Google
This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct
to make the world's books discoverablc online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.
Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prcvcnt abuse by commcrcial parties, including placing technical restrictions on automatcd qucrying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from automated querying Do not send aulomated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attributionTht GoogX'S "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct andhclping them lind
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.
Äbout Google Book Search
Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs
discover the world's books while hclping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll icxi of ihis book on the web
at|http : //books . google . com/|
Google
IJber dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nu tzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch fiir Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|http: //books . google .corül durchsuchen.
f
t ■■ .• ; » \
t 4
. I •
Vierteljahrssehrift
für
wissenschaftliche
Philosophie und Soziologie
gegründet von
Richard Avenarius,
in Verbindang mit
Friedrich Jodl und Alois Riehl
herausgegeben
von
Paul Barth.
Zwelanddreifsifster Jahrgang. Neue Folge Tl.
Lieipzig.
O. R. R e i s 1 a n d.
1908.
Maltsverzeichiiis
des
32. Jahrganges.
(Die römischen Ziffern bezeichnen das Heft, die arabischen die Seite.)
Artikel.
Barth, Paul, Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Be-
leuchtung. VII. IV, 488-509.
Olasenapp, G. v., Die Leviratsehe. Eine soziologische Studie.
m, 37y-401.
Gusti, Denaetrius, Die soziologischen Bestrebungen in der neueren
Ethik. I, 134-169.
Hessenberg, Gerhard, „Persönliche^ und „sachliche" Polemik.
m, 402-408.
Hönigswald, B., Zum Problem der philosophischen Skepsis.
I, 6^—94.
Lehmann, Ernst, Idee und Hypothese bei Kant. III, 827 — 878.
Mittenzwey, Kuno, Der III. internationale Philosophenkongreß.
IV, 468—487.
Maller-Freienfels, Eichard, Zur Theorie der ästhetischen
Elementarerscheinungen. I. I, 95—133. IL II, 193—236.
— Die Bedeutimg des Ästhetischen für die Ethik. IV, 435 — 466.
Oppenheimer, Franz, Moderne Geschichtsphilosophie. II, 237 — 266.
Schwarze, H. K., Die Ethik Herbert Spencers. I, 1—61.
Wize, K. F., Eine Einteilung der philosophischen Wissenschaften
nach Aristoteles' Prinzipien.
Besprechmigen.
Aäam, Max, Schellings Kunstphilosophie. — Von O. Klemm. II, 275.
Amdidt, Emüy Gesammelte Schriften. — Von 0. Klemm. II, 278.
Brntetj Otto, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie. —
Von Georg Liebster. I, 171—172.
Btcher, Erich, Philosophische Voraussetzungen der exakten Natur-
wissenschaften. — von O. Klemm. I, 176.
Äedt, P., Die Ekstase. — Von Walt her Regler. IV, 514—518.
il>5932
IV Inhaltsverzeichnis.
BertUng, 0., Geschichte der alten Philosophie als Weg der Erforschung;
der Kausalität. — Von 0. Klemm. II, 276.
Jiiermann, W. Ed., Die Weltanschauung des Marxismus. — Von Paul
Barth. IV, 528.
Bornhausm, K., Die Ethik Pascals. — Von C. M. Gießler. II, 279.
Brockhoff, Baron Kay v., Die Geschichte der Philosophie und das
Prohlem ihrer Begreiflichkeit. — Von Paul Barth. IV, 522—623.
BÖhringery Adolf , Kants erkenntnistheoretischer Monismus. — Von
0. Klemm. II, 276.
Dippe, Alfred, Naturphilosophie. — Von 0. Klemm. I, 176—179.
Drews, A^ Das Lehenswerk Eduard v. Hartmanns. — Von C. M. G i e ß 1 e r.
n, 279.
Fouill^, A., Der Evolutionismus der Kraft-Ideen. — Von Paul Barth.
IV, 521—522.
— Temperament et Caractöre. IV, 518—521.
— Les el^ments sociologiques de la morale. VI, 518.
— Critique des syst^mes de morale contemporains. — Von Paul
Barth. IV, 518.
Go8win, Uphues, Vom Bewußtsein. — Von B. HönigswaldL IV^
180—181.
Hoflemann-Dyroffj Elemente der Philosophie. — Von 0. Klemm.,
i, 179—180.
Hegels Eeligionsphilosophie. — Von Richard Fritzs che. II, 295.
Jungmann, Karl, Die Weltentstehungslehre des Descartes. — Von
0. Klemm. II, 175.
Stöhr, Adolf, Philosophie der unbelebten Materie. — Von 0. Klemm.
1, 176.
Kant, Gesammelte Schriften. — Von RaoulBichter. II, 267.
Kostet, Rudolf, Die Schrift bei Geisteskranken. — Von 0. Klemm.
II, 277—278.
Krau8^ Oskar, Zur Theorie des Wertes. — Von LeoBauschenbaoh.
II, 283.
Kreilig, Josef Clemens, Psychologische Grundlegung eines Systems der
Werttheorie. — Von teo Bauschenbach. II, 284.
Kuntze, Friedrich, Die kritische Lehre v^on der Objektivität. — Von
O. Klemm. H, 273-274.
Levi, Adolf Of L'Indeterminismo nella filosofia francese comtempo-
ranea. — Von O. Klemm. II, 274.
Liepmann, H., Über Störungen des Handelns bei Gehimkranken. —
Von C. M. Gießler. II, 282.
Misch, Georg, Geschichte der Autobiographie. — Von Richard
Fritzsche. IH, 421-424.
Philosophische Bibliothek. — Von Richard Fritzsche. n, 285—295.
V. d. Pfordten, Freiherr Otto^ Vorfragen der Naturphilosophie. — Von
O. Klemm. I, 176.
Richter, Raoul, Der Skeptizismus in der Philosophie. — Von Karl
Joöl m, 409-421.
Sanus, Similismus. — Von 0. Klemm.
Salvadori, Ouglielmo, Das Naturrecht und der Entwicklungsgedanke. —
Von G. Liebster. II, 268—269.
r
Inhaltsverzeiclinis. V
Schüler f F. C S., Studies in Humanism. — Von Hichard Müller-
Freienfels, II, 269-271.
Sdiins, MaXy I>ie Moralphilosophie von Tetens. — Von C. M. Gießler.
IV, 511—512.
.Seftwid, Bastian, Philosophisches Lesebuch. — Von WaltherRegler.
n, 267—268.
i^<^wwnkavtery ArÜhur^ Sein philosophisches System. — Von O. Klemm.
i^tkuUf Wolfgang, Stadien znr antiken Kultur. — Von 0. M. Gießler.
IV, 514.
TroüOj EmUnio, Xia filosofia di Giordano Bruno. — Von O. Klemm,
n, 275.
Waaner, Adolfe Dr., Der neue Kurs in der Biologie. — Von Franz
Hornickel. I, 172—176.
WemtTy O., Lebenszweck und Weltzweck oder die zwei Seinszustände.
— Von C. M. Gießler. IV, 513.
Zmr Wiedergeburt des Idealismus. Philosophische Studien von Ferdinand
Jakob Schmidt. — Von Richard Fritzsche. II, 295--d00.
Philosophische und goziologische Zeitschriften.
I, 18S-187. IV, 524-^28.
Bibliographie.
1, 18&~192. rV, 529—536.
Notizen.
11,302-304.
Erwiderung.
n, 300-301.
Erldärnn^.
ni, 424-^25.
t^.
t*M#«#4k^««#^«#«i»«^^«^«#4i^^«i(«^4i^^*^*«4fc««««
Abhandlungen.
%9¥¥^9^^^^f^9i^4^^^^^^^^¥^^^¥^9^¥9^^^^^f^^
Ü
Die Ethik Herliert Spencers.
Eine kritische Studie.
Von Heinrich Karl Schwarze.
Inhalt«
A. KfadeitvBgs Speneerg Metai^hyglh und ErkenntBistheorie.
S«iU
1. Metaphysik: Der Realismus, die einzig berechtigte Auf-
fassong des Seins. Nioht naiver, sondern „verklärter'' Bealis-
mns. Wesen der absoluten Existenz unerkennbar 3
2. Erkenntnistheorie: Relativität aller Erkenntnis. Nachweis
durch Analyse des subjektiven Denkprozesses, des objektiv-
wissenschaftlichen Denkproduktes und der Lebensvorgänge im
allgemeinen. Unmöglichkeit der Beseitigung des Bewußtseins
absoluter Existenz 5
Fundamentale Voraussetzungen der Erkenntnistheorie. Die
Quelle aller Erkenntnis. Das scheinbar Transzendentale des
menschlichen Geistes. Möglichkeit der Feststellung der
fundamentalsten und universellsten Gleichheit und Verschieden-
heit: Sehwache und lebhafte Manifestationen des Unerkenn-
baren = Ich und Nichtich. Weitere Sonderung in allgemeine
Formen (Raum, Zeit, Stoff, Bewegung, Kraft), Ableitung all-
gemeiner Gesetze aus diesen Erfahrungsgebieten. Das Streben
der Philosophie nach Zusammenfassung dieser Gesetze zu
einem einzigen. Die Entwicklungsformel. Induktive und
deduktive Ableitung derselben«
TiertelJAhrssehriffcf. wiBsenflohafftl.Philos. u. Sozio!. XXXII. 1.
1
2 Inhalt.
B. Die Ethik Spencers.
Seit«
1. Methodologischer Teil:
a) Der wissenschaftliche Charakter der Ethik im allgemeinen :
Die bisherige Ethik nur eine induktive, nicht eine deduktive.
Das Entwlcklungs- bzw. Kausalitätsprinzip in der Ethik 11
b) Vom Willen und der Willensfreiheit:
Wesen und Zusammenhang des Willens mit der psychischen
Tätigkeit überhaupt. Annahme der Willensfreiheit eine
Täuschung subjektiver und objektiver Art 12
c) Absolute und relative Ethik:
Möglichkeit der Aufstellung idealethischer Gesetze. Ver-
hältnis der absoluten Ethik zur relativen. Der absolut
ethische Zustand als Ziel der menschlichen Entwicklung • 14
Kritik 16
2. Ziel bzw. Wesen des sittlichen Handelns:
a) a) Natürliche Bestimmung 25
ß) Kulturelle Bestimmung. Gut und böse — zweckdienlich
und zweckschädigend »=» f reude- und schmerzbringend = ent-
wickelt und unentwickelt. Glück» der allgemeine Maßstab
des Lebenswertes. Identität der Ergebnisse beider Be-
stimmungswege 26
b) Betrachtung und weitere Ausführung vom Standpunkte der
wissenschaftlichen Grundlagen der Ethik aus:
a) Vom physikalischen Standpunkte aus: Notwendigkeit
zwischen physikalischer und sittlicher Entwicklung, Identi-
tät der Ziele 27
ß) Vom biologischen Standpunkt aus : Sittlich gleich normal
gleich erfreuend. Das vielfache Nichtbestehen dieser
Identität und seine Gründe. Identität des Ziels der sitt-
lichen und biologischen Entwicklung 28
y) Vom psychologischen Standpunkt aus: Die emotionellen
und intellektuellen Momente des' Handelns. Bedeutung
der Zunahme der Kompliziertheit dieser Momente. Das
Gewissen. Identität des Ziels der sittlichen und der
psychischen Entwicklung 29
l) Vom soziologischen Standpunkte aus : Verhältnis der Ge-
sellschaftserhaltung zur Selbsterhaltung. Soziologische
Definition des vollkommenen Lebens. Bedingungen der
Verwirklichung des vollkommenen Lebens * . 32
Die Ethik Herbert Spencers. 3
Seit«
c) Egoismus und Altmismus: Notwendigkeit der Erweiterung
beider Begriffe. Egoismus oder Altruismus? Notwendig-
keit eines Kompromisses. Endliche Versöhnung. Das Mit-
gefühl. Dauernde Formen des Altruismus 34
Kritik 37-61
A. Einleitang.
Der y ersuch, das ethische Problem zu lösen, kann nicht unter-
nommen werden ohne vorherige Auseinandersetzung mit dem er-
kenntnistheoretischen und dem metaphysischen Problem, und um-
gdiehrt das Verständnis eines ethischen Systems hat die Kenntnis
des erkenntnistheoretischen und metaphysischen Standpunktes seines
Schöpfers zur Voraussetzong. Es wird daher nötig sein, vor der
Betrachtung der Ethik Spencers seine Erkenntnistheorie und Meta-
physik kurz zu charakterisieren.
Die Metaphysik ; Die Dinge und Vorgänge unserer Um-
gebung nötigen uns nicht weniger als die Erscheinungen
unseres Bewußtseins zur Annahme einer außer unserem Be-
wußtsein liegenden Existenz, die als letzte Ursache allen
Erscheinungen zugrunde liegt. Diese Anschauung, die
realistische, wird negativ gerechtfertigt dadurch, daß der
Antirealismus im Widerspruche mit allen Äußerungen des
Bewußtseins, im besonderen mit dem höchsten Prüfstein der
Wahrheit — daß nämlich ein Urteil, dessen Negation un-
vorstellbar ist, unvermeidlich angenommen werden muß ^) —
im Grunde behauptet, daß das Bewußtsein ewig existierend
ist, gleichzeitig schaffend und erschaffen, daß es immer war
und sein wird die Summe aller Ursachen und Wirkungen,
allmächtig und allgegenwärtig*). Sie wird positiv gerecht-
fertigt durch das djmamische Gesetz des Bewußtseins, nach
welchem alle unsere Gedanken notwendig durch die relativen
Zusammenhänge der einzelnen Bewußtseinszustände bestimmt
werden und die stärksten Zusammenhänge für den Ge-
dankenverlauf entscheidend sind und schließlich als unauf-
1 Pr. of Psych. § 471.
« Pr. of Psych. § 475, 1.
1*
4 H. K. Schwarze:
löslich im geistigen Besitz verbleiben^). „Die realistische
Auffassung ist nicht, wie Hume meint, das Resultat einer
natürlichen Geneigtheit, die mit den Denkgesetzen in Wider-
spruch steht; sie ist auch nicht, wie Hamilton ausftihrt, ein
in wunderbarer Weise eingehauchter Glaube, sondern sie ist
ein unvermeidliches Ergebnis des Denkprozesses, welcher
in jedem G^tigkeit besitzenden Beweis ausgeführt wird').
Jedoch erkenntnistheoretische Gründe widerstreiten dem
naiven Realismus, der behauptet, daß irgendeine bestimmte
Art der objektiven Existenz oder die Zusammenhänge
zwischen ihren Formen in Wirklichkeit das seien, was sie
scheinen. Der berechtigte Realismus kann nur der sein, der
einfach und lediglich behauptet, daß objektive Existenz ge<
trennt und unabhängig ist von subjektiver. Wegen dieses
Unterschiedes vom naiven Realismus wird er treffend „ver-
klärter Realismus*' (Transfigured Realism) genannt. Er faßt
die Erscheinungen des Universums auf als Kundgebungen
einer absoluten Realität.
Fragt man jedoch nach dem Wesen dieser absoluten
Existenz, so erweist sich keine der darüber aufgestellten
Hypothesen als ausreichend, alle schließen sie eine Reihe
alternativer Unmöglichkeiten des Denkens in sich, und ihr
Effekt ist nur die immer klarere Beleuchtung der einen all-
gemeinsten, tiefsten und gewissesten Tatsache, daß die letzte
Ursache imerkennbar ist, mag man nun auf religiösem oder
wissenschaftlichem Wege zu ihrer Erforschung ausziehen.
Im besonderen versagt letzterer vollständig: „Die wissen-
schaftlichen Grundbegriffe : Raum, Zeit, Materie, Bewegung,
Kraft, Umfang und Substanz des Geistes, erweisen sich
sämtlich als Realitäten, die nicht begriffen werden können.
Darum ist auch die Aufstellung neuer Hypothesen über sie
vollständig zwecklos*. Es bleibt nichts anderes übrig, als
> Pr. of Psych. § 471.
« Pr. of Psych. § 471.
' Hiermit negiert Spencer im Grande alle Metaphysik, deren
Aufgabe es ja gerade ist, über das empirisch nicht enthoUoare Wesen
von Substanz, Materie und Seele spekulative Aufklärung zu geben.
Die Ethik Herbert Spencers. 5
die objektive Wirklichkeit imendlich und absolut zu denken,
obwohl die Vorstellung des Absoluten und unendlichen auf
keine Weise ohne eine Fülle von Widersprüchen möglich
ist. .Höchstwahrscheiulich werden wir immer genötigt sein,
das höchste Sein als eine gewisse Art des Seins überhaupt
aufzufassen, uns dasselbe in einer gewissen, wenn auch noch
so unbestimmten Form des Denkens vorzustellen, und wir
werden damit nicht auf Abwege geraten, solange wir jeden
so gebildeten Begriff als bloßes Symbol behandeln, das ganz
und gar der Ähnlichkeit mit dem entbehrt, was es vertritt/'
Das streift jedoch schon stark erkenntnistheoretisches Gebiet.
Die Erkenntnistheorie:
Der Hauptgrund der ünerkennbarkeit der allen Er-
scheinungen zugrunde liegenden Wirklichkeit sind aber die
Tatsachen, die ihren umfassenden Ausdruck finden im Prinzip
der Relativität aller Erkenntnis, nämlich die Analyse des
subjektiven Denkprozesses des objektiv-wissenschaftlichen
Denkprodukts und der Lebensvorgänge im allgemeinen.
Alles Denken ist Beziehen, Unterscheiden, und zwar
geht jeder Erkenntnisakt hervor aus der Bildung einer
Relation im Bewußtsein, welche einer Relation in der Um-
gebung parallel läuft. Darum muß es seine Grenzen da
haben, wo keine Möglichkeit der Beziehung vorhanden ist,
das ist aber in dem Begriff der absoluten Existenz; denn
wo sind hier die zur Erkenntnis derselben nötigen Elemente
der Relation?
Jedes Eigebnis des Denkens ist eine Feststellung von
Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung. Nichts kann
darum t^rkenntnis werden, was nicht schon mit vorhandener
Erkenntnis irgendwie überdbstimmend und nicht überein-
stimmend festgestellt werden kann.
Auch die bloße Definition des Lebens, dieses als Er-
schemung betrachtet, enthüllt, wenn auf die abstrakteste
Form gebracht, das Prinzip der Relativität aller Erkenntnis.
Das Leben , soweit es für uns erkennbar ist , besteht mit
Emscblnß der Intelligenz in ihren höchsten Formen in der
bestandigen Anpassung innerer Beziehungen an äußere.
t) H. K. Schwarze.
"Wie kann da die Erkenntnis anders als relativ sein? "Wir
können nur Kundgebungen des Absoluten erkennen, nicht
das Absolute selber. Das Prinzip der RelativitÄt ist somit
das das Gebiet der Erkenntnis bestimmende Prinzip.
Jedoch ist es nicht auch das den Umfang des Geistes
überhaupt bestimmende, sondern unser Geist enthalt auch
etwas, was die Erkenntnis übersteigt. Ba nämlich unser
Bewußtsein von dem Bedingungslosen buchstäblich das be-
dingungslose Bewußtsein oder das Rohmaterial des Denkens
ist, dem wir beim Denken bestimmte Form verleihen, so
folgt, daß ein stets vorhandenes lebendiges Gefiihl der
realen Existenz nicht eigentlich die Grundlage unseres
Denkvermögens bildet. Die Denkgesetze verbieten uns zwar
schlechterdings die Bildung eines Begriffs absoluter Existenz^
zu gleicher Zeit verhindern uns aber dieselben Denkgesetze^
uns von dem Bewußtsein absoluter Existenz freizumachen»
Wenn also der Mensch der positiven Existenz des Absoluten
gewiß sein kajin, so ist ftir diese Gewißheit die Tatsache
die Erklärung, daß neben jenem bestinmiten Bewußtsein,,
für welches die Logik die Gesetze formuliert, es noch ein
unbestimmtes Bewußtwerden gibt, welches nicht in Formeln
gebracht werden kann ^ Es stellt sich dies Bewußtsein dar
als Abstraktion nicht aus irgendeiner Gruppe von Ge-
d۟iken, Ideen und Vorstellungen, sondern aus allen Ge-
danken, Ideen und Vorstellungen ; ja es ist dies Bewußtsein,
geradezu der Gegensatz zum Selbstbewußtsein und trotz
seiner Unbestimmtheit ebenso unerschütterlich wie daa
letztere in seiner relativen Bestimmtheit. Aus dem Gegen-
satz beider Bewußtseinsformen fließen aber zwei für die
Erkenntnistheorie fundamentale Voraussetzungen, nämlich
1. Es gibt erkennbare Gleichheiten und Ungleichheiten unter
den Kundgebungen des Absoluten, für welche Behauptung
die Beständigkeit eines Bewußtseins von Gleichheit und
Ungleichheit unsere letzte Gewähr ist, und 2. es gibt eine
daraus hervorgehende Sonderung der Kundgebungen in
» F. Pr., 3rd Ed., p. 88.
Die Ethik Herbert Spencers. 7
Subjekt und Objekt. Beide Annahmen, erstere den ftinda-
mentalen Denkprozeß, letztere das fundamentale Denk-
prodnkt bezeichnend, sind jene psychischen Inhalte, die von
dem übrigen Geistesinhalt nicht ohne Auflösung des gesamten
geistigen Zusammenhanges überhaupt getrennt werden
können, „fundamentale Intuitionen''. Die vorläufig an-
zunehmende Unanfechtbarkeit beider Voraussetzungen wird
gerechtfertigt und dauernd gemacht durch die Resultate
ihrer Anwendung, nämlich durch den Nachweis der Über-
einstimmung der von ihnen angedeuteten Erfahrung mit der
faktischen, d{t „ein anderes Wissen als das aus dem Be-
wußtsein solcher Übereinstimmung und ihrer korrelativen
Nichtübereinstimmung hervorgehende nicht möglich iBt" ^).
Dsunit ist schon gesagt, daß alle Erkenntnis aus der Er-
fahrung entspringt und die höchste Form der Wahrheit der
Erkenntnis nicht mehr sein kann, als eine durch das ganze
Qebiet unserer Erfahrung reichende, vollkommene Über-
einstimmung zwischen jenen Repräsentationen, welche wir
ideal nennen, zu jenen, welche wir als reale bezeichnen^).
Es gibt keine Erkenntnisfunktionen a priori im Sinne
Kants, sondern das scheinbar Transzendentale des mensch-
lichen Geistes enthüllt sich als organisierte generelle Er-
fahrung. Die Untersuchungen über den Zusammenhang von
Körper und Geist drängen zu dem Schluß, daß das geistige
Leben strukturelle Modifikationen des Nervensystems bedingt
und daß diese Modifikationen, wenn durch häufige Wieder-
holung bleibend, oiganisch gemacht, vererbbar sind, wodurch
aus allgemein menschlichen Erfahrungen bestimmte all-
gemeine menschUche Intuitionen entstehen und die nach-
folgenden Geschlechter durch größere Leichtigkeit in der
Bildung gewisser psychischer Inhalte vor den vorhergehenden
ausgezeichnet sind. Die Analyse des geistigen Lebens ftihrt
auf die Empfindung als die fundamentale psychische Ein-
heit, und diese wiederum setzt sich, wie die Schallempfin-
duDgen am deutlichsten zeigen, höchstwahrscheinlich aus
» F. Pr. 139, Pr. of Psych. II, 312.
» F. Pr- 186.
6 H. E. SohwarEe:
eimselnen Nervenstöfien zusammen. Nur in dem Sinne kann
darum von Erkenntnis a priori geredet werden, daß man
auf genereller Erfahrung ruhende und aus ihr abgeleitete
damit bezeichnet, woraus sich von selbst die Bezeichnung
Erkenntnis a posteriori fLU* die auf individueller Erfe^hrung
beruhende ergibt.
Da eben Erkennen das Zusammenfassen des Gleichen
und das Trennen des ungleichen ist, so muß es möglich,
sein, durch fortgesetzteAbstraktion die fondamentalste Gleich-
heit imd Verschiedenheit festzustellen, die allen Erfahrungen
gemeinsam ist. Das ist in der Tat möglich, die beiden
großen Belassen, die sich so ergeben, sind die der lebhaften
und die der schwachen Kundgebungen des unerkennbaren
(vivid and faint manifestations) bzw. Erfahrungen. „Die
ersteren, die unter der Bedingung der Wahrnehmung er-
folgen, sind Originale; die letzteren, die unter den Be-
dingungen der Überlegung, des Gedächtnisses, der Ein-
bildungskraft oder der Ideengestaltung auftreten, sind
Kopien*"*). Sie bilden beide eine Reihe oder einen hetero-
genen Strom, dessen Unterbrechungen niemals direkt wahr-
genommen werden. Offenbar ist diese Unterscheidung gleich-
wertig mit der zwischen Objekt und Subjekt, zwischen dem
Selbst und dem Nichtselbst; denn die Kraft, welche sich in
der Reihe der schwachen Kimdgebungen offenbart, nennen
wir das Ich, die in der der lebhaften das Nicht-Ich. Diese Aus-
einanderhaltung der Kundgebungen und ihre Zusammen-
fassung zu zwei verschiedenen Ganzen tritt zum großen
Teil von selbst ein und geht allen wohlerwogenen Über-
legungen voraus, obschon sie von solchen Überlegungen,
wenn sie angestellt werden, bestätigt werden***). Die Ur-
teilskraft hilft bloß solche Manifestationen, welche sich nicht
entschieden mit den übrigen ihrer Art vereinigt haben, ihrer
betreffenden Klasse zuzuweisen** ^)'
1) Collims-Cabus, Epitome der 8yntbetiBohen Philosophie, H. Spsncrr
S. 20.
• F. Pr. 150.
> Ebenda 151.
Die Ethik Herbert Spencers. 9
Übrigens lehrt die Übereinstimmung der durch wahr-
nehmbare Anteeedentien veranlaßten lebhaften Emidgebimgen
mit solchen, deren Antezedentien nicht wahrnehmbar sind,
ancb die Bzistenz eines ungeheoren Reiches von potentiellen
lebhaften Manifestationen, welche sowohl jenseit des mi-
mitbelbar gegenwärtigen phänomenalen Ich, als auch des
phänomenalen Nicht-Ich liegen.
Die Manifestationen des unerkennbaren, als dem Ich
und dem Nicht-Ich zngehörend, sind weiter teilbar in gewisse
Formen, deren ReaUtät von den Wissenschaften wie von
dem gemeinen Menschenverstand in jedem Augenblick als
absolut sicher angenommen wird: Raum, Zeit, Stoff, Be-
wegung, Eraft. Die Analyse zeigt sie als auf der Erfahrung
von Kraft beruhend, nämlich Raum und Zeit als die Ab-
strakta aus den Formen verschiedenartiger geistiger Be-
ziehung, und zwar Zeit als das Abstraktum aller Sukzessionen,
Raum als das aller Coexistenzen, Stoff und Bewegung als
die Conkreta aus den Inhalten verschiedenartiger geistiger
Beziehung, und zwar Stoff als das mit Widerstand und Aus-
dehnung, Bewegung als das mit fortgesetzter Lageveränderung
ausgestattete Eonkretum. Die Eraft als symbolisches Mittel
und Ursache von Veränderungen ist das letzte Ergebnis der
Analyse, und Erfahrung Von Erafteindrücken der erste Be-
ginn alles geistigen Lebens.
Aus den vielen Erfahrungen von Stoff, Bewegung und
Eraft hat die Wissenschaft in ihrem Streben nach Ver-
einheitlichung der Erkenntnis allgemeine Gesetze abgeleitet,
die ftbr alle Erscheinungen, physische wie psychische, gültig
sind. Es sind folgende: das Gesetz der Eontinuität der
Bewegung, der Umformung und Gleichwertigkeit der Eräfte,
des Verlaufs der Bewegung in Richtung des kleinsten Wider-
standes, des Rhythmus der Bewegung und das allen zu-
gronde liegende Gesetz von der Erhaltung der Eraft *). Die
Pfaüosophie jedoch, deren Wesen in vollständiger Vereinheit-
^ Spshcbr wählt die Bezeichnung: The Persistence of Force
(F, Pr., p. iSe.)
10 H. K, Schwarze:
lichung der Erkenntnis besteht, verlangt nacli einer alles
umfassenden Vorstellung der Dinge, einer universellen Syn-
these. Die einzelnen, eben genannten allgemeinen Gesetze
vermögen sie nicht zu geben, wohl aber sind sie die Fak-
toren dieser Synthese, die Synthese selbst kann nur seixi
das Gesetz ihres Zusammenwirkens, d. h. das Gesetz der
kontinuierlichen Andersverteilung von Stoff und Bewegung.
Wenn es gelingt, dieses Gesetz zu finden, so ist die Philo-
sophie am Ziele.
Die Erfahrung lehrt universell, daß jede wahrnehmbare
Erscheinung einen Prozeß durchmacht von Integration des
Stoffes und Aufgabe der Bewegung zu Integration der Be-
wegung und Zerstreuung des Stoffes, wobei beide Vorgänge,
identisch mit Entwicklung (evolution) und Auflösung (disso-
lution) und gleicherweise für greifbaare Massen wie für Mole-
küle geltend, stets gleichzeitig vor sich gehen, aber nie im
Gleichgewicht sind. Die Betrachtung der verschiedensten
Erscheinungen des Universums ergibt folgende Definition
der Entwicklung: Evolution ist eine Integration von Sub-
stanz und eine diese begleitende Zerstreuung von Bewegung,
während welcher die Substanz von einer relativ unbestimmten,
unzusammenhängenden Gleichartigkeit zu einer relativ be-
stimmten, zusammenhängenden üngleichartigkeit übergeht
und die zurückgebliebene Bewegung eine parallele Um-
gestaltung erflLhrt^).
Als Deduktion folgt diese Entwicklungsformel aus dem
Gesetz von der Erhaltung der Kxe£t mittels der Tatsachen
der Unstetheit des Homogenen, der Vervielfältigung der
Wirkungen und der Sonderung (Segregation) des Gleich-
artigen vom Ungleichartigen. Die Auflösung oder Disso-
lution vollzieht sich nach dem entgegengesetzten Gesetze
und ist von der Evolution durch einen momentanen Gleich-
* F. Pr., 6*i> Ed., § 145: Evolution is an integration of matter
and conoomitant dissipation of motion; during which the matter
passes from an relatively indefinite, incoherent homogeneitv to a
relatively definite, ooherent heteroe;eneity and during which the
retained motion imdergoes a paraHertransformation.
Die Ethik Herbert Spencers. 11
gewichtsznstand getrennt. Dem Denken bleibt keine andere
Wahl, als dem Universum einen fortgesetzten Rhythmus
zwischen Sntwicklung und Auflösung zuzuschreiben. Es
durchläoA« jetzt das Stadium der Evolution ; bis zum Gleich-
gewichtszustand wird — fär diese Frage sind besonders
astronomische Erwägungen maßgebend — eine unsagbar
lange Zeit vergehen.
B. Die Ethik Spencers.
1. liAethodologlBcher Teil (Daratellunfir).
a) Der -wissenschaftliche Charakter der Ethik
im allgemeinen.
„Jede Wissenschaft beginnt mit der AnhäuAmg von
Beobachtungen und verallgemeinert dieselben dann sofort
auf empirischem Wege; allein erst dann, wenn sie das
Stadixmi erreicht hat, in welchem ihre empirischen Ver-
allgemeinerungen in eine rationelle zusammengefaßt werden,
wird sie zur entwickelten Wissenschaft" (I, 69)*).
Der Ethik als der Wissenschaft, die das Handeln der
vergesellschafteten menschlichen Wesen von einer bestimmten
Seite aus betrachtet, mangelt noch eine derartige Verall-
gemeinerung; selbst die ethische Richtung der Gegenwart,
die einer wissenschaftlichen Auffassung der sittlichen Tat-
sachen am nächsten steht, der ütilitarismus, findet die Grund-
sätze des sittlichen Handelns nur mittels Induktion. Sie ist
eine empirisch und nicht eine rationell vorgehende Ethik.
Der deduktive Weg, d. i. die Ableitung der sittlichen Prin-
zipien von allgemeinen Prinzipien, wird für aussichtslos ge-
halten und ist darum auch noch von keinem der bekannteren
ethischen Systeme eingeschlagen worden. Man findet ihn auf
^ Diese in den Text eingestreuten Hinweise beziehen sich auf
'sTTEjusoHs Übersetzung der Ethik Spencebs.
12 H. K. Schwarze:
zweierlei Weise, einmal auf eine mehr allgemeine, indem man.
das universale Handeln, und sodann auf eine mehr spezielle,
indem man die Ethik im Verhältnis zu ihren wissenschaft-
lichen Grundlagen, Physik, Biologie, Psychologie und Sozio-
logie betrachtet^). Beide Betrachtungen führen zum Evo-
lutionismus, bzw. zu dem seine logische Grundlage bildenden
KausaUtätsprinzip als dem obersten Prinzip, nach dem die
Ethik ihre Grundsätze zu deduzieren hat, imd lassen als
allein richtige Methode der Ethik die erkennen, nach welcher
die notwendigen Beziehungen zwischen den Lebens-
bedingungen als Ursachen und den Lebensvorgängen als
Wirkungen festgestellt und von bestimmt formulierten Ge-
setzen aus die Regeln des Handelns abgeleitet werden. Da
dieser Zusammenhang durch keine Autorität und kein Mittel
eingerichtet oder verändert werden kann, so irren die ethi-
schen Systeme, die diese Methode nicht gebrauchen. Das
sind aber alle, die theologischen, die politischen, die intuitio-
nalen und auch die empirisch-utilitaristischen ; die letzteren
müssen mit genannt werden, weil sie nur iigendeine, aber
nicht die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung an-
erkennen.
b) Vom Willen und von der Willensfreiheit.
Dieser unerschütterliche Zusammenhang besteht auch
in bezug auf das Psychische. Niemals kann eine Handlung
durch eine freie Ursache, etwa durch den sogenannten freien
Willen erfolgen, sondern die Ursache ist in allen Fällen
eine bedingte, ihrem objektiven Wesen nach eine Bewegung,
d. i. eine Andersverteilung von Kraft und Stoff mit einer
unabsehbaren Reihe von Voraussetzungen, ihrem subjektiven
Wesen nach ein Geftthl oder ein Komplex von Geftthlen,
wiederum mit mannigfachen Vorbedingungen.
Da alle Formen des Bewußtseins mit Einschluß des
0 The ethics can find its ultimate interpretations only in those
fundamental traihs whioh are commonly all of them. (Pr. of Eth. 1, 63.)
Die Ethik Herbert Spencers. 13
Willens xiicKts anderes sind als Begleiterscheinungen des
ZnsammeTili anges zwischen Organismus und Auiienwelt, mit
anderen "Wortyen nur verschiedene Seiten oder Phasen der
koardinierten Ghruppen von Veränderungen, wodurch innere
an Kufiere Beziehungen angepaßt werden, so bedeuten Ge<
dachtnis, Yemxmft, Gefiihl, Wille alle denselben psychischen
Vorgang, nur eben von verschiedenen Seiten aus betrachtet.
Alle die genannten psychischen Erscheinungen entstehen
^eichzeitig, sobald die automatischen Tätigkeiten kompli-
zierter, seltener und zögernder werden, und umgekehrt ver
schwinden sie gleichzeitig in demselben Maße, als die psychi-
sclien Veränderungen automatisch werden. Im besonderen
ist das Aufhören der automatischen Tätigkeit und das Auf-
dämmern des Wollens durchaus eins und dasselbe. Das
Wollen ist zu definieren als jener Zustand des Bewußtseins,
der dadurch entsteht, daß die einem komplizierten Eindruck
entsprechenden motorischen Veränderungen durch den Gegen-
satz ssa anderen gleichfalls erregten motorischen Verände-
rungen an der sofortigen Ausführung verhindert werden,
welcher Zustand schUeßHch doch zur Tätigkeit führt, also
kurz der Widerstreit zweier Ghruppen idealer motorischer Ver-
änderungen um die Realisation, von denen endlich eine siegt.
Während dieses psychischen Zustandes ist jedoch weit
mehr im Bewußtsein als nur diese widerstreitenden Ghruppen^
nämlich ein A^pregat idealer, die Folgen früherer Hand-
lungen repräsentierender Sinneseindrücke, die durch indi-
viduelle und generelle Erfahrung in den geistigen Besitz
des Handelnden gelangt sind. Infolge der ungeheueren
Menge dieser organisierten Erfahrungen werden diese Ver-
änderungen hervorgerufen, die in jedem Augenblick im
menschlichen Bewußtsein ablaufen, und u. a. auch die, von
denen der Mensch sagt, daß er sie wolle, indem diese Er-
fahrungen zusammenwirken mit deDfunmittelbaren Eindrücken
seiner Sinne. Die Wirkungen dieser kombinierten Faktoren
werden dcuin in jedem Falle noch durch den allgemeinen
oder lokalen physischen Zustand seines Organismus einiger-
nmßen abgeändert.
14 H. K. Schwarze:
Darin liegt aber, daß der Menscli wohl tun kann, was
er zu tun wünscht, daß er aber nicht nach Belieben begehren
und nicht begehren kann*), d, h. daß die Frage nach der
Freiheit des "Willens entschieden und gänzlich zu verneinen
ist. Der ganze Begriff der Willensfreiheit beruht auf einer
Täuschung subjektiver und objektiver Art. Das geistige
Ich wird f[ir mehr gehalten, als das jeweils bewußte Aggregat
von Gtefuhlen und Vorstellungen und ihm eine Existenz
neben diesem zugeschrieben, während doch beide identisch
sind; darum auch der Ausdruck: ich habe mich entschlossen,
insofern eine Inkorrektheit enthält, als die Entschließungen
keineswegs aus einem in der eben dargelegten Weise ver-
standenen Ich bewirkt werden, sondern notwendig aus der
Art der widerstreitenden Bewußtseinsinhalte und ihrer Zu-
sanmienhänge mit dem unbewußten hervorgehen.
Die objektive Täuschung besteht in dem Mißverständnisse
der Tatsache, daß, je größer und mannigfaltiger dem Qrade
nsich die Zusammenhänge eines jeden psychischen Zustandes
mit anderen werden, desto unberechenbarer und scheinbar
gesetzloser auch die psychischen Veränderungen selbst er-
scheinen müssen. Die scheinbare Gesetzlosigkeit ist jedoch
nicht auf Konto eines unabhängigen Willens zu setzen,
sondern auf das der verwickelten Zusammensetzung der Ur-
sachen; sie ist aber auch nur scheinbar; in Wirklichkeit
sind die Folgen dieser komplizierten Ursachen ebenso gesetz-
mäßig wie die einfachste Beflextätigkeit ').
c) Absolute und relative Ethik.
Können aber die sittlichen Tatsachen in jeder Beziehung
auf das Kausalprinzip zurückgeführt werden, und ist die
Ethik durch den Evolutionismus zur entwickelten Wissen-
^) That every one is at liberty to do what he desires to do
(supposing there are no extemal hindrances) all admit; though people
of confused ideas commonly suppose this to be the thing demed.
But that eveity one is at libeTty to desire or not to desire which is
the real proposition involved in tne do^ma of free will, is negatived . ..
by the analysis of consciousness. (Princ. of Psych. I, 500.)
«) Vgl. hierzu Princ. of Psych. I, 517—527.
Die Ethik Herbert Spencers. 15
schafb ge^worden, so heißt das, daß letzte dauernde Gesetze
aiifgestellt und bestimmt formuliert werden können. Das
ist in der Tat mögliöh und geschieht wie bei allen anderen
Wissenscliaften. So wie z. B. die Mechanik zu ihren ab-
soluten Wahrheiten gelangt, indem sie aus den ihrer Be-
trachtang unterliegenden Vorgängen die unwesentlichen, ver-
wirrenden Momente eliminiert und nur die idealen Be-
dingungen ins Auge faßt, so muß auch die Ethik die
endgültigen Gesetze des sittlichen Handelns unter EUmi-
nation aller sie verdunkelnden Zufälligkeiten feststellen. Erst
wenn sie das getan hat, kann sie es unternehmen, auch das
tatsachliche, unter der verwickelten gegenwärtigen Wirklich-
keit sich vollziehende Handeln zu untersuchen, d. h. die
relativen Wahrheiten zu formulieren. Da aber die Ver-
wickeltheit des gegenwärtigen Handelns die Folge mannig-
facher Widerstreite und Hemmungen ist, wie sie einem
Übergangszustande anhaften, so sind die darin sich offen-
barenden absoluten Wahrheiten zugleich die Gesetze eines
Zustandes vollkommener Entwicklung, und es ist die Be-
hauptung gerechtfertigt, da£ ein idealer Kodex des Handelns
bestehen muß, welcher das Betragen des vollkommen an-
gepaßten, des idealen Menschen in der vollkommen ent-
wickelten Gesellschaft zum Ausdruck bringt. „Ein solcher
Kodex ist es, was wir hier absolute Ethik nennen, zum
Unterschied von der relativen Ethik, ein Kodex, dessen Ge-
bote allein als absolut richtig anzusehen sind im Gegensatz
zu jenen, die nur relativ richtig oder am wenigsten böse
sind, und der als System des idealen Handelns des höchsten
Maßstab darstellen soll , * wenn wir so gut als möglich
die Angabe des realen Handelns zu lösen versuchen^
(I, 308).
Diese Unterscheidung ist um so nötiger, als es keineswegs
in jedem Falle nur einen guten und einen bösen Weg gibt,
vielmehr in zahlreichen Fällen von gut im eigentlichen Sinne
gar nicht geredet werden kann, sondern nur vom kleinsten
Übel, und in anderen wieder es nicht einmal möglich ist,
irgendwie bestimmt festzustellen, welches das kleinste Übel
16 H. IL Schwarze:
ist. Ein Handeln aber, das irgendein Übel sohafH, kann
nicht absolut gut sein.
Die Entwicklung strebt nun dahin, die Übel immer
seltener zu machen, die Natur des Menschen so an seine
Lebensbedingungen anzupassen, daß endlich die absolute
Ethik allein und allenthalben heirschen wird. Dann aber
wird der Mensch den Zustand des „ideal man'' erreicht
haben, wie er allen Moralisten vorschwebt.
L Methodolo&riBcher Teil (Kritik).
a) Der wissenschaftliche Charakter der Ethik
im allgemeinen.
Spencers Kritik der Wissenschaftlichkeit einer Wissenschaft ist
ein Ausfluß seiner in den First Prindples dargele^n Lehre, dafi der
Fortschritt der Wissenschaften in der Vereinheithchun^ des Wissens
bestehe. Man wird ihm beistimmen müssen, wenn er hier ma besonderen
als CharakteristilEum einer entwickelten Wissenschaft die Zusammen-
fassung ihrer empirischen Verallgemeinerungen in eine rationelle er-
kennt und von der Ethik sagt, daß ihr eine solche, das ist eine Ver-
allgemeinerung aus den inneren ursächlichen, nicht aus dem äußerlich
sinnfälligen Zusammenhange der Tatsachen heraus, noch fehle. £r
entnimmt aus dem Vorhandensein dieses Mangels für sich die Auf-
fabe, der Ethik die „rationelle Veralleemeinerung** zu geben. Di&
.ufsabe ist die höchste, die er sich wählen konnte. Es muß jedoch
die Frage gestellt werden, ob sie für die Ethik lösbar ist, und wenn,
ob die au^efundenen ursächlichen Zusammenhänge in ein einziges
allgemeines Gesetz zusammengefaßt werden können. Es ist dies oei
dem besonderen Charakter der Moralwissenschaft keineswegs eine
Frage, deren positive Lösung ohne weiteres klar wäre.
Die Ethik ist in erster Linie eine praktische Wissenschaft, ja
die praktische Wissenschaft schlechthin, sowohl in dem Sinne, daß
lediglich die Führung des Lebens und seine Resultate das Objekt
ihrer Untersuchung sind, als auch in dem, daß ihr dieses Objekt
Selbstzweck ist. Diese Eigenart bedingt mannigfache Schwierigkeiten
der ethischen Forschung. Die Kompliziertheit und Üngleicharti^keit
des Objekts, die fortwährenden, äußerst vielseitig bedingten Wand-
lungen der ethischen Anschauungen lassen der exakten Untersuchung
nur wenig Raum. Die erfolgreichen Forschungswege, die andere
Wissenschaften einzuschlajgen vermögen, bleiben der Ethik entweder
ganz verschlossen, wie die des Experimente, oder sind nur im be-
schränkten Maße gangbar, wie die der historischen Betrachtung.
Schon das muß die Zusammenfassung der empirisch ethischen Ver-
allgemeinerungen in eine rationelle viel schwieriger erscheinen lassen
als in allen anderen Wissenschaften.
Sodann ist die Ethik eine Wissenschaft höheren Grades, ein Teil
der Philosophie. Als solche muß sie sich auf die Ergebnisse spezieller
Wissenscharten stützen, um zu ihren Ergebnissen zu gelangen, nicht
bloß einiger Wissenschaften, sondern aller, allerdings einiger in be-
Die Ethik Herbert Spencers. 17
sonderem Maße. Es muB ohne weiteres zugegeben werden, daß die
Ethik in diesen Entlehnungen rationell entsprechend den betreffenden
Wissenschaften sein muß. Aber wo ist die Zusammenfassung aller
Wissenschaften in ein einziges oberstes Prinzip? Nur diese könnte
]a 'Wohl der Ethik die rationelle Yeralleemeinerung oder, was das-
selbe istf das eine alle sittlichen TatsacSaen umfassende Deduktions-
prinüp geben, das ihr fehlt. Noch ist die Philosophie nicht so weit,
daß sie dieses Prinzip gefunden hätte. Alles bisher in dieser Be-
ziehung; Geleistete ist höchstens individuell subjektive Rationalität,
nicht aber generell objektive. Vielleicht liegt diese, wenn sie auch
immer das iSeale Endziel alles Wahrheitsstrebens sein muß, überhaupt
jenseit der Grenzen menschlicher Fähigkeit. Solange sie jedoch nicnt
^tuenden ist, muß sich die Etiliik der Möglichkeit einer uniformen,
in allen ihren Teilen gleichgerichteten Deduktion entziehen, und es
muß daran festgehalten werden, daß die Lösung der höchsten Fragen
des Daseins naäi wie vor wenieer objektiv erkennbar als subjektiv
erfaßbar ist, und daß nur darin das G^nie sich offenbart, daß es der
Mond vieler ist.
Spencer glaubt aber, dieses oberste Prinzip in der Entwicklun^-
theorie gefunden zu haben. So hoch die Entwicklungstheorie em-
feschätzt zu werden verdient, und so wichtig ihre Leistungen für
as i^anze moderne Geistesleben schon sind und noch sein werden,
muß jedoch der Glaube an diese Anwendbarkeit des Evolutionsprinzipes
als eine Überschätzung erscheinen. Das Entwicklungsprinzip ist ein
Prinzip des Werdens, nicht des Seins; es liegt aber im Wesen des
Sittlichen das Moment des Beharrenden, einer bestimmten stetigen
Zust&ndlichkeit , die unabhängig bestehe von dem fortwährenden
Wandel und über demselben *), und dieses Moment — man könnte es
die metaphysische Seite des Moralischen nennen — widerstrebt der
Alleinherrschaft des Entwicklungsprinzipes in der Ethik. Außerdem
^bt der Evolutionismus im letzten Grunde höchstens eine Antwort
auf die Frage, wie etwas geschieht, nicht aber auf die, warum es
geschieht. Das kommt aucn in Spencers Entwicklungsformel zur
Geltung. Logisch betrachtet ist diese lediglich eine Deskription, nicht
aber ein Gesetz, wenn man mit Wundt als die wesentlichen Merk-
male eines Gesetzes auffaßt: 1. die Verknüpfung selbständig zu
denkender Tatsachen, 2. das direkte oder indirekte kausale v er-
h<nis, und 3. den heuristischen Wert und die generelle Bedeutung^).
Dazu kommt der hypothetische Charakter sowohl einiger ihrer
Voraussetzungen als vor allem ihrer Konsequenzen. Unter den
ersteren ist besonders zu nennen die Annahme, daß die Entwicklungs-
formel das Gesetz der Zusammenwirkung der einzelnen fundamentalen
Kraftgesetze sei, und daß alle Bewegung rhythmisch verlaufe, unter
den letzteren die Annahme der universellen Gültigkeit der Formel
und die Idee der Vervollkommnung. Was die Idee der Ver-
vollkommnung betrifft, so muß sie auf dem Boden einer mechanischen
Weltanschauung seltsam erscheinen. Der Ausgleich der Kräfte geht
unaufhörlich und stetig vor sich und vollkommen; es ist überflüssig
zu sagen, gemäß seinen Bedingungen; denn diese Bedingungen sind
') Hierauf beruht auch die große Verwandtschaft zwischen Ethik
and Beligion. Das Wesen dieser Zuständlichkeit und die Mittel zu
ihrer Verwirklichung zu bestimmen, muß schließlich als der wesent-
lichste Zug des ethischen Problems erscheinen.
«) Wundt, Logik, 2. Auflage, II, 2, 132 ff.
VierteljahrsBcbrift f.wisBenschaftl.Philos. u.Soz. X^XII. 1. 2
18 H. K. Schwarze:
eben Kräfte. Wenn nun alle Din^ und Erscheinungen Produkte
dieses AuBgleichs sind, so müssen sie wie d^ Ausgleich selbst voll-
kommen oder besser jenseit von vollkommen und unvollkommen sein.
Die Entwicklung als Ganzes objektiv und materialistisch betrachtet,
kann demnach nicht ein Höherbilden, sondern nur ein Umbilden be-
deuten, und ihre graphische Darstellung muß nach diesem Stand-
punkte eine nach der Unendlichkeit orientierte Gerade sein. Anders
vom subjektiven und psychologischen Standpunkte aus. Hier sind
nur bescnränkte Zeitstreckeo zu Oberschauen möglich, und ihre
Orientierung geschieht nach den drei Merkmalen der geistigen Seite :
der Erfahrung: der Wertbestimmung, der Zwecksetzung und der
Willensbetätigung '). Und in der Tat erscheint von hier aus die Kurve
der Entwicklung auf und absteigend, so daß hier der Begriff Ver-
vollkommnung mit seinem Gegenteil ganz am Platze ist.
Da Spbncer die Yerschieoenheit der Standpunkte Obersieht, ist
seine Entwicklungsformel weder dem einen, noch dem anderen adftq^uat ;
im besonderen kann sie darum fOr die Ethik nicht die Bedeutung
haben, die Spencer ihr zuschreibt, da diese die geistige Seite eines
großen und wichtigen Teils der Erfahrung in einem ganz besonders
intensiven und charakteristischen Sinne zum Objekte hat.
Auf zweierlei Weise sucht er seine Entwicklungsformel als einzie
maßgebendes Prinzip in die Ethik einzuführen, einmal auf mehr all-
gemeine, indem er das „universale Handeln^ betrachtet, und sodann
auf eine mehr spezielle, indem er die wissenschaftlichen Grundlagen
der Ethik untersucht. Zu einem wenig sympathischen allgemeinen
Schlüsse gelangt er auf letzterem Wege. Er findet, daß die Ethik
eine psysikalische, biologische, psychologische und soziologische Seite
habe und darum ihre letzten Erklärungen nur in jenen Tatsachen
finden könne, die allen diesen Einzel Wissenschaften gemeinsam sind.
Damit wird die Ethik aller Selbständigkeit entkleidet und lediglich
als ein Gebiet dargestellt, das allen diesen vier Wissenschaften ge-
meinsam zugehört und infolge dieser vierseitigen Zugehörigkeit eme
gewisse Originalität und das Kecht der Existenz als besondere Wissen-
schaft besitzt. Das heißt aber: es gibt überhaupt kein etiiisches
Problem, sondern das, was bisher als solches bezeichnet wtirde, ist
lediglich eine etwas eigenartige Seite der Naturwissenschaft und
findet seine Lösung durch eine geschickte Normierung dessen, was
Physik, Biologie, Psychologie und Soziologie über das universale
Handeln im allgemeinen und das menschliche Handeln im besonderen
zu sagen haben.
Demgegenüber muß aber betont werden, daß es eine spezifisch-
ethische Betrachtung des Handelns gibt, die als das Handeln im
Lichte eines gewissen Normbegriffs scnauend und an gewisse ethische
Lituitionen anknüpfend, unvergleichbar ist den genannten einzel-
wissenschaftlichen Untersuchungen; welcher Normbe^ff zwar nicht
ursprünglich gegeben, aber auch nicht bloß eine ICombination von
ph'*''sikarischen , biologischen, psychologischen und soziologischen
Wahrheiten ist, sondern der Gesamtheit aller Wissenschaften, mit
anderen Worten, der gesamten geistigen Kultur entspringt und der,
insofern sich diese in mren höchsten S'ormen, wie die Geschichte der
Menschheit beweist, in gewissen, sich immer gleichbleibenden Bahnen
bewegt, jene Konstanz besitzt, die dem innersten Wesen des Sittlichen
*) WuNDT, vgl. Eisleb: W. Wundts Philosophie und Psychologie,
Leipzig 1902, S. 38.
Die Ethik Herbert Spencers. 19
«ntspricht. Diesen Narmbegriff aber vermögen Physik, Biologie,
Psj^chologie und Soziologie weder zu fassen, noch zu erzeugen, wenn*
^eich sie ihm sicherlich die wichtigsten ZOee liefern.
Vor allem muß man unter den rar die Emik als besonders wichtig
genannten Wissenschaften ein Gebiet vermissen, das ist die Geschichte.
Soziologie soll sie zwar wahrscheinlich mit unifassen, wird sie doch
.Philosophie der Geschichte'' ') genannt, aber sie tut es in Wirklich-
keit nicht, w^euigstens nicht bei Spencer, bei dem sie einen viel engeren
Zusammenhang hat mit naturwissenschaftlichen Hypothesen als eben
mit der geschichtlichen Tatsächlichkeit. Die vier wissenschaftlichen
Gnmdlagen der Ethik, wie sie Spencer gestaltet, bieten infolge ihrer
univerBeiL evolutionistischen Auffassung wenig Baum für das spezifisch
Menschliche. Es liegt hier die Erklärung für den großen Optimismus
Spencers, der allerorten in seinem ethischen System zutage tritt.
Die logische Grundlage des Evolutionismus ist das Kausaiitäte-
prinzip. Dieses als ein rem formales Prinzip kann zwar nicht die
oberste allumfassende Deduktionsquelle der Ethik sein, dazu gehört
ein substantielles Urteil, es kann aber als der einzige Weg betrachtet
werden, der schließlich zu ihr hinführt. In der Foraerung der Unter-
suchung der kausalen Zusammenhänge allenthalben in den ethischen
Erscheinungen liegt darum auch Spencers Bedeutung für die Ethik.
Es tritt hierin der überwältigende Einfluß der modernen Naturwissen-
schaft in ihm zutage, deren Methode er ohne weiteres auf die Ethik
fiberträgt. Das fSirt aber auf den Gegenstand des nächsten Ab-
schnitts.
b) Vom "Willen und von der "Wiillensfreiheit.
Mit der Forderung der unbeschränkten Geltung des Kausal-
prinzips auf ethischem Gebiete tritt Spencer ein in &n Kampf um
die Willensfreiheit. Seine evolutionistischen Prinzipien im allgemeinen
und seine physiologisch-psychologischen drängen ihn zum radikalen
Betermiiiismus. Was die letzteren Prinzipien betrifft, so stimmen
sie vielfach und in wichtigen Punkten mit den Ergebnissen der
modernen deutschen Psychologie überein, so z. B. in bezug auf die
Lehre von der Kontinuität und prinzipiellen Gleichheit aller geistigen
Vorgäne;e, die klare Erkenntnis der Bedeutung des Überindividuellen,
den votrständigen Bruch mit der Vermögenstheorie, dazu kommen
auch Spuren einer Auffassung aller psychischen Existenz lediglich
als Ereignis. Leider ist Spencer nicht durchgedrungen zuru)rinzipiellen
Sonderung von Psychologie und Physiologie, des Psvonischen vom
Physischen. Sicherlich kann und soll die Physiologie die Psychologie
unterstützen, aber sie soll sie nicht bestimmen "). So hat Spencer eme
Reihe physiologischer Hypothesen in seiner Psychologie, wie z. B.
die Zurückfülurung des Psychischen auf Mole£;ularbewegungen im
Gehirn und in den Nervenbahnen, die Identifikation des Psychischen
mit auf unerkennbare Weise umgewandelter nervöser Energie, die
weitgehendste Abhängigkeit des Psychischen von der Ausbildung bzw.
dem V orhandensein entsprechender Nervenstrukturen, womit er direkt
die Wichtigkeit des Assoziationsgesetzes als des Grundgesetzes alles
') ^gl- BAurH, Philosophie der Geschichte als Soziologie, Leipzig
*) Wt'SDT, Vgl. E18LKR a. a. O. S. 36.
2*
20 H. K. Schwarze:
physiBchen Geschehens in Verbindung bringt % die nervös-strukturell»
Vererbung der generellen oder organisierten Erfahrung. Natürlich.
ist auf wund solcher Hypothesen die Geltung der mechanischen
Kausalität auf dem Gebiete des Psychischen eine selbstverständliche
Konsequenz. Vielleicht würde Spenceb, wenn er nur seinen psycho-
logischen Prinzipien gefolgt wäre, zu einer ähnlichen Auffassung;'
gekommen sein wie Wundt, nämlich zur Annahme einer besonderen
psychischen Kausalität neben der vollständig geschlossenen physischen»
die der Erfahrung der Willensfreiheit vollständig gerecht wird durch,
die Annahme eines psychischen Determinismus oder einer Kausalität
des Charakters.
Was Spencbbs spezielle Willenstheorie betrifft, so vermag sie
zwar den physiologischen Grund nicht zu verbergen, aber sie drängt
ihn doch auch nicht gerade einseitig hervor, ja vielfach tritt hier
Übereinstimmung mit der modernen deutschen Willenstheorie bzw.
Psychologie hervor, so in bezug auf den engen Zusammenhang des-
Willens mit dem Gefühl, die Erkenntnis des Widerstreits der Be-
wußtseinsinhalte als des wesentlichsten Moments des Willensvorganges,,
die Mitwirkung des Überindividuellen, die Ablehnung eines besonderen
unabhängigen Willensvermögens. Bedenken muß Spencers Willen-
theorie besonders erregen in bezug auf die Entstehung des Willens,,
damit zusammenhängend auf die eng^ Beschränkung des Gebiets der
Willenserscheinungen und die allzu geringe Einsenätzung der Be-
deutung des Willens auf dem Gebiete des Psychischen überhaupt.
Was den ersten Punkt betrifft, so ist Spencer der Meinung,\da&
der Wille in jedem Falle eine objektive Ursache habe und dalT diese
Ursache „eine Bewegung, d. i. eme Andersverteilung von Kraft und
Stoff, sei mit einer unabsehbaren Kette von Voraussetzungen. Es
folgt diese Lehre direkt aus seiner physiologischen Pundamentierung-
der Psychologie. Wenn aber eine psychische Erscheinung rein
psychologisch betrachtet werden muß, so ist es der Wille; dßnn das
Formende und nach logisdien und ethischen Normen Verbindende»
das die höheren psychischen Prozesse auszeichnet, kommt bei ihm in
besonderem Maße zur Geltimg. Es ist eine unannehmbare Ver-
allgemeinerung Spencers, wenn er, mag es auch bei vielen besonders
einfachen Willensprozessen zutreffen, behauptet, alle unsere äußeren
Willenshandlungen hätten eine Bewegung zur notwendigen Voraus-
setzung. Zunächst ist damit die Veranlassung des Willensvorgan^es-
durchaus nicht erklärt; denn es kann mit keinem Mittel begreif bch
gemacht werden, wie aus einer Bewegung eine Empfindung oder ein
efühl oder überhaupt Psychisches werden kann'. Sodann fehlt
dieser Ver^gemeinerung jeder Beweis, weder gibt ihm die unmittel-
bare Beobachtung und Erfahrung, noch kann er aus dem allgemeinen
Zusammenhang zwischen Leib und Geist erschlossen werden, wenn
auch zuzugeben sein wird, daß jeder psychische Vorgang seine
physiologische Korrespondenz besitzt, Korrespondenz, nicht aber
Ursache. Spencers Lehre über die Veranlassung des Willensvor^angea
ist eine petitio principii, entflossen der Verquickung von Physiologie
und Psychologie.
Damit hängt direkt zusammen die enge Beschränkung des Ge-
bietes der Willenserscheinungen. Das Wollen ist ihm der Widerstreit
') Vgl. Princ of. Psych. I, § 116.
^) Spencer spricht übrigens dasselbe aus: vgl. First Principles
21 f.; Pr. of. Psych. §§ 270-72.
Die Ethik Herbert Spencers. 21
zweier Gruppen idealer motorischer Veränderungen um die Beali-
sation, „von denen schließlich eine siegt^. Wenn man sich vergeeen-
w&rtigt, daß jeder klarbewußte Willensvorgang im Subjekt ein G-etühl
der Selbsttätigkeit erweckt und dieses Gemhl lediglich den Willens-
akten anhaftet, also ein Kennzeichen für sie ist, so springt in die
Augen, wie viel zu eng Spkncbrs Definition ist. Sie vernachlässigt
alles das, was Wondt innere Willenshandluns nennt, und wird der
fundamentalen Bedeutung des Willens fQr alle psychischen Prozesse
durchaus nicht gerecht.
Kein Wunder daher, wenn die Willensvorgän^e als ohne Einfluß
auf die Entwicklung im allgemeinen angesehen, ja schließlich über-
haupt nicht als besondere psychische Erscheinungen anerkannt, sondern
inbegriffen werden in die des Gedächtnisses, der Vernunft und im
besonderen des Gefühls als gleichzeitig mit ihnen und neben ihnen
entstehend. Jedoch eben darin, daß cQe Willensvorgänge durch die
Wechselwirkung der Bewußtseinsinhalte aufeinander entstehen, außer
derselben aber keine Existenz haben , liegt der Charakter ihrer Be-
sonderheit und die Nötigung, das Wollen als spezifischen psychischen
Vorsang anzuerkennen, liegt zugleich seine Bedingtheit und seine
Fremeit, seine Abhängigkeit von allen psychischen Inhalten und seine
Herrschaft über alle.
Da aber die Bewußtseinsinhalte als Psychisches außerhalb der
mechanischen Kausalität stehen, so kann auch die Bedingtheit und
Unabhängigkeit des Willens nur eine psychische sein. Diese psychische
Elausalität ist nicht ein Abbild oder eine Wirkung der physischen
vermittelst der Erfahrung; denn die psychischen Zusammenhänge
sind nach eigenen Gesetzen und zum grouen Teil unter Vermittlung
des Willens durch eine apperzeptiv-synthetische Bewußtseinsfunktion
hergestellt, sondern die physische Kausalität ist eine Folge der
psychischen, lediglich ein logisches Prinzip. Sicherlich besteht also
9PEMCKB8 Behauptung, daß der Mensch nicht nach Belieben wollen
kann, an sich betrachtet, vollständig zu recht; da er aber nicht unter-
scheidet zwischen psychischer und mechanischer Kausalität , sondern
nur die mechanische "kennt, so birgt sie einen großen Mangel. Damit
erledigt sich der Vorwurf einer objektiven und einer subjektiven
Täuschung, den Spkncer den Anhängern der Willensfreiheit macht.
Er muß, wenn an sich betrachtet, als berechtigt anerkannt werden.
Wird er aber in bezug zu seinen physiologiscnen Voraussetzungen
betrachtet, ergibt sich die Nötigung, den Vorwurf zurückzugeben.
Spencer macht sich einer subjektiven Täuschung schuldig, indem er
die intuitive Gewißheit der Wahlfreiheit, deren sich der Mensch fort-
während bewußt wird, übersieht und nicht erkennt, daß auch das
Handeln „im Bewußtsein der Bedeutung, welche die Motive und
Zwecke für den Charakter des Wollenden besitzen''^), ein freies
Handeln ist. Und er macht sich einer objektiven Täuschung darin
schuldig, daß er, wie schon gesagt, psychische und mechanische
Eausahtät nicht unterscheidet.
c) Absolute und relative Ethik.
Die Scheidung der Ethik in absolute und relative hängt einer-
seits eng mit der Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Ethik,
andereeits mit der nach dem sittlichen Ideal bzw. dem sittlichen
J) WuNDT, Ethik, 3. Aufl., 11, 70.
22 H. K. Schwarze:
Endzustand zusammen. War die Forderung nach rationeller Ethik
niehr vom rein theoretischen Standpunkt aus erfolgt, so spricht hier
die praktische Auffassung wesentlich mit, ja sie liefert schließlich die
alleinige Stütze; denn die theoretische Begründung erweist sich bei
näherem Zusehen als nicht standhaltend.
Was zunächst die letztere betrifft, so ist zuzugeben, daß auch
für die Ethik die Abstraktion umfassender allgemeiner Wahrheiten
aus den einzelnen konkreten Fällen das Kennzeichen wissenschaft-
lichen Fortschritts ist, aber doch in etwas anderem Sinne als bei den
Einzelwissenschaften. Zu den schon Seite 20 f. angeführten Gründen
ist hier hinzuzufügen, daß die allgemeinsten spezifisch ethischen
. J^ahrheiten seit langer Zeit feststehen. Was die Ethik zu leisten
nat, ist darum nicht zuerst Feststellung neuer Werte, sondern Schutz
-* der alten, altbewährten, dem menschlichen Wesen adäquaten vor der
Beseitigung durch Umstürzler, sodann Umprägung in eine Form ent-
. sprechend dem Geeiste der Zeit, so daß ihre veredelnde, unersetzbare
Leitung trotz der immer stärker werdenden Verdimklung durch die
wachsende Kompliziertheit der Lebensverhältnisse von neuem erkannt
werde und allgemein wirksam sei. In bezug auf den ethisch-wissen-
schaftlichen Fortschritt kann es sich also nur um die neuartige Be-
gründung und höchstens um Ergänzung dieser Altwerte und im be-
sonderen um die Ausschließung alles prinzipi^len Schismas handeln.
Anders bei den Einzelwissenschaften , im besonderen bei der
Naturwissenschaft. Hier kommt es in erster Linie ja lediglich auf
die Grewinnung neuer und allgemeinster Wahrheiten und ihre syste-
matische Daxstellung an. Der Unterschied liegt begründet in dem
Charakter der Ethik als theoretisch-praktischer Disziplin und der
Wissenschaften als rein theoretischer Gebiete. Damit hängt zusammen,,
daß die allgemeinsten Wahrheiten der Ethik Normen für den Willen^
die der Wissenschaften Definitionen für den Verstand sind.
Das führt auf die größte Schwierigkeit, die der SpENCKKSchen
Scheidung der Ethik in absolute und relative entgegensteht. Sprnckr
ist infolge seiner Evolutionstheorie der unerschütterlichen Gewißheit,
daß dem menschlichen Handeln gewisse, im äußeren Geschehen be-
dingte und demselben analoge Gesetze zugrunde liefen und daß es-
nur gilt, diese Gesetze festzustellen und zu formuLeren, um einen
idealen Kodex des Handelns zu haben. Der Gedanke der gesetz-
mäßigen Bedingtheit des Handelns ist ein großer und viel erörterter
und seine Betonung entschieden eine glänzende Seite der SpRNCEBSchen
Ethik, aber man wird von vornherein behaupten können, daß, wenn
hier ein positives Ergebnis möglich ist, dies nur auf psychologischem
Wege gefunden werden kann, da sowohl die äußeren als besonders
die inneren Bedingungen des Handelns lediglich als psychische Werte
die Ausführung der Bandlungen bewirken, die psychischen Vorgänge
aber, selbst wo sie direkt äußerlich bedingt erscheinen, nicht Funktionen,
sondern nur Parallelerscheinungen der physisdien sind. Nach dieser
Überlegung kann Spencers Physiologismus nicht als geeignet er-
scheinen, em befriedigendes Ergebnis nerbeizuführen, vielmehr legen
die Gesetze der psychischen Kausalität, im besonderen das der Hetero-
gonie der Zwecke nahe, daß zwischen den physischen und den
psychischen Bedingungen des Handelns durchaus nicht jener gesetz-
mäßige Zusammenhang besteht, dessen Spencer bedarf. Die Statistik,
in der ja die auf das menschliche Handeln bezüglichen Lehren der
Biologie und Soziologie am ausdruckvollsten zutage treten, beweist
nur, daß der WiUe durch äußere besonders soziale Zustände „be-
Die Ethik Herbert Spencers. 23
einfliißt, nicht aber, daß er einzig und allein durch sie bestimmt wird" ;
das hauptalU^hlioh Bestimmende, der persönliche Faktor, entzieht sich
vielmehr allen statislischen Berechnungen^).
WuNDTs Gesetz der Heterogouie der Zwecke besteht bekanntlich
darin, »daß die £ffekte bestimmter psychischer Ursachen stets ttber
den Umkreis der in den Motiven vorausgenommenen Zwecke hinaus-
reichen und daß aus den gewonnenen Mfekten neue Motive hervor-
gelxen, die eine abermalige schöpferische Wirksamkeit entfalten
können^ ^. Diese Ober die^^illenssphäre des handelnden Subjekts
hinausliegenden, häufig zufällig genannten Nebeneffekte können aber
nie im voraus bestimmt werden und müssen darum alle von den
Effekten des Handelns abgeleiteten Gesetze des Handelns illusorisch
machen. Damit wird zugleich die Möglichkeit einer absoluten Ethik
im Sinne Spehckrs im Prmzip verneint und seine Annahme, daß die
organische, besonders soziale Entwicklung Zustände zeitigen werde,
wo seine Gesetze ohne irgend welche störende Beeinflussung geltend,
d. h. also, wo die eben erwähnten Nebeneffekte bzw. Zufuligkeiten
nicht mehr zu beobachten sein werden, muß als unpsychologischer
Optimismus abgewiesen werden.
Die Vergleiche, die Sfencsr zur Erläuterung des Verhältnisses
der absoluten zur relativen Ethik zwischen der Moralwissenschaft
und anderen Wissenschaften, z. B. der Mechanik, der Physiologe
bzw. Pathologe usw. zieht, sind sehr lehrreich; sie zielen aber im
Grande auf em anderes Ergebnis als das beabsichtigte ab; sie illu-
strieren nämlich nichts anderes als den fundamental methodischen
Prozeß, der zur G^winnun^ neuer Erkenntnisse führt. Wenn Spencer
meint, daß in der Ethik, wie z. B. in der Mechanik gewisse allgemeine
Wahrheiten aus der besonderen konkreten Umhüllung herausgeschält
werden können, so bedeutet das nichts anderes, als daß sie durch
Abstraktion aus ihnen gewonnen werden können, nichts anderes, als
daß Induktion der primäre Weg zur Erkenntnis ist und Deduktion
der sekundäre, nichts anderes als daß man nach der gewöhnlichen
Ausdracksweise von der Praxis zur Theorie aufsteigt und diese wieder
zur Beurteilung der Praxis gebraucht, nichts anderes also als den
uralten Gegensatz zwischen Theorie und Praxis. Daß dieser Gegen-
satz auch m der Ethik besteht, ja hier sein eigentliches Gebiet nat,
ist eine ebenso bedauerliche wie unabänderliche Tatsache. Spencebb
Lehre von der absoluten Ethik ist im Grunde nichts anderes als ein
Versuch, sie aus der Welt zu schaffen. Zu diesem Zwecke verbindet
er die aus den einzelnen Vergleichen hervorgehende allgemeine
Wahrheit mit den das Ziel alles organischen Daseins betretenden
Ergebnissen seiner Entwicklungstheorie und nennt dies absolute Ethik.
Seme Lehre geht also nicht aus der fundamentalen Gleichheit der
Methode der Ethik mit den anderen Wissenschaften hervor, sondern
ist der Ausdruck eines utopistischen Optimismus, wie im einzelnen
später nachzuweisen sein wird. Sie ist dasselbe, was die Religionen
psychologischer und darum wirkungsvoller zu leisten versuchen, wenn
sie von einem Zustande der Vollendung und Vollkommenheit außer-
halb der materiellen Existenz reden.
Was im besonderen den Vergleich der Physiologie bzw. Patho-
logie mit der absoluten bzw. relativen Ethik betrifft, so berührt
sympathisch an ihm die Betonung der Wichtigkeit der regressiven
0 EisLKB, WüNDTs Philosophic und Psychologie S. 80.
«) WujiDT, Logik, 2. Aufl., 2, S. 281.
24 >H. K. Schwarze:
Betrachtung in der Ethik. Aber der Vergleich hinkt bedenklich
insofom, als Gesundheit und Krankheii wirklich und nebeneinander
existieren, während der Zustand der absoluten i Ethik nur ein hypo-
thetischer, aus dem der relativen sich entwickelnder ist, dessen Beali-
sierungsmöglichkeit für jetzt Spencer auch nur im einzelnen Individuum
energisch bestreitet. Die Pathologie seht von der Physiologie aus
und lindet die Krankheiten und £e Mittel ihrer Beseitigung durch
ständige Bezumahme auf den gesunden Körper, in diesem immer
einen sicheren Prüfstein und die sofortige Korrektur ihrer Folgerungen
besitzend. In der Ethik ist es umgekehrt, da geht die der Physio-
logie entsprechende absolute Etliä von der der Pathologie ent-
sprechenden relativen Ethik aus, so dafi also die Gesetze des sitt-
lich gesunden Daseins nur Konstruktionen aus dem sittlich kranken
sind und jeglicher exakte Prüfstein fehlt. Das Bedenkliche der
Analogie und zugleich des ganzen evolutionistischen Perfektionismus
Spencers wird besonders deutlich, wenn man die Analogie vervoll-
ständigt und umkehrt und sagt: Wie der von Anbeginn des mensch-
lichen Daseins bestehende, sich jedoch mehr und mehr verflüchtigende
Zustand sittlicher Krankheit einen Zustand sittlicher Gesundheit vor-
hersagen läßt, so läßt der seit derselben Zeit bestehende Zustand
körperlicher Krankheit auf das endliche Eintreten eines Zustandes
körperlicher Gesundheit schließen. Was würde man hierzu sagen? —
Ein etwas anderes G^cht gewinnt die Unterscheidung, wenn
man den praktischen Grund ins Auge faßt. Da es hierbei wesentlich
auf die Definition von sittlich ankommt, so muß hier dem diese er-
örternden nächsten Teile dieser Arbeit etwas* vorgegriffen werden.
Spencer definiert sittlich mit erfreuend. Von dem Standpunkt dieser
Definition aus wird man tatsächlich häufig Fälle finden, wo eine
ethisch vollständig einwandsfreie Handlungsweise gar nicht zu finden
ist, und noch häufiger Fälle, wo die vorhandene nicht ausgeführt
werden kann, wo also bestenfalls nur Handlungen des kleinsten Übels
oder eben relativ ethische möglich sind. Hier liegt denn auch eine
fewisse Nötigung vor, die Unterscheidung zwischen absoluter und
elativer Ethik einzuführen imd besondere Normen für jeden der
Zeiden Teile aufzustellen, wenn dies auch nodi nicht die Realität eines
kustandes bedingen würde, wo die absolute Ethik allein und voU-
rommen verwirklicht sein wird.
Diese Nötigung verschwindet jedoch sofort, wenn man, wie man
muß (s. u.), einen anderen Begriff des Sittlithen einführt. Spencers
ganze Ethik ist in Konsequenz seiner Anschauungen über die Kau-
salität darauf angelegt, für die sittliche Beurteilung in erster Linie den
Effekt der Hanflungen maßgebend sein zu lassen (s. u.) und dem-
entsprechend ist auch sein Begriff des Sittlichen veräußerlicht. Die
psychologische und authentischere Betrachtung jedoch legt die gegen-
teilige Auffassung nahe, nämlich vor allem den Willen und die Motive
zu betonen, also nicht in erster Linie das intellektualistische Prinzip
des objektiven Wissens und Erreichens, sondern das voluntaristische
vom konsequenten Wollen der besten Effekte, das ist die Gesinnung
oder der Charakter des Handelnden, d. h. auf die Motive muss es
vornehmlich ankommen. Demnach muß gelten: Sind die Motive
einer Handlung alle gut, so ist die Handlung vollkommen sittlich;
die Beurteilung des erreichten Effektes und der Ausführung der Hand-
lung an sich geschieht nicht zunächst vom sittlichen Standpunkt,
sondern vom utilitaristischen aus, vom sittlichen nur insofern, als der
Effekt Motiv zu neuen Handlungen wird. Aber dies kann, wie gesagt,
Die Ethik Herbert Spenoers. 25
nur aekondär sein, da ja nach dem Prinzip der Heterogonie der
Zwecke der Totaleffekt weder nach Qualität noch nach Quantität
eonau beetiinint -werden kann. Die Fälle, wo eine unumgängliche
WahlzwisolieiiScü[idlungen nötig wird, die von vornherein nach gewisser
iUchtong hin bestimnit als schädlich wirkend anerkannt woroen sind,
stehen nach dieser Wertung außerhalb der moralischen Beurteilung,
da diese ^cb. auf die empirisch-praktische Willensfreiheit, also auf die
Freiheit der ^Entschließung und den Zwang der Verantwortung gründet.
Die Ethik hat an ihnen nur insofern ein Interesse, als sie dem Han-
delnden die bestmöelichste Abschätzung der Effekte und die Wahl
des besten Effekts als Zweck zur Pflicht macht. Ma^ der Handelnde
nun faktisch das größere Übel gewählt haben, er ist sittlich einwands-
&ei, wenn er der Überzeug;ung war, daß es das kleinere sei.
Hieraus ergibt sich aber, daß die Ethik nur in einer Form, näm-
lich als die Wissenschaft vom vollkommen Guten oder besser vom
vollkommen guten Willen existieren kann. Doppelte Formulierung
muß verwirrend wirken, und im besonderen kann eine relative Ethik
in Ihrer Unfähigkeit für strenge und umfassende Imperative nur etwas
Lanes nnd Laxes bedeuten.
Diese Auffassung von der Ethik als der Wissenschaft des voll-
kommen Guten ist's auch, die sich durch die ganze Geschichte der
Philosophie, bisher unbestritten, hindurchzieht und immer ihren
konzentierten Ausdruck findet in der Aufstellung des sittlichen Ideals.
In dem. Begriff Ideal Uegt, daß ihm objektive Bealität abgeht. Es ist
ein Phantom, aber ein wirkendes, und das sittliche Ideal muß das
höchste und begeisterndste, das göttlichste sein.
Was Spemcebs Lehre über die Realisation des idealen Zustandes
im allgemeinen betrifft, so kann ihre entwicklungstheoretische Not-
wendigkeit keineswegs als unerschütterlich angesehen werden. An-
8sun^ und Vererbung, so überaus wichtige Fakforen der organischen
Ltwi<£lung sie sind, vermögen nicht den absolut ethischen Zustand
herbeizuführen, da sie'als Zeit erfordernde und nach Spencer vollständig
vom allgemein kosmischen Wandel bedingte Vorgänge, stets hinter
diesem Wandel zurückbleiben und so sich stetige Dissonanzen zwischen
der objektiven und subjektiven Verfassung ergeben müssen.
2. Ziel bzw. ^Vesen des sittlichen Handelns (Dar-
stellung:)*.
a) a) Natürliche Bestimmung.
Das Objekt der Ethik ist ganz allgemein bestimmt das
von einer gewissen Seite aus betrachtete Handeln des
Menschen. Da Handebi als Anpassung von Handlungen an
Zwecke oder als Aggregat Zwecken angepaßter Handlungen
mehr oder weniger die Aktivitätsentfaltung sämtlicher
tierischer Wesen in sich faßt, man also von einem uni-
^) Von hier an iolgt die Darlegung in der Hauptsache der An-
oidnim^ der Pr. of Etnics, da es von Interesse ersiäiien, auch den
saferen Gan^ der moral-philosophischen Untersuchungen Spencer»
ertemen zu fassen.
26 H. K. Schwa-Tze:
versalen Handeln reden kann, so wird klar, daß das mensch-
liche Handeln nur im Zusammenhang mit diesem all-
gemeinen Handeln, dasselbe nach seinem gegenwärtigen
Zustand wie auch und besonders nach seiner Entwicklung
betrachtet, recht verstanden werden kann. Aus dieser Be-
trachtung ergibt sich, woran der ethischen Behandlung vor
allem gelegen ist, das natürliche Ziel alles menschlichen
Handelns; es ist die Vollkommenheit des Lebens, des Ich,
der Art und der Gesellschaft, da sich Vervollkonminung des
Lebens nach den drei Richtungen der Selbst- , Art- und
Qesellschaftserhaltung geradezu als Tendenz der organischen
Entwicklung herausstellt.
ß) Kulturelle Bestimmung.
Diese Zielsetzung der natürlichen Entwicklung wird
durchaus bestätigt von der kulturellen. Eine Analyse der
die sittlichen Qualitäten am allgemeinsten und fast aus-
schließlich bezeichnenden Begriffe gut und böse lehrt dies.
Die verschiedensten Anwendungen beider Wörter fahren
zunächst auf eine sekundäre Grundbedeutung, die von
zweckdienlich und zweckschädigend, und sodann auf eine
primäre, die von freude- und schmerzbringend. Die Brücke
zwischen beiden Bedeutungen bildet ihre Identität mit ent-
wickelt und unentwickelt ; denn wenn von zwei Handlungen
unter gleichen Umständen immer die der Selbst-, Art- oder
Gesellschafbserhaltung förderliche gut, die gegenteilige böse
genannt wird, wie es ja geschieht, so muß gut und böse
identisch gesetzt werden mit entwickelt und unentwickelt.
Da aber entwickeltes Handeln dasselbe ist wie leben-
fordemdes, im allgemeinen aber nur das Leben gut genannt
wird, das einen Überschuß von Freuden über die Schmerzen
enthält, so ist damit die primäre Bedeutung von gut und
böse als freude- bzw. schmerzbringend enthüllt.
Letztere Überlegung, als auf dem Gegensatz von
Optimismus und Pessimismus fußend, zeigt zugleich als
den von der ganzen Menschheit wie auch im besonderen
von allen ethischen Systemen gebrauchten höchsten Maßstab
Die Ethik Herbert Spencers. 27
des Lobenswertes den Glücksgehalt des Lebens. Demnach
mofi das Glück als oberstes Ziel des Handelns gelten und
die Beziehung seiner Handlung zum Glücke bestimmend
sein über ihren sittlichen Charakter« Gut ist ganz allgemein
das Erfreuende, darum gehört in das Gebiet der Ethik alles
das Handeln, das in irgend einer "Weise menschliches Glück
vermehrt oder vermindert..
Sind aber hochentwickelt bzw. lebenfbrdemd und freude-
bringend identisch mit gut, so sind Vollkommenheit des
Lebens und Glück identische Ziele des sittlichen Handelns.
b) Betrachtung und weitere Ausführung des
Ziels und "Wesens des Sittlichen vom Stand-
punkte der wissenschaftlichen Grundlagen der
Ethik aus.
Die Richtigkeit der vorstehenden Ziel- und Wesens-
bestimmung des Sittlichen erfahrt Bestätigung und weitere
Ausfahrung, wenn sie im Lichte jeder einzelnen der wissen-
schaftlichen Grundlagen der Ethik betrachtet wird.
a) Vom physikalischen Standpunkte aus.
Vom physikalischen Standpunkte aus enthüllen sich
vor aUem die Beziehungen des Handelns mit Einschluß des
sittlichen zur Entwicklungsformel. Da das menschliche
Handeln wie alle Äußerungen von Kraft unter das Gesetz
vom Fortbestehen der Kraft fallt, so wird klar, daß die
sittlichen Grundsätze sich den physikalischen Notwendig-
keiten und Gesetzmäßigkeiten fügen müssen, somit also
vollkonmiene Übereinstimmung herrschen muß zwischen rein
physikalischer und sittlicher Entwicklung. In der Tat ist
auch zu konstatieren, daß ein größerer Zusammenhang und
größere Bestimmtheit sowie endlich größere Mannigfaltig-
keit das sittliche Handeln vom unsittlichen unterscheiden.
Da nun das Leben physikalisch zu definieren ist als „die
Erhaltung einer Kombination innerer Tätigkeiten im Gleich-
gewicht mit und entgegengesetzt den äußeren Kräften, welche
es zu zerstören streben" (I, 80), so erweist sich also das
28 H- K, Schwarze:
sitüiclie Handeln und seine Entwicklung als ein Mittel zur
Vervollkommnung dieses beweglichen Gleichgewichts, und
die Vollkommenheit der Aufrechterhaltung desselben muß
als das Ziel des sittlichen Handelns gelten.
ß) Vom biologischen Standpunkte aus.
Besteht das Leben physikalisch in dem beweglichen
Gleichgewicht innerer Tätigkeiten mit und enigegengesetzt
zerstörenden äußeren Kräften, so ist es biologisch die Aus-
gleichung der Funktionen, und der sittliche Mensch kenn-
zeichnet sich dadurch, daß die Funktionen aller seiner
Organe „sämtlich gerade in dem Maße sich vollziehen, daß
sie den Existenzbedingungen gehörig angepaßt sind" (I, 85).
Ja, sittlich kann biologisch geradezu identifiziert werden
mit normal, denn das Normale ist das Erfreuende nach der
Natur der empfindenden Existenz. Die Entwicklung des
organischen Lebens setzt nämlich die Bildung geeigneter
Verbindungen zwischen äußeren Einwirkungen und inneren
Folgen voraus, „lange bevor das Bewußtsein zur Ausbildung
kam", und „wenn immer Empfindungsfähigkeit als Begleit-
erscheinung hinzugetreten sein mag, ihre Formen müssen
stets solche gewesen sein, daß das erzeugte Gefühl in einem
Falle von der Art ist, daß es aufgesucht wird: Freude, im
anderen von der, daß es vermieden wird: Schmerz** (I, 89^).
Es folgt demnach geradezu als Denknotwendigkeit aus
der Natur der empfindenden Existenz die Unmöglichkeit
der Bildung sittlicher Vorstellungen ohne die Erfahrung
von Freude, d. h. aber die aller Wertschätzung von Recht
und Unrecht zugrunde liegende Wahrheit muß eben die
sein, „daß empfindende Wesen sich nur unter der Be-
dingung entwickeln, daß freudebringende Handlungen zu-
gleich lebenerhaltende sind** (I, 93). Stützendes Argument
hierfür ist auch die Tatsache, daß eine universale Ver-
bindung besteht „zwischen Freude im allgemeinen und
physiologischer Steigerung und zwischen Schmerz im all-
gemeinen und physiologischer Gedrücktheit" (I, 98).
^) Vgl. auch Pr. of. Psych., § 124.
Die Ethik Herbert Spencers. 29
Das Versagen der eben ausgesprochenen fundamentalen
Wahrheit in den zahlreichen Fällen, wo Leiden wohltätige
nnd Freuden schädliche Folgen haben, ist nur eine vorüber-
gehende und zufällige Erscheinung, die bedingt ist durch
die mangelnde Anpassung der Menschheit an ihre Existenz-
bedxQgnngen. Der fortwährende Wechsel derselben, das
Nebeneinander zweier sich widersprechender Lebensweisen,
des LidxLstrialismus und des Militarismus, bewirken, daß
spezielle Leiden und Freuden mit Bücksicht auf entfernte
und allgemeine außer acht gelassen werden müssen, und daß
die Leitung durch nächstliegende Leiden und Freuden sehr
ofl nicht zum Vorteil gereicht.
Die Entwicklung muß aber auf einen Zustand fuhren,
wo die emotionellen Leiden und Freuden die ihnen ge-
bührende Stelle in der Leitung des Handelns ebenso voll-
kommen ausfüllen werden wie schon jetzt die sensationellen,
gegenüber den imerbittlichen physikalischen Anforderungen.
7) Tom psychologischen Standpunkte aus.
Zu dem gleichen Schlüsse fahrt auch die psychologische
Betrachtung des Handelns. „Der geistige Prozeß, durch
welchen in jedem einzelnen Falle die Anpassung von
Handlungen an Zwecke bewerkstelligt wird, und welcher in
seinen höheren Formen den Hauptgegenstand der ethischen
Beurteilung bildet, läßt sich zerlegen in die Entstehung
eines Greföhls oder von Gefahlen, welche das Motiv dar-
stellen, und den Gedanken oder die Gedanken, durch welche
das Motiv bestimmte Gestalt erhält und sich endlich in
einer Handlung äußert. Diese beiden Momente gelangen
im Laufe der Entwicklung von der einfachsten Gestalt zu
unübersehbarer Kompliziertheit. Da die größere Kompliziert-
heit der psychischen Gebilde, wie die Erfahrung lehrt, einen
höheren Wert derselben far die Wohlfahrt des Organismus
bedingt, so ergibt sich, „daß die durch kompliziertere Motive
nnd verwickeitere Gedanken charakterisierten Handlungen
seit den firühesten Zeiten eine höhere Wichtigkeit für die
30 H. K. Schwarze:
Leitusg der Lebewesen beanspruchen konnten" (I, 120) als
die einfachen.
Hierauf aber beruht die Lehre, die sekundär auch durch
das jetzt häufige Versagen der fundamentalen biologischen
Wahrheit des Zusammenhangs zwischen Freude und Nutzen
bzw. Schmerz und Schaden gestützt wird, daß Leiden zu
ertragen gut, Freuden zu genießen aber böse sei. Diese
Lehre enthält jedoch einen dreifachen Irrtum: sie ist irrig
in der Annahme, daß die Autorität der höheren Gefühle
über die niederen unbegrenzt sei, daß die Gebote der
niedrigeren nicht befolgt werden dürften, wenn sie auch
den Geboten der höheren nicht widersprechen, und endlich,
daß nur fernliegende Genüsse zu erstreben gut sei.
Neben dieser bedauerlichen Mißauffassung des Wertes
der Leiden und Freuden hat aber diese Unterordnung der
einfacheren unter die komplizierteren Gefahle eine ungemein
wichtige psychische Bildung zur Folge gehabt, die des sitt-
lichen Gewissens oder des moralischen Bewußtseins. Die
Analyse ergibt folgende zwei Momente : das der moralischen
Selbstbeschränkung und das der moralischen Verpflichtung.
Das erstere hat seinen Ursprung in den Schranken, „die
in der geistigen Wiedergabe der innerlichen Folgen von
Handlungen bestehen, und welche sich in ihren einfacheren
Formen vom ersten Anfang an zu entwickeln begonnen
haben" (I, 147). Zu ihnen sind mit dem Eintritt des sozialen
Zustandea Schranken hinzugetreten, „die durch geistige
Wiedergabe von äußerlichen Folgen in Gestalt von staat-
lichen, religiösen und sozialen Strafen hervorgerufen wiu*den"
(I, 147). Ln Laufe der sozialen Entwicklung hat sich dann
die moraKsche Beschränkung mehr und mehr von der
politischen, religiösen und sozialen differenziert, wenn auch
bis auf den heutigen Tag noch unvollkommen. Der wesent-
liche Unterschied zwischen moralischer und anderer Be-
schränkung besteht aber darin, daß die moralische Kontrolle
sich auf die innerlichen, d. i. die natürlichen Folgen bezieht,
jede andere auf die äußerlichen, zufälligen, wobei nicht bloß
ein klares Bewußtsein der individuellen, sondern vor allem
Die Ethik Herbert Spencers. 31
ein unklares, aber tunfasBendes Bewnfitsein der voielter-
liehen Erfahrongen zur Geltang kommt. „Das Ganze ergibt
ein Gefahl, dafi sich sowohl dorch Gewichtigkeit als durch
Unbestimmtheit auszeichnet" (I, 187).
Das andere Moment des Gewissens, „das Geföhl der
Verpflichtung, ist ein abstraktes Gefühl und entsteht auf
ähnliche Weise, wie abstrakte Begriffe entstehen" (I, 141).
Durch Zusammenordnung der die moralische, religiöse,
politische und soziale Kontrolle ausübenden repräsentativen
Gefühle — welche Zusammenordnung auf einem gemein-
samen Element beruht — und durch die damit zusammen-
hängende Aufhebung der abweichenden Elemente tritt jenes
gemeinsame Element verhältnismäSig stark hervor und wird
so zu einem abstrakten Gefühl, dem der Pflicht. Das ge-
meinsame Element ist einerseits das viel stärkere Hinzielen
der repräsentativen Gefühle auf die Zukunft als auf die
Gegenwart und damit die daran sich anheftende Vorstellung
von autoritativer Geltung und anderseits das Element des
Zwai^es, das sich aus den Erfahrungen der verschiedenen
Formen der Schranken ausgebildet hat und mit den normalen
Gef&hlen indirekt durch Assoziation in Verbindung tritt:
die Vermittlung übernimmt dabei die Vorstellung von den
zukünftigen schmerzbringenden Polgen, d. i. das Element
der Furcht.
Das Gefahl der Verpflichtung ist also mehr proethisch
als ethisch und ist mit dem moralischen Bewußtsein infolge
seines Ursprunges aus staatlichen, religiösen und sozialen
Motiven verbunden. Es verliert sich mehr und mehr, je
mehr das moralische Bewußtsein zur Selbständigkeit imd
OberhörrschaA gelangt. „Das Gefühl der moralischen Ver-
pflichtung ist also etwas Vorübergehendes und muß in dem-
selben Maße abnehmen, als die Sitthchkeit zunimmt" (I, 145),
d. iL die Pflichterfüllung muß zur normalen Tätigkeit werden
ohne irgendein Gefühl des Zwanges, wie es z. B. schon
der Fall ist mit der Pflichterfüllung der Eltern gegen die
Kinder. Es vnrd so weit kommen, „daß die sittlichen Ge-
ftkle den Menschen zur rechten Zeit an der rechten Stelle
32 H« K. Schwarze: V
und im rechten Grade genau ebenso spontan und angemessen
leiten werden, wie es gegenwärtig die Empfindungen tun
(I, 146), daß also „das moralische und das natürliche Handeln
eins und dasselbe werden" (I, 149).
h) Vom soziologischen Standpunkte aus.
Der Mensch ist ein Gesellschaftswesen: darum ist der
soziologische Faktor in der Formel vom vollkommenen
Leben, d. i. in der Bestimmung des Wesens des Sittlichen^
von größter Bedeutung.
Da das Gesellschaftsleben nur als ein Mittel zur Er-
haltung der Einheiten ins Dasein getreten ist, ergibt sich
einerseits, daß die Gesellschaftserhaltung nicht Selbstzweck
sein kann, anderseits aber, daß sie als nächsthegender Zweck
den Vorrang behaupten muß vor der individuellen Selbst-
erhaltung als dem letzteren Endzwecke. Es ist also von vorn-
herein klar, daß die Unterordnung der individuellen unter
die soziale Wohlfahrt nur eine zufällige Erscheinung ist,
da sie ja nur in Betracht kommen kann, wenn die Existenz
der Gesellschaft gefährdet ist, d. h. aber, „diese Unter-
ordnung hängt ab von dem Vorhandensein von sich be-
kämpfenden Gesellschaften" (I, 151). Sie muß also mit dem
Verschwinden solchen Kampfes aufhören; denn dann wird
es überhaupt keine öflfentlichen Ansprüche mehr geben, die
im Widerspruch mit privaten stehen könnten. Damit wird
das soziale Leben dahin kommen, sich die individuelle
Wohlfahrt auch zum nächsten Zwecke setzen zu können.
Die bezüglich des menschlichen Handelns geltenden sozio-
logischen Folgerungen werden also im wesentlichen davon
bestimmt sein, ob ein Zustand gelegentUchen bzw. ge-
gewohnheitsmäßigen Krieges oder dauernden und allgemeinen
Friedens herrscht. Ersterer Zustand wird, da in ihm die
Sittengesetze unter zwei sich widersprechenden Einflüssen
stehen, dem der Ethik der Freundschaft nach innen und
dem der Feindschaft nach außen, einen stets wechselnden
Kompromiß erzeugen, der zwar nicht bestimmt definierbar
und durchaus konsequent ist, der aber doch jedesmal für
Die Ethik Herbert Spencers. 33
seine Zeit autoritative Geltung hat und den iHm ent-
sprechenden Systemen ihre innere Berechtigung gibt. Daß
dabei vom vollkommenen Handeln keine Rede sein kann,
liegt auf der Hand.
Unter Voraussetzung des letzteren Zustandes, eines
dauernden und allgemeinen Friedens, lassen sich aber die
Bedingungen des vollkommenen Lebess, das sich sozio-
logisch definieren läßt als harmonisches Zusammenwirken
in dem Streben nach Selbsterhaltnng, leicht feststellen. Sie
bestehen einmal darin, daß zwischen empfangenen Vorteilen
und geleisteter Arbeit ein richtiges Verhältnis obwalte —
die Glieder einer Gesellschaft dürfen sich also nicht gegen-
seitig angreifen, weder direkt durch Überfall, Raub usw.,
noch indirekt durch Vertragsbruch, wodurch ja das Grund-
gesetz der physiologischen sowohl wie der soziologischen
Arbeitsteilung illusorisch würde — , und sodann darin, daß
freiwillige Anstrengungen gemacht werden, das Wohlergehen
anderer zu fördern, daß also zur Gerechtigkeic noch Wohl-
tätigkeit gefügt wird. „Darum ist sittlich vom soziologischen
Standpunkt das Handebi, das für den gesellschafüichen
Zustand geeignet ist, und zwar in der Weise, daß das Leben
jedes einzelnen und aller übrigen seiner Länge wie seiner
Tiefe nach so vollkommen als mögUch sich gestalten kann''
(I, 150). „Die Bürger einer großen industriell organisierten
Nation haben das für sie mögliche Ideal von Glück erreicht,
wenn die Hervorbringung und Verteilung der Güter und
andere Tätigkeiten in solcher Art und solchem Grade statt-
finden, daß jeder einzelne darin einen Platz für alle seine
Kräfte und Fähigkeiten findet, während er zugleich die Mittel
Zur Befriedigung aller seiner^Bedürfiiisse erlangt" (I, 190/91).
Endlich dürfen wir nicht allein als möglich, sondern
auch als wahrscheinlich die schließliche Existenz einer
gleichfalls industriellen Gemeinschaft annehmen, deren Mit-
glieder, während ihre Natur ebenso vollkommen diesen An-
forderungen entspricht, sich außerdem noch durch vor-
herrschende ästhetische Fähigkeiten auszeichnen, und die
Vierteljülinwohriftf.wiflsenaohaftl.Philos. u.Soz. XXXII. 1. 8
34 H. K. Schwarze:
also voUkommenes Glück erst dann erreicht haben, wenn
ein großer Teil ihres Lebens mit künstlerischer Tätigkeit
ausgefoUt ist" (I, 191).
c) Egoismus und Altruismus.
Es entsteht nun die Frage, für wen soll das handelnde
loh das Glück oder besser, da das Glück selbst nicht über-
tragbar ist, die Bedingungen des Glücks in erster Linie er-
streben, für sich oder fiir andere, d. h. soll es egoistisch
oder altruistisch handeln ? — Zunächst ist die hergebrachte
Auffassung der Begriffe Egoismus und Altruismus einer
Kontrolle bzw. Berichtigung zu unterziehen. Egoismus wird
im allgemeinen definiert als die bewußte Ausbeutung anderer
zugunsten des eigenen Ich und Altruismus als die bewußte
Aufopferung des eigenen Ich zugunsten anderer. Diese
Definitionen sind zu eng. Der Egoismus umfaßt vielmehr
unter sich alle die Handlungen, welche im normalen Verlauf
der Dinge dem Handelnden selbst und nicht einem anderen
Nutzen schaffen , und der Altruismus aUe die , welche im
normalen Verlauf der Dinge anderen, statt dem Handelnden
nützen. Auf das Attribut bewußt oder unbewußt kann es
dabei nicht ankommen, denn Beute und Opfer gehen im
Laufe der Entwicklung durch unendhch kleine Übergänge
aus der unbewußten in die bewußte Form über und werden
dadurch in ihrem Wesen nicht geändert, sondern sind nach
wie vor Gewinn bzw. Verlust von Körpersubstanz.
Die Hoffaung, die Entscheidung zwischen Egoismus
und Altruismus auf ihre Bedeutung ftir die Entwicklung des
Lebens gründen zu kömien, erweist sich als trügeris^, da
der ganze Verlauf der organischen Entwicklung sich von
beiden in gleichem Grade abhängig erweist, wenn auch der
Egoismus entschieden als die primäre Form des Handelns
angenommen werden muß. Hieraus geht die Notwendig-
keit eines Kompromisses zwischen beiden Anschauungen
hervor, und diese Notwendigkeit wird fraglos gemacht durch
die Untersuchung, ob eins der beiden Prinzipien in seinem
Extrem, also reiner Egoismus oder reiner Altruismus , das
größtmögliche Glück zu erzeugen fähig ist ; denn davon muß
ja schließlich, da Glück das Endziel des Hcmdelns ist, die
Die Ethik Herbert Spencers. 35
Entscheidung zwischen beiden abhängen« Niemand wird
vernünftigerweise die Alternative zugunsten des einen oder
des anderen entscheiden wollen, gegen beide extreme Stand-
punkte gibt es Gründe in Menge. Es ist viebnehr leicht
einzusehen, daß, selbst wenn das allgemeine Glück im Sinne
Bknthams und Mills als letztes Ziel des Handelns an-
genommen wird, es doch hauptsächlich nur durch ent-
sprechendes Streben aller Individuen nach ihrem eigenen
Glücke zu erreichen ist, während da.s Glück der Individuen
nur zum Teil durch ihr Streben nach dem allgemeinen Glück
erreicht werden kann. Dieser Kompromiß, in dem der
Egoismus deutlich als hervorgehoben zu erkennen ist, hat
sich allmählich von selbst hergestellt, und „die wirklichen
Ansichten der Menschen, wohl zu unterscheiden von ihrem
nomineUen Glauben , sind der voUen Anerkennung seiner
Bedeutung immer näher gekommen'' (I, 266) Bezüglich
seiner Geltungsdauer läßt die Aussöhnung der egoistischen
und altruistischen Interessen im Familienleben vermuten,
dafi eine ähnliche Aussöhnung auch im Gesellschaftsleben
stattfinden wird. Man wird also sagen können, der Kom-
promiß zwischen Egoismus und Altruismus strebt ständig
einem Zustande entgegen, in dem beide in eins verschmelzen
und die dem einen und dem anderen entsprechenden Ge-
fühle zu vollkommener Übereinstimmimg gelangen werden.
Der diesbezügliche Nachweis ist sowohl für den elter-
lichen als den sozialen Altruismus in seinem Verhältniä
zum Egoismus leicht zu fuhren.
Was den ersteren ahbetrifift, so ist schon jetzt die Ver-
söhnung so weit gediehen, daß die Erreichung elterlichen
Glückes mit der Sicherung des Glückes der Nachkommen
eng zusammenhängt. Da die Weiterentwicklung infolge der
sich immer mehr steigernden Gehirntätigkeit mit einer Ab-
nahme der Fruchtbarkeit verbunden sein wird, so wird, da
die Folge davon eine Verminderung des elterlichen Opfers
sein muß, ein Stadium erreicht werden, in welchem die
Freuden des erwachsenden Lebens in weit höherem Maße
als jetzt darin bestehen werden, die Nachkommenschaft zur
3*
36 H- ^* Schwarze:
YoUkonmienheit heranzuziehen und gleichzeitig das an-
mitteilbare Glück der Nachkommen zu fördern.
Was die Versöhnung des sozialen Altruismus mit dem
Egoismus betrifft, so Termag sie zwar nie diese Höhe zu
erreichen, weil dem sozialen Altruismus gewisse Elemente
des elterlichen fehlen, sicherlich wird aber auch hier ein
Zustand erreicht werden, daß die Fürsorge für das Glück
anderer zum täglichen Bedürfnis werden wird, so daß die
niederen egoistischen Genüsse beständig und spontan diesen
höheren untergeordnet sein werden.
Vom subjektiven Standpunkt wird also die Versöhnung
zwischen Altruismus und Egoismus schließlich dahin lauten,
„daß zwar die altruistischen Freuden, weil sie eben einen
Teil des Bewußtseins des sie Erfahrenden bilden, im Grunde
niemals anders als egoistisch sein können, daß sie aber
wenigstens nicht bewußt egoistisch sein werden" (I, 279).
Voraussetzung des Altruismus ist das Mitgefühl. Die
Biologie zeigt, daß sich eine Fähigkeit nur dann entwickeln
kann, wenn sie im Durchschnitt einen Überschuß von
Freuden über Schmerzen gewährt. Das Mitgefühl wird sich
also nur ausbilden, wenn die es erregenden Erscheinungen
vorwiegend freudig sind; sind sie schmerzHch, so muß Ab-
stumpfung des Mitgeftihls die Folge sein.
Quellen fortwährenden Schmerzes und damit fort-
währender Hemmung der Entwicklung des Mitgefiihls sind
aber die Kriege, die noch ungenügende Anpassung an den
industriellen Zustand und die mangelhafte Selbstkontrolle
bzw. ungenügende Voraussicht der Folgen des Handelns.
Aber selbst wenn die Anpassrmg an diese drei Beziehungen
vollkommen sein würde, würde doch das allgemeine Leid
nicht aufhören, solange die Vermehrung die Sterblichkeit
überwiegt ; wird doch dadurch ein ständiger Druck auf die
Subsistenzmittel erzeugt. Das Mitgefühl kann also nur
in dem Maße an Bedeutung zunehmen, als das Elend ab-
nimmt, d. i. sehr langsam.
Darin aber, daß der Mensch Befriedigung finden wird
in dem Mitgefühl für jene Befriedigung anderer, die haupt-
Die Ethik Herbert Spencers. 37
sächlich durch die erfolgreiche Ausübung ihrer Tätigkeiten
hervorgerufen wird, wird die höchste Form des Altruismus
bestehen; ,,es wird eine mitfühlende Befriedigung sein, die
dem Empfänger nichts kostet, sondern eine Gratisbeigabe
zu seinen egoistischen Genüssen bildet" (I, 284). Sie wird
erleichtert werden durch die Zunahme des ümfanges und
des VerstÄndnisses der emotionellen Sprache.
Der Formen übrigens des Altruismus, die immer bleiben
werden, sind drei:
1. der Altruismus des Familienlebens, d. i. der Eltern
gegen die Kinder und umgekehrt; er wird dauernd
ein großes Betätigungsgebiet haben;
2. der soziale Altruismus, d. i. das Streben nach sozialer
Wohlfahrt, in welchem die selbstischen Interessen
den selbstlosen weichen; er muß sich mehr und mehr
verengen ;
3. der private Altruismus, dör sich in Krankheit und
Unglücksfallen betätigt; er muß ebenfalls mehr und
mehr an Bedeutung verlieren, ohne doch jemals,
selbst bei vollkommenster Anpassung, gänzlich ver-
schwinden zu können.
2. Ziel bzw. Wesen des sittlichen Handelns (Kritik).
a) a) Natürliche Bestimmung.
Spencsr beginnt den Aufbau seines ethischen Systems mit der
Erörterung der Frage nach dem sittlichen Ziel, wie er auch in dem.
«Tsten Entwurf seiner Ethik, der Social Statics, getan ; er weicht also
hierin von der allgemeinen Gepflogenheit nicht ab. Sein Streben
^ht dahin, dem sittlichen Handeln ein möglichst objektives, von
mdividueller Reflexion unabhängiges Ziel vorzustellen. Die entwick-
longatheoretische Betrachtung des menschlichen Daseins zeigt ihm
sÜB solches Ziel die Vollkommenheit des Lebens nach Qualität und
QaantitAt. Selbst wenn man an der Kompetenz der Entwicklungs-
theorie für prinzipiell-ethische Fragen zweifelt, gesen dieses Ziel kann
im aUgememen sachlich kaum etwas eingewendet werden. Müssen
nicht alle Ziele, die ein Menschenherz erstreben kann, in dem BegriHe
FoUkonunenheit des Lebens nach Qualität und Quantität enthalten
sein? Sicherlich.
Anders muß jedoch das urteil lauten, wenn das Ziel nach seiner
iormalen Seite ins Auge gefaßt wird. Da fällt ohne weiteres auf,
wie es den Bereich des Sittlichen ins Ungemessene erweitert, da nun
tkUea Tun« ^wss auf das Leben des Menschen Bezug hat, lediglich
38 H. K. Schwarze:
wegen dieser Beziehung direkt und an sich sittlichen Wert besitztr
nicht wie früher indirekt und nur unter gewissen Bedingungen sitt-
liches Interesse beansprucht. So kommt auch den automatischen
Tätigkeiten ein gewisser sittlicher Wert zu, und in der Tat, SpENcsRa
Definition des Handelns als Anpaßung von Handlungen an Zwecke
oder als Aggregat Zwecken angepaßter Handlungen schließt sie mit
in sich, ein, während sie alles das, was sonst innere Willenshandlung
genannt wird, nicht in sich faßt. Aus der Wissenschaft vom idealen
S.echtleben im platonischen Sinne wird die Ethik jetzt zur Wissen-
schaft des realen Auslebens im Sinne Epikurs. Demgegenüber aber
ist zu betonen, daß die Ethik in erster Linie nicht die W issenschaft
des Lebens, sondern die des Strebens sein muß. Es ist klar, wieviel
sie durch die SpENCERsche Fomulierung verlieren muß. Ihre Haupt-
aufgabe, der Menschheit ein begeisterndes Ziel, ein höchstes Gut vor-
zustellen, das sie anrege nnd erhebe über die Miseren des Alltags-
lebens, muß sie nun vollständig verfehlen. Statt die Tatkraft an-
zuspornen, spannt das SpsNCEKScne Ziel sie ab ; denn Vollkommenheit
ist ein Begriff, der, weil er alles sagt, nichts sagt.
Spencer geht aus von dem Gedanken , daß das sittliche Handeln
ein Teil des menschlichen Handelns im allgemeinen sei und dieses
wieder mit dem tierischen zum universalen Handeln sich zusammen-
schließe. Der höchste Zweck dieses universalen Handelns müsse also
auch das Ziel des sittlichen sein. Das ist, was die Prämissen betrifft^
logisch vollständig einwandfrei; im besonderen ist die Berechtigung des
Ausdrucks „imivcrsales Handeln'^ ohne allen Zweifel ; sie ergibt sich
ja für jeden aufmerksamen und objektiven Beobachter unmittelbar
aus dem Vergleiche tierischer und menschlicher Tätigkeit. Aber
gegen den Schluß muß protestiert werden. Er verstößt so gegen alle
moralische Intuition, wie nach Spencers Meinung Kant mit seiner
Lehre von der Subjektivität von Baum und Zeit gegen alle intellek-
tuelle Intuition verstößt^). Denn gesetzt, es gäbe einen höchsten
Zweck des universalen Handeina, so wäre damit doch die Identität
desselben mit dem Ziel des sittlichen Handelns oder auch die Unter-
ordnung des letzteren unter ihn noch keineswegs denknotwendig —
notwendig wäre nur die Forderung der Harmonie zwischen beiden — ;
denn nicht allein das kann für die Bestimmung des sittlichen Zieles
entscheidend sein, daß das sittliche Handeln ein Handeln ist, sondern
auch vor allem, daß es sittlich ist. Mit der Eigenschaft der Sittlich-
keit kommt aber ein vollständig neuer und eigenartiger Gesichtspunkt
der Beurteilung auf, der nicht im Handeln liegt, auch nicht allein
auf das Handeln sich beschränkt, sondern als allgemeiner Nieder-
schlag der gesamten menschlichen Kultur sich ergibt und wie an
alle willkürlichen Geistesäußerungen des Menschen so auch und
besonders an das menschliche Handeln angelegt wird. Dieser Maß-
') In dem ersten Bande von Spencers Autobiographie findet sich
folgende interessante Bemerkung S. 252 : This (a translation of Kant's
Critique of Pure Eeason) I commenced reading (1844) but I did not
^o far. The doctrine, that Time and Space are nothing but sub-
tective forms -^ pertain ezclusively to consciousness and have nothing
»eyond consciousness answering to them — I rejected at once and ab-
solutely and having done so went no turther.
S. 258: It remains only to say that whenever in later vears I
have taken up Kant's Cr. of P. B. I have similarly stoppecl short
after rejecting its primary proposition.
Die Ethik Herbert Spensers. 39
Stab aber kann nicht einfach dekretiert werden, sondern ist objektiv
^geben in der sittlichen Entwicklung der Menschheit und subjektiv
im sittlichen Bewnfitsein. Mit anderen Worten : Wenn man wissen
wül, 'was das Ziel des sittlichen Handelns ist, genügt es nicht zu
wissen, w^as der „Zweck" des universalen Handelns ist, sondern man
mufi 'wissen, w^as Sittlichkeit ist. Spencer befindet sich hierbei im
Irrtum, wenn er meint, es finde ein ^anz allmählieer Übergang vom
dttlich gleichgültigen zum sittlich mteressanten Handeln statt') —
es ist dies übrigens eine Voraussetzung, die erst aus seinem Begriff
des SittUchen zu beweisen hat, aus der er aber nicht umgekehrt das
sittliche Ziel bestimmen kann — ; im Gegenteil, in allen Beispielen,
die er zu dem Beweis seiner Behauptung an^bt, wie überhaupt in
einem Handlungsverlauf ist der Eintritt des sittlichen Moments äußerst
markant.
Aber ist die teleologische Betrachtung des universalen Handelns,
wenn das menschliche ausgeschieden wird, Oberhaupt berechtigt?
Kann es einen höchsten ZwecK des universalen Handelns geben. Im all-
gemeinen handelnTiere nicht bewußt zweckmäßig, sondern nur instinktiv
zweckmäßig; sie selbst setzen sich nicht die Zwecke, sondern der
unmittelbare Wechsel in den Zuständen ihres eigenen Körpers oder
ihrer Umwelt setzt ihnen dieselben ; darum ist ihre Aktivität im Grunde
eine sekundäre, eine mit fast passivischem Charakter. Ihr Handeln
erscheint nicht als zusammenhängendes Ganzes mit bewußt einheit-
licher lieitung, sondern als eine Summe von Tätigkeiten mit instinktiv-
impulsiver Veranlassung von Pall zu Fall. Es kann darum höchstens
von unmittelbaren Zwecken der einzelnen Tätigkeiten oder von einem
ihideffekt ihres Ag^egats gesprochen werden, aber nicht von einem
höchsten Zweck ^ Der Name höchster Zweck für diesen Effekt ist als
falmshe Analogisierung der tierischen mit menschlichen Verhältnissen
abzuweisen, oder der menschlichen mit den tierischen, indem die
Aktivität der Menschen ebenso wie die der Tiere als eine sekundäre,
gewissermaßen defensive aufgefaßt wird.
Aus den dargele^en formalen Gründen muß die Identifikation
des h^othetischen Zieles der organischen Entwicklung mit dem Ziele
des sittlichen Handelns abgelehnt werden. Es gesellt sich zu ihnen
noch ein sachlicher Grund, auf den Bolph aufmerksam macht'). Spencer
ist der Ansicht, daß die Anpassung an die Existenzbedingungen mit
der Höhe der Entwicklimg zunimmt; Bolph weist hingegen darauf
hin, daß das Überleben der Art diese Behauptung ohne weiteres ent-
kräftet und vielmehr die Annahme einer relativen Gleichheit der
Anpassung in dem ganzen Gebiet der organischen Entwicklung not-
wendig macht. Die Kraft dieses Einwandes ist in der Tat so ^oß,
daß Spencers ganze Ableitung seines entwicklungstheoretisch-sittlichen
Zieles erschütt^i^ wird, und nicht bloß diese, sondern auch manche der
auf die Zunahme allgemein tierischer Anpassung gegründeten Schlüsse.
Man muß sich fragen, wie konnte Spencer diesen wichtigen Punkt
übersehen? — Er vergißt in der Tat alle Gesetze der Perspektive
') Pr. of E, I, 6: These instances will sufficiently suggest the
tnzth that conduct with which Moralitj ia not conserved, passes into
condnct -which is moral or immoral, by small degrees and in countless
wavs.
*) Vgl. Pr. of E. I, 6f.
«) Vgl. KoLPH, Biologische Probleme, i 2. Aufl. Leipzig 1884.
S. 33.
40 H* ^ Schwarze:
und betrachtet alle Dinge luiter dem gleichen, dem anthropozentrischen
Gesichtswinkel. Er verwechselt die Anzahl der einzelnen Anpassungen
und ihren quantitativen Gesamteffekt mit dem qualitativen, während
der letztere überall relativ der gleiche ist, ist der erstere als Fol^e
der Kompliziertheit der Lebensbedingungen unendlich mannigfaltig.
Er ttber8ieht( daß Erhöhung der Anpassung im allgemeinen noch nicht
Erhöhung des Lebenswertes bedeutet, sondern meist paralysiert wird
durch erhöhte Mannigfaltigkeit und Schwierigkeit der Lebensdingungen.
Es muß jedoch gesagt werden : im allgememen ; es trifft nämlich in
einem besonderen Falle nicht zu, da nicht, wo eine Geschichte, wo
Kultur besteht, bei den Menschen. Die Kultur ist, im Sinne Spehcers
zu reden, kristallisierte und objektivierte Anpassung, es ist ein Schatz,
der die Menschheit befähigt, sich immer Höheres zu erwerben. In der
Kultur liegt der Punkt, wo die menschliche Entwicklung energisch ab-
zweigt von der allgemein tierischen, und von dem an sie diese weit hinter
sich läßt. Hier ist der Punkt, wo die Entwicklung des Menschen
sich mehr und mehr der physischen Kausalität entwindet und der
psjrchischen folgt, und hier ist die Zunahme der Anpassung möglich,
weil sie sich auf eeistige Energie, auf bewußte Wertbestimmung
gründet und es ein Wachstum der geistigen Energie gibt ^). Li diesem
Regt ein Mittel, auch der größten Zunahme der Komplikation der
Lebensbedingungen, sofern sie nur nicht katastrophistisch geschieht,
begegnen zu können. Lidem so die Anpassung oei den Menschen
sich von wesentlich anderem Charakter enthüllt als bei den Tieren,
muß die Anpassung im allgemeinen ihren bestimmenden Einfluß auf
die Festsetzung des Zieles des sittlichen Handelns verlieren, und es
muß hieraus me Folgerung gezogen werden, daß diese Festsetzung
nur der spezifisch menschlichen Existenz zu entnehmen ist, nicht der
allgemein organischen. Es erscheint somit der Schluß gerechtfertigt,
dau Spkncer mit seinem Ergebnis nicht irgendeine Bestimmung des
sittlichen Zieles, sondern leoiglich des Effektes allgemeinen tierischen
Handelns gegeben hat.
Wie ÖPKNCKR8 biologische Betrachtung bisher als für die Be-
stimmung des sittlichen Zieles im allgemeinen nicht autoritativ hat
bezeichnet werden können, so muß dies ganz besonders gelten von
seiner Angabe der sittlichen Teilziele. Mit seinem Ziele proklamiert
Spencer Leben als Selbstzweck, und zwar Leben des Icn, der Art
und der Gesellschaft. Es heißt jedoch die bisherige ethische Ent-
wicklung ignorieren, wenn auch die Selbsterhaltung als sittlicher
Selbstzweck hingestellt wird. Spencer kann diese seine Behauptung
durchaus nicht zwingend begründen. Wo das individuelle Wohl in
der Tat erstrebenswert erscheint, handelt es sich nicht um das Ich,
spndem um seine Beziehungen zur Allgemeinheit, und wo der sitt-
liche Wert der individuellen Selbsterhaltung an sich in Frage steht,
fehlt die Begründung. Der einzige Grund, nämlich der, daß ein
starker Trieb zur Selosterhaltung dem Menschen mit allen übrigen
Organismen gemeinsam und natürlich sei, ist keiner, denn die Identi-
fikation von sittlich und natürlich muß abgelehnt werden. Das
Natürliche an sich ist ienseit von gut und böse.
Für den Wert der Ableitung der Selbsterhaltung als eines ethischen
Selbstzwecks aus der allgemeinen organischen Entwicklung und die
Bedeutung der letzteren für die Bestimmung ethischer Prinzipien
') Vgl. WuNDT, Grundriß der Psychologie, 5. Aufl., S. 396; Logik
II, 2. Aufl., S. 275 ff.
Die Ethik Herbert Spencers. 41
QberbaaDt ist auch, die Tatsache bezeichnend, dafi unter den drei
Poeten der Lfebenssomme Selbsterhaltung der einzige ist, der all-
gemein erstrebt vrird, während von art- und gesellschaftserhaltendem
Streben nur als von einer in der organischen Existenz weit ver-
breiteten £r8clkeinung ^) gesprochen werden kann. Damit aber wird
der von Spekcbr so eifrig gesuchte enge Zusammenhaue zwischen
dem menschliclien und universalen Handeln stark gelockert. Ent-
wieklnnrntlieoretiscli konsequenter würde Spenceb eewesen sein, wenn
er wie ^istzsche xind Spinoza lediglich die Selbsterhaltung als höchstes
Ziel des Handelns erkl&rt hätte. Er wUrde sicherlich dabei bemerkt
habeut in iw^elcli scliarfem Antagonismus sich organisch-entwicklungs-
theoretisclie Ziele einerseits und sittliche anderseits befinden; denn
die gerade dem biologischen Evolutionismus so durchaus konsequente
Erheonng der Selbsterhaltung zum sittlichen Selbstzweck wird von
dem ethiscben Empfinden aller Zeiten bestimmt und allgemein abge-
wiesen. ObvT'olil Spkkcer gelegentlich auch eine Handlung der Selbst-
erhaltong mit einer Art- una Gesellschaftserhaltung nach ihrem sitt-
lichen w erte vergleicht und erkennt, daß erstere den geringsten,
letztere den höchsten Wert hat, zieht er doch nicht den SchluC dafi
die sittlichen Werte außerhalb des individuellen Daseins liegen bezw.
aber es hinausragen. Auch die kulturelle Bestimmung des Zieles, die
er im folgenden vornimmt, veranlaßt ihn nicht hierzu.
^) Die knlturelle Bestimmung des Wesens und Zieles des
Sittlichen.
Spencbb fahrt die kulturelle Herleitung des sittlichen Zieles aus
mittels der Betrachtung der Begriffe gut und böse. Er vergleicht
die verscliiedenartigsten Anwendungen derselben miteinander und
findet so, daß sut und böse sedundär gleich zweckdienlich und zweck-
schädigend. sind« primär gleich freude- und schmerzbringend, woraus
er in 3er Sauptsache sein hedonistisches, dem evolutionistischen nach
seiner Meinung identisches Ziel Glück und Freude ableitet. Man
wird nicht i^ti^in können, am Werte solcher Art der Feststellung
wissenschaftlicher Ergebnisse zu zweifeln. Kann schon der Sprach-
gebrauch im allgemeinen nicht als zuverlässige Erkenntnisquelle gelten,
80 gleich gar nicht in bezug auf ethische Wahrheiten. Er liefert
äußerst; unsichere Induktionen, zumal wenn die historische Sprach-
betraclitung noch fehlt wie bei Spencer. Es darf nicht übersehen
werden, dsS man in den beiden Worten gut und böse nicht nur einen
spezifisch ethischen, sondern vor allem einen der vollkommensten
ailgemeinen Wertbegriffe vor sich hat, die die Kulturwelt besitzt.
In seinem T7i«prunge unbestimmt, sicherlich in die ersten Anfänge
menschlichen Gr^meinschaftslebens hineinragend, im Laufe der Zeiten
oft vom -wissenschaftlichen Denken fixiert, ist seine heutige allgemeine
Bedeutung das Ergebnis jenes Abstraktionsprozesses, der unbemerkt
and stäncug am Werke ist, die Fülle der Erscheinungen zusammen-
zuordnen, und der vom allgemeinen geistigen Fortschritt sich ebenso-
wenig trennen läßt wie der Schatten vom einseitig beleuchteten
EörMr. G-ut ist sicherlich der älteste Wertbegriff und war darum
womauch immer der allgemeinste, wogegen er unzweifelhaft ein
Kennzeichen sein kann für den allgemeinen Charakter einer Zeit, aber
auch nur fOr den allgemeinen.
i\ Vgl. BocPH, Biolog. Probleme, S. 36 f.
42 H. K. Schwarze:
Spencer mißversteht dies; er nimmt einfach den Allgemeinbegriff
gut für den spezifisch-ethischen. Das ist aber unlog^h, solange es.
noch ethisch mdifferente Gebiete menschlicher Betätigung gibt. Und
selbst zugegeben, er habe den ersteren mit zweckdienlich bzw. zweck-
schädigend treffend definiert — die alljgemeine Analyse ergibt aber
mit gleicher Präzision lobenswert, tauglich — '), so erfordert doch die
LogLK, daß die Definition jeder besonderen Anwendung eines All-
semeinbegriffes diese Besonderheit enthalte. Srencrr würde demnach
logischerweise gut im ethischen Sinne definieren müssen als sittlichen.
Zwecken dienlich. Damit aber würde er mit leeren Händen zum
Ausgangspunkte zurückkehren. Er hat das auch gefühlt; das geht
daraus hervor, daß er. das Ergebnis hier mit dem aus der Betrachtunjg
der Entwicklung des imiversuen Handelns kombiniert und sagt : Wir
nennen unter sonst gleichen Umständen gut die Handlungen, die
förderlich sind zum vollkommenen Leben des Ich, der Art und der
Gesellschaft (I, 50), damit eben das umbestimmte Gefühl bekundend,
daß gut gleich zweckdienlich in seinem ethischen Sinne sowohl noch
eine Bestimmung des Zwecksetzers bedarf — darum „wir^, die All-
gemeinheit — wie auch eine Bestimmung der Art der Zwecke
erfordert — , darum vollkommenes Leben des Ich, der Art und
der Gesellschaft. Diese Zusätze aber widersprechen der Defimtion
gut gleich zweckdienlich im allgemeinen; sie entspringen auch nicht
der Analyse, sondern sind nachträgliche Einführungen.
Und noch eine andere Überlegung verbietet die Identifikation
von ^ut im ethischen Sinne mit zweckdienlich im allgemeinen. Zwecke
existieren nicht objektiv, sondern nur subjektiv. Die ^Entscheidung über
die Zweckmäßigkeit einer Handlung wird darum nur der ssweck-
setzenden Intelligenz voll möglich sein, da sie auf Kenntnis der
psychischen Voraussetzimgen beruht. Ist aber sut bleich zweckdien-
lich, so werden damit Subjektivismus bzw. Individualismus zum A
und O aller Ethik erklärt und damit der ethische Anarchismus; denn
von beiden ist es nicht weit zum dritten. Bolph findet in dieser
Definition auch einen Anklang an die jesuitische Lehre: Der Zweck
heiligt das Mittel*).
Diese Überlegung zeiget übrigens von einer anderen Seite, daft
das Sittliche über das Individuelle ninausliegt, sittliche Zwecke nicht
individualistische sein können, sondern allgemeine sein müssen, sowohl
von der Allgemeinheit festgesetzte als auch auf die Allgemeinheit
sich beziehende, da eben die Sittlichkeit nur eine Erscheinung des
Gemeinschaftslebens ist.
Mit der Feststellung der primären Bedeutung von gut und böse
ist's nicht viel anders als mit der sekundären. Übrigens hat die
Unterscheidung von sekundär und primär einen rein psychologischen
Grund, indem nämlich das Gefünl das Primäre, cue Vorstellung»
zu der der Zweck seinem Wesen nach gehört, das Sekundäre im
geistigen Geschehen bedeutet. Auch hier definiert Spencer nicht den
spezifisch ethischen Begriff, sondern den Allgemeinbegriff gut, faßt
also nicht den Gehalt an ethischem Gefühl ins Auee, sonaem den
Gefühlswert im allgemeinen. Er dreht den Satz : Das Gute ist er-
freuend, einfach um und sagt : Das Erfreuende ist gut, genau so wie
er statt zu sagen: Das Gute ist im allgemeinen zweckmäßig, sagt:
Das Zweckmäßige ist gut. Spencer meint Freude jeder Art, nicht
') Vgl. WuNDT, Ethik I, 24 ff.
') Bolph, Biolog. Probleme, S. 44.
Die Ethik Herbert Spencers. 43
etwa nur die» die ans der naditräglichen Eeflexion über das Handeln
entspringt. Aber sicherlich ist das Moment Freude nicht das Haupt-
diarakteristikuni des Guten. Wenn die Allsemeinheit als ausschlag-
gebende Autorität bei der Entscheidung Über die sitttlichen Werte
anerkannt i^ird — und das wird füglich geschehen müssen, da eine
bessere fehlt — , so ist nicht das unter allen Umständen ^t, was nach
Motiv und Erfole Freude ist, sondern das, was nach Motiv und Erfolg
oder auch nach Motiv allein den Menschen über sich selbst erhebt und
dem Idealbüde menschlichen Gemeinschaftslebens ^emäß ist. Alle
materielle Auffassung ist daher der wahren Sittlicläeit fremd, und
diese steht nicht zuerst unter dem Kriterium berechnender Klugheit,
sondern vielmehr unter dem der Yemunft und des Gefühls. Die
Identifikation des Sittlichen mit dem Freudebringenden ist schlecht-
hin eine Verkennung und, nimmt man die Auffassung Kants hinzu,
die sicherlich einen lierrlichen Kern hat, eine Profanation des Sitt-
lichen. Das Gute ist wertvoll an sich; der Lohngedanke, zu dem
die Menschheit zu erziehen die Eeligionen und der Utilitarimus nicht
mQde werden, ist proethisch.
Ebenso unterstützt die Betrachtung der Zielsetzung verschiedener
ethischer Systeme Spencebs Ausführungen nicht. Mit gewissem Pathos
konstatiert er: „Freude irgendwo, zu irgendeiner Zeit, von irgend-
einem oder vielen Wesen erfahren, ist ein nicht zu verdrängendes
Element der Vorstellung des sittlichen Zieles. Es ist dies ebenso sehr
eine notwendige Form der moralischen Intuition, wie Baum eine
notwendige Form der intellektuellen Intuition ist." (I, 52.) Selbstver-
ständlich wird alles, was für Menschen erstrebenswert ist, auch einen
angenehmen Gefühlswert haben; hat es ihn nicht von Haus aus, so
gewinnt es Dm eben dadurch, daß es als erstrebenswert hingestellt
wird. Das sittliche Ziel muß das Moment der Freude haben, einfach
weil es im Zielbegriff liegt. Es liegt aber hierin nimmermehr eine
Notwendigkeit zu der Folgerung, daß Freude der hauptsächliche
oder gar einzige Inhalt des Begriffes des sittlichen Zieles wäre, wie
Spenckb doch meint.
Spexckr gelangt zu seiner Auffassung der primären Bedeutung von
gut und böse, mdem er den von Optimisten wie Pessimisten bei der Lebens-
Wertung gebrauchten Maßstab untersucht. Sicherlich ist dieser Maßstab
der ganzen Menschheit gemeinsam, doch es ist immer nur wieder der
natürliche, der naive Maßstab des Lebens, nicht aber der sittliche.
Ein Bückblick über die beiden eben erörterten Abschnitte zeigt,
daß Spencer zwei Ziele des sittlichen Handelns aufstellt: Leben und
GlüdL Daß beide nicht identisch sind, lehrt der bloße Augenschein ;
auch SpeKCEH ist sich darüber klar. Jedoch ist ihm der Dualismus
der Ziele kein so unerschütterlicher, daß er sich etwa veranlaßt fühlen
müßte, ihn zu vermeiden. Im Gegenteil, er ist ihm sehr wichtig und
eine seiner fundamentalen ethiscnen Lehren; auf ihm beruht im
Grunde seine Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Ethik.
Sein Evolutionismus -macht ihn so optimistisch, einen Zustand der
absoluten Ethik, d.i. eben der Identität zwischen Leben und Glück, yor-
herznsajgen, und zwar nach dem Wesen der absoluten Ethik einen
Zostanoaer objektiv verwirklichten Identität, worüber in den nächsten
Abschnitten noch zu handeln sein wird. Es muß zugegeben werden,
daß die Vorstellung dieser Identität eine durchaus geläufige ist,
schon von der religiösen Belehrung ^). Es muß diese Lehre bei Spencer
') Nach Kant bekanntlich geradezu als Postulat der praktischen
Yemunft anzusehen.
44 H. K. Schwarze:
feradezn als ümdeutuns der Paradiseslehre erscheinen, nachdem ihm
er ünsterhlichkeitsgedanke znr Absurdität geworden ist. Freilich
sie hat nichts von jeneih das Streben anregenden und anspornenden
Charakter der Lehre der Beligionen, worin doch nur ihr Wert be-
stehen kann, nichts auch von jenem kühnen Schwunde der NnsTzscHE-
schen Lehre vom Konmien des Übermenschen. Sie ist matt und
kraftlos.
Der Dualismus der Ziele bleibt also für Spencer nur bestehen
für die relative Ethik. Wie er ihn hier ausgleicht, ist eine Frage,
die ebenfalls in den nächsten Abschnitten zu erörtern sein wird. Fh:
besitzt durchaus nicht allgemeines ethisches Interesse, da ja einerseits
die SpENCERSche Unterscheidung zwischen relativer und absoluter
Ethik, anderseits seine Formulierung des sittlichen Zieles abgelehnt
werden mußten.
b) Betrachtung und weitere Ausführung des
Zieles bzw. Wesens des sittlichen Handelns vom
Standpunkt der wissenschaftlichen Grundlagen
der Ethik aus.
a) Vom physikalischen Standpunkt aus.
Man ist einigermaßen erstaunt, die Physik lediglich infolge der
Tatsache, daß das Handeln mit Einschluß des Sittlichen als iCraft-
Äußerung unter das Gesetz von der Erhaltung der Kraft falle, als
wissenschaftliche Grundlage der Ethik hingestellt zu sehen. Sicher-
lich besteht dieser Zusammenhang, wenn man die Handlung nur nach
ihrer äußeren Seite als Bewe^ng von Körperteilen auffaßt. Da
aber bei weitem nicht alle Handlungen eine derartige wahrnehmbare
Seite haben, sondern auch viele, besonders sittliche, über das Stadium
der sogenannten inneren Willenshandlung nicht hinwegkommen, so
erscheint doch der Zusammenhang nicht wichtig genug, um der
Physik den Rang einer Grundwissenschaft der Ethik einzuräumen.
Daß SraKCER es tut, ist bezeichnend für ihn. Bei seiner Ansicht von
der uneingeschränkten Herrschaft der mechanischen Kausalität auch
auf dem Gebiete des Psychischen und der der Identität des Sittlichen
mit dem Natürlichen hat allerdings die Physik eine höhere Bedeutung
für die Ethik, als ihr sonst allgemein zuerkannt wird.
Gerade Spencebs Ausführungen über die volle Übereinstimmung der
sittlichen mit der phvsischen Entwicklung, denen das ganze Kapitel über
den physikalischen lätandpunkt gewidmet ist, offenbaren deutlich das
Gegenteil, ja, das Disparate der sittlichen und der physischen Entwick-
lung; denn es ist nicht wahr, daß größerer Zusammenhanhang, &;rößere
Bestimmtheit und größere Mannigfaltigkeit das sittliche Handeln vom
unsittlichen unterscheidet. Spenckr selbst wird es sehr schwer , am sitt-
lichen Handeln die beiden Eigenschaften des größeren Zusammenhanges
und der größeren Bestimmtheit auch nur einigermaßen scharf vonem-
ander zu unterscheiden, und man behauptet nicht zu viel, wenn man
sa^t : Ebenso sehr wie seine Behauptung der größeren Mannigfaltig-
keit des sittlichen Handelns gegenüber dem unsittlichen stimmt, stimmt
auch die gegenteilige. Dasselbe gilt bezüglich der Gleichartigkeit;
es kommt nur auf den Standpunkt an, ob man nämlich die unter
Die Ethik Herbert Spencers. 45
{gleichen oder ähnlichen Bedingungen wiederkehrenden Handlungen
ms Aage faßt oder die unter vollständig verschiedenen. Die Ethik
Spescebs wird es nicht vermögen, dem fulgemeinen Begriff des sitt-
lichen Charakters das Moment der Konsequenz und des Grundsätz-
lichen zu entziehen. So sehr man die Relativität aller Ethik an-
erkennen mufi, die Notwendigkeit bestimmter nicht blofi ganz all-
gemeiner, sondern auch spezieller moralischer Maximen und eine ^-
wisse strenge Pedanterie und Peinlichkeit im Danachhandeln ist
ebenso unabweisbar.
Viel wichtiger aber als der Hinweis darauf, welche Schwierig-
keit der BegrQndun^ die Übereinstimmung der sittlichen mit der
physikalischen Entwicklung SpENCERselbst schon bereitet, ist der
mnweis auf die diese Schwierigkeit bedingende Tatsache, daß alle
die Eigenschaften des Zusammenhanges, der Bestimmtheit und der
Mannigfaltigkeit nicht dem sittlichen Moment am Handeln, sondern
im allgemeinen dem Handeln zugehören; denn das sittliche Handeln
eines nochentwickelten Menschen zeigt genau den hohen Grad von
Znaammenhang, Bestimmtheit und Mannigfaltigkeit als das unsittliche
eines anderen ebenso hoch entwickelten Menschen. Ja, man kann
geradezu sagen, daß zu allen Zeiten die Verbrecher die äugen-
alligsten Beweise für die Größe menschlichen Scharfsinns erbracht
hi^>en, tmd heute ist es noch ebenso. Die Kehrseite dieser Tatsache
aber ist, daß ein unzivilisierter Mensch relativ ebenso sittlich sein
kann ivie ein hochzivilisierter. Spemcbr bestreitet das, wie früher
(I, llff.)f 80 auch hier (I, 75ff.)i das heißt, es verrät sich hier der-
selbe fundamentale Irrtum, der schon zur ünterschätzung der tierischen
Anpassung geführt: der Mangel an Perspektive und die allzu weit
gehende Identifikation geistiger und materieUer Bealität. Damit ist
aber gesagt, daß sittlich und hochentwickelt im physikalischen Sinne
nicht eins sein können. Das Moment des Sittlichen liegt nicht im
Handeln an sich, am allerwenifi;sten in der äußeren Handlung, wohin
es za verlegen Spekcer sich bemüht, sondern in den psychischen
Voraussetzungen, und es ist die wichtigste derselben. Darum ist die
vor allem psychologische Auffassung und Beurteilung des Handelns
nötig und oerechtigt, und die Forderung Spencers, daß die äußeren
wahrnehmbaren Elemente als die für die Ethik wichtigsten betrachtet
werden sollen, muß Widerspruch herausfordern. Nicht im Effekt der
Handlung liegt das Sittliche, sondern in der Voraussetzung, der Ge-
sinnung. Der Effekt steht bei der immer größer werdenden Kom-
Slizier&eit des Lebens zum guten Teil außerhalb der Machtsphäre
es einzelnen, sowohl nach Qualität als Quantität, aber das, was er
^anz sein eigen nennt, ist sein Inneres, sein Wollen^). Darum kann
sich nur darauf die Ethik gründen^. Sicherlich ist das sittliche
Handeln und seine Entwicklung ein Mittel zur Lebenserhaltung, aber
darin liegt noch keineswegs die Notwendigkeit, die Lebenserhaltung
>) Vgl. WuiiDT : „Es gibt schlechterdings nichts außer dem Menschen
220ch in ihm, was er voll und ganz sein eigen nennen könnte, aus-
genommen seinen Willen.*' (Vorlesungen über die Menschen- und Tier-
seele, 2. Aufl., S. 270.)
<) VgL Kant: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt
aach axSetr derselben zu denken möglich, was ohne Emschränkung
fOr gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.*^ i Grund-
Jegong zar Metaphysik der Sitten, Ausgabe von Dr. Th. Fritzbch,
S. 21.;
46 'S. K. Schwarze:
als höchstes sittliches Ziel aufzustellen, zumal ja allgemein als höchste
sittliche Tat gilt Hingahe des Lehens im Dienste des Sittlichen.
Übrigens ist auch die physikalische Definition des Lebens, dieses
als Ganzes oder nur in einem gegebenen Augenblick betrachtet, nicht
ohne Widerspruch hinzunehmen. Spencer liebt den Ausdruck „Gleich-
gewicht'' f Or den Höhepunkt aller Entwicklung, und er tut ja sicherlich
nach seiner Theorie vollständig recht daran, aber deswegen ist die
Übertragung des Ausdrucks vom Mechanischen auf Organisches und
Psychis^es nicht weniger anfechtbar. Das Leben ist nicht Gleich-
gewicht der inneren Tätigkeiten und Kräfte mit den äußeren Ein-
ttssen, es ist nie ' Gleichgewicht , auch nicht labües; es ist Über-
gewicht. Gleichgewicht ist die Gleichheit von Wirkung und Gegen-
wirkung. Wann aber ist das Leben physikalisch eine solche Gleich-
heit? Nie, nicht einmal im Schlafe, mcht im höchsten Alter, auch
nicht im Augenblick des Todes, nicht in der Narkose oder im Starr-
krampf. Das Leben ist vielmehr Ungleichheit vom ersten Augenblick
an, es ist ein Strömen und Wachsen und ein Überwiegen der Lebens-
energie über die Einflüsse der Zerstörung, und es ist dies bis zum
letzten Augenblicke, wenn auch erst mit wachsender und sodann mit
fallender Intensität.
Aus Spencers phvsikalischer Definition des Lebens ergibt sich
sodann noch eine wichtige Folgerung in bezue auf seine Konzeption
des absolut ethischen Zustandes, in dem ja die Definition vollkommen
realisiert sein soll. Da die Entwicklung des Menschen vom physika-
lischen wie auch vom biologischen und soziologischen Standpunkte
aus nach Spencer nur ein B^lex des Wandels um ihn ist, womit er
nach der einen Seite sicherlich recht hat, so ist der absolut ethische
Zustand nur möglich, wenn die Lebensbedingun^n vollständig
konstante und rhythmische werden, wenn also ein Wechsel im
einzelnen aufhört; denn dann nur kann das Leben annähernd ein
Gleichgewichtszustand sein. Je mehr aber der Wandel schwindet,
desto überflüssiger werden vielerlei Tätigkeiten des Menschen werden,
damit auch die entsprechenden Organe, mit anderen Worten, es muß
eine Bückbildung eintreten, bis der Mensch auf den vollkommenen
Rhythmus seiner Existenzbedingungen vollkommen abgestimmt ist.
Dann aber wird er etwa gleich sein den Geschöpfen, die schon jetzt
n nahezu konstanten Verhältnissen leben, d. h. den niedersten Tieren.
ß) Vom biologischen Standpunkt aus.
Den meisten Einfluß gewinnt die Physik auf die Ethik ver-
mittels der Biologie, von der Spencer sagt, daß sie das Studium der
Ethik vorbereiten solle. Seine biologischen Argumente: Einfluß der
Empfindun^fähigkeit auf die organische EntwickluAg, Vollkommen-
heit der Leitung des tierischen Lebens durch die Empfindun^n und
physiologischer VVert der Freude sind scharf und wissenschaftlich
dargelegt; aber sie vermögen doch seine moral- philosophischen
Folgerungen über Ziel und Wesen des Sittlichen nicht zwingend imd
unaoweisbar zu machen. Alles, was sie leisten, ist, die Sorse für die
Gesundheit als die Bedingung für körperliche und geistige Leistungs-
fähigkeit zu einer sittliäien Verpflicntung zu machen. Mail sollte
meinen, daß es dazu keiner besonderen biologischen Auseinande]>
Setzungen bedürfe, daß diese ihre geeignetste Stelle vielmehr da
finden, wo es sich um Ableitung und Begründung hygienischer Vor-
schriften handelt; denn daß Moral schließlich dasselbe sein soll wie
Die Ethik Herbert Spencers. 47
Hygieney ^wird doch wohl PrivatanBicht bleiben. Spencer ist einer der
enten, der ihr zuneigt'). Die Forderung nach Erhaltung der Ge-
sundheit ist aber nicht etwa an sich eine ethische; sie ist es nur in-
sofern, als die Gesundheit Voraussetzung für alle kraftvollen
Äufierungen des menschlichen Lebens in der Gemeinschaft ist. Alle
Ediiker Btdmmen hier mit Spencer aberein. Wie es keinen Sinn hat,
dem Einzel'weeen Mensch eine Ethik zuzuschreiben, so ist auch die
individuelle Gkeunderhaltung an sich nicht eine sittliche Pflicht,
sondern höchstens ein Gebot der EHujeheit.
Alle übrigen Folgerungen, die Spencer im biologischen Kapitel
beEdglich des Sittlichen zieht, hängen zusammen mit der Identifizierung
von normal und sittlich. Was ist das Normale oder besser die
Normale?^ Nach Spencers Auffassung in diesem Abschnitt ein
j,trennender Strich zwischen Exzeß und Vernachlässigung^, wie Bolph
sagt. „Wem sollte es auch in der vollkommensten Gesellschaft ge-
lingen, auf ihm entlang zu balancieren, ohne nach der einen oaer
anderen Seite abzufallen?'' ') In Ansehung der Beservestoffe ist die
Konnale der „Bereich des straflosen Exzesses und der straflosen
Unterlassung'', „nicht ein rigoroser Kreidestrich, sondern eine ziemlich
breite Strafie**, so daß eine mäßige Abweichung von Spencers Normale
nicht mit Leid verbimden, normal und erfreuend, unnormal und leid-
bringend, also nicht genau identisch ist. Bolph hätte noch weiter
gehen und sagen können, daß, weil diese Abweichung nach der
Ezzeßseite Voraussetzung und bestes Mittel zur Steigerune einer
Fähigkeit ist, auch normal und lebenf ordernd nicht genau identisch
sind, somit also entweder eine gewisse Unnormalität moralisch im
SpBsicEBschen Sinne genannt werden muß oder die Identifikation von
moralisch und normal eine Zunahme der Summe des Lebens nach
Quantit&t und Qualität ausschließt, also seinem Ziel widerspricht.
Diese Alternative verneint demnach die Lehre, daß das funktionell
Normale sittlich tmd das Sittliche funktionell normal sei.
In der Tat zeigt auch die täglicftie Erfahrung, daß viele sittliche
Handlungen, ja die, die den sittlichen Charakter am deutlichsten
zeigen, funktionell unnormal, die meisten funktionell normalen aber
sitSich indifferent sind, und das berechtigt zu dem Schluß, daß
fumktionell normal und sittlich vollständig disparate Begriffe sind
und bleiben müssen, wenn nicht geradezu eine Vernichtung aller
heimbrachten sittlichen Auffassung bewirkt werden soll. Diesem
Scmuß ist keineswegs das Zugeständnis widersprechend, daß aus
moralischen Gründen die funktionelle Normale größere Beachtung
verdient als bisher, doch so, daß die vollkommene Souveränität des
sittlichen Willens über die Leistungen und Fähigkeiten des mensch-
lichen Körpers stete das wichtigere Moment des sittlichen Ideals ist.
Nun betont Spencer freilich, daß seine Identifikation nur für den
absolut-ethischen Zustand Geltung haben kann und soll. Doch ändert
dies die Sache nicht; er erÜärt damit nur, daß, solange dieser Zustand
nicht erreicht ist, normal nicht gleich sittlich, seine Identifikation
alflo fflr den relativ ethischen Zustand nicht das sein kann, was es
M In neuerer Zeit besonders A. Forel; vgl. seinen Vortrag:
Sexuelle Ethik, München 1906, S. 14.
*) Siehe hierzu Bolphs Kritik bezüglich des Mangels einer ge-
nauen and konsequent beibehaltenen Definition des Begriffes „normal''.
(Bolph, Biologische Probleme, S. 45 f.)
') Itoi'pH« ebenda S. 45.
48 ^' ^ Schwarze:
sein soll, nämlich oberstes Leitunffsprizizip ^). Außerdem erweisen die
obigen Erörterungen über den iSegriff normal und dazu noch die
Tatsache, daß es überhaupt keine feste Normale gibt — indem nämlich
das, was zur einen Zeit normal ist, zur anderen über oder unter
normal sein kann und somit das absolut ethische Handeln nicht die
feringste Bestimmtheit zeigen würde — daß sie es auch nicht für
en absolut ethischen Zustand sein kann; abgesehen davon, daft
überhaupt gewichtige Gründe der SpENCEBschen Konzeption der ab-
soluten Ethik an sicn entgegenstehen.
Die Identifikation von sittlich und normal muß also als eine Über-
schätzung der Wichtigkeit der Biologie für die Ethik bezeichnet werden»
Das biologische KJ4>itel ist auch das Kapitel, in dem Spencbu
offen die Nichtkongruenz von Leben und Glück für den relativ
ethischen Zustand zugibt und die Gründe hierfür aufzählt. Es ist der
allgemeine Grundf^ler menschlichen Daseins, der allenthalben die
Aufstellung von Sittengesetzen erschwert, nämlich der Mangel an
Anpassung; an die Existenzbedingungen, im einzelnen der fortwährende
Wandel derselben mit den daraus hervorgehenden Mißanpassungen
und das Nebeneinander zweier sich widersprechender Lebensweisen^
des Militarismus und des Industrialismus, d. i. die des zwangsweisen
und die des freiwilligen Zusammenwirkens. Daß Spemckb als ersten
Grund den Wechsel der Existenzbedingungen nennt, ist interessant.
Es ist bereits erwähnt worden, daß dieser Wechsel nie verschwinden
kann, daß heißt aber hier, daß er eine dauernde Quelle der In-
kongruenz von Leben und Glück sein muß. Daß die Menschheit all-
mälüich die Fähigkeit erlangen werde, jedem Wechsel gegenüber
sofort entsprechend zu reagieren, d. h. sofort angepaßt zu sein, ist
ein Widerspruch zum Wesen des Menschen als eines Organismus»
zumal bei einer im Grunde dodi passiven, willenlosen Anpassung^
wie sie Spknceb im Sinne hat.
Etwas sehr Wahres muß dagegen gefunden werden in der
Forderung des allmählichen Y^rschwindens des zwangsweisen Zu-
sammenwirkens zu^nsten des freiwilligen. Aus allgemein mensch-
lichen Gründen ist ihre Verwirklichung zu wünschen ; jedoch sie wird
wohl immer eine ideale Forderung bleiben müssen, denn sie setzt
eine Vollkommenheit menschlicher Verhältnisse voraus, für welche
bisher noch alle Anzeichen fehlen ; darum ist das „ideal'' zu be-
tonen. Spencer findet ein Anzeichen darin, daß der Krieg, die eine
Form zwangsweisen Zusammenwirkens, bei den zivilisierten Völkern
mehr und mehr Abscheu erweckt. Wohl geht die Friedensbewegung
in neuerer Zeit hoch, aber haben sich nicht trotz derselben die
mörderischsten Kämpfe zwischen gebildeten Nationen abgespielt?
Kriege sind die gewaltigsten Entladungen des Selbsterhaltungstriebes
der Völker, mag dieser zu Becht oder unrecht erregt sein. Solange
siidi aber der Selbsterhaltung Hindemisse entgegenstellen, werden
und können sie nie verschwinden, welche Form sie auch immer an-
nehmen mögen. Und anderseits haben diese Hindemisse eine un-
geheure Bedeutung für die Entwicklung der Völker. Der Krieg ist
ein Anreiz zur Entfaltung größter Aktualität, und darum ist er nach
^) „Hence I conclude, as before, that the guidance afforded bj
Mr. Spencers bioloepioal law cannot possibly be such as to supersede
the empirical method of ascertaining effects of actions on happiness."
SiDG wiCK, Lectures on the Ethics of T. H. Green, Mr. Herbert Spencer
and J. Mariineau, p. 168.
Die Ethik Herbert Spencers. 49
äßm alten klassischen Worte „der Vater aller Dinge"; denn so viel
Aktaalit&t, soviel Realität.
Und noch aus einem anderen Grande muß die Möglichkeit einer
solchen Anpassung, daß das sittliche Handeln identisch mit dem
freudebiinsenden bzw. normalen und natürlichen wird, bezweifelt
werdeoL Spemcbr ist sich darQber klar, daß die Existenzbedingungen
sehr viele Tätigkeiten erfordern, die dem handelnden Ich keineswegs
nur Freude schaffen, die es nur vollbring, weil sie vollbracht werden
müssen. Wird das nicht immer so sem? — Spki«cer sagt: „Nein,
sondern die notwendigen Tätigkeiten werden mit der Zeit angenehm
werden; unter dieser Bedingung nur haben sich die Organismen
bisher entwickelt, und unter dieser Bedingung nur können sie sich
weiter entwickeln. '^ Angenehm werden Täti^eiten nach Spkmcers
Aosicht, wenn die zu ihnen gehörenden psychischen Vorgänge leicht
und ungehindert und vielseitig ablaufen können. Bedingung wiederum
dieses Ablaufs ist das Vorhandensein entsprechender Mervenverbin-
dun^en. Diese Ansicht ist sicherlich sehr einleuchtend; es läßt sich
auch sehr wohl begreifen, daß durch psj^chische Vorgänge strukturelle
Modifikationen des Nervensystems bewirkt und diese vererbt werden ;
auch das kann hier schließlich außer acht bleiben, ob und wie die
Umsetzung nervöser Energie in psychische Werte gedacht werden
soll, Spkxcer lehrt ja, daß dies unerkennbar sei. Gleichwohi wird
durch alles dies die Lehre von der vollkommenen Anpassung nicht
annehmbarer ^macht; denn erstens nur solche Tätigkeiten können
dauernde Modifikationen in den Nervenverbindungen bewirken, die
hänfig und während einer verhältnismäßig langen Zeit ausgeführt
w^dfn, alle seltneren und neuartigen vennögen es nicht; fetztere
sind aber gerade die sittlich wichtigen. Zweitens müssen mit dem
Wechsel der Existenzbedingungen fortwährend neuartige Handlungen
nötig und bereits gewohnte überflüssig werden, d. h. es muß ein
ständiges Bilden und Verfallen von Nervenverbindun^en stattfinden.
Drittens bleiben Handlungen nur bis zu einem gewissen Grade der
Häufigkeit der Ausführung mit Gefühlswerten verbunden, nimmt die
BÜlufigkeit der Ausführung über diesen Grad hinaus zu, so wird die
Handlung automatisch und verliert an Gefühlswert. Damit hän^t
viertens endlich zusammen, daß ein Leben mit vornehmlich einseitig
getontem und besonders mit vornehmlich angenehm getontem Gefühls-
fehalt die Gefühlsfähigkeit und damit die geistige Kraft der Mensch-
eit überhaupt degenerieren muß; denn eine der wichtigsten Be-
dmgungen starker Gefühlswirkung ist der Kontrast der Gefühle.
j) Vom psychologischen Standpunkt aus.
Wie ein Überlesen des Inhaltes des psycholo^chen Kapitels
ohne weiteres schon sehen läßt, enthält es vornehmlich Erörterungen
über den relativ ethischen Zustand, während das biologische besonders
dem absolut ethischen gewidmet war. Leicht wird man auch er-
kennen, daß das psychologische Kapitel die Fortsetzung des biologischen
ist; im allgememen wie im besonderen, im allgemeinen, indem im
absolut ethischen Zustand alles von biologischen Gesichtspunkten
aus zu beurteilen sein wird, auch das, was jetzt noch eine speziell
psychologische Betrachtung notwendig macht, im besonderen, indem
SrexcER im biologischen Kapitel unumwunden zubegeben hat, daß
die Leitung des Handelns durch den G^nuß, die nedonistische, wie
SiDGwicK e>, im relativ ethischen Zustand vielfach nicht vorteilhaft
f flr den Organismus ausfällt, d. h. daß hier eine besondere Modifikation
VierteljabrflBolurtft f.wissenschaftl.Philos. u.Soziol. XXXII. 1. 4
50 H. K. Schwarze:
des hedomatiBchen Leituxigsprixizips nötig sei. Die Psychologie lHJßt
ihn diese finden in der Kontrolle der spä,ter entwickelten, kon;L-
pUzierten, repräsentativen Grefühle über die früher entwickelten, ein-
fachen, präsentativen, im besonderen im Gewissen. Spencer meint,
daß die Überordnimg der ersteren über die letzteren ihren Grund
darin habe, dafi die ersteren eine bessere Erhaltung und Förderung
des Lebens bedingten als die letzteren. Der Beweis ist sehr über-
zeugend geführt und die Beispiele treffend gewählt, aber doch muß
die Xiehre als eine Ansicht bezeichnet werden, die durch ebenso gute
gegenteilige Beispiele widerlegt werden kann, Beispiele, in denen das
Verhältnis der Überordnung gerade umgekehrt ist, und die da zeigeuj
daß nicht in erster Linie der Grad der Kompliziertheit, die Zeit der
Entwicklung und der Grad der Eepräsentativität maßgebend sind,
sondern die Litensität der Gefühle und ihre Beziehung zum Charakter
des Handelnden. Auch die Behauptung, daß die moralischen Ge-
fühle als die am spätesten entwickelten &n repräsentativen, Charakter
am stärksten zeigen, findet Widerspruch. So weist Sumiwick daorauf
hin, daß die rehgiösen Gefühle z. B. weit mehr repräsentativ sind
als die echt moralischen^).
Der Leser der Principlea of Ethics erwartet, daß Spencer hier
eine genane psychologische Analyse des einer Handlung voraus-
gehenden psychischen Prozesses geben werde, um auf sie eine psycholo-
fische Feststellung des Wesens und Zieles des Sittlichen zu grüi^den.
edoch die Erwartung wird auch hier enttäuscht. Spencer setzt ja
zur Analyse an, aber er geht über das Allgemeixiste nicht hinaus,
sondern schwenkt sofort um in eine Darstellung der Entwicklung
der beiden Grundelemente, des gefühlsseitigen und des intellkuellen,
zu immer höherer Kompliziertheit. So tut er hier und auch ander-
wärts, indem ihn da immer das Bestreben hindert, die Analogie mit
dem allgemein tierischen Handeln nicht zu erschweren, eine ebenso
kuriose wie bedauerliche Tatsache. Jedoch für das Wesentliche einer
Handlung, den Willensvorgang, ist das psychologische Kapitel von
größerer Wichtigkeit, als es scheint; denn es enthält im allgemeinen
ein starkes Zugeständnis an die Betonung des Willens in der Ethik.
Denn was ist die gegenseitige Kontrolle der Gefühle anderes als eben
die Voraussetzung des Willens? und die Überordnung der höheren
Gefühle über die niederen anderes als die vornehmste Ersohei-
nong des Willens? — Daß dies in Spencers Ausflüirungen nicht
ohne weiteres erkannt wird, liegt daran, daß ina^ es nicht bei
ihm vermutet, sodann auch an der entwicklunsstheoVetischen Ein-
kleidung und endlich, weil er von vornherein eine scharfe Polemik gegen
die Überschätzung des Prinzips der Überordnung betreibt. Aber doch
ist das Kapitel, wenn^s auch Spencer sicherlicn nicht beabsichtig
eine Anerkennung wenigstens der Willenssuprematie. Denn ein
Gefühl kann nie ohne weiteres oder automatisch ein anderes kon-
trollieren ; es ist dazu, wie auch Spencer betont, immer der Schauplatz des
Bewußtseins nötig, d. h. aber, der Wille tritt in Aktion. Zugleich
gewinnt damit der ganze seelische Habitus des Subjekts, im besoimeren
er Charakter, ausschlaggebenden Einiluß, und die gegenseitige Kon-
trolle ist nicht mehr bloß ein Messen nach ihrer Kompliziertheit und
Bepräsentativität, auch nicht nach ihrem Lebenswerte, sondern vor
allem eine Sphäre des Charaktereinflusses, weicher Einfluß auch die
Art des Willens und Handelns zu allererst bestim^it.
^) SiDGwicK, Lectures, p. 17i.
Die Ethik Herbert Spencers. 51
Die Fol^xuns hieraus ist, daß der Charakter die besondere Auf >
merksamkeit des JMvalphilosophen verdient. Spsmcbs zieht sie jedoch
nicht» hier nichit und anderwärta nicht. Hier ist ihm yiebnehr daran
eelegen, die seiner Definition des Sittlichen widersprechenden, von
üun als Nachwirkungen des Asketizismus aufgefaßten allgemeiinen
Ansichten Hber den Wert von Leiden und Freude» zu beseitigen,
daß nämlich körperliche und naheliegende Freuden zu genießen böse,
Leiden zu ertragen inunor ^ut sei. Er meint, diese Auffassung habe
neben dev schon im biologischen Kapitel erwähnten häufigen Erfärung
von der Schädlichkeit cLec Freuden und Nützlichkeit der Leiden vor
allem das Mißverständnis des Prinzips der Unterordnung der a^ter
entwickelten, komplizierten, repräsentativen unter die gegenteiligen
zum Grunde. Um diese Auffassimg zu entkräften, weißt er die Not-
wenigkeit der Einschränkung des JPrinzips der Unterordnung nach.
Was er sagt, ist vollständig zutreffend. Aber die Wichtigkeit seüier
Ausführungen für die Festigung seiner Definition des Sittlichen ist
nicht einzusehen. Daß die getadelten Auffassungen des Wertes von Leid
und Freude falsch sind^ beweist noch nicht, daß seine Definition richtig
ist. Das Ganze macht vielmehr den Eindruck, als ob er gegen einen Stroh*
mann käin|^£e, gegen ein selbstgemachtes Gespenst ; denn keinem ver-
nünftigen Üenschen wird es heutzutage einfallen , die mittelalterlich
asketische Lehre zu predigen, daß Freu(fo zu genießen böse seL Es wäre
verständlicher und verdienstlicher gewesen., wenn Spencbb das gregen-
teilige Ibctrem, daß nämlich Freuden zu gemessen gut an sich, Leiden zu
ertragen ah&r böse sei, statt es zu predigen, energisch bekämpft hätte.
Daß er den stark erzieherischen Zweck und den immens erziehlichen
Wert der getadelten Lehren mit keinem Worte streift, darf man ihm nicht
verdenken; er hätte ihn zugeben und damit seine eigene Auffassung
diskretitieren müssen. Untersucht man diese aber in dieser Beziehung,
so wird man nicht anders können, als nur Befürchtungen hegen für den
Fall einer allgemeinen Befolgung. Alle Perioden der Geschichte, in
denen der Genuß als oberstes Prinzip des Handelns herrschte, zeigen
sittlicheDeg^neration und Verkommenheit, körperliche Verweichlichung
und geistig Schwäche. Sollte eine mehrtausendjährige Erfahrung in
dieser Begehung nicht höhere Beweiskraft besitzen als die auch noch
so scharfsinnigen gegenteiligen Ergebnisse des Denkens eines einzelnen?
— Es beel^eht übrigens ein gewisser Widerspruch zwischen dem eben
erörterten Teile &s psychologischen Kapitels und dem folgenden.
Bisher hat sich Spsiicsb besonders angelegen sein lassen, die unein-
geschränkte Überordnung der später entwickelten, komplizierten,
repräsentativen Gefühle über die früher entwickelten, einfachen,
präsentativen, kurz der höheren über die niederen zurückzuweisen,
im folgenden, in der Erörterung über das Gewissen, wird er nicht
müde, gerade den moralischen Gefühlen den Charakter der Kompliziert-
heit der späteren Entwicklung und der größten Repräsentativität
zozoschreiben und darin die Erklärung und die Notwendigkeit zu
finden für ihre uneingeschränkte Überordnung über alle anderen
Gefohle. Spkncsbt muß diesen Widerspruch selbst bemerkt haben;
denn in. der Zusammenfassung am Schlüsse des Kapitels läßt er den
ersten Teil, die Einschränkung der Überordnung, ganz unberück-
sichtigt. Da dieser Teil die direkte Fortsetzung und Konsequenz aus
dem biolologischen Kapitel ist, so ist der Widerspruch bedeutun^-
voller, als er im ersten Augenblicke scheint. Was das Nebenem-
ander beider Teile stört, ist, daß der erste wesentlieh vom Stand-
punkte konstruierender Reflexionsbiologie, der zweite, wenn auch
52 S« K. Schwarze:
nicht durchaus, so doch in der Hauptsache von dem psycholo^cher Tat-
sächlichkeit geschrieben ist. Daher deckt sich die biologische I)efimtion :
sittlich gleich normal gleich erfri^uend, die für den r^ativ ethischen
Zustand die Einschränkunkung des oben genannten Prinzips der Üb^r-
Ordnung der höheren über die niederen Gefühle verlang nicht mit
der aus der Betrachtung des moralisdien Bewußtsems oder de»
Gewissens hervorsehenden, die diese Einschränkung nicht kennt, ia^
der sie widerspricht. Und wenn Spbnceb am Schlüsse doch noch die
Koneruenz zustande bringt, so kann er es nur mittels der Hypotiiese^
daß das moralische und das natürliche Handeln ein und dasselbe sein
werden. Damit aber versagt das Kapitel für seinen Zweck, nämlich
in Ergänzung des biologischen Kapitels ein eindeutiges sicheres
Leitungsprinzip für den relativ ethischen Zustand aufzustellen. Es
kommt nicht über eine empirische Abschätzung der Folgen des
Handelns hinaus und leistet so, wie auch das biologische iCapitel»
nichts zur Verwirklichung der deduktiven Ethik ^).
Was die Grewissenstheorie Spencers betrifft, so legt sie einen Ver-
gleich mit der Wumdts nahe. Die Analyse des Gewissens läßt zu-
nächst deutlich seine Beziehung zum geistigen Geschehen im all-
femeinen erkennen, nämlich seine Zugehörigkeit zum Gefühlsverlauf
zw. zum Willen. Sodann nennt Spencer als das eine und wesent-
lichste Moment die Kontrolle eines oder mehrerer Gefühle über ein
anderes oder mehrere andere, d. i. die moralische Selbstbeschränkung;
WuNDT sagt Ähnliches: „Das Gewissen kann nur beruhen auf dem
Verhältnis verschiedener Motive zueinander."') Als das andere
Moment nennt Spencer das Gefühl der Verpflichtune, d. i. der autori-
tativen Geltung und des Zwanges; Wundt sagt: das Moment „der
imperativen Motive"**). Etwas gesucht erscheint hier bei Spencer die
Zerlegung des Pflichtgefühls in ein Moment der autoritativen Geltung
und ems des Zwanges. Sollten die beiden Momente nicht vielmehr
identisch sein und eins das andere umfassen?
Eine andere wichtige Seite der SpENCERSchen Gewissentheorie ist^
daß er in der Frage der Entstehung des Gewissens über den empiri-
schen Utilitarismus hinausgeht, indem er nicht die Erkenntnis der
Nützlichkeit, also eine verhältnismäßig späte Entwicklungsstufe
psychischen Lebens, maßgebend sein läßt, sondern vielmehr dem Ge-
wissen eine stetige Entwicklung von den Anfängen seelischer Tätig-
keit an zuschreibt. Freilich bezüglich der Frage nach den Entwick-
lungsbedingungen marschiert er doch mit dem empirischen Utilitaris-
mus in derselben falschen Front. Die Bedingung ist ihm von Anfang
an das Gefühl der Lust und später dazu noch die Erkenntnis des
Nutzens, und zwar auf dem ursprünglich einzigen, im Laufe der
sozialen Entwicklung aber sich vierfach differenzierenden Zweckgebiete
der Lebenserhaltung. Diese Auffassung muß zurückgewiesen werden.
Ebenso wie das Sittliche nicht identisch ist mit dem Passenden oder
Nützlichen, ist auch das moralische Bewußtsein nicht in dem Gefühle
bzw. der Erkenntnis des Nutzens begründet. Wie könnte es sonst
ein so souveränes Erinzip sein, an sich unabhängig von der Qualität
der Gefühle und überall mit seinen Boten, den Affekten der Billigung
und Mißbilligung da hervortretend, wo sich das Bewußtsein mit der
Beziehung von Motiven und Effekten des Handelns zum Charakter
') Vgl. hierzu Sidgwick, Lectures, p. 174.
2} Wundt, Ethik II, S. 91.
») Wundt, ebenda S. 98.
Die Ethik Herbert Spencers. 53
des handelnden Subiekts befaßt? Es wird hier das Ergebnis vorzn-
nehen sein, zu dem Wundt kommt, nämlich „daß sich als ursprüng-
lichste AnlaMn der tatsächlichen Entwicklim^ des sittlichen Bewußt-
seins Gefühle und Triebe ergeben, die an sich nicht sittlicher Art
sind, aber durch ihre Verbindung und Wechselwirkung: sittliche Motive
hervorbringen^.^) Von diesem Standpunkte aus erscheint auch die Tat-
sache, daß dfe moralische, von allen Formen der Selbstbeschränkung,
weil sie auf dem Bewußtsein der inneren Folgen des Handelns beruht,
zuletzt zur Entwicklung kommt, besser gestützt als von dem des
Utiiltarismus aus. Müßte man, wenn das Bewußtsein des Nutzens
für die Entonricklung des Gewissens maßgebend wäre, nicht gerade, da
die inneren Folgen konsequenter und Gestimmter eintreten als die
äusseren und besonders bei so ausg^biger Anwendung der Vererbungs-
hjpothese, ivie Spencer sie hat, das G-egenteil annehmen oder wenigstens
eme gleichzeitige Entwicklung aller vier Formen der SelbstbesSirän-
kung. der religiösen, politischen, sozialen und moralischen?
Spkxcrrs Gewissenstheorie berührt auch in dem Punkte sym-
Satiscb, daß sie entschieden die Annahme des Intuitionismus ^), nämlich
ie eines ursprünglichen und angeborenen sittlichen Bewußtseins oder
moralischen Sinnes ausschließt. Er behauptet und beweißt vielmehr,
wie schon erwähnt, die allmähliche Entwicklung und den fortgesetzten
Wandel des Gewissens. Er tut dies besonders und ausführlich in
seinen Inductions of Ethics. Es ist hier die rechte Stelle, darauf kurz
einzugehen. Spencer sa^ : Es gibt keinen ursprünglichen moralischen,
Sinn, sondern die in einer Gesellschaft herrschenden ethischen An-
9chauunungen sind bestimmt durch die örtlichen Verhältnisse und
besonders durch die in der Gresellschaft vorherrschenden Formen der
Tätigkeitsäußerung, kurz sie sind lediglich „Verallgemeinerungen des
Passenden.*'') Es ist darüber nichts rTeues zu sagen. Der negative
T^ dieses Satzes enthält eine mehr und mehr aUgemein werdende
Ansicht; der positive dagegen ist der nackte Utilitarismus, dessen
sachliche Unzulänglichkeit und moralische Minderwertigkeit schon
mehrfach erörtert sind. Sicherlich sind alle die genannten Faktoren
wichtig für die Entwicklung der ethischen Anschauungen, aber ebenso
sicherlich ist auch die sich schon sehr frühe äußernde metaphysische
und ästhetische Neigung des menschlichen Geistes und der Schatz
seiner Erzeugnisse dazu wichtig und darin der ebensosehr wie in dem
Charakter des Passenden begründete enge Zusammenhang des Sitt-
lichen mit der Sitte und dem Religiösen; der Schatz der geistigen
Erzeugnisse einer Gesellschaft und nicht nur einer, sondern aller ist
eine Macht, die der der natürlichen Verhältnisse an Größe nnd Ein-
fluß nicht nachsteht, ja, sie ganz auszuscheiden vermag. «
Eine der wichtigsten Folgen der Entwicklung des Gewissens ist
die, daß das Gefühl der Verpflichtung in dem Maße abnehmen und
einem Gefühl der Spotaneität Platz machen muß, als die Sittlichkeit
zunimmt. Diese Folgerung tritt in der Tat hervor und wird auch
von Spexceb erkannt und gewürdigt. Sie liefert ihm den spycholo-
gischen Grund zu seiner absolut ethischen Identifikation von sittlich
J) Wundt, Ethik II, S. 98.
') Anfänglich war Spencer selbst ein Anhänger des Intuitionismus,
wie die erste Ausgabe der Social Statics (1851) beweist, und wie er
auch selbst sagt in Pr. of E. I, 470.
«) Vgl. Programm der synthetischen Philosophie, abgedruckt in
First Principles S. XIII.
54 H. E. Schwarze:
und natürlich. Nun ist jedoch zwischen natürlichem und sittlich
freiem Handeln sicherlich ein eroßer Unterschied; während das letztere
eine immens intensiv psychiscäe Leistung hedeutet, nähert sicherstere
der Befleztätigkeit.
So läuft schließlich der Schlufi dieses Kapitels darauf hinaus,
daß, obwohl das psychologische Prinzip der Kontrolle der höheren
Gefühle über die niederen höher steht als das biologische der Normale,
es doch im absolut ethischen Zustand diesem letzteren nachstehen
muß, d. h. daß das absolut ethische Handeln, d. i. das höchstent-
wickelte, unter der ausschließlichen Leitung eines (geringerwertigen
Prinzips stehen wird als das relativ ethische. Das ist sicherlich ein
Widersinn ').
S) Vom soziologischen Standpunkte aus.
Die bisherigen Erörterungen vom Standpunkte der grundlesenden
Einzelwissenschaften haben die ursprüngliche Definition von Wesen
und Ziel des Sittlichen nicht zu festigen vermocht. Was leistet nun
das soziologische Kapitel diesem Zweck? Man erhält von vornherein
volle Klarheit durch die Lehre Spencers, daß das Gesellschaftaleben
nur als ein Mittel zu Erhaltune der Einheiten ins Dasein getreten
sei und darum die individuelle Wohlfahrt ihr letzter Endzweck sein
müsse. Es zeigt sich hierin wiederum der einseitig reflexiv-utiHta-
ristische Standpunkt, der im Grunde die Fol^e als Voraussetzung
der Bedingung proklamiert ; nach Spenckbs Ansicnt ist man gezwungen
anzunehmen, daß die Erfahrung des Nutzens der Gesellschaft für die
individuelle Wohlfahrt ihrem Bestehen vorausgegangen sei. Auch
wenn diese Erfahrung nur vorübergehenden oder zufälligen Zusammen-
schlüssen entstammte, so würde doch die Möglichkeit solchen Zustande-
kommens noch eine Erklärung erheischen, £e Spencers Lehre nicht zu
geben vermag. Sie liegt aber darin, daß ein Zusammenleben von Anfang
an und ein daraus hervorgehender Geselligkeitstrieb angenommen
wenden muß von ähnlicher Ursprünglichkeit wie der Nahrungstrieb ^);
^) Das rügt auch Barth, wenn er sagt: unhaltbar scheint mir
die Parallele, die Spencer unter dem ^ psychologischen Standpunkt^
zieht. Denn wenn wir im Tierfeich und vom Tiere zum Menschen
übergehend eine stetig wachsende Komplikation der Motive, eine
immer größere Entfernung vom unmittelbaren sinnlichen Beiz an-
nehmen, und zwar parallel gehend mit der in der Tierreihe doch zur
Geltung kommenden höheren Anpassung, wie soll da der Mensch,
das höchstangepaßte Wesen, zu der Einfachheit der Handlung zurück-
kehren, die einer eindeutig bestimmten Reflexbewegung ähnlich sieht?
