung zwischen strebendem und ruhendem Dreiklang.
In der Praxis besteht dieser Unterschied gewiß. Warum wird aber im ruhen-
den Dreiklange die harmonische, im strebenden eine höher gespannte Terz
gesungen und gespielt? Steiner antwortet: weil die Melodie-Töne nach pj-thago-
reischem Prinzipe abgemessen werden; meine Antwort und die der meisten mir
nahestehenden Musiker läuft aber darauf hinaus, daß der ausübende Künstler
durch die innere Betheiligung am Kunstwerk ganz unbewußt dazu gedrängt werde,
gewisse Töne im Zusammenhange einer Composition zu treiben oder zu senken,
daß der begabtere und lebendigere Musiker darin weiter gehe, als der minder
begabte oder abgespannte, daß keiner unter ihnen behaupten könne, er nehme
jedesmal denselben strebenden Ton auch wirklich stets in derselben »Altcrirung«,
daß sich daher wohl eine Messung von Fall zu Fall, aber keine allgemeine und
für immer geltende anstellen lasse; mit einem Worte: daß die beregten Intona-
tions-Unterschiede geistiges Eigenthum der Ausübenden seien, und als
ihre einzige Quelle die Seelen-Verfassung des Künstlers zu gelten habe.
Ich kann mich also, schon um dem Vortrage die künstlerische Freiheit zu
wahren, nicht zur Ansicht bekennen, daß es feststehende, dem harmonischen Sy-
stem in consequenter Weise widerstreitende Tonhöhen aus einem anderen Systeme
seien, um die es sich hier handelt; am allerwenigsten kann ich die pythagoreische
Quintstimmung als Träger der melodischen Intonation anerkennen, da ich auch
bei ihr ein starres Festhalten an mathematisch herausgerechneten Tonhöhen für
die Praxis leugnen muß.
Der Verfasser wirft der harmonischen Theorie unserer Tage vor, daß sie gar
oft mit Tönen und Intervallen rechne, welche im Leben gar nicht zur Erscheinung
kommen. Ich gebe dies zu, glaube aber, denselben Vorwurf — wenn es einer
ist — jeder Musik-Theorie, also auch der pythagoreischen, machen zu dürfen.
Dies scheinbare Mißverhältniß liegt im ewigen Gegensatz zwischen Thatsache und
Abstraktion, die Versöhnung liegt darin, daß die Abstraktion dem lebendigen
Kunstwerk nur von ferne folgen kann, und in den eigentlichen Herd des künst-
lerischen Feuers nicht eindringen darf, soll sie nicht gerade ihre werthvollBten
Eigenschaften einbüßen : Gesetzmäßigkeit und Universalität.
Joachim Steiner, Grundzüge einer neuen Musiktheorie. gg|
Vorerst will ich von der Verkettung der pythagoreischen mit unserem har-
monischen Tonsystem y wie sie der Verfasser in Vorschlag bringt, absehen, und
mich nur mit der Frage beschäftigen, ob es nicht innere Gründe dafür giebt, daß
auch die Zeiten von Pythagoras und Gregor denselben Kampf auszufechten hatten«
der uns eben beschäftigt.
Man behauptet, gestützt auf die theoretischen Schriften des Alterthums und
des Mittelalters, daß die einstimmige Melodie stets mit reinen Quinttönen zu Ge-
hör gebracht worden sei. Leider fehlt uns aus dieser Zeit jeder Anhaltpunkt zur
Bekräftigung dieser Annahme, ganz wie die kommenden Jahrhunderte von unserer
Musik- Ausübung auch nur jenes Bild haben werden, welches ihnen aus den Lehr-
'büchem imserer Tage entgegentritt Den theoretischen Werken der Griechen fol-
gend, müßten wir also annehmen, daß zwei Töne eines Interralls stets an den
sie verbindenden (sehr oft sie trennenden) »Stimm-Quinten« abgemessen wurden.
Versteht sich das bei den Intervallen der Octave, Quinte und Quarte ganz von
selbst, so müßte doch für die übrigen Intervalle, die Terzen und Sexten, das Ge-
fühl für Klangzusammengehörigkeit vollkommen gefehlt haben. Es müßte daher
von c nach « in Gedanken stets durch den Quintenzirkel: C'{g-d'a')e gegangen
worden sein, ein Prozeß so complizirter Natiur, daß ich bei praktischer Ausfüh-
rung des Intervall-Schrittes nicht ^n seine Existenz glauben kann. Und doch wäre
es geboten gewesen, diesen Umweg zu nehmen, gerade um der Versuchung, hier
eine klaugverwandte, harmonische, Terz zu singen, mit Sicherheit aus dem Wege
zu gehen. Ich darf daher annehmen, daß die Griechen oft eine, von der theore-
tisch vorgeschriebenen abweichende Tonhöhe zu Gehör brachten, wenigstens dort,
wo der geforderte Melodie-Schritt die Klang- Verwandtschaft der beiden Intervall-
Töne, wenn auch als Princip unerkannt, doch dem Gehör des Sängers nahe legte.
Die verschiedenartigen, oft sehr subtilen Untertheilungen des Halbtons,
welche die griechische Theorie lehrt, sind für uns ein Fingerzeig dafür, daß bei
den Griechen die Intonation nicht von mathematischen Messungen, sondern inner-
halb gewisser Grenzen von dem Geschmack und dem Affekt des Sängers abhing.
Und war es nicht gerade zur Zeit des einstinmiigen Gesanges ein Leichtes, die
feinsten Seelenregungen durch die Intonation kundzugeben, da der gesungene Ton
nie in unmittelbaren Contact mit einem zweiten gesungenen zu treten hatte?
Da uns aus griechischer Zeit eine irgendwie bedeutende oder besonders
charakteristische Melodie fehlt, greife ich, um ein Beispiel vorzuführen, zu einer
Melodie des Gregorianischen Cho/ales, dem »Ite^ misaa est.n
. ^ , J& , ^ ßZi- ^
Ä>-
22:
-f^—Qi^—fy
Wer hört sie nicht in Cdur? Wer fühlt nicht die Akkordzerlegung durch
alle Zwischennoten durch? Die KJangzusammengehörigkeit von c, g und e einer-
seits, andererseits von A, g und d muß dem Sänger notliw endig im Gehör gelegen
haben, wenn er auch nie von der Existenz dieses Verhältnisses vernommen haben
konnte. Was will gegen diese Stimme der Natur eine noch so peinliche und em-
sige Vorübung auf dem pythagoreisch gestimmten Monochord sagen? Lassen sich
doch die auf ihm vorgespielten Töne im Kehlkopf nicht mechanisch einstellen.
Die Töne der Natur-Harmonie werden das Gehör des Sängers einfach mit sich
fortgerissen haben, und die angeführte Stelle dürfte, damals oft, jetzt gewiss vor-
zugsweise, so intonirt worden sein: ...
44*
gg2 Kritiken und Referate.
1=
* ^ ...fiy.Ca:)-^-
-9-
— g— ^ g
ili'
Würde mir nun auch durch ein Experiment bewiesen, daß trotsdem die
Töne h nnd e höher gesungen werden, so wären es eben doch nur hinaufge-
triebene Terzen aus dem g- und c-Klange, nicht aber ihrer Ent-
stehung nach pythagoreische Skalentöne, selbst wenn sie zufällig genau
die Tonhöhe letzterer aufwiesen.
Pythagoreisch lassen sich die einzelnen Schritte dieser Melodie nur folgender-
maßen reguliren:
I
iffi:
EJ ^- A fttg.
Liegt dieser Proeeß, dem man den Vorwurf einiger Umständlichkeit nicht ersparen
kann, nicht zu Gründe, dann kann eben nur ein dunkles Gefühl für harmoni-
sche Ton-Affinität die Intonation beherrschen. Die Chormeister der alten Zeiten
mögen einen heißen Kampf gegen Terz-Intonationen geführt haben; sie gingen
gewiß oft als Sieger hervor, aber nicht, ohne einem noch unerkannten Naturgesetz
in's Gesicht geschlagen zu haben.
Es lag schon im einstimmigen Gesänge jeder Intervall-Messung eine Basis
za Grunde, und zwar wurden der Melodie gleich von Anfang an zwei Stützpunkte,
Tonika und Dominante, verliehen. Später, als das harmonische Bewußtsein immer
mehr erwachte, trat noch ein dritter, die Unterdominante, hinzu, mit deren Hülfe
nun sämmtliche Töne eines Tongeschlechtes auf kürzestem Wege in Klangverwandt-
schaft gebracht werden konnten.
Schreiten wir in unserer Untersuchung um einige Jahrhunderte vor, so finden
wir die Musik in voller Polyphonie. Man sieht deutlich, mit welch ängstlicher
Vorsicht bei Beginn dieser Sets weise vorgegangen wurde. Mit dem Zusammen-
klange von Terz und Sezt konnte die Theorie den Begriff der Consonnanz nicht
verbinden, so lange sie dieselben noch pythagoreisch maß. Lassen wir nun auch
für diese Stilperiode das Gesetz unwillkürlicher Accommodation gelten, so kön-
nen wir annehmen, daß durch öftere Annäherung der Terz an Grundton und Quinte
dieselbe unmerklich und bei so vielen Gelegenheiten die liebliche Wirkung der
harmonischen Terz erzeugen mußte, daß endlich — zuerst natürlich von den
Komponisten, später von den Theoretikern — der Terz überhaupt der Rang einer
Konsonanz ertheilt wurde. Hatte die Terz nun einmal als Konsonanz festen Fuß
gefaßt, so erklang auch sofort der erste ruhende Dreiklang in jener reinen Weise,
die wir mit dem Verfasser die »harmonische« nennen wollen. Die Messung als
»pythagoreischen Terz blieb aber noch aufrecht, und der Kampf der Theorie gegen
die Praxis muß um so erbitterter geführt worden sein, als jene sich des öfteren
durch den unleugbaren Wohlklang für überwunden erklären mußte.
Die Ausführung der überreichen Kompositionen jener Periode muß gewiß
ein äußerst unsicheres Gemenge von harmonischen und (um mit dem Verf. zu
sprechen) pythagoreischen Intervallen aufgewiesen haben. Ebenso oft wie im ruhen-
den DreiÜang die Terz harmonisch accommodirt wurde, ebenso oft trieb der Affekt
des Sängers die Einzelmelodie in die Höhe (Leitton) oder ließ ihn in die Tiefe
^ Hier bezeichne ich Quinttöne mit weißen, Terztöne mit schwarzen Noten.
Joachim Steiner, Orundsüge einer neuen Musiktheorie. 663
sinken (Moll-Terz). Der oft, und auch von dem Verf., citirte Anfang des Stabat
mater Yon Palestrina kann damals ebensowenig wie heate nach irgend einem der
beiden Stilprinzipien (harmonisch oder melodisch) richtig geklungen haben; jeder
Versuch einer absoluten Richtigstellung dieser Harmoniefo^[e, mag er nun von der
einen oder der anderen Seite ausgehen, vermehrt nur das Übel. Der Künstler ist
eben nicht dazu da, um theoretische Gesetze zur Ausführung zu bringen; er hat
nur im Allgemeinen seinen Geist an ihnen zu schulen, um sich in den Besitz
einer gemeinyerst&ndlichen Sprache zu setzen, deren Grenzen sein Gexue aber un-
bewußt erweitert, deren Ausdruoksf&higkeit er steigert, deren Wortschatz er be-
reichert.
Was nun die Verkettung des pythagoreischen mit dem harmonischen Ton-
System betrifft, so weise ich noch einmal auf den geistigen Proceß hin, dem ein
Sänger zur Einstimmung nicht einer natürlichen, harmonischen, sondern einer
pythagoreischen, melodischen Terz sich nothgedrungen unterwerfen müßte. Soll der
von ihm zu singende Ton nicht von den beiden »starken« Tönen, dem Grundton
und der Quinte, gewissermaßen aufgesogen werden, und dem Zwange, den sie auf
die Intonation ausüben, zum Opfer fallen — so daß seiner Kehle die harmonische
Terz ganz wie von selbst entquelle — so muß er, gegen diese Gewalt ankämpfend,
seinen pythagoreischen Terzton durch Quinten-Stimmung erzeugen, wobei er aber
mit jeder zwisehenliegenden Stimmquinte gegen einen der beiden liegenden Akkord-
töne in Conflict geräth:
Und doch ließe sich logischer Weise nur dann behaupten, der zu hoch ge-
sungene Ton e sei nicht etwa das Resultat einer in den Dreiklang gerathenen
Bewegung und Unruhe, sondern einer Verkettung des pythagoreischen mit dem
harmonischen Tonsystem.
Als Ergebniß dieser Untersuchungen glaube ich die Beantwortung der Ein-
gangs aufgestellten Fragen folgenderweise fassen zu dürfen:
1. Die in Rede stehenden Widersprüche zwischen theoretisch festgesetzter
Tonhöhe und faktischer Intonirung sind aus Gründen, die sich auf das
innerste Wesen der Kunst zurückführen lassen, zu den Imponderabilia
zu rechnen ; sie sind bedingt durch die Freiheit des Vortragenden, seinen
Affekt walten zu lassen, der den Intentionen des Kunstwerkes erst Seele
und Bewegung verleiht, das starre Schema gewissermaßen in lebendiger
Verkörperung vor die Sinne bringt; diese Intonations-Freiheiten tangiren
daher den zu Grunde liegenden konstruktiven Kanon nicht, können daher
auch nicht in das Gebäude des Systems als wesentlich neue Glieder ein-
gefügt werden.
2. Zu allen Zeiten und während aller Stilperioden gab es solche Erschei-
nungen: wie die Gesetze der Klangverwandtschaft in das pythagoreische
Tonsystem der Griechen, unerkannt, aber mit zwingender Nothwendigkeit
eingriffen, so läßt sich auch in der Periode des harmonischen Systems
eine berechtigte Differenz zwischen Intonation und theoretisch festge-
gg4 Kritiken und Referate.
setzter Tonhöhe nachweisen, wenn sie auch hier nicht aus dem Wider-
spruch zweier Prinzipien , sondern aus dem harmonischen Prozeß selber
herausw&chst.
3. Diese Erscheinungen können aber ihrer inneren Natur und ihrem Ur-
sprünge nach nicht ahsolut kommensurabel sein, und
4. läßt sieh kein Orund finden, warum gerade die pythagoreische Stimmung
die Basis dieser Abweichungen sein soll, da sie selber eine absolut fest-
stehende Intonation in der Praxis nicht gekannt haben kann, und bei
Berührung mit Elementen der Harmonie stets den Kürzeren ziehen muß,
was sich aus der Methode ihrer Konstruktion Ton selbst ergiebt
. Ich stellte oben den Satz auf, daß die in Rede stehenden Intonations- Er-
scheinungen — wenn sie auch der yon dem harmonischen Tonsystem festgestellten
Tonhöhe widersprechen, doch nichts desto weniger aus dem harmonischen Prozeß
selber herauswachsen. Ich glaube hierin den Weg zur Lösung des Räthsels ge-
funden zu haben, und will mich mit Vorführung einiger Beobachtungen deutlich
machen, ohne auf dieselben mehr einzugehen, als nöthig ist.
Ein ruhender Dreiklang kennt nur die natürliche Terz. Erst von dem Augen-
blicke an, wo diese Klang-Einheit den Trieb des Fortganges als Gährungs-
Stoff in sich aufnimmt, tritt Unruhe und Widerstreit in die Elemente des Drei-
klanges. Die dem Torgeahnten neuen Grundton zunächst liegende Terz wird diesen
Prozeß am deutlichsten zum Ausdruck bringen, indem sie gleichsam in ungedul-
digem Streben die Reinheit und Beharrungs&higkeit des Dreiklanges Temichtet,
sich in einem gewissen Sinne von dem Grundtone des Dreiklangs loslöst und sich
in Abh&ngigkeit vom Grundton der neuzubildenden begiebt. Dadurch tritt der ge-
suchte neue Dreiklang gewissermaßen als Erlöser aus einem unhaltbar gewordenen
Zustand in die Erscheinung, und schließt als das erreichte Ziel die Unruhe und
Trübung ab.
Noch verstärkt wird dieser Prozeß, wenn sich zum Dreiklange, der zur künf-
tigen Oberdominante werden soll, der Grundton der künftigen Unterdominante hin-
zugesellt, und ich kann dem Verf. nur beistimmen, wenn er für den hierdurch
entstehenden Dominant-Septakkord für die Ausführung stets eine höhere Terz ver-
langt, als sie das harmonische Schema bietet Entspricht nun die Tonhöhe dieser
hinaufgezogenen Terz (Leitton] wirklich der vierten Quinte des Grundtones? Ich
will es dem Verf. gerne glauben, daß dies in den weitaus meisten Fällen zutrifft S
glaube aber die Motivirung hierfür darin finden zu dürfen, daß dieser Quintton
durch seine wenn auch weitläufige Verwandtschaft allenfalls in den Dreiklang paßt,
ihn aUerdings beharrungsunfähig, aber nicht in unerträglicher Weise mißtönend
macht. Ich möchte diesen Vorgang eine Hypertrophie der harmonischen Terz
nennen, zum Zweck, den harmonischen Vorgang in schärferes Licht zu setzen.
Ebenso wie sich der aktive Prozeß — Oberdominante zur Tonika — durch
Hinaufstimmen des Leittons verschärft, ebenso wird der passive Prozeß — Unter-
dominante zur Tonika — den Terzton des Unterdominant-Dreiklanges gewiß nicht
aufwärts, sondern abwärts drängen. Hierauf beruht die Berechtigung des MoU-
Dur-Systems, in welchem diese Herabstimmung sogar bis zur Moll-Terz der Unter-
dominante reicht. Entstanden ist dies System aus derselben Quelle, wie die freie
*) Wäre bei folgender Wendung nicht vielleicht eine noch höhere Intonation
des Leittons statthaft:
^^^^^^£'
Joachim Steiner, Orundzüge einer neuen Musiktheorie.
665
Intonation des aufwärtsf uhrenden Leittons: nämlich aus dem Affekt, der sich mit
der sehlichten Fügung, wie sie das einfache Dur-System hietet, nicht immer ge-
nügen ließ.
Noch eine andere Erscheinung im Kahmen der tonalen Musik läßt eine Yon
der schematischen abweichende Intonation nicht nur zu, sondern fordert sie sogar
gebieterisch. Auf einer und derselben Harmonie beruhend, haben die intervallaus-
füllenden Durchgangstöne nach jener Orundtonart abgemessen zu werden, in
irelcher die beregte Harmonie den Rang der Tonika einnimmt. In C-dur wird
also die Stelle
^
I — - — '^"^- nicht nach dem Schema von C-dur, also
sondern nach dem von Ö-dur erklingen
'■$
32=±
32:
und, stellt sich das Bedürfniß ein den Leitton h emporzutreiben, sogar in dieser
. In abwärts gewendeter Richtung dieser Melodie-
Stimmung
■i
^F=^^-
schritte fällt die Nothwendigkeit, das k emporsutreiben, fort, da diesem Tone dann
das strebende Element genommen ist; wir intoniren daher
^C G
wenn die zu Grunde liegende Harmonie einen Wechsel zwischen Tonika und Ober-
dominante vollführt, wobei wieder a als Durchgang in der G-Harmonie erhöht
wird. Steht diese Melodie jedoch auf einem Wechsel von Tonika und Unter-
dominante, so kann in beiden Melodie-Richtungen wohl nur die harmonisch-rich-
tige Intonation von h und a walten:
M
C F^.
m
Der Durchgangston ist hier Ä; in 2^-dur müßte ein b stehen; hier in C-dur kann
dieser Durchgangston gewiß nur durch ein recht unauffälliges gedrücktes h zur
Darstellung kommen.