Es wäre dies eine sonst beispiellose Kückkehr zum ersten Anfang.
So hat Spencer in seiner Vorliebe für die Natur mehreres in sie
hineingelegt, was nicht in ihr ist, dessen er nur für sein moralisches
Ziel zu bedürfen glaubte. (Philosophie der Geschichte als Soziologie,
S. 123 f.)
*) Auf Grund von Rolphs Emährungstheorie (vgl. „Biologische
Probleme" S. 55—71) ergibt sich leicht eine einfache Erklärung des
Ursprungs gesellschaftlichen Zusammenlebens. Danach kann die
Reflexion über die Erfahrung des Nutzens als letzter Grund gar nicht
in Frage kommen, aber wom die ursprüngliche Gunst der Existenz-
bedingungen, z. B. NahrungsübeHluß. Diese hat, wie sie auch heute
noch tut, die Menschen an bestimmten Stellen beisammengehalten.
Die Ethik Herbert Spencers. 55
denn irgends und auch nicht auf der niedrigsten Entwicklungstufe
lebt der Mensch ungesellig.
Wird aber diese Grundanschauung abgelehnt, so folgt daraus
auch die Unannehmbarkeit der Folgerungen, die Spencer aus ihr zieht,
zunächst der, daß die Erhaltung der GesellschidEt nur nächster Zweck,
d. h. nur Mittel zum Endzweck, nähmlich der individuellen Wohlfahrt
sei Sicherlich ist die Gesellschaftserhaltnn^ nicht ein Selbstzweck,
aber ebenso sicherlich ist sie auch nicht m erster Linie oder gar
ausschließlich Mittel zur individuelten Wohlfahrt. Denn ist die Gesell-
schaft in ihrem Ursprung eine yon inyidueUen Entschließungen un-
abh&njKiee Existenz ,80 ist auch klar, daß ihre Betätigungsgebiete
nicht lediglich nach inviduellen Zwecken bestimmt sein können; sie
muß überindiyiduelle Zwecke habeU. Das ist in der Tat der Fall : die
geistigen Erzeugnisse sind solche überindividuelle Zwecke. In ihrer
Gesamtheit bilden sie einen kontinuierlichen Strom durch alle Zeiten.
Wie Geschlechter kommen und gehen, arbeiten sie an seiner Tiefe
und Breite, und er tränkt sie und trägt sie fort zu den Gefilden
größerer geistiger Freiheit. Indem aber der Einzelmensch seinem
&nfluß unterliegt, und je mehr er ihm unterliegt, wird er ein Indi-
viduum, d. i. ein selbständiges Einzelwesen. Für einen großen Teil seines
Lebens ist er's nicht erst von dem Punkte an, wo er selbst schaffend an
den Webstuhl seiner Zeit trist, ist er ein Individuum zu nennen. Für alle
anderen Glieder der Gesellschaft, die diese Aufgabe nicht erfaßt, ist
der Begriff Individuum eine bloße Abstraktion. Für sie, die Drohnen
der G-esellschaft , ist dann allerdings auch der Effekt des sozialen
Lebens schießlich der, den Spencer im Sinne hat, nämlich individuelle
Wohlfahrt, und dieser Effekt darf, ja soll eintreten, aber er soll nicht
der einzige und höchste, nicht „der'' soziale Endzweck sein. Dieser
besteht vielmehr darin, daß die Gesellschaft ihre Glieder zu Indivi-
duen ersieht und ihre Kräfie hinlenkt auf die großen allgemein
menschlichen und idealen Ziele der Wahrheit, d. i. der Befreiung des
Geistee, so hinlenkt, daß Wohlfahrt und Leben nicht mehr als der
Güter höchste betrachtet werden.
Yon diesem Standpunkte aus muß auch abgelehnt werden, von
einem Gegensatz zwischen' Gesellschaft und Individuum zu reden,
sondern Gesellschaft und Individuum sind Korrelate, die einander
gegenseitig bedingen; das primäre aber ist die Gesellschaft, unzweifel-
haft bei zivilisierten, sicherlich auch bei unzivilisierten Menschen, und
die höchsten Formen von Individualität müssen gefunden werden
in den Größten der Gesellschaft, den Genies des Geistes, nicht in dem
Sinne, daß diese eine von der Gesellschaft möglicherweise gesonderte
Eidstenz bedeuten, sondern in dem, daß sie eine Zusammenfassung,
gewissermaßen die Ausgeburt gesell schafÜichen Zielbewußtseins oder
auch nur nur einiger Züee siiid, daß sie das Wesen der Gesellschaft
in sich spiegeln, einheitlich überdenken und erkennen und durch diese
Erkenntnis die Führer der Gesellschaft zum Fortschritt werden.
Sodann ist auch die Folgerung Spencers zurückzuweisen, daß,
solange eine Gesellschaft in ihrer Existenz bedroht ist, d. h. solange
es sidi bekämpfende Gesellschaften gibt, die Aufrechterhaltung der
Es haben sich die Empfindungen mit ihren Ausdrucksbewegungen
und Ausdrucksklän^en dzw. Worten entwickelt, die in Verbmdung
mit anderen Gref ühlen und £}mpf indungen , * im besonderen von den
auf Fortpflanzung bezüglichen, dem Menschen das Zusammenleben
mit seines Gleichen zur gewohnheit bzw. Notwendigkeit machten.
56 S* ^* Schwarze:
Gesellschaft der individuellen Selbsterhaltung übergeordnet sein müsse,
daß aber, wenn diese Bedrohung aufgehört habe, die individuelle
Wohlfahrt oberstes Ziel der Gesellschaft sein müsse. Im Hinblick
auf das eben Gesagte muß behauptet werden, daß die Erhaltung und
Förderung der Gesellschaft als der dem Einzelwesen übergeordneten
Existenz dauernd oberstes Ziel der Gesellschaften wie der Individuen
sein muß. Es ist interessant, hier die Faktoren der Zerstörung ge-
sellschaftlichen Lebens kennen zu lernen. Das negierende Individuum
gehört nicht zu ihnen, nur eine Gesellschaft kann eine andere ver-
nichten. Es tritt hier derselbe Mangel hervor, der schon bei der
ersten Folgerung sich geltend gemacht hat, nämlich die Unter-
Schätzung der fSirenden Geister. Auch dem Untergang ent^e^en
fibt^s fü&ende Geister, und daß einzelne Menschen wie Exankneits-
eime schließlich einen ganzen gesellschaftlichen Organismus ver-
nichten können, ist eine Gassenweisheit. Die Gegensätze zwischen
zwei verschiedenen Gresellschaften sind dem Wesen nach genau das-
selbe wie die Gegensätze innerhalb einer Gesellschaft, nur graduell
verschieden. Aus dem Prinzip der Heterogonie der Zwecke und dem
der Kontrastwirkung folgt, daß diese Gegensätze sowohl der einen
wie der anderen Art nie aufhören werden, und man muß hinzufügen,
nie aufhören dürfen; denn mit dem Verschwinden der Gregensätze
müßte der wirksamste Antrieb zur Höherentwicklung verschwinden,
und statt einer Weiterentwicklung oder auch nur emes Stillstandes
der Entwicklung würde Bückentwicklung eintreten. Immerhin ist
Spencer scharfsichtig genug, um zu sehen, daß die Gesellsohafts-
erhaltimg bis auf weiteres der individuellen Selbsterhaltung über-
geordnet sein muß. Da der von ihm prophezeite Zustand nie ein-
treten wird, so heißt das in praxi, die Uberordnung muß immer
bleiben.
Übrigens ist hier Spencer in dem Hinweis auf die soziologische
Notwendigkeit des Verschwindens des Krieges bei seinem Lieblings-
thema angelangt, das zu erörtern er stets bereit ist und nie müde
wird, in Befolgung der psychologisch wohl begründeten Taktik, daß
das, was oft gesagt wird, schließlich Glauben findet.
Endlich kann auch die soziologische Definition des vollkommenen
Lebens in Konseauenz des die fundamentale Behauptung ablehnenden
Standpunktes nicnt ohne Widerspruch hingenommen werden. Das
vollkommene Leben kann soziologisch nicmt definiert werden als
harmonisches Zusammenwirken im Streben nach individueller Selbst-
erhaltung, sondern muß definiert werden als harmonisches Zusammen-
wirken im Streben nach Gesellschaftserhaltung und -f örderung. Denn
die Auffassung kann nicht aufgegeben werden, daß die Gesellschaft
eine höhere Form des Lebens repräsentiert als das Einzelwesen, was
ja auch im Sinne der SpENCEuschen Entwicklungsformel ist und außer
m dem schon Erwähnten sich besonders darin deutlich zeigt, daß die
Gesellschaft nicht restlos in ihre Glieder zerlegbar ist und umgekehrt
eine Vielheit von Einzelmenschen nicht ohne weiteres eine Greseilschaft
bildet. Besteht aber diese Überordnung der Ges^lschaft über das
Individuum im relativ ethischen Zustand, wieviel mehr müßte sie
bestehen im absolut ethischen.
Bückhaltlose Zustimmung aber verdient, was Spnncer als Be-
dingungen des harmonischen Zusammenwirkens nennt. In der Tat
sind dies Gerechtigkeit und Wohltätigkeit. Daß freilich jemals die
absolute Ethik in oezug auf sie wirklich werden könnte, muß auch
hier bezweifelt werden; um vollkommene Harmonie im Zusammen-
Die Ethik Herbert Spencers. 57
wirken^ zu erzeusen, ist yoUkominene Gerechtigkeit nötig ; wann aber
wird die Menadmeit und jeder einzelne Mensch zu vollkommener Ge-
rechtigkeit fähig sein? sicherlich nie, wenn sich nicht die geistige
Kapazität zur Unendlichkeit steigert.
Seine sehr eingehenden Ansführungen über die genannten Be-
dingungen hier undlbeeonders in der Ethä: des sozialen lieben machen
es Yerat&ndüch , wenn sich Spencebs Ethik in vielen Beziehungen der
Sympathie der Sozialdemoloratie erfreut. Sein soziologisches Ideal,
Hervorbringung und Verteilung der Güter und andere Tätigkeiten in
solcher Art und in solchem Grade, daß jeder einzelne darin einen
Platz für alle seine Kräfte und Fähigkeiten findet, während er zu-
gleich die Mittel zur Befriedigung aUer seiner Bedürfnisse erlangt,
ist sicherlich ein sehr anerkennenswertes Ideal, aber dadurch, dafi
Sfescer seine endliche und vollkommene Verwirklichung predigt, wird
es ZOT Utopie, von der sich das sozialdemokratische Ziel, wenn es
gereini^ wird von allen Auswüchsen, im wesentlichen nur darin
unterscheidet, dafi es doppelt utopistisch ist, wenn man so sagen darf,
indem es näxnlich als in absehbarer Zeit erreichbar hinbestellt wird.
Jedoch ist dieses wirtschaftliche Ideal noch nicht Spencers
höchstes. Die besondere Betonung und Hervorhebung des ästhetischen
Bedürfnisses muß zu einem noch höheren Glück führen. Es ist
äußerst interessant, daß Spencer noch zu dieser Konzeption des
Ideals durchdringt, wenn*s auch ziemlich spät, etwas unvermittelt
und weniß nachdrücklich geschieht. Wenn irgend etwas in der Welt
übttindividuell ist, so ist es die Kunst. In der Betonung der künst-
lerischen Betätigung für den höchsten Zustand der menscnlichen Ent-
wicklung liegt darum in gewissen Beziehungen ein Verzicht auf den
Individualisnius.
c) Egoismus und Altruismus.
Es bleibt nun noch eine der wichti^ten prinzipiellen Fragen zu
erörtern, nämlich, ob das Handeln egoistisch oder altruistisch sein
soU. Man wird nicht erwarten dürfen, daß Spencer als ütilitarist
bzw. Hedonist und mit dementsprechend gefärbter Auffassung des
Wesens des Sittlichen sie end^ltig lösen werde.
Entsprechend seiner physiologischen Auffassung des psychischen
Greschehens, im besonderen seiner geringen Bewertung des Willens
sacht er zunächst die Begriffe Egoismus und Altruismus zu modifi-
zieren, und zwar zu erweitem, inoem er das Moment des Bewußtseins,
d. L des Willens, aus ihnen entfernt.
Er unternimmt die Erweiterung, um nachweisen zu können, daß
wie der Egoismus so auch der Altruismus eine dem ganzen Bereich
organischen Lebens gemeinsame Erscheinung sei, indem nun auch
z.B. der Akt der Zeugung und Geburt von Nachkommen zum
Altruismus gehört, und weiter, um seine Lehre von der endlich voll-
ständigen Versöhnung altruistischer und egoistischer Interessen
biogenetisch stützen zu können. '
Es ist jedoch hierzu zu sagen, daß diese rein physikalische oder
biologische Auffa^ung von Egoismus und Altruismus als Gewinn
bzw. Verlast von Körpersubstanz auf Kosten bzw. zugunsten anderer
nicht auch die sittliche ist und sein kann. Die sittliche Betrachtung
des Handelns muß an dem Moment des Bewußtseins oder der Wahl-
^iheit festhalten für alle ihre Erscheinungen. Unbewußter mensch-
licher Egoismus und Altruismus unterliegen darum nicht ihrem Urteil,
58 H. K. Schwarze:
sondern nur ihrer Belehninffi d. h. also zun&chst der Umwandlung
in die bewußten Formen una danach erst der sittlichen Beurteilung,
wie die Ethik at^ch von sittlichen Gewohnheiten verlangt, daß sie
auf bewußten Entscheidungen beruhen und niemals so automatisch
werden, daß sie sich dem verändernden Einfluß neuer Entscheidungen
entziehen. Daß organische Funktionen nicht egoistisch oder altruistisch
genannt werden können, ist evident, also auch nicht Zeugung und
Geburt von Nachkommen, wenigstens nicht ohne weiteres^). Mit
seiner Erweiterung beraubt Spemckr die beiden Begriffe Egoismus und
Altruismus gerade des für die sittliche Beurteilung notwendigsten
Momente. Da sie aber auf der Vermengung von Zweck und iSfekt
des Handelns beruht, muß sie zurückgewiesen werden. Übrigens
besitzt die Fra&^ Egoismus — Altruismus für den Utilitarismus die
bei weitem gröute Bedeutung von allen ethischen Systemen.
Spenckr entscheidet sich für einen Kompromiß zwischen. beiden
Handlungsweisen, weist aber dem Egoismus die führende Rolle zu.
Zum Kompromiß drängt ihn sein Evolutionismus ebensosehr wie
sein Hedomsmus, da die egoistische wie die altruistische Handlungs-
weise für die Entwicklung des Lebens und für die Verwirklichung
des Glücksziels sich als gleich wichtig oder als fast gleich wichtig
enthüllen. Spemcer geht also einen Mittelweg und hält sich so fern
von jenem Radikalismus, der in bezug auf den Egoismus für die
darwmistischen Ethiker eine naheliegende Gefahr ist. Ganz kann er
freilich doch auch den von der biologischen Betrachtung des Sitt-
lichen herrührenden Zug zum Egoismus nicht verleugnen; darum:
Der Egoismus muß in dem Kompromiß als „hervorgehoben'' be-
trachtet werden. Infolgedessen verwirf t er den sozialen Eudämonismus
Benthams und Mills, die bei dem Prinzip der Maximation des Glücks
das allgemeine Glück als das oberste Strebeziel hinstellen. Er be-
merkt dazu sehr treffend, daß, da jedes Individuum seines Glückes
Schmied am besten selbst ist, das größtmögliche allgemeine Glück
auch nur dadurch erreicht werden kann, daß jeder einzelne in erster
Linie sein eigenes Glück erstrebt.
Allein diese Betonung des Egoismus muß bedenklich erscheinen
in bezug auf die wichtige Aufgabe der Ethik, nämlich die, dem
Menschen ein begeisterndes, höchstes Gut vorzustellen, das nachhaltig
und intensiv als Motiv auf sein Handeln zu wirken vermag; denn es
liegt im Wesen des Egoismus, überall wo er das Obergewicht über
den Altruismus besitzt, die Gesellschaft in ihre Atome aufzulösen.
„Eine Summe individuell zersplitteter Glückseligkeiten, die dem
einzelnen Bewußtsein immer als abstrakter Begriff gegeben ist'', kann
jedoch kein Gut sein, .für das sich ein mensäiliches Merz erwärmen
und das auf das menschliche Handeln als Motiv zu wirken vermöchte.'' *)
Sie kann auch nicht ein Zweck sein, „dessen objektiver Wert groß
genug ist, um das Opfer zu lohnen, daß die sittliche Norm verlangt".')
Es darf deswegen auch nicht die Selbsterhaltung als ein oberster
sittlicher Zweck gelten, wie Spencer meint, sondern sie muß der Art-
und Gesellschaftserhaltung untergeordnet sein, worauf auch das
Wesen des Sittlichen als einer Erscheinung des Lebens der Gesell-
schaft hinweist. Es ist das eben erwähnte Argument Wundts gegen
') Vgl. hierzu Rolph, Biol. Probleme, S. 41.
•) WUNDT, E. II, 24.
«) Ebenda S. 25.
Die Ethik Herbert Spencers. 59
den reinen fi^oismus, das auch hier gegenüber dem vorwiegenden
^^ismxLB gebraucht wurde, freilich fOr Sfenckb, der sich um das
Wülenfimoment des Handels wenig kümmert, kein allzu bedeutsames.
Ihm ist individuelles Glück das Hauptziel, und man darf sagen, daß
der Weg, den er mit seinem Krompromiß zei^, wohl dsJiin führen
mag, freilich nur auf Kosten seines anderen Zieles : der Vollkommen-
heit des Liebens; denn es ist klar, daß eine in lauter Individuen zer-
CTaltene Geeellschaft, die sich nicht als Ganzes fühlt und betätigt,
ihren Gliedern ein weniger vollkommenes Leben zu ^währen ver-
mag als eine Gesellschaft, die als unteilbares Ganzes em eigenes und
höheres Ijeben führt als die Einheiten und dadurch das Leben ihrer
Glieder beeinflußt.
Die Aufrechterhaltung eines Krompromisses kann jedoch nur
mit K^iuschten Gefühlen verbunden sein. Darum kann der Kompro-
miß lür den absolut ethischen Zustand, der ja den Schmerz als das
Böse negiert, nicht in Betracht kommen. Welches Verhältnis zwischen
E^ismus besteht für ihn ? Nun, der Kompriß wird verschwinden, nicht
objektiv, sondern subjektiv, nicht er selbst, aber das Bewußtsein von
ihm. „Es wird soweit kommen, sagt Spencer, daß die dem Egoismus
and dem Altruismus CLtspringenden Gefühle zu vollständiger Über-
einstimmung gelangen werden." Er kommt zu diesem Optimismus aus
der Betrachtung des Familienlebens. Wie hier eine vollständige Ver-
söhnung der altruistischen und egoistischen Interessen stattgefunden
hat, so wird sie auch zwisdien den Interessen der Individuen und
der Gesellschaft eintreten.
Zeigt das Familienleben nun wirklich* eine Versöhnung der
altruistischen und egoistischen Interessen oder ist es nicht viäunehr
die Herrschaft des Altruismus, die in ihm zur Geltung kommt ? Die
Erfahrung lehrt, daß das Familienleben um so höher steht, je höher
der Altruismus der Glieder entwickelt ist. Daß aber Altruismus in
der Familie zur Herrschaft gelangen kann, hat seinen Grund in den
äußerst mannigfachen und festen Grefühlsverbindungen zwischen den
GUedem, die einmal geradazu ursprünglich sind und zum andern
auf häufiger, zu genauer gegenseitiger (Erkenntnis und Wertung
führenden Reflexion oeruhen, welche Gefühlsverbindungen die Familien-
fUeder einander fast identisch machen. Mag dabei diese oder jene
.ußerung des Altruismus zur selbstverständlichen Gewohnheit werden,
er selbst bleibt durch den ständigen Wechsel der vorkommen den Gelegen-
heiten des Handelns vor dem Automatismus bewahrt. Auch im Ge-
sellschaftsleben ist das nicht anders.
Aus der Tatsache freilich, daß hier zwischen den Gliedern nie
so enge und feste Gefühlsverbindungen entstehen können als zwischen
den ^uniliengHedem, folgt unmittelbar, daß in ihm der Altruismus
nie jene Herrschaft erlangen kann wie im Familienleben. Aber doch
gibt es allgemeine, alle Glieder einer Gesellschaft betreffende Be-
ziehungen, die dem Altruismus wenigstens zum Übergewicht über
den Egoismus verhelfen können. Das sind die Bande der Nationalität,
der Geschichte und daraus resultierende gleiche Charakterzüge. Das sich
mit dem Schwinden der Verbrechen immer mehr steigernde Vertrauen
und die wachsende Bildung werden das ihre tun, die Glieder einer
Gesellschaft einander immer näher zu bringen. Und wenn selbst
Spcsckb jetzt vollkommen recht hat mit der bittereren Bemerkung,
daß der Kompromiß mit dem hervorgehobenen Egoismus durchaus
aach den wirklichen Ansichten der Menschheit entspricht im Gegen-
satz zu ihrem nominellen Glauben, der den Altruismus betont, so ist
60 H. K. Schwarze:
es doch wesentlich, daß wenigstens dieser nominelle Glaube besteht.
£s ist eine soziale, wenn aMcn nur proethische Schranke und damit
ein Zügel des Egoismus, ohne dessen gewaltigen Einfluß der egoistische
Immoralismus noch öfterer in abschrecken&ter Gestalt hervortreten
würde, als es so schon geschieht.
Wirklich vermag auch Spenceb die Versöhnung der altruistischen
und egoistischen Interessen im Gesellschaftsleben nicht anders begreif-
lich zu machen als durch Vermutungen, die er der Analogie mit dem
Familienleben entnimmt, trotz des von ihm wohl erkannten großen
Unterschiedes zwischen Familie und Gesellschaft. Er meint, daß alL-
mählich in bezug auf Altruismus Gewohnheiten sich ausbilden werden,
die die Notwendigkeit der bewußten Entscheidung zwischen beiden
auf ein Minimum beschränken würden. Daß jedoch das überaus
Wechselvolle in der Veranlassung des Handelns jemals durch bloße
Gewohnheiten und Instinkte wird bew<igt werden können, ist bei
der Steigerung der Komnliziertheit des Lebens eine unmöglidie
Annahme. Schon der bloße Gedanke ist Widersinn, daß neuartige
Handlungen sofort triebartig in vollkommener Weise sollen ausge-
führt werden können. Bei ihnen muß sich auch die bewußte Ent-
scheidung zwischen Egoismus und Altruismus mit allen damit ver-
knüpften psychischen Akten vollziehen. Sie sind ja eigentlich auch
nur die sittlich interessanten und für die Ethik maßgebenden. Wenn
also Spencer eine schließliche Versöhnung zwischen Egoismus imd
Altruismus, d. i. eine vollständige Kongruenz der den beiden Handlungs-
weisen entsprechenden Gefühle annimmt, so involviert diese Annahme
entweder eine allmähliche Stabilisierung der allgemein menschlichen
Lebensverhältnisse oder eine allmähliche Identinzierung von Selbst-
und Mitgefühl. Ersteres ist aber eine physikalische, letzteres eine
psychologische Unmöglichkeit. Darum kann es sich für die Zukunft
nicht um eine Versöhnung dei: beiden Handlungsweisen entsprechen-
den G^efühle handeln, sondern nur um die Herrschaft der einen über
die anderen. Da die des Egoismus über den Ultruismus die Mensch-
heit der Gefahr des Immoralismus aussetzt, so bleibt nur die des
Altruismus über den Egoismus erstrebenswert. Da sie, wie zugegeben
werden muß, der individuell menschlichen Natur weniger adäauat
ist als das umgekehrte Verhältnis, so erfordert sie einen starken
Willen, auch insofern ihren immens sittlichen Charakter und ihre
sittliche Wirkung erweisend. Das ist in der Tat auch die von den
meisten Moralisten aller Zeiten vertretene Entscheidung zwischen
Eeoismus und Altruismus, das ist schließlich in praxi auch die Ent-
scheidung Spencers, wie seine Ethik des sozialen Lebens zeigt.
Zu seiner Versöhnungstheorie haben ihn nicht zum wenigsten
seine Anschauungen über das Mitgefühl hingeführt. Er leitet das
Mitgefühl ab aus der Wahrnehmung der als Lust oder Unlust
fetonten Gefühle der Mitmenschen und läßt seine Entwicklung be-
ingt sein davon, daß es durchschnittlich einen Überschuß der Mit-
freuden über die Mitleiden vermittle in Analogie zur Entwicklung
der organisch funktionellen Fähigkeiten. Nun ist aber zweifellos der
Ursprung des Mitgefühls durchaus nicht in erster Linie bewirkt durch
das gesellschaftlicne Leben, sondern es beruht auf dem Bewußtsein
von oubiekt und Objekt überhaupt und ist eine direkte Wirkung des
psychiscnen Lebens der einzelnen Menschen; es ist „eine ursprüng-
liche Eigenschaft des menschlichen Gemüts" ; „bildet doch die Umgebung
einen unveräußerlichen Bestandteil des eigenen Bewußtseins, in
welchem jeder Vorstellung ihr eigentümUcher Gefühlswert zu-
Die Ethik Herbert Spencers. 61
kommt* 'X alBO auch den die Erlebnisse anderer Menschen betreffenden.
Dabei brauchen diese Gefflhle keineswe^ qualitativ mit den in den Mit-
menschen ursprOngUch erregten identisch zusein (am häuf igsten sind
Übereinstimniungen des Geftmlstones, und so redet man von Mitleid und
Mitfreude). Es ^eht aber ohne weiteres daraus hervor, daß die Ent-
wicklung des Mitgefühls nicht abhängig sein kann von dem durch-
schnittlichen Übergewicht der Mitfreuden über die Mitleiden, sondern
nur von der Intensität und Mannigfaltigkeit der auf die Erlebnisse
der Mitmenschen bezüglichen Eindrücke bzw. Y orstellungeli , was
auch die Erfahrung in der Tat durchgehends bestätigt. Und weiter
er^;ibt sich aus dem eben Dargelegten und aus dem auf Seite 53 über
die Möglichkeit des Verschwindens des Leides Gesagten die Foleerun^,
dafi niemals Mitlreude ohne Mitleid existieren kann, ia, daß Mitleid
wahrscheinlich immer die wichtigere Form des Mitgefühls sein
wird. Dadurch daß das Zusammenleben der Menschen sich immer
en^er und enger gestaltet, muß die Gelegenheit, die Erlebnisse der
Mitmenschen mit zu erleben, immer ausgedehnter und häufiger und
das Mitgefühl als Mitfreude sowohl wie als Mitleid immer öfterer
erregt werden. Da nun die Mitfreude, die im alleemeinen ihrer Natur
naich weni^r intensiv sein kann als das Mitleid, da sie nämlich
weniger mit spannenden und erregenden als mit lösenden und be-
ruhigenden Gefühlen vergesellschaftet ist, so muß auch dem Mitleid,
als stArkere WiUensimpufse auslösend, die größerere moralische Be-
deutung zugesprochen werden.
Nun hat freilich die Mechanisierung der psjrchischen Vorgänge
auch über das Mitgefühl Gewalt aber unter keinerlei anderen Be-
dingungen als anderwärts. Häufig genau dieselbe Erfahrung kann
sicherlich das Mitgefühl abstumpfen, aber nicht nur das Mitleid,
sondern ebensogut auch die Mitfreude, und nicht im allgemeinen,
sondern nur in bezug auf die betreffende Erfahrung. Das Mitleid
im allgemeinen kann nicht von dieser Mechanisierung oder Ab-
stumpfung betroffen werden, da es in ständig neuer Einkleidime aji
den Mitfühlenden herantritt; es muß vielmehr als Gesamtergebnis
ein gewaltiges Streben nach Beseitigung des fremden Leides und
seiner Ursachen zur Folge haben, emen Drang nach umfassender
sozialer JBetfiti^ung.
') WuxDT, E. n, 62.
Znm ProUsm ist philasopMscIu» Skepsis.
Von B« Hönigswald, BreslaiL
Inhalt.
I. Der Zweifel als Gegenstand rerschiedenartiger Betrachtunssweisen. —
Die Skepsis unter den Gesichtspunkten der Erkenn tnislenre. — Das
Problem der philosophischen Skepsis im Lichte der Beziehungen swisohen
Kant, Hume tind den antiken Skeptikern.
II. Die Argumente der ^rationalen** Skepsis der Griechen in
ihrer methodologisi^hen Bedeutung. — Ihr YerhAltnis zur
a^totelisohen und zur galileiachen Theorie der L&duktion. — Di« Ein^
wände der ^rationalen** Skeptiker gegen die Induktion und der Betrieb
der empirischen Wissenschaft. — Die Einw finde der «rationalen*
Skepsis Regen die aristotelische Deduktion in ihrer metho-
dologiscnen Bedeutung. — Ihr YerhAltnis znm nanalvtischen**
Verfahren. — Ihre Abh&ngigkeit vom SubsumtionsschluB. — Die Argu-
mente der «rationalen*' Skepsis und der wissenschaftliche Sub-
sumtionsschlufi. — Über die methodologische Berechtigung des Zweifels
Oberhaupt.
III. Die erkenntnistheoretischen Probleme der «sensualen** Skepsis. — Die
Bedeutung des Isosthenie-Prinzips. — Die Skepsis in ihren Beziehungen
zur Wahrneit uad zum Problem vom Dinge an sich. — Die Skepsis und
die Lehre Ton den spezifischen Energien der Sinnesorgane. — Die
Skepsis und der philosophische Kritizismus. — Schluik
I.
Das Zweifeln gehört, gleichwie das Erkennen, zu den
typischen Äußerungen des menschlichen Geistes. Wo immer
das Erkennen zum Bewußtsein seiner selbst und damit der
Bedingungen seines Bestandes, vor allem aber der Schwierig-
keiten seines Betriebes kommt, dort stellt sich als seine
psychologisch und methodologisch gleich bedeutsame Begleit-
erscheinung stets auch der Zweifel ein. — Die Rolle
des letzteren im Ganzen des geistigen Lebens der Mensch-
heit ist zu verschiedenen Zeiten freilich ebenso ver-
schieden gewesen, wie es die Umstände waren, unter
welchen er sich zeitweilig zu einer umfassenden und den
Bedingungen seiner Entstehung gegenüber relativ selb-
ständigen Lehrmeinung oder doch zu einem wesentlichen
Bestandstück philosophischer Systeme entwickelt. — Mannig-
Zum Problesa der pkilosopbischen Skepsis. 63
fach ist aucli di^ Ansmafi und die Intensität, in welchem er
als Qegenst«ti.d der wissenschafblichen Betrachtung das philo-
sophisohe Interesse fesselt. Bald wird es bestimmt durch
die Zahl der Objekte, auf welche sich der Zweifel richtet-,
bald durch deren Pignität; bald wieder durch die positive
oder negative Bewertung der psychologischen Motive, die dem
Zweifel zugrunde liegen. — AUein, keiner dieser immer doch
mir subjektiven Gesichtspunkte vermag die grundsätzliche
Stellung der wissenschaftlichen Philosophie zum Problem
der Skepsis überhaupt zu bestimmen. Dazu bedarf es
einer Besinnung auf deren erkenntnistheoretische Grundlagen,
einer Analyse der Argumente, auf die sie sich stutzt.
Nur einer solchen enthüllt sich die den Wechsel der zeit-
lichen Gestaltungen beherrschende Einheit ihres Wesens. —
Eine erschöpfende Darstellung dieses letzteren nun kann
freilich nicht die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung
bilden. Vielmehr bescheidet sich diese, einige fundamentale
Gesichtspunkte geltend zu machen, welche die Stellung der
wissenschaftlichen Philosophie zum Problem der philosophi-
schen Skepsis unter aUen Umständen beherrschen müssen.
Zunächst scheint dieses Problem von selbst hin-
zuweisen auf das Problem der Wissenschaft; auf das
Problem von dem Begriff und von den Grenzen der
wissenschaftlichen Erkenntnis-, kurz auf das Problem der
kritischen Philosophie. Schon die allbekannten histo-
rischen Umstände der Entwicklung dieser letzteren be-
zeugen dies: die zentrale Stellung der Fragen und Er-
gebnisse der Bums sehen Erkenntnislehre im Gedanken-
kreise Kants.
Das Verhältnis der Yemunfbkritik zu Hume erscheint
den einen als eine Überwindung Humes durch Kant, den
anderen als ein vergeblicher Kampf des Rationalismus gegen
die Skepsis überhaupt, wenigstens soweit diese als grund-
sätzlich berechtigte Lehrmeinung in Betracht kommt. — Allein,
beide Sätze tre£Een augenscheinlich nur in einem bedingten
Sinne, nämlich imter der Voraussetzung zu, daß man in Hume
den typischen Repräsentanten des theoretischen Skeptizismus
64 R* Hönigswald:
ZU erblicken habe. Darf er als solcher betrachtet werden? —
Seit langem schon gehört diese Frage zu den Grondpröblemen
der Geschichte der Philosophie. Ist doch geradezu das Ver-
ständnis der Absichten und der Leistungen des philosophischen
Kritizismus an die Antwort auf sie geknüpft. Im Hinblick
darauf aber wird sie selbst eine Grundfrage auch der syste-
matischen Philosophie. — Hume ist Skeptiker nur vom
Standpunkte einer erkenntnismäßigen Beweisbarkeit der
kausalen oder, was für ihn dasselbe bedeutet, der erfahrungs-
mäßigen Notwendigkeit. Er ist Skeptiker, sofern er an der er-
kenntnismäßigen Erweisbarkeit des Kausalprinzips als der
Grundlage aller Erfahrung zweifelt. Aber er ist nicht Skeptiker,
sofern er — und dies tut er mit aller Entschiedenheit —
das Kausalprinzip für die unentbehrliche Voraussetzung aller
Erfahrung hält, sofern er die Notwendigkeit der Beziehung
zwischen den Gliedern der Kausalrelation biologisch^
d. h. in einer Weise begründen will, welche sie auch der ent-
ferntesten Möglichkeit eines Zweifels von vornherein entrückt,
kurz sofern er sie auf ein Prinzip gründet, das ebenso vor
jedem Zweifel wie vor jeder Erkenntnis feststeht. — Hume
ist andererseits Skeptiker, sofern er die Annahme der realen
Existenz beharrender Außendinge vom Standpunkt der Er-
kenntnis als „Fiktion" bezeichnet; aber er ist nicht Skeptiker,
sofern er den Glauben an jene Existenz dem Gesichts-
punkte der Erkenntnis entrückt, indem er ihn, gleich der
Notwendigkeit der Kausalrelation, auf ein physiologisches
Prinzip gründet *). — Der Philosoph ist durchaus konsequent,
wenn er vor der „phantastischen Sekte der Zweifler" warnt.
Er selbst fühlt sich eben nicht als Skeptiker. Erst in den
Augen und unter den spezifischen Gesichtspunkten der Er-
gebnisse Kakts konnte er als solcher erscheinen. Denn Kant
bejaht die Fragen, die Hume verneint hatte.
Die Lehre Humes von den biologischen Grundlagen der
Erfahrung im weitesten Sinne — das ist es, was man unter
den Gesichtspunkten der Ergebnisse Kants als seinen Skep-
. ') Vgl. hierzu auch meine Schrift „Über die Lehre Humes von
der Healität der Aussendinge*'. Berlin 1904.
Zum Problem der philosophischen Skepsis. (35
tizismas bezeichnen muß, das ist es aber auch, worauf sein
Skeptizisinns sich beschränkt. Es gibt keinen Beweis
für die Gültigkeit des Kausalprinzips und des Grundsatzes
der Substanz in aller Erfahrung — das ist der Standpunkt
HüMES. Es gibt nur einen uns durch biologische Faktoren
au%enötigten und schlechthin unüberwindlichen Glauben
an jene Gültigkeit. — Die Grundsätze der KausaKtät und
Substanz sind in aller Erfahrung gültig, weil Kausalität und
Substanz die Bedingungen der Gegenstände aller Erfahrung
darstellen^ d. h. den Begriff dieser Gegenstände definieren;
die objektive Geltung von Kausalität und Substanz ist
Tnifhin im strengen Sinne beweisbar — dies ist der Stand-
punkt Kants. Nicht Glauben und gewohnheitsmäßige Er-
wartung ist die Grundlage der Geltung jener Prinzipien,
sondern Beweise, d. h. Wissen und Erkenntnis. Wer wie Hume
das letztere leugnet, der ist — mag er im übrigen die Geltung
von Kausalität und Substanz auf ein Prinzip gründen, das
als ein biologisches fester steht als jeglicher Beweis —
Skeptiker. So lautet die Entscheidung Kants über Hüme.
Nun ist ersichtlich, daß trotz dieser Entscheidung, ja
wegen der sie bestimmenden speziellen Motive, die Stellung
HuxES zur Skepsis im typischen Sinne des Wortes noch
der Klärung harrt. Und iu dieser Hinsicht wird der von
den besonderen methodischen Gesichtspunkten der Vemunft-
kritik freien historischen Betrachtung dies eine sicher stehen:
Kant ist von der angeblichen Skepsis Hümes nicht weiter
entfernt als HuifE von der antiken Skepsis der Hellenen. —
Gewiß, an manchen Punkten hat ja die griechische Skepsis
den Standpunkt Humes geradezu vorweggenommen, so z. B.
wenn sie erklärt« die ursächliche Beziehung zwischen den auf-
einanderfolgenden Erscheinungen könnte durch keinerlei
Augenschein bezeugt werden, oder wenn sie etwa iu ihrer
späteren, der positiven Forschung zugewandten Periode von
einer Beglaubigung gewisser Instanzen „durch das Leben
selbst" spricht (oico toü ßtbo ircitioTTeüfievov) *). Aber dem Ganzen
') Sextus, P, II, 102. — Vgl. auch Richter, Der Skeptizismufl in
der Philosophie. I. Leipzig 1904. S. 105.
Ti«rteIJAhr«8chrift f. wissensohaftl. Philos. u. Soziol. XXXII. 1. 5
<j(5 H. Hönigswald:
ihrer Absicht nach betrachtet, befindet sich Hume in einem
entschiedenen Gegensatz zu jenen antiken Zweiflern. Wenn
nämlich die klassische Skepsis von der Unerkennbar-
keit der Dinge — ihr zentrales Problem auf theoretischem
Gebiete — sprach, dann meinte sie in der Regel auch
Ungewißheit. Gerade dies aber ist bei Hume das Neue
und Bedeutende, wenn auch durch den Kritizismus Kants
endgültig Überholte: daß für ihn Unerkennbarkeit nocli
lange nicht Ungewißheit bedeutet. Hume hatte auf ein
Prinzip verwiesen — es ist der auf unserer Organisation
gleich der Verdauung und anderen vegetativen Funktionen
gegründete Glauben, der belief — , das sicherstellt, was
die vernünftige Überlegung sicherzustiollen unvermögend ist.
Ja, das Wesen der Hume sehen Skepsis liegt geradezu in
der Erweiterung des Begriffes der Gewißheit über den der
Erkenntnis hinaus. Es gibt eine Gewißheit, so lehrt Hume,
die auf Erkenntnis beruht; sie liegt vor in analytischen
Sätzen und in der Mathematik. Es gibt aber daneben auch
eine Gewißheit, die nicht auf Erkenntnis beruht; und diese
Art der Gewißheit liegt vor in der Erfahrung.
Es ist nicht schwer, die Bestrebungen Kants, Hümes
und der antiken Skeptiker unter dem umfassenden Gesichts-
punkte des Verhältnisses zwischen Erkenntnis und Gewiß-
heit zu überblicken. — Die antike Skepsis war — welches
immer ihre Ergebnisse gewesen sein mochten — im großen
und ganzen beherrscht von der Tendenz , den Begriff der
Gewißheit dem der Erkenntnis unterzuordnen: — zugleich
freilich von dem Bewußtsein der Unmöglichkeit diese
Tendenz zu verwirklichen. Das eine ist für die antike
Skepsis ebenso bezeichnend wie das andere. Beides zu-
sammen erzeugt ihr merkwürdiges Schwanken zwischen
Rationalismus und Relativismus. Jener entspricht der Ab-
sicht überhaupt, dieser der Einsicht der Skeptiker in die
Unmöglichkeit ihr Ziel zu erreichen. Denn die Gewißheit
selbst ist für sie auf jeden Fall ein unerreichbarer, weil
nur durch Erkenntnis möglicher Idealzustand. — Für
Hume hingegen ist der Begriff der Gewißheit — wie oben
Zum Problem der phllosophisclien Skepsis. 67
scLon angedentet — dem der Erkenntnis übergeordnet,
cL h. neben einer objektiven und erkenntnismäßigen Gewiß-
heit gibt es für ihn noch eine subjektive und erfahrungs-
mäßige. — Mit der Verwirklichung der Tendenzen der
antiken Skepsis auf der ganzen Linie der theoretischen
Philosophie durch die „transzendentale Methode" hat
schließlich Kant Huif£ und die antike Skepsis überwunden.
Kant ist — die Bemerkung entbehrt angesichts des sich ge-
legentlich immer noch regenden Versuchs, in ihm den
Agnostiker zu feiern oder zu verurteilen, auch heute nicht
einer gewissen Aktualität — so gewiß nicht Skeptiker, so
gewiß er — man gestatte die paradoxe Wendung — die
Tendenzen der antiken Skepsis realisierte. Er hat die
Frage nach der Erkennbarkeit der Dinge, an welche die
antike Skepsis anknüpft, in positivem Sinne beantwortet,
nicht freilich ohne vorher die Voraussetzungen der skep-
tischen Fragestellung durch die Einfuhrung des methodischen
Begriffes der Erscheinung zu revidieren, — Weil nun
diese Fragestellung der Skepsis mit besonderer Schärfe natur-
gemäß dort hervortritt, wo die Untauglichkeit unserer
Sinnes Wahrnehmungen zur Vermittlung von Erkenntnis
erwiesen werden soll, rücken fiir die erkenntnistheoretische
Betrachtung vor allem die Probleme der sogenannten
sensualen Skepsis in den Vordergrund des Interesses.
n. .
Allein, näher als die Argumente der sensualen Skepsis
gegen den Begriff der Wissenschaft berührt eine unbefangene
Betrachtung des skeptischen Gedankenkreises der Kampf
der sogenannten rationalen Skepsis gegen die faktische
Möglichkeit eines wissenschaftlichen Betriebes. Hier wird
das Verfahren der Wissenschaft zum Problem und weiter-
hin zum Gegenstand des Angriffs. Die griechische Skepsis
will m. a. W. nicht bloß beweisen, daß wir durch unsere
Erkenntnisniittel zur „Wahrheit" über die „Dinge" wegen
deren Transzendenz niemals vorzudringen vermögen, sie will
auch dartun, daß der Gebrauch unserer Erkenntnismittel
5*
gg E. Hönigswald:
in sich selbst widerspruchsvoll ist. Es ist dies diejenige
Seite der antiken Skepsis, die vor allem den Logiker
fesselt. Sie ist gleichsam das irpeSiepov irp&c >)}ag(c ; sie soll hier
noch vor den im engeren Sinne erkenntnistheoretischen
Gesichtspunkten der sensualen Skepsis ins Auge gefaßt
werden.
Es handelt sich dabei im wesentlichen um die skep-
tischen EiQwände gegen die aristotelische Theorie der In^
duktion und der Deduktion. — Welche methodologische
Bedeutung nxm haben diese Einwände, wie verhalten sie sich
zu jenen methodischen Prinzipien der Forschung, welche
auf dem Boden des tatsächlichen Betriebes der modernen
Wissenschaft erstanden sind?
1. Das Ziel der aristotelischen Induktion ist die Ge-
winnung eines allgemeinen Satzes aus vielen einzelnen;
ihre Methode ist die vergleichende Beobachtung vieler Fälle
einer Erscheinung. Nur durch die vergleichende Beobachtung
der Blutwärme vieler Pferde gelange man zum allgemeinen
Satz: Das Pferd ist ein Warmblüter*).
Gegen diese Art des Beweises richtet sich die Skepsis
mit einem Argumente von beispielloser Schärfe. Die
aristotelische Induktion — so erklären die alten Skeptiker" —
ist entweder imvollständig, oder sie ist vollständig, d. h. ent-
weder sind alle Einzelfalle, auf die sie sich überhaupt
stützen kann, untersucht worden oder nicht. Ist das letztere
der Fall, so fehlt die Grundlage für den allgemeinen Satz:
„Jedes Pferd ist Warmblüter." Also ist Erkenntnis all-
gemeiner Sätze aus Erfahrung nur durch vollständige
Induktion möglich. Eine solche aber — in dem angefiihrten
Beispiele die Untersuchung eines jeden Pferdes — ist
schlechterdings unmöglich. Also ist auch die aristotelische
Induktion, die litaYa>Y>; kein brauchbares Instrument der
wissenschaftlichen Erkenntnis *).
Im Rahmen des griechischen Denkens mochte diese
'Argumentation nur durch ihre formale Schärfe gewirkt
') Vgl. Richter a. a. 0. S. 70.
*) Skxtus, P. II, 204.
Zum Problem der philosophischen Skepsis. 69
liaben; ihre Bedentimg für die moderne Logik aber gewinnt
sie vor allen Dingen durch ihre nahe Verwandtschaft mit
dem Ausgangspunkte der Wissenschaftslehre Galileis. Das
An&ahlen von Einzelfallen zum Zwecke der Erforschung
ihres Gesetzes — so widerlegt Galilei die Einwände eines
Aristotelikers seiner eigenen Zeit — ist entweder unmöglich,
oder es ist imnütz; unmöglich, wenn die Zahl der Einzel-
falle unendlich ist ; unnütz, wenn sie begrenzt wäre. Denn
ist sie unendlich, so könnte ja das Verfahren niemals ab-
geschlossen werden; und ist die Zahl der Einzelfalle be-
grenzt, so hätten wir, da sie ja alle schon aufgezählt worden
waren, im Schlufisatze nur wiederholt, was in den Prämissen
jüchon enthalten gewesen. — Unverkennbar ist die Ge-
meinsamkeit des kritischen Standortes bei Galilei und
den Skeptikern gegenüber der peripatetischen Theorie der
Induktion. Diese wie jener suchen die aristotelische Lehre
von der Induktion durch eine erschöpfende Bestimmung der
formalen Umstände, unter welchen sie erfolgen muß, ad
absurdum zu fuhren. Galilei wie die Skeptiker leitet die
Absicht, die inneren Widersprüche der aristotelischen In-
duktion durch eine Analyse der Quantitätsbestimmung des
Schlußsatzes aufzudecken. Ja selbst die äußere Gestalt der
GAULEischen Argumentation gleicht jener der skeptischen: da
wie dort ein auf vollständiger Disjunktion ruhendes, scharf
gegliedertes Dilemma.
Dennoch ist der grundsätzliche Unterschied zwischen
Galilei und der Skepsis nicht kleiner als der zwischen
Galilei und Aristoteles. Denn im Gegensatze zu
Galilei bekämpft die Skepsis die aristotelische
Induktion auf der logischen Grundlage und
unter den Voraussetzungen dieser selbst. Für
die antiken Skeptiker ist das ideale Verfahren zur Erlangung
eines auf Erfahrungsschlüssen ruhenden Wissens die voll-
standige Induktion im Sinne des Aristoteles. Das Bewußt-
sein der Unerreichbarkeit einer solchen begründet an
diesem Punkte geradezu ihre Skepsis. Galilei hingegen befreit
.sich im Kampfe gegen die Aristoteliker auch von dem
70 R. Hönigswald:
induktiven Wissenschaftsideal der antiken Skepsis. Er
entdeckt den Begriff des Naturgesetzes, das dem Er-
gebnis einer numerisch vollständigen Induktion als die all-
gemeine logische Bedingung einer Erscheinung gegenüber-
steht, wenn sich diese ereignet: die Wissenschaft gilt
Galilei als „ein System reiner Bedingungssätze" *). — Natur-
gesetze haben also für Galilei eine andere logische Valenz
wie für Skeptiker und Aristoteliker. Sie sind für ihn mehr als
Sätze von empirischer und numerischer Allgemeinheit. Sie
beruhen nicht auf einer Kenntnis imd Zusammenfassung
aller möglichen Fälle einer Erscheinung, vielmehr lehren
sie uns jeden einzelnen möglichen Fall aus dessen Be-
dingungen zu begreifen^). Daher kennzeichnet auch die
logische Analyse das Wesen des GALiLEischen Verfahrens. —
Das Naturgesetz Galileis entbehrt denn auch jener logischen
Quantitätsbestimmung, die jedem auf vergleichender Be-
obachtung beruhenden Satze eigen ist"). Daß sich „alle'* im
luftleeren Raum frei herabfallenden Körper mit einer der Zeit
proportionalen Geschwindigkeit bewegen, ist ebenso richtig
wie der Satz, daß die Winkelsunmie „aller" ebenen Dreiecke
180^ betrage. Beide Sätze aber sind ein nur durchaus
inadäquater Ausdruck für die durch sie darzustellende
logische Situation. Jeder von ihnen enthält seiner logischen
Valenz nach betrachtet mehr als die Quantitätsbestimmung
des Subjektsbegrrflfes vermuten läßt. „Alle" Körper fallen
mit einer der Zeit proportionalen Geschwindigkeit zu Boden,
und „alle" ebenen Dreiecke haben eine Winkelsumme von
180®, weil diese Merkmale und Beziehungen von den Bo-
') Vgl. Cassirku, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und
Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band. Berlin 1906. S. 295.
^) ^S^' B.IKHL, Über den Begriff der Wissenschaft bei Galilei.
Viertel jahrsschr. f. wiss. Phil. 1ö91. S. 4. Derselbe, Logik und
Erkenntnistheorie in Hikmkbkrgs „Kultur der Gegenwart". Teil I.
Abt. VI. Berlin und Leipzig 19Ö7. S. 85; femer Natorp, Galilei
als Philosoph. Philosophische Monatshefte 1882. — Vgl. auch meine
Schrift, Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methodenlehre. Leipzig
1906. I. u. II. Abschnitt.
•) Vgl. BtEHL, Beiträge zur Logik. Vierteljahrsschrift f. wiss.
Phil. 1892. S. 142»
Zum Problem der philosophischen Skepsis. 71
griffen des freien Falles der Körper und des ebenen
Dreieckes bewiesen worden sind, weil sie jene Begriffe
definieren.
Der aristotelischen Theorie der Induktion gegenüber
hat die antike Skepsis geleistet, was auf der Grundlage der
peripatetischen Logik, also auf der Grundlage jener Theorie
selbst, zu leisten möglich war. Sie hat die im Begriff der
aristotelischen Induktion gelegenen Widersprüche aufgezeigt.
Aber so gewiß sie selbst sich von den Voraussetzungen der
aristotelischen Induktion nicht zu befreien vermocht hatte,
so gewiß mußte sie bei der Negation verharren, so wenig
konnte ihre immanente Kritik zum Ausgangspunkt für eine
truchtbare Reform des wissenschaftlichen Verfahrens werden.
Dazu bedurfte es einer neuen Orientierung an einem neuen
Begriff der Wissenschaft.
Nicht die Passivität also, zu welcher die Skepsis durch
ihr Verneinen verurteilt gewesen war, benahm ihr die Kraft
der methodischen Initiative, sondern die Grundlage ihres
Vemeinens. Und wie zum Beweise ihrer Gebundenheit an
die Formen der peripatetischen Logik entfaltet sie auch die
spärlichen aktiven Seiten ihres Wesens an einem Forschungs-
gebiet, das aus tiefliegenden methodischen, hier jedoch nicht
näher zu erörternden, Gründen dem GALiLEischen Verfahren bis
auf den heutigen Tag sich entziehen mußte : an der Medizin.
Hier entwickelt die Skepsis gegen die Interessen ihres zu
Negation und Passivität neigenden Geistes die Überzeugung,
daß Wissenschaft nur dort gedeihen könne, wo an Stelle
der zufälligen und natürlichen, also an Stelle einer gleichsam
zwangsweisen und passiven die beabsichtigte und plan-
mäßige Beobachtung, kurz die aktive und ihrer Aktivität
bewußte Forschung tritt. In der Schule der sogenannten
„methodischen Arzte" , welche einerseits von der Skepsis
beherrscht ist, lun andererseits auf deren weitere Gestaltung
mächtig zurückzuwirken, spielt nicht nur der Analogieschluß
(r, TOü ijiotoü jjLeTaßaaic), sondern zur Entscheidung der Richtig-
keit des Analogieschlusses, auch das Experiment eine
hervorragende Rolle, Ja die Skepsis erhebt sich hier zu
72 R. Hönigswald:
einer grundsätzlichen Unterscheidung^ von bestechender
Schärfe, sie trennt die rohe und unmethodische Erfahrung
— irrationalem eruditionem — von der methodischen und
denkend erlangten. — Und doch ist die Logik der skeptischen
Arzte von dem ÖAULKischen Grundsätze des „senso ac-
compagnato col discorso" weit entfernt. Denn nirgends
erreicht sie jenes die Grenzen der aristotelischen Logik
80 weit überschreitende und deren Schranken sprengende
Maß der „denkenden Erfahrung"^): stets ist die Ab-
straktion und niemals die Analyse das Prinzip ihres Ver-
fahrens*). Die „denkende Erfahrung" bedeutet für die
Skeptiker die unmittelbare oder mittelbare Bestätigung
eines aus vielen Fällen abstrahierten Tatbestandes durch
das Experiment ; für Galilei bedeutet sie die experimentelle
Verifikation des Ergebnisses einer logischen Analyse des
Einzelfalles. Der aristotelische Skeptiker sucht etwa
durch das Experiment seine Vermutung zu bestätigen, daß
eine Eigenschaft, welche einem von vielen sonst über-
einstimmenden Fällen einer Erscheinung zukommt, allen
Fällen der betrejffenden Erscheinung zukommen werde.
D. h. er bringt jene Fälle durch die Ausschaltung störender
Umstände in Verhältnisse, unter welchen auch die Ge-
meinsamkeit jener einen Eigenschaft der Beobachtung zu-
gänglich wird. Bei Galilei bestätigt das Experiment eine
Hypothese, welche den in jedem einzelnen Fall ver-
wirklichten Begriff einer Erscheinung definieren soll. Ist
dieser Begriiff — für Galilei handelt es sich bekanntlich
um den des freien Falles der Körper — einmal definiert,
so ist in ihm das apodiktisch gültige Gesetz der be-
treffenden Erscheinung gefunden. Und definiert ist er,
nachdem .das Experiment die hypothetische Annahme, daß
der freie Fall des Körpers das Phänomen der gleichförmig
beschleunigten Bewegung darstelle, bestätigt hat. Nun gilt
nicht bloß der Satz: „Alle im luftleeren Räume frei herab-
\) ^S^- liiorzu auch Gokdkckemeykr. Die Geschichte des griechischen
Skeptizismus. Leipzig 1905. S. 161.
*) Vgl. auch BiKHi^ ohen genannten Beitrag zur „Kultur der
Gegenwart".
Zum Problem der philosophischen Skepsis. 73
tauenden Körper bewegen sich mit einer der Zeit pro-
portionalen Q-eschwindigkeit," — nun gilt — und zwar als
Ausdruck des Fehlens jeder logischen Quantitätsbestimmung
— der Satz: „Ein Körper, dessen Gescbwindigkeit nicht
der Zeit proportional wächst, fallt nicht frei.** — Die ein-
fache Induktion durch Vergleichung konstatiert demgegen-
über — ancli wo sie sich des Experimentes bedient — bloß
eine Regel, unter welcher der einzelne Fall, sofern er die
Bedingungen dieser Regel erfüllt, höchstens subsumiert
werden kann, unter die er aber niemals subsumiert werden
muß, eben weil ihn jene Regel nicht definiert; oder weil
doch eine solche — auch wenn sie es ihrem Inhalte nach
sollte tun können — den formalen Rechtsanspruch, eine
Definition des Einzelfalles zu enthalten, niemals zu be-
gründen vermöchte.
Im Rahmen des GALiLEischen Verfahrens erschöpft die
Bedeutung des Experimentes sich darin, daß dieses ein den
Bedingungen der Hypothese genau entsprechendes Glied
der Defiboition des Einzelfalles, beziehimgsweise der ihm
gleichen Fälle, darstellt. — Das Experiment im Rahmen der
aristotelisch-skeptischen Logik hat eine hiervon ganz ver-
t^chiedene methodologische Valenz. Es könnte an sich
schon — d. h. ganz und gar unabhängig von seiner Funktion
im aristotelisch-skeptischen Verfahren, das Resultat eines
Analogieschlusses zu bestätigen — den Ausgangspunkt emer
Feststellung bilden, welche in bezug auf ihren Gewißheits-
wert von jenem Resultate des Analogieschlusses nicht ab-
wiche. Würde man m. a. W. das der Bestätigung eines
Analogieschlusses dienende Experiment, anstatt es unter
dem Gesichtspunkte jenes Analogieschlusses gleichsam zu
suchen, durch einen glücklichen Zufall gefunden haben,
so könnte es ohne weiteres als Instanz für einen Satz dienen,
der den gleichen Grad bloß empirischer Allgemeinheit be-
säfie wie das Ergebnis des Analogieschlusses selbst. Es ist
eben einem Erfahrungssatze von empirischer Allgemeinheit
nicht anzusehen, ob er sich auf Experimente allein stützt
oder, ob ihna die Verifikation einer Annahme von empirischer
74 H* HÖnigBwald:
Allgemeinheit durch ein Experiment zugrunde liegt. — Kein
Experiment ab'er kann für sich als Instanz für
die Auffindung eines Gesetzes im GALiLEischen
Sinne betrachtet werden, weU kein Experiment un-
abhängig von einer auf der logischen Analyse des Einzel-
falles beruhenden Hypothese den Begriff eines Phänomens
zu definieren vermag.
Nur auf der Grundlage des GALiLEischen "Wissenschafts -
begriffes konnten die von der Skepsis geltend gemachten
Mängel der aristotelischen Induktion beseitigt werden. Die
Skepsis selbst war wegen der aristotelischen Fundamente
ihrer eigenen Logik hierzu unvermögend und ihre Argumente
gegen die aristotelische Induktion mußten sich überall dort
unfehlbar gegen ihre eigene Position kehren, wo sie mit
größerer oder geringerer Inkonsequenz aus der Passivität
der Negation heraustrat.
Haben nun die skeptischen Einwände gegen die
aristotelische Induktion nicht auch heute noch ihre relative
Berechtigung für Forschungsgebiete, die, gleichviel aus
welchem Grunde, auf die einfache Induktion durch ver-
gleichende Beobachtung vieler Fälle angewiesen bleiben?
Vermögen jenen Einwänden die empirischen Wissenschaften
im engsten Sinne standzuhalten? Fast scheint diese Frage
verneint werden zu müssen. Fast scheinen die Vertreter
streng empirischer Disziplinen vor die Alternative gestellt
zu sein, entweder den erfolgreichen Betrieb ihrer Forschmigs-
arbeit einzustellen oder vor einem schwerwiegenden und
unwiderlegten grundsätzlichen Einwände die Augen zu ver-
schließen. Allein, die Besinnung auf ihre erkenntnistheore-
tische Eigenart bewahrt die empirischen Wissenschaften vor
dieser verhängnisvollen Situation, Wenn nämlich die
Männer der rein empirischen Forschung der bloß be-
dingten und komparativen Allgemeinheit ihrer Ergebnisse,
oder was dasselbe bedeutet, der subjektiven Natur des
Prinzips ihrer Wissenschaft, eingedenk bleiben, dann ent-
gehen sie von selbst den Einwänden ihrer skeptischen
Kritiker. Wenn sie den Anspruch auf jene Art der All-
Zum Problem der philosophiBclien Skepsis. 75
gemeinheit , deren Möglichkeit der Skeptiker grundsätzlich
bezweifelt, gar nicht erheben, dann sind sie auch gegen die
Angriffe der Skepsis gefeit. Verbindet m. a. W. der
^empirische" Naturforscher im engsten Sinne mit dem Begriff
.aller" Fälle, über welche seine Aussage als das Ergebnis
seiner Untersuchung ergeht, weder die Vorstellung einer
vollständigen Induktion, noch aber die jener Ailgemeingültig-
keit, wie sie ntu* dem Besultate einer Demonstration durch
Analyse des Einzelfalles zukommen kann, sondern beschränkt
er ihn auf die Vorstellung „aller bisher beobachteten
Fälle" , dann trifft ihn keiner der skeptischen Einwände
gegen die Induktion. Die Argumente der Skepsis gründen
sich eben nur auf den strengen "Wortsinn, einer milderen
Interpretation des Ausdrucks „alle" steht sie absolut fem.
Gerade das Bewußtsein von der Unerläßlichkeit einer solchen
aber bezeichnet die erkenntnistheoretische Haltung des be-
sonnenen Empirikers, der sich über die grundsätzlichenMängel
xmd die Gh-enzen der Leistungsfähigkeit seines Verfahrens
Bechenschaft gibt. — Die „Erkenntnis" des Empirikers im
engsten Sinne wurzelt m. a. W. in dem Prinzip der Hume-
schen Erfahrung, d. h. sie besteht in dem „Glauben", in der
„Erwartung", daß die bisher beobachteten die Repräsen-
tanten aller FäUe einer Erscheinung seien. Die Skepsis aber
subintelligiert ihm, anstatt etwa erkenntnistheoretisch die
Legitimation seines Glaubens zu prüfen, ein Wissen, um
dann die Möglichkeit eines solchen zu bestreiten.
So ungerecht es wäre zu verkennen, daß eigentlich erst
die skeptischen Einwände die aristotelische Theorie der In-
duktion zur Diskussion gestellt haben, so gering müssen
wir doch nach allem dem die logische Bedeutung der Kritik,
welche die rationale Skepsis an jener Theorie geübt hatte,
veranschlagen. Die skeptische Kritik der Induktion hat
nur historische Bedeutung; denn an keinem Punkte vermag
ein Zurückgreifen auf ihre Argumente die aktuellen Probleme
der Methodenlehre zu fördern. Weder zeigt sie sich der
neuen mit Galilei einsetzenden Logik der Erfahrungs-
wissenschaft gewachsen, noch aber vermag sie — und dies
76 R- Hönigswald:
ist von ihrem eigenen Standpunkte aus betrachtet vielleicht
noch bedeutsamer — der erkenntnistheoretischen Eigenart
jener empirischen Wissenschaften gerecht zu werden, deren
Möglichkeit und Berechtigung ihre Kritik auf den ersten
Blick in Frage zu stellen scheint.
2. Wir wenden ims nun zu den skeptischen Einwänden
gegen die Deduktion. Drei Argument-e vor allem hält die
Skepsis zum Beweise der Unbrauchbarkeit der Deduktion als
Mittel der Erkenntnis bereit. — Die Wahrheit eines Schluß-
satzes sei — so lautet das erste — unbeweisbar, weil sie sich nie-
mals aus einer begrenzten Anzahl von Schlüssen ergebe. Denn
jeder Schlußsatz setzt die Geltung eines Obersatzes voraus.
Die begründete Geltung eines Obersatzes aber weist auf
einen neuen Schluß und auf einen weiteren Obersatz zurück,
dessen Geltung wieder nur ein Schluß zu begründen ver-
möchte. So werden wir ruhelos von Schluß zu Schluß ins
Unbegrenzte zurückgetrieben. Was wir überblicken können,
der einzelne Schluß — bzw. eine begrenzte Zahl von
Schlüssen — ist nur ein verschwindend kleiner Teil einer
schlechthin unübersehbaren, weil unendlichen Reihe; was
wir überblicken müßten, um zu einer wirklichen Er-
kenntnis durch Deduktion zu gelangen, ist jene unendliche
Reihe selbst. Niemand aber ist dessen föhig, daher auch
niemand imstande, sich von der Wahrheit eines Schluß-
satzes zu überzeugen. Man müßte die „ins unendliche
hinaustreibende Art" des Schlusses, tiv zU aicetpov ixßaXXovta
Tp6icov, beseitigen, sollte er uns als brauchbares Erkenntnis -
mittel dienen können. — Freilich reihen wir in Wirklichkeit
nicht Schluß an Schluß, Prämisse an Prämisse. Vielmehr
halten wir an irgendeinem Punkte unseres Weges, bei einer
der Begründung nicht mehr bedürftig erscheinenden Prämisse
inne; wir setzen diese kurzweg als wahr voraus. — Allein — und
dies bildet den zweiten Einwand des Skeptikers — mit
eben dem Rechte, mit welchem ich bei irgendeiner Prämisse
Halt mache, um sie als wahr allen übrigen zugrunde zu legen,
könnte ich ja gleich — nur mit geringerer Mühe — das zu
Beweisende selbst für wahr erklären. Es sei grundsätzlich
Zum Problem der philosophischen Skepsis. 77
durchaus gleichgültig, an welchem Punkte meines Beweis-
ganges ich naeine Zuflucht zur „Selbstverständlichkeit" einer
Prämisse nehme. „Wenn das Voraussetzen etwas zur Be-
glaubigung hilft, so soU er das Gesuchte selbst voraus-
setzen und nicht etwas anderes, wodurch er eben das Bing
begründen will, von dem die Bede ist; wenn es aber wider-
sümig ist, ^das Gesuchte vorauszusetzen, so wird es auch
widersinnig sein, das Allgemeinere vorauszusetzen." *) Der
koyo^ tnco&6Tixic ist der zweite Beweisgrund der Skepsis für
die Untauglichkeit der Deduktion zur Erkenntnis, Er
ergänzt gleichsam den ersten. Stellte uns dieser vor die
unmöglich zu lösende Aufgabe zur Begründung des ein-
fachsten Satzes schon eine unbegrenzte Anzahl von Schlüssen
zu vollziehen, so zeigt uns jener, daß es unmöglich sei, an
einem bestimmten Punkte imseres Weges innezuhalten. Wir
können der Notwendigkeit eines regressus in infinitum
schlechterdings nicht entgehen, und weil wir ihn auszufahren
unfähig sind, gibt es keine Erkenntnis durch Deduktion.
Das immanente Gesetz des Schlusses und die Beschränkt-
heit unserer Fähigkeiten ihm zu genügen treiben uns zur
Skepsis. — Und, wie um unseren Glauben an die Leistungs-
fähigkeit der Deduktion vollends zu brechen, sucht der
Skeptiker in einem dritten Argumente zu zeigen, daß wir
mit allen unseren deduktiven Beweisen in einen verhängnis-
vollen Zirkel geraten müssen. Wenn ich sage: „Alle
Menschen sind sterbhch", und nun daraus, daß auch Cajus
ein Mensch sei, schließe: „Also ist auch Cajus sterblich",
so hatte ich mich nach der Meinung des Skeptikers recht
eigentlich im Kreise herumgedreht; denn so gewiß Cajus
ein Mensch ist, so gewiß wäre seine Sterblichkeit in dem
Satze: „Alle Menschen sind sterblich" implicite schon mit-
behauptet. Ich hätte also schon vorausgesetzt, was ich erst
beweisen sollte, ich hätte Beweisstück imd Beweisergebnis,
Prämisse und Schlußsatz vermengt und verwechselt. Der
Tpozog mdkXr^^og gut dem Skeptiker als der dritte Beweis-
grand für die vöUige Wertlosigkeit des Syllogismus.
') Sextvs, P. I, 174.
78 ^' Hönigswald:
Ist diese nun durch die skeptischen Einwände erwiesen,
hat die Deduktion wirklich keinen Anteil mehr an der wissen-
schaftlichen Erkenntnis? Wie verhalten sich die kritischen
Einwände der Pyrrhoniker zu den lebendigen Bedürfnissen
der forschenden Wissenschaft? Sind vor allem die ersten
beiden, auf die Unerläßlichkeit eines regressus in iafinitum
gegründeten, stichhaltig?
Gewiß, das an den Xofoc uTro&exixi? anknüpfende Argument
verrät das tiefe Verständnis der Skeptiker fiir einen der
gewöhnlichsten Denkfehler. Es erinnert uns daran, daß die
meisten unserer Begründungen im täglichen Leben „nur
provisorisch sind und auf strenge Beweiskraft keinen
Anspruch erheben können«. Es warnt uns davor unsere
„Alltagsbehauptungen als naive Dogmatiker für streng er-
wiesene Wahrheiten zu halten." *) AUeiu, so wohltätig die
Skepsis hier auch wirkt, der (bedanke von der unendlichen
Zahl der Prämissen jedes Schlusses, welcher die positive
Seite der beiden ersten Argumente ausmacht, widerspricht
in seiner von den Skeptikern geforderten Allgemeinheit
fimdamentalen Ergebnissen der Erkenntniswissenschaft.
Denn es gibt Sätze, die einer weiteren Be-
gründung durch Schlüsse weder fähig sind
noch bedürfen. Es sind dies vor allem diejenigen,
deren Geltung aus dem Begrijff ihres Subjektes folgt, die
analytischen Aussagen. Der analytische Obersatz eines
Schlusses ist niemals die Konklusion eines zweiten Schlusses,
so gewiß er den Grund seiner Geltung in sich selbst trägt. —
Eine Reihe wichtiger Sätze, die, wie wir seit Kant sagen,
auf „reiner Anschauung" beruhen, sind weiterhin durch
Deduktion ebenfalls nicht zu begründen. Es gibt schlechter-
dings keinen Obersatz, aus welchem die geometrischen und
chronometrischen Axiome hergeleitet werden könnten. Der
Satz etwa von der Einzigkeit, der Kontinuität und der Un-
endlichkeit des Raumes und der Zeit, ist aus keiner Prämisse
einzusehen. Daher imterliegen auch Schlüsse, deren Ober-
') Vgl. Richter a. a. 0., S. 236.
Zum Problem der philosophischen Skepsis. 79
Sätze geometrische oder chronometrische Axiome enthalten,
den skeptischen Einwänden ebensowenig wie die, welche sich
auf analytische Sätze gründen. — Es gibt also Sätze, bei
denen wir — wenigstens soweit das Verfahren der em-
tachen Deduktion in Frage kommt — nicht bloß Halt
machen dürfen und können, sondern bei denen wir Halt
machen müssen. Die skeptische These von der Un-
möglichkeit solcher Sätze ist daher falsch, d. h. weder der
erste, noch der zweite Einwand der Skeptiker gegen die
Deduktion gilt in der von ihnen geforderten Allgemeinheit.
— Bilden m. a. W. Sätze der genannten Art die Obersätze
von Schlüssen, welchen methodologischen Zwecken immer
diese auch dienen mögen, so sind solche Schlüsse den Ein-
wänden der Skeptiker gegenüber als brauchbare Instnimente
der Erkenntnis legitimiert. — Allein, die wenigsten unserer
Schlüsse sind solcher Art und, sofern sie es nicht sind,
seheinen ja die Skeptiker immerhin recht zu behalten.
Eine genauere, von der Besinnimg auf die Bedürfnisse der
forschenden Wissenschaft geleitete Überlegung belehrt
darüber, daß dem ^ dennoch nicht so ist. Im Zusammen-
hange des wirklichen Denkens ist es in den wenigsten
Fällen unsere Absicht, einen Satz deduktiv zu begründen.
Vielmehr hat der Schluß in den wichtigsten Fällen seiner
wissenschaftlichen Verwendung den Zweck, die Konsequenzen
eines für wahr angenommenen Satzes zu entwickeln,
nm auf diesem Umwege die "Wahrheit jenes Satzes selbst
zu prüfen und zu erweisen. D. h. wir schließen: An-
genommen der Satz „Alle A sind B" sei wahr, was
folgt aus ihm? Und nun prüfen wir, gleichviel wie und
unter welchen Gesichtspunkten, den Wahrheitswert der
Konsequenz, um implizite die Wahrheit des Obersatzes
festzustellen. Hier ist keine Spur jenes regressus in in-
finitum zu entdecken, in den uns der Skeptiker hinein-
treiben will, ebensowenig wie eine Spur jenes willkürlichen
Innehaltens bei einer beUebigen Prämisse, vor der er uns
warnt. Denn hier begründen wir im Schlüsse
nicht sowohl die Konklusion als vielmehr den
80 ß. Hönigswald:
Obersatz. Gerade die bedeutsamste Form also, in
welcher die forschende Wissenschaft sich der Deduktion
bedient, das sogenannte analytische Verfahren, ent-
zieht sich den skeptischen Einwänden, deren methodo-
logische Bedeutung damit auf ein Minimum herabsinkt.
Das Aufsuchen der Bedingungen von Angaben unter der
Voraussetzung ihrer bereits erfolgten Lösung und die tat-
sächliche Lösung der betreffenden Aufgaben durch das
Auffinden ihrer Bedingungen — das ist die moderne, Mathe-
matik, Naturforschung und vermittelst der transzendentalen
Methode selbst den Betrieb der Erkenntnis lehre be-
herrschende Form der Deduktion. Ihr gegenüber sind .die
Einwände der antiken Skeptiker machtlos.
Der methodologischen Bedeutungslosigkeit der ersten
beiden Argumente entspricht auch das dritte. — Bewegen wir
uns denn in unseren wissenschaftlichen Deduktionen wirklich
in jenem verhängnisvollen Zirkel, den der Skeptiker in
seinem Tp6uo? StoiXXrjXoc kennzeichnet? — Eines ist hier zu-
nächst festzuhalten. Die Skeptiker sowohl wie ihr großer
Gegner Aristoteles kennen oder berücksichtigen doch nur
eine Art der Deduktion, nämlich den sogenannten Sub-
sumtionsschluß , den Schluß also, dessen Obersatz eine
allgemeine These bildet, dessen Untersatz die Subsumtion
eines speziellen Falles unter diese These ausspricht und
dessen Schlußsatz die Konsequenzen dieser Subsumtion
entwickelt. Nun richtet sich ein sehr beträchtlicher und
bedeutsamer Teil unserer wissenschaftlichen Schlüsse gar
nicht nach diesem aristotelischen Schema. Mit großer
Schärfe verweist hierauf Riehl. In dem zweifellos richtigen
Schlüsse z. B. : „r >• s, r < p, folglich p > s" suchen
wir vergebens Subsumtion und Diallele; und ebensowenig
finden wir sie etwa in der Folgenmg auf die Ähnlichkeit
zweier Dreiecke aus deren Ähnlichkeit mit einem Dritten,
wobei natürlich der Grandsatz, gemäß welchem geschlossen
worden war, mit dem Obersatze des Schlusses nicht ver-
wechselt werden darf.
Aber selbst wenn dem Subsumtionsschluß auch weit
Zum Problem der philosophischen Skepsis. 81
geringere Bedentung zuztigestehen wäre, als es die peripa-
tetische beziehungsweise die skeptische Logik zu fordern
scheint, so bilden doch immerhin Subsumtionsschlüsse einen
betrachtlichen Teil unserer wissenschaftHchen Folgerungen.
Die Frage kann daher nicht umgangen werden : Treffen die
skeptischen Einwände wenigstens ausnahmslos alle Sub-
sumtionsschlüsse? Auch diese Frage aber ist nicht
ruckhaltslos zu bejahen. Der Vorwurf, daß wir uns mit
jedem Schluss im Kreise bewegen, daß das zu Erschließende
im Grunde genommen stets schon als Prämisse fungierte, kann
nämlich nur dort erhoben werden, wo der allgemeine Ober-
satz auf vergleichender Beobachtung vieler Fälle beruht,
genauer wo der Schlußsatz einen derjenigen Fälle darstellt,
welche zur Begründung des Obersatzes tauglich sind. Die
Sterblichkeit des Cajus könnte den allgemeinen Satz von
der Sterblichkeit der Menschen immerhin begründen helfen. —
Anders ist es, wenn der Obersatz der eben genannten Be-
dingung nicht genügt. Ist der Obersatz z. B. ein ana-
lytisches Urteil, so gilt der skeptische Einwand nicht
mehr. Er gilt also nicht für einen methodologisch äußerst
wichtigen Fall, nämlich den, in welchem das Ergebnis einer
wissenschaMichen Überlegung durch die Besinnung auf den
Begriff eines Faktors - denn eben hierin liegt die methodo-
logische Bedeutung von Schlüssen mit analytischen 'Ober-
sätzen — kontroUiert und korrigiert werden soll. Allgemein
gesprochen gilt er für alle jene Schlüsse nicht, deren Ober-
sätze eine weitere Begründung durch Deduktion nicht mehr
gestatten — sofern nämhch diese letzteren sich auch auf
Erfahrung nicht gründen können. An der Eigenart dieser
Schlüsse scheiterten schon, wie wir zeigen konnten, die
ersten beiden Argumente der Skeptiker. Nun erweist sie
sich auch als dem dritten überlegen.
Aber selbst dort, wo die Obersätze unserer Sub-
sumtionsschlüsse auf Erfahrung beruhen, unterliegen wir
nicht ausnahmslos den Fährlichkeiten des xpoicoc 810tX.X7jX.oc; —
dann nämlich nicht, wenn jene Obersätze allgemeiogültige
Erßahrungssätze sind, d. h. Erfahrungssätze, die nicht durch
Viartalj&hrsschriftf. wis8enaoh»ftl.Philo8. n. Soziol. XXXII. 1. 6
82 R- Hönigswald:
vergleichende Beobachtung vieler Fälle, sondern durch die
Analyse eines einzigen Falles gewonnen worden waren. Der
Subsumtionsschluß z. B. von der Geltung des GALiLEischeu
Fallgesetzes auf die Geschwindigkeit eines bestimmten im
luftleeren Raum herabfallenden Körpers unterliegt dem
skeptischen Einwände nicht, ob sc hon sein Obersatz auf Er-
fahrung beruht. Denn diese Erfahrung besteht nicht in
einer vergleichenden Beobachtimg vieler Fälle. Eine Be-
gründung des Obersatzes durch die Konklusion und damit
die Möglichkeit einer Diallele ist daher hier ausgeschlossen.
So blieben denn wirklich nur diejenigen Fälle dem
dritten Einwände der Skeptiker ausgesetzt, in welchen es
sich um empirische Subsumtionsschlüsse im engsten
Sinne handelt, wo also der Obersatz wirklich nichts als eine
Zusammenfassung aller Fälle einer Erscheinung darstellt^).
Hier ist der Skeptiker mit seinem Einwände, daß wir uns
im Zirkel bewegen, formell sicherlich im Rechte. Zu
allen Menschen, von welchen im Obersatze Sterblich-
keit behauptet wird, gehört auch Cajüs, folglich ist die
scheinbar erschlossene Sterblichkeit des Cajus im Grunde
genommen schon vorausgesetzt worden. — Allein, auch hier
versagt, sobald man nur etwas tiefer dringt, der Scharfsinn
des Skeptikers. Die Wissenschaft als solche bleibt von dem
Formalismus des skeptisch-peripatetischen Schulbeispiels un-
berührt. Nur in der formalen Logik wird die Sterblichkeit des
Cajus durch dessen Subsumtion unter die Gruppe „aller
Menschen" begründet. In der forschenden Wissenschaft
hingegen werden empirische Subsumtionsschlüsse gar nicht
zu dem Zwecke und in der Absicht gezogen, um zu beweisen,
daß nun auch ein Fall, der unter dem Subjektsbegriff des
Obersatzes subsumierbar ist, die Merkmale dieses letzteren
besitzen wird. Die Wissenschaft vollzieht empirische Sub-
sumtionsschlüsse vielmehr in ganz anderer Absicht. Wenn
der Naturforscher einen Subsumtionsschluß mit empirisch
MANN
*) Vgl. LoTZE, Logik. Leipzig 1874. S. 122 f., und Bbnno Eru-
NN, Lo^k, Band I, 2. Aufl. Halle 1907. S. 729.
Zum Problem der philosopkischen Skepsis. 83
allgemeinein Obersatz macht, so ist er sicli zugleich der
relativen TJngenauigkeit seines Verhaltens bewußt. Wenn
er sagt: „Alle" Körper einer bestimmten Art verhalten sich
in bestimmter Weise, so weiß er, daß er hierzu, genau ge-
nommen, kein Recht habe, daß er also immer nur von
,allen bisher beobachteten" Fällen sprechen dürfe. Er weiß
m. a. W., daß ihn jede neue Erfahrung widerlegen kami.
Und gerade um zu erfahren, ob sie es wirkHch tut, macht
er seinen empirischen Subsumtionsschluß. Wenn etwa der
Physiker erklärt: „Jeder elektrisch geladene Körper verliert
unter dem Einfluß von Röntgenstrahlen seine elektrischen
Eigenschaften", nnd nun hinzufugt: „Also wird auch dieser
elektrisch geladene Körper A seine Elektrizität unter dem
Einfluß von Röntgenstrahlen verlieren," — so vollzieht er
diesen Schluß, um den elektrisch geladenen Körper, dessen
Begriff dem Subjekt des Obersatzes subsumiert worden war,
zu untersuchen, d. h. um festzustellen, ob dessen Ver-
balten den Bedingungen der These des Obersatzes bzw. der
dieser entsprechenden „Erwartung" des Forschers wirklich
genügt *). Weil und sofern also der Naturforscher die bloß
bedingte Allgemeinheit seines Obersatzes von vornherein
zugesteht, d. h. weil er weiß, daß das Verhalten des Einzel-
falles, von dem im Schlußsatze die Rede ist, weder aus der
Subsumtion des Untersatzes unter den Obersatz eingesehen
werden, noch aber diesen letzteren selbst begründen kann,
so unterüegfc sein Verfahren auch nicht dem Vorwurf des
Skeptikers, es bestehe in einer Diallele.
Zweierlei also ist festzuhalten. Die skeptische Kritik der
Deduktion hat bloß empirische Subsumtionsschlüsse im Auge,
während doch die Gruppe der letzteren nur einen Teil der
') Im Zusammenhange mit dem Problem der Begründung von
Sätzen durch den Syllogismus sj^reche ich hier ausdrüälich von der
Bolle des Subsumtionsschlusses m der forschenden Wissenschaft.
£s versteht sich von selbst, daß Subsumtionsschlüsse auch die wissen-
achaftliche Grundlage des Handelns bilden können, so z. B. in der
Medudn oder etwa in der praktischen Pädagogik. — Auch ist natürlich
axd die Sedeatung des Subsumtionsschlusses für die klassifizierende
Definition zu achten. .
6*
84 B. Hönigswald:
dedaküven Schlüsse überhaupt umfaßt. Dann aber sind
selbst empirische Subsumtionsschlüsse, auch sofern sie den
skeptischen Einwänden formell unterliegen, weit eher ein
wertvolles Instrument der wissenschaftlichen Erkenntnis
denn ein Beweis gegen die Möglichkeit einer solchen.
3. An allen Punkten entzieht sich also die moderne an
den konkreten Au%aben der forschenden Wissenschaft
orientierte Logik den bestechenden Einwänden der antiken
Skeptiker. — Genau in dem Maße, in welchem die Wissen-
schaftslehre sich von den aristotelischen Idealen der „voll-
ständigen Induktion" und der Begründung singulärer Aus-
sagen im empirischen Subsumtionsschluß befreit, emanzipiert
sie sich auch von den Einwänden der rationalen Skepsis.
Der GALiLEische Wissenschaftsbegriff .sowohl, wie jene
bloß empirisch-allgemeinen Sätze, deren erkenntnistheore-
tische Eigenart der Begriff der HuMCschen Erfahrung definiert,
halten den skeptischen Argumenten in gleicher Weise stand.
Die Induktion im wissenschaftlichen Sinn des Wortes
erreichen die Angriffe der rationalen Skepsis überhaupt
nicht. Die Deduktion aber erweist sich den skeptischen
Einwänden unzugänglich, schon deshalb, weil diese der
methodologischen Bedeutung der Deduktion im allgemeinen,
vor allem aber ihrer BoUe im Rahmen des analytischen wie
des empirischen Verfahrens nieht gerecht wird.
Die rationale Skepsis der Pyrrhoniker entspricht bloß
der antiken Logik, genauer jener streng formalistischen
Auslegung der antiken Logik, die man lange Zeit ftir das
Wesen dieser philosophischen Disziplin überhaupt hielt.
Nur den Formalismus der antiken Logik bezwingt daher
der Scharfsinn der Skeptiker. Den neuen Formen des Ver-
fahrens, das die neue Wissenschaft sich schuf und auch den
alten Formen, sofern sie durch einen neuen Inhalt neue
Bedeutung erlangen, ist die antike Skepsis — wir wieder-
holen es — nicht gewachsen.
Die methodologische Berechtigung des Zweifels über-
haupt bleibt durch solche Erwägungen freilich unangetastet.
Gerade eine an der Wissenschaft orientierte Logik muß an
Zum Problem der philosophischen Skepsis. 85
dem Z'weifel, als an einem Lebenselement aller wissenschaft-
lichen Forschung festhalten. Wenn J. St. Mill in einem
seiner politisclien Essays den bekannten Ausspruch tut,
«der -wahre Forscher zeige sich in nichts so deutlich wie
in den Fragen, die er stellt", so dürfen wir erklären: In
nichts zei^ sich der wahre Forscher so deutlich wie in der
Auffindung des Punktes, an welchem er mit seinem be-
gründeten Zweifel als der sichersten Gewähr des Fort-
schrittes einsetzen kann. Denn Fragen stellen heißt in der
Wissenschaft aus Gründen zweifeln, aus den Gründen des
Zweifels die Bedingungen einer Lösung von Aufgaben ent-
wickeln. Aus Gründen zweifeln aber heißt die Methoden
und den Begriff der "Wissenschaft prinzipiell voraussetzen.
So gewiß also die Wissenschaft nur im grellen Lichte des
Zweifels gedeiht, so gewiß muß sie sich auch der Grenzen des
möglichen Zweifels bewußt werden. — Daß die methodischen
Grandsätze, aufweichen unsere Wissenschaft beruht, jenseits
dieser Grenze liegen, ist hier — wenn auch nur mittelbar —
zu zeigen versucht worden : es kann gezweifelt werden, ob
in einem bestimmten Fall die Bedingungen ihrer Ver-
wendung erfüllt sind, aber es kann nicht gezweifelt werden
an dem Erkenntniswert jener Ghiindsätze selbst.
m.
Wir wenden uns nun zu den im engeren Sinne er-
kenntnistheoretischen Problemen, die vor allem in
der „sensualen Skepsis" der Pyrrhoniker diskutiert worden
waren. Diese umfaßt jenes berühmte System von Argumenten,
welches der Pyrrhonismus unter dem Namen der skeptischen
Tropen des Änesidemos zur Widerlegung des Erkenntnis-
wertes der Wahrnehmungen, genauer zum Beweise der Un-
erkennbarkeit von Dingen an sich selbst durch Wahr-
nehmungen, bereit hielt. Das logische Symbol für die
absolute Unzulänglichkeit unserer sinnlichen Mittel zur Er-
kenntnis der Dinge an sich selbst ist für die sensuale Skepsis
das sogenannte Prinzip der Isosthenie: Weil wir die Be-
schaffenheit von Dingen, unabhängig von deren Wahr-
86 B. Hönigswald:
genommenwerden niemals zu erkennen vermögen , sind
selbst einander entgegengesetzte Aussagen über Dinge
an sich möglich und von gleichem, daher gleich negativem,
Erkenntniswert. Einen Turm an sich nenne ich z. B. mit
eben demselben Rechte eckig, mit dem ich ihn als rund
bezeichnen kann, denn er erscheint mir das eine Mal (aus
der Nähe besehen) eckig, das andere Mal (aus der Ferne
betrachtet) rund. Die Unmöglichkeit einer Erkenntnis des
Turmes an sich zeitigt den unmöglichen Erkenntnis-
zustand, ihn durch einander entgegengesetzte und wider-
sprechende Merkmale mit dem gleichen Anspruch auf An-
erkennung zu kennzeichnen. Das Isosthenieprinzip , also
der Grundsatz von der öleichkräftigkeit entgegengesetzter
Aussagen über Dinge an sich ist der Ausdruck der Einsicht,
daß die sinnliche "Wahrnehmung immer nur ein vermeint-
liches Mittel der Erkenntnis sei, daß sie also niemals wahre
Erkenntnis liefern könne, d. h. eine solche, deren Geltung
von den Zuständen des Erkennenden bzw. den Umständen
der Erkenntnis, gleichwie das Dasein und die Beschaffen-
heit von Dingen an sich selbst, unabhängig ist.
. Zwei erkenntnistheoretisch bedeutsame Voraussetzungen
macht hier implizite der Skeptiker: die Einzigkeit der
WaJu'heit und die reale Existenz unerkennbarer Dinge. Als
dritte kommt zu diesen beiden hinzu die Voraussetzung,
daß die einzige Wahrheit an die real existierenden, ihrer
Beschaffenheit nach jedoch unerkennbaren Dinge, gleichviel
wie, gebunden und eben deshalb unerreichbar sei. Diese
drei Gesichtspunkte bestimmen die erkenntnistheoretische
Eigenart der antiken Skepsis: ihre Tropen entwickeln die
Gründe für die Unerreichbarkeit der ihrer Natur nach
einzigen Wahrheit von den real existierenden Dingen. — Es
ist wichtig, diesen Gesichtspunkt mit allem Nachdruck zu
betonen. Denn nichts ist häufiger als die Verwechslung
der Skepsis mit einer Lehre von dem bloß relativen
Wert aller Wahrheit. Eine solche Lehre widerspricht aber ge-
radezu den Anschauungen der Skeptiker. Was das skeptische
Isosthenieprinzip meint, ist nämlich nicht dies : eine jede der
Zum Problem der philosophischen Skepsis. 87
entgegengesetzten Aussagen sei gleich wahr. Das Isothenie-
prinzip behauptet viehnehr nur: Wir wissen nicht, welche
rler Aussagen, ja ob überhaupt eine von ihnen wahr sei. —
Niemals also ist dieses Prinzip ein Ausdruck des Zweifels
daran, daß es nur eine Wahrheit gebe. Vielmehr enthält es
eine entschiedene Abweisung selbst der Möglichkeit eines
solchen Zweifels. Ein Turm erscheint uns — um auf das
Beispiel noch einmal zurückzukommen — je nach seiner
Entfernung von uns rund oder eckig. Ist er nun an sich,
also unabhängig von den Umständen seiner Beobachtung,
rund oder ist er eckig oder ist er weder rund noch
eckig — so fragt der Skeptiker. In diesem „oder" ver-
körpert sich sein Bewußtsein von der Einzigkeit der Wahr-
heit. Ja, dieses Bewußtsein fahrt ihn ja überhaupt erst zu
seinem Problem! Und wenn man sagen darf: die sensuale
Skepsis finde ihren markanten Ausdruck imisosthenieprinzip,
so darf man mit dem gleichen Rechte behaupten, sie finde
ihren Ausdruck in dem Bewußtsein der Unzulänglichkeit
der Sinne für die Erkenntnis der in ihrer Art immer nur
einzigen und absoluten Wahrheit über die Dinge. Gerade
weil die Relation der Dinge an sich zum Erkennenden nicht
ausgeschaltet werden kann, gilt den Skeptikern die ihnen
von den Dingen an sich untrennbar erscheinende Wahrheit
als schlechthin unerreichbar. Die Begriffe von Wahrheit
und Relativität vertragen sich also auch für den Skeptiker
nicht, und nur weil die Skepsis in ihren Tropen immer bloß
die Bedingungen der Relativität aller sonsualen, d. h. die
Voraussetzungen für die Unerreichbarkeit aller wahren Er-
kenntnis entwickelt , ist sie in den Verruf gekommen, die
Einzigkeit und den absoluten Charakter der Wahrheit ge-
leugnet zu haben ; — während sie doch nur die Zugänglich-
keit der Wahrheit geleugnet, ja deren Unerreichbarkeit
vielfach resigniert beklagt hatte.
Man kann den Begriff der Wahrheit den Relationen
des Daseins kaum mehr entrücken, als es die Skeptiker
getan haben. Sie verwechseln sie nicht mit der Meinung
der Majorität und die Übereinstimmung aller gilt ihnen
88 R- Hönigswald:
niemals als das Kriterium der Wahrheit, schon deshalb
nicht, weil jene Übereinstimmung für sie in der Organisation
unserer perzipierenden Organe wurzelt, welchen die Wahr-
heit von den Dingen an sich schlechterdings verschlossen
bleibt. Majoritäten und Minoritäten, die BegriflFe der Norm,
des Durchschnittes und der Abnormität, die Begriffe der
Gesundheit und der Krankheit haben für die antiken Skeptiker
keine Beziehung zur Wahrheit. „Denn" — so sagen sie
wörtlich — „wie die Gesunden einerseits gemäß der Natur
sich verhalten, nämlich der der Gesunden, anderseits gegen
die Natur, nämlich die der Kranken, ebenso verhalten sich
auch die Kranken einerseits wider die Natur der Gesunden,
anderseits gemäß der Natur der Kranken*)." Ist also die
Meinung der Gesunden „Wahrheit", so ist es auch die der
Kranken, d. h. wir erreichen auf allen Gebieten nur
isosthenische Sätze , und nirgends erheben wir uns zu der
alle Isosthenie ihrer Natur nach ausschließenden absolut
eindeutigen Erkenntnis , denn niemals erlangen wir — das
ist ja das spezifische Motiv der sensualen Skepsis — eine
Erkenntnis von den Dingen an sich selbst. — Nun galt den
antiken Zweiflern diese Unerkennbarkeit — wenn man den
Ausdruck gestatten will — als eine Funktion unserer psycho-
physiologischen Organisation. Sie galt ümen als Funktion
insbesondere desjenigen Verhaltens unserer Sinnesorgane,
das wir seit Johannes Müller als die Spezifizität ihrer
Energien zu bezeichnen pflegen. — Damit aber ist ein enger Zu-
sammenhang zwischen der antiken Skepsis und den von
der MüLLERschen Lehre beeinflußten Formen der Erkenntnis-
theorie gegeben. In der Tat ist Schopenhauer, der jene
Lehre in seinem groß angelegten philosophischen System
verarbeitet hatte, ein Vertreter der sensualen Skepsis. Weil
die Welt „meine Vorstellung" ist, ist sie an sich unerkennbar.
Nicht um eine Auffindung der formalen Bedingungen der Er-
kenntnis von Dingen war es also Schopenhauer und seinen
antiken Vorläufern zu tun, sondern stets darum, Anhalts-
punkte für die Behauptung der Unerkennbarkeit der Dinge
*) Vgl. RicHTEK a. a. 0.
Zum Problem der philosophischen Skepsis. S9
zu gewinnen. Die Wissenschaft gilt der Skepsis — und ganz
besonders der Schopenhauers — nicht als das vomehmlichste
Objekt nnd Problem der philosophischen Forschung ; vielmehr
bereitet sie ihr, durch, ihr Dasein allein schon, eine Art von
Verlegenheit. Man mußte die Wissenschaft ignorieren, um
einer von der Philosophie der Wissenschaft unabhängigen
Erkenntnislehre habhaft zu werden. An die Stelle des
XEWTONschen Gravitationsgesetzes trat denn auch für Schopen-
hauer eine romantische „Sehnsucht der Körper nach Ver-
einigung".
Der Gegensatz zwischen der Skepsis und der kritischen
Erkenntnistheorie als Wissenschaftslehre kann nicht groß
genug gedacht werden, — Gewiß, wir sind unweigerlich in
den Elreis unserer sinnlichen Vorstellungen gebannt. Aber
wir beziehen diese, Bedingungen gemäß, die in den sinn-
lichen Vorstellungen selbst liegen, auf einen außerhalb ihrer
stehenden und sie in allgemeingültiger Weise bestinunenden
Faktor. Wir verknüpfen die sinnlichen Vorstellungen nach
formalen Regeln, deren Geltung von dem Dafürhalten des
Einzelnen unabhängig ist, im Begriff des Gegenstandes der
Erfahrung, und wir definieren zugleich den Begriff einer
Erkenntnis von Dingen durch jene Regel. — Erkenntnis
also ist nicht unmögUch, weil uns die Dinge nur in Vor-
stellungen gegeben sind, sondern sie ist nur möglich, weil
wir von Dingen gemäß unserer Organisation Vorstellungen
empfangen. Denn Vorstellungen allein sind nach jener
Regel, die zugleich das Gesetz aller besonderen Gesetze
der Natur darstellt, verknüpf bar. — Wir erkennen die
Dinge in den Gesetzen ihrer Erscheinungen.
Unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten be-
trachtet liegt die Schwäche der Skepsis, der antiken pyr-
rhonischen wie der modernen ScHOPENHAUERschen , schon in
den Voraussetzungen ihrer Fragestellung, in der Be-
schränkung ihres Erkenntniszieles auf die Beschaffenheit der
Dinge an sich selbst. Die Skepsis verkennt das schlechthin
nnd grundsätzlich Utopische dieses Erkenntniszieles —
anch wenn sie dessen tatsächliche Unerreichbarkeit in den
90 R- Hönigswald:
Mittelpunkt ihres Räsoimements rückt. Nur, weil für sie
die Dinge, als Gegenstände der Erkenntnis, nicht durch die
Fonnalgesetze ihrer Erscheinungen definiert waren, konnte
sie auf den sich selbst widersprechenden Gedanken ver-
fallen, die Dinge, wie sie unabhängig von jenen Gesetzen
sein mögen, erkennen, d. h. bestimmen zu wollen, wie sich
ein Faktor unabhängig von den Bedingungen seiner Möglich-
keit wohl ausnehmen möchte ; ja in dieser unmöglichen Be-
ziehung geradezu das Ideal aller Erkenntnis zu erblicken.
Die Skepsis hat den Schritt vom Phänomenalismus zum
Kritizismus nicht getan. Sie ist bei der These stehen ge-
blieben, daß uns die Dinge nur in ihren sinnlichen Er-
scheinungen gegeben seien. Sie hat aber aus dieser an sich
richtigen Einsicht, weil ihre Blicke stets auf das Erforschen
der Dinge an sich und nicht auf die Bestimmung ihres
Anteils an der objektiven Erkenntnis gerichtet blieben —
eine negative Philosophie, eine theoretische Entsagungs-
philosophie gemacht. Der Skepsis fehlt es — und zwar in
allen ihren Formen — an den Voraussetzungen für das Ver-
ständnis der grundsätzlichen Frage des Kritizismus nach
dem Begriff oder, was dasselbe ist, nach den Grenzen
der Erkenntnis. Sie . sieht immer nur deren Schranken, um
in sehnsüchtiger Resignation in das jenseits dieser Schranken
gelegene Gebiet der Dinge an sich, das sie für das Gebiet
der wahren Erkenntnis hält, hinüberzublicken.
Im Gegensatze zur Skepsis nun definiert die kritische
Philosophie den Begriff und die formalen Grenzen einer
möglichen Erkenntnis von Dingen, genauer sie begreift die
formalen Grenzen der Erkenntnis aus deren Begriff. Daher
begreift sie auch das Utopische eines Erkenntnisstrebens,
das diesem' Begriff nicht entspricht. Der philosophische
Kritizismus ist nicht wie die Skepsis Entsagungsphilosophie,
im theoretischen Sinne so wenig wie im praktischen. Denn
er ist die Wissenschaft von den formalen Voraussetzungen,
unter welchen eine Erkenntnis von Erscheinungen der Dinge
stehen muß, die Wissenschaft von den Voraussetzungen der
Wahrheit über die Erscheinungen der Dinge. — Damit aber
Zum Problem der philosophischen Skepsis. 91
ist ein weiterer Punkt bezeichnet, den die Erkenntnislehre
der Skepsis übersieht: sie verkannte, daß die beiden Grund-
Sätze aller gegenständlichen Erkenntnis, die Einzigkeit und
Absolutheit der "Wahrheit und das Beschränktsein unserer
Kenntnis von den Dingen auf deren Erscheinungen ein-
ander nicht widersprechen, kurz sie ermangelt des kritischen
Begriffes vom Naturgesetz.
Dabei blieb die antike Skepsis in ihrem Agnostizismus
wenigstens konsequent; Schopenhauer glaubte in seiner
Willenslehre auch diesen überwunden zu haben. In Wahr-
heit fireilich ist die Vemunftwidrigkeit jenes „Willens", der das
Wesen der Welt sein soll, nur der metaphysisch hypostasierte
Agnostizismus des Skeptikers, das Seitenstück fiir sein Ver-
zweifeln an der Erkennbarkeit der Dinge an sich selbst. —
Schopenhauer ist eben nicht, wofür er innner noch gehalten
zu werden pflegt, weil er sich [selbst dafür erklärt, ein
Weiterbildner der KANTschen Philosophie und der Vollender
des Kritizismus. Er ist ein Weiterbüdner der skeptischen
Philosophie in der Richtung der Romantik, d. h. er steht
an theoretischer Konsequenz genau so weit selbst hinter der
Skepsis zurück, als er in seiner Willenslehre über sie
hinausging.
Skepsis und philosophischer Kritizismus konunen also
überein in der These von der Unerkennbarkeit real
existierender Dinge an sich selbst. Sie kommen überein in
der These, daß uns die Dinge nur in ihren Erscheinungen
gegeben sind. Sie kommen schließlich überein auch in der
These von der Einzigkeit und Absolutheit der Wahrheit.
Aber ihre Wege trennen sich bei der Bestinmiung des Be-
griffes der Erkenntnis. Erkenntnis bedeutet für den Skep-
tiker einen unerreichbaren Idealzustand, weil sie ftir ihn
an die schlechthin unerreichbaren Dinge an sich gebunden
ist. Dies aber ist sie, weil der Skeptiker die absolute Natur
der Wahrheit nur in deren Beziehung auf eine den Re-
lationen des Erkennens entrückte Existenz, eben das Ding an
sieb, verbürgt sieht. Für den kritischen Philosophen ist
der Begriff der Erkenntnis, gerade im Hinblick auf die
92 ß- Hönigswald:
positiven Beziehungen des letzteren zur absoluten Wahrheit,
von dem der- Erfahrung nicht zu trennen, so gewiß das
Wesen seiner Position die Bejahung der Frage bildet, ob
Erfahrung Erkenntnis sei. Erfahrung ist Erkenntnis, weil
die Voraussetzungen, unter welchen der Betrieb der Er-
fahrung und die BegriflFe ihrer Gegenstände stehen müssen,
die Formen der orkenntnismäßigen Verknüpfung von Vor-
stellungen im Urteil, d. h. Kategorien, sind. In der kritischen
Philosophie sind also die Begriffe einer strengen, unter der
Voraussetzung der absoluten Wahrheit stehenden Erkenntnis
von Dingen und des Dinges an sich selbst getrennt und
damit die eigenartige agnostische Erkenntnismetaphysik der
Skeptiker überwimden. „Nur in der Erfahrung ist Wahrheit,"
weil Erfahrung bis in ihre letzten Elemente Verknüpfung
von Erscheinungen der Dinge durch Formen der Erkenntnis
ist. — Die Gegenüberstellung von Skepsis und Kritizismus
enthält zugleich eine Kritik der Fragestellung jener. Nicht
wie der Turm, der je nach seiner Entfernung vom Beschauer
einmal eckig und einmal nmd erscheint, an sich beschaffen
ist — ob rund oder eckig oder keines von beiden, ist der
Skepsis gegenüber das Problem der positiven und der Er-
kenntniswissenschaft; sondern dieses: welche empirischen
Gesetze bestimmen unsere auf die Gestalt von Gegen-
ständen bezüglichen Urteile und welchen formalen Be-
dingungen müssen die uns gegebenen Elemente der Er-
fahrung genügen, um überhaupt als Bestimmungen von
Gegenständen betrachtet zu werden. Nur scheinbar ist die
Skepsis bei der Betonung der subjektiven Bedingtheit aller
tatsächlichen Erkenntnis der Vorläufer des philosophischen
Kritizismus. In Wahrheit ist sie gerade hier sein ent-
schiedenster Gegner. Denn gerade das Ergebnis der Skepsis
war im Kritizismus zu überwinden: wie Erkenntnis von
Dingen ungeachtet der subjektiven Bedingtheit ihrer Ent^
stehimg objektive Geltung haben könne, ist sein Problem.
Und er löst es, indem er den Begriff des Subjektes über
den des psychologischen und empirischen hinaus erweitert.
Er entdeckt im „transzendentalen" Subjekt die formale Be-
Zum Problem der philosophifichen Skepsis. 93
dingang für die objektive Geltung derjenigen Erfahnmgs-
elemente, deren Entstehnngsbedingungen der Skepsis falsch-
lich als die Kriterien der Relativität aller Erkenntnis von
Dingen gedient hatten. Der Skeptiker kennt nur das Ver-
hältnis der Dinge zum empirischen Subjekt, d. h. er besitzt
kein Mittel zur Trennung der Begriflfe des Scheins und der
Erscheinung, wie wir im Gegensatz zum Scheine das Ver-
hältnis zwischen den Dingen und jenem System formaler
Einheitsbedingungen zu nennen haben, die man seit Kant
als das transzendentale Subjekt bezeichnet. — Die Skepsis
ist ein Vorläufer des philosophischen Kritizismus nur dort,
wo sie , gleichviel aus welchen Motiven , den Begriff einer
unverbrüchlichen Gesetzmäßigkeit, einer objektiven Ordnung
der Natur konzipiert. — Solche Gedanken — ich erinnere
an die der subjektivistischen Auffassung gegenüber geltend
gemachte Vorstellung eines naturgemäßen Verhaltens der
Dinge (irpic ttjv oücjiv) — regen sich, vielleicht als Reminiszenz
an die berühmte sophistische Unterscheidung ^öaei-ftlcret schon
ärühzeitig. — Mit voller Deutlichkeit jedoch melden sie sich
erst zur Zeit des Wiederauflebens der Skepsis in der
Renaissance unter dem Einfluß jener merkwürdigen Kom-
bination von Glauben und Zweifel, welche die Ablehnung
jeder plumpen Zweckmäßigkeitslehre nach sich zog. Auf
dem Umwege über seine „gläubige Skepsis" bestimmt z. B.
MoHTAiGNE die Natur als das von aller menschlichen Zweck-
mäßigkeit freie Dasein der Dinge. Das tiefe Gefühl der
Beschränktheit des menschlichen Geistes läßt es ihm als den
Gripfel der Vermessenheit erscheinen, daß der Mensch, „dieses
elende und ärmliche Geschöpf", der Mittelpunkt der Welt
za sein glaubt. In skeptischer Selbstbeschränkung hin-
sichtlich der Frage des im Universum sich verwirklichenden
Zweckes lehrt der Philosoph das Dasein der Dioge nach
Gesetzen, den Begriff einer allgemeinen, vom Wohl und
Wehe des Menschen unabhängigen Gesetzlichkeit der
Natur. — Diesen dann durch den methodischen Begriff der
Erscbeianng definiert zu haben, war die theoretische
Leistang d^^ philosophischen Kritizismus.
04 B. Hönigswald.
Der philosophische Kritizismus überwindet die er-
kenntnistheoretische Skepsis, weil er deren Probleme be-
seitigt; er überwindet sie, weil das Problem der Skepsis
kein anderes ist wie das Problem einer Erkenntnis des
Dinges an sich selbst.
Wir fassen zusammen. Der Zweifel ist ein Objekt der
wissenschaftlichen Philosophie nur als ein methodisch und
zielbewußt zu handhabendes Instrument der positiven
Forschung. D. h. es gibt einen Zweifel nur im Rahmen,
nicht aber an dem Begriff der Wissenschaft, so gewiß dieser
zu den Voraussetzungen jedes methodisch betätigten Zweifels
gehört. Es gibt ein methodologisches Problem des Zweifels,
aber unabhängig von den G-esichtspunkten der „rationalen"
Skepsis. Die Skepsis als erkenntnistheoretische Lehrmeinung
im engeren Sinne aber ist orientiert an dem metaphysischen
Problem einer Erkenntnis des Dinges an sich selbst. Wie
jeder Dogmatismus, so steht daher auch sie außerhalb der
Grenzen einer Philosophie als Wissenschaft.
Zv Theorie der ästhetischen Elementarerschelnongen.
Von Dr. Rlcliard Mflller-Freienfels, Berlin.
Inhalt.
Einleitung. 1. Knnnt als Spiel o<ier als Aasdruck. 2. Die ftsthetischen
EIoiientaTfonnen und das ökonomieprinzip. a. Die dynamische Oefflhlstheorie.
4 Zur Methode der Untersnohnnff.
I. Rhythmus. 1. Motorisoner und sensori scher Rhythmus. 2. Krafterspamis
behn motorischen Rhythmus. 8. Automatisierung^. 4. Bflchers Theorie vom
Ursprunff des Lieds und der Musik. 5. Rhythmus in Musik und Arbeit, beide
boruheod auf Ojjconomischen Prinzipien. 6. Krafterspamis und Kraft-
vergeudung. 7. Altere Theorien Aber den Rhythmus. 8. Der sensorische
Rhythmus. 9. Die intellektualistische Erklärung. 10. Bedenken dagegen.
11. Automatisierung der sensorischen Tätigkeit. 12. Die Intensität. IS. Die
zeitliehen Kigensohnften ( Mach) . 14. Spannung und Losung. 15. Die
sekundären motorischen Wirkungen und ihre Bedeutung. 16. Beeinflussung
der Atmung und des Blutkreislaufs. 17. Die Rausch Wirkung des Rhythmus.
18. Assoziative Elemente beim Rhythmus. 19. Rhythmussteigemde Er-
scheinungen.
II. Konsonanzersoheinungen. 1. Die primitive Musik. 2. Geräusch und
Klang. 8. Konsonanz bei primitiven Völkern. 4. Entwicklung des Harmonie-
Sefflhls. 5. Die Melodie und ihre Ökonomische Bedeutung. Ü. Die Ausbildung
es HarmoniegefÜhls bedingt durch die zur Verwendung gelangenden In-
strumente. 7. Die Theorie der Verschmelzung. 8. Konsonanz und Lust-
gefahL 9. Konsonanz und ökonomieprinzip. 10. Konsonanz aufeinander-
folgender Tone. Zusammenfassung. 11. I4pps und seine Erklärung der
Konsonanz durch unbewuAte Rhythmen. 12. Der Oeftthlswert der Melodie.
III. Die Elementarformen der bildenden Kunst. 1. NaturschOnheit und
KunstsohOnheit. 2. Theorien Aber den Ursprung der Kunst. 8. Zwei Theorien
aber die Herkunft der Elementarformen. 4. Versuch einer Vereinigung
beider. 5. Zur Psychologie der Nachahmung. 6. Plastik und Malerei. 7. Die
Formen der Natur. 8. Nachahmung und Ornamentik. 9. Symmetrie.
10. Rhythmische Anordnung der Formen. 11. Ökonomie und Linearkunst.
Einheit und Mannigfaltigkeit. 12. Zur Psychologie des Symmetriegeftthls.
Einleitang.
1. Als die heutzutage wohl am weitesten verbreitete
Theorie über das Wesen der Kunst ist diejenige an-
zusehen, welche die Kunst, als Schöpfung sowohl wie als
Greimfi (der ja immer ein Nachschaffen ist), als eine Form
des Spieles betrachtet. Man definiert die Kunst als eine
Tätigkeit, die keinem äufieren Zwecke nachgeht, sondern
ihren Wert in sich selber hat und nur der Lösung innerer
Spannungen dient. Physiologisch ausgedruckt würde das
heifien, daß die Bedeutung der Kunst wie des Spieles über-
haupt im Verbrauch überflüssiger — oder wie man jetzt
96 Richard MüUer-Freienf eis-
besser noch, sagt — unverbrauchter Kräfte beruht. Diese
zuerst von Schiller ausgesprochene, dann von Herbert
Spencer und anderen weiter ausgeführte Lehre, hat neuer-
dings durch die verdienstvollen Werke von Karl Groos eine
andere Wendung bekommen ^). Dieser will mehr in den zur
Übung drängenden angeborenen Instinkten das Wesen
des Spieltriebs und damit auch des Kunsttriebes erblicken,
doch dürften diese beiden Fassungen der Spiel-Kunsttheorie
nicht unvereinbare Gegensätze sein, wie iDereits Ribot*) be-
merkt hat, sondern man hat in der Formulierung von Groos
nur eine Präzisierung der ursprünglichen zu sehen, da das,
was die Instinkte zur Tätigkeit treibt, in letzter Instanz
doch aufgespeicherte und zur Dissimilation drängende
Kräfte sind.
Irgendwie liegt diese Anschauung allen ernst zu
nehmenden Theorien auf diesem Gebiete immer zugrunde,
nur in der Fassung oder speziellen Anwendung differieren
sie. Das gut besonders auch von jener anderen Anschauung,
die den Kunsttrieb als das Streben nach Ausdruck
definiert und die besonders in den Werken von Yrjö Hirn*),
J. CoHN*) und anderen ihre Vertreter gefanden hat. Sie tritt
nicht Grogs, sie erklärt sie nur nicht für ganz ausreichend,
eigentlich in Gegensatz zu der Theorie von Spencer und
Ausdrücklich bemerkt Hirn*), daß jene Theorie bloß das
negative Kennzeichen der Kunst bestimme; er selbst wiU
dagegen eine positive Belehrung über die Natur der Kunst
durch seine Ausdruckstheorie geben.
Es kann uns jedoch hier, wo es sich um eine Deutung
der sogenannten ästhetischen Elementarformen, wie Rhyth-
mus , Harmonie , Symmetrie usw. handelt, nicht darauf an-
') Vgl. Schiller, Briefe über ästhetische Erziehung des Menschen.
Brief 37. H. Spencer, Principles of Psychology, HI, Ed. II, 627 ff.
Gboob, Spiele der Tiere: Spiele der Menschen: Der ästhetische Genuß,
S. 16f.
*) BiBOT, Psychologe des Sentiments, S. 332.
•) Ybjö Hirm, Der Ursprung der Kunst.
*) J. CoHN, Allgemeine Ästhetik.
^) Hirn, a. a. 0. S. 29.
Zur Theorie der ästhetiBchen Elementarerscheinungen. 97
kommen, jene Streitfrage ausführUch zu diskutieren. Für
unsere Zwecke jedenfalls sind sowohl die Spiel- wie die
Äusdruckstheorien gleich brauchbar, da es sich ja in beiden
Fällen um eine Lösung innerer Spannungen handelt, was
wir hier brauchen. Für uns kommt es nicht darauf an, ob
man diese Lösung mit Groos als die Betätigung angeborener
Instinkte sieht oder mit Hirn den Nachdruck mehr auf die
Steigerung der Gefühle und sozialen Einflüsse legt. Auf
einzelnes wird die weitere Untersuchung zurückführen.
2. Wir nehmen also an, daß die künstlerische Tätigkeit
von innen heraus bestimmt ist, daß eiue Anpassung an
äußere Zwecke dabei nicht stattfindet, höchstens eine
kleine Modifikation infolge der zur Verwendung gelangenden
Mittel und Instrumente. Wenn wir nun also jene ästhetischen
Elementarformen, wie Rhythmus, Konsonanz, Symmetrie usw.,
bei ziemlich allen Völkern unabhängig ausgebildet finden,
so kann ihr Entstehen natürUch nicht zufallig sein, sondern
mnS bei dem Fehlen der äußerlichen Bedingtheit alleia aus
der Natur des Menschen selber erklärt werden. Es soll nun
im folgenden der Versuch gemacht werden, jene allgemeinen
Formen in erster Linie aus dem spezifischen Wesen der in
Betracht kommenden menschlichen Organe abzuleiten, die
Konstübung muß sich als die adäquateste Form der Lebens-
betätigung erweisen, das heißt als diejenige Form, in der
die Funktionen des menschlichen Organismus am reinsten
zum Ausdruck kommen, und welche dem Bestehen seiner
Organe am günstigsten sind, da hier nur die Seele selbst
sich die Form vorschreibt, nicht äußere Zwecke sie ver-
gewaltigen. In der künstlerischen Tätigkeit muß das all-
gemeine Lebensprinzip, wenn es ein solches gibt, sich am
klarsten entfalten.
Dieses Prinzip aber, das alle Funktionen des tierischen
Organismus beherrscht, ist das des kleinsten Kraft-
maßes, oder wie man es sonst nennen wül, eiu öko-
Domisclies Prinzip, demzufolge der Organismus
immer diejenigen Tätigkeiten bevorzugt, die
ihm bei einem Minimum von Kraftaufwand ein
TiertelJahrsAebrift f.wi8Mn8ohafÜ.Philo8. u.Soziol. XXXn. 1. 7
98 Bicliard Müller-Freienfels:
Maximum von harmonischem und wertvollem,
daher lustbetonten Erleben verschaffen* Man
hat dieses Prinzip sehr verschiedenartig im einzelnen
formuliert. Ich gebe hier nur den Wortlaut wieder, den
Richard Avenariüs ihm gegeben hat: „Die Seele verwendet
2U einer Apperzeption nicht mehr Kraft als nötig und gibt
bei einer Mehrheit möglicher Apperzeptionen derjenigen den
Vorzug, welche die gleiche Leistung mit einem geringeren
Kraftaufwand bzw. mit dem gleichen Kraftaufwand eine
größere Leistimg ausführt; unter begünstigenden umstanden
zieht die Seele selbst einem augenblicklich geringeren Kraft-
aufwand , mit welchem aber eine geringere Wirkungsgröße
bzw. Wirkungsdauer verbunden ist, eiue zeitweilige Mehr-
anstrengimg vor, welche um so viel größere bez. andauernde
Wirkungsvorteüe verspricht." *) Dieses Prinzip ist von
AvENARius selbst auf wesentlich andere psychische Phänomene
angewandt worden. Hier nun soll nachgewiesen werden,
daß auch die ästhetischen Formen sich hauptsächlich darum
durchgesetzt haben, weil sie ein Maximum von psychischem
Erleben bei einem Minimum von Kraftaufwand gestatteten.
Der Versuch, die ästhetischen Elementarerscheinimgen
von diesem Prinzip aus zu begreifen, ist nicht völlig neu.
Für einzelne Gebiete ist das schon mit Erfolg geschehen.
Bereits Fechner hat in der „Vorschule der Ästhetik" auf dieses
Prinzip hingewiesen und es schon ausgesprochen, daß man
wohl daran denken könne , dies Prinzip an die Spitze der
ganzen Ästhetik zu stellen. Neuerdings hat Bücher dieses
Prinzip für die Erklärung der motorischen Rhythmus -
erscheinungen verwandt, für die Elementartatsa^chen auch
in der bildenden Kunst ist es herangezogen worden, und
auch sonst vielfach sind Ansätze zu dieser Deutung der
ästhetischen Elementarerscheinung zu finden, wenn das
gleich noch nirgends — meines Wissens — konsequent
durchgeführt worden ist. Hierher gehört auch eine größere
') R. AvBNARius, Philosophie als Denken der Welt gemäß dem
Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. 1876. S. IV.
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 99
Schrift von Soret *), in welcher auf die wichtige Rolle hin-
gewiesen wird, die in der Kunst die Wiederholung der-
selbenEindrücke spielt. Für die verschiedensten Zweige
knnstlerisclier Tätigkeit hat er die Bedeutung dieser „im-
pressions reiteröes" nachgewiesen. Doch ist leider Soret eine
tiefere Erklärung des Ghrundes, warum denn die Wiederholung
so InstvoU wirkt, schuldig geblieben. Wir werden im folgenden
auf den Begriff der Wiederholung oder der Übung oft
zurückzukommen haben, denn gerade in dieser Form kommt
das Prinzip des kleinsten Kraftmaßes oder des kleinsten
Zwanges am häufigsten zur Geltung.
Wir nehmen also an, daß die ästhetischen
Elementarformen die Formen sind, in welchen
die Betätigung der betreffenden Organe und
damit die Zersetzung der unverbrauchten
Energie am leichtesten und besten vonstatten
geht. Man kann auch mit Berücksichtigung einer neueren,
noch genauer zu behandelnden Theorie von Härwey A. Carr*)
sagen, daß sie, speziell der Rhythmus, die Formen sind, die
die besten Bedingungen zur Herbeischaffiing einer hin-
reichenden Kraftmenge liefern. Im einzelnen wird darauf
zurückzukommen sein.
3. Darum also, weil diese Formen die besten Be-
dingungen für die Zersetzung der Nervenenergie bieten,
sind sie von Lustgefühlen begleitet. Damit nun stellen wir
uns auf den Boden der sogenannten dynamischen Ge-
fühlstheorie, die das Lustgefühl als ein Symptom dafür
annimmt, daß die betreffende Reizung oder Tätigkeit des
Organs seiner Erhaltung zuträglich sei. So ist diese Theorie
schon von verschiedenen älteren und neueren Philosophen und
Psychologen angestellt worden, und in allemeuster Zeit
hat sie besonders durch die bedeutenden Forschungen Alfred
Lehmasss eine starke empirische Basierung gefunden. Ich
') J. SoB£T , Sur les conditlons physiques de la perception du
bean. Gen^^e 1892. .^ : .
*) Habwbt A. Carr, Tlie survival values f^i^Ta,y*iy(xt,.;VgL dazu
GtLoos Pas Seelenleben des Kindes. Berlin 1904. "S. 57 1'
7*
100 B-ichard Müller-Freienfels:
gebe "aarum die Fassung dieses Psychologen hier wieder^
weil ich mich vor allem auf sie stützen werde. Man geht
davon aus, daß jedes wohl ernährte Organ einen Drang zur
Tätigkeit, zur Arbeit hat und daß diese Arbeit, wenn sie
nicht die verftigbaren Kräfle übersteigt, ein Lustgefühl
hervorruft, daher die Bezeichnung „dynamische 6e-
fühlstheorie". Nun sagt Lehmann : „Die Gefühlsbetonung
Lust und Unlust, die jeden psychischen Zustand oder jede
psychische Tätigkeit begleitet, ist der psychische Ausdruck
für den Biotonus (Ausdruck Verworns : = Verhältnis von
. . . . A
Assimilation und Dissimilation ^) der arbeitenden Neuronen.
A .
Ist YÄ = 1 » so wird der resultierende psychische Zu-
stand lustbetont, und zwar um so stärker, je größer D
A
und A sind; wird p: < 1, so ist der Zustand unlustbetont^
A
und zwar um so stärker, je kleiner w ist. Mit dem
wechselnden Zustand des Organismus variiert der Wert
A . .
von D, bei welchem ^ aus eins in < 1 übergeht und somit
auch die Stärke und Art der Gefühlsbotonung."*) — „Wenn
ein physiologischer Prozeß keinen größeren Verbrauch der
Energie jedes einzelnen arbeitenden Neurons erfordert, als
daß der Stoffwechsel fortwährend den Verbrauch zu ersetzen
vermag, so wird die psychische Wirkung hiervon ein Lust-
gefühl sein, während die physiologische Wirkung die
Bahnung von Bewegungen in andere Zentren wird. Das
Maximum des Lustgefühls wird erreicht, wenn der Stoff-
wechsel den stattfindenden Verbrauch gerade zu decken
vermag. Bei Überschreitung dieser Grenze ninmit sowohl
das Lustgefühl als die Bahnung schnell ab, indem der
Verbrauch im Arbeitszentrum nun einen Energiestrom aus
den Umgebungen bewirkt, wodurch gleichzeitig Prozesse in
^) A^.f^- L^umln:« , Über den körperlichen Ausdruck seelischer
Zustände, HI, 404.
Zur Theorie der äathetischen Elementarerscheinnngen. IQl
letzterem gehemmt werden. Der psychische Zustand ist
unter diesen Verhältnissen zunächst neutral, je nach den
umstanden bald zur Lust, bald zur Unlast tendierend. Wird
endlich der Verbrauch in den arbeitenden Neuronen so groß,
daß er nicht durch den Stoffwechsel im Verein mit dem
interzellulären Energiestrom gedeckt werden kann, so wird
die psychische Wirkung ein Unlustgeftihl werden. Eine
Hemmung anderer gleichzeitiger Prozesse wird deshalb stets
das Unlustgeftihl begleiten, ausgenonamen, wenn dieses nur
von rein instantaner Dauer ist, so daß kein Energiestrom
zustande kommt. Alsdann wirkt die Bewegung im Arbeits-
zentrum bahnend.« ÄhnHche Anschauungen finden sich femer
bei RiBOT, bei Henry Rütgers Marshall und anderen.
Es wird nun nachzuweisen sein, daß die hier zu be-
sprechenden ästhetischen Elementarformen, wie Rhythmus,
Konsonanz usw., besonders günstige Voraussetzungen für die
Dissimilationstätigkeit bieten, und zwar darum, weil sie
ihren Zweck am vollständigsten erfüllen und doch dabei
durchaus ökonomisch verfahren.
4. Da nun aber das Prinzip des kleinsten Kraftmaßes,
das hier überall in seiner Bedeutung für die Ästhetik der
Elementarformen erwiesen werden soll, ein Entwicklungs-
prinzip ist, so wird daher unsere Untersuchung notwendig
eine entwicklungsgeschichtliche sein müssen. Die Frage,
die wir überall zu beantworten streben, ist die: Welche
Ursachen haben es bewirkt, daß sich gerade diese Formen
der künstlerischen Tätigkeit (Rhythmus, Konsonanz usw.)
überall als Grundformen durchgesetzt und herausgebildet
haben. Eine psychologische und womöghch physiologische
Begründung für diese Tatsache zu gewinnen ist unser Ziel.
Dabei haben wir überall ein zwiefaches Tatsachengebiet
zu sichten. Einmal gilt es jene Gründe zu fassen, die für
die künstlerische Produktion im weitesten Sinne also mit
Inbegriff der Reproduktion galten, anderseits aber auch
jene, die das Aufnehmen dieser Art von Eindrücken so
Instvoll naachten. Die Faktoren, die dabei, besonders für
die Prodoktion, in Betracht konmien, sind durchaus nicht
102 Eichard Müller-Freienfels:
rein ästhetischen, sondern sehr verschiedenen Ursprungs.
Daß eine Form freilich sich znr Eunstform entwickeln
konnte, dazn gehört, daß sie sowohl in der Produktion wie
im Genuß lustvoll wirkte. So zum Beispiel ist die große
Bedeutung des Rhythmus nur darin zu suchen, daß er so-
wohl sich als beste Form für die Erzeugung wie für das
Aufnehmen von Eindrücken motorischer, akustischer usw.
Art herausstellte. Wir werden dann im Laufe der Unter-
suchung finden, daß unser Prinzip, weil es eben ein all-
gemeines Prinzip für jede Funktion des animalischen
Organismus ist, sowohl für das motorische wie für das
sensorische Gebiet seine Geltung besitzt.
Das Material für unsere Untersuchung entnehmen wir
in erster Linie den Forschungen über die primitiven Völker
oder, wie man richtiger sagen würde: die primitiveren
Völker. Denn hier liegen die Verhältnisse noch einfacher,
während die Linien der Entwicklung auf höheren Stufen
sich mehr verwirren. Doch wird natürUch auch die Ge-
schichte der Musik und der anderen Künste zu be-
rücksichtigen sein. Alles in allem wird jedoch mehr Wert
auf diese ethnographische Fakta gelegt als auf psycho-
logische Experimente, obwohl auch hier sehr interessante
Arbeiten von Stumpf, Meumann, Bolton u. a. benutzt werden
konnten. Während sich jedoch hier immer Subjektives ein-
schleichen muß, bieten jene Experimente angewandter
Psychologie, wie sie die Geschichte liefert, ein bedeutend
objektiveres Tatsachenmaterial. Dies ist denn der Grund
für die eingehende Berücksichtigung der ethnologischen
Forschungen, wie sie besonders die zusammenfassenden
Werke von Grosse, Hirn, Wallaschek, Hörnes , Wundt usw.
darbieten.
I. Rhythmus.
1. Da zunächst für unsere Zwecke eine speziellere
Definition des Rhythmus nicht vonnöten ist, so übergehen
wir vorläufig alle einzelnen Theorien und sagen nur ganz
allgemein : alle in regelmäßigen, nicht zu großen Intervallen
wiederkehrenden Erregungen des Nervensystems nennen wir
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 103
rhythmisch. Püftjjtic to^vüv äotl a6avr^}ia ix xp^vcov xaxa ttva
TQ&v auYxet{iiva»v, definierten bereits die Griechen.
Suchen wir die so gegebenen Tatsachen zu überschauen,
so teilen sie sich unschwer in zwei Gruppen. Die eine
davon umfaßt die motorischen Erscheinungen, wozu die
rhythmischen Bewegungen bei Arbeit, Tanz, Musikerzeugung
gehören*), die andere die sensorischen, unter welchen
wiederum die akustischen besonders hervortreten, da die
optischen und taktilen ßhytimiusempfindungen daneben eine
geringe Rolle spielen. Die meisten bisherigen Behandlungen
der Bhythmusfragen haben allzu einseitig nur eins der beiden
^Tebiete in den Vordergrund gerückt. Wir werden zunächst
die beiden Gruppen getrennt voneinander behandeln, wobei
sich allerdings das beiden gemeinsame Prinzip bald heraus-
steUen wird.
Von diesen beiden Gruppen ist die der motorischen
Rhythmuserscheinuugen unbedingt die primäre, denn eigent-
lieh nur im Anschluß an diese treten sensorische Rhythmus-
erscheinungen auf. Was die Natur an rhythmischen Tat-
sachen zu bieten hatte, wurde teils überhaupt nicht wahr-
genommen, wie das Klopfen des Herzens, des Pulses usw.,
teils war es zu selten , lokal beschränkt und von geringem
Interesse för primitivere Menschen, wie das rhythmische
Schlagen der Meeresbrandung oder ähnliches. Wo aber die
Rhythmusempfindungen wirkUch stark hervortreten, wie im
Tanze, in der Musik, in der Poesie, dort ist der eigentliche
Grund auf motorischem, nicht auf sensorischem Gebiete zu
suchen. Alle diese Tätigkeiten sind Entladungen innerer
Spannungen, der Rhythmus hat sich nur aus den hier zu
untersuchenden Gründen als die beste Form dieser Ent-
ladungen herausgestellt. Es ist aber durchaus nicht nötig,
von vornherein Zuhörer oder Zuschauer anzunehmen. Bei
den ganz primitiven Eunstleistungen, wo Tanz, Musik und
') Die an die sensoriscken Rhythmen sich anschließenden inner-
motoiischen Erregungen, die icn als sekundär-motorische oder
sensorisch-motorische Phänomene bezeichnen könnte, werden zunächst
nicht behandelt, da ihnen später eine besondere Betrachtung ge-
widmet wird.
104 Itichard Müller-Freienfels:
Poesie gemeinsam auftreten, handelt es sich in erster Linie
um subjektive Betätigungen; das Motorische ist die
Hauptsache, nicht das Sensorische. Erst auf einer ent-
wickelteren Stufe tritt die Arbeitsteilung auf, daß eine
Trennung zwischen Künstler und Publikum stattfindet,
d. h. zwischen einem Teil, der die motorischen Leistungen,
das Tanzen, Beckenschlagen, Singen übernahm und einem
anderen Teil, dessen Tätigkeit im Empfinden der von jenen
dargebotenen Beize bestand. Das dies freilich geschehen
konnte, daß der Rhythmus einmal in motorischer, ein ander-
mal in sensorischer Form seine Wirkung tun konnte, setzt
ein gemeinsames Prinzip voraus, und dieses kann nur in
der Beschaffenheit der Nerventätigkeit zu suchen sein, die
sich dort in den motorischen, hier in den sensorischen
Organen äußert. Jedenfalls aber sind die motorischen
Rhjrthmuserscheinungen durchaus als die primären an-
zusehen, wobei es sich natürlich um die logische, nicht
(Jie historische Priorität handelt.
2. Über das Gebiet der motorischen Rhythmus -
tatsachen haben wir die interessante Monographie von
Bücher, „Arbeit und Rhythmus". So sehr wir auch ge-
zwungen sind, im weiteren Verlaufe von den dort ver-
tretenen Anschauungen abzuweisen, so können wir in der
allgemeinen Auffassung rhythmischer Tätigkeit uns durchaus
dem Verfasser anschließen.
Auch nach Bücher ist der Rhythmus ein ökonomisches
Entwicklungsprinzip, das als regulierendes Element spar-
samsten Eräfteverbrauchs alle Betätigungen des tierischen
Organismus beherrscht. „Das trabend» Pferd und das be-
ladene Kamel bewegen sich ebenso rhythmisch wie der
rudernde Schiflter und der hämmernde Schmied. — Durch
den Rhythmus scheint in der Jugendzeit des menschlichen
Geschlechts das ökonomische Prinzip instinktiv zur Geltung
zu kommen, welches (nach Schäffle) uns befiehlt, möglichst
viel Leben und Lebensgenuß mit möglichst geringer Auf-
opferung an Lebenskraft und Lebenslust zu erstreben." ^)
*) Bücher, Arbeit und Rhythmus, III. Aufl., 397 f.
Zur Theorie der fisihetischen Elementarerscheinungen. 105
Jedermann kann ja alltäglich an sich selber die Be-
obachtung machen, wieviel anstrengender es ist, unregel-
mäfiige Bewegungen auszuführen als gleichmäßige. Jeder
Fnfiganger und Bergsteiger erfahrt das; wenn man eine
Treppe mit ungleichen Stufen zu ersteigen hat, ermüdet man
bedeutend rascher, als wenn man eine ganz regelrecht ab-
gestufte erklimmt, und ganz ohne unser überlegtes Zutun
sacht der Organismus jede Tätigkeit, bei der es einiger-
maSen angängig ist, in eine rhythmische zu verwandeln.
3. Auch fitr die physiopsychologische Erklärung hat
Bücher den wichtigsten Punkt hervorgehoben. Denn das
wesentlichste Ersparnis von Arbeit bei der rhythmisch-
regelmäßigen Tätigkeit gegenüber der unregelmäßigen ist
die Automatisierung der Tätigkeit. Es ist immer die-
selbe zentrale Innervation, die alsbald rein mechanisch vor
sich geht und nicht immer wieder von neuem die Auf-
merksamkeit und das Kachdenken, damit also das Gehirn
in seinem weiteren Umfange in Anspruch nimmt. Diese
Automatisierung aber tritt ein, wenn man die Bewegungen
so reguliert, daß sie regelmäßig wiederkehrend in dieselben
räomlichen xmd zeitlichen Grenzen fallen. „Durch die in
den gleichen Intervallen erfolgende und gleich starke Be-
wegung desselben Muskels wird das hervorgebracht, was
wir Übung nennen •, die einmal in Tätigkeit gesetzte, in be-
nimmten zeitlichen und dynamischen Maßverhältnissen
wirkende körperliche Funktion setzt sich mechanisch fort,
ohne eine neue Willensbetätigung zu erfordern, bis sie durch
das Eingreifen eines veränderten Willensentschlusses ge-
hemmt, unter Umständen auch besohleunigt oder verlangsamt
wird. — Alle Übung ist Anpassung; die Muskelbewegungen
werden an eine Regel gebunden; ihr Stärkegrad wechselt
nicht in unsicherem Tasten; die Ruhepunkte und Er-
holungsmomente zwischen den einzelnen Bewegungen werden
mit der Kraftausgabe in Einklang gebracht und in ihrer
Zeitdauer ebenso bestimmt, wie es die Bewegungen selbst
sind."') Fast jede Tätigkeit aber setzt sich aus zwei
V BOcHEB, a. a. 0. S, 23 ff.
106 Bichard Müller-Freienfels:
Elementen zusammen, Hebung und Senkung, Stoß und Zug,
Streckung und Einziehung und diese regelmäßige Wieder-
kehr der gleich starken und in gleichen Zeitgrenzen ver-
laufenden Bewegungen empfinden wir als Bhythmus, was
noch verstärkt wird, wenn durch die Berührung des Werk-
zeugs mit dem Stoff ein Ton erzeugt wird, also zu dem
motorischen Element ein sensorisches hinzutritt.
Wir haben also bis jetzt eine zweifache Ersparnis bei
der rhythmischen Tätigkeit. Einmal die Ersparnis in-
tellektueller Leistungen durch das Automatisch-
werden der Arbeit, dann aber auch das Eintreten
kleiner Erholungspausen, die der Ermüdung
vorbeugen, welche bei kontinuierlicher Anstrengung der
Muskeln viel stärker sein würde. Dem allen widerspricht
keineswegs die Beobachtung, auf die neuerdings*) hin-
gewiesen ist, daß die Ermüdung nicht verhindert wird, so-
bald der Rhythmus dem Individuum von außen her durch
die Verhältnisse vorgeschrieben wird, wie z. B. wenn ein
Arbeiter sich mit seinen Handgriffen nach der Maschine
richten muß. Denn . in diesem Falle hat eben jene An-
passung nicht stattgefxmden , hier ist der Rh3rthmus nicht
die beste Form der Tätigkeit, die der Organismus sich
selber gefunden hat, wie das sonst der Fall ist-, der Rhythmus
kann hier andere Tätigkeiten durchkreuzen usw.
Mit jenen beiden Faktoren der Krafberspamis ist aber
noch längst nicht das ganze Gebiet erschöpft. Es kommen
vor allem noch soziale Momente hinzu, die eintreten, so-
bald mehrere Individuen ah derselben Arbeit beschäftigt
sind. Aus allen diesen Ghründen begreift sich die überaus
große Verbreitung der rhythmischen Form der Arbeit, die
zu beobachten sich überall Gelegenheit bietet, wohin man
in Handwerk und Gewerbe auch blicken mag.
4. Von diesem allverbreiteten Rhythmus der praktischen
Tätigkeit ist Bücher nun weitergegangen und hat eine Theorie
aufgestellt, die den Rhythmus in der Kunst und damit
*) Margaret Keiver Shith, Rhythmus und Arbeit in „Philo-
sophische Studien«, XVI, 71 ff.
Zur Theorie der ästhetisclien Elementarerscliemungen. 107
eigentlich alle primitive Musik und Dichtung aus der Arbeit
ableitet ^). Auf der primitiven Stufe ihrer Entwicklung seien
Arbeit, Musik und Dichtung in eins verschmolzen ge-
wesen, das Grundelement dieser Dreieinheit aber sei die
Arbeit gewesen. Den beiden anderen käme nur akzessorische
Bedeutung zu. Es soll die energische, rhythmische Körper-
bewegung gewesen sein, die zur Entstehung der Kunst
gefuhrt habe. Durch Variation und Ausspinnung jener halb-
tierischen Laute, die der Gang der Arbeit den Menschen
entpreßte, soUen die primitivsten Arbeitsgesänge entstanden
sein. So seien aus diesen Naturlauten zunächst Gesänge
entstanden, die sich aus sinnlosen Lautreihen zusammen-
gesetzt hatten und bei deren Vortrag allein die musikalische
Wirkung, der Tonrhythmus als Unterstützungsmittel des
Bewegungsrhythmus, in Betracht kam. Im weiteren Ver-
laufe habe man dann einfache Sätze zwischen die Laut-
reihen eingeschoben, die Kehrreimlieder seien so entstanden,
und so sei Schritt für Schritt aus dem Arbeitsgesange die
poetische Schöpfung herausgewachsen, nachdem man auch
die Refrains habe fallen lassen. Manche Beobachtungen,
so das Auftreten der konventionellen Kehrreime, bei fast
allen Völkern scheinen dieser Theorie günstig zu sein, und
Bücher hat sie auch auf Spezielleres angewandt und sie
auch weiter ausgedehnt, indem er z. B. auch die Musik-
instrumente aus Arbeitswerkzeugen entstanden sein läßt.
Daß in einzelnen Fällen es niemals so zugegangen ist, ist
natörlich nicht zu erweisen, sondern sogar recht denkbar,
die universelle Geltung dieser Theorie aber ist fast von
allen Seiten abgelehnt worden. Es braucht darum hier
nicht noch einmal zu geschehen; dagegen mögen einige
wichtige Bausteine für eine andere Theorie ihr entnommen
sein, die im folgenden kurz entwickelt werden soll.
5. Beibehalten werden kann von der Theorie Büchers
unbedingt jener Teil, der die Bedeutung des Rhjrthmus in
der Ersparnis von Kräften sieht. Aber es ist durchaus nicht
gesagt, daß alle Musik und alle rhythmische Poesie bei der
') BücHKB, a. a. 0., S. 342 ff.
108 Eichard Müller-Freienfels:
Arbeit entstanden sind. Denn einmal singen die Völker in
erster Linie in ihren Mußestunden, und dann kommt in
jenem primitiven Zustande der Entwicklung, wohin der
Ursprung der Kunst zu verlegen ist, die Arbeit, man mag
diesen Begriff so weit fassen, als man will, doch lange nicht
in solchem Maße in Betracht, daß man ihr eine so gewaltige
Wirkung wie die Schaflftmg von Musik und Poesie zutrauen
könnte. Nein, wir sehen die Entst-ehung von Tanz, Musik
und Dichtung durchaus in dem sogenannten „Spieltrieb",
das heißt in dem Trieb zur Entladung unverbrauchter an-
gesammelter Energie, der sich in allen Organen geltend
machen kann. Und hierfür gilt dasselbe Prinzip, das jede
andere organische Betätigung beherrscht, daß man für die
kleinste Mühe und den geringsten Kraftaufwand die möglichst
höchste Menge an Erleben, Empfindungen und Gefählen
eintauschen will. Und als Form fiir diese Tätigkeit bot sich
hier wie bei der Arbeit der Rhythmus dar. Der Ursprung
der rhythmischen Kunstbetätigung ist also nicht in der
rhythmischen Arbeit zu suchen, sondern beide Be-
tätigungen, wie jede andere, die man noch auf-
stellen mochte, werden von demselben Prinzip
beherrscht, dem des möglichst geringen Kraft-
aufwandes.
Jedermann kann bei Kjndem immer von neuem wieder
die Beobachtung machen, daß sich der „Spieltrieb" (wir
behalten aus Gründen der Einfachheit diesen kurzen, wenn
auch nicht ganz exakten Ausdruck bei) besonders gern im
Lärmen äußert. Schon Plato bemerkte, daß die Natur des
Menschen ihn zu lärmender Bewegung hinrisse. Wenn nun
auch neuerdings*) die Behauptung aufgetaucht ist, daß ge-
wisse flötenartige Instrumente die ersten gewesen seien, so
ist doch nicht wegzuleugnen, daß das Schlagzeug in den
mannigfachsten Formen doch eigentlich die primitivsten
Lärmwerkzeuge Kefert, was auch Bücher annimmt. Daß sie
zufilllig sich historisch nicht als erste nachweisen lassen,
^) Wallaschek, Anfänge der Tonkunst, S. 831.
Zur Theorie der ästhetisdieii ElementarerscheinuBgen. 109
scheint mir nicht unbedingt zwingend zu sein, und für den
Verstand jedenfalls erscheint eine Klapper noch bedeutend
primitiver als auch die einfachste Knochenflöte.
Wie nun auch immer diese Lärmwerkzeuge beschaffen
sein mochten, ob es Klappern, Kastagnetten , Tamtams,
Gongs, Glocken, Trommeln, Pauken, Ratteln, Tamburins
waren, inmier mußten sie durch Muskelanstrengungen in
Bewegung gesetzt werden, und fiir diese Tätigkeit mußte
der primitive Mensch dieselbe Erfahrung machen, die er bei
seiner „Arbeit" machte, nämlich, daß es bedeutend weniger
anstrengend war, das Tamtam oder den Gong rhythmisch
zu schlagen, als unregelmäßig. Dabei mochte die Gewohn-
heit des rhythmischen Arbeitens vom Rudern usw. noch
unterstützend eintreten. Aus rein ökonomischen Gründen
mußte sich also bei den primitiven Instrumenten die rhyth-
mische Musik einstellen.
Auch fiir die anderen Instrumente galt ähnliches. Bei
Blasinstrumenten ist auch das primitivste Modulieren durch
Einbohren von Löchern usw. dem Absetzen und Neu-
anblasen gegenüber kompliziert, und dieses mußte natürlich
ebenso wie jede andere Musik zu einer gewissen Rhythmik
fahren. Auch für die gezapften oder gestrichenen Saiten-
instrumente gilt dasselbe.
Ahnliches läßt sich für den Gesang behaupten, der auf
der primitiven Stufe fast immer mit dem Tanze gemeinsam
vorkommt und daher auch im Zusammenhang mit dem
Tanze betrachtet werden muß. Auch für die Tanzbewegung
gilt natürlich, was für jede andere Bewegung gilt, daß un-
regelmäßiges Springen zu viel rascherer Ermüdung führt
als rhythmisches. So leitet auch Ferrero *) die Verhebe der
Wilden für den Tanz gerade aus seinem automatischen
Charakter ab. Nur die erste Bewegung setzt eine "Wülens-
betätignng des Tänzers voraus, die weiteren erfolgen gleichsam
von selbst und steigern sich ganz automatisch. Da die
primitive Musik und die primitive Poesie immer mit dem
') Eevue scientifique, 4. Serie, Tome V, S. 333.
110 Richard Müller-Freienf eis:
Tanze verbunden auftreten, so unterstützten sich der
motorische und akustische Rhythmus, und von diesem
Standpunkte aus mag man immerhin im Tanze die UrzeUe
der Poesie (Scherer) erblicken, wozu noch die Erleichterung
für das Atemholen kommen mag, die im rhythmischen Ge-
sänge gegeben war.
6. Es muß nun einem Einwand begegnet werden, der
schon gegen Bücher erhoben wurde und der auch hier sich
einstellen mag. "Widerspricht sich nicht die Lehre von der
Entladung der „owerflowing energy" mit der anderen von
der möglichst sparsamen Verwendung der Mittel? Findet
nicht gerade in dem Tanzen eine törichte Vergeudung
von Kräften statt?
Der Widerspruch ist nur scheinbar. Die ^ Vergeudung"
gilt nur für die Tätigkeit im allgemeinen, nicht für die Art
des Verbrauchs im einzelnen. Hier verfährt der Organismus
unwillkürlich in derselben Weise, die auch für seine übrigen
Betätigungen gilt, daß er nämlich für einen möglichst ge-
ringen Aufwand von Energie die möglichst höchste Menge
von Empfindungen und damit von Lustgefühlen einzutauschen
strebt. Unwillkürlich mußte jeder primitive Mensch, sei es
in Australien oder auf den Andamanen oder im Feuerland,
die Erfahrung machen, daß wenn auch die Intensität des
Lustgefühls bei einer ins Rasende überspannten Tätigkeit
größer sein mochte, die G-esamtsumme des Lustgefühls
bei längerer Dauer doch überwiegen mußte. Danach stellte
sich dann seine Tätigkeit von selber ein. Sollte man aber
dennoch annehmen, daß es einzelne so leidenschaftliche
Individuen gegeben habe, daß sie von selbst gar nicht zu
einem ökonomischen Verfahren hätten gebracht werden
können, so mußte doch der Einfluß der anderen hier mit-
wirken , der Umstand , daß die Kunstübung auf primitiver
Stufe vor allem auch soziale Tätigkeit ist, und im Massen-
tanz mußten die Extravaganzen der einzelnen eine gewisse
Bändigung erfahren. Es kommt eben hier die soziale
Wirkung des Rhythmus in Betracht, auf die schon Bücher
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. Hl
und neuerdings besonders YkjO Hirn^) hingewiesen hat,
Wie sich aber der umstand, daß die Tänze ofb bis zur
röUigen Erschöpfong fortgesetzt werden, vereinigen läßt mit
der EjraftenÜadnngstheorie, das genau auseinanderzusetzen,
würde hier abfahren, da es sich nicht um eine speziell beim
Rh3rthmiis auftretende Erscheinung handelt, sondern eine bei
Spiel und Kunst ganz allgemeine. Es genüge hierfür, auf
Grogs*) zu verweisen, der dieser Frage ausführlich näher
getreten ist.
7. Halten wir also fest, was wir bisher gefunden haben.
Der Rhythmus erweist sich bei allen dauernden Tätigkeiten
des Organismus als diejenige Form, die ein Maximum von
Leistung mit einem MiuiTnum von Kraftaufwand ergibt.
Diese Form stellt sich bei jeder Art von Tätigkeit ein, mag
diese nun praktischer Art sein, also Arbeit, oder spielerischer
oder künstlerischer Art und bloß der Entladung innerer
Spannungen dienen (oder die Auslösung solcher Spannungen
bei anderen bezwecken, wodurch die Kunstbetätigung zur
-Arbeit" wird). Auf keinen Fall aber braucht man der
praktischen Tätigkeit so das Primat zuzuerkennen, wie das
Bücher getan hat. Die rhythmischen Erscheinungen bei
Arbeit wie bei Spiel und Kunst haben vielmehr dieselbe
Ursache, nämlich die allgemeine ökonomische Tätigkeits-
form des Organismus. In ihrer Entwicklung haben sie sich
wahrscheinlich gegenseitig unterstützt, indem einerseits der
künstlerische Rhythmus die Arbeit erleichterte, anderseits
aber auch die rhythmische Arbeit die Entwicklung der
rhythmischen Kunsttätigkeit förderte.
Hiermit wäre ein Prinzip für die Entstehung der
rhythmischen Erscheinungen gefunden, das bei einer anderen
Theorie, die ebenfalls als genetische gelten will, nicht er-
reicht ist. Diese von vielen Neueren, z. B. Schebek^) auf-
genommenen Theorie geht in letzter Linie auf den alten
*) Yrj«> Hirn, Ursprung der Kunst, S. 255 f. und passim.
*) Groos, Spiele der Tiere und Spiele der Menschen.
•) ScHBBSB, Poetik, S. 12.
112 Richard Müller-Freienfels:
K. Ph. Moritz *) zurück und sucht allen Rhythmus in Poesie
und Musik auf den Rhythmus des Tanzes zurückzuführen.
Es ist ja gewiß etwas Richtiges daran, doch leistet diese
Theorie das Allerwesentlichste nicht, denn sie bleibt die Er-
klärung schuldig, warum denn der Rhythmus im Tanze
wohlgefällig war. Sie verhält sich also wie der Inder der
oft zitierten Geschichte, welcher den Elefanten, der die
Welt trägt, auf einer großen Schildkröte stehen läßt, ohne
aber nun anzugeben, worauf denn die große Schildkröte
ruhe. MoRJTZ äußert sich dahin, die Menschen, die ihre
überflüssigen Kräfte betätigen mußten, hätten bei ihren
springenden und tanzenden Bewegungen zufällig die
periodische Abwechslung schneller und langsamer Be-
wegungen beobachtet, und diese zufallig entstandene rhyth-
mische Ordnung habe das Lustgefühl erregt und sei nach-
geahmt worden. Die beiden Hauptfehler dieser Lehre sucht
die hier vertretene zu vermeiden, indem sie einmal den
Zufall ausschaltet und dafür ein ökonomisches Prinzip als
Erklärung einsetzt, anderseits indem sie zu erklären strebt,
warum auch als sensorische Erscheinung der Rhythmus
wohlgefällig wirkt, was im nächsten Absatz seine Behandlung
finden wird.
Noch eine zweite der sogenannten genetischen Theorien
über die Entstehung des Rhythmus sei kurz berührt. Sie
findet sich schon bei Aristoteles und ist seitdem wiederholt
und zwar meist mit dem Anspruch absoluter Originalität auf-
getaucht. Es ist das jene Lehre über die Entstehung
rhythmischer Formen, die im Atem und Pulsschlag des
menschlichen Körpers das Vorbild dafür sehen will. Diese
Anschauung gibt gar keine wirkliche Erklärung, denn irgend-
welche Beziehungen zwischen den organischen Rhythmen
und jenen in Praxis und Kunst vorkommenden sind nirgends
zu erweisen. Höchstens auf etwas mag bei dieser Gelegen-
heit hingedeutet werden, nämlich daß auch beim Atmen
zum Beispiel der regelmäßige Rhythmus die ökonomischste
') Moritz, Deutsche Prosodie. 1786.
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 113
Form der Tätigkeit ist; eine einfache Probe kann jeden
überzeugen, zu wie rascher Ermüdung auch hier ein un-
rhythmisches Verfahren fuhren würde. Dagegen freilich
werden wir foiden, daß die Atmung von der rhythmischen
Tätigkeit beeinflußt wird, nicht umgekehrt, und daß dieser
Einfluß von großer Bedeutung gerade für die psychisch-
künstlerische Wirkung des Rhythmus ist.
8. Fast überall, wo sie vorkommen, sind die motorischen
Rhythmuserscheinungen mit sensorischen verbunden.
Oft ist das bloß zufällig, wie bei vielen manuellen Arbeiten,
wo die SchaUempflndungen nur als Begleiterscheinungen
auftreten, oft unterstützen sich motorische ujad akustische
Rhythmen gegenseitig, wie beim musikbegleitenden Tanze,
oft auch ist die Erzeugung akustischer Rhythmen aus-
schließlicher Zweck der motorischen Tätigkeit, wie beim
Trommelschlagen usw. — Während das motorische Gebiet
besonders von nationalökonomischer Seite aus untersucht
wurde, sind es hauptsäcWich Psychologen gewesen, die
die sensorischen Erscheinungen, oft isoliert von den
motorischen, behandelt haben. Ehe wir jedoch uns den
psychologischen Theorien zuwenden, müssen wir doch die
Definitionen des Rhythmus etwas schärfer ins Auge fassen,
da gerade über die akustischen Formen die Anschauimgen
auseinander gehen.
Es sind besonders zwei Meinungen, die sich scharf
gegenüberstehen. Die eine behauptet, Rhythmus sei eine
bloße zeitliche Gliederung der Eindrücke, andere
sehen in den Gewichtsverschiedenheiten der Töne
das Charakteristikum. Für uns, die wir nur eine ganz all-
gemeine Theorie des Rhythmus anstreben, ist es nicht nötig,
sehr ins einzelne zu gehen. Wir können ganz einfach die
zeitliche Ordnung und den Akzentwechsel als gleichwertig
ansehen. Rhythmische Reihen sind für uns wohl die erste
wie die zweite der folgenden Formen
' ~t"in"Qy^ n ^^f-rfh^
t
If
Ti«rtoIJahTsaohrlft f. wlneniohaftl. Philo*, a. Soxiot. XXXIL 1. 8
114 Richard Mttller-Freienf eis:
Femer kommt es hier nicht darauf an, ob der Zwischenraum
zwischen den beiden Hauptakzenten durch einen Nebenton
ausgefüllt ist, oder ob bloß eine Pause dasteht. Eine
rhythmische Reihe ist auch die folgende Figur:
5
Femer kommen für unsere Zwecke nicht in Betracht die
Unterschiede zwischen Takt oder Metrum und Rhythmus,
worüber überhaupt noch Uneinigkeit herrscht. Für uns ist
der Takt nur ein erweiterter Rhythmus, ein Rhythmus
zweiter Ordnung. Die speziellere Formulierung der Unter-
schiede würde hier abfuhren. So macht auch zum Beispiel
eine so hochentwickelte Sprache wie die englische gar
keinen Unterschied zwischen Rhythmus und Takt, sondern
bezeichnet beide ganz gleichmäßig als „rhythm*'.
Auch die Tatsache der subjektiven Rhythmisierung
werden wir nicht näher behandeln, da es hier nur darauf
ankommt ein Verständnis für die Tatsache zu gewinnen,
daß die rhythmischen Erscheinungen besonders in Musik
und Dichtkunst eine solche Verbreitung erlangt haben und
mit so starken Lustgefühlen verbunden sind.
9. Die heutzutage wichtigste und verbreitetste aller
Rhythmustheorien dürfte die von WüNDT^) zuerst vor-
getragene, von Meumann und anderen weiter ausgeführte
sein, die sich selber die psychologische nennt, die man
aber vielleicht noch besser als die intellektualistische
bezeichnet.
Diese Lehre bringt die Gesamtheit der Rhythmus-
tatsachen in Zusammenhang mit der Ordnung sukzedierender
Empfindungen zu Vorstellungen, einer allgemeinen psy-
chischen Funktion, durch welche die Reihe unzusammen-
hängender Schalleindrücke oder Töne zu einem leicht über-
schaubaren Ganzen wird. Als spezielles Gebiet, wo sich
*) WuKDT, Physiologische Psychologie, 5. Aufl., III, 94 ff., 154 ff.
Mkumann, Untersuchungen zur Psychologie und Ästhetik des Rhjrthmus
in Philosophische Studien, X, 249 ff., speziell 282 f.
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 115
die ordnende Kraft des Bewußtseins beim Zustande
kommender rhythmischen Erscheinungen betätigt, gilt das
Grebiet der unmittelbaren und mittelbaren Zeitvorstellungen.
Bei aller Rhythmuswahmehmung fassen wir die isolierten
Schallempfindungen zu mehr oder weniger komplizierten
Systemen von zeitlich geordneten Vorstellungsgruppen zu- j
sammen. Soweit wir nun imstande sind, die zu einem Takt-
ganzen geordneten Vorstellungen noch zu einer Gesamt-
vorstellung zusammenzufassen, ohne daß der umfang des
Bewußtseins überschritten wird, fällt die Taktperzeption in
den Bereich einer unmittelbaren Zeitvorstellung ; soweit die
größere Kompliziertheit der rhythmischen Gebüde unseren
Bewußtseinsumfang überschreitet und uns zwingt, die Re- ,
Produktion firüherer Eindrücke zu Hilfe zu nehmen, wenn
wir noch imstande sein sollen, das rhythmische Gebilde als
ein Ganzes aufzufassen, wird der Rhythmus Objekt mittel-
barer Zeitvorstellungen. Die rhythmische Gliederung der
Eindrücke verrichtet dabei, wie die Versuche über den
Bewußtseinsumfang zeigen, die Funktion einer sehr be-
deutenden Erweiterung des Bewußtseinsumfanges und einer
Erleichterung der Zeitschätzung.
10. Diese Theorie mag fiir das enge Gebiet, wofür sie
paßt, ihre Richtigkeit haben, in Wirklichkeit jedoch umfaßt
sie nur einen ganz geringen Teil der rhythmischen Er-
scheinungen, und jedenfalls paßt sie fast gar nicht für die hier
zu untersuchende ästhetische "Wirkung des Rhythmus. Sie
paßt nur für jene, wo es sich um eine intellektuelle
Auffassung der rhythmischen Tatsachen handelt;
dieser Fall jedoch kommt außerhalb der psychologischen
Laboratorien in der Regel selten vor. Dort, wo uns am
häufigsten die sensorischen Rh3^thmuswirkungen entgegen-
treten, in Musik und Dichtimg, handelt es sich eigentlich
gar nicht um Rhythmuswahrnehmungen-, wir nehmen
den Rhythmus gar nicht gesondert wahr, sondern er ist
nur eine Komponente eines größeren Empfindungskomplexes,
ans welchem er nur durch Abstraktion herausgelöst werden
iann, ja, es kommen Fälle vor, wo unsere Stimmung sehr
8*
116 Richard Müller-Freienfels:
stark durch rhythmische Reizungen der Nerven beeinflußt
wird, wälirend wir uns gar nicht einmal des Hörens bewußt
werden. So zum Beispiel kann meine Stimmung, während
ich konzentriert arbeite und ganz in die Arbeit vertieft bin,
sehr stark durch eine ferne Musik beeinflußt werden. Ein
intellektueller Vorgang, ein Ordnen der Eindrücke tritt auf
keinen Fall ein. Die Beispiele ließen sich häufen, wo es
sich nicht um eine psychologisch-intellektualistische Wirkung
des Rhythmus handelt, sondern nur um eine rein physio-
logische Affi zierung des Nervensystems, von dem weiter
nichts als ein Gefühl ohne intellektuelle Begleiter als
Komponente in die Gesamtstimmung eintritt und uns in
eine Art hypnotischen Zustand versetzt. So ist die
Wirkung des Rhythmus bei Poesie und Musik, wenn wir
nicht speziell auf das Metrum horchen, fast immer aut-
zufassen. Auch auf Kinder und "Wilde, ja auf Tiere wirkt
der Rhythmus, und man wird hier doch kaum intellektuelle
Vorgänge als Grund annehmen dürfen. Mag man auch die
Erzählungen von Orpheus und Arion immerhin für Er-
findungen halten, daß der Rhythmus auf Tiere eine sehr
starke Wirkung ausüben kann, verbürgen uns auch solidere
Beobachtungen. Solche Wirkungen sind an Hunden, Katzen,
Pferden, Schlangen, Spinnen usw. bemerkt worden, und
speziell an Elefanten hat man in Paris interessante hierher-
gehörige Beobachtungen gemacht^). Ebenso hat man
musikalische Wirkungen auf Idioten beobachtet, bei denen
alle intellektuellen Tätigkeiten fehlten*).
11. Eine Theorie des Rhythmus, welche allen Teilen
des weiten Gebietes gerecht werden soll, kann darum un-
möglich eine intellektualistisch-psychologische sein, sondern
muß vor allem eine physiologische Begründung haben.
Es können beim Rhythmus Vorstellungen und sonstige
intellektuelle Vorgänge eintreten, sie müssen es aber nicht
und fehlen auch in der Regel. Als psychische Erscheinung
M Beauquikr, Philosophie de la muaiaue, p. 65.
•) WiLDi;RiiuTH-SrKTTBN, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie.
1889. S. 5M.
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 117
konont der Rhythmus in erster Linie als Gefühlswirkung
in Betracht, die freilich auch in der Regel nicht gesondert
auftritt, weü sie dann zu sehr rascher Ermüdung und Ab-
stumpfung fuhren würde.
Die Bedeutung und der Lustwert des akustischen
Rhythmus liegt darin, daß er die betreffenden Organe samt
den zentralen Teilsystemen in eine intensive Tätigkeit ver-
setzt, die mühelos und ohne stärkere Inanspruchnahme der
übrigen Himpartien vor sich geht. Damit wäre nun freilich
nicht die gesamte Lustwirkung des Rhythmus erklärt, sondern
nur ein Teil; aber die Hauptwirkung liegt gar nicht auf
akustischem Gebiete und wird darum gesondert be-
handelt werden. Hier kommt es zunächst nur darauf an,
zu zeigen, inwiefern auch für die sensorischen Organe die
rhythnüsche Erregung eine so besonders lustvolle ist. Auch
hier liegt die Tatsache zugrunde, daß der Rhythmus die-
jenige Form ist, in welcher die Organe ein Maximum an
Tätigkeit vermittelst eines Minimums von Kräften erzielen,
ohne daß die übrigen Himpartien sonderlich in Anspruch
genommen würden.
Auch für die sensorischen Organe besteht die Er-
sparnis an Kraft hauptsächlich in einem Automatischwerden
ihrer Tätigkeit. Der erste Ton einer rhythmischen Reihe
ninmit das ganze Gebiet der Aufmerksamkeit in Anspruch,
der zweite schon bedeutend weniger. Bei dem ersten muß
der neue Eindruck in Beziehung gesetzt werden zu dem
ganzen augenblicklichen Kreis der Aufmerksamkeit, er muß
klassifiziert und erklärt werden, nimmt also die ganze Auf-
merksamkeit in Anspruch. Ist nun der zweite Eindruck der
rhythmischen Reihe eingetreten, so ist er schon bedeutend
weniger neu und bereits bekannt, und die folgenden be-
schäftigen das übrige Gehirn, speziell die Assoziationszentren,
überhaupt nicht mehr wesentlich. Ist es eine bloß rhythmische
Reihe ohne qualitative Verschiedenheit der Elemente, so
stumpft sich freilich das Hirn rasch so sehr dagegen ab,
daß es überhaupt nichts mehr davon wahrnimmt, wie der
3füller das Klappern seiner Mühle nicht mehr hört. Die
118 Richard Moller-Freienf eis:
Tätigkeit des Ohres geht automatisch vor sich, ohne be-
deutendere Inanspruchnahme des Großhirns. Infolgedessen
ist der Lustwert einer solchen einfachen rhythmischen
Reihe auch sehr gering, tritt jedoch ein Unterschied in der
Tonhöhe hinzu, und sind diese Töne als solche nicht störend
für das Ohr, so wird die Abstumpfung vermieden, der Rhythmus
erleichtert außerordentlich das Auffassen der so entstandenen
Melodie und trägt durch diese Erleichterung ganz wesentlich
zur Annehmlichkeit der Melodie bei. Dasselbe gilt für den
Vorsrhythmus, wenigstens die rein akustischen Elemente des
Verses. Für die sensorischen Organe also können wir die
AnnehmKchkeit des Rhythmus so erklären, daß er dadurch,
daß er einen Teil der Eindrücke automatisch
werden läßt und für sie eine große Ersparnis
von Aufmerksamkeit bedeutet, die Auffassung
der Gesamtheit der Melodie und des Verses er-
leichtert. Die eigentlich emotionelle Wirkung des Rhji^h-
mus ist damit freilich nicht erklärt, aber wie schon gesagt,
darf diese überhaupt nicht auf speziell sensorischem Gebiete
gesucht werden. Für die Gehörorgane allein besteht der
Lustwert des Rhythmus in weiter nichts als in einer ge-
wissen Leichtigkeit der durch ihn erregten Tätigkeit, auf
die wir zunächst noch weiter einzugehen haben.
12. Wir hatten gefunden, daß bei den in der Kunst
verwandten rhythmischen Gebilden, also den Melodien imd
rhythmischen Versen, die Tätigkeit der sensorischen Apparate
erleichtert wird dadurch, daß ein Teü der dargebotenen
Elemente automatisch aulgenommen wird. Das heißt mit
anderen Worten : ein Teil der so gegebenen Wirkungen ist
derart, daß zu ihrer Aufnahme nicht stets eine erneute
Inanspruchnahme des Großhirns erforderlich ist.
Bei den in unserer Kunst vorkommenden rhythmischen
Reihen sind es besonders zwei Wirkungen, die im Rhythmus
automatisch aufgenommen werden, weil sie im wesentlichen
sich gleich bleiben, einmal die Intensitätswirkungen
und ferner die zeitliche Inanspruchnahme der
Nerven.
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 119
Für die Gleichheit der Intensitätswirkungen liegt die
Sache einfach. So sehr die moderne Musik auch danach
b-trebt, die Möglichkeit der dynamischen Nuancen zu er-
weitem, so sind die Unterschiede doch selten so grell, so
schroff und plötzlich, als daß sie als solche unsere Auf-
merksamkeit in Anspruch nehmen, uns plötzlich zwingen,
uns klar zu werden über einen Wechsel der Intensität. Ein
plötzlicher Paukenschlag wie in Haydns C-dur-Symphonie
ii!.t eine Ausnahme. In der Hauptsache ist die Intensität
doch so gleichmäßig, die Übergänge sind so kontinuierlich,
daß ftir die Perzeption der rein dynamischen Eig|pschaften
eine besondere intellektuelle Tätigkeit nicht erforderlich ist.
Die int-ensiven Wirkungen werden nicht abstrahiert, sie
treten nur als unabgesondertes Element für die Gefühls-
wirkung des ganzen Toneindrucks hinzu. So bedeutet
pinmal die dynamische Ordnung in der rhythmischen Reihe
eine große Erleichterung der Perzeption.
13. Außer den Intensitätswirkungen sind im Rhythmus
speziell die zeitlichen Eigenschaften der Reize ge-
ordnet. Hier aber liegt, besonders auch ftir die physio-
logische Seite, die Sache nicht so einfach.
Es kommt hier vor allem eine von Mach^) wiederholt
ausgeführte Theorie in Betracht. Dieser hat sich bemüht,
ein physiologisches Äquivalent für den Rhythmus, speziell
seine zeitlichen Elemente, zu finden. Er vertritt die Ansicht,
daß in einer Melodie sich die bloß rhythmischen, d. h. bloß
zeitlichen Elemente loslösen lassen von den qualitativen.
Er hat hierüber kleine Experimente angestellt, indem er
aufgab, nach dem bloßen Klopfen des Rhythmus, ohne
Markierung der Tonhöhe eine Melodie zu erraten. Diese
Versuche sind ihm, soweit es sich um rhythmisch scharf
markierbare Melodien handelte, in der Regel gelungen. So
') Vgl. Mach, Untersuchungen über den Zeitsinn des Ohres.
Wien. Sitzungsbericht 1865. Mathem.-naturvv. Klasse 51, II, S. 183f. —
BemerkuBgen über die Akkomodation des Ohres. Ebenda S. 848 f. —
Analyse der Empfindungen. S. 190 ff.
120 Eichard Müller-Freienfels:
wurden nach seiner Angabe fast immer die folgenden
Rhythmen erraten:
R. Wagner. Andante maestoso.
8
4
iH r r I r cirl r r r\r r r
1» — # —
r I i I
? f}f
T rr I r r' 5
■Ä-
I
In einem früheren Aufsatze nun woUte er in den Akkom-
modationsempfindungen des Ohres die Möglichkeit dieser
Rhythmusempfindungen nachweisen, ähnlich wie beim Auge
zu den Farbenempfindungen beim Fixieren die Muskel-
empfindimgen hinzutreten. In den durch Ermüdung, Nach-
lassen, Erholung im Fixationsapporat des Ohres eintretenden
Veränderungen woUte er den physiologischen Grund dieser
Rhythmusempfindungen sehen. — Später jedoch ist Mach
auf diese Theorie nicht mehr zurückgekommen. Die Ein-
wände von Meümann scheinen mir nicht begründet. Ob
man von einer gesonderton Zeit empf in düng sprechen
darf oder nicht, ist wohl in letzter Linie ein Wortstreit.
Mach bedient sich auch in seinen späteren Schriften^)
dieses sicherlich för die Terminologie der sonstigen
Psychologie prekären Ausdrucks „Zeitempfindung". ^So
wie sich uns verschieden gefärbte Körper von gleicher
Raumgestalt darstellen können, so finden wir akustisch
verschieden gefärbte Tongebilde von gleicher Z e i t -
gestalt. — Dies ist nicht Sache des Verstandes oder
der Überlegung , sondern der Empfindung."*) Zu
dieser Anschauung gelangt Mach getreu seinem stets an-
gewandten allgemeinen psychologischen Forschungsprinzip :
daß man für alle psychologisch getrennt wahrnehmbaren
') Analyse der Empfindungen passim.
2) Ebenda, 3. Aufl., S. 1921
Zur Theorie der ftsthetischen Elementarerscheinungen. 121
Elemente auch physiologisch verschiedene Prozesse an-
zunehmen habe. Daß er diese unmittelbaren Zeitempfin-
dongen nnr bezüglich kleiner Zeiten gelten läßt, genügt für
tmsere Zwecke durchaus, da ja nur solche beim Rhythmus
in Betracht kommen.
Diese Zeitempfindung soll nun mit der notwendig an
das Bewußtsein geknüpften organischen Konsumtion zu-
sammenhängen.
Wie dem auch sei, jedenfalls wäre, wenn wir eine von
den qualitativen Empfindungen abtrennbare Zeitempfindung
annehmen, die vom Organismus in der Rhythmusaufnahme
zu leistende Arbeit schon dadurch bedeutend geringer, daß
durch die völlige oder annähernde Gleichheit der Zeit-
empfindungen im Rhj^thmus die Aufnahme der Reize be-
deutend erleichtert wird, eine „Übung" und damit eine An-
passung oiatritt. Doch wollen wir hier diese Hypothese
mu: durchaus als Hypothese hingestellt haben, ohne gerade
hierauf allzusehr unsere Folgerungen zu stützen. Die
physiologische Forschung ist gerade auf diesem Gebiete
noch nicht weit genug, daß man ganz Sicheres behaupten
könnte. Wie man sich nun auch zur Theorie Machs stellen
mag, ob man zugibt, daß es spezifische Zeitempfindungen
gibt oder nicht, das jedenfalls muß anerkannt werden, daß
durch den Rhythmus, die zeitliche Ordnung der Reize, die
Aufnahme der Reihe bedeutend erleichtert wird. Im Grunde
L*it das etwas sehr Verwandtes mit dem, was "Wundt und
^eine Schüler annehmen, nur daß diese stets von der
Rhythmuswahrnehmung und -Vorstellung sprechen,
während nach der hier vertretenen Ansicht gerade in dem
Wegfallen gewisser zentraler Prozesse die
Leichtigkeit und Annehmlichkeit der rhythmischen Er-
reflrungen für die Nerven besteht.
14. Auch einem zweiten Grunde für die Lustwirkung
des Rhythmus, den Wünüt weiter entwickelt^), kann ich
teilweise beistimmen, nur daß auch hier die Formulierung
>) WüNDT, Physiologische Psychologie, 5. Aufl., III, 158 ff.
122 Richard Müller-Freienfels:
wieder allzu intellektualistisch ausgefallen ist. — Er nennt
den Rhythmus ein resultierendes Gefühl, das immer
erst aus dem Wechsel gewisser einfacherer Q-eftihle ent-
springt, die, im Kontrast zueinander stehend, an sich weder
Lust- noch Unlustgefühle sind. Als solche Gefühlsfaktoren
ergeben sich nun die Gefühle der Spannung und
Lösung, die in verhältnismäßig reinen Formen gerade bei
indifferenten Rhythmen, wie sie den elementaren ästhetischen
Wirkungen zugrunde liegen, beobachtet werden. Dabei ist
jedoch zu bemerken, daß an und für sich diese einfacheren
Faktoren, aus denen das ästhetische Gefallen am Rhythmus
entspringt, beide absolut leer von Lust- und Unlustgefühlen
sein sollen.
Tatsächlich tritt eine solche Spannung und darauf mit
dem Eintritt des in regelmäßiger Folge erwarteten rhyth-
mischen Eindrucks eine Lösung ein, nur braucht man nicht
dabei an eine bewußte, intellektuelle Spannung denken.
Auch hier können intellektuelle Begleiterscheinungen vor-
handen sein, der Rhythmus kann bewußt sein, es ist aber
keine Notwendigkeit. Jene Spannung ist weiter nichts als
eine Art Selbsteinstellung des Nervenapparates. Dieser
scheint sich dem kommenden Eintritt regelmäßig wieder-
kehrender neuer Erregungen anzupassen, um so leichter den
an ihn gestellten Anforderungen genügen zu können. Und
ganz deutlich spüren wir Unlust, wenn plötzlich eine
rhythmische Reihe stockt, wenn jene Lösung nicht eintritt,
auf die sich das Nervensystem eingestellt hatte. Diese Ein-
stellung des Organismus auf regelmäßige Tätigkeiten gilt
nun nicht etwa allein von den sensorischen Nerven und so
kleinen Litervallen, wie der Rhythmus sie bietet , es handelt
sich hier um eine Tatsache, die den ganzen Organismus
beherrscht, die überall sich zeigt. So paßt sich der Körper
in seinen Funktionen ganz genau den Zeiten an, in denen
ihm regelmäßig Nahrung zugeführt wird, und wo er Arbeit
zu leisten hat. Man kann den Magen gewöhnen, in be-
liebigen Pausen in regelmäßiger Wiederkehr Nahrung zu
verlangen, ebenso drängen die Muskeln nach Tätigkeit in
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 123
bestimmten Intervallen, sobald sie einmal an gewisse Regel-
mäßigkeiten gewöhnt sind. Wir können also diese An-
passung an eine regelmäßige Ordnung als eine allgemeine
Tatsache des Organismus ansehen, er stellt sich selber ein,
es entsteht eine Spannung, und deren Lösung ist natur-
gemäß von einem Lustgefühl begleitet. Wündt faßt
tieilich das alles ziemlich anders auf, doch können wir ihm
darin nicht folgen, da uns seine Annahme besonderer
Spanntmgsgefuhle nicht haltbar scheint.
Durchaus nicht nötig jedoch ist es, daß jene Spannimgen
nnd Lösungen gesondert sich dem Bewußtsein bemerkbar
machen, nur das aus ihnen resultierende Lustgefühl, das
Rhythmusgef&hl, erscheint uns alsKomponent eines größeren
Komplexes, als Faktor einer Stimmung, der uns nicht ab-
gelöst bewußt wird. Immerhin aber erhält das gesamte
Rhythmusgefühl gerade durch diese Spannungs- und Lösungs-
empfindungen seine charakteristische Färbung. Allerdings
gehören diese Spannungen und Lösungen nur noch teil-
weise dem sensorischen Gebiete an, sie spielen schon stark
auf das motorische Gebiet hinüber, auf das die Empfindungen
überleiten, und dem ich mich nunmehr zuwenden muß.
15. So stark das Lustgefühl auch sein mag, das auf die be-
schriebene Weise in den sensorischen Organen zustande konunt,
der ganze Bereich der Rhythmuserscheinungen wird nicht da-
durch erschöpft. Es ist damit allein die geradezu zauber-
hafte Wirkung nicht zu erklären, die der Rhythmus be-
sonders auf primitive Menschen auszuüben vermag, worüber
alle Reisenden einstimmig berichten. Es muß noch etwas
anderes hinzukommen, eine spezielle Wirkung auf die
Affekte, und diese ist nur auf motorischem Gebiete zu
suchen.
Die im folgenden zu erörternden motorischen Er-
scheinungen nun fallen nicht ohne weiteres mit jenen
motorischen Tatsachen zusanmien, die wir im Anfang dieses
Kapitels bei Gelegenheit der Rhythmuserzeugung zu be-
>prechen hatten. Mitunter sind sie dieselben wie beim
Tanze oder beim Marsche, sonst aber haben wir noch ab-
124 Eichard MOller-Freienfels:
geleitete motorische Erscheinungen, sekundäre
motorische Erscheinungen, und diese kommen hier
hauptsächlich in Betracht, zumal da sie für die Kultur-
menschheit am wichtigsten sind, wo der Tanz als Ausdrucks-
mittel fast völlig zurückgetreten ist.
Es handelt sich hier um jene motorischen Erscheinungen,
die durch rhythmische Empfindungen des Gehörs un-
mittelbar ausgelöst werden. Es ist nicht nötig, daß sie
sich immer äußerlich sichtbar darstellen, obwohl ein scharf
markierter Rhythmus uns unwillkürlich dazu fuhrt, auch
äußerlich, durch Bewegungen ihn zu begleiten. Es ist das
natürlich individuell verschieden, doch braucht man nicht
gerade zum „motorischen Typus« (um diese Einteilung der
französischen Psychologie anzuwenden) zu gehören, daß
man einen Marschrhythmus durch rhythmisches Bewegen
der Füße, der Hände, durch Taktieren oder sonstwie
motorisch begleitet. Wir haben durch den Zwang der Sitte
viel zu gut gelernt, unsere Bewegungen zu unterdrücken,
bei Kindern und ganz naiven Menschen jedoch bewirkt der
Rhythmus noch reflexartige Bewegungen, und irgendwie
lösen auch bei uns rhythmische Gehöreindrücke immer
rhythmische motorische Vorgänge aus, mögen es auch nur
ganz schwache Bewegungs Vorstellungen sein, die ja aber
ihrerseits auch Bewegungen im Entstehen sind. Ein neuerer
Ästhetiker, Konrad Lange, will die Wirkung der Musik haupt-
sächlich als Bewegungsillusion begreifen. Jedenfalls
läßt sich konstatieren, daß diese motorische Wirkung des
akustischen Rhythmus von großer Wichtigkeit ist, und zwar
können wir beobachten, daß die psychische Wirkung des
Rhythmus um so größer ist, je mehr wir diesen motorischen
Impulsen nachgeben.
Darauf nun gründen wir unsere Anschauung über die
positive, emotionelle Wirkung des Rhythmus. Wir sagen:
Jene motorischen Vorgänge, die beim Anhören
rhythmischer Musik, rhythmischer Verse in uns
auftreten, sind keine Begleiteitorscheinungen,
keine bloße „körperliche Resonanz", sondern
Zur Theorie der ästhetisclien Elementarerscheinungen. 125
üe sind die wichtigste Ursache jener Gefühls-
zustände der Belebung, der Aufregnng, der Ergriflfen-
heit ujsw., die der Rhythmus in unserer Seele erzeugt. Den
Beweis scheint schon jene Tatsache zu erbringen, daß wir
um so mehr auch psychisch ergriffen werden, je mehr wir
physisch jenen Bewegungsimpulsen nachgeben. Darin beruht
eben die überwältigende Macht des Rhythmus^) auf die
Wilden, daß jene in ihren Tänzen die motorischen Impidse
sich, ganz ausleben lassen, während wir sie im allgemeinen
last vollkommen hemmen und im Entstehen unterdrücken.
Ich halte den Ausdruck „innere Nachahmung", den Groos*)
anwendet, und der sonst sehr brauchbar ist, für die hier an-
gefahrten Tatsachen , für nicht besonders gut , weil ' die
motorische Wirkung des Rhythmus eben keiue Nachahmung,
sondern eine rein reflektorische Auslösung ist. Im übrigen
jedoch hat G-roos die Bedeutung der inneren motorischen Vor-
gänge für den künstlerischen Genuß wohl am schärfsten er-
kamit. Cs kommen derartige innere motorische Vorgänge
auch sonst in der Kunst in Betracht, besonders auch in der
bildenden Kunst. Hier gilt es, ihre Wichtigkeit für den Rhyth-
mus hervorzuheben, wo sie vieDeicht am stärksten überhaupt
auftreten, und zwar sehen wir ihre Bedeutung nicht bloß
in der Ausdehnung rhythmischer Erregung über den ganzen
Körper, sondern wir fassen gerade diese motorischen Vor-
gange als die Hauptursache der psychischen Zustände auf, die
der Rhythmus hervorbringt; die sensorisch-akustischen Er-
scheinungen wären also zum Teil nur mittelbar die Ursache
der Gefühle, da das durch sie direkt erzeugte Lustgefühl
niemals allein eine solche Stärke erreichen könnte, wie es
durch Mitwirkung der motorischen Erregung geschieht.
Diese motorischen Erregungen sind nun wieder ver-
schiedenen Ursprungs. Zunächst haben wir hier die reflex-
artigen Bewegungen resp. ihre gehemmten Innervationen,
die sich unmittelbar an den Gehörsreiz anschließen. Es
') Beispiele zahlreich bei Bolton, Bhythm. American Journal of
Pajchology, VII, 163 f.
*) Oboos, Der ästhetiBche Genuß, 8. 179 ff.
126 Richard Müller-Freienfels:
gibt über diese Verbindung von q^stisch- sensorischen mit
motorischen Nervenprozessen eine Theorie, die dies Zu-
sammenfallen mit dem umstände in Beziehung bringt, daß
die Organe des Gehörsinnes und des Gleichgewichtsinnes
so nahe verwandt sind. So schreibt Meümann: „Zahlreiche
anatomische und physiologische Tatsachen weisen auf die
Verbindung zwischen Gehörorgan und Atem und vielleicht
auch Gefaßzentren einerseits und speziell zwischen dem
Bogenlabyrinth des Ohres und dem Tonus unserer will-
kürlichen Muskulatur anderseits hin. Es ist ja sehr leicht
möglich, gerade auf die von R. Ewald neuerdings wahr-
scheinlich gemachte Tatsache (die freihch von Breuer
wiederum bezweifelt worden ist), daß der Muskeltonus
unserer willkürlichen Muskulatur, ganz besonders, soweit sie
der feineren Beweghchkeit des Körpers dient, einer be-
ständigen Reguherung durch das Bogenlabyrinth des Ohres
unterhegt, Hypothesen zu begründen, die dem Zusammen-
hang der Perzeption von Schalltakten und begleitenden
Bewegungen unserer willkürlichen Muskulatur eine be-
stimmte anatomische Grundlage geben. Stärkere, vielleicht
ganz besonders periodische Erschütterungen des inneren
Ohres könnten ja die Endolymphe der Bogengänge in Mit-
leidenschaft ziehen und hierdurch den oft unwiderstehUchen
Drang zu rhythmischer Bewegung der Körpermuskulatur
bedingen, noch mehr, die von den Bogengängen ausgehende
Reflexerregung bezieht sich jedenfalls ganz besonders auf
die Kopf- und Halsmuskulatur, und die Halsmuskulatur wird
auch ganz besonders leicht für die rhythmischen Bewegungen
in Anspruch genommen."
Für unsere Innervationen würde dann nach unserer
Anschauung dasselbe gelten, was wir oben fiir die bewußten
motorischen und die sensorischen Erscheinungen ausgeführt
haben. Es sind diese sekundären motorischen Erscheinungen
durch den Rhythmus ebenfalls so geordnet, daß eine be-
sondere Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit nicht nötig
ist, und daß durch die gleichmäßige Verteilimg stets nur
ein Minimum von psychischer Arbeitsleistung notwendig
Zur Theorie der aBthetischen Elementarerscheinungen. 127
wd und dennoch in den betreffenden Organen günstige
Dissimilationserscheinnngen geschaffen sind.
10. Aber diese motorischen Eefiexe sind nicht die
einzigen körperlichen Vorgänge, die durch den Rhythmus
aasgelöst ^Jirerden ; es kommt auch noch eine offenbare B e -
einflussung der Respirationstätigkeit und der
Blutbe^wegung hinzu. Bereits Grftry, der alte Musiker,
hat Beobachtungen an sich selber gemacht, daß der Puls
•lurch den Rhythmus beeinflußt und je nachdem verlangsamt
oder beschleunigt wird. Auch für die Atembewegungen,
wie anch Bolton beobachtet hat, gilt Ahnliches. Eiogehend
sind die Wirkungen akustischer Sinnesreize auf Puls und
Atmung besonders von Paul Mentz *) studiert worden. Dieser
kommt zu dem Resultat, daß schon bei der objektiv ein-
fachen Folge von Metronomschlägen der Atem ein viel-
faches Zusanunenfallen von Atemgipfel und Atemtal mit den
Metronomschlägen zeigt. Ganz dasselbe findet bei den
betonten Schlägen eines objektiv gegebenen Klingelaktes
>tatt. Danach würden also die einfachen Metronomschläge
wie die betonten eines gegebenen Taktes durch direkte
Innervation dem Atem einen Anstoß zum Beginn der In-
spiration oder Expiration geben.
Aber auch außer diesen direkten Beeinflussungen der
Atemtätigkeit muß man bei einer so starken Erregung des
«ganzen Organismus, wie sie der Rhythmus besonders in
Tanz und Musik darstellt, eine indirekte Beeinflussung
des Kreislaufes annehmen. Denn die starke Inanspruch-
nahme der Zellen macht eine starke Zufuhr frischen Blutes
notwendig, und ebenso müssen die verbrauchten Stofte
weggeschafft werden. Nun ist es sehr wahrscheinlich, daß
die rhythmische Erregung durch die Gleichmäßigkeit und
die Erholxingsspausen besonders günstige Verhältnisse fiir
die Zufiihr und Wegschaffung der Stoffe bietet, und daß
darum sich auch hieran ein Lustgefühl anschließt nach der
^) Paul Mbntz, Die Wirkungen akustischer Sinnesreize auf Puls
und Atmung. Pbil. Stud. 1895. S. 805.
138 Bichard Müller-Freienfels:
oben besprochenen dynamischen Q-efühlstheorie. Besonders
günstig wäre für diese Anschauung auch jene oben bereits
kurz erwähnte Theorie, die von H. A. Carr *) herrührt, und
die die Lehre Spencers von der überschüssigen Energie zu er-
setzen bestimmt ist. Carr möchte an die Stelle einer vor-
handenen, aufgespeicherten Kraft eher die Bedingungen,
einen Kraftüberschuß leicht und schnell herbeizuschaffen,
gesetzt sehen. „Stored force", sagt er (S. 16), „is rather
an unfortunate term, for it is doubtful, if nerve cells störe
any great amount of nervous energy ; the term means rather
conditions for securing an abundance of energy readily and
quickly." Es ist leicht einzusehen, wie diese Ansicht, zu
der auch ÖROOS sich sehr günstig stellt, mit meiner oben
ausgeführten Anschauung übereinstimmen würde, daß ein
großer Teil der durch die rhythmische Erregung erzeugten
Lustgefühle daher käme, daß die Beeinflussung des Atems
und die Anregung auf den Kreislauf d^s Blutes diese Lust-
gefühle erzeugte und durch den Rhythmus, genau
wie oben ausgeführt, günstige Dissimilations-
bedingungen, so auch günstige Assimilations-
bedingungen geschaffen werden.
Denn man braucht nicht unbedingter Anhänger der
Lehre, daß alle Gemütszustände Folgen motorischer Vor-
gänge sind, zu sein, um doch die hochbedeutende RoUe
anerkennen zu müssen, die in allen Gemütserregungen
die Bewegungen des Blutes, der Atmung usw.
bilden. Jene sogenannte Lange -Jame sehe Theorie ging
') Harney A. Cabr , The survival value of play, 1902. Ich zitiere
hier nach Karl Groos : Das Seelenleben des Kindes. • Berlin 1904. S. 58,
Wie mir danach scheint, düi^ die Theorie Garbs, dessen Abhandlung
mir leider nicht zugänglich geworden ist, meinen Anschauungen
nahe stehen, die ich in meiner Abhandlung „Über die physio-
logische und biologische Bedeutung der Kunst" (Natur-
wissenschaftliche Wochenschrift, Neue Folge, VI, S. 209 ff.) entwickelt
habe. Dort stellte ich denjenigen Auffassungen, die die Bedeutung
der Kunst nur in dissimilatorischen Wirkungen sehen wollen, die
Ansicht gegenüber, daß die Kunst durch die Lieferung von
trophiscnen Heizen (Ausdruck nach YerworiO auch die Assi-
milation vorteilhaft zu beeinflussen vermochte. — Näheres vergleiche
an der angeführte Stelle.
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 129
sicherlich in vielem zu weit, besonders wenn man sie in
der Form atdGfaSt, in der sie so oft bekämpft wnrde. Doch
wird sich allmählich der wahre Kern, der darin steckte,
heranslösen, und die Fassung, die neuerdings Alfred Leh-
mann dieser Lehre gegeben hat, dürfte wohl das Rechte
treffen. Jämes selbst hat durch seine Formulierung: „daß
vir nicht weinen, weü wir traurig sind, sondern traurig
sind, weü wir weinen«, selbst zum großen Teil den Wider-
spruch hervorgerufen, der seiner Lehre so vielfach begegnet
ist. Denn man nahm „Weinen" als identisch mit „Tränen-
sekretion" , übersah aber häufig , daß vor allem auch die
inneren vasomotorischen usw. Vorgänge damit einbegriffen
waren, deren äußere sichtbare Wirkung nur die Tränen-
sekretion ist. Daß diese inneren Zustände des Kreis-
laufes und die Atmung sehr stark auf das Gefühl
wirken, kann jedoch nicht bezweifelt werden.
Da nun durch die rhythmische Erregung, wie durch die
Experimente von Mentz und anderen außer Frage gestellt
ist, eine solche Beeinflussung der Atmung und des Kreis-
laufes stattfindet, so werden wir einen Teü des durch den
Rhythmus ausgelösten Gefühles auch hierher leiten dürfen.-
Ja, man darf annehmen, daJS alle jene Affekte, die wie
Freude, Trauer, Schreck usw. Varianten der Lust und
ünlusigefuhle sind und deren physiologische Basis leicht
durch Beeinflussung der innermotorischen Tätigkeit erzielt
werden kann, durch den Rhythmus direkt zu erzeugen siud *).
17. Es zeigt sich also, daß diese sogenannte Elementar-
erscheinung, der Rhythmus in seiner Wirkung auf den
Olganismus, höchst kompliziert ist, und daß das durch den
musikalischen oder motorischen Rhythmus ausgelöste Lust-
gefahl durch mehrere verschiedene Faktoren zustande
kommt. Da ist erstens das in den sensorischen Organen
durch die adäquate Reizung erzeugte Lustgefühl, da ist
femer das in den motorischen Organen, sei es primär im
Tanze, sei es sekundär durch die oben beschriebenen
') Ähnlich auch Siebeck, Über musikalische Einfühlung, S. 5.
Vjerteljahrsschriftf.wissensohaftl. Philos. u.Sociol. XXXII.]. 9
130 Richard Müller-Freienfels:
Reflexwirkungen, ausgelöste Lustgefühl, dazu kommt die an
die stärkere Anregung der Zirkulations- und Atemtätigkeit
sich knüpfende Lust , welche alle zusammen uns das
Gefühl einer erhöhten unddoch in keiner Weise
mühsamen, weil wohl verteilten Lebenstätigkeit
geben, wozu noch die für das Rhythmusgefülil
charakteristische Färbung durch die Spannungs-
und Lösungsempfindungen hinzutritt. In ihrer
Gesamtheit aber bewirken alle diese Erscheinungen eine lust-
volle Erregung des ganzen Organismus, die wir am besten
als Rausch bezeichnen, und in dieser auf die beschriebene
Weise zustande kommenden Rauschwirkung sehe ich den
eigentlichen ästhetischen Reiz des Rhythmus. Das hat
bereits Karl Grogs ^) sehr klar herausgestellt, und auch bei
früheren Autoren finden sich derartige Gedanken aus-
gesprochen: „Der Rhythmus hat etwas Zauberisches, sogar
macht er uns glauben, das Erhabene gehöre uns an," sagte
Goethe in den Maximen und Reflexionen, und Groos zitiert
einen Ausspruch Nietzsches*), der den Rausch für die
physiologische Vorbedingung jeden ästhetischen Tuns und
Schauens erklärt. In der Tat sehen wir bei fast allen
Völkern den Rhythmus zur Erzeugung von rauschartigen
extatischen Zuständen* verwandt.
Das physiologische Zustandekommen dieses Rausches
hat seine Erklärung in den oben beschriebenen Zuständen :
die stärkere Tätigkeit des Gehirns erzeugt eine größere
Anregung des Kreislaufs, alle Zellen arbeiten rascher, und
durch die lustvolle Tätigkeit tritt das, was Alfred Lehmann
die „Bahnung" nennt, ein, das heißt die frei werdende
Nervenenergie wirkt erregend auf die umliegenden Zentren,
und so tritt jene gesteigerte Assoziationstätigkeit ein, die
wir beim Rausche jeder Art finden. Das macht den Zustand,
in den uns zum Beispiel die Musik versetzt, dem Traiune
so ähnlich, daß alle Assoziationen viel reicher und in viel
1) Diese Zeitschrift XXII, S. 10 f. Vgl. auch das betreffende
Kapitel der Spiele der Menschen.
■) NiETZscHK, Werke, VIII, S. 122.
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 131
nngewohnteren Bahnen verlaufen. Groos macht auch auf
die hypnotisierende Wirkung des Rhythmus noch auf-
merksam, und ebenso hat Soüriau^) das besonders hervor-
gehoben. Mir scheint jedoch der Rausch voranzustehen,
die starke Anregung der ganzen Lebenstätigkeit, wobei sich
dami jene Einschläferung der Urteilstätigkeit mehr als
sekundärer Paktor einstellt, da sie von den stark lust-
betonten Empfindungen zurückgedrängt werden.
In der Tat hat die Wirkung des Rhythmus eine ge-
wisse Ähnlichkeit mit dem durch Alkohol, Äther und
ähnliche Mittel erzeugten Zustande-, hier wie dort handelt
es sich um eine künstliche Steigerung aller Lebenstätig-
keiten, und in diesem Rauschzustand glauben wir uns dann
in eine „höhere Welt" versetzt, was von früheren Ästhetikern
oft. als das Ziel aller Kunsttätigkeit angepriesen wurde. Es
tritt eine lebhafte Anregung des Blutkreislaufes usw. ein
nnd infolge davon jene lebhaftere Tätigkeit der Gehim-
zentren , wodurch jenes intensive Erleben ermöglicht wird,
was der Rhythmus in uns erzeugt. So kommt es, daß wir
in diesem erregten Zustande alle sonst gebotenen Eindrücke,
wie die melodische Folge der Töne, die reproduktiven
Elemente bei den Worten, in viel stärkerem Grade auf-
nehmen, mit viel größerer Intensität erleben. Daher das
höhere Leben, das die Kunst vermittelt. In diesem Sinne
ist also der Rhythmus die Vorbedingung alles höheren
ästhetischen Genießens, wie Niktzsehe sagt, oder zum
mindesten ein ganz bedeutendes Verstärkungsmittel. Da-
durch, daß er uns in jenen oben beschriebenen Rausch-
zustand versetzt, verleiht er uns die Fähigkeit, mit einer
in gewöhnlichen Umständen unmöglichen Stärke zu emp-
finden und zu fühlen, und darin besteht eben seine mittel-
bare ästhetische Bedeutung, während seine unmittelbare
ästhetische Wirkung in jenem Spannungs- und Lösungs-
gefiihl zu sehen wäre.
18. Aber noch ist damit die Wirkung des Rhythmus
<) SoL'BXAu, „La Suggestion dans Part.''
132 Richard Müller-Freienfels:
nicht erschöpft. Man ist zwar seit Fechner gewöhnt,
gerade den Rhythmus als typisches Beispiel ftlr die
direkten Wirkungsfaktoren der Kunst den assozia-
tiven gegenüberzustellen, doch darf das nicht in dem Sinne
verstanden werden, wie es zuweilen geschehen ist, als sei
der Rhythmus ausschließlich direkt, nur Empfindung
ohne assoziierte Vorstellung. Das gibt es überhaupt nicht
beim erwachsenen Menschen; sondern wenn man den
' Rhythmus als einen direkt wirkenden Kunstfaktor be-
zeichnet, so kann das nur in dem Sinne geschehen, daß
man sagt, das Assoziative tritt zurück gegenüber der
direkten Wirkung. Ein haarscharfe Trennung zwischen
direkten Faktoren und assoziativen ist, wie überall, so auch
hier verkehrt, und man kann wohl annehmen, daß bei
allen rhythmischen Eindrücken assoziative Elemente mit-
spielen. So ist fast unzertrennlich verbunden schneller
Rhythmus und lebhafte, erregtere, ja heitere Stimmung und
langsamer Rhythmus und ernste, würdige, ja traurige
Stimmung, was allein auf assoziative Elemente zurück-
zuführen ist. Viel weiter noch war das bei den Griechen
entwickelt, für die an jedes Versmaß sich bestimmte
Assoziationen knüpften. Der Rhythmus eines Marsches, eines
Walzers usw. sind jedoch auch bei uns ganz unzertrennlich
von gewissen, wenn auch vagen Assoziationen begleitet, die
ebenfalls mitwirken bei der Gesamtheit des komplizierten
Rhythmusgefiihls.
19. Als Erweiterungen und Steigerungsformen des Rhyth-
mus, zum Teil auf denselben psychologischen Grundlagen
beruhend, sind auch alle jene Formen anzusehen, die, wie
der Refrain und die Satzwiederholung in der Poesie, die
Nachahmung, Umkehrung usw. in der Musik, Wiederholimgen
einer größeren Einheit sind. Auch hier haben wir es überall
mit einer Ersparnis an Arbeitsleistung bei Vermehrung der
psychischen Eindrücke zu tun. Die Beispiele sind zahlreich
für die verschiedenen hierher gehörenden Formen und
überall in der Kunst des Volkes, wo der Refrain dominiert»
in dem „ParaUelismus membrorum" der hebräischen Poesie,
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 133
den Stxoplienfonnen der andern Völker, besonders in der
Musik des strengen Satzes finden sieh diese Wiederholungs-
fonnen. Aus diesen Gedankenwiederholungen haben sich
dann nach Wündt^) auch die bloßen Lautwiederholungen
entwickelt, von denen die frühere Form, die Alliteration,
eine spätere Assonfiuiz und Beim sind. Der letztere soU
aas dem Befrain hervorgegangen sein. Wiederholungen
äußerer Vorgange', neben denen das gesungene Lied her-
ging, miögen ebenfalls fördernd gewirkt haben für diese
Wiederholungsformen. So beim Arbeitslied die regelmäßige
Wiederkehr bestimmter Bewegungen, beim Tanze die
Wiederkehr gleicher Figuren; so sollen die Germanen die
Gewohnheit gehabt haben, die Stäbe ihrer Gesänge durch
Schlagen an die Schilde zu unterstützen, und auch das
Zauber- und Kultlied dl*ängte von frühe an zu Wieder-
holungen durch intensivere Betonung solcher Wendungen,
denen man eine besondere magische Wirkung zuschrieb*).
Aus so verschiedenen Wurzeln erwuchsen also jene
typischen Wiederholungsformen, die uns heute als unverlier-
bare Stümittel unserer Dichtung und Musik erscheinen.
') WüNDT, Völkerpsychologie, II, S. 324.
»J Wüwi>T a. a. O-, S. 325.
(Fortsetzung in nächster Nummer.)
Die soziologischen Bestrelmngeii in der neueren Ethik.
Von Bemetrius Gusti, Berlin.
Inhalt.
A. Zur Soziologie der ethisohen Prinzipienfraffen. 1. Aufgabe des
Aufsatzes. 2. Die zwei prinzipiellen Grundfragen der JSthik ; die ethisch-literarische
Bewegung unserer Zeit läBt sich methodolo^sch durch die Stichwörter: Sozial-
eYolutionismus, Sozialkritizismus und Sozialismus charakterisieren. 3. Die sozial-
kritische, formalistisch-deduktive Methode in Cohens Ethik ist unfruchtbar. 4. Die
Bedeutsamkeit der proletarischen Ethik Kautskys, die von ihm angewandte
Ökonomisch-biologische Methode ist unzulänglich. 5. Die soziologische Begrdndung
der Ethik durch Staudinger. H. Der juristisch-sozialistische Standpunkt Mengers
ist ethisch unzul&asig. 7. Der Sozialevolutionismus der positiven Ethik Batzen-
hofers ist metaphysisch. 8. Der aprioristische Gesichtspunkt im dogmatisch-
induktiven Sozialevolutionismus der Ethik Westermarcks. 9. Lev^r-Bruhls
Amoralismus ist nur angedeutet. 10. FoulUäes Versuch ist logisch - kon-
struktiv. 11. Die Ethik Paulsens ist historisch-genetisch und sozial-teleolo^isch.
12. Wundts Ethik ist sozialevolutionistisch und kritisch-realistisoh. lA. Das Fazit
der bisherigen Auseinandersetzungen. — B. Zur soziologischen Betraohiung
der Willensfreiheit in der Straf rechtswissenschaft. 14. Strafrecht-
liche Bedeutuns der Willensfreiheit: de lege lata und de lege ferenda.
15. Windel b an a 8 Monographie. 16. Für und wider die Willensfreiheit in der neuesten
kriminalistischen Literatur: Kohler, v. Ko bland, Cathrein, Pf ist er. Gut-
beriet, Gr.if zu Dohna, v. Hippel, Petersen. 17. Bonger vertritt den
Uuliersten sozialen Determinismus. 18. v. Liszts soziologische hundierung d«»8
Strafrechts. — G. Zur Univer sitfttsffthigkelt einer selbständigen,
soziologischen Disziplin. 19. Sozialphilosophische Erneuerung der philo-
sophischen und Sozialwissenschaft«n ; die diiettierenden PlJüiemacher diskreditieren
die Soziologie: sie muß in das Universitätsstudium aufgenommen werden.
A. Zur Soziologie der ethischen Prinzipienfragen.
1. Keinem denkenden Beobachter der Gegenwart ist die
Tatsache entgangen, daß einer gewissen Geringschätzung
der Ethik eine „ethische Bewegung" gefolgt ist, welche die
Revision des modernen Gewissens gebieterisch fordert.
Die Frage nach dem Verhältnis des Wissens zum Ge-
wissen, des Seienden zum SeinsoUenden, des geistig-sozialen
Lebens zum kategorischen, gesetzgebenden Imperativ wurde
durch mannigfache Gestaltungen des modernen sozialen
Lebensinhaltes, unter welchen als die wichtigsten folgende
hervorzuheben wären, zu einer dringenden gemacht: die
eigentümliche Art, in der die verschiedenen sozialen Gruppen
das Verhältnis der Individuen zueinander und zum Ganzen
Die soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 135
bestimmen, der Kontrast zwischen Arbeitslosigkeit und Über-
arbeitung, das Verhältnis in der Verteilung von Arbeit und
Genuß, die Zunahme der Selbstmorde und der jugendlichen
Verbrecher, sowie die Zunahme der Verbrecher gegen die
Sittlichkeit und der Rückfalligen, femer die einfache Tat-
sache des Strebens der breitesten Masse nach der Beteiligung
an der Gesetzgebung, sowie der Gedanke der Intemationalität
in der Politik und Volkswirtschaft und nicht zuletzt das leb-
haft empfondene religiöse nud metaphysische Bedürfnis nach
einem neuen Lebensideal.
Ein Blick auf die Anschauungen der Zeitgenossen zeigt
das neu belebte und allgemein gesteigerte Interesse für
ethische Probleme zur Evidenz. Zunächst ist an den
ethischen Hintergrund und die ethische Tragweite der Tätig-
keit der verschiedenen einflußreichen Vereinigungen der
(Gegenwart zu erinnern. Als Ausfluß des erwachenden und
immer mehr wachsenden Pflichtbewußtseins tritt uns bei
den Nationalökonomen der „Verein für Sozialpolitik", bei
den Kriminalisten „die internationale kriminalistische Ver
einigung", bei den Moralphilosophen die „Societies of ethical
culture" (die Gesellschaft für ethische Kultur in Deutschland)
entgegen, die Theologen haben „die sozial-evangelischen
Kongresse" und sogar die Staaten selber „die inter-
nationalen Friedenskonferenzen" zu einer periodisch wieder*
kehrenden Erscheinung gemacht.
In besonders charakteristischer "Weise erscheint uns
aber diese „ethische Bewegung" bei den Denkern unter den
modernen Dichtern, so in Tolstois „Erneuerung des Christen-
tums" , in Nietzsches „Übermenschen", „in Ibsens „drittem
Reiche" einerseits und in den moralphilosophischen Unter-
suchungen der neuesten Vergangenheit anderseits.
In dieser Abhandlung sollen zunächst die einzelnen
Hauptrichtungen, in denen sich die Moralphüosophie gegen-
TTärtig bewegt, zu Worte kommen.
Daran schließt sich, imi ein möglichst treues Bild von
den Bestrebungen der neueren Ethik zu geben, die kurze
13G Demetrius Gusti:
Betrachtung eines ethischen Einzelproblems, der Willens-
freiheit, in der Strafrechtswissenschaffc.
Anhangsweise sollen schließlich einige kurze, aus dem
Aufsatz sich von selbst ergebenden Bemerkungen über die
Soziologie als einer universitatsfahigen Disziplin folgen^).
2. Vorerst ein paar einleitende Erwägungen prinzipieller
und methodologischer Art zur Gewinnung eines einheit-
lichen Qesichtspunktes :
Das Ausschlaggebende der Ethik besteht m« E. in
einer doppelten Frage: in einer Frage nach dem tat-
sächlichen Inhalt der Sittlichkeit, wie er sich in seiner Ent-
wicklung darstellt, und in einer Frage nach der sittlichen
Beurteilung dieses Inhalts, wie sie als das Sittiich-Normative
zur Geltung kommt. Hiermit spaltet sich die Ethik in zwei
Seiten. Es entsteht erstlich die Frage nach der Entwick-
lung des sittlichen Seins imd Werdens und dann erst
die Ergänzungsfrage nach der Allgemeingültigkeit des sitt-
lichen Seinsollens. Diese beiden Seiten der ethischen
Betrachtung werden naturgemäß bei ihrer Bearbeitung zu
zwei getrennten Teilen der Ethik und benötigen einander.
Der erste Teil ist ohne den zweiten unfertig, der zweite
ohne den ersten unmöglich , denn einerseits sagt uns die
Erkenntnis der sittHchen Erscheinungen als solche nichts
über das, was wir tun soUen, und anderseits, was geschehen
soll, kann nur der angeben, der weiß, was bisher geschehen
ist, und was unter bestimmten Bedingungen geschehen kami.
Mit dem prinzipiellen Verzicht auf diesen oder auf jenen
Teil gibt sich die Ethik als solche selbst auf. In der Be-
gründung und Ausführung dieser beiden Seiten der Ethik
und des Verhältnisses derselben zueinander besteht m. E.
das ethische Problem.
Wer zur Lösung des Moralproblems einen Beitrag zu
liefern unteminmit, muß vor allem über die methodo-
1) Ich betone ausdrücklich, daß es nicht meine Absicht sein kann,
im Rahmen dieser Abhandlung eine eingehende und erschöpfende
Kritik der besprochenen Anschauungen zu geben; es soll vielmehr
dies nur insoweit geschehen, als es für eine rasche, prinzipielle Orien-
tierung über die oben genannten drei Punkte notwendig erscheint.
Die soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 137
logischen Mittel, mit welchen man das Moralproblem wissen-
tfchafUicIi zTi bearbeiten hat, klar sein.
Es sind insbesondere drei methodologische Ghnmd-
i^anken, die in der neueren Ethik zu voller Entfaltung
und Fmclitbarkeit gediehen sind, und welche gleichzeitig
den drei großen Weltanschauungen unserer Zeit entsprechen,
die man kurz als den Sozialevolutionismus (die kausale und
teleologische Untersuchung der Entwicklungssta^ien der
sozialen Kealität), den Sozialkritizismus (die erkenntnis-
kritiscHe Analyse des Bestehens des sozialen Entwicklungs-
produktes) imd endlich den Sozialismus *) (die kausal-
ökonomische Erkenntnis der notwendigen Entwicklungs-
tendenz des Sozialen) bezeichnen kann*). In diesen drei
Forschnngsmethoden scheint mir der tiefste Grund aller
sozialwissenschafblichen Kämpfe sowie der verschieden-
artigen Formulierungen und Begründungen der ethischen
Forderungen zu Uegen.
Von diesen aufs allerknappste skizzierten Methoden
der prinzipielien Fragestellung aus sollen in zusammen-
hängender Aneinanderreihung die Besprechungen der uns
vorliegenden Werke von Cohen, Kautsky, Staüdingek, Menger,
') Es ist wohl nicht nötig darauf einzugehen, daß „sozialistisch^
und j^zialdemokratisch'' nicht identische Ausdrücke sind, vgL über
den ÜTSprung derselben C. Grünbero, Der Ursprung der Worte
Sozialismus und Sozialist „Zeitschrift für Sozialwissenschaft", Jahrg.
1906, S. 495 f.
') Um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen , füge ich
hinzu, daß diese Grundtypen ethischer Forschung Schlagwörter
sind, die nur die vorherrschenden Grundrichtungen der neueren Ethik
kennzeichnen wollen. Sie kommen natürlich auch in reiner Form vor,
wie uns die folgenden Auseinandersetzimeen zeigen werden (so
sind flJs Vertreter des [dogmatischen] SoziaTevolutionismus Wester-
sfARCK, des reinen Sozialkritizismus Cohen, des [dogmatischen] Sozialis-
mus Kautsky zu nennen), sie lassen sich aber nicht immer scharf
und deutlidi gegenein anaer abheben; ist doch der Marxismus selber
Ktreng genommen nur eine unter Hegelianischem Gewand hervor-
tretende Abart des Sozialevolutionismus; sie lassen sich vielmehr
friedh'ch untereinander vereinigen und ergänzen, so daß sie in allen
md^lichen Kombinationen erscheinen können: als kritischer Sozial-
evoTutfonismufl (Wündt, Pauiäen) oder als kritischer Sozialismus
(SrADDmoE&jy ja, sie nehmen auch sonst andere Formen an wie die des
znetaphysischeii Sozialevolutionismus(E>ATZENHOFER) oder die des juristisch-
ntopimmen Sozialismus (Menoer).
138 Demetrius Gusti:
Ratzenhofeb, Westermakck resp. Hobhouse, Lävy- Brühl,
FouiLLÄE, Paulsen resp. Thilly und Wündt folgen,
3. Die Arbeiten von Hermann Cohen, Ethik des reinen
Willens, Berlin 1904 (System der Philosophie, zweiter Teil,
()41 S.), und von Karl Kaotsky, Ethik und materialistische
Geschichtsauffassung, Stuttgart 1906 (144 S.) bilden den
denkbar schönsten und lehrreichsten Gegensatz.
Das erste, womit eine ethische Untersuchung zu be-
ginnen hat, meint Cohen, ist das SoUen; „Die Idee muß
restlos in dem Sollen aufgehen. Die Idee ist das Sollen.
Dieses Sollen beschreibt und bestimmt das Wollen, welches
den Inhalt der Ethik bildet?" (S. 26). Gerade das Gegenteil
behauptet Kautsky: „Die Wissenschaft hat es stets nur mit
dem Erkennen des Notwendigen zu tun. . . . Die Ethik
darf stets nur ein Objekt der Wissenschaft sein; diese
hat die sittlichen Triebe wie die sittlichen Ideale zu er-
forschen imd begreiflich zu machen ; sie hat aber von ihnen
keine Weisungen zu empfangen über die Resultate, zu denen
sie zu gelangen hat" (S. 141). Die Eigenart dieser gegen-
sätzlichen Ausgangspunkte erklärt sich dadurch, daß die
Leuchte, an der sich Cohen orientiert, Kants Methode, der
orientierende Pol für Kautsky dagegen Marx' Lehre ist. Die
Untersuchungen Cohens und Kaütskys haben die Programme
von Kant und Marx ins einzelne ethisch ausgeführt. Prüfen
wir nunmehr des näheren, worin diese Ausführungen be-
stehen.
Die Ethik Cohens ist, so seltsam das klingen mag,
kantianisch, juristisch und sozialistisch; die ihr zugrunde
gelegte Methode kann als eine formaldeduktive, sozial-
kritische bezeichnet werden. In Cohens Ethik feiert die
kantische „Methode der Reinheit** ihren höchsten Triumph ;
die durch diese Methode erzeugten reinen Begriffe werden
in der Wirklichkeit als einfach gegebene hypostasiert.
„Überall wo die Reinheit waltet, schreibt Cohen, da werden
Inhalte erzeugt, denen eine Art des Seins zusteht" (S. 400).
„Der tiefste Sinn der Reinheit", lautet eine andere Stelle,
M liegt in der Anwendbarkeit, in der Erzeugung des Seins,
Die soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 139
als einer Anwendung des reinen Begriffes. Auf die Wirklich-
keit geht die Anwendung der Reinheit; aber die Reinheit
vollzieht dabei die Umwandlung der Wirklichkeit" (S. 370).
Der Inhalt der Ethik ist der Begriff des reinen Willens
(S. 7G/77). Der reine Wille wird folgendermaßen definiert:
,er ist das Gesetz des Willens, also das Sollen" (S. 268).
Der Inhalt des reinen Willens ist das Selbstbewußtsein: „es
ist das Sollen des Selbstbewußtseins, welches im reinen
Wollen sich vollzieht" (S. 268). Nun ist das Selbst eine
Einheit. Den Begriff* von der Einheit kennt man von der
Logik her, die Logik ist also die Voraussetzimg der Ethik
<S. 36, 69, 83, 85, 369); mit dem Begriff der Einheit eröffnet
sich uns zugleich, fahrt Cohen fort, der Zusammenhang der
Ethik mit der Rechtswissenschaft; in der Tat ist die Rechts-
wissenschaft, nach Cohen, die Mathematik der Geistes -
Wissenschaften, also auch der Ethik selbst (S. 63, 75, 255,
'M\, 587); an die Jurisprudenz muß sich also die Ethik an-
lehnen. Und zwar in folgender Weise: Die Einheit des
Individuums ist begrifflich ermöglicht nur durch die Allheit,
Repräsentant der Allheit ist der reine Begriff' des Staates
(welcher sich im wesentlichen mit dem Menschheitsbegriff
deckt), und die Wissenschaft vom Staate ist die Juris-
prudenz.
Die Ethik des reinen Willens ist — wenn man den
Grundgedanken seines Werkes zusammenfaßt — die Lehre
von Einheit und Allheit; diese Grundbgriffe sind von den
Begriffen der Einzelheit und Mehrheit streng zu scheiden:
-Vielheit ist nicht Gesamtheit; Vielheit ist Mehrheit; Ge-
samtheit ist Allheit. Einheit ist vorzugsweise Allheit ; sonst
nur Einzelheit, welche der Mehrheit zugehört (S. 75/76, 219,
220, 353, 489). Von der Einzelheit und Mehrheit handelt
die empirisch geförbte Soziologie, welche, wie die Psycho-
logie, auf der Ethik errichtet werden muß, ebenso wie die
Naturwissenschaft auf der Mathematik und nicht xungekehrt
(S. 9, 38, 41, 98, 322, 603).
Die vorliegende Ethik des fiir die Kantforschung ver-
dienstvollen Marburger Professors, als eine im Sinne Kants
140 DemetriuB Gusti:
geschriebene Logik der Ethik, schärft den Verstand und
enthält manche för die Rechtswissenschaft, besonders für
die Begrifisjxirisprudenz . anregende Ausführungen , wovon
diejenige über die Juristische Person" (S. 217 — 231) und
„den Staat" (S. 227) hervorzuheben wären; sie ist aber, was
die ethischen Prinzipienfragen anbetrifft, arm an Resultaten
und unfruchtbar, wie alle philosophischen auf „reine" Be-
griffe aufgebauten Werke. Denn wieviel wir auch Kant
verdanken, und so reichen Gewinn wir auch heute noch
aus seiner Lehre ziehen können, gerade in dem Punkte der
„reinen" Methode sind wir heute seine Schüler nicht mehr.
Cohens Ethik nimmt das Nichts, das „Nirgendwo" als Aus-
gangspunkt und will „die WirkHchkeit umklammem, um sie
zu bändigen, zu meistern, zu verwandeln" (S. 370). Diese
Operation ist, nach ihm, der tiefste Sinn der Reinheit (370).
Es sei mir gestattet, ein Beispiel von dieser Reinheits-
methode zu geben; S. 126 bezeichnet Cohen den reinen
Willen als „Ursprung der Bewegung", und charakterisiert
dies wie folgt: „Die Seele ist Selbstbewegung, das bedeutet
ims: die Bewegung hat ihren Ursprung in sich selbst; das
heißt: sie ist rein wie das reine Denken. Aber das reine
Denken erschöpft den Begriff der Seele nicht. Wohlan,
die Seele ist auch Wüle. Und der Wille ist auch Bewegung.
Auch diese seelische Bewegung ist Selbstbewegung, muß
ihren Ursprung in sich selbst haben."
Jeder, der auch nur eine Dosis von Wirklichkeitssinn
besitzt, wird ein solches Räsonnement, das das obige Zitat
enthält, als eine Spekulation für das Wölkenkuckucksheim
bezeichnen müssen.
Cohen stellt in seiner Ethik kein neues „absolutes,
logisch notwendiges" Moralprinzip auf, er eignet sich viel-
mehr die alte zweite EANTsche Fassung des kategorischen
Imperativs an: „Handle so, daß du deine Person wie die
Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck,
niemals bloß als Mittel brauchst." Interessant ist die Cohen-
sche Interpretation dieser Fassung, sie deklariert nämlich,
nach ihm, „die Idee der Menschheit und die politische Idee
Die soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 141
des Sozialismus", und er fagt noch hinzu: „In diesen Worten
ist der tiefste und m&chtigste Sinn des kategorischen Ln-
perativs ausgesprochen ; sie enthalten das sittliche Programm
der neuen Zeit und aller Zukunft der Weltgeschichte"
(S. 303/4) »).
Für den sozialistischen Geist der CoHENschen Ethik
sprechen noch folgende Belege : er spricht einmal von dem
.sittlichen Feuergeist" Marx; er nennt ihn sogar einen
-Gesandten Gottes" (S. 296), die „materiaUstische Geschichts-
ansicht" ist endlich, nach ihm, nur ein logischer, „aber kein
ethischer Fehler" (S. 296, 36).
4. K. Kaütsky, der wissenschaftliche Führer der strengen
Marxisten, ist mit den Ausfahrungen Cohens gar nicht ein*
verstanden. Kaütsky ist ein lebhafter Gegner des Ein-
dringens des Eantianismus in den Sozialismus, er hielt daher
die Veröffentlichung seiner Ethik, „angesichts des großen
Einflusses, den die KANTsche Ethik in unserer eigenen Beihe
gewonnen", als „dringend notwendig" (Vorwort). In der
Tat, die Kritik der KANTschen Ethik (S. 22—44) bildet trotz
einiger allzu scharfer Ausdrücke den besten Teil der Schrift *).
Der Versuch Kaütskys, Kakts Ethik zu widerlegen, kulminiert
in dem, wie mir scheint, richtigen Satze, daß der kate-
gorische Imperativ empirische Elemente in sich enthält, d. h.
soziale Tendenz hat: „Es sollen hier", schreibt Kautset,
.nicht bloß die Gesellschaft, sondern auch schon ein be-
stimmter Gesellschaftiszustand als möglich und wünschbar
vorausgesetzt werden" (S. 32), femer, „das Sittengesetz
hat demnach eine harmonische Gesellschaft zu schaffen.
Und eine solche muß möglich sein, sonst wäre es doch
widersinnig, sie schaffen zu wollen" (S. 33)*).
') Dies ist ein alter Gedanke Cohens. Schon in der fünften Auf-
lage seines Werks „Kants Begründung der Ethik*^. Berlin (1896)
finden wir den Satz: Kant ist der wahre und wirkliche Urheber des
deutschen Sozialismus (S. LXVl
^ Diesbezüglich ist besonaers auf die gleich nach dem Erscheinen
der Sichrift entstandene Polemik zwischen Kaütsky und Bauer hin-
zuweisen. Vgl. Otto Bauer, Marxismus und Ethik. „Neue Zeit". 1906.
S. 455 f. ; K. Kaütsky, Leben, Wissenschaft und Ethik. Ebenda. 1906.
8. 516 f.
^ Diese Auffassung des kategorischen Imperativs Kants ist vor
142 Demetrius GuBti:
Ich wende miöh zu dem positiven Teil der Ethik
Kautskys und hebe zuerst die symptomatische Bedeutung
der Veröffentlichung der Schrift als solche hervor.
Ich setze die sog. materialistische Geschichtsauffassung
als bekannt voraus *) und erwähne nur die Anschauimg der-
selben, der Engels in seiner Rede an Marx' Grabe den besten
Ausdruck gab, nämlich, daß Marx das Entwicklungsgesetz
der menschlichen Gesellschaft [entdeckt hat — wie Darwin
das Gesetz der menschlichen Natur — , welches darin besteht,
daß die kommende Umgestaltung der Gesellschaft, die
Herausentwicklung des Sozialismus und des Kapitalismus
mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes sich vollziehen
wird; dies heißt mit anderen Worten, daß die gesellschaft-
liche Entwicklung ein naturgeschichtliches Produkt ist,
welches nicht nur vom Wollen und Bewußtsein der Menschen
unabhängig ist, sondern vielmehr umgekehrt deren Bewußt-
sein und Wollen notwendig bestimmt. Dieser Auffassung der
Sittlichkeit gemäß betrachtete sich der Marxismus als
„amoral" und „moralfrei" und sprach geringschätzig von
aller Ethik als von einer „konventionellen, schönfärberisch-
heuchlerischen offiziellen Ethik**. Der Versuch Kautskys,
nunmehr das Wesen des sittlichen WoUens näher zu er-
fassen (vgl. S. 3), ist infolge der Erkenntnis seiner Be-
deutung als eine wertvolle]; Konzession anzusehen zugunsten
derjenigen Marx-Frevler, die, ohne den wahren Kern der
Marxistischen Lehre zu verkennen, gegen die oben entwickelte
absolute Degradierung des Bewußtseins und Wollens des
Kaitsky von Conrad Schmidt in klarer, überzeugender Weise ver-
treten worden. Vgl. Conrad Schmidt, Sozialismus und Ethik. ^Sozia-
listische Monatshene^. 1900. S. 522 f., dagegen L. Woltmann, Die Be-
gründung der Moral. (Ebenda. 1900. S. 718 f.); vgl. auch die Er-
widerung C. Schmidts, Nochmals die Moral. (Ebenda. 1900. S. 795 f.).
^) Vgl. zur Einführung in die Marxistische Gedankenwelt:
Fr. Engels, Herrn Dührinos Umwälzung der Wissenschaft 6. Aufl.
Stuttgart 1907. P. Barth, Die Philosophie der Geschichte als Sozio-
logie. Leipzig 1897. S. 303. Eine gute Orientierung gibt neuer-
dings W. Ed. Biermann in seiner mit vielen Literaturangaben
versehenen Schrift: Die Weltanschauung des Marxismus. Leipzig
1908 (83 S.). Siehe noch: Adolph Landry, L'ethique de Karl Murx.
Paris 1904 (24p.) und Eerdinando Puulia, La realt^ sociale ed il problema
etico. Messina 1906. S. 81—130.
Die soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik, 143
Menschen protestierten, — eine Konzession, die doch auf
gewisse Modifikationen der sog. materialistisLchen Geschichts-
anffassnng hinauslaufen muß. Allerdings Eautskt behauptet
noch mit Energie, daß „eine Wechselwirkung zwischen
der Ökonomie und ihrem geistigen Überbau — Moral,
Religion, Recht, Kunst" besteht (S. 128), und daß die Moral
<wohl als Wirkung!) auf das gesellschaftliche Leben (als
Ursache!) fördernd zurückwirke (S. 129). Es ist aber klar,
daß Kaütsky mit diesen Behauptungen das Opfer seiner
Dialektik wird, denn seltsam muß es anmuten, von einer
Wechselwirkung zu reden, in welcher die Wirkung die
Ursache fördere ! Übrigens gibt Kautsky selbst zu, daß der
Geist in der Technik „auch eine Rolle spielt neben dem
Werkzeug" (S. 128), ja diese Rolle ist sogar eine sehr be-
arhtensw^erte, denn Kautsky definiert die Technik als die
.bewußte Erfindung und Anwendung von Werkzeugen durch
den denkenden Menschen" (S. 128, vgl. auch S. 8Ö).
In diesen konkludenten und gewollten Zugeständnissen
t>e^*teht das Bedeutsame der Veröffentlichung der Ethik
Kautskts. Der positive Ausbau dieser Ethik ist jedoch nicht
auf der Höhe dieser Bedeutsamkeit. Kaütskys ethischer Stand-
punkt istderspinozistische: res humanas nee ridere, neclugere
sed intelligere, er will das Sittliche nur begreifen und kausal
verstehen ; für diesen Zweck bekennt er sich in unkritischer
Weise zu der so lebhaft befehdeten Darwinistischen Ethik, die
er in geschickter Weise mit dem historischen Materialismus
verknüpft. Der Mensch ist nach ihm mit „sozialen Trieben"
ausgestattet, die weit in die Tierheit zurückreichen. „Diese
sozialen Triebe sind aber, nach Kautsky, nichts anderes als
die erhabensten Tugenden, ihr Inbegriff das Sittengesetz"
(S. 62). Auch das Gewissen, „die Sonne unseres Sitten-
tages", wie Goethe es genannt hat, ist „nichts anderes" als
-ein tierischer" Trieb (S. 63). Die Kraft der sozialen
Triebe gestaltet sich verschieden in verschiedenen Zeiten
und Klassen derselben Gesellschaft; die ökonomische Ent-
wicklung schafft besondere moralische Satzungen, welche
sich innerhalb der Gesellschaft auf eine einzige Klasse be-
144 Demetrius Gusti:
schränken. Das sittliche Ideal ist daher, nach Kautskt,
negativ: „nichts als der Gegensatz zur herrschenden Sitfc-
liöhkeit" (S. 136), positiv: „eine besondere Waffe für die
besonderen Verhältnisse des Klassenkampfes^ (S. 141).
Kautsky hat da,s ethische Problem, das er sich
gestellt hat, nicht gelöst, sondern beiseite geschoben.
Von der Formulierung des sittlichen Ideals kann hier
nicht gesprochen werden, denn dies Ideal ist ftlr ihn
bloß ein politisches Mittel in den Händen des klassen-
bewußten Proletariats zur Erreichung rein politischer Zwecke.
Es bleibt nur seine Erforschung des Sittlichen. Der Staud-
punkt, den er einnimmt, ist aber der denkbar naivste. Zu-
nächst fallt es auf, daß die Aufzählung und Beschreibung
der von ihm angeführten „sozialen Triebe" (Selbstlosigkeit,
Tapferkeit, Treue, Disziplin, Wahrhaftigkeit, Ehrgeiz) von
seinem biologischen Standpunkte aus bei weitem nicht er-
schöpfend ist, er könnte darüber bei Comte und Spencer,
die zusammen beinahe 20 solcher „Instinkte" und „Triebe"
anfahren, reiche Belehrung finden^). Auffallend ist es
femer, daß der sonst so scharfsinnige Analytiker Kautsky
die Analyse dieser „Triebe" in etwas hochtrabendem Tone
mit Behauptungen, wie: nichts als „tierische Triebe" ab-
zufertigen glaubt, obwohl es sich hier um so komplizierte
psychische Tatsachen handelt, welche in innigem Zusammen-
hang mit der Entwicklung des Selbstbewußtseins stehen.
Das konmit wohl davon, daß er, wie es scheint, keine klare
Vorstellung von der Fruchtbarkeit und der Tragweit« der
psychologischen Methode hat *). Die klassischen Arbeiten von
') Vg^l. Demetrjuh Gusti, Bd. 1904 dieser Zeitschrift S. 7: Egoismus
und Altruismus bei Comtb und Spencer.
^) Die Auffassung Kautskys des Sittengesetzes als ein .Produkt
der Tierwelt'' hat auch in den Kreisen der Marxisten Widersprach
gefunden. Vgl. L. Qüessel, Der Affe als Erzieher. („Neue Zeif^. 1907.
§. 154 f.). Kautsky antwortet darauf mit einem Aufsatz: „Über den
Ursprung der Moral." (Ebenda, 1907. S. 213 f.), wo er zu folgendem
Geständnis kommt: „Ich gebe zu, daß ich in meiner Ethik im Interesse
der Kürze mit den Beweisen fQr meine Behauptungen vielleicht allzu
sparsam war*" (S. 227). Die Polemik zwischen Qusseel und Kautsky setat
sich aber in sehr gereizter Art fort ; vgl. Qubbsel, SoziolOjgisch-ethisches
Potpourri. (Neue Zeit. 1907. S. 838 s Kautsky, Kannibalische Ethik.
(Ebenda 1907. S. 860). Charakteristisch für den Stand des philo-
Die soziologiflcbeii Bestrebungen in der neueren Ethik. 145
HmE über die ^objektive", diejenige von Smith über die
-subjektive" Sympathie, um nm* zwei Namen zu nennen,
die eben diese „Triebe" psychologisch zu verstehen versucht
haben, ignoriert er.
Auch nach diesem neuesten Versuch, die Ethik „zoolo-
gisch" zu begründen, muß man einen Bankrott der bio-
logischen Methode in der Ethik feststellen, ebenso wie Tönnies
von einem ähnlichen Bankrott der biologischen Politik
neuerdings gesprochen hat*).
Neben dem Versuch Kaütskys sind noch zwei solche
Schriften von sozialistischer Seite erschienen, die sich mit
dem ethischen Problem beschäftigen, es sind die Arbeiten
von Staüdingbr und von Menger, die ich jetzt nacheinander
besprechen werde.
5. Franz Staüdinger, derjenige von den Neukantianern,
der am entschiedensten den Marxismus mit dem Kritizismus
zu verbinden bestrebt ist, findet die Arbeiten von Cohen
nnd Kaütsky einseitig^) und macht sich zur Aufgabe in
seiner Schrift „Wirtschaftliche Grundlagen der Moral"
(Darmstadt 1907, 160 Seiten) die Grundlagen der Moralin der
sozialen Wirklichkeit zu suchen, und an der Hand dieser
Erkenntnis das Sollen der Ethik zu bestimmen. In engem
Anschluß an F. Tönnies (Gemeinschaft und Gesellschaft.
Leipzig 1887, Anast. Nachdruck 1907)*) geht Staüdinger von
den drei logisch möglichen Grundbeziehungen zwischen den
Menschen aus, welche den Menschen in ganz verschiedener
Weise in seinem Wirken und Wollen „lenken und be-
herrschen" (S. 11): erstlich von der auf dem freien Willen
der Menschen beruhenden Gemeinschaft, zweitens von der
sophiflch-wisaenschaftlichen Denkens im Ejreise der Marxisten ist, daß
der Kritiker Kactakts, Quessel, „die menschliche Sittlichkeit von der
Gehimorganisation abhängig'' machen will (loc. cit. S. 840)!
^ F. TöxxiEs, Zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre. 4. Ab-
schnitt. ^CHMOLUSRS Jahrbuch". 1907. S. 550.
* F. STAUDiNGEB, CoHEN Und Kautsky. „Sozialistische Monatshefte''.
1906. S. 315 f.
' Die beste Einführung in das Gedankensystem dieses bedeutenden
iSozioloeen ist F. Tönnibs, Das Wesen der Soziologie. Heft 3. Jahrg. 40.
JSeue Zeit- und Streitfragen.^ Dresden 1907.
Vi«rto]J»hrs8ohriftf.wi88en8chiiftl.Philo8.ri. Sozio! . XXXII. 1. 10
14(j Demetrius Gusti:
auf dem freien Verkehrswillen beruhenden Gesellschaft,
endlich von den sachlichen Beziehungen zwischen den
Menschen untereinander (S. 3 f.). In dem Lieinandergehcn
oder Nebeneinanderbestehen dieser drei Formen mensch-
lichen Zusammenseins und -wirkens bestehb der Inhalt der
Sittlichkeit. Es sind besonders drei Mischungen, schreibt
Staüdinger, die in der Geschichte hervorgehoben sind, und
welche auf die Differenzierung des Willens stark eingewirkt
haben: 1. die Gemeinschaft kann neben dem Sach-
verhältnis stehen, eine Beziehung, die die erste Ent-
wicklungsstufe des Willens bestimmt ; den Instinkt und die
Gewohnheit; 2. die Gemeinschaft kann dem Sach Verhältnis
untergeordnet sein; dies ist durch die andere Willens-
stufe charakterisiert: durch den Zwang und die Autorität;
endlich 3. kann die Gemeinschaft selbst „das Regiment
fuhren", eine Beziehung, die auf die im Werden begriffene
Entwicklungsstufe des Willens, auf die Einsicht und be-
wußte Freiwilligkeit, hinweist (S. 41). Jede von den drei
erwähnten sozialen Formationen erzeugt bei ihren Mit-
gliedern eine bestimmte Willenseinheit und eine bestimmte
Moral.
Die Moral wird nun zur Ethik, wenn sie höhere, im
vollen Leben wurzelnde Gemeinschaftsziele ins Auge faßt.
Damit ist auch das ethische Werturteil gegeben : „Das Streben
nach höherer Gemeinschaft ist moralisch würdig, das ent-
gegengesetzte aber moralisch nichtswürdig" (S. 10. 92 *). Die
Auffindung der Mittel zur Verwirklichung dieser höheren
Gemeinschaftsethik ist die Aufgabe der ethischen Politik ^).
Die auf willenssoziologischer Grundlage aufgebaute Ethik
Staudingers, die uns das Wesen des Sittlichen und Sittlich-
Seinsollenden aus dem Wesen des Sozialen heraus erkennen
läßt, gibt uns, wie wir gesehen haben, mehr als eine
;,Fundamentierung der Ethik vom wirtschaftlichen Gesichts-
') Interessant sind die Ausführungen Staudingers über die ^sich
^Ibst aufhebende Schablonisierung^ des kategorischen Imperativs
»') Vgl. F. STAuniNCiER, Ethik und Politik. Berlin 1899.
Die soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 147
punkte" (S. 80), wie der Verfasser den Zweck seiner Arbeit
bezeichnet hat. Hier sind wir zu einem Punkte gelangt,
von dem aus wir dem Verfasser nicht weiter folgen können,
denn seine Ausarbeitung nimmt jetzt den Charakter einer
pohtischen Tendenzschrift ersten Ranges (besonders S. 130 f.)
an und gibt dem Verfasser Gelegenheit, in seinen Aus-
fuhrungen über den reinen ökonomischen Ursprung der ReU-
gion, Kultur usw. (S. 8 f.) zu zeigen, daß bei einer Ver-
bindung der Dogmatik des Kritizismus mit Marxismus ein
potenziertes Dogma entstehen kann.
6. Wenn die Ausführungen Staüdingers betreffs der
ethischen Problemstellung und -lösung im Vergleiche mit
dei^jenigen Cohens und Kaütskys als Fortschritt bezeichnet
werden müssen, so bedeutet in gleicher Beziehung die Arbeit
Anton Mengers, Neue Sittenlehre (Jena 1905, 82 Seiten) einen
entschiedenen Rückschritt. Der ehemalige österreichische
k k. Hofirat und Professor in Wien (gestorben in Rom am
6. Februar 1906) ist der Begründer des sogenannten uto-
pischen „Juristensozialismus" , welcher die soziale Frage
ausschließlich als ein Verteilungsproblem ansieht. Das Dekret
einer allmächtigen Regierung könnte, nach Menger. genügen,
um die soziale Frage zu lösen, d. h. die gerechte Verteilung
nach Maßgabe der Leistung durchzusetzen. Dies ist im
wesentlichen seine „Gewalttheorie". Diese Theorie hat er
nun auf das Gebiet der Sittlichkeit übertragen. Die ganze
Sittlichkeit, ist nach Menger aus den Machtverhältnissen
d. h. aus dem materiellen Zwang, abzuleiten (S. 6 f.), sie
ist ein „Reflex der geltenden Machtordnung" (S. 34-, Recht?),
sie ist eine „Anpassung an die bestehenden Machtverhältnisse"
(S. 12). Diese so entstandene „Sittlichkeit" ist aber, ßlhrt
Menger fort, eigentlich unsittlich : „die herrschenden sozialen
Machtfaktoren sind die Quellen aller sittlichen Mißstände",
erst „der Sozialismus wird die überlieferten sozialen Macht-
verhältnisse so umgestalten, daß sich aus der umgebildeten
Machtordnung ein höheres sittliches Leben mit Notwendig-
keit ergeben muß" (S. 82). Da sollte man erwarten, Menger
wird uns endlich doch sagen, was er unter dem Macht-
10*
148 Demetrius Gusti:
faktor versteht, und warum die künftige sozialistische
Machtordnung eine „Verbesserung der Sittlichkeit" herbei-
führen könnte? Aber leider erfahren wir darüber nichts.
Die „neue Sittenlehre" Mengers ist wohl das Schwäxihste
in seinem sonst sehr beachtenswerten Lebenswerk^), sie
bildet eigentlich ein Schulbeispiel von einer seltenen Begrifts-
verwirrung und Unklarheit; es ist merkwürdig, wie eui
Professor der Rechte solche elementare Begriffe wie Sitte
und Sittlichkeit, Legalität und Moralität, Recht und Gewohn-
heitsrecht und Sittlichkeit in so sonderbarer Weise durch-
einander werfen konnte ! Als höchst eigenartig verdient die
von Menger vorgenommene Unterscheidung einer Sittlichkeit
für Ausnahmenaturen und Helden und einer für alltägliche
Menschen (S. 4. 5. 64) hervorgehoben zu werden ; er illustriert
beide mit dem folgenden Beispiel aus der neuesten euro-
päischen Geschichte : Wäre das serbische Königspaar in der
Mordnacht am 10. Juni 1903 aus dem Eönak entkommen, so
wären „gewiß" die verschworenen Offiziere hingerichtet
worden, und ihre Handlung „mußte" man als unsittlich be-
zeichnen; da sie aber „rasche und gründliche Arbeit ver-
richteten", „muß" man ihre Handlung als eine „sittliche''
loben und „bewundem"; Menger fügt noch hinzu : „Freilich
gab es in der Kulturwelt gar manche Pedanten, der nicht
einsehen wollte, daß Macht und Sittlichkeit im wesentlichen
identisch sind, aber ihre verdammenden Urteile gelangten
angesichts der allgemeinen Zustimmung und Anerkennung
zu keiner Bedeutung" (S. 5). Sapienti sat!
7. Auch die „Positive Ethik" (Die Verwirklichung des
Seinsollenden. Leipzig 1901. 337 Seiten) aus der Feder
des Soziologen Gustav Ratzenhofers fördert nicht wesentUch
die Erörterung des ethischen Problems. Batzenhofer (ge-
storben auf der Heimreise von Amerika am 8. Oktober- 1904),
ein ehrlicher und origineller Denker, der als philosophischer
M Als hervorragender Jurist (Zivilist) und als gelehrter Kenner
des alten Sozialismus hat er uns heiehrende Schriften hinterlassen.
Sein reformatorisühes Hauptwerk ist: Neue Staatslehre. Jena 1908.
J>ie soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 149
Dilletant mit den schwierigsten Problemen zu ringen ge-
wagt hat ^), vertritt den sogenannten positiven Monismus, den
er in seiner Ethik anwendet. Die gesamte Welt — so lautet
sein Monismus — von dem entferntesten Planeten und den
niedersten Insekten bis zum hochentwickelten menschlichen
Bewußtsein ist als das differenzierte Produkt einer einheit-
lichen, ursprünglichen Urkraft^) zu betrachten; jedes fte-
schöpf hat ein angeborenes Interesse an seiner Entwicklung.
Auf den angeborenen und entwicklungsfähigen Anlagen
Keruht nun die Sittlichkeit (S. 65): „Nicht der Wille ist die
Quelle der Sittlichkeit, sondern die Entwicklung des in
unseren Anlagen wurzelnden inhärenten Interesses" (S. 6(5).
Das sittliche Seinsollende ist „mit dem naturgesetzlich
Gebotenen für die Menschen" gegeben (S, 118), es ist
ein Entwicklungsprodukt, eine Harmonie der Individual-,
Sozial- und Transzendentalinteressen (S. 79. 83. 95. 114).
Der Mensch lernt allmählich, daß das Individualinteresse
ohne das Sozialinteresse nicht befiiedigt werden kann, so
daß er schließlich auf dasjenige im Individualinteresse ver-
zichtet, was dem Sozialinteresse schadet, das um so mehr,
weü diese Einschränkung des Individualinteresses noch
durch das Transzendentalinteresse („das Fühlen des Indi-
viduums im Zusanmienhang mit der unendlichen Urkraft"
(S. 67]) gefördert werde.
Abgesehen davon, idaß m. E., eine Ethik in die
Metaphysik münden kann, ihr Fundament aber nicht in
einer Metaphysik suchen darf, ist der Ausdruck Sittlich-
Seinsollen in der Ethik Ratzenhofers mindestens inkorrekt,
denn nach ihm ist das Sittlich-SeinsoUende mit dem Natur-
gesetz identisch, und als solches muß es einfach gelten*,
widerspruchsvoll ist femer auch die Behauptung, daß das
Sittliche der physiologischen Natur des Menschen immanent,
*) Vgl. die Biographie des verst. Feldmarschall-Leutnants a. D.
Hii-zEXHOFEB von dessen Sohne in dem Vorwort des nachgelassenen
Werks „Soziologie". Leipzig 1907.
*j Die Annahme einer Urkraft, die an den „ünknowahle" Spenckbs
«riimert, hat Ratzenhofbr den Namen eines „österreichischen Spkncer'^
eingebracht.
J50 Demetrius Gusti:
diese sittliche Immanenz (das Individualinteresse) aber dem
sich entwickelnden Sein-SoUenden feindlich ist.
8. Den bisher besprochenen, mehr theoretisch-konstruktiven
deutschen Arbeiten stehen zwei in eujglischer Sürache erschienene,
auf einer umfassenden Unterlage von Tatea<^en oernhende ethische
Untersuchungen gegenüber: es sind diejenigen von Edwaud Westkk-
MARCK, The ongin and development of the moral ideas. (London 1906.
Vol I, 716 p. — deutsch übersetzt von Lijopold Katscher unter dem
Titel: Ursprung und Entwicklung der Moralbegpriffe. Leipzig 1907.
632 S.) und von L. T. Hohhouse, Morals in Evolution, a study in com-
Sarative ethics. (London 1906. Vol. I, 375 p., vol. II, 294 p.) Von
lesen beiden Arbeiten berücksichtige ich nur die erste als die wich-
tigste') und für manche Bestrebungen der vergleichenden Ethik die
typische.
Der bekannte englisch schreibende finnische Professor WESTEnMAucK»
ausgerüstet mit einem ungewöhnlichen Grade von Forscherfleiß, ist
in seinem vergleichenden Werke redlich bemüht, der Gesamtheit der
zu erklärenden sittlichen Erscheinungen gerecht zu werden; mit der
Anwendung der vergleichenden Methode sind aber Gefahren ver-
bunden, die Westermarck« wie ich meine, nicht vermieden hat: seine
Ausführungen gehen mehr in die Weite als in die Tiefe.
Die Anordnung des wertvollen Materials ist in seinem Werke
unklar, unübersichtlich und vor allem unlogisch; er beginnt nämlich
seine Untersuchung mit dem Ursprung des Sittlichkeitsinhalts (engl.
p. 4—314, deutsch S. 1 — 267), den er noch nicht kennt und nicht näher
charakterisiert, geht dann über zur Erörterung der sittlichen Wertung
desselben, die er in einigen Zeilen erledigt (engl. p. 314 — 327, deutsch
S. 267 — 279), und kommt endlich zu einer umfangreichen Beschreibung
des Sittlichkeitsinhalts*) (engl. p. 327 — 716), dessen Entstehung und
sittliche Bewertung er vorher erörtert hat Das Werk enthält aber
auch keine tiefeindringende Verwertung des Materials. Die ver-
gleichende Methode muß, um fruchtbar zu sein, nicht nur auf die
Ähnlichkeit und Differenzen der verglichenen Phänomene hinweisen,
sondern durch Analyse und Abstraktion, durch psychologische Inter-
pretation und wertende Kritik der Elemente der verglichenen Gegen-
stände zu neuen Erkenntnissen kommen. Nur in diesem Sinne, als
methodologisches Hilfsmittel, kann die vergleichende Methode für die
Geisteswissenschaften das sein, was die Induktion und das Experiment
für die Naturwissenschaften ist. Eine solche Methode finden wir in
dem Werke Wksikkmarcks nicht. Der Leser bekommt von der Aus-
arbeitung des Buches vielmehr den Eindruck, als ob der Verfasser
*) HoBHorsK schreibt selbst im V^orwort: „Dr. Wehtermarck» im-
portant work . . . would have been of immense vidue to me had it
appeared a little earlier. It is particularl y satisfactory to me to find
that so far as we cover the same field my results generally hamio-
nize with bis, and this notwithstanding a material divergence in
ethical theory" (vol. 1, p. VII). Als eine Illustration dieser Worte
kann ich die Tatsache anfühlten, daß Hobhouse einen ganzen Abschnitt
im ersten Band seines Werkes an Wkstermarcks Ausführungen direkt
anschließt (p. 122-133).
^) Ein zweiter Band wird der Fortsetzung dieser Beschreibung
gewidmet sein.
Die soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 151
vor der Behandlung der einzelnen Abschnitte ein bestimmtes Hesultat
schon Yorausgesetzt habe und eifrig bemüht sei, diese vorausgesetzte
Anschauung mit reichlichen Beispielen von dem, was Menschen von ver-
schiedenen Hassen zu verschiedenen Zeiten für sittlich und unsittlich
galten haben, zu belegen. Das Schema, welches als das Wesen der
Sittlichkeit auf allen sozialen Entwicklungsstufen anzusehen sei, ist
nach WcsTKRMABCK etwa in den folgenden Worten zusammenzufassen:
die Moral ist auf Gefühl zu gründen, die sittlichen Urteile sind Ge-
schmackurteile, die Moralbegriffe entstehen dadurch, daß gewisse
Handlungen in dem Beschauer Billigung oder Mißbilligung hervor-
rufen; diese „sittlichen* Gefühle (morcQ emotions) stenen in Yor-
wandtschaft (!) mit den außersittlichen (non-moral) Gefühlen : die Miß-
billigung mit dem Zorn und der Bache, die Billifi;ung mit der Dank-
barkeit; die sittlichen und außersittlichen Gefühle gehören zu der
umfassenderen Gattung der Vergeltungsgefühle. Das, was die sitt-
lichen von den außersittlichen Gefühlen unterscheidet, ist die Un-
parteilichkeit'), welche sozial bedingt ist: the Solution of this problem
lies in the fact that society is the birthplace of the moral consciousness
lengl. p. 117, deutsch S. 98).
Die Bedeutung des We^sitskwarck sehen Buches liegt in den ver-
.sleichenden Ausführungen des Verfassers, die auf Schritt und Tritt
>ein ungeheures Wissen ahnen lassen. In dieser Hinsicht ist dies
Werk äs ein Handbuch und Nachschlagewerk der vergleichenden
Ethik zu nennen, welches eine wahre Fundgrube von Tatsachen
und Anregungen für jeden Moral-, Rechts- und Sozialphilosophen
enthält. Aus diesem Grunde ist zu bedauern, daß die sonst sehr
sorgfältige deutsche Übersetzung des Werkes auf viele Zitate der
englischen Ausgabe verzichtet hat; so habe ich, beispielsweise,
bei dem Vergleich des Abschnittes: Analvsis of the principal moral
concepts (Absch. VI in der englischen, Absch. IV in der deutschen
Ausgabe) in der deutschen und englischen Ausgabe gefunden, daß der
deutsche Text nur 16, der englische 42 Zitate enthält!
9. Paülsen erwähnt in der sechtsen Auflage seiner Ethik
eine Anekdote, die Sidgwick einmal erzählt: Ein Student
antwortete auf die Examensfrage, wovon die Einwohner der
Hebriden lebton, folgenderweise: sie erwerben sich ihren
kümmerlichen Lebensunterhalt dadurch, daß sie einander die
Kleider waschen. Die Geschichte, meint Paülsen, paßt auf
manche Moralphilosophen. Sie paßt zum Teil auch auf die oben
erörterten Versuche einer neuen Ethik und sicherlich ganz
besonders auf die sogenannten Reformen und die Neubegrün-
dung der Ethik, die im Mittelpunkt der philosophischen
Interessen und Diskussionen in Frankreich stehen. In auf-
fallend ähnlicher Weise tritt auch in Frankreich derselbe
') Der ^unparteiische'* Beschauer dieser Ethik erinnert stark an
SwrHs Theory of moral sentiments — die sittlichen Geschmacks-
urteile an die ästhetisierende Ethik Herbartb.
152 Demetrius Gusti:
Gegensatz in der Auffassung des ethischen Problems, den
wir bei dem obigen Versuche haben beobachten können,
hervor : die einen nehmen das Sein als Ausgangspunkt ihrer
Untersuchungen, die anderen das Sollen.
Die Hauptsprecher dieser zwei prinzipiellen Betrach-
tungsweisen des ethischen Problems sind in Frankreich
Lävy- Brühl und Foüilläe.
Der Leitgedanke in C. Lävy-Bruhls Buch: La morale
et la science des moeurs (Paris 1907. 300 p.) ist — im
engen Anschluß an die Soziologie Durkh£IMS (vgl. p. 14.
273) — der folgende : „nous cherchons, schreibt Lävy-Brühl
am Anfang des Buchs (p. XII), ä fonder une science
qui ait la „nature morale" pour objet, et, s'il se peut, un
art moral rationnel, qui tire des applications de cette science" ;
an anderer Stelle sagt Verfasser dasselbe mit anderen
Worten: „definir les faits moraux comme des faits sociaux,
concevoir une „nature morale" analogue äla „nature physique**,
etudier, Tune comme l'autre d'un point de vue objectif" . . .
das wäre die programmatische Au%abe des Buches. Dabei
ist aber ausdrücklich zu bemerken, daß der Verfasser in
seinem Buche über die methodologische Feststellung dieser
Aufgabe nicht hinausgegangen ist ; er hat in jedem Abschnitt
von neuem die Notwendigkeit dieser Angabe betont, sich
darüber mit den Gegnern auseinandergesetzt; aber worin
eigentlich diese „realite morale" besteht, was ihre diflferentia
specifica und ihr genus proximum im Unterschiede oder
Vergleiche mit der „röalite sociale" sind, was er ferner ein-
deutig und klar unter „moBurs" versteht (ist die „Sitte"
nach ihm zugleich Sittlichkeit? und wenn er dies bejaht
oder verneint: warum?) hat er uns nicht gesagt. Es ist
wohl anzunehmen, daß er dies und manches andere späteren
Veröffentlichungen vorbehalten hat.
10. Hauptsächlich gegen diese von Läyy-Bruhl ver-
tretene Auffassung der Moralwissenschaft hat Alfred
FouiLL^E nicht weniger als drei kurz nacheinander er-
schienene Bücher veröffentlicht; die beiden ersten: Le
moralisme de Kant et Tamoralisme contemporain (Paris 1905) —
Die soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 153
Les elements sociologiques de la morale (Paris 1905) sind
polemisclier Art; das letzte Buch, das ich liier «dlein be-
räcksichidgen werde: La morale des idees forces (Paris 1908)
Uft systematischer Art. Für Foüilläe ist „la moralite avant
tous nne decision de Tindividu (p. Xlil), und zwar
.cest sur la nature mentale que doit se fonder la
moralite'' (p. XLIV). „La nature mentale" stellt er
absichtlich der „nature morale" L^vy-Brühls gegenüber.
Der Ausgangspunkt der Ethik ist, nach Fouilläe, das Be-
wußtsein als solches und die fundamentale moralische
-Kraftjdee*', d. h. die Idee des Bewußtseins, das Bewußtsein
der Betätigung des Bewußtseins (p. 1. 30)-, die Formu-
lierung des ethischen Prinzips ist somit eine Variante Des-
cartes' Cogito: Cogito ergo sumus. Die möglichen Be-
ziehungen dieses Prinzips zu dem denkenden Subjekt
(p. 3. 105) zu dem Verhältnis der denkenden Subjekte
untereinander (p. 209. 242), zu dem Objekt (p. 105 bis
180) und endlich zu dem Verhältnis zwischen Objekt und
Subjekt (pag. 180. 292) schaflfen den Inhalt der Ethik und
die ethischen Werte.
Das Selbstbewußtsein und seine Entwicklung zum Aus-
gangspunkt einer ethischen Untersuchung zu machen, ist
ein höchst sympathischer Gedanke. Die Ausfiihrungen dieses
Gedankens in FouiLLttEs Buch stehen aber auf dem Boden
der Reflexionspsychologie und -Soziologie, so daß die Neigung
des Verf., seine eigenen Überlegungen den so komplizierten
und för die Interpretation vieldeutigen moralischen Vor-
gangen zu substituieren, eine sehr bedenkliche Rolle spielt;
er erblickt in der logischen Zurechtlegung der Entfaltung
des Selbstbewustseins und der Entwicklung der Moralität
das tatsächliche Selbstbewußtsein und die tatsächliche
Moralität selbst; die Ethik FoüiLLfiEs gilt nicht dem leben-
digen Wesen, sondern einem far wissenschaftliche Zwecke
hergestellten Präparat.
Der Streit zwischen L£vy-Bbuhi. und Fot ill^ie, zwischen Tamora-
iisme et le moralisme, wie sie ihn pointiert haben, hat eine Reihe
von Zeitschriftenaufsätzen und Arbeiten hervorgerufen. Ich zitiere
eine Arbeit im Sinne Läty-Bruhl8, von A. Bayet, La morale scientifique.
Eastd sur les applications morales des sciences sociologiques (Paris 1905),
154 Demetrius Gusti:
und eine andere im Sinne FouiLLfiEs von M. Maixion, Essai sur ]es
Clements et r^volution de la moralite (Paris 1904).
11. Der Nerv aller ethischen Auseinandersetzungen ist,
daß der Inhalt des sittlichen Sollens irgendwie gewollt
werden muß. Das Sollen, um überhaupt eine wirkende und
bewegende Kraft für uns zu sein, muß ein Wollen sein ; von
einem Sollen, das nur ein Gebot wäre, ohne daß ich dieses
Gebot wollte, ließe sich auf mein doch nur vom Willen
beherrschtes Handeln kein Erfolg erwarten. Dieses Ver-
hältnis zwischen dem pflichtmäßigen Sollen und dem tat-
sächlichen Wollen ist den besprochenen Autoren nicht ganz
klar zum Bewußtsein gekommen.
Es sind die bedeutendsten und einflußreichsten Systeme
der Ethik der Gegenwart von Paulsen und Wundt, die dies
im großen Stil zum Gegenstand ihrer Erörterungen machten.
Versuchen wir nun, uns über das prinzipiell Wichtige dieser
Systeme in kurzem zu orientieren*).
Friedrich Paulsen vertritt den sog. Energismus in seinen
ethischen Werken: System der Ethik mit einem Umrisse
der Staats- und Gesellschaftslehre (Siebente und achte
verbesserte Auflage. Stuttgart und Berlin. 190(3. Bd. I,
477 S., Bd. n, 654 S.); Ethik in „Systematische Philosophie"
(Die Kultur der Gegenwart. Leipzig 1907) \ Zur Ethik und
Politik (Gesammelte Vorträge und Aufsätze. „Deutsche
Bücherei", Bd. 31—32, zweite Auflage)^).
„Von zwei Tatsachen geht das Nachdenken aus, das in
der Ethik seinen systematischen Abschluß erreicht: vom
WoUen und vom Sollen" („Ethik"»), S. 282). Die Ethik
der Gegenwart ist, fahrt Paulsen fort, historisch-genetisch,
') Über diese beiden moralphilosophischen Systeme sowie über
diejenigen von Mii.l, Spknckr, Lippb und v. Hartmanx vgl. Gr. Sh»rrin«,
Ethische Grundfragen. Leipzig 1906. Auf dieses Buch gehe ich hier*
nicht ein, weil es in dieser Zeitschrift schon von v. Astru, 1907,
Heft III, S. 363, besprochen worden ist.
') Ich erwähne noch die auf Paulsen scher Grundlage fußende,
Paulsen gewidmete ^Einführung in die Ethik** von Frank Thillv, aus-
gezeichnet ins Deutsche übertragen von Dr. Eislkr. Leipzig 1907. 255 8.
^) Das System der Ethik zitiere ich mit „System , die Ethik
aus der Kultur der Gegenwart mit „Ethik".
Die soziologiscilen Bestrebungen in der neueren Ethik. 155
was das Wollen und sozial-teleologisch , was das SoUen
anbetrifit.
„Die historisch-evolutionistische Denkweise kann ihre
SteUnng nur auf Seiten der teleologischen Auffassung
nehmen .... sie wird die nächste Au%abe der Moral-
philosophie gerade darin setzen: die objektive Sittlichkeit
sozial-teleologisch zu erklären oder zu begründen" („Ethik",
S. 290). Von dieser Grund«uischauung aus erklärt dann
Paulsen das Sollen: „die Erscheinung des SoUens im Gegen-
satz zum WoUen, jenes Urphänomen des Sittlichen, ist aus
dem Verhältnis des Individuums zu dem sozialen Ganzen^
des Eigenwillens zum allgemeinen Willen abzuleiten
..Ethik", S. 290).
Da aUes Wollen ein Streben nach einem Ziel ist, so
erhebt sich also die Frage: „Was ist das letzte Ziel, oder,
wenn ein erreichtes Willensziel ein Gut genannt wird, was
ist das höchste Gut, worauf der menschliche Wille seiner
Xatur nach zuletzt gerichtet ist?" („Ethik, '^ S. 282.) Die
Beantwortung dieser Frage hat Paulsen in seinem „System"
gegeben. Die Formulierung des höchsten Gutes lautet nach
ihm: „Ein vollkommenes Menschenleben, d. h. ein Leben,
das zu voller und harmonischer Entfaltung der leiblich-
geistigen Kräfte und zu reicher Betätigung in allen mensch-
Hchen Lebenssphären führt, in inniger Gemeinschaft mit
anderen nächstverbundenen Personen und in allseitiger
Teilnahme an dem geschichtlichen und geistigen Lebens-
inhalt der großen Gemeiaschaftsformen" („System", S. 4).
Von diesem Gesichtspunkte *) aus hat Paulsen in seinem
, System" mit frischer Ursprünglichkeit und wunderbar
0 Von den prinzipiellen Fragen, denen vorzugsweise Paulskx
seine neuerdings veröffentlichte „Ethik" gewidmet hat, sei hier auf
seine Ausführungen tther das Becht der formalistischen Ethik und
ihre Ergänzung durch die teleologische Ethik, d. h. üher den „un-
geeigneten una irrefOhrenden" in der neuesten Zeit aber sehr oft
gemachten Unterschied zwischen „Gesinnungs- und Erfolgsmoral"
(^Ethik", S. 298 f., 802 f.) besonders aufmerksam gemacht. Zum guten
Handeln gehört, schreibt Paulsen, nicht nur die gute Gesinnung des
Handelnden, wie die formalistische Ethik annimmt, sondern auch die
Richtigkeit des Handelns (nämlich jenes, welches in der Eichtung auf das
156 DemetriuB G-usti:
klarer Gedankenftihrung das ethische Zeitbedürfnis er-
kannt, die Güter-, Pflicht- und Tugendlehre dargestellt
(Buch 2 und 3), und das ganze Gebiet des sittlich. -
sozialen Lebens erörtert (Buch 4 und 5). Paulsen kommt
es vor allem darauf an, nachdem er „die richtig ge-
bildeten Grundbegriffe und die gesicherte Methode" fest-
gestellt hat, „das sittliche Leben, seine Aufgaben, seine
Organe , seine Formen und Funktionen" darzustellen
(„System", S. 7), und offenbar auf die neuesten Begründungen
der Ethik bezugnehmend, erscheint es ihm nicht „als ein
Anzeichen eines fortgeschrittenen Zustandes der Ethik, daß
Werke, die statt über das sittliche Leben ... zu handeln,
nichts als langwierigste Erörterungen über den Begriff des
Sittlichen und die Methode seiner Erforschimg enthalteui
ihre Verfasser in den Ruf ausbündiger Tiefe und Gründlich-
keit bringen" („System", X). Dies sind höchst beherzigens-
werte "Worte!
12. Der Führer unserer philosophischen Epoche, Wilhelm
WuNDT, hat in seiner Ethik (Eine Untersuchung der Tat-
sachen und Gesetze des sittlichen Lebens. Dritte Auflage.
Stuttgart 1903. Bd. I 523 Seiten, Bd. 11 409 Seiten) das
ethische Problem großzügig behandelt. Einem solchen
Werke gegenüber kann die Aufgabe einer kurzen Be-
sprechung keine andere sein, als die, das Wesentliche an-
zudeuten. WuNDT teüt die Aufgabe der Ethik in eine vor-
bereitende : die Untersuchung des Ursprunges und der Ent-
wicklimg des sittlichen Bewußtseins , und in eine syste-
matische: die Feststellung der ethischen Prinzipien und die
Anwendung derselben auf das sittliche Leben.
„Die ursprüngliche Quelle fiir die Erkenntnis des Sitt-
lichen ist das sittliche Bewußtsein des Menschen, wie er in
den allgemeinen Anschauungen über das Recht und Unrecht
und außerdem vornehmlich in den religiösen Vorstellimgen
höchste Gut liegt) („Ethik^, S. 299); aus dieser Erkenntnis heraus hat
Paulsen für die wissenschaftliche Ethik die Parole ausgeprägt: nicht
Zurück zu Kant! sondern: Endlich los von Kant!
Die aoziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 157
und in der Sitte seineu objektiven Ausdruck findet" (Bd. I,
S. 18). Eine notwendige Ergänzung far die Untersuchung
des Ursprungs des sittlichen Bewußtseins (Absch. 1, Bd. I)
bildet die Erforschung seiner Entwicklung, wie sie in dem
gesehichtlichen Werden der sittlichen Weltanschauungen und
der gleiclizeitigen Kulturbewegungen ihren deutlichsten Aus-
druck findet (Absch. 2» Bd. I).
Die Entwicklung der Tatsachen des sittlichen Lebens
sowie der Sittlichkeitsbegriffe ist durch das Gesetz der
.sukzessiven Differenzierung und Unifizierung der sittlichen
Begriffe" und durch das Gesetz der „Heterogenie der Zwecke"
bestimmt (Bd. I, S. 274/5).
Das Sittliche besteht nun in einem bestimmten Zu-
sammenwirken von Motiven und Zwecken des „unserer Be-
ä:*acbtang gegebenen reifen sittlichen Bewußtseins** (II, 158),
nämlich in der Übereinstimmung der Motive des Einzel-
willens mit den Zwecken des Gesamtwillens: „Sittlich sind
(jesinnungen und Handlungen, in denen der EinzelwiUe mit
dem Gesamtwillen, in welchem er enthalten ist, überein-
stimmt; und falls mehrere übergeordnete Willen gleichzeitig
in ihm wirksam werden, entscheidet die Übereinstimmung
mit dem umfassenden Gesamtwillen über den "Wert der Ge-
sinnung und Handlung** (H, 159; vgl. über Einzel- und
(lesamtwille, über Natur imd Zweck: H, Absch. 3).
Sittlich wertvoll ist, dem oben von Wündt festgestellten
Kriterium nach, die Förderung der Entwicklung des Gesamt-
willens.
Die höchsten Zwecke des Gesamtwollens liegen in der
Hervorbringung objektiver geistiger Werte, d. h. solcher
geistiger Schöpfungen, die uns in Kunst, Wissenschaft und
allgemeiner Kultur gegeben sind. Daher gibt es, betont
WüKDT, keine absolut bleibenden sitüichen Zwecke, denn
die jeweilig zu erstrebenden Zwecke müssen sich nach
der jeweilig erreichten und erreichbaren Entwicklungsstufe
richten: ^Die Vergangenheit hat aufgehört und die Gegen-
wart wird im nächsten Augenblick aufhören, sittlicher Zweck
zu sein** (II, S. 119).
158 Demetrius Gusti:
So erscheint denn die Kulturentwicklimg als der höchste
ideale Zweck des Sittlichen. Von dieser Erkenntnis aus
gelangt Wundt zu folgender Formulierung der höchsten sitt-
lichen Norm: „Fühle dich als*^ "Werkzeug im Dienste des
sittlichen Ideals", oder mit anderen Worten : „Dusollst dich
selbst dahingehen für den Zweckj, den du als deine ideale
Aufgabe erkannt hast" (11, 191).
Die Normen wirken*auf das wirkliche Leben richtung-
gebend ein. So entsteht die praktische Ethik (II, 220),
der WüNDT folgende Aufgabe zuschreibt: „Ihr Blick ist nur
auf die sittlichen Ideale selbst gerichtet, nicht auf die
äußeren Mittel und Wege ihrer Verwirklichung. Die Unter-
scheidung dieser muß sie den praktischen Disziplinen über-
lassen, der Volkswirtschaft, der Verwaltungslehre, der Rechts -
wissenschafb, der Politik, Lehrsystemen, die nicht bloß darin
mit der praktischen Ethik übereinstimmen, daß sie überall
neben der Gegenwart die nähere Zukunft im Auge haben,
sondern vor allem auch darin, daß ihre eigenen Aufgaben
im letzten Ghninde ethische Aufgaben sind (II, 223). Die
einzelne Persönlichkeit, die Q-esellschaft, der Staat und die
Menschheit bilden die sittlichen Lebensgebiete (11, Absch. 4).
Durch den wirtschaftlichen Völkerverkehr und die rechtlichen
Beziehungen der Völker untereinander entwickelt sich all-
mählich die objektive auf Rechtsgleichheit beruhende humane
Gesellschaftsordnung der Völker. So gipfelt diese weite,
herrliche Perspektive des evolutionistisohen Universalismus
WüNDTS in dem Satze: „Aus einer bloß potentiellen be-
ginnt die Menschheit zu einer aktuellen Einheit zu
werden, an die nun mit den umfassenderen Mitteln auch
umfassendere sittliche Au%aben herantreten" (IE, 362).
Die vorliegende dritte Auflage der Ethik Wundts ist in
zwei Bänden erschienen im Unterschiede von der ersten
Und zweiten') Auflage, die nur je einen Band umfaßten.
') Die englische Übersetzung der zweiten Auflage der Ethik
-Wundts erschien in drei Bänden: vol. I: Faite of the Moral Life,
vol. 11: Ethical Svstems, vol. UI: The Principles of Morality and
Sphere of their Validity. Vgl. über die erste Auflage der Ethik
Die 802dologi8clien Bestrebungen in der neueren Ethik. 159
Fast, völlig neu geschrieben ist der zweite Abschnitt (Bd. I)
über die Entwicklung der sittlichen Lebensanschauungen,
stark erweitert ist der letzte vierte Abschnitt (Bd, II) über
die sittlichen Lebensgebiete, in dem der Verfasser sich über
die praktischen Fragen des sittlichen Lebens eingehender
als in den vorigen Auflagen ausspricht.
Im übrigen bietet uns diese dritte „umgearbeitete"
Auflage wie die vorigen und wie alle umfassenden Werke
WuNDTS eine überreiche Fülle von Tatsachen verbunden
mit einer tief belehrenden, vorgetragenen, prinzipiellen Ver-
arbeitung derselben.
13. Wenn man versucht das Fazit der obigen Aus-
einandersetzungen über die Aufgabe der Ethik zu ziehen,
und die Grundgedanken in den Vordergrund zu rücken, diß
voraussichtlich am geeignetsten sind, die Führung in der
Zukunft zu übernehmen, so muß man im Anschluß an
WüNDT und Paulsen der Ethik eine doppelte Aufgabe zu-
schreiben: zuerst hat sie den Sittlichkeitsinhalt kausal,
sozialevolutionistisch zu analysieren und sodann auf die
aufgefundenen Motive das sittliche Ideal, das oberste Willens -
ziel teleologisch, kritisch-realistisch aufisubauen.
Die bisherigen Ausfuhrungen haben uns femer belehrt,
daß alle Vertreter der neueren Ethik im großen und ganzen
der Ansicht sind, daß die Ethik von dem Verhältnis zwischen
dem Individuum und der Gesellschaft und nicht bloß
vom Individuum ausgehen muß, daß die Ethik als eine
Funktion und ein Regulator im Zweckzusammenhange der
Gesellschaft anzusehen ist.
Die besprochenen Autoren haben infolgedessen, da es
keine allgemeine Wissenschaft der Gesellschaftsformen gibt,
bei den einzelnen Gesellschaftswissenschaften Rat und
WysDTs (1886, 576 Seiten) die ausführlichen Analysen von E. Durckheim,
La science positive de la morale en Allemagne „Revue philosophique",
1887, Aoüt, p. 113 f., von Th. Lipps in „Göttingische gelehrten An-
zeigen", 1^8, Nr. 6, und von Ed. v. Hartuann in „Zeitscn. für Philos.
undphnos Kritik", 1889, S.82; über die zweite Auflage (1892, 684 Seiten)
siehe die Besprechung des Nationalökonomen, W. Hasbach, ebenda,
1«96, S. 103.
160 Demetrius Gusti:
theoretische Orientierung zu finden gesucht, so Cohen und
Menger bei der Rechtswissenschaft, Kaütsky bei der National-
ökonomie, Westermabck bei der Ethnologie ; Staudikger stützt
seine Ethik auf die Soziologie von Tönndes, Batzenhofer
die positive Ethik auf seine metaphysisch gefärbte Sozio-
logie, Paülsen gibt selbst einen Grundriß der Soziologie,
und WuNDTS Methode ist eine völkerpsychologisch -sozio-
logische.
B. Znr soziologischen Betrachtung der Willensfreilieit in
der Strafrechtswissenschaft.
14. Die ethischen Einzelprobleme spielen in den einzebien
Sozialwissenschaften eine wesentliche Bolle, so ist das Problem
des Egoismus und Altruismus in der Volkswirtschaftslehre
und dasjenige der Willensfreiheit (der „grande question",
wie Leibniz es genannt hat) in der Strafrechtswissenschafl
von grundlegender Bedeutung. Hier soll mit einigen Strichen
ein Überblick über den die Willensfreiheit betreffenden
Status causae et controversiae in der Strafrechtswissenschafb
gegeben werden.
Das Problem der Willensfreiheit ist strafrechtlich de
lege lata imd de lege ferenda von Bedeutung.
Zunächst de lege lata. Das deutsche Strafgesetzbuch
spricht in § 51 (das Bürgerliche Gesetzbuch in §§ 104 und 827)
von „freier Willensbestimmung". Man streitet darüber, ob die-
selbe im Sinne der sogenannten metaphysischen Willens-
freiheit oder der psychologischen Willensfreiheit (d. h. der
Freiheit von äußerem Zwang) zu interpretieren ist ^). Diese
Auslegungskontroverse weist auf den Streit xun die Willens-
freiheit de lege ferenda, auf einen Kardinalpunkt im Streite
der Strafrechtstheorien, hin. »Wer die Willensfreiheit
leugnet," sagt einer der Hauptfahrer der sog. „klassischen
Schule", K. BiRKMEYER, „der kann kein Strafrecht be-
') Die letzte Ausleras^ ist m. £. die einzig mögliche; im Sinne
der sogenannten psychologischen WillensEreiheit lautet auch Art. 64
des code p6nal.
Die soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 161
gründen . . . der führt zu einer Auflösung des Strafrechts" ^).
Demgegenüber behauptet v. Liszt, der Führer^) der so-
genannten soziologischen Schule: „der das Strafrecht
allein berührende wissenschaftliche Determinismus
lehrt, daß auch das Verbrechen nur begriffen werden kann,
wenn es auf seine zureichende Ursache zurückgeführt wird" •).
Während aber Birkmeyer den Gegensatz zwischen Deter-
minisnins und Indeterminismus als den allein erheblichen
Gegensatz zwischen den Schulen darstellt, ist v. Liszt der
Meinung, daß der Grrund des Streites der Strafrechtstheorien
nicht in der obigen Gegenüberstellung, sondern im Verhältnis
zwischen Generalprävention und Spezialprävention liegt*).
In der Tat, eine demonstratio ad hominem gibt v. LiszT
recht, denn Anhänger der modernen Richtung, wie Prins,
sind zugleich Indeterministen, während Anhänger der alten
Schule, wie Finger, zugleich Deterministen sind.
Dies zur Einleitung folgender Besprechimgen.
15. Eine lichtvolle Orientierung über die grundsätzlichen
Gesichtspunkte, die in dem Problem der Willensfreiheit
sich kreuzen, gibt die Monographie von "W. Windelband,
Über Willensfreiheit (Tübingen und Leipzig 1904. 223 Seiten).
Das Problem der Willensfreiheit, fuhrt Windelband aus,
schließt in sich drei Probleme, das der Freiheit des Handelns
(S. 19—32), der Freiheit des Wählens (S. 31—106) und der
Freiheit des Wollens (S. 106—203).
Die Erörterung der Freiheit des Handelns fuhrt zu der
Analyse „der sozialen Freiheit", als der Abwesenheit von
äußerem Zwange (S. 29), die Analyse der Freiheit des
Wählens zu dem „inneren" Determinismus, als dem Ver-
^) K. Birkmeyer, Was läßt v. Liszt vom Strafrecht übrig? München
1907. S. 4. 97.
^ Als solcher ist er vom Gegner anerkannt worden, Birkmeyer
bat ihn in seinem 1901 veröffentlicnten Aufsatz über „ Gedanken zur
bevorstehenden Reform der deutschen Strafgesetzgebung'^ als den
sgenialen Führer" der neuen Schule gefeiert. -Goldtammers Archiv."
1901. S. 72.
^ Frauz V. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts. I.Lieferung.
Berlin 1907. S. 82 f.
*) Loc. cit. S. 83.
Tierteljahrsschrift f.wi8sensohaftl. Philos. a.Soziol. XXXII. 1. 11
\Q2 Demetrius Gusti:
hältnis der momentanen zu den konstanten Motiven (S. (>7»
75), endlich die Untersuchung der Freiheit des WoUens
fahrt zur sozialen Kausalität der Persönlichkeit: „Was in
i'liTn (in dem Menschen) an Funktionen des Wollens ge-
schieht, ist in dem allgemeinen Zusammenhang des sozialen
Geschehens kausal eingebettet" (S. 153). Am Schluß des
Buches definiert der Verfasser die Verantwortlichkeit ^Die
Persönlichkeit ist verantwortlich, soweit sie die wahlfreie
Ursache ihrer Handlungen ist" (S. 220).
IG. Von den neueren Autoren, welche die heutige
Stellung der Strafrechtswissenschaft zum Freiheitsproblem
zum Ausdruck bringen, stehen auf indeterministischer Seite
die Anhänger der „klassischen" Schule: Joseph Kohlek,
Moderne Rechtsprobleme (Leipzig 1907. Bd. 128: „Aus
Natur und Geisteswelt **) und W. v. Rohland, Die Willens-
freiheit und ihre Gegner (Leipzig 1905. 171 Seiten), ebenso
die katholischen Neothomisten : V. Cathrein, Die Grund-
begriffe des Strafrechts (Freiburg i. B. 1905. 172 Seiten),
D. Pfister, Die Willensfreiheit (Berlin 1904. 404 Seiten)
und C. GuTBERLET, Die Willensfreiheit und ihre Gegner
(2. Aufl., Fulda 1907. 458 Seiten) ').
Unter den deterministischen Arbeiten sind zu erwähnen :
Graf zu Dohna, Willensfreiheit und Verantwortlichkeit
(Heidelberg 1907. 26 Seiten), ß. v. Hippel, Willensfreiheit
und Strafrecht (Berlin 1903. 30 Seiten) und vor allem die
gründliche Monographie des Reichsgerichtsrates a. D.
J. Petersen, Willensfreiheit, Moral und Strafrecht (München
1905. 235 Seiten).
^) Die zitierten Arbeiten haben das Gemeinsame, daß sie sich auf
die Autorität des Fürsten der Scholastik, des Thomas von AgriKo,
stützen; durch eine vom echt scholastischen Geiste getragene Dialektik
bauen sie auf die Lehre dieses Mannes keine Enzyklopädien, die die
Willensfreiheit von allen nur irgend möglichen Standpunkten aus er-
örtern sollen. Ein Beispiel: das Buch von Gutberlet enthält folgende
Abschnitte: Beweis für Willensfreiheit aus der Natur des Wulens,
aus Erfahrung (Kap. 2), ferner die Willensfreiheit und die Moral-
statistik (Kap. 3j, oie Anthropologe (Kap. 4), die Ps^chopatholo^e
(Kap. 5), die physiologische PsycSiologie (Kap. 7), <ne Spekulation
(Kap. 8), die mechanische Weltauffassung (Kap. 9), endlich die Willens-
freiheit und die Theologie (Kap. 10).
Die soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 163
Ich werde mich beschränken — um nicht oft Gesagtes
nnd dem philosophisch geschulten Leser sehr Bekanntes zu
wiederholen — , bei der Besprechung dieser Arbeiten die
darin £ur und wider die Willensfreiheit gebrachten Argumente
in einige Sätze zusammenzufassen.
Soweit der absolute Determinismus [und der absolute
Indeterminismus keine Glaubens- und Weltanschauungs-
fragen sind, unterscheiden sie sich im allgemeinen von-
einander durch folgende Merkmale: der Indeterminismus
hat einen metaphysischen Hintergrund (beispielsweise die
intelligibile Welt), nimmt ein freies Wülensvermögen (das
.Auchandershandelnkönnen" des liberum arbitrium indiffe-
rentiae) an und ist individualistisch ; der Determinismus be-
gründet sich erkenntnistheoretisch („zureichender Grimd"),
beruht auf dem Willensbegriffe der modernen Psychologie
(gMotiv") und ist sozialpsychologisch.
Nun kommen Determinismus und Indeterminismus in
der oben zitierten Literatur in veränderter Gestalt zum
Vorschein, sie haben ihren „absoluten" Charakter verloren
und sind „relativ" geworden; sie unterscheiden sich von-
einander nur nach dem Umfang -der Wülensfreiheit , nicht
nach der Art derselben. Beide Richtungen sind einig
über die Allgemeingültigkeit des Satzes vom zureichenden
Grunde, sowie über den bestimmenden Einfluß des Motivs
und des Charakters auf den WiUen. Zwar sind diese
Zugeständnisse des Indeterminismus zugunsten des Deter-
mini^us mit der folgenden reservatio mentaUs gemacht
worden: 1. erfordert, so sagt man auf der indeter-
ministischen Seite, das Kausalgesetz eine formale, keine
materielle Notwendigkeit; im Zusammenhang damit steht
2. die scholastische Annahme der „possibüitas utriusque",
der Möglichkeit eines ursachlosen Wollens, einer freien
Ursache, und 3. ist bezüglich der Wirksamkeit der Motive
der alte Satz Leibniz' anzuwenden, daß die Motive des
Wollens nur veranlassen, nicht nötigen (inclinent sans
necessiter). Aber diese drei Einwände enthalten in der
Wirklichkeit keine Beweiskraft gegen den Determinismus,
11*
1()4 Demetrius Öusti:
denn die ersten zwei Einwände widersprechen sich: die
Annahme einer „freien Ursache" *) hebt das Kausalgesetz
selbst auf, und was den letzten Einwand betrifft, so Ist es
gleichgültig, ob man von veranlassenden Bedingungen,
oder von necessitierenden Motiven des Wollens spricht, es
kommt nur darauf an: die Bedingtheit und die Abhängigkeit
des "Wollens als solche zuzugeben.
17. Der Streit zwischen Determinismus und Indeter-
minismus in der Strafrechtswissenschaft hat einen tieferen
Grund, dieser geht von der individualistischen, jener
von der sozialen Betrachtung des Verbrechers aus. Als
Vertreter des äußersten sozialen Determinismus nenne ich
"W. A. BoNGER, welcher in seinem Buche: Criminalitö et
.conditions öconomiques (Amsterdam 1905, 750 Seiten) zum
erstenmal vom streng marxistischen Standpunkte aus die
Ursachen des Verbrechens systematisch behandelt.
Der erste Teil dieses Werkes (S. 3 — 321) ist einer
kritisch-klassi6katorischen Übersicht der kriminalistischen
Literatur, der zweite Teil einer etwas weitläufigen,
m. E. überflüssigen, Darstellung der Marxistischen Lehre
(p. 311 — 432), der dritte, letzte Teil einer ökonomischen
Analyse der einzelnen Verbrechensarten (p. 432 — 727) ge-
widmet. Am Schlüsse des Werkes gibt der Verf. sehr
reichhaltige, 17 Seiten umfassende Literaturangaben (p. 727
bis 744),
Der einfache Schlüssel, dessen sich der Marxismus be-
dient um in bequemer Weise die Geheinmisse der Sozial-
wissenschaften aufzuschließen, ist auch von Bonger in seiner
Erklärung der Kriminalität ausgiebig benutzt, nämlich daß die
wirtschaftlichen Faktoren auf die Kriminalität einzig und
allein bestinamend wirken, daß die heutige Kriminalität in
letzter Linie von der kapitalistischen Struktur abhängt, end-
') Man braucht sich übrigens nicht der scholastischen Argumente
zu bedienen, um von einer „Anlage zur Freiheit" zu sprechen, erkennt
doch die moderne Psychologie die schöpferische öpontaneität im
Menschen an (^Wachstum der geistigen Energie").
Die soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 1(35
lieh, daß imr von einem Übergang der kapitalistischen Gesell-
schaft in eine sozialistische Befreiung der Menschheit von
der Kriminalität „in ihrer heutigen Gestalt" zu erwarten ist.
18. Der Auffassung der Indeterministen : das Ver-
brechen ist das Erzeugnis des individuellen freien Willens,
und derjenigen der Marxisten: das Verbrechen ist ein aus-
schließliclies Produkt der Ökonomie, ist die von Franz
VON LiszT in seinem „Lehrbuche des deutschen Strafrechts"
(It). und 17., völlig durchgearbeitete Auflage. Lieferung 1.
Berlin 1907) vertretene soziologische Lehre gegenüber-
zustellen^ nämlich, „daß jedes Verbrechen durch das Zu-
^sammenwirken zweier Gruppen von Bedingungen entsteht,
,(ler iiidividuellen Eigenart des Verbrechers einerseits, der
.diesen nmgebenden äußeren, physikalischen und gesell-
. schaftlichen , insbesondere wirtschaftlichen Verhältnisse
^anderseits" (S. 70/71).
Mit Rücksicht auf die in die Wege geleitete Reform
des deutschen Strafrechts und auf die führende Rolle, welche
V, LiszT in dieser Reformbewegung einnimmt, möchte ich in
den nachfolgenden Zeilen das soziologische Fundament der
Lehre v. LiszTs skizzieren.
Die Grundbegriffe des Strafrechts (besonders der
Begriff der Schuld) sind, nach v. Liszt, unabhängig von
der Hypothese der Willensfreiheit (S. 82, 158, 163). Der
Determinismus ist aber „durchaus berechtigt", denn nur er
vermag „die einzelne Tat zu der ganzen psychologischen
Persönlichkeit des Täters in Beziehung zu setzen" (S. 158),
nur er gelangt „zu einem Maßstab für die Schuld" (S. 159).
Das Gesetz kann den materiellen Inhalt des formellen
Schuldbegriffes nicht schaffen, es findet ihn vielmehr in der
(resellschaft vor. Das Schuldprinzip ist also in dem Wert des
Willensinhalts des Täters begründet und in der Gesellschaft
zu suchen ; es ist, betont v. Liszt, die antisoziale Gesinnung
des Täters. Das formell widerrechtliche Verbrechen ist
materiell eine antisoziale Tat, eine „Verletzung oder Ge-
.fahrdung besonders schutzwürdiger und schutzbedürftiger
\
1(56 Demetrius Gusti:
„Sozialinteressen" (S. 67). Die Starafe ist eine soziale
Funktion ; als solche hat sie die sozialgefahrlichon Elemente
zu bessern, die Gesellschaft vor den sozialuntauglichen Ele-
menten zu sichern i).
Nach dem neuen soziologischen Strafprinzip hat sich
das Strafensystem einzurichten, daher die Notwendigkeit
der Fürsorgeerziehung für die Jugendlichen (S. 73), der
sog. bedingten Verurteilung (S. 75) und der sog. unbestimmten
Strafurteile (S. 178). Das neue Schuldprinzip führt endlich
zu neuen Grundsätzen über richterliche Strafzumessung und
Strafvollzug (S. 78). Die soziologische Lehre v. LiszTs von
Verbrechen und Strafe sucht mit aller Energie sich einen
Weg in die Gesetzgebung zu ebnen durch die 1889 ins
Leben gerufene „Internationale kriminalistische Vereinigung",
die Praktiker und Theoretiker aus aller Herren Länder, in
Ländergruppen organisiert, zu Mitgliedern hat, und die
durch zielbewußte Arbeit für die künftige Beform des Straf -
rechtes bahnbrechend ist*).
Der Versuch v. Liszts, die Stijafrechtswissenschaft zu
soziologisieren , gibt die beste Veranschaulichung von der
Fruchtbarkeit einer soziologischen Betrachtung der einzelnen
Sozial Wissenschaften.
C. Zur UniYersit&tof&higkeit einer selbständigen sozio-
logisehen Disziplin.
19. Eine Wissenschaft, deren Namen man heute oft
genug hört, ohne daß sich immer ein klarer Begriff mit dem
Namen verbände, ist die Soziologie, die allgemeine Gesell-
schaftswissenschaft. Wir haben gesehen, die Ethik hat eine
allgemeine Gesellschaftswissenschaft und die einzelnen Ge-
sellschaftswissenschaftien zu ihrer Grundlegung benötigt, und
1) Die 80 aufgefaßte Strafe wird vielfach mit den Ausdrücken
der Zweckstrafe, der Sohutzstraf e , der Geeinnungsstrafe oder der
Sicherungsstrafe bezeichnet.
■J S. das Nähere über die Tätigkeit dieser Vereinigung die Mono-
graphie von F. KiTziNOKB, Die internationale kriminalistische Ver-
einigung. München 1905. 164 Seiten.
Die soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 167
die Stxafii'eclitswissenschaft hat durch ihre soziologische Be-
grändung eine tiefgreifende Umgestaltung ihrer Grund-
begriffe erfahren. Dasselbe Schauspiel bieten uns die Be-
strebungen der übrigen philosophischen und Sozialwissen-
schaften, die unter der stillschweigenden Voraussetzung
einer allgemeinen Gesellschaftswissenschaft ihre Probleme
sozialphilosophisch fundieren und lösen, so daß man mit
Becht von einer sozialphilosophischen Erneuerung dieser
Wissenschaften sprechen kann.
Von dieser umfassenden luid vielgestaltigen Bewegung
erwähne ich die eingreifenden Versuche einer sozio-
logischen Neugestaltung der Geschichtswissenschaft durch
Lamprecht und den Herausgeber dieser Zeitschrift, femer
die unter dem Zeichen der Soziologie stehende Volks-
wirtschaftslehre ScHMOLLERS, die er in seinem „Grundriß"
und a Jahrbuch" vertritt; ich weise auf die auf Rechts-
vergleichung fußende Bechtssoziologie Kohlers, auf die
soziologisierende Ethnologie von Steinmetz, auf die von dem
ethnologischen und sozialen Interesse der Zeit getragene
Theologie luid Beligionsphilosophie hin, endlich erwähne
ich das Riesenuntemehmen Wündts, welches in der Er-
gänzung der individuellen Psychologie durch die Völker-
psychologie der Sprache, des Mythus und der Sitte die
beste Vorarbeit für eine allgemeine Gesellschaftswissenschaft
liefert.
Mögen die Ansichten über Aufgabe und Methode der
Soziologie schwanken^ über ihre Existenzberechtigung
herrscht kaum mehr ein Zweifel, denn eine Wissenschaft
zeigt ihre Legitimität durch die einfache Tatsache ihrer
Notwendigkeit.
Und doch bemerkt man in den akademischen Kreisen
eine gewisse Abneigung gegen die soziologische "Wissen-
schaft. Dies äußert sich darin, daß der Soziologie, die, wie
oben erwähnt, bedeutende Gastrechte bei den einzelnen
Sozialwissenschaftien genießt, keine eigene selbständige
akademische Stellung im üniversitätsstudium eingeräumt
wird.
168 Demetrius Gusti:
"Wie erklärt sicli diese tatsächliche wissenschaMiche
Anerkennung und zugleich die akademische Greringschätzung
der Soziologie?
Ein hauptsächlicher Erklärungsgrund ist m. E, zuerst
in der Betätigung der dilettierenden Plänemacher, die „die
Zukunfts Wissenschaft" , die Soziologie auf Kosten anderer
Wissenschaften aufbauen wollen, zu erblicken. Be-
sonders in Frankreich ist die Lage „der soziologischen
Forschungen" eine trostlose; ich erwähne diesbezüglich nur
zwei unter vielen leider allzu vielen Beispielen. G. Tarde
hat in seinem Buch „La logique sociale" (Paris 1895)
auszuführen versucht, daß die von ihm begründete Sozio-
logie die einzig „wahre" Logik wäre*), während E. de Robkrty
unter seine Soziologie (s. „Nouveau programme de Sozio-
logie". Paris 1904) auch die Erkenntnistheorie und die
individuelle Psychologie absorbieren will! Für die meisten
„Soziologen", für die die Klassifikation der Wissenschaften
Comtess als die höchste Entdeckung des philosophischen
Geistes gilt, ist femer die Soziologie, wenn nicht die Summe
aller Wissenschaften, doch eine Enzyklopädie der einzelnen
Sozialwissenschaften, eine Art Theorie der sozialwissenschaft-
lichen Zettolkartenordnung*).
Auf diese Weise wird die neu aufstrebende Disziplin
diakreditiert. Die Soziologie kann sich ihre wissenschaft-
liche Stellung nur durch tatsächliche Errungenschaften
auf dem Gebiete der Erkenntnisbedingungen des Sozialen
überhaupt und der spezifischen Erzeugnisse und Gebilde
des sozialen Lebens insbesondere, nicht aber durch phan-
tastisches Pläneschmieden sichern ; nur durch jene wird sie
^) S. dazu Demetrius Gusti, Gabriel Tarde. Eine Skizze in
ScHMOLLEKs Jahrbuch. 1906. S. 981.
*) G^gen diese Auffassung der Soziologie als eine „Allerwelts-
wissenschaft" wendet sich neuerdings auch P. Barth (Die Soziologie
ScHÄFPLBs, Bd. 1907 dieser Zeitschrift, 8.467). Barth weist der Soziologie
die Aufeabe an, ,,die prinzipiell wichtigen Veränderungen des menscli-
liehen Willens" zu untersuchen, „wenn sie ein zu bewältigendes
Arbeitsgebiet haben und so möglich werden will*^ (S. 472).
Die soziologischen Bestrebungen in der neueren Ethik. 169
zu immer größerer IQarheit und Erkemitnis ihrer wahren
nnd berechtigten Aufgabe kommen.
Eine wissenschaftliche Forschung setzt aber strenge
Disziplin des Denkens und Erziehung zu wissenschaftlicher
Methode voraus; dies gewinnt man durch das akademische
Studium; denn, wie Paulsen sagt, die Universitäten siud
nicht nur Anstalten for wissenschaftlichen Unterricht, sondern
zugleich „Werkstatte der wissenschaftlichen Forschung . . .
die eigentlichen Träger der Kontinuität der wissenschaft-
lichen Arbeit" *).
Die Soziologie ist universitätsfahig; sie muß infolge-
dessen in das XJniversitätsstudium aufgenommen werden.
') F. Paulsbn, Die deutschen Universitäten und das Universitäts-
studium. Berlin 1902. S. 40, 257.
L
Besprechungen.
lUneT, Otto^ Die Nationalitätenfrage and die
Sozialdemokratie. IL Band der Marx-Studien.
Herausgegeben von Dr. Max Adler und Dr. Rudolf
Hüferding. Wien 1907. Verlag der Wiener Volks-
buchhandlung Ignaz Brand. 576 S.
Österreich ist das klassische Land der Nationalitäten. In Oster-
reich war auch die Sozialdemokratie am frühesten gezwungen, mit
den Problemen zn ringen, die sich aus der staatlichen Zusammen-
gehörigkeit vieler Nationen ergaben. Der Verfasser geht diesen
Problemen g^ndlich zuleibe und entwickelt aus der marxistischen,
historüch-ökonomischen Weltanschauung heraus eine sozialdemo-
kratische Nationalitätentheone. Verfolgen wir in Kürze seinen Ge-
dankengang!
Die Nationen verdanken ihre Entstehung nicht besonderen
^Volksseelen", sondern bilden sich aus der Geschichte. In späteren
Generationen spiegeln sich die Produktionsbedingun^en früherer Ge-
schlechter wieder, weil erworbene Eigenschaften sich vererben. Die
natürliche Gemeinschaft der Abstammung erhält ein Volk nicht als
Ganzes, differenziert es vielmehr je länger je mehr. Erst der Besitz
gemeinsamer Kultur schließt es zusammen. Das erste Band, das die
deutsche Nation umschloß, war die höfisch-ritterliche Kultur, die von
der Provence her übertragen wurde und durch die anererbten Eigen-
schaften der Deutschen ihre nationale Färbtmg erhielt. Aus ihr
stammt die gesamte deutsche Kultur. Das war jedoch eine Kultur
der herrschenden Klassen, weil diese allein durch die Ausbeutung der
übrigen im Besitz der materiellen Grundlagen des Kulturgenusses
waren. Die große Masse der Volksgenossen blieben die Hintersassen
der Kultur. Der Kapitalismus versucht sie dauernd auszuschließen,
der Sozialismus erstreot die Teilnahme aller an der nationalen Kultur,
die er damit überhaupt erst vollendet. Zunächst scheinen die Sozia-
listen kein Interesse für nationale Kultur zu haben, weil sie als An-
gehörige aufsteigender Klassen mehr rationalistisch denken im Gegen-
satz zu den herrschenden Klassen, die ihren Vorrang auf historische
Bechtstitel stützen. In Wirklichkeit treibt der Sozialismus eine
172 Georg Liebster:
evolutionistisch-nationale Politik, das heißt eine Entwicklung des
ganzen Volkes zur Nation.
Der moderne Staat, der sich aus der Warenproduktion entwickelt
hat, sucht in der nationalen Kulturgemeinschaft sich eine feste Grund-
lage zu geben. Das geschieht zunächst bei den großen Nationen, die
eine Geschichte haben, der Kamtalismus bringt aber auch die kleinen,
geschieh tslosen Nationen zum Erwachen, und zwar so, daß sich zu-
nächst das nationale Bewußtsein in der Form kleinbürgerlicher Be-
wegung kundgibt. Der nationale Haß ist transformierter Klassenhaß,
im Kiembürgertum hat er seine Heimat, das Kapital zieht den Nutzen
aus ihm, insoiem durch ihn die Klassengegensätze verschleiert werden.
In Osterreich gilt eine atomistisch-zentralistische Verfassung, inner-
halb deren die einzelnen Nationen keinerlei Selbständigkeit genießen.
Dadurch wird die Politik zum Streit um die Befriedigung der nationalen
Kulturbedürfnisse.
Die Arbeiterinteressen erfordern kulturelle Hebung aller Arbeiter,
was nur durch Teilnahme jedes einzelnen an seiner nationalen Kultur
erreicht wird. So gelangt die Arbeiterschaft im Gegensatz zu ihrem
ursprünglichen, naiven Kosmopolitismus zur Forderung der nationalen
Autonomie, wobei durch Einführung eines Nationalkatasters auch den
nationalen Minderheiten Freiheit und Selbstverwaltung verschafft
werden muß. Durch nationale Autonomie würde auch die ungarische
Frage gelöst und die Abfallstendenz verschiedener Völker aufgehoben.
Die Gefahr für Osterreich liegt in dem aufkommenden kapitalistischen
Imperialismus der benachbarten Nationalstaaten, Deutschland, Buß-
land, Italien. Die Arbeiter müssen den Imperialismus überall be-
kämpfen und einen Staatenstaat bauen mit mtemational geregelter
Produktion. Die österreichische Sozialdemokratie hat in sich eine
organische Föderation errichtet und sucht tun der Standesinteressen
der Arbeiter willen, um eine einheitliche Gewerkschaitsbewogung zu
schaffen, in den eigenen Beihen den nationalen Bevisionismus nieder-
zuringen, der aus der österreichischen Sozialdemokratie einen losen
Bund selbständiger nationaler Parteien machen möchtp.
Das Buch bietet eine Fülle interessantester Einblicke besonders
in die verworrenen Verhältnisse Österreichs. Die ökonomischen
Faktoren der geschichtlichen Entwicklung werden stark betont, da-
neben aber die Kraft der Ideologien anerkannt. Ein bedeutsamer
Fortschritt für sozialdemokratisches Denken ist die Erkenntnis des
nationalen Charakters jeder Kultur.
Leipzig. Georg Liebstkh.
Wagner 9 Adolf , Dr., Privatdozent an der Universität
Innsbruck, Der neue Kurs in der Biologie. All-
gemeine Erörterungen zur prinzipiellen Rechtfertigung
der Lamarckschen Entwicklungslehre. Stuttgart 1907.
Franckhsche Verlagshandlung. 96 S. 1,80 M.
Im Kampf der verschiedenen biologischen Bichtungen der Gegen-
wart hat der Lamarekismus — „die spezielle Anwendung des all-
gemeinen naturphüosophischen Prinzips einer teleologischen Gesetz-
mäßigkeit in der Natur auf die Entwicklungslehre" — eine Auf-
erstehung in neuer und vertiefter Form erlebt: Er führt „zur
Bettung des naturwissenschaftlichen Einheitsgedankens"^ die psychische
Der neue Kurs in der Biologie. 173
Kausalität als Erklärunffsprinzip ein und wird dadurch zugleich zur
Signatar eines „neuen Kurses'' in der Biologie. Unter spezieller Be-
zugnahme auf zwei fOr weitere exakte biologische Forschung grund-
legende Worke (AvENABius, Kritik der reinen Erfahrung, una Cosz-
3USX, Elemente der empirischen Teleologie), die bei vielen Natur-
forschern — zu ihrem eigenen Schaden — noch immer nicht gebührende
Berücksichtigung finden, wendet sich der Verfasser in seiner streng
wii«senschaftuchen Abhandlung zunächst g^en gewisse dem neuen
Kurs entgegenstehende wissenschaftliche Vorurteile , Irrtümer und
DoCTien. Vor allem gegen das von den extremen Mechanisten ver-
foentene Dogma von der ,,Alleingültigkeit^ der mechanischen Kausalität,
die weder durch die Erfahrung noch durch die Lo^ik des Denkens
gestützt wird (19). Vielmehr sind die Widersprüche zwischen der
mechanistischen Naturauffassung und dem gesamten Tatsachenmaterial
nachgerade unei'träglich geworden (89). In einer vernichtenden Kritik
der ^Maschinentheorie'' ^—50) weist der Verfasser nach, daß bei
einer naturwissenschaftlichen (physikalischen) Analyse des Organismus
ein sehr großer Best übrigbleibt. Dieser enthält aber gerade alles
für den Organismus besonders Charakteristische (Fähigkeit der Selbst-
regulation) und kann — wegen des Versagens der äußeren — nur
durch die Daten der inneren £^rfahrung aufgelöst und nur nach dem
Gesetz der psychischen Kausalität verstanden werden (50). Letzteres
hebt daher durchaus nicht die Gültigkeit der mechanischen Kausalität
auf, beide Gesetzmäßigkeiten bestehen vielmehr nebeneinander (22).
Einseitige Mechanisten versagen aber noch den psychischen Faktoren,
für deren Wirken in der Natur doch schon in unserer eigenen Er-
fahrung der Beweis erbracht ist, die Anerkennung, weil sie mit ihnen
.metaphysische Elemente" und „Anthropomorphismus" in die Wissen-
schaft emgeführt sehen. Was ist aber, fragt W., in unseren An-
schauungen nicht „anthropromorph'^? Ist es nicht selbst das Gesetz
der Kausalität als bloß „erschlossen" aus den durch die Beobachtungen
allein gegebenen Sukzessionen! (24). „Metaphysisch** nenneo die
Gegner des teleologischen Prinzips vor allem die*^ vom Lamarekismus
dem Organismus zugeschriebene Fähigkeit der aktiven Beteiligung
an den Anpassung- und Entwicklungsvorgäugen durch die Wahl des
Mittcds zur Befriedigung eines empfundenen Bedürfnisses. Dieses
.charakteristische Element des Lamarckismus'^ wird, weil es ein
Urteilen voraussetzt, als metaphysisch im Sinne von übernatürlich,
unwissenschaftlich gebrandmarkt. Nun aber lehren die gesetz-
mäßigen Beziehungen zwischen den physischen und psychischen
Lebensäußerungen des Menschen (und zwar nicht bloß in seinen be-
M'ußten Handlungen) das Eingreifen psychischer Faktoren in den
Kausalnexus des natürlichen Geschehens als eine Erfahrungstatsache.
Wer nun solche psychische Faktoren im Menschen als uer wissen-
schaftlichen Analyse unzugänglich verwirft, der gibt dadurch nicht
bloß den Menschen als naturwissenschaftliches Studienobjekt preis,
sondern mit ihm auch zugleich die gesamte Lebewelt. Denn nirgends
besteht auf der ganzen Stufenleiter des Organischen in den physio-
ioeischen Erscheinungen ein prinzipieller Unterschied. Zudem bürgt
scüon die Existenz einer wissenschaftlichen Psychologie, die doch die
Gesetzmäßigkeiten im Psvchischen lehrt, dafür, daß dies eben deshalb
nichts Übernatürliches, Gesetzwidriges sein kann (37). Die Biologie
des neuen Xurses will nicht eine „Mmiaturausgabe'* der menschlichen
Psyche in den niederen Lebewesen, menschliches Empfinden und
Wollen in einer Eiche, einer Quelle wiederfinden, wie es die
174 Franz Hornickel:
Mechanisten auffassen wieder mit dem Vorwurf des Metaphysischen
und des Anthropomorphismus, wenn der I/amarckismus psychische
Faktoren wie üoerhaupt alle das Lehen ausmachenden Qualitäten
schon der Zelle zuschreibt. Die Psyche ist ein „Summationsphänomen^,
das in seiner Gesamtheit Erfahrungstatsache ist. Darum müssen es
auch seine Elemente sein. Nur diese elementaren Eigenschaften und
Gesetzmäßigkeiten, die schließlich zu dem hoch komplizierten Er-
scheinungsbild der menschlichen Seele konzentriert erscheinen, er-
kennt analytisch verfahrende Naturwissenschaft auf den verschiedenen
niederen Organisationsstufen wieder. Die Annahme, daß die physio-
logische Differenzierung der Zellenfähigkeiten physikalisch erklärlich
sei, ist eine arge Selbsttäuschung. Denn 1. ist der Begriff „physi-
kalisch^ nur eine Abstraktion uncT erschöpft die Naturerscheinungen
nicht; 2. ist für eine kritische Verbindung der Begriffe auch der weg
vom Komplexen zum Einfachen (nicht bloß umgekehrt) zulässig;
3. sind die Begriffe der physikalischen Naturbetrachtung (Materie,
Kraft, Energie) nichts Einfaches, sondern (unvollständige) Abstraktionen,
und 4. sind uns sille Naturerscheinungen nicht direkt gegeben, sondern
indirekt durch unser Vorstellungs-, Empfindungs- und Urteilsvermögen,
sonach durch psychische Faktoren (6ö). Wer sich nicht nur mit der
Beschreibung der Einzeltatsachen begnügen, sondern sie in theoretischer
Arbeit verwerten will, hat sich dabei immer des unabweislich aus der
Erkenntniskritik sich ergebenden relativistischenCharakters aller unserer
Erfahrungen bewußt zu bleiben. Die Art dieser Belativität, nämlich
wie unsere Vorstellungen von äußeren Faktoren (Einfluß der Um-
gebung) nur indirekt, £rekt aber von der physiologischen und psycho-
logischen Tätigkeit des Gehirns abhängig sind, wird einsehend vom
Verfasser nachgewiesen. Er betont hierbei, daß eine bloß von den
niedersten Organismen ausgehende vergleichende Betrachtung ^von
unten nach oben** — wie sie nicht zum „Triumph der analytischen
Biologie^, der Zellularphysiologie Oberhaupt geführt hätte, auch nicht
volles Verständnis für die Entstehung des Gehirns durch fortgesetzte
funktionelle Steigerung niederer Zellqualitäten ermöglicht haben würde.
Diese bei AnerkennuDg „nur-physikalischer^ Wirkungsweisen beliebte
Methode schließt zu sehr die Gefahr des bloßen „Konstruierens^ anstatt
des „Erkennens* ein (52, 68). Sie bedarf daher zur notwendi^n Er-
gänzung der den Weg »von oben nach unten^, vom Komplizierten
zum Einfachen einschlagenden Methode. Wenn auch auf Analoge
beruhend, wie jene, hat sie doch den Vorzug der größeren Zuverlässig-
keit und „Walirheit'' , weil sie vom unmittelbar Gegebenen (den Tat-
sachen der psychischen Erfahrung) zum mittelbar Gegebenen fort-
schreitet (nicht umgekehrt, wie jene andere) und die Naturerkenntnis
nicht aus einem beschränkten Gebiet heraus „konstruiert** , sondern
durch Analyse und Abstraktion aus der gesamten Erfahrung ableitet,
und weil die so gewonnenen Resultate immer kontrollierbar bleiben.
Anthropomorphismus soll es sein, wenn die Lamarckisten auch den
niederen Tieren und den Pflanzen Empfindung zuschreiben. Der
Vorwurf läßt sich mit viel mehr Recht gegen die (^gner der Be-
seelungslehre selbst kehren. Denn^ es gibt weder physiologisch noch
psychologisch eine Grenze, wo ein „einwandfreies Kriterium** der
Empfindung plötzlich aufhörte (73). Wollte man dem Analogieschluß
die wissenschaftliche Berechtigung absprechen, so müßte man den
Begriff der Empfindung überhaupt aus der Spra<^he der Wissenschaft
streichen, — auch schon beim Menschen. Der Mangel eines Nerven-
systems ist kein Beweis für mangelnde Empfindung. Für Empfindung
Der neue Kurs in der Biologie. I75
sibt 66 nur das eine „objektive^ Kennzeichen der Reizbarkeit. Die
Sktologische Beeohaffenheit der ihr dienenden Organe ist als solche
dorchauB unweaentüch. Reizbarkeit und Beizleitung ist überall im
Organischen in verschiedenen Formen der Abstufung nachgewiesen,
Obngens die unentbehrliche, Voraussetzung der Selbstregulation.
End»r.h ist Empfindung nicht notwendig an Bewußtsein gebifipft.
Denn 1. ^bt es auch Grade des Bewußtseins („Schwellenwert » „ünter-
bewußtsein'O» 2. werden „eingeübte'' (erblich fixierte) Empfindungen
ohne Beteiligung des Bewußtseins aktiv wirksam, 3. ist Bewußtsein
fiberhaupt kein „objektives" Kennzeichen. Was die Bolle anlangt,
die dem Gehirn /psychologisch zukommt, gibt es keine Möglichkeit,
die psychischen Earlebnisse in eine unmittelbare physikalische Kausal-
beziehung zu den Veränderungen im Zentralorgan zu bringen. Wir
können — auf dem Boden der Erfahrungsanalyse — nur annehmen,
daß „jedes psychische Erlebnis im Zentralorgan implizite enthalten
idf. Um nicht jede von einer psychischen Begung ausgehende
psychische Handlung zu einem Wunder stempeln zu müssen, bleibt
nur der Ausweg, die Elemente der psychischen Erlebnisse schon in
den niedrigeren Organisationseinheiten bis hinab zu den Zellen an-
zunehmen, „und zwar in derselben unmittelbaren Abhängigkeit von
dem durch den Beiz jgeschaffenen Zustand des Protoplasmas'' (78).
Dann ist iede Beaktion der Organismen „der Ausdruck eines durcn
den Unagebungsreiz hervor^rufenen psychiscJien Erlebnisses''. Das
Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem psychischen Faktor und der
9chließlicnen physiologischen Beaktion erweist sich, nach unserer
eigensten Erfahrung, unzweifelhaft als eine Kausalität. Sie ist wegen
des psychischen FaiKtors nicht mechanisch, sondern teleologisch, und
zwar autoteleologisch, das heißt im Organismus selbst gelegen, und
charakterisiert durch „die dreifache Abhängigkeitsbeziebung zwischen
Beiz, Mittel und Endzustand mit Bezug auf die Selbsterhaltungs-
fiLhi^eit des Organismus'' (79X für die bereits Coszmann die empirische
Formel aufgestellt hat (21). Danach erscheint der Lamarekismus in
der psychologischen Fassung des neuen Kurses wissenschaftlich durch-
aus gerechtfertigt.
Zum Schluß wendet sich der Verfasser noch gegen den Glauben,
daß die Annahme einer besonderen (psychischen) Kausalität der
Organismen unberechtigt sei, weil sie das Prinzip der Einheit in der
Natur durchbreche. iS besteht a priori keine Notwendigkeit der
prinzipiellen Trennung der Organismen und Anorganismen. Da nun
die Erfahrungstatsachen sowohl die mechanistische wie die psycho-
logische Betrachtungsweise im Stich lassen gegenüber dem ]^oblem
der Urzeugung, so sind zwar alle Versuche zur Überbrückun^ des
Organischen und Unorganischen auf bloße Annahmen angewiesen.
Aber unstreitig verdient dann der Versuch, die unorganische Welt
was der organischen verstehen zu wollen, den Vorzug. Denn er stützt
sich eben auf die psychische Kausalität, und die lo^sche Abstraktion
erfolgt hierbei vom Bekannten zimi Unbekannten. Daraus ergibt sich
allerdings als der Erfahrung am besten entsprechend und der Kritik
am meisten gewachsen der Standpunkt des Belativismus (Avenabiüs,
Mach u. a), „der UmgebungsobjeKt und subjektive Empfindung nur
als untrennbare Einheit kennf und „für den es ebenso unzulässig
erscheint, das Materielle zum Weltprinzip zu erheben wie das
Psychische''. Aber die Naturwissenschaft kann nur mit einem
^sitiven" und „monistischen" System zu einer Weltanschauung
iQhren. So kann als alleingültiges Erklärungsprinzip nur das
176 0. Klemm:
Psychisclie in Betracht kommen, da das Materielle erst sekundär
durch dieses vermittelt erscheint. — Dieser .psychische Monismus^
wahrt die Einheit der Natur und hleibt der Erfanrun^ am nächsten,
weil er denjenigen Faktor zum Erklärunffsprinzip macnt, der in der
Erfahrung dirät und unmittelbar gegeben ist** (84). — Allen den-
jenigen, die zu einer befriedigenden Weltanschauung auf natur-
wissenschaftlicher Grundlage gelangen möchten, und denen es daher
ernstlich um El&rung im £ampf der widerstreitenden Meinungen zu
tun ist, kann die von diesem Gesichtspunkte aus noch besondera ver-
dienstvolle, streng kritische Arbeit Wagners aufs wärmste zum Studium
empfohlen werden.
Schneeberg (Sachsen). Franz Hornickel.
Becher 9 Eriche Dr., Privatdozent der Philosophie an der
Universität Bonn , Philosophische Voraus-
setzungen der exakten Naturwissenschaften.
Leipzig 1907, J. A. Barth. 243 S. 6,50 M.
Pfordten, Freiherr, Otto v. iL, Privatdozent an der Uni-
versität Straßburg, Vorfragen der Naturphilo-
sophie. Heidelberg 1907, Carl Winter. 145 S. 3,80 M.
Stöhr, Adolf^ Dr., a. o. Professor der Philosophie an der
Wiener Universität, Philosophie der unbelebten
Materie. Hypothetische Darstellung der Einheit des
Stoffes und seines Bewegungsgesetzes. Leipzig 1907,
J. A. Barth, 418 S. 7,00 M.
Dippe^ Alfred, Naturphilosophie. KÜtische Ein-
führung in die modernen Lehren über Kosmos und
Menschheit. München 1907, C. H. Beck 417 S. 5,00 M.
Die Zusanunenstelluns dieser Bücher, die durch ihr zufällig
gleichzeitiges Vorliegen be£ngt ist, zeigt wie reich und zugleich wie
verschiedenartig die Bestrebungen auf dem Gebiete der Natur-
philosophie in unseren Tagen sind.
Neben erkenntnistheoretischen Erörterungen der Gnmdannahmeu
der exakten Naturwissenschaften, also einer formalen Naturphilosophie,
stehen die Versuche eines wirklichen Aufbaues des unserem Welt-
bilde mutmaßlich zugrunde liegenden Geschehens.
Zur ersten Gruppe gehören die beiden an erster Stelle genannten
BOcher. Becher hat sich die Aufgabe gesetzt, die Grundannahmen
von Physik und Chemie zu rechtfertigen und zu deuten. Die Becht-
fertigung besteht in erkenntnistheoretischen Erwägungen, in denen
es sich um den Wert der Hypothesen im allgemeinen und besonders
um den der wichtigsten Hypotnese, der Außenweltshypothese, handelt.
Die Deutung ffUirt zu einer Besprechung der großen vereinheit-
lichenden Theorien der Physik, vomehmlicn der Elektronentheorie.
Bewundernswert ist neben der Kenntnis des Gebietes die Leichtigkeit
Naturphilosophie. 177
der Darstellung y -welche auch die verwickeltsten Fragen dem Ver-
stfindnis näher Diin^. Das Kanitel: Die Diskontinuität der Materie
ist so meisterhaft in dem Aufbau der von Stufe zu Stufe an Über-
zeugungskraft zunehmenden Beweise und Belege, daß es ein hoher
Genuß ist, dem Gedankengange des Autors zu folgen.
Auch den erkenntnistheoretischen Erwägungen des Verfassers
kann man in ihren Ergebnissen für die exakten Wissenschaften bei-
pflichten. Er definiert die Hypothesen als unbewiesene Annahmen,
die um anderer Annahmen oder Tatsachen willen gemacht werden,
und findet den Wert der Hypothesen in ihrer Wahrscheinlichkeit.
Bei der Anwendung dieser Sätze aber zur Entkräftung der gegen die
Außenwelthypothese gerichteten Einwürfe, muß ich einen speziellen
Punkt zur Sprache bringen. Der Verfasser sucht den Schluß auf
die Außenwelt oder ein fremdes Bewußtsein zu rechtfertigen. Nun
findet aber die Analyse desienigen Erlebnisses, in welchem Teile der
Außenwelt zum Bewußtsein kommen, nichts von einem Schluß. Außer-
dem bleibt es problematisch, ob wirklich die Beschränkung auf rein
psychische Inhalte den Gedanken einer allerdings lückenhaften Eegel-
mäßigkeit entstehen lassen kann, der erst durch (ue Annahme außerwelt-
licher EinfltLsse zu einer vollständigen Begebnäßigkeit umgewandelt
wird, oder ob nicht vielmehr bei bloßer Beschränkung auf psychische
Inhalte überhaupt nicht der Gedanke irgendwelcher regelmäßiger Ver-
knüpfung entstehen könnte. Weiterhin befremdet denjenigen, welcher
die neuere Bewußtseinsphänomenologie der Münchner und der Göttinger
Schule etrwa anerkennt, die Meinung, daß „der Begriff des Seins durch
Beachten des Gemeinsamen in dem vergleichenden Durchlaufen der
Bewußtseinsinhalte entstehe**. Im Gegensatz zu dieser psycho-
logistischen Ableitung wäre dann die Tatsache als letzte Tatsache
herauszoiieben , daß wir in den Bewußtseinsinhalten Gegenstände
denken, imd daß die qualitativen Eigentümlichkeiten dieses Aktes sich
in keiner Weise aus Eigentümlichkeiten anderer Bewußtseinsinhalte ab-
leiten lassen. Solche Abweichungen, die bei der ümstrittenheit der
erkenntnispsychologischen Begriffe unvermeidlich auftreten, hindern
indessen mcht, daß sich der Leser gern der umsichtigen Führung des
Verfassers anvertraut. Dabei muß besonders gerühmt werden, daß
die klare Darstellung dem Phvsiker auch die philosophischen Teüe
erschließt, und dem speziell philosophisch geschulten die physikalischen
Theorien nahe bringt. Nur wer ein Gebiet beherrscht, kann es in
solcher Einfachheit darstellen.
Während Becheb die Annahme einer körperlichen Außenwelt,
die aus Molekeln, Atomen und Elektronen aufgebaut ist, und die
kinetische Katurauffassung gegen erkenntnistheoretische Angriffe ver-
teidigt, wendet sich v. d. Ffobdten in seinen Vorfragen der Natur-
philosophie geßen die philosophierenden Naturforscher selbst. Sein
buch zerfällt in einen erkenntnistheoretischen Teil, welcher als er-
kenntnistheoretischen Grundsatz eine Theorie des Konformismus
darstellt, und dann zwei Gesichtspunkte als unzureichend erweist,
unter denen eine allseitige Lösung versucht worden ist, die Energie
und die Empfindung; und in einen spekulativen Teü, welcher die
Naturgesetze deutet und schließlich ein Gesamtbild des Natur-
geschanens entwirft. Der Verfasser sucht zwischen dem naiven
Kealismus und dem extremen Phänomenalismus zu vermitteln, indem
er die Begriffe der Naturwissenschaft und die daraus gebildeten Ge-
setze der Wirklichkeit entsprechen läßt; diesen Erkenntniswert
bezeichnet er als Konformismus und drückt den Grad jeweiliger
Vierteljahrssohrift f. wissenachAftl. Philos. n. Soz. XXXII. 1 . 12
178 O. Klemm:
Erkemitnis durch eine Konformität verscliiedener Ordnung auB. £r
unterscheidet dann drei Beiche der Erkenntnis: das der Realität
< Wirklichkeit, Einzel dinge), das der Konformitäten (Allgemeines, Be-
griffe) und das des Wesens der Dinge (absolutes Sein, Dinge „an sich^).
Seine Abhandlung will durch die Tatsache der chemischen S^these
beweisen, daß ein solches zweites Reich existiert, und daß die Kon-
formitäten des zweiten Reiches eine sichere und bestimmte Ver-
bindung und Annäherung zwischen dem ersten und dritten Reiche
darstellen (S. 38). Mir scheint es, daß der Betriff der Konformität
an den Vieldeutigkeiten leidet, die dem Begriffe des Entsprechens
anhaften. Unter Entsprechen läßt sich eigentlich die ganze Stufen-
folge von Beziehungen zweier Gegenstände denken, £e von einer
vielleicht nur durch ein einziges Merkmal vermittelten Zuordnung
bis zur größtmöglichen Ähnlichkeit führt. Die Anordnung der Kon-
formitäten denkt sich der Verfasser nach dem Grad von experimenteller
Richtigkeit der ihnen zugrunde liegenden Urteile. Fadls hierunter
die Wahrscheinlichkeit verstanden ist, zerfallen die Konformitäten in
die altbekannte Teilung wahrscheinlicher und unwahrscheinlicher
Hypothesen, falls die Ordnung der Konformitäten aber nach Graden
der Abstraktion geschieht, erhellt wiederum nicht, in welchem Grade
sie das Wirkliche in sich fassen. Obgleich mir demnach hierin noch
eine Schwierigkeit zu liegen scheint, ist doch der Versuch an-
zuerkennen, die Kluft zwischen dem ersten und dem dritten Reiche
zu überbrtlcken, und wer überhaupt dieses Problem zugibt, wird gewiß
auch aus den Darlegungen des Verfassers mannic^ache Anregung
schöpfen. In der gerechten Einschätzunc seiner Gegner und der
ruhigen, eingehenden Prüfung widersprewiender Ansichten ist das
Buch ein treffliches Beispiel für diejenige Art philosophischer Kritik,
die allein fruchtbar zu werden verspricht.
Eine in allen Einzelheiten systematisch durchgeführte Natur-
philosophie ist endlich die Philosophie der unbelebten Materie
von StÖhr. Die Anfechtungen, welche die Grundlagen der Physik
von der Erkenntnistheorie zu erleiden hatten, hemmen ihn nicht in
seinem Vorhaben, aus bestimmten Annahmen über die Katur der
Uratome der Materie die Erscheinungen unserer physikalisch denk-
baren Welt abzuleiten. Nach einer kurzen, nicht tiefen Erörterung
des erkenntnistheoretischen Charakters der Atomistik wird gleich die
kleinste Zahl von Eigenschaften der letzten Teilchen festgestellt und
ein Urstoßgesetz für ihre Bewegung formuliert. Mit der Austeilung
solcher elementarer Eigenschaften ist der Verfasser nicht ver-
schwenderisch; so haben etwa seine Uratome noch nicht die Eigen-
schaft der Undurchdringlichkeit. Aus dem Uratomgesetz ergeben
sich Gesetze für Uratomballungen, aus Uratomballungen bilden sich
Aggregate der ersten bis zur siebenten Ordnung; zur letzten gehören
die festen Körper. Des weiteren werden die Eigengeschwindigkeiten
dieser Aggregate besprochen und schließlich an der Hand reichen
physikalischen Materials die Möglichkeit einer m energetischen Um-
formung physikalischer Hypothesen dargelegt. So bewundernswert der
Scharfsinn ist, mit dem der Verfasser aus reinen Thesen die reiche
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ableitet, so ungenießbar sind diese
Ableitungen doch für denienigen, der alle solche unverifizierbaren
Vermutungen eben nur als Vermutungen gelten läßt. Es ist ein
Wagnis unserer Zeit, für deren erkenntnistheoretische Zurückhaltung
die oeiden zuerst besprochenen Schriften ein Zeugnis sein können,
ein Buch zu unterbreiten, das an die Weltentstehungs lehre des
Elemente der Philosophie. 179
DcscARTEs enimert. Die ausgedehnten rein physikalischen Teile des
Bnchee liefen außerhalb des Gebietes dieser Zeitschrift; auch hier
stehen die Meinungen des Verfassers bisweilen in auffallendem Gegen-
sätze zu den herkömmlichen. So verficht er etwa die Emissions-
hvpothese gegen die ündulationshypothese; aber wie mir scheint mit
wenig Glück. Seine Argumente werden bei dem Laien auf Ver-
stau dmislosi^keit, bei dem Fachmann auf sachlichen Einspruch stoßen.
So glaube ich, daß der Nutzen dieses Buches nicht ganz im Ver-
hältnis zu seinem großen Umfange steht.
An weitere Kreise, in denen philosophisches Interesse herrscht
und an Freunde der Natur und der Naturwissenschaft wendet sich
endlich die populäre Naturphilosophie von Dippe. Der Verfasser sucht
empirische Naturwissenschaft und Erkenntnistheorie im transzenden-
talen Realismus zu vereinigen von einem dualistischen Standpunkte
aiis, der im religiösen Gebiete zum Theismus gravitiert. So wichtig
der Teleologismus als heuristisches Prinzip für die Biologie ist, so
unberechtigt ist es auf ihm fußend eine metaphysische teleologische
Weltauffassung zu postulieren. Die Beweise, die etwa aus der neueren
Astronomie für die teleologische Bedeutung der Erde genommen
worden, haben mich wenig überzeugt, ganz abgesehen von der ge-
legentlich wenig glücklichen Stilisierung. „Nirgends im ganzen
Fixstemsystem ist ein Leben höherer Tiere und intellektueller Wesen
möglich, sofern dort nicht ebenso günstige Bedingungen wie auf der
Erde nachgewiesen werden können" (S. 259). Ist denn das ein Beweis ?
Ist ein Gegenstand deshalb unmöglich, weil ich seine Tatsächlichkeit
nicht beweisen kann? Was sich jenseits der Milchstraße abspielt,
kümmert unseren Argumentator wenig. Er gibt zwar zu, daß „die
Welt jenseits der Milchstraße nicht mit Brettern vernagelt sein wird,
aber leuchtende Körper können sich daselbst nicht mehr befinden,
sonst würden wir ihr Licht wahrnehmen" (S. 260). Wenn die Astro-
phj'sik so simpel wäre, dann würde tatsächlich die populäre Physik
des Alltags, aie jeder von uns in sich ti*ägt, der wissenschaftlichen
Forschung vorzuziehen sein. Welche Naivität liegt auch in der Be-
sprechung der Marskanäle ! „Sicherlich sind sie für jetzt keine Wasser-
zoleitungen mehr** (S. 255). Das Angeführte mag als Stichprobe ge-
nügen. Auch über das Kapitel 19, Der menschliche Geist, wollte ich
mich hier äußern. Aber ich stehe davon ab, da sicherlich die Ver-
schiedenheiten der Richtungen, welche noch in die moderne Psjrcho-
logie hineinragen, mit Schuld daran tragen, daß sie sich in demjenigen,
wacher auf diese Weise dem Weltgeiste sich nähern will, als selt-
samste Phantasmagorien widerspiegeln.
Leipzig. O. Klemm.
Ilagemaiiii, George Dr., weil. Professor der Philosophie an
der Aka.deiuie zu Münster, Elemente der Philo-
sophie. Dritter Teil. Psychologie. Ein Leitfaden für
akademische Vorlesungen sovsde zum Selbstunterricht.
Siebente Auflage, teilweise neu bearbeitet und vermehrt
von Dr. Adolf Dyroflf, Professor an der Universität Bonn.
Mit 27 Abbüdungen. gr. 8® (XII u. 354). Freiburg 1895,
12*
180 K* Hönigswald:
Herdersche Verlagshandlung. M. 4, — , geb. in Halb-
leder M, 4,80.
Die HAOEMANNsche Psychologie ist als ein fahrendes Werk allen
denen bekannt, für welche die Psychologie unter den Elementen der
Philosophie vorkommt. Nach dem Tode des Verfassers mußte eine
andere Hand die neue Auflage herausgeben. Die Aufgabe des Buches
blieb dabei gewahrt, eine kurze und nicht allzu abstrakte Orientierung
über die wichtigsten und anerkannten Tatsachen, Begriffe und Ge-
setze der Psychologie zu geben. Da hierbei eine Berücksichtigung
mancher Ergebnisse der neueren experimentellen Psychologie er-
forderlich war, ist der Umfang des Buches trotz verschiedener
Kürzungen gewachsen. Mit anerkennenswerter Kritik hat der Be-
arbeiter den Standpunkt des Verfassers im wesentlichen gewahrt, und
etwa mit Becht die endgültig antiquierte Lehre von dem Gefühl als
dem dritten Seelenvermögen ausgeschieden. Nach dem Vorbild der
Darstellung in den modernen Lehrbüchern der Psychologie hat er
auch die Einteilung des Stoffes geändert ; so ist die Besprechung der
metaphysischen Begriffe an das Ende gerückt. Zahlreiche Be-
merkungen über did Geschichte der Psychologie und der einzelnen
psychologischen Probleme stellen ebenso interessante Beziehungen
zur allgemeinen Geschichte der Philosophie her, wie sie zur Würdigung
der psychologischen Bestrebungen im speziellen beitragen.
27 sinnesphysiolo^che Abbildungen, reiche Literaturausgaben
und ein Sachregister dienen in erfreuEcher Weise zur Orientierung.
Leipzig. 0. Klemm.
Uphnes^ Goswin, Prof. Dr., Vom Bewußtsein. Zickfeldt.
Osterwieck i. H. 1904. 50 S.
„Bewußtsein^ bedeutet für Uphdeb dreierlei: eine Gruppe gleich-
zeitiger und aufeinanderfolgender, vergangener und zukünftiger Be-
wußteeinsvorgänge, die wir als mein, dein, sein . . . bezeichnen^, dann
ein „Wissen von Gejg;en8tänden , die von diesem Bewußtsein oder
Wissen verschieden smd^ , und schließlich — und zwar in seiner er-
kenntnistheoretisch wichtigsten Bedeutung die „nota constituens*',
durch welche die Bewußtseinsvorgänge zu Bewußtseinsvorgängen
werden. Bewußtsein in diesem Sinne nennt der Verfasser „Bewußt-
heit *". Sie ist das Wissen jedes Bewußtseinsvorganges um sich selbst. —
Die beständig verschwindenden Teile der Empfindungen und Gefühle
werden durcn die Bewußtheit .zusammengehalten" imd zur Einheit
verbunden. — Nun ist die Bewuntheit aller jBewußtseinsvorgänge eine
und dieselbe, sie ist „das, was wir die Einheit des Bewußtseins nennen,
was wir einzig und allein unter dem Ich verstehen können''. — Dem
Bewußtsein gegenwärtig ist nur das Individualisierte, nur das, was
an eine ^materia quantitate signata*" geknüpft ist. Dieses aber steht
selbst wieder unter der Voraussetzung eines individualisierten, d. h.
eines Bewußtseins, das aufgefaßt wird als mit einem „Eigen örtlich-
keit'' besitzenden Körper verbunden. Es ist der Ausdruck desselben
Verhaltens, daß „Sach- Urteile*' zu ihrer Voraussetzung „Ich-Urteile''
haben, die eben nur unter der Bedin^ng der Annahme eines in-
dividualisierten Bewußtseins möglich sind. Den Gegenstand selbst
„enthebt die Individuation aus der Sphäre des Unbestimmten,
Schwankenden", sie „gibt ihm eine bestimmte, eine ihm eigentümliche
/
Vom Bewußtsein. 181
unQbeTtTagbare Stelle im Beiche der Tatsachen und damit im Beicbe
der Wahrheit**. — Die ersten Bedingungen der Individuation sind
Baum und 2ieit, nach Uphues Begriffe, oder „die objektiven
Regehl, die den Empfindungen selbst Halt und Bestand geben".
Dazu kommt als weitere Beoingung „eine Besonderung des raum-
zeitlichen Gesetzes, in der besonderen Grestalt, wie es uns in der
Widerstand entgegensetzenden Ausdehnung entgegentritt". Die
psychologische Leistung des Indiviiiuationsgesetzes nun ist die Be-
ptUidun^ der Gemeinsamkeit unserer Erlebnisse vom Gegenstande.
Das Individuationsgesetz ist der Grund der Assoziation der auf den-
selben Gegenstand Gezogenen Gesichts- und Tastempfindungen. Nun
ist Individuation nach üphues die Bedingung der Tatsächlicnkeit von
Erlebnissen gerade so, wie der Wahrheit von Gredanken, nur daß diese
letzteren ihre Individuation nicht durch die „Eigenörtlichkeit*' der
Korper, sondern dadurch erhalten, „daß sie auf das aberzeitliche,
alles umfassende göttliche Bewußtsein zurückgeführt werden, das sie
denkt und in dem sie ihren letzten objektiven Grund haben". Er-
kenntnistheorie mündet so für den Verfasser in Metaphysik. — Streng
genommen sind dem Bewußtsein gegenwärtig stets nur Urteile, die
uns nur in Wortvorstellungen gegeben sind, und zwar in Gesichts-
vorstellungen geschriebener oder in Gehörsvorstellungen gesprochener
Worte. — Die Welt der Anschauungen (oder Dinge) kommt nur ,^durch
die Begriffe, die Gesetze sind, zustande. Sie sind da^ raumzeitliche
Gesetz der Individuation". — Allein, das begriff bildende Denken als
Voraussetzung der Individuation lehrt ims außer dem Dasein der
Dinge auch deren „über das individuell bestimmte Dasein hinaus-
gehende Wesen" kennen. Es kommt in dem Verhältnis der Über-
und Unterordnung der Begriffe zum Ausdruck. Mittelst der Begriffe
erfassen wir gleicnsam durch das Medium der Vergänglichkeit hin-
durch die metaphysische Welt des Seins und der Wahrheit. —
Durchaus originell erscheinen hier aristotelische und thomistische
Gedankenelemente mit Motiven der modernen Erkenntniswissenschaft
verarbeitet. Vieles ist mehr angedeutet als ausgeführt. Das zentrale
Problem der UpHussschen Erkenntnislehre aber kommt auch in der
vorlegenden scharfsinnigen Studie zu klarem Ausdruck: die meta-
physische Bedeutung aller Erkenntnis. An dieses wird daher alle
sachliche Kritik auch hier anzuknüpfen haben.
Breslau. R. Hönioswald.
n.
Philosophische und soziologische Zeitschriften.
ArchiT für Philosophie, I. Abteilung (Berlin, Eeimer).
Bd. 21, Heft 2 (N. F. XIT, 2).
Leopold, M., LBibnizons Lohre von der KOrperwelt als Kornpunkt des Systems.
Antoniftdes, 15., Die Staatslehre des Mariana.
Schwarz, £.. Beitr&ge zur Kantkritik.
M All er, A., Die Religionsphilosophie Teichmflllers.
Schultz^ Ilv(iuyüQiiz.
Jahresbericht.
Zeitschrift fBr Philosophie und philosopliische Kritik (Leipzig,
Voigtländer.)
Bd. 181, Heft 1.
Faickenberj?, R., Nachruf auf Ludwig Busse.
M tili er, A., über Atomismus und Mechanismus.
Mall]^, E., Das Mafs der Vernchiedenheit.
Du toi t, R., Bericht Über die Erscheinungen der französischen philosophischen
Literatur im Jahre 1903.
Frischeiseii-Koehler , M., Die historische Anarchie der philosophischen Systeme
und das Problem der Philosophie als Wissenschaft.
Rezensionen. — Notizen. — Neu eingegangene Schriften. — Aus Zeitschriften.
Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane.
(Leipzig , J. Ambr. Barth ) (I. Abt. : Zeitschrift für Psychologie.)
Bd. 46, Heft 3.
Pappenheim, M., Merkf&higkeit und Asnoziationsversuch.
Haerwald, R., Die Methode der vereinigten Selbstwahrnehmung.
Literaturbericht.
Müller-Freienfels, R., Zur Theorie der GefühlstOne der Farbenempfindungen.
Uerbertz, R., Die angeblich falsche Wissonstheorie der Psychologie.
Literaturbericht.
ArchiT fBr die gesamte Psychologie (Leipzig, Engelmann).
X. Bd., Heft 1 und 2.
Lehmann, A., u.Pedersen,R. IL, Das Wetter und unsere Arbeit. (Mit 20 Figuren
im Text.)
Tassy, E., Ideativer Erethismus.
(rebsattel, £. Frhr. v., Bemerkungen zur Psycholc^ie der Gefflhlsirradiation.
Biske. F., Zum Yerst&ndnis des psychophysischen Gesetzes.
Literaturbericht. -- Einzelbesprechungen. — Referate.
X. Bd., Heft 8 und 4.
Kose, F., Johann Georg Sulzer als Ästhetiker.
Kenauld, v.. Über reflexive Sympathie.
Kiesow, F., Über einige Borünrungstäuschungen.
Philosophische und soziologische Zeitschriften. 133
Jf artin, L. F., Zur Begründung und Anwendung der Suggeationsmethode und der
NoRDAljpsyohologie.
LvTi, R., Zar Analyge der Empfindungen, besonders der Lichtempfindungen.
Messer. A., Bemerkungen zu meinen experimentell > psychologischen Unter-
SDchungen über das Denken.
Einzel besprechnngen. — Referate.
XL Bd., Heft 1.
Storring, 6., Experimentelle Untersuchungen aber einfache Sohlufsprozesse.
Kirschmann, A., u. Dix, D. S., Experimentelle Untersuchung der Komplimentär-
rerbAltnisae gebrftuchlicher Pigmentfarben.
Kritische Blätter für die gregamten Sozialwissenschaften (Dresden,
Boehmertj.
m, Heft 11.
Weber, A-, Über die Wertzuwachssteuer.
Pape, K.. Fabrik und Handwerk.
Väiyi, Die französische Soziologie der Gegenwart. II. Emile Dnrkheim.
Auerbach, £., Zur Justizreform, II.
Hottenrott, Verfassungs- und Verwaltungsorganisation der StAdte.
>^toecker, H., Aus der modernen Literatur zur sexuellen Reformbeweg^ng.
Kinzelbesprechungen. — Miscellen. — Bibliographie.
Mind (London, Williams and Korgate).
New Fenres, Nr. 65.
Festen , H., Non-Phenomenality and Otherness.
Stout, G. F., Immediacy, Mediacy and Oohorence.
Hay wood, M., Plato's Psychologv in its bearinff on the Development of Miil (I).
Ditcussions. — Oritical notices. — New books. — Phllosophical Periodicals. — Notes.
The Phllosophical Reyiew (Macmillan Comp., Lancaster P. A.)<
YoL XYI, Nr. 6.
Leighton, H. A., The objects of knowledge.
LoTejoy, A O., Kant*s oiassification of the forms of judgment.
Hollands, E. 11., Possibility and reality.
Cunningham, G. W., Discussion: Dt. Ewer on the freedom of the will.
Üeviews of books. — Notices of new books. — Summariea of articles. — Notes.
The Psychologlcal Review (Bsiltimore, E.eyiew Publishing Co.).
Yol. XIV, Nr. 6.
Carr, H., Apparent control of the positlon of the Visual fleld.
Mead, G. HT, Concerning animal peroeption.
Sowland, E. H., A study in Tertioal symmetry.
bttldwln, H. M., Logical Community and the difference of discernibles.
Yol. XV, Nr. 1.
Mars hall, H. B., The Methods of the naturalist and the psychologist: Presidont's
I address.
I Kernald, G. M., Studios from the Bryn Mawr College Laboratory. The effect of
I brightness of background on the appearance of color-stimuli in peripheral yision.
I Sidi.s. B., The doctrine of primary ana secondary sensory elements (I).
The Hlbbert Jonmal (London, Williams and Norgate).
Yol. YI, Nr. 2.
Tyrrell, G., The prospects of modernisra.
Gerard, The papal encyclical from a catholic's point of view.
Schwab, L. H., The papacy in its relation to American Ideals.
Bishop of Carlisle, The catholic church: Wh«t is it?
Lodge, O., The immortality of the soul.
Wallace. Wm., The religion of sensible scotsmen.
Schmidt, N., The „Jeranmeel" theory, and the historic importance of the negeb.
Xuirhead, Religion a necessary constituent in all education.
Coe, O. A., The nources of the mystical revelation.
Moore, Stuart, The magic and mystioism of to-day.
184 PhiloBophische und soziologische Zeitschriften.
Brown, A., The reasonablenesB of ohriBtian faith.
Hack 8^ L. P., The alohemy of thoughfc.
Disousaions. — Reviews. — Bibliography of reoent literature.
The Psycholo^cal Bnlletüi (Baltimore, Beview Puhlishing Co.).
Yol. IT, Tür. 11.
LoTejoy^ A. O., Professor Ormond's Philosophy.
Psychologioal literature. — Diseussion. — Books reeeived.
Vol. IT, Nr. 12.
Tufts, J. H.. On the psyohology of the family.
Hill, C. M., Yoluntary organisations.
Psychological literature etc.
YoI. V, Nr. 1.
Büchner, £. Fr., Psychological progress in 1907.
Psychological literature etc.
The Journal of Philosophy, Psychologrj and Scientific Methods.
(New York, Scientific Press.)
Vol. IV, Nr. 28.
Fullerton, G. St., The doctrine of the eject.
Hughes, P., Gonorete conceptual synthesis.
Ewer, B. C, The Anti realistic „How"?
Heviews and abstracts of literature. — Journals and new books. — Notes and news.
Vol. IV, Nr. 24.
Davies, A. £., Imagination and thought in human knowledge.
Franz, Sh. J., Psyohology at two international scientific oongresses.
Bush, W. Tl., Sub specie aetemitatis.
Reviews etc.
Vol. IV, Nr. 26.
CalkJDs, M. Wh. Psychology: What is it about?
Mc. Crilvary, E. tfr., Realism and the physioal world.
Reviews etc.
Vol. IV, Nr. 26.
Vailati, Q., The attack on distinctions.
Diseussion. — Reviews etc. — Index to Volume lY.
Vol. V, Nr. 1.
Lovejoy, A. O., The thirteen pragmatisms. I.
Calkins, M. Wh., Psychology as science of seif. I: Is the seif body or has it body?
Reviews etc.
Vol. V, Nr. 2.
Lovejoy, A. O.. The thirteen pragmatisms. II.
Discuüsion. — Sooietles. — Reviews etc.
Vol. V, Nr. 8.
Alexander, A. B. D., Knno Fischer, An estimate of his lifo and work.
Calkins, M. Wh., Psychology as science of seif. II: The nature of the seif.
Diseussion etc.
The Sociological Beriew (London Sherratt and Hughes).
Vol. I, Nr. 1.
Hobhouse, L. T., Editorial.
Westermarck K., Suidde: a ohapter in oomparative ethics.
Morrison, W. D., The criminal problem. ^
Marett, R. R., A sooiological view of comparative religion.
Philosopliische und soziologische Zeitsohriften. 185
Pifher, H. A. It., The soeiological view of history.
DiseascioiiB. ~ BoTiews of books. — Periodioal literature. — Books reoeiyed. —
Rene Philogophique (Paris, Alcan).
tt. amiite, Nr. 13.
Biervliet, ▼an, J. J., La Psychologie quantitative. III. Psychologie ek*
p^rimentaltt.
libot, La mömoire affective: Noavelles remarques.
Lee, Vemon, La Sympathie esthötique.
Ab^vms et eomptes rendus. — Revue des pöriodiques ötrangers. — Livres nouveaux. —
Table des matieres.
8S. ann^e. Kr. 1.
Lalande, A., PragToatisme, humanisme et v6rit^.
Paslhaa, F., Ija oontradietion de rhomme.
Biervliet, van, J. J., La psyoholo^ie quantitative (flu).
Jankelovitoh, Dr., Guerre et Paoiflsme, d*aprö8 des ouvrages röcents.
BeTQe g^nörale. — Analyses et oomptes rendus eto.
88. aaB^e, Nr. 2*
Xillioud, Hssai sur Thistoire naturelle des idöes.
Panlhan, La contradiction de Thomme (Suite et An).
Champeaux, Dr., Une critiaue des langues oonventionnelles.
Dumas, G., Dr., La logique a*un dement.
Anaijses et eomptes rendus etc.
Iteme n^osGolastique (Louvain, Institut sup^rieur de philosophie).
XIT. ann^e, Nr. 4.
Balthasar, N., Db probleme de Dieu, d'apres la philosophie nouvelle.
^ulf, M. de, Premiere le^on d'esthötique.
liehotte. A. , A propos de la „möthode d'introspection" dans la Psychologie ex-
perimentale.
Xsndonnet, P., Le traitö „De erroribus philosophorum" (XIII. siöcle).
B«l\etina bibliographiques. — Mölanges et documents. — Bulletin de Tlnstitut de
Philosophie. — Comptes rendu- '^ ^- '' '" — «j--"«.
<1ea manöres pour Tannöe 1907.
Philosophie. — Comptes rendus. — Ouvrages envoyös k la rödaotion. — Table
Berve de Pbllosophie (Paris, Chevalier et Biviöre).
7. ann^e^ Nr. 11.
Hoisant, X., Le probldme du mal.
Kotes et discussions. - jtude critique. — Analyses et comptes rendus. — Pürio-
(Üques. — L'enseignement philosophique.
7. ann^e, Nr. 12.
Peillanbe* E , L'organisation de la memoire. I. La fixation des impressions.
Dvhem, P.j. Le mouvement absolu et le mouvement relatif (III).
lettnier, R., La Psychologie et la philosophie de N. Vaschide.
>'ote« etc.
8. ann^e, Nr. 1.
I>romard, G., IjOS ölöments moteurs de Tömotion esthötique.
Peillaube, £., L'organisation de la mömoire. II. Vie latente des Houvenirs.
Xtrtin, H., Une histoire des idöes esthötiques.
^ari«t&. — Analyses us-v^.
8. ann^, Nr. 2.
£aqii«te sur l'idöe de dömocratie.
Borell, Ph.. L*id6e de dömocratie.
Beanpuy, 0. de, L*argument de saint Anselme est a posteriori.
I^abem, P., Le mouvement absolu et le mouvement relatif.
•Me critique. — Analyses etc.
186 Philosophische und soziologische Zeitschriften.
Rirista Filosoflca (Pavia, Bizzoni).
Anno IX, Toi. X, Fagc. T.
Juvalta, E.^ II metodo deir economia pura nell* etica.
Kossi, G., Vico nö tempi di Yico.
Morselli, E., Vita morale e vita sociale.
Carlo, E. di, La filosofia del diritto ridotta alla fllosofia dell' economia.
Faggi, A . Ün poeta filosofo (SuUy Prudhomme).
Rassegna bibliograflca. — BoUettino bibliografico. — Articoli di Reviate atranieii. —
Soniinari delle Riviste straniere. — iJbri riceTuti. — Indice doli* annata.
II Binnoramento (Milano).
Anno I, Fase. 11-12.
Norstroem, N., La vita odiema dello s^irito.
Graf, A.j Non e co.sa nostra il cristianesimo?
Boine, G., S. Giovanni della croce.
Scotti, T. Gallarati, Una paffina di Mickiewioz.
West, A., 11 bue e raaino nella leggenda della natiyitji.
Crespi, Ä., La teoria deir evoluzione nel suo aspetto fllosofico.
Murri, R., L'enciclica „pascendi" e la fllosofia modema.
Valentini, G.. Fede intellettuale o fede morale?
Cronaca di studi religiosi. — Cronaca di vita e pensiero religiöse. Libri e rivinte.
äesca Mjsl (Prag, Laichter).
Bocnik Till, Sesit 5.
^ada, Fr., Sur la philosophie de Fr. Amerling.
Tichy, G., L'individualisme social (Fin).
Hocli, Gh., Les Hussitea et la gnerre (Suite).
Revue generale. — Analyses et comptes rendus. — Revue pöriodiquo. — Faiis divor^.
Bocnik Tin, Sesit 6.
Nömec. B., Remarques sur Tanniversaire de Linno.
Hoch, Ch., 8. Ses. 5 (Fin.).
Gada, Fr., Sur In philosophie de Fr. Amerling.
Documenta. — Rovue g^n<>rale etc.
Prseglad Filozoflczny (Warschau).
Bok X, Sesit IT.
Biegnnski, W., Etat actuel de la philosopliie de la nature.
Der 8., Du jugement inductif.
LukasiowioK, J., Du jugement inductif.
Twardowski, K., Les theories idio et allog^netiques du jugement.
OchorowicK. J., Les nouvellos ideon sur la matiere.
Bieganaki, W., L'analogle. sa valeur scientifique.
Lukasiewicz, J., La logique et la psychologie.
Borowski, M., La oritique du concopt de la causalite.
Wais, K., Les animaux aont-ils intelligents?
Wy czülkowska, A., La psychologie de Toule.
Der 8., La psychologie du langage.
Mikulski, A., Les travaux polonais i'^crits par des ali^nös.
Biro, M., Theorie des perturoations pbvchiquea, causöos par des tumeurs c^/ri^brales.
La^owski, M., La morale de la popuiation du Royaume de Pologne de 184S a liM>:,
illuströe par des chiffres.
Bandrowski, B., Analvso psvchologique des phönomt^nes de la penaöe.
Witwioki, W., Psychotogie des relations personnelles.
StOgbauer, A., Ouand les diverses roprösentations ont-elles le mOme objet?
Szyc, A., La psycnologie de Penfant au .YX-eme siecle.
Ders., De T^volutlon des notions morales chez les enfants.
Kurnatowski, J., L'aasociation comme facteur moral.
Rubczyüski, W., Les relations entre Thistoire de Testhetique et Thistoire de
l'art.
Olazewski, M., L'art chez Tenfant et ohez Vhomme primitif.
Biesiekierski, De notione et divisioue naturae secundum Aug^stinum.
Gabryl, F., De l'eaaence des images de la memoire.
Lnwkowicz, J.. La philosophie et lea scienoes naturelles.
Ders., Oritique de la notion naturaliate du progres.