Ich griff aus dem Vorrath meiner eigenen Beobachtungen nur diese wenigen
Beispiele heraus. Sie mögen dem Verf. ein Beweis dafür sein, daß ich das Vor-
handensein freier Intonationen nicht leugne, wenn ich auch die Veranlassung zu
denselben auf einem anderen Gebiete suche, als er, und der Ansicht zuneige, daß
noch keine Erscheinung zu konstatiren ist, die ein Aufgeben der harmonischen
Grundlage unserer heutigen Tonkunst bedingt, oder gar das mir bedenklich er-
scheinende Aufstellen eines Dualismus zwischen Melodie und Harmonie recht-
fertigen kann. Im Gegentheil: mir ist keine freie Intonation je vorgekommen,
der nicht gerade der feinste und intimste Instinkt für harmonische Processe zu
Grunde läge.
Ich mußte mich über die Grundlage des neuen Systems von Steiner so ein-
gehend aussprechen, weil ich seine ausgezeichnete Kraft gerne einer fruchtbringend
den Fortsetzung der einschlägigen Untersuchungen erhalten sehen möchte, und die
Hoffnung hegen darf, ihn von allzurascher Fixirung eines neuen Systems viel-
leicht noch zur rechten Zeit zurückhalten zn können. Ich glaube, der Forscher
556 Kritiken tmd Referate.
kann sein Beobachtungs-Material — den Mörtel far den Ausbau eines Sjetems —
nicht lange genug flüssig erhalten, schon weil im Systeme-Bilden an sieh ein yer-
lockender Beiz liegt, dem sich Mancher allzu voreilig hingab.
Wie Vieles ließe sich noch aus dem Inhalt des Werkehens herausgreifen !
Anregendes tritt uns an allen Orten entgegen. Von ganz besonderem Werth scheint
mir die Kritik der yerschiedenen Versuche zu sein, dne künstliche Verbindung
reiner Stimmung mit Instrumenten yon feststehender Tonhöhe herbeizuführen. Herr
Steiner in Verbindung mit Herrn Dr. Austerlitz, schritten sogar selber zur Kon-
struction eines solchen Instrumentes, dessen Schilderung die ganze Hftlfte des
Werkehens einnimmt. Die wissenschaftliche Deduction zeugt von großer Sicher-
heit, und läßt bis auf den Crrund aller Stimmungsfragen blicken; vielleicht gerade
darum wurde es mir so klar wie nie vorher, daß sie zu den an sich unlösbaren
Fragen zu zählen sei,: da jedem Lösungs-Versuche ein unlösbarer Rest verbleibt,
mag man dies Eingeständniß noch so weit hinausrücken und auf noch so winzige
Werthe beschränken.
Hüten wir uns, der Unmittelbarkeit und Frische des lebendigen Musicirens
dadurch Abbruch zu thun, daß wir jede kleine Seelenregung zu destiUiren und zu
fixiren versuchen. Indem wir dem KünsÜer dadurch einerseits die Flügel lähmen
würden, entzögen wir, ihm andererseits das Gefühl auf einfacher und sicherer
Basis zu fußen. Diese Basis, unser heutiges Tonsystem, hat sich doch wahrhaftig
als ertragfähiger Boden erwiesen.
Beruhen doch alle großen und sich scheinbar widersprechenden Erscheinungen
der letzten beiden Jahrhunderte auf seiner Kraft und Elastizität.
Berlin. Heinrioh von Henogenberg.
Josef Sittardj Zur Geschichte der Musik und des Theaters am
Württembergischen Hofe. Nach Originalquellen. Stuttgart, W. Kohl-
hammer, 1890. Erster Band 1458—1733. Gr. 8» X, 354.
Als neulich an dieser Stelle die werthvollen Mittheilungen über die Jugend
R. Keisers erschienen, wird mancher Leser daran gedacht haben, wie bedeutend
und rasch der Ausbau der allgemeinen Musikgeschichte gefördert werden könnte,
wenn in der musikalischen Lokalgeschichte fleißiger gearbeitet würde. Dieses Ge-
biet ist verhältnißmäßig leicht zu bestellen und an sich ließe sich erwarten, daß
jedem gebildeten Musiker die Vergangenheit seiner Stelle, die Frage nach den Vor-
gängern und nach den früheren Zuständen am Herzen läge. Gleichwohl bildet
Herr Voigt in Teuchern, der Verfasser des oben erwähnten Aufsatzes, eine verein-
zelte Erscheinung und Werke die die Musikgeschichte eines bedeutenden Ortes
im großen Stile aufrollen, gehören in Deutschland ganz und gar zu den Selten-
heiten. Es sind vierzig Jahre verflossen, seit Moritz Fürstenau Musik und Theater
am sächsischen Hofe zu beschreiben begann. Wenn seitdem nur jedes Jahrzehnt
eine ähnliche Arbeit zu Tage gefördert hat, so ist das ein beklagenswerthes Er-
gebniß. Um so dankbarer müssen wir ein Buch begrüßen, das, wie das hier an-
gezeigte, wieder einmal einen umfassenden Beweis für die Bedeutung musikalischer
Ortsgeschichte ergiebt.
Stuttgart wird in Zukunft auf Grund der Ermittelungen Sittards in der älteren
Musikgeschichte etwas höher eingeschätzt werden müssen, als das bisher der Fall
Josef Sittard, Zur Qesehiohte der Musik und des Theaters etc. gg7
war. Wir haben es yorwiegend nur als die Stadt JomelUs beachtet. Nun zeigt es
sieh, daß in der schwäbischen Hauptstadt eine große Reihe von Tonmeistern ihren
Siti kurse oder Iftngere Zeit aufgesehlagen hat, yon deren Aufenthalt daselbst wir
nichts oder wenig wußten. Heinrich Finck, Leonhard Lechner, Joh. Siegmund
Kusser, Reinh. Keiser gehören darunter. Bei den letzten beiden lohnt es sich
einen Augenblick zu yerweilen, namentlich bei Keiser. Man staunt diesen Künst-
ler plötzlich im Südwesten Deutschlands zu finden und sucht den Grund in wid-
rigen Schicksalen, im unruhigen Künstlerblut und ähnlichen Dingen. £s hatte
aber damit eine tiefere Bewandtniß. Nämlich Stuttgart hat sich erst ziemlich spät
für die italienische Oper entschieden und yordem den Bestrebungen zur Errich-
tung eines deutsch-nationalen Musikdramas einigen Antheil geschenkt Die Beweise
hierfür finden wir in den Schilderungen , die Sittard im 4. Kapitel seiner 'Arbeit
yon den Festlichkeiten und soenischen Aulführungen am würtembergischen Hofe
giebt Da kommt doch inmitten des Schwankens zwischen französischen und itali-
enischen Mustern immer wieder etwas Deutsches, zuweilen auch etwas gut Deut-
sches. So z. B. die »Layinia« yom Jahre 1674, die — eine Dichtung eines Studenten
der Theologie Namens Michael Schuster — nach den mitgetheilten Proben einer der
besten Opemtezte jener Zeit ist. unsere Aufmerksamkeit haftet an dieser »Layinia«
aber nicht blos wegen des höheren Geschmacks in ihrer Sprache, sondern noch
mehr deshalb, weil sie in gewissen Punkten unverkennbar mit der »Seelewig«
Stadens Ähnlichkeit hat, also eine Verbindung zwischen Stuttgart und Nürnberg
herstellt, das die Heimath und lange Zeit die Hauptstütze der deutschen Oper war.
Auch Keiser seheint, wie aus einem yon Sittard auf S. 107 mitgetheilten Briefe
heryorgeht, in Nürnberg gewesen zu sein, ehe er nach Stuttgart kam und wie wir
aus einem anderen Briefe schließen dürfen, den der Kammermusikus Höflein i
Stuttgart an seinen Vorgesetzten gerichtet hat (S. 103 u. K) ist er auf dieser Reise
auch nach Durlach gegangen. Durch die Namen dieser drei Städte wird das Feld
markirt, auf dem die deutsche Oper ziemlich heimlich in ungünstiger Zeit ihr
Dasein fristete. Von Durlach wußten wir das bestinunt, yon Nürnberg konnten
wir es ziemlich sicher schließen, yon Stuttgart erfahren wir es durch Sittard's
Buch. £s hilft also die Lücken ausfüllen, die zwischen der »Seelewigv, der Dur-
lacher »Lucretia« und dem Mannheimer »Günther von Schwarzburg« liegen und es
zeigt die Annahme berechtigt, daß im deutschen Süden die Herzen nie aufge-
hört haben für nationale Kunst zu schlagen. Wenn also Kusser und Keiser sich
aus den hamburger Nöthen hinweg nach Stuttgart ^endeten, so war das nicht
Zufall und Abenteuer ei, sondern die Hoffnung einer im Norden schwierigen oder
yerlomen Sache auf einem günstigen Boden dienen zu können; es war ein so
natürlicher Schritt wie die Rückkehr eines Unglücklichen ins Elternhaus.
Bei Kusser hat dieses Redebild wörtliche BedeutiQig. Denn sein Vater war
fast zwei Jahrzehnte lang Musikdirektor an der Stiftskiische in Stuttgart
Auch diese Nachricht gehört unter die zahlreichen Entdeckungen , die Sittard
seinen Quellen, den Acten des Geheimen Haus- und Staatsarchiys in Stuttgart und
denen des Finanzarchiys in Ludwigsburg yerdankt. Welche Wichtigkeit sie für
die Geschichte der Oper in Deutschland haben, ist an dem Falle Keisers bereits
klargelegt worden. Für die Entwickelung anderer Gattungen der Tonkunst tragen
sie nur wenig beL Eine Stelle auf Seite 21 macht eine Ausnahme. Sie ist nicht
den Acten, sondern einem Carmen des Nicodemus Frischlin entnommen und wirft
ein Licht auf die Pflege der Instrumentalmusik in Süddeutschland yor dem sieben-
zehnten Jahrhundert, klingt somit an ein Thema an, welches Ph. Spitta kürzlich
in einer gelegentlichen Anzeige höchst anregend behandelt hat.
Sehr bedeutend ist dagegen die Ausbeute, welche die Acten für das biogra-
gß^ Kritiken und Beferate.
phisefae Gebiet liefern. Die Namen die wir oben nannten, würden schon genügen :
sie bilden aber nur einen Bruchtheil des großen Kreises Ton Musikern» den die
Geschichte Sittards berichtigend, ergänzend und bestätigend berührt. An unter-
geordneteren Punkten muß naturgemäß die allgemeine Musikgeschichte stärker
hereinspielen als an Plätzen ersten Ranges, die jeglichen Bedarf mit einheimi-
schen Kräften zu decken im Stande sind. Aus diesem Grund ist die Geschichte
kleinerer Orte instruktiver als die der Weltstädte, in denen die wirklichen Meister
der Zeit zuweilen von berühmten LokalgrOßen verdunkelt werden. In Wien und
London sind die Spuren Heinrich Schützens schwach. In Stuttgart hingegen sehen
wir ihn als Schiedsrichter citirt an der Seite Carissimis. Auch die Bedeutung von
Staden, Agazzari, M. Vulpius und anderen wird bekräftigend beleuchtet dadurch,
daß das Bibliotheksverzeichniß des Süftschores vom Jahre 1636 ihre Compositionen
enthält. Sie standen neben dem in mehrfachen Exemplaren vorhandenen Opus
musicum magnum des Orlandus, neben Häsler und Praetorius.
Was nun die nicht unbeträchtliche Zahl von Stuttgarter Musikern betrifft,
die von Sittard zum ersten Male angeführt werden, so wünscht man allerdings,
daß der Verfasser ihre Bilder mehr ausgeabeitet hätte. Auch ein Froberger, wahr-
scheinlich ein naher Verwandter des bekannten Joh. Jacob F. ist darunter. Unter
den Gründen, die dazu bestimmt haben mögen, sich auf das zu beschränken , was
die Acten geben und die Verfolgung und Lösung der entgegentretenden Fragen
und Beziehungen bei Seite zu lassen, tritt namentlich die Rücksicht auf den popu-
lären Charakter des Buchs hervor. £s sollte nach der Vorrede »auch den der
Musik femer stehenden Kreisen ein größeres Interesse abgewinnen«. Dieser Ge-
sichtspunkt scheint auch die Eintheilung des Stoffes bestimmt und veranlaßt zu
haben, daß viele bekannte Sachen breit behandelt worden und Flüchtigkeiten unter-
gelaufen sind.
Immerhin bleibt das Ergebniß der Untersuchungen Sittards bedeutend und
macht uns auf die Fortsetzung gespannt, die sich mit der Glanzzeit Stuttgarts und
dem Wirken JomelUs befassen wird.
Leipzig. Hermann Kretaschmar.
Christian Bartsch, DBLinnBolsKi. Melodieen litauischer Volkslieder,
gesammelt und mit Textübersetzung, Anmerkungen und Einleitung im
Auftrage der Litauischen Litterarischen Gesellschaft herausgegeben.
Heidelberg, Winters Universitäts-Buchhandlung. Erster Theil IS 86.
Zweiter Theil 1889. 8. XXXI und 248, XV und 304 Seiten.
Bekanntlich war es L. J. Khesa, Professor der Theologie und Director des
litthauischen Seminars zu Königsberg, welcher den litthauischen Volksgesang zu-
erst eingehend würdigte und die Bekanntschaft mit ihm weiteren Kreisen ver-
mittelte. Dies geschah 1825, in Zeiten also, da solche Studien in ihrem frischesten
Grün standen. Seitdem haben die Sprachforscher den Gegenstand nicht wieder
aus dem Auge verloren. Aber es ging dem litthauischen Volkslied, wie lange Zeit
dem deutschen -. über der litterarischen Seite wurde die musikalische vemachl&ssigt.
Schon Rhesa wandte seine Aufmerksamkeit vorzugsweise der Dichtung zu ; als
Anhang theilte er zwar 7 Melodien mit, meinte aber, sie würden einen geringen
Begriff von der litthauischen Volksmusik geben, denn die Melodien seien außer-
Christian Bartsch, Dainu Balsai. 669
ordentlich schwer festzustellen. Bei der Aufzeichnung und Abfassung in Noten
gehe das Schönste verloren. Gleich dem Vogelgesange entschlüpften die plötz-
lichen Aufsteigungen und schnellen Abfälle, die sanften Verschwebungen jedem
Versuch, sie festzuhalten. Die Nachfolger Rhesas: P. von BoMen, Nesselmann,
Bezsenberger, Kurschat, vor allem der Pole Oskar Kolberg haben sich auf die
Musik wohl etwas tiefer eingelassen. Unversucht aber war bisher die Lösung
der Aufgabe geblieben, das litthauische Volkslied wenn nicht ausschließlich, so
doch vorzugsweise unter dem Gesichtspunkte der Melodie zu betrachten. Christian
Bartsch hat sich an sie gewagt, und schon das Unternehmen verdient unser Lob.
Volkslieder ohne Melodie sind keine Volkslieder, und alles was von ihrer Bedeu-
tung für die Volkspsychologie gesagt worden ist, gilt nur, wenn man sie sich ge-
sungen vorstellt. Die Gabe des Gesanges ist der Nährboden des Volkslieds, die
Melodie den Worten gegenüber das Ursprünglichere, daher Ältere und auch Dauer-
haftere, mag gleich ihr Wesen luftig und ungreifbar erscheinen. Will man diese
Quelle des Wissens zum vollen Fließen bringen, so müssen die Schwierigkeiten,
die Melodien in Zeichen festzuhalten, überwunden werden, seien sie noch so groß.
Die Dainos bilden die Hauptgattung des Volksgesanges der Litthauer.
Außerdem .kennen sie noch Raudos, Klagelieder um Gestorbene, von denen Bhesa
zwei Beispiele mittheilt (S. 23 und 83), die aber keine ausgebildete Melodie zu
haben pflegen, und Gesmes, geistliche Gesänge, Choräle, die den evangelischen
Kirchenliedern nachgebildet sind und nur uneigentlich dem Volksgesange zugerechnet
werden können. Dies war wohl der Grund, weshalb der Herausgeber sich auf
Dainos beschränkte. Es giebt deren eine sehr große Anzahl. Die Brüder luß-
kewicz haben, allerdings mit Einschluss einer Reihe von Raudos, nicht weniger
als 2669 Texte gesammelt und von 1880 — 18S3 in 4 Bänden herausgegeben. Die
Melodien, welche die Sammlung von Bartsch bietet, belaufen sich auf ungefähr
vier und ein halbes Hundert.
Man braucht nur wenige Bogen seines M'^erkes gelesen zu haben, um zu
wissen, daß man mit einer höchst eigenartigen Volksmusik zu thun hat. Sie darf
als Seiten- und Gegenstück zur Volksmusik der Skandinavier betrachtet werden.
An die Seite stellt sie sich dieser durch die Continuität, mit welcher Altes —
vielleicht Uraltes — sich in Neues und Neuestes hinein fortsetzt. Einen Gegen-
satz bildet sie durch den Charakter Der skandinavische Volksgesang hat einen
männlichen Grundton. Das Wesen des litthauischen ist das Frauenhafte; Frauen
vor allen sind seine Pflegerinnen, er zeigt, wie sich die Welt in der Frauenseele
spiegelt, und treffend erklärt Bartsch hieraus auch den Umstand, daß es unter
den Dainos verhältniß mäßig wenig Trinklieder giebt. Fast gänzlich fehlt das
epische Element, und die Lyrik ist eine eng umgrenzte, beinahe ganz in Erotik
und sympathetischer Naturempflndung aufgehende. Aber innerhalb dieser Grenzen
entfaltet sich eine zarte, naive VoltLSseele zu überraschendem Reichthum und
fesselnder Schönheit.
Über die Art wie seine Sammlung zu Stande gekommen ist, berichtet Bartsch
in umsichtig und anziehend geschriebenen Vorreden. Der erste Band sollte vor-
zugsweise Volkslieder enthalten, die bisher noch nirgends veröffentlicht waren,
der zweite die in Büchern und Zeitschriften verstreuten bringen. Doch ließ sich
der Plan nicht durchführen, denn auch im zweiten Bande erscheinen über hundert
Melodien zum ersten Male, eine größere Anzahl noch als im ersten. Das brachten
die Verhältnisse so mit sich, und es fällt uns ebensowenig ein, dem Herausgeber
deswegen einen Vorwurf zu machen, als wir ihn wegen der acht Rubriken, in die
er seinen Stoff gebracht hat, ausdrücklich loben wollen. Eine solche Sammlung
kann und soll verschiedenen Zwecken dienen: wer ästhetische Befriedigung in ihr
670
Kritiken und Refierate.
sucht» wird sie anders geordnet wünschen, als derjenige, dem sie, wie uns, musik*
wissenschaftliches Material bieten soll.
Die Vermuthung, daß yiele dieser litthauisehen Melodien ein hohes Alter
haben müssen, ist mehrfach ausgesprochen und durch den Hinweis auf ihre To-
nalität begründet worden. Auch Bartsch erwähnt »das auffallend h&ufige Herror-
treten der , griechischen' oder , alten Kirchentonarten'« und führt eine Anzahl Bet-
spiele an, wo dies der Fall sein soU (I, VII j. Hier hat er nicht glücklich ge-
wählt oder ist nicht gut berathen gewesen, denn neun dieser Beispiele stellen keine
»alten« Tonarten dar, hingegen hat er mehre zu nennen unterlassen, die dem
Leser, mein' ich, schon beim ersten Anblick auffallen müßten. Zur Verständigan^
sei Torausgeschickt, daß es sich um jene Octayengattungen handelt, welche seit
der Eweiten Hälfte des XVH. Jahrhunderts aus der europäischen Musik mehr und
mehr yerschwunden sind, also D, E, F, G, und in gewissem Sinne auch die Oe-
tavgattung A, welche sich mit unsrer Molltonart nicht yöUig deckt. Ich behalte
die griechischen Benennungen Dorisch, Phrygisch, Lydisch, Mixolydisch und Aeo-
lisch bei, obgleich sie jenen Tonreihen mit Unrecht gegeben sind.
Der französische Gelehrte Bourgoult-Decoudray hat anläßlich der Grammatik
der litthauisehen Sprache yon Kurschat und ihrer Musikbeigaben über eine litüian-
ische Volksmelodie Betrachtungen angestellt, die yon unserm Herausgeber würdig
erachtet worden sind, in deutscher Übersetzung wiedergegeben zu werden (I, XIX}.
Ich an seiner Stelle hätte dies nicht gethan , denn der Franzose spricht wie der
Blinde yon der Farbe. Aber die Melodie selbst ist freiUch der Beachtung werth.
Bartsch hat sie Band II Nr. 381 mitgetheilt, aber, wie es scheint, selbst nicht be>
merkt, daß sie im ausgeprägten Phrygisch steht. Ich bringe sie in ihre natürliche
Tonlage, wo sie sich, wie folgt, darstellt:
r==^=f.
Ach, ich Jun - ger, in den Krieg mußt ich hin - aus, Mei-ne LieVste
E^
i=
t
r=t
^
ließ im Rum-mer ich zu Haus, ach, ach, ach! Mei - ne Lieb-ste
im Kum-mer ich zu Haus. Mei - ne Lieb-ste
im Kum-mer
^
/ — h-
fr-
t=^
ä
t=t
ich zu Haus, Mit Ko-sa- ken schlug ich fer -ne mich her -um, ach, ach,
ach; Mit Ko - sa-ken schlug ich fer- ne mich her -um, ach, ach, ach!
Schließen wir noch einige Beispiele derselben Tonart an. Der Präcentor Budrius
in Pillupdnen hat um 1S40 eine Melodie aufgezeichnet, welche Bartsch Band I
Christian Bartsch, Dainu Balsai.
671
unter Nr. 160 mit der Vorseichnung von zwei Kreuzen wiedergiebt. Untransponirt
lautet sie so:
l^iJi-JiJvNl : A^j^;,|J- r. .
Eb - ne Wie • sen, grü - ne Dfim-me Wei - ße Klee - ge -fil- de,
fJI^^^T^
:iot
^^^^
:1s:
Dort mar-schi - ren weit - hin jauch-zend Zwei bra - ye Dra - go-ner.
£ine andere kürzere Melodie [II, Nr. 218) hat Bartsch selbst dem Volksmunde
abgelauscht :
[Andante quasi Hecit)
ritard.
j" j Ij I u-^gm^
-^
Wuchs auf bei Bö-sen, Lieb-te sie al-le, £i-ne doch nur wünscht ich mir.
Es fftllt auf, daß alle drei Melodien zu Texten gehören, in welchen vom Kriege
gehandelt wird. In dem letzten spricht ein Jüngling, der nachdem er drei Jahre
um sein Mädchen gefreit und sie endlich erworben hat, alsbald hinaus gegen den
Feind geschickt wird. Das zweite wird nach seiner fünften Strophe auf die Schlacht
bei Kunersdorf (1759} gedeutet. Trifft die Deutung zu, so kann die Melodie nicht
mit dem Texte zugleich entstanden sein. Es ist nicht denkbar, daß eine solche
phrygische Weise noch im XVIII. Jahrhundert erfunden wurde. Nehmen wir
auch an, daß in dem abseits gelegenen Litthauen die alte Musikübung sich l&nger
erhielt, als in den Haupt-Culturländem , so wäre doch immer die zweite Hälfte
des XVII. Jahrhunderts die äußerste Marke ihrer Entstehung. Davor dehnt sich
das Gebiet ins Unbegprenzte : sie kann im XVI. Jahrhundert entstanden sein, aber
auch viele Jahrhunderte früher; bis jetzt besitzen wir keinerlei Anhaltspunkte
einer genaueren Bestimmung.
Wie phry^sche Melodien, so sind auch dorische (I, 25; I, 60; I, 70], aeo-
lische (I, 27; I, 62; I, 73; II, 167), mixolydische (I, 8»; I, 20; I, 48; I, 51 u.a.m.)
in beträchtlicher Anzahl vorhanden. Selbst lydische fehlen nicht. Hervorzuheben
ist Nr. 357 im 2. Bande, weil der wehleidige Charakter der Tonart aufs trefflichste
zur Situation paßt: jemand ist gänzlich verarmt, er verkauft die letzten Kleider,
um noch ein paar Schuhe für sein Weibchen lu erschwingen , dann wandert er fort
mit dem Stab als einzige Habe :
Will al - le Klei -der ver - kau-fen, Kauf nur noch der Frau fei • ne
t^ltY-^
ä
Sehuh; 'Sist mir gar leid zn se- hen. Das Weibchen bar-fuß ge-hen.
672
Kritiken und Referate.
Die zweite Hälfte der Melodie ist rhythmisch nicht in Ordnung; ich gebe sie aber
so, wie Bartsch sie sich nach P. von Bohlen's Aufzeichnung hat gefallen lassen,
da es hier mehr nur auf die melodischeJFQhrung ankommt. Drei andere Melodien
[I, 16, I, 151, II, 173) lassen zwar auch den lydischen Tritonus deutlich henror-
treten, nehmen aber gegen den Schluß eine dorische Wendung und haben größeren
Theils ein anderes Ethos. Eine fünfte (II, 262) schließt, was bei litthauischen
Melodien häufig Torkommt, auf der fünften Stufe und ist sehr merkwürdig durch
die Art, wie im Tritonus geschwelgt wird. Ein verlassenes Mädchen klagt:
3i=^
t
t
^
O Mond, du blas - ser, 0 Mond, du blei-cher, Welch dunk-le
3:aE^
t
Spu - ren Trägst du im Ant - litz!
Wenn hiernach als feststehend angesehen werden muß, daß der Bestand
der litthauischen Volksgesänge Melodien von hohem Alter enthält, so ist,
wie mir scheint, dem Forscher der Weg deutlich vor gezeichnet. Er hat zunächst
diese ältesten Bestandtheile auszusondern und muß von ihnen aus die Übergänge
verfolgen, welche die Melodiebildung bis in die moderne Zeit hinein erkennen
läßt. Auch Melodien in unserm Dur und Moll sind in großer Anzahl vorhanden.
Moll überwiegt stark, und Melodien, in denen es rein ausgeprägt ist, werden vi]X
ein Hecht haben, wenigstens in dieser ihrer Form als neuere Erzeugnisse anzu-
sprechen. Bei Dur-Melodien ist dies nicht ohne weiteres gestattet, weil das Dur
auch im Volksgesange früherer Jahrhunderte erscheint, namentlich bei den Deutschen,
deren Cultur die Litthauer, vorzugsweise berührte. Diejenigen Melodien aber,
welche weder in Dur oder Moll stehen, noch in das System einer der oben ge-
nannten Octavengattungen passen, müssen ZwischenbUdungen sein, die als solche
auch ihrer Entstehungszeit nach ungefähr bestinamt werden können. Früher als
ins XVn. Jahrhundert können sie nicht fallen. Dagegen bleibt die Möglichkeit
der Entstehung in neuer Zeit inmier offen, denn ein Volk , in welchem sich Me-
lodien alter Tonarten bis heute lebendig erhalten haben, kann sich auch noch jeden
Tag gelaunt fühlen, diese in moderner Richtung umzubilden.
Andererseits ist klar, daß wenn die Neigung zum Umbilden im Volke einmal
geweckt war, sie sich an solchen Objecten in verschiedenster Weise äußern konnte,
und die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß eine Menge Varianten der alten Melo-
dien bei ihm im Schwange gehen. Hier rühre ich an einen Mangel unserer sonst
so verdienstlichen Sammlung. Der Herausgeber hätte mehr, als geschehen ist,
darauf bedacht sein müssen, eine und (lieselbe Melodie durch das litthauische Ge-
biet zu verfolgen und sie möglichst vielen Personen abzuhören. Erweist sich diese
Methode schon bei einem Volksgesang, der wie der deutsche einen überwiegend
modernen Charakter trägt, als höchst ersprießlich — Ludwig Erks Arbeiten sind
in dieser Hinsicht ein noch immer unübertroffenes Muster — mit wieviel größerem
Erfolge wird man sie bei den litthauischen Volksliedern verwenden können.
Auch will ich nicht verschweigen, daß mir über die Zuverlässigkeit der Aufzeich-
nung bisweilen Bedenken gekonunen sind. Nicht bei den Melodien, welche Bartsch
selbst aus dem Volksmunde gesammelt hat. Offenbar ist er mit großer Sorgfalt
zu Werke gegangen, und an der nöthigen musikalischen Ausrüstung scheint es ihm
Christian Bartsch, Dainu Balsai.
673
auch nicht gefehlt zu hahen. Aber seine Gewährsmänner wollen mir nicht alle
gleich vertrauenswürdig vorkommen, namentlich v. Bohlens Aufzeichnungen dürften
nur mit Vorsicht zu gebrauchen sein. Nicht nur daß zur richtigen Erfassung so
eigenartiger Tongebilde Scharfe des Gehörs, musikalisches Gedächtniß und die
Fälligkeit gehört, von der gewohnten Musikweise zu abstrahiren — Dinge die nicht
ein jeder in dieser Vereinigung besitzt, und ein Phonograph ist nicht immer gleich
zur Hand — aber es hat auch manchem Sammler für erlaubt gegolten, willkürlich
zu ändern, wenn er der Meinung war, daß die Melodie »ursprünglich wohl so ge-
wesen sein müsse«. Der Lockung scheint man besonders in solchen Fällen erlegen
zu sein, wo man eine alte Tonart zu entdecken glaubte, die aber nicht rein aus-
geprägt schien. Sind darauf hin nicht manche chromatische Zeichen getilgt worden,
die das Volk doch wirklich anwendet? Budrius aus Fillupönen hat um 1&29 eine
Melodie aufgezeichnet, welche Bartsch I, 24 mittheilt. Nach demselben Budrius
ist die Melodie schon in den »Neuen Preußischen Provinzialblättem von 1648« ver-
öffentlicht. Dort ündet sich, wie eine Anmerkung unseres Herausgebers sagt, von
allen Erhöhungszeichen, mit denen sich uns die Melodie vorstellt, keines außer
dem ^ vor g. So steht allerdings eine reine phr}'gische Melodie da, die nur aeo-
lisch cadenzirt, während die Aufzeichnung unserer Sammlung eine Mischbildung
bietet. In welcher Gestalt hat denn nun Budrius die Melodie gehört? Mir scheint,
hier hat ein »Kenner« ins Alterthümliche retouchirt.
Immerhin bietet die Sammlung doch einiges lehrreiche Material zur Beob-
achtung des genannten Umbildungsvorgangs. Ich muß mich auf wenige Bei-
spiele beschränken, aber sie werden für den Zweck genügen. Eine mixolydische
Daina, welche 1886 südlich von iMemel gehört w^orden ist, lautet so (II, 169):
Weich.
P
:sri
t
r-n—piDi
-#-*
Vor mei - nes Va - ters Glas - blan-kem Fen - ster Grün - te
'ritard.)
ein
prächt - ger öl - bäum, Grün-te ein prächt - ger öl - bäum.
Zum letzten Tone sei bemerkt, daß manche Dainos-Melodien auf der zweiten,
einige sogar auf der siebenten Stufe endigen. Das ist aber wohl weniger als wirk-
licher Schluß zu verstehen, wie als Zurückleitung in den Anfang. Eine Daina
hat immer mehre Strophen und so vertritt, wenn Ich meiner Empfindung trauen
darf, der Anfangston der folgenden Strophe in solchen Fällen zugleich den Schluß-
ton der vorhergehenden, bis auf die letzte Strophe, die dann mit einer sehr eigen-
thümlichen Wirkung wie in der Luft schweben bleibt. Der mixolydische Charakter
der Melodie tritt deutlichst hervor. In einer anderen Gegend Litthauens aber
singt man sie modcriiisirt; Bartsch hat sie 1856 folgen dergestalt notirt:
Vor mei-nes Va - ters Glän-zen-dem Fen-ster Grünt' wohl ein prächtiger
../-j
PI
Öl -bäum, Grünt' wohl ein prächt'ger Baum.
674
Kritiken und Referate.
Hier haben wir einfaches Cdur. Nur noch die Hinneigung der Melodie zum g
deutet Yon fem auf die mixolydische Urgestalt.
Man betrachte nun diese Daina (II, 312*):
|i"ir3~3 f
^
PI 1
3t
-^j ir ^ I
Als ich so hin - '.ritt An der Wie - se grün> An der Wie -se
#^
t
grün
Und bun - tem Klee - feld.
Das ist dorisch; und auch das /a im vierten Takte ist ganz systemgem&ß,
da die Bewegung wieder abwärts führt. Aber ein in modemer Vorstellung be-
fangenes Gehör konnte dadurch verleitet werden, die ganze Partie bis hierher als
Fdur zu empfinden. Wie denn auch geschehen ist:
i
1^-
4r
X
x=x
12.
X
Als ich so hin - ritt An grü - ner Wie - se, An grü - ner
ä
\
32
3
Wie- se Und bun -tem Klee-feld.
Das ist eine Melodie in Fdur, welche nach DmoU modulirt.
Das litthauische Volk singt nur einstimmig und unterscheidet sich hierdurch
scharf von den Russen, die bekanntlich gern eine naturalistische Mehrstimmigkeit
improvisiren. Aber es erklärt sich hieraus leichter, warum die Octavengattungen
immer noch bei den Litthauem in Gebrauch bleiben. Diese Tonreihen dulden
zwar eine Mehrstimmigkeit, aber ihr inneres Wesen beruht nicht auf üu, und
kommt besser zur Entfaltung ohne sie. Eigenartige Instrumente haben sie mehre
und musiciren eifrig auf ihnen. Bartsch widmet ihnen eine besondere kleine Ab-
handlung mit Abbildungen (II, XI — XV und 2 Tafeln). Er sagt nichts darüber,
wie sich die Instrumente dem Gesänge gesellen, was doch in diesem Falle be-
sonders wichtig wäre. Annehmen aber darf man, daß dieses nicht nach den Re-
geln der modernen Harmonielehre geschieht. Natürlich haben sie sich der har-
monischen Anschauung unserer Zeit nicht verschließen können, und sehr viele
ihrer neuern Lieder sind in Bau und Modulation den unsem gleich oder wenigstens
ähnlich. Aber wo sie in auffalligerer Weise abstechen, wird man immer zunächst
versuchen müssen, dies auf rein melodischem Wege zu begpreifen. So besonders,
wenn sie in eine andre Tonart ausweichen. Das letzte der angeführten Beispiele
hat gezeigt, daß eine solche Ausweichung ursprünglich gamicht vorhanden ge-
wesen zu sein braucht. Aber Modulation im Sinne vom Hinübergehen in eine
andre Tonart ist auch im rein melodischen Gesänge möglich und schon die
Griechen bedienten sich ihrer. Nur vollzieht sie sich in andrer Weise : der Grund-
ton der neuen Tonart bleibt derselbe, wie der der verlassenen, aber die Tonreihe,
welche auf ihm aufgebaut wird, ist anders geordnet. Bei uns verhält es sich um-
gekehrt, im Dur, versteht sich, dessen Potenz allein den vollen Gegensatz zur
Christian Bartsch, Dainu Balsai.
675
alten Theorie darstellt: die Scala der durch Modulation erreichten Tonart ist
dieselbe, aber ihre Lage im Tongebiet eine andere. Ich meine nun unter den
Dainos eine Melodie gefunden zu haben, in welcher rein im alten Sinne ausge-
wichen wird (I, 110) :
i
Ä
s
?=a
Könnt ich er - rieh - ten Auf ho - hem Berg ein Haus - chen,
-^ — 1-5-
i=ö?=t=i:
=S^
Und da - rein se - tzen De-mant - ne Fen - ster- lein.
Der Harmonist unsrer Tage wird geneigt sein zu sagen, diese Melodie stehe in
Cdur, modulire im zweiten Theile nach Fdur und kehre mittelst Halbschlusses
nach Cdur zurück. Mir scheint, daß es eine mixolydische Melodie ist, deren
zweiter Theil ins Dorische modulirt und in dieser Tonart auch abschließt. G ist
Tonica für beide Theile, aber im ersten wird die Tonreihe gahcdefg^ im
zweiten die Tonreihe g ah c d e f g auf sie bezogen. Und hier leistet mir eine
Variante erwünschte Dienste (I, 109):
i
b» I #-JVfc
Arn*:
E
.^<_±
t
ä^
m
Gern würd ich schmücken Mit - ten im Hof ein Stüb - eben,
S
i=-^*-T-
t
Wür - de drein se - tzen Zwei hei - le Spie - gel - fen - ster.
Ein wunderlich untonales Gebilde! Aber eines lehrt es mit Bestimmtheit: die
Sängerin dieser Daina, welche die ursprüngliche Tonalität der Melodie nicht mehr
verstand und sie daher in solcher Weise umbildete, faßte den zweiten Theil moll-
artig auf, und suchte Ton hier aus auch den ersten Theil einigermaßen conform
zu gestalten. In der Auffassung des zweiten Theils wurde sie durch Tradition
und Empfindung sicherlich richtig geleitet. Dann kann dessen eigentliche Tonart
aber nur das Dorische gewesen sein, welches ja auch zum Mixolydischen in naher
Verwandtschaft steht. Man wird, glaube ich, auch finden, daß die Melodie, so
Terstanden, einen ganz eigenen Keiz in sich birgt, der bei der andern Auffassung
nicht Torhanden ist.
Freilich, nicht immer gelingt es, so tief in die Genesis dieser Tonwesen hinein-
zublicken. Manche spotten in schrankenloser Launenhaftigkeit jeder Hegel, andre
lassen wenigstens zweifelhaft, wohin sie gehören, und ein gewisses Recht dazu
soU man dem Volksgesang immerhin zugestehen. Indessen glaube ich, daß gerade
bei solchen scheinbar regellosen oder unbestimmten Melodien scharfe Beobachtung
der Tonfolgen und sorgfältigere Variantensammlungen noch manches Räthsel lösen
könnten. Andre Seltsamkeiten erklären sich ohne weiteres aus dem Wesen ein-
stimmigen Gesanges. Es ist nicht durchaus nothwendig, daß eine Melodie immer
auf der Tonica schließt, noch weniger, daß sie stets auf dieser beginnt Es kommt
1891.