Minkiewicz, R., L'analyse de l'instinct du d^guisement.
PhiloBophische und soziologiBche Zeitschriften. 187
Xoisxewski, K., Comment naissent les notions visuelles de la ^grandeur et de
l>loigiiexn«nt.
Sterlinz, S., La psycho] ogie de la pens^e.
Ziotnieki, De la döpersonnification des Souvenirs.
iBthropos (Salzbarg, Zaunrith).
Bd. U, Heft 1.
Moriee, F. G. A., The ^reat D6nö race (Conün).
CAivt, P. H.. Au pays des castes.
Coli, C. V., Matrimonia Indigenarum Surinamensium.
Malier, Fr. A., Trapp, O., Wahrsagerei bei den Kaffern (Schluft).
Arnäiz, Fr. Gr., Los habitantes de la prefeotura de Ghiang-ohiu, Fu-kien, Sfld-
ehin» (Contin).
Soagier, P. £., Maladies et mödioines h Fiji autrefois et aujourd*hui.
Xaller, Br. H., Grammatik der Mengen-Sprache.
Friedrich, M., Desoription de Tenterrement d*un chef k Ibouzo (Niger).
Egidi, V. M., La Tribü di Kuni.
Cadiere, L., Philosophie populaire annamite.
i'asartelli, Hindu mythology and literature as recorded by Portuguese missio-
naries of the early 17. Century (Coutin).
Fin«rt, A. S., Gerogllfos entre los Indios de la Florida.
Levistre, L., Sur quelques stations dom^niaues de TAlgörie.
Lehmann, W., £s8ai d'une monographie bibliographie sur Tile de P&ques.
I>ers., Le congres des Amöricanistes a Quebec.
Bibliographie.
ReTMe de Metaphjsiqne et de Morale (Paris, Colin).
16, aniie, Nr. 1.
Boutronz, E., William James et Texpörience religieuse.
Bergson, H., A propos de V «Evolution de rintelligence g^om^trique**.
Boaas.se, H., . .ivolution de la matiere et physioue des oorps solides.
Dwelshau vers, G., De Tintuition dans racte de Tesprit.
£.tades critiques. — Discussions. — Questions pratiques. — Supplement.
PUIosophisches Jahrbuch (Fulda, Aktiendruckerei).
XXJ. Bd., Heft 1.
'rut beriet, C, Der ffegenwArtige Stand der psycholop^ischen Forschung.
Wanderle, O., Die Lehre des Aristoteles von der Zeit.
Ziesche, K., Die Naturlehre Bonaventuras.
0«yser, J., Die Vorztlge und Schwachen der neueren Untersuchung der Denk-
vor^an^e durch das Aussageexperiment.
Henner, C, Zur ÄqnipoUenz der Urteile.
Rezensionen und Referate. — Zeitschriftenschau. — Miszellen und Nachrichten.
\
in.
BMograpUe.
I. Geschichte der Philosophie.
Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte. Herausgegeben
von Benno Erdmann. 25.-27. Heft. Halle 1907. 9,40 M.
Inhalt: 25. Heffels Lehren ttber das Verh<niB Ton Belig^on und Philosophie.
Von H. Hadlioh. VIII. 82 pp. 2,60 M. — 26. Die Grundlagen einer vollständigen
Syllogistik. Von J, Ed. Th. Wüdschrey. X, 160 pp. Mit 1 Taf. 4M. — 27. Die
Stellunir des Alexander von Aphrodisias zur Ajistotelisohen Sohlufslehre. Von
G. Volait. vn, 104 pp. 2,80 M.
Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte. Herausgegeben
von R. Falckenberjg. 8. Heft. Die Lehre vom Zufall bei Emile
Boutroux. Ein Beitrag zur Geschichte der neuesten französischen
Philosophie. Von 0. Beelitz. Leipzig 1907. S». V, 120 pp.
Subskr.-Pr. 8,20 M.; Einzelpr. 4,— M.
Ammiindseii , T*. Den unge Luther. Studier over hans Theologie.
Ki0benhavn 1907. 160 pp. 8,75 M.
B^lart, H. S., Friedrich Nietzsche und Bichard Wagner. Ihre
persönlichen Beziehungen, Kunst- und Weltanschauungen. Berlin
1907. 80. IV, 104 pp. 2 M.
Drews« Arth«. Biotin und der Untergang der antiken Weltanschauung.
Jena 1907. XII, 889 pp. 10 M.
ILegelSj G. W. F.« Phänomenologie des Geistes, mit einer Einleitung
und einigen erläuternden Anmerkungen am Fuße der Seiten für
den akademischen Gebrauch herausgegeben von G.. J.. P.. J.. BoUand.
Leiden und Amsterdam 1907.
Siegel, Gm Herder als Philosoph. Stuttgart 1907. 8^. XVI, 245 pp. 4 M.
Beiträge zur Geschidite der Philosophie des Mittelalters. Texte und
Untersuchungen. Herausgegeben von Clem. Baeumker und
G. V. Hertling. VI. Bd. 3. fieft. Geschichte der Gottesbeweise
im Mittelalter bis zum Ausgang der Hochscholastik. Nach den
Quellen dargestellt. Von G. Ontnwald. Münster 1907. 8^. X,
164 pp. 5,50 M.
Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen
Testaments. Herausgegeben von W. Bousset und^ Hm. Gunkel.
10. Heft. Hauptprobleme der Gnosis. Von W. Bongset. Göttingen
1907. 8«. VI, 398 pp. 12 M.
Neumark, D.« Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters,
nach Problemen dargestellt. I. Bd. Die Grundprinzipien I. 1. Buch.
Einleitung. 2. Buch. Materie und Form. Berlin 19Ö7. 8^ XXIV,
615 pp. 15 M.
Bibliographie. 189
Weuel, Alfired) Die Weltanschauung Spinozas. I. Bd. Spinozas
Lehre von Gott, von der menschlichen Erkenntnis und von dem
Wesen der Dinge. Leipzig 1907. 8<>. Vm, 479 pp. 9 M.
Bigard, M., Emerson. Paris 1907. 8«. 7,50 M.
Cu^irer, E«, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissen-
schaft der neueren Zeit. II. Bd. Berlin 1907. 8^ XIV, 782 pp.
15 M.
II. Allgemeine Philosophie und Metaphysik.
Frisclielseii-Köliler. Mx., Moderne Philosophie. Ein Lesehuch zur
EinfOhrung in inre Standpunkte und Probleme. Stuttgart 1907.
XII, 412 pp. 9,60 M.
Gottlob 9 Adf«, Ablaßentwicklung und Ablaßinhalt im 11. Jahr-
hundert. 3 Aufsätze. Stuttgart 1907. VII, 68 pp. 3 M.
Gnmcoir, O*. Kurzer Kommentar zum Zarathustra. Oharlottenburg
1907. 144 pp. 8 M.
Gregory, ۥ B*. Canon and Text of the New Testament. Edinburgh
1907. 548 pp. 14,40 M.
Homeffer, £•• Wege zum Leben. Der höchste Wert. Gott und
Mensch. Die Ehe. Der Tod. Leipzig 1908. 8«. III, 148 pp. 3 M.
IftTGVS, E«, Das Gesetz der Vernunft und die ethischen Strömungen
der Gegenwart. Herford 1907. 8^ IX, 284 pp. 6 M.
Haniflon* F.« The Philosophy of conmion Sense. London 1907. 8^.
472 pp. 10,15 M.
Liide, £•, Natur und Geist ak Grundschema der Welterklärung.
Versuch einer Kulturphilosophie auf entwicklun^geschichtlicher
Grundlage. Als Unterbau einer künftigen allgemeinen Pädagogik.
Leipzig 1907. 8«. XVI, 655 pp. 9 M.
illaa, Andr., Matter and intellect. London 1907. 224 pn. 6,75 M.
Belureng, J«, Die natürliche Welteinheit. Naturwissenschaftliche und
philosophische Bausteine zu einer idealistischen Weltanschauung.
Wismar 1907. 8^ 319 pp. 4 M.
111. Psychologie und Sprachwissenschaft.
Untersuchungen, psychologische. Herausgesehen von Thdr. Lipps.
I^ Bd. 4. Heft. Die Erscheinungen. Die physikalischen Be-
ziehungen und die Einheit der Din^e. Zur Frage der Bealität
des Baumes. Das Ich und die Gefühle. Das Wissen von fremden
Ichen. Von Thdr. Lipps. Leipzig 1907. 8^. in u. p. 523—722.
8. Nr. 1392. 6 M.
Biottot« Les Grands Inspires devant la science. — Jeanne d'Arc
Paris 1907. 18». 3,50 M.
Oeyser« Jos«. Lehrhuch der aUgemeinen Psychologie. Münster 1908.
7,50 M.
8«. XVni, 526 pp. 7,50 M.
Jübien, Gst.« Der Anteil der nachkonstruierenden Tätigest des
Auges und der Apperzeption an dem Behalten und der Wieder-
fahe einfacher ^Normen. [Aus: „Zeitschrift für experimentelle
ädagogik«.] Leipzig 1907. 8«. ÜI. 77 pp. Mit 34 Taf. 5 M.
lisch. G«9 Geschichte der Autohiographie. I. Bd. Das Altertum.
Leipzig 1907. 8^ Vm, 472 pp. 8 M.
Stell. 0*9 Das Geschlechtslehen in der Völkerpsychologie. Leipzig
19Ö8. 8«. XIV, 1020 pp. Mit Ahhildgn. 30 M.
190 Bibliographie.
Tan Ginneken« Jac.« Principes de linguistique psychologique. Amster-
dam 1907. 8^ 12, 552 pp. 15 M.
Heinrich. W., Psychologia uczuc. Krakau 1907. S^, V, 256 pp. 8 M.
Psychologie der Gefühle.
4. — 3. Heft. Neue Folge der philosophischen Studien. Leipzig
1907. 9 M.
iV. Ethik und Recfitsphilosopfiie.
Sokolowski, P., Die Philosophie im Privatrecht. 11. Bd. Der Besitz
im klassischen Becht und dem deutschen bürg^erlichen Gesetz. Halle
1907. 8». XIV, 469pp. S. 1902 Nr. 4239. 12 M.
Sternberg, Ttadn, J. H. v. Kirchmann und seine Kritik der Rechts-
wissenschaft. Zugleich ein Beitrag zur G-eschichte des real-
politischen Liberalismus. Mit Untersttltzung der Philosophischen
Gesellschaft zu Berlin. Berlin 1908. 8<>. XX, 209 pp. Mit Bildnis.
5,60 M.
Fonill^e, A«, Morale des iddes-forces. Paris 1907. 8<^. 64, 895 pp.
7,50 M.
Frankenberger. A.« Entwicklung und Moral. Berlin 1907. 8^ 220 pp.
4,50 M.
de Gaoltier, J^^La dependance de la morale. Paris 1907. 18^. 3,50 M.
Gomperz, H«, Das Problem der Willensfreiheit. Jena 1907. 8^. IV.
166 pp. 4 M.
Morawski, M.^ Podstawy etyki i prawa. Krakau 1908. 8®. 488 pp.
Fundamente der Ethik nnd des Bechts. 8 M.
Schnch, ]I*9 Kant, Schopenhauer, Ihering. Die Gedanken-Motivatipn
als Problem der Willensfreiheit. München 1907. 8». 88 pp. 2,50 M.
V. Pfiiiosopliie der Qesellscfiaft und der Geschichte.
Abhandlungen, Staats- und völkerrechtliche. Begründet von G. Jellinek
und G. Meyer, herausgegeben von G. Jellinek und Gh. Anschütz.
VI. Bd. 8. Heft. Die Gesellschafts- und Staatslehre der Physio-
kraten. Von Bd. Oflntzberg. Leipzig 1907. 8^. XV, 144 pp. 4 M.
Kindermann. C, Parteiwesen und Entwicklung in ihren Wirkungen
auf die Kultur der modernen Völker. Stuttgart 1907. 8». vll,
180 pp. 3 M.
Mermeix, Le syndicalisme contre le socialisme. Paris 1907. 18 ®. 8,50 M.
Poincar^. B.« Qüestions et figures politiques. Paris 1907. 18 ^. 510 pp.
3,50 M.
Driesmanfi. H., Dämon Auslese. Vom theoretischen zum praktischen
Darwinismus. Berlin 1907. 8o. XV, 349 pp. 3,50 M.
Fanre, A., LHndividu et Tesprit d'autoritö. Paris 1907. 18<>. 3,50 Af.
Fiseher, L., und P. C. Boediger, Die Patentgesetze. II. Tl. Deutsch-
land, Bußland, die Vereinigten Staaten von Nordamerika, Frank-
reich, Belgien, Italien, Spanien. Eine systematische Übersicht.
Berlin 1907. 8®. III, 52 pp. S. 1906 Nr. 915. 5 M.
Forschungen, Staats- und sozialwissenschaftliche, herausgegeben von
Gst. Schmoller und Mx. Sering. 125. u. 129. Heft. Leipzig 1907.
8^ 9,80 M.
Bibliographie. 191
Inhalt: iSS. Soziale und individualistisohe Auffassung im 18. Jahrhundert.
vomehmlieh bei Ad. Smith und Ad. Ferguson. Ein Beitrag zur Geschichte der
Sofldologie. Von Hm. Huth. XV, 160 pp. 4,40 M. — 8. Nr. 2106.
Bamiort, M« W., Chr. W. Dohm, der Gegner der Physiokratie und
seine Thesen. Berlin 1908. 8^ 143 pp. 3 M.
Btfuüatlan, M«, Studien zur Theorie und Geschichte der Wirtschafts-
krisen. 1. und 11. München 1907. 8®. UM.
Inhalt: I. Wirtschaftskrisen und Überkapitalisation. Eine Untersuchung
Aber die Ersohe nungsformen und Ursachen der periodischen Wirtschaftskrisen.
VII, 188 pp. 4M. — il. Geschichte der Handelskrisen in England im Zusammen-
hang mit der Entwicklung des englischen Wirtschaftslebens 1640—1840. III,
nt pp. 7 M.
Tncco, A* M., 11 governo economico intemazionale (la dottrina
utilitaria): teorica delle Hallesint. 2 vol. Milano 1907. 16^.
:J56, 873 pp. 9 M.
Arton^ Lora, The History of Freedom and other Essays. London
1907. 8«. 678 pp. 13,50 M.
Bfwe. J« A«, Medieval and modern History: its formative Causes
and broad Movements. London 1907. 8®. 525 pp. 13,50 M.
VI. Religionsphilosophie und Theosophie.
^mbel, K*9 Vernunft und Gottesgedanke. Ein Beitrag zur Apologetik.
Gießen 1907. S^. 188 pp. 3,60 M.
iinal. A«, La Philosophie religieuse de Charles Benouvier. Paris
1907. 8». 335 pp. 7,50 M.
d^Ercole* A., Cristianesimo e suo evo: idee religiöse. Napoli 1907.
X^ 304 pp. 10 M.
Tallot, T., La religion de la solidarite. Paris 1907. lö®. VII, 367 pp.
3,50 M.
Sevllard, H. H., Early Christian Ethics in the West: from Clement
to Ambrose. London 1907. 8®. 308 pp. 7,20 M.
Watson, J., The philosophical Basis of Iteligion. Glasgow 1907. 8^'.
■>14 pp. 11,50 M.
VII. Naturphilosophie.
T. Hartmantis, Ed., System der Philosophie im Grundriß. II. Bd.
Grundriß der Naturphilosophie. Sachsa 1907. 8«. VIII, 220 pp,
S. Kr. 1619. 6,50 M.
BeD^ret, Gh., Les transformations du monde animal. Paris 1907.
8». 3,50 M.
lAmarek, J«, Philosophie zoologique. Paris 1907. 8^. 2 M.
Snssell, W., Medical Philosophy. London 1907. 8«. 10,15 M.
Störrinsr« 0*« Mental Pathology in its Itelation to normal Ps\xho-
logy. London 1907. 8«. 308 pp. 12,50 M.
Boveke, Ew« A*^ Goethes Weltanschauung auf historischer Grund-
lage. Ein Beitrag zur Geschichte der dynamischen Denkrichtung
und Gegensatzlehre. Stuttgart 1907. S^. XXI, 459 pp. 8 M.
Kassowitz, ' Mx., Welt — Leben — Seele. Ein System der Natur-
philosophie in gemeinfaßlicher Darstellung. Wien 1908. 8®. III,
^ pp. 5 M.
T. d. Prordten, 0., Vorfragen der Naturphilosophie. Heidelberg 1907.
8«. ni, 145 pp. 3,80 M.
192 Bibliographie.
VIII. Allgemeine PAdagogik.
Hall. 6. S«, Youth, its Education, Begimen and Hygiene. Liondon
mi. 8^ 390 pp. 8 M.
Meumann, E., Vorlesungen zur Einführung in die e^erimentelle
Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen. I. Bd. Lieipzig'
1907. 8^. XVin, 555 pp. TM.
Hom, Ew., Das höhere Schulwesen der Staaten Europas. £ine Zu-
sammenstellung der Stundenpläne. Berlin 1907. 8®. yill,209pp. 6M.
Keatlnge, M« W«, Suggestion in Education. London 1907. - 8^
210 pp. 6 M.
Chancelfor , W« E«, A Theory of Motives, Ideals and Yalues in
Education. Boston 1907. 8*. 13, 534 pp. 10 M.
Menmaiiii , E«, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle
Pädagogik und ihre psychologischen Grundlagen. II. Bd. Lieipzig
1907. b\ Vin, 467 pp. 6 M.
Scherer, H., Führer durch die Strömungen auf dem Gebiete der
Pädagogik und ihrer Hilfswissenschaften, zugleich ein Ratgeber
für Lehrer und Schulheamte hei der Einrichtung von Bibliotheken.
3. u. 4. Heft. Geschichtsunterricht. Leipzig 1^. 8^ VIII, 168
und VIII, 207 pp. Je 2 M.
Altenbnrg.
Pierenche Hofbuchdmckerei
Stephan Geibel & Co.
iS#^^v#^^^#^^^#^«^^^^^«^^#^^^^^#^^<lf««^^^^^^#«
Zur Theorie der ästhettschen Elementarerscheinangen,
Von Dr. Richard Mfiller-Freienfels, Berlin.
2. Artikel.
Inhalt s. 1. Heft S. 95.
U. Konsonanzerscheinuiigreii.
1. Die Musik der primitiven Völker ist in erster Linie
rhythmisch. Melodik und Harmonie treten Verhältnis-
maßig, besonders im Vergleich zu der Musik der heutigen
Kulturvölker, sehr zurück und sind wenig entwickelt.
Die Form des Lärmmachens, des Schreiens, Singens,
Brüllens usw. scheint für jeden tierischen Organismus neben
der Form des Gliederbewegens , Hüpfens usw. die nächst-
liegendste Art der Entladung innerer Spannungen zu sein.
Eine Freude am Lärmmachen kann man schon bei Kindern im
firühsten Alter bemerken. Aber auch bei Erwachsenen ist
häufig eine große Freude am bloßen Radau zu erkennen,
auch alle diejenigen, die ganz unmusikalisch sind, die nicht
das geringste Gehör für den Unterschied von Tonhöhe
haben, ja denen sogar das Rhythmusgefühl fast ganz zu
fehlen scheint, können dennoch die Musik, wie man scherz-
weise zu sagen pflegt, als angenehmes Geräusch empfinden.
Auch Gurney') konstatiert einmal, daß auch solche Per-
sonen , die man ganz unmusikalisch nennt , denen es un-
möglich ist, die geringste Melodie zu behalten, dennoch
das lebhafteste Vergnügen empfinden können, wenn die
Töne in großen Massen das Ohr durchbrausen.
Das primitivste Instrument dafür ist die menschliche
Stimme. So überwiegt auch noch bei den Völkern der
') GüBNEY, Power of sound, S. 306.
Tierteljahrasohrift f. wissenschaftl. Philos. u. Soziol. XXXII. 2. 13
194* Kichard Mttller-Freienfels:
Tintersten Eulturstofe durchaus die Vokalmusik über die
durch Instrumente erzeugte. Das Wertmaß ftir diese Musik
ist durchaus die Stärke*). „Je läuter desto schöner" ist
das ästhetische Prinzip, nach welchem der primitive Mensch
urteüt, und schließlich kann man ja diese Normierung bis
auf eine Kulturstufe verfolgen, die sich hoch erhaben über
die der Jäger und Nomadenvölker dünkt. Im Rhythmus,
dessen allgemeine Verbreitung durch die Verbindung der
Musik mit dem Tanze begünstigt wurde, so daß also
motorischer und akustischer Rhythmus sich unterstützten,
tritt das erste „Maß" in den rohen, ungeordneten Ausdrucks-
lärm, in welchem sich die inneren Zustände des primitiven
Menschen zu befreien strebten. Der Rhythmus ist, um uns
einmal der Terminologie Nietzsches zu bedienen, das erste
apollinische Element, das zu dem dionysischen Lärm trat.
Es handelt sich nun darum zu verstehen, wie das zweite
„Formelement", die qualitative Ordnung der Töne sich
entwickelte, wie sich aus dem rhythmischen „Lärmspielen"
die Melodie und Harmonie heraus entwickelten, und auch
hier wie schon beim Rhythmus haben wir zwei verschiedene
Gründe zu suchen, einmal solche, die in der Erzeugung
der Musik liegen und femer solche, die in den aufnehmenden
Organen zu suchen sind. Und auch hier erscheinen die in
der Ton erzeug ung liegenden Ursachen als die primären.
Denn die Entwicklung wird so vor sich gegangen sein, daß
die Harmonien usw. darum dem Ohre gefielen, weil sie
durch die Erzeugung von Tönen gegeben waren, nicht etwa
so, daß man darum auf den Gedanken gekommen sei,
Harmonie zu erzeugen, weil sie den akustischen Organen
gemäß waren. Freilich hätte wohl die Gewohnheit allein
nie ausgereicht, für sich eine solche Entwicklung der Ton-
kunst zu bedingen, und so müssen wir annehmen, daß auch
die Veranlagung der sensorischen Organe der Entwicklung
des Harmoniesystems entgegenkam. Zunächst aber ist jeden-
falls die Erzeugung der Töne zu betrachten und zu
') Vgl. hierzu Wallaschek, Anfänge der Tonkunst.
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 195
untersucheii , wie das Ohr überhaupt zuerst dazu kam,
Harmonien zu vernehmen, da die Natur solche nirgends zu
bieten hat.
2. Harmonie und Melodik waren voi^gebildet in den
klangerzeugenden Instrumenten, die zur Verwendung
kamen« Man braucht nicht anzunehmen, daß von vornherein
der primitive Mensch den Blas- und Saiteninstrumenten darum
den Vorzug gab vor anderen Lärmapparaten, weil dort die
Obertöne reiner gewesen seien und sie seinem Harmonie-
gefilhle entgegengekonmien wären. Den Qrund für die Be-
vorzugung der Instrumente, die später die Entwicklung der
Tonkunst förderten, kann in erster Linie auf praktischem
Gebiete gesucht werden. Die menschliche Stimme war das
nächstliegende Instrument und leistete besonders bei an-
gehaltenen Tönen schon recht gute Dienste für die Er-
Zeugung von Lärm mxd Klang, mochte dieser nun praktischen
Zwecken, wie Wamungsrufen und Signalen, oder rein
ästhetischen Bedürfhissen, d. h. der Entladung innerer
SpannTingen dienen. Ebenso sind auch die klangerzeugenden
lustruniente (man faßt ja die Instrumente überhaupt jetzt
gern als Erweiterung unserer Organe) im Erzeugen von
starken, lang anhaltenden Tönen solchen Apparaten, die
bloße Geräusche hervorbringen, bedeutend überlegen. Ihre
Töne dringen weiter und sind leichter zu erkennen als die
bloßen Geräusche. Man konnte unmöglich mit Klappern
oder Kastagnetten so lange anhaltende Töne hervorbringen
als mittelst der Instrumente, welche wirkliche Klänge er-
zeugten. Es lag in der Natur der Sache, daß die Klänge vor den
Geräuschen einen großen Vorzug hatten, dort wo es sich
wie in der Kunst, um eine Reizung der Gehörsnerven
handelte, die einen äußeren Zweck nicht verfolgte. Neben
diesen positiven Vorzügen der größeren Intensität und
Dauer hatten die Klänge und die sie erzeugenden Instrumente
vor den Geräuschen und geräuschliefernden Lärmapparaten
den anderen Vorzug, der mehr negativer Natur ist: es
ließen sich bei den Klängen viel leichter alle jene Reizungen
des Ohres ausschalten, die wie Kratzen, Schrillen usw. bloß
13 ♦
196 Rioliard MüUer-Freienfels:
unlustvoU vermerkt werden, was seinen Grund in der un-
gleichmäßigen Affizierung der Gehörsnerven hat. Aus rein
äußeren Gründen also kamen für die Lärmspiele schon die
klangerzeugenden Instrumente mehr in Betracht als die
bloßen Geräuschapparate.
3. Dazu kam, daß man bald bemerken mußte, daß die
klangerzeugenden Instrumente, also die spezifisch
musikalischen noch die qualitative Variation, die
Änderung der Tonhöhe zuließen, außer den beiden
anderen Eigenschaften, die auch den Geräuschen zukamen^
der Intensität und der Dauer.
Das hatte ebenfaUs seine praktischen Vorzüge, denn für
Signale usw. konnte also größere Mannigfaltigkeit erzielt
werden, im Reigentanz die einzelnen Touren auch rein
akustisch voneinander getrennt werden. Vor allem aber
die rein ästhetischen Vorzüge der größeren Mannigfaltigkeit
mußte den Ausschlag für die Bevorzugung der „Ton-
instrumente" vor den bloßen Geräuschinstrumenten geben.
Und mit der Änderung der Tonhöhe beginnt doch eigentlich
erst die Musik in unserem Sinne. Nun finden wir aber,
daß bei allen Völkern, bei denen überhaupt eine feste Art
der Melodiebildung beobachtet worden ist, diese eine ganz
bestimmte Form hat, die sich ganz unabhängig von fremden
Einflüssen überall autochton entwickelt haben muß. Es
handelt sich nicht um ausgebildete Tonskalen in unserem
Sinne bei den primitiven Völkern, aber gewisse Stufen, die
Oktaven, Quinten usw. finden sich sowohl bei Negern wie
Asiaten und Europäern, und es müssen also sich Gründe
erkennen lassen für diese Parallelität der Entwicklung bei
den verschiedenen Völkern.
Es gilt nun zunächst auch hier einem Vorurteil ent-
gegenzutreten, das noch inmier in weiten Kreisen herrscht,
nämlich dem, daß die Musik in ihren niederen Formen nur
eine Melodik, aber keine Harmonien kenne. In der Tat ist
ja die Melodik bedeutend entwickelter (der Grund hierfür
wird später besprochen werden), trotzdem fehlen den
primitiven Völkern die Harmonien und der Sinn für Ak-
Zur Theorie der flsthetischen Elementarerscheinungen. 197
korde dnrchaiis nicht. Es ist ein Irrtum, daß die Harmonie
eine moderne europäische Erfindung sei. Auch die Griechen
hatten, wie Westphahl bereits nachgewiesen hat, wenigstens
in der Begleitung Akkorde. Wenn auch die Melodiebüdtmg
sich im einzelnen anders entwickelt hat als die unsrige und
eine latente Harmonie nicht vorhanden war wie bei unseren
Melodien.
Besonders Wallaschek^) und der Amerikaner Fillmore
haben sich, bemüht, auch bei den Naturvölkern, den Sinn
für Hamionie nachzuweisen und mannigfaches Material ge-
sammelt. So wird schon aus sehr früher Zeit von den
Hottentoten berichtet, daß sie ihre Gomgoms harmonisch
zusammenstimmten, und daß sie die Töne des Dreiklangs
von oben nach unten zur tieferen Oktave zusammensangen,
und zTwar so, daß jeder mit dem ersten Tone begann, wenn
sein Vorgänger bereits auf dem zweiten und dritten Tone
4aigelangt war. Femer wird von den Betschuanas, von den
Negern in Sierra Leone, von den Aschantis und vielen
anderen Völkern berichtet, daß sie zwei- und mehrstimmig
singen, und es ist durchaus nicht angängig, überall, wo man
derartiges wahrgenommen hat , europäischen Einfluß an-
zunehmen. Fillmore hat eine große Anzahl von Melodien
der Omahaindianer gesammelt und sie selbst nach europäischer
Weise mit Harmonien versehen. Als er sie den Indianern
vorspielte, erzielte er durchaus ihren Beifall, ja die Melodien
mit der Begleitung gefielen den Eingeborenen sogar besser
als ohne die Harmonien. Nach alledem kann man wohl an-
nehmen , daß der . Sinn für Harmonie durchaus nicht bloß
als miodem europäische Kulturerrungenschaft aufzufassen
ist, sondern daß er sich wenigstens „latent", wie man das
genannt hat, auch bei solchen Völkern findet, die in praxi
kein Harmoniesystem ausgearbeitet haben und in der Regel
nur einstimmig singen.
') Wallaschek, Anfänge der Tonkunst, S. 157 f. — Fletscher,
La Fl^chk und Tillmork, A Study of Omaha Indian Music. Papers
of Peabody Museum I, 5. Vgl. dazu Wallaschek, Musikalische Er-
gebnisse des Studiums der Ethnologie. Globus LXVIII, S. 95 f.
198 Richard Müller-Freienfels:
4. Es gilt nun, den Sinn für Harmonie in der
Entwicklung zu begreifen, als notwendiges
Produkt einmal aus dem Einfluß der In-
strumente, zweitens aber aus der Beschaffen-
heit der menschlichen Gehörsorgane.
Die primitivste Musik, die wir kennen (wirklich primitive
Kirnst, so daß wir sagen könnten, sie sei ganz sicher nicht
das Ergebnis einer schon lange vorausgegangenen Ent-
wicklung, gibt es in der Musik ebensowenig wie auf dem
Grebiete der bildenden Kunst oder der Poesie) scheint nach
den Beschreibungen der Reisenden, wenn man diese An-
gaben von europäischen Vorurteilen und Voreingenommen-
heiten säubert, die zu sein, die in einem allmählichen Senken
der Stimme von einem angegebenen Ton zu etwa der tieferen
Oktave bestehen. Das Ganze scheint sehr roh aufzufassen
zu sein, nur in einem Herabsteigen von einer Tonhöhe zu
einer tieferen unter allerlei rhythmischen Abwechslungen.
Irgendwelche Tonstufen werden nicht eingehalten. Was in
den europäischen Aufzeichnungen als chromatisch erscheint,
mögen in Wirklichkeit nur Viertelstöne und schlechte In-
tonationen sein*). Vielleicht braucht man noch nicht ein-
mal anzunehmen, wie Gbosse tut, daß das Sinken der Stimme
beabsichtigt war. Es kann vielleicht auch einfach als un-
beabsichtigtes Detonieren gefaßt werden, da die Kraft
nachließ. Hierzu würde auch die Schilderung Brownes*)
stimmen, der von den Australiern berichtet, daß sie ihren
Gesang laut und schriU einsetzen und allmählich ihre Stimme
bis zum äußersten Piano sinken lassen. Auch dieses De-
crescendo braucht nicht ursprünglich beabsichtigt zu sein,,
sondern mag nur eine konventionell gewordene Form sein,
die sich aus einer ursprünglichen Notwendigkeit ergab. Aus
der Not ist eine Gewohnheit geworden, und aus dieser wieder^
wie das so oft geschieht, eine Tugend. Es handelte sich
wohl um ein ursprünglich ganz formloses Singen. Da»
') Gbo88e, Anfänge der Kunst, S. 272. Waitjs-Gkbland , Anthro-
pologie der Natiirvölker VI, 752 ff.
Zur Theorie der ftsthetischen Elementarerscliemiingen. 199
allmähliche Decrescendo und das Sinken der Stimme erklärt
sich als die einfache äufiere Unmöglichkeit, den Ton in
derselben Stärke nnd auf derselben Höhe zu erhalten, da
der Atem zuletzt fehlen mußte.
5. Es ist nun noch die Frage zu erörtern, wie man
überhaupt dazu kam, statt einer vollkommen beliebigen
Tonerzengung feste Formen einzuführen, die Frage nach den
psychologischen Vorzügen der festen Melodie.
Auf den ersten Blick möchte es scheinen, daß die Fest-
haltnng bestimmter Formen eine intellektuelle Anstrengung
erforderten, die dem sonst hier überaU vertretenen Prinzip
vom kleinsten Eraftmaße widerspräche. Das Gegenteil ist
jedoch der FalL Es ist leichter, eine einmal geprägte und
oft gehörte Melodie nachzusingen, als eine völlig neue zu
erfinden. Die Aneignung einer "Weise geht unwillkürlich,
ohne Inanspruchnahme des Intellektes, vonstatten. Dazu
kommt noch eine bedeutende Steigenmg des Lustwertes
der Melodie, die man oftmals hört, gegenüber der neuen;
einmal durch die Gewöhnung, die die Aufnahme erleichtert,
dann aber auch durch die Freude des "Wiedererkennens.
Gterade solche Melodien, die nur ganz gebräuchliche Inter-
valle und bequeme Rhythmen verwenden, gefallen dem
naiven Menschen am meisten. An jede Neuerung muß man
sich erst gewöhnen, das heißt die G^hörsorgane und das
Gtehim passen sich an, die ursprünglich schwierige Auf-
gabe des Aufnehmens wird immer leichter, schUeßlich wird
die an&nglich anstrengende Tätigkeit zu einer leichten, be-
quemen, adäquaten Beschäftigung der Organe, worin eben
aUe primitive Wirkung der Kunst besteht. Auch die Wieder-
kennbarkeit mußte einen großen Vorzug der festen Melodie
g^enüber der willkürlichen Tonreihe bedeuten. "Wie stark
die Freude des Wiedererkennens bei naiven Menschen ist,
kann man in jeder Opemaufiührung beobachten, wo jede
bekannte Arie immer besondere Freude und starken Beifall
erweckt.
Dasselbe, was für ganze Melodien gilt, trifil auch für
die einzelnen Intervalle zu. Hatte man feststehende, ge-
200 Eichard Müller-Freienfels:
bräuchliche Formen, so mußten diese infolge der Gewöhnung
an und für sich, auch ohne daß die Konsonanz aufeinander-
folgender Töne mitwirkte, größere Lustwerte erregen als
vollkommen willkürliche Sprünge.
Die Entstehung der festen Tonstufen ist nun
natürlich . sehr aJImählich vor sich gegangen. Bei vielen
Völkern findet noch heute ein derartiges Schwanken und solche
Unsicherheit statt, daß die Meinung entstehen konnte, diese
Völker verwendeten Drittel- und Viertelstöne in ihrer Musik.
Neuere Forscher, besonders Wallaschek, haben dem freilich
sehr widersprochen und fahren alles auf unreine Intonation
und Falschsingen zurück. Wirklich durchgebildete Ton-
skalen in unserem Sinne finden sich aber bei primitiven
Völkern überhaupt kaum. Nur gewisse Grundzüge sind
überall da, so besonders die Festlegung der am stärksten
konsonierenden Intervalle, der Oktaven und Quinten. Diese
Formen finden sich überall. Die Abstufung im weiteren
jedoch schwankt und ist bei den verschiedenen Völkern
abweichend. So sollen z. B. die Siamesen die Oktave in
sieben gleichgroße Stufen abteilen. Während für Oktave
und Quinte, die ausgesprochenen Konsonanzen, das überall
gleiche natürliche Gefahl für Konsonanz, das durch die
Instrumente entwickelt wurde, maßgebend war, ist für die
Feststellimg der kleineren Intervalle häufig der Zufall und
die Spekulation entscheidend geworden. Durch solches zu-
falliges Falschangeben der Terz will Wallaschek z. B. die
Dur- und Molltonleitem erklären, worin ihm freilich von
anderer Seite widersprochen ist. Um eine rein spekulative
Sache scheint es sich bei der Musik der Chinesen zu handeln.
Das Resultat dieser Spekulation weicht von imserem Ton-
system so ab, daß die europäische Musik für Chinesen nur
ein sinnloser Lärm ist, und auch umgekehrt verhält es sich
nicht besser. Das aber scheint bei allen Völkern gleich zu
sein, daß die wichtigsten Stufen der Skala Oktave und
Quinte sind, d. h. die beiden reinsten Konsonanzen. Die
Konsonanz ist also das Hauptprinzip, das überall bis zu
einem gewissen Grade gleich war, auch für die Melodie,
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 201
Auch die Melodie setzt also den Sinn für Konsonanz
voraus, ebenso wie die Harmonie, Daß dieser Sinn für
Konsonanz aber überhaupt sich ausbilden konnte, setzte das
Vorhandensein konsonierender Töne voraus. Diese aber
bildeten sich ohne Willen der Spielenden auf den In-
stnunenten.
6. Harmonien mußten nach der Natur der Instrumente,
ohne das Dazutun der Spielenden überall entstehen. So
zunächst beim einfachsten Instrumente, der menschlichen
Stiimne. Wenn eine Männer- und eine Frauenstimme zu-
sammensangen, denselben Ton angeben wollten, so gerieten
sie in die Oktave *). Bloß durch irrtümliches Angeben mag
auch oft genug die Quinte intoniert worden sein, da die
SiUMPFschen Versuche, auf die noch ausführlich zurück-
zukommen sein wird, erwiesen haben, daß zwei in Quinten
gestimmte Töne sehr oft für einen gehalten werden.
Ebenso mußten bei den Blasinstrumenten bloß durch
Terschieden starkes Anblasen die Oktave und in größerer
Höhe die Quinte miterklingen.
Dazu kommt, daß fast überall frühzeitig die mathe-
matischen. Verhältnisse bei Flöten und Saiteninstrumenten
beobachtet wurden. Sowohl von Griechen wie Chinesen
wird berichtet, daß sie diese Verhältnisse mit metaphysischen
Spekulationen in Beziehung brachten. Auch die auf den
Saiteninstrumenten zu beobachtenden Flageolettöne mußten
die besondere Stellung der Oktave, der Quinte und der
anderen Konsonanzen hervortreten lassen.
So mußte das Ohr, lange ehe man bewußt daran ging,
Akkorde und Harmonien hervorzubringen, bloß durch die
Praxis daran gewöhnt werden, vielleicht ohne daß es die
Spielenden merkten, Akkorde und Harmonien wahrzunehmen.
Mit der Gewöhnung an die komplizierteren Formen der
Hänge mußte aber zugleich eine Abstumpfung gegen die
') Hackbl berichtet von einer in Indien vorkommenden Art der
Menschenaffen, daß sie in ganz reinen Oktaven zusammenheulten.
(Zitiert nach Dessoir, Ästhetä und Allgem. Kunstwissenschaft.)
202 Richard Müller-Freienfels:
einfacheren parallel gehen« Das Ohr lernte cdlmählich die
zusammengesetzten Tongebilde ebenso leicht auffassen wie
die einzelnen, und da sie ihm eine voUkommnere Reizung
bei ebenso geringer Anstrengung leisteten, so kam es dazu,
diesen den Vo^ vor den^achen zu geben. Beispiele
hierfür bringen wir im weiteren Verlaufe der Unter-
suchung.
7. Mag sich auch immerhin die Tonskala aas den
Instrumenten ableiten lassen, die Eonsonanzerscheinungen
als solche sind damit nicht erklärt. Es handelt sich hierbei
um die Aufsuchung eines Prinzips für die sensorische u
Organe. Da alle Theorien, die den Grund für Konsonanz
und Dissonanz in unbewußten Funktionen oder in Gefühlen
suchten, entweder überhaupt nicht leisteten, was sie leisten
wollten oder aber der Kritik nicht standhielten, so blieb
nur übrig, in den Tonempfindungen selbst den Unterschied
zwischen konsonanten und dissonanten Tönen zu suchen. Die
früheren Theorien derart, wie Helbiholtz sie angestellt hat,
befriedigen auch nicht, weder diejenige, die das Wesen der
Konsonanz im Zusammenfallen der begleitenden Obertöne,
noch diejenige, die sie im Wegfallen der Schwebungen sieht.
Die einzige Theorie, die wirklich das Problem dort sucht,
wo es gesucht werden mufi, nämlich in den Tönen selber,
ist die Verschmelzungstheorie von SruBfPF.
„Der Zusammenklang zweier Töne nähert sich bald
mehr, bald weniger dem Eindruck eines Tones, und es zeigt
sich, daß dies um so mehr der Fall ist, je konsonanter das
Intervall ist. Auch dann, wenn wir die Töne als zwei er-
kennen und auseinander halten, bilden sie doch ein Ganzes
in der Empfindung, und dies Ganze erscheint uns bald mehr,
bald weniger einheitlich. Wir finden diese Eigenschaft bei
einfachen Tönen ebenso wie bei Klängen mit Obertönen.
Daß die Oktave dem wirklichen Unisono ähnlich klingt,
auch wenn wir deutlich zwei Töne darin unterscheiden
können, ist allzeit anerkannt worden, obschon es nicht
weniger als selbstverständlich, sondern eine höchst merk-
würdige Tatsache ist. Dieselbe Eigenschaft kehrt aber in
Zur Theorie der ästhetischen Element-arerscheinungen. 203
abgeschwächter "Weise auch bei Quinten und Quarten, ja
bei Terzen und Sexten wieder" *).
Durch Versuche bei unmusikahschen Leuten hat nun
Stukpf den umstand zahlenmäßig zu erhärten gesucht, daß
zwei Töne um so öfter für einen gehalten werden, je mehr
sie konsonieren* Ich gebe hier die folgenden Tabellen wieder.
Oktave Quinte Quarte gr. Terz Tritonus gr. Sekunde
76 22 — 5 — —
76 62 36 80 15 9
— 56 40 28 23 —
Dies sind die Prozentzahlen der falschen urteile. Es
wurden also z. B. Oktaven unter 100 Fällen 76 mal fiir
einen Ton erklärt.
Das Ergebnis, das auch von anderer Seite nachgeprüft
worden ist, was zu ähnlichen Resultaten geführt hat, kann
als ziemlich feststehend anerkannt werden.
Freilich ist damit noch lange nicht alles erklärt, und
Stumpf selber hat sich bemüht, noch weiter vorzudringen.
Ein „Ähnlichkeits Verhältnis'' zu konstruieren, das ein anderes
ist als das durch die Reihenfolge der Töne gegebene, er-
scheint ihm selber nicht ratsam, dafür aber hat er nach
einer physiologischen Erklärung gesucht. Er nimmt an,
daß beim gleichzeitigen Erklingen (oder bloßen Vorstellen
zweier Töne, die ein relativ einfaches Schwingvmgsverhältnis
zueinander haben, im Gehirn zwei Prozesse stattfinden, die
in einer engeren Verknüpfung miteinander stehen, als wenn
weniger einfache Schwingungsverhältnisse vorliegen. Diese
besondere Verknüpfungsform bezeichnet er als spezifische
Synergie.
Man mag sich zu dieser Hypothese stellen wie man
will, das jedenfalls ist unbedingt daraus zu entnehmen, daß
es bei der Konsonanz auf die größtmögliche Einfach-
heit des Nervenprozesses ankommt, und hier nun '
setzen wir mit unserem Prinzip ein und sagen: Kon-
M VgL Stumpf, Beiträge zur Akustik und Musikwissenschaft.
I. Heft: Xonsonanz und Dissonanz, S. 85. Ferner Tonpsychologie,
Bd. I, „Neueres über Tonverschmelzung", Zeitschrift für Psychol.,
XV, 180 f.
204 Richard Müller-Freienfels:
sonanzen sind solche Reizungen der Gehörs-
nerven und ihrer zentralen Systeme, welche die
größtmögliche Tätigkeit der Organe bei mög-
lichst geringem Kraftaufwand ermöglichen. Aus
demselben Grunde wurden bereits die einfachen Töne ge-
schätzt und den Geräuschen vorgezogen, welche immer eine
übermäßige Inanspruchnahme einzelner Teile der Gehörs-
organe mit sich brachten.
8. Ehe wir jedoch in die genauere Begründung dieser
Auffassung übergehen, bleibt das Verhältnis von Kon-
sonanz und Lustgefühl, ebenso das von Dissonanz und
Unlustgefühl zu erörtern. So einfach, daß man konsonierende
Töne ohne weiteres als angenehme, dissonierende als un-
angenehme definieren kann, liegt die Sache nicht. Die
allereinfachsten Tatsachen der Musikgeschichte lehren das
Gegenteil. In der griechischen Musik galt als die unbedingt
schönste Konsonanz die Oktave, die wir heute kaum mehr
mit sonderlichen Lustgefühlen bewerten. Im Mittelalter
hielt man die Quinte lange für besonders ausgezeichnet,
und erst ganz allmählich entschloß man sich, auch die Terz
als Konsonanz gelten zu lassen. Daneben sind aber die
Dissonanzen durchaus nicht ohne weiteres als unangenehme
Zusammenklänge zu bezeichnen. Die Erfahrung lehrt, daß
die Gewohnheit hier sehr viel tut, daß eine zuerst un-
erträgliche Dissonanz später einem unentbehrlich werden
kann. Überblickt man die neueste Musikgeschichte nur in
den allergröbsten Linien, so fallt bereits ins Auge, wie hier
eine Entwicklung stattgefunden hat. Schon als Mozakt
auftrat, warf man ihm seine Dissonanzen vor. Dieselben
Leute aber, die an seiner Musik erzogen waren, daß sie den
früheren Beethoven noch genießen konnten, vermochten sich
die Harmoniefiihrung in des Meisters letzten Werken nur
mit seiner Taubheit zu erklären. Von Rossinis Musik schrieb
der gute W. H. Riehl, das sei das non plus ultra an ge-
wagten Akkorden ! Man höre heutzutage Rossini ! Und dann
kam Wagner, imd nach ihm kamen Richakd Strauss und Max
Reger, und werden vielleicht noch andere kommen, mit
Zur Theorie der ästhetisclien Elementarerscheinungen. 205
deren Akkorden verglichen uns die Dissonanzen im „Helden-
leben" als harmlos erscheinen dürften. Wie mit der Harmonie
war es genau mit der Melodie. Nur die zwischen Tonika
und Dominante sich bewegende, diatonisch geführte Melodie
erscheint dem einfachen Gemüte als Melodie. Erst fort-
schreitende musikalische Bildung ermöglicht auch größere
und seltnere Intervalle in der Melodie als konsonant und
wohlgefällig empfinden zu können. „Melodie" , schreibt
Robert Schumann gelegentlich, „ist das Feldgeschrei der
Dillettanten und gewiß, eine Musik ohne Melodie ist gar
keine. Verstehe aber wohl, was jene darunter meinen:
eine leichtfaßliche, rhythmisch gefallige gilt ihnen allein
daför."
Denn das können wir deutlich erkennen; es findet
eine Verschiebung der Lustbewertung statt von
den ei nf ac her en Ko ns o nanz en zu den so-
genannten Dissonanzen hin, die aber in Wirklich-
keit nur weniger konsonant sind, nicht wesentlich,
sondern nur gradweise von den „eigentlichen** Konsonanzen
sich unterscheiden. In dieser Entwicklung stumpft sich das
Gefühl für die einfacheren Formen der Konsonanz ab.
Manche Akkorde, die früher als ausgesprochene Dissonanz
galten, wie z. B. der verminderte Septimenakkord, wirken
durchaus nicht unlustvoll auf den modernen Hörer. Daß
trotzdem unser Ohr bei Akkorden dieser Art noch immer nach
einer Auflösung „verlangt", hat wohl hauptsächlich seinen
Grund darin, daß wir gewohnt sind, in Musikstücken
die Lösung folgen zu hören. Konsonanz und Annehmlich-
keit der Akkorde sind also nicht zwei identische BegrijBTe.
Die Konsonanz ist ein mathematisch ausdrückbares Ver-
hältnis, das im Altertum durchaus dasselbe war wie heute,
aber die Bewertung der Konsonanz als lustvoll schreitet
voran. Das Ohr stumpft sich ab gegen die einfacheren
Konsonanzen und erlebt größere Lustgefühle bei den kom-
plizierteren.
9. Suchen wir also diese Ergebnisse in unserem Sinne
auszudeuten. Bei der trotz mannigfacher Theorien noch
206 Bichard Müller-Freienfela:
sehr mangelhafben Kenntnis der physiologischen Prozesse
bei den Qehörsempfindungen läßt sich nur gan^ allgemeines
aussagen. Für das Ohr des Menschen mufi ursprünglich der
einfache Klang mit ganz periodischen Schwingungen die
adäquateste Reizung gewesen sein. Es scheint, daß hier in
ganz kleinen Verhältnissen etwas ähnHches gilt, wie wir
das in größerem Maßstabe beim Rhythmus gefunden haben,
daß die in regelmäßigen Perioden ablaufende Reizung die-
jenige ist, die den Nerven am adäquatesten ist. Die Ge-
räusche, deren physischer Parallelvorgang unperiodische
Reizungen der Gehörsnerven sind, werden also aus dem-
selben Grunde nicht lustvoll bewertet, aus dem heraus ein
miregelmäßiger Rhythmus unangenehm empfunden wird.
Über die physiologischen Vorgänge im Ohre ist noch nichts
Bestimmtes zu entscheiden, da sowohl die HELMHOLTZsche
wie die EwALDsche Theorie durchaus nicht das leisten, was
wir brauchten.
Für uns ist die Hiiuptsache, daß ursprünglich der ein-
facheren Tätigkeit des Ohres das größere Lustgefühl ent-
sprach, daß dieses freilich im Laufe der Entwicklung sich
mehr und mehr den komplizierteren Formen der Reizungen
zuwandte. Hierher gehört z. B. auch der umstand, daß den
Griechen die obertonfreien Flötentöne als die schönsten er-
schienen, während für unsere schon entwickelteren Gehörs-
apparate der viel kompliziertere Geigenton schöner klingt
und wir die Saiteninstrumente am höchsten bewerten. Was
als die adäquateste Reizung der Gehörsnerven empfunden
wirkt, hängt also von der Entwicklungsstufe ab. Übergeht
man also die FäUe, wo infolge von Abstumpfung die Reize
überhaupt zu schwach bleiben, um Lustgefühle zu erwecken,
so werden wir sagen, daß wir diejenigen Klänge als be-
sonders angenehm bezeichnen, die unser Ohr in eine ad-
äquate Tätigkeit versetzen, ohne daß an die Auffassung aUza
starke Anforderungen gestellt werden. Denn man hat das
Bedürfnis, die dargebotenen Töne als Einheit zu erfassen,
kann dies nicht geschehen wegen allzu starker Dissonanz,
so tritt das Lustgefühl nicht ein. Es ist kein Widerspruch
Zur Theorie der ftstlietiscilen Elemeatarerscliemuiigen. 207
gegen das Prinzip der Ökonomie, wie wir es geformt haben,
daß zuweilen größere Anstrengungen gesucht werden, wenn
sie nur eine größere Siunme von Lustgefühlen versprechen.
Das ökonomische Prinzip gilt nicht sowohl für die absoluten
LeistfUDgen, als für das Verhältnis von Lustgefühl und auf-
gewandter Kraft. Diejenigen Erlebnisse oder Tätigkeiten
werden bevorzugt, die bei geringerem Aufwände das größere
Lustgefiihl erregen. Es können also wie in der Dissonanz
größere Ajaforderangen an die Gehörsapparate gestellt
werden, da im Laufe der Entwicklung die ganz einfachen
Harmonien nicht mehr recht wirken, der größere Mühe-
aufwand aber kompliziertere, stärkere Gefühle auslöst.
10. Für den hier zu bezeichnenden Entwicklungsgang
von Harmonie imd Melodik scheint sich nun eine Schwierig-
keit zu ergeben, die auch von Stumpf ausführlich berührt
worden ist. "Wenn nämlich das Harmoniegefühl aus der
Verschmelzung der Töne erklärt werden soll, so ist damit
einmal noch nicht die Konsonanz aufeinanderfolgender
Töne, anderseits aber auch nicht der Umstand erklärt, daß
die homophone Musik der polyphonen überall vorausging.
Die erste Schwierigkeit hat Stumpf^) folgendermaßen
beseitigt, indem er erstens darauf hinwies, daß die Ver-
schmelzung zweier Töne auch dann stattfindet, wenn wir
sie nur vorstellen, statt sie wirklich zu empfinden, zweitens
indenoL er die von Exner so genannten primären Gedächtnis-
bilder heranzog, d. h. den Umstand, daß jeder Empfindungs-
inhalt, nachdem die Empfindung selber vorüber ist, noch
eine Zeitlemg als Vorstellung im Bewußtsein bleibt. "Wie
auf anderem Gebiete durch diese primären Gedächtnisbilder
allein das Sehen von Bewegungen möglich wird, so er-
möglichen auch sie vor allem die Melodieempfindung, d. h.
die Verschmelzung des zweiten Tones mit dem vorher-
gegangenen ersten, der noch vorgestellt wird. Die Melodie
ist eben, wie schon Bameau sich geäußert haben soll, nur
eine auseinandeigezogene Harmonie.
^) A. a. O. S. 55 f.
208 Richard Müller-Freienfels:
Wichtiger für unseren Gedankengang ist hier der andere
Einwand, der mehr historischer und ethnographischer Art
ist, nämlioh, daß man eigentlich erwarten könne nach der
Theorie der Verschmelzung, daß die polyphone Musik der
homophonen vorausgehen müsse, während doch gerade das
umgekehrte der Fall ist.
Stumpf hat zur Beseitigung dieses Einwandes die Theorie
von Helmholtz herangezogen, daß man die Harmonie durch
das Zusammenfallen der Obertöne erklären könne, wonach
also der Übergang von einem zum anderen wohl leichter
hätte sein müssen. Doch ist mit dieser Lehre allein auch
wohl wenig gewonnen.
Wichtiger scheint die andere Bemerkung*), daß die
Musik von Anfang gar nicht harmonisch gewesen zu sein
braucht, daß erst allmählich die Entdeckung und Auswahl
der Intervalle, die in der Melodie gebraucht wurden, durch
Phänomene des gleichzeitigen Hörens veranlaßt wurden.
Wahrscheinlich ist der primitivste Gesang überhaupt
ohne feste Tonstufen gewesen (vgl. die oben zitierten Be-
obachtungen), sondern nur ein ganz willkürlicheis Variieren
der Qualität, wie wir es beim Vogelgesang noch heute be-
obachten. Eine feste Melodie entstand erst durch das
Fixieren der Tonstufen, und dieses wiederum geschah unter
dem Einfluß der Instrumente, worüber schon oben ge-
sprochen wurde. Auch Stumpf denkt sich die Entstehung
der festen Melodie so, daß sie zuerst auf Instrumenten her-
gestellt und dann erst durch den Gesang nachgeahmt wurde.
Freilich müßte man danach wohl annehmen, daß dann
die Oktaven und Quinten in den Melodien primitiver Völker
überwiegen müßten, weil sie die einfachere Konsonanz haben.
Dagegen zeigt eine einfache Betrachtung der uns über-
lieferten Melodien von Jägerstämmen usw., daß sie die
kleinen Intervalle doch bevorzugen. Den Grund hierfür sehe
ich in der Tonerzeugung. Es ist bedeutend bequemer
beim Singen oder Anblasen einer Flöte, die kleineren
») A a. 0. S. 60.
Zur Theorie der ästhetischeii Elementaxerscileinungen. 209
Intervalle zu erzeugen, weil der Wechsel der Stimmbänder
imd der Atemgebung hier viel einfacher ist. Ahnlich ist
es bei Saiteninstromenten , wo die Töne durch Ghdffe mit
der Hand variiert werden. Auch hier sind keine so großen
Sprünge vonnöten. Indem man auf den Instrumenten die
kleineren Intervalle, die nicht durch Naturtöne zu erzeugen
waren, herstellen wollte (durch Einbohren von Löchern in
die Knochenflöte), trat auch fiir die kleineren Intervalle
Temperierung ein, an welche sich allmählich die Vokalmusik
anpassen mußte.
Außerdem ist in Betracht zu ziehen, daß die Instrumente
primitiver Völker nicht entfernt den Tonumfang haben wie
unsere heutigen. Die Tonerzeugung hatte aber auf die
Bildung von Melodien schon aus dem Grunde einen viel
größeren Einfluß als das Lustgefühl, das das Hören be-
gleitete, weil der primitive Mensch eigentlich die Musik gar
nicht in erster Linie hört, sondern selbst macht, d. h., daß
das Hören etwas ganz Sekundäres ist und ein besonderes
Publikum erst spät in der Entwicklung auftritt. „Making
music", sagt Wallaschek *), „means in the primitive world
performing, not listening. In the most primitive concerts
an audience does not exist, all being performers." So er-
klärt es sich, daß nicht die am nächsten miteinander ver-
wandten, sondern die für den Erzeuger am nächsten
hegenden Intervalle in der primitivsten Musik dominieren.
Als hervorstechende positive Eigenschaften der primitiven
Melodien gibt Wundt *) die Vorliebe für Tonwiederholungen
und die relative Enge der Intervalle an, die im allgemeinen
unserer großen und kleinen Sekunde und der großen und
kleinen Terz entsprechen. Dazu käme noch offenbar sehr
frühe die Oktave. Trotzdem braucht man auch in diesem
Umstand keinen Einfluß des sensorischen Lustgefühls zu
sehen, denn die Oktave ist leicht zu erzeugen auf Flöten,
") R. Wallabchek, On the Difference of Time and Rhytkm in
Music. Mind 1895, S. 33.
*) Wundt, Völkerpsychologie II, S. 445.
YierteljAhrsflchriftf. wiMenschsftl.Philos. u. Soziol. XXXII. 2. 14
210 Bichard Müller-Freienfels:
Schabaieien usw. und spricht auch als Flageoletten leicht
bei Saiteninstrumenten an. Zudem erwähnt auch Wundt,
daß die Oktave meist beim Zusammensingen von Männer-
und Frauenstimmen gehört wird.
Wir können also durchaus annehmen, daß die Entstehung
der primitiven Melodien weit mehr durch die in der Er-
zeugung liegenden Qründe als durch das Lustgefühl beim
Anhören bedingt war.
Noch ein anderes Moment möchte ich zur Erklärung
der Priorität der Melodie vor der Harmonie heranziehen.
Stumpf hat diesen umstand an anderer Stelle behandelt,
rein negativ, ohne ihn für unseren Fall später heran-
zuziehen. Es ist dies der umstand, daß die Konsonanz
sogar stärker empfunden wird bei aufeinanderfolgenden
Tönen als bei gleichzeitigen. Man hat statistische Unter-
suchungen hierüber. So erfolgten 70 ®/o richtige Urteile bei
einer Vergrößerung der großen Terz um 2,18 Schwingungen,
wenn die Töne aufeinanderfolgten, dagegen erst bei einer
Vergrößerung um 5 Schwingungen, wenn sie gleichzeitig
waren. Ebenso erfolgten etwa 90®/o richtige Urteile bei
einer Verkleinerung der Oktave um 0,46 Schwingungen,
wenn die Töne aufeinanderfolgten, dagegen ebenso viele
erst bei einer Verkleinerung von 3,1 Schwingungen, wenn
sie gleichzeitig waren ^), Die Erklärung hierfür findet man
in der allgemeinen Tatsache, daß zwei Eindrücke, nicht nur
solche akustischer Art, iu jeder Hinsicht sich besser mit-
einander vergleichen lassen, wenn sie aufeinanderfolgen
oder durch eine ganz kurze Pause getrennt sind, als wenn
sie gleichzeitig sind Wie man bei gleichzeitigen Eindrücken,
falls man sie vergleichen will, oft gezwungen ist, sie in ihrer
Einwirkung abwechseln zu lassen, bald mehr auf das eine,
bald mehr auf das andere die Aufmerksamkeit zu leiten, so
ist auch offenbar die von unserem Hirn zu leistende Arbeit
geringer beim Aufeinanderfolgen von Tönen als beim Zu-
1) Stumpf a. a. O. S. 55 f. Tonpsychologie, Bd. I, S. 100, Bd. II,
S. 60—67.
Zur Theorie der ästhetisclieii ElementarenclieinuDgen. 211
Bammenklingen. Eine weitere ErkllUning dieser allgemeinen
Tatsache, deren auch Stumpf sich enthält, bratrcht hier
nicht gegeben zu werden. Es genügt festzustellen, daß die
Konsonanz bei aufeinanderfolgenden Tönen stärker emp-
fanden wird, daß also filr Erzeugung solcher Töne wie für
die Anfi:)ahme die Bedingungen günstiger lagen. Dadurch
wäre die raschere Entwicklung der Melodie zu erklären aus
der leichteren Erzeugung derselben, auch in der Reproduktion.
Denn es gehört schon eine sehr entwickelte musikalische
Phantasie dazu, um eine Harmonienfolge sich klar vor-
zustellen, während eine melodische Reihe sehr einfach vor-
zustellen ist.
In verschiedenster Hinsicht also sind ökonomische
Gi'ünde bestimmend fftr die Richtung der Entwicklung des
Hannoniegefiihls. Weil die Klänge und Töne leichter als
Geräusche sonor und dauernd zu erzeugen und leichter zu
unterscheiden sind, werden sie bevorzugt für die Hörspiele.
Nur mit den Tönen war eine feste Form zu bilden möglich.
Ökonomische Ursachen waren auch für Wahl und Aus-
gestaltung der Instrumente bedingend. Und die Be-
vorzugung fester Formen von Tonskalen und Melodien vor
willkürlichen Tonfolgen hat ebenfalls in solchen ökonomischen
Ursachen ihre Erklärung zu suchen. Auch die Bevorzugung
von Konsonanzen vor den Dissonanzen suchten wir auf
ökonomische Ursachen zurückzuführen, ohne jedoch eine
bestimmte Theorie für die physiologische Basierung an-
zunehmen. Denn die SiUMPFsche Lehre von den spezifischen
Synergien ist nur eine Hypothese, die zwar sehr wohl in
unserem Sinne auszudeuten und zu benutzen ist, die jedoch
durch die physiologische Spezialforschung erst des ge-
naueren fundiert werden muß. Endlich auch für die
Priorität der Konsonanz von sich folgenden Tönen vor der
simultanen Konsonanz fand sich eine Erklärung in der
größeren Leichtigkeit der Auffassung. — Die Konsonanz als
solche ist eine von allem Subjektiven loslösbare Erscheinung,
ihre lustvoUe Bewertung durch die menschlichen Organe
14*
212 Richard Moller-Freienfols:
jedoch £ndet Uire Erklämng am besten durch das Prinzip
der Ökonomie.
11. Obgleich die Erklärung der Konsonanz durch Ver-
schmelzung heute die plausibelste zu sein scheint, soll hier
noch kurz eine andere Theorie gestreift werden, die jener
gegenübersteht. Auch wenn man sich der letzten anschlieiJen
sollte , würde unsere Theorie , daß die Verwendung kon-
sonierender Töne die ökonomischste Form der Betätigung
der Gehörsorgane ist, ihre Geltung behalten. Jene zweite
Erklärung der Konsonanz, die ihren Hauptvertreter in
Th. Lipps *) gefunden hat, sucht die einfacheren und weniger
einfachen Schwingungsverhältnisse zwischen einfachen Tönen
zum Grund aller Harmonie und Disharmonie zu machen.
Lipps geht dabei von der Tatsache aus, daß sehr tiefe ein-
fache Töne nicht in der Weise glatt und kontinuierlich ver-
laufend erscheinen wie höhere Töne und höchste, vielleicht
sind wir uns bei ihnen der den einzelnen Luftischwingungen
entsprechenden einzelnen Tonstöße mehr oder weniger
deutlich bewußt. Dieser Unterschied der einzelnen Tonstöße
muß aber — nach dieser Theorie — für die Seele auch bei
den höheren Lagen, wo wir kein Bewußtsein mehr haben,
dennoch irgendwie vorhanden sein. Denn da die tieferen
Töne, bei denen der Unterschied der Schwingungen bis ins
Bewußte hineinragt, allmählich in die höheren und höchsten
übergehen, so muß sich der Unterschied in den durch die
Töne erzeugten seelischen Erreß:ungen zwar allmählich in
minderem Grade bemerkbar machen; es ist aber nicht ein-
zusehen, wie er auf irgendeinem Punkte ganz aufhören
sollte, in dieselben hineinzuklingen. Indem er aber hinein-
klingt, klingt auch der Rhythmus, d. h. die langsamere oder
schnellere Art der regelmäßigen Aufeinanderfolge der
Schwingungen, in die Seele und ihre Erregungen hinein.
Da nun der Nervenreiz des Gehörsorganes durchaus als ein
Wechsel von Zuständen zu denken ist, und man femer an-
'j Th. Lipps, Psycholog. Studien, S. 92 ff. Vgl. Hohenkmskb, Zur
Theorie der Toubeziehuugen. Zeitschr. f. Psyah. u. Physiol. der
Sinnesorgane, Bd. XXVI, S. 61 ff.
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 213
nehmen muß , daß der in den Nerven stattfindende Be-
wegungsvorgang oder Wechsel von Zuständen dem Wechsel
von Zustanden, aus dem die objektive Bewegung besteht,
zwar nicht hinsichtlich seiner qualitativen Besonderheit
wohl aber hinsichtlich seines Rhythmus entspricht, so
muß auch dieser Rhythmus irgendwie in der seelischen Be-
wegung, in welche die Nervenreizung sich umsetzt, wieder-
kehren. Durch diese Rhythmen nun will diese Theorie
Harmonie und Disharmonie erklären. Wie es beim ge-
wöhnlichen, bewußten Rhythmus viel mehr Anstrengung er-
fordert, auf einen komplizierten Rhythmus mit Bewegungen
zu reagieren, so ist das, wie Lipps annimmt, auch für die
unbewußten Rhythmen der Fall. Es müssen sich die
Rhythmen der seelischen Erregungen, die den bewußten
Tonempfindungen zugrunde liegen, gegenseitig sich unter-
stützen, wenn sie in einfacher Weise sich ineinander ein-
ordnen und sich hemmen, wenn sie verschieden sind und
sich durchkreuzen. An diese Zusammenklänge heften sich
dann Lust und Unlust.
So ist die Anschauung von Lipps. Wenn wir diese mit
unserer auf das Ökonomieprinzip begründeten Theorie über
das Lustgefühl an der Konsonanz in Beziehung setzen
wollen, so würden wir sagen, daß die komplizierteren dieser
von Lipps angenommenen unbewußten Rhythmen eine bei
sonst gleicher Intensität der Empfindung viel größere
Inanspruchnahme der Nerven bedingen als regelmäßige
Rhythmen, daß also darum die konsonierenden Klänge dem
Nervensystem bedeutend adäquater sind, da sie bei ge-
rmgerem Kräfteverbrauch eine größere Summe von Erleben
vermitteln und darum von Lustgefühlen begleitet sind,
während, je unregelmäßiger der Rhythmus würde, die An-
strengung der Nerven wüchse und damit ein Unlustgefühl
erregt würde.
Immerhin jedoch ist die Annahme solcher Rhythmen
sehr hypothetisch Und die Verschmelzungstheorie bedeutend
vorzuziehen.
214 Richard Müller-Freieafels:
11. Es mögen auoh ein paar Worte im Anschluß hieran üher
den Gefühlswert der Melodie gesagt werden. Ich glaube, daß die
unmittelbare Wirkung auf das Gefühl fast allein vom
Rhythmus und den Intensitätswirkun^en ausgeht, daß
beinahe alle Wirkungen, die von den qualitativen Änderungen der Töne
auf das Gefühl ausgehen, assoziiert sind. ..Man hat oft darauf hin-
gewiesen, daß man dieselbe Tonf ol^e durch Änderung des Tempos aus
einer tieftraurigen in eine sonnenheitere übermütige Weise verwandeln
kann. Bei einem so konsequenten Vertreter dramatischer Musik wie
bei Gluck, der behauptete, jeder Melodie käme ein ganz bestimmter^
nicht übertragbarer Ausdruck zu, hat man elf Stücke ausfindig ge-
macht, deren Melodie in früheren Opern desselben Künstlers ganz
anderen Worten unterlegt war. Die Grundmelodie des hoch-,
tragischen Chores „0 malheureuse Iphig^nie** findet sich in der Oper
„Glemenza di Tito*^ mit dem Texte emes JJiebesliedes. Dieselbe Musik,
welche in der „Iphigenie en Tauride*' zur Trauerklage des Orest er-
klingt, dient dem Ausdruck freudiger Begrüßung in der „Iphigenie
in Aulis" ').
£s soll hier nicht in die Einzelheiten des Streites um den ,, Inhalt^
der Musik hineingeführt werden. Es soll nur eine Theorie kurz
skizziert werden, die zu erklären vermöchte, wie die Assoziationen
zustande kommen. Assoziativ ist es ja bereits, wenn im allgemeinen
die hohen Töne als heiter und hell, die tieferen als ernst und dunkel
bewertet werden. Assoziationen von Kinderstimmen im Vergleich
zu ernsten Männerstimmen mö^en hier mitwirken. Auch das iNoten-
bild mit seinen auf und absteigenden Formen mag hier mitgewirkt
haben. Wenigstens habe ich an mir solche optischen Assoziationen
sehr stark beobachtet.
Für die Assoziationen von g^ewissen Gefühlswerten jedoch an
bestimmte Tonfolgen möchte ich eme Theorie heranziehen, die so wie
sie ursprünglich gemeint war, wohl kaum aufrecht erhalten werden
kann, die jedoch in dieser beschränkten Anwendung sehr wohl zur
Geltung gebracht zu werden vermag. Ich meine die Theorie Herbert
Spencers über den Ursprung der Musik. Nach Spencer soll sich auch
die ganze absolute Musik aus dem rezitativischen Sprechen , dem
Steigen und Fallen der Stimme . in der erregten Rede entwickelt
haben. Ich glaube kaum, daß diese Lehre viel Anhänger hat, und
es scheint bedeutend wahrscheinlicher, daß sich die M^odie einfach
aus der Freude am Variieren der Tonhöhe entwickelt hat, wie wir
das schon bei Tieren beobachten können, die gar keine Sprache haben.
Anderseits, und darauf wollen wir hinaus, kann das rezitativische
Sprechen sehr wohl zur späteren assoziativen Ausdeutung der Melodien
geführt haben. Die auf ganz anderem Wege entstandenen Melodien
erinnerten den Hörer durch das Steigen und Fallen an parallele Vor-
gänge beim erregten Sprechen und führten so zur Ausdeutung der
Tonreihen. So kann man jener Theorie immerhin eine, wenn auch
sehr beschränkte und vage, Anwendung sichern').
Noch ein anderer Grund assoziativer Ausdeutung reiner In-
strumentalmelodien mag kurz berührt werden. Wenn man eine
') Ch. Beauquiee, La musique et le Drame (nach Kostlin, Die Ton-
kunst, S. 256).
^) Auch bei Karl Groos finde ich übrigens schon diese An-
schauung.
Zur Theone der ästhetisohen Elem^itarersdieinuiigen. 215
Melodie ^wohnt ist, mit gewiflsen Worten und damit mit einem
gmnz beetunmten Gefühlsgehalt zu assoziieren, so wird diese Stimmung
auf eine Melodie übersehen, die an jene erinnert , ohne daß ihr die-
selbtti Worte oder fibeniaupt ein Text untergelegt ist. Solche G 1 e i ch >
zeitigkeitsassoziationen waren es besonders bei den Griechen,
die diese dazu führten, ffanz bestimmte Stimmungen mit ihren Ton-
arten zu verbinden. In der modernen Musik überwiegen dagegen die
Ähnlichkeitsassoziationen.
loh habe oft an mir die Beobachtung gemacht, daß sich mir
beim Spielen von Kammermusikwerken, ohne daß ich mir während
des Bpieiens ganz klar wurde darüber, ganz bestimmte Worte den
Melodien unterschoben, welche dann den Stimmungsg^ehalt der wort-
losen Kammermusik ganz in ihrem Sinne für mich beeinflußten. Teils
waren diese Worte Bruchstücke von Liedern, die im Bhythmus oder
der Melodieführung eine gewisse Ähnlichkeit hatten mit dfer gespielten
Musik, oft aber stellten sich mir diese Worte auch ein, ohne daß ich
mich einer solchen ähnlichen Melodie entsinnen konnte, und bloß
durch die ähnliche Stimmführung beim erregten Sprechen mögen sie
sich untergeschoben haben, und es würde diese JBeobachtung eine
lUustration zu der oben aufgestellten Theorie sein, um eine solche
Steigerung zu rezitatiyischer Melodie handelt es sich übrigens doch
zuweilen m der modernen Musik, wenn ich auch glaube, daß eine
Melodie sich innerlich zuerst gebildet hat, und daß erst nachher meist
die Anpassung an Worte stattfindet, womit ich sagen will, daß allein
der Tonfall des gesprochenen Wortes nie zur wirklichen Melodie
führen würde, sondern daß eine spezifisch musikalische Vorstellung
doch das Überwiegende auch in solchen Schöpfungen ist. Ich er-
innere z. B. an BEKTHorKN, Quartett op. 135, wo der letzte Satz „Der
schwergefaßte Entschluß*^ überschrieben ist, und dann die Haupt-
motive des Satzes, die später rein instrumental verarbeitet werden
mit untergelegtem Texte vorausgestellt sind.
(xramt, Mlegro.
Muß es sein ? Es muß sein ! Es muß sein.
Auch sonst bei Beefhoven kann man beobachten, daß eine solche
Annäherung von Wort und Melodie stattfindet. Und während früher
im allgemeinen die Lieder Melodien mit beliebig unterlegtem Texte
waren, ist bereits von Gluck, besonders aber von Bicuabd Waonee die
Forderung vertreten worden, die Worte mit einer an Gefühlswert
ihnen parallelen Melodie zu versehen. Trotzdem handelt es sich in
Wirklichkeit nur um einen auf entfernter Analogie beruhenden
Parallelismus, der meist mehr durch rhythmische Ähnlichkeiten und
solche der Intensität erzeugt wird, nicht um eine wirkliche innere
Verwandtschaft, denn die Melodie unterliegt ihren eigenen durch die
Konsonanz bedingten Formen.
Selbst die Bewertung der Dur ton arten als der harten, starken,
freudigen, gegenüber den Molltonarten als den weichen, milden,
traurigen dürfte allein auf solche Assoziationen zurückzuführen sein.
Viele Keisende haben berichtet , daß die nicht europäischen Völker
g;erade zu ihren traurigsten Texten Durmelodien sinken, und daß sie
m ausgelassener und freudiger Stimmung gerade in Moll musizieren.
216 {EichArd Müller-Freienfels:
Und es sind mir auch noch heutzutage unter uns Individuen bekannt,
die gerade Dur als das Traurige, Schwermütige gegenüber dem Moll
als dem Heiteren empfinden wollen. Jedenfalls hat die Assoziation
auch diese scharfe Trennung zuwege gebracht. Da wir jgewöbnt sind,
zu ernsten Texten meist Molltonarten, Dur aber mehr bei frohen Ge-
legenheiten verwandt zu hören, wie bei den Griechen die Anwendung
ihrer Tonarten noch genauer spezialisiert war, so hat sich dieser ihnen
beigelegte Charakter für uns unzertrennlich mit den Melodien ver-
bunden. Auch die l^heorie ist von Einfluß gewesen, die Oberhaupt
viel derartige Assoziationen zustande gebracht hat. und von der
wahrscheinlich überhaupt die erste Unterscheidung des Gefühlswertung
für Dur und Moll herrührt. Früher schrieb man ja auch den einzelnen
Tonarten bestimmte Gefühlsephären zu. Auch das dürfte nur auf
Assoziation beruhen, wie jetzt die allgemeine Annahme zu sein scheint.
Denn man hat nachgewiesen, daß dieses Beurteilen der Tonarten sehr
viel mit der Klangfarbe zusammenhängt, ähnlich wie dieses Be-
stimmen der absoluten Tonhöhe selbst an bestimmte Arten von
Instrumenten geknüpft ist 'X während es bei anderen dagejcen versagt,
so daß manche Leute beim Klavier angeben können, um welchen
Ton es sich handelt, die bei einem gesungenen Tone es nicht können.
Überhaupt ist es viel leichter, die absolute Tonhöhe zu bestimmen,
je komplizierter der Klang ist, es geht sicherer bei Akkorden als bei
Einzeltönen. Man ersieht hieraus, von wie großem Einfluß die
assoziativen Nebenwirkungen sind.
III. Die Elementarformen der bildenden Kunst.
1. Auch für die bildenden Künste, für Malerei,
Skulptur, Ornamentik, läßt sich erweisen, daß die Richtung
ihrer Entwicklung durch ökonomische Ursachen
bestimmt ist. Fast noch schärfer als bei Rhythmus und
Harmonie gilt es hier die Bedingungen für die Ent-
wicklung zu trennen einmal in solche, die durch die Her-
stellung, das Material, die manelle Technik gegeben
waren, und zweitens in solche Gründe, die im ge-
nießenden und aufnehmenden Subjekte zu suchen
sind. Auch hier sind die in der Herstellung und der Technik
liegenden Gründe die primären, die rein sensorischen haben
sich, wenn man auch für sie teilweise eine durch die
organische Veranlagung gegebene Vorbereitung anerkennen
muß, doch erst im Anschluß an jene ersten entwickelt.
Denn das ästhetische Gefiihl hat sich erst durch die Kunst
herausgebildet; die Kunst ist nicht etwa in der Absicht ge-
*) Vgl. A. Wallaschek, Psychologie und Pathologie der Vor-
steUung, ö. 2*24 ff.
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 217
^schaffen worden, einem angeborenen ästhetischen Triebe zu
genügen, sondern für die zum Teil aus ganz anderen als
rein ästhetischen Gründen entstandene Kunst bildete sich
eine spezielle Form des Lustgefühles heraus, die wir eben
heute ästhetisch nennen. So hat sich auch die ästhetische
Freude an der Natur erst durch die Kunst herausgebildet,
welche ganz neue Wertungen einführte, die von den
praktischen vollkommen abwichen. Das Lustgefühl an Sym-
metrie, rhythmischer Anordnung der Formen, bestinamten
Proportionen ist hauptsächlich erst durch die Kunst ge-
schaffen worden. Selbst für den scheinbar primitivsten
ästhetischen Genuß, die Freude am menschlichen Körper,
hat das seine Geltimg. Auch hier ist das ästhetische Lust-
gefühl an harmonischer Form der Gesichtszüge, Eben-
maß usw. als Produkt der Kunst anzusehen; der primitive
Mensch schätzt ganz andere Dinge am Weibe; z. B. die
Reize, die auf ihn wirken, sind bedeutend materiellerer
Natur, und die Büdung der Züge usw. spielt kaum eine
Rolle für ihn, sondern er zieht Größe, massive Bildung der
Gliedmaßen usw. bei weitem vor.
2. Auf die nun herantretende Frage nach dem Ur-
sprung der bildenden Künste kann hier keine er-
schöpfende Antwort versucht werden, schon darum nicht,
weü die Wurzeln zu mannigfache sind, um kurz erledigt
zu werden. Der schöne Wahn, daß es einen eiazigen Haupt-
schlüssel für alle die verschiedenen Probleme der Art gäbe,
ist für die Kunstwissenschaft lange dahin.
In der Hauptsache läßt sich sagen, die bildnerische
Darstellung hat zwei Hauptwurzeln, einmal technisch-
praktische Bedürfnisse, worunter hier auch die
religiösen Motive eingerechnet werden, und zweitens rein
ästhetische, d. h. solche Bedürfnisse, die keinen äußeren
Zweck im Auge hatten, sondern nur inneren Zuständen des
Individuums entspringen, reine Freude am Darstellen sind.
Es ist oft sehr schwer, wenn nicht unmöglich, dem end-
gültigen Produkte anzusehen, ob es der ersten oder zweiten
Rubrik zuzuordnen ist, ob seine Herstellung aus praktischen
218 Bicbard Müller-Freienfels:
Absichten geschah, oder ob sein Erzeiager aus bloßer Lnst^
am Bilden imd G-estalten es angef»:tigt hat. Wenn wir
auch geneigt sein mögen, als Kunst im str^igen Sinne des
"Wortes nur die zweite Gattung gelten zu lassen, so erweist
es sich doch oft, daß die beiden Arten sich kreuzen, daß
sie vereinigt sind an demselben Objekte, daß an der
Schaffung manches Gegenstandes sowohl praktische Be-
dürfnisse als auch die bloße Freude aon Gestalten mitgewirkt
haben. Wir werden also im folgenden gar nicht versuchen
eine genauere Scheidung zwischen Technik und „eigent-
licher Kunst" durchzuführen, sondern das überlieferte
Material der bildenden Tätigkeit des Menschen ohne ein-
gehendere Spekulation über den jeweiligen Ursprung be-
trachten. Dabei kann jene andere Theorie, die alle Kunst
aus Bewerbungsvorgängen ableiten will, ohne weiteres bei-
seite gelassen werden, da gerade für die bildende Kunst es
am allerschlechtesten mit ihr bestellt ist^).
Die fünf von WüNDT *) aufgestellten Formen der bildenden
Kunst lassen sich alle aus den beiden angegeb^ien Motiven
ableiten*, nur treten diese in verschiedener Stärke und in
verschiedener Entwicklung, aber immer fast miteinander ver-
bunden auf. WüNDT unterscheidet zunächst die Augen-
blickskunst, deren Schöpfiingen auf keinerlei Dauer
rechnen, und welche teils einem praktischen Bedürfnisse,
teils einem Triebe zu spielender Betätigung entspringen.
Solche Kunstgebüde sind flüchtig in den Sand gezeichnete
oder in Baumrinden geritzte oder durch Zusammenlegen
von Steinen oder Zweigen gebildete Formen. Hieraus ent-
wickelt sich dann, wenn auch sehr allmählich, die Stufe der
Erinnerungskunst, die Denkmäler auch für die ferne
Zukunft schaffen will, sei es, daß ein Sieg oder sonst ein
gewaltiges Ereignis der Nachwelt überliefert werden soll,
sei es, daß mythologische Vorstellungen zur Schaffung von
0 Vgl. besondeni Gboos, Die Anfänge der Kunst und die Theorie
Darwins, ein Vortrag. Sonderabdruck aus den heaa. Blättern für
Volkskunde, Bd. III, S. 273.
2) WuNDT, Völkerpsychologie, Bd. II, S. 98 ff.
Zur Theorie der fiBthedschen Elementarerscheinungen. 219
Idolen treiben. Daneben aber entwickelt sich eine besondere
Zierknnst, worunter Wükdt alle diejenigen Betätigungen
der Phantasie versteht, die aus dem Streben nach Schmuck
hervorgegaDgen sind. Irgendein Objekt, der menschliche
Körper, ein Werkzeug oder Ge^ Verlockt zu einer Um-
formung, durch die irgendein Gefühl der Bewunderung, des
Schreckens oder ein ähnliches im anderen erzeugt werden
solL Eine weitere Stufe würde dann die Nachahmungs-
kunst bedeuten, wo der Künstler unmittelbar nach einem
Modell arbeitet, während die Eriunerungskunst nur aus dem
Gedächtnis schöpfte. Treten aber die subjektiven Ideen,
die der Künstler seinem Gegenstande entnimmt und weiter
entwickelt, stärker hervor, tritt das Streben nach mögUchst
treuer Kopierung des Modells zurück gegen den Ausdruck
innerer Zustände des Schaffenden, ist die Nachahmung nur
Mittel, nicht Zweck, so haben wir die letzte Stufe, die der
Idealknnst. Überall aber haben wir hier jene beiden
von uns angedeuteten Hauptmotive für das Kunstschaffen,
nur daß auf den niederen Stufen das praktische Interesse
überwiegt, während zuletzt in der Idealkunst wir es fast
allein mit dem Ausdruck seelischer Dispositionen zu tun haben.
3. Aber wir wollen hier überhaupt nicht von dem Ur-
sprung der Kunst im allgemeinen sprechen, sondern was wir
suchen, ist eine Theorie für den Ursprung der fast universell
verbreiteten Elementarformen, die in der bildenden
Kunst Verwendung finden. Wir lassen darum die Frage
nach dem Ursprung der kunstschöpferischen Neigungen des
Menschen bei den gegebenen kurzen Andeutungen ihr Be-
wenden haben und gehen zu der Frage über : Wie büdeten
sich die ersten Kunstformen heraus?
Es sind hauptsächlich zwei Antworten, die man auf
diese Weise gegeben hat, und die sich schroff gegenüber-
stehen^). Die einen behaupten, alle primitive Kunst sei
') Vgl- 2- ^' CoNZE , ober den Ursprung der bildenden Kunst.
Sitzungsberichte der preuß. Akad. der Wissenschaften, 1, 1897. Kieol,
Stilfra^en, Grundle^ngen zu einer Gesch. der Ornamentik. Hörnes,
Urgeschichte der bTldenden Kunst in Europa.
220 Eichard Müller-rreienf eis:
naturalistisch; Nachahmung bestimmter Natur-
formen sei das einzige Motiv des künstlerischen Schaffens,
und alles, was an Formen sich gefunden habe, wo sich diese
Nachahmung nicht erkennen lasse, sei doch auch im letzten
Grimde nur stilisierte Nachahmung gegebener Formen. Eine
andere Ansicht geht dahin, daß der Anfang aller Bildkunst
in der Herstellung ge'v^isser einfacher „geometrischer"
Figuren zu suchen sei. Die früher beliebte spekulative
Erklärung freilich, dies habe seinen Grund in einem an-
geborenen Vergnügen an abstrakten, einfachen Formen, hat
man fallen lassen und durch eine realistischere ersetzt.
Diese im Anschluß an Gr. Sebiper vorgetragene Meinung
sucht den Grund für die Entstehung jener einfachsten
Formen in der Technik und im Material. Durch Bekritzeln
und Beschmieren leerer Flächen, durch das Erproben der
verschiedenen Härtegrade zweier Materialien hätten sich
solche einfachen Linien herausgebildet. So faßt Grosse M
den geometrischen Stil der australischen Figuren als das
natürliche Ergebnis ihrer Ritztechnik. Er weist darauf hin,
daß gerade bei den eingeritzton Mustern der geometrische
Charakter hervortritt, während die aufgemalten Figuren sich
durch eine weit freiere Behandlung und vor allem durch
ihre leicht und sicher gezogenen Kurven unterscheiden.
4. Im Grunde nun glaube ich nicht, daß diese beiden
verschiedenen Antworten auf unsere Frage sich ausschließen.
Sie lassen sich sehr wohl zusammenbiegen, und das Prinzip,
das ihnen beiden gemeinsam ist, ist das des kleinsten Kraft-
maßes. Nur kommt dieses auf zwei verschiedenen Gebieten
zur Geltung. Bei der Nachahmung natürlicher Formen ist
es die aufgewandte psychische Tätigkeit, die nach Möglich-
keit erspart wird. Man gab sich gar keine Mühe, neue
Formen zu erfinden, man nahm einfach die in der Be-
obachtung gegebenen. Es war die weitaus bequemste Form
der geistigen Tätigkeit, daß man einfach nachzeichnete und
nachmalte, was man vor Augen hatte. Es war viel müh-
') Grosse a. a. O. S. 152.
Zur Theorie der ästhetiscben Elementarerscheinuugen. 221
sanier, neue Formen zu erfinden, und warum auch? Die
Mar von der überreichen Phantasie des primitiven Menschen
hat schon Hebbert Spencer in den Prinzipien der Soziologie
gründlich -widerlegt. Und jeder Mensch kann sich durch
einen einfachen Versuch überzeugen, wieviel schwerer es
ist, z. B. eine Burg aus freier Phantasie zu zeichnen als
nach einer Vorlage oder selbst bloß, indem man sich ein
bestimmtes Vorbild klar ins Gedächtnis ruft.
Bei der zweiten Art, den geometrischen Formen, handelt
es sich weniger um eine Ersparnis von Phantasietätigkeit,
sondern nm eine Ersparnis von rein handwerklicher ^
Bemühung. Wenn man irgendeine steinerne Fläche durch
Ritzen zu schmücken hatte, so war es weit bequemer, das
in einfachen, geraden Linien zu tun, als in kunstvoll ge-
schwungenen Ornamenten.
Einmal also war für die Konzeption die Nach-
ahmung der Natur die bequemste Art, ander-
seits war für die technische Ausführung be-
sonders bei gewissen harten Materialien die
^geometrische" Ausführung die nächstliegende.
In den weitaus meisten Fällen aber wirkte wohl beides,
Nachahmung als bequemste Form der Auffassung und
Vereinfachung der Linien als bequemste Form der Her-
stellung, zusammen. Die Kunst wie wir sie besonders auf
früheren Stufen finden, ist eine Resultante aus beiden. Die
stilisierte Naturdarstellung ist eine Kompromiß-
form aus der naturalistischen Nachahmung und
der einfachsten Herstellung. Daß später die stili-
sierten Formen einen Selbstwert bekommen, hat seinen
Grund darin, daß man eben die gegebenen Kunstformen oft
genauer studierte als die in der Natur gegebenen Vorbilder.
Manche Stilisierungen werden konventionell, sie erhalten
besondere Wertungen als solche.
Je nachdem das naturalistische oder das stilisierende
Element überwiegt, scheiden wir in freie Bildnerei und
Ornamentik, Wo auch immer die Ornamentik auftritt, steht
sie in engster Verbindung mit industrieller Tätigkeit. Die
222 Richard MülUr-Freienfels:
ersten Formen der Ornamentik sind einfache, durch die
Technik beeinflußte lineare Motive. „Aber es scheint, daß
ihnen in der weiteren Entwicklung noch ein besonderer
Sinn beigelegt wurde. Das noch nicht kunstgeübte Auge
des Naturmenschen sah in diesen Formen Abbilder von
Naturdingen und anderen Q-egenständen der Wirklichkeit.
So schuf es sich konventionelle Zeichen, welche als Fabriks-,
Eigentümer- oder Stammesmarken oder auch bloß um ihrer
selbst willen — durch den Lustwert der Erinnerung an die
piktographisch dargestellten Gegenstände — Geltung be-
saßen« 1).
Wir hätten also wohl eine zweiseitige Annäherung
des Naturalismus und des „geometrischen Stiles *" anzunehmen.
Einmal, indem die naturalistischen Formen vereinfacht und
schematisiert wurden, dann aber auch, indem in die rein
aus technischer Spielerei entstandenen primitivsten Linien-
formen Umrisse von Tieren und Menschen hineingesehen
und bewußt herausmodelliert wurden. Der Bildsinn wurde
in diese reinen Linienspiele oft erst später hineingetragen
und die Linien danach modifiziert. Es genügen für den
anspruchslosen Menschen sehr wenige Andeutungen, nur
ein paar Linien, um darin ein ganzes Gemälde zu sehen.
Am besten zeigt das die Kunst der Kinder, die nur ein
paar charakteristische, oft bloß symbolische Züge gibt und
doch befriedigt ist von der Darstellung. Man braucht
darin nicht eine überreiche, „unverdorbene" Phantasie zu
erblicken und traurig darum zu seufzen, daß diese dem
Kulturmenschen später verloren ginge, es ist oft das direkte
Gegenteil, eine große Anspruchslosigkeit, eine Ungenauig-
keit des Sehens.
Der Geschmack an einer mehr naturalistischen oder
einer mehr stilisierenden Kunst wechselt mit den Zeit-
läuften. Heutzutage treten auch spekulative Einflüsse
immer hinzu.
Die Kunst der primitiven Völker ist, soweit sie nicht
>) HöRNEs a. a. 0. S. 26.
Zur Theorie der ästhetischen Elemeutarerscheinungen. 223
ganz onLamental ist, streng naturalistisch. Natürlich setzt
ein solcher Naturalismus, wie wir ihn an kilnstlerischen
(Gebilden aus prähistorischer Zeit oder in Australien haben,
eine laaige Ausbüdtmg der Technik voratis, und wahrhaft
primitive Kunst haben wir nirgends. Es ist durchaus nicht
ang&ngig, die Kunst der Wilden mit der Kunst der Kinder
auf eine Stufe zu stellen. Die Kunst der Jägervölker usw.
ist durchaus nicht traditionslos, und sie strebt durchaus
naturalistische Wiedergabe an, was, wie Grosse gut dar-
gelegt hat, durch die scharfe Ausbildung der Sinne und die
manuelle Geschicklichkeit dieser Nomaden sehr erleichtert
wird,
5. Nachdem so die beiden Hauptwnrzeln der bildenden
Kunst, erstens die naturalistische Nachbildimg von Natur-
formen, zweitens die Technik und die Materialbehandlung
ganz allgemein aufgezeigt sind, sollen noch einige speziellere
Bemerkungen zu jeder von beiden gegeben werden.
Es seien zuerst noch einige Worte übet die Nach-
ahmung gesagt. Manche Ästhetiker haben für die Er-
klärung des Ursprungs der Kunst einen imaginären „Nach-
ahmungstrieb" herangezogen. Psychologisch gesprochen
existiert ein solcher ebensowenig, wie es etwa einen be-
sonderen Spieltrieb gibt. Man mag diesen Ausdruck höchstens
aus Bequemlichkeitsgründen zuweilen verwenden. Es sind
einfach unsere gewöhnlichen Triebe, die nach Tätigkeit ver-
langen, und zwar, wenn ein äußerer wirklicher Zweck fehlt,
nach einem künstlichen, eingebildeten.
In dem Begriffe „Nachahmung" werden zwei ganz ver-
schiedene Dinge zusammengeworfen, die eigentlich wesent-
Uch verschieden sind.
Da ist einmal die unmittelbare, direkte Nach-
ahmung, die ohne Hilfe des Verstandes vor sich geht.
Diese kommt so zustande, daß man eine Bewegung, einen
Laut usw. wahminmit, und die Bewegungsvorstellung, die
ja immer eine Bewegung im Zustande der Entstehung ist, so
stark im Gehirn wird, daß sie die damit koordinierte Muskel-
tätigkeit ohne weiteres auslöst. So kommt die Nachahmung
224 Eichard MüUer-Freienfels:
bei den Affen, bei Kindern und primitiven Menschen zu-
stande; darin liegt auch der Grund für die ansteckende
Wirkung des Lachens, des Gähnens usw. Diese direkte
spontane Nachahmung kommt in der bildenden Kunst nicht
in Betracht.
Die zweite Art der Nachahmung ist di^ reflektierte
Nachahmung, wobei der Verstand mitwirkt.
Diese ist es, die in der bildenden Kunst hervortritt. Hier
ist die Nachahmung nur eine Form, die der „Spieltrieb-
annimmt. Der Tätigkeitstrieb der Seele übernimmt die
in der Natur usw. gegebenen Formen, um sich darin aus-
zuleben. Dieser Spieltrieb in seiner speziellen imitativen
Form ist die Ursache der naturalistischen Bildknnst. Aber
auch jeder andere Trieb, der zum Darstellen führte, ein
praktisches Bedürfnis usw. nahm die Form der Nachahmung
an. Diese aber kam nicht spontan, fast reflektorisch zu-
stande, sondern brauchte immer die Hilfe des überlegenden
Verstandes. Darum fehlt auch jede Spur von nachahmender
Kunst bei Tieren, weil diese eben den unbedingt not-
wendigen Intellekt nicht hatten.
Es würde also die Herleitung der Kunst aus dem
„Nachahmungstrieb", die man ofl der Theorie vom „Spiel-
trieb" entgegengestellt hat, gar kein wirklicher Gegensatz
sein, sondern nur eine spezielle Form dieser anderen Lehre,
die freilich nur fiir einen engen Bereich Gültigkeit hat.
Denn auf manche Zweige der Kunst, wie z. B. die Architektur,
ist sie gar nicht verwendbar.
Daß aber eine imitative Form und nicht eine frei-
schöpferische so allgemein zur Entwicklung gelangte, da^s
hat eben ökonomische Ursachen, und darauf kommt es
hier an.
6. Von diesem Umstände aus läßt sich auch noch eine
andere Tatsache erklären, die jetzt ziemlich festzustehen
scheint, nämlich, daß historisch überall die Plastik der
Malerei vorauszugehen pflegte. In der Materialbehandlung
kann der Grund für diese Tatsache nicht gesucht werden,
denn daraus müßte man eher auf das Gegenteil schließen.
Zur Theorie der Asthetischeii Elem^itaTersclieinimgen. 225
Dns erscheint dem oberfiäichliclien Beobachter die drei-
dimensionaLe Darstellnng, das Schnitzen in Holz, das Eneten
in Ton viel eher als eine schwierigere Tätigkeit als das
Zeichnen oder Malen. Der Vorzug der Leichtigkeit in der
Herstellung für den primitiven Menschen bei der Plastik
liegt aber gar nicht auf manuellem Gebiete, sondern auf*
dem geistii^n. Die Malerei setzte eine Projektion der drei-
dimensionalen Objekte auf eine Ebene voraus, und diese
erforderte eine ziemlich bedeutende psychische Arbeit.
Wenn naan bedenkt, wie lange Zeit es gebraucht hat, bi
die perspektivische Zeichnung sich entwickelt hat, ja daß
die Perspektive bei einem so hochbegabten Volke wie bei
den Japanern noch heute unvollkommen ist, dann läßt sich
das etwa berechnen. Dazu kommt, daß für den Beschauer
die Skulptur viel leichter zu erfassen ist als die perspektive-
lose Zeichnung. Denn die Zeichnung und Malerei des ganzen
Mittelalters gab, wie Wölfflin ^) bemerkt, nur Anweisungen
auf die Dinge und ihr Verhältnis im Baume,
aber sie wollte sich durchaus nicht mit der Natur ver-
gleichen. Auf einer Fläche die räumliche Wirklichkeit all-
seitig zu reproduzieren, schien eine Unmöglichkeit. Wir,
deren Aug^n von klein auf durch perspektivische Bilder
geschult sind, können uns unmittelbar überhaupt keine
Vorstellungen von den Schwierigkeiten machen, welche die
Projektion auf die zweidimensionale Ebene erforderte.
7. Die möglichste Ökonomie der Tätigkeit in der Her-
stellung von Kunstwerken war jedoch bereits vorgebildet
in den zur Nachahmung gelangenden Natur-
formen. Denn auch in der äußeren Natur herrscht das
Sparsamkeitsprinzip, wenn sich auch nicht überall genau nach-
weisen laßt, in welcher Art es durchgedrungen ist. So ist
zum Beispiel die regelmäßige Form der Bienenzellen nach
BO(»K£R^) dadurch entstanden, daß die Bienen danach
strebten, „möglichst viele Zellen bei möglichst viel Wachs-,
^) WüLiVLiN, Die klassische Kunst, S. 9.
*) YgL BOcHNER, Aus dem Geisteeleben der Tiere.
yierteljahrsflchriftf.wisseDSohaftl. Philos. u.Soziol. XXXII. 2. 15
226 Richard Müller-Freienfels: ^
Raum- und Arbeitserspamis" zu erzielen. Die Annahme
von V. Graber freilich, daß die Zellen ursprünglich
zyhndrische Form gezeigt und nur durch Aneinanderdrängung
von selbst jene regelmäßige prismatische Gestalt erhalten
hätten, scheint nur Hypothese zu sein.
Wie das im einzelnen alles zu begründen ist, gehört
nicht hierher. Uns interessiert allein die Tatsache, daß
eine möglichst ökonomische Art der Kunsttätigkeit bereits
in den zur Nachahmung kommenden Formen der Tier- und
Pflanzenwelt vorgebildet war. Das zeigt sich besonders in
den für die Ornamentik in Betracht kommenden Formen,
so daß hier bei deren einfachsten Elementen, den sym-
metrischen und rhythmischen Gebilden, ein infolge der
Nachahmung geringer Aufwand psychischer Tätigkeit der
größeren Leichtigkeit der Technik entgegenkam.
8. Aber nicht nur in der freien Bildnerei, auch in der
Ornamentik spielt, wie schon kurz berührt, die Nach-
ahmung von Natur- speziell von Tierformen die Hauptrolle.
Für die Frage, wie der Mensch in fast allen Zonen und Zeiten
dazu kam, leere Flächen mit Figuren und Ornamenten zu
bedecken, hat man zuweüen eine Abneigung gegen größere,
leere Flächen angenommen. Neuerdings sucht man auch
diese Art des „horror vacui" lächerlich zu machen« Ich
meine, daß man zu weit damit geht ; etwas Wahres ist schon
daran. Man darf nur vor allem keine angeborene Abneigung
gegen leere Flächen annehmen. Anders jedoch stellt sich
die Angelegenheit, wenn man auch hier jeden Flächen-
schmuck als Nachahmung zu verstehen sucht. In der
Tat sieht der primitive Mensch in der Natur sehr wenig
ganz leere Flächen. Die meisten Tiere haben eine Zeichnung
und Farben auf der Haut. Auch die Pflanzenblätter haben
ihre Rippen. In erster Linie kommen jedoch die Tiere in
Betracht, die fiir Jägervölker das größte Interesse hatten.
Und es ist sehr wahrscheiidich , daß sich die primitiven
Zeichnungen meist auf Nachahmung von Tierfellen, Schlangen-
häuten usw. zurückfahren lassen. Nachahmung wäre auch
die Anbringung von Mustern auf solchen Töpfen, die mit
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 227
freier Hand gebildet sind. Denn diese Muster sind angen-
fölige Nachah nrnngen vor Flechtwerken, was sich daraus
erklärt, daß die Töpferei bedeutend jünger ist als die Textil-
arbeit, und daß der Topf, der die Stelle des geflochtenen
Korbes einnahm, auch in der Musterung dem Korbe möglichst
ähnlich gemacht wurde ^).
So ließe sich auch die Ornamentik zum
großen Teile als Nachahmung und damit eben-
falls als eine wenigstens in der Form durch
ökonomische Tatsachen bedingte Tätigkeit auf-
fassen, da wie wir oben gezeigt haben, die
Nachahmung in psychischer Hinsicht die öko-
nomiscliste Form der Tätigkeit ist.
9. Es bleibt nun noch übrig, auch für die speziellen
Elementarformen der bildenden Künste, wie
Symmetrie und rhythmische Anordnung, nach-
zuweisen, daß sie diejenigen Formen sind, die den ge-
ringsten Aufwand an geistiger und manueller Tätigkeit er-
fordern. Die Symmetrie an den künstlerischen wie den
praktischen Gebilden braucht sich durchaus nicht immer
aus der Freude des Beschauers an dieser Form zu er-
klären, sie hatte vielmehr ihre Hauptursache in rein äußeren
Gründen. Werkzeuge, Messer, Speere, die symmetrisch
gebildet waren, erwiesen sich als brauchbarer als un-
symmetrische. Ein Hammer oder ein Beil, die von einer
Mittelache aus genau gleich schwer auf beiden Seiten
waren, mußten sich sicherer handhaben lassen als ungleich-
mäßig gebildete Din^ derselben Art. Mit Jeinem Speer, der
nicht ganz symmetrisch war, ließ sich weit weniger sicher
zielen als mit einem ganz symmetrischen. Überhaupt ist
das Gleichgewicht vielfach als die Ursache der Sym-
metrie, auch schon bei den Naturformen, anzusehen. Zelte,
Häuser, Bauwerke jeder Art, bei denen Gleichgewicht in
Betracht kam, die man aus praktischen Gründen so bauen
mußte, gaben dem Beschauer einen synmietrischen Anblick.
>) Gbosse a. a. 0. S. 136 ff.
15
228 Bichard Maller-FreienfeU:
Symmetriscli ist auch der Mensch selber gebaut ebenso
wie die meisten Tiere^ ja för den naiven Menschen mußte
auch die Form der meisten Baume, der Tannen, Zypressen^
Palmen usw. durchaus symmetrisch wirken.
Dazu kommt, dafi wir infolge der Gewohnheit alles
nach dem Gleichgewichte beurteilen. Ein schief stehender
Turm erregt uns ein Unbehagen, weU uns die Assozdation des
UmfallenwoUens immer dabei erregt wira. Ja, dieses Gefühl
des Gleichgewichtes übertragen wir als ein Postulat auch
auf gemahTDiBge. Auch^ dem Bude erregt ein schief
stehender Turm unser Mißbehagen, obwohl er nicht faUen
kann. Überhaupt verbindet sich für uns leicht der Begriff
des Unvollkommenen mit dem des Unsymmetrischen, weil
wir gewohnt sind, daß die meisten Dinge, die wir sehen, sym-
metrisch gebüdet sind, undUnsymmetrie in den meistenFäUen
als ein Mangel, eine Schwäche wirkt. Außerdem beurteilen
wir ganz xmbewußt alle Gegenstände der Außenwelt nach
Analogie unseres eigenen Körpers und „leihen ** ihnen unsere
eigenen Empfindungen und Gefühle und so auch in unserem
Falle das Unlustgefühl bei mangelhaftem Gleichgewicht.
Nicht unbedingt zwingend, wenigstens nur in einer ganz
geringen Minderzahl von Fällen anwendbar scheint mir das
aktive Element fär die Symmetrieerzeugung, das Grant
Allen ^) aufstellt. Dieses soll auf „the rhythm and re-
currence of organic movements^ beruhen, womit er meinte
daß die symmetrische Anlage unserer Organe die Herstellung
von symmetrischen Gegenständen bedinge. Die Beispiele^
die Grant Allen nun anführt, um seine Theorie zu illustrieren^
sind teils mühsam zusammengesucht, teils stimmen sie über-
haupt nicht. Beim Gehen, sagte er, lassen unsere Füße
symmetrische Spuren, was nicht richtig ist, denn wir machen
offenbar mit dem einen Beine größere Schritte, so daß wir,
wenn wir inuner geradeaus zu gehen glauben, im Kreise
herumgehen, wenn wir ohne sonstige Orientierung sind.
') Granf Allen, The origin of the Sense of Symmetrie. Mind
1879. S. 305 f.
Zur Theorie der ästhetischen Elemestarerscheinungeii. 229
Anch das, was er über den Bau der Hütten bei den Eskimos
sagt, dürfte nicht zutreffen. Aus dem Bau unseres Körpers
dürfen wir nicht die symmetrischen Schöpftmgen ableiten,
denn unser Körper ist doch nur fiirs Auge symmetrisch,
motorisch ist er durchaus unsymmetrisch; wir sind ent-
weder Rechtshänder oder Linkshänder, und ebenso verhält es
sich mit den anderen Organen. Wollte man hieraus Schlüsse
ziehen, so müßte man gerade auf die Asymmetrie des
Schaffens kommen. Es ist also nichts mit dem „aktiven''
Element Grant Allens; das, was er das „passive" nennt,
«due to the constant Observation of Symmetrie in extemal
nature" ist dasselbe wie das, was wir mit der Nachahmung
erklärten. Leichtigkeit der Herstellung ist sicher vielfach
ein Grund für die symmetrische Form gewesen, doch hat
man die Ersparnis an Krafb hauptsächlich auf intellektuellem
Gebiete, nicht auf motorischem zu suchen.
10. Neben der Symmetrie tritt besonders die rhyth-
mische Anordnung der Ornamente bei den primitiven
Völkern hervor. Auch diese rhythmische Anordnung ist
in erster Linie durch die Technik bedingt zu denken,
dann aber auch vielfach als Nachahmung der von der
Natur gegebenen Formen aufzufassen. Jedenfalls ist
es nicht nötig, ein angeborenes ästhetisches Gefühl dafür
anzunehmen. Auch sollte man die Analogie dieses räum-
lichen Rhythmus mit dem zeitlichen, wie wir ihn in Musik
und Poesie hatten, nicht allzu weit treiben.
Für die technische Entstehung regelmäßig sich wieder-
holender einfachster Motive, wie Linien, Kreise, Punkte,
kommt vor allem die Flachtechnik in Betracht*). Man
ahmte wohl nur aus Gewohnheit und rein mechanisch diese
Motive nach, und aus der Gewohnheit bildete sich erst die
ästhetische Wertung heraus, ein Vorgang, der psychologisch
durchaus begreiflich ist.
Aber auch die in der Natur gegebenen Vorbilder gaben
Modelle her für rhythmische Gliederung. Schlangenhäute
») Vgl. Grosse a. a. 0. S. 145.
230 Richard Müller-Freienfels:
mit ihren Zickzacklinien, aucli sonst die Häute von Eidechsen
und vielen anderen Tieren boten solche Motive. Daneben
fehlten auch in der pflanzlichen Welt derartige Vorbilder
nicht, wenn auch die primitive Ornamentik im sillgemeinen
mehr die tierischen Vorbilder bevorzugt. Doch mußte ein
Bambusstab mit seiner rhjrthmisch-gleichmäßigen Gliederung
sehr leicht dazu führen, ähnliches an einem anderen Stabe
anzudeuten, und ebenso können die Zeichnungen auf den
Schilden bei primitiven Völkern oft an die Rippen von
Blättern erümem. Ich kann daher Grosses einseitiger Ab-
leitung der rhythmischen Motive aus der Technik nicht
unbedingt beistimmen.
Dennoch ist es in der Hauptsache so: Nicht nur die
Nachahmung technischer Motive, auch die Technik selber
mußte dazu führen. Es war weitaus das bequemste Mittel,
eine Fläche mit Ornamenten zu bedecken, daß man das-
selbe Motiv einfach wiederholte. „Päs Unvermögen, ein
einzelnes Sinnbild der Größe des zu dekorierenden Objektes
anzupassen (Mangel an Kompositionstalent) führt ebenfalls
zur Vermehrung der Elemente und damit zur Schaffung
einer neuen Kunstweise" ^). Da nun diese so entstandenen
Stilformen gewisse Vorzüge fiir die Auffassung durch den
Beschauer, was später zu betrachten sein wird, besaßen, so
erhob man solche erst imbewußt und nur aus Not ent-
standenen Formen zum Prinzip, ein Vorgang, den die
psychologische Ästhetik ja oft konstatieren kann.
Alle Stilisierung geht im letzten Grunde auf Ver-
einfachung aus. WüNDT^) konstatiert nun einen doppelten
Weg der Stilisierung bei den Herstellungsmotiven; einmal
kann die Stilisierung dadurch entstehen, daß man irreguläre
Formen durch freies Hinzufügen neuer Elemente zu regel-
mäßigen ergänzt und umgestaltet, anderseits kann die
Stilisierung auch durch Weglassen solcher Elemente er-
folgen, welche den Eindruck der Regelmäßigkeit stören.
^) HöRNEs a. a. 0. S. 26.
«) WüNDT, Völkerpsychologie, Bd. II, S. 178.
Zur Theorie der ästhetischen Elementarerscheinungen. 231
So werden auch Tiergestalten und Pflanzenformen im Laufe
der Zeit ganz umgeformt, man bringt überall Synmietrie
und regelmäßige Wiederkehr der Formen an. Die ethno-
logischen Werke führen dafür eine Menge höchst illustrativen
Materiales heran; so ist z. B. das Alligatormotiv, das
WüNDT*) den Studien von Holmes über die alte Kunst der
Provinz von Chiriqui entnimmt, ungemein illustrativ. Überall
aber m.aclit sich auch hier das Streben nach möglichster
Vereinfacliung geltend, zunächst der Herstellung; es greift
aber natürlich ungemein unterstützend noch ein, daß auch
für die Rezeption dasselbe eine Vereinheitlichung bedeutet,
was es für die Produktion war.
11. Es ist unschwer zu erkennen, daß viele der Gründe,
die für die Herstellung der Kunstwerke eine Ersparnis von
psychischer Tätigkeit bedeuteten, auch für die Auffassung
als erleichternde Umstände in Betracht kommen. Jede Art
von Gleichmäßigkeit und Wiederholung gehört hierher. Wie
es eine geringere Inanspruchnahme psychischer Tätigkeit
erfordert, eine Fläche mit gleichmäßigen Figuren zu be-
decken, so erfaßt das Auge und der Verstand des Beschauers
ebenso eine solche mit weit geringerer Anstrengung als
eüie Fläche, die mit einem regellosen Qe wirre von Figuren
bedeckt ist. Auch ein beträchtlicher Teil der Lustwirkung,
die eine sjmmietrisohe Darstellung erweckt, läßt sich wohl
hieraus ableiten, obwohl bei der Symmetrie noch andere,
im organischen Bau der betreffenden Organe liegende Ur-
sachen mitspielen. Man hat in der Tätigkeit der Augen-
bewegung den Grund för die Lustempfindung gesucht, die
gewisse Linienformen in uns erregen. Wir können auch
diese Theorien heranziehen und sie durch die ökonomische
Erklärung noch weiter fundieren, obwohl man nach unserer
Ansicht doch nicht allzu großen Wert auf diese Tätigkeit
der Muskeln legen darf, sondern vielmehr in der Erleichterung
der Gehirntätigkeit die eigentliche Ursache der Lust-
wirkung sehen muß, die die Kunst in uns auslöst.
1) WuNDT, ebenda, S. 187. Holmes in Ethnol. Report, Washington,
VI, S. 173 ff.
232 Richard Müller-Freienfels:
Daß das Lustgefühl beim Verfolgen der sogenannten
schönen Linien auf einer bequemen Tätigkeit der Augen-
muskeln beruht, ist von vielen Autoren vertreten worden*).
Aber abgesehen davon, daß dieses Verfolgen, dieses Nach-
fahren der Linien mit den Blicken gar nicht immer der Fall
ist, sondern meist nur bei größeren Objekten, wäre das
dadurch erzielte Lustgefühl doch zu schwachen Grrades, um
damit allein das Wohlgefallen an den betreffenden Linien
zu erklären. Noch problematischer erscheint mir der Versuch
SüLLYs^), die Rhythmik in der Augenbewegung als Grund
fiir das Wohlgefallen an Linien anzunehmen und so das
zeitliche Rhythmusgefühl in die bildende Kunst einzuführen.
Wie groß oder wie klein jedoch man auch diese
motorischen Elemente für den Kunstgenuß einschätzen mag,
sie scheinen mir doch in der Hauptsache nur negativ in
Betracht zu kommen, was besagen will , daß sie, wenn sie
hemmend und störend wirken, sie als Unlustfaktoren in
Betracht kommen, während das positive Lustgefühl, was sie
zu liefern vermögen, doch wohl ziemlich gering ist.
Das Lustgefühl wird in der Hauptsache durch eine
harmonische und wohltuende Betätigung der intellek-
tuellen Zentren erzeugt Dieser Ansicht ist auch
G. M. Stratton'), der in „Economy of attention** die
HauptqueUe der Freude an schönen Linien sieht. Er
schreibt: „This feeling of intellectual grasp is distinctly
satisfactory the more so in these case since there is the
feeling, that the comprehension is easy. For the attention
ist less taxed by regulär lines, including straight ones***).
Noch deutlicher wird diese Bedeutung des intellektuellen
Faktors, wenn man den negativen Fall sich vorstellt und
sich die starke Unlust vergegenwärtigt, die ein sinnloses
') Unter anderen vgl. G»ant Allen, Physiological Aesthetics,
S. 168 f. Saxtyaxa, The Sense of Beauty, S. 90. In Deutschland be-
sonders von R. ViscuER, Über das optische Formgefühl.
'') J. SiTLLY, Pleasure of Visual Torms, S. 186 f. Mind 1880.
') G. M. Stkatton, Eye Movements and the Aesthetics of Visual
Fonns. Phil. Studien, Bd. 20, S. 336 ff.
*) A. a. 0. S. 357.
Zur Theorie der ästhetischen ElementarerscheinuDgen. 233
Gewirre von Linieii in dem Beschauer zu erwecken pflegt,
oder auch eine unübersichtliche Architektur und ähnliches.
Daß in einer möglichsten Erleichterung der Auffassung
fiir den BescKauer das Hauptaugenmerk des Künstlers zu
liegen hat, das läSt sich auch als einer der Grundgedanken
eines kleinen Werkes ansehen, das für die Kunsttheorie wie
kaum ein z'weites in unserer Zeit epochemachend gewirkt
hat, nämlicli Adolf Hildebrand, „Problem der Form in der
bildenden Kunst". Alles was hier als ^Architektonisches"
dem „Imitativen" in der Kunst entgegengesetzt ist, dient ja
nur der Vereinheitlichung und möglichsten Vereinfachung
zugunsten der aufnehmenden Tätigkeit des Beschauers.
,Die künstlerische Darstellung formt sich als eine Er-
scheinung, die als lesbarste erkannt wurde und die den
raumliclien Inhalt zu diesem Zwecke anordnet" ^),
Damit hätten wir in der Ersparnis von Kraft auch eine
Erklärung für jenes in der Ästhetik so stark in den Vorder-
grund gestellte Prinzip von der Einheit in der Mannig-
faltigkeit, In der Tat findet dieses nur darin eine psycho-
logische Begründung, daß es nämlich die Aufnahme von
Eindrücken ganz außerordentlich erleichtert, daß durch die in
den mannigfaltigen Eindrücken vorhandene Einheit eine große
Menge von optischen Erlebnissen bei einem verhältnismäßig
geringen Aufwand von sonstiger psychischer Tätigkeit
möglich wird. Nur indem man es als ein ökonomisches
Prinzip auffaßt, lassen sich die in ihm zusammengefaßten
Tatsachen psychologisch erklären. Es würde damit also ein
Licht fallen auf die vielen Erscheinungen, die man bisher
durch das recht vage Prinzip von der Einheit in der Mannig-
faltigkeit zu erklären gesucht hat. Ich halte diese Fassung
des Prinzipes nicht für sehr glücklich, da sie den Grund
für die ästhetische Wirkung im Objekte sucht, während er
in Wirklichkeit im subjektiven Empfinden und Wahr-
nehmen zu suchen ist. Es ist durchaus nicht nötig, daß
die Einheit in der Mannigfaltigkeit, wenn sie im Objekte
') HiLDBBRANDT, Problem der Form, 3. Aufl., S. 93.
234 Richard Müller-Freienfels:
liegt, auch empfunden wird. Es ist sogar häufig nicht der
Fall. Einheit ist immer etwas Subjektives. Es ist natürlich
selbstverständlich, daß die Möglichkeit zu einer solchen
AujBfassung im Objekte dargeboten sein muß ; für die Kunst-
wirkung aber kommt es allein darauf an, ob sie auch
empfunden wird. Man täte also wohl besser, ftir die Er-
klärung der ästhetischen Lustgefühle den Hauptgrund im
Subjektiven zu suchen, nicht am Objekte.
12. Speziell für die Symmetrie existiert noch eine
Theorie, die hier nicht unerwähnt bleiben mag, welche nach
einer im Bau der Organe liegenden Ursache für jene Emp-
findungen sucht und sich sehr wohl auch mit den hier ver-
tretenen Anschauungen verträgt. Sie rührt von Mach *) her
und findet sich in seiner „Analyse der Empfindungen". Mach
nimmt, wie bei Gehörseindrücken Zeit emp findungen, so
bei optischen Eindrücken besondere Raumempfindungen
an, worunter er die durch Lage, Richtung, Maße usw. er-
regten spezifischen Empfindungen versteht. Ohne auch hier
uns über die Verwendbarkeit des Terminus „Empfindung"
für diese Dinge einzulassen, gehen wir zu dem über, was
er im Anschluß daran vorbringt. Er nimmt es als sehr
wahrscheinlich an, daß diese Raumempfindungen mit dem
motorischen Apparate der Augen irgendwie zusammen-
hängen. Dieser nun ist in bezug auf die Medianebene des
Kopfes durchaus senkrecht eingerichtet. Es würden also
mit symmetrischen Blickbewegungen gleiche Raumempfin-
dungen verbunden sein. Da mm der motorische Apparat
der Augen nur in bezug auf die vertikale Ebene symmetrisch,
in bezug auf die horizontale jedoch unsymmetrisch ist, so
ließe dies auch eine Erklärung der Tatsache zu, daß wir
nur eine Symmetrie von nebeneinander geordneten Dingen
empfinden, daß die Symmetrie jedoch z. B. bei einer Land-
schaft und ihrem Spiegelbilde im Wasser nicht empfunden
wird.
') Mach, Analyse der Empfindungen, S. 83 ff.
Zur Theorie der Ästhetischen Elementarerscheinungen. 235
Auch hier wäre jedoch außerdem noch die oben be-
sprochene Wirkung auf den Gleichgewichtssinn zu bedenken.
Denn nur die lun eine vertikale Mittellinie symmetrische
Figur, wo eine solche Wirkung auf den Gleichgewichtssion
stattfindet, wird als symmetrisch oder unsymmetrisch emp-
funden, während bei den nach oben und unten korrespon-
dierenden Formen, wo die Gleichgewichtsempfindung resp.
-Vorstellung wegfallt, auch das Symmetriegefiihl fortfallt.
Interessant ist auch, was Soret^) von seinen in einem
Blind enasyle gemachten Beobachtungen berichtet. Er fand
dort, daß die Blinden eine besondere Vorliebe für sym-
metrische Gegenstände hatten, und bei allen Dingen, sei es
dreidimensionalen, sei es reliefförmigen , fanden sie die
Symmetrie heraus. Mach erklärt auch hier das Symmetrie-
gefnhl aus der symmetrischen Anlage des Tastorgans, wie
dort die optische Symmetrie aus der Anlage der optischen
Apparate. Andere suchen das Wohlgefallen an symmetrischen
Formen durch gleichmäßige Betätigung der Augenmuskeln
zu erklären. So meint Sullt^), eine Bewegmig der Augen
nach links erzeuge einen Drang zur Bewegung nach rechts
und wieder zurück. „Any chain of visible movements as
those of a ballet, and any arrangement of lines will gratify
the eye in proportion to the number of such balancing
actions of the ocular muscles which it includes."
Alle diese Theorien gehen darauf aus, dies Lustgefühl,
welches durch das Beschauen symmetrischer Gegenstände
erzeugt wird, durch möglichst gleichmäßige und adäquate
Betätigung der beteiligten Organe zu erklären. Vernon Lee^)
und Armstrüther Thomsen suchen die optischen Erlebnisse
noch auf das motorische Gebiet hinüberzuleiten, ähnlich wie
beim Anhören von rhythmischen Tongebilden die motorischen
Organe in Mitleidenschaft gezogen werden. So beschreiben
') SoRET, Sur les conditions physiques de la perception du beau,
S. 149 f.
») SüLLY, Pleasure of Visual Fonns. Mind 1880, S. 187.
') Vebnom Lee and Armstrüther Thomson, Beauty and Ugliness.
Contemporary Review, p. 548 ff.
236 Richard Müller-Freienfels:
die beiden zitierten Autoren die motorischen Erlebnisse, die
durch das Anschauen eines Lehrstuhles hervorgerufen
wurden: „Die Zweiteüigkeit des Objektes schien beide
Lungen in Tätigkeit zu setzen. Es war ein Gefühl, als ob
beide Teile der Brust jede besonders sich emporzögen.
Daneben kommen noch „alterations of the equilibrium"
bei verschiedenen Körperteilen in Betracht, der Augen, des
Kopfes, des Thorax usw. — Auch Stratton tritt dieser An-
schauung bei und zieht auch seinerseits die „organische
Reaktion^, die durch die Formen der bildenden Kunst an-
geregt wurde, heran.
Im allgemeinen jedoch reichen in der bildenden Kunst
alle diese Erklärungen der Elementarphänomene nicht so weit
wie in der Musik etwa. Nicht in diesen elementaren Er-
scheinungen ist die Hauptwirkung zu suchen, sondern es
sind , viel stärker als es in der Musik der Fall war,
assoziative Faktoren, welche die Wirkung der bildenden
Künste bedingen. Dort, wo die direkten Faktoren fast
allein auftreten wie in der Ornamentik, ist die Wirkung
ziemlich schwach, viel schwächer als in der Musik, und
selbst der Eindruck eines gothischen Domes würde, wenn
man alle assoziativen Elemente abtrennen könnte, ziemlich
dürftig sein. Daher werden auch alle Versuche mancher
neuerer KunstschriftsteUer , welche bestrebt sind, den Ge-
nießenden ganz allein auf solche direkten Faktoren hin-
zuweisen, seien es Baiun-, seien es Farbenprobleme, nicht
durchdringen. Wenn angeblich diese Phänomene allein
schon in die höchsten Sphäre des Kunstgenießens empor-
ziehen, so spielt doch wohl immer ein gut Teil Suggestion
mit. Besonders in Skulptur und Malerei werden den
Haupteindruck doch immer die assoziativen Elemente
bedingen und wenigstens für den nicht mit Ateliergeschmack
kokettierenden Laien jene direkten Faktoren nur als ak-
zessorisch in Betracht konmien.
Hoiterne GescMchtsphilosopIüe.
Von Franz Oppenheimer, Groß-Lichterfelde.
Inhalt.
UniversAlismas und Speziidismus. — Biologie nnd Soziologie. — LAinpreehte
embTToloeische ai^ BreysigR morphologische liethode. — Schneider, Kultur und
Denkttn wt alten Agjpter. — Bedenken gegen die Methode. — Breyaige Qeeohiehte
der Men»ohlielt. — Das soziologiticbe Programm. — Die Staatsauffaseung. — Brooks-
Adanks, Das Qeseta der Zivilisation und des Verfalls, Darstellung. — Die Kinderfibel
▼on der pre'vious aecumulation.
Jahrzehnte hindurch haben diejenigen, die von der
Wissenschaft mehr forderten als nur die saubere Heraus-
arbeitang von lauter Einzelheiten, die ungeheure Zer-
splitterung unserer Gesamtwissenschaft in lauter isoliert
voneinander existierende Atome, in lauter unverbundene
Spezialitäten beklagt. Noch kürzlich hat Rudolf Burckhardt
in seinem Schriftchen „Biologie und Humanismus" (Jena 1907)
die geschlossene Weltanschauungseinheit der Griechen, aus
der ein lebendiges Begreifen der Lebenserscheinungen wie
die Blüte aus dem Stamme sproß, mit bewegUcher und be-
rechtigter Klage dem jammervoll zersplitterten Betriebe der
Biologie von heute enigegengesetzt. Und wir wissen aUe,
daß diese Klage mit sicherUch nicht minderer Berechtigung
wie gegen die Naturwissenschaften auch gegen die Geistes-
wissenschaften erhoben werden muß. Auch hier klägliche
Zersplitterung, ein banausisch selbstbegrenztes Eremiten-
tum jedes einzelnen Forschers, der selbstgefiiUig und ohne
Kenntnis von den Bemühungen seiner näheren und weiteren
Nachbarn im Zentrum des winzigen Gebietes wühlt und
bohrt, das ihm allein gehört, das niemand beherrschen kann
und soll als er, und dessen Ghrenzen er mit eifersüchtiger
238 Franz Oppenheimer:
Wut verteidigt. So gleicht die "Wissenschaft von heute
mehr einem Korallenstock : Millionen kleinster Einzelwesen,
nur äußerlich verbunden durch ein starres Gerüst, das sie
zwar alle zusammen umschließt, dessen Zwischenwände aber
auch jedes von ihnen ebenso starr abschließen — und sie
soUte doch gleichen einem höheren Organismus, in dem das
autonome Individuum zur Zelle geworden ist, die von dem
großen Organismus lebt, ihre Nahrung und ihre Lebens-
reize erhält und dafür durch eine vorwiegend dem großen
Organleben selbstlos gewidmete Arbeit dankt.
Daß dieser Zustand besteht, kann gar nicht bezweifelt
werden, daß er Jahrzehnte hindurch das äußere Bild der
Gesamtwissenschaft schwer entstellt hat, ebensowenig ; aber
trotz alledem ist es völlig falsch, diesen Zustand pessimistisch
anzuschauen; denn ein nur wenig in die Tiefe dringender
Blick zeigt, daß er nichts anderes ist als ein Übergangs -
zustand zu einer neuen, auf viel gesicherterem wissenschaft-
lichen Grunde aufgebauter, ein unvergleichlich weiteres
Giebiet von Tatsachen umspannender Universalität. Wer
den Spezialismus beklagt, vergißt das gewaltige Weltgesetz,
nach dem eine verstärkte Diflferenzierung in allem Wachstum
notwendig Hand in Hand geht mit ihrem Korrelations-
begriff, der wachsenden Integrierung. Heute schon ist es
auf allen Gebieten des Wissens zur beglückenden Gewiß-
heit geworden, daß das banausische Spezialistentum eine
neue Ära großzügiger Wissenschaft vorbereitet und bereits
eingeleitet hat ; daß aus dem von den Fröhnem des Geistes
im Schweiße ihres Angesichts vom Unkraut gereinigten und
gelockerten Ackerboden in neuer Pracht und auf starkem
Stamm die Victoria Regia des Menschengeistes wieder auf-
blüht, die Philosophie, die Wissenschaft von den Wissen-
schaften, das künstlerisch ausgestaltete und gerundete Welt-
bild der neuen Zeit.
Wie kommt das? Durch welche Kräfte erzwingt die
Differenzierung die Integrierung auch hier? Nichts ein-
facher als das. Gerade die Winzigkeit der Gebiete, die
Moderne Geschichtsphilosophie. 239
sich je ein Spezialist ausgesucht hat, ftihrt mit Notwendig-
keit zu der Verschmelzung. Jahre, Jahrzehnte hindurch
mag er seine Bohr- und Wühlarbeit im Mittelpunkt des von
ihm erwählten Feldes fortsetzen : schließlich führt um diese
Arbeit selbst doch an die Grenzen seines Gebietes. Hier
muß er mit dem nächsten Nachbar zusammenstoßen, und
schon der Grenzkampf, der dann entbrennt, zwingt beide,
das Einende, das Gemeinsame zu erkennen und zuletzt an-
zuerkennen, daß es des Treimenden Herr ist. Die Ver-
schiedenheit, die jedes Sondergebiet dauernd fiir sich er-
härtet, muß sich im Falle solches Zusammenstoßes erweisen
als Spezialfall einer höheren Gesetzmäßigkeit, die beide Ge-
biete überspannt. Will man ein Bild, so stelle man sich
vor, daß Tausende von isolierten Bergleuten in einem
erzreichen Gebirge ihre Schachte niedertreiben. Wenn
sie den Adern folgen, so werden sie irgendwo auf der Mark-
scheide zusammentreffen, aus zwei StoUen wird ein Doppel-
stollen, aus einem Doppelstollen ein vierfacher und so fort,
bis der ganze Berg ein einziges gewaltiges Werk geworden
ist, dessen Bau und Ordnung nun erst mit aller Klarheit
erkannt werden kann, wenn jeder einzelne der Knappen
seine genaue Kenntnis seines Stückchens mit der ebenso
genauen Kenntnis aller übrigen vereint. So wird wissen-
schaftliches Eremitentum, verstockte Eigenbrödlerei, banau-
sische Scheuklappenarbeit unvermerkt und fast wider Willen
zum -vrissenschafüichen Universalismus. Und wenn den
Sitzfleischgelehrten das Wagnis großer zusammenfassender,
gedankenmächtiger Beherrschung womöglich des gesamten
Tatsachenmaterials gemeinhin als Werk des üblen Teufels
selbst gut, so gilt Goethes lächelndes Wort erst recht von
ihnen: „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er
sie am Kragen hätte."
Was in dem einen Hauptteil der Gesamtwissenschaft,
der Naturwissenschaft, die Grenzarbeit auf den Gebieten
zwischen Physik und Chemie, zwischen anorganischer und
organischer Chemie, zwischen organischer Chemie und
Zellenlehre, zwischen Botanik und Zoologie, zwischen Palär
240 Franz Oppenheimer:
ontologie und Geologie, zwiscben Geologie und Astro-
nomie usw. zum großen Teil bereits geleistet hat, so daß
sich hier schon deutlich erkennbar nach strengem Plane
und in ungeheuren Mafien der werdende prachtvolle Biesen-
tempel der Biologie in seinen Fundamenten aufbaut, das
hat auch im zweiten Hauptteil der Oesamtwissenschaft, in
den Geisteswissenschaften, begonnen. Die Forschung auf
den Grenzgebieten zwischen Wirtschaftswissenschaft und
j Recht, zwischen Becht und Staats-, zwischen Staats- und
Geschichtswissenschaft im allerweitesten Sinne und hier die
Arbeiten auf den Grenzgebieten zwischen Völkerkunde,
Staatengeschichte , Rechts- , Kunst- , Sprach- , Religions-,
Wirtschaftsgeschichte haben überall angefangen, die
Fundamente, wenn nicht zu legen, so doch auszuheben fär
den ebenso gewaltigen Bau der Soziologie. Überall
schießt es auch hier zusammen: von Nachbargebiet zu
Nachbargebiet drückt gleichsam die elektrische Schwüle
neuer Fragestellungen, neuer Probleme, die über der Grenze
stehen, und sprühen auch schon überall die entladenden
elektrischen Funken neuer Antworten. Und wenn auch
noch Jahrhunderte vergehen müssen, bis die letzte Kreuz-
blume auf dem höchsten Turme den letzten Meißelschlag
erhalten hat; schon heute kann auch der Blindeste die
große Einheit nicht mehr bestreiten: denn schon heute ist
es nicht mehr entfernt möglich, etwa Geschichte im alten
Sinne zu lehren, ohne mindestens das völkerkundliche
Material und die Hauptsätze der theoretischen National-
ökonomie zu beherrschen. Und ebensowenig ist heute die
Wirtschaftswissenschaft lembar und lehrbar ohne Zuhilfe-
nahme der höchsten Abstraktionen und der wichtigsten
Tatsachen der großen Nachbaigebiete.
In der Wirtschaftswissenschaft regt denn auch der neue
Universalismus mächtig seine Flügel. Immer entschiedener
kehren sich die jungen Forscher von dem einseitigen
ökonomischen Historismus ab, der ganze Berge toten
Materials au%ehäuft hat, die niemand mehr übersehen kami,
und in dem alle Wissenschaft, das heißt Beherrschung
Moderne Geschiohtsphilosoplue. 241
der Tatsachen, zu ersticken droht. Und immer kräftiger
vollzieht sich die Bückkehr znr theoretischen Besinnung
und damit zu den lange verworfenen Methoden der klassischen
Nationalökonomie. * Werner Sombarts in vieler Beziehung
großartiges Werk „Der moderne Kapitalismus" hat zum
wenigsten den — meines Erachtens allerdings miß-
glückten — Versuch gemacht, denjenigen Punkt zu er-
reichen, vio die ökonomische Historik imd die MARXsche
materialistische Geschichtsauffassung sich schneiden, den
Punkt, an dem die Theorie der Zukunft allein ihre Stelle
finden kann.
Nicht minder regt es sich auf dem Gebiete der eigent-
üchen Historik. Auch hier die Flucht aus dem immer mehr
anschwellenden Ozean unbeherrschter und unbeherrschbarer
Tatsachen zum festen Lande einer ordnenden und be-
herrschenden Theorie. Auch hier die Besinnung auf das
Wort: non multa sed multum!
Hier geht seit etwa einem Jahrzehnt die junge deutsche
Wissenschaft an der Spitze. Zwei hervorragende Historiker
streben nach dem hohen Siegespreise einer Geschichts-
philosophie, Karl Lamprecht und Kurt Breysiq. Jeder von
beiden beansprucht für seine leitenden Gedanken, für sein
ordnendes Prinzip die Alleinherrschaft. Will man eine
kurze, schlagende, wenn auch nur einigermaßen treffende
Bezeichnung für den Gegensatz der Methoden haben, so
kann man sagen, daß Bretsig morphologisch und Lamprkcht
embryologisch vorgeht.
Lamprechts grundlegender Gedanke ist eine Wendung
des biogenetischen Grundgesetzes der Entwicklungslehre
ins Psychologische : er nimmt an, daß die psychische Ent-
wicklung der Menschheit dieselben Stufen durchlaufen hat, die
die Entwicklimg der Kindesseele uns abgekürzt darstellt. Wie
im Biologischen die Entwicklung des Embryo in ungeheurer
Geschwindigkeit, unter Auslassung unzähliger Sprossen, die
gleiche Leiter emporklettert, die die große Lebensentwick-
lung auf diesem Planeten in Millionen von Jahren er-
Viertel>hrs8chriftf.wifl84»n8chuftl.Philo8. u.Soz. XXXII. 2. 16
242 Franz Oppenheimer:
klommen hat, so legt auch die Seele des Kindes nach dieser
Auffassung in kürzester Zeit die Stufen der Entwicklung
zurück, die das Bewußtsein überhaupt und namentlich das
Bewußtsein der Völker zurückgelegt hat. Die Stufen der
Kindespsychologie sind ein kurz gefaßter Abriß der Stufen
der Völkerpsychologie : xmd, da wir die Stufen der Kindes-
psychologie einigermaßen kennen, so ist uns damit auch
das genetische Schema gegeben, in das wir die sozial-
psychologische Entwicklung der Menschheit einordnen
können. Solche Ordnung aber, einmal leidlich widerspruchs-
frei hergestellt, würde nichts weniger sein als eine geschichts-
phüosophische Universalgeschichte.
Bretsig schlägt den anderen Weg ein, der zu dem
gleichen Ziele führen kann. Er will durch möglichst ge-
naue Beobachtung und Beschreibung der sozialen Formen
des Menschenlebens in Staat, Q-eseUschaft, Kunst, Religion usw.
zur Peststellung fester Typen gelangen, die sich als zeitlich
subordinierte Stufen der Entwicklung begreifen lassen ; und
seine Absicht ist offenbar, nach Vollendung dieser not-
wendigen Vorarbeit die sozialpsychologischen Kräfte auf-
zuzeigen, die den „Fortschritt", besser: die Entwicklung
von der einen Stufe zur anderen herbeiführten.
Nachdem Lämprecht bereits das fast vollendete groß-
artige Werk seiner deutschen Geschichte nach diesem
leitenden Gedanken disponiert hatte, und nachdem Brbtsig
seinerseits seine auf breitester Grundlage aufgebaute Kultur-
geschichte der Neuzeit weit gefördert hat, treten jetzt die
beiden konkurrierenden Schulen mit je dem ersten Bande
einer Geschichte der Menschheit auf den Plan ^).
Schneider ist selbständiger Schüler Lamprechts; er
disponiert die Weltgeschichte ganz nach derselben Art wie
^ Ki'RT Breysiq, Die Geschichte der Menschheit. Die Völker
ewiger Urzeit. 1. Band: Die Amerikaner des Nordwestens tmd des
Nordens. Georg Bondi, Berlin 1907, XXVII, 56:3 Seiten. Hbkiunn
ScHNEiüEB, Entwicklungsgeschichte der Menschheit. 1. Band: Kultur
und Denken der alten Ägypter. R. VoigtlÄhder, Leipzig 1907, XXXVI,
564 Seiten.
Moderne G-eschiolitspliiloBophie. 243
sein Meister die Geschichte des deutschen Volkes disponiert
hat: nach den biogenetischen Stufen des psychologischen
Entwicklungsganges. Aber mir will scheinen, als sei dieses
ordnende Prinzip, wenn überhaupt, nur mit äußerster Vorsicht
fiir eine Weltgeschichte verwertbar, und als sei Schneider
dadurch recht weit von dem Ziele der "Wahrheit abgelenkt
worden.
Schon seine Anwendung auf eine einzelne Volks-
geschicllte darf nur mit äußerster Behutsamkeit geschehen
und kann nur in den Händen eines Meisters von größter
Besonnenheit zu guten Ergebnissen führen.
Ich habe schon einmal in einer Anzeige des LAMPhECHT-
ßchen Werkchens „Moderne Geschichtswissenschaft" (Frei-
burg 1905) darauf aufmerksam gemacht, daß seine Auf-
fassung einer ziemlich einschneidenden Korrektur bedarf.
Ihm stellt sich die Geschichte eines Volkes so dar, als sei
dies Volk eine einzige Persönlichkeit, die einen gewissen
tjrpischen Entwicklungsgang ihres Seelenlebens durchläuft
und dementsprechend auf ihre Umwelt reagiert. Das ist
aber nur in einem sehr übertragenen Sinne richtig. Man
gelangt zu einer, nach meiner Meinung tieferen Einsicht in
die geschichtlichen Dinge, wenn man nie vergißt, daß ein
Volk jederzeit aus einer Reihe verschiedener sozialer Klassen
mit sehr verschiedenen Interessen und deswegen sehr ver-
schiedener Psychologie besteht. Je nach der politischen und
sozialen Entwicklung, die wieder von vielen verschiedenen
Faktoren abhängig ist, steht nun einmal die eine, Und das
andere Mal die andere Klasse im Vordergnmd der historischen
Bühne, und ihre spezifische Psychologie ist in dieser Periode
die „Determinante" des Geschehens. Um den Gegensatz
der Anschauungen kurz an einein Beispiel zu illustrieren,
80 sieht Lamprecht inmier nur einen Helden auf der Bühne
der deutschen .Geschichte , den „Deutschen" schlechtweg,
und muß natürlich von dieser Voraussetzung dahin ge-
langen, den auffillligen Wechsel in der psychologischen
Gresamtstimmung , in Weltauffassung, Kunstübung, Rechts -
bildung, Staatsverfassung usw., durch die sich die einzelnen
16*
244 Franz Oppenheimer:
Perioden unterscheiden, als eine fortlaufende Entwicklung
der Volksseele zu betrachten. In der Tat aber wechseln
die Helden des Dramas fortwährend: der freie Bauer der
altgermanischen Urzeit, der Großgrundherr des frühen, der
Ritter des hohen, der Bürger des späten Mittelalters, dann
der Landesherr, der absolute Fürst, der Bourgeois, der
Sozialist, schließlich der Ästhet der Neuzeit sind nach-
einander die Träger der fahrenden Rolle ; und was Lamprechp
als die Fortentwicklung, als das Auseinander einer Gesamt-
Volksseele erscheint, ist vielleicht nichts anderes als die
zeitliche Aufeinanderfolge, das Nacheinander verschiedener
Klassenseelen, von denen jede durch ihre besondere Blassen-
läge streng determiniert ist. Um ein Büd zu wiederholen,
das ich damals gegen Lampreght brauchte: ihm erscheint
eine Volksgeschichte als ein einziges ungeheures Drama mit
einem nie wechselnden Helden, während sie mir als eine
Kette verschiedener Dramen erscheint, die, den Shakespeare-
schen Königsdramen vergleichbar, in ihrer Gesamtheit eine
höhere Einheit darstellen.
Dieser Einwand gilt, wie mir scheint, in vielfach ver-
schärftem Maße auch gegen Schneider. Auch ihm erscheint
die nahezu 3000jährige Entwicklung des ägyptischen Reiches
als eine einzige Fortentwicklung, als ein Drama mit einem
einzigen Helden, während es sich augenscheinlich auch hier
um eine Kette zusammenhängender Dramen handelt, deren
Held jedesmal eine andere Klasse ist, eine Kette übrigens,
die der eben aufgeführten Reihenfolge der deutschen Ge-
schichte in mancher Beziehung parallel läuft. Zwar fehlt
in der ägyptischen Überlieferung das Anfangsglied, der ft'eie
Bauer, aber die Entwicklung vom patriarchalischen Gau-
könig, der noch fast nur der primus inter pares ist, über
den feudalen GroBgrundherren zum städtischen Bürger, zum
Landesfürstentum und absoluten Königtum, das dann hier
in eine starre Theokratie einmündet, ist doch auch hier ge-
geben. Schneider aber kommt niemals zu der Frage, ob
nicht vielleicht die aufßOligen Verschiedenheiten des sozial-
psychologischen Charakters jeder Epoche, die er mit feiner
Moderne Geschichtsphllosophie. 245
Spürkraft aufdeckt^ daraus zu erklären sind, daß eben ganz
andere Klassen im Vordergrunde der historischen Bühne
stehen, das heißt hier der spärlichen schriftlichen Über-
lieferung das Gepräge geben.
Aber damit ist der Einwände noch nicht genug. Das
LAJfPRECHTsclie Prinzip zeigt seine ganze methodische G-efahr
so recht eigentlich erst hier, wo es nicht auf eine Volks-,
sondern auf die ganze Weltgeschichte angewendet wird.
Denn nun drängt sich dem Gläubigen des biogenetischen
Grundgesetzes ganz naturgemäß die Vorstellung auf, daß
sozusagen die ganze Weltgeschichte jenes einzige Drama
mit nur einem Helden sei, von dem wir vorhin sprsichen.
Der Begriff „Mensch" substituiert sich unbewußterweise
dem Begriff „Ägypter" oder „Deutscher". Er erwartet mit
anderen Worten, daß ihm je ein Volk je eine Stufe der
a priori angenommenen psychologischen Entwicklungskette
repräsentiere, und ist stark geneigt, die ihm gegebenen
Daten der Theorie anzupassen. Daraus kann, ja muß oft
eine Prokrustesarbeit werden, und dieser größeren Gefahr
scheint mir Schneider nicht überall entgangen zu sein.
Ihm repräsentiert der „Ägypter" eine untere Stufe der
geistigen Entwicklung. Vom anschaulichen Denken, das er
mit dem Kinde gemein hat, hat er es nicht weiter gebracht
als bis zu einer Vorstufe des systematischen Denkens ; erst
die babylonische Kultur hat die nächste Stufe, die der
ausgebildeten Systematik mit der Bildung abstrakter Ober-
begriffe, erstiegen, und wieder dem Hellenentum erst war
es beschieden, in der eigentlichen Logik das gewaltige
Werkzeug zur Beherrschung der Welt zu schmieden. Das
Schema ist plausibel und hat namentlich deswegen Aussicht,
zu allgemeinerer Geltung zu kommen, weil es mit der alten
lieb gewordenen Vorstellung gleichläuft, wonach von
Ägypten bis zu den Vereinigten Staaten eine einzige Kausal-
kette fortschreitender Entwicklung besteht. Und es soll
auch durchaus anerkannt werden, daß es Schneider gelingt,
mit diesem Schema zahlreiche Einzelheiten glücklich und
in der Tat überzeugend aufzuhellen.
246 Franz Oppenheimer:
Aber als einziges Erklärungsprinzip auf eine ganze, so
überaus lange und inhaltlich reiche Volksentwicklung an-
gewendet, erscheint mir das Prinzip überaus gefilhrlich. Es
schneidet die interessantesten Probleme ab und kann so
leicht statt einer kausalen Erklärung zur Eselsbrücke der
Historik werden.
Zwei Beispiele werden das besser illustrieren als alle
theoretischen Erörterungen.
In Ägypten wechsebi, wie in jedem primitiven Feudal-
staat höherer Stufe, Zeiten der Blüte mit Zeiten des sozialen
Verfalles. Wie überall zerstört die feudale Großgrund-
herrschaft den Bauernstand und damit die Kraft des Reiches,
das mm wehrlos den Grenz Völkern verfällt, sie assimiliert
oder, durch eine neue Grundeigentumsverfassung gestärkt^
wieder ausstößt, um nach neuer Blüte schnell aus denselben
Ursachen wieder dem gleichen Verfallsprozeß zu unter-
liegen. Nun wissen wir aus der Geschichte aller Völker,
daß Zeiten relativer Gleichheit der Lebensbedingungen,
blühenden Bauernstandes, dichter Bevölkerung und daher
starker politischer Kraft regelmäßig auch Zeiten einer
starken, stilreinen, breitspannenden Kunst imd Wissenschaft
sind, während beide sich in den Zeiten vordringender
sozialer Zersetzung erst verniedlichen, um dann immer mehr
ins Flache und Grobe, ins Sensationelle imd Perverse aus-
zuarten und in der Zeit der vollen sozialen Zersetzung ganz
zu verschwinden. Wer dies universale Gesetz z. B. an
Athen, am Italien der Renaissance und dem Deutschland
des 15. Jahrhunderts erkannt hat, wird geneigt sein, sehr
viele Erscheinungen der ägyptischen Volkspsychologie auf
gleiche Weise zu deuten. Ihm wird die schriftliche Über-
lieferung und die Kunstübung viel eher als das Symptom
bestimmter sozialer Wellengänge erscheinen, denn als Stufe
einer einheitlichen Skala der Seelenentwicklung, die sich
durch alle sekundären Schwankungen der sozialen Ent-
wicklung hindurch behauptet. Schneider, der nur diese
Skala sieht, hat vielleicht recht : aber von einer wissenschaft-
lichen Sicherheit könnte doch erst die Rede sein, wenn er
Moderne Greschichtsphilosophie. 247
den Einflnß der verschiedenen Gesellschafbszustände nnter-
sncht und ausgeschlossen hätte. Davon ist aber keine Rede.
Er hat niclit gesehen, daß hier ein Problem ist. Er müht
sich sehr ab, unleugbare Rückschritte in Kunststil und
Lebensauffassung dennoch als Fortschritte zu erklären, in-
sofern es unentbehrliche Entwicklungsstufen seien, die einmal
zurückgelegt werden müßten. Wenn man aber genauer
zusieht, handelt es sich hier regelmäßig um Zeiten des
sozialen Zerfalles ; und die Deutung, daß Kunst und Wissen-
schaft entarten, weil der tragende Stamm der Volkskraft
kränkelt, scheint mir hier überall viel näher zu liegen als
die gezwungene Erklärung, die Schneider vorlegt.
Ganz besonders klar erscheint mir die Gefährlichkeit
der Methode aus dem Schluß des letzten Kapitels hervor-
zugehen, die die letzte Entwicklung der ägyptischen
Religion, die Theokratie des Ammonkollegs usw. behandelt.
Hier kombinieren sich nach meiner Auffassimg beide Fehler,
zu denen die Methode so leicht verlocken kann, und er-
zeugen ein recht falsches Bild. Wir haben erstens das
Qui-pro-quo, das den zurzeit im Vordergrunde der Über-
lieferung stehenden Klassenvertreter, diesmal den herrschen-
den Priester, als den Vertreter der Volkheit schlechtweg
betrachtet; und wir haben zweitens den Irrtum, der eine
Periode unzweifelhafter Rückbildung, schwererund schließlich
tödlicher sozialer Erkrankung eines Volkskörpers, unter den-
selben Gesichtspunkten bewertet wie die Periode einer un-
zweifelhaften Gesundheit. Dazu kommt augenscheinlich ein
Drittes: die Überschätzung des in der schriftlichen Über-
heferung enthaltenen Materials. Es dürfte unmöglich sein,
das ägyptische Leben selbst dieser schweren Verfallszeit
auch nur schattenhaft aus den uns erhaltenen Sclu-iftresten
zu rekonstruieren: man stelle sich vor, welches Bild ein
Geschichtsforscher des übernächsten Jahrtausends von
Deutschland nach dem dreißigjährigen Klriege erhalten würde,
der kein andeies Material besäße als die theologischen
Stänkereien, die damals das Interesse der führenden Klassen
und darum das Schrifttum völlig beherrschten?
248 Franz Oppenheimer:
Das Ägypten jener Zeit ist ein der durch ungeheuren
Ghrundbesitz allmächtigenPriesterschaft wehrlos ausgeliefertes
Land und zeigt, wie mir scheint, in seinem geistigen Leben alle
Charakterzüge einer solchen Theokratie, wie wir sie etwa
in Tibet und, bedeutend abgeschwächt, noch im heutigen
Spanien beobachten können. Schon ein flüchtiger Vergleich
zeigt, daß auch in Spanien, trotzdem inzwischen die
„Hellenen die Logik entwickelt haben" , sehr weitgehende
Ähnlichkeiten der psychologischen Gesamtstimmung, der
Denkart usw. vorhanden sind. Wenn man sich die Einflüsse
der historischen „Traditions werte" und die Anregung und
Stärkung der Opposition durch die westeuropäische Gesamt-
entwicklung aus dem Leben des heutigen Spanien wegdenkt,
so wird man zu einem Gesamtergebnis kommen, das dem
Zustand der ägyptischen Spätzeit in vielen Beziehungen
sehr ähnlich ist. Daraus aber ergibt sich die "Wahrscheinlich-
keit, daß die ScHNEiDERsche Deutung nicht richtig ist. Das
ägyptische Denken blieb nicht auf der unteren Stufe stehen,
weü es diesem V©lke an der Kraft gefehlt hätte, höhere
Stufen zu erreichen, oder, was wohl der ScHNEiDERSchen
Auffassung näher kommt, weil es seine Kraft völlig ver-
braucht hatte, bis es jene niedere Stufe erreichte, sondern
es war wahrscheinlich schon von einer bereits erreichten
höheren Stufe infolge rein sozialer Zersetzung herabgesunken
und verlor dann die Kraft, weiterzukommen, weil es durch
eine allmächtige Priesterschaft geistig völlig geknebelt wurde.
Das scheint im Resultat auf die ScHNEiDERsche Auf-
fassung hinauszulaufen; aber es kommt hier nicht auf die
Tatsachen an, sondern auf ihre geschichtsphilosophische
Verknüpfung. Und da zeigt sich der Gegensatz: was bei
Schneider eine psychologische Gesetzmäßigkeit ist, er-
scheint der hier skizzierten Auffassung als eine sozial-
ökonomische Gesetzmäßigkeit. Das Problem stellt sich
in völlig neuer Gestalt : die soziale Entwicklung, die Standes-
gUederung, die Verteilung der von der Gesamtvolksarbeit
geschaffenen Güter erscheinen dann als die primären Ur-
sachen des Geschehens, von denen auch die Volkspsycho-
Moderne Geschichtspliilosophie. 249
logie insofern streng abhängig ist, als jene sozialökonomischen
Verhältnisse die Klassenpsychologie der fahrenden, jeweils
im Vordergrunde der historischen Bühne stehenden re-
präsentativen Gruppen determinieren.
um diese Einwände noch einmal zusammenzufassen, so
möchte ich folgendes sagen : das LAMFRECHTsche Prinzip er-
scheint mir grundsätzlich richtig imd wird namentlich für
die vorstaatliche Geschichte sich als ein wertvolles
heuristisches Prinzip erweisen. Aber es darf för die Stadien
höherer Entwicklung des Staates und der Gesellschaft nur
mit äußerster Behutsamkeit angewendet werden, wenn es
nicht die wichtigsten Problemstellungen verhindern soll.
Insbesondere bildet die durch die Methode sehr nahegelegte
Tendenz, ein ganzes Volk oder gar die ganze Menschheit
als ein einziges von der Kindheit an regelmäßig sich ent-
wickelndes Individuum anzusehen, eine bedeutende Gefahr.
Mindestens als Vorarbeit ist es nötig, das soziale Auf und
Ab der Entwicklung, die Herrschaft, den Abstieg und das
Verschwinden der einzelnen Klassen eines Volkes auf das
geuaueste festzustellen und so weit wie möglich kausal zu
erklären und dieselbe soziale Entwicklung an den einzelnen
fahrenden Völkern zu erforschen. Dann erst, aus der ge-
nauen Erkenntnis der Gruppen- und IQassenpsychologie der
einzelnen Schichten, läßt sich so etwas wie eine Volks-
psychologie zusammensetzen. Und nur auf dieser Grund-
lage wieder läßt sich der psychogenetische Stammbaum der
Menschheit entwerfen.
Die zweite Universalgeschichte, die mit ihrem ersten
Bande auf den Plan tritt, rührt von dem Haupte der zweiten
geschichtsphilosophischen Schule selbst her, von Kurt
Breysig.
Bretsig war ursprünglich „exakter Historiker", der der
ScHMOLLERschen Schule sehr nahe stand. Sein Arbeitsfeld
war das Grenzgebiet zwischen eigentlicher Historik und
Ökonomik. Und so erlebte dieser feurige Kopf das Schicksal
250 Franz Oppenheimer;
aller bedeutenden Grenzer : die Eleinarbeit konnte ihn nicht
befriedigen, und er strebte ins Große und "Weite. Um die
in harter, ehrlicher Kleinarbeit gewonnenen Anschauungen
einem größeren Ziele dienstbar zu machen, begann er vor
Jahren mit der Herausgabe eines mehrbändigen Werkes:
„Die Kulturgeschichte der Neuzeit", das sich das Ziel steckte,
den Wurzeln unserer modernen Institutionen und Wert-
gedanken rückwärts zu folgen bis in die fernste Vorzeit
hinein. Darum begann er, noch ganz im Banne der Ranke-
schen Auffassung von der „Weltgeschichte", mit dem, was
wir „Altertum" nennen, das heißt mit der hauptsächlich von
Hellas und Rom getragenen mittelländischen Kultur, und
führte die Untersuchung bis tief in unser sogenanntes Mittel-
alter empor. Aber er konnte dabei nicht stehen bleiben.
An den Grenzen eines viel größeren Gebietes hatte er ge-
arbeitet , und wieder erschlossen sich ihm weitere Nachbar-
gebiete ; die Schwüle neuer Fragestellungen lastete auf ihm,,
und schon waren wieder die erlösenden Funken zu seinem,
von seinem Standpunkt hinüber-, herübergesprungen. Jetzt
erst erschloß sich ihm die ganze Größe seiner Aufgabe:
Jetzt soll die Untersuchung die Geschichte der ganzen
Menschheit umspannen, und sie soll gleichzeitig „Welt"-
und „Gesamtgeschichte" sein. Auch das kleinste Stämmchen
erscheint ihm jetzt der wissenschaftlichen Betrachtung so
wert wie das größte Reich, und jeder Trieb am Stamme
jeder Volkheit soll mit gleicher Liebe umspannt werden,
um die Gesetze der menschlichen Gesamtpsyche zu finden,
die ja auch die Gesetze der Geschichte sind.
Das ist das soziologische Programm einer Universal-
geschichte, das Breysig hier mit vollem Bewußtsein und
hinreißendem Schwung in breitester Ausführlichkeit darstellt.
Und in dieser Darlegung, die nicht weniger Kampfprogramm
wie Arbeitsprogramm ist, ist auch der Hauptvorzug dieses
ersten Bandes zu erblicken. Zum erstenmal stellt sich ein
Historiker von Fach mit vollem Verständnis die ungeheure
Aufgabe, die bisher nur von Soziologen in weiterem Sinne
in blassen Umrissen skizziert worden ist.
\
Moderne Geschichtsphilosophie. 251
Ob Bretsig das Riesenprograimn jemals wird ausführen
können, erscheint mir als äußerst fraglich ; mit gleicher Aus-
fahrlichkeit weiter geführt, wird diese Universalgeschichte
eine ganze Bibliothek füllen. Aber hier ist schon das große
Wollen eine Tat zu nennen. Ob seine Kraft und sein Leben
ausreichen oder nicht: das hier aufgesteUte Programm wird
fiir Jahrzehnte hinaus das Ziel aller wirklich universal-
geschichtlichen, aller wahrhaft soziologischen Geschicht-
schreibung bleiben müssen, und es wird, wenn auch viel-
leicht nur in der Zusammenarbeit vieler gleich gerichteter
Forscher, für jedes künftige Geschlecht einmal ausgeführt
werden.
Der vorliegende erste Band enthält von den „Völkern
ewiger Urzeit" zunächst das erste und zweite Buch des
^die rote Rasse" behandelnden ersten Hauptteiles: die
Kolumbianer und die Nordländer. Mir will scheinen, als
habe Bretsig die Versprechungen seines Programms hier
weit über Erwarten erfüllt. Er umfaßt äußeres und inneres
Leben dieser Stämme mit gleicher Vollständigkeit und
gleicher Liebe. Die echt künstlerische , im edelsten Sinne
als fast weiblich zu bezeichnende seelische Anpassungskraft,
die Fähigkeit, sich in die Psychologie primitiver Menschen-
gruppen zu versetzen, die Bretsig bereits in seinem prächtigen
Werke über „den Gottesgedanken und den Heilbringer"
bewährt hat, zeigt sich auch hier wieder auf das schönste.
Bretsig hat wie kaum ein anderer das Zeug zum psycho-
logisch entwickelnden Ethnologen, gerade durch diese Kraft
des Nachempfindens: hoffentlich bewährt es sich auch
ebenso, wenn es gilt, die höheren Formen der Kultur, die
ja immer mehr mechanisiert werden, logisch zu verstehen.
Ob alle von ihm in diesem Bande gegebenen Erklärungen
der genauen Kritik der Fachleute standhalten werden, muß
abgewartet werden ; jedenfalls werden sie der ethnologisch-
soziologischen Forschung mächtige Anregungen gewähren.
Es ist bei diesem Stande der Arbeit, die ja vorläufig nur
solches Material behandelt, das bisher als außerhistorisch
betrachtet wurde, fast unmöglich, über die BKEYSiGsche
252 Franz Oppenheimer:
Methodik ein Urteil abzugeben, um so weniger, als er mit
der prächtigsten Bescheidenheit sich selbst nicht als
"Wissenden, sondern als Lernenden bezeichnet. Er erklärt
ausdrücklich, Saß er die allgemeinen Anschauungen, von
denen er jetzt geleitet wird, lediglich als Arbeitshypothesen
betrachtet, die er \'ielleicht im Laufe seiner weiteren Studien
nicht nur bloß ergänzen, sondern sogar als unrichtig fallen
lassen wird; ja er behält sich sogar vor, die im Anhang
definierten Hilfsbegriffe der Historik später anders zu be-
grenzen, wenn sich die Notwendigkeit dazu herausstellen
sollte. Angesichts solchen Freimuts und zugleich solcher
Bescheidenheit wäre es fast kleinlich, schon im jetzigen
Stadium kritische Bedenken zu äußern. So möge denn das
folgende als der Rat eines Mitstrebenden, nicht aber als
Kritik angesehen werden.
Vor allem erscheint mir Breysigs Definition vom Staat
als gefährlich. Er versteht darunter „die Gesamtheit aller
der Einrichtungen, die ein oder mehrere Blutsverbände
schaffen, um sich zu innerem, durch eine Verfassung ge-
regeltem Zusammenschluß, zu äußerer Abwehr fremder Ein-
griffe und zur Aufrechterhaltung einer lockeren Lebens- und
einer lockeren oder festen "Wirtschaftsgemeinschaft zu ver-
einigen". Diese Definition will die im engeren Sinne vor-
staatlichen und staatlichen Organisationen in einen Begriff
zusammenfassen. Sie ist ihrem Wortlaute nach nicht ge-
rade falsch und muß doch jedem, der die Dinge nicht genau
kennt, einen völlig falschen Eindruck machen. Denn diese
„Vereinigung eines oder mehrerer Blutsverbände" sieht hier
aus wie ein friedlicher contrat social; in der Tat aber ist
der Staat im engeren Sinne, der Keimling jeder höheren
Kultur, eine Schöpfung des kriegerischen Zusammen-
stoßes, und die „Vereinigimg" ist eine zwangsweise er-
folgte, mit einer wirtschaftlichen Verteilung des nationalen
Gesamtproduktes zugunsten der Sieger und zuungunsten der
Besiegten. Diese Tatsache bildet geradezu den Schlüssel für
alle Weltgeschichte ; ohne sie ist ein Verständnis schon der
niederen, geschweige denn der höheren Kulturformen un-
Moderne Geschichtsphilosophie. 253
möglich: und darum sollte man den Begriff „Staat" völlig
für diese Schöpfung des Kriegsrechts reservieren, die Ver-
bände primitiver Jäger und Fischer aber grundsätzlich als
unstaatlich bezeichnen und für ihre Gesellschaftsorgani-
sationen einen ganz neuen Ausdruck einführen,
Dte z^weite Bedenken, das ich äußern möchte, richtet
sich gegen die morphologische Methode Breysigs. Er nimmt
bekanntlich an (vgl. seinen „Stufenbau und die Gesetze der
Weltgeschichte"), daß alle Völker der Erde, wenn die Ent-
wicklung nicht vorher abgebrochen wird, in der gleichen
Reihenfolge die gleichen Stufen staatlicher Entwicklung
durchlaufen würden, die er Urzeit, Altertum, Mittelalter,
Neuzeit und neueste Zeit nennt. Also auch hier eine An-
wendung des biogenetischen Grundgesetzes. Er unter-
scheidet sich von der LAMPRECHTschen Schule, wie schon
gesagt, dadurch, daß er die äußere Erscheinungsform jeder
dieser Stufen zu bestimmen versucht, eine Art von Synopsis
aufstellt, die gestattet, jedes neu entdeckte oder neu genau
bestinnnte Exemplar einer Gesellschaft fehllos in die zu-
gehörige Klasse und Ordnung einzureihen. Wie schwierig
diese Aufgabe angesichts der Mangelhaftigkeit unserer Über-
lieferung ist, verkennt Breysio selbst nicht im mindesten;
aber es scheint mir, als wenn er eines der Stufensymptome
stark überschätzte, das in seinem Ausdruck „knochigste"
von €dlen: die äußere Staatsverfassung. Meine viel-
fach gleichlaufenden Studien haben mich zu der vorläufigen
Überzeugung geführt, daß die Staatsverfassung als „gutes
Artmerkmal^ nicht verwendbar ist. Soweit ich sehen kann,
gestattet die äußere Verfassung der Staaten keinen Bück-
schluß auf ihre innere Beschaffenheit. Wir haben z. B. im
malajrischen Archipel dicht nebeneinander kleine Staats-
wesen, deren soziale und ständische Verfassung, wirtschaft-
liche Gliederung usw. völlig analog erscheint: und doch ist
in dem einen der Sultan eine ohnmächtige Puppe in den
Händen der großen Feudalherren, während er in dem
Nachbarreiche, wo das Ftirstenamt mit dem Oberpriester-
amt verkuppelt ist, eine fast unbegrenzte Macht zu genießen
254 Franz Oppenheimer:
scheint. Ähnliche Beispiele lassen sich häufen. Breysig ist
durch die Überschätzung der äußeren Verfassung als des
wichtigsten Stufenmerkmals früher zu manchen handgreif-
lichen Irrtümern gelangt: so z. B. hat er Karthago, einen
echten „Seestaat" auf der Höhe seiner neuesten Zeit,
nämlich im Ausgangsstadium der durch die kapitalistische
Sklavenwirtschaft verursachten Zersetzung, auf das Symptom
der Verfassung hin der Altertumsstufe eingeordnet.
Vor solchen Mißgriffen wird man sich nur bewahren
können, wenn man die morphologische mit der embryo-
logischen Betrachtungsweise kombiniert, d, h. wenn man die
teils psychologischen, teils mechanisch-kausalen Ursachen
erforscht, die von einer Stufe zur anderen emporführen.
Daß solche Untersuchung eine zum Hauptteile national-
ökonomische sein muß, d. h. eine solche., die der Ent-
wicklung der sozialen Klassen und der gesellschaftlichen
Produktivkräfte nachspürt, ist meine Überzeugung, die ich
hier nicht näher begründen kann. Meine soeben erschienene
Abhandlung „Der Staat" *) gibt den ersten ausführlichen
Versuch der Verwirklichung dieses universalhistorischen
Programms. Ich glaube, daß nur diese Methode, die Dinge
zugleich in ihrer Auseinanderentwicklung auf Grund all-
gemein mcBschlicher Seelengesetze und in ihren auf jeder
Stufe entwickelten Formen gleichzeitig zu betrachten, die
Gefahren vermeiden kann, die als Skylla und Charybdis die
Adepten Lampkechts und Breysigs bedrohen: die Über-
spannung des psychologischen Entwicklungsgedankens bis
zur Beugung widersprechender Tatsachen, und die falsche
Bewertung einzelner sozialer Symptome, für die der Maß-
Stab fehlt.
Diese kritischen Bemerkungen zu dem Schnei DERschen
und namentlich zu dem BREYSiGschen Buch würden ihren
Zweck verfehlt haben, wenn sie in dem Leser einen andercli
Eindruck erweckten als den, daß hier äußerst wertvolle und
im höchsten Maße an Anregungen fruchtbare Werke vor-
') Hütten & Loening, Frankfurt a. M. 1907.
Moderne Geschichtsphilosopliie. 255
liegen. Nichts liegt mir femer als Nörgeln und Besserwissen-
wollen : meine Kritik wünscht nur Beiträge zur methodischen
Bewältigang der ungeheuren Arbeit zu geben, die hier be-
gonnen ist, 'wimscht womöglich die Verfasser vor Irr- und
Umwegen zu bewahren oder selbst eines Besseren belehrt
zu werden.
Einen dritten, hochinteressanten Beitrag zur Universal-
geschichte liefert Brooks- Adams : Das Gesetz der Zivilisation
und des Verfalls (vollständige autorisierte Übersetzung nach
der französischen und englischen Ausgabe mit einem Essay
von Theodore Roosevelt. Akademischer Verlag Wien und
Leipzig 1907).
Brooks-Adams glaubt durch seine Studien einen ge-
schichtsphüosophischen Hauptschlüssel entdeckt zu haben.
Et knüpft an das bekannte SPENCERsche Universalgesetz an,
wonsich die Entwicklung geht vom gleichartigen Zerstreuten
zum ungleichartigen Verbundenen, d. h. zu immer höherer
Konsolidation und konzentrierter Bewegung. Auf die Ge-
schichte der Staaten und Völker angewendet, heißt das
Konzentration in immer größeren Staatsgebilden, Ent-
wicklung von immer mehr Energie. Sobald die entwickelte
Energie nicht mehr voUständig für die Bedürfnisse des
Augenblicks verzehrt wird, sobald ein Überschuß vorhanden
ist, nämlich das Kapital| wird dieses Kapital zum Schicksal
der Gesellschaft. Und zwar führt es mit fataler Notwendig-
keit zu einer verhängnisvollen Abwärtsentwicklung, die
schUeßUch im Völkertode oder einem ihm nicht mehr fem
stehenden Zustande endet. Nur zwei Typen bleiben allein
übrig : als Herrscher die schlimmste Abart des Kapitalisten,
der Wucherer, und als Beherrschte die niederste, be-
dür&isloseste und zäheste Abart des Arbeiters, der Acker-
bauer, dessen welthistorisches Paradigma der Fellache
Ägyptens ist. Allß höheren und deswegen anspruchs-
volleren Abarten der species homo, namentlich die sämt-
lichen „imaginativen" Existenzen: der Soldat, der Künstler,
256 Franz Oppenheimer:
der Priester, sind ausgerottet, und nur jene beiden ein-
ander polar ergänzenden „ökonomischen" Spielarten übrig-
geblieben. Diese Entwicklung führt schließlich niit Not-
wendigkeit zur vollkommenen politischen Ohnmacht, zu einer
"Wehrlosigkeit, die das Land neuen frischen Barbaren-
stämmen überantwortet, zu trostloser Verarmung, und
schließlich mehr oder weniger zum eigentlichen Völkertode
durch Schwund der Bevölkerung, indem einerseits die
Unterschicht zermalmt wird und ausstirbt, anderseits die
Oberschicht sich selbst durch Ehelosigkeit und Beschräjikung
der Einderzahl aus plutokratischen Gründen zum Aussterben
verurteilt.
Diese im tiefsten pessimistische Auffassung versucht
Brooks-Adams zu erhärten durch eine Übersicht über die
Geschichte Europas, die von Rom und Byzanz bis auf die
Gegenwart reicht. Er zeigt, wie überall mit dem Erwerb
von Kapital in großen Mengen, wie es namentlich durch
Eroberungs- und Raubzüge entsteht, jene verhäng;ni8Volle
Entwicklung einsetzt und unaufhaltsam ihrem Ende zutreibt.
Die Klasse, die das Edelmetall besitzt, versteht überall
durch gesetzliche und andere Maßnahmen den Preis ihres
Eigentums, des Metallgeldes, zu treiben und dadurch den
Preis aller anderen Waren entsprechend zu senken. Dadurch
gerät die Klasse der Produzenten in Not, einerseits weil sie
für ihre Produkte weniger Valuta enthält, anderseits weil
die von ihr in Geld zahlbaren Sghuldzinsen und Steuern
einen immer steigenden Teil ihres Gesamtproduktes re-
präsentieren. So verfällt namentlich der Ackerbau und
damit diei Kraft der Völker ; die imaginative Klasse wird zu
bloßen Beamten und zum Ausbeutungsobjekt der öko-
nomischen, bis schließlich außer "Wucherern und Acker-
sklaven nichts mehr vorhanden ist. Für diese Theorie
bemüht sich Brooks-Adams eine ganze Kette von Beweisen
zusanunenzubringen , namentlich aus der Geschichte der
Handelswege und des Handelskapitals, Und es soll gar
nicht bestritten werden, daß viele der Tatsachen richtig ge-
deutet sind. Die Macht des byzantinischen Reiches scheint
Moderne Geschichtephilosophie. 257
tatsächlich, mehr als von anderen Dingen davon abhängig
gewesen zu sein, wie sich durch die jeweiligen politischen
Verhältnisse der Handelsweg von Europa nach China ver-
legte. Jedesmal, wenn durch kriegerische Ereignisse usw.
das Hinterland von Byzanz abgeschnitten wird, verarmt das
Reich nnd verHert seine miHtärische Kraft, um Reichtum
und Kraft sofort wieder zu gewinnen, wenn der abgedeichte
Strom des Handels wieder in Byzanz einmündet.
Aber diese Tatsachen scheinen mir nicht entfernt hin-
zureichen, um die weitgehenden Schlüsse zu gestatten, die
Brooks-Adams aus der Geschichte des Altertums zieht, und
noch viel weniger die äußerst düstere Prognose der Zu-
kunft, die er den europäisch-amerikanischen Völkern stellt.
Man müßte das im übrigen nicht nur originelle, sondern
auch außergewöhnlich interessante und fesselnde Buch fast
Seite für Seite verfolgen, wollte man in wirklich aus-
reichender Weise die Kritik zu Ende führen. Dazu ist hier
nicht der Baum, und so muß ich mich darauf beschränken,
die falschen Prämissen darzustellen, von denen Brooks-Adäms
ausgeht, und nur einzelne besonders schlagende Beispiele
von Konklusionen, die ich für irrig halte, anzuführen. Die
falschen Prämissen sind dieselben, auf denen der sozio-
logische Pessimismus überhaupt aufbaut. Sie sind im
wesentlichen ökonomischer Art, angebliche Gesetze, die der
Historiker gutgläubig aus einer benachbarten Wissenschaft
entnimmt, die für ihn Hilfswissenschaft ist, der National-
ökonomie. Das erste dieser falschen Gesetze ist das, was
Karl Marx die „Kinderfibel von der ursprünglichen Ak-
kumulation** genannt hat. Seit Türgot ist die National-
. Ökonomie davon überzeugt , daß die Konkmrenz selbst in
dem Falle unvermeidlich und schnell zu einer außer-
ordentlich starken Verschiedenheit der Einkommen und
Vermögen führen muß, wenn sie zwischen ursprünglich
ß;leichvermögenden und gleichberechtigten Individuen ein-
setzt. Diese Auffassung ist zweifellos falsch, es können
weder grobe Verschiedenheiten des Grundeigentums noch
YierteljahrBsohrift f.wi8MD8cbaftl.PhiloB. u. Soziol. XXXII. 2. 17
258 Franz Oppenheimer:
des Kapitaleigentums entstehen, wenn nicht von Anfang an
durch eine „außerökonomisch" entstandene Klassengliederung
Schichten von verschiedenem Besitz und verschiedenen
Rechten gesetzt sind. Solange nämlich keine rechtlich
arbeitspflichtigen Menschen vorhanden sind, hat niemand
das geringste Interesse daran, mehr Boden zu okkupieren,
als er für seine Nahrungszwecke braucht, und solange die
Bevölkerung zu freiem Grund und Boden Zugang hat, ist
einerseits die Anhäufung von Kapital in größerem Maßstabe
undenkbar, und kann es andererseits mangels billiger
Arbeiter keine Erträge von solcher Höhe abwerfen, daß
daraus im Laufe der Zeit bedeutende Vermögens- und Ein-
kommensunterschiede resultieren können. Diese theoretische
Erwägung, die wir hier nicht näher verteidigen können,
wird übrigens historisch durch die Tatsache erhärtet, daß
ganz ausnahmslos alle Vermögens- und Einkommensunter-
schiede erwachsen sind auf der Grundlage eines Gesellschafts -
zustandes, der mit groben Klassenverschiedenheiten ein-
setzte.