45
g76 Kritiken und Referate.
nur darauf an, daß im Verlauf der Melodie überhaupt ein Ton als der beherr-
schende hervortritt. Die Dainos schließen denn auch auf den verschiedensten
Stufen, besonders oft auf der fünften und dritten, aber auch auf der vierten und
zweiten, selbst auf der siebenten (U, 205«; 283); und sie beginnen nicht nur auf
der ersten, dritten und fünften, sondern auch auf der siebenten, vierten und
zweiten. Ich denke nicht fehl zu gehen, wenn ich diese letzte Erscheinung aus
dem natürlichen Bestreben erkl&re, beim Anfang eines Gesanges die Stinmie ein
weniges über das Mittelmaß zu erheben, wie sich andrerseits häufig Stellen finden,
wo tiefbetonte Silben noch um eine Stufe unter das Niveau sinken, welches nach
Maßgabe der Tonart das natürliche wäre. Wer das oben angeführte Beispiel
Nr. 110 betrachtet, wird bemerken, daß das Achtel des siebenten Taktes (/) ein
solcher übermäßiger,Tiefton ist Ahnliche Fälle bietet unsre Sammlung ziemlich
viele (Nr. 111, Takt 4; 239, Takt 4; 336. Takt 6; auch 57, Takt 3).
Über die rhythmischen Eigenthümlichkeiten der Dainos enthalte ich mich
des Urtheils, weil ich glaube, daß nur der Kenner der litthauischen Sprache zu
einem solchen berechtigt ist. Durch seine Übersetzung hat Bartsch es übrigens
auch dem Nichtkenner ermöglicht, den vielfachen Accentverschiebungen nachzu-
gehen, die hier vorkommen müssen. Vielleicht deutet die häufige Anwendung von
Hemiolen auf eine Beeinflussung durch das deutsche Lied des XVI. — ^XVTI. Jahr-
hunderts. Ein einziges Mal habe ich beim Schlußfall einer im dreizeitigen Maße
sich bewegenden Daina auch jene Synkopirung des zweiten und dritten Takttheils
auf einer schwach betonten Silbe gefunden, welche in den - deutschen Gesängen
des XVn. Jahrhunderts Manier geworden ist (I, 26) , und möchte um so eher
glauben, daß die — aeolische — Melodie aus dieser Zeit stanmit, als die Er-
höhung der sechsten Stufe im fünften Takt eine chromatische Eleganz ist, die
dem Wesen damaliger Musik durchaus entspricht.
Ich schließe mit einem doppelten Wunsche. Möchten die Bemühungen um
das kunsthistorisch hochwichtige litthauische Volkslied, die bereits zu so schönen
Ergebnissen geführt haben, nicht nachlassen, und die Forschung nach jener Bich-
tung hin fortführen, die ich mir erlaubte anzudeuten. Möchten aber auch alle,
die es angeht, sich beeifern, von den Schätzen Besitz zu nehmen, die der fleißige
Verfasser für sie zusammengespeichert hat,
Berlin. Philipp Spitta.
Johann Lewalter ^ Deutsche Yolksliedei. In Niederhessen aus
dem Munde des Volkes gesammelt, mit einfacher Klavierbegleitung,
geschichtlichen und vergleichenden Anmerkungen herausgegeben.
1. Heft. Hamburg, 1890. G. Fritzsche. kl. 8. Vin und 68 Seiten.
Im Anschluß an das große Werk von Bartsch möge dies Heft hier kurz an-
gezeigt sein. Im Jahre 1885 gab Otto Böckel ein Buch »Deutsche Volkslieder in
Oberhessen « (Marburg, Elwert) heraus, das eine fleißige Sammlung von Texten,
dazu in einer ausführlichen Einleitung viel Lehrreiches und manch ein behenigens-
werthes Wort enthält. Lewalter sagt es nicht ausdrücklich, ist aber gewiß durch
dieses Buch zu seiner Arbeit angeregt worden. Böckel bietet keine Melodien und
tritt sehr gelehrt auf; Lewalter berücksichtigt Text und Musik gleichmäßig und
löst so, wenn auch in anspruchsloserer Form, seine Aufgabe vollständiger. Die
Johann Lewalter, DeutscLe Volkslieder. ^77
Melodien sind ihrer Mehrzahl nach bekannt, auch manches von dem^ was dem
Verfasser neu zu sein scheint, möchte sich anderweitig nachweisen lassen. Er hat
nicht bemerkt, daß die Melodie seiner Nr. 9 im wesentlichen mit der von £rk im
u Liederhort« unter Nr. 38» yeröffentHchten übereinstimmt, und Nr. 11 hängt ge-
wiß zusammen mit der Melodie des Handwerksburschenlieds »Es, es, es und es,
£s ist ein harter Schluß«. Der Werth des fleißig gearbeiteten Büchleins liegt
hauptsächlich in zwei Dingen t es lehrt an seinem Theile, wie der Volksgeist auch
an altererbtem Gut vermehrend, kürzend, umbiegend, anpassend, mischend in un-
ausgesetzter Thätigkeit ist, und giebt zugleich eine Statistik dessen, was zu einer
bestimmten Zeit auf einem engumgrenzten Gebiete Deutschlands an Volksliedern
noch lebendig war. Bei dem sicher bevorstehenden tieferen Niedergange des
deutschen Volksgesanges hat solch ein statistisches Bild seine geschichtliche Be-
deutung. Ich gestehe, der Bestand ist immerhin größer^ als ich erwartet hätte,
und scheint mit vorliegendem Hefte noch nicht einmal erschöpft zu sein. Der
Titel wenigstens stellt eine Fortsetzung in Aussicht, die wir dankbar aufnehmen
werden.
Berlin. Philipp Bpitts.
Otto Kade, Die ältere Passionskomposition bis zum Jahie 1631.
Erstes Heft. Gütersloh, Bertelsmann, 1891. 8. 80 Seiten.
Erste Lieferungen stückweise erscheinender Werke werden der Regel nach
in dieser Zeitschrift nicht besprochen. Wenn ich hier eine Ausnahme mache, so
geschieht es, um, so viel an mir ist, ein gutes Werk zu fördern. Otto Kade hat
sich ein langes Leben hindurch mit Sammeln älterer Passionscompositionen be-
schäftigt, und ein Material zusammengebracht, das ihn in den Stand setzt, die
Entwicklung dieser Kunstform auf breiter Grundlage darzustellen. Siebenund-
dreißig, zwischen 1500 und 1631 entstandene Werke dieser Art stehen ihm für
Beinen Zweck zu Gebote, darunter sind vierzehn, welche bisher Niemandem oder
nur Wenigen bekannt waren. Die beste Art, diesen Stoff zu Nutz und Frommen
der Wissenschaft zu verwenden, wäre nun die, daß die Passionen in einer um-
sichtig gearbeiteten, mit kritischen und erläuternden Bemerkungen versehenen Aus-
gabe der Welt vorgelegt würden. Aber hierzu gehören zwei: einer, der die Aus-
gabe macht und ein anderer, der sie verlegt. Und dieser andere wird sich nach
einem dritten Partner umschauen, dem Publicum, welches die Ausgabe kauft. Ob
ein solches vorhanden ist, könnte nur die Erfahrung lehren. Wer auf dem Felde
der Musikwissenschaft arbeitet, ist Zeuge, daß es oft ans Unmögliche grenzt, selbst
die werthvoUsten Arbeiten ohne schwere Opfer ans Licht zu bringen, und nicht
jeder mag einem neuen Unternehmen gegenüber das Risico laufen.
Kade sah sich daher genöthigt, die Form der mit Probestücken durchfloch-
tenen Beschreibung zu wählen , kann aber die Aussicht auf vollständige Mitthei-
lung wenigstens der wichtigsten Passionen eröffnen, wenn die Betheiligung der
bücherkaufenden Welt eine genügende sein wird. Selbstverständlich wünschen
wir, daß die Publication zu Stande kommt, und hoffen, unsere Leser thun das
gleiche, und geben ihrem Wunsche den entsprechenden Ausdruck.
Der Stoff gliedert sich von selbst in zwei Gruppen: die motettenhaften und
die dramatisirten Passionen. Die letztere Form ist die ältere, aber für eine ge-
schichtliche Darstellung empfiehlt es sich, sie an zweiter Stelle zu behandeln, da
45*
ß78 Kritiken und Referate.
sie es ist, auf deren Grunde sich die Passion zur höchsten Höhe hebt, während
die motettenhafte Form abstirbt. So hat denn Xade auch gethan. Im vorliegenden
ersten der angekündigten sechs Hefte bespricht er nach kurz orientirender Ein-
leitung die Werke von Hobrecht, Gralliculus, Resinarius, Johannes Gallus, Cyprian
de Rore, Ludwig Daser, Bucenus, Ruffus, Jacobus Gallus, Regnart, Gese und die
ältere Passion des Joachim von Burck. In jedem Falle giebt er Quelle und Fund-
ort der betreffenden Composition, beschreibt deren äußere Erscheinung, sucht das
Entstehungsjahr festzustellen, untersucht den Text, darnach Form und Charakter
der Musik und weist auf das Verwandte oder Gegensätzliche zwischen ihm und
den umgebenden Werken derselben Gattung hin. Reichliche Musikbeispiele ver-
deutlichen die Beschreibung; ein sinniger Gedanke ist es, jedesmal die vollständige
Anfangspartie eines Werkes dem Beginn der Untersuchung vorauszuschicken, und
so den Leser gleichsam mit den Worten des Componisten selbst zu grüßen.
Dem Bruchstück gegenüber muß jede Kritik unzulässig erscheinen, die mehr
sagt, als was in Vorstehendem eingeschlossen ist. Die Bitte, auf Correctheit des
Druckes genau Acht zu geben, sprechen wir aus, weil uns in Text und Noten des
Heftes mehre Satzversehen aufgefallen sind. Gewiß wird der Verfasser überall
auch den erreichbarsten Grad von Prägnanz und Anschaulichkeit in der Darstellung
anstreben. Er weiß so gut wie wir von den Schwierigkeiten, die ein Schriftsteller
bei Beschreibung eines Musikstücks überwinden muß, und daß er schon viel er-
reicht hat, wenn es ihm gelingt, nicht mißverstanden zu werden.
Berlin. Fhüipp Spitta.
Notizen.
Speronies. Es ist mir eine kleine Notiz über Sperontes zugegangen, die ich
an diesem Orte bekannt machen möchte, wo ja zum ersten Male das Dunkel
dieses Namens zu lüften durch Spitta yersucht wurde. (I. Jahrgang 1885, 1. Heft)
Sie bezieht sich auf eine Zinn-Medaille im Besitze des Herrn Begierungs-
raths M. Meissner in Altenburg. Vorderseite: Umschrift: »Sigismundus Scholz
Aet, 50«. Brustbild des Genannten nach Links mit AUongenperrücke, gesticktem
Bock und gestickter Weste. Unten »C. F. Loos«, das ist der Nürnberger, nicht
der Berliner Künstler.
Rückseite: das Wappen des Genannten, im goldenen Felde zwei gekreuzte
Schnabelflöten, welche ebenso zwischen der Helmzier, zwei an den Spitzen aus-
wärtsgebogenen BüfiPelhömern , erscheinen; Umschrift: »Pars mea deus — in
aeiemumn. Im Abschnitt unten 1767.
Der Besitzer hat oft, aber vergeblich gesucht, wer dieser Scholz gewesen sei,
hat auch diese Medaille in keinem der vielen Münzkataloge gefunden. So enthält
Ampachs ausführlicher Katalog nur eine Medaille |auf M. Job. Heinr. Scholz,
einen Lehrer in Langwaltersdorf, geb. 1729 (Jubiläum 1805). Die vorliegende
Münze ist sehr gut geprägt.
Der Besitzer vermuüiet nun, diese Münze sei 1767 von Verehrern des Dich-
ters veranlaßt worden, also 17 Jahre nach seinem Tode, wenn Sperontes jener Scholze
aus Lobendau war (geb. 20. März 1705). Eine Titelangabe fehlt: dies könnte
sich aus der Verbummelung des Scholze erklären. Andererseits scheinen mir die
Schnabelflöten allerdings sehr auf einen Musiker hinzuweisen, die auch als Schluß-
vignetten im Buche selber einigemale begegnen. Ich knüpfe hieran keine weiteren
Schlüsse, zu denen ich mich nicht berufen fühle.
Einen kleinen Druckfehler in Spittas Aufsatz möchte ich zum Schluß noch
angeben. Der Neudruck von 1742 druckt bei den vier falschen Liederanfängen
25 : 10. (Nicht 15 : 10; Anmerkung 2. S. 39.)
Dresden. B. Kade.
Zu 8. 178 ff. dieses Jahrgangs der Vierteljahrssehrift f. M. Durch die freund-
liche Mittheilung des Herrn C. Krebs in Berlin wurde ich auf eine Handschrift
aufmerksam gemacht, welche den Forschern, die sich bisher mit Sweelinck be-
schäftigt haben, entgangen ist.
Mscr. nr. 62 der Kgl. Bibliothek Berlin, ein Band in quer 4^, ist eine noch
nicht bekannte Kopie des Sweelinck^schen Lehrbuches. Ich möchte hier einige
Bemerkungen über ihr Verhältniß zu den beiden anderen uns bekannten Kopien
ßSO Notizen.
(Hamburg. Stadtbibl.) nachtragen. Auf dem Vorderdeckel des Bandes steht : »Bcr-
chardus Oramman, Anno 1657«. Der Innentitel des unpaginierten Buches lautet:
»Compositum Regeln
Herrn
3f. Johan Peierson Sweling
gewesenen
Vornehmen Organigten in
Amsterdam^ .
Wie der Zeit nach, so gehört auch inhahlich dies Mscr. 62 zwischen die beiden
Hamburger Mscr. 5383 und 5384. Es hat überall die kurze und knappe Fassung
von nr. 5383 und ist nur in einigen Absätzen etwas ausführlicher ; es ist aber nicht
mit so viel eigenen Ausführungen des Schreibers durchsetzt wie nr. 5384. Der
Inhalt von nr. 62 deckt sich im einzelnen fast genau mit dem von nr. 5383. Zieht
man dazu einige Eigenthümlichkeiten der Schreibung mit in Betracht, so stellt
sich nr. 62 als einfache, nur in einigen Funkten erweiterte Kopie von nr. 5383 dar.
Über die Ferson des Schreibers, Burchard Gramman, habe ich nichts in
Erfahrung bringen können; er muß aber jedenfalls mit den Hamburger Schülern
Sweelincks in Verbindung gestanden haben. Daß Oramman selbst Organist war,
dafür sind mehrere Anzeichen vorhanden. Er nimmt auf die Bedürfnisse der Or-
ganisten Rücksicht, indem er in seinen Beispielen unter die einzelnen Noten die
entsprechenden Buchstaben und Zeichen der Orgeltabulatur setzt. Ganz am
Schlüsse macht er eine Bemerkung, welche sich in den beiden Hamburger Kopien
nicht vorfindet: »Vor einen Organisten, der zur Teutschen Tabulatur gewohnet,
Vnd sich in die Noten Vielleicht so gar nicht richten könte : deuchtet mich nicht
Vneben, die Modos auff diese Art zu Vnterscheiden«. Und nun folgen zwei kleine
Tabellen, in welchen er die Hauptakkorde der » Modi Auihentici aeu Reguläres In
Cantu duro « imd der » Modi Plagales seu Transpositi In Cantu ^ moüin zusammen-
stellt. —
Noch bitte ich die Leser dieser Zeitschrift, auf S. 147 den Noten des Altes
im ersten Beispiel diese Messung: ^3 J zu geben; die zweite Note, e, muß über
dem e des Basses stehen; ebenso S. 158, 3. Beispiel, Takt 2. Auf S. 196 oben und
240 unten verbessere man nJering«, Jering war, wie aus Dreyhaupt hervorgeht,
nicht Pastor an St. Moritz gewesen. Damit wird der letzte Anspruch, den das
S. 196 erwähnte BQd darauf erheben konnte, S. Scheidt darzustellen, beseitigt. Auf
Seite 188 endlich wolle man bemerken, dass Scheidt im Jahre 1621 eine Sammlung
von Tänzen erscheinen ließ, auf deren Titel er sich schon oOrganista et CapeÜae
Magister 91 nennt Seine Ernennung zum Kapellmeister muß also Ende 1620 oder
Anfang 1621 erfolgt sein.
Charlottenburg. Max Selffert.
Gaudeamus igitur. In den »Burschenschaftlichen Blättern« von 1891 vor-
öffentlicht Dr. A. Kopp eine Abhandlung über die Entstehung des Gaudeamus
igitur, in welcher er zu dem Ergebniß »gelangt, daß das berühmte Studentenlied
weder von hohem Alter, noch, wie bisher angenommen wurde, als das Vorbild zu
Günthers » Brüder I laßt uns lustig sein« anzusehen sei. Die Sache verhalte sich
vielmehr umgekehrt, Günthers Lied sei das Original und das Gattdeamus die Nach-
bildung. Der von Kopp geführte Wahrscheinlichkeits-Beweis hat etwas sehr ein-
leuchtendes, und wenn es nicht endlich noch gelingen sollte — was bis jetzt ver-
Notizen. gg|
geblich angestrebt worden ist — das Vorkommen des Oaudeamas in früherer Zeit
irgendwo nachzuweisen, dürfte es bei Kopps Annahme dauernd sein Bewenden
haben. Ich erwähne sie hier nicht nur um meine Zustimmung kund zu geben,
da ich früher die allgemeine Meinung theilte, sondern besonders um stärker als
es durch ihn selbst geschehen ist hervorzuheben, daß Kopps Ansicht auch durch
die Beschaffenheit der Melodie gestützt wird. Er macht darauf aufmerksam, daß
das Gedicht ursprünglich nur vierzeilige Strophen gehabt haben müsse, welche erst
wegen der auf einen größeren Umfang angelegten Melodie zu fünfzeiligen erwei-
tert seien. Gewiß, und die Erweiterung ist mit einer Unbekümmertheit um Sinn
und Gedankenfortschritt vorgenommen worden, wie sie nur der fröhlichen Burschen-
weit eignen. Am meisten gilt dies von der zweiten Strophe : auch wenn man in
der letzten Zeile statt Ubijamfuere conjicirt Übt sunt? Fuere!, ein vernünftiger
Sinn kommt dennoch nicht hinein. Aber selbst für eine fünf zeilige Strophe ist
die Melodie immer noch zu lang. Sie fordert mit ihrem zweigliedrigen, zu wieder-
holenden Aufgesang und ihrem dreigliedrigen Abgesang 2 x 2 + 3 ss 7 Zeilen.
Es widerstreitet einem Grundgesetz des Liedbaues, den Aufgesang zu denselben
Worten zu wiederholen, wie es doch im Gaudeamus igiiur geschieht. Sieben Zeilen
aber hat die Strophe in Günthers Gedicht. Also wird die Gaudeamus-yLeloöie ur-
sprünglich auch für dieses erfunden worden sein.
Somit ließe sich der Entwicklungslauf folgend ergestalt skizziren. In Leipzig,
zwischen 1717 und 1719, entstand Günthers Gedicht. Man sang es zuerst im
Tanz-Bhythmus einer Sarabande in Moll. Dieser Bhythmus ist auch der Dur-
Melodie eigen geblieben, welche sich sonst aus der Melodie zu Günthers »Nahrung
edler Geister« entwickelt zu haben scheint (s. Jahrg. 1885 dieser Zeitschrift, S.98f.).
Angeregt durch Günthers Lied dichtete, richtiger wohl: improvisirte in der Folge-
zeit ein Studiosus das Gaudeamus mit vierzeüigcr Strophe. Er mochte vom elter-
lichen Pfarrhause her das mittelalterliche Gedicht de contemptu mundano kennen
(die einzige bis jetzt entdeckte Quelle des Gaudeamus) und entlehnte ihm ungenirt
das Wortmaterial der zweiten und dritten Strophe. Welcher Melodie er sein
Kunstwerk gesellte, wissen wir nicht. Wie aber der Text an Günthers beliebtes
Lied erinnerte, so verlangte man auch nach dessen Melodie. Nun wurden die
Strophen, so viel es ihrer damals sein mochten, zu fünfzeiligen breit getreten.
Dies alles wird um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts, kann keinesfalls vor dem
Jahre 1736 geschehen sein, in welchem der erste Theil der »Singenden Muse an
der Pleiße« erschien, der noch die Moll-Melodie enthält. 1780 waren Text und
Melodie allbekannt. 1781 spricht Kindleben vom Gaudeamus igitur als einem
s alten Burschenlied «. Sein Ursprung war also unter der leichtlebigen Jugend da-
mals schon vergessen. Das wird niemanden Wunder nehmen, der verwandte Vor-
gänge aus unserm Jahrhundert vergleicht. Wie viele der Tausende, die es Jahr
für Jahr singen, kennen die Geschichte des Lieds vom »lustigen Musikanten, der
einst am Nil spazierte«? Oder wie viele wollen sie kennen?
Philipp Spltta.
Musikalische Bibliographie
von
Prof. Dr. F. Ascherson,
Bibliothekar und erstem CnstoB der Königlichen Üniyersitäts-Bibliothek zu Berlin.
L Geschichte der Musik.
Ambros^ A. W., Geschichte der Musik. 3. Aufl. Besorgt von O. Kade. 3. Bd. XV,
640 S. gr. 8. Leipzig, F. C. E. Leuckart. n. 12 uT. [S. ob. Bd. m. S. 610.]
Annuaire du conservatoire Royal de Musique de BruxeUes. Qucctorzihne annee.
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BautZy J., Geschichte des deutschen Männergesanges in übersichtlicher Darstellung.
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Yon Kirchenmusikalien. V, 80 S. gr. 8. Passau, Rudolf Abt, Verlags-Conto in
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Musikalische Bibliographie. 683
Conrersations-Lexikoiiy musikalisches. Begründet Yon H. Mendel. Vollendet von
A. Reissmann. Neue wohlfeile Stereot>'p-[Titel-]Au8g. (In 20 Abtheilungen.
Abthlg. 1. 2. 1. Bd. IV u. S. 1—636. gr. 8. Leipzig, List u. Francke. ä n. 2 uT.
Coquardf A., De la tntisique en France depuis Rameau. 18. Paris j C. Levy,
3 fr. 60 c.
Crowest, F, •7'., Cherubini. 8. London^ S. Low and Co. 3 sh.
Derrtent, E. , Meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn Bartholdy und seine
Briefe an mich. 3. Aufl. 284 S. 8. Mit 1 Stahlstich und 1 Facsimile. Leipzig,
J. J. Weber, n. 4 Uf 50 J^r. geb. n. 6 uT.
Eitner, R, Quellen- und Hilfswerke beim Studium der Musikgeschichte. V, 55 S.
gr. 8. Leipsigi Breitkopf und HärteL n. 2 Jf.
Engrl) J-} Festschrift zur Mozart-Centenarfeier in Salzburg am 15., 16. u. 17. Juli
1891. Vortrag. 123 S. gr. 8. mit 1 Bild. Salzburg, Heinrich Dieter, Hofbuch-
handlung in Comm. n. 2 Jf.
JBvenepoel, F., Le Wagnirisme dans rAUemagne. 18. Paris, Librairie Fischhacher
3 fr. 60 c.
Friedlftnder, Max, Musikerbriefe (an Goethe Yon Mendelssohn, Schubert u. Berlioz;
außerdem zwei bisher ungedruckte Mozarts aus Goethes Autographensamm-
lung). Im XU. Band des Goethe-Jahrbuchs. 1891. S. 77—132.
Forkelf J. N., Vie, talents et travaux de Jean-Sehasiien Bach. Traduii de faUe-
mand par F4lix Grenier. 18. Paris, Librairie Fischbacher. 2 fr. 60 e.
OtMetf L., Notes dun librettiste. Musique contemporaine. 18. Paris, C. Levy.
3 fr. 60 c.
rcüßQyiov J. üaJtaöoTtovXov , nqoidqov rov Ip KtovaxavxtvovnoXBi fAovtnxov
avXXoyov yfOqcpitog** SvfAßoXal Big ttjv iarogtay trjg nag rjfjuv ixxXrjffiaffux^g
fiovciXTJg, 'Ev M^ivaig. 1890. 8. t} und 692 Seiten.
deraerty F. A. , Der Ursprung des römischen Kirchen gesanges. Musikgeschicht-
liche Studie. Deutsch von H. Biemann. 87 S, Lex.-8. Leipzig, Breitkopf und
HärteL n. 2 uT 80 J^r.
Gjellerupf K,, Richard Wagner i hans hovedxjoerk nNibelungetis Ringa. 8. Kopen-
hagen, Philipsen. 4 kr.
Cmman, Benjamin Ivers, Zuhi Melodies. Aus: A Journal of American Arehae-
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Glasenapp^ C. F., Bichard Wagner als Mensch. Ein Vortrag gehalten im Wagner-
Verein zu Riga. 3. Abdr. 32 S. gr. 8. Kiga, W. Mellin u. Co. haar 1 Jf.
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lagsbuchhandlung. 1891. 8. IV und 97 Seiten.
T« Helnemann 9 O. , Die Handschriften der herzoglichen Bibliothek in Wolfen-
büttel, beschrieben. 8. Abth. Lex.-8. Wolfenbüttel, Julius Zwissler. n. 12 Jf,
Inhalt: Die Handschriften nebst den älteren Druckwerken der Musik- Ab-
theilung, beschrieben von E« YogeL VIH, 280 S. Mit einer Facsimile-Tafel.
HeintCy A, Bichard Wagner's Tristan und Isolde. Nach der musikalischen Ent-
wickelung des Werkes in den Motiven dargestellt. 75 S. gr. 8. mit 66 einge-
druckten Notenbeispielen. Charlottenburg, Verlag der Allgemeinen Musik-
Zeitung (Otto Lessmann) n, i Jf.
Seron^Allenf Edward, De ßdiculis bibliographia, being a basis of a bibliography
of the Violin and all other instruments played with a bow in ancient and modern
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HeBSe's M., Deutscher Musiker-Kalender f. d. J. 1891. 6. Jahrg. 415 S. gr. 8. mit
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und 24 S. Musikbeilagen. Leipzig, F. A. Brockhaus. n. 16 Ulf., geb. n. 20 •#.
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und 127 S. Lex.-8. Kegensburg, Friedrich Pustet n. 2 Ji. (Inhalt: Q^mlpu
Lame9iiati<me8 quatuor vocibus aequalibtis concinendae von Giovanni Maria
Nanino. Partitur. — Abhandlungen: U. Kornmüller, Die alten Musiktheore-
tiker [2. Abtheilung]. A. Walter, Beiträge zur Geschichte der Instrumental-
musik bei der katholischen Liturgie. G. M. Dreves und W. Bäumker, Beiträge
zur Geschichte des deutschen Kirchenliedes. G. Klein, Der liturgische Ge-
sang. Schafhäutl, Erinnerungen an Caspar Ett Haberl, Archivalische Excerpte
über die herzoglich ba3Tische Hofkapelle. Haberl, Giovanni Maria Nanino.
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2. Aufl. V, 313 S. gr. 8. Leipzig, A. G. Liebeskind. an. 4 uff.
Klimmerle, S., Encyklopädle der evangelischen Kirchenmusik. Lief. 22. 23. 24.
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'Kufferathf M., Le theätre de R. Wagner. De Tannhaeuser ä ParsifaL IS. Paris^
Lihrairie Fischbacher. 2 fr.
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jAtthtnUf M.f The renaisaance of musie. 6, London^ Stott, 6 sh,
JLavoix fils, H.j La musique francatse, Paris j Maison Qtumtin, 1891. 8* d fr, 50 c,
IdEtiSUttOf della musica sacra in Italia: nozione. 3 voll, 202, 216, 154 p. Venezia,
tip. dei frat, Visentini,
JUemairs of Jenny Lind- Goldsehmidt Collected hy O. Goldschmidt, H, S. Holland
and W, S. Rockstro, 8, London, J, Murray, 32 sh.
MUrovic, B. , Feder ico II e Vopera sua in Italia. Studio. 127 S, gr. 8, Triest,
F. H, Schimpf, n, 3 Jf 20 ^.
Monatsbericht über neue Musikalien. Verzeichnis aller im Bereiche des deutschen
Musikalienhandels erscheinenden Neuigkeiten. 1. Jahrg. : September 1890 bis
August. 1891. Nr. 1 u. 2. gr. 8. Ausgabe mit Angabe der Verleger jährlich
haar i J(., Ausgabe ohne Verlegerangabe für das Publikum baar 65 S^,
Huncker, F., Bichard Wagner. Eine Skizze seines Lebens und Wirkens. (Bayeri-
sche Bibliothek. Begründet und herausgegeben von K. y. Beinhardstoettner
und K. Trautmann. 26. Bd.) VI, 130 S. 8. mit Bildn. u. lUustr. Subscriptions-
preis n. 1 uT 25 ^. Einzelpreis n. 1 «iT 60 ^.
4. Aufl. Ebenda Einzelpreis n. 1 uT 60 ^.
, Richard Wagner, A sketch of his life and toorhs. Translated from the Ger-
man hy D. Landmann, revised hy the author. lUustrations hy H. Niste, VI,
112 S.8, Bamberg f C. C, Büchner^ sehe Verlagsbuchhandlung, n, 2 jU,
Musiker-Biographien« Bd. 12. Meyerbeer von A. Kohut (Universal-Bibliothek
Nr. 2734). 96 S. gr. 16. Leipzig, Ph. Reclam jun. 20 ^, l.S. ob. Bd. VI, S. 592.]
Mnsiker-Kalender, allgemeiner deutscher für 1891. Eed. v. B. Wolff. 13. Jahrgang.
XVI, 475 S. 16. Berlin, Rabe u. Plothow. Geb. n. 2 Ji.
ifeitzely O., Beethovens Symphonien nach ihrem Stimmungsgehalt erläutert. 101 S.
gr. 8. Köln, P. J. Tonger , Hofbuchhandlung, n. 1 Ji, geb. baar 2 uiT 50 ^.
Nei^ahrs-BIatty 79. der allgemeinen Musikgesellschaft in Zürich auf das Jahr
1891. 4. Zürich, S. Höhr, baar \ M 1^ ^, Inhalt: Die Vorläufer v. Job.
Seb. Bach. 20 S. mit 1 Bildniß und 2 Musikbeilagen.
NieckSy F., Friedrich Chopin als Mensch und als Musiker. Lief. 13. 14. 15 (Schluß).
8. Leipzig, F. E. C. Leuckart. ä n. 1 uT. [VIII, u. S. 385—410. 8. mit 3
Bildnissen und 1 Notenbeilage. [S. ob. Bd. VI. S. 592.]
Nisardf Th., L'arch^ologie musieale et le vrai ehant Gregorien. Grand in 8,
Paris, P. Lethielleux. 15 fr.
Ifaufflard, G., Richard Wagner d apres lui-mime. I. Developpement de Thomme
et de Vartiste, 18, Paris, Librairie Fischbacher. 3 fr, 50 c,
Oesterlein^ N., Beschreibendes Verzeichniß des Kichard Wagner -Museums in
Wien. Ein bibliographisches Gesammtbild der kulturgeschichtlichen Erschei-
nung Bichard Wagners von den Anfängen seines Wirkens bis zu seinem Todes-
tage, dem 13. Febr. 1883. III. Des Kataloges einer Richard Wagner-Bibliothek
1. Bd. XXXI, 517 S. Lex.'8. mit Bildniß des Verfassers in Heliogravüre.
Leipzig, Breitkopf und Härtel. n. iö Jf, geb. n. 17 uff 50 ^. [S. ob. Bd. U,
S. 535.]
IH€izzaf breve dissertazione storico-critica sul flaute, Pesaro, Federici 29 p. 8.
PolkOi E., Musikalische Märchen, Phantasien und Skizzen. Neue Ausgabe in 2
Bänden. 12. (Mit je 1 Titelbild.) Leipzig, Job. Ambrosius Barth. Qeb. mit Gold-
schnitt ä 6 Uf. L 22. Aufl. VI, 470 S. IL 12. Aufl. VI, 458 S.
JPougin, V Opera comique pendant la r^volution de 1789 ä 1801 daprh des docu-
ments inidits. 18. Paris, Albert Savine, 3 fr. 50 e.
ggß Musikalische Bibliographie.
Pudor^ H., Krieg und Frieden in der Musik. VII, 48 S. 4. Dresden, Oscar
Danom. n. 80 ^.
Rabe, M., Die Heroen der deutschen Tonkunst. Für die musikstudirende Jugend
sowie für alle Freunde der Tonkunst dargestellt. XV, 208 S. gr. 8. mit 8 Bild-
tafeln, n. 5 jH^ geb. n. 6 M,
Badecke^ Ernst , Das deutsche weltliche Lied in der Lautenmusik des IB. Jahr-
hunderts. Inaugural-Dissertation, Berlin 1891. 2 Bl. 52 u. 2 S. gr. 8. Leipzig,
Breitkopf und Härtel. [S. ob. S. 287 iff.]
Itadetf E.^ Lullyj Komme d" affaires, propriStaire et musicien, Avec 11 pUmekes.
4. Parte j Librairie de Vart, 15 fr,
Bintely W;., Die erste Aufführung der Jahreszeiten von Haydn in Leipzig und
Berlin und ein eigenhändiger Brief Haydn's an Zelter nebst dessen Antwort.
Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung. 1891. Nr. 22.
Bitter^ H., Bichard Wagner als Erzieher. Ein Volksbuch und zugleich Begleiter
zu den BajTeuther Festspielen. IV, 83 S. gr. 8. Würzburg, Stahel'sche Hof-
u. Univ.'Buchandlung. Verlags-Conto. Kart. n. 1 .4^ 50 ^.
T« SchlelnitZy A., Wagner's Tannhäuser und Sängerkrieg auf der Wartburg. Sage,
Dichtung und Geschichte. VII, 235 S. 8. Meran, F.W. Ellmenreich's Ver-
lag, n. 4 ur 50 ^.
Schneider, L., Pflege der Musik in Hussland. In: Unsere Zeit 1891. Heft 5,
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Schrattenholz, Das Beethoven-Museum in Bonn. Die Gegenwart. 1891. Nr. 7.
Schfiz, A., Die Geheimnisse der Tonkunst. IV, 348 S. Stuttgart, J. B. Metzler'-
sche Buchhandlung. Verlags-Conto. n. 4 Ulf 50 ^, in Halbfranzband. n. 6 Jl.
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, Spontini in Berlin. In : Deutsche Rundschau, XVH. Jahrgang, Heft 6. Man
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, Niels W. Gade. Ebenda, Heft 9. Juni 1891, S. 340—355.
Tenger^ M., Beethoven's unsterbliche Geliebte nach persönlichen Erinnerungen.
2. Aufl. 72 S. 12. Bonn, P. Neusser. n. 1 uT 20 ^. [S. ob. Bd. VI, S. 590].
TeppCf A., Premier problhne GrSgorien. Natur e et fixation du rythine liturgique
paroiseiaL Nouvelle Edition. 18. Paris, Librairie Fischbacher. 6 fr.
Tijdschrift der Vereeniging voor Noord-Nederlands Muziekgeschiedenis. Deel 111,
4. Stuk. Amsterdam, Muller ^ Co, 1891. C Inhalt.- J, P. N. Land, Het toon-
stelsel van Christian Huygens. — J, P. N. Land, Joan Albert Ban en de theorie
der toonkunst. — J. P. N. Land, Nalezing op de muzikale hriefwisseling van
Constantin Huygens. — «T". P. N. Land, Middeneeuwsche Kerkmuziek in Neder-
landsche Archiven. — W. P. H. Jansen, Een en ander over een paar oude gee~
stelijke liederen. — W. P. H. Jansen , Petrus Maachicortius an Petrus Men-
sius. — Programmä's van historische Concerten. [S, ob. Bd, VI, S. 593.]
JPrince de Valorif La musique, le bon sens et les deux op^as. 16. Paris, Cal-
man Levy. 3 fr. 50 c,
TerzeichniSS der im J. 1890 erschienenen Musikalien auch musikalischen Schrif-
ten und Abbildungen mit Angabe der Verleger und Preise. 39. Jahrgang od.
6. Reihe 5. Jahrg. VII, CXXVI, 442 S. gr. 8. Leipzig, Friedrich Hofmeister.
n. 16 Jf, Schreibpapier n. 18 JK.
Vik, Ole Buü. 8. Bergen, Mons LitlerS, 5 kr.
Wagner^ Peter, Palestrina als weltlicher Komponist. Inaugural-Dissertation. Straß-
burg. 1890. 8. 63 S.
Musikalische Bibliographie. 687
If aldemary H., Musikalische Lebensbilder. V, 150 S. gr. 8. mit 6 VoUbildem und
zahlreichen Textillustrationen von G. Franz. Stuttgart, Süddeutsches Verlags-
Institut. Geb. n. 4 Uf 50 ^.
Wolff^ L.> Das musikalische Motiv, seine Entwickelung und Durchführung. I,
202 S. Lex.-8. Bonn, Friedrich Cohen, n. 2 uT 80 3jf,
T« Wolzogeiiy Erinnerungen an Richard Wagner. Neue Ausgabe. (Universal-Bib-
liothek Nr. 2381.) 77 S. gr. 16. Leipzig, Philipp Reclam jun. n. 20 ^.
, Thematischer Leitfaden durch die Musik zu Bich. Wagner's Farsifal, nebst
einem Vorwort über den Sagenstofif des Wagner'schen Dramas. 82 S. 8. 9. Aufl.
Leipzig. Feodor Reinboth, Verlagsbuchhandlung, n. 2 uff, geb. n. 2 uff 50 3jf.
Zelle^ Friedrich, J. Theile und N. A. Strungk. Zweiter Beitrag zur Geschichte der
ältesten deutschen Opern. Programm des Humboldt- Gymnasiums zu Berlin.
Ostern 1891. 24 S. 4. Berlin, R. Gaertners Verlag H. Heyfelder, n. 1 M.
[S. ob. Bd. V, S. 631.]
Zahliy Johannes, Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder, aus den
Quellen geschöpft und mitgetheilt. Vierter Band. (Die Melodien von den acht-
zeiligen trochäischen bis zu den zehnzeiligen inkl. enthaltend.) Gütersloh,
Bertelsmann. 1891. [S. ob. Band VI, S. 594.]
n. Theorie.