Der zweite ökonomische Irrtum, den Brooks-Adams aus
der Nachbarwissenschaft entnommen hat, ist die Fabel von
der Konkurrenz, die auch in der Landwirtschaft zwischen
Groß- und Kleinbetrieben bestehen soll. Es ist dies der
Irrtum, der namentlich das MARXsche System völlig ab-
gelenkt hat. Es kann zwischen Groß- und Kleinbetrieben
in der Landwirtschaft eine Konkurrenz im Sinne derjenigen,
die die kapitalistische Industrie beherrscht, durchaus nicht
bestehen. Die Konkurrenz in der Industrie wirkt dadurch
zerstörend auf die Kleinbetriebe, daß der billiger pro-
duzierende Großbetrieb seine Erzeugnisse zu einem Preise
anbieten kann, bei dem der Kleinbetrieb zugrunde gehen
muß. Davon ist in der Landwirtschaft gar keine Rede.
Die Preisbildung erfolgt hier nicht, wie in der Industrie,
durch Angebot seitens der Produzenten, sondern durch
Nachfrage seitens der Konsumenten; die Tendenz des
Preises ist deshalb hier nicht, wie in der Industrie, eine
sinkende, sondern eine regelmäßig steigende; der Groß-
Moderne G^eschichtsphilosophie. 259
betarieb arbeitet ferner gar nicht billiger als der Klein-
betrieb, und schließlich ist der Beitrag zur Weltemte, den
selbst das gröfite Latifundium der Welt liefert, so gering,
daß es den Weltmarktpreis auch dann nicht beeinflussen
könnte, wenn der Besitzer töricht genug wäre, das Produkt
unter diesem Preise abgeben zu wollen. Es hat denn auch
noch niemals in der Weltgeschichte ein Großgrundbesitzer
einen Bauern niederkonkurriert. Wo der Kleinwirt gegen-
tiber dem Latifundium verschwand, waren es regelmäßig
juristisch-politische, niemals ökonomische Kräfte, die um
entwurzelten. Ich habe z. B. in meinem „Grundgesetz der
ÜARXschen Gesellschaftslehre" (Berlin 1903) zeigen können,
daß Karl Marx auch nicht einen einzigen Fall hat an-
ftlhren können, in dem ein Bauer durch die Konkurrenz
zugrunde gegangen ist. Alle von ihm angeführten Fälle
beziehen sich nicht auf Bauern, sondern auf Pächter, und
diese wurden nicht durch Unterbietung ruiniert, sondern
im Gegenteil gerade bei steigenden Produktenpreisen höchst
simpel auf Grund bestehender Besitz- und Machtverhältnisse
expropriiert, „gelegt". Daß Marx diesen himmelweiten
Gegensatz verkannte, beruht nur darauf, daß er sowohl die
ökonomische Vernichtung des gewerblichen Kleinbetriebes
durch Preisunterbietung (Handweber) wie auch die rechtliche
Vertreibung der Pachtbauem mit demselben doppeldeutigen
Ausdruck „Expropriation" bezeichnete.
Die dritte falsche Prämisse, von der Brooks- Adams aus-
geht, ist nicht eigentlich eine nationalökonomische, obgleich
sie auch hier ihre Rolle spielt, namentlich auch wieder bei
Karl Marx. Es handelt sich hier um die Grundlage des
von mir so genannten „Gesetzes der zyklischen Kata-
strophen". Nahezu jeder Geschichtsphilosoph der Neuzeit,
mit Ausnahme der großen Optimisten der klassischen Periode
und der meisten Sozialisten, erblickt in der kapitalistischen
Gegenwart ein genaues Analogen der kapitalistischen Antike
und sagt ihr infolgedessen das gleiche Schicksal voraus.
Selbst Karl Marx ist tief davon durchdrungen — das
„kommunistische Manifest" zeigt es nicht minder klar als das
17*
260 Franz Oppenheimer:
„Kapital" — daß die kapitalistisclie Gesellschaft der Gegen-
wart zunächst in denselben Abgrund rollen muß wie die
antike Gesellschaft, und daß dann erst der neue letzte
Aufstieg zum tausendjährigen Reich der Freiheit und de»
Glückes erfolgen kann. Und in der Tat läßt sich nicht
leugnen, daß in außerordentlich vielen und bedeutungsvollen
Zügen unsere heutige Gesellschaft der antiken überaus
ähnlich ist: die kolossale Zunahme des in wenigen Händen
konzentrierten Reichtums, die Zusammenballung der armen
Massen in ungefügen, ungesunden Riesenstädten, ihre Hin-
neigung zum Sozialismus und Anarchismus sind ebenso
Analoga der antiken Geschichte, wie die tiefe Demoralisation
der Oberklassen, wie der Verfall der Kunst, der Wissen-
schaft, der Sitte, der Ehe usw.
Aber diese äußeren Ähnlichkeiten dürfen uns doch nicht
so hypnotisieren, daß wir die noch viel stärkeren Unähnlich-
keiten übersehen, die dem unbefangenen Blick sogleich
auffallen müssen. Ich will nur eine nach meiner Meinung
entscheidende Tatsache anführen: die zivilisierten Völker
der kapitalistischen Neuzeit wachsen , und zwar je kapita-
listischer sie entwickelt sind, in der Regel um so mehr, an
Volkszahl gerade so stark, wie die antiken Völker an Volks-
zahl zurückgingen. Einzelne scheinbare Ausnahmen be-
stätigen nur die Regel. Frankreich wächst nicht, weil es
verhältnismäßig sehr wenig Proletariat besitzt; es ist ein
sattes Land von Mittelbauern. Gerade aber das Proletariat,
die Unterklasse war es, die in der kapitalistischen Antike
mit so rasender Geschwindigkeit einschmolz. Und diesem un-
geheuren Wachstum der Volkszahl geht heute ganz zweifellos
auch bei den Unterklassen ein Wachstum des Wohlstandes,
der Bildung und Gesittung parallel, während in den antiken
Staaten die Volksmassen mit gleicher Rapidität sittlich und
ökonomisch verfielen.
Dieser Unterschied ist von ungeheuerster Bedeutung*
Er zeigt, daß der Volkskem, der Stamm der Volkheit, heute
ebenso im tiefsten Kern gesund sein muß, wie er in der
Antike im tiefsten Kern markfaul war, und schon aus diesem
Moderne Gesobichtsphilosophie. 261
einen Grunde muß die Prognose unserer heutigen Ent-
wicklung ganz anders ausfallen, selbst wenn man nicht in
der Lage ist, diesen Unterschied kausal zu begreifen und
auf Grund dieses Verständnisses die Tendenz der kapita-
listischen Entwicklung hier und dort mit annähernder Ge-
wißheit zu bestimmen.
Wir sind aber durchaus dazu in der Lage. Der große
Gegensatz der beiden Geschichtsepochen, aus dem alles
andere fließt, besteht darin, daß die antike Wirtschaft
durchaus auf Sklavenarbeit, die moderne durchaus auf freier
Arbeit aufgebaut ist. Beide Gesellschaften sind kapitalistisch,
d. h. sie erstreben die „Verwertung" eines Stockes von
Produktionsmitteln auf einem geldwirtschaftlich entfalteten
Markte, und das bedingt ihre Ähnlichkeit in vielen Punkten •,
aber die Antike hat die kapitalistische Sklaven Wirtschaft,
die Moderne die kapitalistische Vertrags Wirtschaft, und
das sind zwei toto coelo verschiedene Dinge, die ganz ver-
schiedene Ausgänge nehmen.
Um nun zu den Folgerungen aus diesen falschen
Prämissen überzugehen, so kann gar keine Rede davon sein,
daß, wie Brooks-Adams annimmt, der Abfluß des Edelmetalls
nach dem kunstgewerblich entfalteten Orient die Ursache
für den Niedergang der italischen Bauernschaft und die
Entvölkerung des Reiches gewesen ist. . Nicht als ob ich
bestreiten wollte, daß die relative Preissteigerung des Edel-
metalls die Lage der Bauern sehr verschlimmert hat, da
sie gezwungen waren, einen viel größeren Teil ihrer Ernte
herzugeben, um ihre Schuldzinsen respektive Pachten und
Steuern aufzubringen; aber dieser Abfluß des Edelmetalls
selbst war wieder nichts anderes als eine Konsequenz aus
der allgemeinen ökonomischen Grundlage der Gesellschaft,
der Sklavenwirtschaft. Der Zusammenhang ist der folgende :
Der freie Bauer, durch Kriege im Interesse der Herrenklasse
und eine echte Klassen-Steuer-Gesetzgebung ruiniert, dann
durch eine brutale Klassenjustiz expropriiert, verschwindet
und macht riesigen, durch Sklaven bewirtschafteten Lati-
262 Franz Oppenheimer:
fundien Platz. Diese Latifundien werden in der Grossoiken-
wirtschaft betrieben, d. h. sie stellen so ziemlich alles, was
der Betrieb braucht, inklusive der Kleidung der Sklaven
und der Werkzeuge, im eigenen Betriebe her. Infolge-
dessen verlieren die Landstädte völlig ihren Markt, da der
Sklave keine Kaufkraft hat, und der Latifimdienbesitzer in
der Hauptstadt lebt und dort seine Nachfrage ausübt. Die Folge
davon ist, daß der städtische Handwerker usw. dem bäuer-
lichen nach Rom folgen muß ; aber auch dort findet er nicht
die Möglichkeit, gegen die Sklavenarbeit aufzukommen, die
alles gewerbliche Leben ergriffen hat. Er lebt also als
stimmberechtigter Lumpenproletarier von Almosen, Be-
stechtmgsgeldem und Gelegenheitsarbeit. Die Plutokratie,
die ihn braucht, muß ihn füttern imd amüsieren: panem et
circenses! Zu dem Zwecke importiert sie als den Tribut
unterworfener Länder Getreidemassen, die sie dem souveränen
Pöbel schenkt, und macht es auf diese Weise natürlich dem
Rest der vielleicht noch existierenden selbständigen Bauern
unmöglich zu existieren. Man beachte wohl, daß hier von
einer ökonomischen Konkurrenz im volkswirtschaftlichen
Sinne durchaus nicht die Rede ist; es sind lediglich
juristisch-politische Einflüsse, die den Bauernstand ver-
nichten.
Unter solchen Umständen kann natürlich von irgend-
einer volkswirtschaftlichen Produktion in Rom selbst kaum
die Rede sein-, der Luxusbedarf der Großen muß sich an
den Erzeugnissen derjenigen Länder befriedigen, die noch
halbwegs gesunde soziale Verhältnisse haben und darum
ein entwickeltes Gewerbe besitzen. In diese Länder strömt
das geraubte und gestohlene Gold immer wieder ab: nach
Indien, nach China usw., und Rom muß an Gold verarmen^
sobald es den ihm erreichbaren Länderkreis erst einmal
wirklich gründlich ausgeplündert hat. So ist also die Preis-
steigerung des Goldes und die Preissenkung aller anderen
Waren und die daraus hervorgehende ungeheure Be-
vorzugung aller Gläubiger gegenüber dem Schuldner nicht
die Ursache, sondern eine und nicht einmal die wichtigste
Moderne Geschichtephilosophie. 263
Konsequenz der Entvölkerung, die auf einer ganz anderen
Ursaclie beruht.
£l3enso falsch deutet, um ein anderes Beispiel an-
zufahren, meines Erachtens Brooks-Adams die neuzeitlichen
Verhältnisse. Er sieht sie etwa mit den Augen eines
bimetallistischen Agrariers Deutschlands an. Die Einführung
der Goldwährung stellt sich ihm dar als ein glücklich ge-
lungenes Attentat der Bankierklasse auf die Produzenten^
als ein künstliches Mittel zur Hebung des Gold- und Senkung
des "Warenpreises, ziu* Bereicherung der Gläubiger auf
Kosten der Schuldner. Man müßte Bände schreiben, um
all das ausfuhrlich zu diskutieren und zu widerlegen. Auch
hier spielen wieder falsche ökonomische Vorstellungen
über Wesen und Entstehung des Kapitalismus hinein, die
wieder mit den Ideen des Marxismus sehr nahe über-
einstimmen. Auch Marx läßt ja den Kapitalismus aus dem
Handel, aus Wucherkapital entstehen, während heute kein
Zweifel mehr darüber entstehen kann, daß die ersten
kapitalistischen Betriebe der Neuzeit, wie auch im Altertum,
in der Landwirtschaft entstanden sind, als Rittergüter. Das
war namentlich auch in England der Fall, wo der steigende
Wollbedarf der flandrischen Gewebeindustrie vom Anfang
des 13. Jahrhunderts an die alte Agrarverfassung um-
zuwälzen beginnt; die Feudalherren legen die Bauern, um
Schafe weiden zu können, das Proletariat strömt in die
Städte und bietet den dortigen Meistern billige Arbeits-
kräfte. Der Raub der Kirchengüter und des Gemeinde-
landes durch die Einhegungen tut den Rest, um ein riesiges
Proletariat zu schaffen, und der Kapitalismus entfaltet sich
allmählich. Daß die ungeheuren Schätze, die von den durch
denselben Umwälzungsprozeß existenzlos gewordenen Aben-
teurern aus Indien usw. herbeigeschafft wurden, den jungen
E^apitalismus zum Riesen haben erwachsen lassen, ist wieder
gar nicht zu bestreiten-, aber auch hier ist die primäre
Ursache nicht die Verschiebung der Handelswege oder der
Erwerb des Metallschatzes, sondern wieder eine agrarische
\
264 Franz Oppenheimer:
Umwälzung. Und ganz dasselbe gilt für Deutschland und
den Fünf- Milliarden-Segen.
Noch ein Wort: Brooks-Adams ist nicht Anhäoager der
Ra,ssentheorie im gewöhnlichen törichten Sinne, wohl aber
glaubt er, daß in der Menschheitsgeschichte zwei Typei;i
miteinander ringen, der imaginative und der ökonomische
Mensch, und er macht der Rassentheorie insofern eine
Konzession, als er annimmt, daß gewisse Rassen mehr In-
dividuen der einen, andere mehr der anderen Art auf-
weisen. Der imaginative Mensch ist, wie schon gesagt, der
Krieger, der Priester, der Künstler; der ökonomische Mensch
ist der Kapitalist, der Bankier einerseits, das bedürfnislose,
ackernde Tier, der Bauer, anderseits. Ich halte diesen Ge-
danken, wie alle ähnlichen, für einen höchst unglücklichen.
Überall suchen die Soziologen heute nach solchen scheinbar
alles ausfüllenden Gegensatzpaaren , und alle möglichen
Varianten finden sich. Nach Dietzel bewegt sich der Gegensatz
zwischen Individualismus und Sozialismus, nach Tönnies
zwischen Wosenwillen und Willkür, nach Breysig zwischen
Idealismus und Realismus , wieder nach anderen zwischen
Freiheit und Autorität usw. usw. die Geschichte. Ich halte
das alles für Worte, die sich zur rechten Zeit einstellen,
wo die Begriffe fehlen. Daß die- Menschen, als Individuen
genommen, gewisse Verschiedenheiten aufweisen, unterliegt
gar keinem Zweifel; aber als Klassenangehörige haben sie
gemeinhin doch eine Psychologie von überraschender Ein-
förmigkeit, nämlich Vorstellungen, Anti- und Sympathien,
die dem Fortbestand und dem Vorteil ihrer Klasse dienen.
Auf diese Verschiedenheiten der Klassenpsychologie lassen
sich, soweit ich bisher zu sehen vermag, die historischen
Erscheinungen restlos zurückfuhren. Mit anderen Worten:
es sind nicht zwei verschiedene Typen der Species homo
sapiens, die jeweils miteinander im Kampfe liegen, sondern
es sind soziale Klassen, die miteinander streiten und dabei
eüie ganz bestimmte Klassenpsychologie zeigen, die nun je
nachdem mehr imaginativ oder mehr ökonomisch aussieht.
Es sind immer dieselben Menschen, nur anders motiviert,
Moderne Greschichtsphilosophie. 265
'weil in einem anderen Milieu und durch andere Druck-
verhältnisse in die Strömung zu einem anderen Ziele ge-
drangt. Genau derselbe Mensch, der in einer reinen
Kau&nannsaristokratie den reinsten ökonomischen Typus
aufweist, würde, als Säugling in eine reine Kriegerkaste
angenommen, alle Charakterzüge des imaginativen Menschen
zeigen. Brooks-Adams führt selbst ein schlagendes Beispiel
dafür an, daß das Milieu die Denkweise mit ungeheuerster
Kraft bestimmt: dieselben französischen Lehnsherren, die
auf Befehl des Papstes ihren König Philipp trotz seines
Flehens zwangen, seine geliebte Gattin Agnes zu opfern,
leisteten demselben Papste im Bündnis mit dem Dogen
Dandolo, unbekümmert um Bann und Interdikt, den un-
verschämtesten Widerstand. Daraus geht wohl am deut-
lichsten hervor, daß der Mensch imaginativ oder ökonomisch
ist, je nachdem sein persönlicher Vorteil oder derjenige
seiner Klasse ihn bestimmt. Wenn übrigens Brooks-Adams
für das fiühe Mittelalter ein Vorherrschen des imaginativen
Geistes in dem Sinne annimmt, daß die Westeuropäer die
entsetzlichste Angst vor der magischen Kraft der Kirche
hatten, so ist das eine krasse Übertreibung. Die Feudal-
herren, die Heinrich IV. im Kampfe gegen Gregor im Stiche
ließen und dadurch zwangen, nach Kanossa zu gehen, hatten
sehr gute Gründe, das Königtum geschwächt zu wünschen,
und leisteten darum den päpstlichen Befehlen Gehorsam.
Wo ihr Vorteil ihnen Ungehorsam nahelegte, hat die
^magische Furcht" selten einen Einfluß auf ihre Ent-
schließungen ausgeübt.
Auch diese Erwägung ist geeignet, den schwarzen
Pessimismus unseres Autors zurückzuweisen. Es besteht
keine Gefahr, daß der imaginative Typus ausstirbt. Sobald
sich Verhältnisse einstellen werden, in denen nicht mehr
Wucher und sklavische Arbeit, sondern die imaginativen
Fähigkeiten des Menschen das Mittel zum Emporstieg sein
werden, wird die imaginative Begabung, die in jedem
einzelnen liegt, seine ökonomische zurückdrängen und den
Baum der Menschheit mit neuen Blüten schmücken. Eine
206 Franz Oppenheimer: Moderne Geschichtsphilosophie.
neue Wildrasse brauchen wir nicht, um uns dieses G-eschenk
des Himmels wieder zu bringen. Das Altertum brauchte
frisches Blut, weil Volk nach Volk buchstäblich starb: wir
aber leben, und der Pessimismus von Brooks- Adams braucht
uns nicht zu ängstigen.
Der dem Werke vorausgeschickte Essay von Theodobe
RoosEVELT kommt, zum Teil aus ähnlichen Erwägungen, zu
dem gleichen Ergebnis.
L
Bespreehungen.
Kants gesammelte Schriften, herausgegeben von der
Königl. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste
Abteilung, Werke, Bd. VI u. VII. Berlin 1907, Reimer.
Die Einleitungen, sachlichen Erläuterungen und Lesarten zu
diesen Twei Bänden haben die Herausgeber, Orthographie, Inter-
punktion und Sprache hat wiederum Ewald Frey bearbeitet.
Der sechste Band enthält die „Beli^ion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft'' und die „Metaphysik der
Sitten". Herausgeber des religionsphilosophischen Werkes ist Georg
WoBBBRwiN, des ethischen Werkes Paul Natorp. Dem Druck der ersten
Schrift wurde die zweite Auflage (von 1794) zugrunde gelegt, und für
die Liesarten das Manuskript der Druck vorläge , das zwar von Kant
nicht selbst geschrieben, aber eigenhändig Oberlängen wurde, hinzu-
gezogen (S. 500/501). FQr die Metaphysik der Sitten wurde die erste
Auflage als maßgeblich angesehen, und nur die wirklichen Ver-
besserungen im Text der zweiten, um viele Druckfehler vermehrten
Ausgabe in den Druck aufgenommen (S. 527). Ebenso ist der ver-
mutuch durch ein Versehen von Verleger und Drucker zwischen die
zwei Teile der „Eechtslehre" in der zweiten Auflage eingefügte An-
hang von Natorp wieder Kants Anordnung und dem Sinne gemäß an
den Schluß der „Rechtslehre'' gerOckt worden (S. 519).
Der siebente Band bringt den Streit der Fakultäten
(Herausgeber Karl Vorländer) und die Anthropologie (Heraus-
feber Oswald KOlpk). Das zum Streit der Fakultäten vorhandene
[anuskript hat dem ersten Druck wahrscheinlich nicht zugrunde ge-
legen (S. 348); fOr den Text unserer Ausgabe hat die zweite Auflage
das Original gebildet. Das Gleiche gilt von der Anthropologie, an
deren Bearbeitung vor allem die zahlreichen Randbemerkungen
an dem Kantischen Druckmanuskript interessieren, die unter den
^£rgän2sungen^ (S. 393 ff.) wiedergegeben sind und Ober viele Seiten
laufen.
Leipzig.
Raoul Richter.
Sfhniid^ Bastian, Philosophisches Lesebuch, zum
Gebrauch an höheren Schulen und zum Selbststudium.
Leipzig 190(3, B. G. Teubner. Geb. M. 2,00.
268 Walther Eegler:
Bas vorliegende Buch soll als Hilfsmittel für den philosophischen
Unterricht dienen. Der Verfasser denkt es sich zunächst in c^r Hand
des Lehrers — dem es freilich viel zu wenis bietet — , weiter aber
auch in den Händen der Schüler. Es bestent in einer dreiteiligen
Sammlung von Abschnitten aus Schriften verschiedener Philosophen
seit Descartes bis auf die Gegenwart; der erste Teil enthält Ab-
handlungen einleitenden und erkenntnistheoretischen Inhalts, der
zweite hauptsächlich solche naturphilosophischen, \ind der dritte
Odeinste) solche psychologischen, logischen, ethischen und ästhetischen
Inhalts. Die naturphilosophischen Probleme sind etwas in den Vorder-
grund gerückt. Das ist insofern kein Schade, als auf den Gyncinasien
in der Lektüre der Schriften Ciceros und Platons eine idealistische
Ergänzung besteht. Über die Auswahl selbst kann man sehr ver-
schiedener Meinung sein. Manches erscheint zu ausführlich behandelt,
z. B. der Kampf ums Dasein (Darwin). Schopenhauer, „der seltsame
Denker" (S. 11*^ wird nur mit einer kürzeren Stelle angezogen, die
ihn lächerlich machen muß. Hegkl und andere fehlen ganz. Daß ein
Buch, in dem so verschiedene Denker wie A. Ribhl, Hartmann, Haeckki.,
Paulsen usw. zu Worte kommen, nicht einheitlich sein kann, ist klar.
Um aber einen gewissen Zusammenhang zu schaffen, hat der Ver-
fasser erläuternde Übergangsstücke eingefügt, die jedoch dem
BrCferenten nicht immer sehr glücklich abgefaßt erscheinen. So findet
sich in dem Aufsatz über den Zweckbegriff folgender Gedanke (S. HO) :
„Wir fragen heute: waren die ersten Fische, Frösche, Vögel auch
schon zweckmäßig gebaut? Für eine Giftsäfte führende Pflanze ist
es zweckmäßig, wenn sie dieselben in möglichst konzentrierter Lösung
enthält, für die weidenden Kühe dagegen wird sie dadurch nur um
so schädlicher Hier würde eine utilitaristische Betrachtungsweise
vergeblich sich bemühen, einen plausiblen Zweck herauszuBnden.*"
Was ist das für eine Logik? Unerträglich aber sind die in eii^r 2. Auf-
lage zu verbessernden zahlreichen Nachlässigkeiten der Stüführung,
von denen nur zwei Beispiele angeführt seien (S. 20): „Selbst inner-
halb der Art Mensch, welchem nicht nur das an Gewicht (relativ)
schwerste, sondern auch kompliziertest gebaute Gehirn mit dem
größten Großhirn zukommt (es repräsentiert *k des gesamten Hirn-
fewichts), zeigen Schädelmessungen und Gewichtsbestimmungen, daß
ie Ausbildung des Gehirns mit den geistigen Fähigkeiten in engem
Zusammenhang zu stehen scheint.*^ S. 21: „. . ., daß die herab-
gesetzte Geistestätigkeit im Greisenalter auf Erkrankungen des Gehirns
zurückgehen."
Schneeberg i. S. Walther Kegler.
Salyadori, Gnglielmo^ Das Naturrecht und der Ent-
wicklungsgedanke. Einleitung zu einer positiven
Begründung der Rechtsphilosophie. Leipzig 1905,
Dieterichsche Verlagsbuchhandlung Theodor Weicher.
110 S.
Der Verfasser bezeichnet die Gegenwart als Übergangszeit. Die
historische Methode hat in den Geistes- und Gesellschaftswissen-
schaften den [Rationalismus des 18. Jahrhunderts überwunden, dafür
aber durch ihre einseitige Anwendung soziale und intellektuelle Un-
ruhe erzeugt I aus der als alles beherrschender Mittelpunkt der £nt-
Das Naturrecht und der Entwicklungsgedanke. 269
Wicklungsgedanke emporsteigt. Durch Verkennung der bleibenden
Momente in den Bechtsprinzipien wird die Moral aufgelöst. Die
rationalistische Auffassung muDte fallen, da sie, ohne es zu wissen,
den Inhalt aus der Erfahrung nahm. Durch Hobbes und Hume kamen
die Zweifel. Kant verschiebt die Grundlage des Nationalismus, vom
dogmatischen Objektivismus kommt er zum kritischen Subjektivismus.
So wird die Form rational, der Inhalt empirisch, die Moral wird von
der Erfahrung unabhängig. Der Dualismus Kants w^ird durch das
rein indxiktive Verfahren, wie es sich bei Coutr, in der Soziologie, im
historischen Materialismus, in der wissenschaftlichen Psychologie und
in der Evolutionstheorie findet, beseitigt. Die Fehler aller dieser
Dichtungen waren die Einseitigkeit, die Konfusion von Bechts-
entwicklung und Normbestimmung, die Vernachlässigung der letzteren.
Die äußeren Tatsachen und die idealen Erfordernisse des moralischen
Bewußtseins müssen miteinander versöhnt werden. Der Historismus
hat die soziale Seite der Menschennatur aufgezeigt und damit die
neue Grundlage der Bechtsphilosophie geschaffen. Dazu muß die
spezifische Kraft der Seele, neue Gerechtigkeitsideale aufzustellen^
hinzugenommen werden. In den Wirkungen und Gegenwirkungen
der Perönlichkeit mit der Umgebung ist der letzte Grund des Becnts
zu suchen; das Naturrecht ist der absolute Anspruch der Persönlich-
keit, das vom Menschen entdeckte Gesetz seiner eigenen Natur. Das
Naturrecht besteht subjektiv aus dem absoluten Erfordernis und
objektiv aus der absoluten Norm der Beziehungen. Der positive
Begriff des Naturrechts wird definiert als die Summe der Be-
fugnisse und Pflichten, die ein in einer Gemeinschaft
geltender übergeordneter Wille den einzelnen Mit-
fliedern zuerkennen soll, um die Entwicklung jeder in-
ividuellen Persönlichkeit und demnach der ganzen Ge-
sellschaft möglich zu machen. Also ist der Entwicklungs-
gedanke der Kern des neuen Naturrechts.
Es erscheint zweifelhaft, ob es dem Verfasser gelungen ist, im
Bechtsbewußtsein etwas wirklich Absolutes, absolute Erfordernisse,
absolute Normen, also eine absolute Gerechtigkeit, als empirisch ver-
wendbare Tatsachen nachzuweisen. Absolut ist doch nur die sub-
jektive Form gewisser Ideen, deren Inhalt einzig aus der objektiven
Erfahrung hervorgeht Der EntwicklungsgedanKe beruht auf einer
objektiven Beobachtung der Natur und des geistigen Lebens. Eine
wissenschaftliche Aussöhnung oder S3nithe8e von idealen Erforder-
nissen und konkreten Tatsachen wird wohl für immer unausführbar
bleiben.
Leipzig. G. Liebster.
Schiller^ F. C. S., Studie s in Humanism. London 1907.
Macmillan.
In der neuen, in kurzer Zeit zu so großer Bedeutung gelangten
antirationalistischen Bewegung der englisch-amerikaniscnen Philo-
sophie, die man gewöhnlich mit dem mcht sehr glücklichen Namen
PragmatismusHDezeichnet, ist nächst Williah James ^) der Oxforder
Fellow F. C. S. Schiller der stärkste Vertreter. Er hatte bereits zu
^) ^S^ besonders W. James, P r a gm a t i s m. A new name f or some
cid wajs of thinking. New York 1^7. Auch Deutsch von Jerusalem.
270 Richard Müller-Freienfels:
der unter dem Titel „Personal Idealism^ von acht Oxforder Akademikern
herausgegebenen Essavsammlung seinerseits den bedeutenden Aufsatz
„Axioms as Postulates" beigesteuert, der bereits die wichtigsten
seiner späteren Gedanken im Seime enthält. Im Jahre 1908 kam
dann sein erstes Hauptwerk „Humanism" heraus, in dem er, wenn
auch nicht in zusammenhängender systematischer Form, jene philo-
sophische Denkweise konstituierte, ciie seitdem unter diesem Namen
Humanismus über die Gfxenzen Englands hinaus Aufsehen erregt hat,
vor allem aber in den Kreisen der englischen Hegelianer und
Bradleyaner heftigsten, wenn auch durchaus nicht sieghaften Wider-
spruch erregte. Der Humanismus ist durchaus eine Parallelströmung
zum Pragmatismus, er geht wie dieser auf eine psychologisch fundierte
Erkenntnistheorie aus, zieht freilich seine Kreise noch weiter als der
letztere, indem er sich nicht auf die Erkenntnistheorie beschränken,
sondern seine Theorien auch auf Ethik, Ästhetik usw. ausdehnen
will. Die „Studies in Humanism" sind nun eine Essaysammlung,
die, obgleich durchaus unabhängig vom ersten Buche lesbar, eine Er-
gänzung und Ausbildung der dort vorgetragenen humanistischen Lehren
Sehen will. Die essayistische Form hat freilich neben der ^Ößeren
tebendigkeit und AJctualität doch den Nachteil geringerer Übersicht-
lichkeit.
Humanismus ist kurz gesagt die Lehre, daß es keine von
menschlichen Interessen, Wünschen, Trieben, Tendenzen unabhängige
Erkenntnis gibt, sondern daß alles, was wir Wahrheit nennen,
durchaus nur menschlichen Zwecken dient. Erkenntnis ist durchaus
ein biologisches Phänomen, eine Anpassung unseres Geistes an die
Welt. Das einzige Kriterium aber, das wir haben, um richtige und
falsche Theorien und Anschauungen voneinander unterscheiden zu
können, ist die pragmatische Methode, die darin besteht, daß man
von jener Theorie die Konsequenzen prüft. Nur die praktische An-
wenaung kann über Wahrheit und Irrtum entscheiden. Die abstrakt«
absolute Erkenntnis, welche die Bationalisten behaupten, ist ein
Unding; eine Logik, die Erkenntnisakte ohne die damit verknüpften
Gefühle, Tendenzen , Zwecke usw. behandeln will , führt sich selber
ad absurdum. Darum, weil sich allen unseren Denkakten diese
menschlichen Phänomen anheften, nennt sich die neue Richtung,
die diesen Punkt immer und immer wieder betont: Humanismus.
Dieser an und für sich einfache Grundgedanke, dem man im
wesentlichen wird zustimmen müssen, gibt nun das Fundament für
alle anderen Theorien, die Schiller noch errichtet hat. Er führt zu
einer anderen Größen Schätzung auch in der Geschichte der Philosophie:
Prütagoras, der den Satz, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei,
ausgesprochen hat und der daher als der erste Humanist angesehen
werden muß, wird auf Kosten Patos mächtig in den Vordergrund
feschoben, ein Bestreben, was sich übrigens la auch sonst in neuer
eit stark bemerkbar macht. Da nun aber auem Erkennen sich so
starke menschliche Bestandteile beimischen, so ist es unmöglich, von
„Tatsachen'' als von unserem Denken unabhängigen Dm^en zu
sprechen. Alles, was wir „Tatsache'' nennen, schließt bereits eine
subjektive Interpretation ein, es gibt durchaus für uns keine von
unserem Denken unabhängige objektive Bealität, sondern die Welt,
die an sich nur uXin ist, roher Stoff, wird erst durch unsere Erkenntnis,
die stets ein SeleKtionsprozeß Ist, zu dem, als was sie uns er-
scheint. Die Welt ist plastisch, ist durchaus das, was wir aus ihr
machen. Wenn man von Bealität sprechen will, so muß man unter-
scheiden zwischen „primary reality", die aber für uns nicht in Betracht
Studies in Humanism. 271
kommt, weil sie zwar vorhanden sein muß, aber nicht fOr unsi denn
was w^ir Healität nennen, „real fact^, ist stets schon irgendwie ver-
arbeitet. Was für uns, das heißt, was in unserer Erkenntnis existiert,
enthält stets auch unsere menschliche Interpretation. In diesem Sinne
kann man also saeen, daß es für unsere Erkenntnis keine objektive
Realität gibt, sonoem nur diejenige, die wir selbst, respektive schon
unsere Ahnen gestaltet haben, so daß das Schaffen von Erkenntnis
zugleich ein Schaffen von BeaHtät ist, ohne daß man übrigens
Schillers Ansichten als Solipsismus ansehen darf. Es gibt einen sinn-
lichen Kern der Wirklichkeit, aber wir besitzen ihn nicht, sondern
^stoÖen nur darauf'', .encounter it**, wie Bradlsy einmal sich ausdrückt.
Vielleicht hat diese humanistische Lehre auch eine gewisse Ähnlich-
keit mit der KANTschen Kategorienlehre, doch besteht auch hier eine
gewaltige Kluft, da Schill£b wohl alles eher als Apriorist zu nennen ist,
sondern rein empirisch-psychologisch das in aller Erfahrung enthaltene
Subjektive erklärt. Vgl. oesonders den Essay The Makin^ of Truth ').
Da der Humanismus wie auch der Pragmatismus nicht eine ab-
geschlossene Weltanschauung sein will, sondern nur eine Methode,
um zu einer gesicherten Gesamtanschauung zu gelangen, indem er
das Mittel an die Hand gibt, Wahres von Falschem zu unterscheiden,
so ist er auch vereinbar mit den verschiedensten Formen des Denkens,
soweit sie nur auf empirischem und nicht rationalistischeni Boden
stehen. So kann sich die humanistische Denkmethode sehr wohl
auch mit den verschiedensten religiösen Überzeugungen vereinigen
Is^en, ja gerade für die Eeligionsphilosophie') ist die pragmatistische
Methode sehr gut zu verwenden (Essay Faith, Beason and Eeligion).
Ja selbst zu den Bestrebungen, die übersinnliche Welt zu erforschen,
zu dem, was man in England „Psychical Eesearch'' nennt, verhält
sich der Humanismus nicht feindlich, obwohl ich finde, daß dieses
Kapitel bei Schiller nicht sonderlich überzeugend wirkt. In der
Frage der Willensfreiheit stellt sich der Humanismus zu den In-
deterministen, obwohl er den Determinismus als notwendiges
Postulat für die Naturwissenschaften anerkennt, jedoch die
ethische Postulierung der Freiheit noch höher stellt.
Es mögen diese Andeutungen über das ausgezeichnet geschriebene,
an neuen, überraschenden Geaanken überreiche Werk Schillkbs hier
genügen. Kritik hat er schon &üher in England reichlich gefunden;
man ersieht es auch an der mannigfachen Polemik in diesem Buche.
Aber trotz aller rationalistischen Gegenwehr haben die vereinigten
Mächte Pragmatismus und Humanismus ihren Weg gemacht. Auch
auf dem Kontinente verspürt man bereits die Wirkung des neuen
Denkens, was um so eher geschehen mußte, da er überall auf parallel
fenchtete Strömungen stieß. So arbeiten in Frankreich Bergson und
^onccjLB£ auf ähnlichen Bahnen, und in Deutschland bestehen starke
Beziehungen zu Mach, Ayekarics, Ostwald einerseits, aber auch zu
dem Philosophieren von ganz anders gerichteten Denkern, wie Eucken,
SiMMEL, auch Jerusalem. Besonders aber mit den erkenntnistheoretischen
Anschauungen Nietzsches in seiner letzten Zeit ist die Verwandtschaft
eanz auffallend. Es fehlt bis jetzt nur an einem einigenden Bande,
aas diese verwandten und doch wieder entgegengesetzten Richtungen
verknüpfen könnte.
Berlin-Halensee. Bich. Müller-Fkeienfels.
*) ^g^' besonders auch W. James, The varieties of religious ex-
perience. New York 1898.
272 0. Klemm:
Weidenbach, Oswald^ Mensch und Wirklichkeil.
Gießen 1907, Alfred Töpehnann. 4 M.
Der erste Teil dieser Schrift bespricht die „Möglichkeit der
Wahrheit", ein Zwischen wort leitet zu dem früher als Habilitations-
schrift des Verfassers erschienenen zweiten Teile: „Die Welt als
Aufgabe'' über. Nur nach Überwindung des absoluten Gegensatzes
von Subjekt und Objekt wird das absolute Sein des Ideals erreichbar.
Mit diesen Anschauungen sei hier nicht gerechtet. Ich halte mich
an die spezielle Besprechung einer empirischen Einzelwissenschaft,
die in dem letzten Kapitel: Die Substanz der Einzelseele steht
(S. 73 ff.)- Der Verfasser bekämpft die Meinung, daß der Betriff als
Produkt blofi individueller Tätigkeit zu gelten habe und fährt fort:
Es kann nicht wundernehmen, daß diese Anschauungsrichtung in
der modernen Zeit jener merkwürdigen Wissenschaft, der experi-
mentellen Psychologie das Leben geschenkt hat.*' Auf diese historische
Entdeckim^ stolz zu sein, hat der Verfasser wenig Gnmd. Denn die
nächsten historischen Wurzeln der experimentellen Psychologie reichen
offenkundig in die Physiologie; der erkenntnistheoretische Psycho-
logismus hat weder sachlich noch durch die Persönlichkeit der Ver-
treter etwas mit der Psychologie gerade als experimenteUer Forschung
zu tun.
„Denn die Methoden dieser Disziplin ^hen alle darauf hinaus,
den ersten Moment der Erlebnisse im Individuum zu fixieren.** Von
diesem Satze muß ich gestehen, daß nur die gänzliche Unkenntnis
der experimentell-psychologischen Verfahrungsweisen ihm erklärlich
macht. In der Tat eehört ein hoher Grad von Oberflächlichkeit dazu,
etwa aus den inneren Bedingungen ein er kurzdauernden Reizein Wirkung,
dieses Kennzeichen der psychoToeischen Methodik zu erschließen. „Die
Unmittelbarkeit, welche in Wahrheit nur die Aufgabe oder der
Anfang der Wirklichkeit ist, wird gerade in ihrer größten Un-
vollkommenheit festgehalten.** Wie stark ist die Zumutung an den
Psychologen, den TJmkreis der unmittelbaren Erfahrung gegen ein
solches der Sphäre spekulativer Begriffsbildung entnommenes Argument
zu verteidigen. Nach einem Exkurs über die Aussichtslosigkeit aUer
experimenteller Forschung folgt : „Aber nun erhebt die experimentelle
Psychologie den Anspruch, Philosophie oder gar die Voraussetzung
und das Tor aller Philosophie zu sein.** Wer die Meinung seines
Gegners so wenig kennt oder sich so wenig um sie kümmert, daß es
ihm keine Überwindung kostet, diesem auch die absurdesten Be-
hauptungen zuzumuten , der hat in der Bekämpfung dieser Be-
hauptungen scheinbar gewonnenes Spiel. Der Kachweis, daß ex-
perimentelle Psychologie keine Philosophie sei, mag eine nützliche
Denkübung sein : im üorigen ist der Psychologe darüber ebensowenig
erstaunt wie etwa ein Physiker, dem ein Theologe beweist, daß Physil
keine Theologie sei. Aber unser Autor hat auch eine richtige Be-
obachtung an der Psy(üiologie gemacht, daß sie nämlich als Wissen-
schaft gilt („sich geriert** sagt er), und er spricht ihr diesen Charakter
ab, da „sie sich ja eingestandenermaßen nur mit dem Individuellsten
und eben deshalb Divergentesten befaßt Dieser Satz ist zunächst
eine Übertreibung. Wenn ich etwa zwei Helligkeiten auf ihre Gleich-
heit hin prüfen lasse, und die Präzision dieses Helligkeitsvergleiches
bei demselben Beobachter zu verschiedenen Zeiten oder bei ver-
schiedenen Beobachtern bestimme, ist dann dieser Helligkeitsvergleich
ein „Individuellstes"? Aber zugegeben, daß in der Psychologie auch
Die kritische Lehre von der Objektivität. 273
Dinge Yorkommen, von denen ich weiß, daß sie sich auch leicht unter
dem Anschein der Gleichartigkeit wieder ereignen, ^bt es nicht
immer zu ihnen ähnliche Erscheinungen, aus deren Komplex sich
induktive Erkenntnisse ableiten lassen? Alle Induktion gründet sich
nur auf ähnliche Erscheinungen; je größer die Ähnlichkeit ist, imi
so mehr wächst die Sicherheit der Induktion; hebt aber etwa eine
solchegradweise Abstufung den Charakter als Wissenschaft auf?
"Wie dankbar aber muu der experimentelle Psychologe dem Autor
sein, daß dieser ihm über sein eigenes Gebahren wenigstens noch die
Augen öffnet. -Wenn aber trotzdem die experimenteüe Psychologie
die genannten Ansprüche erhebt, so kann die Erklärung nur darin
liegen, daß in ihr der Moment des unmittelbaren Affiziertseins seine
Verherrlichung findet. Und dies wiederum beruht, wie wir gesehen
haben, auf der Meinung, von der uns innerlich absolut fremden
,Wirklichkeit* der Dinge an sich so viel als möglich durch schnelles
Zugreifen im Momente des Affiziertseins zu erhaschen.^ Diese an-
schauliche Schilderung gibt mutmaßlich ziemlich das wieder, was dem
Autor selbst bei seiner Jbeschäftigung mit der Psychologie widerfuhr.
Wer als Philosoph sich das Kecnt anmaßt, über eine empirische
Einzelwissenschaft ein Urteil zu fällen, hat die Pflicht sich mit dem
Charakter dieser Wissenschaft vertraut zu machen und ihn wieder-
zugeben. Der Charakter dieser Wissenschaft bestinmit sich, wenn die
Polemik sich wie hier nicht gegen einzeln genannte Vertreter richtet,
nach ihren klassischen Forschem. Für Psychologie wäre eine solche
Apologie nicht nötig gewesen; denn bisher hat sich die lebendige
Forschung stets als stärker denn die sterile Spekulation erwiesen.
Wohl aber können die Bemerkungen des Verfassers außerhalb der
Fachkreise ein wissenschaftliches Bestreben, zu Unrecht verdächtigen,
wogegen das wissenschaftliche Gewissen nicht scharf genug Einspruch
erheben kann.
Leipzig. 0. Klemm.
Knntze, Friedrich, Dr., Die kritische Lehre von der
Objektivität. Versuch einer weiterfahrenden Dar-
stellung des Zentralproblems der Kantschen Erkenntnis-
kritik. Heidelberg 1906, Karl Winter. 315 S.
Es ist immer erfreulich, wenn ein neues philosophisches Buch
diejenige Schärfe und Strenge der Überlegung hat, welche, von einigen
Zeitgenossen zum ersten Male erreicht, fortan als der Maßstab zu
gelten hat. Wie unerfreulich stechen so manche erkenntnistheore-
tischen Erörterungen unserer Ta^e in ihren laienhaften Mißvei-
ständnissen, vorscnneUen Entscheidungen und unscharfen Begriffs-
bestimmungen gegen die Leistungen ab, die in den Maßstäben eines
BicKEBT, HussEBL uud CoH£N gegeben sind. Ich nenne gerade diese
drei, weil sich an ihnen der Verfasser orientiert hat. Daß seine Arbeit
in wesentlichen Punkten von Wickerts Anschauungen abweicht, tut
dem keinen Abbruch. Wenn zwei mit dem nämlichen Verständnis für
die Schwierigkeit des Problems verschiedenes behaupten, stehen sie
sich gewiß näher als zwei, die das gleiche, der eine aber aus um-
fassender Kenntnis der Gegengründe, der andere aus Naivität, be-
haupten.
Im Anschluß an Kant bezeichnet der Verfasser sein Problem als
das der Objektivität, obgleich es für ihn vollkommen zeitlos begründet
VierieljahrsBchrift f. i^dssenschaftl.PhiloB. u. Soziol. XXXII. 2. 18
274 O. Klemm:
ist. Da die einander überkreuzenden Einteilungsprinzipien theoretisch
fundierter und anthropologisch fundierter Wissenschaften mit generali-
sierender oder indivioualisierender Begriffsbildung TorÜe^en, 'wird das
KAirrsche System der universellen Regeln zu einem allseitig begrenzten
Problem. Denn einmal mufi dieses System der generalisierenden Be-
friffsbildung zugehÖren und kann sicn nur snezifizieren, niemids in-
ividualisieren; sodann aber muß es auch tneoretisch fundiert sein
und kann auf keine Weise durch zimehmende Konkretisierung seiner
Regeln in anthropologisch fundierte Wissenschaften übergehen. Das
System der universellen Regeln füllte also das Cadre: theoretisch
fundierte Wissenschaften mit generalisierender Begriffsbildung aus.
Als äußeres Kennzeichen der Objektivität findet der Verfasser die
Unabhängigkeit von allem Existentialen. Der erste Teil seines Buches:
Das Problem der Objektivität vor Kant setzt sich mit den in der
Geschichte der Philosophie zutage getretenen Bestrebungen aus-
einander, die Objektivität auf existentiale Momente aufzubauen. Der
zweite Teil : Das Problem der Objektivität bei Kaiti* sucht die kritische
Objektivitätstheorie bei Kamt zu entwickeln. Der letzte Teil endlich:
Das Problem der Objektivität nach Kamt ist durch die Ergänzunes-
bedürftigkeit der KANxschen Lösung gefordert. So viel über Sblb
Programm dieses Buches, von dem ich nicht durch einzelne dem Zu-
sammenhang entnommene Fragen den Eindruck der Schwerverständ-
lichkeit erwecken will, der unvermeidlich ist, wenn ein Buch, wie
dieses sich nur als Ganzes dem aufmerksamen Leser erschließt. Ich
wünsche ihm die Beachtung auch derjenigen Forscher, welche nicht
dem durch die genannten Namen bezeicnneten Gedankenkreise an-
fehören. Das Mittelmäßige nicht zu beachten, ist ökonomisch. Aber
iese Gedanken haben ein Recht darauf anerkannt — oder widerlegt
zu werden.
Leipzig. O. Ki.EMir.
Leyiy Adolfo, L'Indeterminismo nella filosofia
francese comtemporanea. La filosofia della con-
tingenza. Florenz, Bemardo Seeber. 300 S.
Die Einleitung des Buches behandelt die der zu schildernden
unmittelbar vorangehende Phase in der Entwicklung der französischen
Philosophie: die Philosophie der Freiheit, worunter diejenigen Teile
aus den philosonhischen Systemen des S^cretan, Bemouvier und
Bavaibson verstanden sind, welche sich auf den Lideterminismus be-
ziehen (S. 9). Durch Emile Boutrocx wird der Übergang zu der
^Philosophie des Zufalls" vermittelt, welche die kritische Tendenz
eines Indeterminismus im Gegensatze zu der metaphysischen Tendenz
der Philosophien der Freiheit bedeutet. K. Bergson, G. Bemaclb
J. Weber werden als Träger dieser Denkrichtimg für die Geistes-
wissenschaften, G. MiLHAUD, J. Tannery, K. Poimcar£ als solche für die
Naturwissenschaften dargestellt. Diese Darstellung ist recht lesbar
und um so anreg^ender als einige der genannten, Bergson in Fragen der
reinen Bewußtseinsphänomenologie und Poincar£ in Fragen der natur-
wissenschaftlichen Begriffsbildung auch in Deutschland an Einflufi
fewonnen haben. Die sich anschließende Kritik entbehrt freilich der
iefe.
Leipzig. O. Klemm.
La filosofia di Giordano Bruno. 275
Troilo^ Erminio^ La filosofia di Giordano Bruno.
FratelU Bocca, Turin 1907. 160 S. 2,40 M.
Wenn zu der nicht gerade geringen Literatur Ober Giordano Bruno
•ein neues, seine eanze Pnüosopme darstellendes Buch tritt, so erwartet
man entweder die Mitteilung neuer Gesichtspunkte oder eine sich
^besonders auszeichnende Darstellung seiner Lehre. Troilo zeichnet
den Giordano Bruno zunächst als Philosophen der Renaissance und
seine Weltanschauung im Sinne dieser ekstatischen Naturphilosophie
4d8 eine antimetaphysische. Eine zweite zu den üblichen Deutungen
in Gegensatz stehende Meinung ist die von der geringen Bedeutung,
^welche der coincidentia oppositorum in seinem S3rstem zukäme. Die
•eigentliche Darstellung seines Systems gruppiert dieses um die drei
Begriffe: Plnfinito, FUnit^ la NaturalitÄ,. Wie bei so vielen italieni-
schen Büchern, unterbrechen glänzende Eklogen oft den Gedankengang
«iner historischen Monographie. Es scheint nier überhaupt das Gefühl
für Reinheit eines wissenschaftlichen Stils von dem unsern abzuweichen.
JBine ausführliche BRUNo-Bibliographie und reiche Literaturnachweise
sind dem Buche beigegeben.
Leipzig. 0. Klrmh.
Adam^ Max^ Dr., Schellings Eunstphilosophie.
Die Begründung des idealistischen Prinzips in der
modernen Ästhetik. In Abhandlungen zur Philosophie
und ihrer Geschichte, herausgegeben von R. Falckenberg
in Erlangen. Quelle & Meyer, Leipzig 1907. 88 S. 3,— M.
Jnngmann, Karl^ Dr., Die Weltentstehungslehre
des Descartes. In Bemer Studien zur Philosophie
und ihrer Geschichte, herausgegeben von Ludwig Stein
in Bern. 1907, 51 S. 1,— M.
Monographische Einzelarbeiten dürfen, wenn sie in solchen
Sammlungen, zumeist wohl aus Anregung des Herausgebers zustande
gekommen sind, eher auf Beachtung rechnen, als bei zerstreutem Er-
scheinen. Adams Schrift ist das zweite Heft der genannten Sammlung.
Sie. gibt eine sorgfältige Analyse der Entwicklung von Schellinos
Kunstphilosophie und zeigt zu'^ieich wie bei allen Umwandlungen
die beiden Prinzipien des ästhetischen Idealismus, daß die Schönheit
etwas Höheres im Menschen sei, und daß in ihr Stoff und Form oder
Unendliches und Endliches eines seien, erhalten bleiben. (Auffallend
ist der hohe Preis, der den üblichen weit übersteigt.)
JuNosfANNB Schrift ist der 54. Band der Bemer Studien. Das
Material ist in ihm gut zusammengestellt. Als den Mittelpunkt der
DEscARTEsschen Kosmosonie findet der Verfasser das Lichtproblem.
Eine interessante Parallele konstatiert er auch als Mikro-Makrokosmos
zwischen der Phjrsiologie und dem kosmischen Systeme Descartes'.
Die Darstellung ist gelegentlich etwas umständlich und geht dann
nicht zu ihrem Vorteil über die Aufgaben der historischen Analyse
hinaus (S. 88, alle psychogenetischen Fragen sind unbeantwortbar).
Ein textkritischer Aiihang oildet den Schluß.
lieipzig. O. Klemm.
18*
276 0. Klemm:
Sehopenliaiier^ Arthur^ S ein philosophisches System
nach dem Hauptwerk: „Die Welt als Wille und
Vorstellung", vorgeführt von Dr. Otto Siebert.
182S. 2,50 M. (Bücher der Weisheit und Schön-
heit; Herausgeber J. E. Freiherr von Ghrotthuß, Verlag
von Greiner & Pfeiflfer, Stuttgart.)
Der Bearbeiter hat den Text der Ausgabe von 1859 zuerunde gelegte
ihn vielfach zusammengedrän^ und umschrieben, in allen charakte-
ristischen Stellen aber wörtlicn wiederge^ben. Außerdem hat er der
Übersichtlichkeit wegen eine Einteilung in Kapitel hergestellt. Der
Buchschmuck von Franz Stassen erfreut das Auge de8jemg;en, der vom
Texte abschweift. Die äußere Form des Buches ist artistisch genug,
um, wie Shopenhauer einst in einer Vorrede mit Ironie zugestand, ea
nun doch auf einen Boudoirtisch legen zu können.
Leipzig. O. Klemm.
Böhringer^ Adolfe Dr., Kants erkenntnistheoretischer
Monismus. Eine Einleitung in das Studium der Kritik
der reinen Vernunft. M. Rieger, München 1907. 125 S»
1,80 M.
Ein neues Buch üher Kant ! und unter diesem Titel 1 Dem ahnungs-
vollen Leser graust; aher mit einem Rest Ton Optimismus geht er
an seine Aufgabe. Kap. 1: Kants sogenannter Apriorismus. Kant
hat die Erfahrung nicht gering geschätzt » imd die Unterscheidimg
analytischer und s^thetischer Urteile besteht zu Becht; Büukinger
sagt es uns, mit einer „beinahe impertinenten Deutlichkeit^^ (für die
er sich entschuldigt, S. 19). So gent es weiter zwei Kapitel ttber
transzendentale Ästhetik und LogiS. Die Behauptung (S. 57), das Ding
an sich sei nicht etwas Nichterscheinendes, sondern etwas, was er-
scheint, ist ziemlich belanglos. Die klassischen Sätze, mit denen Kant
das Verhältnis des Verstandes zu einem mundus intelligibilis gekenn-
zeichnet hat, formuliert das letzte Kapitel zu einem erkenntnis-
theoretischen Monismus. Ist dieser als Einschränkung der Erkenntnis
auf die Ihrfahrung gemeint, so ist es trivial, ist er als metaphysisch
gemeint, ist er natürlich falsch. Dafi dem Buche ein Ixmalts-
verzeichnis fehlt, ist eine literarische ünhöflichkeit.
Leipzig. O. Klemm.
Bertling^ 0., Prof. Dr., Geschichte der alten Philo-
sophie als Weg der Erforschung der Kausalität,
für Studenten, Gymnasiasten und Lehrer dargestellt.
Dr. W. Künkhardt, Leipzig 1907. 128 S.
Wenn jemand es unternimmt, die alte Philosophie für die in dem
Untertitel bezeichneten Kreise darzustellen, ist die Unterordnung des
ganzen Stoffs unter einen einzigen Gesichtspunkt ein Kunstgriff und
ein Wagnis zugleich. Als das Eigentümlicne an seiner Darstellung
Die Schrift bei Geisteskranken. 277
liebt der Verfasser selbst heraus, daß in ihr zum ersten Male das topo-
graphische Hilfsmittel eines dreifach dimensionierten Kausalsystems
zur Anwendung gekommen sei. Von der Kausalität hat sich der
Verfasser eine merkwürdige Anschauung gebildet. Zunächst wird die
Erkenntnis des kausalen ^sammenhanges des Wirklichen als Aufgabe
der Philosophie hingestellt. Dann lassen sich freilich alle philosophi-
schen Probleme als spezielle Formen des Kausalproblems auffassen;
aber wer wird denn jene Formulierung der Aufgabe zugeben? Des
weiteren statuiert Bertlinq drei Arten oder Richtungen von Kausalität :
die zeitlich ablaufende, die zeitlich verbindende und die sich ganz im
Innern eines jedes Wirklichen vollziehende (die „Daseinskraft*'}. Ein
Beispiel f Qr „zeitlich verbindende" Kausalität ist die fliegende Kugel,
deren Bewegung sich nicht nur durch den empfangenen Anstoß, sondern
auch durch die zwischen ihr und dem Erdball wirkende Anziehunffs-
kraft bestimmt (S. 3). Daß die Anziehungskraft durch das „spezifische
irewicht'' ermöglicht sei (es müßte Masse heißen), ist ein für das
Problem unwesentlicher i^bysikalischer Lapsus. Die Mechanik stellt
eine solche Bewegung als Resultante zweier Kräfte dar, der momen-
tanen Stroßkraft und der dauernd wirkenden Anziehungskraft. Jede
Bewegung läßt sich als Resultante beliebig vieler Krdte auffassen;
man KLhrt als wirkende Ursachen so viel Komponenten ein, als durch
-die Erfahnmg gefordert sind. Der Betriff einer zeitlich verbindenden
Kausalität ist inhaltsleer. Die an dritter Stelle genannte „Daseins-
kraft** ist, soweit dabei an die Unzerstörbarkeit des Stoffes gedacht
w^ird, eine den Gesetzen der zeitlichen Kausalität sich fügende hypo-
thetische Elementarkraft, soweit sie „Seinsbegründun^ und Selbst-
en tfaltung'' ist, ein metaphysischer Begriff, der glücklicherweise mit
Kausalität nichts mehr zu tun hat. Kants Analogien der Erfahrung,
die zu den bekannteren philosophischen Formulierungen gerechnet zu
werden pflegen, enthalten unter der Kategorie der Relationen diese
drei Arten : Es stiftet aber eine Verwirrung von Begriffen, wenn man
sie alle als Richtungen der Kausalität definiert, und es entstellt die
Probleme der „Substanz" und der „Wechselwirkung**, wenn man sie
nur unter diesem einzigen Gesichtspunkte auffaßt. So wird etwa die
wichtigste Wendung der griechischen Philosophie, daß das Wirkliche
im Begriff gefunden wird (Plato), nur zu einer Richtung des Denkens
auf eine andere Art von Kausalität, auf die daseinswirkende.
Einen günstigen Eindruck erwecken diejenigen Teile des Buches,
in denen der Schematismus des Verfassers wenig oder nicht zur
Geltung kommt. Hier zeigt sich eine umsichtige Kürze und Prägnanz
der Darstellung, die ein reiches Wissen voraussetzt.
Leipzig. 0. Klemm.
Xöster^ Bndolfy Dr., Die Schrift bei Geisteskranken.
Ein Atlas mit 81 Handschriftproben. Mit einem Vorwort
von Prof. R. Sommer. J. A. Barth, Leipzig 1903. 169 S.
10 M.
Im Anschluß an die Versuche Sommers hat der Verfasser es imter-
nommen, eine Übersicht über die Schriftstörungen bei Geisteskranken
auf dem Boden der streng analytischen Betrachtungsweise zu geben.
Von der populären Graphologie scheidet Köster seine eigene Be-
trachtungsweise als die „neurologische'' Richtung, da sie auf allgemein-
278 O. Klemm:
&[rapliolofiiache Untersuchungen verzichte und ihr Aueenmerk wesent-
lich auf die pathologischen ^Erscheinungen in der Schrift richte. Di»
Untersuchung der einzelnen Schriftproben geschieht in einer Zer-
legung in Komponenten (Form, Gröiie, Lage zur Horizontalen usw.).
Die Ver^leichung vieler Schriftproben führt zu einigen brauchbaren
diagnostischen Schlüssen , in denen indessen der Verfasser eine an-
erkennenswerte Vorsicht walten läßt.
Leipzig. O. Klemm.
Arnoldt^ Emil^ Gesammelte Schriften. Herausgegeben
von 0. Schöndörffer. Berlin 1907, Bruno Cassirer.
Li chronologischer Reihenfolge erscheinen nach dem eigenen
Wunsche des 1905 verstorbenen Autors seine Schriften, in deren reicher
Manni^altigkeit die sich um die vierjährige Dozentur in Königsberg-
gruppierenden speziell philosophischen Lih|dte sind.
Band I: I. Li der Bahn freigemeindlicher Ansichten,
IL Kritiken und Beierate,
vereinigt seine zerstreuten Veröffentlichuneen aus der Zeit seiner
Lodösung von der evangelischen Gemeinde und eine Beihe von
Besprechungen zeitgenössischer Werke, unter denen vor allem die
Polemik gegen Otto Liebmann sein glänzendes kritisches Talent-
zeigen.
Band 11 : Kleinere philosophische und kritische Abhandlungen. Erste
Abteilung,
eröffnet die Beihe derjenigen philosophischen Schriften, durch die
Arnoldt allen bekannt geworden ist, welche sich mit der K^NTSchen
Philosophie eingehender beschäftigen. Die Verteidi&ring von
Kants transzendentaler Idealität des Baumes und der Zeit gegen
Trendelen BÜRO, und die Habilitationsvorlesung über Kants Idee
vom höchsten Gut zeichnen sich hier besonders aus.
Nachlaßband I: Zur Literatur.
Erste Abteilung: Faust-Nathan gibt einen ziemlich voll*
ständigen Faust - Kommentar und einen fragmentarischen zu
Kathan.
Zweite Abteilung : Kleinere Abhandlungen, ästhetische Essay»
aber Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller.
Es muß dem Herausgeber und dem Verleger zum Verdienste an-
gerechnet werden, daß sie die Gedanken dieses ernsten und stilvollen
Mannes weiteren Kreisen zugänglich gemacht und ihm damit da»
schönste Denkmal gesetzt haben.
Leipzig. O. Klemm.
Sanns , Dr., Similismus. Grundriß einer neuen Welt-
anschauung. Dresden 1907, E. Pierson. 172 S.
Als Similismus bezeichnet der Verfasser seine Weltauffassung
aus dem Grunde, weil sich ihr gemäß die Welt als das vollkommenste
Simile (Gleichnis) Gottes herausstellt (S. 28). Daß dem ,jSelb6twirklichen
Sein** ein „nichtselbstwirkliches Sein** entspricht, ist sein „langer
Spieß**, um den Ausdruck Luthers in der Polemik gegen Keuirich vin.
von dem Hauptargument seines Gegners zu gebrauchen. Die ge-
I
\
m
ii
l Die Ethik Pasoals. 279
■■
I
zwungene scholastisohe Form mit der naiven Verwendung viel disku-
' tierter Begriffe wird ebenso das Kopfschütteln des Logikers erregen,
j wie das rSigiöse Gemüt unbefriedigt lassen.
I Leipzig. 0. Klemm.
Bomhansen^ K.^ Die EthikPascals. Studien des neuen
Protestantismus. Verlag von Töpelmann, Gießen. Heft 2.
1907. 171 S.
Pascals Ethik steht in innigster Beziehung zu seiner Persönlich-
keit und zu seiner regiliösen Imtwicklung. Sstere neigt durchaua
dem Lidividualismus zu. Das Ziel aller Weltentwicklune besteht für
ihn in der Persönlichkeitegestaltung, welche dem Reichtum indivi-
duellen Lebens Ausdruck schafft. Doch erhält Pascals Indiyidual-
bewnßtsein seine besondere Wendung durch die Verbindung mit seinem
starken religiösen Empfinden, womit auch seine eigenartige persönlich-
mystisohe Keligiosität zusammenhängt. Das Neue, was ihn die
Bahnen der katholisch-scholastischen Keligiosität und Apologetik ver-
lassen läßt, ist die innere Glaubenssicherheit, die wunderbare Über-
zeugung seines persönlichen Erlöstseins. Und zwar bildet nach ihm
die persönliche Beziehung des Menschen zu Gott bei der Erlösung
das Entscheidende. Eüerbei wird die Kirche und ihr Vermittlungsamt
zwischen Gott und Mensch ganz vergessen, der Individualismus, der
im Mönchs- und Keiligenideal steckt, ist überholt. So gibt Pascal
dem gläubigen Menschen eine neue selbständige Stellung zu Gott, die
dem modernen G^ist des Individualismus entspricht. Aber er bleibt
trotz seines wissenschaftlichen Denkens und seines religiösen Indivi-
dualismus durchaus strenger Katholik. Den daraus sicn ergebenden
Zwiespalt seines Glaubens sucht er durch irdische Selbstaufgabe, durch
asketisches Verhalten zu heilen.
LfOider fehlt bei Pascal das theoretische Durchdenken seiner sitt-
lichen Grundsätze. Nach ihm ist die aus der intuitiven Beurteilimg
des praktischen Falles hervorgehende Moral der aus deduktivem Ge-
brauch des Geistes festgestellten Moral übergeordnet. Jedoch behauptet
er, daß der Mensch zur einheitlichen Sammlung seiner sittlichen Er-
fahrung unvermögend sei. Schon die Wahl eines Prinzips zur Unter-
ordnung sei willkürlich , die Unterordnung selbst unmöglich. Dies
sind die grundlegenden Punkte für Pasoals Ethik. Bezüglich der
Ausführungen im einzelnen muß auf das Buch selbst verwiesen
werden. Hervorheben möchte ich nur seine Behauptung, daß das
Extrem einer Tugend durchaus schädlich sei, wenn es nicht durch das
Extrem einer anderen Tugend kompensiert werde. Bezüglich des
religiösen Gefühls urteilt er, daß dasselbe seinen Sitz im Herzen, nicht
in der Vernunft habe, ebenso wie auch viele andere Grundwahrheiten
aus dem intuitiven Gefühl hervorgegangen, so Baum, Zeit und Be-
wegung.
Erfurt. C. M. Giessler.
DrewSy A., Das Lebenswerk Eduard von Hart-
manns. Leipzig 1907, Verlag von Thomas. 67 S.
Die Schrift bildet eine Würdigung des „so vielfach verkannten
und angefeindeten** Eduard von Hartmann, dessen Hauptstärke Verfasser
in folgenden Punkten findet:
280 C. M. Gießler:
Die Philosophie vor Haktmanm identifizierte fast durchweg Be-
wußtsein mit Sein (Natur). Hahtmamm dagegen faßt beide als an sich
verschiedene, nur in ihrer Wurzel identische Ausstrahlungen oder Er-
scheinungen des einen Unbewußten, das selbst ebensowohl jenseits
der Natur wie jenseits des Bewußtseins substituiert«^ Das resile Sein
ist nicht im Bewußtsein, d. h. im ideellen Sein zu finden, kann also
nicht immittelbar erschlossen werden, sondern nur mittelbar. Daher
gelangt man auch nur zur Wahrscheinlichkeit, aber nicht zur apodik-
tischen Gewißheit. Mit dem Verzicht auf die Apodiktizität nun wird
aber die Bahn für die Induktion frei. Nach Drkws ist nicht Kant,
sondern Hartuann der Begründer einer eigentlichen kritischen Philo-
sophie. Kartmann hat durch den Hinweis auf die Nichtidentität von
Bewußtsein und Sein gezeigt, wie es möglich sei, a posteriori oder
auf induktivem Wege zu metaphysischen Resultaten zu gelangen.
Er wies nach, wie alle Erfahrung aus Empfindungen und syntheti-
schen Intellektualfunktionen aufgebaut sei, von denen uns jene von
außen durch die Wirkung transzendenter Reize auf unsere Seele ge-
liefert werden und demnach auf eine bewußtseinsjenseitige Welt von
„Dingen an sich** hindeuten, während diese von innen her oder
a priori zu den Empfindungen hinzugefügt werden. Wenn die
Kategorien oder synthetischen Intellektualfunktionen, wodurch die
Empfmdungen zur Einheit des Bewußtseins verknüpft werden, keine
Euxiktionen des Bewußtseins in dem angegebenen Sinne sind, so besteht
kein Grund , sie auf die Grenzen des Bewußtseins einzuschränken,
ihnen transzendenten Gebrauch zu verbieten und die Möglichkeit eines
Erkennens der Dinge an sich zu leugnen. Daher also auch Über-
einstimmung der Denkgesetze mit den Seinsgesetzen. Darin besteht
Hartmanns transzendentaler Bealismus, den er dem transzendentalen
Idealismus Kants entgegenstellte. Das Bewußtsein ist aber nur
Empfindungssein, wohingegen die Denkformen absolut unbewußt sind.
Das Bewußtsein als Einheit von Form und Inhalt ist etwas Passives.
Es ist kein wirkliches Sein. Das Reale ist das Unbewußte, das
Wirkende, Tätigkeit schlechthin.
Das Leben erhebt sich über den Mechanismus der Energieen
durch seine autonome Gesetzmäßigkeit. Das hierbei tätige organi-
sierende Prinzip ist eine Kraft ohne Potential, immateriell, absolut
unbewußt und überindividuell. Er bedient sich der Energien bloß,
xun den Lebensprozeß zu ermöglichen. Das Leben ist ein dynamisches
Prinzip neben anderen. Mit dieser Ansicht stellt sich Harthann auf
den Boden des Vitalismus.
Die Tätigkeit der Materie löst sich auf in Wille und Vorstellung.
Stauung der Kraft, Einschränkimg des Willens führen zur Gefühls-
intensität. Damit aber ist das Bewußtsein unmittelbar gegeben.
Überall wo Bewegung ist, muß demnach auch Bewußtsein sein (?).
Mit dieser Psvchologie setzt sich Hartmann in Gegensatz zur heut-
zutage herrscnenden Bewußtseinspsychologie, welche sich innerhalb
des Empirischen hält. Nach ihm vermag die letztere die wichtigsten
psychologischen Probleme nicht zu erklären.
Hartmann unterscheidet drei Arten des Unbewußten: 1. das
physiologisch Unbewußte, d. h. die ruhenden molekularen Dispositionen
im Nervensystem, welche im Falle der Erregung durch Reize zu Be-
wußtseinsvorffäneen führen. 2) Das relativ Unbewußte, nämlich die-
jenigen psychischen Phänomen, welche für Individualbewußtseine
niederer Ordnung bewußt, für das obere Zentralbewußtsein hingegen
unbewußt sind. 3J Das absolute Unbewußte, jene unbewußte und doch
Das Lebenswerk Eduard von Hartmanns. 281
iHunaterielle Tätigkeit, welche sich als Lebensprinzip bezw. als Seele
darstellt. Aus dem Zusammenwirken aller drei Arten des Unbewußten
erklärt sich der gesamte Inhalt unseres Bewußtseins.
Bewußtsein ist nichts anderes als der passive Keflex gehemmter
Tätigkeiten des Unbewußten. Durch Aufeinandertreffen von Willens-
akten entsteht an den Knotenpunkten Bewußtsein als eine Stauungs-
erscheinung der Willenshemmung. Bewußtsein ist also Empfindungs-
sein, d. h. der Zustand, wo das Subjekt der Willenstätigkeit etwas
in sich findet, was nicht unmittelbar durch es selbst gesetzt, sondern
ihm gegen seinen Willen von außen aufgedrängt ist. Es ist Zu-
sammenfassung aller Empfindungen auf Grund unbewußter In tellektual-
funktionen. Bewußtsein ist etwas Passives imd Unproduktives. Es
erfaßt etwas bereits Zusammengefaßtes, nämlich das synthetische
Produkt aus dem passiven Keflex der Willenshemmungen einerseits
und der zu ihm hinzukommenden Intellektualfunktionen andererseits.
Nach Hahtmaxn vermag nur die unbewußte Tätigkeit als einheit-
lich doppelseitige Funktion, worin Wille und Vorstellung die zu
unterscheidenden Momente bilden, die Wirklichkeit restlos zu er-
klären.
Hartmann hat seit Heqel zum ersten Male wieder versucht, die
sämtlichen Kategorien des Seins im Zusammenhang zu entwickeln.
Er fügt den Kategorien der subjektiv-idealen Sphäre (des Bewußtseins)
und der objektiv-realen Sphäre (des Daseins) diejenigen der meta-
. physischen Sphäre (des Unoewußten mit seinen Attributen Wille und
Vorstellung) ninzu.
Seine Axiologie ist eudämonologisch , doch ist der eudämono-'
logische Wertmaßstab für ihn nicht der höchste, sondern nur der für
die Wertbemessimg der Welt im ganzen entscheidende. Der Pessi-
mismus war für Hartmann ein rein theoretisches affektfreies Wissen
um das überwiegende Leid des Daseins.
Hartmann war nicht der Ansicht, daß die Ethik auf eigenen Füßen
stehen und ihre Begründung im Empirischen durch die Rücksicht auf
ein erst zu ergreifendes Ziel erlangen könnte. Vielmehr trat er mit
aller Entschiedenheit für die Abhängigkeit der Moral von der meta-
physischen und religiösen Weltanschauung ein.
Hartmann war der gefährlichste Gegner, den das Christentum
jemals gehabt hat. Er bekämpfte die Moral Jesu wegen ihres trans-
zendenten Eudämonismus, ihrer Begründung alles sittBchen Handelns
durch die Aussicht auf Lohn und ^rafe, und er wies die logische Un-
annehmbarkeit der Annahme eines persönlichen Gottes sowie die Un-
haltbarkeit des Unsterblichkeits^laubens nach. Hartmann führte diesen
Kam{)f im Interesse der Religion. Im Mitteli)unkte seiner eigenen
Beligion steht das Unbewußte mit den Attributen Allmacht und
Allwissenheit.
Vor allem aber ist Hartmann nach Drews der bedeutendste philo-
sophische Kritiker.
Bezüglich des Kernpunktes der HARTMANNschen Lehre möchte ich
folgendes zur Erwägung empfehlen:
Daß die Seele im unbewußten Zustande in analoger Weise
arbeitet wie im bewußten, erkennt man aus einer genauen Beobachtung
der Entstehung der Träume. Dieselbe zeigt, daß schon im Unbewußten
ein Zusammenordnen von psychischen Produkten mobilwerdender
Vorstellungsdispositionen stattfindet. Also hier sind bereits die In-
tellektualfunktionen wirksam. Diese Produkte werden beim Erwachen
des Bewußtseins nach komplizierteren Mustern vom Tagleben her
282 C. M. Gießler:
•
zusammengefügt, wobei diejenigen Elemente, welche sich nicht ein-
ordnen lassen, vemachläseigt werden. Das psychisch unbewußte ist
aber nicht dasselbe wie das Unbewußte der Materie überhaupt, da die
auf seelische Tätigkeit angelegte Nervenmasse der Substanz der
übrigen Materie bezüglich ihrer Eigenschaften nicht gleichgesetzt
werden kann. Denmach darf man auch nicht ohne weiteres daraus
schließen, daß die Denkgesetze zugleich die Seinsgesetze seien.
Erfurt. C. M. Giesslkr.
Liepmann^ H.^ Über Störungen des Handelns bei
Gehirn kranken. Berlin 1905, Verlag von Karger.
161 S.
Die vorliegende Schrift bietet eine ausführliche Behandlung der
Apraxie. Und man kann wohl behaupten, daß es für jeden Seelen-
kundigen ein Genuß sein muß , dem Verfasser bei semen meister-
haften Zergliederungen zu folgen!
Verfasser hatte bereits früher die motorische Apraxie der
sensorischen gegenübergestellt. Er versteht darunter die ÜnflQiigkeit
zu zweckeemäßer, d. h. dem subjektiven Zweck entsprediender Be>
wegung der Glieder bei erhaltener Beweglichkeit Der Agnostische
handelt im Gegensatz zum Apraktischen zweckeemäß, wenn auch
nicht zweckmäßig. Auf Grund der Täuschung, daß die Zahnbürste
eine Zigarre sei, will er rauchen. Er macht die Bauchbewegung und
handelt demnach zweckgemäß. Die Abgrenzung der motorischen
Apraxie gegen Lähmung oder Parese ist durch den Zusatz „bei er-
haltener Beweglichkeit'' gegeben.
Schon Pick hatte Störungen des Handelns beschrieben: 1. Das
einfache Versagen der Zielbewegung. So z. B., wenn ein Kranker,
der eine Kerze anzünden soll, das brennende Zündholz in die Nähe
der Kerze bringt, es aber abbrennen läßt und schließlich ausbläst.
2. Ein Kranker legt eine ihm gereichte Pistole wie eine Flinte ans-
Auge. Hier nimmt der Erregungsstrom einen benachbarten Verlauf.
8. Verwechselung der einzelnen Komponenten eines komplizierten,
aber einheitlichen Handlungskomplexes. 4. Verdrängung einer Ziel*
vorstellimg durch eine ästhesiogene, z. B. wenn ein Kranker statt am
Stiefel an einer schmerzhaften Stelle des Körpers wichst.
Es gibt auch apraktische Störungen nach Gliedmaßen. Der ge-
samte sensomotoriscne Apparat einer oberen oder unteren Extremität
kann abgespaltet sein. Aber die eventuelle Summe der Apraxien
mehrerer Gueder ist etwas anderes als die allgemeine Unfähigkeit
aller Glieder zu einer Handlung infolge der ideatorischen Unfähigkeit
zum Entwurf der Handlimg.
Verfasser geht nun zu einer Analyse der Handlung über. Er
bedient sich dabei der WERNicKEschen Schemas. Im sensorischen
Zentrum s wird ein Sinneseindruck perzipiert, auf der Strecke s— A
(psychosensorische Bahn) wird er identifiziert, so daß er in A Aus^angs-
vorstellung eines weiteren Prozesses werden kann, der in ZT (Ziel-
vorstellung) mündet. A— Z stellt die intrapsychische Bahn dar. Von
der Zielvorstellung wird das Motorium erregt. Z — m ist die psycho*
motorische Bahn. Oft besteht die Ziel Vorstellung aus Teil Vorstellungen:
Zi, Zg, Zs . . . , aus denen Teilbewegungen hervorgehen. Die Haupt-
zielvorstellung kann nur erreicht werden, wenn ein Plan entworfen
ist, betreffend den Weg, das Neben- und Nacheinander, den Bhythmus
über Störungen des Handelns bei Gehimkranken. 28ä
der EinzMBlakte, die Komposition, Struktur der Handlung. Verfasser
nennt diesen Aufbau der Bewegung die Formel der Bewegung.
Die Umsetzung der Hauptzielvorstellung in Teilzielvorstellungen
gehört nach dem Verfasser zam intrapsychischen Prozeß.- Solange
nun die den einzelnen Z entsprechenden Innervationen Ji, J9, Jg . . .
mit jenen in normaler Verknüpfung bleiben, hat man keinen Grund
anzunelunen, daß motorische Apraxie vorliegt. Diese ist erst dann
vorhanden, -wenn die Z und J nicht mehr im Einklang stehen. „Hier
irrt der JBeTKregungsapparat nicht mit den ideatorischen, sondern
gegen ilui. Also: Lassen sich die Fehlreaktionen darauf zurück-
fuhren, daß der Entwurf der Bewegung, die Bewegunesf ormel falsch
ist, etwa infolge von Aufmerksaimceits- oder Gedächtnisstörungen,
und die ^Bewegung dann diese Irrungen eetreu mitmacht, so hegt
ideatorisclie Apraxie vor. Ist aber die Bewegung als Ganzes abn
fetrennt von dem Vor8tellunfi;sleben als Ganzen, so liegt motorische
.praxie vor. Die ideatorische Apraxie steht der Agnosie (Seelen-
blindheit, Seelentaubheit, Seelentastlosigkeit) näher. £s ist zu be-
rücksichtigen, daß der Entwurf der Bewegung noch nicht vollendet
zu sein braucht, und daß trotzdem das Innervieren bereits seinen
Anfang genommen hat. So braucht z. B. beim Kämmen nicht die
fertige Sewegun^;sreihe sleich zu Anfang vorhanden zu sein. Vielmehr
zieht die Lage jedes Moments den nächsten Akt herbei. Also der
ideatorische Entwurf entwickelt sich erst am Objekt der Handlung.
Es gehört also zum Können einer Handlung: 1. die generelle Be-
wegongsf ormel , 2. die Entnahme von Detaildirektiven betreffs des
Weges aus den interkurrierenden Sinneseindrücken, 3. die Innervation
gemäß 1. und 2. Bei der motorischen Apraxie nun kann der
ideatorische Prozeß richtig vonstatten gehen, jedoch fehlt die kin-
ästhetische Vergegenwärtigung einer bestimmten Bewegung. Das
Glied bewegt sich nicht entsprechend der vorgesteckten Wegstrecke.
Also die Antizipation der Bewegung ist intakt geblieben. Aber die
hmervation mit der gliedästhetischen Vorstellung ist in Disharmonie
damit.
T)ie motorische Apraxie betrifft nur einzelne Glieder. Sie verrät
sich schon bei einfachen Akten, auch beim Nachmachen. Wir müssen
bei ihr grobe EEindemisse in einem System von Zellen oder leitenden
Fasern annehmen. Bei der Perseveration im strengsten Sinne, dem
Nichtloskommen von einmal angenommenen Handlungen, sieht Ver-
fasser in der Andauer bestimmter Innervationen eine Keizerscheinung
im Motorium.
Die ataktische Bewegung zeigt immer nur eine quantitative Ab-
weichung von der richtjgen Bewegung. Die apraktische Bewegung
dagegen nat oft keine Ähnlichkeit mit der aufgegebenen.
Erfurt. C. M. Giessleh.
KraaSy Oskar^ Dr., Zur Theorie des Wertes. Eine
Bentham-Studie. Halle a. S. 1901, Verlag von Max
Niemeyer, VI und 147 S.
Die Arbeit geht weit über den durch den Zusatz „Bentham-
Studie"* gezogenen Kreis hinaus.
Die ersten Kapitel sind die interessantesten. Hier wird die
ethische Prinidpienfrage bei Bextham dargelegt und gewürdigt, werden
abweichende Meinungen mit erfreulicher Objektivität erörtert, Vor-
284 ^60 BauBchenbach:
lauf er und Nachfolger Bknthams aufgesucht. Dann diskutiert Ver-
fasser im engen Anschlüsse an Bentham die Größe des Wertes und
das BENTHAMSche Axiom, das mit den verwandten Liehren Ton
Beknoüilli, Eechner, Gossen verglichen wird. Je weiter die Unter-
suchung vorrückt und eigene Pfade einschlägt, desto mehr sch'windet
der frische Zug, der die ersten Kapitel zur angenehmen Lektüre
macht; Selbst- und Leichtverständlicnes wird mit ermüdender Um-
ständlichkeit dargele^.
Fraglich erscheint der Nutzen der Anwendung mathematischer
Formeln auf Fragen von wirtschaftlichem Werte. Die Verhältnisse,
unter denen uns etwas als mehr oder minder verwertbar erscheint,
sind — namentlich in einer Verbindung — nie so einfach, darum
auch nie so bestimmt anzugeben, wie das mathematische Symbol er-
fordert, soll es nicht an Exaktheit und Prägnanz Einbuße erleiden.
Schließlich projizieren wir auch hier deis Einfache in die Welt der
Erscheinung und yersuchexjL dann, die Tatsachen mit den Resultaten
unserer Geistestätigkeit übereinstimmend zu machen.
Auerbach (Vogtl.) Leo Rauschenbacr.
Kreibig^ Josef Clemens^ Dr., Psychologische Grund-
legung eines Systems der Werttheorie. Wien
1902, Verlag von Alfred Holder, VH und 204 S.
Die ersten drei Abschnitte sind die grundlegenden; hier werden
die notwendigen Begriffe eingeführt und die für dieses Gebiet
wichtigen psychologischen Anscnauungen des Verfassers dargelegt.
Abweichenae Ansichten verteidigt Krkibio selbst, darüber zu reden
erübrigt an dieser Stelle. Die Folgenden drei Abschnitte behandeln
die drei Wertgebiete, das autopathische , heteropathische und das
ergopathische. Der Wert, den wir einem Gegenstande oder einer
Erscheinung beilegen, ist ein subjektiver; das Bestehen objektiver
Werte bestreitet Kreibio.
Die Wertung erfolgt nach den Gegensätzen
gut — schlecht (= lust- oder unlustauslösend), bezogen auf
das Subjekt, den Wertenden — Gebiet der Autopathik
mit der Hygienik als wichti^ten Teil;
gut — schlecht, bezogen auf ein fremdes Subjekt — Gebiet
der Heteropathik mit Ethik als wichtigstem Teil;
schön — häßlich, ohne Beziehung auf das eigene ojier ein
fremdes Subjekt — Gebiet der Ergopathik mit der Ästhetik
als wichtigstem Teile.
In dieser Stufenfolge entwickelt sich auch das Werturteilen,
sowohl das des einzelnen wie der Gesamtheit, aber wohl die größere
Anzahl der Werturteile gehört nicht rein dem einen oder dem anderen
Gebiete an. Diese Tatsache ist nicht erschöpfend behandelt.
Höchstes Gut ist die möglichst reiche Entfaltung und Betätigung
der geistigen und leiblichen Sräfte sowohl des wertenden Subjektes
als auch des fremden, schließlich des Menschen überhaupt bei un-
persönlicher Hingabe an den Inhalt. — Letzteres ist schwer zu ver-
stehen; das Symmetriebedürfnis ist jedenfalls hier von Einfluß auf
die. Formulierung der Sätze gewesen.
Da das Wollen auf Verwirklichung von Werten gerichtet ist,
so muß der Wille durch Wertgefühle determiniert sein; Indeterminis-
mus wird abgelehnt.
Aristoteleß' Metaphysik. 285
Das vorletzte Kapitel bietet Wertf ormeln. Wenn das empirische
Gesetz nicht in kurzem, möglichst einfachem Ausdrucke erschöpft
vrerden kann, ist das mathematische Symbol praktisch wertlos. Der
Vereach, solche Formeln aufzustellen — für Autopathik der erste — ,
ist schon um der Schwierigkeit willen anerkennenswert ; das Ergebnis
durfte verschiedener Beurteilung begegnen. sthetische Wertformeln
aiif2n3stellen hält E^eibio selbst für unmöglich.
Der wenigst gelungene Teil ist m. E. der letzte, die timologische
Grandlegung der Pädagogik. Hier wird schematisiert, und dem
Schema mangelt Übersicntlichkeit ; die Ethik ist hier fast vergessen.
Sch^verfälligkeit des Ausdrucks kennzeichnet diesen Abschnitt; ein
wirklicher Gewinn ist nicht zu ersehen.
Auerbach (Vogtl.). Leo Raüschenbach
Philosophlsehe Bibliothek. Leipzig, Dürrsche Buch-
handlung. Bd. 2. 3: Aristoteles' Metaphysik.
Übersetzt und mit einer Einleitung und erklärenden An-
merkungen versehen von Dr, theol. Eugen Rolfe s.
Erste Hälfte. Buch I— VH. 1904. 216 S. 2,50 M.
Zweite Hälfte. Buch YHI— XIV. 1904. 200 S. 2,50 M.
E. BoLFES, Pfarrer in Bonn-Dottendorf. hat die „Metaphysik des
Aristoteles" neu übersetzt, gut lesbar und doch sehr wörtUch; „man
sollte aus der Übersetzung das Griechische konstruieren können**.
Das Buch ist ausgestattet mit einer über den Inhalt, die Ausgaben
und die Kommentare orientierenden Einleitung (18 S.)? ausführEchen
Anmerkungen (77 S.) und einem Namen- und Sachverzeichnis (4 8.),
unter sorgiältiger Berücksichtigung älterer und neuerer Kommenta-
toren, rmter diesen erklärt der Bearbeiter dem Thomas von Aquimo
das Beste zu verdanken, während er den protestantischen Gelehrten
BoNiTz, ZsLLER, ScHWEOLEB vorwirft, daß sie den Aristoteles „aus Miß-
verständnis kritisieren und meistern''. Hegel darf bei seinem Be-
streben, das Wesen der Dinge aus den Begriffen zu entwickeln, von
den Scholastikern in gewissem Sinne den Inri^en zugezählt werden;
aber nach der Bemerkung Über den allerdm^ leidenschaftlichen
Hegelianer A. Bullinger (Aristoteles' Metaphysik klargelegt, 1892)
ist auch er für das Verständnis des (heute noch aktuellen) Aristoteles
ein Hindernis. Aristoteles ist der Vater der Scholastik, und wir ver-
stehen am besten, was wir lieben. So ist denn gegenüber der Über-
setzung und besonders den Anmerkungen von IOrchmann diese sorg-
fältige Arbeit in der Tat ein Fortschritt.
Schneeberg (Sachsen). Richabd Fritzsche.
Philosophische Bibliothek. Leipzig, Dürrsche Buch-
handlung. Bd. 42: Immannel Kants Metaphysik
der Sitten» 2. Aufl. Herausgegeben und mit Einleitung
sowie einem Personen- und Sachregister versehen von
Karl Vorländer. 1907. LI und 378 S. 4,60 M.
286 Richard FritzBche:
Bd. 46: Immanuel Kants Kleinere Schriften
zur Logik und Metaphysik. 2. Aufl. Heraus-
gegeben und mit Einleitung sowie einem Personen- und
Sachregister versehen von Karl Vorländer. 1905,
XXXn und 169 S., XL und 172 S., XX und 175 S.,
XXXI und 176 S. [in einem Bande]. 5,20 M. Bd. 51 :
Immanuel Kants Physische Geographie. 2. Aufl.
Herausgegeben und mit einer Einleitung, Anmerkungen
sowie einem Personen- und Sachregister versehen von
Paul öedan. 1905. XXX und 386 S. 2,80 M.
K. Vorländer, Professor in Solingen, und P. Grdam, Oberlehrer
am Lehrerinnenseminar zu Leipzig, geben uns kritisch festgestellte
ElANT-Tezte, während Kircumakn nur den Text Härtens ikins, nicnt ganz
fehlerfrei, abdruckte, der öfters an sich schon Verschlechterungen
und Inkorrektheiten gegenüber den (von Vorländer verglichenen)
Originalen aufwies. T>em letzteren war dabei sein Verhältnis zur
Kant- Kommission von Vorteil, da es ihm sowohl für die -Metaphysik
der Sitten'^ wie für die „Kleineren Schriften" die noch in Vorbereitung
befindlichen Stücke der Akademieaus^abe zugänglich machte, während
Gedan wenigstens die Ausgaben von Kink, Schubert, Hartenstein sorg-
fältig verglichen und die Textvarianten in den f\ißnoten angegeben
hat. So gelangen wir denn durch die fortschreitende Erneuerung
dieser Sammlung in den Besitz einer Kant- Ausgabe, nach der fortan
zu zitieren sich dringend empfiehlt, da sie von den zurzeit im Buch-
handel befindlichen die einzige vollständige und gegenüber den 12 M.
für den Band der Akademieausgabe erstaunlich wohlfeil ist, und der
Text an kritischer Sorgfalt nun mit dieser rivalisiert. Dazu kommen
die ausführlichen Einleitungen (Vorländer Bd. 42: 48 8., Bd. 46: 89 S.,
Gedan 20 S.), Inhaltsverzeichnisse (18, 35 und 20 S.) und, wo er-
forderlich, besonders in der phvsischen Geographie, knappe, aber für
den Leserkreis, auf den diese Schriften zu rechnen haben, wohl aus-
reichende erklärende Anmerkungen. Die 16 kleineren Schriften zur
Logik und Metaphysik hat Vorländer, während bei Kirchmann kein
Prinzip ersichtlich war, chronologisch in vier Gruppen zusammen-
gestelft: Schriften von 1755—65, 1766—86, 1790-93, 1796—98. Jede
Gruppe bildet mit besonderem Titelblatt (Bd. 64* usw.) und Paginierung,
Einleitung und B>egister innerhalb des Gesamtbandes (der wieder be-
sonderen Titel und Vorwort hat) ein Bändchen für sich. Auf diese
Weise, durch Trennung der Register, werden die Urteile Kants aus
verschiedenen Zeiten, insbesondere aus der vorkritischen Periode, von
den späteren gesondert gehalten. Die beiden lateinischen Disser-
tationen von 1755 und 1770 gibt Vorländer in Kirchmanns Über-
setzung, aber fast jeden Satz verbessert. (Die vier lateinischen
Dissertationen im Urtext sind als Bd. 52 gesondert erschienen.) Aus-
feschieden wurde vorläufig die (von J. S. Beck veränderte) Ab-
andlung „Über Philosophie überhaupt", deren von Dilthey auf-
gefundene echte Gestalt erst in der Nachlaßabteilung der Akademie-
ausgabe erwartet wird.
Schneeberg Sachsen). Richard Fritzsche.
Philosophische Bibliothek. 287
Pliilosophische Bibliothek. Leipzig, Dürrsche Buch-
handlung. Bd. (39: Neue Abhandlungen über den
menschlichen Verstand, von G. W. v. Leibniz.
Ins Deutsche übersetzt, mit Einleitung, Lebens-
beschreibung des Verfassers und erläuternden An-
merkungen versehen von 0. Schaarschmidt, Uni-
versitätsprofessor in Bonn. 2. Aufl. 1904. LXVIII und
590S. 6 M. Bd. 107. 108: Ö.W. Leibniz^ 0 Haupt-
schriften zur Grundlegung der Philosophie.
Übersetzt von Dr. A. Buchenau. Durchgesehen und
mit Einleitungen und Erläuterungen herausgegeben von
Dr. Ernst Cassirer. Bd. I 1904. Vm und 375 S.
3,60 M. Bd. n 1906. 582 S. 5,40 M.
£. Cassireb, Dozent an der Universität Berlin, hat seinem Werke :
^Das Erkenntnisprohlem in der Philosophie und Wissenschaft der
neueren Zeit** (2 Bde., 1906—8) eine Darstellung seiner Gesamtauff assun^
von liEiBMizens Lehre vorausgeschickt: ^Leibniz' System in seinen
wiBsenschaftlichen Grundlagen'' (1902), em Buch, das dieselbe Auf-
iaasunff des Idealismus vertritt wie „Kants Theorie der Erfahrung'^
<2. Aufl., 1885) von K. Cohen. In bezug auf Leibniz wie auf Kant
stehen sich nämlich zwei Auffassungen gegenüber, eine gemäßigtere
und eine scht-offere. Die erstere sagt: Kant unterscheidet an den
(gegenständen der Erkenntnis Stoff und Form. Jenen erhält die Seele
als Rohmaterial, in Gestalt der Empfindungen, durch die Einwirkung
des transzendenten Objekts oder „Dm^es an sich'' ; die Form gibt sie
dazu aus eigenem Vermögen, indem sie das Rohmaterial der Smpfin-
dnngen in den kategorialen Denk- und Anschauungsformen zum
Gegenstände gestaltet. Das ist ein kritischer Idealismus, der
den Weg zum transzendentalen Realismus offen läßt, nämlich zur
Anerkennung einer vom Bewußtsein unabhängigen, extramentalen
Wirklichkeit, bezüglich deren die Frage zulässig ist, ob und inwieweit
zwischen ihren Seinsformen und unseren (durch Anpassung ent-
standenen) Denk- und Anschauungsformen eine gesetzmäßige Be-
gehung obwalten möge. Nach der anderen Auffassung lehrt Ejlnt
^en schroffen Idealismus, die subjektive Idealität aller Wirk-
lichkeit, bei der für eine extramentale Wirklichkeit, ein „Ding an
sich'', kein Platz ist; ihre Anhänger, zu denen H. Cohen und E. Cassirer
- «ehören, nennen dies einen „klaren und konsequenten Idealismus".
Leibniz nimmt eine Übergangsstellung ein zwischen Locke und Kant;
seine Monaden, deren inneres Wesen nichts als passive (d. h. ma-
teziierende) und aktive (d. h. geistige) Kraft, und aeren Sein nichts
als Tätigkeit, nämlich Streben und Vorstellen ist, diese Monaden ent-
sprechen Kants „Dinge an sich". Cassirer nun, der von dem angeblich
unmöglichen „Dinge an sich" die Auffassung Cohens teilt, möchte auch
Leibniz „von dem Unbegriff der Monade, als etwa dem Ding an sich
M Das „V.", auf das der Freiherr und Reichshofrat v, Leibniz so
viel Wert legte, ist, wohl dem unsterblichen zu Ehren, weggelassen.
288 Richard Fritzsche:
gleichwertig, freisprechen''. Er möchte ihn zmn schroffen Idealisten
machen und möglichst nahe an den ebenso aufgefaßten Kant heran-
rücken. In der Tat lassen sich wie für die andere, so auch für diese
Auffassung ;,beweisende" Stellen aus Leibmiz (wie aus ELant) beibringen.
Für Leibniz war eben das Problem noch nicht so geklärt, wie es jetzt
für CouKN und Gassirer ist, nachdem Kant es behandelt hat. Und
selbst Kant muß es sich gefallen lassen, weil er noch mit dem Stoffe
ringt, das E. y. Hartmakn die Kr. d. r. V. als das „konfuseste Buch**
bezeichnet, das je ein hervorragender Denker geschrieben hat. Dazu
kommt, daß Leibniz auch „aus äußeren Gründen mit der offenen Aus-
sprache und Darlegung seiner Anschauunj^ zurückhält** (Cabsirrr,
Philos. Bibl. Bd. 108, S. 84). — Nun überna&n E, Gassirer die Auf-
gabe, an Stelle von Kirchmannb Bändchen : „Die kleineren philosophisch
wichtigeren Schriften von G. W. L.** (1879, 268 S.) eine neue Auswahl
zu geben, durch die der wesentliche Inhalt von LsiBNizens Philosophie
und das Verhältnis ihrer einzelnen Systemglieder zur Anschauung
kommen sollte. Die früheren ähnlichen Sammlungen beschränkten
sich darauf, einen Einblick in den Inhalt dieser Lehren zu geben;
Gassirer stellte sich die Aufgabe, ihr oi^anisches Wachstum zur An-
schauung; zu bringen, „die gedankliche Entwicklung, die zu ihnen hin-
geführt nat, und die gemeinsame logische Wurzel, der sie entstammen**,
eben unter dem angegebenen Gesichtspunkte, daß Leibniz sich zum
„klaren und konsequenten" Idealisten entwickelt habe (vgL Gassirebs
Einleitung zur Monadenlehre, Philos. Bibl. Bd. 108, S. 81 ff.). Über
die Streittragen, die sich hierauf beziehen, unterrichtet A. Silberstein,
LsiBNizens Apriorismus im Verhältnis zu seiner Metaphysik (1904);
ein Urteil wird erschwert durch den Umstand, daß LEiBNizens Ge-
dankengänge eben nicht nur von der „logischen Wurzel '^ abhängen,
sondern auch von seiner theologischen Tendenz. Denn Aufgabe der
Philosophie ist ihm die Begründung der Moral und der Glückseligkeit,
und dazu meint er das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der
Seele beweisen zu müssen; Versöhnung der Theologie mit der Philo-
sophie ist ihm die wichtigste Leistung seiner Metaphysik, und dadurch
wird das rein logische und erkenntnistheoretische Interesse notwendig
beeinträchtigt. Aber wie auch diese Dinge sich einst darstellen
werden, wenn erst Leibniz' gesamter philosophischer Nachlaß gedruckt
vorliegt, einstweilen dürfte davon die Anerkennung unabhängig sein
für die vorliegende reichhaltige und wohlerwogene Auswanf, die
durch Anmerkungen und ausführliche Einleitungen zu jedem Ab-
schnitte (mit Ausnahme des vierten und siebenten) erläutert und mit
den erwünschten Registern ausgestattet ist. Band I enthält 1. Schriften
zur Logik und Methodenlehre, 2. zur Mathematik, zur Phoronomie
und Dynamik, 3. zur geschichtlichen Stellung des metaphysischen
Systems; Band II solche 4. zur Metaphysik (5. Biologie imd Ent-
wicklungsgeschichte, 6. Monadenlehre), 7. zur Ethik und Rechtsphilo-
sophie una als Anhang die „Unvorgreiflichen GManken, betreffend
die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache''. Bei dem
gewaltigen Umfange der Schriftstellerei und des so inhaltsreichen
triefwechsels dieses schreiblustigsten aller Philosophen (von dem in
Hannover über 15 (XX) Briefe liegen) bekommen nur wemge seine
Werke, soweit sie überhaupt gedruckt sind, je zu sehen ((terhardts
Ausgabe der philosophischen Schriften kostet 182 Mk., die der mathe-
matischen 55 Mk.), obwohl doch gerade die modernste Wissenschaft
immer wieder von Leibniz ihre Fragen zuerst aufgeworfen, ihre
Lösungen vorgeahnt ja vorweggenommen sieht (z. B. bezüglich des
Philosophische Bibliothek. 289
rTnbewußt-Psychischen und des Satzes von der Erhaltung der Energie).
Und wie der Physiker Dubois-Reymond (LEiBxizsche Gedanken in der
neueren Naturwissenschaft, 1871), so sieht der Biolog, der Ethiker, der
Geschichts-, Rechts-, Keligionsphilosoph sich von neuem auf Leibmiz
hingewiesen. Leibniz ist eben, wie Schelling, noch aktuell. So sind
wir dankbar für diese neue, von A. Büchenau übersetzte, von E. Oassireb
bearbeitete zweibändige Sammlung der „Hauptschriften zur Grund-
legung der Philosophie", neben der übrigens die Sammlung von
R. Habs (Reclams Universalbibliothek Nr. 1898 — 1900) imd leider
auch das nun aus dem Buchhandel ausscheidende KmcHMANNsche
Bändchen, da sie zum Teil anderes enthalten, nicht überflüssig sind.
Als dritten Band dieser vierbändigen LEiBifizausgabe (der vierte
ist XiRCHMANNS Übersetzung der Theodicee) gibt (X Schaasscumidt
in zweiter Auflage seine 1878 zuerst erschienene erste deutsche Über-
setzung des LKiBNizischen Hauptwerks zur Erkenntnislehre, der Nou-
veaux essais sur l'entendement humain, mit den beiden früheren Ein-
leitungen 1. Leibxiz' Leben (2'ö S., nur der äui^ere Lebensgangj,
2. Inhalt und Bedeutung der Neuen Abhandlungen (39 S.), leider nur
wenig verändert. Denn viele Fehler der 1. Ausgabe sind stehen ge-
blieben. Wir können nur zur Charakteristik, welcher Art sie sind,
eine kleine Auswahl geben. 1. Aufl., S. 50, Z. 5ff. = l^. Aufl., S. 45,
Z. 42 ff. steht ein Satz, der sinnlos ist, weil ihm (hinter der ersten
Klammer) das Prädikat „das Prinzip" fehlt. S. 50, Z. 28 = S. 46,
Z. 22 steht: „wenn man sagt, daß A nicht A ist". Es muß heißen:
„daß A nicht Non-A ist". Das ist für Leser, die das Ori^nal nicht
vergleichen können, ein sehr anstößiger, irreführender Fehler; aber
er ist stehen geblieben. — Leibniz formuliert das Gesetz, „das die
Quelle der [nicnt: ,aller*] gesellschaftlichen Tugenden ist" (Buch I,
Kap. II, § 3) folgendermaßen, positiv: „Tut dem andern nur das,
wovon ihr wünscht, daß es euch selbst geschieht"; der Übersetzer
Sbt dafür willkürlich die negative Vorschrift (1. Aufl., S. 60): ^^Was
u nicht willst, das Dir geschieht, das thue auch dem Andern mcht",
mid diesen Vers (auf den Leibniz also keineswegs angespielt hat)
behält er auch in der 2. Aufl. (S. 56) bei, nur mit der den Keim auf-
hebenden Änderung „geschieht*", obwohl doch das altertümliche „das
dir** statt „daß dir" besser zu der Lesart „geschieht" paßt. — Aus-
lassungen einzelner Wörter sind häufig; selbst der betonte Begriff,
auf den es gerade um des Gegensatzes willen ankommt, wird weg-
gelassen (Bu3i II, Kap. X, § 1\ wo es sich beim Festhalten einer Vor-
stellung um das aktuelle Festhalten (im Blickpunkte des Bewußtseins,
bei der „contemplation") im Gegensatze zum potentiellen („en gardant
la puissance" unter der Schwelle des Bewußtseins, im Gedächtnis)
handelt. Da sagt Leibniz nachdrücklich: „indem man die gegen-
wärtige Vorstellung actuellement behält"; dies „actuellement"
läßt der Übersetzer weg 1. Aufl., S. 117, Z. 9 = 2. Aufl., S. 111, Z. 38:
„indem man die gegenwärtige Vorstellung behält". — Eis fehlen audi
längere Satzteile, bisweilen solche, durch deren Ausfall eine Sinn-
losigkeit entsteht, wie 1. Aufl., S. 120, Z. 10 = 2. Aufl., S. 114, Z. 88:
„(Wenn die Menschen) sich der Zahlwörter zum Zählen bedienen,
welche gleich ohne Zählen erkennen lassen, ob etwas fehlt." Was
soll das heißen? Nun, hinter „bedienen" ist ausgelassen „oder ge-
wisser Anordnungen in regelmäßigen Figuren" (ou des dispositions
en figure). — Auch die Anpassung des Satzes Buch II, Kap. 11, § 18
(hinter: das Urteil, 1. Aufl., S. 121, Z. 89 = 2. Aufl., S. 116, Z. 24):
„Indessen die Lebhaftigkeit seiner Einbildungskraft kann ihn zu einem
Vierteljahrsschrift f. wissenschaf tl. Philos. u. Soziol. XXXII. 2. 19
290 Bichard Fritzsche:
ansenehmen Gresellschafter machen" (le peut rendre agröable) ist
recnt sinnstörend ; es ist nämlich davon die Itede, daß jemand schwach-
sinnig sein kann in bezuff auf die Urteilskraft, während die Phantasie
lebhc3t ist, und dieser Nachsatz fehlt. — Buch II, Kap. VII, § 1
(1. Aufl., S. 103, Z. 22 «= 2. Aufl., S. 98, Z. 26) ist statt „Auch möchte
ich glauben" zu lesen „Daher möchte ich glauben"; ein Lesefehler
(Aussi statt Ainsi), der an dieser Stelle kaum weniger störend ist, als
der Druckfehler 1. Aufl., S. 126, Z. 10 = 2. Aufl., S. 120, Z. 23 „die
Bedeutung dieser Namen . . . berechnen" (statt: bewahren). Aber
auch solche Sinnlosigkeiten, die auf mangelndem Verständnisse des
Originals beruhen, sind buchstäblich, als wären sie selbstverständlich,
wieder abgedruckt worden. Wenn wir alle Punkte z. B. eines Dreiecks
mit einem außerhalb liegenden Punkte auf dem kürzesten Weee ver-
binden, so entsteht im aBgemeinen ein dreidimensionales Gebilde feine
Pyramide), ausgenonmien 1. wenn Punkt und Dreieck in derselben
Ebene liegen (wo die kürzesten Verbindungslinien in die Ebene fallen
müssen), und 2, wenn Punkt und Dreieck z. B. auf einer Kugelfläche
liegen und wir ausdrücklich aufgefordert sind, die kürzesten Ver-
bindungslinien auf dieser Fläche (und nicht durch die Kugel hindurch)
zu ziehen. Das drückt Leibniz im II. Buche, Kap. XIH, § 3 folgender-
maßen aus: „Oet Intervalle est solide; except6 lorsque les deux choses
situ^es sont dans une m4me surface, et ^ue les lignes les plus courtes
entre les points des choses situ6es doivent aussi tomber dans cette
surface ou y doivent §tre prises exprfes." „Dieser Zwischenraum ist
körperlich, ausgenommen wenn die beiden in räumlicher Lage be-
findlichen Gegenstände in derselben Fläche liegen, und wenn die
kürzesten Limen zwischen den Punkten der in räumlicher Lage be-
findlichen Gegenstände auch in diese Fläche fallen müssen oder aus-
drücklich in dieser angenommen werden sollen." Wer das Original
nicht zur Hand hat, kann der diesen Sinn ahnen, wenn er in der
Übersetzung liest (1. Aufl., S. 125, 2. Aufl., S. 120): .Dieser Zwischen-
raum ist erfüllt, ausgenommen, wenn die beiden in räumlicher
Lage befindlichen Gegenstände in derselben Fläche Uegen, und die
kürzestenLinien |aas que bleibt unbeachtet] zwischen den Punkten
der in räumlicher Lage befindlichen Gegenstände müssen auch in
diese Fläche fallen, wo sie [ou yQ für sich genommen
werden müssen." Wer nur einise Kapitel der Dbersetzung mit
dem Originale vergleicht, der wira nicht wenige üngenauigkeiten,
Auslassungen und Mißverständnisse entdecken, darunter leider bis-
weilen so starke Sachen, daß wir Herrn Geheimen Begierunefsrat
Prof. ScHAABSGHMmT raten müssen, das noch ausstehende Bän^hen
Anmerkungen vor allem zu Verbesserungen und Nachträgen zu be-
benutzen. £e sich ihm bei der unbedingt nötigen Revision dieser mangel-
haften Üpersetzung ergeben werden. Über die Stellung l^KiBinzens zu
Kant sagt Schaarschmiot, daß die Noaveaux essais zwischen dem Locke-
schen Werke und der KANTschen Kritik, welche beide eine Reformation
der philosophischen Grundanschauung anstreben, eine mittlere Stellung
in der Art einnehmen, ^daß sie den sensualistischen Gesichtspunkten
des ersteren die nötige idealistische Ergänzung geben und damit die
Versöhnung der beiden einander widersprechenden und einseitigen
Standpunkte des Empirismus imd Spiritualismus durch eine un-
Sarteiische Vermittlung anbahnen". Der noch in Vorbereitung befind-
che Band Anmerkungen bringt hoffentlich auch das dringend er-
wünschte Register, das der 1. Auflage fehlte.
Schneeberg (Sachsen). Richard FarrzscHE.
Kirchners Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe. 291
Philosophische Bibliothek. Leipzig, Dürrsche Buch-
handltmg. Bd. 67: Kirchners Wörterbuch der
philosophischen Grundbegriffe. 5. Aufl. Neu-
bearbeitung von Dr. Carl Michaölis. 1907. V und
708 S. 8 M.
Von Kirchners Wörterbuch erschien 1886 die erste, 1890 die
zweite Auflage. So schnell folgte auch der 1903 erschienenen vierten
die fünfte; den G-rund deutet das Blatt mit der Widmung an: Den
deutschen Studenten. Es ist eine Neubearbeitung, für die nun an
Kirchners Stelle der Herausgeber C. Michaeus, Stadtechulrat in Berlin,
die Verantwortung übernimmt. Die überkommene Aufgabe war, für
das Bedürfnis von Anfängern die wichtigsten Begriffe m gerundeten
kritischen Erörterungen und klaren Definitionen darzustellen, daneben
auch in Kürze ihre jEhitwicklun^ in der Geschichte der Philosophie
aufzuweisen. Mit vier Mitarbeitern und zwei Mitarbeiterinnen hat
Michaelis den Stoff so durchgearbeitet, daß der Umfang von den
587 Seiten der 4. Auflage auf 708 anwuchs und der Fortschritt auf
jeder Seite unverkennbar ist gegenüber dem ursprünglichen Werke
Kirchners, dessen Manier öfter an den Geist des sengen Traugott Ejiüo
(in seinem „Allgemeinen Handwörterbuch der philosophischen Wissen-
schaften*' 1827—1829) erinnerte. Den Idealismus bezeichnet der Be-
arbeiter als seinen Standpunkt, den Empirismus als seine Methode;
Platon und Aristoteles unter den Alten , aIant und Wundt unter den
Neueren stehen ihm deshalb, wie er sagt, im Vordererunde. Doch ist
solchen Begriffen, in denen die Probleme der Philosophie sich mit
denen der Physik und Mathematik berühren , seine Tätigkeit am
meisten zugute gekommen; seine Artikel ÄÜier, Atom, Dimension,
Djnamismus, Energie, Ionen, Korpuskel usw. bieten Ergänzungen zu
Eislers so verdiensUichem „Wörterbuch der phüosophisäen Begriffe^
(2. Aufl. 1904) und zeigen, nach welcher Richtung vor allem dieses
Werk zu vervollstän£gen sein wird. Der Bearbeitung erkenntnis-
theoretischer und ethischer Begriffe (z. B. Wahrheit, Gewißheit, Sitte)
wird in der nächsten Auflage noch besondere Sorgfalt zu widmen
sein. Wir erfahren nicht, wie die logisch-apodiktische Wahrheit
(z. B. daß der Kopf beim Spazierengehen aui^ einer kugelförmigen
Erde einen längeren Weg zurücklegt als die Füße) sich unterscheidet
von der faktiscnen (z. B. daß die Erde ein Ellipsoid ist) und von der
assertorischen Gewißheit der Werturteile. Sehr mit Becht ist Kirchneb
bemüht gewesen, die kurzen Artikel durch literarische Hinweise zu
ergänzen. Die allerdings schwierige systematische Vervollständigung
dieser Nachweise dürfte die wichtigste Verbesserung sein, die dem
Buche noch zu wünschen ist; denn bis jetzt sind die Verweise noch
etwas ungleichmäßig imd zufällig, unter „Gewißheit^ z. B. ist doch
auf J. Volkelt, Die Quellen der menschlichen Gewißheit (1906) zu ver-
weisen, und unter „Sitte ** auf B. v. Jherino, Der Zweck im Becht,
Bd. II, S. 239—716, wo die Funktionen der Sitte im Leben der Gesell-
schaft und ihre Beziehungen zu Sittlichkeit und Becht eingehend er-
örtert sind, die der hier vorliegende, etwas zu wenig Information
bietende Artikel gSitte'' nicht emmal andeutet. Das Nächstliegende
wären BEinweise (die auch am wenigsten Platz beanspruchen würden)
auf einschlägige Stellen in den (bis jetzt 114) Bänden der „Philo-
sophischen Bibliothek'', zu der das „Wörterbuch** dadurch in ein ganz
19*
292 Richard Fritzsche:
ueues, organisches Verhältnis treten würde. Bei solchen Begriffen,
an deren Erörterung die Theologie beteiligt ist, z. B. Gott und Ge-
wissen, wird die Öarstellung des Theologen Kirchner mehr oder
weniger rektifiziert. Z. B. sagte Kirchner von den Beweisen für das
Dasein Gottes : „Es ist richtig, jeder einzelne ist nicht stringent, aber
zusammen haben sie doch großes Gewicht"; bei Michaelis haben sie
nur „ein gewisses Gewicht" (während doch schon der altindische
Philosoph KÄpila eben mit Bezug auf die Gottesbeweise sagte : Nicht
zwingende Beweise haben kein Gewicht). Ein Dasein kann man über-
haupt nicht im mathematischen Sinne beweisen , sondern nur nach-
weisen, aufdecken, erleben. Jene Beweise lehren nur, daß auch ein
scheinbar noch so konsequent logisches Denken sich von Gefühl und
Willen leiten läßt; sie zeigen den Primat des Willens gegenüber dem
Intellekt. Vom Gewissen sagte Kirchner, wohl um das Denken der
Studenten anzuregen, es sei dem Menschen, „wenigstens dem zivili-
sierten", angeboren; Michaelis sagt schlicht: „Das Gewissen ist nicht
angeboren", (Warum kann man den Hund nicht für Musik gewinnen?
Nur was in dir ist, kann man dir offenbaren.) Ferner hieß es bei
Kirchnkr: „Theologen . . . bezeichnen es (das Gewissen) als die im
vernünftigen Selbstbewußtsein gegebene Offenbarung Gottes, eine
Definition, welcher wir auch beipflichten"; Michaelis korrigiert den
Schluß: „eine Definition, die vor der Analyse nicht standhält". In
solchen inm wohl fem er liegenden Stücken hat Michaelis die Auf-
fassung seines Vorgängers wohl modernisiert, aber nicht gerade ver-
tieft. Hier, wo es sich um Gefühl und Willen handelt, ist noch
Spielraum geblieben für die Durchführung der idealistischen Grund-
ansicht, zu der sich der Herausgeber bekennt, sofern diese nicht nur
logisch-idealistisch ist. Anthropologische Artikel, in denen Kirchner
fewisso Typen und Charakterzüge der Menschen behandelte, hat
[ichaelis nicht beseitigen mögen, aber gekürzt, da sie sich weder ver-
tiefen noch sonst anregender machen ließen. Doch wird das Be-
streben, Triviales zu heben, zu tilgen oder zu kürzen, sich noch weiter
betätigen können. Einer Revision bedürfen schließlich auch die neu
aufgenommenen Artikel über indische Philosophie, die ersichtlich mit
Voroehalt späterer sachkundiger Nachprüfung angefertigt sind. Die
höchste Leistung des philosophischen Geistes der Inder, das Vedänta-
system, wird überhaupt nicht erwähnt, obwohl die (allerdings recht
verbesserungsbedürftigen) Erläuterungen der Stichworte Advaita und
Tat tvam asi sich auf Vedäntagedanken beziehen. Über das zweite,
fast ebenso wichtige System lesen wir: „Sänkhyasystem (ind.)
heißt ein System der indischen Philosophie, das um 500 v. Chr. von
Kapila, Pan9aQikha [lies: Panca9ikha] und Asari [lies: Asuri] ver-
treten wurde und dessen Hauptgedanken die Entwicklungslehre und
der Atheismus sind^. Das bezieht sich auf folgenden Tatbestand:
Das Sänkhya, das wichtigste und tiefsinnigste philosophische System
der Inder nächst dem Vedänta (dem monistischen Systeme des "brah-
manismus) und dessen dualistischer und zugleich atheistischer Gegen-
satz, die philosophische Grundlage des Buddhismus, wurde (vor 550
V. Chr) begründet durch Kapila und dessen Schüler Asuri, dessen,
^unmittelbarer?) Schüler Pantscha^ikha, die zweite Autorität des
Sänkhya, uns die ältesten Fragmente hinterlassen hat. Dies pessi-
mistischste aller indischen Systeme (seine Darstellung beginnt mit
dem Worte „Leiden", während sonst indische Bücher mit einem glück-
verheißenden Worte beginnen) geht aus von dem Satze : ^Nirgends
ist irgend jemand glückUch", um dann Erlösung vom Dasein zu ver-
Friedrich Schleiermachers Monologen. 293
heißen durch die Erkenntnis, daß der Geist nichts gemein hat mit der
Materie und den durch sie bedingten niederen Seelenzuständen (der
^Sinnlichkeit*' im Sinne Kants), zu denen er vielmehr sagt: „Das bin
ich nicht, das ist nicht mein, das ist nicht mein Selbst.^ Dem Nach-
weise, daß das wahre Selbst des Mefischen nicht der Welt des Ge-
schehens angehören kann, dient die Sänkhyatheorie der Weltentfaltung.
— Für den Zweck des entschieden wesentlich verbesserten Buches
sind diese indischen Artikel nebensächlich. Und wer möchte es
wagen, sie ernstlich zu tadeln, falls sie gar (kaum getrauen wir uns,
es zu vermuten) von einer der beiden liebenswürdigen Mitarbeiterinnen
herrühren? — Den Schluß bildet eine von K. Schmij>t angefertigte
Zeittafel.
Schneeberg (Sachsen). Bichabd Fritzsche.
Philosophlsclie Bibliothek. Leipzig, Dürrsche Buch-
handlung. Bd. 84: Friedrich Schleiermachers
Monologen. Kritische Ausgabe. Mit Einleitung,
Bibliographie und Index von Friedrich Michael
Schiele. 1902. XL VI und 130 S. 1,40 M.
Von den aus einer Kandidatenpredigt (1792) entstandenen Mono-
logen (1799) hat ScHLEiERMACHRR nach der ersten (1800) noch zwei ver-
änderte Ausgaben (1810. 1822) besorgt, und auch von der vierten noch
bei ScHLEiBBMACHERs Lcbzeiteu erschienenen Auflage (1829; in Reclahs
ÜniveTsalbibliothek Nr. 502) ist es nicht zweifelhaft, daß wenigstens
die eigentlichen Textänderungen und Zusätze von Schleiebuachkr selbst
herrühren. Nun hat F. M. Schiele, Dozent in Tübingen, sich ent-
schlossen, von der kleinen Schrift, als wäre sie „in äthiopischer Sprache
und in einem dunklen Winkel der Menschheit geschrieben ** , eine
»kritische Ausgabe*^ zu liefern mit einer phÜologiscnen Akribie in der
Anfohrung aller Lesarten, die sich selbst auf rein Orthographisches,
S'k auf das Komma erstreckt (weil von diesem der Bhythmus des
atzes beeinflußt wird, und darauf kommt in der manierierten
Sprache dieses Jugendwerks der Bomantik etwas an) Da aber die
Ausgabe von 1829 nicht mehr von Sculeiermacher selbst redigiert ist,
haben deren Lesarten wenigstens in nebensächlichen Dingen nicht
die gleiche Beglaubigung, wie die der anderen. Aus diesem (zu-
reichenden?) Grunde hat der Herausgeber die Lesarten von 1829 nur
im Vorworte mitgeteilt, in die kritischen Anmerkungen aber, mit
denen er seinen Text (von 1799) begleitet, nur die von 1810 und 1822
aiife;enommen. Trotzdem stehen unter diesen 88 kleinen Seiten auf
je So Zeilen Text im Durchschnitte 10 Zeilen Lesarten, aus denen
wir uns, unter Berücksichtigung der Varianten von 1829 im Vorworte,
den endgültigen von Schleiermacher selbst festgestellten WorÜaut
jederzeit rekonstruieren können. Es ist augenscheinlich, daß damit
diese Ausgabe aus dem Plane der Sammluns heraustritt. Dazu
kommt, daß Schleiermacher selbst (1810) erklärt nat, er hüte sich, in
den Neuauflagen sein romantisches Jugendbild „aufzufrischen oder
§ar zu verbessern^, um nicht „durch unvermerkte Einmischung von
Qgen aus späterer Zeit die innere Wahrheit zu trüben''. In der
Tat handelt es sich bei Schleiermachers Verbesserungen und Zusätzen,
die der Herausgeber unter den Text verwiesen hat, nur um eine mit
294 Bichard Fritzsche:
schonender Hand gemachte Betouche. Somit kommt die Ausgabe am
meisten den Wünschen derer entseeen, die mehr Interesse haben fOr
den Verfasser und für die Geschiente des Textes als für den Text
letzter Hand. Sie ist ausgestattet mit einer sehr schätzenswerten
Einleitung (27 S.) über die ±Intstehun^ der Monologen, einer Biblio-
graphie (10 S.) zu ScuLEiERKACH£Rs philosophischer Ethik and einem
ausführlichen, musterhaft sorgfältigen Index (86 S.), der weit über den
nächsten Zweck eines solchen hinausgeht und, zumsd er auch auf die
wichtigsten Stellen der .Beden'' und der „Denkmale*^ Bezug nimmt,
f;eradezu ein kleines Lexikon ScHLEiEBMACHEBSchen Gedankenreichtums
ietet. Wer sich für die Monologen interessiert, dem ist also diese
Ausgabe zu empfehlen.
Schneeberg (Sachsen). Bicha&d Fkitzscub.
Philosophlsclie Bibliothek. Leipzig, Dürrsche Buch-
handlung. Bd. 109: Goethes Philosophie aus
seinen Werken. Ein Buch für jeden gebildeten Deutschen.
Mit ausführlicher Einleitung herausgegeben von Max
Heynacher. 1905. VUL und 428 S. 3,60 M.
M. Heykachkb, Gjrmnasialdirektor in Hildesheim, gibt nach einer
ausführlichen, sehr lesenswerten Einleitung (S. 1—110) über die Ent-
wicklung der Philosophie Q-oethes einen Abdruck von „Goethes philo-
sophischen Schriften*', d. h. Abhandlungen und Auszügen aus Dichtung
und Wahrheit, der Farbenlehre usw., über Fragen der Naturphilosophie,
Anthropologie , Ästhetik u. a., und als Annang : Sprüche una Ge-
danken; dazu etwas knappe Register (6 S.). Goethes Philosophie ist
eine immer werdende und sich vertiefende, also nie zum System
kristallisierte, sondern lebendig bleibende Weltweisheit, in ihrem Kerne
monistische Naturphilosophie. Das Schlüsselwort seiner Metaphysik
ist der an Spinozas deus sive natura anklingende Lieblingsausdfuck
Gott-Natur. Hieraus ergibt sich seine Stellung einerseits zur Natur-
wissenschaft, andererseits zur [Religion. Er betrachtet die Natur nicht
einseitig kausal, aber auch nicht im Sinne christlicher oder doch
dualistischer Teleologie. Er sieht in ihr, wie in der Entwicklung jedes
einzelnen Organismus, das Geheinmis einer „ ürpolarität", eines auf
ein Ziel hinstrebenden Willens, der seinem Wesen nach identisch ist
mit der Naturnotwendigkeit, die alle nach menschlicher Art vor-
bedachte Zweckgedanken ausschließt. Ebenso, wie den atomistischen,
chemischen, würde er den physikalischen, energetischen Materialismus
ablehnen. Bei der Betrachtung der organischen Schöpfung leitet ihn
der Entwicklungsgedanke, aber näher als Darwin steht ihm Lamakck,
ja K. E. V. Baer, näher als Ostwalds oder Machs Energetik die
ScHELi.iNosche Form des Voluntarismus, näher als A. Paulys Ansicht
von der physikalisch-energetischen Natur des letzten Grundes der
Lebenserscheinungen J. B>eink£ mit seinen Dominanten, H. Driesch
mit der Lehre von den Entelechien. ^ Diese Seite von Goethes Auf-
fassung kommt in den von Heynacher ausgewählten Texten hinreichend
klar und eindrucksvoll zur Anschauung. In der Keligion verhielt
Goethe sich ablehnend zu allem Gcschichtsglauben und aller Heilsver-
mittelung; für ihn ist keine heilige Geschichte (im dogmatischen Sinne)
über die Erde gegangen, nicht an einem bestimmten Kalendertag
SchelliBgs Vorlesungen. 295
und an einem Orte, der auf der Landkarte zu finden ist, die Welt
erlöst worden. In diesem, wir dürfen wohl sa^en äußerlichen, Sinne
war Goethe bis an sein Ende ^dezidierter Nichtchrist", wie aucsh gegen-
über allem schrofEen Dualismus, der hinter dem Gegensatze des
Physischen und Geistigen nicht eine beiden gemeinsame Einheit des
Weltgrundes sucht; hmgegen im innerlichen, wesentlichen Sinne
näherte er sich nach der ^Periode des römischen Heidentums und der
ästhetischen Selbsterlösune dem Christentume immer mehr und stand
ihm scliließlich erstaunlicn nahe. Dies ist aus Bütnachers schönem
Buche vielleicht deshalb minder vollständig zu ersehen, weil hierüber
nicht so^wohl zusammenhängende Texte vorliegen, wie Heynacher sie
unter dem neuen, für viele gewiß befremdenden Titel : „Goethes philo-
sophische Schriften*' zusammengestellt hat, als vielmehr zahlreiche
verstreute Aphorismen und Gespräche, die Th. Vogel gesammelt hat
in dem i^ertvollen Buche : Goethes Selbstzeugnisse über seine Stellimg
zur Religion und zu religiös-kirchlichen Fragen (3. Aufl. 1903). Kurz
und s|xit handelt hierüber H. Brause wetter : Goethes Stellung zur
christlichen Weltanschauung (Deutsche Monatsschrift für das gesamte
Leben der Gegenwart. Bd. 6, S. 777 — 785). 'In Heynachers Buche
tragen die Seiten 112 — 224 fälschlich die Überschrift: ^Die Entwicklung
der Philosophie Goethes''; man streiche die Worte „Entwicklung der".
Schneeberg (Sachsen). Kichard Fritzsche.
Philosophisclie Bibliothek. Leipzig, Dürrsche Buch-
handlung. Bd. 104: Schellings Münchener Vor-
lesungen: Zur Geschichte der neueren Philo-
sophie und Darstellung des philosophischen
Empirismus. Neu herausgegeben und mit erläuternden
Anmerkungen versehen von Dr. Arthur Drews, a. o.
Professor der Philosophie an der Technischen Hoch-
schule in Karlsruhe. 1902. XVI und 354 S. 4,60 M.
Bd. 114: G. W. F. Hegels Phänomenologie des
Geistes. Jubiläumsausgabe. In revidiertem Text heraus-
gegeben von Georg Lassen, Pastor an S. Bartholo-
mäus, Berlin. 1907. CXIX und 532 S. 5 M.
Hegels Bellgioiisphilosopliie. In gekürzter Form, mit Ein-
führung, Anmerkungen und Erläuterungen herausgegeben
von Arthur Drews. Verlegt bei Eugen Diederichs.
Jena und Leipzig 1905. LXXXVHI und 474 S. 13 M.
Zur Wiedergeburt des Idealismus. Philosophische Studien
von Ferdinand Jakob Schmidt. Leipzig, Dürrsche
Buchhandlung. 1908. 325 S. 6 M.
Den Ruf „Zurück zu Kant!" haben wir befolgt, aber es hat sich
herausgestellt, daß wir bei dem skeptisch oder positivistisch ge-
296 Richard Fritzsche:
deuteten Ergebnisse der Kr. d. r. V. nicht stehen bleiben können.
Auf £1ant folgte als Ausdruck des metaphysischen Bedürfnisses der
FicHTE-ScHET.LiNG-HEGELSohe IdeaUsmus, und so scheint sich auch jetzt
„ein Fortschritt von Kjlnt zu seinen großen Nachfolgern im Smne
eines Wiederholungskursus des einstigen Entwicklungseanees zu voll-
ziehen*^ (A. Drews). Hegels Hand (wenigstens seine ^inke") wirkt
noch heute in der neueren Theologie, deren Geschichte mit D. F. SruAuss
beginnt, und in der sozialistischen Theorie, deren HEGELSchen Kern
F. J. Schmidt als den Trieb bezeichnet, „die natürlich-geschichtliche
Lebensordnung in eine dem allgemeinen V'ernunfttriebe entsprechende
Form umzugestalten^. Der theologische und der soziale Kampfplatz,
das ist heißer Boden, wo es sich um große praktische und teilweise
verbündete Interessen handelt, die sich bedroht sehen. Da verteidigen
wir uns nicht nur gegen Irrtümer, sondern auch gegen die mit dem
Irrtum verbundenen Wahrheiten, die unter Umständen nicht nur
aufregender, sondern auch zerstörender wirken als der Irrtum. Hin-
gegen in der kühlen und klaren Luft des reinen Denkens bewegen
sich die Bestrebungen von A. Drews und G. Lasbox, sowie die von
F. J. Schmidt, der unter dem Titel : „Zur Wiedergeburt des Idealismus"
eine Keihe feinsinniger Studien zusammengestellt hat, die, mit Aus-
nahme der einleitenoen ersten, bereits in den Preußischen Jahrbüchern
erschienen sind, aber dieser neuen, gut ausgestatteten Sonderausgabe
durchaus würdig waren. Die behandelten G-egenstände sind sehr
mannigfaltig (Kapitalismus und Protestantismus. Der mittelalterliche
Charakter des kirchlichen Protestantismus. Offenbarung. Worte
Christi. Der theologische Positivismus. A. Hamack und die Wieder-
belebung der spekulativen Forschung. Kunst, Religion und Philo-
sophie. Das Enebnis und die Dichtung. Goethe una das Altertum.
Kant-Orthodoxie. Kant und die spekulative Mathematik. Die Philo-
sophie auf den höheren Schulen. Frauenbildung); aber allen Auf-
sätzen gemeinsam ist der mit sicherer und feiner Dialektik, mit
sittlichem Ernst und (mittelalterlichen wie modernen Richtungen
gegenüber) mit Freimut geführte Kampf für den HEOEi-schen Idealis-
mus, für die Wahrheit, „daß der Geist die Welt gemacht hat und
alles, was darinnen ist, daß wir in ihm leben, weben und sind". Wie
es eine niedere und eine höhere Mathematik gibt, so gibt es für diesen
Standpunkt eine niedere und eine höhere Philosophie. In das niedere
Gebiet gehören Empirismus, Psjchologismus, Rationalismus, weil sie
es nur mit endlicnen Bestimmungen zu tun haben, selbst wenn
sie metaphysische Probleme behandeln. Die höhere Philosophie aber
geht „auf die absolute Totalität alles Möglichen imd W^'^^^^^®'^'' ^
sie ist ein „Sichselberdenken Gottes", „so daß es weder im Himmel
noch auf Erden etwas geben kann, was von diesem Denken nicht
beständig mitbegriffen wäre". Und die methodische Begründung
solchen Totalitätsdenkens (durch Fichte und Hegel) ist die geniale
Leistung des deutschen Idealismus, die auch dann noch von un-
vergänglicher Wirkung sein wird, „wenn dereinst die Heldentaten
unserer Väter in dem Gedächtnis der Menschheit verblaßt sein werden,
und wenn es von den großen Gestalten unserer Geschichte nur noch
eine dunkle Kunde geben wird". Nun unterscheiden wir aber zwei
Richtungen bei diesem „Wiederholunfi;skursus im Idealismus"^, der
durch den Tiefstand der deutschen Philosophie im Zeitalter der Tat-
sachen, der statistischen und mechanischen Naturbetrachtung, nötig
feworden ist: die Richtung auf Hegel und die auf Schelling.
. J. Schmidt hält es mit Fichte und vor allem mit Hegel, also mit
Schellings Vorlesungen. 297
dem Panloffismns. So ist er ein G-egner nicht nur des Schopenhaueb-
schen, sonaern auch des ScHELLixaschen , von Hartmann erneuerten
Voluntarismus, der (nach Hartmanns Ausdruck) „eine Synthese von
Hkoel und Schopenhauer*' bildet, insofern er die äußere, formale,
logische wie die innere, energetische Seite des Seienden gleichmäßig
berQcksichtigt. Am nachdrücklichsten äußert sich Schmidt gegen die
moderne, empirische und voluntaristische Psychologie, die er lieber
Psychologistik, ja Psychosophistik nennt (umgekehrt tadelt Drews
(3/ XI an Hbgels dialektischer Methode in der Beligionsphilosophie
die „meist sophistische, oft gewaltsame, künstliche und gesuchte
Art^); er bringt sie in Zusammenhang mit „geistwidrigem Materiaiis-
mas** und sozialdemokratischem „Proletarismus*'. Denn dasMARxistische
Denken, obwohl aus HsaEi^chem Idealismus hervorgegangen, leidet
in seiner Anwendung auf praktische Fragen an einem „barbarischen
und unheilvollen" ^Ußverständnis ; es ist „ungeistig, sinnlich, psycho-
logrisch'*. Aber das Geistige im Sinne Hegei^, der für Natur*^ und
Xacurwissenschaft keinen Sinn hatte, ist ein einseitiges, für einen
metaphysischen Weltbegriff nicht mehr ausreichendes Prinzip, seitdem
der moderne Energiebegriff gefunden ist. Hegel dachte sich noch
wie W. Hbbschel die Sonne als einen dunklen Körper mit immer
leuchtenden Wolken. Man wußte nicht, daß sie mit mrer Strahlung
etwas ausgibt; man konnte also noch nicht in dem Sinne wie wir
unterscheiden zwischen einer ideellen, kraftlosen und einer reellen,
krafterfüllten Sonne. Schiller dürfte heute nicht mehr in der „Gestalt",
der logischen Idee, das Wesen der Dinge sehen. Eine Idee ist, wie
die konstruktive Idee einer Lokomotive, ein kraftloser Traum. Lasten
bewegt nur ein energieerfülltes System von Kraftzentren (z. B. Eisen-
atomen), an dem die logische und die dynamische Seite gleichwertig
sind. Das Weltgeschehn ist nicht nur dialektische Entwicklung (ein
Traum aus dem anderen) , sondern dynamische (ein Kraftsystem aus
dem anderen), organische feine Willenseinheit aus der anderen). Sicht-
bares Ergebnis aer Entwicklung ist Bewältigung des Chaos, Logi-
fizierunj^ oder Harmonisierung der Welt, die aber in ihrem Kern
nicht Logos, Idee, Gedankensache, sondern Tatsache, Realisierung
eines Willens ist. Auf die „Gestalt'', das Logische, die Idee bezieht
sich die Frage: Was ist das? Aber daß etwas ist, rührt daher, daß
eine Kraft sich betätigt, ein Wille sich fortgesetzt realisiert (denn
alles Sein ist ein Geschehen; die Welt geschieht). So können wir
denn nicht einfach zum Panlogismus zurückkehren, nachdem Heokl
selbst durch seine konsequente Durchführung ihn ad absurdum ge-
führt hat, und nachdem Schbllino den Weg gezeigt hat, wie wir
darüber hinausgelangen. Schellino sagt: „Es kann alles in der logischen
Idee sein, ohne daß damit irgend etwas erklärt wäre, wie z. B. in
der sinnlichen Welt alles in Zahl und Maß gefaßt ist, ohne daß
darum die Geometrie oder Arithmetik die sinnliche Welt erklärte.
Die ganze Welt liegt gleichsam in den Netzen des Verstandes oder
der Vernunft, aber die Frage ist eben, wie sie in diese Netze ge-
kommen sei, da in der Welt offenbar noch etwas anderes und
etwas mehr als bloße Vernunft ist.'^ Dies Andere, dies Mehr ist eben
das Energetische oder, wie Schellino es nennt, der Wille (die beiden
Ausdrücke bezeichnen die äußere und die innere Seite der nämlichen
Sache, genauer: des nämlichen Geschehens). In diesem Sinne steht
der eben geschilderten, durch F. J. Schmidt so eindrucksvoll ver-
tretenen ßicJitung gegenüber A. Drews, der als abgeklärter, gereifter
Denker die Lebensarbeit E. v. Hartmanns, zunäcnst auf religions-
298 Richard Fritzsche:
philosophifichem Gebiete, fortgesetzt hat, die an Schellings „positive^,
d. h. voluntaristiBche Philosopnie anknüpft („negativ*^ nennt Bchellino
das Logische, die Gestalt, als das Begrenzende). Als Vorläufer seines
froßen reli^onsphilosophischen Werkes: »Die Beligion als Selbst-
ewußtsein Gottes" (Jena 1906, Diederichs. XIV und 514 8. 12 M.)
fab er uns .Hegels Religionsphilosopbie in gekürzter Form", eine
.usgabe nicht für wissenschaitliche Zwecke — dazu wird man sich
an die Originalausgabe halten — , sondern zur Befriedigung des wieder
erwachten aktuellen philosophischen Interesses. Für diesen Zweck
ist die Ausgabe in vorzüglicher Weise ausgestattet mit einer aus-
führlichen historischen Einführung (74 S.) und eingehenden kritischen
Anmerkungen und Erläuterungen (78 S.). Die „Einführung", vor-
bereitet scnon durch desselben Verfassers Werk: „Die deutsche
Spekulation seit Kant, mit besonderer Bücksicht auf das Wesen des
Aosoluten und die Persönlichkeit Gottes" (2 Bde., 2. Ausg., 1895,
12 M.), behandelt 1. die Spekulation vor Hegel: die vorkantische
Philosophie, Kant, Fichte, Scheluno. 2. Die Ebitwicklung des Hegel-
schen Systems: Heeel als Theologe, der Übergang zur Philosophie»
Hegel als Philosoph. Hieran schließt Drews nun die vorliegende
Neuausgabe von Schellings Münchner Vorlesungen, in der Hoffnung,
damit dem Vorurteile ^egen den Urheber der Naturphilosophie zu
begegnen, das seit fünfzig J aliren von den Vertretern der mechanischen
Naturansicht gepfle^ wurde und trotz Gokthe, Lamabck, K. £. y. Baer
zu einem (erst m den letzten Jahren seitens einiger Naturforscher
wieder in Frage gestellten) Bestandteile des modernen Bewußtseins
feworden ist. Die Münchner Vorlesungen sind die Einführung in
ie positive Philosophie, die letzte Phase von Schellings Spekulation,
an die E. v. Habtmamms Prinzipienlehre unmittelbar anknüpft, die aber
auch dem ganzen übrigen modernen Voluntarismus den Anschluß an
eine metaphysische Grundlage bietet. Deurum rät Drews jedem philo-
sophisch Interessierten, für die metaphysische Orientierung sich zunächst
an ScHELLiMo zu wenden, der (neben Kant) unter den klassischen Meistern
„aktueller ist als- jeder andere". Schellings Zeit, meint Dbewb, kann
nicht ferne sein, und in der Tat, zu ihren Vorboten möchten wir
unter den Biologen nicht nur die Neovitalisten rechnen, sondern ganz
besonders auch diejenigen Materialisten, die ihre Gedankenreihen bis
an die Schwelle des Vitalismus (oder Psychologismus, Voluntarismus)
führen, um diesen selbst dann mit Nachdruck als unwissenschaftlich
abzuweisen. — Die Ausgabe ist gedacht als erster Band einer Neu-
aus^abe der philosophischen Hauptschritten Schellings. Der Druck
ist jkorrekt; aber aimallen muß es, wenn in der Einleitung eines
philosophischen Werkes der Name mit dem Begriffe verwechselt
wird (S. X: „daß der Betriff der positiven Philosophie, wie so viele
Begriffe, von Schellino m mehrfachem Sinne gebraucht wird. Die
Hauptbedeutung jenes Begriffs . . ."). Schmerzlich ist auch, daß die
Manen eines großen, aber in diesem Punkte bis zum Jähzorn emp-
findlichen Toten durch die Lesart Scuoppenhauer (S. 340) gekränkt
werden. Für den Mangel eines alphabetischen Inhaltsverzeichnisses
entschädigt uns nur schwach ein dürftiges Namenregister.
Zwischen den beiden geschilderten Richtungen neutral steht die
Jubiläumsausgabe von Hegels (1807 erschienener) „Phänomenolofi;ie
des Geistes^ von G. Lasson. Die Imorierung Hegels ist fünfzig Ja&e
lang so vollständig gewesen, daß die ignoratio zur ignorantia wurde.
Wenige verstehen überhaupt noch seine Sprache, um diese Gedanken-
mumie auch nur soweit zu beleben, daß sie sich fragen können: Ist
Hegels Phänomenologie. 299
das Tiefsinn oder Aberwitz ? Wir müssen es uns neu sagen lassen, daß
in diesem Buche, „das dasteht als ein Stein des Anstoßes und ein
Zeichen, dem widersprochen wird, rätselhaft nicht bloß für das ge-
wöhnliche Bewußtsein, sondern auch für die hergebrachten Weisen
wiflsenschaftlicher Gedankenbildung", daß in ihm sich alle geistigen
Bestrebungen seiner Zeit wie in einem Brennpunkte vereinigt finden.
,Die philosophische Arbeit der vorangegangenen Jahrzehnte, die das
menschliche Denken weiter gebracht hatte als vorher lange Jahr-
hunderte, wird hier über aSh. selbst verständigt und zu einem vor-
läufigen Abschlüsse gebracht. '^ Da ist es doch ein Unglück, wenn
nur wenige genug geschult sind, um Hegel im Original lesen und
verstehen zu können, so daß A. Dbews sagen muß: „Der großen
Anzah> der G-ebildeten mit tieferen philosophischen Interessen dürften
die Werke dieses Denkers in ihrer vorliegenden Form wohl für immer
unzugänglich bleiben.*' Unter solchen Umständen hat G. Lasbom es
unternommen, in einer ausführlichen, vorzüglich geschriebenen Ein-
leitung (100 S.) den Leser vorbereitend auf den Standpunkt und zu
dem Inhalte der Phänomenologie hinzuführen. Angesichts der „grund-
sätzlichen Fremdartigkeit der gesamten HsoELSchen Weltanschauung,
zu der uns die Verbindungsbrücken so gut als abgebrochen sind^
(A. Drews), soll uns verständlich gemacht werden, wie Hegel dazu
kam, das zu schreiben, und zwar aus den beiden Gesichtspunkten:
1. seiner persönlichen Entwicklung, die uns vorgeführt wird unter
Benutzung der neuesten Vorarbeiten (W. Dilthby, Die Jugendgeschichte
Hegels. 1905. H. Nohl, Heeels theologische Jugendscnriften. 1907),
und 2. seines wissenschaftlidken Eingreifens in den vorgefundenen
Stand der philosophischen Arbeit. Somit behandelt die Arbeit 1. den
Werdegang Hegels: Bildungseinflüsse seiner Jugend. Jugendarbeiten.
Erste Veröffentlichungen. 2. Die Phänomenowgie: Stellunc in der
philosophischen Situation der Zeit. Thema und Methode. Innalt und
Anlage. Das Beferat bezieht sich auf Hegels frühere Arbeiten nur,
soweit sie auf dieses Werk vorausweisen; es wird aufs glücklichste
erginzt durch die oben erwähnte Einführung zu Hegels Alterswerke
(aus den Jahren 1821—31), der „BeligionsjjhSosophie** von A. Dbews.
Lassos» Einleitung bietet nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch
durch die edle, von HsGELSchem Geiste erfüllte Sprache eine geeignete
Vorbereitung. S. XXVI f. lesen wir: „Zwei Völkern des Altertums
bleiben wir immer für das geistige Erbe verpflichtet, das sie als
Grundlage der europäischen Kultur uns überliefert haben, dem Volke
Israel und den Griechen. Sie beide haben, kann man sagen, die Ent-
deckung des Geistes gemacht. Den Juden ist die Wahrheit geoffenbart
worden, daß das Unendliche Geist ist . . . Von den Griechen
darf es umgekehrt gelten, daß sie zu der Anschauung ^langt sind,
daß das Endliche Geist ist." Man sieht, wie der Verfasser in
HEGELschen Denkformen lebt, wenn er uns in dieser Form daran er-
innert, daß Ewigkeit und Unendlichkeit (auch das Apeiron Ana-
ximanders) orientalische, nicht hellenische Begriffe sind. Wir werden
aber auch darauf aufmerksam, daß er den Ausdruck nuanciert: den
Juden ist es offenbart worden, die Hellenen sind zu der Anschauung
gelangt. Ist das die Denkweise Hegels, in die wir durch diese Ein-
leitung eingeführt werden sollen? Auch den Indern, im Veda, in
den Üpanishad und weiterhin in der Vedäntaphilosophie , ist es
offenbart worden, daß das Unendliche Geist ist. W ir finden allerdings
in der „Phänomenologie" die , offenbare Religion" im Unterschieae
von der natürlichen; dazu „Die Wirklichkeit der Menschwerdung
300 Wilhelm Koppelmann:
Gottes". »Der Geist in sich seihst, die Dreieinigkeit". «Der Geist in
seiner Entäußerung, das Reich des Sohnes". »Der Geist in seiner Er-
füllung, das Reich des Geistes". „Die Erlösung und Versöhnung".
Aher diese Ausdrücke können nur von solchen Lesern, die nicht
wissen, daß Hegel der Vater von D. F. Strauss und seiner „Glaubens-
lehre" war, im Sinne des religiösen Materialismus gewisser Dogmen
mißverstanden werden. Also hat unser Herauseeber wohl ohne die
Befürchtung, dadurch das Verständnis Heoels, den er erklären will,
zu trüben, am Ende der hierauf bezüglichen Einleitung nach dena
Grundsatze, wie man in katholischen Gegenden auf jedem Gipfel ein
Kruzifix errichtet, die „Realität eines Menschen, der Gott ist", hervor-
gehoben, um dann zu schließen mit dem Hinweise auf „das Wort,
das da Fleisch geworden ist und mitten imter uns wohnt". Gerade
auch den llieologen hat Dbews (S. XIU) das Studium der „Reli^iona-
philosophie" dringend empfohlen; aber er sagt dabei: „Wenn sie in-
dessen etwa meinen sollten, aus diesem Werke neue Stützen für ver-
altete dogmatische Anschauungen entnehmen zu können, die an
Heqel einen eifrigen Fürsprecher gefunden haben, so wäre allerdings
ein erneutes Bekanntwerden dieses Denkers nicht bloß im Interesse
des philosophischen, sondern auch des religiösen Fortschritts zu be-
dauern." Do^ma und Wissenschaft, Bilderschrift und Buchstaben-
schrift, intuitives und diskursives, analytisches Denken, das ist im
Grunde derselbe Gegensatz, der schon das Thema Herodots war;
Themistokles hat ihn bei Salamis, Alexander umgekehrt auf der Hochzeit
von Susa behandelt, und schließlich setzte man in Rom, wie Lasson
das Kruzifix ans Ende der Phänomenologie, so die Bilder der Apostel-
fürsten auf die Säulen der großen Cäsaren. Sankt Bartholomäus hat
einen orientalischen Namen \ in den Hallen, wo die Bildsäule Piatons
steht, herrscht hellenischer Geist. Hegel hat seine Schüler vom.
Do^ma, das er bis zur Auflösung vergeistigte, zur hellenischen Denk-
weise geführt, und in diesem Sinne nuldigt ihm der wackere
F. J. Schmidt, während der edle, vornehme G. Lasson ihm in seiner
Weise ein Jubiläum feiert.
Schneeberg (Sachsen). Ricuard Fritzschr.
Epwldepungr.
Im Märzheft dieser Zeitschrift hat Herr O. BRAUN-Hamburg über
meine „£lritik des sittlichen Bewußtseins" eine Rezension veröffentlicht,
welche ich, da sie völlig falsche Vorstellungen von dem Inhalt und
Zweck meines Buches erwecken muß, nicht unwidersprochen lassen
möchte.
Sein Urteil faßt Braun am Schluß dahin zusammen, das Buch
enthalte „im ganzen praktisches, öfters feinsinniiges Räsonnement
über geltende Anschauungen, aber keine Grundlegung
einer Ethik, deren Wesen nicht einmal richtig erkannt wird.
Demgegenüber möchte ich betonen, daß das Werk, was auch von
keinem anderen Kritiker übersehen worden ist, eine ganz neue ethische
Theorie enthält, insofern nämlich die Wahrhaftigkeit als Grund-
prinzip der Ethik aufgestellt wird. An diesem Punkte hatte die Kritik
einzusetzen. Statt dessen bemüht sich Braun, Dinge zu widerlegen,
die ich gar nicht behauptet habe, und hält mir Wahrheiten vor, welche
ich weit entfernt bin zu bestreiten.
So heißt es gleich im Anfang: „In der Auffassung seines Arbeits-
Erwiderung. 301
gebietes begeht Koppelmanx einen FeHler» wenn er der wissenschaft-
Echen Ethik die Aufgabe stellt . . . , die Tatsachen des sittlichen Be-
wußtseins zu erkennen und zu erklären.*' Die „Yerderblichkeit'^ dieser
Ansicht zeigt sich nach Brains Meinung in folgendem von mir auf-
festellten, übrigens von Braun durch Weglassung der Worte: „um
eren Erklärung es sich handelt" seines eigentlichen Sinnes beraubten
Satze: ^Ein« eUiische Theorie, welche zu Konsequenzen führt, die
mit den tatsächlichen sittlichen Anschauungen, um deren Er-
klärung es sich handelt, unvereinbar smd, ist damit als un-
haltbar erwiesen." Nach Brauns Ansicht unterstellt sich ein auf
diesem Standpunkt stehender Ethiker „dem Urteil des flachen
Durchschnitts und der großen Menge". Eine sonderbare Be-
hauptung gerade mir gegenüber, da ich die Ethik Jesu für „die
reinste, konsequenteste und höchste Entfaltung des in jedem Menscnen
^örksamen sittlichen Grundprinzips" erkläre. TJnd hätte nicht schon
die Tatsache, daß ich mich mi Vorwort als Anhänger Kants bekenne,
Bbaux stutzig; machen müssen, als er im Anschluß an jenen Tadel die
Belehrung mederzuschreiben sich anschickte: „Nicht mit dem, was ist,
hat es im Grunde die Ethik zu tun, sondern mit dem, was sein soll.**
Ebenso gründlich hat Braun mich mißverstanden, wenn er weiter
bemerkt: „Auch den näher bestimmten Ausgangspunkt der Unter-
suchung können wir nicht gelten lassen" (nämlicn den Begriff der
unbedingten Verpflichtung). „Gerade dieser Ausgangspunkt ist es
auch bei Kant, gegen den die von Koppelmann bekämpfte Richtung
der Sozialethik mit Hecht ihre Angriffe richten kann: das un-
bedingte Sollen, das Koppelmann ohne Kritik anerkennt, wird
ja von ihr als eine arterhaltende Illusion hingestellt (Spencer usw.)."
Also „ohne Kritik" wird . angeblich von mir das unbedingte Sollen
anerkannt. Und doch enthält das erste Kapitel meines Buches, was
Braun ganz entgangen zu sein scheint, eine lange Ausführung über
die „Unfähigkeit der Wohlfahrtstheorie zur Erklärung des tatsächlich
vorhandenen Pflichtbewußtseins" , also des Bewußtseins des un-
bedingten Sollens, und im zweiten Kapitel mache ich dann meiner-
seits mich daran, die Entstehung des Pflichtbewußtseins besser zu er-
klären und es auf seine objektive Begründung hin zu prüfen.
Dies ist gerade eine der grundlegenden Partien meines Werkes.
Am wunderlichsten aber ist folgender Vorwurf, von welchem
nicht ganz klar ist, ob Braun ihn allem mir oder auch Kant machen
will. „Vor allem aber ist einzuwenden, daß das Urphänomen des
Sittlichen gar nicht das Sollen ist, sondern das Wollen. Dem Wollen
meines geistigen Selbst zu folgen, das ist sittlich; 'daß dieses
eigenste Wollen mir oft als ein Sollen erscheint, ist eine
sekundäre Tatsache, die mit der Doppelnatur unseres
Wesens zusammenhängt." Ich bin weit entfernt, das zu be-
streiten. Wie man weiß, erklärt Kant das Bewußtsein der sittlichen
Verpflichtung gerade daraus, daß das sittliche Sollen im Grunde ein
Wollen sei, welches nur der sinnlichen Seite unseres Wesens gegen-
über als Sollen sich darstelle. Alle meine Schriften über ethische
Fragen beweisen, daß ich genau auf demselben Standpunkt stehe.
Auch hier hat mich Braun edso gründlich mißverstanden.
Daß bei solcher Verkennung meines prinzipiellen Standpunktes
die von Braun gegebene Übersicht über den Inhalt meines Buches
mißraten mußte, ist selbstverständlich. Ich brauche daher auf die
mannigfachen Unebenheiten derselben nicht einzugehen.
Münster i. W. Wilh. Koppelmann.
302 Notizen.
Notizen.
Brittes Prelsaasschreiben der MKantgesellschafl".
Carl ßflttler-PrelsaDfgabe.
Welches sind che mrUichen Fortschritte ^ die die Metaphysik
seit Hegels und Serbarts Zeiten in Deutschland gemacht hat?
Das Thema ist der toh der Berliner Akademie der Wissen-
Schäften für 1791 gestellten und bis 1795 verlängerten Aufgabe nach-
gebildet, zu deren Bearbeitung Kimt selbst Entwürfe gemacht hatte:
„Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit
Leibniz' und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat?** Das ietzt
gestellte Thema könnte auch lauten: „Welche definitiven Resultate
at die Metaphysik seit dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus
erzielt?*' Hierbei ist „Metaphysik** wie in jener Akademieaufgabe
und wie bei Kant, im weiteren Sinne genommen, derart, daß auch
erkenntnistheoretische und naturphüosophische Probleme darunter
fallen. Das Thema ist nicht so gemeint, daß notwendig „wirkliche
Fortschritte** aufgewiesen werden sollen ; auch eine zu einem negativen
Ergebnis kommende Arbeit kann, wenn sie nur wissenschaftlich gut
durchgeführt ist, preisgekrönt werden.
Die zeitliche Begrenzung nach rückwärts ist so zu verstehen,
daß eine eingehende Würdigung Schopenhauers, des letzten Schrt.lino,
Bbnekes und Kbausbs außernaiD des Themas Uegen soll.
Es handelt sich hierbei nicht um eine ausführliche historische
Darstellimg aller in Betracht kommenden Systeme und Rich-
tungen, — im Gegenteil, die Kenntnis derselben wird in den Be-
antwortungen des Themas vorausgesetzt; Aufgabe des Autors
ist es vielmehr, das Haltbare, Gemeinsame, Dauernde aus dem
historischen Material jener Systeme und Bichtungen herauszuarbeiten,
das Veraltete, Individuelle, Wandelbeure abzuscneiden und, an den
so gewonnenen Resultaten, die Fortschritte gegenüber der Periode
BEeoel-Herbart, eventuell auch &;egenüber der Kantischen und Vor-
kantischen Metaphysik festzustellen. Am zweckmäßigsten würde dies
durch zusammenfassende Thesen am Schlüsse der Arbeit selbst ge-
schehen.
Die Ausschreibung dieser dritten Preisaufgabe verdankt die
Kantgesellschaft der Aüiremng ihres Mitgliedes, des Herrn Pro-
fessor Dr. Carl Gtittler an der Universität München,
welcher nicht nur das oben formulierte Thema nebst Erläuterungen
uns selbst angegeben, sondern auch der Gesellschaft für die beste
Beantwortung der Aufgabe
Eintausend Mark
und für die zweitbeste Bearbeitung
Sechshundert Mark
zur Verfügung gestellt hat.
Für die Bewerbung an diesem Preisausschreiben gelten folgende
Bestimmungen :
Notizen. 303
1. Die Be-werbungsschriften sind einzusenden an das „Kuratorium
der Universität Halle".
2. Ablief erun^frist : 22. April (Kants Geburtstag) 1910.
^ Jede Arbeit ist mit einem Motto zu versehen. Name und Adresse
des Verfassers dürfen nur in geschlossenem Kouvert beigefügt
werden, das mit dem gleichen Motto zu überschreiben ist.
i. Jeder Arbeit ist ein genaues Verzeichnis der benützten Literatur,
sowie eine detaillierte Inhaltsangabe beizufügen.
5. Nur gut lesbar hergestellte Bewerbungsschriften
werden berücksichtigt. Undeutlich geschriebene,
schwer lesbare Manuskripte werden unbedingt von
vorn herein von der Konkurrenz ausgeschlossen.
Daher werden die eingesendeten Arbeiten am besten
mittelst g^ter Schreibmaschinenschrift hergestellt.
6b Die Blätter des Manuskripts müssen paniert imd mit Band ver-
sehen sein. Nur die Vorderseite der Blätter sollte beschrieben
werden. Das Manuskript kann aus losen Blättern in einer mit
Bändern versehenen Mappe bestehen.
7. Die Arbeiten müssen in deutscher Sprache abgefaßt sem.
8. Als Preisrichter fangieren: Geheimrat Professor Dr. A. Riehl
und Geheimrat Professor Dr. K. Stumpf an der Universität Berlin
sowie Professor Dr. O. Külpe an der Universität Würzburg.
9. Die Verkündi^ng der Preiserteilung findet Ende 1910 in den
»Kantstudien statt.
10. Sind überhaupt keine preiswürdigen Arbeiten eingelaufen, so
können die relativ-befnedigendsten Beantwortungen nach dem
Ermessen der Preisrichter aus dem Preisfond Bemunerationen
erhalten.
11. Die Itedaktion der „Kantstudien" ist berechtigt, aber nicht ver-
pflichtet, preisgekrönte Arbeiten in ihrer Zeitschrift (respektive
m den zugehörigen „ Ergänzungsheften '^j abzudrucken.
11 Nichtgekrönte ^beiten werden seitens des Geschäftsführers der
Kantfi:esellschaft demjenigen zurückgegeben, welcher sich durch
Angabe des betreffenden Mottos legitimiert. Nichtreklamierte
Arbeiten werden nach Verlauf eines Jahres, am 81. Dezember 1911,
samt dem zugehörigen uneröffnetea Kouvert vernichtet.
Halle a. S., im März 1908.
(Beichardtstr. 15.)
Der Geschäftsführer der „Kantgesellschaft^S
Professor Dr. H. Vaihinger.
Dritter internationaler Kongrefi für Pliiiosopliie.
Heidelberg, 81. August bis 5. September 1908.
Der internationale Kongreß für Philosophie, der im Jahre 1900
in Paris bei Gelegenheit der Weltausstellung begründet wurde und
zum zweiten Mal 1904 in Genf tt^te, soll nach dem dort gefaßten
Beschlüsse in diesem Jahre in Heidelberg zusammentreten.
Nach einem Begrüßungsabend am Montag den 31. August soll
am Dienstag den 1. September die erste der vier allgemeinen
Sitzungen und am Vormittag des Samstag, 5. September, die Schluß-
304 Notizen.
Sitzung abgehalten werden, an die sich am Nachmittag ein Ausflug
anschließen wird.
Für die besonderen Arbeiten wird sich der Kongreß in folgende
sieben Sektionen gliedern: 1. Geschichte der Philosophie; 2. All-
gemeine Philosophie, Metaphysik und Naturphilosophie; 3. Psycho-
logie; 4. Logik und. Erkenntnistheorie; 5. Ethik; o. Ästhetik; 7. Religions-
philosophie.
Die Verhandlungen des Kongresses werden in deutscher, eng-
lischer, französischer und italienischer Sprache geführt.
Anmeldungen zu Vorträgen für die Sektionen werden zunächst
an den mitunterzeichneten Generalsekretär Dr. Elsenhans (Heidelberg,
Plöck 79) erbeten, der sie den noch zu bestimmenden Sektions-
vorständen überweisen wird. Die Ausdehnung der einzelnen Mit-
teilungen sollte die Zeit von 15 Minuten' nicht überschreiten; den
Zeitraum für die Diskussion nach Maßgabe der Zahl der Anmeldungen
zu begrenzen, bleibt den Sektionsvorständen vorbehalten.
Der Preis der Mitgliedskarte beträgt 20 Mk.; sie berechtigt zur
Teilnahme an allen Veranstaltungen des Kongresses und zum un-
entgeltlichen Bezüge des Kongreßberichtes. Für Damen, welche zur
Familie eines Kongreßmitgliedes gehören, werden besondere Karten
zu 10 Mk. ausgegeben, welche dieselben Berechtigungen wie die
Mitgliedskarten, mit Ausnahme des Anspruchs auf den Kongreß-
bericht, gewähren.
Anmeldungen zur Beteiligung sind im Interesse der Schätzung
des zu erwartenden Besuchs so früh als möglich erwünscht; sie er-
folgen am besten in der Form der Einzahlung des Beitrags mit Post-
anweisung an die Rheinische Kreditbank , Depositenkasse Ludwigs-
platz, in Heidelberg, mit möglichst genauer Angabe der Adresse, an
welche sodann die Mitgliedskarte durch die Post zugestellt werden wird.
Das Heidelberger Organisationskomitee :
Geh. Regierungsrat Dr. J. Bfxkeh. Privatdozent Dr. Elsenhans, General-
sekretär des Kongresses. Geh. Hofrat Dr. Gothrin. Professor Dr. BLampb,
Dekan der philosophischen Fakultät. Professor Dr. Hoops. Geh.
Hofrat Dr. Jkllinek, Prorektor der Universität. Geh. Bat Dr. Kokäios-
BEROER. Geh. Hofrat Dr. Kossel. Privatdozent Dr. Lask. Privat-
dozent Dr. F. A. ScHMiD. Professor Dr. Schnkeoans. Geh. Kirchenrat
Dr. Trültsch. Professor Dr. Vossler. Bürgermeister Professor Dr. Walz.
Frau Marianne Weber. Professor Dr. Max Weber. Oberbürgermeister
Dr. WiLCKENs. Geh. ßat Dr. Windelband, Präsident des Kongresses.
Philosophische und soziologische Zeitschriften and Bibliographie
im nächsten Hefte.
Altenborg.
Pierersche Hofbuchdruckerei
Stephan Geibel & Co.
Eine Einteilung der pliilosopliisclien Wissenscliaften
nacli Aristoteles' Prinzipien.
Von Dr. K. F. Wlze, Jeiewo.
Inhalt.
Di» Eintailiing der philosophischen Wissenschaften in die theoretischen, prak-
tiaeh^n und ftsthetischen wurde nach dem Vorgänge von Friedrich Just.
Biedel, Mendelssohn und Kant in Deutschland mit der Dreiteilung der Seelen-
krftfte in Denken, Wollen und h'ühlen in Einklang gebracht. Eine anoere Stellung
nahm der Frage gegenflber Sulzer ein. Dieser teilte dem Denkeh die tiheoretische,
dem Fflhlen aber aie praktische Philosophie zu, während er fflr die Ästhetik die
sinnliche Empfindung in Anspruch nahm. Die bei den Franzosen am meisten
flbUehe Einteilung ist der deutschen verwandt. Der theoretisolien und praktischen
Fldlosophie setzen sie das Denken und Wollen zugrunde, der Ästhetik die Sensi-
bilitö, einen Begriff, der sowohl mit dem sinnlichen Empfinden, wie mit dem
Fohlen als synonym erachtet werden kann.
Diese drei genannten, psychologischen Einteilung^grtinde fflr die philoso-^
phiachen Wissenschaften sind, wie man sieht, schon untereinander in teilweiser
Uneinigkeit. Und wenn auch aie Rolle, die die Seelenkrafte in den einzelnen philo-
sophischen Gebieten spielen, eine besondere ist, so kann man jedenfalls zu Diensten
einer einzigen Seelenkraft die flbrigen aus dem betreffenden Gebiete nicht weg-
weisen, wozu eine einseitige Auffassungsart der parallelen Verknflpfung der Seelen-
krftfte mit den betreffenden philosophischen Wissenschaften gef&hrden konnte.
Deshalb dflrfte sich empfehlen, einheitlichere und weniger umstOfiliche Ge-
sichtspunkte fflr die drei ]>hilosophi8chen Gebiete zu suchen. Ich schlage in der
vorliegenden Arbeit dazu eine Einteilung der geistigen Tfttigkeit. Yerhaltuxigs-
weise, vor. Je nachdem sie frei, untersuchend oder zielzustreoend ist. Der
Freiheit, nicht in ihrer ethischen Bedeutung, wie z. B. bei Kant und Herder,
Die Aristotelische Einteilung der Philosophie in eine
theoretische, praktische und poetische ist anscheinend von
einem psychologischen Standpunkte gewonnen. Sie läßt
sich nämlich mit dem Ausspruche dieses Philosophen: „itacja
oiavota 7] icpaxTixT) y) ttoii^tixt) t^ &ea>pr|Tixi^^ in Einklang bringen').
Diese Einteilung blieb in der Folge teilweise unberück-
sichtigt, indem man die philosophischen Theoreme und
Probleme in einer der Platonischen nahe stehenden, auch
von Aristoteles vertretenen Weise als der Logik, Physik
') Met. E, 1. Vgl. Übebweg-Heinzk, Grundriß der Geschichte der
Philosophie* I, 8. 242.
Vierteljahrsschrift f. wissenschafÜ. Philoa. u. Sozio!. XXXII. 8. 20
306 K. F. Wize:
und Ethik zugehörend zusammenfaßte, teilweise wurde die
Philosophie in Deutschland, vornehmlich durch Christian
WoLFF, zwar in ein theoretisches und praktisches Gebiet
eingeteilt, doch wurden die poetischen Wissenschaften un-
beachtet gelassen'). Dies ging so weit, daß Baumgarten
die Ästhetik, nach seiner Auffassung eine Erkenntnis niederer
Art, ebenso wie die Erkenntnis höherer Art in eine prak-
tische und theoretische einteilte^). Daß die ästhetischen
Erscheinungen als eine niedere Art von Erkenntnis auf-
gefaßt wurden, geschah unter dem Einfluß der Alten und
der Kirchenväter^), weiterhin durch' die Schriften des
Descartes*), der die klare und distinkte Erkenntnis der
bildlichen und imaginativen entgegensetzte, und durch die
seiner Nachfolger: Spinoza mit seinen ideae adaequatae et
inadaequatae und Leibniz mit seinen perceptions, petites
perceptions und apperceptions *).
Diesem Zustande der philosophischen Auffassung machte
in gewisser Hinsicht eine neue in Deutschland au^ekommene
Gedankenrichtung ein Ende. Seit Fr. J. Riedel, J. G. H.
Feder, J. Nik. Tetens, besonders aber seit Kant gibt es
wiederum eine vollständig koordinierte Dreiteilung •) der
') So konnte denn Hermann Cohen in KANid „Begründung der
ÄstLetik" folgendes zum Ausdruck bringen: ^Solcher Gebiete gab es
bis dahin zwei, welche nach einer nicht unzweideutigen Aristoteüschen
Terminolo^e als theoretische und praktische Philosophie unterschieden
wurde. Diese Unterscheidungsweise selbst war geei^et, ohne eigene
Verschuldung des Aristoteles, das Aufkommen emer Ästhetik zu
hemmen, da dieselbe entweder zur theoretischen oder zur praktischen
Philosophie gehören zu müssen schien.^ S. 8.
*) ^AUMGABTEN Aesthetica § 18 Aesthetica nostra, sicuti logica
Boror eius natu maior, est I Theoretica 11 Practica.
^) Baumgabten, Meditationes philosophicae de nonnullis ad poöma
pertinentibus § CXVI p. 41. Bistampa a cura di B. Croce , Kapoli
1900. Plato, Phaedon, p. 79 f., worauf z. B. Sr. Pawlicki in „Historya
filozofii greckiej^ 11, p. 8o9, aufmerksam macht. M. Fabiub Quintiliani-b,
Instit. orat. Vi 8, 6, IX 4, 114 f. M. Straszewski, Sw Augustyn na
tle epoki, p. 196. Abaelaro vgl. Dessoib, Geschichte der neueren deut-
schen Psychologie^ I, 13.
*) Dksü ABTES ist vielleicht darin von dem heiligen Auqustincb
beeinflußt worden, da er auch mit seinem „cogito, ergo sum" an die
Erwägungen dieses großen Philosophen erinnert.
^ Vgl. dazu H. y. Stein, Die £ntstehung der neueren Ästhetik,
S. 44 ff., 104 und an verschiedenen Orten.
*) Dieser Dreiteilung entspricht wohl die BAUMGABTSNSche Lehre
£iiie Einteilung der philosophischen Wissenschaften. 307
philosophischen Wissenschaften in ein theoretisches, prak-
tisches tind ästhetisch-poetisches Gebiet. Diese neue Drei-
teilnng baut sich, ebenso wie die alte, auf einem psycho-
logischen Prinzip auf. Es ist ein anderes als bei Aristoteles
und rechnet mit drei anders als bei Aristoteles bezeichneten
und charakterisierten Seeleneigenschaften, mit dem Denken,
Fühlen und Wollen. Nicht immer geschah dies so klar
wie bei Riedel und bei späteren Philosophen*). Kant
erinnert mit seiner Einteilung der philosophischen Wissen-
schaften an Mendelssohn (Morgenstunden). Für Kant ist
nämlich das Gefühl der Lust und Unlust, worauf sich die
Ästhetik bei ihm stützt, ein Verbindungsglied zwischen dem
Ton den drei "Vollkommenheiten des Wahren, Guten und Schönen
(vgl. ScuASLER, Ästhetik I, S. 850); sie leitet sich aber von einer Zwei-
teüung ab, und deshalb sind nicht alle Teilglieder gleichwertig.
Ebenso liegt wohl der scheinbaren Dreiteilung der Seelenkräfte, oder
vielme^ der Aufzählung der drei Fertigkeiten, das Wahre, ^as Schöne
und das Gate zu unterscheiden, bei Mknuelssohn in seiner Abhandlung
„Über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften" eine Zwei-
teilung im Sinne Baumoabtens zugrunde. Trotzdem mochte wohl diese
bloße Aufzählung der drei Fertigkeiten bei Mendelssohn direkt auf
die ]BiKDEL8chen Auseinandersetzungen gewirkt haben, wie auch seiner-
seits Mendelssohn mit seiner späteren wirklich koordinierten Drei-
teilung der Seelenkräfte in den „Morgenstunden" auf Kant Einfluß
feübt nahen dürfte (vgl- Ludw. Goldstein, Moses Mendelssohn und die
eutsche Ästhetik, S. §29). — J. G. Sulzer, der vielfach als Begründer
der Dreiteilung der Seelenkräfte in Deutschland genannt wird, nimmt
neben einer Dreiteilung eine Zweiteilung (vgl. K.. Wize, Fr. J. Riedel
und seine Ästhetik,, S. 28 u. a. m.) an; außerdem ist seine Dreiteilung"
eine wesentlich andere wie die der hier genannten Autoren. Während
nämlich diese die Ästhetik dem Gebiete des Gefühls, die praktische
Philosophie dem des WoUens, die theoretische dem des Erkennens
zuerteilen, nimmt Sulzee für den Geschmack, also auch für die
Ästhetik, das Empfinden, für das Gute, also für die praktische
Philosophie, das Gefühl, und nur für die theoretische Philosophie
wie alle übrigen Denker die Vernunft, also wohl das Erkennen in
Anspruch.
1) Überweg, System der Logik ^ S. 9. ^In der Geistesphilosophie
flohliedBen sich an die Psychologie oder die Wissenschaft von dem
Wesen und den Naturgesetzen der menschlichen Seele zunädast drei
normative Wissenschaften an: die Logik, Ethik und die Ästhetik,
oder die Wissenschaften von den Gesetzen, auf deren Befolgung die
Bealisierung der Ideen des Wahren, des Guten und des Schönen be-
ruht. D&s Wahre ist die der Wirklichkeit entsprechende Erkenntnis ;
das Gute ist die ihrer inneren Bestimmung oder ihrer Idee ent-
sprechende Wirklichkeit als Objekt des WolTeDs und Handelns; das
Schöne ist die ihrer inneren Bestimmung oder ihrer Idee entsprechende
Erscheinung als Objekt des Gefühls und der Darstellung. '^
20*
308 K. F. Wize:
Erkennen und Wollen; bei Mendelssohn heißt es vom
Billignngsvermögen, daß es zwischen dem Erkennen und
Begehren liege (Morgenstunden IE, 297 f.). Ja, es ließen
sich bei den verschiedenen Autoren, die Vertreter verwandter
Gedanken sind. Anklänge an alle früheren Dreiteilungen
finden. Wir würden oft uns an Plato^) erinnern müssen,
an den heiligen Augustinus mit seinen drei psychologischen
Grundeigenschaften memoria, intellectus und voluntas *), an
manches in der Deutung des Dreieinigkeitsmysteriums*),
an Zeno und Vico*) mit der Erklärung der Natur Gottes als
das unendliche posse, nosse, volle und an vieles andere
mehr.
Verwandt mit der „deutschen Dreiteilung der Seelen-
kräfte" und der philosophischen Wissenschaften ist die aus
ähnlichen Quellen entstandene und außerdem von der
deutschen selbst wohl beeinflußte firanzösisch-romanische
Dreiteilung*^), wie sie z. B. R. de la. Grasserie vornimmt.
*) Vgl. auch Pawlicki, Historya filozofii greckiej II, 404. „Es ist
leicht ersichtlich, daß wir in den drei Teilen der Seele (bei Plato in
Phaedrus) in aligemeinen Umrissen die spätere Lehre von den drei
Seelenzuständen (des Benkens, Fühlens und Wollens) vorfinden/
Plato eab nur immer, so auch hier im Phaedrus, dem Wissen, dem
Logischen, den Vorrangvor allen anderen Eigenschaften der mensch-
lichen Seele. Wer das Wissen besaß, besaß afle übrigen Vorzüge der
Seele, besaß auch die Tugend. Das Wissen war Wagenlenker, der
Wille, der Mut war das edlere Pferd, die in^[x(a (das sinnliche Be-
g ehren) — ein edleres, seelisches Gefühl, besäße darnach die mensch-
che Seele kaum — war das unbotmäßige Pferd von geringerer Rasse.
Und doch feiert Plato gerade im Phaedrus das Gefühl der Liebe.
Anders als die Seele der Menschen war die der Götter beschaffen.
Alle drei geistigen Eigenschaften der göttlichen Seele waren an-
nähernd gleichwertig. Wagenlenker und Rosse waren mit gleich
hohen Eigenschaften beschenkt und betätigten sich in harmonischer
Eintracht (vgl. Phaedrus 246 A, 247 B). Der logischen Seeleneigen-
schaft des Menschen entsprach bei den Göttern, nach der Alkinous
zugeschriebenen e{9aYa>y4 die gnostische oder die kritische, der willens-
mutigen (BufioeiSic) die normetische oder parastatische, der sinnlichen
(iiriBufir^xdv) die oikeiotische. Plato ed Teubn VI, p. 178, zit. von
St. Pawlicki, vgl. a. a. 0. p. 403.
*) Vgl. M. Straszewski, Eilozofia SV. Augustyna na tle epoki,
p. 196.
') A. CiEszKowBKi, Ojcze Nasz I, 234. Krabinsw, Psalm Wiary,
Vers 64 f f . ; Psahn Nadziei, Vers 5 ff.
*) Übi£rweo-Hkinze III», 214.
*) Fbrri, La Psychologie de Tassociation, p. IV der Introduction.
GuYAu, Les problömes de Testhetique contemporaine, p. 77.
Eine Einteilung der philosophischen Wissenschaften. 809
Der Unterschied beruht wohl auf der geschichtiiohen Ent-
wicklung der Philosophie in den romanischen Ländern,
nicht zxun mindesten aber wohl auch auf dem Einfluß der
Sprache auf die Gedanken^). Das romanisch-französische
sentir und sentiment ist gleichbedeutend mit den lateinischen
Ausdrucken sentire und sensus und kann wohl ebenso durch
Pühlen und Gefühl wie durch Empfinden und Empfindimg
wiedergegeben werden. Diese weite Bedeutung des fran-
zösisch-lateinischen sentir bringt es mit sich, daß in ihm
das Sinnliche mehr als in dem deutschen „Fühlen" und
„Gefühl" zur Geltung kommt, und daß deshalb der Fran-
zose viel leichter als der Deutsche der ehemaligen Ansicht
eingedenk bleibt, daß die ästhetischen Eindrücke einer
niederen Art von Erkenntnis angehören. So wird uns denn
bei DE LA Grassebie folgender Ausspruch nicht überraschen:
„Le sentiment doit rester une intelligence sourde et
latente*). Erinnert das nicht vöUig an Descartes, Spinoza,
Lkibniz oder an ältere Gewährsmänner, wie Plato, Qüintili-
ANüs^), und an den heiligen Augustinus?
Mit einem Worte, der Franzose konnte seiner Sprache
wegen den Fortschritt, den der deutsch schreibende
Deutsche machte, trotz einer besseren inhaltlichen, durch
die Deutschen vielleicht geklärten Einsicht nicht völlig
mitmachen, mußte immer wiederum an dem Alten mit un-
widerstehlicher, adhäsiver Erafb hängenbleiben*). Das Ge-
fühl blieb für ihn immer sinnlich, von seelischen Gefühlen
^) ^gl* Sulzer, Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der
Vernunft in die Sprache una der Sprache in die Vernunft (1767).
Fr. J. Biedel, Briefe über das Publikum, S. 25. .Die Sprache, die
^ewiß auf das Gerippe der Gedanken mehreren Einfluß hat, als man
ins gemein glaubet.**
^) K. DB LA Grabserie, De la Classification . . ., p. 80.
^ M. Fab. Quintilianus, Instit. orat. IX. Bationem fortasse non
reddam, sentiam esse melius. Ad sensum igitur referenda sunt
XI, 8, 177, saepe aliud alios decere. Est enim latens quaedam ratio
'etinenarraoilis I, 7, 10 (artes), quae etiam, cum se non ostendunt
in dicendo, nee proferunt, vim tamen occultam suggerunt, et tacite
quoque sentiuntur.
*) Bechnet doch de la Grabsrrie zu der Wissenschaft vom Schönen
die Lehre von der Gymnastik, nur deshalb, weil sie so wie das Schöne
in das Gebiet des „Sinnlichen*' gehöre, a. a. O. p. d2.
310 K. F. Wize:
weiß er vielleicht vieles, indem er dazu durch geistige Arbeit
gelaugt, aber ins Blut, in die Sprache ist ihm das wohl
noch nicht übergegangen.
Anderseits ist aber oft auch der gelehrte Deutsche und
Germane — das Volk und vielleicht der Dichter hat in
seiner Sprache eine ungetrübte, wenn auch nur intuitive
Einsicht; deshalb darf man hier das, was vom Gelehrten
gesagt wird, nicht ohne weiteres überhaupt auf jeden Deut-
schen übertragen — anderseits also ist der gelehrte Deutsche
ebensowenig dazn gelangt, sich gänzUch von der Gedanken-
arbeit der Jahrhunderte freizumachen. Wohl weiß er, daß
es seelische Gefühle gibt, aber er kann sich nicht von
dem über den sensus und über das „Sinnliche" Erlemtert
loslösen. Deshalb spukt der Begriff „Sinnlich" ^) als ein
für die Ästhetik besonders wichtiges Moment noch immer
in der deutschen Philosophie. Und wenn auch Hekmann Lotze
zwar dem Angenehmen hauptsächlich die Sinnlichkeit zu-
eignet, der Schönheit dagegen die höheren Geistesvermögen^
daneben aber auch noch die zusammengesetzten sinnUchen
Eindrücke, deren ganzer Inhalt freilich nicht bloß sinnlich *)
sei, zuweist, so ist das noch kein selbständiger Bruch mit
dem Alten. Ebensowenig wie Lotze, erreicht das Kant, sein
Lehrer für seine Auffassung vom Angenehmen und Schönen,
Denn dieser trennt das Gute als das „Wohlgefallen durch
den Verstand" von dem Schönen als von dem „Wohlgefallen
durch die Sinnlichkeit", wenn er auch das „Gtjfuhl fiir daa
Angenehme oder für die sinnliche Lust in der Empfindung
eines Gegenstandes" von dem „Gefühl für das Schöne, d. i.
der teils sinnlichen, teils intellektuellen Lust der reflektierten
Anschauung oder dem Geschmack" unterscheidet®).
Es ist also noch immer eine für die Philosophie wichtige Auf-
gahe, nachzuweisen, daß die ästhetischen Eindrücke, mögen sie auch
^) Ob die Annahme eines ,^sech8ten Sinns" für die ästhetische
Auffassung bei Hutcheson oder eines „inneren Sinns'^ für dieselbe
bei Gkrard hierher gehört, soll nicht entschieden werden. Auch Kant
spricht von einem „mneren Sinne", z. B. in der „Anthropologie" § 22.
') Grundzüge der Ästhetik, S. 7 f.
*) Kants „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" § 58, 65.
Eine Einteilimg der philosophischen Wissenschaften. 311
nicht immer ausschließlich 'geistiger Art sein, sich wenigstens nicht
vor allem durch das „Sinnliche" von anderen Erscheinungen unter-
scheiden^). Daß sinnliche Yorstellimgen und Empfindungen in der
Ästhetik mit im Spiele sind, ist zwar richtig, jedoch sind sie es nur
in ehen dem umfange wie hei anderen geistigen Vorgängen. So
zum Beispiel wie uns mi logischen Verhalten die Außenwelt nur ver-
mittelst der Sinne und in ihrer sinnlichen Erscheinung erkennbar ist,
und wie der Prü&tein fQr unsere praktische Verhiätungsweise die
nur durch die Sinne uns zugängliche Welt ist. In gleicher Weise
gehören wiederum die übersinnlichen Ideen nicht nur dem praktischen
und theoretischen Gebiete an, sondern auch der Ästhetik. Gott, Seele,
Unsterblichkeit walten ebenso in der Kunst wie in der Metaphysik
und in der Ethik'). Und dies nicht nur bei entwickelten Nationen,
sondern auch bei den Naturvölkern. Jagdgeschichten und Jaffdbilder,
Kriegs- und Liebesdarstellungen in Wort, Gebärde und Bildj Toten-
verehrungen und Eestverherrlichungen durch die Künste sind bei
ihnen nicht das einzige, obwohl auch sie nicht einzig und allein
sinnlicher Natur sind. Götterbilder, Heligionspoesie und mimische
Andacht entstehen zur gleichen Zeit. Der Kunstkritiker muß deshalb
mit dem Geistigen, das ein Maler, ein Gottestänzer bei den Natur-
völkern, ein Musiker unserer Zeiten ausdrückt, wohl rechnen, nicht
bloß mit dessen sinnlicher Gestaltung. Nicht das Anlegen von Bein-
schienen irgendeines Helden ist fürwahr von ausschlaggebender
Wichtigkeit für die ästhetische Wirkung der homerischen Gesänge,
sondern vorzüglich die vortreffliche Zeichnung von Charakteren, oie
Schilderungen von Sitten, Naturerscheinungen und die reichhaltige
Fülle von Vergleichen. Nur dann werden auch die göttlichen, fast
in lauter Begrinen sich bewegenden Chöre von Sophokles, die Psalmen
der Heiligen Schrift, Faust und so viele nicht „sinnlichen'* Gedichte
von Schiller und Goethe zu ihrem Rechte gelangen.
Wenn auch die deutsche Dreiteilung der Seelenkräfle
in Denken, Fühlen und Wollen der „Sinnlichkeit" die Supre-
matie in der Ästhetik zu nehmen nicht vermochte, so hat
sie doch der Ästhetik ihren alten, aristotelischen Rang in-
mitten der anderen philosophischen Wissenschaften zum
mindesten wiedergegeben. Trotzdem kann diese Dreiteilung
nicht ohne Vorbehalt als Grundlage für eine Dreiteilung
der philosophischen Wissenschaften dienen.
Wohl haben die drei Seeleneigenschaften, das Denken,
') „Aber schon längst hat man gemerkt, daß eben die Beschaffen-
heit, wodurch sichtbare Gegenstände schön sind, noch unzähligen
anderen Dingen ebensowohl zukömmt, die gar nicht für die Sinne
gehören.'' Vffl. Sulzer, Philosophische Schriften, Leipzig 1776. Unter-
suchungen über d. Ursprung der angen. und unang. £&pf., S. 25.
') Heobl, Ästh. I, 11. Die Kunst soll uns, wie Beligion und
Philosophie, «das Göttliche, die tiefsten Ideen des Menschen, die um-
fassendsten Wahrheiten des Geistes zum Bewußtsein bringen und
aussprechen*^.
312 K. F. Wize:
Fühlen und Wollen, ihre besondere Rolle in den drei
geistigen Verhaltungsweisen, in der praktischen, theoretischen
und ästhetischen, aber sie bilden doch mit ihnen keine
äquipolente Reihe von Erscheinungen. Schon das Denken
an sich ist mit Grefühls- *) und Willenselementen*) vermischt,
ebenso wie es kein geistiges öefühl ohne Denkvorstellungen
und Willensregungen gibt, kein Wille ohne Denkvorstellung
und Gefühlsbewegung®).
Ahnlich ist die Erkenntnis und das Gebiet der theore-
tischen Philosophie auch von Gefühlen und vom Willen
abhängig und die Ästhetik muß mit Denkvorstellungen und
Willensbekundungen, das praktische Verhalten mit Denk-
vorstellungen und Gefühlen rechnen. Ich wül nur eine von
den eben berührten Tatsachen herausgreifen : Wohin kämen
wir mit der erhabensten, der christlichen Ethik ohne das
Gefühl der Liebe, wenn das Gefühl einzig und allein der
Ästhetik als vorbildlich und zu ihr zugehörend erachtet
werden sollte!
Kein Wunder also, daß die Dreiteilung der philosophi-
schen Wissensgebiete nach den drei verschiedenen Seelen-
eigenschaften nicht allgemein anerkannt ist, und daß neben
ihr andere Einteilungsweisen versucht worden sind. Es liegt
mir fem, alle diese Einteilungsweisen zu besprechen.
R. DE LA Grasserie zählt deren in seinem hier genannten
Werke (S. 79) fünf, Strüve in seinem „Wstrp Krytyczny"
sieben Hauptarten auf. Ich will nur diejenigen berücksichtigen,
die mit der Aristotelischen oder der deutschen Dreiteilung
nicht nur in gewisser Fühlung verbleiben, sonderen auch
zur Klärung dieser beiden, einander verwandten Stand-
^) Man beachte die Lehren der deutschen Gefühls- und Glaubens-
philosophen.
■) „Phantasie- und Vorstellungstätigkeit sind immer Willkür-
handlungen, die, rein psychologisch genommen, alle Merkmale mit
dem gewöhnlich allein mit diesem Namen ausgezeichneten äußeren
Handlungen gemein haben." Wundt, System der Philosophie II'*, 164.
') Struvk, Wst^p Krytyczny*, 157. „Es gibt also keine geistige
Erscheinung, die ein reines oder au^chließliches Gefühl, Denken oder
Wollen wäre; es gibt keine Erscheinung, die nicht immer zugleich
Gefühl, Denken und Wollen wäre, die nicht ein Ergebnis des Zu-
sammenwirkens aller dieser Betätigungen wäre."
Eine Einteilung der philosophisclien Wissenschaften. 313
punkte einen Beitrag schaffen können. Und da wird wohl
zunächst nnser Interesse die HERBARTsche Einteilung in An-
sprach nehmen dürfen.
Für Herbart gehört die Ethik zu einer Ästhetik im
weiteren Sinne ^). Diese „Ästhetik" im HJBRBARTschen Sinne
ist eine Ergänzung der Wissenschaften von den Begriffen,
der Logik und Metaphysik, indem sie zu den Begriffen
Wertbestimmungen hinzufügt. Es ist nicht schwierig, ein-
zusehen, daß der HERBARTsche Standpunkt in gewisser Hin-
sicht eine Verwandtschaft mit Kants „Kritik der Urteils-
kraft" aufweist oder eine konsequente Folgeerscheinung
derselben bildet*), indem auch diese eine Ästhetik im weiteren
Sinne ist, eine Wertästhetik, insofern sie neben der Ästhetik
im eigentlichen Sinne noch die Teleologie, eine natürliche
Wertphilosophie nach Zweckmäßigkeit in der Natur, berück-
sichtigt. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß Kant die
Ethik, die Philosophie der Zweckmäßigkeitswerte im mensch-
Hchen Zusammenleben zu seiner „Kritik der Urteilskraft*
hinzurechnete.
Eine solche Zusammenschweißung von anderswo als
verschieden erachteten Disziplinen, wie bei Herbart und
teilweise bei Kant, ist bei den fließenden Unterschieden
zwischen manchen ihnen zugrunde liegenden Erscheinungen
immer möglich, zumal bei der sondernden Arbeit der Denker
manchem von ihnen nicht immer der Hauptpunkt, wodurch
sich eine Disziplin von der anderen unterscheidet, vor Augen
steht. So hat Kant ja eine Ästhetik, eine Kritik des Ge-
schmacks schreiben wollen, aber in der voreingenommenen
Sucht, auch für die Ästhetik ein Prinzip a priori zu finden,
kam er auf das Zweckmäßige ^), das zwar in den ästhetischen
^) So z. B. „Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie", § 5,
S. 47 (Sämtliche Werke her. Hartenstein I). Leipzig 1850.
^ Die „Ästhetik'' Hebbarts erinnert in seiner in sie von Herbabt
hineinverlegten Eigenschaft an die vis aestimativa der Scholastiker;
vgl. Dbssoib, Gescmchte der neueren deutschen Psychologie' I, 388.
*) Walter Forst, Die Begründung der Urteilskraft bei Kant,
L132. „Nun ffelan^ es ihm (Kant), die Harmonieerscheinungen der
thetik und der Teleologie mit den (^^edanken einer systematischen
Naturordnung in Verbindung zu bringen.^
314 K. F. Wize:
Eindrücken ohne Vorstellung, also ohne bewußte Eineicht
vorliegen sollte ^) , aber doch die Ästhetik nicht mehr als
Wissenschaft von dem Oeschmacke, sondern von der Urteils-
kraft, mit der Teleologie, mit einem Prinzip, das sowohl für
das praktische Verhalten als für die logische Auffassung^)
der Welt nach irgendeiner Gesetzmäßigkeit seine Wichtig-
keit hat, zu einem Ganzen verschmolz. Dies geschah, ob-
wohl Kant so richtig den Unterschied des Ästhetischen von
dem Theoretischen und Praktischen durch die Kategorien
des Begriffslosen und Interesselosen gefunden hat.
Schon durch Kant in gewisser Hinsicht, durch Herbart
entschiedener wurde wohl eine Art von modemer Kaloka-
gathie geschaffen. Bei den Griechen, diesen avSpec xaXol xd^a-
ftof, war „die Ästhetik mit der Ethik in guten Zeiten einander
verschlungen^). Hkrbart könnte danach Aristoteles in der
Ansicht, daß ti xaXov xeXo? x?^? dpetr^?*) ist, vielleicht völlig
beistimmen.
Der Ausspruch des Aristoteles tmd die Kalokagathie
bestehen, wohl als nuanciert.e Wahrheiten, als tiefsinnige
Paradoxa, als praktische Lebensmaximen zu Recht. Der
HERBART-KANTsche Standpunkt darf wohl mit minderer Be-
rechtigung verteidigt werden. Die Ästhetik wird jedenfalls
von der zu engen Verknüpfung mit der Teleologie und von
der Zugehörigkeit zu einer „Kritik der Urteilskraft," wenn
nicht schon durch die oben genannten ästhetischen Kategorien
KANTS, so doch aufs deutlichste und wie mit einem Schlage
durch folgenden, unter dem Einflüsse von Meinonqs Buch
„t5ber Annahmen" entstandenen Ausspruch von Witasek be-
M „Latente Werthaltung" von Witasek und Amesrper. Witasek,
Grundzüge der allg. Ästhet^ S. 83. 98, 94, 98 u. a. m., so auch be-
sonders 8. 239. Ameseüer, Über Wertschönheit, Zeitschr. fürÄsth. u.
allg. Kunstw. I, 207.
■) In der Tat gibt es logische, ästhetische und praktische Werte
und Bewertungen, deshalb kann dieser in allen Gebieten anwendbare
Grundsatz nicht, wie bei Herbart, zwei Gebiete von einem dritten
trennen.
") TuEOR* ZiEGLKR, Ethik der Griechen und Römer, S. 15.
*) Arist. Eth. Nicom. HI, 10 p, 1115 b, 12. Überwkg-Heisze I», 266.
Eine Einteilung der philoBophiecben Wissenschaften. 315
freit: „Der Spielende sowohl wie der Eunstgenießende
operieren nicht mit Urteilen, sondern mit Annahmen^)."
Die HiSRBARTsche Einteilung der Philosophie ist eine
Zusammenschmelznng der philosophischen Dreiteilung in
eine Zweiteilung. Zwei moderne Denker aus der jüngsten
Zeit lassen die Dreiteilung bestehen, doch legt ihr der eine,,
es ist PadlNatorp, nicht die drei geistigen Seeleneigenschaften
zugrunde, sondern lehnt sich treuer an Aristoteles an, der
andere, Heinrich Struvk, strebt einer Versöhnung der Aristo-
telischen mit der deutschen Dreiteiltmg entgegen^).
Paul Natorf teilt in seiner „Philosophischen Propädeutik
(S. 10 § 8) die objektiven philosophischen Wissenschaften
in Erkenntniskritik oder Logik (theoretische Philosophie), in
die praktische Philosophie oder Ethik und in die Ästhetik,
als das Gebiet der „künstlerisch schaffenden Phantasie."
In der NATORPschen Definition der Ästhetik kommt die
ima-n^jiT) ttoitjtixt^ zu ihrem Rechte und zu ihrer teilweisen
Berichtigung. Das Recht liegt in der Betonung des
Schaffens und in der Ausschaltung der dominierenden
Stellung des Gefühls für die Ästhetik, Anderen Orts, in
der „allgemeinen Psychologie" , drückt letzteres Natorp in
einer noch bestimmteren Weise aus : „Das Gefahl der Lust
und Unlust entspricht dagegen nicht einer dritten Art der
Objektivierung, etwa der ästhetischen. Denn der Kern des
Ästhetischen liegt im Gestalten, wobei zwar das Moment
des Geftiihls immer vorausgesetzt wird, aber nicht in sich
den Grund der Gesetzlichkeit der Gestaltung enthält." Die
Berichtigung liegt in der Betonung der „künstlerischen
Phantasie". Damit sind aus der nunmehr ästhetischen,
nicht allgemeinen Ilonfjaic das Handwerk und andere mensch-
liche Fertigkeiten ausgewiesen, was bei Aristoteles nicht
der Fall war.
Ahnlich der NATORPschen Einteilimg der philosophischen
mm
*) WiTAßKK, Grundriß der allgem. Asth., S. 224.
*) Als vorbildlich für Stri-ves Einteilung darf unter anderem
wohl Überwegs Ausspruch aus seinem „System der Logilc**^ S. 9,.
angenommen werden; zit. a. a. 0.
31(5 K. F. Wize:
Wissenschaften ist diejenige von Heinrich Struye. Strüve
übertrifft nur Natorp durch eine gründlichere Anwendung
4ind Verarbeitung der Aristotelischen Lehre. Durch diesen
Umstand gelingt es Struve, in einer allseitigen "Weise die
.Gesamtheit der Wissenschaften in sein Klassifikationssystem
Aufzunehmen. Auch die Psychologie und die Beligions-
philosophie finden bei ihTn die ihnen zukommende Unter-
kunft. Freilich strebt die STRüVKsche Einteilung, wie schon
gesagt, einer Versöhnung des Aristotelischen Standpunktes
mit dem der Anhänger der deutschen Dreiteilung der Philo-
sophie nach den drei Seeleneigenschaften zu, was nicht in
gleichem Maße anzuerkennen ist.
Wenn auch die S rnuYKSche Tabelle manche Verbesserung benötigt
und ihrer fähig ist, so dürfte sie nicht nur als eine der besten und
Rundlichsten Einteilungen der Wissenschaften anerkannt werden,
sondern wird wohl als Ausgangspunkt aller künftigen Einteilungs-
versuche dienen müssen. Die Vorzüge der Einteilung Stbuyes kommen
besonders in ein helles Licht, wenn man sie mit der Einteilung eines
der größten Metaphysiker unserer Zeit, mit der Wundts vergleicht.
Bei WuNi>T gerät die Ästhetik, Ethik mitsamt der Religionsphilosophie
imd Rechtsphilosophie in das Gebiet der Philosophie der Greschichte').
„Sittlichkeit'' und „ästhetische Anschauung^ werden damit von
WuNDT formell der theoretischen Wissenschaft untergeordnet, als ein
Abschnitt der Grundzüj^e der Philosophie des Geistes. Es geschieht
nur formell, denn in Wirklichkeit hält sich Wündt nicht daran. Die
Besprechung der „ästhetischen Anschauung'^ beginnt nämlich bei ihm
mit folgenden Worten: -Mitten inne zwiscnen dem theoretischen Er-
Icennen und dem praktiscnen Handeln liegt die ästhetische Anschauung
als ein mit jenen beiden eng verbundenes Gebiet geistigen Lebens' .
Das ist keine Unterordnung der Ästhetik und der praktischen Philo-
sophie unter die theoretische Philosophie mehr, sondern eine Bei-
ordnung, also ein Widerspruch mit der „Einteilung der wissenschaft-
lichen Philosophie" des ganzen Buches (!', 22). Dieser Widerspruch
bei WuNDT ist vielleicht durch eine gewisse, der Sache selbst zugrunde
liegende Antinomie verursacht. Eme allgemeine theoretische Philo-
sophie umfaßt wirklich auch die Ästhetik und Ethik als etwas Unter-
geordnetes. Doch ist trotzdem das ästhetische und praktische
Verhalten dem theoretischen nur beigeordnet. Die Anti-
nomie, die in den letzten beiden Sätzen lie^t, ist jedoch leicht beizu-
legen, wenn man die „allgemeine theoretische Philosophie ** in die
theoretische Wissenschaft von der theoretischen Wissenschaft, in die
theoretische Wissenschaft von der Ästhetik und von den praktischen
Wissenschaften einteilt. Das wird auch stillschweigend gemacht,
indem man nur die Wiederholung mit der „theoretischen Wissenschaft"
von der betreffenden Wissenschaft vermeidet. Auch die Religions-
') System der Philosophie» I, S. 24.
*) System der Philosophie' II, 251.
Eine Einteilung der philosophischen Wissenschaften. 317
so
O
O
O
o
o
o
09
o
QQ
s §
C3
•iH
o
00
T3
-♦3
•iH
Cm
♦iH
03
OQ
•iH
Q
(3
w
•■■4
o
5
o
g
.4
a
0
«
s
CO
e
a
•S
0
•
'S
I
a
•g
cS
SabjekÜTe Uomente
a-s
•»^ tj ^^
OB
M * ii
^ o.S
"so«
SS**
g^
""'S*
es f'
ag.s
•f4
CO
0 S o
d a
=13
e.5fis
d *
d ea 9
•r «'S a
■5-sS
i'
id
d
d
d
« «
•3 g
OB
d
CO V ,^
b C M
'S*« ®
-ä S d
« d tf
d
d •*
S
•ö|
04 OQ
^^ ja
*^
»* r
a «
d^
_o g
'S»«
P4S
es
^ d
^gd
ll
sä
ao
e
^•«
^••^ d p
3«; » g
d
o o
d
« &
•a
^ d 1^ d
d'
5.2 spL,
f* ©pS
3 'S 'S«
a-o
9
d.s
d
9
'S 3
gs;S
l|l
og.2
•4 « ^
d
9 d
O 9
S
^
'S
Vi.« eo
*. * •
•S-d
hS
o
15
Ah
I
&
ja
ao
60
d
3,
9
d'O
Mm")-«*
»I
HS
o
t^iMuiOH eATf^orqo
318 K. F. Wize:
Philosophie findet bei Wundt keine redite Stelle in seinem System.
Keligion ist, das hat wohl Stbutk durch seine Tabelle gezeigt, eine
besondere Kategorie für sich, die jedenfalls nicht den einzelnen
nhilosophischen AVissenschaften, sondern nur etwa der allgemeinen
Fhilosophie beizuordnen wäre^. Gestützt auf eine Annahme eines
letzten persönlichen Weltgrundes, umfaßt sie ebenso wie die all-
gemeine Philosophie auch eine ihr zugehörige Ästhetik, sowie ein
praktisches und theoretisches Gebiet in dem Beligionskultus , der
Keügionsmoral und in dem religiösen Glaubensbekenntnis.
Trotz des Fortschrittes, den die Einteilung der philo-
sophischen Wissenschaften bei Natorp und Strüve entgegen
der ihnen zugrunde liegenden Aristotelischen Einteilung
aufweist, ist sie noch immer einer weiteren Verbesserung
bedürftig. Die Ästhetik von Natorp und Struve ist zwar
nicht mehr eine Lehre etwa von Fertigkeiten, zu denen
Kunstdaxstellung und auch das Handwerk gehört, wie bei
Aristoteles , doch ist sie lange noch keine allgemeine
Ästhetik, eondem höchtens Kunstwissenschaft im Sinne von
Max Dessoir. Das Postulat des Gestaltens (bei Struve
schöpferische Gestaltung) faßt nur das Schöne der Kunst,
nicht dasjenige der Natur ins Auge, weiterhin die Ästhetik
nur von der Seite des Künstlers, weniger von der des
Kunstgenießenden. Der Ästhetik als Lehre von der künst-
lerischen Gestaltung entspräche nicht das ganze Ge-
biet der theoretischen und der praktischen Wissenschaften,
sondern etwa die Lehre von der wissenschaftlich-
schöpferischen Einsicht und die von dem pflicht-
getreuen sozialen Wirken. Denn eine schaffende
Betätigung, eine Gestaltung, gibt es für jedes Gebiet, so-
wohl für das ästhetische wie für das theoretische und
praktische. Die allgemeine Ästhetik ist ein weiterer
Begriff als derjenige, der einer Ästhetik zugrunde liegen
kann, wie sie in der Einteilung der philosophischen Wissen-
schaften bei Natorp und Strüve definiert wird.
Diese Unklarheit in der Unterscheidung der Haupt-
^) Paul Natobp, Philosophische Propädeutik, S. 52: „Im Yerffleich
mit den drei fundamentalen Weisen objektiver Gestaltung, Wissen-
schaft, Sittlichkeit und Kunst, bedeutet Religion nicht eine vierte,
eigene Gestaltung — und somit Erkenntnisweise. Sie macht vielmehr
von allen dreien Gebrauch, indem sie sie zugleich zu überbieten und
sich zu unterwerfen strebt.^
Eine Einteilung der philosophischen Wissenschaften. 319
momente der Einteilung iind diese Einengung eines an sich,
viel weiteren Begriffes ist der Anhänglichkeit an den Be-
griff [lotT^oic zuzuschreiben. Sie wird auch dann nicht auf-
gehoben, wenn man etwa meint, daß der Kunstgenießende
das ihm Dargebotene geistig reproduzieren müsse, was einer
umgekehrten Gestaltung gleichkäme. Mit gleichem Rechte
gibt es eine ähnliche Umkehrung für die wissenschaftliche
Auffassung einer Sache und auch fiir das ethische Einfühlen ^)
in die Rechte des Mitmenschen. Jedes Verständnis, jedes
„Einfühlen" in irgendwelchen Vorgang oder irgendwelche
Erscheinung läßt sich schließlich als eine Reproduktion
(qinnere Nachahmung" von Groos) des fremden Wesens in
dem eigenen Bewußtsein auffassen.
Die Gestaltung ist also nicht das lösende Wort
ftr das Verständnis der Ästhetik und des ästhetischen Ver-
haltens.
Ist es vielleicht die eben berührte Einfühlung? Sagt
ja Theodob Lipps, daß ^der Grundbegriff der heutigen Ästhetik
der Begriff der Einfühlung" sei *). Wir sprachen aber eben
von einer ethischen Einfählung. Eine solche erkennt, wie
wir seihen , auch Lipps an. Also ist nicht jede Einfühlung
eine ästhetische Einfühlung®). So wird denn doch jeden-
fedls das Merkmal der Ästhetik nicht die Einfühlung sein,
wenn sie auch wirklich einen „Grundbegriff für die Ästhetik**
bilden sollte. Ist sie doch auch fiir die anderen geistigen
Gebiete von einer großen Bedeutung. Dient sie nämlich
zum Erlangen eines logischen Verständnisses der Erschei-
nungen, so haben wir es mit der intellektuellen Einfühlung
zu tun; bedeutet sie ein Erwägen von Aufgaben, die der
Mensch vollbringen soll, so ist sie von ethischer Art.
Die Anerkennung der tiefen Bedeutung der logischen
Einfühlung, des Weges, wie man zum Verständnis einer
*) «Die Einfühlung mit dem Bewußtsein der Wirklichkeit des
Ein^eftäüten ist ethische Einfühlung. Die Tatsache dieser Einfühlung
ist die Tatsache des Altruismus/' JLipps, Leitfaden der Psychologie,
S. 200. J^ J5 ,
«) Zukunft, Jahrg. 1906, XII, S. 100 ff.
«) Lipps, Ästhetik II, 84.
320 K. F. Wize:
Sache gelangt, liegt gewissermaßen schon der Philosophie
der Griechen zugrunde. Der Begriff der logischen Ein-
fühlung ist ja mit der von Empedokles ^) zuerst klar hervor-
gehobenen Tatsache, daß Gleiches nur durch Gleiches er-
kannt wird , verwandt. Nur ist die EinAihlung vielleicht
ein weiterer Begriff. Er kann nämlich wohl auch mit
dem kontradiktorischen Satz von Anaxagoras, daß nur
Ungleiches durch Ungleiches erkannt werden kann (Kälte
durch Wärme, Gesundheit durch Ereuikheit, Nässe durch
Trockenheit usw.) in Einklang gebracht werden. Sieht
nämlich der menschliche Geist etwas Verwandtes, so eignet
er sich das mit Leichtigkeit an; bei Fremden, Entgegen-
gesetzten geht das nicht so leicht, aber er sucht es doch
in sich aufzunehmen, zu assimilieren, und es gelingt ihm
dies auch. Allmählich wird auch das Fremde sein Eigen.
Dadurch ist ja überhaupt nur der Fortschritt, die Entwick-
lung, Ausweitung unserer Erkenntnis mögUch. Es ist so
wie mit den Assoziationen; verbunden wird miteinander
Gleichartiges sowie Entgegengesetztes. Einfühlung ist ein
Stadium eines geistigen Vorganges, der neben ihr andere
Momente umfaßt, die Assoziation, die Assimilation und
Apperzeption. Einfühlung ist gewissermaßen die Apper-
zeption in statu nascendi. Da die ästhetische Einfahlung,
vermöge der Eigenart, die im Ästhetischen, nicht in der
Einföhlung an sich liegt, in gewisser Hinsicht in diesem
Status nascendi verbleibt, so ist der Standpunkt der ex-
tremen Einfühlungsästhetiker, wie z. B. Lipps^) es ist, am
Ende doch zu verstehen. Jedenfalls muß fixr die ästhetische
Einfühlung auch dieselbe Weite gewahrt werden wie für
die logische. Similis simili gaudet und die damit verwandten
Sprüche von'EpiCHARM®) müssen ergänzt werden. Auch das
^) Überweg, System der Logik ^, 111. Aristoteles, X, De anima
I, 2, 404 b, 13, 17.
^) Lipps meint, die ästhetische Einfühlung sei eine .volle Ein-
fahlung". Asth. I, 125.
') JDiEi.8 Fragni..,der Vorsokr., S. 95, zit. von O. Kulpe in „An-
fänge der psycho!. Ästhetik bei den Griechen" in „Philos. Abh. cum
70. Geburtstage von Max Heinzr'', S. 109.
Eine Einteilung der philosophischen Wissenschaften. 321
Nene, Ungewöhnliche gefallt. Ästhetische Einfiihlung ist
nicht blofi das „innerliche Miterleben" (Lotze), die „innere
Nachahmung" (öroos) *) von Verwandtem, Ahnlichem, sondern
aach von Fremdem.
Wenn auch die Einseitigkeit Lippsens ^) mit seiner „ästhe-
tischen, vollen Einfühlung'* zu verstehen ist, so ist das
eine sicher, daß die Ästhetik nicht in der Einfühlung auf-
geht. !Eiiie solche Annahme wäre ebenso einseitig, wie die
Identifizierung des Ästhetischen mit der Gestaltung.
Nicht die Gestaltung, nicht die Einfühlung erklärt das
Wesen der Ästhetik, sondern die Ansicht, daß das Kunst-
genießen ein — Spiel®) sei. In der Tat, die Ästhetik als
die Lehre über spielendes Verhalten des Geistes reiht sich
in einer gleichartigen Weise sowohl den theoretischen
Wissenschaften als den Lehren über das lernende und
untersuchende Verhalten an, wie auch den praktischen, als
den Lehren über das Verhalten, das beobachtet werden
muß, um gewisse reale Ziele zu erreichen.
Der Spielende wie der Kunstgenießende überläßt sich
einer Funktionslust, sei es eines körperlichen ödes eines
geistigen Vermögens, ohne ein Ziel vor Augen zu haben,
der theoretisch Tätige unterrichtet sich, untersucht die Tat-
bestande ; der praktisch Tätige strebt Zielen zu. Der geistig
Spielende ist nicht auf strenge Begriffsbestimmungen be-
dacht, seine geistige Tätigkeit assoziiert nicht streng zu-
einander gehörende Gattungsbegriffe, um ein System zu
schaffen, sondern leistet sich die gewagtesten Vergleiche,
^) Gboob, Der ästhetische Genuß, S. 179.
■) Wie LippB oft einen Inhalt dort sieht, wo er gar nicht vor-
handen ist, heweisen manche Stellen seiner sonst mit Hecht sehr hoch-
feschätzten Schriften. So gebraucht Lipps in seiner Ästhetik mit
'orliebe das Zeitwort „Darin liegen", ja gar das bloße „Liegen", das
sich doch nicht viel von einem fast inhaltsleeren Hilfszeitwort unter-
scheidet. Dieses „Darinliegen" und „Liegen" soll nicht etwa eine
Kleinigkeit, sondern etwas gar Wichtiges in den grundlegenden
Fragen der Ästhetik ausdrücken. Ästhetik I an verschiedenen Orten.
■ Vgl. die Schriften von Scuillbb, Spencbb, Grant ällkh,
Gboos u. a. m. K. Wiik, Über den Zusammenhang von Spiel, Kunst
und Sprache. Zeitschr. f. Ästh. und all«;. Kunstw. von Max Dessotii
n, 174 f. ^
Viertelj»hT»8«hriftf.wi88engoh»fti.Philo8.u.SoMol. XXXU. 8. 21
822 K. r. Wize:
ergeht sich mit Lust in Paradoxen, Witz, Metonymien,
Metaphern, Hyperbeln') usw.; der geistig Spielende ist nicht
wissenschaftlich tätig. Sein Wohlgefallen ist femer „inter*
esselos ^ , unabhängig und frei von praktischen Zwecken.
Das sind Unterschiede, die sich aus der Einteilung jedweder
Betätigung, so auch der geistigen nach Spielen, Lernen
und Arbeiten, von selbst ergeben. Die Ästhetik ist die
Lehre vom Spiel, die theoretische Wissenschaft die von der
Gelehrsamkeit, die praktische die vom Wirken, von der
Pflicht.
Wie auf die eben angegebene Einteilung der mensch-
lichen Tätigkeiten und der ihnen entspreschenden philo-
sophischen Wissenschaften auch die erbitterten Feinde der
sogenannten ästhetischen Spieltheorie von selbst kommen,
wenn sie nur das verpönte Wort Spiel nicht beängstigt,
zeigen an verschiedenen Orten die Erwägungen von einem
von ihnen, von Theodor Lipps"), so z. B.:
^Es gibt in Wahrheit drei Arten des realen Tuns.
Einmal das Tun in der Sphäre der Phantasie, das sich
Richten des Wülens auf bloße Gegenstände der Phantasie,
das lediglich ,gedankliche* Arbeiten, sich Bemühen, Stand-
halten, Überwinden, Entscheiden, strebende Fortgehen von
-einem zum anderen. Anlangen bei einem Punkte, in welchem
das Streben sich befriedigt. Es gibt daneben das intellek-
tuelle Tun, oder das Tun des Verstandes, das Nachdenken,
Sichbesinnen, Urteilen, Schließen usw. Und es gibt endlich
*) Empedokles, Xdptc OTUY^et Su^tXt^tov '^vd-ptjv. Diei.b Fragm. der
VoTBokr., S. 217. Volkrlt, System der Asih. 1, 180: „Novalis sagt,
dafi der Dichter, während der Philosoph alles ordne, alle Bande auf-
löse.^ Novalis, Ergänzungsband, herausgeg. y. Bruno Wille, Leipzig
1901, S. 385.
') Es sei hier auch eine Definition des Gefühls der Schönheit
yon Lipps angeführt, die vollends mit einer Definition vom geistigen
Spielen in Einklang ist: „Das G-efühl der Schönheit ist, allgemein
gesagt, Lebensgefühl. Es ist das Lustgefühl an der Kraft, an der
Fülle, der inneren Einstimmigkeit oder Freiheit der Lebensmöglich-
keiten und Lebensbetätigungen; oder es ist das Lustgefühl am un-
gehemmten Sichausleben.*' Asth. I, S. 156. Dasselbe ließe sich vom
allspielenden Knaben sagen, nur würden an Stelle der geistigen
Gefünle etwa die körperlichen Muskelgefühle treten.
Eine Einteilung der philosophisolien Wissenscliaften. 323
das Tun, das erst sich befriedigt in realem Dasein, d. li.
in Empfindungen und dem Bewußtsein, daß etwas wirklich
sei In welchen Sphären auch sich das Tim vollzieht, immer
ist es dasselbe reale Tun, oder kann es sein*' ^).
Ahnlich spricht sich Lipps an einer anderen Stelle seiner
Ästhetik') aus:
„Das Tun, von dem ich hier rede, ist von mancherlei
Art. Es ist etwa mein intellektuelles Tun. Ich freue mich
der kraftvollen Tätigkeit meines Denkens, des Vermögens,
Vielerlei geistig zu umfassen. Ich fühle mich befriedigt in
der Konzentriertheit der geistigen Arbeit, im Zusammen-
gefaßtsein derselben in einem Punkte oder Ziel.
Ein andermal ist mein Tun auf praktische Zwecke ge-
richtet. Es ist das Wollen praktischer Zwecke, und das
Vollbringen. Auch hier ist die Lust gebunden an die Kraft
des inneren Tuns, an den Reichtum seiner Inhalte, und die
Einstimmigkeit des Tnns mit sich, und seine Znsammen-
fassung in einheitlichen Zielen.
Schließlich ist mein Tun vielleicht auch nur das Tun,
das besteht im Erfassen und Festhalten eines Gegenstandes^
die in sich einstimmige, aber innerlich freie Zuwendung zu
einem Wahrgenommenen oder Vorgestellten, und die freie
Wiederabwendung, das aktive Hin- und Hergehen, das Zu-
sammenfassen und Gliedern, das Eindringen, das innerliche
Aneignen und Beherrschen."
Die Auffassung des Seelenlebens, als eine Betätigung,
so wie LiPPS es darstellt, kehrt überhaupt öfters bei den
modernen Denkern wieder. Es sei an die hier schon an-
geführte Stelle aus dem System von Wündt (II® 157) er-
innert. Max Dessoir spricht sich ebenfalls sehr interessant
in demselben Sinne aus : „Unter Seele ist nicht ein Bündel
von Vorstellungen, auch nicht ein Tummelplatz für selb-
ständige Vermögen zu verstehen, sondern eine Krafttätig-
keit , genauer ein Inbegriff von Tätigkeitsrichtungen" •).
>) Lipps, Ästhetik I, 129.
«) I, 98 f.
*) Ästhetik 164.
21*
824 JK. F. Wize:
M, Straszewbki stellt geradezu dem alten, ehrwürdigen
Augustinisch-Cartesianischen cogito, eigo smn sein moderne»
„Ich fahle mich tätig, also bin ich", entgegen*). Di&
ästhetische Verhaltirngsweise insbesondere als eine Tätig-
keit, der ästhetische Genuß als eine „Fnnktionslast" '), bildete
den Ausgangspunkt des Buches „Beflexions critiques sur la
pöösie et la peinturc" des vortrefflichen Abö du Bos. Es
ist dies nicht nur ein Buch, das eines der einflußreichsten
Ästhetiken des 18. Jahrhunderts war und Lessino als Vor-
bild für seinen Laokoon diente, sondern auch das Werk
eines der ersten Vertreter der ästhetischen Spieltheorie.
Zwar widerspricht Grant Allen der Auffassung des ästheti-
schen Verhaltens als Tätigkeit, indem er den passiven
Charakt-er') des Kunstgenusses im Gegensatz zu dem des
Spiels betont, aber einer anderen Ansicht ist Heinbich von
Stein. „Der (ästhetische) Eindruck kommt zustande dureh
innere Tätigkeit. Also ist bereits die Empfänglichkeit
^) Przegl^d filozofiozny, Jahrgang 1902. Vgl. JDie polnische
Philos. der letzten 10 Jahre" von H. Strlte im -Arohiv für Gesch.
der Philos." XVIII. Neue Folge XI, 1905, S. &7. Der Gedanke
SrRA82EW8Ki8 ist in dex nolnischen Philosophie mn die Mitte des neun-
zehnten Jahrhunderts oegründet. Dieselbe stützt sich voizu^^sweise
auf die Ideen Sciist.i.ing8 und Hegels, beschäftigt sich viel nut einer
Vorzugsstellung des Willens in dem Geistesleben und nennt sich
selber gern eine „Philosonhie der Tat** (Adam ZotTOWSKI, August
C1B8ZKOW8KI8 Philosophie der Tat), „Zukunftsphilosophie**, oft auch
-Slavische Philosophie**. Bei Heineich Koewin Kamienski, dwn Ver-
jfasser der .Philosophie der materiellen Ökonomie der menschlichen
Gesellschaft** (Posen 1843—1845), lesen wir: „Ich vollbringe, also
bin ich, ist die Philosophie der Zukunft; ich denke, also bin ich, ist
die Philosophie der Vergangenheit** (vgl. Libblt, Filozofja i krytyka*
I, 142 und auch 105, 144, 162. Cieszkow8ki, Oicze-Nasz I, 235). Während
des Druckes dieser Arbeit ist Stbabzbwskib Buch «Auf der Suche nach
einer Synthesis" erschienen. Dort erfahren wir, daß Straszbwski
Maine de Biran wohl kennt und hochschätzt. Für Maine de Biran
ist der Gedanke: „Toute notre connaissaace derive de Tactivite** ein
Ausgangspunkt für seine Erkenntnis! ehre gewesen. Vgl. Maine de
BiBAN par M. CounAic p. 53 u. a. m. ungefähr gleichzeitig mit Schelung in
Deutschland wirkte in Polen Andbbas Sniadeou, der in seiner im Jahre
1804 erschienenen „Theorie der organischen Wesen** (§ 449) dem
Willen in dem Geistesleben, im hewußten Denken der „tierischen
Wesen**, eine Vorzuesstellung einräumt (Vgl. auch Kabol Libelt
a. a. 0. I, 162, das über Kboukowski gesagte.)
*) Ausdruck Max Dessoibs. üsthetik, S. 208.
•) Überweo-Heinie IV», 458.
Eine Einteilung der philosopliischen Wissenschaften. 825
eine Tätigkeit'), eine Lebensäußerung der aufnehmenden
Seele''. Auf der Seite 6 desselben Buches von Stein finden
wir: „Die ästhetische Hingenonunenheit ist eine höchste
Kraftbetätigung unseres inneren Lebens.^ „In eiaem groSen
Eindruck klingt die Unendlichkeit unseres inneren Ver-
mögens an." Und gar Theodor Lipps in seiner Ästhetik 11, 7
meint, doch schon mit Umrecht und im Widerspruch mit
den oben angeführten eigenen Gedanken: „Diese Gefiihls-
neutralität des Urteilens, Meinens, Glaubens der wirklichen
oder vermeintlichen Erkenntnis, diese Kühle, die den Ver-
standesakten, als solchen eignet, liegt, wie gesagt, daran,
daß diese Akte keine Tätigkeit, oder kein sich Auswirken
einer Kraft, keine innere Arbeitsleistung in sich schließen.^
Man beachte „diese Akte keine Tätigkeit", dieselben Worte,
nur das eine dem Lateinischen entnommen; mit eben dem-
selben Bechte würde man sagen können, „diese Tätigkeiten
kein Akt."
Das Ergebnis vorliegender Arbeit möge folgendermaßen
kurz zusammengefaßt werden:
1. Die Aristotelische Einteilung der philosophischen
Wissenschaften k8u:m durch die Deutsche Dreiteilung der
Seelenkräfte nach Denken, Fühlen und Wollen nicht ersetzt
werden. Wir müssen mit der Einteilung der philosophischen
Wissenschaften zu Aristoteles zurück.
2. Die Aristotelische Einteilung muß jedoch verbessert
werden. An Stelle der „poetischen" Wissenschaften müssen
die modern angefaßten „ästhetischen" Wissenschaften
treten.
3. Den ästhetischen Wissenschaften liegt nicht eine Ge-
staltung als solche zugrunde, denn es gibt Gestaltungen
auch von anderer Natur.
4. Auch die Einfühlung ist keine Erklärung für die
Ästhetik, da es auch andere Einfühlungsarten gibt.
5. Das ästhetische Verhalten ist eine freie^
*) H. ▼. Steik, Vorlesungen über Ästhetik^ S. 3.
326
K. F. Wize.
„begriffslose" und „interesselose" Betätigung des
menschlichen Geistes, ein geistiges Spielen«
Eine Tabelle der Wissenschafken, die im Sinne von den
eben berührten Behauptungen zusammengestellt ist, dürfte
folgendes Aussehen haben:
Wissenschaften
Ästhetische
Theorotische
Praktische
Betätigung
Freie (spontane, Ijernende (unter-
spielende) suchende)
Spielen Lernen
Zielzustrebende
Arbeiten
Ideale (Vollkommenheiten)
Das Schone
Das Wahre
Vermögen
Das Oute
Oeschmack
Wissen
Gewissen
s
8
Welt
Allgemeine
Kosmologie
Allgemeine
formale und reale
Ästhetik der Natur
Mathematik
Natur-
wissenschaften
Teleologie
Technik
Wirtschaftslehre
i
1
1
Mensch
Allgemeine
Anthropologie
Allgemeine
formale ond reale
Ästhetik des
Menschlichen
Logik
Psychologie (indi-
viduelle und
Volkerpsyoh.)
AUgem. Soziologie
Ethik (Pfllohten-
und Rechtslehre)
8
m
Gott
Allgemeine
Theologie
Kultus
Religiöse Kunst
Glaubenslehre
Theologische
Wahrheiten
Religionsmoral
Lehren yon den
religiösen Pflichten
und Verheiiungen
Idee and Hypothese bei Kant
Von Ernst Lelunann, Niesky.
Inhalt*
Die auf naturwissenschaftlichem Boden erwachsene neuere Er-
kenntniskritik (Mach, PoiKCARß, Hertz) löst viele Probleme, die einer
älteren Betrachtungsweise als gegenständliche, Tatsachen betreffende
erschienen, in Probleme methodischer Natur auf, die als gegenständ-
liche gefaßt Scheinprobleme sind. Kants Ideenlehre bietet ein Analogon
zu diesem Bestreben. Seine kritische Betrachtung löst die Ideen in
regulative, heuristische Prinzipien auf. Als solche enthalten sie keinen
irrationalen Tatsachenrest; in ihnen schaltet die Vernunft autonom,
„indem der Gegenstand außer dem Begriff nicht angetroffen wird".
Da die Hypothese auf Tatsachen zielt, sind somit Idee und Hypothese
völlig disparate Begriffe.
Die nähere Untersuchung zeigt indes, daß in den Ideen Kants
Probleme methodischer und solche gegenständlich-faktischer Natur
unklar verquickt sind. Die Untersuchung der Ideen Kants ist daher von
folgenden Fragen geleitet:
1. Inwiefern sind die Ideen lediglich „heuristische Fiktionen" metho-
discher Natur? Inwiefern sind sie vorauseetzungslos? Inwiefern
involvieren sie bestimmte Voraussetzungen tatsächlicher Natur?
2. Sofern durch die Ideen Probleme gegenständlicher Natur bezeichnet
werden, wird gefragt nach der Abgrenzung von Idee und Hypothese
auf Grund ihrer logischen Kriterien.
Erörtert werden: die Ideen des räumlichen Weltganzen, der
Totalität der vergangenen zeitlichen Veränderungen, der Totalität
der Teilung der Materie, der Kausalität, Homogeneität, Spezi-
fikation, Kontinuität, Naturzweckmäßigkeit, die psychologische
Idee, die Idee der Willensfreiheit, die Gottesidee.
Die Untersuchung gelangt zu folgenden Gruppen:
1. Ideen bzw. Momente an ihnen, die durch sich selbst verifiziert
sind, indem sie keine Probleme gegeliständlich-f aktischer Natur
betreffen.
Hierher gehören die Ideen des räimilichen Weltganzen,
der Totalität der vergangenen zeitlichen Veränderungen, der
328 Ernst Lehmann:
Totalität der Teilung der Materie, sofern lediglich der Begriff
der Totalität in Frage kommt, abgesehen von ihrer Besonderheit
als endlicher oder unendlicher Größe, weiterhin die Idee der
Kontinuität, der Naturzweckmäßigkeit und Willensfreiheit.
Als methodische Maximen enthalten sie keinen Tatsachenrest.
Werden sie zu Bingen, Kräften, Vermögen hypostasiert , so ent-
stehen Scheinprobleme.
Ein Gleiches gilt von der Idee des Selbstbewußtseins, die eine
einzigartige Stellung einnimmf.
2. Ideen als heuristische Prinzipien, die bestimmte Voraussetzungen
faktischer Natur involvieren, deren Greltung weder restlos verifiziert,
noch auch je widerlegt werden kann, Voraussetzungen, die aber
gemacht werden , sei es als Postulate , sei es als Desiderate zum
Zweck der Wissenschaft.
Hierher gehören die Ideen des Kausalzusammenhanges, der
Homogeneität, Spezifikation.
8. Die in den Ideen enthaltenen Restprobleme faktischer Natur.
Hier sind Idee und Hypothese gegeneinander abzugrenzen.
a) Empirische Bestprobleme. Sie werden aufgegeben durch
die Ideen, die einem Beihenprozeß entspringen. Hierher gehört
die Frage nach der Begrenztheit oder Unbegrenztheit der Welt
nach Raum und Zeit, sowie der Teilung der Materie; ebenso
die von der Idee der Homogeneität aufgeworfene Frage nach
der Existenz eines Grundstoffes, einer Grundkraft in der äußeren
Natur.
Hypothetische Lösungen sind hier müßig und wertlos, da
die absolute Totalität kein Gregenstand der Erfahrung ist.
Gegenstand der Hypothese können daher nur sein: be-
grenzte kosmische Massen, relative Anfangszustände der Welt,
relativ einfache und konstante Elemente der Materie, relativ
gleichartige Größen: relativ einfache Kräfte und Stoffe.
b) Transzendente Restprobleme. Sie werden aufgegeben
durch die Ideen, die durch einen Akt der Konzeption gesetzt
werden. Hierher gehören die Idee der Naturzweckmäßigkeit,
sofern sich ein faktisches Problem überhaupt aus ihr ableiten
läßt, auf psychologischem Gebiet die Frage nach dem Ver-
hältnis des Selbstbewußtseins zu dem psychophysischen Zu-
sammenhang, die Frage nach dem Verhältnis des Psychischen
und Physischen überhaupt. — Die Gottesidee scheidet aus der
Reihe der theoretisch formulierbaren Probleme aus. Bei Kant
sind methodische und religiöse Gesichtspunkte unklar verquickt.
Die Momente der absoluten Spontaneität und Nichtanschaulich-
keit machen bei diesen Ideen die Anwendung der Hypothese
unmöglich.
Idee und Hypothese bleiben danach scharf getrennte Be-
griffe.
Die Idee charakterisieren die Momente der absoluten
Totalität, Spontaneität und Nichtanaohaulichkeit. Die Hypothese
Idee und Hypothese bei Kant. 329
fordert zur Erklärung begrenzter Tateachenkomplexe relativ
letzte, einfache, konstante Elemente , die in Raum und Zeit
anschaulich darstellbar sind. — Absolute Aussagen sind ent-
weder durch sich selbst verifiziert, oder sie sind es gar nicht;
sie als Hypothesen blofi wahrscheinlich zu machen, ist ein
Widerspruch in sich selbst. — Die scharfe Trennung Kants
bleibt also zu Recht bestehen.
Einleitnng.
Die auf dem Boden der neueren Naturwissensoliaft,
im besonderen der mathematischen Physik, erwachsene er-
kenntniskritische Richtung, wie sie namentlich von Hertz,
Mach und Poincarä vertreten wird, ist charakterisiert durch
das Bestreben, den Faktor der freien Selbsttätigkeit in der
Bildung von Definitionen, Handhabung von Methoden und
Schaffang von Bildern zum Zweck der intellektuellen Be-
herrschung der Naturerscheinungen immer mehr ans Licht
zu stellen. Hier wird ein Gebiet unbedingter logischer
Herrschaft anerkannt, hier und nur hier. „Nur über Be-
griffe, deren Inhalt wir selbst bestimmt haben, erstreckt
sich unsere logische Herrschaft." ^) — Im Zusammenhang
damit steht die Tendenz, viele Probleme, die die ältere Be-
trachtungsweise als Probleme gegenständlich-tatsächlicher
Natur betrachtet, in Probleme der Definition, zweckmäßigen
Darstellung und der Eigenart von Methoden aufzulösen«
Ja es herrscht zum Teil das Bestreben, alle nicht rein
empirischen Probleme, sofern sie letzte Tatsachen und
Tatsachen Verhältnisse betreffen sollen und deshalb, sei es
metaphysisch gelöst, sei es als absolut unlösbar erkannt
wurden, in Scheinprobleme aufeulösen und damit zu
beseitigen. „Die Probleme werden entweder gelöst oder
als nichtig erkannt."*) Scheinprobleme entstehen, indem
begriffliche Hilfsmittel hypostasiert werden.
So grundverschieden nun auch Voraussetzungen und
Ziele der genannten erkenntniskritischen Richtung von
^) Mach, Erkenntnis und Irrtum, S. 379.
*) Mach, Analyse der Empfindungen', S. 278.
330 Ernst Lebmann:
denen des transzendentalen Idealismus Kants sind, so be-
stehen doch gerade in den vorhin bezeichneten Gesichts-
punkten gewisse verwandte Beziehungen beider.
Auch Kant ist bemüht, metaphysische Probleme teils
in Scheinprobleme, teils in methodische Probleme auf-
zulösen. In diesem Sinne stellt Kant den Satz in seiner
Ideenlehre auf: „daß alle Fragen, welche die reine Vernunft
aufwirfl, schlechterdings beantwortlich sein müssen und daß
die Entschuldigung mit den Schranken unserer Erkenntnis,
die in vielen Naturfragen ebenso unvermeidlich als billig^
ist, hier nicht gestattet werden könne"*). Und warum?
„Weil eben derselbe Begriff, der uns in den Stand setzt
zu fragen, uns auch tüchtig machen muß, auf diese Frage
zu antworten, indem der Gegenstand außer dem Begriff
nicht angetroffen wird.*' *). Danach gibt es einerseits nur
empirische Probleme; die sogenannten metaphysischen
Probleme sind Scheinprobleme ; sofern sie einen berechtigten
Kern enthalten, ist dieser wesentlich methodischer
Natur. Auch eine nur hypothetische Lösung solcher meta-
physischer Probleme darf danach nicht verstattet werden.
Scheinprobleme werden nicht durch metaphysische Hypo-
thesen gelöst, sondern gelöst, indem sie als nichtig erkannt
werden. So bezeichnen die Ideen gar keine
Gegenstände, weder empirische noch intelli-
gible. Es schließt darum eine vollständige Verkennung
ihrer methodischen Stellung im System der Wissenschaft
ein, wenn sie zu transzendentalen Hypothesen gemacht
werden. Die Ideen enthalten keinen irrationalen Tatsachen-
rest, dem man durch Hypothesen beikommen könnte. Der
Erkenntniswert der Ideen ist bezeichnet durch ihre Funktion
als „heuristische Fiktionen* ®), die der Verstandeserkenntnis
Richtlinien geben in der Richttmg auf größtmögliche syste-
matische Einheit. Ihr logisches Kriterium ist das Moment
des Unbedingten im Verhältnis zur Bedingtheit der Er-
^) Kritik der reinen Vernunft (Kehbbaoh), &^. 537 f.
«) Kr. d. r. V., S. 392.
») A. a. 0. S. 587.
Idee und Hypothese bei Elant. 331
»
fähningserkeimtnis. In der Hypothese dagegen werden
mögliche Gegenstände der Erfahrung oder mögliclie gegen-
standliche Beziehungen an Gegenständen der Erfahrung an-
genommen*). Die „Möglichkeit" bedeutet im Sinne des
Kritizismus die Darstellbarkeit in den allgemeinen Formen
der Anschauung: Baum und Zeit.
Ob die mögliche Verifikation durch Empfindung als der
Materie der Erfahrung auch von Kant durchgehends verlangt wird,
ist dabei fraglich. In allgemeiner Erörterung verlangt Kant eine
solche: „Die Erscheinungen verlangen nur erklärt zu werden, soweit
ihre Erklärungsbedingungen in der Wahrnehmung gegeben sind^.
In der Anwendung dagegen erweist sich das Kriterium der mög-
lichen Empfindung auch für Kant als zu eng. So bezeichnet Kant
den Äther der Physik als eine zulässige „Meinung". Ja das elek-
trische und das magnetische Fluidum ist iQr Kant nicht bloß eine
Sache der Meinune; Kant glaubt vielmehr wie seine Zeitgenossen
fest an deren WirKlichkeit: „So erkennen wir das Dasein emer alle
Köiper durchdringenden magnetischen Materie aus der Wahrnehmung
des Eisenfeilichts, oozwar eine unmittelbare Wahrnehmung dieses Stoffes
uns nach der Beschaffenheit unserer Organe unmöglich ist."^) Ja
eine Annahme wie die der leeren Räume zum Zwecl der Erklärung
der unterschiede der Dichte der Materie bezeichnet Kant auch als
eine Hypothese^). Der Begriff der Hypothese schließt also auch
Annahmen ein, die ihrer Natur nach durch Empfindung nicht
verifiziert werden können. Jene Annahme könnte sogar als eine
notwendige Voraussetzung gelten, falls die Verschiedenheit der
Dichte sich nicht anders erklären ließe*).
Die entscheidende Anforderung, die von Kant an eine
brauchbare Hypothese gestellt wird, ist, daß sich die ge-
machte Annahme als fähig erweise zur Erklärung vorgelegter
Erscheinungen, daß „aus dem angenommenen Grunde die '
Folgen richtig fließen". Die Hypothese wird desto" un-
brauchbarer, je mehr Hilfsannahmen nocb eingeführt werden
müssen. Das Muster einer Hypothese sieht Kant in der
Copemikanischen Erklärung der scheinbaren Bewegung der
Himmelskörper. Aus einer Voraussetzung haben sich bis
jetzt alle Erscheintmgen dieser Bewegung erklären lassen»
So kann eine Hypothese zum „Analogon der Gewißheit*^
^) Logik (3. Aufl. Neue Ausgabe von Kinkel), S. 94.
») Kr. d. r. V., S. 396.
») Logik, S. 74.
*) Kr. d. r. V., S. 207.
») Metaph. Anf.gr. der NatWiss. (2. Auü.), S. 84.
«) Ebenda S. 83.
332 Ernst Lehmann:
werden; absolute Gewißheit ist aber ausgeschlossen, sofern
wir niemals wissen können, ob alle Konsequenzen aus
einer gemacliten Annahme objektiv gültig sind.
Sofern die Ideen überhaupt keine „öegen-
etände" bezeichnen, erscheinen Idee und Hypo-
these also als völlig unvergleichbare Begriffe.
Kant läßt jedoch neben der rein methodischen Bedeutung
äIs regulativer Prinzipien noch eine auf „Dinge" bezügliche
zu. Kant macht an anderen Stellen der Kritik einen Unter-
schied zwischen den kosmologischen Ideen einerseits und
der psychologischen und theologischen Idee anderseits.
Letztere „dienen nicht bloß zur Vollendung des empirischen
Vemunftgebrauches , sondern trennen sich gänzlich davon
ab und machen sich selbst Gegenstände, deren Stoff
nicht aus Erfahrung genommen, deren objektive Realität
such nicht auf der Vollendung der empirischen Reihe,
sondern auf reinen Begriffen a priori beruht" *). Es ist „nicht
das mindeste, was uns hindert, diese Ideen auch als objektiv
xmd hypostatisch anzunehmen außer allein die kosmologische,
wo die Vernunft auf eine Antinomie stößt" (523). Die
kosmologischen Ideen allein sind also bloße Geschöpfe der
Vernunft; hier nur kann die Verantwortung nicht auf einen
unbekannten Gegenstand geschoben werden*). Indem ge-
wisse Ideen als denkmögliche, unbekannte, transzendente
Dinge angesehen werden, treten sie aus dem Herrschafts-
bereich des rein methodischen Idealismus heraus. Idee und
Hypothese sind alsdann nicht völlig disparate Begriffe;
indem sie auf „Dinge" bezogen werden, stehen
sie auf gemeinsamem begrifflichen Boden. Sie
bezeichnen Probleme gegenständlich-faktischer Natur. Sie
werden um so mehr vergleichbar, wenn man beachtet, daß
Kant, wie.bemerkt, das Kriterium der möglichen Empfindung
selbst nicht aufrecht erhält. Auch der Hypothese der leeren
Räume kann „kein kongruierender Gegenstand in den
Sinnen" gegeben werden.
M Kr. d. r. V., S. 450.
") Vgl. a. a. 0. S. 393.
Idee und Hypothese bei Kant. 333-
Erscheint somit die Einheitlichkeit der KANTSchen Ideen-
lehre bereits in seiner eigenen Reflexion gesprengt, so
zeigt sich weiterhia, daß unter dem Titel der Ideen von
Eant Probleme behandelt werden, die noch in anderem
Sinne gegenstandUche Probleme, nämUch empirische
Grenzprobleme sind. Im besonderen sind in den kosmo-
logischen Ideen methodische Prinzipien und Probleme gegen-
standlicher Natur in unklarer Weise verquickt, wie dies zum
Teil bereits bemerkt worden ist^).
Im folgenden wollen wir nun an die Erörterung der
einzelnen Ideen mit folgenden Fragen herantreten:
1. Inwiefern sind die Ideen lediglich „heuristische
Fiktionen**, die als solche keine Gegenstände bezeichnen?
Inwiefern handelt es sich um voraussetzungslose
Forschungsmaximen; inwiefern involvieren sie empirische
Voraussetzungen ?
2. Sofern durch die Ideen Probleme gegenständlich-
faktischer Natur bezeichnet sind, erhebt sich die Frage nach
der Abgrenzung von Idee und Hypothese auf Grund der
logischen Kriterien beider Begriffe. Nicht die mögliche
Verifikation durch Empfindung unterscheidet beide letztlich 5
es ist wesentlich das Moment des. Unbedingten, das die
Idee, das Moment der erklärenden Bedingung, das die
Hypothese charakterisiert.
Sofern die Ideen lediglich methodische Prinzipien sind,
ist ihre Gleichsetzung mit transzendentalen Hypothesen
sinnlos; sofern sie gegenständliche Probleme bezeichnen,
erscheint die Kategorie der metaphysischen Hypothese zu-
lässig. Wir fragen mit Kant, ob sie haltbar ist, im be-
sonderen: inwiefern metaphysische Hypothesen als Er-
klärungshypothesen gelten können; inwiefern sie als
Ergänzungshypothesen anzusehen sind, — eine Unter-
scheidung, die auch Kant gelegentlich macht, indem er sagt.
') Vgl. WüÄDT, Philosophische Studien, Bd.n: „Kants Antinomien
und das Problem der Unendlichkeit^. Bibhl, Philos. Kritizismus,
Bd. II : »Bas kosmologische Problem des Unendlichen '^i S. 281 ff.
334 Ern&t Lehmann:
die Ideen, als Hypothesen verwendet, erklärten nichts,
dienten nicht zur Beförderung des Verstandesgebrauches,
sondern „eigentlich nur zur Befriedigung der Vernunft"*),
die durch das Bedürftds eines vollendeten Abschlusses der
Erkenntnis charakterisiert ist.
1. Die Idee des räamlichen Weltganzen.
Mit Recht macht Riehl *) darauf aufmerksam, daß Kant
nicht unterscheidet zwischen dem allgemeinen Raumschema
und der empirischen RaumerfüUung. Die Idee des un-
endlichen Raumes als Form der Anschauung bezeichnet
keinen Gegenstand, sie erschöpft sich in dem Gedanken der
unbegrenzten Fortsetzbarkeit der Raumanschauung; sie
schreibt einen Progressus in infinitum vor. Das Moment
der Idee hegt hier wesentlich in der Erkenntnis dieser
unbegrenzten Fortsetzbarkeit. Dieser Sachverhalt ist die
Konsequenz der transzendentalen Ästhetik.
Anders verhält es sich mit der Idee der Totalität der
Raumerfüllung. So wenig wie die Gesetze der empirisch
bestimmten Mannigfaltigkeit der Erscheinungen aus den
transzendentalen Grundsätzen der Erfahrung abgeleitet
werden können, ebensowenig können auf dem Standpunkt
der Kritik a priori Aussagen gemacht werden über die
Grenzen des empirischen Progressus in der Anschauung
empirisch erfüllter Räume. Sofern die bestimmte
koeidstente Mannigfaltigkeit, die sich uns in der Raumform
ordnet, a posteriori gegeben ist, gilt dies auch von der
Bestimmtheit der räumlichen Verteilung. Kant selbst sagt;
„Die Ursache der empirischen Bedingungen dieses Fort-
schritts — nämlich, auf welche Glieder und wieweit
ich auf dergleichen stoßen könne , ist transzendental und
mir daher notwendig unbekannt." ^). Wenn Kant selbst die
Idee der räumlichen Totalität des Universums auf einen
progressus in indefinitum zurückführt, so scheint darin die
0 Kr. d. r. V., S. 581. 588.
«) Philo8. Kritizismus, 1. Aufl., Bd. II, S. 297.
») Kr. d. r. V., S. 404 f.
Idee und HypotheBei bei Kant. 335
Anerkennuiig der Unlösbarkeit der Frage nach den
Grenzen des Universums zu liegen; denn beim progressus
in indefinitam bin ich berechtigt und zi^leich verbunden,
"weitere GKeder aufzusuchen, wenngleich nicht voraus-
zusetzen^); es ist ein höheres Glied möglich, mithin
die Nachfrage nach einem solchen nötigt); während es
beim progressus in infinitum notwendig ist, weitere
Glieder a n z u t r e f f e n. Es wird also im letzteren Fall mehr
behauptet. Bezeichnet Kxm die räumliche Größe der Welt
durch einen progressus in indefinitum, so bleibt folgerichtig
die Frage offen, ob der progressus an s i c h begrenzt oder
unbegrenzt ist, dieses „an sich" bezogen auf die Be-
stimmtheit der koexistenten Mannigfaltigkeit
äufierer Empfindungen, die als solche gegeben,
nicht durch subjektive Synthesis erzeugt wird.
Die Frage nach der räumlichen Ausdehnung des Uni-
versums gehört also nicht zu den Fragen, die schlechthin
au%elöst werden müssen; vielmehr ist sie eine wesentlich
empirische, sofern über die gegebene Bestimmt-
heit der räumlichen Ausdehnung nichts a priori aus-
gemacht werden kann®); die Frage ist aber zugleich eine
empirisch unlösbare, indem wir nie wissen können, ob
die jeweils erreichten, sei es durch Beobachtung, sei es
durch Rückschlüsse in den Bereich unserer Erfahrung ge-
rückten äußersten kosmischen Massen die schlechthin
äußersten sind. Gesetzt auch die Möglichkeit, daß die von
uns erreichten Grenzen mit den räumlichen Grenzen des
Universums zusammenfielen, so hätten wir doch kein
Kriterium, dies zu entscheiden.
Durch sich selbst verifiziert ist also lediglich der
Begriff der absoluten Totalität der koexistenten Mannig-
faltigkeit äußerer Empfiindungen , die sich uns räumlich
ordnen. Er entsteht nicht in der von Glied zu Glied fort-
1) A. a. O. S. 415.
«) A. a. O. S. 417.
*) Wir schließen uns damit der Ansicht Sohopenhauebs, Parerga I
(Berlin 1862. S. 114) an, der auch Birhl a. a. 0. S. 296 beipflichtet.
336 Ernst Lehmann:
schreitenden empirischen Synthesis ; viekaehr entsteht er in
der Beflexion über die Eigenart dieses Prozesses. Im Licht
dieser Idee entsteht die methodische voraussetzungslose
Maxime: „Wir sollen nie die jeweilig erreichten ränmlichen
Grenzen des Universums für absolute halten, vielmehr die
Möglichkeit, weiterhin erfüllte Räume anzutreffen, un-
begrenzt offen halten/ Diese Maxime folgt aus jener Idee
der Totalität, die in dem Moment, wo sie konzipiert ist,
auch damit zugleich verifiziert ist, in der Tat ein „bloßes
Geschöpf der Vernunft^. Dagegen ist die Fra^ nach der
Begrenztheit der räumlichen Totalität eine wesentlich
empirische ; jedoch erkennen wir sie wiederum im Licht der
Idee der Totalität als eine solche, die empirisch nicht
lösbar ist. Jede hypothetische Lösung würde lediglich eine
absolut unbestimmte Möglichkeit bezeichnen *). Auch würde
eine hypothetische Annahme in der einen oder anderen
Richtung für die Erklärung kosmischer Erscheinungen voll-
ständig bedeutungslos sein. Zur Erklärung von Störungen
in den jeweils bekannt gewordenen kosmischen Systemen
können immer nur wiederum begrenzte, jeweils noch
unbekannte Systeme bzw. Himmelskörper hypothetisch an-
genommen werden. Die Naturerklärung kann mit der Idee
der Totalität schlechthin nicht in Kontakt gebracht werden.
Die wissenschaftliche Bedeutung der letzteren erschöpft sich
in der Tat in der Aufstellung der oben bezeichneten voraus-
setzungslosen Forschungsmaxime.
2. Die Idee der Totalität der vergangenen zeitllehen
Verändernngeu.
Kant behandelt das kosmologische Problem der räum-
lichen Totalität zusammen mit dem Problem der zeitlichen
Totalität der vergangenen zeitlichen Vorgänge. Es
^) In dem besonderen Fall, daß die Verteilung der Materie als
eine absolut diskontinuierliche gedacht wird, läßt sich in betreff der
Zahl der diskreten Einheiten auf Grund einer kritischen ErOrterung
des Begriffs der unendlich großen Zahl folgern, daß dieselbe eine
endliche sein müsse. Zu dem „Gesetz der bestimmten ZsihV
(DChri.no) bekennt sich auch Kant gelegentlich; vgl. Kr. d. r. Y., S. 4S5.
Idee und Hypothese bei Kant. 337
ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß dies nicht
gerechtfertigt ist. Dies zeigt im besonderen der Begriff der
leeren Zeit, der dem Begriff des leeren Raumes entsprechen
soll. Während der letztere ein vollziehbarer Gedanke ist,
kann ersterer nur als eine unwirkliche Abstraktion be-
zeichnet werden: Zeit ohne Zeiterfällung ist ein bloßes
Wort. Heben wir in Gedanken alles zeitliche Geschehen,
sowohl äußere Vorgänge wie innere Erlebnisse, auf, so bleibt
nichts zurück. Sagen wir, die Zeit fließe alsdann dennoch
weiter, so ist dies eine psychologisch bedingte Täuschung,
indem wir unvermerkt unser Bewußtsein als Substrat der
Zeitvorstellung substituieren; alsdann aber haben wir eine
erfüllte Zeit: nämlich den Ablauf unserer Bewußtseins-
vorgänge.
Der Idee der Totalität der koexistenten Mannigfaltig-
keit der äußeren Erscheinungen läßt nun KLant die Idee der
Totalität der verflossenen sukzessiven Mannigfaltigkeit ent-
sprechen. .Kant gelangt zu einem analogen Resultat: Danach
ist die Idee der Totalität vergangener Veränderungen
lediglich der Ausdruck für die subjektive Nötigung zu einem
regressus in indefinitum. Dieser gemäß sollen wir also über
jede vergangene Zeitstrecke hinaus das Vorhandensein einer
dieser vorangehenden erfüllten Zeit unbegrenzt offen
halten, ohne gleich zu behaupten, daß wir eine solche auch
in infinitum antreffen werden.
In der Tat ist dies eine durchaus voraussetzungslose
Maxime der Forschung, der gemäß wir keinen hypothetisch
angenommenen Anfangszustand der Welt (z. B. den der
KANT-LAPLACEschen Theorie) für einen absoluten halten
sollen, vielmehr uns „berechtigt" und zugleich „verbunden"
halten sollen, nach vorangegangenen Weltveränderungen zu
fragen. Auch diese Maxime bedarf keiner Verifikation durch
Tatsachen; sie trägt, wie die Idee der Totalität selbst, ihre
Verifikation in sich selbst.
Ist nicht aber gerade damit die Möglichkeit einer
wirklichen Begrenztheit offen gehalten? Und doch
schließt Kant auch hier eine solche Möglichkeit aus auf
Viertelj«hr8achriftf.wi8sen«chAftl.Philo8. u.Soz. XXXII. 3. 22
338 Ernst Lehmann:
Grund einer vermeintlichen Antinomie. Aber auch hier
gilt, wie BiEHL in seinem oben zitierten Werk anfuhrt, daß
gerade die kritische Auffassung, wonach Baum und Zeit
keine absolut realen substantieUen Wesenheiten bezeichnen,
die Schwierigkeit, die zur Behauptung der Antithesis fährt,
die Begrenzung durch den leeren Baum, die leere Zeit, ver-
schwinden läßt^). Ebenso liegt in der Behauptung des
regressus in infinitum keine Schwierigkeit, wenn man
nicht zugeben muß, daß eine unendliche Zeit bis zum gegen-
wärtigen Augenblick abgelaufen sei, daß vielmehr die Gegen-
wart stets nur einen Durchgangspunkt bezeichnet, in dem
die Zeit verläuft wie durch jeden anderen in Gedanken
festgelegten Punkt*).
Vielmehr ist auch das Problem der erfüllten Zeit, soweit
wir lediglich die Zeitform ins Auge fassen und nicht die
Kategorie der Kausalität zur Anwendung bringen, ein
wesentlich empirisches Problem, das freilich wiederum seiner
Natur nach empirisch nicht gelöst werden kann. Sofern
über die erfüllte Zeit, also die Bestimmtheit der
sukzessiven Mannigfaltigkeit a priori nichts ausgesagt werden
kann — denn die Materie der sukzessiven Empfindungs-
mannigfaltigkeit ist unabhängig von unserer Synthesis ge-
geben, also auch gegeben in bezug auf ihre Begrenzt-
heit oder Unbegrenztheit — , liegt ein absolut unlösbares
empirisches Grenzproblem vor. Beide Möglichkeiten — die
Begrenztheit wie die Unbegrenztheit — bleiben als durchaus
sinnvolle, jedoch absolut unbestimjnte Möglichkeit bestehen.
Im besonderen ist die Idee der Begrenztheit durchaus voll-
ziehbar, sobald man sich klar macht, daß das Bedürfnis,
eine „leere" Zeit dem Beginn der Veränderungen voraus-
gehen zu lassen, lediglich darauf beruht, daß wir unser
*) BiEUL a. a. 0. S. 290: „Wir werden nicht länger sagen können,
geschweige müssen, dafi die Welt durch das Leere begrenzt wird;
wir weroen vielmehr sagen, daß die leere Vorstellung des Raumes,
das bloße Schema unseres Vorstellens, durch die Welt begrenzt wird/
— Diese Betrachtung gilt auch für die Zeit.
«) A. a. 0. 8. 287.
Idee und Hypothese bei Kant, 339
Bewußtsein unvermerkt zum Substrat dieser „leeren" Zeit
machen.
Erst die Anwendtmg des Verstandesbegriffes der
Kausalität nötigt uns, diese Möglichkeit abzulehnen, so daß
wir hier das empirische Grenzproblem in einem bestimmten
Sinn lösen ^). Die Idee des durchgängigen Kausalzusanmielx«
hanges bezeichnet indes selbst direkt kein hypothetisch an-
genommenes Verhältnis an Dingen, ist vielmehr, wie weiter-
hin noch zu erörtern ist, ein heuristisches Postulat, das
allerdings die objektive Geltung einer gegenständlichen Be-
ziehung zur stillschweigenden Voraussetzung hat. Fassen
wir aber lediglich die formale Seite des Zeitproblems ins
Auge, so ist ein empirisches Grenzproblem zu konstatieren,
das als solches durch Hypothesen irgendwelcher Art nicht
zu lösen ist. Eine bestimmte Annahme in der einen oder
anderen Bichtung wäre eine völlig müßige Hypothese. Zur
Erklärung vergangener "Weltveränderungen können immer
nur wiederum relative Anfangszustände hypothetisch
vorausgesetzt werden.
3. Die Ideen in betreff der Konstitution der Materie.
Im Licht der Idee der Totalität des erfüllten Baumes,
der erfüllten Zeit ergab sich die voraussetzungslose
methodische Maxime : „Wir sollen keine Grenze , auf die
wir im Fortgang der Erfahrung stoßen, für eine absolute
Grenze halten." Die gleiche Maxime in betreff der Kon-
stitution der Materie müßte nun lauten : „Wir sollen keinen
Teil der Materie , auf den wir im Fortgang der Erfahrung
durch unmittelbare Wahrnehmung stoßen, oder den wir
hypothetisch zur Erklärung gegebener Erscheinungen voraus-
setzen, für ein absolut letztes, konstantes, nicht weiter
zerlegbares Element des äußeren Geschehens halten, sondern
die Möglichkeit weiterer Zerlegung unbegrenzt offen halten."
In diesem Sum würde die Idee der Totalität der Teilung
wiederum der Ausdruck für einen regressus in indefinitum
1) Vgl. RiEHL a. a. 0. S. 800.
22
340 Ernst Lehmann:
sein, womit aber eben gesagt ist, daß es prinzipiell un-
ausgemacht bleibt, ob der regressus in finitum oder in in-
finitom verläuft.
Kant aber überträgt bekanntlich den regressus in in-
finitum in der Teilung des mathematischen Raumes auf den
physisch erfüllten Baum. Damit aber ist das Gebiet der
voraussetzungslosen methodischen Erörterung verlassen.
Daß die Kontinuität der Raumanschauung noch nicht ohne
weiteres die Kontinuität der materiellen Raumerfollun^
involviert, gibt zwar Kant vorübergehend sowohl in der
Kritik wie in den Metaph. Anfangsgründen der Natur-
wissenschaft zu: „Durch den Beweis der unendlichen Teilbar-
keit des Raumes ist die der Matorie noch lange nicht be-
wiesen." *). In der „Kritik" weist Kant gleichwohl dieses
Bedenken wieder zurück, indem er die Möglichkeit einer
diskontinuierlichen Beschaffenheit der Materie nur für deren
intelligibles Substrat im Sinne der LEiBNizschen Monadologie
zuläßt, sie jedoch zurückweist für die Erscheintmgswelt.
Das letzte Element der Materie ist entweder räumlich aus-
gedehnt oder unausgedehnt. Denken wir es ausgedehnt, so
schließt die endliche Ausdehnung ein Mannigfaltiges der
Anschauung in sich — also, folgert Kant, auch die Not-
wendigkeit weiterer Teilbarkeit. Die Monade dagegen
kann lediglich als eine mögliche konstitutive Idee
gelten als mögliche Realität der intelligiblen Welt. Für die
Erscheinungswelt ist von regulativer Bedeutung
lediglich die Idee der unendlichen Teilbarkeit.
In den Metaph. Anfangsgründen der Naturwissenschaft sucht
Kant die Behauptung der unendlichen Teilbarkeit noch auf anderem
Wege zu begründen. Sie erscheint dort als eine Konsequenz aus der
dynamischen Auffassung der Materie. Das methodische Prinzip,
das ihn dabei leitet, ist das Prinzip der Bedingune der Möglichkeit
der Materie als eines raumerfüllenden, widerstenenaen Mediums. £s
kann hier nicht der Ort sein, den direkt geführten Beweis sowie
die Widerlegung der -Hypothese" des Kraftzentrums mit endlicher
Wirkungssphäre eingehend zu prüfen ■). Wir haben dies um so
*) Met. Anf. d. N. W., S. 44. Vgl. Kr. d. r. V., S. 423 f.
') Es gelingt Kant tatsächlich nicht, die Materie restlos in Kräfte
aufzulösen. Tefls operiert er inkonsequent mit einem beweglichen
Substrat, an dem die Kräfte angreifen; teils substantiaüsiert er die
Idee und Hypothese bei Kant. 341
weniger nötig, als Kant selbst im weiteren Verlauf der Erörterungen
daselbst den w'ert seiner Theorie lediglich darin sieht, daß sie als
-eine Mögliohkeit der anderen Möglichkeit: der Atomistik
gegenübergestellt wird, wodurch die letztere auf den Wert einer
Kypothese zurückgesetzt wird, während sie zuvor als anscheinend
notwendige Voraussetzung den Titel eines „Grundsatzes" sich an-
maßen konnte^). Methodische Gesichtspunkte verschiedener Art sind
«6, die die Kontinuitätsauffassung empfehlen, wobei anderseits ge-
wisse Vorzüge der atomistischen Aurfassung anerkannt werden, die
jener wiederum abgehen.
So bietet in der Tat die Diskussion Kanfs über die Konstitution
der Materie den Anblick eines „Labyrinths^') methodisch ungleich-
artiger Gesichtspunkte, was Kant selbst gelegentlich zugesteht. Der
Satz von der unendlichen physischen Teilbarkeit der Materie erscheint
einerseits als ein voraussetzungsloses regulatives Vemunftprinzip und
gehört darum zu den Fragen, die schlechterdings beantwortlicn sein
müssen; sodann erscheint er als Folgerung aus der d3mamischen Auf-
fassung der Materie, die ihrerseits wiederum a priori deduziert wird
aus der Bedingung der Möglichkeit der Materie; schließlich aber
erscheint derselbe lediglich als der Ausdruck einer Kontinuitäts-
hypothese, die gegenüber der atomistischen Hypothese gewisse Vor-
züge, wenngleich auch gewisse Nachteile aufzuweisen hat.
Soll der Bereich voraussetzungsloser Methode niclit
überschritten werden, so können wir lediglich die bereits
bezeichnete Forschnngsmaxime aufstellen : „Wir sollen kein
Element der Materie, auf das wir im Fortgang der Erfahrung
stoßen, als ein absolut letztes konstantes Element auffassen,
sondern die Möglichkeit weiterer Zerlegung unbegrenzt
offen halten, nicht aber ihre Notwßndigkeit be-
haupten."
Damit ist aber das Problem der Konstitution der Materie
nicht erschöpft. Fassen wir die objektiv-gegenständliche
Seite des Problems ins Auge mit Rücksicht auf das Ver-
hältnis von Idee und Hypothese. Kant selbst erkennt diese
Seite an, wenn er einerseits die Monade als mögliche
konstitutive Idee gelten läßt, anderseits seine Kontinuitäts-
«ufifassung als mögliche Hypothese der Atomistik (in der
Gestalt der Theorie der Ejraftzentra wie in der Gestalt der
Kraft seihst in unklarer Weise, so z. B. wenn er davon redet, daß
die Kraft wachse, wenn sie auf einen kleineren Baum zusammen-
fepreßt werde, wohei offenbar aus der Kraft ein elastischer
lörper gemacht wird.
>) Metaph. Anf. d. N. W., S. 83.
«) Vgl. a. a. 0. S. 48.
342 Ernst Lehmann:
Korpuskulartheorie) als einer ebenfalls möglichen Hypothese
gegenüberstellt.
Wie gestaltet sich das Verhältnis von Idee und Hypothese
in der Atomistik? Wir sehen dabei von ihren besonderen
Formen: der monadologischen wie der korpuskulartheore-
tischen ab. Denn es wäre durchaus nicht zutreffend, die
Frage nach dem Unterschied von Idee und Hypothese dahin
zu entscheiden, daß wir der unausgedehnten und darum
anschauUch nicht darsteUbaren, nur dem begriffHchen Denken
gegebenen Monade als Kraflzentrum die Bezeichnung einer
Idee, dem ausgedehnt gedachten Atom die Bezeichnung
einer Hypothese verleihen.
Das logische Charakteristikum der Idee ist hier wesentlick
das Moment des Unbedingten und nicht lediglich das
des wesentlich bloß Denkbaren, anschaulich nicht Vor-
stellbaren. Sofern wir im Begriff des Atoms als wesent-
liches Moment den Begriff eines letzten konstanten, un-
zerlegbaren Elementes der äußeren Erscheinungen setzen,
ist das Atom eine mögliche konstitutive Idee nach
dem Sprachgebrauch Kants. Daß die qualitative Ver-
schiedenheit der Materie und der materiellen Vorgänge auf
die quantitativen Verhältnisse in der Anordnung und Be-
wegung letzter konstanter, einfacher Elemente zurückgeftlhrt
werden könne, ist ein durchaus sinnvoller, vollziehbarer
Gedanke, dessen mögliche konstitutive, objektive
Geltung a priori zu bestreiten ebenso dogmatistisch ist,
wie die Behauptung der absoluten Gewißheit der
Existenz solcher letzten Elemente es ist. "Was wir a priori
aussagen können, ist nur dies eine: daß eine Verifikation
der Idee des Atoms absolut unmöglich ist. Begriffe und
Aussagen, die ein schlechthin Unbedingtes,
Absolutes aussagen, sind entweder durch sich
selbst verifiziert, oder sie sind es gar nicht. Jn
diesem Sinne ist Kant im Recht, wenn er es als unzulässig
bezeichnet, die Existenz der durch solche Begriffe und Aus-
sagen gedachten Dinge und gegenständlichen Beziehungen
Idee und Hypothese bei Kant. 343
bloß wahrscheinlich zu machen^). Die Idee des Atoms
könnte als durch sich selbst verifiziert gedacht werden,
wenn die Schlußweise der Thesis aus dem Begriff des Zu-
sammengesetzten stichhaltig wäre. Diese Schlußweise trifft
aber derselbe Vorwurf, den Kant dem ontologischen Gottes-
beweis macht. Aus bloßen Begriffen kann niemals die
Existenz von Dingen „ausgeklaubt" werden. Wir müssen
aus dem Begriff herausgehen, um uns von seiner objektiven
Gültigkeit im Reich der Dinge und Tatsachen zu über-
zeugen. Eine Verifikation durch Erfahrung ist aber gleicher-
maßen unmöglich infolge des Momentes des Absoluten in
der Idee des Atoms. Nicht, weil im "Wesen der räumlichen
Anschauung das Moment der Mannigfaltigkeit unaustilgbar
gesetzt ist, ist die Existenz letzter konstanter Elemente
unmöglich •, sondern : weil wir, wie es die Idee der Totalität
und die aus ihr entsprungene Maxime erheischt, stets die
Möglichkeit absolut offen halten müssen, deiß das, was wir
auf dem derzeitigen Standpunkt als einfach ansehen, einer
fortgeschritteneren Erfahrung als zusammengesetzt sich
erweist, ist eine Verifikation der Idee des Atoms durch
seinen Begriff ausgeschlossen. Gesetzt auch, wir stießen
im Fortgang der Naturerkenntnis auf die objektiven letzten,
konstanten, einfachen Elemente des äußeren Geschehens —
eine Möglichkeit, die a priori nicht ausgeschlossen ist — ,
80 würden diese von dem Augenblick an die bleibenden
Ausgangspunkte unserer wissenschaftlichen Forschung sein ;
alle weitere Forschung bestünde nur in der Erforschung der
verschiedenartigen Anordnung dieser Elemente und in der
') In WüNDTs System der Philosophie ist diese scharfe Trennung
von Idee und Hypothese wieder aufgegeben, indem Wundt ein Gebiet
„bleibender Hypothesen '^ (a. a. 0. S. 192) behauptet, in denen letzte
Aussagen in hypothetischer Form versucht werden. Die Philosophie
habe, meint Wcndt, dasselbe Becht, Hypothesen zu bilden wie die
empirische Einzelwissenschaft. Die wissenschaftliche Hypothese muß
indes letztlich ihre Existenzberechtigung daran erweisen, daß sie zur
Auffindung neuer Tatsachen dient: das aber ist bei metaphysischen
Hypothesen, die letzte Aussagen sein wollen, eben durch ihre Natur
ausgeschlossen. — Kant dürfte mit seiner scharfen Trennung im Kecht
bleiben.
344 Ernst LeLmann:
Auffindung der ihre Bewegung beherrschenden mathematisch
formulierbaren Gesetze. Dennoch hätten wir kein Kriterium,
um konstatieren zu können, ob die so gefundenen letzten
Elemente wirklich dies im absoluten Sinn seien, indem
für unserBewußtsein dauernd die Möglichkeit bestehen
bleibt, daß künftig einmal neue Erfahrungen diese Elemente
als komplexe Größen erweisen werden.
Operieren wir in der mathematischen Physik mit atomistischon
Vorstellungen, so ist allerdings per definitionem das Moment des
absolut einfachen Elements, z. B. des „Massenpunktes^, gesetzt;
diese Einheiten sind dann aber lediglich mathematisoh-begriffliche
Abstraktionen, deren Brauchbarkeit keinen Hückschluß gestattet auf
die objektive Existenz der bezeichneten Elemente; sie existieren nur
in der mathematischen Analyse ^).
„Nehmet an," so sagt Kant, „die Natur sei ganz vor
euch aufgedeckt . . ., so werdet ihr doch durch keine
einzige Erfahrung den Gegenstand eurer Ideen in concreto
erkennen können; denn es wird außer dieser vollständigen
Anschauung noch eine vollendete Synthesis und das Be-
wußtsein ihrer absoluten Totalität erfordert,
welches durch gar kein empirisches Erkenntnis möglich ist." ^)
So wenig der Beweis der Antithesis gegen die Existenz
der Atome aus der Teilbarkeit des Raumes, den sie ein-
nehmen sollen, befriedigt, so ist doch der Beweis, den
Kant für die Unmöglichkeit des Beweises ihrer Existenz
daselbst liefert, absolut streng und in dem Wesen der Idee
des Atoms als einer absolut letzten Einheit begründet. „Da
(nun) von dem Nichtbewußtsein eines solchen Mannigfaltigen
(wir fügen interpretierend hinzu : auf dem jeweiligen Stand-
punkt unserer Naturerkenntnis) auf die gänzliche Unmöglich-
keit desselben in irgendeiner Anschauung eines Objekts kein
Schluß gilt, dieses letztere aber zur absoluten Simplizität
*) Vgl. PüiNCAnfe, Wissenschaft und Hypothese, S. 154: „In den
meisten Fragen setzt der Analytiker im Anfang seiner Berechnung
entweder voraus, daß die Materie kontinuierlich ist, oder daß sie aus
Atomen zusammengesetzt sei. Er könnte das Umgekehrte tun, und
seine Resultate würden sich deshalb nicht ändern . . . Wenn also
das Experiment seine Schlußfolgerungen bestätigt, wird er dann
z. B. glauben, die wirkliche Existenz der Atome bewiesen zu haben ?^
«) Kr. d. r. V., S. 895 f.
Idee und Hypothese bei Kant. 345
durchaus nötig ist, so folgt: daß diese aus keiner Wahr-
nehmung . . . könne geschlossen werden" *).
Nicht in der Eigenart der Baumanschauung,
nein in der prinzipiell erkannten Unabgeschlossen-
heit unserer Wissens chaftlicJien Erfahrung liegt
die Unmöglichkeit — nicht der Existenz der
Atome — , sondern des Beweises ihrer Existenz
begründet.
Dagegen können wir der Idee des Atoms eine regulative
Bedeutung zuerkennen , sofern wir unter ihrer Anleitung
bestrebt sind, alle qualitative Verschiedenheit des materiellen
Substrats und der materiellen Vorgänge auf quantitative
Beziehungen zwischen gleichartigen konstanten Elementen
zurückzuführen. Dabei fügen wir hinzu: „so weit als
möglich". Indem wir dies tun, machen wir keine be-
stimmte Voraussetzung über das objektive Vorhandensein
solcher letzter Elemente; vielmehr stellen wir damit nur
eine heuristische Maxime auf, mit der wir an das Studium
der Natur herantreten, und deren Empfehlung liegt in der
gröfitmöglichen Ordnung und Übersicht über die
Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen, die unser Einheits-
bedürfiiis — oder wenn man will: unser Streben nach
intellektueller Naturbeherrschung — fordert.
Sofern es gelingt, bestimmte, uns bisher bekannt ge-
wordene Verschiedenheiten der Materie durch die Annahme
relativ letzter Elemente — chemischer Atome, Elektronen —
zu erklären, gewinnt das Atom als relativ letzte Einheit
die Bedeutung einer Hypothese. Hier bleibt das Interesse
lediglich auf die zu erklärenden bestimmten Erscheinungen
gerichtet. Die zur Erklärung gemachten Voraussetzungen
haben nur als solche, d. h. einen relativen Wert, um so
mehr, wenn es sich zeigt, daß andere Voraussetzungen
möglich sind.
Das spesdelle Problem, dem die atomistische Hypothese auf dem
Standpunkt der Naturwissenschaft Kants dient, ist die Verschiedenheit
der Dichte der Materie. Diese wird erklärt durch die verschiedene
') Kr. d. r. V., S. 368.
346 Ernst Lehmann:
Anordnung und Verteilung absolut dichter Korpuskeln im absolut-
leeren Baum. Diese Annahme genügt , wie Kamt selbst zugibt, dem.
ersten Kriterium einer brauchbaren Hypothese, demgemäß die hypo*
thetischen Elemente anschaulich konstruierbar, „möglich'' im syn-
thetischen Sinn der -Kritik" sein müssen. „Die Möglichkeit der Ge-
stalten sowohl als der leeren Zwischenräume läßt sich mit mathe-
matischer Evidenz dartun."') Die Korpuskularhypothese gestattet
die spezifische Verschiedenheit der Dichte zu „konstruieren" *). (Es-
ist bekannt, daß die atomistische oder besser: die KorpueJcular-
hypothese denselben Dienst in weit fruchtbarer Weise in der neueren
Diszi]}lin der Stereo chemie leistet.) Das von Ejlnt allein gebrauchte
Beispiel der Anwendung zeigt indes auch schon deutlich den Unter-
schied von Idee und Hypothese. Zur Erklärung der Verschiedenheit
der Dichte genügt es vollkommen, das Moment des Absoluten auf die
Dichte allein zu beziehen. Weder die Annahme der Gleichartigkeit
des materiellen Substrats noch viel weniger die Annahme der physischen
Unteilbarkeit der absolut dichten Korpuskeln ist durch das spezielle
Problem gefordert. Der Naturerklärung genügt stets die Annahme
relativ letzter, relativ konstanter Elemente.
Das Atom wird wieder zur Idee, sobald es gedacht
wird als „Erklärung einer ins Unendliche möglichen
spezifischen Verschiedenheit der Materie"*).
Wie gestaltet sich nun das Verhältnis von Idee und Hypo-
these in bezug auf die Kontinuitätsauffassung, im be-
sonderen die dynamische Kants ? Für Kant hat die Idee der
unendlichen Teilbarkeit die Bedeutung eines regulativen
Prinzips. "Wir sahen, daß als Forschungsmaxime zunächst
nur die Forderung gelten kann, daß wir die Möglichkeit
weiterer Teilung unbegrenzt offen halten sollen. Damit ist
also die Möglichkeit einer kontinuierlichen Beschaffen-
heit der Materie ebenfalls offen gehalten. Im Recht bleibt
Kant aber, wenn er in der Kritik die Brauchbarkeit der
Kontinuitäts i d e e als Erklärungshypothese bestreitet.
„Ihr würdet die Erscheinungen eines Körpers nicht im
mindesten besser oder auch nur anders erklären können^
ob ihr annehmt, er bestehe aus einfachen oder durchgehends
immer aus zusammengesetzten Teilen; denn es kann auch
keine einfache Erscheinung und ebensowenig auch eine^un-
endliche Zusammensetzung jemals vorkommen." *) — Fassen
M Met. Anf. d. N. W., S. 84.
2) A. a. 0. S. 85.
») A. a. 0. S. 100.
*) Kr. d. r. V., S. 396.
Idee und Hypothese bei Kant. 347
wir die besondere Gestalt der Kontinuitätsauffassung : die
dynamische der „Metaph. Anf.gründe der Nat. Wissen-
schaft*" ins Auge, so zeigt sich, daß es letztlich gewisse
methodische Motive sind, die Kant zur Aufstellung seiner
dynamischen Theorie veranlassen; nur sekundär ist ihre
Verwendung als Erklärungshypothese. Die Ver-
schiedenheit der Dichte der Materie läßt sich aus der Ver-
schiedenheit der Intensitätsgrade der repulsiven Kräfte, die
das Wesen der Raumerfüllung ausmachen, erklären. Doch
sieht auch Kant, daß eine fruchtbare Verwendung dieser
Ansicht zur Erklärung der Einzelerscheinungen nicht möglich
ist, indem sie nicht gestattet, die Verschiedenheit des
materiellen Substrats anschaulich zu konstruieren. Die
dynamische Ansicht genügt also letztlich auch nicht dem
ersten Kriterium der Hypothese: der „Möglichkeit" der
hjrpothetischen Elemente. Die „Möglichkeit" der örund-
kräfte kann nicht eingesehen werden; sie sind als solche
ia keiner möglichen Wahrnehmung gegeben und lassen sich
in keiner Anschauung konstruieren, während die Möglichkeit
absolut dichter Korpuskeln und der absolut leeren Zwischen-
räume sich mit „mathematischer Evidenz" konstruieren läßt.
Wir hoben denn auch bereits hervor, daß Kant unvermerkt
anschauUche Elemente einfließen läßt, indem ihm die repulsive
Kraft unter der Hand zu eiaem repulsive Kraft ausübenden
elastischen Körper wird, dessen Widerstand durch Kom-
pression wächst. Die methodischen Motive, die zu
dem Versuch der dynamischen Theorie fuhren, treten am
deutüchsten in der &itik der mechanischen Korpuskular-
theorie zutage. Letztere, so fährt Kant aus, gestattet .der
Phantasie in der ursprünglichen Konfiguration des Grund-
stoffs und der Einstreuung leerer Bäume mehr Freiheit im
Felde der Philosophie, „als sich wohl mit der Behutsamkeit
der letzteren zusammenreimen läßt^ ^). Deshalb ist einer
Auffassung, die solches Hypothesenspiel entbehrlich macht,
der Vorzug zu geben. Damit hängt zusammen das andere.
») Met. Anf. d. N. W., S. 85.
348 Ernst Lehmann:
methodische Prinzip, demgemäß die Vemunft bestrebt ist,
nach Möglichkeit absolute und darum beziehungslose Größen
in relative Beziehungen aufzulösen. „Das absolut Leere
und das absolut Dichte sind in der Naturlehre ohngefakr
das, was der blinde Zufall und das blinde Schicksal in der
metaphysischen Weltwissenschaft sind, nämlich ein Schlag-
baum für die herrschende Vernunft"^). Die
absolute Undurchdringlichkeit ist eine „qualitas occulta" *),
an deren Stelle die dynamische Auffassung relative Un-
durchdringlichkeit und damit die Möglichkeit setzt, Be-
ziehungsgesetze aufzustellen, nach denen „der Widerstand
in dem erfüllten Baume (seinen) Graden nach abgeschätzt
werden kann**^). Die „dynamischen Erklärungsgründe"
verdienen also den Vorzug, „weil diese allein bestimmte
Gesetze, folglich wahren Vemunftzusammenhang der Er-
klärungen hoffen lassen" *).
Daß aber gerade die atomistische Vorstelluiig in der Entwicklung
der exakten Naturwissenschaften nach Kant ein äußerstes fruchtbares
Hilfsmittel zur Auffindung von Gesetzen liefern sollte, konnte ELaxt
auf dem damaligen Standpunkte der Naturwissenschaft nicht ahnen.
So wenie auch das iCANTSche Prinzip der Deduktion aus der
.Möglichkeit der Materie'' in seiner apriorisch-apodiktischen Form als
Grundlage einer Naturphilosophie heute von Bedeutung sein kann,
so ist doch gerade das zuletzt bezeichnete methodische Grundmotiy
ein eminent modernes und erinnert an die methodische Auffassung
Mach8, der Beziehungsgesetze an die Stelle absoluter Substanzen
gesetzt haben will und gleich Kakt die Atomistik als phantastisch
T^erwirft. Es ist hier indes nicht der Ort, die Berechtigung bzw. die
Grenzen der Berechtigung dieses Prinzips zu diskutieren.
Es hat sich uns gezeigt, daß in den Erörterungen Kants
über das Problem der Konstitution der Materie methodisch
sehr ungleichartige Betrachtungsweisen in zum Teil sehr
unklarer Weise ineinander verwoben sind. Heben wir in
kurzen Zügen das ßesultat hervor: Wir unterscheiden an
dem Problem wiederum eine methodische und eine gegen-
ständlich-faktische Seite.
Als methodische Prinzipien ergaben sich:
^) A. a. 0. S. 99.
«) A. a. 0. S. 41.
») A. a. 0. S. 42.
<) A. a. 0. S. 104.
Idee und Hypothese bei Kant. 34^
1. die einzig voraussetzun^slose Maxime, die aus der
Idee der Totalität entspringt: „Wir sollen kein Element der
Materie, auf das wir im Fortgang der Naturerkenntnis,
stoßen, für ein absolut letztes, konstantes, imzerlegbare&
halten, vielmehr die Möglichkeit weiterer Zerlegung un-
begrenzt offenhalten." — Dieses Prinzip steht den be-
sonderen Anschauungen über die Konstitution der Materie^
völlig indifferent gegenüber.
2. Dem Streben nach möglichster systematischer Ein*
heit entspricht der Grundsatz: „Wir sollen die qualitative
Verschiedenheit der Materie und materiellen Vorgänge so
weit als möglich in quantitative Verhältnisse der Anzahl,
Gestalt, Lage und Bewegung einfacher Elemente aufzulösen
suchen." Insofern die Atomistik diesem Streben diente
ist sie das Symbol einer heuristischen Forschungsmaximer
die an sich nicht voraussetzungslos ist, weshalb wir hinzu-
setzen: „so weit als möglich", d. h. so weit es die
empirische Bestimmtheit der Naturerscheinungen
zuläßt, wobei a priori wieder gewiß ist, daß wir niemals
solche absolute Gh-enzen der Möglichkeit quantitativer
Auflösung konstatieren können; für uns bleibt diese Möglich-
keit unbegrenzt offen.
3. Die Behauptung absoluter Größen imd Eigenschaften
ist mit äußerster Vorsicht nur zu wagen. Es bleibt immer
zu erwägen, ob sie nicht ein willkürliches Abbrechen mög-
licher Einsicht „einen Schlagbaum für die Vernunft" be-
deutet. Wo es gelingt, absolute Größen in relative auf-
zulösen, ist einem solchen Versuch der Vorzug zu geben ^
denn die Geschichte der Wissenschaft zeigt genügend Bei-
spiele solcher willkürlicher „Machtsprüche" ^), die von einer
fortschreitenden Erkenntnis als solche erkannt wurden.
Diesem methodischen Grundsatz dient ICants Versuch einer
dynamischen Theorie mit ihrer Auflösung absoluter Sub-
stanzen und deren absoluten Eigen schafben in Kräfte und
gesetzmäßige Beziehungen.
>) Vgl. Kr. d. r. V., S. 535.
350 Ernst Lehmann:
IL Das gegenständliche Problem teilt sich wieder
in zwei spezielle Probleme:
1. Die Atomistik im besonderen ist eine Hypothese
und bezieht sich auf mögliche Gegenstande der Erfahrung,
sofern wir Anlaß haben, eine bestimmte Erscheirnrngs-
gruppe zurückzufahren auf die quantitativen Verhältnisse
relativ einfacher konstanter Elemente. (Als solche galten
die chemischen Elemente, so lange bis die Überfuhrbarkeit
derselben ineinander und ihre komplexe Beschaffenheit in
den Bereich der Erfahrung trat.)
2. Das Atom bezeichnet eine mögliche konstitutive
Idee, indem es die objektive Möglichkeit absolut letzter,
konstanter, unzerlegbarer Elemente der äußeren Vorgänge
bezeichnet. Daß der empirische Begressus der Auflösung
komplexer Naturerscheinungen objektiv begrenzt ist, ist eine
a priori ebenso zulässige Annahme wie die Annahme, daß
derselbe unbegrenzt sei. Das absolute Kontinuum — etwa
nach Art der Theorie W. Thomsons — wie die letztlich
diskontinuierliche Beschaffenheit des materiellen Substrats
bezeichnen zwei gleichberechtigte Möglichkeiten, die ihrer
Natur nach aber dem Gebiet mehr oder weniger wahr-
scheinlicher Hypothesen absolut entrückt sind. Solche
Ideen können nicht als philosophische Hypothesen mehr
oder weniger wahrscheinlich gemacht werden. Idee und
Hypothese verhalten sich wie das Unbedingte zum Be-
dingten.
4. Die Ideen des durchgängigen Kausalzusammenhangs,
der Homogeneltät , Spezifikation, Kontinuität und Nator-
zweckmäfslgkelt.
Die Ideen, die wir im folgenden auf ihre methodische
Bedeutung und den Grad ihrer Unabhängigkeit von
Voraussetzungen gegenständlich -faktischer Natur prüfen
wollen, sind im eminenten Sinne regulative, heuristische
Prinzipien.
Idee und Hypothese bei Kant. 351
a) Die Idee des durchgängigen Kausalzusammen-
hanges.
Die Idee des durchgängigen Kausalzusammenhanges
fugt dem Gedankengehalt der Kategorie der Kausalität nichts
Neues hinzu. In der Konzeption dieser Idee findet lediglich
ein Bewußtwerden der Eigenart der Verstandesfunktion der
Kausalität statt. Indem der Kausalbegriff nach Kant die
Bedingung der Möglichkeit einer objektiven Sukzession ist
und als solche erkannt wird, ist die unbedingte Geltung
im Feld der Erscheinungen in ihrer (ganzen) Totalität
mitgesetzt. Die unbedingte Allgemeingültigkeit in
der Totalität aller zeitlichen Vorgänge ist nur die logische
Folge der Notwendigkeit der kausalen Verknüpftmg
im einzelnen Fall. Die Idee des durchgängigen Kausal-
zusammenhangs erscheint daher dem Grundsatz der Kant-
sehen Ideenlehre in eminentem Sinn zu entsprechen, daß
die Vernunft in der Bildung der Ideen lediglich mit sich
selbst beschäftigt ist, indem der Gegenstand außer dem Begriff'
nicht angetroffen wird. Die Idee des Kausalzusammenhangs
biigt also danach kein gegenständliches Problem; vielmehr
wird uns die Natur in ihrem Licht allererst ein objektiver
Gegenstand, während sie ohne dieselbe ein Spiel von Vor-
stellungen ist, „weniger als ein Traum". — Es kann hier
nicht eine eingehende Kritik der KANTschen Kausalitätstheorie
gegeben werden. Doch erheben sich gerade unter den
Gesichtspunkten unserer Untersuchung bestimmte Fragen.
Nach Kants eigener Lehre kann die „unermeßliche
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen aus der reinen Form
der sinnlichen Anschauung nicht begriffen werden*). Die
Bestimmtheit der Koexistenz und Sukzession gehört auf die
Seite der Materie der Erscheinung. Das gilt auch von
der sukzessiven Mannigfaltigkeit im besonderen. Wenn
BiEHL *) meint, daß Kant selbst diesen Unterschied zwischen
Materie und Form auch bezüglich des Kausalprinzips aufrecht-
M Kr. d. r. V., S. 135.
«) A. a. 0. S. 417 f.
252 Ernst Lehmann:
erhalte, so trifft dies nicht zu. Riehl meint, fär Kant bleib»
die Möglichkeit durchaus bestehen, daß allenfalls Er-
scheinungen so beschaffen seien, daß der Verstand sie den.
Bedingungen seiner Einheit ga<r nicht gemäß fände, indem
„alles so in Verwirrung läge, daß z. B. in der Reihenfolge
der Erscheinungen sich nichts darböte, was eine Regel der
Synthesis an die Hand gäbe und also dem Begriff der Ur-
sache und Wirkung entspräche" *). Hier übersieht Riehl,
daß die Erörterung dieser Möglichkeit der transzendentalen
Deduktion der KÄtegorien vorangeht, welche alsdann
jene Möglichkeit beseitigt. Sachlich aber müssen wir
Riehl zustimmen, wenn er meint, damit, daß das Prinzip
der Kausalität sich als unentbehrlich beweisen lasse zur
Herstellung von Wissenschaft, sei seine objektive Gültig-
keit im Reich der Dinge und Tatsachen noch nicht verbürgt.
Riehl fragt mit Recht: „Müssen denn die Erscheinungen
begreiflich sein?"*) Jene von BIant als vorläufig hin-
gestellte Möglichkeit bleibt bestehen; sie kann auch durch
keine transzendentale Methode aus der Welt geschaflfti werden*
Denn die Sukzession ist stets eine bestimmte, und darum
auch die regelmäßige Sukzession. Wäre die bestimmte
Sukzession völlig chaotisch, so würde die kausale Synthesis
keine Gelegenheit zur Entfaltung haben. Die Idee des
durchgängigen Kausalzusammenhangs involviert also eine
Voraussetzung faktischer Natur. Die Autonomie der
Vernunft als Inbegriff der Methoden der Erkenntnis erschöpft
sich also in der Konzeption der Idee des durchgängigen
Kausalzusammenhangs als eines Postulates. A priori
läßt sich nur zeigen: 1. daß dasselbe nicht aus Erfahrung
bewiesen werden kann; diese zeigt nur komparative All-
gemeinheit, und sie wiederum könnte zufällig sein, 2. daß
dieses Postulat aber ebensowenig durch Erfahrung je wider-
legt werden kann; denn träte unter denselben objektiven
Bedingungen eine bisher beobachtete Erscheinung einmal
') Kr. d. r. V., S. 107 f.
•) RiBHL a. a. 0. S. 258.
Idee nnd Hypothese bei Kant. 353
nicht ein, so hätten wir doch nicht die Möglichkeit zu ent-
scheiden, ob dieses Ausbleiben nicht dnrch eine neue uns
unbekannte Bedingung, die hier im Spiel ist, veranlaßt
sein könnte, ob also wirklich nicht mehr und nicht weniger
Bedingungen erfüllt sind als in den früher beobachteten
Fällen ; 3. erkennen wir a priori, daß, trotzdem das Kausal-
gesetz weder streng verifiziert noch auch je widerlegt werden
kann, dasselbe dennoch die notwendige Bedingung der
Möglichkeit wissenschaftlicher Erfahrung ist.
Die bezeichnete, an die faktische Regelmäßigkeit im
Reich der gegebenen bestimmten sukzessiven Mannigfaltig-
keit geknüpfte Voraussetzimg der Oültigkeit des Kausal-
postnlates zum Gegenstand einer Hypothese zu machen,
wäre dabei offenbar völlig sinnlos. Es wäre eine völlig
müfiige Hypothese, die als solche weder verifiziert, noch
widerlegt werden könnte und zur Erklärung der beobachteten
Regelmäßigkeit nichts beibringen würde.
b) Die Ideen der Homogeneität, Spezifikation
und Kontinuität,
Die Idee des Kausalzusammenhanges war ftir Kant von
apodiktischer Gültigkeit. Sie bietet das Beispiel eines
„apodiktischen Vemunftgebrauchs , da das Allgemeine an
sich selbst gewiß ist und das Besondere nur daraus ab-
geleitet zu werden braucht" *). Demgegenüber sieht auch
Kant in den Ideen der Homogeneität, Spezifikation und
Kontinuität regulative Ideen von unbestimmter Trag-
weite ihrer Geltung im Reich der Tatsachen •, sie sind Bei-
spiele eines „hypothetischen" Vemunftgebrauches. Wir
sollen an ihrem Leitfaden „so weit als möglich" in die Er-
scheinungen eindringen. — Die Idee der Homogeneität
fordert uns auf, so weit als möglich Ungleichartiges auf
Gleichartiges zurückzufuhren. Das, was wir oben als
regulative Idee der Atomistik bezeichneten, wäre also ein
Spezialfall' der Idee der Homogeneität. — Die Forderung
») Kr. d. r. V., S. 505.
ViertelJahrsMhrift f. wUsenschuf tl. PhUo«. u. Soziol. XXXII. 2. 28
354 Ernst Lehmann:
gipfelt in der Idee eines GhnindstoflPes und einer Gmndkraft,
auf die wir die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, so weit
als möglich, zurückführen sollen. In welchem Ver-
hältnis steht die Idee der Homogeneität zur Bestimmtheit
gegebener Erscheinungen? Es bestünde die Möglichkeit,
in ihr lediglich den Ausdruck eines denkökonomischen
Grundsatzes*) zu erblicken. Aber, so fragt Kant, würde
man damit nicht vielleicht eine Idee an die Natur heran-
tragen, die ihrer Einrichtung widerspräche*)? Eine
wenigstens relative, begrenzte Gleichartigkeit in den Er-
scheinungen muß als Bedingung der MögHchkeit empirischer
Begriffe der Arten und Gattungen vorausgesetzt werden.
Das Faktum dieser empirischen Begriffe wäre nicht möglich,
wenn die Natur nicht eine solche relative Vergleichbarkeit
ihrer Erscheinungen aufwiese. In diesem Sinn kann eine
relative Homogeneität als Bedingung der Möglichkeit der
Erfahrung angesehen werden. Wie weit dieselbe aber
reicht, läßt sich a priori nicht sagen. Wir bilden die Idee
des Grundstoffs und der Grundkraft, indem wir die relative
Gleichartigkeit, die wir in der Natur finden, in Gedanken
zu einer absoluten machen. Sie entsteht also auf Ver-
anlassung der bestimmten Beschaffenheit der gegebenen
Mannigfaltigkeit. Sie bezeichnet eine voraussetzungs-
lose Forschungsmaxime, sofern wir den Zusatz
machen: „soweit als möglich". Sie bezeichnet eine mög-
liche konstitutive Idee, sofern wir den Gedanken
vollziehen können, daß die absolute Einfachheit des Grund-
stoffs und der Grundkrafb ein objektives Gesetz der Natur
ist. Wiederum schließt aber das Moment des Absoluten
die Anwendbarkeit des Begriffes der Hypothese aus,
indem es absolut ungewiß bleibt, ob die Natur absolut
einfach ist oder nicht*). Die Naturwissenschaft operiert in
») Kr. d. r. V., S. 507.
«) A. a. 0. S. 508.
^ Die fortschreiten do Naturerkenntnis zeiget häufig, daß früher
aufe^estellte Gesetze nur sehr annähernd gttltig sind, dafi sie den
Sachverhalt zu einfach erscheinen ließen; ^isätze, Einschränkungen
Idee und Hypothese bei Kant. 355
ihren Hypothesen, sofern sie wissenschaftHch brauchbar
sind, nur mit einer relativen Gleichartigkeit 5 so vereinigt
sie gegenwärtig die Gebiete der Optik und Elektrizität zu
einem Gebiet qualitativ gleichartiger Erscheinungen, deren
Unterschiede nur quantitativer Natur sind. Die Ideen eines
Grundstoffes und einer Grundkraft dagegen sind ihrer
Natur nach unverifizierbar , ebenso freilich auch unwider-
legbar.
Ergänzt wird die Idee der Homogeneität durch die der
Spezifikation. Sie schränkt die erstere ein, indem sie
einer voreiligen, imberechtigten Vereinfachung entgegentritt
und die Möglichkeit einer Differenzierung in unbestimmte
Weite offenzuhalten gebietet. In dieser Funktion bezeichnet
sie eine voraussetzungslose Forschungsmaxime. Wie weit
dagegen der Prozeß der Differenzierung reiche, ist wiederum
ein seiner Natur nach unauflösbares, empirisches Grenz-
problem. Es ist a priori nicht zu lösen, weil der Gegen-
stand außerhalb des Begriffes hegt; es ist empirisch nicht
zu lösen, weil die absolute Totalität kein möglicher Gegen-
stand der Erfahrung ist. Der Gegenstand beider Ideen liegt,
wie Kant hier ausdrücklich zugibt, „viel zu tief ver-
borgen** *).
Als eine Vereinigung der beiden vorigen Ideen er-
scheint die Idee der Kontinuität: Sie vereinigt beide,
indem sie „bei der höchsten Mannigfaltigkeit dennoch die
Gleichartigkeit durch den stufenförmigen Übergang von
einer Spezies zur anderen vorschreibt" ^j. Bei ihr ist es
besonders deutUch, daß die Ideen nicht aus der Natur direkt
ergeben ein weit komplizierteres Gesetz. Dennoch ist eine relative
Einfachheit Voraussetzung der Forschung. Ein anschauliches Beispiel
liefert, wie PoiNCARfi a. a. 0. S. 147 f. ausführt, das Verfahren der
Interpolation. „Die Punkte, welche unsere Beobachtungen darstellen,
verbinden wir durch eine kontinuierliche, möglichst regelmäßige
Linie. Warum vermeiden wir dabei scharfe Ecken und zu plötzliche
Wendungen?" Wir tun es in Verfolguiig jener Eorschungsmaxime,
die uns veranlaßt, so weit wie möglida Einfachheit in der Natur
zu suchen.
>) Kr. d. r. V., S. 519.
«; A. a. 0. S. 514.
23*
356 ETDst Lehmann:
geschöpft werden und auch nicht zoxa Gegenstand einer
Hypothese gemacht werden können. Die Idee des absoluten
Kontintrams ist, wie schon bemerkt, ein bloßes Geschö|tf
der Vemonft. Ob dabei z. B. die Materie an sich ein
solches strenges KoDtinnom bildet, bleibt eine dnrchans zu-
lässige, ihrer Natur nach aber absolut unlösbare Frage. Die
Erfahrung gibt uns nur diskontinuierliche Mannigfaltigkeiten*
Die „Sprossen" derselben, „so wie sie uns Erfahrung an-
geben kann, stehen viel zu weit auseinander, und unsere
vermeintlich kleinen unterschiede sind gemeiniglich in der
Natur selbst weite Klüfte**). — GhegenstandderHypothesen-
büdung kann nur sein die Interpolation einer immer nur
bestimmten, begrenzten Zahl von Zwischengliedern, die wir
suchen und erwarten. Die Idee der Kontinuität besagt
dabei, daß wir die Möglichkeit weiterer Zwischenglieder
unbegrenzt offenhalten sollen. Sie schreibt einen progressns
in indefinitum vor. In diesem Sinne ist sie eine voraus-
setzungslose Forschungsmaxime. Nur in der An-
wendung auf die Formen der Anschauung: Raum und
Zeit bedeutet die Idee der Kontinuität mehr: sie bezeichnet
einen progressus in infinitum. In diesen wie in den
stetigen Funktionen der Mathematik gebietet die Idee der
Kontinuität, ohne daß ihr empirische Schranken gesetzt sind.
c) Die Idee der Naturzweckmäßigkeit.
Eine besondere Stellung in der Gruppe regulativer
Ideen, die wir gegenwärtig betrachten, nimmt die Idee der
Naturzweckmäßigkeit ein. Entsprachen den vorgenannten
Ideen relative in der Erfahrung begründete Begriffe, an die
sie anknüpften, indem sie den in ihnen begonnenen Fto-
gressus zum Abschluß brachten in der Idee der Totalität,
so entspricht der Idee der Natnrzweckmäßigkeit streng ge-
nonnnen kein empirisches Ausgangsglied. Der Moment der
Idee liegt nicht in dem Moment des „Maximums ** '), das als
n A. a. 0. S. 519 f.
•) Kr. d. r. V., S. 283.
Idee und Hypothese bei Kant. 357
solcLes in der Erfahrung niemals dargestellt werden kann.
Yielmehr liegt im Begriff des Natnrzwecks selbst das
Moment der Idee, indem derselbe als ein übersinnlicher
Bestimmnngsgmnd gedacht wird. Als solcher kann er in
keiner möglichen Erfahrung gegeben werden; denn wir
beobachten Zwecke in der Natur aJbs absichtliche überhaupt
nicht. Kakt gibt dieser SondersteUimg Ausdruck, indem er
das Prinzip der Naturzweckmäßigkeit als ein Vernunft-
prinzip nicht für den Verstand, sondern für die „Urteilskraft"
bezeichnet. Wir beurteilen gewisse Erscheinungen der
Natur so, als liege die Bedingung ihrer Möglichkeit in einem
zwecksetzenden Prinzip als einem übersinnlichen Be-
stimmungsgrund.
Sehen wir aber näher zu, so zeigt sich, daß das
Prinaip der Naturzweckmäßigkeit bei Kant ein schwer faß-
bares Mittelding zwischen einem methodischen
Forschungsprinzip und einer metaphysischen
Hypothese ist. Im Prinzip scheidet zwar Kant scharf
zwischen Beurteilung und Erklärung« Die Idee der
Katnrzrt^eckmäßigkeit soll kein Erklärungsprinzip sein. Sie
kann es nicht sein, da die „Möglichkeit des Naturzwecks
als eines realen Faktors, als Naturkraft nicht eingesehen
werden kann. „Selbst zur gewagtesten Hypothese muß
wenigstens die Möglichkeit dessen, was man als Grund an-
nimmt, gewiß sein" *)• Deshalb ist der „Realismus der
Naturzwecke" und im besonderen der Hylozoismus eine
Annahme, die völlig müßig, ja sinnlos ist. „Der Hylozoismus
ist der Tod aller Naturphilosophie". Er nimmt als Er-
klämngsgrund etwas, von dem man gar nichts versteht.
Sofern die Aufgabe der theoretischen Naburforsohung die
Erklärung der Erscheinungen ist, ist der Begriff des
Natttczwecks eia „Fremdling in der Naturwissenschaft" ^).
Über die Entstehung und die innere Möglichkeit der
organisierten Naturprodukte gibt die Zweckbetrachtung gar
^) Krit. der Urteilskraft (Rkklam), S. 279.
«) A. a. 0. S. 274.
358 Ernst Lehmann:
keinen Aufschluß, und darum ist es der theoretischen Natur-
wissenschaft doch eigentlich zu tun*). Wir bedürfen aber
der Beurteilung nach dem Prinzip der Zwecke, um uns
überhaupt erst die empirische Eigenart organisierter Körper
gegenständlich zu machen. Wir bedürfen derselben bereits
zur Beschreibung der organisierten Produkte. Wir
können die spezifisch eigentümliche Einheit, zu der die
Teüe eines Organismus verbunden sind, nicht anders
definieren als mittels der Einheit des Zweckes. Die
Stellung des Teils im Organismus wird bestimmt durch die
Punktion, die er zur Erhaltung des Systems ausübt. Der
Begriff der Erhaltung ist bereits eine teleologische
Kategorie, Die Idee der Zweckmäßigkeit wird infolgedessen
auch zu einer leitenden Idee der Beobachtung. Treffen wir
ein neues Organ an, so wird es uns erst verständlich, wenn
wir feststellen können, welche Funktion es zum Zweck der
Erhaltung des Individuums oder der Art verrichtet.
Besagt die Idee der Zweckmäßigkeit nicht mehr, so
ist sie aUerdings ein rein methodisches Prinzip ohne irgend-
welchen irrationalen Tatsachenrest. Sie ist als methodisches
Regulativ durch sich selbst verifiziert.
Ist dem aber so, so kann dieses Prinzip mit
dem Prinzip der mechanischen Erklärung nicht
kollidieren, da die Zweckbetrachtung keine Erklärung
sein will. Der mechanischen Erklärung der Entstehung
organisierter Körper und der Vorgänge in ihnen dürfte
alsdann schlechterdings keine Schranke gesetzt werden, da
zwei parallel gehende Betrachtungsweisen nicht kollidieren.
In Wahrheit aber führt Kant diese Sonderung nicht durch.
Er ordnet die mechanische Erklärung der teleologischen
unter, sofern er die mechanischen Gesetze, die wir an
organisierten Produkten finden imd finden werden, ledighch
als Mittel bezeichnet, in denen sich ein Naturzweck
realisiert. Er setzt weiterhin, was noch wichtiger ist, der
mechanischen Erklärung Schranken, die er als Schranken
*) A. a. 0. S. 306.
Idee und Hypothese bei Kant. 359
unseres Erkenntnisvermögens bezeiclinet, während es in
Wirklichkeit nicht ausgemacht ist, ob jene Schranken nicht
lediglich Schranken der jeweiligen Natureinsicht sind, die
im Fortgang der Forschung überwunden werden. Behauptet
B[ant, daß die Entstehung des Grashalmes, der spezifischen
Beschaffenheit der Materie in oiganisierten Körpern nie
erklärt werden könne, so macht er damit den Naturzweck
wiederum zu einem realen Faktor, Kant selbst stellt be-
kanntlich eine Entwicklungshypothese auf, in der er
mechanischen Faktoren Rechnung trägt; dabei macht er
aber Halt vor einer „ursprünglichen Organisation", deren
mechanische Erklärbarkeit er bestreitet*). Ist aber die
teleologische Betrachtung nur eine Beurteilungsart von
heuristischer Bedeutung, so kann sie der mechanischen Er-
klärang auch nicht durch die Behauptung einer „urprüng-
hohen Organisation" Halt gebieten. Tut sie dies bei Kant
dennoch, so ist dies teleologische Prinzip unter der Hand
wieder zu einer metaphysischenHypothese geworden.
Diese trifft allerdings dann derselbe Vorwurf, den Kant
dem „Realismus der Naturzwecke" macht. Die Behauptung
einer ursprünglichen, mechanisch nicht erklärbaren Organi-
sation ist eine ihrer Natur nach unverifizierbare Hypothese.
Wenn Kant behauptet, ein Gewächs verarbeite die Materie,
die es aufnimmt, zu spezifisch eigentümlicher Beschaffen-
heit, die der Naturmechanismus nicht liefere, so behauptet
er damit eine qualitas occulta, falls das „spezifisch" in ab-
solutem Sinne gemeint ist. Sofern die chemische Natur der
organisierten Materie in Frage kommt, ist es ja heut schon
erwiesen, daß von einer besonderen „Bildungskraft" orga-
nischer Verbindungen nicht geredet werden kann, wie die
synthetische Darstellung organischer Verbindungen in der
Chemie zeigt. So ist das teleologische Prinzip bei Kant
teils zur vorgefaßten Meinung, teils zur unverifizierbaren
Hypothese geworden. Es wird bei Kant zu einem „Schlag-
baum für die Vernunft".
^) Kr. d. U., S. 315 (Rkklam); vgl. S. 309.
360 Ernst Lehmann:
Erblicken wir in der Idee der Natnrzweckmafiigkeit
niclit mehr als eine provisorische Forschnngsmaxime zur
Auffindung von Tatsachen, die sodann der kausalen Er-
klärung harren, so ist sie in der Tat ein rein methodisches
Prinzip, in dem Aussagen' über Dinge nicht enthalten sind.
Diese Idee zu einer Erklarungshypothese machen, bedeutet
dagegen vielmehr einen Verzicht auf jede Erklärung. —
Sofern endlich die ganze EIrscheinungswelt als Eb^cheinung
eines intelligiblen Grundes derselben angesehen wird, ist
es denkbar, daß der intelligible Grund der mechanischen
Naturkausalität, die die Naturerscheinungen beherrscht, ein
Prinzip ist, das dem zwecksetzenden Willen analog ist.
Doch bleibt dies eine absolut unbestimmte Möglichkeit, die
ihrer Natur nach weder verifiziert noch widerlegt werden
kann. Ja man kann fragen, ob sich überhaupt unter jener
„Analogie'' etwas Sinnvolles denken lasse, da das Moment
der Übereinstimmung, das in einer Analogiebeziehung ge-
dacht wird, eben absolut imbestimmt bleibt.
5. Die psychologische Idee.
Das Verhältnis von Idee und Hypothese gestaltet sich
wieder in ganz anderer Weise im psychologischen Problem.
In dem Faktum der absoluten Spontaneität, das
sich im Selbstbewußtsein und in der Konzeption der Ideen
überhaupt, wie wir noch ausfuhren werden, dokumentiert,
haben wir das einzige Beispiel einer absolut ideellen Existenz,
nicht als eines ruhenden Gegenstandes, sondern eines aktu-
ellen Seins. Obwohl diese Seite des psychologischen Pro-
blems von Kant auch hervorgehoben wird, vermissen wir
doch die ihr gebührende Stellung im System der Kritik.
In der Systematik der Kritik imterscheidet Kant vielmehr
lediglich eine rein methodische Seite und eine faktisch-
gegenständliche Seite im Sinne eines unauflösbaren trans-
zendenten Problems.
In der Kritik der Paralogismen fuhrt Kant bekanntlich
aus, daß die Auffassung der Seele als eines absoluten,
selbständigen, einfachen, mit sich identischen Wesens auf
Idee und Hypothese bei Kant. 36X
der Hypostasierung logischer Beziehungen beruhe. Jene
Prädikate bezeichnen nichts anderes als die oberste Be-
dingung des Erkennens überhaupt, und zwar eine wesent-
lich logische, nicht reale Bedingung. Die Behauptung des
beharrlichen, identischen Subjekts der Urteile ist nichts
anderes als die Darstellung der eigentümlichen Bezogenheit
von Bewußtseinsinhalten aufeinander, die wir als logische
bezeichnen.
Scheinprobleme entstehen, wenn man Gedanken zu
Sachen macht. Die Idee der Seelensubstanz als kon-
stitutive Idee gefaßt, bezeichnet eine solche Hyposta-
sierang. Ist dies erkannt, so besteht kein Problem faktisch-
gegenständlicher Natur mehr. Es bleibt kein irrationaler
Rest zurück. — Das absolute Subjekt ist identisch mit der
transzendentalen Einheit der Apperzeption und bezeichnet
also lediglich einen erkenntnistheoretischen Grundbegriff. —
ELant sucht aber, veranlaßt durch das architektonische Inter-
esse der Systematik, auch der so auf einen erkenntnis-
theoretischen Wert reduzierten Idee der Seelensubstanz
noch eine andere methodisch bedeutsame Seite abzugewinnen,
nämlich als regulatives Prinzip der psychologischen For-
schung. Diesem gemäß sollen wir „alle Elräfte, so viel als
möglich, als abgeleitet von einer einigen Grundkrafi;, allen
Wechsel als gehörig zu den Zustanden eines und desselben
beharrlichen Wesens betrachten^ ^). Abgesehen nun davon^
daß diese Maxime lediglich den Standpunkt der Vermögens-
psychologie bezeichnet, muß auch gesagt werden, daß der
Begriff des absolut beharrlichen, mit sich identischen Sub-
jekts überhaupt die Bedeutung eines regulativen Prinzips
der empirischen Psychologie nicht haben kann. Es kommt
in diesem Sachverhalt die eigentümliche Er-
zeugungsart der psychologischen Idee zum Aus-
druck. Kakt läßt sie wie die anderen Ideen aus einem
Beihenprozeß hervorgehen. In Wahrheit wird sie aber
nicht, wie die Ideen der Totalität, konzipiert als End-
^) Kr. d. r. V., S. 529.
362 Ernst Lehmann:
punkt eines gedanklichen Beihenprozesses , sondern durch
einen spontanen Akt der Setzung. Die Idee des Selbst-
bewußtseins ist kein gedachter Endpunkt in der Reihe der
Synthesis bedingter psychischer Erscheinungen, sondern
steht ganz außerhalb der Kette derselben. Ebenso wie
iur die Erklärung innerer Erscheinungen die Annahme
der Existenz eines realen absoluten Subjekts derselben
völlig bedeutungslos ist^), ist auch die Idee des absoluten,
mit sich identischen Subjekts als leitendes Forschungs-
prinzip für die psychologische Untersuchung der Einzel-
erscheinungen, z. B. der Assoziationsphänomene, völlig
wertlos.
Die Idee des Selbstbewußtseins realisiert sich vielmehr
darin, daß „wir" uns der Bedingtheit der psychischen Er-
scheinungen „in uns" bewußt werden imd uns so „in der
Idee" über die bloße Gegebenheit der Mannigfaltigkeit
innerer Vorgänge erheben. Es ist das Moment absoluter
ideeller Spontaneität, dem auch Kant, wenngleich in anderem
Zusammenhang, Ausdruck gibt : „Der Mensch, der die ganze
Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich
selbst auch durch bloße Apperzeption und zwar in Hand-
lungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum
Eindruck der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich
einesteils Phänomen, andemteils aber, nämlich in Ansehung
gewisser Vermögen, ein bloß intelligibler Gegen-
stand . . .; vornehmlich wird die [Vernunft] . . . von allen
empirisch bedingten Kräften unterschieden, da sie ihre
Gegenstände bloß nach I d e e n erwägt*)". Es ist damit zu-
nächst ein rein theoretisches Erlebnis beschrieben.
Hier haben wir den einzigen Fall, wo eine Idee sich un-
mittelbar selbst nicht nur verifiziert, sondern realisiert. Die
Idee des Selbstbewußtseins ist eiu ideelles Faktum einziger
und an sich undefinierbarer Art. Es ist damit ein Etwas
bezeichnet, das weder als phänomenaler Einzelinhalt an-
») Vgl. Proleg., S. 114.
«} Kr. d. r. V., S. 437 f.
Idee und Hyyothese bei Kant. 36S
getroflPen wird noch auch bloß logische Existenz hat
wie der oben besprochene IQNTsche erkenntnistheore-
tische Begriff der transzendentalen Einheit der Apper-
zeption.
Die Anwendung des Begriffes der Hypothese auf
das vorliegende Faktum wäre durchaus sinnlos. Die Idee
der Spontaneität des Selbstbewußtseins ist kein möglicher
Gegenstand der Erfahrung, der in irgendeiner Anschauung
dargestellt werden könnte. Wie die apodiktisch-dogma-
tistische Behauptung der Realität der absolut selb-
ständigen, einfachen Seele, so beruht auch die Annahme
derselben als einer Hypothese auf einer anschauliche Kat-
egorien der äußeren Erfahrung benutzenden Hyposta-
sierung jenes Faktums der inneren Spontaneität; diese
ist das icpÄTov iJ^eöSoc in beiden Fällen. Mit der Mannig-
faltigkeit der inneren Erscheinungen als der Summe und
dem Zusammenhang einzelner psychischer Inhalte ist die
Idee der Spontaneität in keiner Weise in Kontakt zu bringen,
weder als regulative Idee, wie Kant meint, noch als letzte
Elrklärungshypothese. Bedingtes kann auch hier nur durch
den Aufweis von Bedingungen erklärt werden, nicht aber
durch ein Unbedingtes sei es der Totalität, wie in
den früher besprochenen Ideen, sei es der Spontaneität
hier. Für die psychologische Forschung genügt der Be-
griff des psychischen Zusammenhanges^) und die An-
nahme einer Beständigkeit der Beziehungen, deren Gesetze
die empirische Psychologie sucht. Btter ist ein Gebiet der
Hypothesen bildung wissenschaftlich existenzberechtigt; im
besonderen eröffiiet die physiologische Untersuchung einer-
seits und die entwicklungsgeschichtlich- völkerpsychologische
Untersuchung anderseits ein weites Gebiet möglicher wissen-
schaftlich fruchtbarer Hypothesenbildung. Von solcher
Untersuchung kann wiederum kein psychischer Inhalt, sofern
er Phänomen ist, ausgenommen werden. Ja, wie die
mannigfaltigen Störungserscheinungen des Selbstbewußt-
») Vgl. WuNDT, System der Pkilosophie, S. 379.
304 Ernst Lehmann:
Seins ^) vermuten lassen^ ist auch das Auftreten des Selbst-
bewußtseins an gewisse physiologische Bedingungen ge-
knüpft; und insofern ist das Ichproblem ein physiolo-
gisches Problem, von dessen Lösung wir freilich vielleicht
noch weit entfernt sind. Sinnlos aber wäre es, wollte man
in diesem möglichen künftigen Nachweis der physiologischen
Bedingungen eine Erklärung des Faktums des Selbst-
bewEL erbUcken. Dies wL sinnlos, nicht nur in dem
Sinne, wie es ungereimt wäre zu verlangen, daß etwa die
Bestimmtheit der Farbenempfindung aus den ihr zugeord-
neten photochemischen Prozessen in der Netzhaut „erklärt"
werden solle, sondern auch deshalb, weil die Besonder^
heit dieses Faktums, eben die absolute Spontaneität als
solche, einer zergliedernden Analyse und Erklärung unzu-
gänglich ist.
Für Eant existiert schließlich noch seinem erkenntnis-
theoretischen Phänomenalismus gemäß eiu transzendentes
Restproblem. Das Substrat der inneren Erscheinungen
sei uns notwendig unbekannt. Sofern das ideelle Faktum
der Spontaneität des Selbstbewußtseins in Frage kommt,
ist nun allerdings die Behauptung eines absolut unbekannten
Substrats ebenso sinnlos und beruht ebenso auf einer er-
schlichenen Hypostasierung dieser Aktualität wie die
dogmatische Behauptung der objektiven Realität der ein-
fachen Seelensubstanz. Als ein irrationales Restproblem,
kann lediglich das Verhältnis dieses Prinzips der Sponta-
neität zu dem psycho-physischen phänomenalen Zusammen-
T^9Xig gelten. Es liegt im besonderen vor in der Tatsache,
daß das Auftreten und die normale Entfaltung des Selbst-
bewußtseins, das wir als eine spontane Aktualität erleben,
an bestimmte, wenngleich noch nicht au%eklärte physio-
logische Bedingungen geknüpft ist. Endlich auch bezeichnet
die Tatsache des psychophysischen Parallelismus im all-
gemeinen eia irrationales Restproblem, das damit nicht
beseitigt wird, daß man mit Mach das Psychische und das
') Vgl. z. B. RiBOT, Les maladies de la personalite.
Idee und Hypothese bei Kant. 365
Physische als zwei Arten von FnnktionalÄUsammenhängen
ansieht, in die sich die Empfindungen als Elemente ein-
ordnen, wodurch das psychophysische Problem des Par-
allelismos lediglich in ein methodisches Verhältnis zweier
Betrachtungsweisen aufgelöst wird. Ebensowenig aber ist
dieses Problem einer hypothetischen Lösung zu-
ganglich. Wir können lediglich den seiner Natur nack
völlig nnverifizierbaren Gedanken vollziehen, daß das Psy-
chische und Physische, da wo es einander parallel angetroffen
wird, die Erscheinungsweise eines unbekannten Grundes
ist. Das Äußerste, was wir hier tun können, ist lediglich
die Aufwerfting dieser Frage. Glauben wir mit der Auf-
stellung dieser Lösungsmöglichkeit eine wirkliche Einsicht
gewonnen zu haben, aus der wir weitere Konsequenzen,
z. B, in betreff der anorganischen Natur, ziehen, so machen
wir eine absolut unverifizierbare Hypothese; von
einer wissenschaftlich wertvollen Hypothese muß aber
wenigstens eine relative Verifizierung ihrer hypothetischen
Elemente verlangt werden. Will jene Annahme nicht mehr
sein als die Behauptung einer Art, wie man sich die Sache
etwa denken könne, so kann sie als plausibler Versuch eine
gewisse inteUektuelle Befriedigung gewähren; will sie mehr
sein, so ist sie eine absolut unverifizierbare, also wertlose
Hjrpothese.
6. Die Idee der Willensfreiheit.
Wir haben die Idee der Willensfreiheit nicht, wie Kant,
im Anschluß an die Idee des Kausalzusammenhanges be-
handelt. Die Erzeugung dieser Idee ist durchaus analog
der Erzeugung der Idee des Selbstbewußtseins. Sie wird
in einem Akt der Setzung konzipiert und entsteht nicht
durch ein willkürliches Abbrechen der kausalen Synthesis,
Sofern wir uns in der Reihe der kausalen Verknüpfung der
Erscheinungen bewegen, kann nicht einmal der Gedanke
eines obersten Gliedes der Kette auftreten. Die Idee der
Willensfreiheit bezeichnet ein Etwas, was der Kausalreihe
der empirischen Handlungen ebenso gegenübersteht, wie
366' Ernst Lehmann:
die Idee des Selbstbewußtseins der Gesamtheit der psy-
ohischen Phänomene und deren Reihe gegenüberstand. Sie
wird erzeugt, indem wir uns der Bedingtheit unserer
"Willenshandlungen bewußt werden. Sie gewinnt ihre
besondere aktuelle Bedeutung aber erst, sobald die Idee
eines absolut Wertvollen als Beurteilungsprinzip
unserer Handlungen hinzutritt. Alsdann bezeichnet die Idee
der Willensfreiheit lediglich die Maxime: Wir wollen
uns so betrachten, als ob „wir" und nicht die empirische
Bestimmtheit unserer psychophysischen Organisation die
Ursache gewisser Handlungen wären. Diese Idee ist alsdann
durch sich selbst verifiziert, sofern sie nicht mehr sein will
äIs eine rein ideelle Beiurteilungsweise, nicht aber als
ein intelligibles „Vermögen". Kant selbst schwankt
auch hier zwischen beiden Bestimmungen. In der ersteren
Auffassung steckt kein irrationaler Tatsachenrest mehr. Das
intelligible „Vermögen" bezeichnet, sofern alles Anschauliche
streng ferngehalten wird, einen Grenzbegriff, bei dem sich
wiederum die Frage erhebt, ob sich dabei überhaupt etwas
denken lasse; leicht aber schleicht sich ein anschau-
liches Moment hinein, wodurch der Begriff wider-
spruchsvoll wird, indem die „Freiheit" zu einem kau-
salen Faktor neben anderen Faktoren wird, während die
Idee der Freiheit gerade dies verbietet, indem sie aus der
Reihe der Motivationen heraustritt.
Aus allem aber geht hervor, daß es sinnlos wäre, der
Idee der Willensfreiheit den Rang einer Hypothese zu
geben. Sie läßt sich halten lediglich als Beurteilungs-
prinzip, wird aber entweder zum völlig leeren Ghrenzbegriff
oder zu einem widerspruchsvollen Begriff, falls man
jsie zu einem „Vermögen" macht.
7. Die Gottesidee«
Auch die Erörterung Kants über die Gottesidee hat
etwas Schwankendes in bezug auf die methodische Stellung
-der Momente dieser Idee.
Einerseits soll auch von ihr gelten, daß sie als ein
Idee und Hypothese bei Kant. 367
Ideal der reinen Vernunft keinen unerforschlichen Gegen-
stand bezeichnen könne; das Ideal ist nicht einmal als
denkbarer Gegenstand gegeben^). Es bedeutet demnach
bereits eine Verkennung des Wesens dieser Idee, wenn in
ihr ein gegenständliches Grenzproblem gesucht wird.
Solchen Aussagen stehen andere gegenüber, wo die Gottes-
idee auf ein unbekanntes Wesen bezogen wird. Wir
seien genötigt, ihr einen wirklichen Gegenstand zu setzen,
,&eilich nur als ein Etwas überhaupt, das ich an sich selbst
gar nicht kenne"*). Ja, es erscheint als erlaubte Hypo-
these, „das Dasein eines Wesens von der höchsten Zu-
länglichkeit als Ursache zu allen möglichen Wirkungen
anzunehmen, um der Vernunft die Einheit der Erklärungs-
gründe zu erleichtern" *). — Andrerseits führt Kant wiederum
aus, daß der Schein eines Gegenstandes auch hier durch
willkürliche Hypostasierung der Idee der absoluten Welt-
einheit als eines von der Welt verschiedenen Grundes der-
selben entstehe, daß die Kategorien der Realität, Not-
wendigkeit, Substanz, Kausalität gemäß dem Resultat der
transzendentalen Analytik nur Sinn haben in bezug auf
mögliche Erfahrung als deren Konstituentien, daß im be-
sonderen der Begriff der Ursache keinen angebbaren Sinn
habe, wenn wir nach der Ursache eines „Dinges" fragen,
anstatt diesen Begriff auf Zustandsänderungen in der Zeit
zu beziehen. Ist aber ein Problem als Schein-
problem erkannt, so kann es auch nicht mehr
einen irrationalen Rest bezeichnen. Die Existenz
einer Weltursache ist kein Problem, auch kein schlechthin
transzendentes Problem, das ein absolut Unbekanntes be-
zeichnet-, denn es beruht auf einer falschen Fragestellung,
Dann aber ist ebenso auch die Auffassung der Gottesidee
als einer Hypothese sinnlos.
Das theoretische Erkennen als solches trägt in der Tat
in sich absolut keine Nötigung, die „innere Unzulänglichkeit
») Kr. d. r. V., S. 483.
«) A. a. O. S. 526.
«) A. a. O. S. 481 f.
368 Ernst Lehmann:
des Zufalligen zn behaupten, sofern das Pr&dikat auf das
Dasein der Dinge bezogen wird und nicht auf die Be-
dingtheit innerhalb der Reihe der Erscheinungen. Das
theoretische Erkennen geht aus von dem Faktum der be-
stimmt gegebenen Mannigfaltigkeit und geht den in ihr
waltenden Beziehungen nach; jenes Faktum selbst abzu-
leiten hat das Erkennen keine Veranlassung.
Wir sehen hierbei ganz davon ab, daß der scholastisclie
Begriff des ens realissimum eine widerspruchsvoUe Ver-
quickung der theoretischen Kategorie der Bealit&t und
praktischer Bewertung ist.
Kant gibt nun der Gottesidee eine eigentümliche Mittel-
stellung zwischen einem rein methodischen Begriff wissen-
schaftlicher Systematik und einem Gegenstandsbegriff,
indem er sie zu einem notwendigen regulativen Prinzip
der Weltbetrachtung macht. Näher zugesehen, erweist
sich aber auch diese Legitimierung der Idee als ebenso
undurchführbar wie die Verwertung der psychologischen
Idee des absolut einfachen, beharrlichen Subjekts als
regulatives Prinzip der psychologischen Forschung. Die
Idee eines von der Welt verschiedenen Weltgrundes
bezeichnet als solche nicht den ideellen Endpunkt eines
empirisch begonnenen Prozesses. Um die „größtmögliche
Erfahrungseinheit" innerhalb der Welt anzustreben, bedarf
es nicht der Idee eines von ihr verschiedenen unbekannten
Substrates. Die Idee des durchgängigen Kausal-
zusammenhangs in der uns gegebenen Welt der phy-
sischen und psychischen Erscheinungen, die Ideen der
Homogeneität und Kontinuität sprechen bereits das
wissenschaftliche Einheitsbedürfnis hinreichend aus. Für
die Welt der äußeren Natur haben wir die Ideen des
Grundstoffes und der Grundkraft. Dem entspricht auf
psychischem Gebiet das Desiderat möglichst weniger, mög-
lichst umfassender Grundgesetze. Einem weitergehenden
Einheitsbedürfnis, das die Zweiheit der äußeren und inneren
Erscheinungen zu überwinden sucht, genügt z. B. der
Phänomenalismus Kants selbst, indem er beide in
Idee und Hypothese bei Kant. 369
eine Welt der Vorstellungen vereinigt und den Ausblick
auf die Möglichkeit eines unbekannten gemeinschaftlichen
Ghrundes beider Erscheinungsweisen eröffnet. Dieser „Grund"
wäre aber auch dann nicht mit der Idee eines schöpfe-
rischen Weltgrandes nach Art der G-ottesidee zu identi-
fizieren. Er wäre nur das Korrelat der Zweiheit der Er-
scheinungsweisen. Wie aber ein denkendes Wesen überhaupt
äußere Anschauung haben kann, bezeichnet Kant mit Recht
als ein unauflösbares Problem, das also dem Einheits-
bedürfhis der Vernunft absoluten Wiederstand entgegensetzt.
Letztlich bleibt allein noch als umfassendster Ausdruck des
Einheitsstrebens die Idee des Inbegriffs aller Mög-
lichkeiten, sofern wir den rein logischen Kern aus diesem
Begriff, den Kant übernimmt, herausschälen und damit den
vollziehbaren Gedanken bezeichnen wollen, daß es noch
Seinsgebiete geben kann, die ftir uns weder in der Form
der äußeren noch der der inneren Anschauung zugänglich
werden können. Im Licht dieser Idee erscheint die uns
gegebene Welt als ein Ausschnitt aus einem um-
fassenderen Sein. Es wird* die Möglichkeit offen ge-
halten, daß unsere Welt nicht alles Sein schlecht-
hin bedeutet.
Von dem ontologischen Begriff der Weltursache
unterscheidet Ejint den des zwecksetzenden intelligenten
Urhebers. Sofern die teleologische Betrachtung, die
oben bereits besprochen ist, nur eine besondere, heuristisch
wertvolle Beurteilungsweise bestimmter Naturprodukte,
nämlich der „organisierten", repräsentiert, liegt gar kein
Anlaß vor, auch nur die Analogie eines intelligenten
Urhebers heranzuziehen. Will man sich anschaulich aus-
drücken, so genügt es, wie Kant selbst gelegentlich sagt,
von der weisen Einrichtung der Natur zu reden. Völlig
aber verliert die Idee des intelligenten Urhebers jede
regulative Bedeutung, falls sie auf alle physischen Er-
scheinungen schlechthin bezogen wird. Sie ist dann kein
Symbol einer Forschungsmaxime mehr, sondern eine
willkürliche, weil ihrer Natur nach unverifizier-
ViertolJahrsschriftr.wiBsensohaftl. Philoa. u.Sosiol. XXXII. 3. 24
370 Ernst Lehmann:
bare Hypothese. Verwirft Kant die Verwertung der
Qottesidee als Erklärungshypothese für einzelne
besondere Erscheinungen mit Recht als Ausgeburt einer
ignava ratio, als direkt schädlich, so muß weiterhin gesagt
werden, daß die wissenschaftliche Forschung der Gottesidee
als der „regulativen" Idee eines höchsten Zwecks völlig
indifferent gegenübersteht. Diese Idee ist, wissen-
schaftlich betrachtet, wertlos.
Es ist schon oft hervorgehoben worden, daß gerade
Kant es gewesen sei, der den prinzipiellen Unterschied theo-
retischer und praktischer Erkenntnis erkannt habe. Trotz-
dem bleibt bestehen, daß in der Behandlung der „Kritik"
rein logisch-methodische und spezifisch-religiöse Momente
in unklarer Weise verquickt sind ^), Wenn wir, um mit
Kant zu reden, das Gefahl haben, daß der Boden unter
uns sinke, „wenn er nicht auf dem unbeweglichen Felsen
des absolut Notwendigen ruhet" *j, so bezeichnet dies gar
keine Aussage theoretischer Art. Wir beschreiben damit
nur das eigentümliche Gefühl, das Plato als das Staunen
über die Welt bezeichnet; dasselbe stellt sich ein, indem
wir uns als unser selbstbewußte Wesen in einer rätselvollen
Welt erblicken. Es äußert sich auch in der Frage nach
dem Zweck unseres Daseins in dieser Welt und dem
Zweck dieser Welt selbst. Diese Frage hat mit dem
Bedürfnis nach größtmöglicher systematischer
Einheit der Erfahrungserkenntnis nichtsizu tun.
Weder als regulative Idee noch als Hypothese der Er-
klärung oder Ergänzung läßt sich der „Gottesidee" ein
theoretisch wertvolles und scharf definierbares Moment ab-
gewinnen. Wo aber die Möglichkeit scharfer Definition
eines Problems durch die Natur desselben ausgeschlossen
ist, da besteht überhaupt kein theoretisches Problem. Und
dies ist der Fall bei dem Begriff des Weltgrundes und
zwecksetzenden Welturhebers. Dem theoretischen
») Vgl. WuNDT a. a. 0. S. 179.
«) Kr. d. r. V., S. 463.
Idee und Hjrpothese bei Kant. 371
Erkennen genügt die Idee der Welteinheit und
"Welt Zusammenhangs^),
Zusammenfassimg.
Nach den vorangegangenen einzelnen Untersuchungen
sind wir nun imstande, das Verhältnis von Idee und Hypo-
these allgemein zu bestimmen. Wir haben meist an einer
von Kant behandelten Idee methodisch verschiedene
Momente festgestellt, so daß die einzelnen ^^Ideen*' Kants
im folgenden sowohl in der einen wie auch der anderen
Gruppe vertreten sind.
I. Ideen bzw. Momente an denselben, die durch
sich selbst verifiziert sind, indem sie keinPro-
blem gegenständlich- faktischer Natur betreffen
Auf diese Ideen bzw. Momente kommt der Satz Kants
von der absoluten Auflösbarkeit der Fragen, die die Ver-
nunft stellt, zu vollgültiger Anwendung, Hier wird der
Gegenstand nicht außer dem Begriff bezw. außerhalb des
spontanen Aktes der Konzeption angetroffen.
Hierher gehört die Idee der Totalität der Raum-
erfüllung, wie die der verflossenen erfüllten
Zeit; desgleichen gehört hierher die Idee der
Totalität der Teilung der Materie, Diese Ideen
sind als solche durch sich selbst verifiziert. Sie enthalten
als solche keinerlei Annahme über die Begrenztheit oder
Unbegrenztheit des entsprechenden Reihenprozesses. Viel-
mehr folgt aus ihnen lediglich die voraussetzungslose, heu-
ristische Maxime; „Wir sollen nie die jeweilig erreichte
Grenze bzw. den jeweilig letzten einfachen Teil für eine
absolute Grenze bzw. für ein absolut einfaches, nicht weiter
zerlegbares Element halten, vielmehr sollen wir die Mög-
'!] ^) Inwiefern jene theologische Idee in dem Gebiet praktischer,
im besonderen sittlicher Erkenntnis ihre Existenzberechtigung er-
weisen kann, bleibt dabei eine durch die vorangehende Ejritik nicht
berührte Frage.
24*
372 Ernst Lehmann:
lichkeit weiterer Q-ebiete hzw. weiterer Unterteile nnbegrenzt
offenhalten. Diese Ideen schreiben eilien Progtessns in
indefinitum vor. — Hierher gehört auch die Idee der
Kontinuität. Sofern wir in ihrem Licht an die empirisch
gegebene Mannigfaltigkeit, die als solche eine diskrete ist,,
herantreten, schreibt diese Idee uns Vor, die Möglichkeit
weiterer zu interpolierender Zwischenglieder unbegrenzt
offenzuhalten. — Hierher gehört schließlich auch die all-
gemeinste Idee : der Inbegriff der Möglichkeiten. Auch sie
ist Terifiziert in dem Moment, wo sie konzipiert wird» und
besagt, daß wir die uns gegebene Erfahrungswelt nicht flLr
die absolute Erschöpfung der Möglichkeiten des Seins^
halten sollen, sondern die Möglichkeit völlig andersgearteter
Seinsgebiete offenhalten sollen. Der Natur dieser Idee
entspricht es dann freilich, daß wir eine ihr entsprechende
regulative, fruchtbare Maxime nicht aufstellen können.
Durch sich selbst verifiziert sind femer die Beurteilungs-
weisen nach der Idee des Zweckes und nach der
Idee der Willensfreiheit. Wir betrachten gewisse
Komplexe der äußeren Natur: die organisierten Körper als
Systeme, die sich zu erhalten „streben", als ob sie von
einem zwecksetzenden Prinzip beherrscht würden. Sofern
diese Betrachtungsweise nichts anderes ist als ein provi-
sorisches heuristisches Prinzip zur Auffindung von Tat-
sachen im Organismus, bezeichnet sie keine Behauptung
gegenständlicher Natur, also auch keine Hypothese.
Im Gebiet der menschlichen Handlungen fiihrt die An-
erkennung absoluter sittlicher Werte zu der Beurteilung
nach der Idee der Willensfreiheit, nicht als eines
kausalen Vermögens. Derjenige, der solche Werte anerkennt,
beurteilt sich so, als ob „er"* als spontaner Faktor und nicht
nicht die komplexe Einheit seiner psychischen Konstitution die
Ursache seiner Handlungen sei. — Durch sich selbst ist endlich
in einzigartiger Weise verifiziert die Idee des Selbstbewußt-
seins; durch sie ist zugleich ein ideelles Faktum ein-
ziger Art konstituiert. Dieses Faktum dokumentiert sich
in dem Bewußtsein der psycho-physischen Bedingtheit,
Idee und H3^otbe8e bei Kant. 373
wie in der Konzeption der Idee der Wahrheit. Wir ver-
mögen uns über die Besonderheit unserer geistigen Organi-
sation Rechenschaft zu geben, indem wir sie als eine spe-
zifisch-bestiininte denken und ihre Schranken erkennen.
Wir wissen z. B., daß all unser Denken sich in Bildern
bewegt; um dieses Faktum auszusprechen, bedürfen wir
zwar derselben bildlichen Zeichen; wir erheben uns aber
damit in „der Idee" über diese Bedingtheit unserer geistigen
Konstitution. Jenes Faktum bekundet sich überhaupt in
der Konzeption der Idee der Wahrheit, die sowohl
einer Auflösung im Sinne des psychologistischen wie des
biologistisch - denkökonomischen Relativismus absoluten
Widerstand leistet, indem sie die Auftnerksamkeit auf den
Urteils inh alt einer Aussage zu richten gebietet*). Wir
unterscheiden im Licht dieser Idee am Urteil den psycho-
logisch bedingten ürteilsakt als ein Phänomen oder
auch als eine zweckmäßige intellektuelle Reaktion von dem
TIrteilsinhalt, d, h. dem, was in dem Urteil anerkannt
oder verneint wird. Das Bewußtwerden dieser Idee
der Wahrheit ist alsdann wiederum eine spontane Funktion,
in der sich das Selbstbewußtsein dokumentiert. —
In all diesen ideellen Beziehungen, Beurteilungsweisen,
wie auch in der Idee des Selbstbewußtseins liegt kein
gegenständlich-faktischer irrationaler Rest.
Wo jene Betrachtungsweisen und spontanen Funktionen
zu „Naturkräften", „Vermögen", „Substanzen" hypostasiert
werden, da entstehen Scheinprobleme. Das Prinzip
des Naturzwecks, das Kausal vermögen der Freiheit, die
0 Ein Gleiches gilt auch von der erkenntniskritischen Richtunp:,
■die in einseitiger Weise in ^Uen Verallgemeinerungen der Wisaenschatt
willkürliche Definitionen und Festsetzungen erblickt. PoiNXABfe, in
dessen Theorie die konventionelle Obereinkunft eine große Bolle
spielt, wendet sich doch gegen eine einseitige Überschätsning ihrer
Bedeutung. Die Tatsache der Beobachtung ist die ^universelle
Invariante" der verschiedenen möglichen Systeme ihrer wissenschaft-
lichen Abbildung. In der Anerkennung der Tatsache sind wir ge*
bunden, in ihre wissenschaftliche Darstellung gehen subjektive
Elemente ein, über deren zweckmäßige Auswahl wir frei verfügen.
Ygl PoiscARfi, Der Wert der Wissenschaft, S. 166 fi
374 Ernst Lehmann:
einfache beharrliche Seelensubstanz werden dann entweder
als dogmatisch-apodiktisch gewisse Realitäten oder doch
wenigstens als zulässige Hypothesen behauptet. Hier werden
die Probleme gelöst, indem sie als Scheinprobleme erwiesen
werden. Das Verhältnis von Idee und Hypothese bestimmt
sich hier dahin, daß die Anwendung des Hypothesenbegriffes
auf die vorgelegten Ideen schlechterdings sinnlos ist, weil
sie Probleme gegenständlicher Natur entweder nicht be-
zeichnen, oder, wie im Fall der Idee des Selbstbewußtseins,,
ein rein ideelles Faktum vorliegt, das als solches kein
Gegenstand einer Hypothese sein kann.
n. Ideen als heuristische Prinzipien, die be-
stimmte Voraussetzungen gegenständlich-fak-
tischer Natur involvieren, derenGeltung weder
restlos verifiziert noch aber auch widerlegt
werden kann, Voraussetzungen, die aber ge-
macht werden, sei es als Postulate, sei es als
Desiderate zum Zweck der Wissenschaft.
Hierher gehört die Idee des durchgängigen
Kausalzusammenhanges und die Idee der Homo-
geneität in ihren besonderen Gestaltungen. Als ein
Postulat bezeichnen wir die Idee des Kausalzusammen-
hanges ; ohne seine Geltung ist Wissenschaft und geordnete
Erfahrung überhaupt immöglich. Als ein Desiderat be-
zeichnen wir die Idee der Homogeneität. Eine relative
Homogeneität erkannten wir gleichfalls als notwendige Be-
dingung der Möglichkeit der Wissenschaft. Wissenschaft
reicht so weit, als die Homogeneität in der Natur der Dinge
reicht; darüber hinaus gibt es nur noch Konstatierung
unvergleichbarer Daten. Jene Voraussetzungen gegen-
ständlicher Art zum Gegenstand metaphysischer Hypo-
thesen zu machen, wäre zwar nicht, wie unter I, sinnlos,
wohl aber müßig, da die Regelmäßigkeit der Sukzession
und die Existenz eines Grundstoffes und einer Grundkraft
Annahmen wären, die absolut unverifizierbar sind. Sofern
die genannten Ideen aber als heuristische Maximen ihre
Idee und Hypothese bei Kant. 375
Legitimation in sich tragen und wir an ihrem Leitfaden
nur „so weit als möglich" in die Natur einzudringen streben,
ist eine Verifikation jener Voraussetzungen durchaus un-
nötig,
KL Die in den Ideen enthaltenen irrationalen
Restprobleme.
In den zuvor besprochenen Fällen war die Anwendung
des Hypothesenbegriffes teils sinnlos, teils lag keine Nötigung
dazu vor. Hier handelt es sich um Probleme gegenständlich-
faktischer Natur. Es fragt sich: Wie gestaltet sich hier
das Verhältnis von Idee und Hypothese?
a) Empirische Grenzprobleme. Denjenigen Ideen,
die aus einem Reihenprozeß hervorgingen, entsprachen
empirische Grenzprobleme. Als solche erkannten
wir die Frage nach den räumlichen Grenzen des
Universums, den zeitlichen Grenzen der ver-
gangenen Weltveränderungen, den Grenzen der
Teilung der Materie. Nur in dem Zeitproblem
ergab sich eine bestimmte Entscheidung auf Grund der
Anwendung des Postulats der Kausalität, welches einen
Beginn der Weltvorgänge vor endlicher Zeit anzunehmen
verbietet. Die beiden anderen Probleme erkannten wir als
absolut unlösbar, da die Totalität kein möglicher Gegen-
stand der Erfahrung ist. Ein Gleiches gilt von der Idee
der Homogeneität, falls wir das gegenständliche Problem :
die objektive Möglichkeit des Vorhandenseins eines
Grundstoffes, einer Grundkraft ins Auge fassen.
Gegenstand der Hypothesenbildung können
nur relative Größen sein, so: begrenzte, noch un-
bekannte kosmische Massen jenseits des Bereiches unserer
unmittelbaren Wahrnehmung mittelst der astronomischen
Beobachtungsinstrumente, relative Anfangszustände der
Welt, relativ einfache und konstante Elemente der Materie,
relativ homogene Größen, ein relativ einfacher Grundstoff,
Vereinigung bestimmterNaturkräfte in Äußerungen einer
Naturkraft. Diese Beziehungen im absoluten Sinne ge-
376 Ernst Lehmann:
nommen, würden absolut unverifizierbare Hypothesen sein,
weil die absolute Totalitat kein Gegenstand der Erfahrung
ist. Absolute Begriffe und Beziehungen sind entweder
durch sich selbst verifiziert, oder sie sind es gar nicht.
b) Transzendente Restprobleme. Denjenigen
Ideen, die nicht als Endpunkt eines empiri-
schen Reihenprozesses, sondern durch einen
spontanen Akt der Konzeption gesetzt sind,
entsprechen bei Kant transzendente Restpro-
bleme. Das Moment der Idee liegt hier nicht in dem
Moment der absoluten Totalität, sondern in dem Moment
der absoluten Spontaneität, oder negativ ausgedruckt,
in der absoluten Unmöglichkeit einer Darstellung in der
Anschauung des Raumes und der Zeit. Ob für eine intellek-
tuelle Anschauung der Gegensatz von Mechanismus und
Teleologie aufgehoben sei, ob das unbekannte Substrat der
psychischen Erscheinungen ein absolut einfaches Wesen
sei, ob die physischen und psychischen Erscheinungen
Erscheinungsweisen eines unbekannten gemeinschaftlichen
Grundes seien, wie es komme, daß der Mensch als ein
intelligibles Wesen gerade diesen bestimmten empirischen
Charakter annehme, ob der intelligible Grund dar Er-
scheinungswelt koinzidiore mit der Idee des intelligenten
Welturhebers, — das sind Fragen, die ihrer Natur nach
schlechterdings unbeantworthch seien. — Wir warfen oben
bei Erörterung der psychologischen Idee die Frage
auf, ob es überhaupt einen Sinn habe, von einem einfachen
Wesen als unbekanntem Substrat der psychischen Er-
scheinungen zu reden. Jedenfalls ist es sinnlos, c^uch das
Faktum der absoluten Spontaneität des Selbstbewußtseins
als ein bloßes Phänomen zu bezeichnen, dem ein un-
bekannter intelligibler Grund entspricht. Ein transzendentes
Restproblem ist aber dagegen gegeben in dem Parallelismus
psychischer imd physischer Erscheinungen und insonderheit
in dem Faktum des Vorhandenseins physiologischer Be-
dingungen des Auftretens und der normalen Entfaltimg des
Selbstbewußtseins. Das theoretische Erkennen vermag
'
Idee und Hypothese bei Kant. 377
lediglich diese Grenzprobleme zu bezeichnen und in dem
erstgenannten Problem lediglich eine völlig unbestimmte
Möglichkeit atifzustellen , wie sich dieser Parallelismus
denken lasse. Die Hypothese des metaphysischen psycho-
physischen Parallelismus bedeutet eine ihrer Natur nach
absolut unverifizierbare Annahme, indem sie in keiner mög-
lichen Anschauung dargestellt werden kann. Sie bezeichnet
nichts als eine bloße Denkmöglichkeit, aus der weitere,
durch Ebrfahrung kontrollierbare Schlüsse schlechterdings
nicht gezogen werden können. — Sieht man weiterhin in
der Idee des Naturzweckes und der Idee der
Willensfreiheit lediglich Beurteilungsweisen, so liegt
zu der Aufstellung eines transzendenten Restproblems keine
Veranlassung vor. Wollte man dies dennoch versuchen, so
würde, wie wir bei Besprechung der teleologischen Idee
ausführten, bereits die Formulierung dieses Problems
auf prinzipielle Schwierigkeiten stoßen; denn strenggenommen
laßt sich nicht angeben, was es heißen solle, daß den als
zweckmäßig beurteilten Naturerscheinungen ein reales Prinzip
zugrunde liege, das der menschlichen Zwecksetzung analog
gedacht werden müsse. — Ebenso fanden wir, daß das
durch die Gottesidee aufgegebene transzendente Restproblem
nicht scharf definiert werden kann, indem weder der Begriff
der Weltursache noch der des intelligenten Welturhebers
sich eindeutig und klar definieren läßt. Läßt sich aber ein
Problem schlechterdings nicht präzis definieren, so können
auch die S5U seiner Lösung aufgestellten Hypothesen
keinen streng wissenschaftlichen Wert beanspruchen. Wo
aber, wie im Fall des psychophysischen Parallelismus, das
Problem selbst als Grenzproblem sich eindeutig und präzis
definieren läßt, folgt die Unlösbarkeit desselben durch eine
Hypothese aus der absoluten Unmöglichkeit, deren Elemente
ia irgendeiner Anschauung darzustellen, sowie der Un-
mögUchkeit, irgendwelche Konsequenzen aus einer solchen
Annahme zu ziehen, die sich in irgendeiner Erfahrung
prüfen lassen. —
378 Ernst Lehmann.
Sehlnß.
Die Ideen bezeicimen ein Gebiet absolut strenggültiger
Aussagen. Sofern sie regulative methodische Prinzipien
sind, sind sie durch sich selbst verifiziert; sofern sie Pro-
bleme faktisch-gegenständlicher Natur bezeichnen, läßt sich
völlig streng die Unmöglichkeit ihrer Lösung durch mehr
oder weniger wahrscheinliche Hypothesen dartun. Es ist
das Moment der absoluten Totalität einerseits, die Momente
der absoluten Spontaneität und absoluten Unanschaulichkeit
anderseits, die die Anwendung des Hypothesenbegriflfes aus-
schließen. Denn ist auch das Kriterium der möglichen
Verifikation durch Empfindung zu eng, so müssen wir doch
von einer brauchbaren Hypothese die Möglichkeit der Kon-
struktion ihrer Elemente in einer Anschauung, sei es des
Raumes oder der Zeit, fordern *). Aus jenem Kriterium folgt
denn auch, daß in die Hypothese immer nur relativ letzte^
relativ einfache, relativ konstante Elemente eingehen können,
da die absolute Totalität in keiner Anschauung als solcher
dargestellt werden kann.
Danach bleiben also Idee und Hypothese scharf ge-
trennte BegriflFe; erstere zu metaphysischen Hypothesen zu
machen, widerspricht sowohl dem Wesen der Idee wie der
Hypothese. Von wissenschaftlicher Bedeutung sind dabei
die Ideen lediglich, sofern sie der Ausdruck methodischer
Prinzipien sind.
') Weil der Äther als Träger räumlich bestimmter Zustands-
änderungen gedacht wird, auf deren Vorhandensein wir aus be-
stimmten Wanrnehmungen (z. B. des Funkenspiels des Resonators in
den HERTzschen Yersucnen über die Ausbreitung der elektrischen
ELraft) schließen können, ist der Äther eine zulässige Hypothese,
obgleich seine Existenz durch Empfindung direkt mcht ^bewiesen
werden kann.
Die Leviratsehe.
Eine soziologische Studie.
Von G. Ton Glasenapp, Jurjew (Dorpat).
Inhalt.
Die LeTiratoehe und ihr parallel gehende Sitten bei den Israeliten; Versuch
sie aus religiösen Motiven zu deuten; Analoges bei den Indern, Spartuiern, Athenern.
Unznlftnglichkeit dieser ErklArunar. Deutung der L. aus Überzeugungen Ober
biologische VerhUtnisse , bei Israeliten, Indern, Chinesen, ROmem, Kelten. Er-
fahrungstatsachen als Basis der L. ; Analogien aus der Botanik ; biologische Folge-
rungen in betreff der L.
§1.