Aprile^ D. G., Gesangs-Übungen für Mezzo-Sopran mit Begleitung des Pianoforte.
Neue Ausgabe eingerichtet von Jenny Meyer. (Volks -Ausgabe Nr. 1268.)
Fol. Leipzig, Breitkopf und Härtel. 1 uff 50 .9'.
Dlenely O., Die moderne Orgel, ihre Einrichtung, ihre Bedeutung für die Kirche
und ihre Stellung zu Seb. Bach*s Orgelmusik. 90 S. gr. 8. Berlin, Bibliogra-
phisches Bureau, n. 1 uff 50 .^.
Ehrlich, Heinrich, Musikstudium und Klavierspiel. Betrachtungen über Auffassung,
Rhythmik, Vortrag und Gedächtniß. Berlin, 1S91. M.Bahn. 8. 41 S.
Guttmanny O., Die Gymnastik der Stimme, gestützt auf physiologische Gesetze.
Eine Anweisung zum Selbstunterricht in der Übung und dem richtigen Ge-
brauche der Sprach- und Gesangsorgane. 5. Aufl. VIII, 254 S. mit 24 Abbil-
dungen. 12. Leipzig, J. J. Weber, n. 4 Jl, geb. baar 5 uff.
Hallery M., Kompositionslehre für polyphonen Kirchengesang mit besonderer
Rücksicht auf die Meisterwerke des 16. Jahrhunderts, VIII, 399 S. gr. 8. Re-
gensburg, A. Coppenrath*s Verlag, n. 6 uff 40 3jf.
Hesse's, M., niustrirte Katechismen. Nr. 16—19. 8. Leipzig, Max Hessens Ver-
lag, ä n. 1 uff 50 .9^, geb. ä n. 1 Uff 80 ^. [S. ob. Bd. VL S. 594.] Inhalt:
16. Katechismus der Phrasierung. PraktischeiAnleitung zum Phrasieren. Dar-
legung der für die Setzung der Phrasierungszeichen maßgebenden Gesichts-
punkte mittels vollständiger thematischer, harmonischer und rhythmischer Ana-
lyse klassischer und romantischer Tonsätze von H. Riemann und C.Fuchs.
(Neue Ausg.) 105 S. — 17. Katechismus der Musik-Ästhetik. (Wie hören wir
Musik? von H. Riemann. IV, 92 S. — 18. Katechismus der Fugen-Kom-
position (Analyse von J. S. Bach*s » Wohltemperirtem Klavier« und Kunst der
Fuge von H. Riemann. 1. ThL VI, 178 S. — 19. 2. Thl. III, 216 S. (18 u.
19 in 1 Bd. geb. n. 3 uff 50 .9'.
Jadagsohiiy S., Die Kunst zu moduliren und zu präludiren. Ein praktischer Bei-
trag zur Harmonielehre. VHI, 188 S. gr. 8. Leipzig, Breitkopf und Härtel.
3 U? 60 ^., in Schulband baar 4 Uff 10 ^, geb. baar 4 Uff 80 .9^.
ggg Musikalische Bibliographie.
Klrohrothi P., Der Zahlennamen, die psychologische Einhdt der Gesangmethode,
oder das Singen mit bewußter Tonvorstellung, erzielt durch die Benennung
der Töne mit den Zahlennamen. Ein Vortrag. 16 S. gr. 8. Mühlheim (Ruhr;,
Carl Ziegenhirt, Nachfolger (Max Röder). n. 50 3jf.
KliBgy H., Praktische Anweisung cum Transponiren für Gesangsstimmen, Streich-,
Holz-, und Blech-Instrumente, sowie speziell für Klarinette, Kornett, Trom-
pete, Waldhorn, Pianoforte etc. mit vielen Notenbeispielen erläutert. 2. Aufl.
IV, 42 S. Lex.-8. Hannover, Louis Oertel, Musikverlag, n. 1 «Jf 25 Sf,
, Der vollkommene Musik-Dirigent. IV, 372 S. Lex.-8. Hannover, Louis Oertel,
Musikverlag, n. 5 JH. Gebunden n. 6 M,
, Elementax^Prinzipien der Musik', nebst populärer Harmonielehre und Abriß
der Musikgeschichte, nach leichtfaßlichstem System bearbeitet 216 S. gr. 16.
Hannover, Louis Oertel. Kart. n. 1 M.
Kfigpele, R., Harmonie- und Kompositionslehre nach der entwickelnden Methode,
m. Theil. (Schluß der theoretischen Abtheilung und der Uebungsaufgaben. IV,
179 S. gr. 8. Breslau, Franz Goerlich, Verlag, n. 2 uT 40 ^. [S. ob. Bd. VI,
S. 595.]
"Kufferathy 3f., I^art de diriger Torchestre, Richard Wagner et Hans RitMer,
8. Paria, Librairie Fiackbacher, 2 fr. 60 c.
MarXy A. B., Musikalische Kompositionslehre. Neu bearbeitet von H. Riemann.
2. ThL 7. Aufl. Xm, 634 S. gr. 8. Leipzig, Breitkopf und Härtel. n. 12 UT.,
geb. n. 13 Uf 50 ^. [S. ob. Bd. V, S. 632.]
3feerenSf C^uxrles, La gamme mueicale mqfeure et mineure. Brüssel und Paris.
J.'B. KMo. 1890. 8. 62 S. 1 fr. 50 c,
Plely P., Harmonie-Lehre. Unter besonderer Berücksichtigung der Anforderungen
für das kirchliche Orgelspiel zunächst für Lehrer-Seminare bearbeitet Op. 64.
2. Aufl. X, 335 S. gr. 8. Düsseldorf, L. Schwann, haar 3 uT 50 J^, geb.
baar 4 Ulf.
, Harmonie-Lehre. 1 — 3. Uebungsheft (Bearbeitet von P. Schmetz.} gr. 8. a
8 S. mit Notensehreibpapier. Düsseldorf, L. Schwann, ä baar 50 ^.
, 4. Heft (Bearbeitet von P. Schmetz.) Die Begleitimg des Gregorianischen
Choralgesanges. 18 S. gr. 8. mit 12 Bl. Notenschreibpapier. Ebda, baar 50 ^.
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, Aphorisma an the ort of aceompanying (tcith examplea in notes), Translated
from the Oerman hy Th. Baker. 14 S. kl. 4. Leipzig, O^br. Reineeke, Musi-
kalien'Verlag, 1 jH.
jRichter, E, jP., Trait4 ^harmonie, thSorique et pratique. Traduit de Tallemand
par O. Sandra. 8. Edition VIII, WO S. gr. 8, Leipzig, Breitkopf <J- Hartel.
n. 4 jU.
Riemaniiy H., Op. 39. Vergleichende theoretisch-praktische Klavierschule. Eine
Anweisung zum Studium der hervorragenderen Klavier-Unterrichtawerke nebst
ergänzenden Materialien. Neue Ausgabe. I. Theil System. 11. Theil. Methode.
Folio. Leipzig, Breitkopf und Härtel. Cplt. Gebunden 3 «JT 60 ^.
Blemaniiy H. und C« ArmbmBt^ Technische Studien für Orgel. Supplement zu jeder
Orgelschule, enthaltend systematische Uebungen fQr Pedal allein als Grund*
läge virtuoser Pedaltechnik, polyphone Vorübungen für jede Hand allein, fQr
beide Hände auf demselben oder auf verschiedenen Klavieren ohne und mit
Pedal, und agogische Studien als Grundlage ausdrucksvollen Spiels auf der
OrgeL qu. 4. Leipzig, J. Rieter-Biedermann, n. 3 •#.
Muflikaliflohe Bibliographie. ggQ
Boeder, Karl, Einführung in die Theorie der Tonkunst. Zum Gebrauch beim
Priyat-Musikunterricht, sowie auch bei der musikalischen Vorbildung Yon
Pr¶nden, Lehrerinnen etc. Neuwied u. Leipzig, Heusers Verlag. 1891. 8. 108 S.
BoUtansky, Victor, Über Sänger und Singen. Wien und Pest. Harüeben. 1891. 8.
Sehröder, H., Untersuchungen über die sympathetischen Klänge der Geigeninstru-
mente und eine hieraus folgende Theorie der Wirkung des Bogens auf die
Saiten. 35 S. gr. 8. Leipzig, Carl Kühle, Musik-Verlag, n. 1 uT 20 ^.
SchwartZ} Rudolf, Methodische Entwicklung der Fingersätze in den Durtonleitern.
Für Lehrer und Lernende leicht faßlich dargestellt Greifswald. Julius Abel.
1891. 8. 16 S. 50 ^.
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der physikalischen Musiktheorie. Enharmonische Temperatur. Ein Beitrag von
L. Austerlitz. IX. 89 u. 11 S. gr. 8. Wien, Alfred Holder, n. 3 uT.
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Waldbrflly J. , Kurzgefaßte Methodik des Klayierspiels. 54 S. gr. 8. Bielefeld,
August Helmich, Buchhandlung (H. Anders). Verlag, n. 1 •# 75 ^., geb. n.
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WIckBiröni} A., Vereinfachung der Tonbezeichnung. Vorschlag. Aus dem Bussi-
schen übersetzt Ton A. Bemard. Text und Notenbeispiele. 42 S. u. XXXITT
Bl. gr. 8. Leipzig, M. P. Belaieff. 3 uT.
Wüllner, F., Chorübungen der Münchener Musikschule. 1. Stufe. 13. Aufl. 90 S.
hoch 40. München, Theodor Ackermann, Verlags-Buchhandlung, n. \M 80 3jf^
Zlnunery F.. Elementar-Musiklehre, enthaltend das Wissensnötige für jeden Musik-
treibenden. I. u. n. Heft. gr. 8. Quedlinburg, Chr. Friedr. Vieweg's Buchhand-
lung, baar 1 Jf 90 ^. Inhalt:!. Tonlehre. Rhythmik. Allgemeine Accord-
lehre. 13. Aufl. IX» 97 S. n. 60 ^. — 2. Harmonielehre. 12. Aufl. VIII, 151 S.
baar 1 uT 30 ^.
Zlppy E., Kurze Darstellung der Kirchentonarten, unter besonderer Berücksich-
tigung der durch Bestimmung der königl. Kegierung zu Düsseldorf zur Ein-
übung in den evangelischen Schulen des Regierungsbezirks gelangenden Me-
lodien. XXII, 58 S. 8. München-Gladbach, Emil Schellmann. n. 50 ^.
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ClossOfiß E, Siegfried de Richard Wagner, Etüde estfUtique ei num^aie. 18. Paridf
Fisehbacher, 1 fr, 50 c,
DwelBhanTers-Dery, Dr. F.-V., Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg.
Handlung in drei Aufzügen Yon Richard Wagner. Leipzig und Baden-Baden.
Constantin Wilds Verlag. 1891. 8. 44 Druckseiten und 4 Seiten Musikbeilage.
Heerwageiiy F... Studien über die Schwingungsgesetze der Stimmgabel und über
die elektromagnetische Anregung (8chriften herausgegeben von der Natur-
forscher-Gesellschaft bei der Universität Dorpat VI.) 53 S. Lex.-8. mit 2 Taf.
Leipzig, K. F. Koehier, Verlags-Conto in Komm. n. 3 «# 60 3jf,
Im Llndy P, modemer Geschmack und moderne Musik. Eine Gegenwartstudie.
56 S. 12. Leipzig, Gebr. Hug, Verlags-Conto. n. 1 J(.
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sophische Studien, herausgegeben v. Wilhelm Wundt. Bd. 6, Heft 3, S. 394—416.
Pfehly Ferdinand, Führer durch Richard Wagners Tannhäuser und der Sänger-
krieg auf der Wartburg (Pariser Bearbeitung). Leipzig, Feodor Reinboth.
o. J. 8. 68 Seiten.
g90 Musikalische Bibliographie.
Plldor, R Sittlichkeit und Gesundheit in der Musik. IV^ 32 S. 8. Dresden,
Oscar Damm, Verlag, n. 60 3jt,
Ritter, Prof. Hermann, Über musikalische Erziehung. Ein Mahnwort an Eltern,
Vormünder und Erzieher. Dresden, Oscar Damm. 1891. 8. 32 Seiten.
IV. Ausgaben von Tonwerken.
Baehy J. S., Das wohltemperirte Clavier. Herausgegeben von R. Franz und 0.
Dresel. 1. u. 2. Theil. Fol. Leipzig, Breitkopf und HärteL ä 3 uf.
, Wohltemperirtes Clavier. Phrasirungsausgabe von Riemann. Heft 5 u. 6.
FoL Leipzig. C. F. Kahnt Nachfolger, k 2 uT. [S. ob. Bd. \X S. 596.]
, Werke für Gesang. Gesammtausgabe für den praktischen Gebrauch. Bd. 1.
Cantaten. Vollständiger Clavier- Auszug, gr. 8. Leipzig, Breitkopf u. Härtel. 10 JT,
, Liefr. 11. 12. 13—16. 17—20. 21—25. 26—31 je 1 UT 50 ^.
(Nr. 13. Meine Seufzer, meine Thränen. Nr. 14. Wäre Gott nicht mit uns
diese Zeit. Nr. 15. Denn du wirst meine Seele nicht in der Hölle lassen.
Nr. 16. Herr Gott dich loben wir.
, Kirchen-Cantaten. Nr. 21. Ich hatte viel Bekflmmemiss. \ Jl 50^. Nr. 22.
Jesus nahm zu sich die Zwölfe, i Jf bO ^. Nr. 23. Du wahrer Gott und
Davids Sohn. 1 uT 50 ^. Nr. 24. Ein ungeförbt Gemüthe. 1 uT 50 ^.
Nr. 25. Es ist nichts gesundes an meinem Leibe. 1 •# 50 ^. Nr. 26. Ach
wie flüchtig, ach wie nichtig. 1 «# 50 ^. Nr. 27. Wer weiß, wie nahe mir
mein Ende. 1 UT 50 .^. Nr. 28. Gottlob! nun geht das Jahr zu Ende. 1 uT 50 J^.
Nr. 29. Wir danken dir Gott, wir danken dir. 1 UT 50 ^. Nr. 30. Freue didi,
erlöste Schar. 1 uT 50 ^. Nr. 31. Der Himmel hicht, die Erde jubilireL 1 J
50 ^. Nr. 32. Liebster Jesu, mein Verlangen. 1 •# 50 ^. Nr. 33. Allein su
dir Herr Jesu Christ. 1 uff 50 ^. Nr. 34. O ewiges Feuer, o Ursprung der
Liebe. 1 •# 50 ^. Nr. 35. Geist und Seele wird verwirrt 1 Jf SO 4^. Nr. 36.
Schwingt freudig euch empor. 1 •# 50 ^.
, Werke. Bd. 37. Zehn Kirchencantaten. Partitur. Fol. Leipzig, Breitkopf &:
Härtel. 30 Jf. [S. ob. Bd. \1, S. 596.]
Barker, J. E. und F. Charley, ColUction of Standard operas, Containing the
plots of the most populär operas and a shori hiography of the composers. 1—4.
pari. S. 1—64. 12. Leipzig, Karl Fr. Pfau, ä n. 30 ^.
Beethoveii's sämmtliche Werke. Neue kritisch durchgesehene Gesammt-Ausgabe
für Unterricht und praktischen Gebrauch. Gesang- und Klavier-Musik. Liefg.
90.91. 92. 93. 94. 95. 96. 97. 98. 99. 100. 101—110. FoL Leipzig, Breitkopt
und Härtel. k n. 1 J(.
, do. Supplement. Für Klavier zu 4 Händen. Gesang- und Klaviermusik. Lie£
101—104. 105—118. 119—124. 125-131. 132—135, ä n. 1 •#.
, do. Kammermusik. Lief. 78/79. 80 81. 82/83. S4 85. 86/87. 88/89. 90,91. 92 93.
94 95. 101/2. 111-114. 115—118. Fol. Ebda k 2 Jf. [S. ob. Bd. \T, S. 592.]
, Ausgewählte Klavierstüc&e. Kritisch durchgesehen, mit Fingersats bezeich-
net von H. Riemann. gr. 8. Leipzig, Felix Siegel. 1 •# 50 ^.
Chopüiy Fr., Ausgewählte Klavierwerke. Kritisch durchgesehen, mit Fingersati
bezeichnet von H. Riemann. Bd. 2. gr. 8. Leipzig, Felix Siegel. 1 JfbO^.
[S. ob. Bd. VI, S. 597.;
A Collection of Songs and Madrigals by English composers of the close of the
fifteenth Century. Prepared for the members of the Plainsong and Mediae-
val Music Society. London, Quaritsch. 1891. Fol. XVIH, 10 S. Songs, 31 S.
Madrigals. 8 Blätter Beilagen (Erklärung von Ligaturen und Mensurzeichen,
Nachbildungen aus den Originalhandschriften). 32 Jf.
Musikalische Bibliographie. gQl
Diabelli) Anton, Unterrichts- Werke für das Pianoforte zu zwei Händen. Revidirt
und sorgfaltig bezeichnet von Anton Krause. Erster Band. Op. 151. Vier
Sonatinen. (Volks- Ausgabe.) Fol. Leipzig. Breitkopf und Härtel. 75 ^.
IHabellly Anton, Unterrichts- Werke für das Pianoforte zu zwei Händen. Revidirt
und sorgfältig bezeichnet von Anton Krause. Zweiter Band. Op. 1'68.
Sieben Sonatinen. (Volks- Ausgabe. Nr. 1226). Leipzig. Breitkopf und Härtel. 75^.
Ecole de Piano du Conaervatoire Roy cd de Bruxelles. Livr. XL Chopin, Fr.,
Impromptu en /ajt maj. Op. 96. Scherzo. Op. 39 enut min, Nociumo. Op. 37.
Nr. 1 en sol min. Noctumo. Op. '27. Nr. 1 en ut min. Polonaise. Op. 49, en
ia maj. Mazourka. Op. 7. Nr. 1 en si 9 maj. Mazourka. Op. 7. Nr. 2 en la
min. Mazourka. Op. 6. Nr. 1 en la min. Fol. Leipzig, Breitkopf ^ Härtel.
4 Jf. [S. ob. Bd. VI, S. 597.]
OrStry, A. E. M., Oeuvres. Livr. 10. Les Svhiements imprSvus. Comddie en trois
actes. Fol. Leipzig, Breitkopf ^ Härtel. 16 M. \ß. ob. Bd. VI, S.697.]
Händel, Werke. Für die deutsche Händelgesellschaft herausgegeben von Fried-
rich Chrysander. Lieferung LXXXIV: Die zweite Version des »Pastor
fido« nebst dem Prolog »Terpsichore«. — Das Autograph des »Messias« in
photo-lithographischer Kopie. Zweite Lieferung : Zweiter Theil des Oratoriums
(S. 101—208). [S. ob. Bd. V, S. 635.]
Mosart'g Werke. Kritisch durchgesehene Gesammtausgabe. Serie 7. Erste Abthei*
lung. Lieder und Gesänge mit Pfte. Nr. 12. b. Wiegenlied für tiefere Stimme.
Fol. Leipzig, Breitkopf und Härtel. 30 ^. [S. ob. Bd. VI, S. 597 f.]
Schletterer, H. M., Musica sacra. Anthologie des evangelischen Kirchengesangs
von der Reformation bis zur Gegenwart in der Ordnung des Kirchenjahres.
II. Bd. Fünf- und mehrstimmige Gesänge. VI, 174 S. gr. 8. München, C. H.
Beck'sche Verlagsbuchhandlung (O. Beck). Kart. n. 2 •# 80 ^. Bd. I. erschien
1887 in demselben Verlage, enthält Vierstimmige Gesänge. XII, 240 S. Kart,
n. 2 Ur 80 ^.
Schnbert's Franz, Werke. Serie 12. Tänze für Pianoforte. Fol. Leipzig, Breitkopf
und Härtel. [S. ob. Bd. VI, S. 568.] Nr. 25. Elf Ecossaisen. 45 ^. Nr. 26. Acht
Ecossaissen. 45 .^. Nr. 27. Sechs Ecossaisen. 30 ^. Nr. 28. Fünf Ecossaisen.
30 ^. Nr. 29. Eoossaise. 30 ^. Nr. 30. Zwanzig Menuette. 1 Jf SO ^. Nr. 31.
Trio. 30 ^.
, Erste kritisch durchgesehene Gesammtausgabe. Serie IV — VL Quintett,
Quartette und Trio für Streichinstrumente. Partitur. Serienausgabe. 25 Jf 50 ^,
do. Revisionsbericht zu Serie I — VIH. Instrumentalmusik. 8 UT 50 ^,
do. zu Serie XIV. Kleinere Kirchenmusikwerke. SJfbO^.
Serie XVI. Für Männerchor. Partitur, n. 17 Jf.
, do. Revisionsberioht, herausg. von C. Mandyczewski. 50 ^.
, Sammlung auseriesener Werke für das Pianoforte. (Originale und Bearbei-
tungen.) Neue Folge. (Unsere Meister. Band XVII. Volksausgabe. Nr. 1148.)
gr 8Ü Leipzig, Breitkopf und Härtel. 1 UT 50 ^.
Schütz, Heinrich, Historia des Leidens und Sterbens unseres Herrn und Heilan-
des Jesu Christi. Nach dem Evangelium St Johannes. (Bearbeitet und mit
Orgel- oder Klavierbegleitung versehen von A. Mendelssohn. (Volks- Aus-
gabe Nr. 1250.) gr8ü Leipzig, Breitkopf und Härtel. 3Ur.
, Sämmtliche Werke. Herausgegeben von Philipp Spitta. Bd. IX. Italiä-
nische Madrigale. Bd. X und XI. Symphoniarum sacrarum tertia pars. Erste
und zweite Abtheilung. Fol. Leipzig, Breitkopf und Härtel. ä 20 Jt. [S. ob.
Band VI, S. 59S].
Namen- und Sachregister.
ZuBammengestellt von Max Seiffert«
Agricola, Mart., erste Aus-
Kkbe der i>Melodiae scho-
gticae«, 1281
Ahle, Joh. Qeorg, seine
theoretischen Schriften
493, 501.
Albert, Heinr., Beliebtheit
seiner Arien in studen-
tischen Kreisen des 17.
Jahrh., 582 Anm. 1, 589
Anm. 1, 596 ff.
Alphorn, Einwirkung der
. Technik desselben auf die
K^ühreihenmelodie 445 f.
Ambrosius, sein Antiphonar
121 f.
Andrea, Joh. Georg, Kantor
in Riga, sein Streit mit
Joh. Val. Meder 46, 456.
Anonymus über griechische
Musik, herausgeg. von
Bellermann, 80—82, 90.
Aquayiva, Matthaeus, »dis-
putationes de virtute mo-
• rali« 494.
Aristotenos, seine Lehre
vom Rhythmus des ge-
sungenen Verses, 77 n. —
Ghronos protos 79 ff. —
Taktorten 81 f. — Leich-
ter und schwerer Takt-
theil S2ff . — Ausdehnung
der Takte 84 f. -~ Mono-
Sodische und dipodischc
lasen 85 ff. — Unzu-
sammengesetzte und zu-
sammengesetzte Takte
90 ff. -— Diairesis der
Takte in Chronoi podikoi
'»2 ff. -— Diairesis in
Chronoi Rvthmopoiias
idioi 95 ff. — Gleiche Zeit-
dauer, heterogene Vers-
füße, hergestellt durch
Wechsel der rhythmi-
schen Agogai 100 ff.
Asaricus, Daniel, Kantor
am Gymnasium in Dan-
zig 403 f.
Bach. Joh. Seb., Präludium
(Gdur) von Gounod be-
arbeitet, 16 Anm. — Prä-
ludium (Ddur), Wohlt.
Kl. ü, 102 ff. — Trio-
lenbezeichnung 147. —
Chromatik 164 f.
Bach, Phil. Em., seine
»Fantasie« von Gersten-
berg mit Text versehen
Iff. — Kritik seiner Kla-
viersonaten durch C. F.
Gramer 2 f. — Kompo-
sitionen 4 Anm. — seine
Fantasieform 15 f.
Baiern, dicvolksthümlichen
Instrumente 442 ff. —
volksthümliche Musik
443 f. — Vorherrschen
der Durtonart 444.
Bartolus, Abrah., »Musica
mathematica« (1614)494.
Baryphonus, Heinr., seine
Beziehungen zuS. Scheidt
192, — seine Familien-
verhältnisse 460 f., — sein
Name »Pipegrop« 461 ff..
— seine »Plejades mu-
sicae» (1615, 1630) 478 ff.
Beer, Joh., »Bellum musi-
cum« (1701) 494.
Bernhard, Ghristoph., Schü-
ler Sieferts, Biographi-
sches 180, 427. — seine
theoretischen Schriften
493. 495 ff. — Lieder-
komponist 611, 613 f.
Besardus, Joh. Bapt, »The-
saurus harmonicus« (IBO^i
292 Anm. 1.
Bird, William, seine Va-
riationstechnik 171, 173.
Bononcini, »Musico prat-
tico« 493, 502.
Bronner, seine Kanteten in
Riga aufgeführt 47.
BrucK, Arnold v., Kapell-
meister in Wien, bio-
graphisches 453 f.
Bucenus, seine Passion 67S.
Bull, Dr. John, mit Swee-
linck befreundet 1 53, 1 5().
158 Anm., 167, 171, 174
Anm. 4, 179 f., 485, 4S8.
Burck, Joach. v., seine Pas-
sion 678,
Busch, Herrn., seine Oden-
kompositionen 127.
Buxtehude, Dietr., Triolen-
bezeichnung 147.
Calsabigi, sein Verdienst
um Glucks Opemreform
26 ff. — Leben u. Werke
33ff. — G.überLullY4ü.
Galvisius, Seth., »Melo-
poiia«(1592, 1630) 473 ff.,
190 ff.
Gamcrarius, Joh., Oden-
kompositionen 127.
Garissimi, Giac., Kantaten
44. — »ars cantandi«(l 693)
494.
Gasati, Girol., Organist in
Novara und Bomanengo
283.
Namen- und Sachregister.
603
Castiletti, Joh., Kapell*
meister in Wien, Bio-
graphisches 454«
Ccmitz, Ulr., Organist in
Hamburg 230.
Cesti, Marcantonio, Kan-
taten 44 f.
Choral, rh^hmischer, seine
Harmonisierung im 17.
Jahrh., 215 ff., 218 f.
Chondyariation, s. Varia-
tion und Musiklehre des
17. Jahrh.
Chromatik in der deutschen
Orgelmusik d. 17. Jahrh.,
163 f.
Clodius (Klöde), Christian,
Student in Leipzig, äus-
sere Beschreibung seines
Liederbuches 579 f. — Der
literarische Inhalt 581 ff.
— Die Melodien594 ff. —
Alphabetisches Verzeich'
niß der Lieder 638 f. —
Notenbeilagen 640 ff.
Coler, Mart, Lieder 610 f.
Compenius, Job., Erbauer
der Moritzorgel in Halle
189.
Conrad y. Salzburg, »Fan-
tasia« (bei Kleber] 160.
Comet, Pietro, Organist in
Brüssel, 155 Anm. 2, 162,
166, 175.
Corradi, Giul. Cesare, Text-
dichter 45.
Cracowitta, David, Orga-
nist, Brief an Scacchi
aber Siefert 421.
Cramer, C. F., über Ph. E.
Bachs Klaviersonaten, 2 f.
— über Qerstenbergs Be-
arbeitung von Ph. E.
Bachs »Fantasia« 3 f.
Crüjger, Job., »Synopsis mu-
sices« 1 1 624), Besiehungen
zu Sweclinck 180 f., 480ff.
— Melodien von ihm in
Studentenkreisen des 17.
Jahrh. beliebt 600 ff.
Cuprarius, Christoph, Oden -
Kompositionen 127.
Dach, Simon, seine Lieder
von den Studenten des
17. Jahrh. gesungen 582,
593, 598.
Danzig, Oper daselbst 45 f.
— Musikleben in der er-
sten Hftlfte des 1 7. Jahrh.
397 ff.
Daser, Ludw., seine Passion
678.
Dedekind, seine Lieder bei
den Studenten beliebt
608 f.
Denss, Adrian, Lautentabu-
latur (1594) 290.
Ducis, Benedikt, Odenkom-
Positionen 126 f.
Ducis, Benjamin, Brief an
Scacchi über Siefert 421.
Durtonart, vorherrschend in
der Volksmusik Baiems
444.
Echo, als Kunstform in der
norddeutschen Orgelmu-
sik des 17. Jahrh. 168, 202,
225, 235.
Eckhart, Zach., Schüler S.
Scheidts 193.
»Eins ist Noth, ach Herr,
dies Eine«, Ursprung der
Melodie 605.
Eiert, Petrus, Kapellmit-
glicd in Warschau 421
Anm. 5:
Erbach, Christ., seine Be-
ziehungen iu Sweelincks
Schule 164, 187, 198 f.
Erben, Balth., Kapellmstr.
in Danzig 426 f.
Fabricius, Peter, Student
in Rostock, sein Lauten-
buch 292.
Fabricius, Werner, Schüler
H. Scheidemanns 229.
Fantasteform bei Swee-
lincks deutschen Schülern
156 ff., 196 ff., 235.
Farina, Carolo, Stadtvio-
linist in Danzis, Bio-
graphisches 4 1 1 L, 4 1 3f.^
419.
Fieinus, Odeukompositio-
nen 128.
Finek, Heinr., Biographi-
sches 667.
Förster, Kaspar, sen., Mit-
glied der städtischen Ka-
pelle in Dantig 402 f. —
Kantor am Gymnasium
4U3. — Kapellmeister an
St Marien 407. — Streit
mit Siefert 40Ö ff., 419,
421. — Kompositionen
411, 413. — Tod 426.
Förster, Kaspar, jun., Ka-
peUmitgliea in Warschau,
ELapeUmeister in Kopen-
hagen 415, 421. 426.
Franck, Melch., Lieder 583
Anm. 3, 628.
Preislich, Maxim., Kapell-
meister in Danzig, Nach-
folger J. V. Meders 46.
Frescobaldi, Komposition
über das Hexachord 167.
— Chromatik 164. — Ca-
Sriccioform 166. — Ein-
uß auf die norddeutsche
Orgelmusik 235.
Friderici, Daniel, Lieder
628 f.
Fritsch, reparierte die Ka-
tharinenorgel in Ham-
burg 229.
Froberger, sein »Memento
mori« von J. V. Meder
für Violine gesetzt 47. —
Chromatik 164. — Hexa-
chordfantasie 167.
Fugenform, bei Sweelineks
deutschen Schülern, s.
Fantasieform.
Gabrieli, Andr., Beziehun-
?en zu Sweelinck 152 f.,
65, 169.
Gabrieli. Gio., Beziehungen
zu Sweehnek 152 f., 230.
— zum polnischen Hofe
in Warschau 407.
GaUiculus, seine Passion
678.
GMlus, Jaeob, Hofkapell-
meister in Prag 454. —
seine Passion 678.
»Gaudeamus igitur«, Bnt-
vickehingsgeschichte des
Liedes 680 f.
Gemeindegesang mit Or-
gelbegleitune Entwicke-
uing desselben 215 ff.,
413, 416.
Gerle, Hans, Lautentabu-
latur (1532, 1537, 1546)
288.
Gterstenberg, H. W. v., legt
694
Namen- und Sachregister.
Text unter eine »Fan-
tasia« Ph. E. Bachs 1 ff.—
C. F. Cramers Erklärung
dazu 3 f. — »Über Reci-
tativ und Arie in der
italienischen Sing-Kom-
Position« 24.
Oesangskunst des 1 6. Jahrh.
nach Zacconis Darstel-
lung 341 ff.
Gese, Barth., sein Choral-
buch 217. — seine Pas-
sion 678.
Gheyn, Matthias van den,
Organist in Löwen 163.
Gibbons, Orlando, seine
Variationstechnik 171.
Gläser, Enoch, seine Be-
ziehungen zu Voigtländer
599 f.
Glarean, biographische Mit-
theilungen 123 ff. — Ge-
sang Horazischer Oden
1 24 f. — Interpretation
der Stelle vom Hypojo-
nischen im Dodecachord
(1547) 445.
Gluck, seine Opernreform-
bestrebungen, 4 Anm.,
18, 24, 26 ff. — sein Ver-
hältniß zu Metastasio 32.
Gorgia, Koloraturen und
Passagen im Kunstge-
sangedes 16. Jahrb., Ety-
mologie des "Wortes 339*f.
Gounod, Bearbeitung von
Seb. Bachs C dur-Prfilu-
dium 16 Anm.
Grabau, Andr., Organist in
Danzig 417.
Gräven , Kompositionen,
4 Anm.
Gramman, Burchard, bear-
beitet Sweelincks Lehr-
buch 680.
Gregor d. Gr., sein Anti-
phonar 116 ff.
Grieg, Edv., Ursprung
zweier seiner »Nordischen
Tänze« 449.
Grinun, Heinr., «Melopoe-
sis« (1624] 494.
Gumpeltzhaimer, A., »Com-
pendium musicum« ( 1 595)
493, 498.
Gundel, Phil., Odenkom-
positionen 128.
H., C, Organist in W. {?),
Lieder 615.
Hackenberger, Andr., Ka-
pellmeister in Danzig
403 ff., 408.
Hainhofer, Phil., Lauten-
bacher(1003, 1604) 291 f.
Hacky, Mich. Ant., Schüler
M. Cestis 45.
Haue, Bau und Disposition
der Moritzorgel daselbst
189, 195, 211 f.
Hamburger Melodeyen-
Buch 217.
Hamburg, Reparatur der
Katharinenorgel daselbst
229.
Hammerschmidt, A., Arien
von Studenten gesungen
601 ff.
Hassler, H. L., seine Be-
ziehungen zu Sweelinck
und Scheidt 152, 165,
169, 198 f. — sein Cho-
ralbuch 217. — Lieder
287.
Hausmann, Val., Beziehun-
gen zu Scheidt 188.
Heckel, Wolf, Lautentabu-
latur (1556, 1562) 289.
Herbst, Job. Andr., Bio-
graphisches 464 ff. —
»Musica practica« 494.
Heu^el, Jon., Odenkompo-
sitionen 1 27 f.
Hintze, Mart , Stadtmusi-
kuB in Danzig 419.
Hintze, Ewald, Organist in
Kopenhagen und Danzig,
Nachfolger Sieferts 426f.
Hobrecht, Jac, seine Pas-
sion 678.
Hofheimer, P., Odenkom-
positionen 126 ff.
Holland, Christian, Lieder-
sammlung (1570) 622.
»Homme arme«, Benutzung
der Melodie von Dufay
bis Carissimi 141.
Horaz'Oden, Melodien da-
zu aus dem Mittelalter,
aus den Neumen über-
tragen 108 ff. — Oden
bei Glarean 1 24 f.
Jahni, Schulkollege in Riga
456.
Janowka, »Clavis ad thc-
saurum« 493, 501.
Jeep, Job , mit J. A. Herbst
befreundet 465 f.
»Imitatio Violistican und« J.
Tremula Organi«, Spiel-
manieren Scheidts 209.
Ingegneri , Marcantonio,
nicht in Mantua gewesen
282.
Instrumentalmusik, ihr Ein-
fluß auf die Theorie des
17. Jahrb. 476, 482, 4SSf..
492 f., 507 f. — ihr Vcr-
hältniß zur Vokalmusik
des 18. Jahrh. 17 ff.
Instrumente in der bain-
sehen Volksmusik 442 f.
— in der litthauischen
674.
Jobin, Bemh., Lautentabu-
latur (1572) 289.
Jodel und Jodellied in
Appenzell, Wesen des-
selben 449.
Isaak, Heinr., Odenkompo-
sitioneu 128.
K., J. 'Crüger?), Lieder
611.
Kadenzen, Kolorining der-
selben in der Vokal- und
Instrumentalmusik des
16. Jahrh. 302, 354 ff.
Keiser, Reinh., Kantaten
in Riga aufgeführt 47 —
Biographisches 667.
Kircher, Äthan., »Musurgia«
(I650j 494, 497, 499 f.
Kleber, Leonh., Orgelta-
bulatur 160.
Koloraturen und Passagen
im Gesänge des 16. Jahrb.,
nach Zacconi 337, 341 ff.
(Gorgia) — in der Orgel-
und Lautenmusik 298,
302 f., 305 f.
Krengel, Greg., Lautcn-
tabulatur fl584) 290.
Krieger, Ad., Schüler S.
Scheidts 193 f. — Arien
in Studentenkreisen be-
liebt 589 Anm. 2, 603 ff.
Krinkovius. Matthias, Brief
anScacchi überSiefert421.
Krüger, Barthol., Organist
in Trebbin, Lieder 624.
Namen- und Sachregister,
695
Xührci h en , Appenzeller,
Wesen desselben 445 —
Ursprung und Nachwir-
kungen desselben 446 ff.
K.ünig, Theod., Odenkom-
p ositionen 127.
Kuh nau, Job., »Musikali-
scher Quacksalber« (1700)
494.
K unzen, Ad.jKompositionen
4 Anm.
Kunzen, F. L., Komposi-
tionen 4 Anm.
Kusser, Job. Siegm., Bio-
graphisches 667.
Lampadius, Autor, »Com-
pendium Musices« (1537)
494.
Lange, Casp.; »Methodus«
(1688) 519 Anm., 520
Anm. 1.
Lasso, Orlando di, Kom-
positionen von Scheide-
mann koloriert 234 f. —
Lieder 286 — sein Em-
. pfeblungsbrief für Reg-
nart 454.
Jiautenmusik, deutsche, im
16. Jahrb., Quellen für
sie 288 ff. -- die Art der
Liedbearbeitungen 294 ff.
— die Tonarten, Stim-
mung, Bemerkungen über
Notation und Technik
der Laute 301, 312 ff. —
Bearbeitungen für meh-
rere Lauten 303, 304 f.,
316 f. — Musikbeilagen
333 ff.
Lechner, Leonh., Biogra-
phisches 667.
Leder, Matthias, Organist
in Danzig 401.
Lied, das deutsche, im 16.
Jahrb. 286 f. — in der
Lautenmusik des 16.
Jahrh. , s. Lautenmusik
— Alphabetisches Ver-
zcichniß der für Laute
bearbeiteten Lieder 3 1 ^ff.