Auf die Sitte oder das Institut der Leviratsehe (Schwager-
ehe) beruft sich die Bibel mehrfach; aber nur einmal wird
es als Gesetz mit Angabe aller Folgen der Übertretung an-
geführt; es heißt nämlich: Deuteronomium 25, 5 f.:
„Wenn Brüder beisammen wohnen und einer von ihnen
stirbt ohne einen Sohn zu hinterlassen, so soll die Gattin
des Verstorbenen sich nicht auswärts an einen fremden
Mann verheiraten; ihr Schwager soll zu ihr eingehen, daß
er sie zur Frau nehme und ihr Schwagerpflicht leiste. Der
erste Sohn aber, den sie dann gebiert, soll dem verstorbenen
Bruder zugerechnet werden, damit dessen Name nicht in
Israel erlösche; usw." Dann folgt die Strafe des Un-
gehorsams: „ins Gesicht spucken" usw.
Dies Gesetz ist schon deshalb bemerkenswert, weil die
Christenheit, freilich nicht in aUen Konfessionen, gerade eine
solche Ehe, als Ehe zwischen „geistlich Verwandten", für
Incest erklärt und verboten hat. Daß aber bei den Israeliten
dies Gesetz nicht nur, wie manches andere, „auf dem Papier"
380 ^' '^' Glasenapp:
stand, sondern schon seit sehr alter Zeit angewandt ward,
sieht man ans zwei Stellen des Alten Testaments.
Erstens: Genesis 38, 8 — 12. Jnda befiehlt seinem
Sohne Onan die Witwe seines verstorbenen Bruders Ger
zn heiraten, „damit er ihr Schwagerpfiicht leiste nnd seinem
Bruder Nachkommen verschaffe". Onan jedoch trifift Maß-
regeln um zu verhindern, daß ein von ihm zu erzeugendes
Kind nicht ihm, sondern einem anderen zugerechnet werde.
Es verdroß ihn, daß er wegen einer Rechtsauffassung seiner
Mitbürger um seine eigene Nachkommenschafl kommen
sollte. Er selbst wollte Nachkommen haben. Was er tat,
tut jetzt mancher aus dem entgegengesetzten Grunde.
Zweitens: Ruth, Kap. 3 und besonders Kap. 4, 5 f.:
„Da sprach Boas : Gleichzeitig damit, daß du Naemi das Feld
abkauÜBt, hast du auch die Moabitin Ruth, des Verstorbenen
Witwe, erkauft, um des verstorbenen Namen auf seinem
Erbbesitz wieder erstehen zu lassen." Schließlich heiratete
Boas die Ruth, und nach Vers 17 war der Sohn, den sie
hatten, Obed — der Großvater des Königs David. — Die
«nge Beziehung, in die hier der Erbbesitz mit der Ehe
gebracht wird, hat wohl auch Eduard Reuss^) zu der
Meinung veranlaßt, die Schwagerehe sei eingeftlhrt worden
tun das Familieneigentum zu sichern. Zu diesem Zwecke
allein brauchte fürwahr noch nicht der Sohn des zweiten
Gatten (üi den Sohn des ersten Gatten zu gelten. Man sieht
aber auch aus der Rolle, die in dem Buche Ruth der
„Löser", d. h. der zur EheUchung Verpflichtete, spielt, daß
<lie Sitte detailliertere Bestimmungen umfaßte, als das im
Deuteronomium ausgesprochene Gesetz: je nach der Nähe
der Verwandtschaft konnten offenbar außer dem Schwager
noch andere Personen die Witwe heiraten.
Abgesehen von dem Nutzen zur Erhaltung des Namens
und zur Sicherung des Familienbesitzes, mag zur Erklärung
dieser Sitte auf religiöse, ja auf eschatologische Vorstellungen
^) Eduard Bruss, „Gesch. d. Heil. Schriften Alten TestamentB*,
1890^ s. asa
Die Leviratsehe. 381
aas der Vorzeit verschiedener Völker hingewiesen werden,
denen zufolge der Besitz von Kindern, besonders von Söhnen,
för die Eltern einen mehr als bloß irdischen, mit dem dies-
seitigen Leben schwindenden Wert hat. Man konnte versucht
sein, das Schicksal zu korrigieren und den Besitz von Kindern
kraft menschlicher Satzung dort zu fingieren, wo sie in
Wirklichkeit fehlten.
Eine solche Annahme darf sich zu ihrer Stütze auf ein^
zweite Sitte, respektive auf ein Rechtsinstitut aus dem
hebräischen Altertum berufen, das zur Leviratsehe eine
Parallele bildet und in ähnlicher Weise, wie diese den
kinderlosen Gatten de jure zum Vater macht, fiir die kinder-
lose Gattin, jedoch noch bei deren Lebzeiten, sorgt, so daß
auch auf ihr Konto Kinder kommen, die sie nicht selbst
hervorgebracht hat. Das bestand zu Recht, obgleich doch
in diesen Fällen die Erhaltung des Namens und des Familien-
besitzes nicht in Betracht kam. Natürlich meinen wir die
in der Genesis, Kap. 30, 3—6 und 9 — 13 und auch schon
früher Kap. 16, 2 geschilderte Sitte: die kinderlose Rahel
sprach zu Jakob: „Hier ist meine Leibmagd Bilha; wohne
ihr bei, damit sie auf meinem Schöße gebäre und auch ich
durch sie zu Kindern komme!" usw. Also eine lediglich
fingierte, s3rmbolische Mutter will sie werden. Desgleichen
tat dann mit weniger Grund auch Lea, die doch eigene
Kinder besaß ; und Sarah hatte, derselben Sitte folgend, sich
durch ihre Magd Hagar Bander verschaffen wollen. Die
hierin sich kundgebende Auffassung ist nicht eine bloß
israelitische Eigentümlichkeit. Sie ist der Alt-Babylo-
nischen Kultur entnommen, denn imKodex des Königs
Hammurabi (nach Genesis 14, 1 „AmrapheP oder
„Amraph") lesen wir: § 144: „Wenn jemand eine Frau
nimmt, und diese Frau (weil sie keine kinder bekommt),
ihremManne eine Magd gibt, und diese kinder hat" usw. usw.*).
Hier findet ebenso wie bei der Leviratsehe eine Stell-
') ^gl* dazu Alfbkd Jerumias, Das Alte Testament im Lichte des
Alten Orients, 1906 ^ S. 855 f.
382 ^' ^' Glasenapp:
Vertretung des unfruchtbaren parens statt; und in beiden
Fällen wird man sich des überaus hohen Wertes entsinnen,
den viele Völker im Altertum und auch noch jetzt auf den
Besitz von Nachkommen legen.
So liegt es denn am nächsten Umschau zu halten, bei
welchen Völkern noch außer den Israeliten die Leviratsehe
oder etwas ihr ähnliches vorgekommen ist. Vor allem sind
da die Inder zu nennen, bei denen in sehr alter Zeit die
Vorschrift bestand, es könne bei einer durch Schuld des
Mannes kinderlosen Ehe sein naher Verwandter ihn bei der
Frau ersetzen, oder auch mit der Witwe eines solchen Kjinder
erzeugen (man vgl. dazu Manus Gesetze: IX, 69, 121, 146).
War die Frau schuld, so durfte der Mann sich scheiden
lassen. Sodann ist Lykürgos' Gesetzgebung zu erwähnen.
Nach ihr war es, wie Plutarch erzählt, „einem bejahrten
Manne, der eine junge Frau hatte, erlaubt, einen jungen
tüchtigen Mann, der ihm gefiel und den er für tauglich
hielt, bei seiner Frau einzuführen und das von ihnen aus
edlem Samen erzeugte Kind für das seinige zu erkennen".
Plutarch erklärt das einerseits aus dem Bestreben des
spartanischen Gesetzgebers, die unnütze Eifersucht nicht
zu begünstigen, anderseits insbesondere aus der Pflicht eines
jeden mit Hintansetzung seiner eigenen Interessen dem
Staate zu einem Nachwuchs tüchtiger Bürger zu verhelfen
{Plutarch, „Lykurgos", Kap. 15; und dazu die Haupt-
quelle: Xenophon, „Der Lakedämonische Staat"). Drittens
muß das Athenische Volk angeführt werden; denn nach
demselben Plütarchos von Chäronea („Selon", Kap. 20)
„war es dort einer reichen Erbin gestattet, wenn ihr Mann,
den sie nach dem Gesetze hatte heiraten müssen, un-
vermögend war, sich von dem nächsten Verwandten des
Mannes in dieser Hinsicht Ersatz leisten zu lassen**. Plutarch
fuhrt diese Einrichtung auf die Absicht des Selon zurück,
bei Impotenz des Mannes durch solche Nachsicht zu großer
Zügellosigkeit des Weibes vorzubeugen, „damit die Bander
wenigstens aus der Verwandtschaft sind und zur Familie
gehören". — So gewiß wir nun aber in diesen Attischen
Die Leviratsehe. 383
und Lakedämonisclieii Bestimmungen nicht willkürliche
Erfindungen des Lykurgos und Selon erblicken, sondern
gewifi uralte Volkssitten, die von den beiden Gesetzgebern
lediglich sanktioniert worden waren, so genügt das alles
doch nicht, um die israelitische Leviratsehe zu verstehen.
Demi erstens: „comparaison n'est pas raison"; das Ver-
gleichen allein, und wenn es uns bei noch so vielen Völkern
Analoges finden ließe, macht noch nicht die Frage nach
dem „Warum" verstummen. Dann lassen sich aber auch
wirklich bei den arischen Völkern die Wurzeln dieses
uralten Brauches, der zu Plutarchs Zeiten selbstverständ-
licherweise schon nicht mehr richtig begriffen wurde, in
sehr primitiven religiösen Überzeugungen aufdecken; bei
den Israeliten dagegen nicht. Nach indischer wie nach
griechisch-römischer Anschauung führte jeder Verstorbene
seine Existenz weiter fort im Jenseit; er weilte unsichtbar
bei seinen Nachkommen als deren guter Schutzgeist (daimon,
lar); aber sein Wohlbefinden daselbst und seine schützende
Tätigkeit hingen davon ab, daß von dem, der die Familie
fortsetzte, also von seinem Sohne gewisse Zeremonien zu-
gonsteu des verstorbenen Vaters (Libationen, Opfer, Gebete
und andere Riten) an bestimmten Orten, auf seinem Grabe
oder am Altar oder Herdo des Hauses, ausgeführt wurden.
So war einerseits die Erfüllung dieser Gebräuche eine
heilige Pflicht der Söhne; anderseits war es eine heilige
Pflicht der Volksgemeinde, keine Familie je aussterben zu
lassen. Daher der Brauch. Später dienten als Notbehelf
juristische Fiktionen. Fehlte der Ort des Ahnenkultus : das
Grab, wo der Leichnam lag, so trat an die Stelle das
Kenotaphium; fehlte der Mann, der den Kultus vollziehen
sollte, so wurde ein Sohn adoptiert, oder es konnte in
Indien und in Athen der älteste Sohn einer Frau in
bezug auf die Pflicht des Kultus und das Erbrecht juridisch
für den Sohn, nicht seines Vaters, sondern seines Großvaters
von mütterlicher Seite erklärt werden, falls dieser keinen
Sohn hatte (Islus „de Cironis hered." , Demosthenes „in
Stephanum" 11, 20; Manüs Gesetze IX, 127, 136 usw.),
384 ^- V. Qlasenapp:
also ähnlicb dem, wie heute das Anssterbeii der Adels-
geschlechter vermieden wird. Daher galt, wie zn MaKus
Zeiten in Indien, noch zn CiCEROS Zeiten in Born die Be-
stimmung, dafi nur der, dem die Natur eigene Kinder ver-
sagt hatte, solche adoptieren durfte. (Cicero „pro domo",.
Kap. 13, 14; Manüs Gesetze IX, 10). Diesem Totenkult
und Ahnenkult, der bei den Chinesen noch jetzt zu Kraft
besteht, ist ja von manchen sonst einsichtsvollen Forschem
eine so übertrieben grofie Bedeutung beigelegt worden, daft
sie aus ihm überhaupt alle Keligion ableiten wollten, während
er doch nur die Glaubensformen und Kultusformen umfaßt^
in die ein gewisser Teil der religiösen Bestrebungen sich
eingekleidet hatte. Da Belege für alles dieses schon in
vielen Werken gesammelt worden sind*), sei es gestattet
hier nur zwei Stellen anzufahren: in den „Choephoren"
des ÄscHTLOs (162) sagt Orestes zu seinem gestorbenen
Vater: „Solange ich noch lebe, o Vater, wirst du glänzende
Opfer erhalten, aber wenn ich tot bin, wirst du nicht mehr
deinen Anteil an den Darbringungen bekommen, welche
die Verstorbenen nähren". — In der unter dem Namen
Bhagavadgita bekannten Episode des MahabharaTA heißt
es (Gesang I 9loka 40):
^tirbt ein Geschlecht, so höret auf alsbald der Hanenopfer Pflicht,
Und ruchlos wird der ganze Stamm, wenn Ahnenkultns ihm gebricht*.
(Ähnliches noch in 9loka 42 und 43.)
-kulakshaye prana9yanti kuladharm&h san&tan&h
aharme nashte kulam kritsnam adharmo 'bhibhavaty ata.'^
Sollen also derartige Gebräuche, wie derjenige, der den
Gegenstand dieser Abhandlung bildet, mit dem Ahnenkult
in Verbindung gebracht werden, so wird entweder Ent-
lehnung von einem Volke, das diesem Kultus ergeben ist,
nachzuweisen sein, oder Ahnenkult bei den Israeliten selbst
V7eder das eine noch das andere dürfte gelingen. Jahwe
war ein viel zu eifersüchtiger Gott, als daß er neben dem
') Z< B. H. Orj}fi«BEBG, Die BeUgion des Veda; Fubtel de Coulanqes»
La Cit^ Antique; Galand, Über Totenverehrung | Altind. Ahnenkult.
Die Leviratsehe. 385
Knltus seiner Person den einer anderen geduldet hätte;
selbst die Teraphim, die alten Hausgötter aus Labans und
. Rahels Zeiten (Genesis 31, 19), mußten vor ihm ver-
schwinden.
So wollen wir diesem Gedankengange, der ja auch bei
den Ariern nur die eine Seite, die mythologische, nicht die
praktische, erklärt, — nicht weiter folgen ; — eben deshalb
nicht, weil für eine solche Provenienz der Leviratsehe die
heiligen Schriften des hebräischen Altertums, also das Alte
Testament, keine genügenden Anhaltspunkte bieten. Das
Alte Testament leugnet zwar nirgendwo — es sei denn im
Kohelet — die Fortexistenz nach dem Tode; und auch
Jakob sprach im Schmerz über den vermeintlichen Tod
seines Sohnes Joseph (Genesis 37, 35): „Trauernd werde
ich zu meinem Sohne hinabsteigen in die Unterwelt". Aber
die Vorstellungen von einem Jenseit und einem Leben nach
dem Tode spielten doch bei den Israeliten, solange sie noch
nicht mit den Eraniem bekannt geworden waren , eine so
geringfügige Rolle und werden nur so flüchtig, selten und
beiläufig erwähnt, daß sie allein zur Begründung jener
merkwürdigen Sitte der Leviratsehe nicht berechtigen.
§2.
Man vergegenwärtige sich, welch seltsame Dinge, ja, —
für die eifersüchtigen Ehrbegriffe des modernen Europäers —
welch anstößige Dinge dem gläubigen Jünger des Moses mit
dieser weisen Einrichtung zugemutet werden. Ein Ehemann
ist abwesend — gestorben oder verschollen — , und das Kind,
das mit seinem Weibe ein Anderer unterdessen erzeugt, soll er
geduldig auf seine Rechnung setzen lassen, ja eigentlich sich
noch im Jenseits bei seinem Bruder bedanken für diesen
„Liebesdienst" in des Wortes verwegenster Bedeutung. Dem
abwesenden Gatten wird, wie Ariosto^) sagen würde, „die
Helmzier derer von ComwaUis" (il cimier di Comovaglia")
aufgesetzt; es geht ihm wie dem verreisten Gemahl in
*) L. Ariosto, Orlando Furioso, Ges. 42, Str. 103.
yiertelj»hrB£chriftf.wi88en8«haft1. Philos u.SozioI. XXXII. 8. 25
386 G^. V. Glasenappr
Chamissos bekanntem Q-edicht „Sankt Vito" ; er wird in
absentia gekrönt nnd soll dann die Urheberschaft einer
solchen Progenitur noch dazu mit Erkenntlichkeit auf sich
nehmen. Heute würde man das „höflichst" ablehnen.
Sollte daher, fragen wir, diese Meinung von der Vaterschaft
bei einem so eminent praktisch angelegten Volke wirklich
nur auf phantastisch -mythologische Vorstellungen und
"Wünsche über das Verhalten der Seelen zwischen diesseits
und jenseits zurückzufahren sein und nicht vielleicht auf
uralte Beobachtungen wirklicher Naturvorgänge? Hat man
nicht möglicherweise im Ernste geglaubt, daß, wenn jemand
eine Witwe freit, das erste Kind in einem gewissen Sinne
und zu einem gewissen Teile nicht ihm allein, sondern auch
seinem Vorgänger, dem ersten Gatten zugehöre. Falls also
eine solche Überzeugung bestand, so haben wir uns erstens
nach Belegen dafür umzusehen, worin sie sich sonst noch,
außer dieser Sitte der Leviratsehe, äußerte.
Zweitens haben wir dann die Erfahrungstatsachen
beizubringen, die den Beweis für die Richtigkeit dieser
Überzeugung liefern, wobei natürlich die alten Hebräer
nicht etwa schon ein deutliches Bewußtsein des Kausal-
zusammenhanges gehabt zu haben brauchen; wie oft gilt
nicht der Satz, daß „was kein Verstand der Verständigen
sieht, das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt".
Für das Bestehen der Überzeugung, die wir eben
formuliert haben, lassen sich aus dem Alten Testament
manche Stellen anführen; z. B. der den Israeliten bei der
Bekämpfung der autochthonen Bevölkerung Kanaans ge-
gebene Befehl: Numeri 81, 17: „So tötet nun alles, was
männlich ist unter den Kindern der Heiden; ebenso tötet
jedes "Weib, dem bereits ein Mann beigelegen hat. Dagegen
alle Kinder weiblichen Geschlechts, denen noch
kein Mann beigelegen hat, laßt für euch am Leben". —
Bei dem schon früh erwachten Bestreben der Israeliten,
ihre Basse von Vermischungen mit anderen Rassen rein-
zuhalten, soll diese Vorschrift in betreff der Behandlung
besiegter Feinde doch den Gedanken aussprechen, daß ein
Die Leviratsehe. 387
Mann nur dann sicher sein darf, alleiniger Vater der mit
einem Weibe zu erzeugenden Kinder zu sein, wenn dieses
Weib, bevor es das seinige wurde, noch niemals frühei?
Gelegenheit gehabt hatte zu konzipieren. Dieselbe Auf-
fassung bezeugen andere Stellen, z.B. Deuteronomium21,
10—14.
Allein, weshalb sollen wir uns nur an das Volk Israel
halten? Spricht nicht die Scheu, die vielfach verbreitet ist,
Witwen zu freien, besonders solche von fremder Ab-
stammung — spricht nicht die überschwengliche Hoch-
schätzung, die man der Jungfräulichkeit und der Treue der
Ehegattin entgegenbringt, für dieselbe Überzeugung! Und
hierin sind alle einig, vom sogenannten Naturmenschen
niedrigster Rasse, von dem Australneger bis zum Vertreter
der höchsten Kultur, bis zum Hellenen aus Perikles Zeit-
alter. Nur solange es sich darum handelt, mit Kantischer
Strenge eine rein moralische Bewertung der Keuschheit vor-
zunehmen, unterliegen beide Geschlechter gleicher Be-
urteilung, und die gleiche Vergiftung der Phantasie droht
jedem Übertreter des sittlichen Imperativs. Utilitaristische
Rücksichten und der Gedanke an künftiges Familienglück
verschieben schon die Stellung der Geschlechter; denn
erstens wird durch die Verletzung der Tugend von Seiten
der Gattin der Ehemann unsicher, wessen Nachkommen er
in seinem Hause aufzieht und nährt, während bei solcherlei
Verletzung von Seiten des Mannes „mater semper certa est" ;
und zweitens föllt der Gedanke in die Wagschale, daß eine
Unverheiratete, die zu der Zeit, wo eine solche Verfehlung
sie den schwersten Gefahren und Vervehmungen aussetzt,
ihre Tugend nicht bewahrt, eine schlechte Garantie bietet
für später, für die Zeit der Ehe, wo einerseits der Trieb
geweckt ist, anderseits die Folgen des Fehltritts sich leichter
verhehlen und auf Rechnung des eigenen Gatten setzen
lassen. So steht's beim Manne nicht.
Aber ganz abgesehen hiervon haben offenbar zu allen
Zeiten, wo nicht verfeinerte Zivilisation den gesunden Takt
vernichtet hatte, die Ehemänner geglaubt, nur dann auch
25»
388 G^. V. Glasenapp:
wirklichi ganz und gar Väter ihrer Kinder zu sein, wenn
ihre Frauen früher noch nie empfangen hatten. Später
jEreilich heißt es: „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage ;
weh dir, daß du ein Enkel bist!" Nämlich die zu einer Art
von Gesetz erstarrte Sitte übt ihre Tyrannei auch in solchen
Fällen, wo der Grund, der sie entstehenließ, fehlt. Darum
leiden noch heutzutage in Indien unzählige junge Witwen,
deren „angetraute Gatten" vielleicht im Alter von drei oder
vier Jahren gestorben sind, unter der Sitte, die den Männern
verbietet, Witwen zu freien; und einige selbstverleugnende
Aufklärer, die zu unserer Zeit durch ihr Beispiel diesem
harten Brauch entgegenwirken wollten, haben sich die all-
gemeine Verachtung der Volksmenge zugezogen ; denn man
hält ihre Nachkommen nicht fiir legitim. Auch die indische
Witwenverbrennung — das Sati- werden — scheint mit dieser
Ansicht zusammenzuhängen : die Frau hat als Gattin eines
Mannes ihre Bestimmung bereits erfüllt; denn sie kann
nach seinem Tode nicht mehr Mutter „wohlgebomer"
Kinder werden. — Wo, wie in T i b e t , Polyandrie vorkam,
waren es wenigstens nur Brüder, die zusammen eine Frau
nahmen. Über etwas dem Ahnliches ist es interessant,
Julius Caesars Bericht aus dem alten Britannien zu ver-
nehmen (De belle Gallico, V, 14 § 4) „Uxores habent deni
duodenique inter se communes et maxime fratres cum
fratribus parentesque cum liberis; sed qui sunt ex iis nati,
eorum habentur liberi, quo primum virgo quaeque deducta
est". — Also hier, bei den Kelten, wurden dem Vater des
ersten Kindes auch die übrigen zugerechnet; genau wie bei
den Israeliten. Und was unter den Menschen galt, hat
man auch in der Tierwelt gelten lassen: wenn z. B. die
Araber reinblütige Pferde züchten wollen und eine ihrer
edlen Stuten zufölligerweise von einem nicht-reinblütigen
Hengste befruchtet worden ist, so töten sie nicht nur das
von jenem Hengste erzeugte Füllen, sondern darauf noch
ein oder zwei Füllen derselben Stute, die von Rassehengsten
abstammen; und erst das dritte oder vierte Füllen kann
wieder für echt gelten und leben bleiben.
Die Leviratsehe. 389
Bei diesen Betrachtungen fallt dem Juristen natürlich
die frappante Ähnlichkeit auf, die mit solchem summarischen
Verfahren der Wüstenbewohner gewisse römisch-recht-
liche Bestimmungen haben. Wenn nämlich die Wieder-
vereheUchung einer Witwe nicht gern gesehen wurde, und
wenn es „poenae secundarum nuptiarum" gab, so wird
dafiir im Corpus Juris kein ethischer oder religiöser,
sondern ein ausschließlich physiologischer Grund angegeben.
Es heißt: „Praetor enim ad id tempus se retulit, quo vir
elugeretur, qui solet elugeri propter turbationem
sanguinis"^). Es kommt darauf an, die „turbatio
sanguinis" zu vermeiden; die Durcheinandermischung des
Blutes.
§8.
Um nunmehr die Ansicht eines gelehrten Biologen an-
^ufiahren, die auch gleich zu dem Versuche hinüberleitet,
imsere zweite Aufgabe zu lösen, nämlich die erfahrungs-
mäßige Grundlage der Leviratsehe aufzuzeigen, zitieren wir
eine Stelle aus: Dr. L. Diemer, Das Leben in der Tropen-
zone*): „Der Europäer (auf den malayischen Inseln, der
mit einer inländischen Frau verheiratet ist), nimmt meist
inländische Sitten an, . . . seine Kinder haben mehr den
Typus der Eingeborenen, mit einem Worte, die Nationalität
des Europäers geht verloren; dagegen bleibt der Chinese
in seinen Handlungen, Sitten, seiner Ernährungsweise
Chinese, seine Kinder haben mehr den Typus des Vaters,
die eingebome Frau schickt sich in chinesische Tracht, Ge-
wohnheiten und Gebräuche. Vielleicht liegt die Erklärung
hierfiir in dem Umstände, daß Europäer in der Regel ti-
länderinnen, welche bereits Mutter eines Blindes waren, zur
Frau nehmen, während die Chinesen sich möglichst be-
mühen, stets eine Jungfrau heimzuführen. Es kommt hier
die bekannte Erfahrung in Betracht, daß Kinder einer Witwe,
*) TJlpun: 2 D. III, 2, De his qui notantur infamia.
^ Dr. L. DiEMER, Das Leben in der Tropenzone, speziell im
indischen Archipel. Hamburg 1887, S. 40 f.
390 ^' ▼• Glasen app:
welche schon fiiiher geboren hatte, nicht selten dem ersteit
Manne gleichen, wie auch von Tieren Ähnliches behauptet
wird; wenn Verfasser auch in wissenschaftlichen Werken
keine bestimmten Tatsachen hierüber finden kann, so haben
ihn doch Hundezüchter dahin berichtet, daß die später ge-
bornen Jungen einer Hündin oftmals dem ersten Begatter
ähneln; andere Viehzüchter sagen dasselbe, imd sehr all-
gemein ist der Glaube, daß eine Stute, die einmal von einem
Esel ein Maultier geboren hat, späterhin keine Füllen mehr
wirft, welche nicht einige Ähnlichkeit mit einem Esel oder
Maultier zeigen. J. E. Teysmann beobachtete Ahnliches bei
Pflanzen ; pfropft man nämlich ein Reis mit farbigen Blättern
auf einen Baum derselben Art mit nur grünen Blättern und
läßt dasselbe sich vollständig entwickeln, so soll auch nach
Entfernung des Zweiges der Baum selbst farbige Blätter
hervorbringen«.
Wir nähern uns denjenigen biologischen Beobachtungen
und Betrachtungen, die für unsere Frage entscheidend sind,
indem wir einen zweiten namhaften Biologen zitieren: Dr.
Wilhelm Haacke ^) spricht, Kapitel HI, o, S. 301 von „zweifel-
haften Vererbungserscheinungen " und erwähnt zuerst die
sogenannten „Xenien", Fälle, in denen der Blütenstaub
nicht nur auf die Eizelle einwirkt, sondern auch auf die
übrigen Gewebe der mütterlichen Frucht erbliche Eigen-
schaften überträgt. Wenn gelbkömiger Mais durch Pollen
von blaukömigem befruchtet wird, so werden zuweilen die
Maiskörner blau. Haacke nimmt die Vererbung erworbener
Eigenschaften an und setzt demgemäß eine Beeinflussung
der Keimzellen durch die des Körpers voraus, weü die
Keimzellen mit diesem im Gleichgewicht stehen und weil
sich verändertes Gleichgewicht auch auf die Keimzellen
übertragen muß. Der Unterschied fiir die Tiere sei nur,
daß bei ihnen die Eizelle erst befinchtet wird, nachdem sie
sich aus dem Verbände der übrigen Zellen gelöst hat (?)^
^) WiLHKLM Haake, Gestaltung und Vererbung. Eine Entwicklungs-
mechanik der Organismen. Leipzig 1893, Kap. Ill, o, S. 801.
Die LeTiratsehe. 391
während bei den Pflanzen die Eizelle zunächst in Zusammen-
hang mit den Geweben des mütterlichen Fruchtknotens
bleibt. Femer erwähnt auch Haacke die „Infektion des
Keimes** , der zufolge die Nachkommen einer Mutter ge-
legentUch mehr einem früheren Gatten als ihrem eigenen
Vater gleichen sollen. Sichergestellt ist unter anderem
der berühmte Fall, in welchem eine Pferdestute des Lord
Morton, die einmal von einem Quaggahengst gedeckt war,
später von einem arabischen Rapphengst zwei Füllen warf,
die zum Teil graubraun und an den Beinen quaggaartig ge-
streifl und mit einer kurzen aufrechtstehenden Mähne, wie
sie das Quagga, nicht aber das Pferd besitzt, versehen waren.
§4.
Damit die erklärende Ausdeutung dieser biologischen
Tatsachen^ die wir dem Urteil der Leser vorzulegen haben,
allgemein verständlich sei, gestatten wir uns vorher ganz
kurz an diejenigen Vorgänge aus dem Leben der Organismen
zu erinnern, die das Wesen der Fortpflanzung aus-
machen und die, was besonders zu betonen ist, den Pflanzen
und Tieren durchaus gemeinsam sind, angefangen von den
Algen (z. B. dem gemeinen Blasentang, Fucus vesiculosus)
bis herauf zu den höchstentwickelten Phanerogamen und
den Säugetieren. Denn gerade das hierin übereinstinmiende
Verhalten der Pflanzen und Tiere erlaubt uns Analogien
aus beiden Naturreichen zur Verdeutlichung heranzuziehen.
Die Zelle, sei's daß sie als einzelne frei lebend ein
ganzes Individuum ausmacht (wie die Amöben, Infusorien
und manche Pflanzen, oft sehr große, z. B. die vielen Formen
der Caulerpa), — sei's daß sie als Teil eines vielzelligen
Individuums in Betracht kommt, — ist als die biologische
Einheit anzusehen, die sich nicht anders als durch Teilung
vermehrt und immer aus einer anderen Zelle entstanden ist
(omnis cellula e cellula). Und dabei sind als Hauptbestand-
teile der Zelle diejenigen zu betrachten, die diese Teilung
mitmachen: das Protoplasma, der Kern der ZeUe und
innerhalb des Kernes die während der Teilung, im Zustande
392 Cr- V. Glasenapp:
der Mitose, als Stäbchen sichtbar werdenden Chromo-
somen. (Was nur an Pflanzen oder vielleicht nur an
Tieren vorkommt, wie Chromatophoren und Centrosomen,
bleibt hier unberücksichtigt; es ist nicht allen gemeinsam.)
Bei der Teilung nun entsteht nur: Protoplasma aus
Protoplasma, Zellkern aus Zellkern ; und in ihm : Chromosom
— durch Längsteilung — aus Chromosom; während das
übrige : die Zellhaut, Vakuolen, kristallinische Eiweißkömer
usw. sich aus dem Protoplasma ausscheiden. Zu der Zeit, wo
keine Teilung bevorsteht, also außerhalb der Mitose, zeigt
der Kern ein gewebeähnliches oder marmoriertes Aussehen ;
die Chromosomen treten nicht hervor, bleiben latent.
Im allgemeinen unterscheidet man wohl Keimzellen
und vegetative (metamorphe) Zellen, da durch die Teilung
der Keimzellen die Individuen sich vermehren, durch die
der vegetativen Zellen sie nur wachsen und sich ausbilden.
Man hält daran fest, obgleich nicht bloß bei einzelligen
Tieren und Pflanzen natürlich beides zusammenßlllt und
jede Teilung eine Vermehrung bedeutet, und obgleich auch
bei manchen vielzelligen — z. B. bei Marchantia — jede
vegetative Zelle durch äußere mechanische Eingriffe, durch
Lösung aus dem Verbände der Nachbarzellen ein neues In-
dividuum von sich abgliedern, also gewissermaßen zur
Keimzelle werden kann. So gibt es allenthalben Übergänge
in den Funktionen der Organismen und ihrer Teile; und
die biologischen Gesetze ähneln darin, daß sie Ausnahmen
und Übertretungen nicht ausschließen, mehr den von den
Menschen gegebenen, als den unbeugsamen Gesetzen in der
Physik und Chemie.
Die sexuelle Fortpflanzung, mit der wir es hier be-
sonders zu tun haben, unterscheidet sich von der nicht
sexuellen dadurch, daß zunächst nicht eine Vermehrung,
sondern eine Verminderung der Zellen eintritt : zwei Keim-
zellen verschmelzen zu einer; und diese Verschmelzung
des Spermatozoiden mit dem Ei bildet den Impuls zu einem
weiteren, oft lange fortgesetzten Teilungsprozeß innerhalb
des dabei wachsenden Eies, durch den es sich zum voll-
Die Leviratsehe. 393
standigen Individuum entwickelt, bis es selbst wieder im-
stande ist Keimzellen zu bilden und von sich abzutrennen.
um sich vereinigen zu können, müssen die, entweder
geschlechtlich unterschiedenen oder (bei den sogenannten
„Isogameten") gleichen Keimzellen, reif sein; d. h. die im
Zellkern enthaltenen, für jede einzelne Gattung von Orga-
nismen an Zahl immer gleichen Chromosomen müssen sich
vorher um die Hälfte ihrer typischen Menge (etwa von 4
auf 2, von 62 auf 31 usw.) vermindert haben, was man die
Reduktionsteilung nennt. (Ausführlich behandelt von
Edmund Wilson ^). — Das geschieht bei den Tieren um zwei
Zellgenerationen vor der Abtrennung vom Organismus, bei
den Pflanzen noch früher.
Der Hergang der Fortpflanzung ist nun bei Pflanzen
und Tieren der gleiche: die abgelösten Spermatozoiden,
die aus einem relativ großen Zellkern mit den Chromosomen
darin und einer dünnen Hülle von Protoplasma bestehen,
umschwärmen, wie Tänzer, die einer Dame den Hof machen,
oft in großer Zahl das reife Ei, bis es einem Spermatozoiden
gelingt, sich in das Protoplasma des Eies einzubohren.
Jetzt vereinigen sich die beiden Protoplasmen und Kerne
in der Art, daß sämtliche Chromosomen des Eies und des
Spermatozoiden sich der Länge nach teilen, — „etwa wie
man einen Papierstreifen mit der Schere der Länge nach
zerschneidet", — und dann je eine Chromosomenhälfte von
der Seite der Spermatozoiden sich ziemlich dicht anlegt an
je eine Chromosomenhälfle des Eies, ohne jedoch mit ihnen
jemals zu verschmelzen. Damit ist die Befruchtung voll-
zogen ; und an dem Ei beginnt nun der Prozeß des Wachs-
tums und der Teilung, der sich äußerlich meist durch
Furchung kundgibt; die Zelle wird zur Furchungskugel.
Klar ergibt sich hieraus die finale Bedeutung der voraus-
gehenden Beduktionsteilung ; denn ohne sie müßte die Zahl
der Chromosomen in dem neugebildeten Organismus doppelt
M Edmuicd Wilson, The Cell in development and inheritanoe,
S. 233 f.
394 Ö". V. Glasenapp:
SO groß sein wie in den Zellen der Organismen, von denen
er abstammt und deren einer sich aus ihm ausbildet. —
Dabei ist zu beachten, daß bei allen Individuen, mit denen
wir es hier zu tun haben, das Ei noch nicht völlig aus dem
Verbände des Mutterorganismus gelöst worden ist.
§5.
Betrachtet man im Lichte dieser Grundtatsachen der
Fortpflanzung dasjenige, was oben als „Infektion des Keimes"
bezeichnet wurde, d. h. die nicht wegzuleugnende Er-
scheinung, daß bei mehrmaliger Befruchtung eines weib-
lichen Organismus die Nachkommen des zweiten männlichen
Parens Eigenschaften an sich tragen, die sie nur vom ersten
Parens geerbt haben können, — so liegt es nahe, eine Ein-
wirkung männlicher Zeugungsstoffe auf noch unentwickelte
Keimzellen des mütterlichen Organismus anzunehmen, also
vorauszusetzen: es könnten die noch unreifen Eier einen
Teil ihres Protoplasma jenen Spermatozoiden entnommen
haben. Da es sich hierbei darum handelt, nachzuweisen,
wie ein Kind etwas ererbt haben kann, weder von 'der
Mutter noch vom Vater, sondern vom Vater seiner Stief-
geschwister, so wird eine strikte Kausalerklärung auf diesem
Wege schwerlich gelingen. Wir beschränken uns also
darauf, aus der Zoologie und Botanik eine Reihe von Ana-
logien anzuführen, die einen solchen Hergang wenigstens
bis zu einem gewissen Grade wahrscheinlich machen. Denn
was 'svirklich ist, muß doch schließlich auch möglich sein.
Wonach gesucht wird, das sind, allgemein gesprochen^
Nebenwirkungen oder Nachwirkungen der sich
eben vollziehenden eigentlichen Befruchtung eines reifen
Eies. — Man wird nun zunächst daran denken, daß jede
Bienenkönigin nur einmal befruchtet wird und dann etwa
4 bis 5 Jahre, also ihr ganzes Leben lang, viele tausend
Eier legt. Hier ist es auch nicht möglich, daß etwa in so
viele tausend (etwa 40 000) „reife" Eier der Königin Sper-
matozoiden eingedrungen seien; das Keimplasma unterliegt
aber doch einer Beeinflussung, die an der Nachkommenschaft
Die Leviratsehe. 395
zutage tritt. Ahnliches gilt von vielen Vögeln und Insekten,
bei denen auf einmalige Konzeption mehrmalige Produktion
folgt.
Auch bei den bereits erwähnten Xenien muß eine Neben-
wirkung der Befruchtung angenommen werden. Das, waa
hier stattfindet und längst an Zea Mays beobachtet worden
war (siehe Focke, „Pflanzenmischlinge"), hat man später
Doppelbefruchtung genannt und an der Klasse der
Angiospermen genau studiert. Angiospermen heißen
diejenigen Phanerogamen (Blütenpflanzen), bei denen das
Endosperm, das Nährgewebe der Embryonen., nicht vor,
sondern erst nach der Befruchtung entsteht; die andere
Klasse der Phanerogamen bilden die Gymnospermen. Beim
Mais erhält demnach durch Bestäubung mit Pollen einer
fremden Rasse nicht nur der Embryo, sondern, wie sich aus
dem Folgenden ergeben wird, auch das Endosperm hybride
Eigenschaften.
Der Hergang bei der Doppelbefruchtung der Angio-
spermen ist, kurz zusammengefaßt, folgender: Aus dem
Pollenschlauche treten zwei Spermatozoiden den Weg in
den das Ei enthaltenden Embryosack an. Der Embryosack
ist ursprünglich eine weibliche Keimzelle, die sich nocK
vor ihrer Befruchtung zuerst in zwei Tochterzellen geteilt
hat. Diese zwei Zellen teilen sich dann wiederum in je
zwei; und nachdem die vier neuen Zellen in der Zellen-
hülle eine besondere Lage angenommen haben, findet noch-
malige Teilung statt. Von zwei bei dieser letzten Teilung
aus einem entstandenen Kernen ist einer das Ei; die andere
Hälfte dieses Eies — also sein „Bruderkem" — , genannt
„oberer Polkem" , vereinigt sich mit' einem anderen neuen
Kerne , genannt „unterer Polkem" , und wird dann nach
der Verschmelzung „sekundärer Embryosackkem" genannt»^
d. h. es findet innerhalb der weiblichen Keimzellen gewisser-
maßen ein Geschlechtsakt, eine Zellenvereinigung statt.
Von den beiden Spermatozoiden, die jetzt in den Embryo-
sack eintreten, vereinigt sich der eine mit dem Ei, der
andere mit dem sekundären Embryosackkem. Die übrigen
396 ^' ▼• Glasenapp:
fünf weiblichen Keimzellen gehen frühzeitig zugrunde. —
Das Ei wird dadurch zur entwicklungsfähigen Mutterzelle
des Embyro; der befruchtete sekundäre Embryosackkeru,
der somit nun im ganzen aus drei Kernen besteht, entwickelt
sich zur Endospermmutterzelle und dient dem Embryo zur
Nahrung. Dieses Endosperm verdankt demzufolge sein Da-
sein einem Sexualakt, der aber doch kein Fortpflanzungsakt
ist, sondern eine anderweitige Bedeutung hat.
Das ist ein Verhalten, das zur vorausgesetzten „Infektion
des Keimes" eine bemerkenswerte Parallele bildet; denn,
wie man daraus sieht, können beim Sexualakt die männ-
lichen Zeugungsstoffe außer der eigentlichen Befruchtiinor
den Mutterkörper anderweitig sehr wirkungsvoll beeinflussen.
Auch sonst noch sei an einige sogenannte „Nach-
wirkungen der Vererbung" erinnert; nämlich an die Er-
scheinung, daß durch die Befruchtung nicht nur die Ent-
wicklung des Eies, sondern auch Wachstumsvorgänge in
Teilen der Mutterpflanze angeregt werden, wie z. B. das
Eruchtfleisch der Erdbeere und Birne. Für die Quitte hat
J. Reinke*) gezeigt, daß durch die Fortleitung des Be-
fruchtungsreizes auch eine Verdickung der vorjährigen ver-
holzten Achsen hervorgebracht wird, die die Blüten tragen ;
während die Verdickung unterbleibt, wenn die Befruchtung
fehlschlug.
Faßt man das uns beschäftigende Problem so, daß man
fragt, ob nicht auch männliche Zeugungsstoflfe, ohne eine
regelrechte Befruchtung zustande zu bringen, mitunter an
den weiblichen Keimzellen einen Anstoß zur "Weiterentwick-
lung der Eier geben können, also einen Anfang oder Ansatz
dazu bewirken, der vielleicht bei Erneuerung des Reizes
zur Ausbildung des Embryo führt: so läßt sich auch hier-
für einiges anführen. Es hat z. B. H. Winkler*) die Be-
obachtung gemacht, daß durch Einwirkung wäßrigen Ex-
traktes von Sperma die Eier von Seeigeln zur Furchung,
*) J. Reinke in den „Nachr. der k. Gesellsch. d. Wissensch. in
Oöttingen", 1878.
*) H. WiNKLER in den „Göttinger Nachrichten", 1900.
Die Leviratsehe. 397
wenn auch nicht zur vollen Entwicklung gebracht werden
können. Noch manche als Analogie interessante Tatsache,
z. B. über die Pfropfbastarde (Cytisus Adami usw.) und
über sexuelle Einflüsse vegetativer Zellen verschiedener
Organismen lassen sich aus den Werken von J. Reinke^
und von Hans Driesch^ entnehmen-, doch möge das An-
gefahrte genügen. Denn alle Analogien überreden eher, als
daß sie gerade den bestinmiten Fall bewiesen; sie besagen
nur, daß so etwas Ähnliches sonst noch vorkommt. Wir
bedürfen ihrer nicht, sondern gehen zu folgender Betrachtung
über.
§ 6.
Jedesmal wenn ein weiblicher Organismus, so wie es
bei den Säugetieren der Fall ist, von seiner Befruchtung an
bis zur Geburt des ausgetragenen Embryo eine mehr oder
weniger lange Schwangerschaft durchmacht, hat das für die
Lebensprozesse die Bedeutung, daß zwei Wesen von nicht
gleicher Abstammung — die Mutter und der Embryo —
andauernd, beim Menschen z. B. neun Monate lang, mit-
einander in vitaler Wechselwirkimg stehen. Man darf nichts
weil die Mutter groß und der Embryo klein ist, meinen,
die Mutter schaffe den Embryo aus ihren Kräften •, sie gebe
nur und der Embryo empfange nur. Nein! Das, was die
Mutter dem Embryo, nachdem er einmal daist, einseitig
mitteilt, ist materielle Substanz; es sind chemische Moleküle,
wie sie im Stoffwechsel alle Organismen durchkreisen und
nirgends verweilen. Die Substanz, auch die organische,
gehört als solche dem ganzen Weltall an und bedingt keine
besondere Form. Das Gesetz aber, wonach der Embryo
sich entwickeln muß, das Gesetz seiner Evolution, die wohl
auf ihrem Gange vernichtet, jedoch nimmermehr in andere
Bahnen gelenkt werden kann, hat der Embryo damals, als
die Bejßruchtung stattfand, zu gleichen Teilen vom Vater
^) J. Beinke, Einleitung in die theoretische Biologie, 1901.
■) Z. B. die „Organischen Regulationen^ und seine früheren
Studien.
398 ö' V. Glasenapp:
und von der Mutter empfangen. Von jeder Seite stammt
eine Keimzelle; und genau so viele Chromosomen, wie die
Mutter hergegeben hat, haben sich aus dem väterlichen
Zellkern ihnen zur Seite gelegt-, und indem die Embryozelle
sich bei ihrer Entwicklung fort und fort teilt, vermehren
fiich die väterlichen Chromosomen durch den ganzen Körper
hindurch immer in demselben Maße wie die mütterlichen
und bleiben ihnen an Zahl auch im erwachsenen Menschen
gleich. Sie sind die Träger der komplizierten Regel, nach,
der das neue "Wesen sich ausbildet; mit ihnen vererben
sich die feinsten Einzelheiten des körperlichen und geistigen
Habitus, die oft erst nach langen Jahren in die Erscheini^g
treten, z. B. das fiühe oder späte Erbleichen der Haare.
Wenn also die Mutter und der Embryo neun Monate
oder auch kürzere Zeit miteinander in Wechselwirkung
stehen, so beeinflußt nicht nur hierbei die Mutter den
Embryo, sondern der Embryo beeinflußt auch die Mutter
kraft derjenigen Beschaffenheit, die er nicht von mütter-
licher, sondern von väterlicher Seite besitzt. Der Organismus
der Mutter befindet sich in lebendiger Verbindung mit einem
Wesen, das nur zur Hälfte ihr angehört, zur Hälfte ihr
fremd ist. Die Mutter bildet in der Verbindung mit diesem
Wesen gewissermaßen eine Einheit; eine Einheit, in der
ein Ausgleich angebahnt werden muß, nämlich ein quali-
tatives Gleichgewicht, wenn nicht völlig hergestellt, so doch
von der Natur herzustellen versucht wird. Die Mutter
wird also vom Embryo wie von einer äußeren Macht in
ihrem Organismus beeinflußt. Und an welchem Teil, als
dem bildsamsten von allen, wird dieser Einfluß sich am
sichersten ausprägen? Natürlich an den Keimzellen, in
denen, gewissermaßen in einen engen Punkt zusammen-
gezogen, sich alle Anlagen eines Individuums, ererbte und
erworbene, konzentrieren. Denn allein aus der Keimzelle
können eben alle anderen Zellen entstehen. Man weiß,
daß eine zufallige Bjrankheit, von der ein Individuum er-
griffen wird, sich auf die Nachkommen auch dann noch
überträgt, wenn sie an diesem Individuum bereits unterdrückt
Die Leviratsehe. 399
worden Trar ; sie hatte eben die Keimzellen beeinflußt. (Von
namhafben modernen Biologen hält wohl nur August Weis-
MANK, "ond auch er nur mit manchen IQauseln, daran fest,
daß sich erworbene Eigenschaften nicht vererben.)
Wenn also nach der ersten Konzeption der Embryo
Termittelst der Besonderheiten, die er vom Vater erhalten
hat, dem mütterlichen Organismus und speziell dessen
Keimzellen sein Gepräge hinterläßt, so ist es völlig erklärlich,
wie diese Keimzelle, bei erneuter Konzeption zur Entwicklung
gelangend, Eigenschaften an sich tragen kann, die sie
durcli Vermittlung jenes ersten Embryo von dessen Vater
geerbt hat.
Hiermit scheint wohl der Beweis geliefert zu sein, daß
der Grundgedanke, der das Institut der Leviratsehe ge-
schaffen hat, nicht auf eschatologi sehen, metaphysischen
oder mythologischen Voraussetzungen zu beruhen braucht,
vielmehr eine zuverlässige erfahrungsmäßige Basis besitzt
in Tatsachen der Beobachtung, die wahrscheinlich viele
tausend Jahre hinter Moses zurückreichen. In mannigfachen
Anwendungsbeispielen, gewissermaßen in Metamorphosen,
trat uns der Grundgedanke allenthalben entgegen: bei
Chinesen, Indem, Römern, Israeliten, Tibetaniem und Kelten
in Britannien, am allgemeinsten aber als der consensus
gentium in der Hochschätzung der Virginität, d. h. darin,
daß die sexuelle Tugend dem Weibe höher angerechnet
wird als dem Manne, weil sie allein dem Gatten dafür Ge-
währ leistet, daß seine Kinder auch wirklich ganz seine
Kinder seien und nicht Mestizen, indem er etwa nur einem
anderen Manne „Samen erweckt" habe. Solche Hoch-
schätzung ist also nicht, wie die Prauenrechtleriiinen ver-
künden, auf die Ungerechtigkeit der Männer und auf deren
Manier, „mit zweierlei Maß* zu messen, zurückzuführen,
sondern einfach auf den Wunsch nach Reinheit der Rasse,
auf den Wunsch, daß ein Kind nur zwei Eltern habe und
nicht drei. Und gerade das Verhalten der Frauenwelt be-
zeugt immer von neuem, daß die Reinheit des genus femi-
ninum von größerer sozialer Wichtigkeit ist als die des
400 ^* '^- Glasenapp:
Mannes: die Frau ist in bezug auf solche Verfehlung von.
Personen ihres eigenen Geschlechts nicht nur härter in der
Verurteilung, sondern in der Regel auch leichter geneigt^
eine Schuld anzunehmen. Daher sagt Henri Rochefort')
in seinem berühmten Romane „Les Depravös" Seite 208
bis 209: „Tandis qu'un hemme pour un oui pour un non,
s'öcrie en parlant de la premiere venue: ,Je mettrais ma.
main au feu qu'elle est pure'. Une femme m^me honnete,
m^me bien iütentionnöe hösitera toujours ä repondre de
Pinnocence d'une autre ; ce qui prouve que tout en mädisant
des femmes, nous les estimons encore plus qu'elles ne
s'estiment elles-mömes."
Es gibt eigentlich auf dem ganzen Erdenrund über die
Sittsamkeit nur eine Meinung; und dort, wo der schon
zitierte Bhagavatgita den Ahnenkultus empfiehlt, gibt er
auch den Grund für die Notwendigkeit der Keuschheit an
(Gesang I, 9I. 41):
.Bei eines Stamms Ruchlosigkeit wankt auch der Frauen Sittsamkeit'';
Wankt diese, dann, Yarshneya, ist der Rassenmischung Greul
[nicht weit."
Die „Varnasamkara", die „Durcheinandermischung der
Rassen" oder des Blutes, ist am meisten zu fürchten, nicht
die Störung der häuslichen Idylle.
§7.
Somit ist die Leviratsehe als ein zivilrechtliches Institut
anzusehen, das sich auf Überzeugungen über biologische
Verhältnisse gründet; Überzeugungen, die — offenbar aus
Naturbeobachtungen hervorgegangen — mit sicherem Takte
das Richtige getroffen haben. Da man dem Brauch spater
gedankenlos folgte, mag man freilich vergessen haben^ da-
nach zu fragen, ob die Frau auch jemals überhaupt vom
ersten Gatten konzipiert hatte. — Als Institut bedeutet die
Leviratsehe, daß das fragwürdige Privilegium, Vater zu
1) Henri BociuroRT, „Les D^prav^s'', G^növe, Louis Hudry
^diteur, 1875.
Die Leviratsehe. 401
dreien zu sein, das schon jenem illustren, heutzutage so
arg verkannten Onan Mißbehagen einflößte, nur dem nächsten
Verwandten des ersten Vaters zusteht, diesem indessen zu-
gleich zur Pflicht gemacht werden soll. — Die zugrunde
liegende Überzeugung biologischer Natur findet man bloß
in der Genesis und dann im Neuen Tastament deutlich aus-
gesprochen:
Ev. Matth. 22, 24: ^dvaaTi^aet air£p[j.a Tcp dSeXcpcp auTou''.
Ev. Mark. 12, 19: „JSavaöxi^cjTfl öiripjia T(p d8eX<p(p aöxoü".
Ev. Luk. 20, 28: „eSavaa-n^anQ aizipiLa xcj) dS&X<pq> auToO".
Die drei Synoptiker sind also in der Erzählung einer
und derselben Begebenheit darin einig, daß nach dem
„Mosaischen'' Gesetze der überlebende Bruder auf diese
Weise „dem verstorbenen Bruder Samen auferweckt". Als
Zitate aus dem Alten Testament sind die Stellen ja nicht
ganz genau; doch liegt in diesem Gebrauche des Wortes
„Sperma erwecken" oder „auf erwecken", der der griechischen
Sprache durchaus fremd ist, wohl mehr als das, was man
darin gewöhnlich zu finden meint : nämlich ein bloßer Hebra-
ismus und Aramaismus, wie es deren im Neuen Testament
viele gibt^ mit der Bedeutung „Nachkommen verschaffen"
(so übersetzt E. Kautzsch). Letzteres könnte, rein juristisch
betrachtet, auch durch Adoption geschehen. Nein, es ist
fast synonym der römischen „turbatio sanguinis" und der
indischen „vamasamkara". Wir müssen eben beachten, daß
der Text zu dieser griechischen Übersetzung aus sehr früher
Zeit stammt, und daß sich darin eine ganz zutreffende An-
sicht der alten Israeliten über die physiologischen Be-
ziehungen ausspricht, auf die die Leviratsehe sich gründet.
So steckt, wie Lücretiüs Carüs sagt, ein Ding dem
andern ein Licht an: Biologie und Soziologie erläutern sich
gegenseitig.
Vierteljahrssohrift f. wisseiuebafil. Philos. u. Soz. XXXn. 8. 26
„Persönliche" und „sachliche" Polemik.
Von Gerhard HeBsenberg, Bonn.
Inhalt.
I. Einleitung.
II. Der persönliche Ch»r»kter eines Angriffs kann logisohe Folge seines
sachlichen Inhalts sein; er kann femer bei Erwiderungen auf persönliche
Angriffe unvermeidlich oder wenigstens zul&ssig sein. Eine radikale
Verwerfung alles personlichen Tones überhaupt, wie sie Cassirer aus-
spricht, ist daher unzul&ssig.
III. G r e 1 1 i n K und ich haben uns des von Cassirer getadelten persönlichen
Tones lediglich in Erwiderungen auf persönliche Angriffe Oassirers
bedient.
lY. Cassirer hat gegen Kelson den Vorwurf unzullssiger Anlehnung an
Fries, ebenso
V. den Vorwurf nicht sinngemiAer Wiedergabe von Argumenten Cohens
und Ribhls erhoben. Wir fordern ihn auf. die bisher noch nicht er-
brachte sachliche Begrflndung dieser Vorwürfe nachzuholen.
VI. Im »Streit um die Cohensche Logik hat Cassirer an Stelle des
Vorwurfs der Entstellung nunmehr den milderen Vorwurf des mangelnden
Verständnisses gesetzt, ohne daS seine Argumente dadurch haltbarer ge-
worden wftren.
VII. Schlußbemerkung.
I.
1. Im vierten Heft des einund dreißigsten Bandes dieser
Zeitschrift hat Meyekhof den ungemein dankenswerten und
schwierigen Versuch unternommen, als nicht direkt Be-
teiligter den Streit um die FKiESsche Vernunftkritik in ein
sachliches Fahrwasser zu lenken. So oiäen ich es an-
erkenne, daß Cassirer dieser Anregung gefolgt ist, so sehr
muß ich es bedauern, daß er durch erneute persönliche An-
griffe auf Nelson, Grelling und mich uns ein unmittelbares
rein sachliches Eingehen auf seine neuen Argumente gegen
die FRiESsche Lehre unmöglich gemacht hat.
Um hier zunächst Klarheit über den Umfang dieser
Angriffe zu schaffen, mich selbst aber bei diesem heiklen
Thema zu äußerster Sachlichkeit zu zwingen und dem Leser
von diesem Bestreben Rechenschaft zu geben, werde ich
meinen Standpunkt sogenannten „persönlichen« Angriffen
gegenüber objektiv und ohne jede Beziehung auf den vor^
liegenden Fall festlegen. So trivial dasjenige klingen mag,
was ich darüber zu sagen habe: die nachfolgende An-
wendung auf den vorliegenden Fall wird zeigen, daß in
praxi häufig genug dagegen verstoßen wird.
„Persönliche^ und „sachliche'' Polemik. 403
n.
2. Es gibt sachliche Angriffe, die überhaupt nicht er-
hoben -werden können, ohne die Person des Angegriffenen
zn treffen. Der Nachweis eines besonders schweren Irrtums,
einer Häufung sachlicher Fehler, die Aufdeckung entstellter
Zitate, unberechtigter Anlehnungen, offenkundiger Plagiate
stellen solche Fälle dar, in denen es reine Formsache ist,
ob der persönliche Charakter des Vorwurfs offen aus-
gesprochen oder schonend verschwiegen wird. Keine
Mäfiigung des Tones entbindet daher den Angreifer von
der Verpflichtung, den sachlichen Teil einwandfrei zu be-
gründen und zu belegen.
3. Auch bei unbedeutendem sachlichen Gehalt sind
persönliche Angriffe vielfach unvermeidlich, beispielsweise
in der Zurückweisung gleichartiger Angriffe oder bei der
Erschütterung einer Autorität, die in Ermangelung von
Gründen als Beweismittel in Anspruch genommen wurde.
Jedenfalls wird man es keinem Autor verargen, wenn er,
durch persönliche Invektiven aus seiner Buhe gebracht,
dem Gegner die Ehre einer rein sachlichen Behandlung
verweigert.
m.
4. Die ÜASSiRERsche Streitschrift „Der kritische Idealis-
mus und die Philosophie des gesunden Menschenverstandes"
erhebt gegen Nelson unter anderem den Vorwurf „großer
TJnbescheidenheit" ^), „dreister Anmaßung" *), „bewunderns-
werter Fertigkeit im Sinnverdrehen"®). Das Schlußkapital
beschäftigt sich überhaupt nur mit der Person Nelsons,
der Ton der ganzen Schrift ist ironisch*). Ich bedaure,
daß ich diese Tatsachen nicht mit Stillschweigen übergehen
kann und beschränke mich darum auf möglichst wenige
Beispiele. Aber nach Cassirers bedingungsloser Verwerfung
») 8. 17.
•) S. 19 (Sperrungen in Kantzitaten).
") S. 33 (Fußnote).
*) Dies gibt der Referent der Deutschen Literaturzeitung aus-
drQcklich zu: „Vornehm, nur etwas ironisch'*.
26*
4Q4 Gerhard Hessenberg:
aller persönlichen Angriffe ^) muß der unbefangene Leser
den Eindruck gewinnen, als sei der persönliche Ton erst
durch Grelling und mich in die Diskussion gebracht worden.
5. Zur Zurückweisung des gegen Grelling und mich
erhobenen Vorwurfs ziehe ich nunmehr lediglich das anx
Schlüsse von (3) genannte Argument heran: Wir waren in.
Erwiderung auf persönliche Angriffe zur Anwendung des
persönlichen Tones berechtigt. Damit verzichte ich auf
die Diskussion folgender Fragen:
a) War Cassirer zu seiner Tonart gezwungen oder be-
rechtigt?
b) Sind seine Vorwürfe sachlich gerechtfertigt?
c) Waren wir zu unserer Tonart gezwungen?
d) Sind unsere Vorwürfe sachlich gerechtfertigt?
e) Auf wessen Seite ist die schärfere Tonart zu suchen ?
Durch meinen Verzicht beantworte ich diese Fragen
in keiner Weise, ich erbringe lediglich den Beweis meines
guten Willens durch die Beschränkung auf das Minimum
der mir zu Gebote stehenden Verteidigungsmittel.
IV.
6. Wer die Gedanken eines Werkes wiederzugeben
sucht, dem er Jahre intensivster Arbeit, äußerster Vertiefung
und schärfster Anspannung aller Geisteskraft gewidmet hat,
der wird trotz größter Aufmerksamkeit und Selbständigkeit
Anklänge des Ausdrucks und stellenweise wörtliche Über-
einstimmung mit dem Original nicht vermeiden können.
Die Sprache ist zwar ein beweglicheres Ausdrucksmittel als
die mathematische Begriffsschrift, aber unbegrenzt ist ihr
Fließen auch nicht, besonders für den nicht, der wie
Nelson frei von allen feuilletonistischen Veranlagungen und
Ambitionen, sich einer Terminologie von nahezu mathe-
matischer Schärfe und Eindeutigkeit des Ausdrucks be-
fleißigt. Man wird in solchen Fällen bei Anlehnungen um
>) Diese Zeitschrift, Bd. 31, Heft 4, S. 442: „Der Leser fühlt,
daß sie (die Mittel der persönlichen Polemik) sich nur dort einstellen,
wo sachliche Gründe fehlen".
„PersöDÜche*' und „sachliche^ Polemik. 405
SO weniger Bedenken haben, wenn der Autor die durch-
gehende sachliche Übereinstimmung mit seinem Vorbild aus-
drücklich hervorhebt und betont.
7. Ich kann daher aus Cassirers "Worten auf Seite 447 *)
nur den Vorwurf unzulässiger Anlehnung herauslesen. Dieser
Vorwurf triffl aber die Person des Angegrifienen, und wenn
das Cassirer nicht unzweideutig ausspricht, so geschieht es
vielleicht in der lobenswerten Absicht, jede Schärfe des
Tones zu vermeiden. Die unbestimmte Ausdrucksform ent-
bindet aber nicht von der Verpflichtung, die au%estellten
Behauptungen zu beweisen. Ich fordere daher Cassirer auf,
die von ihm beanstandeten Stellen der öffentlichen Beur-
teilung vorzulegen, oder durch eine unzweideutige Erklärung
seinen Worten den Charakter der Verdächtigung zu nehmen.
V.
8. Wer es unternimmt, eine von den Fachgenossen als
widerlegt angesehene Lehre von neuem zur Diskussion zu
stellen, muß sich notwendigerweise mit denjenigen Argu-
menten auseinandersetzen, die man bisher von ernst zu
nehmender Seite gegen sie vorgebracht hat. Dies hat Nelson
in dem Anhang zu seiner von Cassirer angegriffenen Arbeit
getan. Diesen Anhang erledigt Cassirer in seiner oben ge-
nannten Streitschrift mit der Behauptung, die Argumente
Cohens und Riehls seien nicht einmal sinngemäß wieder-
gegeben *).
Ich wiederhole hiermit Grellings Aufforderung an
Cassirer, ftir diese Behauptung den Beweis anzutreten.
VI.
9. Zu meinem Bedauern bin ich gezwungen, von neuem
den Namen Cohens in die Diskussion zu ziehen, da Cassirer
in seinem erneuten Rettungsversuch der „Logik der reinen
Erkenntnis" unsere bona fides anzweifelt.
')„... daß bei ihm (Nelson) bisweilen ganze Satzfolgen — anoh
solche, die nicht als Zitate kenntlich gemacht sind — , nahezu wörtlich
aus FiiiEs' Schriften übernommen sind , ist mir natürlich nicht ent-
gangen.'*
0 S. 31.
406 Gerhard Hessenberg:
In seiner Kritik der Logik der reinen Erkenntnis ^) hat .
Nelson folgende zwei Tatsachen festgestellt : Eine einwand-
freie Begründung der höheren Analysis mittelst einer be-
sonderen infinitesimalen Größenart ist unmöglich. Trotzdem
spricht Cohen dieser Größenart Realität zu und verlegt das
Erzeugungsprinzip des Endlichen in das Unendlichkleine.
Diesen Tatbestand zu bestreiten hat Cassirer in seinen
beiden Besprechungen der NELOSNschen Kritik vermieden.
Es muß daher als zugestanden gelten. Da hiermit der für
uns allein wesentliche Teil der Diskussion erledigt ist, folgen
wir Cassirer willig zu demjenigen Tatbestand, von dem er
die Aufrnerksamkeit nicht abgelenkt sehen möchte.
10. Zwischen die Feststellung der beiden oben ge-
nannten widerstreitenden Ansichten schiebt Nelson folgenden
Satz*): „Die eigene Ansicht Cohens läuft nun darauf hinaus^
daß dem Unendlichkleinen nicht nur eine selbständige Be-
deutung und Existenz zukommen soll, sondern . . .**
Gegenstand des Streites war ursprünglich der Sinn, der
hier dem Worte „Existenz" beizulegen ist. Es kommen
zwei Deutimgen in Frage. Erstens kann „Existenz"
den allgemeinen Seinsbegriff bezeichnen, der alle denkbaren
Seinsformen , auch die „Realität" , umfaßt. (Allgemeiner^
vor allem mathematischer Sprachgebrauch.) Zweitens
kann Existenz das „dingliche" „Dasein" , die „konkrete
"Wirklichkeit" meinen. (CoHENscher Sprachgebrauch.)
11. Cassirer benutzt beide Deutungen. Die erste
Streitschrift und einige Sätze der zweiten Entgegnung")
legen den CoHENschen Sinn unter, und zwar ohne Begrün-
. dimg^). Diese Deutung ist nach dem Zusammenhang des
») Gott. Gel. Anz., 1905, S. 610—680.
«) 1. c. S. 619.
") S. 464: „. . . indem er (Nelson) . . . den Begriff der Realität
durch den der Existenz ersetzte . . . und „indem er ein Mittel der
Erkenntnis in ein besonderes mystisches Sein verkehrte". Das
„mystische Sein" fällt sonach auch unter die „konkrete Wirklichkeit**.
*) Da die Unterschiebung des CoHENschen Sinns konsequenter-
weise zu dem in der Tat von Cassirer erhobenen Vorwurf der Ent-
stell uns führt, berechtigte dieser Mangel der Begründung Gbslli Na
unzweifelhaft zu seiner Charakterisierung des Verfahrens. — Wenn
„Persönliche'^ und „sachliche^ Polemik". 407
NELSONsclien Textes ausgeschlosBeii; denn die der strittigen
Stelle voraufgehenden historischen Belege enthalten die
Bestreitung jeglicher Seinsform des Infinitesimalen; die
unmittelbar folgenden Zitate aus der Logik der reinen Er-
kenntnis stellen außerdem über jeden Zweifel, daß die um-
strittene Senisform die Realität ist.
12. Der zweite Vorwurf Cassirers, Nelson habe die dem
CoHENschen Sprachgebrauch zugrunde liegende Unter-
scbeidimg ignoriert, schließt natürlich die zweite Deutung
im Sinne dieses Sprachgebrauches aus. Im ersten Sinne
des Wortes „Ezistenz" ist aber der umstrittene Satz in allen
seinen Einzelheiten sachlich unangreifbar, und so sucht
denn in der Tat Cassirer das bloße Faktum der Igno-
rierung als Vorwurf auszulegen.
13. Ein solches Verfahren ist mir nicht neu. Ich hatte
einst einen Kreisquadrierer darauf aufmerksam gemacht, daß
nach seinem Werte ic ^= 3,2 das umschriebene 20-Eck kleinere
Fläche haben müsse als der Ejreis. Der Sinn der Antwort,
die ich erhielt^), war der folgende: „Meine Untersuchung
stellt sich die Grundfrage : Hat die Tangente mit der Peri-
pherie nur einen Punkt gemeinsam? Sie hätten meinen
Begriflf der Tangente angreifen, Sie hätten den Versuch
machen können, meine Verneinung der gestellten Frage mit
wissenschaftlichen Gründen zu bestreiten. Dagegen konnten
Sie sie nicht ignorieren, ohne meine Berechnung von ic um
allen Sinn zu bringen — und sich dadurch die „Kritik",
wie Sie sie verstehen, freilich zu erleichtern. Daß ich unter
diesen Umständen keinerlei Veranlassung habe, auf die
Einzelheiten Ihrer Kritik einzugehen, wird mir jeder Un-
parteiische zugestehen; sie wurden von selbst hinfällig,
sobald erwiesen war, daß die ersten Anforderungen
Cabsirer nimmehT Bflcher heranzieht, die Nelson weder verfaßt noch
besprochen hat, so können wir auch darin eine Begründung seiner
Deutung nicht sehen. Nicht darum handelt es sich, daß wir Cohen
eine fa£che Deutung seiner Worte unterschöben, sondern darum, daß
eine solche ünterscmebune an Nelsons Worten versucht wurde.
') Leider besitze ich das Original nicht mehr. Ich überschätzte
damals noch die Macht der Gründe und unterschätzte den Wert
solcher Dokumente.
408 Gerhard Hessenberg:
hier nicht erfüllt sind, die man an das bloße Verständnis
dessen stellen muß, was meine Arbeit selbst als das Charak-
teristische ihrer gesamten Problemstellung ausdrücklich be-
zeichnet."
14. Was die Wiedergabe der Argumente dieses un-
glücklichen Quadrators mit Cassirers Worten möglich macht,
ist der beiden eigentümliche Versuch am untauglichen
Objekt; der Versuch nämlich, aus einer objektiven, von
der Problemstellung unabhängigen Tatsachenvergleichung
irgend etwas über das Verständnis der Problemstellung
herauszulesen. Während ich aber die Problemstellung
meines Quadrators wirklich vöUlig und ohne Angabe von
Ghimden ignoriert hatte, ist Nelson zur Tatsachenprüfiing
erst nach einer ausführlichen Betrachtung der bis ins ein-
zehie als verfehlt nachgewiesenen Problemstellung über-
gegangen, und er schickte diesem Übergang den ausdrück-
lichen Hinweis voran ^), daß er sich nunmehr jedes Ein-
gehens auf den Prinzipienstreit begeben werde. Die Be-
rechtigung zu diesem Verfahren wies Nelson noch besonders
nach, obwohl sie allgemein anerkannt ist, obwohl es ftir
jeden Einsichtigen klar ist, daß die Unterscheidung ver-
schiedener Seinsformen, und sei sie noch so tiefgründig
und ftir andere Fragen wertvoll, keine Größenjut dem
mathematischen Todesurteü entziehen kann, wenn es ihr
jedes Sein, jede „Existenzberechtigung" im mathe-
matischen Sinne, abspricht.
Zum Schlüsse sei mir der Hinweis gestattet, daß die
über die NELSONschen Arbeiten entbrannte Polemik in keiner
Weise die Ignorierung erklärt oder gar rechtfertigt, deren
sich die „Abhandlungen der FRiESSchen Schule" bisher in
fachphilosophischen Kreisen zu erfreuen haben.
^) ]. c. S. 616, die von Cassirer angegriffene steht S. 619.
I.
Besprechungen.
Baonl Richter 5 Der Skeptizismus in der Philo
Sophie (Zusatz des 11. Bds. : und seine Über-
windung). Dürrscher Verlag , Leipzig. I. Bd. 3(34 S.
1904. n. Bd. 584 S. 1908.
Mit dem II. Bande liegt dieses beachtenswerte Werk nun ab-
geschlossen vor. Sein Ertrag ist allerdings schwer auszumessen, da
er stark ins Einzelne geht und drei Absichten hier sich verschlingen :
die historische, die kritische, die systematische, eine Schwierigkeit, die
dem Verfassser wohl bewußt ist. Es wiU mir scheinen, daß er bei
der mittleren Funktion am meisten in seinem Element ist, wenn er,
wie einst Bhuno Bauer, oft als „die Kritik'' redet. Er brin^ far die
kritische Funktion in hohem Maße Scharfsinn, Gründlichkeit, ana-
Ivtischen Sinn und, was Bruno Bauer fehlte, Besonnenheit mit, eine
'fugend, die ich allerdings nicht so absolut wie der Verfasser preisen
möchte, da sie wie die Wage zu sehr ins Gleichgewicht strebt. Es
w&re doch sonderbar, wenn die Weltordnung bei all den hier mehr
oder minder groß behandelten Denkern Licht und Schatten so gleich-
mäßig verteilt hätte, wie der Verfasser es tut (s. z. B. das Schaukel-
spiel „Recht — Unrecht, Recht — Unrecht usf." II S. 43 und 424 f.) Der
wertende Rhythmus, in dem sich dieses Buch bewegt, der Lob und
Tadel immer abwechselnd schwellen läßt, ist an sich so subjektiv wie
flöhender Enthusiasmus und vernichtende Kälte, wenn auch meist
er Gerechtigkeit günstiger. Die nüchterne Mäßigung ist absolut
gesetzt eben auch nur Standpunkt und Stimmung.
Man glaube nun nicht, daß dieses Buch darum auch im nüchternen
Ton geschrieben sei. Es zeigt geradezu Begeisterung für die Nüchtern-
heit und entfaltet oft eine starke rhetorische Bildlichkeit. Es spricht
far plastisch von der „Wahrscheinlichkeitstreppe" und den „Zangon
es Evidenzbewußtseins", läßt „blutsverwandte Wahrscheinlichkeiten
sich vermählen" (II 373), „verscnwistert" auch gern Abstrakta (I 303
II 40, 486), spricht von den „irdischen Schwestern" übernatürlicher Er-
kenntnisse (II 512), zeiet aber auch die Argumentationen der griechischen
Skeptiker als geschickt geschlagene Mensuren und bringt in hundert
Variationen Kampf- und Fechtvergleiche. „Bald mit derben Keulen-
schlägen, bald mit feinen, ins Herz dringenden Nadelstichen wird
jeder Aüspruch auf ein Wissen um die übersinnliche Welt langsam
zu Tode gequält" (II 466). Ein Bureaukrat mag da ein paar gar zu
410 Karl Jo6l:
üppiffe Blüten besclmeiden ; tatsächlich wird hier die Skeptomachie
durch die ag^onistischen Bilder, Oberhaupt durch ein oft auflodernde»
rhetorisches^euer in echter Beredsamkeit lebendig gestaltet. Häufige
Wortwiederholunffen zeigen teils eine Freude an gor^ianischer
Rhythmik des Stns (z. B. „Es ist die Ansicht Momtaioxbs, die Ansicht
Spinozas''), teils den erinnernden Eifer des klaren Dozenten. Denn
HicuTEB nört offenbar alles, was er schreibt, im Kathederton. Daher
das Selbstsichere im Meistern der Denker, daher manches im Anfang,
das nur für erste Semester bestimmt ist, daher auch die vollen Worte,
Bilder, Perioden und Abschnittsanfänge wie r „Wir haben uns soeben^
(in der letzten Stunde ?) „mit den geschichtlichen Vorbedingungen de»
griechischen Skeptizismus beschäftigt** (I 21). „Wir haben uns in der
Darstellung all das ist uns noch frisch in der Erinnerung**
(I 95). „Wir fahren in der Beurteilung der skeptischen Theorien fort**
(I 222). „Haben wir die Pause zwischen diesem Kapitel und demi
vorigen dazu benutzt" — (I 121). „Läßt sich noch nören" (I 289).
„Platker, von dessen Anschauungen wir im vorigen Abschnitt gehört
nahen**. Dieser ganze Sprechton, der sich übrigens im II. %ande
mildert, dient natürlich auch die Lebendigkeit zu steigern und ist oft
ein Labsal gegen den konventionellen Buchstil.
Der Kraft und Klarheit der Belehrung^ und der Kunst der
Analyse dient femer ein wahrer Furor der Zähluns und Unter-
scheidung, wobei die Teilung meist fruchtbar, bisweilen allerdings
schematisch ausfällt und eher assoziative Aufzählung als logische
Gliederung ist. Der Autor liegt auch zum Teil im Kampfe mit seiner
Disposition. In den drei Abschnitten des II. Bandes (durcn die drei ver^
wandten Begriffe der naturalistischen, der empirischen und der bio-
logischen Skepsis nicht gerade glücklich gesondert) fällt je das erste
Kapitel, ein starkes Drittel aus dem Thema heraus. In der Skepsis
der Renaissance wird ausführlich namentlich Augubtin (!\ in der Skepsis
des 18. Jahrhunderts werden ebenso ausführlich die Großen „von
Bacon bis Leibniz" behandelt (nur Hobbes fehlt — warum?), die weder
ins 18. Jahrhundert gehören noch Skeptiker sind. Und wenn man
mit Recht all diese als Bekämpfer der Skepsis lehrreich findet, so
hätten mit demselben Recht die antiken Bekämpfer der Skespis und
von den neueren namentlich Kant, auch Hegel behandelt werden
müssen. Zwar bespricht das folgende Kapitel unter dem Titel „Auf-
klärungsskeptiker**, unter dem man gerade Humk erwartet hätte, viel-
mehr die Zeit nach „Hitme bis Hkori.**, aber von Kant ist nur wenig
als kritischem Objekt, nicht als Kritiker der Skepsis, von Heoel gar
nicht die Rede. Unter den Titeln „Biologischer Skeptizismus** und
„Aufklärungsskeptiker** erscheint auch der Positivismus, obgleich er
nicht chronologisch und nur va^e inhaltlich „Aufklärung** ist, ob-
Sleich er sich selbst nicht als skeptisch betrachtet (was sonst für
Dichter mit Recht maßgebend ist), und obgleich er nicht biologisch
ist außer in Mach , der aber zum Schluß nur genannt und nicht be-
handelt wird. Endlich wird das Gesamtprogramm halb über Bord
geworfen, da der II. Band es nachträglich nicht nur erweitert durch
en Zusatz zum Buchtitel „und seine (des Skeptizismus) Überwindung",
sondern auch verkürzt und nur das „erste Buch** (die Behandlung des
totalen Skeptizismus) abschließt, wälirend statt aes zweiten Buches,
das dem partiellen Skeptizismus gewidmet sein sollte, nur ein »Pro-
gramm** erscheint, das berichtet, warum dieses Buch ungeschrieben blieb.
Ein Bureaukrat mag wieder über all dies den Kopf schütteln;
ich sehe in dieser Programmänderung ein ehrliches Bekenntnis ge-
Der Skeptizismus in der Philosophie. 411
sonder innerer Entwicklung am Stoff und gerade ein Scheitern ge^
suchter Bureaukratie der Begriffe. Die Einleitung scheidet gar scharf
den Skeptizismus vom Dogmatismus, zum Teil auch als dogmatischer
Negativismus vom negativen Dogmatismus, scheidet Stimmungs-
skeptizismus und philosophischen oder individuellen und generellen
Skeptizismus, scheidet femer totalen und partiellen und endlich
radikalen und gemäßigten Skeptizismus. Die letzte Scheidung muß
aber der vorletzten weichen (S. XXI} und ließ sich auch innerhalb
ihrer nicht ganz durchfOhren. Doch auch die Scheidung zwischen
totalem und partiellem Skeptizismus ist nicht so glatt und scharf,
wie dieses Werk sie verkündet Bekennt doch schließlich der Ver-
fasser selbst, daß von seinem eigenen Standpunkte der Pvrrhonismus,
d. h. die Hauptmasse der im I. Bande behandelten „totalen Skepsis''^
in gewissem Sinne nur eine partielle Skepsis sei (II 526). Bei
CiiABRON z. B. schwankt er, ob er nicht besser unter die partiellen
Skeptiker aufzunehmen war (II 140), und ich kann nicht einsehen,
warum er mit seinem „blühenden Dogmatismus** (II 133, 185) als
totaler Skeptiker figurieren soll, minder Gläubige aber, wie Sanchez
oder manche bewußten Erneuerer der akademischen oder pyrrho-
nischen Skepsis, nur als partielle. Fast sieht es aus , als ob dieser
II. Band , der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nur die Skepsis
Mo5TAioNEs, Charrons uud HuMES behandelt, die unbequeme Masse der
kleineren Skeptiker in die unbehandelte partielle Skepsis abschiebe.
Es geht nicht an (zumal angesichts sehr starker, von Richter nicht
zitierter Stellen gegen Häresie), MoNTAioNESund Guarrons Glaubensdogma-
tismus als „unaufrichtiger'* (S. 127, doch s. S. 141) oder als „exoterisch'S
ja „als nicht vorhanden'' (120) fanatisch beiseite zu schieben („wir
hören auch nicht einmal auf seine Stimme"), weil er nicht begründet
werde. Ist er nicht im Wissensbankerott negativ begründet? Ist er
bei allen „partiellen Skeptikern"* positiv begründet? Wäre er noch
Glaubensdogmatismus, wenn er einen positiven Erkenntnisgrund hätte?
Hat nicht Kichter selber bei dem Oberpriester Pyrrhon die An-
erkennung der geltenden Tradition aus dem Wesen der Skepsis treff-
lich zu würdigen gewußt?
Überhaupt — und damit wird die Begriffsscheidung noch zweifel-
hafter — gibt es wirklich eine totale Skepsis, einen reinen Zweifel
ohne eine Anerkennung? Dies wäre ein Problem, das in solchem
Werk Beantwortung verdient hätte. Vielleicht muß man bei jeder
Skepsis fragen: cui oono? und die Formen des Skeptizismi:s einteilen,
nicht negativ nach dem, was sie bezweifeln, sonHern positiv nach
dem, was sie anerkennen. Instinktiv ist B.ichit.r selbst darauf ver-
fallen, wenn er die neuzeitliche Skepsis sondert in naturalistische,
empiristische und biologische, also in Anerkennung der Natur, der
Erfahrung, des Lebens. Dann aber sind sie insgesamt auch nur
partielle Skepsis so gut wie die mystische, die die Offenbarung an-
erkennt. Es wäre erkenntnispsychologisch zu fragen, ob ein Nein
ohne ein Ja oder auch eine reine Isosthenie geistig bestehen kann,
ob ein Bewußtsein ohne tiefsten Akzent, ein Zweifel ohne inneren
fiückhalt leben kann.
Aber Bichtbr will von der Psychologie als Philosophie nichts
wissen (II 508) und lehnt es öfter energisch ab, eine „Psycnologie des
Skeptizismus'' zu geben. Und doch fordert er jjErkenntnispsycho-
logie'^ für die Erkenntnistheorie (II 344), und es ist auch nicht ab-
zusehen, warum „der Skeptizismus in der Philosophie" nur philo-
sophisch in KiCHTERS Sinn, d. h. erkenntnistheoretisoh und, wenn doch
412 KarlJofll:
nun einmal schon nebenbei noch historisch -philologiach, dann nicht
auch kulturpsYchologisch , soziologisch betrachtet werden soll. Hier
Tersa^ das werk am meisten, und zwar mit Bewußtsein; denn es
schneidet in Wahrheit den Kulturuntergrund des Skeptizismus ab,
indem es den Stimmungsskeptizismus zu berücksichtigen völlig ab-
lehnt und ihn vom philosophischen möglichst weit abrückt. „Dieser
gesamte Stimmungsskeptizismus hat nun aber mit dem philo-
sophischen — in der Art, wie und warum er zweifelt, kaum einen
Yerwandtschaftspunkt''. „So verschieden ist der philosophische
Zweifler vom Stimmungsskentiker, daß die beiden Typen trotz ihrer
Übereinstimmung in den Endresultaten sich kaum verstehen würden**
<S. XVII f.). Sonderbar, daß sie doch übereinstimmen, daß sie immer
zugleich auftreten, daß der Verfasser, in seinen Taten tiefer noch als
in seinen Worten, selbst am Schluß der Einleitung bekennt, ohne den
modernen Stimmungsskeptizismus dieses Werk nicht geschrieben zu
haben! Und ist denn das Scheideprinzip zwischen beiden, auch nur
der Unterschied zwischen individuell und j^enerell so streng? Gerade
der Stimmungsskeptizismus zumal als Zeitgeist tritt mit überindivi-
duellem Anspruch auf, und gerade als korrekte These der strengsten
Skepsis, des Pyrrhouismus erscheint bei Richter mit Recht nur die
individuell gültige Skepsis (I 100, 107, 288). Er schildert doch nicht
umsonst so feinsinnig die Individualitäten der großen Skeptiker,
besonders schön auch I^yriihoxs Stimmung (I 25 unten); er weiß, daß
dessen „Skeptizismus aus seiner Adiaphorie, nicht diese aus jenem
feboren*' wurde; er erkennt auch z. H., daß Momtaione zwischen in-
ividuellem Stimmunssskeptizismus und philosophischer Skepsis „die
Mitte hält" (U 82, 118). Er wird auch der so verwandten Skepsis
Nietzsches (II 501) den Stimmungscharakter nicht absprechen, so gut
wie im Pessimismus Schopenhauer die mögliche Vereinigung von
Stimmung und Philosophie beweist.
Aber es liegt noch tiefer. Die Ablehnung des Stimmungs-
Skeptizismus bedeutet offenbar eine Ablehnung des Irrationalen,
Alogischen im Skeptizismus. Tatsächlich aber ist der Skeptizismus
in der Wurzel irrational, ja geradezu ein Sieg des Alogiscnen über
das Logische, die Ohnmacntserklärung der Erkenntnis, ihr Rückzug
vor einem Anderen, Größeren in Welt oder Seele. Die Skepsis sagt
nicht über das Denken aus, sondern gerade über das Verhältnis des
Denkens zu einem Anderen, das nicht Denken ist. Gerade Richter,
der die Wahrheit als Relation zum Subjekt erkennt, der sie im
Evidenzeefühl psychologisch verankert, der bei den Skeptikern von
pYRRHONois Nietzsche öfter praktische, biologische und andere aloeische
Momente nicht nur nebenhergehen sieht, sondern sie als treibende
Motive der Skepsis erfaßt, gerade er durfte die Erkenntnispsychologie
nicht so beiseite schieben. Dabei sind bei ihm schon die praktischen
Momente so zurückgedrängt, daß er von den drei Timonischen Fragen,
nach denen er im I. Bande mit Recht disponiert, der erkenntnis-
theoretischen Ve, den beiden praktischen zusammen Ve der Darstellung
und Kritik widmet.
Die Abkehr vom Alogischen, Individuellen der Stimmung, die
Ablehnung psychologischer und kulturhistorischer Betrachtung, vom
Verfasser zum Glück nicht ganz durchgeftlhrt, also die Nicht-
beachtung der Bedingungen des besonderen Intellekts müßte schließ-
lich zur Verwischung aller Richtungsunterschiede des Skeptizismus,
ja zur Verwischung seines Unterschiedes ^gen den Dogmatismus
führen. Und wirklich stürzt auch schließlich diese letzte Scheide-
Der Skeptizismus in der Philosophie. 413
wand ein. Nicht nur zeigt der Verfasser dogmatische Elemente bei
Pyrrhox (I 24), Montaigne und anderen, nicht nur wird ihm Hume als
Skeptiker zweifelhaft (II 526), nein, er bekennt: der Gegensatz des
Dogmatismus und Skeptizismus gehört „einer Xindheitsstufe des
philosophischen Denkens" an (II 427). „Philosophisch geredet, sind
Dogmatismus und Skeptizismus, nachdem ihnen die feindlichen
Spitzen abgebrochen wurden, überlebte Termini, wie Empirismus
und Realismus und Idealismus, und so viele andere"^ (II 527). Warum
nicht alle? Die j,identisch organisierte Vernunft", die Einheit des
Erkennens wie die des Erkannten (II 506) läfit keine Mehrheit der
Richtungen zu — es sei denn in den „Hemmungen" der „idealen"
I^kenntnisweise. Sind diese Hemmungen aber logischer und nicht
vielmehr alogischer, also psychologischer Natur? Das Wort, das die
Richtungsbezeichnungen ablösen solle, sei noch nicht geschaffen,
meint Richiek. Aber kann dieses Richtungslose denn anders lauten
als — die Wahrheit? Nur „zur Bezeichnung historischer Er-
scheinungen" findet der Verfasser die Richtungsbezeichnungen un-
entbehrlich. Doch auch hier erklärt er: „Im Lichte unserer eigenen
Begriffe wäre das skeptische Grau der meisten, vielleicht gerade der
bedeutendsten Zweifler erloschen." Und schließlich heißt es : „Daher
ergibt die tiefere Einsicht in das Wesen des Skeptizismus dessen
Überwindung, und die genauere Bekanntschaft mit ihm nicht eine
verfeinerte Bestimmung, sondern die Aufhebung dieses Begriffs in
systematischer Beziehung" (II 526 f.) Und so stehen wir am Ende
des U. Bandes leerer da als am Anfang des I., da uns ein „ab-
schließender Begriff" des Skeptizismus am Ende wenigstens ver-
heißen ward. „Historisch verstanden" hat sich zu dem im Anfang
gegebenen vorläufigen Begriffe, der im Grunde nur eine Wort-
Übersetzung als „ Zweifellehre " war, „nichts hinzugefunden" (II 525),
und selbst diese leere Htüle des historischen Begriffs kommt im
systematischen Begriffe zur „Aufhebung".
Aber mußten wir so beim reinen Nichts enden, und mußte dieses
reiche Werk so recht eigentlich nur Skepsis an der Skepsis üben?
Welche Fülle dräujgender Probleme pocht nier vergebens an : ob eine
reine Skepsis möghch und nicht stete ein positiver Hintergrund nötig
ist, ob und inwiefern |die Skepsis sich als notwendiger Durchgangs-
punkt der Erkenntnis zeigt, zumal bei allen großen Denkern, welche
sozialen, kulturellen, seelischen Konstitutionen zur Skepsis drängen
und welche nicht, und wenn diese Fragen, deren Antwort positive
Merkmale der Skepsis ergeben würden, als kulturpsychologisch und
historisch hier ausscheiden (obgleich dieses Werk doch nun einmal
auch historisch ist), so ließen sich positive Bestimmungen auch ge-
winnen, wenn man nur Richters Worte selbst beherzigt, daß die
Lehren der Skeptiker „nur durch einen Einblick in das Getriebe des
Erkenntnisapparats selber ganz verstanden und gerecht beurteilt
werden können". Da sich die Erkenntnis in einer Relation von
Subjekt und Objekt abspielt, so wäre zu fragen, ob nicht alle Skepsis
eine Zerstörung des Erkenntnisobjekte durch einen Subjektivismus
bedeutet, der sich von der Sophistik bis Nietzsche verfolgen ließe,
der die antike Skepsis „wie nie zuvor auf den Anteil des Subjekte"
bei Wahrnehmungen hinweisen ließ (I 218), der schon im Pyrrhonismus
Dinge zu Erscheinungen (d. h. zu Dingen für das Subjekt) herab-
setzt, Objektives in wechselnde Zustände des Subjekte zersetzt
und endet mit einem Verhalten des Subjekte (Epochö) aus einem sub-
jektiven Motiv (Glückseligkeit). Richter weiß, daß noch Platnrb das
414 KarlJoel:
Wissen um die Welt zu „subiektiver Gewißheit^ herabdrackt, noch
Mach die Naturgesetze als „bloße subjektive yorscbriften" für den
Beobachter faßt. Es wäre femer zu fragen, ob die Skepsis nicht eine
Zurackschiebung des Objektiven mehr aufs passive Subjekt (nach
Hu^ifES Gewohnheit, Machs Empfindung, Nietzches Instinkt) bedeutet,
und ob nicht jener Passivismus, jene Unterschätzung der aktiven
Funktionen, von Bichtkr so gut beim Pyrrhonismus herausgearbeitet,
sich zum allgemeinen Kennzeichen des Skeptizismus erweitern ließe.
Auch daß Pvrruon, Arkesilaos, Karneades nicht schrieben, Montaigne,
HuMK, Platner, Nietzsche als Essayisten oder Aphoristiker auftreten,
verdient Beachtung. Es wäre zu fragen, ob nicht in der Erkenntnis,
die die Vielheit zur Einheit zu bringen hat, der Skeptizismus das
Hecht der Vielheit des Erlebens wahrt gegenüber der Einheits-
forderun^ des Dogmatismus. Es wäre zu fragen — denn es soll hier nur
die Möglichkeit positiver Merkmale des Skeptizismus angedeutet werden.
Diese j)rinzipiellen Einwände verbieten nicht eine Würdigung
des gehaltreichen, geistig durchlebten Werkes, dessen Stärke eben
nicht in der letzten Synthese, auch nicht in den historisch -philo-
logischen Spezialitäten, sondern in dem Mittleren liegt, der kritischen
Analyse der Systeme. In der „Vorgeschichte der griechischen Skepsis*^
wird gut die „steigende Schwängerune der geistigen Atmosphäre mit
Zweifelselementen^ gezeigt, der allerdings doch wohl eine Stärkung
des Dogmatismus bis zum Siege in den großen Systemen parallel
geht. Im einzelnen ließ sich allerlei anmerken, z. B. bei dem „alten'* (?)
Pherekydes (gegenüber den loniem), bei Pythaooras, dem Lehren der
Pythagoreer scnon zu sicher zugeschrieben, bei den Sophisten und
Sokrates, die noch zu gläubig nach Platün und Xenopiion charakterisiert
werden. Den Homo-mensura-Satz des Protaqorab fasse ich als Be-
kenntnis gegen die eleatische Ontologie, als Betonung des Subjekts
unbestimmt noch zwischen Gattung und Individuum, genau wie
Fkuerbacus Betonung des „Menschen '', der erst durch Stirner in
Gegensatz zum Individuum kam. Mag man selbst wie Bichfer in
dieser Streitfrage sich auf die Seite der individualistischen Deuter
des Satzes stellen, jedenfalls darf man ihn nicht gerade als be-
wußte Ablehnung des generellen Subjekts (II 442, vgl. I 16, II 474)
fassen; sonst hätte Protagoras den generellen Ausdruck „Mensch ^^
sicherlich vermieden. Das Motiv der Sophistik ist nicht bloß dia-
lektisch (1811), sondern praktisch, und ihre Geistesart doch wohl der
Skepsis noch etwas näherstehend, als Richter zeigt. Die Vorläufer
der Skepsis verdienten um so mehr Beachtung, als Timon wie die
Akademiker sich ausdrücklich auf sie berufen, und speziell eine Zu-
sammenstellung über die Kritik der Sinnen Zeugnisse bei den Vor-
sokratikem wäre interessant gewesen.
Für die Darstellung des griechischen Skeptizismus hat Bichter
die wichtigen Vorarbeiten namentlich Natorps und Hirzrls auch den
geistreichen Brocuard wohl beachtet ; Gokdeckemeters fast gleichzeitig
entstandenes Buch war noch nicht erschienen. Doch hebt sich von
diaser mehr historisch-spezialistisch gründlichen Arbeit und von seinen
Vorläufern Bichters Werk selbständig ab durch die philosophische
Geschlossenheit, in der er den skeptischen Lehrstoff zum kritischen
Zweck präsentiert. Bisweilen vom philosophischen Katheder auf die
philologische Methode herabschauend (S. 807, 27. 318, 56. 321, 145),
übt er öfter in spezialistischen , aber nicht unwichtigen Streitfnkgen
eine besonnene Epoche (über Änesidems „Heraklitismus'^, über das Ver-
hältnis der Ärzteschulen zur skeptischen Lehre, über Pyrrhons Ein-
fluß auf den Begründer der akademischen Skepsis usw.). Demhisto-
Der Skeptizismus in der Philosophie. 415
rischen Bedürfnis der Unterscheidung hat Richter einen kurzen treff-
lichen Überblick über den .Yerlaiu der griechischen Skepsis^ zu-
e<»tanden, eine schöne Cnarakteristik der Hauptskeptiker als
länleitung zum Gesamtbild der skeptischen Lehre.
So ^oßzügig diese einheitlich geschlossene Darstellung wirkt,
so sehr sie durch Sextus Empiricus als Hauptquelle schon äußerlich
begründet ist, es kann doch nicht ohne Vergewaltigung ein halbes
Jahrtausend des Denkens auf ein Brett gelegt werden. V on der Neu-
zeit nicht zu reden, würde ich auch bei anderen antiken Bichtungen
dergleichen nicht wagen, wo wenigstens die Einheit des Ursprungs
fegeben ist. Hier aber, wo die Skepsis des Pyrrhonismus und die
er Akademie im äußeren Ursprung, im inneren Motiv, im In-
tensitätsgrad, in Form und Methode und zum Teil auch im Besultat
bis zur Polemik verschieden sind, wäre eine Trennung in Darstellung
und Kritik um so angebrachter gewesen, als Bichteb hie und da
(s. namentlich S. 41, lll ff., 298 f.) Unterschiede dieser Eichtungen,
ja zum Teil ihre Gegensätzlichkeit für die Kritik gut hervorhebt.
Dann aber müßte noch ein weiterer Schnitt geschehen zwischen der
altpyrrhoneischen und der jüngeren Skepsis, zwischen die sich ja die
akademische in der Pause eines starken Jahrhunderts einschiebt.
Gewiß, ÄNE8IDKM bekennt sich zu Pyrrhon (wie Hume schließlich auch
zur Akademie), und demokritische, medizinische Beziehungen liegen
schon in der älteren Skepsis vor wie no<di in der jüngeren eudämo-
nistische Bekenntnisse; das hindert nicht, daß Motiv und Ausbau im
wesentlichen verschieden sind. Um es nach den antiken Gebieten zu
pointieren: die jüngere Skepsis ist physisch orientiert, die mittlere
logisch, die ältere ethisch (was sich ja auch mit Demokkit verträgt).
Entgegen dem persönlichen Ideal der Unbewegtheit bei der älteren
betont die jüngere Skepsis die nicht von Dbmokrit, sondern von
Hkraklit gelernte Flucht der Erscheinungen. Die Formen der Skepsis
scheiden sich eben wieder nach dem positiven ItQckhalt; die ältere
Skepsis hat ihn im Praktischen, in der Ataraxie, die jüngere in der
Medizin, in einem Empirismus, den Bichiek dem modernen Positivismus
vergleichen darf, daher sie im Gegensatz zur bloß aporetischen älteren
Skepsis zetetisch ist (vgl. auch Göueckemeyer S. 221)] die mittlere
Skepsis hat nicht nur den Trost der „Wahrscheinlichkeit'", sondern
hat ihren positiven Stachel in ihrem Gegensatz, in der Stoa, von deren
Bekämpfung sie lebt. Das Bekenntnis des Karxeades: „Wenn Chrysipp
nicht wäre, wäre ich nicht", ist nicht so sehr als Bekenntnis der Ab-
häDg^igkeit (S. 38) wie der fanatischen Gegnersiüiaft zu deuten (s. den
Wortlaut Dioff. L. IV 62j. Die einheitliche Darstellung BricHTERs
wird ermöglicht dadurch, daß in ihr die Besonderheiten der Aka-
demiker und die mehr praktischen Tendenzen zurücktreten gegenüber
der Erkenntnistheorie der jüngeren Skeptiker, die ihm schon in seiner
Vorstudie in Wundts philos. Stud. XX das Thema abgab. Ein
kleines Beispiel, wie die Vereinheitlichung der Skepsis unrecht
tun kann. „Als der große skeptische Stil eines Pyrrho in der
Tradition erlosch — , da wurde auch das skeptische Ideal dahin ab-
feschwächt, daß man sich von der Leidlosigkeit auf das maßvolle
leiden, von der dwdOeia auf die firrpoitdöew zurückzog" (1 18). Aber die
Betonung der futpioicadeta gehört eben den Akademikern, ist bei
Ahkesilaos^ Lehrer Krantor, ja schon beipLATOM (in der Hepublik) gegeben
und ist für sie Differenzierung gegen die auch von ihren Uegnern,
den Stoikern (und schon den Kymkem) betonte dTcccdeia, die übrigens
nicht bloß Leidlosigkeit bedeutet.
416 Karl Joöl;
Abgesehen von den genannten Bedenken ist aber Eichtbrs Dar-
stellung der griechischen Skepsis als ein Muster an Klarheit und
Lebendigkeit, an tiefer und gründlicher Erfassung anzuerkennen,
belebt durch moderne Beispiele und Parallelen und gut disponiert:
I. Das allgemeine Prinzip der Isosthenie. — II. Die sensuale Skepsis.
— III. Die rationale Skepsis. — IV. Die Skepsis gegen einzelne
Wissensinhalte (Naturzusammenhang — Gott — Werte). — \. Negative
und positive Konsequenzen des Skeptizismus. Allerdings hat wohl
die Straffheit dieser Disposition z. ä. die 10 Tropen in die sensuale
Skepsis gedrängt, während sie tatsächlich nicht nur nach Diooene»
und Sextus und nicht nur im 10. Tropus über die Widersprüche der
sinnlichen Wahrnehmung hinausgehen. Gut wird die Anordnung der
ersten 4 Tropen erklärt, wogegen die der späteren besser nach.
Diogenes geschehen wäre. Der 9. Tropus will mit dem «p<Jc ti nicht
nur die Quintessenz der übrigen ausdrücken.
Die Kritik der griechischen Skepsis folgt nun derselben Dis-
position; sie entwickelt erst feinsinnig die faktische und methodo-
logische Bedeutung der Isosthenie, das Kriterium ihrer Gültigkeit und
Ungültigkeit. Sie zeigt dann in einer scharfsinnig und energisch»
klar und beredt durchgeführten großen Argumentation, daS die
griechische Skepsis nur den extremen Realismus geschlsigen, den sie
als Erkenntnisstandpunkt voraussetzt, den aber unsere Wissenschaft
längst hinter sich gelassen, daß dagegen und in welcher Weise der
gemäßigte Realismus wie der extreme Idealismus diesen skeptischen
Schlägen entgehen. Die Kritik am extremen Realismus ist gewiß be-
rechtigt; damit ist die „Wahrheit an sich^ noch nicht getroffen, an
die ja auch der gemäßigte Realismus glaubt. Doch auch mit dem
Relationscharakter der Wahrheit mag Kiciiteb recht behalten, damit
noch nicht mit der anthropologischen Beschränkung, die ja idola
tribus rechtfertigen würde, sondern, wie er fremde menschliche und
tierische Erkenntnis nur nach Analogie verstehen will, so ließe sich,
die Konstitution der Erkenntnis vielleicht abstrakt aus der bewußten
Einheit eines organischen Wesens, ja eines Subjektes überhaupt im
Verhältnis zur Vielheit der Objekte verstehen. So sehr femer Richter im
Anfang mit seiner Ejritik der ^echischen Skepsis im Rechte ist, er tut
ihr zum Teil unrecht mit den vorwürfen, daß sie Gefühle des Subjekts
auf die Dinge übertrage, daß sie statt in Urteilen in Wahrnehmungen
Widersprüone finde. Der Grund ist, daß er selbst erst die Tropen
rein sensualistisch verstanden und statt auf Differenz der Urteile nur
auf solche der Wahmehmungengedeutet hat. Daß den Tropen Nicht-
beachtung der ungewöhnlichen Wahmehmungsverbindungen zugrunde
liege (S. iJ07), ist um so unwahrscheinlicher, als der b. Tropus (in
RicHTEBs Zählung) diesen Unterschied gerade betont.
Die Kritik der rationalen Skepsis entwickelt zunächst kräftig
dieser zustimmend die reale Ungültigkeit der Gattungsbegriffe als
.Brillen", aber im kritischen Gegensatz zur Skepsis die methodo-
logische Bedeutung jener als „Futterale''. Der von den Skeptikern
angestrebte Antirealismus habe jetzt endgültig gesiegt. Anzumerken
ist nur, daß dabei Spinoza (trotz des Kampfes ge^en die notiones uni-
versales !) und Lbibniz (trotz der Schrift de nrincipio individui !), nicht
aber Heoel als Neurealisten aufgeführt weraen. Sodann zeigt Richter
gut, wie sowohl Rationalisten als Empiriker den skeptischen Tropen
gegen den Erkenntniswert der Schlüsse entgehen können, und nament-
Hch die Zurückweisung des Zirkelcharakters der Schlüsse scheint mir
gelungen, obgleich ich den erkenntnistheoretischen Boden des Ver*
Der Skeptizismus in der Philosophie. 417
fassers nicht so sicher finde. Daß „die mechanischen Gesetze kein
Mensch mehr heute aus reiner Vemiuift abzuleiten versucht*', wider-
spricht dem Bekenntnis von Heinrich Heutz Über das I. Buch seiner
„Prinzipien der Mechanik.'^ Die Yerkennung der Hypothese ließ sich
nur der pyrrhonischen , nicht der akademischen Skepsis vorwerfen.
Mit Becht wird die Verachtung der Definitionen auch als Protest
gegen die Stoa verstanden und feinsinnig zum Schluß gezeigt, wie
eine Dosis Skeptizismus im modernen Menschen ihn immun macht
gegen die naive antike Skepsis.
Vortrefflich wird dann mi IV. Abschnitt die naive Verdinglichung
der Kausalität bei den Skeptikern, aber zugleich ihr Verdienst in der
Fragestellung Ober KausalitAt betont, femer in der allgemeinen
Itebgionsverffleichung und in der Widerlegung des extremen Wert-
realismus. vortrefflich zeigt endlich der letzte Abschnitt die Kon-
sequenz der Skeptiker im negativen, ihre Inkonsequenz im positiven
Verhalten, das eben doch der von ihnen unterschätzten aktiven
Funktionen bedarf, und in der Empfehlung eines eudämonistischen
Allheilmittels. Auffallend ist, daß Kichter das skeptische Sichfügen
imter Sitten und Gebräuche an sich als Werterscheinungen ober-
flächlich und irrig findet, da man sich diesen Erscheinungen ent-
ziehen könne, dagegen die Motivierung dieses Sichfügens durch die
Lust daran als tief und wahrer schätzt. Ich finde ^enau umgekehrt
die hedonisch-utilitarische Motivierung oberflächlich (vgl. Kichtsr
selbst II S. 245) und kann auch nicht sehen, welche „ Großartigkeit '^
in solchem Vernalten liegt, zumal hier die Skeptiker mit der großen
Zahl der Gebildeten verglichen werden, die in der Landessitte,
Kirche usw. verharren aus .Mattigkeit", aus Unlust „gegen den
Strom zu schwimmen". Der Skeptiker aber will sich den gegebenen
Werterscheinimgen nicht entzienen gemäß jenem Passivismus, der
MoMTAiGNE, Charron, Hume 60 konscrvativ Gesetz, Tradition und Ge-
wohnheit preisen läßt.
Der IL Band behandelt im ersten Kapitel („Von der Antike bis
zur Renaissance") namentlich Augustins Verhältnis zur Skepsis in
feiner Charakteristik, richtiger Quellenbeziehung, scharf eindringender
Kritik mit anregenden, modern erkenntnistiiieoretischen Ausblicken,
denen ich allerding|8, auch abgesehen von einigen raschen Schlafen
gegen Kant, nicht immer folgen möchte. Vor allem der Begriff der
Wahrheit (auch im Verhältnis zur Wahrscheinlichkeit, zum Glauben,
der ja auch Wahrheit beansprucht und fühlt, und zu der zwiefachen
Wahrheit der Spätscholastiker, die nicht nur negativ zur Skepsis steht)
scheint mir durch Hichter nicht so fest stabilisiert, wie er verkündet,
wenn er sie auch mit Recht von der Forderung einer Übereinstimmung
mit dem Gegenstand befreit hat. Selbst die Identität der Wahrheit
mit Wissen und Erkenntnis ist nicht so selbstverständlich. Daß der
Begriff der Wahrheit durchaus nicht „in mystische Höhen" erhoben
werden darf (S. 16, doch s. S. 34 den erlaubten, durch freies Phantasie-
f spiel konstruierten „Idealbegriff" der Wahrheit); daß nur „kühle,
leichmäßige Temperatur" für diese Erkenntnisfragen befähig^, daß
ijLTonSf Plotinb, Spinozas, Schelungs und anderer intuitive Erkenntnis
keine ist, ist schließlich selber nur Glaube. Die Möglichkeit, daß
das Genie eerade in heißer, ekstatischer Spannung mehr sieht als die
Kühlen und Gleichmäßigen, ist doch nicht abzuweisen. Wenn RicHTBit
für die Wahrheit ein Evidenzgefübl fordert, so machen die Spekulativen
mit ihrer Intuition eben darauf Anspruch, und wenn er die Intuition
Yierteljahrsschriftf.-vnsseDflchaftl.Philos. u. Sosiol. XXXII. 2. 27
418 [Karl Jo6l:
nur psyohologisch , nicht logisch einstellen will, so g^ilt dies nicht
minder von seinem Kriterium des Evidenz^efühls. Wenn er von der
Wahrheit Harmonie mit Denken und Erfanrun^ fordert, so werden
sich die Spekulativen als Denker xon^ Hoy-ti^y die ihre Intuition erlebten,
innerlich erfuhren, nicht betroffen fühlen. Wenn er aber fttr die
Wahrheit Harmonie mit allen gegebenen Erfahrungen unter normali-
sierenden Bedingungen fordert, so ist Gefahr, daß die Wahrheit durch
NiveUierune vergewaltigt, daß sie, grob heraus zu sagen, unter Fan-
faren der Knetorik ans Philisterium aus^liefert wird, daß ein Seltenes
für die Seltenen, ein Neues für die I^uen nicht wahr sein dürfte.
Die Harmonie mit den Denkeesetzen und Erfahrungen mitsamt jenen
Bedin^neen ^ibt höchstens die Möglichkeit der Wärheit. Es könnte
jenen im Bestimmten Falle mehrerßi entsprechen, während eins nur
wahr sein kann; es könnte etwas (z. B. em Urteil über Zukünftiges)
mit ihnen harmonieren und doch nicht wahr sein; es könnte etwas
wahr sein und doch früheren Erfahrungen widersprechen. Ich nehme
hier nicht Partei, sondern sehe nur Fragen offen, die Bichtbr er-
ledigt findet.
Vortrefflich ist das Montaione gewidmete 2. Kapitel in der
Charakterschilderung, in der Analyse seiner Quellen, seiner Tendenzen,
seiner Widersprüche, und auch die ausführliche Rettung der ethischen
Erkenntnis vor dem extremen skeptischen Relativismus ist in der
Hauptsache gelungen. Bedenken habe ich nur gegen die einseitise
Voranstellung des Naturprinzips und die entsprechende völlige ZurücK-
schiebung des religiösen Konservativismus bei Montaionk, während
sein Wesen vielmehr ein Schülern ist zwischen diesen Gegensätzen
und noch andern, wie KANTischem Rigorismus (vgl S. 88) und Epiku-
reismus (S. 67), kurz ein Koistiger Don Juanismus, der sich vielleicht
als romanischer Typus der Skepsis hätte herausarbeiten lassen im
Gegensatz zum Faust- und Hamlettypus germanischer Skepsis. Die
zeitweilig naturalistische Betrachtung der menschlichen Vergänglich-
keit und darin des Wechsels der Ansichten ist kein Spezifikum
MoKTAianEs , sondern klingt in der Skepsis durch von Pybrhon (vgl. I
S. 25) und dem Herakliteer Anesideu bis zum biologisch vergleichenden
Nietzsche. Den allgemeinen Grundton MoNrAiuNEs wie der Renaissance
möchte ich in der Betonung nicht so sehr der Natur als des Indivi-
duellen und Persönlichen sehen, das Richter selber oft genug bei
Montaigne hervorstellen mufi (S. 70, 78, 82, 86 f., 90). Hinter dem
Kultus der „Natur*" steckt die des Lebendigen (vgl. II S. 501) als des
Freien. Die Herabsetzung des Menschen widerspricht geradezu den
Renaissancedenkem und zeigt den späten Montaigne schon als negative
Vorbereitung für den Absomtismus des 17. Jahrhunderts. Auä die
Antithese zu Protagoras (S. 90) ist nicht glücklich; dafi ihm der
Mensch fOr die Wahrheit zu groß gewesen sei, wird schon durch
das Götterfragment widerlegt. — Sehr fein seziert dann Richter die
Doppelnatur Charrons und erkennt richtig durch Rationalismus imd
Schematismus hindurch den Anhänger moktaignes, den Vorläufer
Pabcals. Ein kulturpsychologischer Blick hätte hier die Skepsis als
natürliches Schwanken im Übergang zwischen entgegensetzten Zeit-
altem verständlich gemacht. Das Prinzip der Selbsterkenntnis und der
anthropologische Charakter dieser Skepsis sind maßgebender als der
„ Natural ismus**, zumal Richter hier Charron, Stoa, Spinosa, ja zum Teil
auch Kant und Schiller unter diesen großen Hut Jbringt (S. 134, 140).
Es kommt doch nicht nur darauf an, daß Cuarron auf die Natur hin-
blickt, sondern darauf, was er aus ihr herausliest, und das ist gerade
Der Skeptizismus in der Philosophie. 419
schwankender Wechsel (vgl. S. 132), d. h. aber : er sieht nicht so sehr
die Skepsis naturalistisch als die Natur skeptisch.
Nach einer euten Charakteristik von Rationalismus und Em-
pirismus und der rVerbraderun^" des Dogmatismus mit jenem, des
Skeptizismus mit oiesem (die nur darin begründet scheint, daß die
ersten beiden auf die begrifflich faßbare Gleichheit, die letzten beiden
auf die schwerer faßbare Mannigfaltigkeit des Erlebten tendieren)
folgt eine mehr negative Kritik der großen Rationalisten als Kämpfer
f)gen die Skepsis, von denen Descarfes und Spinoza, so plausibel der
achweis ihres „Zirkels" erscheint, etwas zu hart, Lkxbniz wegen
einiger Annäherung an den skeptischen Positivismus etwas günstiger
beurteilt wird. Wieder wird zu rasch (unbewußt npragmatisch") der zu-
zugebende Relationscharakter der Wahrheit auf den Menschen statt auf
ein Subjekt überhaupt bezogen und eine ^sonderbare Antinomie im Be-
griff einer außermenschlicnen Wahrheit'' behauptet. — Nach dem
„naiven Dogmatiker" Bacon, der der Skepsis „vöUie fremd" gegenüber-
stand (doch eine Einwirkung Montaignes ist unleugbar!) wird bei Locke
nähere Klärung der skeptischen Hauptprobleme gefunden. Es folgt hier
eine sehr lesenswerte Rettung des „epochemachenden'^ Theoretikers der
objektiven Erfahrungserkenntnis gegenüber Kant; seine Originalität
gegenüber Hcme und Leibniz wird nicht immer schlagend hervor-
gezogen, sein Zuviel und Zuwenig an Skepsis fein abgewogen, dabei
alleroings einiges Unbequeme als fremder Einfluß oder Konzession
zurückgedrängt und z. d. über das Ich als Substanz bei Locke
mindestens Mißverständliches berichtet. Tatsächlich hat sein ge-
mäßigter Realismus rationalistische und mechanistische, kurz über-
empirische Unterlagen (s. jetzt Bäumkebs Nachweis über die Qualitäten-
lehre). Ohne Lockes unklares Verhältnis zur Metaphysik wäre diese be-
redte Rettung nicht möglich gewesen. — Mit größerem Recht kommt
nun der konsequentere Srrkeley zu Ehren als erster, der den totalen
Skeptizismus niederzwingen lehrte im Nachweis der Möglichkeit einer
reinphänomenalistischenErkenntnis. Vortreff lieh ist hier^die Ohari^te-
ristik seiner Stellung zur Skepsis und die Kritik seiner Ar^mente.
Nur S. 226 blieb unbeachtet, daß nach ihm das Reale an sich ent-
weder einen Widerspruch oder Nichts bedeute, und daß Bebkblky
den Gedanken an den eigenen Tod ebenso retten kann wie S. 222 die Erd-
bewegung. Wichtig ist Richters Erkenntnis, daß alle positiven er-
kenntnistneoretischen Standpunkte metaphysisch sind. In dem Satze :
„daß wir immer nur Bewußtseinserleonisse — Erfahren — ,
hat Berkelbv in endgültiger Weise dargetan" , möchte ich das „wir"
unterstreichen. Wenn wir uns primär nehmen, gilt allerdings der
erkenntnistheoretische Idealismus, ja der Solipsismus. Doch eben,
daß jenes notwendig sei, ist seine petitio principii.
An 2(X) Seiten sind dann verdienterweise Hume gewidmet, zur
Hälfte der Darstellung, zur Hälfte der Kritik seiner Skepsis. Beide
folgen (nach Vorausschickung einer ausgezeichneten Charakter-
schilderung) derselben gut gewählten Disposition: I. Allgemeine
Grundbegriffe; II. die subjektive Erkenntnis (d. h. die „denkend
von uns erzeugten Vorstellungen") — darin am wichtigsten das Re-
sultat, daß Hume im treatise nur die arithmetischen, in der enquirv
auch die geometrischen Erkenntnisse apriorisch nahm und dabei nicht,
wie meist angenommen wird, den rem analytischen Charakter der
Mathematik oehauptete; HI. die objektive Erkenntnis; a) die
Gegenstände der empirischen Objektivität (negierender D(^matismus
in der Substanzfrage, dämmernder Positivismus), b) der zusammen-
27*
420 KarlJoßl:
hang" der empirischen ObjektivitAt (die ^^oßartige Vereinfachung*^
der taktischen Erkenntnisse auf das Kausalprinzip, das hier besonder»
erörtert wird, hat übrigens schon Leibniz vorweggenommen), c) die
Erkenntnis der Werte, m der auch ein Wechsel seiner Anschauungen
nachgewiesen wird, d) die metaphysische Erkenntnis (Agnostizismus,
dabei sein Verhalten zur Religion etwas zu „diplomatisch", statt nach
Pterhons Muster bedeutet); iV. seine Stellune zur Skepsis (totaler,
aber gemäßigter Skeptizismus). Es geht nicmt an, den Reichtum
scharfsinniger Erörterungen Richters im einzelnen zu würdigen; ich
hebe nnr einiges aus der Kritik hervor. Im Streit der Kantianer
und Psychologisten plädiert Richter für ein Nebeneinander von
Psychologie und Erkenntnistheorie (die er mit der Logik eins setzt ÜV
bekennt aber, daß Hume die (Frenzen nicht immer gewahrt (so daß^
doch wohl Kas£ gegen ihn [S. 389] als Begründer der Erkenntnis-
theorie zu Ehren kommt). Gut ist namentlich die Kritik seiner etwas
stärker als sonst betonten und doch noch ungenügenden anrioristischen
Seite (dabei öfter von Richter die faktische, assertoriscne Gewißheit
von der apodiktischen nicht scharf gesondert), auch seiner Kausal-
erklärun^, femer seiner zum Teil inkonsequenten Unterschätzune: der
aktiven Funktionen und seines metaphysischen Agnostizismus. Doch
setzt Richter selbst noch die Metaphysik, der er die Tore öffnet, auf
ein Wissen dritter Ordnung herab, das nur diene, die Wirklichkeit
verständlich zu machen, fann nicht wie das theoretische auch das
praktische Denken (es gibt mit Verlaub auch normative Wissen-
schaften!) Ergänzungen fordern? Dann würde Kant nicht so rasch
von Richter neimgeschickt werden. Richter gibt keinen positiven
Ansatz zur Metaphysik ; nur formale Kriterien werden lose aufgezählt,
das ökonomische der Vereinfachung angehängt, obgleich es als syste-
matisches ins Wesen der Wissenschaft des Absoluten greift. Richters
Stärke ist wie die seines Helden Hume die Analyse, aber er urteilt
vielleicht zu sehr auch nach sich, wenn er dessen Lehre ,,rein theo-
retische Wurzeln" zuweist im Gegensatz zur Antike (aucti zur aka*
demischen Skepsis?). Vielmehr hat Hume als den „großen Überwinder
des Pyrrhonismus" die Praxis verkündet und oft genug den Sieg
des Lebens über das Denken gepriesen. Ja, wenn Richter über seiner
feinsinnigen Analyse ein Gesamtbild Humes erfaßt hätte, so würde
sich eben dieser antirationalistische Lebenssinn bei jenem Freunde
R0U88EAU8 ge^igt haben, der Staat, Religion, Moral aus praktischem
Bedürfnis, Gewohnheit, Gefühl usw. erklärt, der auch in der Er-
kenntnis die Impression über die Idee, den Naturinstinkt über die
Vernunft erhebt, und all die bei Richter zerstreuten Einzelzü^:
biologischer -Naturalismus^, Passivismus, Subjektivismus, Irratio-
nalismus würaen sich bei allen Skeptikern wiederfinden und zu einem
Gesamtbild der Skepsis zusammenschUeSen.
Daß „die ganze Aufklärung mehr oder minder von Zweifeln
durchsetzt" war, ist schon für die französische Aufklärung viel be-
behauptet; die deutsche strotzte meist von Vertrauen auf die mensch-
liche Vernunft (der Vergleich mit dem 4. Jahrhundert v. Chr. statt
mit dem 5. ist wohl ein Druckfehler), und so kann Richter ala
„Aufklärun^sskeptiker" erst an der Wende des Jahrhundert»
die Kantkntiker Schulze und Platner in guter kritischer Cha-
rakteristik vorführen. — Dann folgt eine Knappe, doch reiche
Skizze über den Positivismus, der aber in seinem JBegründer Comtk
gar nicht, im reinsten Empiriker Mill nur dann in den totalen
Skeptizismus gehört, wenn man (assertorische) Gewißheit mit Apo-
Der Skeptizismus in der Philosophie. 421
diktizität gleichsetzt. Der richtige Kern und wohl auch der Grund
der Behandlung des Positivismus hier ist sein Verhältnis zu Huuk.
£b ist eine kritische Orientierungsskizze über die moderne Streitfrage
der Apriorität der Mathematik, über die Möglichkeiten, das Kausal-
prinzip durch das Okonomieprinzip zu ersetzen, und über den
Agnostizismus.
Schon durch den frühen Einfluß Fr. Alu. Langes berührt sich
mit dem Positivismus der Autor des „Menschlichen, Allzumensch-
lichen". Mit tiefem Recht hat hier Hichtkr, durch eine Monographie
als Kenner Nietzsches gut ausgewiesen, dessen Erkenntnistheorie aus
dem Nachlaß hervorgezogen, die über der Moralkritik vergessen
wurde; mit vollem Recht auch hat er das schon früh auftretende
biologische Moment darin betont und das Verhältnis von Leben
und &kennen als Grundproblem Nietzsches herausgearbeitet, es auch
im V^echsel seiner Entwicklung klar aufgezeigt (die Wahnmetaphysik
allerdings wohl ebenso wagnerisch wie antiwagnerisch!), alles
in scharfsinniger, mehr aufs Positive als auf Vvidersprüche aus-
gehender Analyse, die nur bisweilen die Deutungsmöefichkeiten so
spaltet, daß Nietzsche die Antwort versagen muß. Trenend sind die
Ver^leichungen mit Pyrrhon, Hume, Mach, ja selbst mit Kant, auch
der^linweis auf die schon von Otehbeck gesehene Verwandtschaft
mit Pascal und namentlich richtungweisend der als „Motto'^ heraus-
gegriffene Satz: „Wo Skepsis und Sehnsucht sich begatten, entsteht
die Mystik.^ Ich sehe in Nietzsches „Skepsis'^ allerdings vielmehr
einen Pessimismus der Erkenntnis, der gerade „L-rtum" und nicht
Zweifel proklamiert; so wäre zu zeigen gewesen, wie ihm Schopen-
HAL^R sozusagen auf die Erkenntnis überschlug, wie dabei gerade
durch den Pessimismus der Erkenntnis das Leben für den Optimismus
frei wurde, wie nun bei Nietzsche das siegreiche Leben bald noch
fegen die Erkenntnis streitet, bald sie schon anerkennend in seinen
ieg hineinzieht — diese Erklärung schwankender Äußerungen scheint
mir plausibler als die S. 498 gegebene. In der Kritik fordert
Richter namentlich „reinliche Trennung zwischen den Tatsachen und
Gültigkeitsfragen der Erkenntnis^; er zei^, daß Nietzsche deren
objektive Kriterien arg vernachlässigt und sie doch durch biologische
Merkmale nicht zu ersetzen vermag, und daß auch die biologische
Ableitung der Erkenntnisprinzipien ihre logische Gültigkeit voraus-
setzt. Der behauptete ^irkel^ dabei fordert wohl noä eine prin-
zipiellere Erörterung. Und überhaupt ruft dieses Buch nach einer
geschlossenen, vom historischen Stoff freien Erkenntnistheorie. Es
ruft den dafür begabten Verfasser dazu, der sich ja hier schon kräftig
erkenntnistheoretisch herausarbeitet, aber auch jeden, der erkennt,
daß es heute eine Generalrevision unserer Erkenntnistheorie gilt, und
daß jetzt an der Wende der Zeiten ein immer drohender aufsteigender
skeptischer Geist sich wieder regt, in dessen Bekämpfung dieses Buch
eine wertvolle Rolle spielen dürfte.
BaseL Karl JofiL.
Misch^ Georg, Geschichte der Autobiographie. I. Bd.
Das Altertum. B. G. Teubner, Leipzig und Berlin, 1907.
Vm und 472 S. 8 M.
Omne individuum est ineffabile. Begriffe fassen das Überein-
stimmende zusammen; daher ist für das letzte Geheimnis des In-
422 Richard Fritzsche:
dividuums, für das £inzig:arti^ seines Ich, kein Wort vorhanden»
Die Seele entwickelt sich im Austausche mit der Umwelt, Mitteilunf^
ist ihr ein Lebensbedürfnis, und doch ist sie im letzten Grunde ein-
sam, mit Gott allein. Spricht die Seele, so spricht ach schon die
Seele nicht mehr. Nicht in Autobioerraphien ereießt sich das Un-
aussprechliche, sondern in Gebeten und Liedern ohne Worte. Diesen
zunächst steht das dichterische Kunstwerk, denn auch dem Dichter
gab ein Gott, zu sagen, was er leidet, und bis zur Höhe eines Kunst-
werkes, von Dichtung und Wahrheit, kann sich die Autobio^aphie
erheben. Daneben tritt er^eifend, wie uns die Naivität ergreift, zur
Kunst die Natur, das schlichte aufrichtige Bekenntnis, sei es im
Sinne Augustinischer Konfessionen, sei es als wahrhaftige Lebens-
beschreibung in der Art Götzens ton Berlichinokn. Unserem Zeitalter
der historischen und vergleichenden Beligions- imd Kulturwissen-
schaft und der empirischen Psychologie erscheint jedes Document
humain im Lichte eines neuen und vertieften Interesses. Der Ge-
danke einer „Bibliothek der Schriftsteller über sich selbst*', den Herder
begrüßte, und Goethes Idee einer „Vergleichung der sogenannten Kon-
fessionen aller Zeiten", die den großen Vorgang der Befreiung der
menschlichen Persönlichkeit erleuchten sollte, sind noch nicht ver»
wirklicht worden. Die Preußische Akademie gab eine Anregung in
dieser Richtung, indem sie die Aufgabe einer „Geschichte der SelDst-
biographie" stellte (1900). Von dem großen und inhaltreichen Werke
in drei Bänden, das die Frucht dieser Anregung war, erschien als
erster Band der vorliegende, der nicht nur auf gründlichen histo-
rischen Studien beruht, sondern auch von philosophischem Geiste er-
füllt ist. Der Verfasser stellt sich die Aufgabe, die „Bedingungen
und Zusammenhänge, die in der Geistesgeschichte wirken**, auf diesem
Gebiete des Lebens zu erfassen, und „zu historischen Begriffen für
das Verständnis der menschlichen Individuation vorzudringen*'. „Diese
Denkhaltung, die von der Kontinuität der deutschen Geistesphilosophie
getragen wird, ist an den Namen Wilhelm Dilthkvs eeknüpft. Auf
seinen Arbeiten zur Grundlegung der GeisteswissenschfiSten fußt diese
Geschichte, die ihm in Dankbaäeit und Verehrung zugeeignet ist.^
Der vorliegende Band gibt nach einer „Einleitung und Vorgeschichte*^
(S. 3—88) die Entwicklung der Autobiographie I. in der hellenischen
und attischen (S. 40 — 96), II. in der heUen istischen und hellenistisch-
römischen Epoche (S. 98—840) und III. die Blütezeit der Autobiographie
im Ausgang des Altertums (S. 848 — 466); den Schluß bilden Sach-
und Namenregister (6 S.)- Die Ichberichte, die den Gegenstand des
Werkes bilden, schreiten fort von Selbstgetanem zu Selbsterlebtem
und schließlich zu Darstellungen des eigenen Lebens, Ringens, Irrens^
Suchens, Findens, zu einer Geschichte und einem Porträt der eigenen
Seele. Ihre Keihe beginnt mit den biographischen Fixierungen des
Selbstgefühls, den Selbstverherrlichungen ägyptischer und babylonisch-
assyrischer Könige. Der stolze keilschriftliche Tatenbericht in der
Ichform (seit dem Ende des zweiten Jahrtausends), die „sozusagen
animaliscne" Verherrlichung des eigenen Daseins, deren Charakter
es geradezu widerspricht, nach der Äußerung persönlichen Innen-
lebens zu suchen, erscheint zuerst zur Selbstaarstellun^ einer Per-
sönlichkeit vertieft in der großen dreisprachigen Felsmschrift dea
Darius. „Hier lie^ die große Wendung vor Augen , in der daa
Machtbewußtsein sich versittlicht: das Ethos der persischen Keligion
^bt dem Hoheitsgefühl, das auf ^oße Worte gestimmt ist, auch die
innere Festigkeit, und die überlieferte Form kann dem Menschea
Geschichte der Autobiographie. 423
dienen, sich lapidar und doch persönlich darzustellen/ Diese Form
des Tatenberichte wurde von Nachfolgern Alexanders, den Ptolemäem
und anderen hellenistischen Fttrsten, aufgenommen und weiter*
gebildet, bis er in der „Königin der römischen Insclu'iften'', den Res
gestae des Augustus (auf dem Marmor Ancyranum), seine Vollendung
fand. Auf Selbstgetanes folgte Selbsterlebtes , beides natürlich un-
geschieden und zunächst nocn mit naiver Selbstverherrlichung, wie
in den Erzählungen des Odysseus, so in denen Xbnophoms. „Erst
unter Bedin^ngen, welche eben die Auflösung des antiken Greistes-
lebttis hisrbeiftthrten, hat sich noch bei den alten Yölkem die Selbst-
biographie zu der vollen Selbständigkeit erhoben, wo sie . . . das
Ganze eines individuellen Lebens in seinem inneren Verlaufe dar-
zustellen unternimmt.'' Wir könnten uns eine Geschichte der Selbst-
biographie vorstellen, die auf diese Bedingungen, ihren Ursprung und
na<£ weisbaren Einfluß das Hauptgewicht legte. Dann würde die
Dariusinschxift nicht als Vorstufe und das Monumentum Ancyranum
(das S. 158 — 171 vortrefflich analysiert wird) nicht als ein Hauptstück
aus der (beschichte dieser Literaturgattung erscheinen, sondern viel-
mehr im Gegensätze dazu. Denn nicht jede Bechenschaft, die jemand
von sich und seinem Werke, wenn auch mit ernstestem Sinne, selbst
vor dem Angesichte Gottes gibt, ist Eeflexion auf sich selbst im
Sinne der Selbstbesinnung, durch die z. B. Mark Aurbl sich von
Adgustus unterscheidet. Pur diese engere Begriffsfassung würden
OviD und HoBAs, deren verstreute Erwäinungen man sich aus dem
Namenregister zusammenstellen muß, mehr in den Vordersrund
treten, ids Aitgustus, dessen (für sein Mausoleum bestimmter) Taten-
bericht sich prinzipiell, unter dem hier maßgebenden Gesichtspunkte,
nicht unterscheidet z. B. von der selbstverfaßten stolzen Grabschrift
des Plebejers Nabvius (Gell. I 24, 2). Das vorliegende Werk be-
schränkt sich (S. VII) .wesentlich auf den Verlauf der europäischen
Selbstbesinnung und Individualisierung". Es wäre unbillig, dies
tadeln zu wollen, aber eine prinzipielle Aufklärung wäre doch am
Platze darüber, daß und warum sich außerhalb nicht sowohl der
europäischen als der christlichen Literatur so wenige Selbstbiographien
finden. „Es ist sonderbar,*' sagt der amerikanische Psjy^cholog W. J ambs,
„daß eine literarische Gattung, die bei uns so reichlich vorhanden ist,
sich sonst so selten findet," und er sieht in dem Fehlen rein perbön-
lieber Bekenntnisse eine Hauptschwierigkeit beim Studium des inneren
Lebens fremder Religionen. Wie das Christentum, so hat auch der
mohammedanische Sufismus verinnerlichend gewirkt und jenes Be-
wußtsein der Subjektivität geschaffen, durch das die Selbstbiographie
des persischen Philosophen und Theologen Aloazbl (Muhamea al-
Ghazäli, 1059—1111 n. (jnr., Geiger und Kuhn, Grundriß der iranischen
Philologie II. 1904. S. 364, 365) trotz ihres Alters uns so modern an-
mutet (Mitteilungen daraus gibt A. Schmöldbrs, Essai sur les doctrines
philosophiques cnez les Arabes. Paris 1842. S. 54 — 68, und W. James,
Die religiöse Erfahrung, Kap. 10, S. 374 der Übersetzung, 1907).
Augenscheinlich ist es ein Unterschied wie der, den Schiller statuiert
zwischen sentimentaler und naiver Dichtung, um den es sich hier
handelt. Dem Aloazbl wenigstens hoffen wir, trotz der angegebenen
Beschränkung, in der Geschichte der Autobiographie seit dem Aus-
fange des Altertums zu begegnen (die indische Literatur hat ienem
'erser nichts an die Seite zu setzen). Der vorliegende Band schließt
mit einer eindrucksvollen Darstellung der Consolatio philosophiae
des Boethius, S. 463-466: ;,In einer solchen Lage (von einem Bar-
424 Hermann Schneider:
baren, Theodericb, ohne Verhör zum Tode verurteilt), die nicht selten
zum Anlaß von Apologien wurde, warf er sich nicht auf eine politische
Eechtferti^ungsscnrift und wandte sich auch nicht zu den Heilsgaben
der christlichen Kirche, der er angehörte. Wie die römischen Aristo-
kraten der alten Zeit sich in IJnglOck und Tod bei ihren Philosophen
Rats erholten, sich an deren Keden und Trostschriften erbauten,
suchte er sich durch die Kraft der Philosophie über sein Schicksal
zu erheben . . . Die Philosophie erschien ihm in Person. Sie sieht
uralt aus, ihr selbstgewobenes Gewand ist verschossen, verstaubt und
zerrissen, aber eine unerschöpfliche Jugendkraft imd strahlende Augen
leuchten aus ihrem ehrfurchtgebietenden Antlitz. Sie hatte einst in
ihrer Freiheit den Griechen den Weg gewiesen, den Menschen in der
Persönlichkeit zu entdecken; sie vermochte auch noch, als sie Magd
geworden war, den Besten ein Bewußtsein von sich selbst zu geben,
^ie Selbstbiographie verdankt ihr so viel als der Religion, die den
göttlichen Kern im Menschen als *Leben' fand. Und die Consolatio
philosophiae steht neben Auoustins Konfessionen bei Dante unter den
Gründen der Vita nuova."
Schneeberg (Sachsen). Richard Fritzsche.
Erklärung*.
An
die Schriftleitung der „Vierteljahrsschrift für wissen-
schaftliche Philosophie und Soziologie."
G-estatten Sie mir, einen Irrtum zu berichtigen, den ich in der
letzten Nummer Ihrer geschätzten Zeitschrift finde. In einem Auf-
satz über „moderne Geschichtsphilosophie", der halb Sammelreferat imd
halb Selbstanzeige ist, bespricht Herr F. Oppenheimer mein Buch,
„Kultur und Denken der alten Ägypter", als das Werk eines „selb-
ständigen Schülers" oder „Adepten" Lamprechts. Ich kann auf diese
Bezeichnung keinen Anspruch machen.
Als Naturwissenschaftler und ansehender Philosoph bin ich aus
logischen Erwägungen vor Jahren schon zunächst zu der Einsicht in
die Notwendigkeit emer genetischen Psychologie gekommen. Nach dem
ich erkannt , daß diese sich nur in ' parallelen Untersuchungen im
Gebiet der Kinder- und Völkerpsychologie schaffen ließe, ergab sich
mir selbstverständlich der Anschluß an das biogenetische Grundgesetz.
Lamprechf und BRErsia waren mir damals gleichmäßig unbeKannt.
Lamphechts Name und ein Teil seiner „Methode" begegnete mir zuerst
in einem Kolleg Rickekts in Freiburg. Als Historiker, der Geschichte
schreiben wollte, blieb er für mich vollkommen seitab von meinem
Wege ; eine geschichtsphilosophische Durcharbeit historischen Stoffes
sollte für^mich, etwa m Hegels Spuren, nur die erste mühselige Vor-
arbeit auf dem Wege zu einer Logik und Ethik sein.
Ein Zufall führte mich nach Leipzig, als ich Gelegenheit zur
Habilitation für Philosophie suchte. Dabei bin ich wieder rein zu-
fällig mit Herrn Geheimrat Lamprecht in persönliche Berührung ge-
kommen und habe nun erst im Kolleg und in gelegentlichen Ge-
sprächen seine Anschauungen und einige Bände seiner deutschen
Erklärung. 425
€[eechichte kennen gelernt. Zu dieser Zeit war ich aber mit meinen
eigenen gesohichtspnilosoDhischen Ansichten bereits so weit fertig,
dafi Ton einem Schülervernältnis keine Rede sein konnte.
Die gemeinsamen Züee in Lauprechts Geschichtsschreibung und
meiner Geschichtsphilosopnie sind unabhängig und von ganz ver-
schiedenen Gebieten und JQrwägungen aus gewonnen, Kinder gleicher
Leitgedanken desselben Zeitalters. Als Phnosonh dem Fachhistoriker
gegenüber, wie als Psycholog, bin ich methodisch, wie in den Er-
geoniasen der Yerarbeituns historischen Materials, von Anfang an
eher ein Gegner als ein Vertreter namentlich der LAMPBECHxschen
„Stufen^ gewesen.
Herrn Oppe^iheimer hätte das vielleicht klar werden kOnnen,
wenn er unbefangen an mein Buch herangetreten wäre, statt von
einer anfechtbaren Konstruktion zweier „konkurrierender** Schulen
auszugehen, die er beide, gegen seine eigene Geschichtsphilosophie
gewogen, in aller Bescheidenheit zu leicht befinden muß.
Leipzig-Gohlis, Juni 1908. Hermann Schneider.
n.
PUIosopUsche und soziologische ZeitscIirifteiL
Archlr ffir Philosophie, I. Abteilung (Berlin, Beimer).
Bd. 21, Heft IT (N. F. XIY, 2).
Bloch, R., Liber secundos yoonomieorum Aristotilis.
Kun tr.e, Fr^ Pasoals letztes Problem.
B&umker, ul^Zor Vorgeechichte sweier Lockescher Begn^ffe.
Stillin g, J.^Über das rroblem der Freiheit auf Or und von Kants Kategorienlehre.
Bickel, E., Platonisches Oebetsleben.
Ja^esbericht.
Zeitschrift fOr Philosophie und philosophische Kritik (Leipzig,
£ckardt.)
Bd. 181, Heft 2.
Braun. O^, Die Entwicklung des GottesbegrilTes bei Sohelling.
Kinkel, W., Sohellings KedTe: Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur.
Kor w an, A., Sohelling und die Philosophie der Gegenwart.
Schwarz, H., Ein markantes Buch in der neuidealistischen Bewegung.
Falckenberg und Walter, J., Nachtrag zu dem Nekrolog auf L. Busse.
Bezensionen. — Notizen. — Neu eingegangene Schriften. — Aus Zeitschriften.
Bd. 182, Heft 1.
Eucken, R., Alter und neuer Idealismus.
Frischeisen-KOhler, M., Die historische Anarchie der philosophischen Systeme
und das Problem der Philosophie als Wissenschaft. III. Teil.
Manne, B., Zur Verteidigung der Möglichkeit des freien Willens. Zweiter Artikel.
Buge, A., Die transzendentale Freiheit bei Kant. I. Teil.
Ferber. J., Über die wissenschaftliche Bedeutung der Ethik Demokrlta.
Haus, A. B., Materie und Energie.
LosskiJ, N., Der erkenntnistheoretisohe IndiTidualismus in der neueren Philosophie
und seine Überwindung in der neuesten Philosophie.
Übele, Zum hundertjährigen Todestase Ton Job. Nicol. Tetens.
Schwarz, H., Die Terschiedenen Funktionen des Worts.
Rezensionen. — Notizen. — Neu eingegangene Schriften. — Aus Zeitschriften.
Zeitschrift fttr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgue*
(Leipzig, J. Ambr. Barth.) (I. Abt.: Zeitschrift fOr Psychologie«
Bd. 46, Heft 4.
Mflller-Freienfels, Rieh., Zur Theorie der OefahlstOne der Farbenempftndungen.
Herbertz, R., Die angeblich falsche Wissenstheorie der Psychologie.
Literaturberioht.
Bd. 46, Heft 5.
Heymans, O., u. Wiersma, £., Beiträge zur speziellen Psychologie auf Orund
einer Massenuntersuchung.
PhilpsophiBche und soadologische Zeitschrifteii. 427
Friaehelsen-KOhler. M., Über die ptyohologi sehen und die logischen Grund«
lagen dea BewegunffSDegrures.
Xarbe, K. W., Wnnats Stellting zn meiner Theorie der ttroboskopisoben Er-
■cheinonsen und xar systematischen Selbstwahrnehmong.
Uteratorberiohi.
Bd. 46, Heft 6.
Basinger, B., Gefllhlssnggestion und Phantasiegefflhl.
Wirth. w., Erwiderung gegen K. Marbe.
Literaturbericht.
B4L 47, Heft 1 und 3.
Aall, A., Zar Frage der Hemmung bei der Auffassung gleicher Reize.
Mtlller, A., Über psychologische Wechselwirkung und das Energieprinzip.
Literatarbexieht.
Bd. 47, Heft 8.
Sidney, A., Untersuchungen Ober Temperaturainn.
Linke, P., Meine Theorie der stroboskopischen T&uschungen und Karl Marbe.
Litermtarberiohl
Bd. 47, Heft 4.
Bidney, A., Untersuchungen Aber Temperatursinn (Schlui).
Jlttller, A.. Zur Frage der BeferenzflAchen.
Xarbe, K., Bemerkungen zu Herrn Professor W. Wirths „Ewiderung*.
Literaturbericht.
Bd. 47, Heft 5 nnd 6.
Xarbe, K., Bemerkung zu dem Aufsatz des Herrn P« Linke,
literaturbericht.
Bd. 48, Heft 1 nnd 3.
Xenzerath, P., Die Bedeutung der sprachlichen GelAufigkeit oder der formalen
sprachlichen Beziehunff für die Proauktion.
Dflrr, £., Dritter Kongrel fQr experimentelle Psychologie.
Litermturberieht.
Bd. 48, Heft 8 nnd 4.
Wiegend. C. F., Untersuchungen aber die Bedeutung der Oestaltqualitftt fQr die
ErkennunR yon Wörtern.
Hellpaeh, w., Unbewußtes oder Wechselwirkung.
Liebermann, P. Ton und B^tösz Oöza, Über Orthosymphonie.
Literaturbericht.
Arehir fttr die g^gamte Psychologrie (Leipzig, Engelmann).
XI. Bd., Heft 8 nnd 4.
Lueka, E., Das Problem einer Oharakterologie.
OheorgoT, I. A., Ein Beitrag zur grammatischen Entwicklung der Kindersprache.
Ernst, Chr., Hielt Desoartes die fiere fflr bewußtlos?
Wandt, W., Kritische Nachlese zur Aiisfragemethode.
Ylsie Congris intern, de Psychologie Genöve 1<J09.
Literaturbericht. — Einzelbesprechungen. — Referate.
XII. Bd., Heft 1-8.
Bflhler. K., Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorginge.
— II. Über GedankenzusammenhAnge. — III. Oedankenerinneninffen.
Btthler.K., Nachtrag. Antwort auf die yon W. Wundt erhobenen Binwilnde gegen
die Methode der Selbstbeobachtung an experimentell erzeugten Erlebnissen.
Segal, I., Über den Beproduktionstypus una das J^produzieren von Vorstellungen.
Legowski. L. W., Beitrftge zur experimentellen Ästhetik.
Laub. I., Über das Verhältnis der ebenmerklichen zu den tlbermerkliohen Unter-
schieden auf dem Oebiete der optischen Raumwahrnehmung.
Orflnbaum, A. A., Über die Abstraktion der Gleichheit.
Programm fQr den III. Kongrei fflr experimentelle Psychologie.
428 Philosophische und soziologische Zeitschriften.
XU« M., Heft 4.
B«inhardt, E., Der Ausdmck Ton Lact und Unlust in der Lyrik.
Klemm, O.« Berieht Aber den HL Kongrei der Geeellschaft fOr experimentelle
Psychologie in Frankfurt a. M. Tom 22. -25. April 1900.
Dritte« PreUsossehreiben der JKAntgeeellsehaft" (C. Oattlers Preisaufgabe).
Literatorberieht.
Phflosophisches Jahrbuch (Fulda, Fuldaer Aktiendruckerei).
XXI. Bd., Heft 3.
Wunderle. O.. Die Lehre des Aristoteles Ton der Zeit.
Ziesche, K., Die Natnrlehre Bonayenturas.
Esch, L.. Die Sinnesorgane der Pflanzen.
Bezensionen und Referate. — Zeitschriftenschau. — Novitftten. — Miszellen und
Nachrichten. — Philosophischer Sprechsaal.
XXI. Bd., Heft 8.
Baenmker, Gl., Über die Lookesche Lehre von den primären und sekundftren
Qualitäten.
Budde, F., LlAt sich die scholastische Lehre von Materie und Form noch in der
neueren Naturwissenschaft verwenden, und in welchem Sinne?
Schneider, A., Der moderne deutsche Spiritualismus.
Out beriet, C, Zur Psychologie des Kindes.
Gevser, J., Experimentelle Untersuchung des syllogistischen SchlieAens.
Rolf es, E., Zur neuesten Übersetzung der Metaphysik des Aristoteles.
Rezensionen und Referate. — Zeitschrifienschau. - Misiellen und Nachrichten.
JOnd (London, Williams and Norgate).
New Serles, Nr. 67.
Walker, L. J., Martineau and the Humanists.
Russell, L, J., Space and Mathematical Reasoning.
Crespi, A., The Prineiple of Gausality in Italian Scientific Philosophy.
Wodehouse, H.. Judgement and Apprehension.
Discuasions. — Oritlcal Notices. — New books. — Philosophical Periodicals. — Notes.
The PhilOBOphical BeTiew (Macmillan Comp., Lancaster P. A.).
Toi. xyn, Nr. 1.
James, W., The pragmatist aocount of truth and its misunderstanders.
Overstreet. H. A., The gpround of the time-illusion.
-Keary, Matter in ancient and modern philosophy.
TTrban, W., What ist the function of a general theory of valuef Discuasions etc.
Tel. xyn, Nr. 2.
Oardiner, H. N., The Problem of Truth.
Smith, N., Subjectivism and Realism in Modern Philosophy.
Barbour, C. F., Green and Sid^wiok on the Community of the Good.
Proceeding of the Seyenth Meeting of the American Pnilosophical Association. —
Reviews of Books. — Notices of New Books. ~ Summaries of Articles. — Notes.
Tol. XTII, Nr. 8.
Sharp, F. G., The Objeotivity of the Moral Judgment.
Galkins, M. W., Seif and Soul.
Martin, W. T., The Factual.
lJ B?y,%^fe.. } PWlosophy in France (1907).
Review of Books. — Notices of New Books. — Summaries of Articles. — Notes.
Tol. XTII, Nr. 4.
Hibben, J. G., The Test of Pragmatism.
Leighton, J. A., The I^lnal Ground of Knowledge.
Ewald, O., German Philosophv in 1907.
Reviews of Books. — Notices of New Books. — Summaries of Artides. — Notes.
Philosophische und soziologische Zeitschriften. 429
The Psjchologrlcal Beyiew (Baltimore, Review Publishing Co.).
Toi. XT, Nr. 2.
Stevens, H. C, Pecaliarities of Peripheral Vision.
Whipple, G M., Voeabalarv and Word-building Test.
Situs, B., The Doctrine of Primary and Seoondary Sensory Elements (II).
Thorndike, £. L., Memory of Paired Associates.
Tol. XT, Nr. 8.
Carr, H., Volnntary Control of the Difltanee of the Visual Field.
Pillsbury, W. B., Bfeaning and Image.
Colyin, S. S., The Natnre of the Mental Image.
Bolton, T. L., Meaning as Adjustment.
Boodin, J. £., Truth and Meaning.
Baldwin, J. M., Knowledge and Imagination.
Discnssion.
Tol. XT, Nr. 4.
Meyer, I. M., The Nervous Correlate of Pleasantness and Unpleasantness.
Bawden, H. H., Studies in Aesthetio Value. I. The Nature of Aesthetic Value.
Seilars, B. W., An Important Antinomy.
Nagel, O., On Seeing in the Dark: Bemarks on the Evolution of the Eye.
Discussion.
The Hibbert Journal (London, Williams and Norgate).
Tol. TI, Nr. 4.
James. W.. Plural ism and Keligion.
66rard, Benö-L., Civilisation in Danger.
Nansen, Fr., Science and the Purpose of Life.
Boss, Johnston 6. A., The Beligionist and the Soientist.
Bussel. E., „An Appeal to Those at the Top" — and Something More.
Petrie, The ^ght to Oonstrain men for their own Oood.
Lloyd, A. H., Knlightened Aotion the true Basis of Morality.
Dünn, Stanley Gerald, The romantio element in the EtMcs of Christ.
Eueken, B., The Problem of Immortality.
Jordan, D. St., The Beligion of the sensible American.
Campbell , A. J., The Churoh of Scotland and its Formula.
Williams, W. J., The Bürden of langnage in Beligion.
Diseusaions. — Beviews. — Bibliography of Becent Llterature.
The Psychologrlcal Bulletin (Baltimore, Review Publishing Co.).
Tol. T, Nr. 6.
Bocking, W. £. Theory of Value and Consoience in their Biologioal Contezt.
Literature. — Books Beceived.
Notes and News.
Tol. T, Nr. 6.
Watson, J. B., Imitation in Monkeys.
pByeholog^cal Literature. — Beports.
Tol. T, Nr. 7.
Franz, S. I., A Physiologioal Introduotion to the Study of Philoiophy.
Psychological Literature. — Books Beoeived. — Notes and News.
The Jonmal of Philosophy, Psychology and Scientific Methods»
(New York, Scientific Press.)
Tol. T, Nr. 9.
Boodin, J. E.. Consoiousness and Beality.
Seilars, B. W., Consoiousness and Conservation.
Boggs, L. P., The Ouestion in the Leaming Prooess.
Beview and Abstracto of Literature. — Journals and New Books. ~ Notes and News*
430 Philosophische und sosiologische Zeitschiiftem.
Toi. T, Nr. 18.
Win oh, W. H., The Function of ImAgos.
Britftn, H. H., The Power of Music.
Aeview and Abatraots of Literfttare. — Journals etc.
Yol. T, Nr. 15.
Boodin, J. E., Energy and Beality.
Bailey, Th. P., Organio Sensation and Organismic Feeling.
Booieties. — BoTiews and Abstraota of Literature etc.
Tol. T, Nr. 16.
Kirlcpatrick, E. A., The Part Played by ConscionsnoM in Mental Operation«.
Moore, A. W.. Truth Valne.
BeTJew etc.
Tol. T, Nr. 17.
SaWadori, G., PosiUTism in Italy.
Dodson, G. E., The Function of PMlosophy as an Aoademic Disoipline.
Discussion. — Beyiew etc.
Tol. T, Nr. 18.
Mars hall, H. B., Subattentiye Oonciousness and Suggestion.
Beviews and Abs'^aots of Literature, etc.
The Sociologrical Berlew (London, Sherratt and Hughes).
Tol. I, Nr. 2.
JoYons, P., The Definition of Magic.
Macke nzie, W. L., The Family and the City.
€arlyle, A. J., The History of Freedom.
Slanghter. J. W., Psychological Factors in social Transmission.
Bobertson, John M., The Tutelage of Baces.
Disoussions. — Beviews of Books. — Periodical Literature. — Noticea.
Tol. I, Nr. 8.
Tupper, G. L., Sociology and Comparatiye Politios.
Trott er, W., Herd Instinct and its Bearing on the Psychology of Oiylliaed Man.
Igbal, S. M., Political Thought in Islam.
Hobhouse, L. T., The Law of the Three Stages.
Swinn^, S. H., A Sociological View of the History of Ireland.
Discussions. — Reviews of books. — Periodical Literature. — Noticea.
BoTue PhUoBophlqne (Paris, Alcan).
88. ann^e, Nr. 6.
SoHier. Dr. P., et Danyille, G., Passion du Jeu et manie du Jeu.
Lalo, Chr., Les sens esthötiques (£• et demier artide).
Xanpts, Dr., Besponsabilitö ou röactiyitö?
Sageret, J., La curiositö scientiflque.
Goblot, L'aphasie de Brooa.
Analyses et comptes rendus. — Beyue des pöriodiques ötrangers, — Liyrea nou-
veauz. — Table matiöres.
. ann^9 Nr. 7.
Weber, L., La finaliU en biolosie et aon fondement möoanique.
Bageot, G., Le problöme expörimental du temps.
MausH, M., L'art et le mythe d^aprös Wundt.
Du gas. Obseryations sur des erreurs „formelles" de la mömoire.
Analyses et comptes rendus etc.
38. ann^e, Nr. 8.
Fouillöe, A., La yolont^ de consoience oomme base philosophique de la moralew
Millioud, La formation de l'id^al.
Pbilosophisohe und sosiologisclie Zeitschriften. 431
Biehet, Gh., La gnerre »t la pauc au point de yne philosophique.
Probst-Biraben, Mystiqno, Scieno« et Magie.
Analyaea et oomptes rendus eto.
88. aim^e, Nr. 9.
Sehins, A., Anti-praKmatisme. I. Pragmatisme et Modernisme.
Jankeleyitch, I^., Du r6le des idöes dans l'öYolution des sociötös.
Couslnet, B., La solidaritö enfantine: Etüde de psvohologie sociale.
Ohaslin, Dr., Sur Li «responsabilit^" des foas et oriminels.
Analyaes et comptes rendus eto.
Berme de PhQoBophle (Paris, Chevalier et Riviöre).
8. ftui^e, Nr. 4.
Oardair, Fogazzaro et Rosmini.
Billia, L. M., L*object de la PsTohologie.
Peillaube, £., L'organisation ae la memoire — III L*övooation des souTenirs.
Duhem, P., Le mouTement abeoln et le mouTement relatij.
üotre Enquöte. — Analyses et oomptes rendus. — Pöriodiques. — L*enseignement
philosophique.
8. ann^e, Nr. 6.
La Direotion, Programme d'ötndes ponr le problöme de la oonnaissanoe.
Martin, J., Un poöte philosophe.
Marie, A. 6t Meunier, R., Les eourbes respiratoires dans l'euphorie des paraly-
tiques gönörauz.
Duhem, F., Le mouTement absolu et le mouyement relatif.
Dumesnil, G., L'oenvre oritique de H. Pierre Lasserre.
Analyaes et oomptes rendus. — Pöriodiques. — L*enseignement philosophique.
8. aim^e, Nr. 6.
Ouehe, P. I., Le proo^s de T Absolu.
Aimel, O., Individualisme et Philosophie Bergsonienne.
Turro, B., Psychologie de rEquilibre du Oorps humain.
Duhem, P., Le mouTement absolu et le mouvement relatif.
B4ponae«. — Etüde eritique. — Ajialyse et oomptes rendus.
8. ann^, Nr. 7.
Oayraud, A., Les ▼ieilles preuves de Tezistenoe de Dieu.
€nche, P. L, Le prooös de 1* Absolu.
Valens in, A., La th^orie de l'expörienoe d'apröa Kant.
Turro, B., Psychologie de l'^quilibre du oorps humain (ffn.)
Analyses ec comptes rendus. Pöriodiques.
8. ann^e, Nr. 8.
Bouyssonie, A., De la röduotion k Tunitö des prinoipes de la raison.
Oayraud, A^ Les Tieilles prtuves de rezistenoe de Dieu (fin).
Duhem, P., ]je mouyement absolu et le mouyement relatif.
B^ponses. — Etüde eritique. — Analyses et oomptes rendus. — L*enseignement
phUoBophi que.
Beviie N^o-Scolastlqne (Louvain, Institut supärieur de philosophie).
15. ann^, Nr. 1.
Un Discours du Oardinal Meroier.
Sentronl, 0., La yörit« dans Part.
Lottin, J., La statlstique morale et le döterminisme.
Balthasar, N., Le problöme de Dieu d'aprös la Philosophie nouyelle.
M^langes et Doouments. — Bulletin de l'Institut de Philosophie. — Comptes rendus.
— Chronique philosophique (L. N.). — Ouyrages enyoyös k la Bödaction.
15. ann^e, Nr. 2.
Clodius Piat., De Tintuition en Th«odioöe.
Sentroul, 0., La vörit« dans l'art (suite «t ftn).
Vj»t D., A propos du oompos4 chimique.
432 Philosophische and soziologische Zeitschriften.
Gemelli, A., Le fondement biolo^qne de la psyehologie.
Notes critiqnea. — Bulletins bibliogjaphiques. — Bulletin de Tlnstitut de Philo«
Sophie. — Gomptes rendus. — Chronique philosophique (L. K.). — OuTrages
enYoyös k la Ködaotion.
BiTista Filosoflca (Pavia, Bizzoni).
Anno X, Toi. XI, Fase. I.
Fornelli, N., II naovo indiyidualismo religiöse.
Faggi, A., La cosoienza negli animali.
Levi, A., La psicologia della esperienza indifferensiata dl Jamee Ward.
Suali, L^, Un trattato element. di fUosofia Indiana.
Morselli, £., Yita morale e vita sociale.
Mondolfo. JEL, La dottrina della propriet4 nel Montesquieu.
Articoli di tUyiste Straniere. — Notizie e Publicazioni Per Rob. Ardigö. — Sommari
delle Riviste Straniere. — Libri Ricconti.
Anno X9 Toi. XI, Fase. II.
Yarisoo, B., La Creazione.
Fornelli, N., II nuovo individualismo religioso.
Levi, A., La psicologia della esperienza inoifferenziata di James Ward.
Tilgher, A^ Bramanesimo, Buddismo e Oristianesimo.
Nico 11, P. F.. Psicologia e Lin^uistioa.
Rassegna Bibllograflca. — Notizie etc.
Anno X, Toi. XI, Fase. III.
Tedesohi, S«, Un equivalente aprioristico della metafisioa.
Levi, A., La psiohologia della eaperenza indilTerenziata di James Ward.
Tilgher. A., Bramanesimo, Buddismo e Oristianesimo.
Faff^i , A., Blduardo Zeller e la sua concezione storioa.
Biliia, L. M., Le idee morali nelle dottrine di un psioologo soandinavo.
N i c o 1 i , P. F., II metodo delle matematiohe e l'insegnamento elementare della logiea .
Miranda, L.. Mach o Hegel?
Rassegna Bibliografica. — Bollettino Bibliografico. — Notizie e Pnblicasioiii. — >
Sommari delle Riviste Straniere.
Rassegna Contemporanea (Eoma).
Anno I, Fase. 2.
V.enturi, A., Classioismo nella Soultura italiana primitiva.
Bertracchi, 6., Pallide Mani . . . (versi).
Pirandello, L., Guardaroba del Eloquenza.
Frenzi, G. de, II Lucignolo dell Ideale.
Baldani, R., La Mostra dell' Ornamento feminile.
Carafa, Duoa d'A., II Tradimento di Leybaoh.
Bissolati, La Istruzione religiosa nella scuola elementare.
Soderini, £., L'insegnamento religioso nelle scuole primarie.
Sonnino, O., La Sctnavitu nel Benadir.
D avanzati, R. F., II Vecohio e il Nuovo nel Partito Socialista Italiano.
Zuccoli, L., Note et Vita.
Letterature. — Cronaca. — Notiziario. — Bibliografla.
Anno I, Fase. 8.
Lopez, P. 8., La Rifonna universitaria.
Chiesa, F., II Fiume.
Sfinge, I., Cinoue Fratelli.
Beohi. G., Dal Tramonto della Gasta all* Alba della Nazione armata.
Frenzi, G. de. II Luoienolo delPIdeale.
Gaggese.R., Etnografla, storia e Politioa.
Carafa, A., d'. II Tradimento di Leybaoh.
Argoleo, G.. Organizziamo Lo stato.
Sonnino, G.. L'alta Corte.
Chimientt, r., L'IndennitA Parlamentare.
Zerboglio, A., Per la Riforma della legge suUa Diffamadone.
Zuccoli, L., Note di Yita.
Cronache eto.
Philosophische und soziologische Zeitschriften. 433
Anno I9 Fa8C. 5.
Pitre, 6., La Caltura olMsica negli »ntioKi medici siciliani.
Giusti, P. E., Yersi.
Contri, C. 6., La Razza.
Oropallo, L., La ^Madre** di Masgimo Oorki.
Frenzi, Q. de. H Lnoignolo dell' ideale.
Valli, L., Apologhi.
Beneaetti, A., Federioo Zuocari.
Civia Romanns, II Blooco di Koma.
Sereia. G., n ModernJsmo religioso contemporaneo.
Stook Broker, La Orisi.
Zaeooli, L., Note di vita.
Cronaohe.
Kftnt-Stiidieii (Berlin, Beuter & Beichard).
Bd. S, Heft 3.
Ewald, O.. Die dentaehe Philosophie im Jahre 1907.
Stadler, A., Die Frage als Prinzip des Erkennens und die «Einleitung" der Kritik
der reinen Vernunft.
Schubert-Holdem, R. ▼..Die Grundfragen der Ästhetik unter kritischer Zu-
grundelegung von Kants Kritik der Urteilskraft.
Messer, A., H. Gomperz* Weltanschauungslehre.
Menzer, P., Die neuaufgefundenen Kj^ntbriefe.
Eomnndt H., Vorschlag zu einer Änderung des Textes von Kants Kritik der
praktischen Vernunft.
Rezensionen. — Selbstanzeigen.
Bl&tter fftr die gesamten Sozlalwlssenschaften (Dresden, Böhmert)
(Neue Folge der kritischen Blätter für die gesamten Sozialwissen-
schaften; hrsg. von Beck, Berlin.)
Heft 1.
Beck, H., Der internationale Stand der juristischen Bibliographie I.
Harms, Berichtigung.
Chronik. — Neue Zeitschriften.
Heft 2.
Beck. H., Der internationale Stand der juristischen Bibliographie II.
Chronik. — Zeitschriften.
Heft 4.
Beck. H., Der internationale Stand der jurististischen Bibliographie III.
Chronik. — Neue Zeitschriften.
Hefts.
Beck. H., Zur Geschichte des Zeltungs- und Zeitschriften wesens.
Chronik. — Neue Zeitschriften.
Heft 6.
Beck, H., Der internationale Stand der juristischen Bibliographie.
Chronik. — Neue Zeitschriften.
Heft 7.
Hanauer, J., Eine internationale bibliographische Konferenz.
Chronik. — Neue Zeitschriften.
Heft 8.
Warnotte, D., Die yierte internationale Konferenz fQr Bibliographie und
Dokumentation.
Chronik. — Neue Zeitschriften,
Notiz. Bibliographie folgt im nächsten Hefte.
Vierteljahrsschrift f. wissenschaf tl. Philos. u. Soziol. XXXII. 8. 28
Altenbu^
Pierarsohe Hof buohdruoker«]
Stephan Oeibel & Co.
f99*¥m99***9***9*9'9¥*^9*999¥9*99***9*9*99¥*
Die Bedeatung des istbetischen fttr die EtlülL
Von Dr. Rieh. MUller-Freienfels, Berlin-Halensee.
Inhalt.
1. Die landlAufiffen Anschauungen Über dat Verhilitnia von Ästhetischem und
Ethischem. 2. Inhaltliche und formale A^'irkungen. 9. Die formalen Faktoren
(Rhythmus, Harmonie usw.) in der Musik. Die auflockernde Wirkung. 4. Die
mhaltlichen W^irkungen der Musik. 5 Formale Wirkungen der Dichtkunst, ti. Inhalt-
liche Wirkungen der Dichtkunst. Die auswihlenae Wirkung (Naturalismus
und Idealismus). 7. Architektur, Malerei und Bildnerei und ihre Bedeutung ftlr die
Ethik (die Darstellung des Nackten). 8. Die befreiende Wirkung der Kunst.
i.
Die Frage, ob das Ästhetische für <äie Ethik Bedeutung
habe, ist sehr verschiedenartig beantwortet worden.
Wir haben die Meinung vernommen, Ästhetik und Ethik
berührten sich gar nicht, sie seien so verschiedene Dinge
wie Töne und Farben, die sich niemals vereinigen oder
kreuzen könnten der wahre, ästhetische Genuß sei ethisch
vollkommen indifferent. Die Kunst sei weder moralisch
noch unmoralisch, sie sei amoralisch. Wir haben be-
sonders in jüngster Zeit diese Ansicht oft, besonders von
ästhetischen Snobs, verkünden hören.
Eine andere Meinung ist die, daß die Kunst der Ethik
in den meisten Fällen entgegenarbeite, daß vom ethischen
Standpunkt fast alles Ästhetische zu verdammen sei. Zu
allen Zeiten haben Asketen und Fanatiker verschiedenster
Sinnesrichtung diesen Standpunkt vertreten, und erst in
unseren Tagen wieder tönte die Stinune eines ehemals sehr
großen Künstlers durch Europa, der diese Ansicht ver-
kündete *).
Die dritte Anschauung, und sie dürfte wohl die ver-
breitetste sein, sieht in der Kunst im wesentlichen eine
') li. N. Tolstoi, Was ist Kunst? Jena 1899.
Vierteljahrsschrift f. wissensohaftl.Philos.u.Souol. XXXII. 4. 28
4-i(> Rieh; Mtiller-Freienf eis:
Helferin und Förderin der Ethik. Ja die extremsten Ver-
treter dieser Richtung haben das wahre Schöne und das
wahre Gute als eins gepriesen.
Von diesen drei Ansichten läßt sich die erste, daß das
Ästhetische die Ethik nichts anginge, leicht als falsch zurück-
weisen , da sie auf einer vollkommenen Verkennung ein-
fachster psychologischer Tatsachen beruht. Niemals nämlich
läßt sich ein Teil der Seele absondern von den anderen,
sondern stets wird die ganze Seele in Mitleidenschaft ge-
zogen. Wohl lassen sich für unser Bewußtsein moralische
-Urteile bis zu einem gewissen Grade zurückdrängen, aber
wenn die ästhetischen Erregungen überhaupt die Seele be-
einflussen, so wird sich dieser Einfluß auch irgendwie atif
das ethische Gebiet, das des Handelns hinüber erstrecken.
Im Grunde handelt es sich bei der Behauptimg der
Amoralität der Kunst mehr um ein Postulat als um eine
Theorie. Es ist erwachsen aus dem Bestreben, die moralischen
Urteile von den ästhetischen Urteilen zu sondern, was
natürlich ein begründetes Bestreben ist, aber es ist natürlich
eine Torheit zu glauben, daß auch eine ethische Wirkung
unterbunden sei, wenn man das ethische Urteil zurück-
gedrängt habe. Der Begriff der Amoralität ist überhaupt
ein psychologisches Unding. Irgendeiner Moral folgt jeder,
wenn er sich auch dessen nicht klar ist, und wenn auch
nicht gerade die landläufige zu sein braucht.
Die beiden anderen, oben skizzierten Anschauungen,
von denen die eine die Kunst für im wesentlichen un-
moralisch, die andere für moralisch höchst bedeutsam er-
klärte, stimmen dagegen in einem wesentlichen Punkte
überein, nämlich dem, daß das Ästhetische von Einfluß auf
unser Handeln und damit auf unser moralisches Ich sei.
Die starke Divergenz kommt nur dadurch heraus, daß es
ganz verschiedene moralische Ideale sind, die ihnen vor-
schweben.
Ich betrachte die Frage hier im wesentlichen vom
Standpunkte des Psychologen. Nur das eine interessiert
mich: wie und wieweit kann das Ästhetische
Die Bedeutung des Ästhetischen für die Ethik. 437
unser Handeln beeinflussen. Dabei werde ich nicht
den Staudpunkt der verschiedenen ethischen Systeine
diskutieren , sondern nur auf jene prinzipielle Frage mein
Augenmerk richten. Denn alles, was unser Handeln be-
einflussen kann, besonders aber, wenn es in der Welt einen
so gewaltig breiten Baum einninunt, wie es die ästhetischen
Phänomene tun, darf vom Ethiker nicht unbeachtet bleiben.
Da nun aber die Kunst eine der intensivsten Bildnerinnen
unseres Gefühlslebens ist und unsere Handlungen meist aus
Gef&hlen entspringen, so ist es von größter Wichtigkeit fiir
den Ethiker, die psychologischen Wirkungen der Kunst in
unserer Seele zu kennen, soweit sie auf das Gebiet des
Handelns hinübergreifen.
Die Hauptarten der Wirkung nun, die die Kunst auf
unser Gefühlsleben auszuüben vermag, des genaueren zu
studieren, ist das Ziel dieser Untersuchung.
n.
Man pflegt nun gewöhnlich die von einem Kunstwerk
ausgehenden Wirkungen einzuteilen einmal in solche, die
an das „Wie" geknüpft sind, anderseits in solche, die von
dem „Was" ausgehen; mit anderen Worten man unter-
scheidet formale und inhaltliche Wirkungen.
Von diesen beiden Arten wird in der Regel, und nicht
nur von den extremsten Herolden des „art pour Tart", bloß
die erste als legal angesehen. Die inhaltlichen Wirkungen
werden nach Möglichkeit auszuscheiden gesucht, sie gelten
als unkünstlerisch. Betrachtet man jedoch die von der
Kunst ausgehenden Wirkungen vom Standpunkt des Psycho-
logen oder Ethikers, so fallen doch auch die inhaltlichen
Wirkungen recht schwer ins Gewicht, zumal die Trennung
zwischen Form und Inhalt nirgends ganz scharf zu ziehen
ist. Wir sind eben lebendige Menschen, und wenn wir
nicht durch jahrelange, einseitig ästhetische Dressur zu von
allem Menschlichen fremden Ästheten geworden sind, so
wird uns das Porträt eines bedeutenden, schönen Kopfes
auf die Dauer doch mehr zusagen als ein ästhetisch gleich-
28*
438 Rieh. Maller-Freienfels:
wertiges Bildnis eines Trottels. Es ist hier nicht darüber
zu streiten, ob der Nur- Ästhet, der im letzten Grunde doch
eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Kastraten hat, von
irgendeinem Gesichtspunkt aus ein Ideal bedeutet, vom
ethischen Standpunkt aus jedenfalls ist er es nicht. Für
den Ethiker aber kommen nicht Postulate, sondern die
tatsächlichen psychologischen Erfahrungen in Betracht.
Diese aber gehen dahin, daß bei weitem die Mehrzahl der
kunstaufnehmenden Menschen von formalen und inhaltlichen
Werten zugleich ergriffen wird. Ich widerspreche dabei
der Ansicht, die zuweilen auftaucht, die große Masse ge-
nieße nur inhaltlich. Das ist falsch, sie kann sich über
die formalen Wirkungen nur nicht Rechenschaft geben, ist
sich ihrer nicht bewußt. Tatsächlich aber wirken die
formalen Elemente, ob als Rhythmus oder Farbe oder ähn-
liches auch auf den Unkritischen. Die Trennung ist ja
überhaupt eine willkürliche, der Asthetenstandpunkt , der
die inhaltlichen Werte ausscheiden will, ein künstlicher,
widernatürlicher. Ich werde also für meine Untersuchungen
den formalen und inhaltlichen Wirkungen Rechenschaft
tragen.
Ich nehme dabei die Begriffe „formal" und „inhalt-
lich" nicht im Sinne einer haarscharf definierenden speziellen
ästhetischen Theorie, sondern in dem weiten Sinne, wie es
der gewöhnliche Sprachgebrauch tut, wobei ich die lose,
verschwimmende Umgrenzung der Begriffe eher als Vorzug
denn als Nachteil anzusehen geneigt bin. Denn in der
Psychologie noch weniger als in der übrigen Natur lassen
sich solche haarscharfen sauberen Trennungen vornehmen.
Fataler scheint mir ein anderer Umstand zu sein bei diesen
Begriffen, daß nämlich hierbei die Assoziation an ein Gefäß
und einen heterogenen hineingegossenen Inhalt sich regen
könnte, obwohl von einer solchen Trennung natürlich keine
Rede sein kann. Tatsächlich besteht kein Unterschied
zwischen Inhalt und Form, das Kunstwerk ist ein Organismus,
das so wenig wie sonst die Natur Kern oder Schale hat,
und jene Sonderung ist nur eine von außen herangetragene
Die Bedeutung des Ästhetischen für die Ethik. 439
praktisclie Einteilung. Die sonst seit Fechnkr weit ver-
breitete Sonderung, die in vieler Beziehung so wertvoll ist,
in direkte und indirekte Faktoren scheint niu* für meinen
Zweck nicht sehr brauchbar, da ich gezwungen sein werde,
Als „formale" Faktoren auch solche gelten zu lassen, die
Fechner vielleicht eher als indirekt assoziiert bezeichnen
möchte, zumal, wie Groos*) bereits hervorgehoben hat, der
B^riff des assoziativen Faktors sehr verschiedenartige
Elemiente xmifaßt. In der Poesie zum Beispiel können auch
assoziative Elemente, Bilder, Vorstellungen usw. formal,
bloß durch Anordnung und Komposition uns ergreifen, so
daß man „assoziativ" durchaus nicht ohne weiteres mit
g inhaltlich" identifizieren darf, wozu manche Theoretiker^)
geneigt sind.
Außer diesen Einzelwirkungen aber kommt noch ge-
sondert in Betracht, ob die Kunst in ihrer Gesamtheit,
ohne daß wir dabei die Einzelheiten analysieren, ethisch
wirkt oder nicht, ob die Kunst überhaupt als ein ethischer
Wertfaktor anzusehen ist, oder als das Gegenteil. — Das
wird in einem letzten Abschnitt, nachdem die Einzelkünste
in ihren Einzelwirkungen behandelt sind, zusammenfassend
zu betrachten sein. —
m.
Die Musik ist von allen Künsten diejenige, bei der
die formcJen Wirkungen am stärksten, die inhaltlichen am
geringsten sind, beziehungsweise bei der reinen Instrumental-
musik fast ganz verschwinden. Denn wenn man zuweilen
hier von Inhalt, Gehalt usw. spricht, so ist das nur eine
Redeweise, um in übertragenem Sinne den Wert jener
formalen Wirkungen zu kennzeichnen. Eben ob dieser rein
formalen Wirkung ist die Musik das Ideal aller Anhänger
des „Tart pour l'art" , und ihr Bestreben geht darauf hin,
die anderen Künste der Musik möglichst ähnlich zu machen,
») Gboos, Der ästhetische Genuß, S. 88 ff. ..Gießen 1907.