— deutsches Volkslied
676 f. — das Studeuten-
lied des 1 7 . Jahrh. in text-
licher Beziehung 581 ff.
— Runda- (Trink-)Liedcr
585 ff. — Liebeslieder
589 ff. — Abschiedsliedcr
592 — in musikalischer
Beziehung 594 ff. — Me-
lodien aus Ariensamm-
lungen des 17. Jahrh.
596 ff. — in Gedicht-
sammlungen 60" ff. —
volkstümliche Melodien
622 ff. — S. Baiern, Lit-
thauen und Volkslied.
liiedyariation in der Kla-
viermusik des 16. Jahrb.,
s. Variation.
Lippius, »Synopsis musica«
(1612, 16*14) 476 ff.
Listenius, Nie, »Musica«
(1540) 497.
Litthauen , Volkslied da-
selbst , Hervortreten der
Oktavengattungen 668 ff.
— Instrumente dazu 674.
Liturgie , Entwickelung
derselben vom 5. bis 8.
Jahrh. 1 1 7 ff . — syrische
1 19 ff. — Ordnung in
Norddeutschland im 17.
Jahrb. 213 ff.
Lübeck , Reparatur der
Marienorgei 229.
Lully, Kritik seiner Opern
durch Calsabigi 40.
Luython, K., seine Fan-
tesieform 166.
Mattheson, seine theoreti-
schen Schriften 566 f.
Meder, Job. Erb., Kantor
in Wasungen, Vater der
folgenden 43.
Meder, Matemus, Organist
in Meiningen 43.
Meder, Job. Friedr., Kan-
tor in Wasungen 43.
Meder, Job. Nico!., Kantor
in Salzungen 43.
Meder, Job. Val., Kapell-
meister in Danzig und
Riga, Leben und Werke
43 ff., 455 ff.
Meder; Erb. Nicol., Sohn
von Job. Val. M, 458.
Meier, Peter, seine Lieder
bei den Studenten des
17. Jahrh. beliebt 608,
»Mein Bräutigam, du wah-
res Ootteslamm«, Ur-
sprung der Melodie 620 f.
Mensig, Daniel, Organist
in Danzig 417.
Merulo, Claudio, Bezie-
hungen zu Swcclinck 152,
169.
Menila, Tarquinio, Aufent-
halt in Warschau 401.
Mesomedes, Hymnen 79,
113.
Metastasio, sein Verhältniß
zu Gluck 32.
Metzger, M. Ambros., »Ve-
nus blümlein« (1611) 623.
Meyer, Mich., Stadtviolinist
in Danzig 419.
Michael, Tob., Brief an
Scacchi über Siefert 42 1 .
Moessanus, Petrus, Kapell-
meister in Wien, Biogra-
phisches 453 f.
Monte, Phil.de, Kapellmstr.
in Wien, Biographisches
454.
»More Palatino«, Instrumcn-
talstücke 635 f.
Motz, Georg, »Vertheidigtc
Kirchen-Musik« (1703,
494.
Musik, ihr Ursprung 142 f.
Musikalische Ausbildung
66.
Musikalischer Ausdruck,
verschiedenartige Störun-
gen desselben 62 ff. —
Characterisirung dessel-
ben 71 ff.
Musik, nordische, ihre Selb-
ständigkeit der griechi-
schen gegenüber 441.
Musiktheoriedes 17. Jahrb.,
ihre historische Ent-
wickelung 469 — 503. —
ihre Zusammenfassung
bei Walther ; Stilarten
507 f. — wissenschaftlich-
speculativc Betrachtung
der Musik 508 ff. — Ton-
arten, Dur und Moll 51 3 f.
— Notenwerthe 514 f. —
Pausenwerthe 515 f. —
Takte 51 6 ff. — Diesiszei-
chen519f. — Punkte 521.
— Verzieijungen 521 f. —
Intervalle 524 ff. — Kon-
und Dissonanzen 526 f.
— Akkordverbindungen
528 ff. — Fortschreitung
696
Namen- und Sachregister.
der SLon- und Dissonan-
zen 532 ff. — Kirchenton-
arten 542 ff. — Beant-
wortung des Fugenthe-
mas, Ileperkussion 548 ff.
— Choralbearbeitungs-
formen 552. — Doppelter
Kontrapunkt 559 ff.
Nauklcrus, Joh. , Lauten-
tabulatur (1615) 292.
Neunaber, Andr., Schüler
bei Siefert, M. Leder und
T. Morula 400 f.
Neunaber, Jeremias, Or-
ganist in Danzig 411,
417.
Neunaber, Tiedemann, In-
fltrumentenmacher in
Danzig 419 Anm. 4.
Newsidler, Hans, Lauten-
tabulatur (153«) 288 f.
Newsidler, Melch., Lauteu-
tabulatur (1574) 2S9.
Nicolai, Matthias, Kapell-
meister in NOmberg,
Vorgänger von J. A.
Herbst 465.
Niedt, Fr. F., »Handleitung«
(1706: 494 ff.
Notation , Eiffenthümlich-
keiten derselben in Dru-
cken des 16. und 17.
Jahrh. 126 — Gemein-
same Eigenthümlichkei-
tcn der englischen, nie-
derländ. und norddeut-
schen Orffeimeister 146 ff.
Notkcr, fadenzen seiner
Sequenzen kehren in den
Appenzeller Kühreihen-
mclodien wieder 446.
Ochscnkhun, Seb., Lauten-
tabulatur (1558) 289.
Oddo, »DialogUB de mu-
sica«, Untersuchung einer
neuen handschrifuichen
Quelle 261 ff.
Orgelmusik, deutsche im
16. Jahrh. (Koloristen),
149 f., 200, 205, 234 f.,
240 — im 17. Jahrh.
145, 151, 186ff., — Be-
ziehungen der italieni-
schen O. zur deutschen
145, 235 — zur nieder-
ländischen 152 f., 164,
165 ff. ^ Pedalgebrauch
176.
Orlandus, s. Lasso.
Osiander, Luc, sein Cho-
ralbuch 217.
Pacelli, Asprilio, KapeU-
. meister in Warschau
400, 407.
Paisiello, Opern 34, 39.
Palestrina, Gio. Luigi da,
ein Madrigalthema von
Scheidt , Erbach und
ELassler verarbeitet 197 f.
Pallavicino , Benedetto,
sein Alter 2*^2 f.
Pallavicino, Carlo, Opern
45.
Paumann, K., Aufenthalt
in Mantua 281.
Pepusch, Joh. Christoph,
Uettleroper 616 f.
Peschinus, Greg., Oden-
kompositionen 127.
Philips, Peter, Organist
zu Soignies, Beziehungen
zu Sweelinck 163.
Pipegrop, Heinr., s. Bary-
phonu«.
Praetorius , Hieron. , Be-
ziehungen zu Sweelinck
161 — Kompositionen
werden von Scheidemann
koloriert 234 f.
Praetorius, Jac, Schüler
Sweelincks 154, 161, 198,
230 ff. — Kompositionen
239 — Musikbeil. 25S ff.
Praetorius, Mich., Bezieh-
ungen zu Scheidt, 188 f.
— »Syntagma musicum«
494, 499.
Printz, theoretische Schrif-
ten 494, 500.
Profe, Ambros., Brief an
Scacchi über Siefert 421.
Programmmusik, über die-
selbe 72.
«
Rade, Kantor in Riga 456.
Raupach, Christopher, Or-
fmist in Stralsund, mit
y. Meder befreundet 43.
Regnart, J., seine Passion,
678 — Lieder 287 — Bio-
graphisches 454.
Reiohardt, KompositioDeD
4 Anm.
Reincken, Joh. Ad., seine
Ueberarbeitung v. Swee-
lincks Lehrbuch 179 ff.,
185, 484ff., 489ff. — sein
Urtheil über Scacchi 421
Reischius, Georg, »Marga-
rita philoflophica«! (1503^
494.
Resinarius, seine Passion
678.
Rist, Joh., seine Beziehun-
gen zu den HamhurKer
Musikern 230 ff., 60Sff.
Rognoni, Gio. Dom., Or-
ganist in Mailand 283.
Rore, Cipriano di, seine
Passion 678.
Ruberl^ Joh. Mart , Orct-
nist in Stralsund, Lieoer
610 ff.
Rudenius, Joh., Lauten-
tabulatur (1600) 290.
Ruffus, seine Passion 678.
8., C, (?) Lieder 611.
Salieri, Opern 28.
Scacchi, Marco, Kapell-
meister in Wanchau,
Streit mit Siefert 420 ff.,
426.
Scandelli, A., Lieder 28G.
Scheidemann, Hans, Orga-
nist in Hamburg, Vater
von Heinrich S. 227.
Scheidemann, David, Orga-
nist in Hamburg, Bruaer
von Hans S. ?). 229.
Scheidemann, Heinr., Bio-
graphisches 1 54 , 1 8 1 f.,
195, 198, 227 ff. — seine
Schüler 229 f., 232 f. -
Beziehungen zu Th. Seile,
J. Schop, J. Praetorius,
J. Rist 230 ff. — Kom-
positionen 233 ff.
Soneidt,€k)ttfT., Bruder von
Samuel 8., Komponist
187.
Scheidt, Samuel, Biogia-
phisches 154, 155 Anm. 1,
162f., 167, 172, 175,t80f.
186 ff., 398, 400. — Be-
ziehungen zu H. L. HasB-
lerundErbach 187, 197 ff.
— zu H. Schütz 191. —
Namen- und Sachregiater.
697
XU Mich. Praetoriufl 1 88 f.,
191 f. — zu Baryphonus
192. — seine Schüler
190, 193 f. — Oreelkom-
poaitionen 190 £, 194,
19öff. — äussere Spiel-
technik 208 flf. — Ton-
system 213, 219 Anm. 1.
— Tonarten 213. — Ver-
gleich mit M. Schildt
225f. — mit H. Scheide-
mann 236 f. — Noten -
beilage 251.
Schein, J. H., einer der be-
rühmten S. 195.
Schildt, Anton, Organist
in Hannover, Vater von
Melchior S. (?) 221 f., 226.
Schildt, Gerdt, Organist in
Hannover 226.
Schildt, Ludolph, Org;anist,
Bruder von Melchior S.
221.
Schildt, Melchior, Biogra-
phisches 154, 195, 220 ff.
— Kompositionen 224 ff.
— Vergleich mit Scheide-
mann 235 ff. ■•- Noten-
beilagen 252 ff.
Schlick, A., Tabulatur(l 5 1 2)
288.
Schon, Joh., Beziehungen zu
Scheidemann 195, 231) ff.
Schott, Casp., »Organum ma-
thematicum« (I66S) 494.
Schottland bei Danzig,
OpemauffOhrun^ das. 46.
Schütz, Heinr.,Beziehungen
zu S. Scheidt 191, 195.
— zu W. Fabricius 229 f.
— zu Chr. Bernhard 427.
— Briefe an Scacchi über
Siefert 421.
Schulz, J. P. A., Urtheil
über Gerstenberg 3 f.
Schwallen, Dirck v., Orga-
nist in Danzig 417.
Schwanenberger, Komposi-
tionen, 4 Anm.
Schwieeer, Jak., seine Lie-
der bei den Studenten
des 17. Jahrh. beliebt
609 ff.
Seile, Christoph, Organist
in Wolfenbüttel 221.
Seile, Thom., Beziehungen
zu Scheidemann, 1 95, 229,
230 ff
Senfl, Ludw., Odenkomposi-
tionen I26ff.— Lieder286.
Seauenzbildung in der nord-
aeutschen Orgelmusik
17. Jahrh. 173 f.
Siefert, Paul, Biographi-
sches 154, 180, 192, 239,
398, 411, 419, 422, 425 f.
— Sein Bildniss 399. —
AusbildungbeiSweelinck
398 ff. — Organist in
Warschau 400 ff. — in
Danzig 404 ff. — Streit
mit K. Förster sen. 405 ff.
— mit K. Förster um.
412, 414 f. — mit dem
Danziger Stadtviolinisten
418 ff. — mit den Orga-
nisten Danzigs 415 ff. —
mit M. Scacchi 420 ff.
— Erbschaftsprozess in
Breslau 422 ff. — Letzte
Lebenszeit und Tod 4 25 ff.
— Schüler 400 f., 427. ~
Kompositionen 40 1 f., 4 1 3,
416, 420, 425, 428.
Snegassius, »Isagoge« 493,
498.
Sokol, Altist in Danzig
408 f., 418 f.
Sperling, Joh. Pct, »Prin-
cipia musicae« (1705) 494.
Sperontes (Joh. Sig.Scholzc),
Biographisches 679.
Starck, Laurentius, Brief
an Scacchi über Siefert
421. •
Stechau, Andr., Rektor in
Arnstadt, Schulkomödie
636.
Stierlein, Joh. Christ., »Tri-
folium musicale«« (1691)
494.
Stobaeus, Joh., Beziehungen
zu Sweelinck 147, 154. —
Brief an Scacchi über Sie-
fert 421.
Strunck, Delphin, Organist
in Wolfenbüttel 221.
Strunck, Nie. Ad., Oper 45.
Sweelinck, Joh. Pet., jLeben
151 ff. — Kompositionen
analysiert 155 ff. — Be-
ziehungen zur englischen
Kunst 153, 158, 170 ff,,
213, 225. — zur italieni-
schen 164, 165 f., 168 f.
— zur deutschen 153 f.,
160 f., 163, 187, 221,227,
400. — Vergleich mit sei-
nen deutschen Schülern
197, 199, 201 f., 203 f., 206,
225, 235. — Pedalge-
brauoh 175 ff. — Lehrbuch
nach Zarlinos Instituti-
onen 178 ff., 482, 483 ff.,
679 f. — Tonsystem 184.
Tonarten 184 f. — Pflege
der Lautenmusik 199. —
Notenbeilage 241 ff.
Theorie der Musik, s. Mu-
siktheorie.
Tritonius, Odenkomposi-
tionen 126 ff.
Trofeo, Ruggiero, Organist
in Mailand *i83.
Toccata in der norddeut-
schen Orgelmusik des 17.
Jahrh. 169, 202, 208, 235.
Tonarten in der norddeut-
schen Orgelmusik des 1 7.
Jahrh. 184 f., 213, 226, 238.
Tonsystem in der norddeut-
schen Orgelmusik des 1 7.
Jahrh 184,213,219 Anm.
1, 238.
Tunder, Franz, Organist in
Lübeck 229.
Vaet, Jac, Kapellmeister in
Wien, Biographisches
454.
Variationsform in der nord-
deutschen Orgel- und
Klaviermusik des 1 7.
Jahrh. 171 ff., 174 f., 183 f.,
202 ff., 204 fi., 219, 224 ff.,
233 ff., 239.
Vaudeville, Etymologie des
Wortes 135.
Virginalmusik, englische
146 ff., 153, 158, 170 ff.,
176 f., 187 f., 355, 419.
Völckel, Christian, Kapell-
meister in Frankfurt a/M.
Vorgänger vonJ.A,Herbst
466.
Voi^länder, Gabr., seine
Lieder bei den Studenten
des 17. Jahrh. beliebt584,
599 f., 636.
Vokalmusik des 18. Jahrh-
698
Namen- und Sachregister.
im Yerhältniß zur In-
strumentalmusik 17 ff.
Volkslied, das französische:
das historische Lied 132.
— Tanz- und Liebeslied
\X). — Wiegenlied, chan-
son de metier, Soldaten-
undKriegslied, festliches
Lied 134. — Trinklied,
Vaiidcville 135. — reli-
giöse und nationale Lie-
der 13G. — die musika-
lische Gestaltung dersel-
ben 136 ff. — Ursprung
und Entwickelung 138 f.
— Einfluß auf die Kunst-
musik 1 39 ff. — das eng-
lische und schottische 1 1 3.
— S. Baiem, Litthauen
und Lied.
Wagner, R., seine »Scenen»
20 ff. — sein Verhältniß
zu Beethoven 21 f.
Waissel, Matth. , Lauten-
tabulatur (1592) 290.
Walliser, Thom., »Musicae
tiguralis praeccpta« (1611)
493, 498.
Walther, Joh. Gottfr., seine
Quellen in ihrem histo-
rischen Zusammenhange
469 ff. — Kompositions-
lehre : äußere Form und
allgem. Vorbemerkungen
003 ff. — die wissen-
schaftlich - spcculativcn
Betrachtungen 508 ff. —
Elcmcntarlehre des ersten
Theils 5 1 3 ff. — des zwei-
ten Theils 523 ff: — ein-
fache Akkordverbindun-
gen 527 ff., Fortschrei-
tungen der Kon- und
Dissonanzen 532 ff. —
Text , Kadenzen , Modi
541 ff. — Formenlehre
547 ff. — doppelter Kon-
trapunkt 559 ff. — die
Kompositionslehre als
Vorarbeit zum Lexikon
564 ff.
Wanning , Joh. , Kapell-
meister in Danzig 402.
Wasungen a/d. Werra, neuie
Orgel (1680) 43.
Wechselchörigkeit in der
norddeutschen Orgel-
musik des 17. Jahrh. 168,
202, 235.
Wecker, Hans Jak., Lau-
tentabulatur (1552) 289.
Weckmann, Matth., Schüler
von Scheidemann 230.
Weise, Christian, seine
Lieder bei den Studenten
des 17. Jahrh. beliebt
582 ff.
WeitzenmüUer, Georg, Or-
ganist in Oliva 45 Anm. 3.
Werckmeister, seine theo-
retischen Schriften 494,
500 f.
Werner, Christian, Kapell-
meister in Danzig 420,
426.
Werner, Christopher, Brief
an Scacchi über Siefcrt
421.
Werner, Samuel, Erbauer
der Marienorgel in £1-
hing 193.
Wert, Giaches de, I. Buch
der Madrigale 282.
Weyda, Mich., Oq^anist in
Danzig, Vorganger Sic-
ferts 405.
Widmann, Erasmus, »Neue
musikalische Kurtzweil«
(1618) 583 Anm. 3.
Wien, Instruktion für Ka-
pellmeister, S&nger und
Instrumentisten der dor-
tigen Kapelle in der 2.
Hälftedes 17.Jahrh.450ff.
Willaert, A., Beziehungen
zu Sweelinck 152, lOS.
179 f., 488.
Zacconi, Lodov., seine ge-
sangstheoretischen Dar-
stellungen der C^i^ia
338 ff.
Zange, Nicol., KapcUmstr.
in Danzig 402 f.
Zarlino, Giu8.,LehrerSwee-
lincks 152, 178ff. — Be-
gründe» unseres Tons}'-
stems (Ist. härm. II) 4 69
ff. — Seine Beziehungen
zu deutschen Theoreti-
kern des 17. Jahrh. 475 f..
478, 480, 486 ff., 498, 502 f.
Zesen, Phil, v., ein Lied
von den Studenten ge-
sungen 582.
Zuber, Joh. Fricdr., Lieder
617.
Zwedorff, Mich., Organist
in Danzig 417.
Adressen der Herausgeber:
Professor Dr. Spitta, d. Z. geschäftsführender Herausgeber, Berlin, \>'. Hurg-
grafenstraße 10; Dr. Friedrich Chrysander, Bergedorf bei Hamburg; Professor
Dr. Guido Adler, Prag, Weinberge, Celakovskygasse 15.
?«'
lü:
c:-
sr.