*) KOlpe, Der assoziative Faktor in der Ästhetik. Vierteljahrs-
schrift für wissenschaftliche Philosophie. 1899. S. 149.
440 Rieh. Mttller-Freienfels:
in der Malerei durch Farben Harmonien erzielte „Musik
fürs Auge" , in der Poesie „de la musique avant tont
chose" ^) zu fordern. Ob man dabei nicht daws "Wesen dieser
Künste verkennt, soll hier nicht erörtert werden.
Die formalen Wirkungen der Musik sondern sich leicht
in rhythmische und harmonisch-melodische. Von
diesen beiden Arten ist die erste die primäre. Alle primi-
tive Musik ist in erster Linie rhythmisch, wie das am
stärksten von Wallasohek*) nachgewiesen ist. Eine feste
Melodie, die Verwendung fester Tonstufen, speziell der
diatonischen Skalen, ist durchaus nicht überall zu finden
und ist erst ein sich allmählich entwickelndes Kunstprodukt,
während der Rhythmus mit elementarer Gewalt ergreift.
Dabei ist zu betonen, daß der Rhythmus durchaus nicht
in erster Linie ein akustisches Phänomen zu sein braucht.
Im Tanze (und bei primitiven Völkern kommt Musik fast
nur in Verbindung mit Tanz vor) ist er vielmehr ganz
vorwiegend motorisch, und auch bei der bloß gehörten
Musik leitet er sehr stark auf das motorische Gebiet
hinüber, was man bei sehr vielen Leuten beobachten kann,
die den Rhythmus der Musik durch Körperbewegungen zu
begleiten pflegen. Werden diese ausgeführt, so verstärken
sie die Rhythmuswirkung ganz erheblich (ein Zeichen für
die vorwiegend motorische Natur des Rhythmus), aber auch
wo die sichtbaren Äußerungen unterdrückt werden, machen
sie sich doch in den zentralen Teilen geltend, sei es als
Beeinflussung der respiratorischen oder vasomotorischen
Tätigkeit, sei es als bewußte Bewegungs vor Stellungen.
Wir haben eine ganze Anzahl von dahingehenden Unter-
suchungen, die die vorwiegend motorische Wirkung des
Rhythmus belegen^;.
Die durch den Rhythmus, d. h. speziell durch diese
inneren motorischen Begleiterscheinungen erzeugte Wirkung
') Worte Veiu.ainks in seinem Gedicht: Art poetique.
*) Vgl. sein interessantes Werk: Primitive Musik. London 189'3.
') Mkntz in Phil. Stud., 1895, S. 305; Bolton in American Journal
of Psycho!., 189"), S. 163 ff.
Die Bedeutung des ÄsthetiBchen für die Ethik. 44 [
ist ja allbekannt. Jeder hat sie erfahren, wenn er Musik
hörte, sei'd, daß ihn als Soldaten, wenn er müde und ab-
gespannt war, die Rhythmen eines Marsches neu belebten,
sei's, daß ihm die Takte eines Walzers „in die Beine fuhren",
sei's, daß ihn sonst die Musik einmal aus dem engen Dasein
des Alltags hinan gleichsam in ein Zauberland versetzte.
Das ist die Wirkung des Rhythmus — die melodisch-
harmonischen Wirkungen sind daneben nur sekundär — ,
und diese Wirkung ist eine Anregung des ganzen Organismus,
eine Wirkung, die sich am besten als eine Art Rausch
bezeichnen läßt. Diese Ansicht, die ich an anderer Stelle ' )
ausfuhrlich dargelegt und physiologisch zu begründen ge-
sucht habe, ist auch von vielen namhaften Psychologen und
Ästhetikern*) in ähnlicher Weise ausgesprochen worden,
und die Tatsache kami ja von jedem Einzelnen an sich
selber beobachtet werden. Die Rhythmuswirkung hat eine
gewisse Ähnlichkeit mit den von Alkohol, Äther und ver-
wandten Mitteln erzeugten Zuständen. Man kann sich an
Rhythmen berauschen wie an geistigen Getränken. Er
verleiht uns durch die oben angedeutete Wirkung auf den
Organismus die Fähigkeit mit einer weit über das all-
täghche Maß hinausgehenden Lebhafligkeit und Stärke zu
empfinden und zu fühlen.
Darin nun, daß der Rhvthmus so unsere seelischen
Kräfte belebt — ohne zunächst die schädlichen Neben-
wirkungen der anderen, obengenannten Stimulantien zu
zeitigen — , liegt seine Bedeutung auch für die Ethik. Ich
möchte sagen, die Musik hat etwas Auflockerndes für
unser ganzes Seelenleben. Dadurch, daß sie das ganze
Gemütsleben anfeuert, die Phantasie anregt und alle Affekte
entzündet, beugt sie einer Vertrocknung und Verhärtung
vor, die allzu leicht im Alltagsleben, wo einseitig Verstand-
>) Vgl. meine Abhandlung: Zur Theorie der ästhetischen
Llementarerscheinungen. Vierteljahrsschr. fttr wissenach.
Philos. u. Soziol. XXXII. Besonders S. 130 ff.
') Ich nenne nur Karl Groos, Spiele der Menschen, Kap. Hör-
spiele, S. 23 f.; SouRiAi;, La Suggestion dans Part. Paris 1893.
4 2 Rieh. Maller-Preienfels:
und Willenstätigkeit geübt werden, eintreten kann. Und
wenn man auch nicht soweit gehen wird wie Shakespeare,
der in der bekannten Stelle des Kaufmanns von Venedig
dem Manne, der nicht Musik hat in sich selbst, den nicht
die Eintracht süßer Töne lührt, gleich Tauglichkeit zu
Verrat, zu Untaten und Tücken nachsagt und die Regung
seines Sinnes dumpf wie Nacht, sein Trachten düster wie
der Erebus nennt, so ist doch sicher, daß ein Mensch, der
viel Musik genießt, leichter von Gefühlen ergriffen wird als
andere. Nicht auf das Qualitative der Gefühle hat die
Musik Einfluß, nur auf die Intensität. Nur belebend,
nicht im Sinne eines ethischen Kodex bessernd, wirkt
die Musik. Sie lockert nur, wie ich oben sagte, die Ge-
fühle auf. Sie erweckt edle Gefiihle oder unedle, je nach-
dem der Mensch ist, dessen Ohr und Sinn sie berührt. So
ist es ja eine Tatsache, daß sie oft zur Erregung niederer
sexualer Lüste verwandt wird; doch ist das nicht etwa
darum möglich, weil sie eine besondere Verwandtschaft ge-
rade mit dem Sexualtrieb etwa im Sinne der bekannten,
oft widerlegten DARWiNschen Theorie über die Entstehung
der Kunst aus sexuellen Momenten hätte, sondern sie
erweckt niedere oder edle Triebe, je nachdem das Individuum
oder dessen momentane Disposition beschaffen ist. Die
Musik ist nicht mehr „der Liebe Nahrung", um noch ein-
mal Shakespeare, diesmal aus „Was ihr wollt", zu zitieren,
als sie irgendeines anderen Gefühles spezielle Nahrung ist.
Sie wird alle Gefühle und Affekte stärken und erregen, je-
nachdem der einzelne dafür disponiert ist. Darum wird sie
wohl auch besonders bei Kultus und Gottesdienst verwandt,
weil sie, wie jedes andere Gefühl, auch das religiöse anregt
und belebt. Eigentlich möchte ich sogar eher annehmen,
im Gegensatz zu den Anhängern jener DARWiNschen Theorie,
daß die Musik, gerade weil sie wenig Beziehungen zum
alltäglichen Leben, sondern eher etwas Weltfremdes hat,
mehr auf die feineren, subtileren Seelenregungen wirkt als
auf die niederen. Aber auch hier spielt eben die In-
dividualität mid die besondere Situation eine Rolle, und auch
Die Bedeutung des Ästhetischen für die Ethik. 443
ich möchte nicht gerade annehmen, daß eine Gesellschaft
Lebemänner, die sich beim Diner mit Musik überschütten
lassen, dadurch zu seelenvollen Schwärmereien und Träumen
geführt werden.
In der dynamischen Verstäjjkung und An-
regung des Grefühlslebens beruht die "Wirkung
der Musik. Man mag das für schädlich halten, für ent-
nervend und entmännlichend, und diejenigen, deren Mensch-
heitsideal der robuste Feldwebel oder räcksichtslose Money-
maker ist, werden so urteilen. Gewiß kann die Musik, im
mm
Übermaß genossen, zu einer Verweichlichung des
Geistes führen, und wenn man diese Übertreibung im Auge
hat, kann man die Ägypter verstehen, von denen Diodor
von Sizilien berichtet, daß sie Musik nicht nur für unnütz,
sondern sogar für schädlich hielten, weil sie die Seelen der
Männer weibisch mache. Aber niemals darf man etwas,
weil es falsch oder übertrieben angewandt worden ist oder
angewendet werden kann, darum in Grund und Boden ver-
dammen. Es kommt darauf an, daß ein Nahrungsmittel oder
eine Medizin an der rechten Stelle und bei rechter Ge-
legenheit verwandt wird. Als ein geistiges Nahrungsmittel,
unter Umständen auch eine geistige Medizin, aber möchte
ich hier die Musik betrachten. Und nun scheint mir, daß
im allgemeinen wir, das heißt die Deutschen des neuen
Kaiserreiches, eher an einer zu kleinen als einer zu großen
Ausbildung des Gefühlslebens leiden. Unsere ganze Er-
ziehung, unser ganzes Leben drängt zu einer möglichst
starken Ausbildung des Verstandes und Willenslebens hin.
Die meisten Leute werden sich sehr geschmeichelt fühlen,
wenn man ihren Verstand oder ihre Tatkraft lobt, aber der
Gefühlsmensch ist ein Ideal, das bei uns heutzutage niedrig
im Kurs steht. Selbst das weibliche Geschlecht, früher ganz
auf das Gefählsleben dressiert, schlägt jetzt nach der anderen
Seite aus, sucht — zum Teil unter dem Druck wirtschaft-
licher Verhältnisse — dem Manne möglichst ähnlich zu
werden, erstrebt denselben Bildungsgang und dieselben
Bildungsmittel wie der Mann und nimmt teil an der
444 Rieh. MtUler-Freienfels:
allgemeinen Überschätzung des Verstandes und Willens-
lebens.
Darin nun liegt die Bedeutung der Musik, und es wird
sich zeigen, die der anderen Künste ebenfalls, daß sie der
allgemeinen Logisierung des Lebens entgegen arbeitet. Unter
dem Einfluß der Musik werden die meisten Menschen, sie
mögen noch so kühl und verstandesüberlegen tun, weicher
und allen möglichen Gefühlsregungen zugänglich. Die Musik
übt diese Seiten des Seelenlebens, sie bewirkt, daß sie
nicht verkümmern aus Mangel an Anwendung, wie es eben
das Schicksal niemals geübter Organe zu sein pflegt. Man
vergleiche einmal, wieviel Wert die Griechen der Musik ftir
die Menschenbildung zuschrieben und wie wir heute sie
treiben. In unseren Schulen sind wöchentlich zwei Stunden
ftlr ein meist dazu herzlich unkünstlerisches Singen aus-
gesetzt, während wir dreißig und mehr Stunden der Aus-
bildung des Verstandes, das heißt meistens des Gedächtnisses^
opfern. Daneben wird freilich privatim von unserer Jugend
noch ziemlich viel Zeit auf Musikbetrieb verwandt, aber e»
ist dieses Musiktreiben mehr ein Drillen auf eine oft sehr
zweifelhafte ausübende Fähigkeit, auf ein öffentliches
Produzieren, von dem man gesellschaftliche Vorteile erhoflftv
als ein wirkliches Erziehen zum seelischen Erfassen und
Aufnehmen der Musik. Man sollte mehr auf ein Genießen
als auf ein Sichproduzieren hin erziehen. Ästhetisch und
ethisch hat ein großer Teil unseres privaten Musikbetriebs
nicht mehr Wert als das Fußballspielen oder Seiltanzen^
ohne dabei deren gymnastischen Wert zu haben. So-
lange das Musiktreiben mechanische Dressur bleibt, und
viele „Künstler*" kommen nie darüber hinaus, solange die
Musik nicht Gefühlsregungen auslöst, also im oben be-
schriebenen Sinne auflockernd wirkt, hat sie mit Ästhetik
nichts und Ethik nur negativ zu tun. Es ist bedauerlich,
daß als musikalisch nur derjenige gilt, der selber ein Piano
in Bewegung zu setzen vermag.
Es ist in der obigen Betrachtung der Rhythmuswirkungen
schon mancherlei zur Sprache gekommen, was für die Musik
Die Bedeutung des Ästhetisclien für die Ethik. 445
überhaupt gilt. Aber, wie bereits gesagt, ist der Rhythmus
das eigentliche "Wesen der Musik. Musikalische "Wirkungen
können sehr wohl durch Rhythmus allein, ohne Melodie
und Harmonie erzielt werden, durch Tronmieln, Tamburine,
Kastagnetten usw. Es lag also eine gewisse Berechtigung
in jener Vorwegnahme.
Während der Rhythmus unmittelbar, ohne jeden Unter-
schied des Bildungsgrades alle Menschen, ja auch Tiere
ergreift, ist die Harmonie imd die Melodie ein Kunst-
produkt. Sie sind es nicht ganz, insofern Harmonie und
damit auch Melodie, die fast immer nur eine auseinander-
gezogene Harmonie ist, in den Instrumenten vorgebildet
waren. Aber in ihrer jeweiligen Ausbildung ist sie Produkt
der Tradition und Erziehung. Das Ohr muß ein-
gestellt sein für den jeweiligen Genuß. Für uns ist die
Musik der Chinesen ein sinnloser Lärm, und umgekehrt
werden unsere meist gepriesenen Tondichtungen von den
Asiaten nicht höher bewertet. Die Schätzung der Kon-
sonanzen hat ihre deutlich abzusteckende Geschieht«. Erst
allmählich werden die Ohren erzogen, dissonierendere Ton-
verbindungen mit Lustgefühlen zu begleiten. Die Terz galt
im Altertum als Dissonanz, während anderseits die Oktave,
für Griechenohren von höchstem Reiz, uns für sich allein
keine sonderlichen Lustgefühle mehr auslöst, und wer die
Musikgeschichte der beiden letzten Jahrhunderte verfolgt,
wird bemerken, wie immer mehr früher verpönte Ton-
verbindungen hoffähig werden.
Man darf daher nicht von Konsonanz imd Melodie
schlechthin sprechen, sondern nur ganz allgemein von dem,
was wir Europäer im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts
etwa so empfinden, obwohl auch hier die Unterschiede noch
groß genug sind.
Die Hauptwirkung von Harmonie und Melodie nun
scheint mir mit der des Rhj^thmus zusammenzufallen, wozu
noch die Dynamik in ihrem Wechsel als drittes Element
hinzukommt. Sie alle verstärken nur die spezifischen vom
Rhythmus erzeugten seelischen Erregungen, sie bringen Ab-
446 Rieh. Müller-Freienfels:
wechslung und Farbe, in den an sich, leicht eintönig wirkenden
Kanevas der rein rhythmischen Eindrücke, bringen erst die
Mannigfaltigkeit in die Einheit der regelmäßigen Gliederung.
Dazu kommt, daß die Töne und Tonverbindungen das-
jenige akustische Material sind, das dem Ohre, respektive
den zentralen Organen bei lebhafter Erregung doch am
wenigsten Überanspannung einzelner Teile zumutet, wie das
bei den meisten Geräuschen der Fall ist, welche darum
von Unlustgefühlen begleitet sind. Sie waren daher am
besten geeignet, die rhythmischen Abschnitte zu füllen,
wobei dann noch die speziellen Lustwirkungen der festen
Melodie kamen, die Freude am Wiedererkennen usw. Immer
aber müssen dabei die Intervalle durch ihre Neuheit und
ReizflLhigkeit eine bestimmte Lustschwelle überschreiten,
unterhalb deren eine Melodie als fade, langweilig usw. be-
wertet wird, müssen sich aber auch unterhalb einer ge-
wissen Höhengrenze halten , oberhalb deren die Melodie
oder der Akkord als zu neu, zu ungewohnt, zu disharmonisch,
zu grell abgeleimt wird. Neu auftauchende Genies ver-
schieben stets diese Grenzen, haben aber zunächst aller-
dings mit der Trägheit des Publikums zu kämpfen.
Im wesentlichen aber wird, was die Wirkungen der
Konsonanzen betrifft, nicht viel mehr hinzugefügt zu dem,
was wir schon beim Rhythmus beschrieben haben. Melodie
und Harmonie wirken ganz außerordentlich verstärkend auf
die Rhythmuseindrücke, geben diesen für unser Gefühl
überhaupt erst Seele, bewegen sich jedoch im wesentlichen
auf derselben Linie.
IV.
Außerdem aber^ kommen zu den .Wirkungen von Rhyth-
mus, Konsonanz und Dynamik noch mancherlei assoziative
Wirkungen, die schwer festzustellen sind, die jedoch immer
vorhanden sind. Wir beschreiben sie als ein Steigen und
Fallen der Töne, als ein Ringen, Streiten und Sich-
versölxnen, Ruhe nach Sturm und Leidenschaft und was
ähnlicher Ausdrücke mehr sind. Dm'cli diese assoziativen
Die Bedeutung des Ästhetischen fOr die Ethik. 447
Elemente kommt zu der ersten Wirkung der Musik, wie
sie oben als ein Auflockern und Verstärken bereits vor-
handener Gefühle geschildert wurde, etwas Neues, etwas
Qualitatives hinzu. Ihre Gefühlswirkung ist nicht mehr
allgemein, sie fügt ein Spezielles hinzu, regt nicht nur mehr
die Seele im allgemeinen an, sondern beeinflußt sie in ganz
bestimmter Richtung. Solche speziellen Einflüsse sjnd es,
wenn uns ein Trauermarsch ernst, eine Tanzmusik heiter
stimmt, wenn uns ein Rondo von Mozart in eine Stimmung
sonniger Heiterkeit versetzt, während ein Adagio von
Beethoven uns Stimmungen von herber Andacht und Majestät
erweckt. Diese Gefühle sind durchaus nicht willkürlich
assoziiert, sondern nach ihrem Stimmungsgehalt ziemlich
eindeutig durch die gemeinsame Wirkung von Rh;^iJunu8,
Harmonie, Melodie und Dynamik bestimmt. Erst wenn sie
bestimmte, konkrete Vors tellungs demente enthalten,
hört diese Bestimmtheit auf. Diese konkreten Vorstellungen
sind immer subjektiv, sie können nie und nimmer als
eindeutige Wirkung der Musik begriffen werden, obgleich
das durch Musik angeregte starke Gefühl sie gleichsam aus
sich heraus erzeugt, ihnen erst den Boden bereitet.
Für den puristischen Ästhetiker nun mögen solche
assoziativen Nebenwirkungen gleichgültig, ja verwerf üch
sein, der Ethiker und Psychologe darf sie nicht außer acht
lassen. Während die Auslösung der oben geschilderten
allgemeineren Stimmungen, die mit einiger Eindeutigkeit
aus dem rein akustischen Material erzeugt werden, durchaus
noch vom Ästhetiker, wenn er kein Überpurist ist, gelten
gelassen werden können, wird der Ästhetiker unbedingt sich
ablehnend verhalten, so wie bestimmte Vorstellungen, die
stets subjektiv sein müssen, dazutreten. Stimmungen und
Grefahle, die sich an bestimmte Vorstellungen anknüpfen,
sind bereits Affekte , die etwas von den rein musikalischen
Wirkungen ganz Abliegendes sind. Für viele Leute beruht
tatsächlich der ganze Musikgenuß in einer Anregung des
Phantasielebens, die auf jene oben beschriebene Rausch-
wirkung des Rhythmus zurückzuführen wäre. Letztere
448 Rieh. MüUor-Freienfels:
braucht nicht zu solchen intellektuellen Abschweifungen
und Träumereien zu fiihren, sie kann rein musikalische
Wirkungen erzeugen, aber bei den meisten Menschen bleibt
doch meist nichts als eine Anregung zu subjektiven
Träumereien.
Doch sind die bis jetzt beschriebenen assoziativen
Wirkungen noch nichts eigentlich Neues. Im Grunde hängen
sie sehr nahe mit der oben beschriebenen Auflockerung
zusammen. Sowie es jedoch der Musik gelänge, ganz be-
stimmte Gefühle und Affekte im Hörer auszulösen, würde
damit eine von jener ganz verschiedene Wirkung zu kon-
statieren sein, die ich die auswählende nennen will, weil
sie unter den Gefühlen des Hörers nur eine ganz bestimmte
Auswahl erregte. Doch ist hier gleich zu konstatieren, daß
die auswählende Wirkung, die von der Musik ausgeht, nur
sehr gering ist. In größerem Maße findet sie sich nur bei
der Vokalmusik, wo durch den Text eine bestimmte Richtung
der Vorstellungs- und Gefühlserregung im Hörer bedingt,
wird. Doch sieht natürlich jeder, daß es sich hier um eine
Wirkung der Poesie und nicht um eine Wirkung der Musik
handelt. Es wird daher ausführHch über die auswählende
Wirkung der Kunst erst gesprochen werden, wenn die
Dichtkunst behandelt wird, in der jene vor allem zur Geltung
kommt.
Da nun, wo mit rein musikalischen Mitteln eine be-
stimmte inhaltliche Wirkung auf den Hörer erstrebt wird,
wie in aller Art von Programmusik, ist die ethische Be-
deutung ganz gering. Wer sollte wohl durch die Musik
von RicH. Straussens „Also sprach Zarathustra" demNiEXZscHE-
schen Immoralismus auch nur um einen Schritt näher ge-
kommen sein? Zudem wirkt ja alle Programmusik leidlich
eindeutig doch nur mit Hilfe des Begleittextes, als doch der
Worte, das heißt von etwas Nichtmusikalischem.
Nun könnte man jedoch die Frage aufwerfen, ob die
Musik die Wirkung des Textes nicht verstärkte. Das ist
sicherlich oft der Fall, aber dann wäre die durch die Musik
erzielte Wirkung doch nur eine im oben beschriebenen
Die Bedeutung des Ästhetischen für die Ethik. 440
Sinne auflockernde, die Auswahl würde allein durch
den Text bewirkt. Zudem aber wird sicherlich in mindestens
ebenso vielen Fällen die Wirkung des Textes geschwächt
als 8ie gestärkt wird. Sehr viele Hörer achten allein auf
die Melodie und empfangen von den "Worten selten mehi'
als einen ganz vagen Eindruck. Bei den Griechen war das
anders. Da war stets die Poesie die Hauptsache, die Musik
diente niu* zur Unterstreichung und Hervorhebung des
poetischen Inhalts. Es handelt sich hier also in erster Linie
um poetische und nur nebenbei um musikalische Wirkungen.
Das ist auch zu erwägen, wenn man von der starken, uns
sonst fast unverständlichen Bedeutung liest, die in Griechen-
land in der Pädagogik der Musik zuerteilt wurde. Die reine
Instrumentalmusik war ja überhaupt nicht sonderlich stark
ausgebildet bei den Alten. Heutzutage hat sich das ge-
ändert. Bei unserer Lied- und Opernkunst ist die Musik
für die meisten Leute die Hauptsache, und es zeigt sich
das schon darin, daß das Orchester mehr und mehr die
menschliche Stimme in unseren Opernhäusern zu erdrücken
droht und im Liede die Begleitung immer selbständiger
anf):.ritt. Zwar ist Wagner theoretisch scharf gegen diese
Überwucherung des Textlichen durch die Begleitmusik vor-
gegangen, praktisch hat gerade er diese Entwicklung be-
fördern helfen. Es gibt sehr viele Menschen, die die Motive
und Melodien aus dem Ring der Nibelungen aufs genauste
im Kopf hüben und doch nur einen sehr verschwommenen
Begriff von der Handlung dieser „Dramen" besitzen. Man
genießt eben diese Opern — der Unterschied zwischen
Oper und Musikdrama ist kein prinzipieller — im wesent-
lichen auch genau wie die absolute Musik. Auch hier werden
inhaltliche Wirkungen durch die Töne kaum überliefert,
und jedenfalls sind sie zu gering, um den Ethiker zu inter-
essieren. Richard Wagner meinte zwar von „Tristan und
Isolde" *) , nur eine mittelmäßige Aufführung könne ihn
retten, eine vollendete müsse alle Hörer aus Rand und Band
') In den Briefen an Mathii.dk Wkbexdonck. Herausg. v. Goltkr 1905.
450 Rieh. Müller-Freienfels:
bringen — er überschätzte die Wirkung der Musik — ; wir
haben viele vollendete Aufführungen jenes Werkes gehabt,
ohne daß die befürchteten Wirkungen eingetreten sind.
Ehebruch mit Orchesterbegleitung wird nicht als Ehebruch
empfunden. In der Regel hemmt die Musik eher die Wirkung
des Textes, als daß sie sie fördert. Ihre Wirkung ist —
auch als Liedmusik — in erster Linie die oben beschriebene
auflockernde. Sie regt das Seelenleben als Ganzes aufs
stärkste an, fordert das Gefühls- und Stimmungsleben, je
nach der Disposition des einzelnen, und wenn sie in be-
stimmter Richtung fördernd wirkt, so erzeugt sie einen
vagen Zustand der Träumerei.
V.
An der Musik, derjenigen Kunst, die hauptsächlich aufs
Formale gestellt ist, mußten die formalen Wirkungen am
klarsten hervortreten. Um die inhaltlichen Wirkungen der
Kunst möglichst scharf zu beleuchten, nehme ich darum
zunächst nun diejenige Kunstart vor, bei der das Inhaltliche
überwiegt, die Dichtung. Zuletzt von allen mögen die
bildenden Künste, wie man die sichtbaren, die Augenkünste,
nicht sehr geschickt bezeichnet, betrachtet werden. Hier
halten sich Form und Inhalt etwa die Wage, so sehr auch
bald die eine, bald die andere Seite gewichtiger schien im
Laufe der Zeiten.
Auch in der Dichtung haben die Meinungen um die
Wichtigkeit des Inhaltlichen und Formalen geschwankt.
Da jedoch die Mehrzahl der Menschen an und fiir sich
mehr der inhaltlichen Aufnahme von Dichtungen zuneigt
und die Formwerte nur als Beigabe oder als Mittel zum
Zweck anzusehen pflegt, so haben zuweilen die Verehrer
der Formwerte heftige Vorstöße gegen jene Mehrheit unter-
nommen, wobei sie, was bei solchen Reaktionen gegen
herrschende Meinungen oft der Fall ist, in der Hitze des
Kampfes, wohl auch aus taktischen Gründen über das Ziel
hinaus schössen. Man sucht dann rein musikalische
Wirkungen zu erzielen — „De la musique avant toute
Die Bedeutung des Ästhetischen für die Ethik. 451
chose !" , wie Verlaine in seiner „Art poötique" verlangt.
Wiederholt sind Forderungen angetreten, die Wirkung der
Dichtung ganz auf Rhythmus, Beim und Lautschönheit zu
stellen, so bei Novalis, bei den Symbolisten in Frankreich,
bei neueren Ästheten in Deutschland. Daß auch auf diese
Weise starke Wirkungen erzielt werden können, darf nicht
bezweifelt werden. Ich selber erinnere mich, daß ich während
meiner Studentenzeit öfters einen angesehenen serbischen
Dichter Verse in seiner Sprache, von der ich gar nichts
verstand, vortragen hörte und immer stark ergriffen wurde
von den rein formalen Werten, da andere nicht zur Wirkung
kommen konnten. Trotzdem wird niemand leugnen, daß
natürlicher und intensiver derartige Effekte durch die Musik
erzielt werden, da£ es meist eine Vergewaltigung der Sprach-
kunst ist, wenn man sie nur als angenehmes Geräusch, nicht
als das, was sie ihrem Wesen nach ist, nehmen wollte : als
Trägerin und Vermittlerin von Vorstellungen und Begriffen.
Die Dichtung ist wie jede andere Kunst Einheit von
Form und Gehalt. Eins muß das andere fördern und
unterstützen für die gemeinsame einheitliche Wirkung.
Diese ist auch durchaus nicht etwa eine Addition, eine äußere
Zusammenwirkung jener Einzelwirkungen, sondern etwas
durchaus neues, wie Fechner und andere zur Genüge
nachgewiesen haben. Immerhin jedoch sind in der Dichtung
die formalen Elemente von geringerer Bedeutung und der
gegenteiligen Ansicht klebt immer etwas Paradoxes an.
Rhythmus, Lautklang, Reim usw. können zwar bei manchen
kleinen Lyricis der Hauptfaktor der Wirkung sein, bei „ Wallen-
stein** oder gar in „Werthers Leiden" sind sie es gewiß nicht.
Jedenfalls werden sie bei der überwiegenden Mehrzahl der
Leser nicht so empfunden, und da es uns als Psychologen
nur interessiert, was tatsächlich ist, mcht was nach der
Meinung dieses oder jenes Theoretikers sein sollte, so
müssen wir mit der Tatsache rechnen, daß in der Dichtung
inhaltliche Momente die Hauptwirkung machen, nicht
formale. Diese letzteren werden also ähnhch wirken wie
die Musik, dort wo sie allein genommen werden; sonst
Vierteljahrssohriftf.wissensehaftl. Philoii.u.So£iol. XXXII. 4. 29
452 Bich. Müller-Preienfels:
aber werden sie als Steigerungsmittel der einheitlichen
Wirkung, die vor allem durch die Bedeutung der Worte
erreicht wird, anzusehen sein.
Wenn ich nun von der ethischen Wirkung der
Dichtkunst spreche, so meine ich natürlich nur diejenige,
die zugleich ästhetische Wirkung ist. Alles was zum
Beispiel bloß belehrend wirkt, hat mit Kunst nichts zu tun.
Ein Drama, dessen Hauptwert darin beruhen würde, uns
ein historisch treues Zeitbild aus dem sechzehnten Jahr-
hundert zu liefern, hat, wenn es nicht daneben andere
künstlerische Werte bringt, mit Kunst nicht mehr zu schaffen
als die unvergleichHch humoristischen Verse, in die Zümpt
die lateinische Grammatik gebracht hat. Wenn es einer als
den Gewinn, den ihm das Lesen von Shakespeares Königs-
dramen eingetragen hat, bezeichnet, daß er seine historischen
Kenntnisse erweitert hat, so interessiert er uns hier nicht
Desgleichen geht es uns nichts an, wenn irgendein „fabula
docet" dem Leser kategorisch einen Satz der Moral ein-
gepaukt hat. Das ist keine ästhetische Wirkung. Die
Kunst hat andere ethische WirkungsmögHchkeiten, die zu-
gleich ästhetische sind ; sie zielt nicht auf den Intellekt, auf
„Bildung** ab, sondern nur dort wird sie wirklich als Kunst
genossen, wo sie den ganzen Menschen erfaßt und durch-
dringt, was sich uns kundgibt in der Erregung unserer Ge-
fühle. Nicht derjenige Nutzen der Poesie, den Gellkrt in
folgenden zwerchfellerschütternden Versen definiert, ist der
rechte :
„Dem, der nicht viel Verstand besitzt,
Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen" —
sondern die Kunst wirkt unmittelbar wie das Leben selbst:
sie will keine Wahrheit beibringen, sondern sie will uns
suggestiv neue Erlebnisse vermitteln, wobei ich
unter Erlebnis Eindrücke und Geschehnisse verstehe, die in
unser Gefühlsleben eingreifen.
Darin, daß die Dichtkunst in uns gefühlsbetonte Emp-
findungen und Vorstellungen auslöst, besteht ihr ästhetischer
Wert. Wenn ich also hier vom ethischen Werte der
Die Bedeutung des Ästhetischen für die Ethik. 453
Dichtung zu sprechen imtemehme, so meine ich nur einen
solchen, der zugleich auch einen derartigen ästhetischen
Wert repräsentiert. Wenn man also aus Shakespeare lernt,
daß Heinrich V. der Nachfolger Heinrichs IV. war oder aus
der Bestrafung Falstaffs eine gute Lehre abstrahiert, so ist
das kein ästhetisches Erlebnis, weil durch dieses Wissen
allein das Gefiihl nicht im geringsten erregt wörde. Wenn
ich dagegen die seelischen Regungen des jungen Königs
nach dem Tode seines Vaters innerlich miterlebe, wenn in
mir ähnliche Gefühle und Stimmungen anklingen, so hat
das ästhetischen Wert und kann auch, indem es mein
Gefühlsleben bereichert und erweitert, dadurch ethischen
Wert haben.
Diejenigen nun, die in diesen Erregungen unseres
Gefähls- und Stimmungslebens einen ethischen Wert der
Poesie erkennen, gehen nun wieder in zwei sich schroflF
gegenüber stehende Parteien auseinander. Auf der einen
Seite erklärt man, jenes Erregen imseres Gefühls- und
Affektlebens hätte an sich einen ethischen Wert, ohne
Bücksicht darauf, welcher Art diese Gefühle und Affekte
seien; die andere Partei ist der Ansicht, daß es vom ethischen
Standpunkt^icht gleichgültig sei, welcher Art die erregten
Gefühle seien. Manche Gefühle und Stimmungen dürfben
möglichst wenig angerührt werden, während andere aus
Gründen der ethischen Bildung nicht oft genug angeschlagen
werden könnten. Über die Auswahl dieser nützlichen
und schädlichen Gefähle sind die Ansichten wiederum ge-
trennt. Ungefähr etwa könnte man versuchen, jene
beiden Parteien mit den Schlagworten „Naturalisten^
und „Idealisten" zu kennzeichnen. Denn der Naturalis-
mus, der gern unter der Flagge der Wahrheit fahrt, be-
hauptet: da möglichst getreue Darstellung des Lebens Auf-
gabe des Künstlers sei, so wäre es falsch, irgendwelche
Seite der Wirklichkeit zu unterschlagen. Dagegen erklärt
der Idealismus, der eben in der Richtung nach irgendeinem
Ideale hin eine Auswahl in den zur Verwendung ge-
langenden künstlerischen Motiven vornimmt: gerade dieses
29 •
454 Rieh. Müller-Freienfela:
Auswählen, Stilisieren, Idealisieren sei das Wesen der
Kunst. Jede der beiden Richtungen aber wirft der anderen
Unmoral vor : der Naturalismus nennt das IdeaUsieren Ver-
logenheit und behauptet, der idealisierende Künstler wirke
verwirrend und schädigend auf die Köpfe seiner Mit-
menschen, weil er ihnen ganz verzerrte und verschrobene
Bilder vorspiegle — der Idealismus nennt den Naturalismus
darum unmoralisch, weil er im Leser auch die schlechten
Gefühle wachrufe und damit verstärke und so verderblich
auf die Moral einwirke.
Es gilt nun hier, vom psychologischen Standpunkte aus
diese beiden sich entgegen stehenden Behauptungen zu
prüfen.
Was zunächst also die naturalistische Anschauung
betrifil, wie ich der Einfachheit halber die oben kurz um-
rissene erstere Ansicht bezeichnen will, so tut sie zwar gern
mit ihrer sogenannten Amoral groß. Doch ist das, wie
bereits oben besprochen, ein unsinniger BegriflF, denn wenn
wir auch bewußt und unserer Ansicht nach den ästhetischen
Erlebnissen keine Eingriffe in unseren moralischen Bestand
(wie ich einmal mit einem praktischen Ausdruck Petzoldts *)
die jeweilige Gesamtbeschaffenheit unserer moralischen Vor-
stellungen und Gefühle nennen will) gestatten mögen, ohne
unser Wissen und Wollen werden sie unseren moralischen
Bestand dennoch beeinflussen. Es wird von diesen „Amora-
listen" gern behauptet, das künstlerische Erleben sei etwas
ganz Verschiedenes vom wirklichen Erleben, habe nichts
mit der Ethik zu tun; 'doch beweist das nur ihre mangelnde
psychologische Erkenntnis. Mag ein Beeinflussen bei ihnen
in geringem Maße nur stattfinden, bei der Mehrzahl der
Menschen ist jener „l'art pour Tart" -Standpunkt nicht möglich,
sie lassen sich diu*ch eine stark laszive Erzählung sehr wohl
grobsinnlich erregen, und damit hört alle Amoral auf —
damit beginnt die echte, unverfälschte Unmoral.
*) Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung, Bd. I,
Kap.: Die ethische Charakteristik. Leipzig 1899.
Die Bedeutung dee Ästhetifichen für die Ethik. 455
^enn wir dagegen den Naturalisten eine Berechtigung
ihrer Anschauung zuerkennen wollen, so können wir das,
indem wir sagen, jenes Erregen ganz beliebiger GefOhle
hat doch einen ethischen Wert, dadurch, daß es unser
-Gefühlsleben als Ganzes lebendig erhält. Es wäre
•das in gewissem Sinne etwas Ahnliches, was wir oben bei
Besprechung der formalen Wirkung der Kunst als eine
Anflockerong bezeichneten. Diese Art Kunst würde also,
-Aa sie alle G^fOhle des Lebens anzuschlagen beabsichtigt,
genau wie dieses wirken, würde unsere Erfahrung bereichern;
unsere Fähigkeit, alle möglichen Gefilhle in uns anklingen
zu lassen, in uns steigern, unsere Möglichkeit also, uns in
das Gefühlsleben anderer hineinzuversetzen, fördern und
•damit also sehr wohl ethische Werte liefern. Ohne jeden
Zweifel ist dieser Standpunkt begründet und für ethisch
mündige Menschen, die ein urteil über den ethischen Wert
oder Unwert eines Gefühls haben, auch berechtigt. Ihnen
wird er nicht schaden, zum mindesten würden die positiven
Werte die negativen Werte überwiegen, denn ganz wird
sich auch der „amoralistischste^ Leser gewisser Novellen
Maupassants nicht erwehren können, daß Gefühle in ihm
rege werden, die er im Leben wohl nicht billigen würde.
Aber der ethisch Mündige kann das durch Reflexion
korrigieren, indem er derartige Regungen unterdrückt. Da-
gegen fiir unreife Köpfe, und leider sind wohl bei weitem
die meisten Leser solcher Novellen ethisch ziemlich urteils-
los, kann ohne jede Frage eine große moralische Gefahr in
solchem Lesestoff liegen.
Wir haben bisher angenommen, daß die Naturalisten
recht hätten, wenn sie glaubten, in ihren Werken eine Er-
weiterung der objektiven Wirklichkeit, das, was sie Wahr-
heit nennen, geben zu können. Wären sie nur ein wenig
psychologisch geschult, so würden sie freilich wissen, daß
das ein Ding der Unmöglichkeit ist, daß sie immer, wo und
wie sie das Leben auch wiederzugeben suchen, auswählen,
miterdrücken, hervorheben, kurz stilisieren. Nur daß sie
sich dessen nicht bewußt sind, unterscheidet sie von den
456 Rieh. Moller-Freienfels:
Idealisten. Überhaupt ist historisch der Natnralisiiinff (dss
heißt was sich so nannte) stets als Beaktionserscheinnng^
gegen stilisierende und ideaHsierende Ennstbestrebimgen
aufzufassen, obwohl er natürlich selbst nichts anderes ist
und nichts anderes sein kann, nur daß er nach einer anderen.
Richtung hin stilisiert, daß er statt verschönert yerhäßlicht^
statt ins Moralische idealisiert oft ins ünmoralisch&
idealisiert.
Dasjenige, was für die Richtung des Idealisierens ent*
scheidet, ist das Temperament, wozu dann allerdings noch
theoretische Einflüsse kommen, die jedoch auch immer im
letzten Grunde mit dem Temperament zusammenhängen.
Beim bewußten Stilisieren nun gibt es vor aUem
ein Stilisieren aufs Ästhetische hin und ein Stilisieren
aufs Ethische hin. Jenes will nur die Schönheit geben,
das Häßliche möglichst unterdrücken, dieses will möglichst
alles unsittliche fernhalten und nur moralisch wert-
volle Taten und Charaktere zeichnen. In Wirklichkeit ist,
wie überall in Psychologicis, auch hier eine scharfe Scheidung
nicht zu machen. Die ästhetischen und ethischen Urteile
hängen, wenigstens soweit es sich um Motive aus dem
Menschenleben handelt, ganz untrennbar zusammen. Bei
einfachen Sinneseindrücken, bei einer Farbenkombination,
einem Akkord kann man rein ästhetische Werturteile fällen.
Bei der Beurteilung von Menschen und ihren Handlungen
kommen stets ethische Urteile, wenn auch unbewußt, hinzu.
Auch gehen ja im Leben, in der lebendigen Sprache die
Epitheta ethica und die Epitheta aesthetica beständig durch-
einander. Statt zu sagen, einer hat unmoralisch gehandelt,
sagt man auch, das war „häßlich" von ihm, und eine edle
und gute Tat nennt man auch eine „schöne". Auch wenn
ein Nietzscheaner einen brutalen Mörder, eine blonde Bestie
ästhetisch zu bewundem glaubt, so beruhen diese ästhe-
tischen Urteile doch zum guten Teil mit auf moralischen,
wenn auch auf der Privatmoral des Betreffenden angehörigen
Urteilen.
Indem nun der Dichter aber bewußt seine Helden
Die Bedeutung des Ästhetischen für die Ethik. 457
idealisiert^ so stellt er damit Vorbilder hin; denn das ist
im letzten Grande die Absicht alles Idealisierens. Die
ethische Wirkung dieser Art von Kunst wird also in erster
Linie in der Anregung zur Nachahmung auf den Zuschauer
zu suchen sein. Natürlich wird der große idealisierende
Dichter dieses Idealisieren nie soweit treiben, daß er lauter
weiß in weiß gemalte Engel vorfuhrt. Solche Puppen ver-
Heren die Blusionsf&higkeit und damit auch die Anregungs-
krait zur Nachahmung. Auch ein so entschieden ethisch
wie ästhetisch idealisierender Dichter wie Schiller ist nur
ganz selten in diesen Fehler verfallen. Zudem aber kommt
auch der idealisierende Dichter niemals ganz ohne un-
moralische Motive und Charaktere aus. Ein Gemälde mit
lauter Liohteffekten ohne Schatten gibt's eben nicht. Dafür
nun, daß solche Darstellungen unmoralischer Charaktere
nicht verschlechternd auf das Publikum wirken, hat man
das erfunden, was man poetische Gerechtigkeit
nannte, daß nämlich am Ende des Dramas die schlechten
Charaktere alle ihren Weg aufs Schafott oder in Elend ge-
fanden haben, die guten dagegen durch eine reiche Heirat
oder einen Königsthron belohnt worden. Dadurch suchte
man jene unmoralischen Einflüsse zu verhindern. Das naive
Publikum, das, wie bereits gesagt, an alles in erster Linie
einen ethischen Maßstab legt — schon weil es meist gar
keinen ästhetischen besitzt — , verlangt darum auch stets
mit Entschiedenheit die Belohnung der Tugend und Be-
strafung der Bösewichter. Darum lassen auch solche Autoren,
die auf die Instinkte der Masse rechnen, wie Kolportage-
romanschreiber, stets die Tugend zuletzt siegen. Aber auch
von Leuten, die sich ihres ästhetisch gebildeten Urteils
rühmten, ist es seinerzeit mit aller Energie getadelt worden,
daß in einem Stücke wie Gerhart Häuptmanns „Biberpelz"
die Übeltäterin nicht die nötige Strafe empfangt. Für den
wirklich ästhetisch durchgebildeten Menschen mit weitem
Blick wird das wenig ausmachen — er wird sich sicherlich
nicht zum Stehlen durch jenes Lustspiel verleiten lassen —
er weiß, daß es im Leben nicht immer eine solche immanente
458 Rieh. Müller-Freienfela:
Gerechtigkeit gibt. Ihm kommt es auf die Qltifiionskraft
und psychologische Sicherheit der Zeichnung an, und er
nimmt für derartige Werte gern das moralische Unbehagen
über den Triumph des Bösen in Kauf, freut sich vielleicht
auch des angeführten Dummstolzes. Aber die Wirkung auf
den unklaren und urteilslosen Kopf ist eben eine andere —
das mag vom ästhetischen Standpunkt aus bedauerlich sein,
der Psychologe und Ethiker kann davor die Augen nicht
verhüllen. Das Wertherfieber oder die Verwirrung, die
Schillers „Räuber"* anrichteten, sind Zeugen für derartige
bedauerliche moralische Wirkungen ästhetisch guter Stücke
auf unreife Hirne. Es wird daher immer bei manchem
Vorwurf und manchem Dichtwerk der ästhetische Wert mit
der ethischen Wirkung — wenigstens auf urteilsloses Volk —
scharf divergieren.
Man mag vielleicht leugnen, daß eine derartig intensive
Wirkung überhaupt mit Kunst noch etwas zu tun habe ;
man kann sagen, sie laufe jener Interesselosigkeit, jener
Objektivität des Zuschauers zuwider, die das Wesen des
künstlerischen Genießens ausmacht. In Wirklichkeit sind
wir alle, soweit wir uns der Wirkung von Dichtwerken aus-
setzen, diesen Einflüssen unterworfen. Besonders wenn wir
uns längere Zeit und vertiefend in eine Dichtung versenken,
so daß aus dem einmaligen Anklingen des Gef&hls eine
Gewöhnung wird, kann die ethische Wirkung einer
Dichtimg ganz bedeutend sein, besonders in jüngeYen Jahren,
wo Charakter und Willen noch biegsam sind.
In der Tat lassen sich auch historisch solche Einflüsse
der Dichtung aufzeichnen, daß in ganzen Völkern durch die
Poesie Umformungen des Gefühlslebens vorgekommen sind.
Es ist das natürlich so zu denken, daß einzelne Individuen
geboren werden und sich herausentwickeln, die mit be-
sonderen Anlagen, verfeinerten und intensiveren, ausgestattet
sind, und die nun in der Dichtkunst ein Mittel haben, diese
Gefühle anderen zu suggerieren. Eine Geschichte der Ent-
wicklung des ethischen Gefühls würde das wohl am deut-
lichsten erhellen. Gewiß setzen die Dichtungen, um wirken
Die Bedeutung des Ästhetischen für die Ethik. 459
zu können, bereits einen vorbereiteten Boden voraus, aber
sie gestalten ihn dann wieder weiter um. Manche
Ethnologen sind überhaupt geneigt, der Poesie die größte
Bolle in der Verfeinerung des erotischen Lebens zu-
zuerteilen *).
mm
Ahnlich ist es mit allen anderen Gefühlen. Ich nenne
noch das Naturgeftihl, das so, wie es heute bei uns ist, in
früheren Jahrhunderten gar nicht bekannt war. Erst Rousseau
hat hier auslösend gewirkt, und wie eine Epidemie breitete
sich dann auf einmal die Naturschwärmerei über ganz Europa
aus. In neuerer Zeit kommt dann noch die Landschafts-
malerei verstärkend hinzu, und ganze Q-egenden sind in
ihrer Schönheit durch einzelne Künstler erst ftLr das
ästhetische Gefiihl des Publikums entdeckt worden.
Die Richtungen nun, nach denen auf diese Weise von
den Poeten aufs Gefühl ihres Publikums einzuwirken versucht
wurde, die Ideale, nach denen hin man idealisierte, liegen
oft weit auseinander. Wir halten es im allgemeinen für
imkünstlerisch, wenn man eine Absicht in Dichtungen merkt,
wenn die Moral allzu dick aufgetragen ist, und wir urteilen
über solche Tendenzstücke sehr hart, mögen sie nun die
christliche Moral predigen oder die Emanzipation des
Fleisches oder das NiETZSCHEsche Übermenschentum. Trotz-
dem stecken in fast allen Dichtungen, wenn auch nicht
ezplicite, sondern nur implicite, moralische Werte-, mögen
sie nun bewußt oder unbewußt hineingetan sein. Das
„rart pour l'art" ist eine unmögliche Forderung. Wie jeder
Mensch, er mag wollen oder nicht, in seinem Handeln
irgendeine Moral offenbart, die sich ebenso gut impera-
tivisch wie indikativisch aussprechen läßt, so gehen auch
von jedem Kunstwerk, hauptsächlich durch die oben be-
schriebene Nachahmung, moralische Wirkungen, das heißt
Wirkungen, die unser Gefühl und damit unseren Willen
und unser Handeln beeinflussen, aus. und wir werden Jean
^) So wagt Gbosse (in „Anfänge der Kunst*') das Paradoxon, nicht
die Liebe habe die Kunst erzeugt, sondern die Kunst die Liebe, wenn
man dabei an das verfeinerte SexualgefOhl denkt.
460 Rieh. Mnller-Freienfels:
Paul beipflichten müssen, der einmal sich geäußert hat:
„Wenn auch Bücher nicht gut oder schlecht machen, besser
oder schlechter machen sie doch."
vn.
Wir haben am Beispiel der Musik möglichst scharf die
formalen Wirkungen, am Beispiel der Poesie möglichst klar
die inhaltlichen Wirkungen der Künste deutlich zu machen
gedacht. In den noch übrig bleibenden Künsten: Archi-
tektur, Skulptur und Malerei überwiegt nicht so sehr
das eine oder andere, sollte wenigstens es nicht tun. Tat-
sächlich nämlich liegt die Sache wohl anders, denn auch
hier überwiegt in seiner Wirkung das Inhaltliche. Seit
einem halben Jahrhundert bereits wird von Künstlern und
ihren literarischen Freunden mit aUer Energie jene Ge-
wohnheit des Publikums, in den Kunstwerken nur den Inhalt
zu sehen, bekämpft, aber der Erfolg ist gering. Zwar unter
den Künstlern selber hat man sich darauf besonnen, daß
Malen nicht nur ein ungefähres Umreißen von allerlei
poetischen Vorstellungen ist, sondern daß Malen in erster
Linie Wirkung durch Farben und Linien als solche
und nur daneben auch Wirkung durch deren Bedeutung
ist. Der Erfolg ist nicht groß. Einer der feurigsten Vor-
kämpfer dieser Anschauxmg, Meier-öräfe, bringt am Schlüsse
seines letzten und reifsten Werkes *) eine Art Vision, worin
er mit wenig Worten darzustellen sucht, wie wohl Menzels
Begräbnis ausgesehen hätte, wenn er niu: der Maler delikater
Interieurs und koloristisch ausgezeichneter Werke in der
Art seines „Theatre Gymnase" geworden wäre, also nur
Farben- und Formkünstler, ohne den patriotischen, histo-
rischen und genrehafben Inhalt der Spätwerke. Kein Be-
gräbnis erster Klasse wäre ihm geworden, meint Meier-
Gräfe,, keine Fräcke, keine Talare und keine Pickelhauben
hätten ihn zur letzten Ruhe geleitet, nur ein paar junge
Menschen ohne Zylinder wären mitgekommen — Künstler.
') J. Mkier-GhXfe, Der junge Menzel. Leipzig 1907. S. 271.
Die Bedeutung des Ästhetiflohen für die Ethik. 461
So sieht einer der begeistertsten Vorkämpfer der formalen
Werte in der bildenden Kunst ihren Einfltrßbereich. Nur
ein par Künstler verstünden sie zu würdigen. Man mag das
mit Meier- Gräfe sehr bedauern, daß so das Verständnis für
das Feinste der Kunst der Menge verschlossen bleibt, der
Psychologe mufi es als eine Tatsache hinnehmen, und wenn
er nach den^ ethischen Werten , die die Kunst zu bringen
vermag, seine Frage stellt, wird er über die formalen Werte
schnell hinweg gehen müssen. Nicht, weil die formalen
Werte nicht wirken könnten, sondern nur weil sie eben
tatsächlich nur einen beschränkten Wirkungsbereich finden.
In der Art ihrer Wirkung stehen die formalen Werte
in der Malerei den musikalischen Wirkungen nahe, nur daß
diese „Musik färs Auge" für die meisten Menschen viel
weniger intensiv wirkt als die „Musik färs Ohr", dafi also
ihr ethischer Wert auch im selben Verhältnis geringer ist.
Anders dagegen steht es mit der inhaltlichen
Wirkung der bildenden Künste, die in ähnlicher Weise in
Erscheinxmg tritt wie die der Dichtkunst, nur daß sie unter
Umständen infolge der sinnlichen Stärke noch intensiver
einschlägt. Wie bei der Dichtkunst handelt es sich auch
hierum ein Nacherleben des Dargestellten und der darin
zum Aasdruck kommenden Gefiihle, und hier wie dort wirkt
die Kunst einmal auflockernd, indem sie unser Gefühls-
leben durch Übung und Einspielen beweglich und lebendig
erhält, anderseits aber kommt auch der Anreiz auf die
Nachahmung als solcher für den Ethiker in Betracht. Indem
ich eine Anzahl Kimstblätter durch meine Hände gleiten
lasse und mich in ihren AnbHck versenke, werden eine
Menge Stimmungen in mir erregt, mein Gefühlsleben wird
erweitert, vertieft und bereichert, wird aufgelockert,
wie ich sagte, und dieser Erweiterung und Bereicherung
des Gefühlslebens kommt ein ethischer Wert zu, weil es
nicht gleichgültig für mein Handeln ist, wie es um mein
Gefühlsleben steht, ob dies stumpf oder leichter erregbar
ist. Aber auch die Art der Gefühle, die erregt werden,
kommt ethisch in Betracht. Da die überwiegende Anzahl
462 Eich. Müller-Freienfels:
der großen Kunstwerke schöne und edle Gestalten darstellt,
und ich, indem ich diese „innerlich nachahme''^), auch
qualitativ Einflüsse auf mein Geföhlsleben erfahre, so
fallt auch diese Nachahmung in den Bereich der Ethik.
Es bleibt nun noch eine Frage zu erörtern, die in allen
Zeiten viel Staub au%ewirbelt hat und auch in neuester
Zeit bei Gelegenheit der „lex Heinze" viel Druckerschwärze
hat fließen lassen. Neben jenen oben beschriebenen Gefühls-
wirkungen der Kunstwerke, die rein ästhetisch, das heißt
„interesselos" sind, gehen besonders von Malereien und
Plastiken auch noch Wirkungen aus, die die niederen Sinne
bei ästhetisch nicht gebildeten Individuen in nicht wünschens-
werter Weise afifizieren. Es ist da besonders die Dar-
stellung des Nackten, die ja ästhetisch gar nicht zu
streichen ist, deren ethische Wirkungen jedoch zu Bedenken
stimmen. Denn ohne jede Frage wird in vielen nicht
hervorragend gebildeten Individuen der Sexualinstinkt heftig
durch solche Bilder erregt.
Der Ethiker und Psychologe muß diese Tatsache unter
besonderer Beachtung des ümstandes ansehen, daß die
Sexualgefähle in unserer Kultur vielfach eine Sonderstellung
einnehmen. Sie sind nicht an sich verwerflich — obwohl
die christliche Ethik jahrhundertelang zu dieser Anschauung
neigte — , sie sind aber auch nicht der Art, daß man im
allgemeinen ihre Reizung und Steigerung fiir wünschenswert
halten dürfte. Denn wie die Sachen in imseren Kultur-
zuständen nun einmal liegen, ist die Befriedigung solcher
Triebe und ihre Folgen fiir viele Menschen sowohl för sich
selbst als auch für andere von gi'oßen Mißständen begleitet.
An Künstlern ganz verschiedener Art hat man die „heid-
nische Sinnlichkeit" gerühmt. Klingt diese jedoch in
ästhetisch unentwickelten Menschen an, beeinflußt sie tiefer
deren Geftlhlsleben und damit ihr Wollen und Handeln, so
können daraus schwere moralische Schäden entstehen. An
und für sich betrachtet, wenn diese Folgen nicht wären,
^) Ausdruck nach Gboos, Der ästhetiache Genuß. Gießen 1904.
Ä 179 ff.
Die Bedeutung des Ästhetischen für die Ethik. 463
brauchte man sich über die Erregung sexueller Triebe nicht
mehr zu grämen, als darüber, daß etwa jemandes Appetit
durch ein wacker gemaltes Stilleben angeregt wird. Aber
es sind eben die Folgen, die die Sonderstellung der sexuellen
Triebe und Handlungen bedingen. Vom ethischen Stand-
punkte aus mufi man sagen, daß im allgemeinen eine Er-
regang der Sexnalinstinkfce mögUohst zu vermeiden wäre,
aber es wird das wohl stets ein Eonfliktspimkt zwischen
Ästhetik und Ethik bleiben. Denn wenn wir auch sicherHch
nicht, wie manche sich radikal dünkende Theoretiker wollen,
den Sitz alles Eunsttriebes im Unterleib suchen, daß tiefe
Zusammenhänge des erotischen Lebens und künstlerischen
Schaffens bestehen, ist nicht zu leugnen. Daher ist denn
auch fast der überwiegende Teil der bildenden Kunst wie
der Poesie irgendwie mit erotischen Gefühlen durchtränkt,
löst also auch solche im Genießenden aus, und dem wird
immer so sein. Was viele Künstler von einer möglichst
unbefangenen Behandlung des Nackten in ethischer Beziehung
erhoffen — größere Unbefangenheit auch im Zuschauer zu
erziehen, wird praktisch für die Mehrzahl nur ein schöner
Wunsch bleiben. Wir leben eben nicht in paradiesischen
Zuständen, xmd schon die Hygiene macht es uns unmöglich,
daß das Nackte unbedingt als das Natürliche erscheint. Für
die große Masse wird stets das Nackte erotische Gefühle
auslösen.
Das alles sind Tatsachen, die der Psychologe aufzeigen
und etwas erklären kann, für deren Abänderung aber auch
er kein Kräutlein wachsen lassen kann.
vm. ^
Zwei psychologische Wirkungen der Kunst waren es
besonders, die uns überall entgegen traten und auf welche
der Ethiker zu achten hat: einmal die rein dynamische
Auflockerung des ganzen Gefühlslebens, wobei die
Qualität der erregten Gefühle ziemlich gleichgültig ist,
anderseits aber die besondere Einübung und Ein-
spielung ganz bestimmter Seiten des Gefühls-
464 Rieh. Maller-Freienfels:
lebens, was ich als die auswählende Wirkung der
Kunst bezeichnen wilL Während die dynamisoh-auf lockernde
Wirkung mehr, wenn auch nicht ausschliefllich von der
formalen Seite des Kunstwerks ausgeht, ist es mehr der
Inhalt, der jene bevorzugte Einübung einzelner Gefähle
zuwege bringt.
Aber es bleibt noch eine dritte Wirkung der Kunst zu
beachten, die für den Ethiker von Wichtigkeit ist, eine
Wirkung, die zwar zum Teü auf den beschriebenen Einzel-
wirkungen beruht, als Ganzes jedoch selbständige Be-
deutung hat.
Ich meine damit, daß es von großem ethischen Werte
für den Menschen ist, daß ihm ein Gebiet offen steht, auf
dem er sozusagen eine Freistatt findet vor den Aufregungen
und Mühen des praktischen Lebens, einen Tempel gleichsam,
wohin er sich flüchten kann aus dem Lärm und Staub des
Alltags zur Klärung, Sammlung und Erhebung. Ich will
diese Wirkung einmal die erhebende und befreiende
nennen. Sie ist zwar mitbedingt durch die auflockernde,
dadurch, daß leicht und rasch überhaupt in uns Gefühle
zum Erklingen gebracht werden, sie ist auch bedingt durch
die auswählende Wirkung der Kunst, daß eben bestimmte
Gefiihle zum Anklingen, andere zum Schweigen gebracht
werden — , als Ganzes ist sie jedoch etwas Neues. Diese
erhebende Wirkung ist es, welche die Kunst der Religion
so nahe bringt. Dadurch, daß sie in uns Gefühle erregt,
an die sich keine Scheu und keine Unruhe tar die Zukunft
knüpfen, Gefühle, die losgelöst sind vom alltäglichen
Interessenkreis, befreit sie uns. „Es ist die Schönheit,
durch die man zur Freiheit wandelt^ , um mit Schiller zu
reden. Indem sie so unsere Interessen loslöst vom Klein-
lichen und Materiellen, wirkt sie zugleich ethisch erhebend
und bessernd.
Zwei verschiedene Gottheiten jedoch sind es, je nachdem,
die in dem Reiche, in das uns die Kunst geleitet, gebieten
werden, Apollo oder Dionysos. Es ist entweder das Land
des Traumes oder das Land des Rausches. Friedrich
Die Bedeutung des Ästhetischen für die Ethik. 4G5'
!NiETZSCH£^) hat zuerst diese ünterscheidang gemacht in
seiner halb dichterisohen Weise, aber seine poetische Vision
ist psychologisch sehr wohl zu fiindieren. Ins Land des
Traomes fahlen wir uns versetzt, wenn mehr die aus-
wählende Wirkung der Kunst zur Geltung kommt, wenn
gewisse häßliche und trabe Erscheinungen des Daseins
zurückgedrängt oder doch nur als notwendige Schatten im
Dienst eines ästhetischen Ganzen verwandt werden; ins Land
des Bausches Aihrt uns mehr die auflockernde dyna-
mische Wirkung der Kunst, die die Intensität aller unserer
Geföhle steigert, wie das oben besonders am Beispiel der
Musik nachgewiesen wurde. Doch müssen stets beidQ
Wirkungen zusammen kommen, die dynamisch- verstärkende
und die qualitativ auswählende, um ein ganz großes Kunst-
erlebnis in uns zu wirken. Naturgemäß knüpft sich die
apollinische Wirkung mehr an die bildende Kunst, während
die Musik vor allem die dionysische Kunstart ist. Die
Dichtung bewirkt, je nachdem, die eine oder andere
Stimmung.
Für die Ethik nun ist auch diese erhebende Gesamt-
wirkung der Kunst von hoher Bedeutung. Dieses Heraus-
treten aus dem engen Gedanken- und Gefühlskreise des
Alltags bewirkt im Einzehien eine Erweiterung des Gefühls-
lebens, sie bewahrt ihn vor Kleinlichkeit und fuhrt ihn nahe
heran an die Sphären der religiösen Gefiihle.
Freilich ist nicht zu leugnen, daß gerade diese Wirkung
der Kunst auch vom ethischen Standpunkte aus zuweilen
negativ bewertet werden muß. Gerade weil die Kunst uns
herausAihrt aus dem Leben des Alltags, kann sie, wenn es
im Übermaß geschieht, diesem Leben entfremden. Dem-
jenigen, der allzuviel in dionysischen Räuschen zu leben
gewohnt ist, erscheint das alltägliche Leben blaß und matt ;
demjenigen, der sich zu viel in apollinischen Träumen ge-
wiegt, dünkt der Alltag häßlich und gemein. Beides muß
natürlich untüchtig zum Leben machen. Psychologisch aus-
*) NiBTzscHE, Geburt der Tragödie, Kap. 1 ff.
466 Rieh. Mflller-Freienfela.
gedrückt würde es heifien, daß die Kirnst in uns Greföhle
auslöst, die sich niclit oder nnr auf ganz weiten ümw^;eii
in Handlungen umsetzen, daß also der natürliche Reflex-
bogen, der von Eindruck zur Reaktion und Aktion föhrt,
auf die Dauer gestört würde, daß die Gewolinlieit des Nicht-
reagierens zur Schwäche und Energielosigkeit föhrt Daß
derartiges oft im Leben geschieht, ist nicht zu leugnen.
Jene Dame, die im Konzert in den höchsten, ätherischsten
Gefühlen schwelgt, während drunten ihr Kutscher im Schnee
erfiiert; jene andere Romanleserin, die über das Schicksal
von Hans und Grete, die sich nicht heiraten können, bittere
Tränen vergießt, während sie selber kein Gtefithl für das
wirkliche Leiden in ihrer nächsten Nachbarschaft hat, sind
solche Beispiele. Aber der Mißbrauch eines Gutes braucht
nichts gegen dieses an sich auszusagen.
Auf der befreienden Wirkung beruht auch die thera-
peutische Macht der Kunst, im besonderen der Musik als
der intensivsten der Künste. Schon Saul empfand Davids
Harfenspiel so, die griechischen Ärzte verwandten die Ton-
kunst zu medizinischen Zwecken, und bis in die neueste
Zeit wird das von Medizinern empfohlen^).
Jedenfalls aber darf der Ethiker auch diese Einwirkung
der Kunst, die unser Geföhlsleben aus der engen Alltags-
atmosphäre emporhebt, nicht außer acht lassen, wie sich
die Priester fast aller Religionen und Kulte, die immer gute
praktische Psychologen waren, sich stets diese Wirkung ge-
sichert haben, um auf das Geföhlsleben ihrer Gemeinde ein-
zuwirken.
Diese drei Wirkungen, die auflockernde, auswählende
und befreiende, siud die drei Hauptarten der Ein-
Wirkungen des Ästhetischen auf das Gefühlsleben und damit
auf den ethischen Bestand des Menschen. Wie sich diese
drei Wirkungen im einzelnen Falle gezeigt haben oder sich
zeigen sollen, das au&mweisen ist Sache der historischen
respektive der normativen Ethik.
') VgL RiBOT, Psychologie des sentiments, S. 107.
Ber m. internattonale PlillosophenkongreS.
Von Kimo Mlttenxwey, Weimar.
Wenn im folgenden über denlU. internationalen Kongreö
för Philosophie zu Heidelberg berichtet werden soll, so
kann meine Aufgabe nicht sein, von jedem gesprochenen
Wort gleichmäßig Notiz zu nehmen. Abgesehen davon, dafi
schon die Gleichzeitigkeit vieler Veranstaltungen mir dies
unmöglich gemacht hätte, wird solch objektives Bild des
Kongresses zu geben die Aufgabe des großen ofGiziellen
Kongreßberichtes sein, während in einer gedrängten Dar-
stellung mitunter ein charakterisierendes Wort die bessere
Anschaulichkeit verbreiten wird. Aber noch weniger kann
es auf der anderen Seite meine Aufgabe sein, den Bericht
etwa in die subjektive Sphäre eines Stimmungsbildes zu
verflüchtigen, und geu: von Ausflügen und Tischreden^
Schlofibeleuchtung und Sonderzug L EQasse zu erzählen.
Der unvermeidliche subjektive Faktor dieses Berichtes wird
sich im wesentlichen beschränken auf die Auswahl der Vor-
träge, die von den über 150 gehaltenen hier genannt werden,
und da soll gleich jetzt betont werden, daß diese Auswahl
nicht sowohl durch Wertung als durch äußere Verhältnisse
bestimmt ist. Da die Sektionen gleichzeitig verhandelten,,
galt es in jedem Augenblick zu wählen und zu suchen, und
oft mußte man die Wahl seinem Instinkt oder dem Zufall
anvertrauen. Darum, wenn manch einer in diesem Bericht
vielleicht gerade das Bedeutendste vermissen wird, was er
auf dem ganzen Kongreß, sei es aus fremdem oder aus
eigenem Mimde, vernommen hat, so mag er versichert sein,
daß der Berichterstatter am meisten bedauert, wenn ihm
Wertvolles entgangen ist.
ViertolJAhrsMhrift f. wiiMnschAftl. PhUos. n. Sozfol. XXXII. 4. 80
44j8 K. Mittenzwey:
L
Schon bei der ofißziellen Eröffirang des Kongresses am
1. September (am Abend vorher war ein Begrofinngsabend
vorangegangen) konnte man bemerken, daß der Kongreß
tatsächlich ein internationaler war. und zwar waren auf-
fallend zahh-eich vertreten die Franzosen, deren Initiative
ja die Kongresse hauptsachlich zu verdanken sind. BYeilich
hatte Henri Bergson leider wegen Krankheit abgesagt, aber
in der vornehmen und liebenswürdigen Gestalt Emile
BoüTBOUx' fand der französische Geist eine würdige Ver-
tretung. Den Franzosen gegenüber waren die Wirte des
Kongresses, die Deutschen, verhältnismäßig ungenügend ver-
treten. Aus Berlin fehlten Riehl und Stumpf, Leipzig fehlte
vollkommen, die Marbuiger Neukantianer suchte man ebenso
vergeblich kennen zu lernen wie die Greifswalder Immanenzler,
und die schlimmste Einbuße fiir die Repräsentanz deutscher
Philosophie war, daß Theodor Lipps den deutschen Haupt-
vortrag („Über den Begriff der Philosophie**) wegen Krank-
heit absagte. So wäre, wer die Pflege philosophischer Arbeit
nach der Beteiligung am Kongreß hätte bemessen woUen,
kaum dazu gekommen, Deutschland das klassische Land der
Philosophie zu nennen. Von den übrigen germanischen
Ländern war England nicht so stark vertreten wie Nord-
amerika, das sich ja um alle geistigen Ereignisse in dem
alten Europa geschäftig bemüht. Hu(K) MOnsterberg pflegen
wir noch zu den unseren zu zählen, dagegen traten
F. C. J. Schiller (Oxford), Josiah Royce (Harvard), Mark
Baldwin (Baltimore) und andere als die Bringer einer neuen,
fremdgewachsenen Lehre auf. Von den übrigen Ländern
fiel wieder das romanische Italien durch stärkere Beteiligung
auf. Zahlreiche Kongreßmitglieder waren auch aus den
östlichen Staaten Europas erschienen, deren manche freilich
den Eindruck verbreiteten, daß sich dort die Ungeklärtheit
nicht bloß auf die politischen Verhältnisse beschränkt.
Zum ersten Male hörte man die Probleme, die den
Kongreß beschäftigen sollten, anklingen in der Ansprache
des Geh. Kirchenrats Professor Tröltzsch (Heidelberg), der
Der m. internationale Philosophenkongrefi. 469
im Namen des Prorektors den Kongreß begrüßte. (Voraus-
gegangen waren Begrüßungsansprachen Sr. Exzellenz des
Ministers von Mabschall und des Oberbürgermeisters
Dr. WiLCKBNS.) Tröltzsch hat auf dem Kongreß selbst zu
einem Vortrag leider das Wort nicht genommen, um so be-
deutsamer waren die Gedanken, die er in dieser Begrüßungs-
ansprache ausdrückte und wie ein würdiges Motto vor die
Kongreßverhandlungen setzte. Wenn es wahr ist, daß aller
zusammenfassende Abschluß und Zusammenhang unseres
£rkennens irgendein Element der Philosophie enthält, dann
strebt xmsere ganze Hochschule bewußt oder unbewußt nach
Philosophie. Aber es gibt zwei Arten von Philosophie. Es
gibt eine Philosophie, die nichts ist als der Selbstgenuß der
Macht des Denkens, und die von dem Reiche des Denkbaren
and Möglichen aus alles Tatsächliche entwertet. Es gibt
aber auch eine Philosophie, die gerade umgekehrt bemüht
ist, die allgemeinen Gültigkeiten und Grundlagen zu ver-
stehen, aus denen jene positiven Bildungen erwachsen, und
diese Grundlagen zu vertiefen und fortzubilden. Die erste
zerfrißt wie die alles zerleckende Flut die Dämme, die in
sie hineingebaut sind. Die andere erkennt die Kräfte, die
diese Dämme gebaut haben und hilft zu ihrem Ausbau und
ihrer Regulierung. Wir müßten nicht auf literarische Kultur
bedachte Männer der Reflexion seiu, wenn wir völlig un-
empfindlich wären für den Reiz der ersteren, abgesehen von
dem Ruhme und der Sensation, die sie unter Umständen
gewährt. Aber mit vollem Herzen willkommen heißen können
wir nur die zweite. Denn nur in ihr ist eine fruchtbare,
positive Tätigkeit möglich, und gerade ein Kongreß in seiner
Intemationalität hat alles 'Interesse an einem Verständnis
der Vernunft, das das Positiv- Tatsächliche begreift xmd aus
der Vernunft es befruchtet, es aber nicht zersetzt oder ersetzt
durch Erzeugnisse der Studierstube. So wünschen wir
Ihnen eine fruchtbare Tätigkeit, die den Gedanken stärkt,
ohne das Leben zu vergewaltigen. Das Leben ist größer
als das Denken, möge Ihr Denken dem Leben dienen.
Nachdem sprachen Professor Hoops (Heidelberg) im
30*
470 K* Mittenswey:
Naomen der philoeophisckeii FaktQtftt, welcher die 2ieicheii
kündete, dafi die Hegemonie der Natnrwissensohafiben ^on
einem Zeitalter der Philosophie abgelöst werden soU, darauf
der Abgesandte des norwegischen Ministerinms Dr. Aars,
der als Beauftragter sämtlicher Delegierter der wissenschaft-
lichen Korporationen den KongreSverhandlnngen gutes Ge-
deihen wtinschte.
Großer Beifall erhob sich, als darauf der Präsident des
I. Kongresses, Emile Boutroux (Paris), den Kongreß in
deutscher Sprache begrüfite. Als der erste Kongreß in
Paris stattfand, konnte es fraglich werden, ob fiir den Fest-
tag ein morgiger Tag zu ho£Pen wäre. In Gtenf blühte die
Institution weiter. Wenn ein Ding sich selbst zu erhalten
und fortzusetzen strebt, so braucht man nach dem Worte
von Leonardo da Vinci keinen weiteren Beweis seiner
Existenz zu verlangen. Jetzt ist der Kongreß eine ge-
wonnene Sache, und wenn die Zeit kommen wird, wo wir
aus Alt-Heidelberg werden scheiden müssen, dann wird
niemand fragen, ob es sich gezieme, auf diesen dritten
Kongreß einen vierten folgen zu lassen, man wird nur den
Ort des nächsten Kongresses zu bestimmen haben.
Den Dank auf alle diese Begrüßungen faßte der Präsident
des Kongresses, Geh. Rat Prof. Windelband (Heidelberg), in
Worte. So verschieden auch der Begriff der Philosophie
bestimmt wird, so sind doch in einem alle einig, die sich
ernsthaft um philosophische Erkenntnis bemühen: in dem
Bewußtsein, mit der begrifflichen Arbeit, die das formale
Wesen der Philosophie ausmacht, mitzuwirken an der ein-
heitlichen Selbstveilassung und Selbstgestaltung des mensch-
lichen Kulturbewußtseins. Diese geistige Einheit des Kultur-
lebens der Menschheit ist ja nirgends als abgeschlossener
Besitz, am wenigsten in einem einzelnen Bewußtsein ge-
geben, sondern immer nnr als ein Ideal, eine regulative
Idee im Fortschritt der geschichtlichen Menschheit auf-
gegeben. Auf diese Idee aber sich zu besinnen, hat die
Menschheit niemals mehr Anlaß gehabt als in unseren Tagen.
Denn je mehr die Portschritte der Naturwissenschaften und
Der IIL intematiomd« Philoiaophenkongreß. 471
Technik die Glieder der Menschbedt zu einer Gemeinschaft
einander n&her Irnngen, mn so notwendiger wird die Be-
sinnung, was denn nun den letzten Inhalt all dieses welt-
lunspannenden Wissens und den letzten Sinn all dieser
weltomgestaltenden Tätigkeit ausmacht. Für jeden einzelnen
ist gerade diese au%eregte Hast der gemeinsamen Kultur-
arbeit der gebieterische Anlaß, darüber das Bewußtsein der
geistägen Einheit nicht zu verlieren. Je stäj^er die Ent-
wicklung der mächtig entfesselten Kräfte die Leidenschaften
erregt, um so mehr ist die bändigende Macht des Gedankens
zu einem unabweisbaren Bedürfnisse geworden. Wenn wir
an dieser Aufgabe der Selbstverständigung einer wahrhaft
humanen Gesamtkultur mitarbeiten, so geschieht es freilich
in dem Bewußtsein, wie wenig die Theorie in dem Getriebe
der Leidenschaften vermag: aber wir dürfen doch im Auge
haben, daß das Herausarbeiten einheitlicher Überzeugungen
aus dem Gewoge der Ansichten zuletzt doch an die Tiefen
des menschlichen Gefühls greift und sich in lebendige
Wirksamkeit umzusetzen drängt. Das Zwischenglied zwischen
der Philosophie und dem Leben bilden die einzelnen Wissen-
schaften, um so vielspältiger diese im Laufe der Ent-
wicklung geworden sind, um so mehr hat auch hier die
Philosophie die Au%abe der Ausgleichung und Wert-
abgrenzung. Damit hängt die Vorherrschaft des erkeimtnis-
theoretischen Gepräges zusammen, das die Philosophie seit
Kant trägt. So verschiedene Bewegungen aus diesen
wissensohaftstheoretischen und wahrheitstheoretischen Be-
strebungen entsprungen sind, so stimmen sie doch in einem
Grundzug überein, der darin den Ausschlag geben wird,
der Beziehung aller theoretischen Fähigkeit auf das System
der Werte. — Zum Schluß gedachte der Redner der Toten
^eit dem letzten Kongresse (Paul Tannery, Augusto Conti,
C!arlo Antoui, E. v. Hartmann, Ed. Zeller, Kuno Fischer,
Fr. Paulsen).
n.
Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit, die schon in
der Windelbandschen Bede angeklungen war, wurde dann
472 K> Mittenzwey:
zur wissenschaftlichen Diskussion gestellt in dem ersten
Hauptvortrag von Professor J. Rotce (Harvard) : The problem
of truth in the light of recent research. Den Theorien über
den Begriff der Wahrheit liegen drei verschiedene Motive
zugrunde. Das erste wird ausgedrückt in der Theorie des
Instrumentalismus. Danach eimiet unseren Begriffen
und Urteüen Wahrheit insofern, ^^sie eine orgaSsche
Funktion der Anpassung an unsere Umgebung, der StabUierung
unseres Lebens darstellen. Ein urteil ist wahr, soweit es
unserer Anpassung an die Lebensbedürfiiisse dient. Da
somit das Kriterium in die Erfahrung verlegt wird, kann es
absolute Wahrheit nicht haben, und die Logik erscheint als
empirische Wissenschafb. Das zweite Motiv kommt zum
Ausdruck im Individualismus. Danach ist die Wahrheit,
weil sie für den Menschen gemacht ist und nicht der Mensch
für die Wahrheit, stets nur gültig in bezug auf ein be-
stimmtes Subjekt mit dessen ganzer Determiniertheit^
Organisation usw. Das dritte Motiv tritt zutage in den
modernen Untersuchungen über die ExcJdlieit der Methoden
der mathematischen Wissenschaften (Eontinuum, Irrational-
zahlen, Grundlagen der Geometrie) und exakten Logik
(Relationen- und Gruppentheorie). Wer an der Existenz
einer absoluten Wahrheit zweifelt, der sei zum Studium der
modernen reinen Mathematik und exakten Logik aufgefordert.
Royce versucht nun alle drei Theorien dahin zu vereinigen^
dafi er in ihnen verschiedene Ausdrucksformen des Volun-
tarismus erblickt. Für die ersten beiden Theorien ist das
augenscheinlich. Absolute Wahrheit aber ist dem Menschen
soweit zugänglich, als er erkennt, was der Wille notwendig
tun muß. Diese notwendigen Formen des Willens werden
durch das Prinzip des Widerspruchs erkannt. So erhebt
sich Royce über manche platte Verallgemeinerung seiner
Landsleute, indem er eine doppelte Art der Wahrheit, eine
empirisch bedingte (vom Instrumentalismus und Individualis-
mus beschriebene) und eine formale absolute (der Mathematik
und Logik) anerkennt; er steht aber den Theorien der
amerikanischen Philosophie insofern nahe, als er die
Der in. intematioiiale Philosophenkongreß. 473
absolute formale Wahrheit in eine Formalität des Willens
zurückschiebt.
An den Vortrag schloß sich eine Diskussion, die sich
teilweise vom Thema entfernte und in der schon die Probleme
des Pragmatismus anklangen, die dann in der Sektionssitzung
so heftig diskutiert werden sollten. Wir wollen aber die
Sektionsverhandlungen nachher im Zusammenhang be-
sprechen und wenden uns jetzt zur zweiten allgemeinen
Sitzung.
m.
An diesem zweiten Tage (2. September) überreichte
zimachst Heir Geh. Rat Deussen (Kiel) dem Kongreß seine
neue Geschichte der indischen Philosophie mit einer An-
sprache, in der er die Perioden der indischen Philosophie-
entwicklung charakterisierte.
Darauf nahm Kavier L^on (Paris) das Wort zu einer
schwungvollen Rede über J. G. Fichte. Anknüpfend an die
bevorstehende Zentenarfeier der Berliner Universität und
die Enthüllung des Berliner Fichtedenkmals feierte Kavier
Läon den Philosophen als Freiheitskämpfer, der nicht
Deutschland allein, sondern der ganzen Menschheit an-
gehöre. „Das ist sicher der einzige Satz,"" bemerkt dazu
S. Saenger in der ,Neuen Rundschau', „durch den der
Philosophenkongreß jnit der Welt draußen in Berührung
gebracht wird, der einzige auf dem Philosophenkongreß ge-
sprochene Satz, den die Zeitungsagenturen zweifellos für
mitteilungswert halten, aber — der Satz ist grundfalsch.
Fichte war Nationalist ; fabelte vom deutschen Urvolk ; hielt
die Deutsehen für das einzige Volk von originaler Be-
gabung, fiir die einzig möglichen Kulturemeurer, Kultur-
erretter; schwärmte für den geschlossenen Handelsstaat —
selbst ein PhUosophieprofessor darf wissen, daß der das
Gregenteil von Universalität bezweckt — und betrachtete
das Welschtum als ansteckende Seuche. Goethes Humanität
empfand Fichtes Deutschtum als lästig, seinen Franzosen-
haß als blind. Ich nehme an , daß man aus Höflichkeit
L^ons Unsinn stürmischen Beifall klatschte. ""
474 ^ Mittenzwej:
Danach hielt B. Crckx (Neapel) den italienischen Haiq>t-
Tortrag über „Uintoizione pora e il carattere lirico deli' arte*.
Croce unterschied verschiedene Typen der Ästhetik: die
empirische Ästhetik (induktives Verfahren, Ablehnung eines
einheitlichen Prinzips); die praktisistische (einheitliches
Prinzip in praktischer Betatagong des LostvoUen^ Nützlichen
und dergleichen) ; die intellektnalisehe -, die agnostische ; die
mystische Ästhetik (nach letzterer ist die Kunst eine der
philosophischen überlegene Erkenntnisfanktion). Die letzte
große Manifestation der mystischen Ästhetik war die
romantische Ästhetik. Aber es gibt eine logische Stufe, die
ihr überlegen ist, das ist die , Ästhetik der reinen Intuition''.
Diese sieht in der Kunst anstatt der höchsten Funktion des
Erkenntnisgeistes dessen primitivste, denn die Kunst ist frei
von jeder Abstraktion und Begrifflichkeit, und in dieser
Elementaritat der firkenntmsart liegt die Krafl der Kunst.
In seinen weiteren Ausfährungen verwahrte sich Croce gegen
eine za enge Fassung des Begriffes der Intuition durch Be-
schränkung auf Sinnendinge. Es gibt auch eine Intuition
des Seelischen, und so gefaßt wird die Ästhetik der Intuition
auch denen gerecht, die eine Darstellung der Persönlichkeit
des Künstlers im Kunstwerk suchen. Freilich kam der
Bedner damit nicht auf eine nähere psychologische Analyse
der Intuition, sondern wendete sich am Ende seines Vortrags
wieder der metaphysischen Bedeutung der Kunst zu.
IV.
lu der dritten allgemeinen Sitzung (3. September) hielt
Emile BotrROUX (Paris) den französischen Hauptvortrag über
„la Philosophie en France depuis 18(>7''. Die Wahl des
Ausgangsdatums begründete er damit, daß 18ti7 gelegentlich
der Weltausstellung Felix Ravaisson seinen klassisch zu
nennenden Bericht über die französische Philosophie in den
ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts veröffentlichte.
Dieses Jahr 1867 ist kein äußerliches Datum geblieben.
Man kann es als das Ende des Eklektizismus ansetzen.
Zugleich nahm unter dem Einfluß von Lachelier und
Der III. internationale Philosopbenkongrefi. 475
Savaisson auf der einen, von Taine, Spencer und Bibot auf
der anderen Seite eine doppelte Bewegung der Philosophie
in spekulativ «metaphysischer Richtung einerseits, poei-
tivistisch-experimentaler anderseits ihren Anfang. In dieser
neaen Entwicklung unterscheidet Boutroux eine Reihe von
Einzelbewegungen« Voran die metaphysische Bewegung,
welche sich wieder in drei Strömungen spaltet: einen neuen
Rationalismus (Lachelier, Ravaisson, Renouvier, der erst
damals Einfluß gewann, Fouillöe, Hamelin usw.), eine auf
Wissenschaflskritik gegründete Metaphysik (Boutroux,
Evellin, Hannequin, Milhaud usw.) und eine Metaphysik, die
aus der Vertiefung der unmittelbaren Erfahrung des Be-
wußtseinslebens erwächst (Bergson). Femer eine psycho-
logische, eine soziologische, eine ethisch-positivistische, eine
wissenschafbstheoretische, eine religionsphilosophische Be-
wegung, daneben die historischen Arbeiten. Der Reiz des
VoSa^; lag in kleinen charakterisierenden Bemerkungen, mit
denen die zahlreichen im Laufe des Vortrags genannten
Autoren und Werke, die Boutroux als Mitlebender hat kennen
lernen, bezeichnet wurden, Bemerkungen, die in dem ge-
drängten Bericht leider verloren gehen. — Die allgemeinen
Zuge dieser Entwicklung sind: zunächst eine scharfe
Scheidung zwischen der Phüosophie als Einheit und den
philosophischen Spezialgebieten (Psychologie, Soziologie,
Methodenlehre usw.). Diese Spezialforschungen anerkennen
nur die positiven Wissenschaften als Grundlage und kehren
der Metaphysik endgültig den Rücken. Indessen werden
diese philosophischen Spezialuntersuchungen alle über sich
selbst hinaus zu allgemeineren erkenntnistheoretischen usw.
Fragen getrieben, so daß sich die Bemühung um die philo-
sophische Einheit wieder einstellt. Anderseits nähert sich
die Metaphysik immer mehr den Methoden der Einzel-
wissenschafben, die sie früher im Überschwang ablehnte.
So ist ein Zusammenarbeiten und Verständnis der Spezialisten
und Metaphysiker zu erhoffen.
An zweiter Stelle hielt an Stelle des verhinderten Henri
Bergson (Paris) Geh. Rat Prof. Windelband (Heidelberg)
476 ^ Mittenzwej:
seinen ursprünglich fnr die Sekdonssitzong angekündigten
Vortrag „Znm Begriff des Gesetzes*. Am Himmel
znerst fand das Denken der Grriechen die gesetzmäßige
Ordnung, nnd ebenso ist in der Nensseit das Motiv fbr die
maihematisclie Theorie der Natnr in dem Bedürfiiis be-
gründet, die Welt als Ordnung zu verstehen. Scheint es
so, als sei die Deutung der Welt als Ordnung am Eindruck
der Umwelt erwachsen, so ist doch der psychologische Weg
der umgekehrte. Der Wert der Ordnung mufite im Innern
empfunden sein, wenn er ein Prinzip der Welterklärung
werden sollte, und die ElrfiBLhrung der Hybris ist der ge-
waltige Stachel des griechischen Denkens gewesen. Auf
der Analogie zu den sittlichen Erfahrungen beruht die Aus-
bildung des stoischen Begriffes der lex naturae. Die wissen-
schaftliche firkenntnis lehrt dann die beiden lange un-
geschiedenen Bedeutungen des Gesetzes des SoUens und
des Gesetzes des Seins trennen. Als Gemeinsames bleibt
in dem Begriffe des Gesetzes übrig die Bestimmung des
Besonderen durch ein Allgemeines. Dies Verhältnis ist
zunächst nur ein logisches. Sofort aber erheben sich die
Schwierigkeiten des mittelalterlichen Bealismusproblems,
wenn man nach der Seinsbedeutung dieses Veriiältnisses
fragt. Eine besondere Bedeutung gewinnt diese Frage nach
der Realität der Gesetze durch ihren Zusammenhang mit
dem Kausalproblem, seitdem Kant den Kausalbegriff auf
den Regelbegriff zurückgeführt hat. Einen Ausweg aus den
Schwierigkeiten sieht Windelband gegeben, wenn man das
Moment des Wirkens bei jedem einzelnen Kausalverhältnis
in den einmaligen, unwiederholbaren Akt des Zusammen-
hanges von Ursache und Wirkung verlegt, dagegen die
allgemeine Gesetzmäßigkeit als ein Ei^ebnis ftir den be-
obachtenden Verstand ansieht. Letzteres gilt zweifellos ftir
die loseren Abhängigkeitsverhältnisse statistischer usw. Art,
die niemand ernsthaft als ursächliche Momente für den
einzelnen Vorgang betrachtet. Anderseits wollen wir aber
mit den elementaren Regelmäßigkeiten, den Naturgesetzen
im primären Sinne, die substantieUen Momente des Wirk-
Der III. internationale Philosophenkongreß. 477
liehen, die reale Ursache der Q-estaltimg des Besonderen er-
fassen. Die „glückliche Tatsache "* , dafi wir Ordnung in
unsere Wahrnehmungen schaffen, kann doch nur dadurch
möglich sein, dafi diese Orclnung im Wesen der Dinge selbst,
im realen einmaligen Akt des Wirkens enthalten ist. In
welcher Weise nun das Denken die Verknüpfung zu gesetz-
mäßigen Zusammenhängen vornimmt, bestimmt sich nach
Zweckmotiven verschiedener Art. Wesentlich ist, dafi damit
jede fhrkenntnisart den Charakter einer Auswahl bekommt.
Wie schon jede Wahrnehmung eine Auswahl aus den Möglich-
keiten der Empfindung und jeder Begriff eine Auswahl aus
den Wahrnehmungen darstellt, so auch jede Theorie eine
Auswahl aus dem unerschöpflichen Reichtum individueller
Geschehnisse. So stellt jede wissenschafüiche Erkenntnis-
art nur eine Seite der Wirklichkeit dar, die an sich selbst
unerkennbar ist.
Auf eine Diskussion zu diesem Vortrag sollte der vor-
gerückten Zeit wegen verzichtet werden, als Prof. Ebbing-
HAUS beantragte, eine Diskussion anzubahnen, die dann auf
den Schluß der letzten allgemeinen Sitzung am Sonnabend
angesetzt wurde.
Der Freitag (4. September) war mit Sektionssitzungen
angefallt, und erst der Abend versammelte die Mitglieder
wieder zu der gemeinsamen Tätigkeit des von der badischen
Regierung gebotenen Festmahls in der Stadthalle. Bei dieser
Gelegenheit bracht« Prof. Münstebberg, der in der Republik
der Vereinigten Staaten seine weitere Heimat gefunden hat,
den Kaisertoast aus, und es war von großem Reiz, die welt-
bürgerlichen Betrachtungen, wie sie der Anlaß nahe legte,
über die universale Aufgabe der Wissenschaft und den
nationalen Rahmen, innerhalb dessen sie gepflegt wird, zu
hören.
V.
Die letzte allgemeine Sitzung am Sonnabend (5. Sep-
tember) war ftir den deutschen Hauptvortrag reserviert, hatte
aber durch die Absage von Prof. Th. Lipps viel an An-
ziehungskraft eingebüßt. Statt seiner sprach Prof. Maier
478 K. ICittenswej:
(Tübingen) über „David Friedrich Staranfi*'. Die Schiteong^
Straufi' ist ja jeist eine eigentümlich geteilte. Seine auf-
klarenden Schriften haben ihren Weg ins Volk genommen,
nnd dort wird StranS aoch hente gelesen und gesch&tat.
•Dag^en findet man die Gebildeten namentlich der jüngeren
Generation häufig von Nietzsches unzeitgemäßer Betrachtung
znongonsten beeinflnfit. In diesem Zwiespalt der Schätzung
wird mancher Prof. Maier lat seinen dorch bedachte Sach-
lichkeit ausgezeichneten, sich streng auf die biographische
Darstellung beschränkenden Vortrag dankbar gewesen sein.
Vielleicht wird er auch die Überzeugung mit davon genommen
haben, dafi das wissenschaftliche Urteil über Straufi im wesent-
lichen feststeht, denn die Probleme, die ihn bewegten, sind
zum größten Teil durch neuere Fragestellungen überholt.
Eine Schwierigkeit für jede StrauSbiographie sind die späten
materialistischen Schriften. Hier betonte Maieb nachdrück-
lich, daß Strauß auch als Materialist Hegelianer geblieben
«ei; das Motiv seines Materialismus sei die Bemühung um
einen Monismus.
Darauf wurde die Diskussion zum Windelbandschen
Vortrag eröffiiet. Prof. Ebbikghaüs (Halle) machte zunächst
einige Bemeikungen über die Psychogenese der BegrifiTs-
bildung und apperzeptiven Auswahl, sprach aber so weit-
läufig, daß man, als er nach wiederholter Überschreitung
der Diskussionszeit unerbittlich zum Schluß veranlaßt wurde,
leider noch nicht absehen konnte, wie er seinen Gedanken
würde weiter geführt haben. Auch die übrigen Diskussions-
redner trafen nur Nebenpunkte des Vortrages, und Prof.
WiNBELBAND konnte in seinem Schlußworte mit Recht sagen,
daß von seinem Vortrage fremden Gesichtspunkten aus zum
GesetzesbegrüF gesprochen worden sei. Angemerkt werden
^oll aber die Bemerkung des Präsidenten des Kongresses,
daß so allgemeine Themata wie das seines Vortrages zur
Kongreßbehandlung weniger geeignet seien.
VI.
Hatte in der TVahl der Vorträge für die allgemeinen
Sitzungen die vorbereitende Hand des Ausschusses sichtlich
Der m. internationale Philosophenkongrefi. 479
gewaltet, so fanden sich dagegen in den Sektionen manche
&6t ssa liberal zugelassene Vorträge zusammen.
Ans der I. Sektion ftbr Geschichte der Philosophie
(Vorsitzende Xatusr L^on, Prof. Pbtsch) verdient zunächst
ein Vortrag von Prof. Tönnies (Kiel) „Zur Biographie Hobbes"
hervorgehoben zu werden, in dem Tönnies ungedrucktes
Material zur Kenntnis von Hobbes' Leben, unter anderen
fOr seine Beziehungen zu Descartes, beibrachte. und seinen
Ruhm als bester Hobbeskenner von neuem befestigte. Prof.
Lasson (Berlin) sprach über „die Nikomachische Ethik^,
wobei er unter fiümiweis auf seine demnächst erscheinende
Überseteung des Werkes das Verhältnis der Nikomachischen
Ethik zu den anderen Fassungen der aristotelischen Ethik
erörterte. Mit Energie werde die Nikomachische Ethik als
einheitliche und endgültige Fassung der aristotelischen Ethik
in Anspruch genommen. Xayiek L^n (Paris) sprach über
^Fichte et la löge Royale a Berlin" . Der Wert des Vortrags lag
in dem biographischen Einzelmaterial über Fichtes frei-
maurerische Beziehungen namentlich zu Fefiler, was in dem
kurzen Berichte um so weniger reproduziert werden kann,
als der Vortrag schon nach seinem zeitlichen umfange den
Rahmen der Sektionsvorträge überschritt. — Bemerkt seien
noch die Vorträge von Eleütheropülos (Zürich) „Die Vor-
sokratiker Physiker", von van Bi^a (Tours), „Le germe
de Tantinomie Kantienne chez Leibniz", von Mme. Coionet
(Paris) über Bergsons Philosophie.
vn.
In der II. Sektion (Metaphysik; Vorsitzende Prof.
KOlpe und Prof. Drews) entwickelte Prof. Dbews (Karls-
ruhe) in seinem Vortrag über „die Realität des Bewußtseins "
seine bekannte Lehre von der Irrealität des Bewufitseins.
Es ist eine kopemikanische Tat, den subjektiven, bewufit-
seinszentrischen Standpunkt zu vertauschen mit dem ob-
jektiven, der das Zentrum des Seins im ünbewufitsein er-
blickt, während er das erlebte Bewußtsein nur als die
Peripherie des Seins betrachtet. — Femer verdient Hervor-
480 ^- Mittenzwey:
hebung ein Vortrag von Driesch (Heidelberg), „Über den
Begriff der Natur". Der Vortragende hypostasierte zunächst
die Beweise für die Autonomie der Lebensvorg&nge als zu-
gestanden. Alsdann ergibt sich die Notwendigkeit, zur
Naturerkläxung den Begriff der Entelechie einzufahren«
Entelechie ist ein neben den mechanischen Faktoren wirk-
samer Naturfaktor, ist nicht ausgedehnt, nicht räumlich
lokalisiert, ist intensiv mannigfaltig, ist nur denkbar, nicht
vorstellbar, ist keine Energieart. Positiv läßt sich zeigen,
daß der Entelechie eine Relationskategorie „Individualität"
entspricht, welche den Kategorien Snbstanz-Inhärenz und
Kausalität gleichgeordnet ist und konstitutiv ist wie diese.
Die Individualitätskategorie umfaßt Wirklichkeitsfaktoren
wie die Kausahtät, doch können diese nie anschaulich sein.
Dies fordert eine Erweiterung des Naturbegriffs. Oegenüber
der Cart^esianischen Lehre, daß die Natur die Oesamtheit
der Faktoren sei, die im Baume sind, ist die Erweiterung
zu fordern, daß Natur die Gesamtheit aller Faktoren sei,
die sich auf den Baum und räumliches Geschehen be-
ziehen. — An den sehr anregenden Vortrag schloß sich
eine längere Diskussion, 'in der aber hauptsächlich die vor-
geschlagene Ergänzung der Kategorientafel und die er-
kenntnistheoretische Berechtigung des Vitalismus behandelt
wurde, und Driesch konnte in seinem Schlußwort mit Becht
sagen, daß die eigentliche These seines Vortrages, die Er-
weiterung des Naturbegriffes, von den Diskussionsrednern
nicht aufgenommen worden sei.
Femer waren in die 11. Sektion die Vorträge der
französischen Logiker verwiesen worden, die sich sprachlich
bemühen: Coutürat (Paris), „Des rapports de la logique et
de la linguistique dans le probleme de la langue inter-
nationale", und Lalande, „Etat du travail ayant pour Tobjet
la Constitution d'un vocabulaire philosophique" (verlesen
von Coutürat). Man gewann den Eindruck, daß in beiden
Oebieten kräftig gearbeitet worden sei. Es ist jedenfalls
nicht mehr zulässig, die Bemühungen um eine internationale
Hilfssprache sowie um eine philosophische Terminologie
Der m. internationale Philosophenkongreß. 481
ohne weiteres durch Eünweis auf frühere fehlgeschlagene
Versuche abzutan, denn soweit sind derartige Bestrebungen
noch nicht durchgearbeitet worden.
Erwähnt seien noch die Vorträge von Kuntze (Nord-
hausen), „Die Bedeutung der Ausdehnungslehre Hermann
GraSmanns för die Transzendentalphilosophie'' , der der
Ausdehnungslehre eine erkenntnistheoretische Mittelstellung
zwischen Transzendentalphilosophie und mathematischer
Naturwissenschafb anweisen woUte, und von Goldsgheid
(Wien) über „das Problem der Richtung" (vgL des Redners
Aufsatz in Ostwalds Annalen der Naturphilosophie).
vm.
In der III. Sektion, für Psychologie (Vorsitzende Prof.
Monsterberg, Dr. Hellpach) hielt zunächst Prof. Eülpe
(Würzburg) einen Vortrag „Ein Beitrag zur Q-efühlslehre".
Er berichtet über Versuche, die er über die Frage der
jjVorstellbarkeit" der Gefühle hat anstellen lassen. Die
Feststellung des Befundes erfolgte durch unmittelbare Selbst-
analyse. Die Hauptergebnisse waren: 1. Lust und Unlust
konnten nicht vorgestellt werden. 2. Spannung und Er-
regung ließen sich von allen Versuchspersonen vorstellen.
3. Alle Versuchspersonen konnten sich körperliche Schmerzen
vorstellen und sie von Unlustgefiihlen unterscheiden. 4. Die
Veigegenwärtigung eines Gefühls der Lust oder Unlust
geschah entweder durch Reaktivierung oder unanschauliches
"Wissen. Aus diesen Ergebnissen folgert Eülpe, daß, da die
Unvorstellbarkeit, die „ Aktualität '', ein Kriterium der Ge-
fühle sei, demnach Lust und Unlust als Gefiihle, Spannung
und Erregung aber als Empj&ndungen zu bezeichnen seien.
Die Unterscheidung führte Külpe dann noch weiter als die
Grundlage des Unterschiedes zwischen dem Realismus des
Erkennens und dem Idealismus des Wollens. — In der
Diskussion zu dem sehr anregenden Vortrage wies Geijer
(Upsala) darauf hin , daß die Frage der Vorstellbarkeit auf
den noch ungeklärten Unterschied zwischen Empfindung
und Vorstellung zurückführe. Prof. Ebbinghaus (Halle) be-
482 ^* Mittenzwey:
toz^e für die Feststelltmg der Beendtate die Bedeutung der
LdteBsitätsgrade. Geicsr (Münohen) wies auf das „Sehen'*
von Gbfählen bei ' ästhetischen Objekten hin nnd folgerte
daraus, daß neben dem aktuellen Haben und dem un-
«nschaulichen Meinen von GteftÜilen noch ein Drittes an-
zunehmen sei. Hellpagh (Karlsruhe) betonte den Einfluß
individueller Gbfuhlstypen auf die Feststellung der Resultate,
ScHULTZE (Frankftirt) den der Q-edächtnisspuren. Linke (Jena)
vertiefte den Sinn der Aussage „Vorgestellte GefCLhle be-
stehen nicht **. In seinem Schlußwort betonte Külpe, daß
er den unterschied nur habe feststellen, nicht ausarbeiten
wollen.
Hellpach (Karlsruhe) sprach über „Klima, "Wetter und
Landschaft in ihren Einflüssen auf das Seelenleben" und
brachte manch interessante Beobachtung dazu bei. Schultze
(Frankfurt) teilte vorläufige experimentelle Ergebnisse zu
einer Psychologie des Denkens mit, wobei er vor einer zu
häufigen Verwendung der „Bewußtheiten** warnte. Linke
(Jena) wies in seinem Vortrag über „das Gegenstands-
bewußtsein bei einigen optischen Täuschungen" daraufhin,
daß bereits in dem Bewußtsein der Einheit der zeitlich
dauernden Vorstellung eine Überschreitung des reinen
Empfindungsbestandes liege. Ob er diese Tatsache freilich
mit dem schlauen Worte „Empfindungsgegenstand ^ dem
Verständnis näher gebracht hat, mag dahingestellt bleiben;
manche dürften das Qeftihl gehabt haben, daß ihnen ein
„hölzernes Eisen** gereicht werde, ürban (Philadelphia)
plädierte in seinem Vortrag über die „psychophysischen Maß-
methoden*' fbr eine formale Auffassung des Weberschen Ge-
setzes, wodurch der Schwellenbegriff auf den Wahrscheinlich-
keitsbegriff zurückgeführt werde. — Der Vortrag von KiiAGES
(München) „Über die psychodiagnostische Bedeutung der
Handschrift** ist das Besonnenste, was wir je über den
(S^genstand der Graphologie gehört haben. Klages stellte
zwei Gesetze auf, nämlich das Grundgesetz des Bewegungs-
ausdrucks , daß zu jeder inneren Tätigkeit die ihr analoge
Der HL internationale Philosoplienkongreß. 483
BewegoBg gehöre, und zweitens, daß jede Bewegung einer
unbewußten Kritik durch die Wahrnehmung unterliegt.
IX.
Während in allen bisher genannten Sektionen die
einzelnen Vorträge abgeschlossen gegeneinander standen,
gruppierten sich in der IV. Sektion (Logik und Erkenntnis-
theorie; Vorsitzende Prof. Maier, Dr. Lask) eine größere
Zahl um ein einheitliches Problem, Jdas soviel Interesse ia
Anspruch nahm, daß noch besondere Diskussionsstunden
angesetzt wurden, nämlich das Problem des Pragmatismus.
Es sprachen auf Seite der Pragmatisten Schiller, der dem
rationalistischen Wahrheitsbegriff jede Berechtigung ab-
sprach, Armstrong, der die Entwicklung des Pragmatismus
durch Integration und Differentiation darstellte, Jerusalem
(Wien), der seitdem die Diskussion noch in der „Zukunft"
fortgesetzt hat. Im idealistisch-kritischen Sinne sprachen
dagegen: Dr. Nelson (Göttingen), Prof. DCrr (Bern), Prof.
Elsenhans (Heidelberg), Dr. Rüge (Heidelberg), Prof. Mally
(Graz), Prof. Störring (Zürich), Itelson (Berlin) und andere.
Freilich entsprach das Ergebnis der Diskussion nicht im
geringsten dem Aufwand an Zeit und Eifer. Man be-
nutzte mit Fleiß alle die naheliegenden Äquivokationen
unkritisch übernommener Begriffe wie „Leben", „Tat",^
„Handlung", um sich erfolgreich mißzuverstehen , und ich
glaube, daß alle die Kämpfer [nur in ihren Ansichten be-
kräftigt und subjektiv bestätigt das Schlachtfeld verlassen
haben. Was aber nicht hätte sein dürfen, daß der Ton so
stark ins Leidenschaftliche und Persönliche verfiel. Herr
Itelson prätendierte ausdrücklich „cum ira und cum studio*
zu sprechen; er stellte regelmäßig „Pragmatist" und „Denker"
als Gegensätze einander gegenüber und mußte sich dafür
gefallen lassen, als Zerrbild eines deutschen Gelehrten hin-
gestellt zu werden. So war der Wahrheit Würde mit der
Diskussion noch weniger gedient als ihrer Erkenntnis.
Von sonstigen Vorträgen der Sektion, die dem Pragma-
tismusproblem fem standen, sei zunächst hervorgehoben
Vierteljahrssohrift f. wisaeiiBohaftL Philo«, u. Soziol. XXXII. 4. 81
4>*4 K. Mittenzwer:
ein Vortrag von Störring (ZadchK Beitrag zur Lehre vom
Bewußtsein der Gültigkeit'' , worin StOrriko psychopatho-
logi:>ches nnd experimentelles Material beibraclke. — FRA^'ZE
sprach über ,das Evidenzbedürfiiis des Menschen als ent-
wicklongstheoretischer MaSstab'. Er bemühte sich darin,
einen Maßstab for die Entwicklnngshöhe zn finden, was von
der Argomentation mancher Entwicklnngstheoretiker . die
die Wertkategorien nnbesorgt verwenden, vorteilhaft abstach«
Wenn er freilich diesen Maßstab im Evidenzbedürfiiis finden
will, so scheint darin doch eine einseitige Intellektoalisiernng
gegeben zn sein. — Hösigswald (Breslau) unterschied in
seinem Vortrag -Über den Unterschied nnd die Beziehungen
der logischen xmd der erkenntnistheoretischen Elemente im
kritischen Probleme der Geometrie*" zwei Bedeutungen von
^synthetisch*. Synthetisch bedeutet einmal den Grund einer
nicht aus Begriffen geföhrten Demonstaration und den Grund
der Geltung der Demonstration für die Erfahrung. Synthetisch
im ersten Sinne sind aUe Geometrien, svnthetisch im zweiten
nur die euklidische. — Hellpach (Karlsruhe) gab aBe-
merkungen zur Logik der Pathologie**. Die einfachste patho-
logische Begriffsbildung liegt in der Diagnose vor. Deren
Hauptt\'pen, die symptomatische, die anatomische und die
ätiologische, führte Hellpach auf verschiedenartige logische
Methoden der Verallgemeinerung und der Konkretisierung
zurück. Die letzten logischen Probleme der psychopatho-
logischen Logik gruppieren sich um die Probleme „Krank-
heit und Werden" und „Krankheit und Werte". — Lask
(Heidelberg)" stellte die Frage: „Gibt es einen ,Primat der
praktischen Vernunft' in der Logik?*" — Lask nahm eine
scharfe Scheidung vor zwischen den Gebieten des Logischen
und des Praktischen, deren Grenzen durch eine Identifikation
von Wert und Norm oft in Gefahr der Verwirrung geraten
sind, hat man ja doch die logische Notwendigkeit dem
Begriff des Gewissens unterstellen wollen. Lask zeigte den
Fehler der Lehre vom Primat der praktischen Vernunft, daß
sie die im Erkennen vorhandene Berührung des Sukjektiven
mit dem Wert ohne weiteres in ein praktisches Verhalten
Der III. internationale PhilosophenkongreB. 485
xundeatet, und forderte Scheidung des Normgedankens vom
Wertbegriff; denn der Normbegriff wird erst aktueU, wenn
man an die "Wirklichkeit denkt, die den Wert realisieren
soll. Das Erkennen ist lediglich ein mögliches Pflichtobjekt
und kann zum G-egenstand des sittlichen Verhaltens gemacht
werden. Dagegen ist das Erkennen in sich selbst un-
abhängig von der sittlichen VerwirkHchung , es hat nur
Wertcharakter, keinen ethischen Charakter.
X.
Aus der V. Sektion, „Ethik und Soziologie" (Vorsitzende
Prof. Lasson, Dr. Bauch) ist zunächst ein Vortrag von Prof.
Staüdinger „Zur Methode der Ethik" hervorzuheben.
Staudinger ging die verschiedenen Methoden der Ethik
durch und bereicherte sie dann um eine neue, die „technische",
mit deren Ausarbeitung er gegenwärtig beschäftigt ist. Er
wies hin auf die gegenseitigen menschUchen Beziehungen,
die im technischen Wirtschaftsleben auftreten; sie zeigen in
deutlichster Gestalt das „Sollen", „Wollen" und „Müssen",
das fiir die ethischen Beziehungen charakteristisch ist.
Wieweit freilich für die spezifisch ethischen Verhältnisse
aus der Betrachtung analoger, aber moraUsch indifferenter Ab-
hängigkeitsbeziehungen neue Erkenntnisse gewonnen werden
können, wieweit m. a. W. die Fruchtbarkeit der „technischen"
Methode reicht, wurde nicht recht ersichtlich.
Femer sprach Tönnies „Über eine Methode moral-
statistischer Forschung". Er versuchte für die Vergleichung
statistischer Reihen, die verschiedene Daten in bezug auf die-
selben Gegenstände enthalten, ein festes Prinzip anzugeben,
gewissermaßen sie auf denselben Nenner zu reduzieren. Er
ging davon aus, daß alle denkbaren Korrelationen zwischen
zwei Reihen sich zwischen den beiden extremen Möglich-
keiten der direkten oder indirekten Proportionalität bewegen,
und versuchte alle anderen Abhängigkeitsverhältnisse zu
diesen Möglichkeiten in quantitative Beziehung zu setzen.
Aufweiche Weise dann im einzelnen das Maß der Korrelation
herausgerechnet wird, wolle man aus der Autopublikation
31*
486 K* Mittenzwey:
dieses sehr bedeutsamen Vortrags ersehen, die hoffentlich
ausfiihrKcher erfolgt, als die Redezeit den mündlichen Dar-
legungen gestattete.
Goldscheid (Wien) gab in seinem Vortrage, „Ent-
wicklungswert und Menschenökonomie" im wesentlichen
eine Selbstanzeige seines gleichnamigen Buches. Prof.
Weber (Heidelberg) warnte in der Diskussion vor einer
Verwechselung von philosophischem (ethischem) und wirt-
schaftlichem Wert. Ein wirtschaftlicher Wert wird durch
eine Vermehrung des betreffenden Gutes verringert, während
ethische Werte gar nicht genug kultiviert werden können.
Zahlreiche soziologische Vorträge von Franzosen und
Italienern bewiesen, daß die soziologische Wissenschaft
noch immer in romanischen Ländern mehr kultiviert wird
als in Deutschland, auch daß die Soziologen noch immer
die methodischen Vorfragen mit großer Liebe behandeln»
Aus der VI. Sektion (Ästhetik ; Vorsitzende Prof. Cohn,
Prof. Vossler) sei nur ein Vortrag von Prof. Cohn (Freiburg)
über „das Problem der Kunstgeschichte" hervorgehoben,
Cohn entwickelte geschickt eine Antinomie der Kunst-
geschichte, daß sie nämlich als Geschichte die Werke zu
einer Entwicklungsreihe verbindet, während doch jedes
Kunstwerk als abgeschlossene Individualität auftritt.
Die Vn. Sektion (Beligionsphilosophie ; Vorsitzende
Geh. Barchenrat Troeltzsch, Prof. Schwarz) brachte es nur
auf drei weniger bemerkenswerte Vorträge.
Wenn man rückblickend den Ertrag des Kongresses
übersieht, so muß man wohl sagen, daß die Weizenkömer
unter sehr viel Spreu versteckt waren. Und in der Tat
b'egt in dem Breitmachen des Dilettantismus, der auf solchem
Kongreß die langersehnte Lehrkanzel findet, eine Lebens-
gefahr gerade für einen PhUosophenkongreß. Denn in den
empirischen Einzelwissenschaften kann die Unzulänglichkeit
viel leichter durch Hinweis auf die Inkongruenz mit dem
Erfahrungsmaterial demonstriert werden. Der permanente
X. Mittenzwey: Der III. intemationale Philosophenkongreß. 487
AusschuS wird die genannte Gefahr in Erwägung ziehen
müssen. Verschärßie Znlassungsbedingungen wären freilich
ein zweischneidiges Mittel, geeignet, den Kongreß zum
exklusiven Rendezvous derer zu machen, die die Philosophie
als Karriere erwählt haben. Aber vielleicht ließe sich noch
mehr als bisher im voraus eine Zahl bedeutender Gelehrter
zu Vorträgen, auch zu Sektionsvorträgen eventuell mit be-
vorzugter Redezeit, gewinnen, auf daß dem Kongreß von
vornherein ein Mindestwert gesichert werde.
Die Geschichte der Erziehung in soziologischer
Beleuchtung. Yn.
Von Paul Barth, Leipzig.
Inhalt«
Die Schichtung der StAnde im Zeitalter der Renaissance und der Keformation^
Geistip^er Gehalt des Humanismus in Italien. Sein Einflufs auf die Gestaltung der-
Theorie und der Praxis der Erziehung.
Im 15. und 16. Jahrhundert ist in Westeuropa keine
Veränderung in dem gegenseitigen Verhältnis der Stände
zueinander eingetreten. Ihr Machtbereich, ihre gegenseitige
Eifersucht, die öfter in offene Feindschaft ausbrach, blieben
im ganzen dieselben. Nur die staatliche Gewalt, die wir
schon im späteren Mittelalter aufsteigend sahen, wird nun
noch mächtiger durch die Reformation, die ihr die Güter
der Kirche zum Teile ausliefert, und durch die von allen
gefühlte Notwendigkeit einer starken Hand, die den inneren
Frieden aufrechterhält.
Dagegen hat die Weltanschauung in den beiden Jahr-
hunderten der Renaissance und der Reformation eine große
Umwälzmig erfahren.
Die Renaissance gab in den romanischen Ländern vielen
einen Ersatz fiir die Religion, die nicht mehr in ihrer wirk-
Hchen Gesinnung, in ihrem Herzen und in ihren Gedanken
wurzelte. Die antike Literatur, zuerst die römische, dann
die griechische, erwachte nun wirklich aus ihren „Gräbern"
in den Klöstern, und zwar viel mehr von ihr, als um das
Jahr 1100 in Frankreich erwacht war*). Seit Petrarca
(1304—1374) wurden die antiken Autoren wieder jgelesen.
J) Vgl. P. Barth im 31. Bande der Vierteljahrsschrift (1907), S. 95 f.
Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung. 4S9
mit Inbrunst und Eifer gelesen. Mit dem den Italienern
eigenen Formgeföhle entdeckte man die äußere Schönheit
des klassischen Lateins, später auch des Griechischen, den
Klang und den schönen Rhythmus in Poesie und Prosa,
nicht minder aber auch die innere Schönheit beider Sprachen,
den hohen Grad der Differenzierung der sprachlichen Formen,
die den gleichen Grad der Ausdrucksfahigkeit für die Unter»
schiede des Gedankens bedeutet und die Sprache befähigt,
der "Wandelung des Gedankens folgend, sich gewissermaßen
als beseelten Organismus zu zeigen. Alles Altklassische
wurde Gegenstand der Liebe: Schriften, Münzen, Ruinen,
sogar eine altrömische Leiche, die man 1485 fand und an*
betete, so daß der Papst, imi diesem Kultus ein Ende zu
machen, sie heimlich beerdigen lassen mußte ^).
Und wie man die Sprache der alten Römer nachahmte,
so nahm man auch ihre Gedanken an, selbst da, wo sie nicht
besonders tief waren. Petkarca z. B. will an einen ihm be-
freundeten Veronesen schreiben, Luchius Vermius (Luca
Vermio?), der als Kondottiere im Dienste Venedigs steht.
Er weiß nichts besseres als das Bild des Feldherm zu
wiederholen, das Cicero in der Rede de lege Manilia, um
Pompejus zu schmeicheln, bloß nach dessen zufälligen Ver-
hältnissen gezeichnet hat. Er findet an Pompejus vier wesent-
liche Eigenschaften eines Feldherm: Kenntnis des Kriegs-
wesens, Tapferkeit, Autorität und — Glück, welches letzte
doch nur ein zufälliges Schicksal, aber nicht, wie die andern
drei Momente, eine innere Eigenschaft des Pompejus war.
Und Petrarca wiederholt Ciceros Unlogik, weil sie eben von
Cicero stammt ^
Bei dieser Hingebung an das Altertum mußte notwendig
auch die Weltanschauung des Altertums wirksam werden
*) Vgl. Jakob Bubckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien,
9. Auflage, von Ludwio Geiger. Leipzig 1904, I, S. 198 f.
*) Vgl. Petrarcas Liber de officiis et virtutibus imperatoriis, ge-
widmet dem oben genannten Luchius Vermius. Diese kleine Schrift
bildet den Schluß des 2. Bandes der Opera Francisci Petrarcae, ed.
bei Le Preux in Genf. 1610.
490 Paul Barth:
und, soweit sie der christlichen widersprach, diese aus den
Gemtitem verdrängen.
Der christliche Glaube wurde in der Tat von vielen
Humanisten entweder verlassen oder mit philosophischen
Theoremen des Altertums verschmolzen und auf diese Weise
umgewandelt. Nur wenige, wie Vittorino da Feltre, Ambrogio
Traversari, Antonio da Eho und Gregorio Corraro *) vereinigten
ohne Widerspruch christliche Frömmigkeit und antikes
Denken oder suchten wenigstens beides zu vereinigen, wie
Marsiuo Ficino, der erste Vorsteher der platonischen
Akademie zu Florenz*). Manche, wie Giholamo Alliotti,
Travesaris Anhänger, waren Heuchler*).
Die meisten der Humanisten entfernten sich mehr oder
weniger vom Christentum. Am weitesten diejenigen, die
durch den aus Cicero bekannten Epicur oder durch Lucrez
an der göttlichen Weltregierung zweifeln gelernt hatten
und nur noch an ein blind waltendes Schicksal glaubten.
Die in diesem Sinne geschriebenen Bücher „vom Schicksal"
sind sehr zahlreich*). Aber die meisten gingen wohl nicht
so weit, sie begnügten sich, den christlichen Glauben
allegorisch zu deuten und so weit umzugestalten, daß er
mit der Philosophie Platos und der Stoa übereinstimmte*^).
Alle auch trieben eine nicht gefilhrliche Spielerei, indem
sie in bezug auf die antiken Götter und Göttinnen die
Sprache der Alten führten, als ob sie noch denselben Glauben
wie die Alten an sie hegten. So segelte Ciriaco von Ancona
stets mit seinem „allerheiligsten Schutzgotte Mercurius".
Und FiTELFO redete in einem Gedichte den Papst Nicolaus V.
als denjenigen an, der „den Thron des olympischen Jupiter
0 Vgl. Georg Vüi<;t, Die Wiederbelebung des klassischen Alter-
tums oder das erste Jahrhundert des Humanismus. 8. Aufl., besorg
von Max Lkhxebdt, Berlin 1893, I, S. 319 ff., 479, 508 f. ; II, 82, 40 ff ,
212, 371.
*) Vgl. BrRCKHARDT a. a. O., II, S. 225.
0 Vgl. Voigt, U, S. 222—228.
*) Vgl. BrRCKHARDT, a. a. O., II, S. 230.
^) Vgl. Voigt, I, S. 173; II, S. 367 f., 470, und Bitjckhardt a. a. O.,
U, S. 278 f.
Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung. 491
hüte" ^). Mehr Spielerei als Ausfluß innerster Gesinnung
war auch die Laszivität vieler Gedichte und Schriften der
Humanisten '). und wie die sprachliche Maskerade mit der
antiken Mythologie, waren auch die friedlichen Umzüge, die
bei jeder Gelegenheit in antiken Kostümen stattfanden, eine
harmlose Zerstreuung, kein Abfall vom Christentum, wenn
auch noch so viel antike Gottheiten im Zuge marschierten
oder gefahren wurden*).
Direkte Angriffe gegen die Kirchenlehre, Verhöhnung
der Mönche, ketzerische Ansichten wurden oft ausgesprochen,
aber von der Kirche nicht verfolgt*). Die Kirche war nur
da besonders empfindlich, wo man ihr soziales Gefüge, ihren
Besitz angriff. Deshalb schien ihr der den Humanisten
feindliche Savonärola gefährlicher als alle Humanisten.
Laürentiüs Valla hatte die kirchliche Lehre wahrlich nicht
geschont. Er hatte die berümte Schenkung Konstantins an
die Kurie als Fälschung erwiesen, die weltliche Herrschaft
der Päpste überhaupt für unberechtigt erklärt, er hatte femer
den Mönchsorden die Existenzberechtigung abgesprochen,
die Abfassung des apostolischen Symbolums durch alle
Apostel geleugnet, die Echtheit des Briefes des Abgar von
Edessa an Christus bestritten und die kirchlich anerkannte
Lehre des Boethius von der Willensfreiheit bekämpft*).
Die Dominikaner forderten im Jahre 1444 dafür Rechen-
schaft von ihm. Aber sein Landesherr und Schützer, König
Alfonso von Neapel, wies sie zur Ruhe. Bei dem damaligen
Papste Eugen IV. blieb Valla in Ungnade, unter dessen
Nachfolger jedoch, Nikolaus V., wurde er nach Rom be-
rufen, zum apostolischen Skriptor ernannt, geehrt und
reichlich beschenkt. Er lebte am Hofe des humanistisch
») Vgl. Voigt, I, S. 285 ; II, S. 473 f.
«) VgL Voigt, I, S. 476«., 483, 491; II, 411—414. Bubckharüt, I,
S 289
»j Vgl. Voigt, II, S. 243. Bürckhardt, II, S. 134 ff., S. 141 ff.
*) Vgl. BüRCKHAKDT a. a. O., II, S. 228 f. Voigt, 1, 8. 173 ; II, S. 16,
212 222.
») Vgl. BuRCKHABDT, II, S. 228 f., auch Voigt, I, S. 466, 469 ff.;
n, S. 475,
492 FahI Barth:
gesinnten Papstes, wie viele andere, als Übersetzer griechisclier
Werke »).
Und wie der christliche Glaube, so wnrde auch das
christliche Lebensideal bei den Humanisten durch einen
starken antiken Einschlag abgeändert. Wir sahen oben^),
wie im christlichen Altertum und im Mittelalter die Demut,
die wesentliche Tugend, die Askese eine Pflicht des voll-
kommenen Christen war.
Die Humanisten sind von Askese weit entfernt. Wie
Petrarca, der Zeit nach der erste der Humanisten, zwar
geistlichen Standes war, aber Konkubinen und uneheliche
Binder hatte, so sehr viele seiner Nachfolger®). Wie
Petrarca einer der ersten ist, der den Reiz der Landschaft
intim genießt, so ist ihm alles Natürliche überhaupt wert-
voller als dem Christentum*). Der Demut ist im mittel-
alterlichen Bewußtsein entgegengesetzt die Ruhmsucht, wie
Hrabanus Maurus festgestellt hat^). Aber gerade diese war
bei allen Humanisten eine beständige Triebfeder ihres
Schaifens und Handelns.
Petrarca sagt noch als Greis, der mächtigste Sporn für
hochherzige Geister sei die Liebe zum Ruhme. Insbesondere
berauschte ihn seine Dichterkrönung vom Jahre 1341 •). Er
gesteht, daß die Ruhmsucht ihn von Kindheit an beherrscht
habe, und fiirchtet, daß sie ihn bis zum Grabe beherrschen
werde. Er weiß, daß diese Leidenschaft unchristlich ist,
daß Augustinus sie verwirft. Aber er kann sich davon nicht
befreien^). Und hierin ist er typisch für alle Humanisten,
auch den Papst Nikolaus V.®). Sie arbeiteten jedoch nicht
bloß für die eigene Unsterblichkeit, sondern nicht minder
*) Vgl. Voigt a. a. 0., I, S. 460, 473 ff. und II, S. 90.
') Im 80. Jahrgänge (1906) der Viertel jahrsschrift, S. 438 und
S. 460 f.
») Vgl. Voigt, I, S. 84, 179; II, S. 84, 463 ff.
*) Vgl. Voigt, I, S. 106 ff. Bürckhardt, II, S. 18 ff.
**) Vierteljahrsschrift a. a. 0. S. 460.
«) Voigt, I, S. 127 f.
') Vgl. Voigt, I, S. 96, 106 f., 111, 124 f., 130 f., 141. Bürckhardt,
I, S. 154 0.
") Vgl. Voigt, II, S. 61.
Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung. 493
far den unvergänglichen Buhm anderer, aller Fürsten nämlichr
die ihre Lobgedichte bezahlten. Besonders Filelfo hat
diesen „Handel mit Verewigung" zum förmlichen System
ausgebildet^). In seinem über alles Maß erhöhten Selbst-
bewußtsein ist er keine Ausnahme, sondern der Typus der
Humanisten^). Auch sehr unbedeutende Taten der Fürsten
wurden im Stile des Livius wie weltgeschichtliche Ereignisse
beschrieben; so von Porcello die Händel des Francesco
Sforza und gleichzeitig auch die seines Gegners Giacomo
PiCcmiNO*). Bei vielen Jünglingen führte die von den
Humanisten genährte Ruhmsucht zu opfervollen Taten*),
bei anderen mischte sie sich mit dem mittelalterlichen Be-
griffe der ritterlichen Ehre und wurde dadurch veredelt '^).
Einer der berühmtesten Humanisten, Francesco Filelfo,
wurde sogar, allerdings unverdienterweise, vom Könige
Alfons von Neapel zum Ritter geschlagen. Verdienter war
jedenfalls die gleichzeitige (1453) Dichterkrönung durch
denselben König •).
Mit dieser Verneinung der Demut, der Befreiung von
der Askese und der Hochschätzung des Ruhmes ist not-
wendig jener Individualismus gegeben, den Jakob Burckhardt
immer als das Lebensprinzip der Renaissance hervorhebt).
Trotz diesem Individualismus®) aber haben die Huma-
nisten ein lebhaftes Gefühl für ihr Volk und für ihr Land.
Beides haben sie als neuen Wert wieder entdeckt, nachdem
im Mittelalter das Volkstum vor dem Christentum, das viele
Völker umfaßte, sehr zurückgetreten war. Petrarca legte
zwar in seiner einseitigen Verehrung des klassischen Lateins
') VgL Voigt, I, S. 446 f., 527-30.
«) Vgl. Voigt, II, S. 363 f.
'») VgL Voigt, I, 493 f. ; Blrokhaedt, I, S. 105.
^) So bei den Mördern des Galeazzo Sforza von Mailand, die der
Humanist Cola Montaxo angefeuert hatte. Vgl. Burckhardt, I, S. 61.
•*) BlTRCKHADT, II, S. 164 f.
«) Voigt, I, S. 496.
^) A. a. 0. besonders I, S. 141—151, 299 f.; II, S. 48, 1551, 163.
^) Diesen Individualismus der Renaissance wollen manche nicht
feiten lassen, aber auch Voigt (II, S. 395) betont das Heraustreten
er Persönlichkeit bei den Humanisten.
494 'PsLul Barth:
gar keinen Wert auf das, was er in der Volkssprache ge-
dichtet hatte ; desgleichen die anderen Humanisten ^). Aber
das staatliche Gedeihen, besonders die staatliche Einheit
und die Unabhängigkeit seines Volkes von Fremden und wohl
auch von der Kirche lagen ihm am Herzen, waren sein
Leben lang seine Sorge, und seine Nachfolger hegten diese
Sorge nicht weniger*). Alle auch fühlten sich als Nach-
kommen der alten Römer, allen anderen Völkern, den
„Barbaren", weit überlegen^). Und wie Cola di Rienzo, der
römische „ Volkstribun" , wahrscheinlich von Petrarca er-
muntert wurde, so durch andere Humanisten mehrere nach
ihm. Die Einheit Italiens, zuerst ohne, später mit
Säkularisierung des Kirchenstaates, war von Rienzo bis zu
Machiavelli eine Idee, die der Humanismus angeregt hatte ^).
Mit der neuen Lebensrichtung und mit dem groöen
Zuwachs geistigen Stoffes, der in der neu erwachten antiken
Literatur lag, mußte auch eine neue Wertung der alten
Wissenschaften verbunden sein. Die älteren Humanisten
sind alle nicht aus den Universitäten hervorgegangen*^);
nur sehr vorübergehend und in steter Zwietracht mit den
Magistern der alten Fächer haben sie an Hochschulen
gelehrt; ihre Wiege war die Republik Florenz, in der der
Adel Handel und Politik trieb, die Bildung also weltlicher
war als in jeder anderen Stadt Italiens®). Ihr Aufenthalt
war fast immer ein Fürstenhof oder die päpstliche Kurie,
an der sie nominell -ein Amt bekleideten, oder sie fiihrten
als freie Schriftsteller ein reines Privatleben^). Das an den
Universitäten gelehrte unreine Latein mußten die Humanisten
als „barbarisch" verabscheuen. Petrarca vergleicht es mit
einem verkrüppelten Baume, der weder grünt noch Früchte
trägt®). Die Grammatik war ihnen eine untergeordnete
') Vgl. Voigt, I, S. 166; II, S. 159, 396. Birckhardt, I, S. 220.
») Vgl. Voigt, I, S. 64 f., 198 f.
') Vgl. Voigt, II, S. 360.
*) Vgl. Voigt, I, S. 51 ff., 61 ; Burckhardt, I, S. 112, 123.
») Vgl. Voigt, I, S. 190.
•) Vgl. Voigt, I, S. 158 f., 211, 292, 329, 391 f.
«) Vgl. Voigt, I, S. 35.
'') Vgl. Voigt, I, S. 100 ff.; II, S. 2 ff ., 78, 371 f.
•
Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung. 495
Wissenschafb ; sie lernten das klassische Latein aus den
Schriftstellern. Dennoch haben sie allmählich an Stelle der
alten grammatischen Lehrbücher neue gesetzt, zuerst die
Schulgrammatik des älteren Guakino, dann die Budimenta
grammatices des Niccolo Perotti^).
Die scholastische Philosophie verachtet der Humanismus.
Sie besteht für Petrarca in „dialektischen Klopffechtereien
und Sophistereien", er verhöhnt die Magister als Syllogismen-
krämer „und die Doktorwürde, die bloß durch pomphafte
Insignien aus einem Dummkopfe plötzlich einen aufgeblasenen
Weisen mache** ; die Universitäten sind ihm Nester der
dünkelhaften Unwissenheit*). Und alle seine Nachfolger
spotten über die Autorität des Aristoteles oder erklären,
wie LioNARDO Brüni, die gangbaren Übersetzungen für so
schlecht, daß Aristoteles seine Werke darin nicht mehr er-
kennen würde®). Der dürren Logik stellen sie Platos
Schriflen oder die von ihnen selbst verfaßten populären
Traktate über Lebensfragen entgegen. So schreibt Petrarca
über die Einsamkeit (de vita solitaria), über die Mittel
gegen Leiden und Freuden (de remedio utriusque fortunae),
über die Muße der Mönche (de otio religiosorum), wo aber
nur die Kontemplation, nicht Buße und Kasteiung empfohlen
wird*), PoGGio über die Pflicht des Fürsten, über den wahren
Adel u. a,, Manetti vier Bücher über die Würde und Hoheit
des Menschen, und viele andere schrieben über ähnliche
Themata »).
Aber nicht bloß die Philosophie, sondern alle Fakultäten
der Universität wurden, wie von Petrarca, so auch von
seinen Nachfolgern gering geschätzt. Petrarca hatte zwar
ein nahes Verhältnis zu Augustinus, Ambrosius, Hieronymüs
und zu anderen Kirchenvätern*), aber gar keines zur
') Vgl. Voigt, H, S. 373, 376 f.
») Vgl. Voigt, I, S. 70, 78, und II, S. 452 f.
») Vgl. Voigt, II, S. 168.
*) Vgl. Voigt, I, S. 204.
») Vgl. Voigt, I, 8. 81 ; II, S. 454 f.
•) Vgl. Voigt, I, S. 85 f.
4(16 Paul Barth:
scholastischen Theologie '). Seine Nachfolger rechneten die
Theologie znm scholastischen E[rame '). Das Rechtsstadimn
hatte Petrabca sieben Jahre lang gezwungen betrieben;
dennoch scheint er das Corpos jnris Jcstinians nie gesehen
zn haben. Und dem Kirchenrechte stand er nicht naher.
Mit dem größten der gleichzeitigen Ejrchenrechtslehrer, mit
Giovanni di Andrea, hatte er eine heftige Fehde, er be-
mangelte seine allgemeine Bildung'). Boccaccio haßt die
Juristen, ihr prunkvolles Aufb-eten, ihre Geldgier. Lionardo
Bkcni (Leonardus Aretinus) betrachtet die Jurisprudenz als
gleichgültig für die menschliche Bildung. Poggio richtete
seinen Spott gegen die Juristen. Valla sagte: ^Yon den
Rechtsgelehrten ist kaum einer, der nicht als völlig ver-
ächtlich und lächerlich erscheint . . . Sie sind so arm-
seligen Geistes, so gedankenlosen und törichten Sinnes, daß
ich das Mißgeschick des bürgerlichen Rechts beklage.''
Aeneas Stlvius fand den berühmten Juristen Giovanni da
Imola als ein Männchen, dem alles in der Welt fremd war,
außer was er in seine Bücher geschrieben hatte. Für
M\FF£0 Vegio verhielt sich die Poesie, d. h. die humanistische
Wissenschaft, zur Rechtswissenschaft wie Licht zur Finster-
nis^). Nicht höher als die Jurisprudenz stand den Huma-
nisten die Medizin der Universitäten. Petrarca schrieb vier
Bücher Invektiven gegen einen päpstlichen Leibarzt, in
denen er, wie in seinen Briefen, nicht bloß diesen, sondern
das ganze herkömmliche System der HeilkünsÜer bekämpfte.
Er warf ihnen vor, daß sie den Hippokrates zitieren, ohne
ihn zu verstehen, daß sie die kauderwelschen Namen ihrer
Gifte als griechische Weisheit verehren, daß sie den
arabischen Ärzten folgen, die nur Verachtung verdienen,
daß ihr ganzes Gewerbe betrügerisch sei wie das der Astro-
logen und außerdem schmutzig^). Poggio und andere
') Vgl. Voigt, I, S. 86 f.; H, S. 468.
«) Vgl. V<»i«T, 11, S. 466.
') Vgl. Vüior, I, S. 76 ff.
*) Die Nach weise aller dieser Äußerungen von Boccaccio bis Vecju»
bei Voigt, II. S. 455, 477—485.
») Vgl. Voior. I, S. 74—76.
Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung. 497
Humanisten des florentinischen B^reises ergossen ihren Spott
über die Ärzte ^).
Was die Humanisten Neues brachten, war — nach ihrer
eigenen Benennung — „Poesie und Eloquenz" (poesis et
eloquentia), wie auch Vergil und Cicero Petrarcas erste
Liebe waren ^). Die Humanisten selbst hießen in ihrem
eigenen und in anderer Munde „Dichter und Redner"
(poeta et orator) *). Sie verstanden unter ihrem Fache aber
noch mehr, als diese Namen besagen, nämlich Kenntnis der
ganzen antiken Literatur, nicht bloß der Dichter und der
Redner, sondern auch der Philosophen und der Historiker,
tind Nachahmung aller dieser Schriftsteller, insbesondere
freilich der Dichter und Redner, weil zum Dichten und
zum feierlichen Reden das Leben am Fürstenhofe oder an
der Kurie oder überhaupt der Wettbewerb um die Gunst
der Mächtigen sehr häufigen Anlaß bot*). Sehr bald ge-
hörte aber zur Poesie und Eloquenz auch die Kenntnis der
Realien des Altertums^).
Diese ganze geistige Bewegung, die Entdeckung neuer
geistiger Werte, die geringere Achtung der vorhandenen
maßte auf alle Lebensgebiete umwälzend wirken. Die
sichtbarsten, noch heute anschaulichen Folgen ergaben sich
tur die Kunst,, die sich nun von der byzantinischen Starrheit
befreite und zu menschlich freier Beweglichkeit und Schön-
heit entfaltete. Eine solche Kunst war nur möglich, nach-
dem die Humanisten die geistige Gebundenheit des Mittel-
*j Vgl. Voigt, II, S. 487 f. Wie wenig die Medizin der mittel-
alterlichen Universität leistete, wie sehr sie, gleich dem übrigen
Wissenschaftsbetrieb derselben, bloßes Nachbeten der Autoritäten war,
lehrt ein kennzeichnender Fall aus Heidelberg bei O. Kx^muel, Die
Universitäten im Mittelalter in K. A. Schmid, Geschichte der Erziehung,
Stuttgart 1892, H, 1 (S. 334—548), S. 459 f.
2) Vgl. Voigt, I, S. 26 ff.
«) Vgl. Voigt, II, S. 894 f.
♦) Vgl. BURCKHARDT, I, S. 261 ff.
*) Vgl. Voigt, I, S 174 f. Sie wurde durch Sammeln von allen
unterstützt, besonders begründet aber durch Cola di Rigxzo, Cibiaco
VON Anco^ia, Mabsüppini, Vegio, Flavio Bioxdo. Vgl. Voigt, I, S. 58 f.,
269-286, 8181, 881, 459, 568; H, 14, 34 ff., 48, 393 f., 502 ff. Burck-
HARDT, I, S. 198, 195 f.
408 Paul BartL:
alters gelöst hatten. Ihre Ideen wirkten teils mittelbar
durch die allgemeine geistige Lebenslnft anf die Künstler,
teils unmittelbfiur durch persönlichen Verkehr, wie z. B.
Fabio Calvi mit Raffael in engem Verkehr stand und viel-
leicht ihm die Ideen mancher Komposition, z. B. der Schule
von Athen, eingegeben hat^).
Und wie auf alle sozialen Lebens&nktionen. mußte der
neue Geist auch auf die Pädagogik, auf ihre Theorie wie
auf ihre Praxis, umgestaltend einwirken.
Was zunächst die Theorie betriflft, so bemerken wir
bei den zwei ersten pädagogischen Theoretikern des Humanis-
mus sofort den Kampf gegen die bisherige Organisation
der Erziehung sowie gegen den bisherigen Stoff des
Unterrichts und für die neu entdeckten geistigen Werte.
Pier Paolo Vergemo (Petrus Paulus Vergerius) war der
erste, der als Humanist über die Erziehung schrieb *). Sein
Buch de ingenuis moribus et liberalibus studiis ist um das
Jahr 1400 abgefaßt worden"). Er erwähnt nirgends die
klösterliche Erziehung, nur die häusliche hat er im Auge,
und gibt darum Vorschriften für den freien, geselligen
Verkehr*). Neben dem Eltemhause ist nur der Staat
Organisator der Erziehung. „Einiges pflegt der Staat durch
G-esetze zu bestimmen. Er sollte aber, sozusagen, alles be-
stimmen. Denn es liegt im Interesse des Staates, daß die
Jugend gesittet sei, und wenn sie methodisch unterrichtet
ist, so wird dies ihr gut und dem Staate nützlich sein"*).
Es ist dies ein Gedanke, der durchaus der mittelalterlichen
») VgL BüRCKHARDT, I, S. 803.
«) VgL Voigt, II, S. 459. Vkugeriüs ist 1349 zu Capo d'Istria ge-
boren; er studierte in Padua, lehrte daselbst auch, lernte später bei
Makubl Chrysoloras in Florenz Griechisch (vgl. Voigt, I, S. 229), war
dann Erzieher im Hause des Francesco von Carrara, des Herrn von
Padua, und lebte zuletzt am Hofe des Kaisers Sigismund, wo er auch
gestorben ist. VgL auch K. Hartfelder, Erziehung und Unterricht
im Zeitalter des Humanismus in K. A. Schmid, Geschichte der Er-
ziehung, II, 2, Stuttgart 1889 (S. 1—156), S. 15 ff.
*) Ich zitiere nach einem Drucke in einem Sammelbande päda-
gogischer Schriften, Basel 1541, S. 621—676.
*) A. a. 0. 8. 635.
») A. a. O. 8. 682.
Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung. 499
Aiiffassung widerspricht, der im Alterbum, besonders in der
Blütezeit, in bezug auf die Gjonnastik herrschend war*)
und vom Humanismus wiedererweckt wurde.
Die eigentliche Erziehung, die Willensbildung, soll nun
durch Vorbüd, Warnung (besonders vor der Lüge) und Be-
hütung (besonders vor der Sinnlichkeit) bewirkt werden.
Gegen die klösterliche Härte richtet sich offenbar der Satz:
„Wie allzu große Freiheit die guten Anlagen zersetzt, so
zerstört andauernde und strenge Bestrafung die Kräfte des
Geistes." «)
Als Gegenstände des Unterrichts empfiehlt er die sieben
freien Wissenschaften, außerdem aber Poetik, Zeichenkunst,
Perspektive, Physik, Medizin und Jurisprudenz, Doch soll
nicht jeder alles lernen, sondern jeder seiner Begabung ent-
sprechende Wissenschafben sich aussuchen®).
Das Ideal ist für alle nicht ein klösterliches, nicht ein-
seitige geistige, sondern beiderseitige, körperliche und
geistige Tüchtigkeit. Besonders aber, noch mehr als andere,
sollen die Fürstensöhne zur Vorbereitung auf den Krieg
ihren Körper ausbilden und an Mühen gewöhnen*). Die
studia liberaha überhaupt sind diejenigen, „durch welche
der Körper oder der Geist zu allem Guten befähigt
wird" *). Nächst der Tugend sind Ehre und Ruhm der
Lohn für den Gebildeten®).
Dies alles, besonders die letzten, sind durchaus antike
Gedanken. Sein Hauptgewährsmann ist wohl Akistoteles,
den er öfter zitiert, von dem er die Forderung des Zeichen-
unterrichts ausdrücklich entlehnt'), doch nennt er neben
ihm auch Plato, Cicero, Horaz und andere.
LiONARDO Bruni (Leonardus Aretinus), der Staats-
kanzler von Florenz, der Historiker seiner Vaterstadt, der
') Vgl. P. Barth in Vierteljahrsschrift, 28. Jahrgang (1904X S. 321 f.
«) A. a. O. S. 689.
«) S. 649—655.
*) S. 661 f.
») S. 637.
«) A. a. 0.
') A. a. 0. S. 650:
Viertel JAbrsaohrift f. wisaeDSchaftl.Philos. a.Soz. XXXII. 4. 82
500 Paul Barth:
sie in elegantem Latein feierte, während die beiden älteren
ViLLANi italienisch schrieben, der erste der Italiener, der
gründlich Griechisch lernte, der berühmte Übersetzer
griechischer Werke*), der Freund Poisoiosi des eifrigen
Handschriftensammlers, und des hxmianistischen Staatsmannes
Salutato, hat sich vor allem für die heidnischen Autoren
und ftr ihre Verwendung im Unterrichte ausgesprochen.
Seine Schrift De studiis et literis tractatulus, an Isabella
•{oder Baptista) von Malatesta gerichtet*), ist gewiß nicht
viel jünger als die Verqerios. Ehr verachtet die gewöhnliche
verworrene Bildung, die jetzt die Theologen geniefien. „Es
ist eine Schande , wie wenig die Gelehrten jetzt von (der
alten) Literatur verstehen" , im Gegensatz zu Lactantiüs,
Hieron YMüS und Augustinus, die in der Theologie und in
der Kenntnis der (heidnischen) Literatur gleich grofi waren*).
Nur die besten lateinischen Autoren von anerkannter
Schreibweise sollen gelesen werden, „alles unkundig und
unkorrekt Geschriebene ist ein Unglück und ein Flecken
für unsem Geist" (S. 4). Am höchsten preist er Cicero :
„Was für ein Mann, unsterblicher Gott! "Welche Bered-
samkeit, welche Fülle! "Wie vollkommen ist er in der
(Kenntnis der) Literatur!" (S. 5). Von den Christen ist
Lactantiüs der beredteste. Nach Cicero kommt „die Zierde
und "Wonne unserer*) Literatur, Liviüs", dann Sallustius
und andere Dichter und Prosaiker. „Mit diesen soll man
sich erfüllen und nähren und, so oft man etwas zu sagen
oder zu schreiben hat, kein "Wort gebrauchen, das man
nicht vorher bei einem von ihnen geftinden hat* (S. 5.)
Auch ist lautes Lesen der Prosaiker nötig, damit man des
Rhythmus, der auch in der Prosa nicht fehlt, gewahr werde.
"Von den Stoffen, die mit der Sprache immer zugleich zu
M Vgl. Voigt, I, S. 226, 894 f.: II, S. 163.
^) Icn zitiere sie nach der Ausgabe, die A. Israkl (Sammlung
selten gewordener pädagogischer Schriften des 16. und 17. Jahr-
hunderts, VI, Zschopau 1880) nach dem Drucke von Leipzig 1496 ver-
anstaltet hat.
0 A. a. 0. S. 3 f.
*) Man beachte immer, daß den italienischen Humanisten die
i'ömische Literatur eine vaterländische istl
Die Geechichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung. 501
lernen sind, stellt er neben die christliche Theologie, die
&ber nnr aus den alten Autoren, besonders aus Augustinus,
zu, schöpfen ist, die heidnische Philosophie, die Geschichte,
besonders, aus nationalem Interesse, die römische (S. 9 f.).
Alle antiken Dichter und Prosaiker verteidigt er endlich
gegen den Vorwurf, daß sie viel Schlechtes, besonders
Buhlschafben und Verbrechen enthalten. Er meint, solches
sei in der Minderzahl gegenüber den Beispielen guter Ge-
sinnung, wie sie etwa Homer in Penelopes Treue gegen
Odysseus biete. Zudem seien die Liebeshandel bei den
Alten erdichtet und oft allegorisch zu deuten; die vielen
Verbrechen aber und Buhlschafben, die in der Bibel vor-
kommen, seien wahr. Wenn man trotz diesen die Bibel
lese, so müsse man erst recht die heidnischen Dichter lesen
(S. 14 f.) Zu ihrer Verteidigung übersetzte Brüni auch die
Bede des heiligen Basilius über den Nutzen des Studiums
der heidnischen Schriftsteller ins Lateinische^). Dieselbe
Verteidigung der alten Autoren finden wir später bei Aeneas
Sylvius in seiner Schrift de liberorum educatione^); er be-
ruft sich außerdem auf den Vorgang des Apostels Paulus,
der heidnische Dichter gelesen haben müsse, da er im
Briefe an Titus einen Vers des Epimenides , anderswo einen
Vers des Menander zitiere •).
Solche Schätzung der Alten, wie sie Lionabdo Bruni,
und solche Tendenz zur Weltlichkeit der Erziehung, wie
sie Vergerio zeigt, waren die natürliche Haltung der Huma-
nisten, die durch die neue Kenntnis der Alten und durch
die neue Lebensanschauung gegeben war. Aber sie wurden
in dieser Haltung auch noch bestärkt durch zwei pädagogische
Theoretiker des Altertums, die damals entdeckt wurden.
Im Jahre 1415 oder 1416 fand Poggio das ganze Werk
QüiNTiUANS de institutione oratoria*), das ja zur Beredsam-
') Vgl. Voigt, II, S. 164.
^) Er war unter dem Namen Plus II. Papst von 1458 bis 1464.
Seine pädagogische Schrift ist vorher geschrieben.
') Vgl. Aeneae Sylvii, Pii Pontificis, De liberorum educatione
(Opera Basileae 1571, S. 966—992), S. 982 f.
♦) Vgl. Voigt, I, S. 238 f. ; H, S. 354.
:32*
502 Paul Barth:
keit, also zu einer humanistischen Knnst zu fiihren ver-
sprach und darum begeistertv au%enommen wurde. Es gibt
bekanntlich vielfach, besonders im ersten Buche, allgemeine,
nicht bloß auf den Redner bezügliche Vorschriften über
Erziehung. Nicht lange darauf wurde auch die dem Plutarch
zugeschriebene Schrift „über die Erziehung der Kinder**
bekannt. Denn Plutarchs Bücher gehören zu den frühesten,
die durch Übersetzung dem Abendlande vertraut wurden ^).
Beide Autoren, Plutarch und Quintilian, befinden sich
in einer ähnlichen Orientierung wie die Humanisten. Beide
wünschten in der eigentlichen Erziehung, in der Bildung
des Willens, einen anderen Weg eingeschlagen als den bis-
her befolgten. Sie verwarfen ganz und gar die Methode
des Prügeins, die in der Blütezeit der antiken Republiken
die wesentliche war^). Auch die Humanisten mußten ja^
im allgemeinen gegen die klösterliche Erziehung gerichtet^
die !in dieser übliche Prügelstrafe, die, wenn nicht die
Seele, doch der Mechanismus der klösterlichen Zucht war,
folgerichtig verwerfen. Während aber Vergerio bloß einen
zu hohen Grad der Strenge verbietet, äußert sich Maffeo
Vegio (Maffeus Vegius), obgleich religiös und kirchlich
gesinnt, unter dem Einflüsse Quintiiians viel bestimmter:
„(die Knaben) sollen nicht mit Schlägen gezüchtigt werden" •),
und begründet dies, wie Quintilian, damit, daß es „Sklaven,
nicht freien Menschen zukomme" (geschlagen zu werden) *).
Wie Quintilian, will er an Stelle der Schläge die Erweckung
des Ehrgeizes setzen^). Daß im Alten Testament so sehr
das Schlagen empfohlen wird , erklärt er aus der in der
Bibel bezeugten Hartnäckigkeit der Juden, hält es aber auch
^) Vgl. Voigt, II, S. 177 f.
-) Vgl. P. Barth in der Vierteljahrsschrift 28. Jahrgang (1904),
S. 829, 414, 420.
•) Vgl. Makpeus Vk(3iu8, De educatione liberorum et eorum daris
moribus libri sex, Paris 1511, I, Kap. 16. Entstanden ist diese Schrift
wohl um 1450.
*) Qnxiii.iAN, inst. or. 1, 3, 13: quia deforme atque servile est (caedi);
Maffei:h Veoiu8: „Servis enim ea, non liberis hominibus conveniunt.'^
^) Vgl. QriN.ii.iAx a. a. O., I, 2, § 22—26; Maffeus Vkoiüb a. a. O.
und II, Kap ö— 10.
Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung. 503
dagegen fiir unwirksam und ermahnt, lieber des heiligen
Panlns Weisungen zur Milde zu befolgen ^). Diese Anleihe
bei QuiNTiLiAN kehrt nun bei allen humanistischen Pädagogen
wieder, bei Francesco Filelfo*), bei Aeneas Sylvius') und
bei Battcsta Guarino dem jüngeren, dem Sohne des großen
praktischen Pädagogen gleichen Namens^).
"Was aber nicht die eigentUche Erziehung, sondern den
Unterricht betrifft, und zwar zunächst den Stoff des Unter-
richts, so waren auch hierin die Humanisten in einer ähn-
lichen Lage wie die hellenistischen Pädagogen. Beiderseits
blickte man auf eine reiche Literatur der Vergangenheit
zurück. Plütarch betrachtet die griechischen Dichter,
Historiker und Redner, Quintilian außer diesen auch die
römischen als die Nahrungsquellen für den jugendlichen
Geist, die das erste und wichtigste Unterrichtsfach, die
„Grammatik"', dem Zögling eröffnen sollte. Und zum großen
Teile dieselben "Werke sind auch für die Humanisten Gegen-
stand der Verehrung, in der sie nun durch Plütarch und
QuiimLiAN bestärkt wurden.
Das zweite Fach der hellenistischen Erziehung war die
Rhetorik. Plütarch gibt die Vorschrift, daß junge Leute
nie aus dem Stegreif reden sollen, eine Vorschrift, die sich
dem Zusammenhange nach nicht bloß auf politische oder
gerichtliche Reden, sondern auch auf den privaten, geselligen
1) A. a. 0. I, Kap. 17.
*) In seinem über Kindererziehung handelnden Briefe an Matthias
Triyianus, den Erzieher des Giangaleazzo Sforza in Mailand. Tgl.
Hartfelder a. a. 0. S. 80.
•) A. a. 0. S. 967. Er benift sich auf Quintiman mit wörtlicher
Anlehnung und auf Plütarch. Übrigens schreibt Aeneas an Ladislaus
Postmnus, Herzos; von Österreich, ^önig von Ungarn und Böhmen,
der, zehn Jahre alt, selbst erzogen wird, so daß es sehr seltsam klingt,
wenn er z. B. sa^ (S. 969): „In bezug auf den Liebesgenuß muß man
mehr einen Janghng als einen Knaben (eben diesen Ladislaus) warnen**,
und dann doch vor diesem Knaben über die Pflichten der Lehrer
sich verbreitet.
*) De ordine docendi et studendi , S. 67 f. Ich zitiere nach der
Ausgabe Jena 1704 mit Vorrede von B. G. Stru>'e. Guarino fOgt noch
hinzu, daß die Furcht vor Schlägen zu Täuschungen verleitet, indem
die Schüler ihre schriftlichen Arbeiten von anderen machen lassen.
504 Paul Barth:
Verkehr bezieht*). Und bei Qüintiuan ist ja die Beredsam-
keit das Ziel der ganzen Erziehung. Auch diesem Ziele
kam die Tendenz der Humanisten entgegen, die ja seit
Petrarca nicht bloß „Dichter **, sondern auch „Redner" von
Beruf sein wollt-en. Seit Vegio wird darum die Vorschrift
Plutarchs wiederholt. Er sagt*): „die Knaben sollen in
Mafi gehalten werden, damit sie sich gewöhnen, weder aus
dem Stegreif noch nach allzulanger Vorbereitung zu reden.
Denn im zweiten Falle droht abergläubische Selbstüber-
schätzung, im ersten leichtsinnige und eitle Geschwätzigkeit,
sowie lächerliche und unbescheidene Verwegenheit zu ent-
stehen." Aeneab Sylvius schreibt an den König Ladislaus
dasselbe'): „Wenn ein Lehrer den Schüler aus dem Steg-
reife reden läfit, so schafil er die Gefahr äufierster Schwatz-
hafbigkeit. Ich will nicht, daß dir als einem Knaben zu
grofie Freiheit des Redens gewährt werde."
Das dritte Fach der hellenistischen, enzyklopädischen
Bildung war die Philosophie. Plütarch verlangt, daß ihr
Studium zur Hauptsache des Unterrichts gemacht werde.
Er vergleicht sie mit dem Kyniker BiON der Königin Penelope,
der Gattin des Odysseus, alle anderen Zweige der Wissen-
schaft bloß den Dienerinnen derselben^). Und QuiNnuAN
hält die Moralphilosophie für einen notwendigen Teil der
Rhetorik, da der Redner ein sittlich guter Mann sein müsse').
Darum wird die Philosophie auch für den humanistischen
Unterricht gefordert. Vegio •) findet in ihr die ,Lehrmeisterin
unseres Lebens'', indem er sich mit Quinulian auf die Moral-
philosophie beschränkt. Dasselbe tut am Schlüsse seiner
^) Vgl. seine Schrift ,,über die Erziehung der Kinder^, Kap. 9.
Das vorangehende Zitat aus Ecbipwes spricht vom „engen, trauten
Freundeskreise'*.
») A. a. O. II, Kap. 18.
•) A. a. O. S. 974.
^) A. a. O. Kap. 10. Von diesem Vergleiche stammt wohl die
bekannte Bezeichnung der Philosophie als „der Königin der Wissen-
schalten
») Vgl. P. Barth im. 28. Jahrgang (1904) der Vierteljahrsachrift,
•) A. a. O. III, Kap. 8. '
Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung. 505
Schrift Aeneas Stlviüs. Guarino*) wünscht ebenfalls mit
Bemfiing auf Qüintilian philosophischen Unterricht. Zuerst
sollen die Zöglinge Ciceros moralphilosophische Schriften
fleißig lesen, dann nicht bloß Aristoteles' Ethik, sondern
auch die „bewährtesten Dialektiker^ , also die Logiker,
„auswendig lernen **, zuletzt Plato, die Quelle Ciceros, gründ*
lieh kennen lernen.
Mit dieser Betonung der Ethik hängt zusammen, daß
überall von den Humanisten die Erlernung von Sentenzen
der Dichter, Historiker und Philosophen als Erziehungs-
mittel gerühmt wird^). Denn solche Sentenzen enthalten
ja immer einen Beitrag zur Lebensweisheit. Aeneas Sylvius
rät, daß der Zögling täglich Verse oder bedeutungsvolle
Sentenzen aus berühmten Autoren dem Gedächtnis ein-
präge*»). GüARiNO wünscht, daß die Schüler aus den Autoren
über jeden der verschiedenen Gegenstände sich Sentenzen
sammeln^). Besonders Terenz und Juvenal sind seiner
Meinung nach dafür sehr ausgiebig. Wer diese beiden be-
reit hat, besitzt die Fähigkeit, über alles schmuckvoll zu
reden iind eine Sentenz beizubringen*).
"Was aber die Methode des Unterrichts betriffii, so ist
besonders Qüintilian bemüht um ein Verfahren, das den
Kindern die Studien angenehm macht. Die gleiche Tendenz
bekennt Filelfo*). Schon das Lesenlemen will Qüintilian
ja vom Spiele unterstützt wissen, indem er den Kindern
elfenbeinerne Buchstaben in die Hand gibt*). Diese Maß-
regel findet sich bei Filelfo wieder"')- Für die spätere
Zeit wünscht Qüintilian, daß der Unterricht, um durch Ab-
wechslung angenehm zu wirken, verschiedene Fächer gleich-
zeitig umfasse. Dieselbe Fordenmg erheben Vegio®) und
') A. a. O. S. 84f.
<) Vgl.'VKoioII, kap. 19. «») A. a. O. S. 975.
«) A. a. 0. S. 87.
*) A. a. 0. S. 82.
') Vgl. Hartfelder, S. 31.
•) Inst. OT. I, 1, § 26.
') Vgl. Hartfelder, S. 30.
») A. a. O. II, Kap. 20.
506 Paul Barth.
Aeneas Sylvius^). Für den Erfolg des Unterrichts hält
QüiNTiLiAN wie Ptütabch das Gedächtnis för wesentlich.
Aber während Plutaroh nur die Mnemotechnik empfiehlt,
also künstliche Gedächtnishilfe, weiß Qüintilian außer dieser
auch die natürlichen Erleichterungen des mechanischen
Lernens und die Vorteile des judiziösen Gedächtnisses an-
zugeben. Die humanistischen Pädagogen wiederholen die
Empfehlung der Übung des Gedächtnisses, sowohl Vkgio*)
als Aeneas Sylvius®) und Guarino*), ohne freilich so weit
wie ihr Meister in Einzelvorschriften einzugehen.
Aus der großen Wichtigkeit, die Qüintiuan dem Ge-
dächtnis beimißt, folgt die Beflirwortung des frühen Anfangs
des Unterrichts. Er sagt: „Verlieren wir also nicht gleich
die erste Zeit! Um so weniger, weil die Elemente der
Bildung nur dxu*ch das Gedächtnis zustande kommen, das
bei den Kleinen nicht bloß vorhanden, sondern sogar in
diesem Alter sehr treu ist und alles sehr festhält.^ Er
verwirft die Ansicht, die erst mit dem siebenten Lebens-
jahre den Unterricht beginnen will. Vielmehr soll schon
die Amme nicht bloß nach pädagogischen, sondern auch
nach didaktischen Bücksichten gewählt werden. Sie soll
nicht bloß sittlich gut sein, sondern auch richtig sprechen*).
Vegio folgt hierin seinem klassischen Gewährsmann nicht,
sondern hält mit den anderen antiken Pädagogen am be-
ginnenden siebenten Lebensjahre ftir den Anfang des Unter-
richts fest *). Aeneas Sylviüs ') hingegen wiederholt Quintilians
Forderung, der sich, wie wir noch sehen werden, auch
spätere Humanisten anschließen.
Durch die große Autorität, die Plütarch und Qüintilian
wegen der Ähnlichkeit ihrer Tendenzen mit den huma-
nistischen erlangten, erklärt es sich auch, daß in dem neuen
») A. a. O. S. 991.
*) A. a. 0. II, Kap. 12.
») A. a. O. S. 975 f.
*) A. a. 0. S. 69.
*) Vgl. QriMiLiAx, Inst, or, I, 1, § 4 f. und § 15—20.
•) A. a. 0. II, 2.
•) A. a. O. S. 972.
Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung. 507
Erziehnngsplane der Humanisten die antike Gymnastik
zurücktritt. Denn diese war ja zu Plütärchs und Quintilians^
Zeit längst nicht mehr lebendig. Bei Plütarch ist noch
ein dürftiger Rest von ihr als freiwiUige Übung übrig, das
Speerwerfen ^) ; Qüintilian erwähnt sie gar nicht. Die huma-
nistischen Pädagogen sprechen darum von Gymnastik nur,
wo es sich um die Erziehung eines Fürsten handelt. So
Aeneas Sylviüs, da er an einen König schreibt. Er will
aber keineswegs die antiken Leibesübungen erneuert wissen,
sondern vielmehr aus dem königlichen Knaben einen Be-
kämpfer der Türken machen und schreibt die Vorbereitung
zu einem solchen Kriege vor, besonders das Bogenschießen •),
Die Gymnastik des klassischen Hellenentums fand erst Be-
achtung, als die humanistische Bewegung in Italien ihren
Höhepunkt längst überschritten hatte. Der venetianische
Arzt HiERONTMUs Mercurialis war es, der in seinen de arte
gymnastica libri sex 1569 eine aus den Quellen geschöpfte
Darstellung des hellenischen Fünfkampfes gab und seine
Wiedereinführung für die Erwachsenen nicht minder als
für die Kinder empfahl*). . Für die Praxis trug sein Buch
in Italien keine Früchte mehr.
Es ist nicht zu bezweifeln, daß die hier entwickelten
pädagogischen und didaktischen Theorien auch bald auf
die pädagogische Praxis einwirkten. Die älteren Genera-
tionen der Humanisten verachteten, wie. wir gesehen haben,
den Betrieb der Wissenschaften, den die Universitäten
pflegten und, nahmen nur selten und vorübergehend ein
Lehramt an einer Hochschule an *). Viel weniger hören wir
in Italien von der Erwiderung dieser Verachtung, da alle
Italiener, auch die Magister der Scholastik, an der antiken
Literatur ein patriotisches Interesse hatten. Darum drang
1) Vgl. a. a. O. Kap. 11.
*) A. a. O. S. 968.
•) Vgl. W. Krampe, Die italienischen Humanisten und ihre Wirksam-
keit für die Wiederbelebung irymnastischer Pädagogik, Breslau 1895,
S. 109 f., 112 f.
*) Vgl. Voior, I, S. 340; II, S. 49—52.
508 Paul Barth:
4
diese gegen Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts
in aUe Universitäten ein») und herrschte in ihnen un-
beschränkt, bis die Jesuiten zur Durchsetzung ihres Pro-
gramms eine Beschränkung bewirkten.
Nicht geringer war die Umwandlung, welche die Mittel-
schulen erfuhren. Viele derselben waren, wie im übrigen
Europa, klösterlich, viele zu einem Dome gehörig, viele
aber, verhältnismäßig mehr als in anderen Ländern, unter
der Leitung der Stadtgemeinden. Diese letzten waren wohl
weniger vom klösterlichen Geiste beherrscht als die anderen
beiden Arten. Und es erhoben sich nun praktische Päda-
gogen, die diesen Geist überhaupt verbannten. So Vittobixo
Rambaldoni von Feltre (1378 — 1446), der in Mantua die
Söhne des Markgrafen zusammen mit anderen Knaben zu
erziehen hatte, auf einer Medaille, die ihm zu Ehren ge-
prägt wurde, „omnis humanitatis pater** genannt'). Der
Name, den seine Schule bei den Bürgern hatte, „Casa
Giocosa, Haus des Frohsinnes", bezeugt den neuen Q^ist,
der hier herrschte'). Der Körper, an den das Kloster nie
dachte, wurde zwar nicht durch- antike Gymnastik, aber
durch Tumspiele ausgebildet*). Die Zucht wurde nicht
durch Schläge, sondern durch freundliche Mahnung gehand -
habt. Von den römischen Prosaikern ließ er Cicero am
meisten lesen, aber auch Livius und Quintilian, von den
römischen Dichtem Vergil, die Elegiker dagegen nicht
wegen der Bedenklichkeit ihrer Stoffe, von den Griechen
Homer und Hesiod, aber auch schon die tragischen Dichter.
Das echt humanistische Auswendiglernen von Sentenzen
oder schönen Stellen der Dichter pflegte er eifrig*). Ognibene
DA LoNiGO wurde sein Nachfolger in der Giocosa •).
ViTTORiNOS Zeit- und Berufsgenosse war Battista Güarixo
aus Verona (1370 — 1460), gleich ihm Schüler des Humanisten
') Z. B. in die Universität zu Rom. Vgl. Bcbckhahdt, I, S. 228.
'') Vgl YoiQT, I, S. 543.
») Vgl. Voigt, I, S. 535 ff. und Burckhardt, I, S. 229 ff.
*) Vgl. Voigt, I, S. 539.
*) Vgl. Voigt, I, S. 541.
•) Vgl. Voior, I, S. 543.
Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Beleuchtung. 509
Giovanni da Ravenna *) , aber des Griechischen kundiger als
ViTTORiNO. Er hatte es — seiner Armut wegen als Diener —
bei Manuel Chrysoloras in Byzanz gelernt, den er tief ver-
ehrte und laut rühmte •). Wie Vittorino in Mantua, hielt
er in Ferrara eine berühmte Schule nach denselben Grund-
sätzen •). Wie sehr er von der mittelalterlichen Methode
abwich, geht daraus hervor, dafi er nach eigenen Kom-
pendien lehrte, in denen alles Überflüssige und Verwirrende
der alten Grammatiken we^elassen war^), auch Chrysoloras'
griechische Grammatik zu einem Schulbuche umarbeitete ^).
Den Schulen Bambaldonis und Guarinos näherten sich
alle städtischen Lateinschulen in Italien in ihrem Lehrplane
und in der Art der Erziehung, bis auch in ihnen die durch
die Jesuiten bewirkte Reaktion sich geltend machte.
Diese ganze humanistische Umwandlung der Erziehung
aber war sozialer Natur. Sie war die Folge einer geistigen
Umwandlung in der Gesellschaft. Denn nicht jede soziale
Veränderung ist ökonomischen oder politischen Ursprungs.
Freilich trug nun ihrerseits wieder die neue Erziehung viel
bei, um die neue Weltanschauung, aus der sie hervor-
gegangen war, in den Gemütern zu befestigen. Die Er-
ziehung ist selten die Mutter, immer aber die unentbehr-
liche Amme eines neuen geistigen Lebens.
») Vgl. Voigt, I, S. 218.
^ Vgl. Voigt, I, S. 281f., 344 f.; II, S. 114.
*) Vgl. Voigt, I, S. 440 f., Bürckhakdt, I, S. 232 ff.
*) VgL Voigt, I, S. 551 ff.; II, S. 376.
») Vgl. Voigt, II, S. 381.
9^^¥^^99^^^¥^9^¥^9¥^^9¥^^^^*^99^W^^^^^^^^^\
I.
Besprechnngen.
Max Sehinz^ Die Moralphilosophie von Tetens.
Leipzig 1906, Teubner. 152 S.
Die Moralphilosophie von Tbtexb, eine Svntheee von Hume und
Leibhiz, hatte zur Zeit ihres Erscheinens nicnt die ihr gebührende
Beachtung gefunden, weil bald darauf die Hauptwerke Kants er-
schienen waren. Verf. will sie daher noch nachträglich zu Ehren
bringen.
Ein großes Verdienst des Teteks besteht darin, daß er bei der
Ausgeetaltung seiner Moralphilosophie die Empfindungen als eine
selbständige Klasse elementarer iBewußtseinsvorKänge unterschied,
während die Engländer bis dahin mit komplexen GFröden, wie Leiden-
schaften und ASekten, operiert hatten. Die Gefühle im heutigen
Sinne nennt er Empfindnisse.
Verf. verbreitet sich in eingehender und zugleich kritischer
Weise zunächst über die Psychologie des Tetkns. Er behandelt: Die
Beproduzibilität der Empfindnisse. Ursprüngliche und abgeleitete
Empfindnisse. Über die rührende Kraft aer jfcSnpfindungen und Vor-
stellungen. Wesen und Beetandteile der Aktion. Die Beproduzibilität
der Aktion. Die Sympathie. Da die hier niedergelegten Gedanken
zur Begründung der nachfolgenden Moralphilosophie von Bedeutung
sind, so sei ihre Lektüre dem Leser empfohlen. Wir beschränken
ims auf den letzten Absdmitt: Die Erfordernisse der freien Handlung.
Zwei Merkmale führt Tetenb als hierzu erforderlich an: erstens die
erößere Unabhängigkeit des tätigen Wesens von äußeren Dingen,
die Selbstbestimmung, Selbstmacht der Seele über sich, zweitens die
Verbindung mit der Vernunft und höheren Denkkraft, wodurch die
Seele befud^ wird, Handlungen zu unterlassen oder auf andere
Weise zu vollbrinffen. Bezüglich des ersten Merkmals werden mehrere
Stufen unterschieden. Tbiünb beschreibt zunächst eine Anzahl Vor-
gänge, welche zur Freiheit nur indirekt in Beziehung stehen, indem
sie oie Seele in den Zustand reger Wirksamkeit versetzen. Die nächst
höhere Stufe bildet die erweckte Selbsttätigkeit. Mit der VorsteUung
des Objekts einer Handlimg verbindet sich ein reproduziertes Lust-
gefühl und erzeugt gewisse Spannungsgefühle. Hierzu tritt dann der
Entschluß als eine aus dem Innern kommende Selbsttätigkeit. Verf.
zeigt, daß Tetens mit dem, was er hier unter Freiheit versteht, nicht
das Bichtiffe getroffen hat. Die dritte Stafe ist die völlige Selbst-
tätigkeit. AnSi was Tetens bei der Behandlung des zweiten Merk-
512 C. M. Gießler:
mala sagt, enthält manches Unzutreffende. Die Größe der Freiheit
und damit auch die Moralität entspricht nach ihm der Summe der
tfttieen Kraft und des Vermögens zum Gegenteil. Diese Summe von
beiden macht die ganze reeue physische Größe der freien Kraft in
dem handelnden Wesen aus. Dies ist die absolute Größe der Freiheit.
Man kann aber auch die relative Größe messen. Diese besteht in dem
Verhältnis der beiden entgegensesetzten Vermögen zueinander. Sie
ist „um so erößer, je ji^ßer das Vermögen zum Gegenteil in Be-
ziehung auf das Vermögen ist, welches sicn wirklich äußert.**
Wenden wir uns mm dem eigentlichen Kern des Buches zu!
Tktbnb unterscheidet absolute und relative Werte. Mit Bücksicht auf
alle Kräfte und Vermögen des Leibes und der Seele besitzt der
Mensch einen inneren absoluten physischen Wert. Soweit diese
Realitäten zu Gegenständen des Gefühls werden, also Güter und
Übel bedeuten, haben sie auch inneren respektiven Wert. Sofern
aber die Bealitäten des Menschen auch für andere Menschen Be-
deutung haben, besitzt der Mensch auch äußeren oder relativen Wert.
Der absolute Wert entspricht dem Selbstzweck der sittlichen Per-
sönlichkeit. Das andere Moralprinzip ist die individuelle und all-
gemeine Glückseligkeit. Tetens hat also zwei moralische Wert-
schätzungen nebeneinander. Die körperlichen Vollkommenheiten sind
keine absoluten Werte für den Menschen, weil sie etwas Zusammen-
gesetztes sind, wohl aber die seelischen Bealitäten: umfassender ent-
wickeltes Gefühls-, Vorstellungs- und Willensleben, von denen das
letztere das bedeutendste ist. Daher das erste Prinzip der Moral:
-Mensch, erhöhe deine Selbstätigkeit!** Darin liegt die Erhöhung der
Menschheit. £s gibt eine niedere and eine höhere Stufe der Tugend :
1. Die Gutartigkeit der Triebe und Begierden, die Bechtschaffenheit
der Gesinnunjg. 2. Die Herrschaft der Seele über sich, das selbständige
Vermögen, die Kräfte, Triebe und Bestrebungen mit innerer Freiheit
zum Ziele zu lenken. Es ist dies das Handeln aus Pflicht. Die erste
Stufe hat einen relativen, die zweite einen absoluten Wert Sofern
auch die erste Stufe erworben, also erkämpft wird, besitzt sie höheren
Wert. Die natürliche Gutmütigkeit ist nur der Körper, nur das
Vehikulum der Tugend. Bosheit ist Schwäche an Selbsttätigkeit.
Die relativen Vollkommenheiten beziehen sich auf einen nachfolgenden
Glückseligkeitszustand. Dies ist bei den absoluten Vollkommenheiten
nicht der Fall. Die Glückseligkeit besteht im Überwiegen der Lust-
fefühle über die Unlustgefünle. Zur passiven Lust muß aktive
ommen , welche aus der Tätigkeit erwäcnst. Für Tbtbms lautet die
Frage: Wie wird die Tätigkeit lustvoll? Vom Naturtrieb kann man
nur mit einer Einschränkung sagen, er gehe auf Glückseligkeit. Denn
er zeigt uns an und für sich noch nicht die richtigen Objekte, weldie
unserer Natur die angenehmsten sind. Tbtens ist der Ansicht, daß,
je mehr der Mensch vervollkommnet ist, er einer desto größeren
Glückseligkeit fähig werde. Tugend entsteht nach ihm in der Weise,
daß die Vorstellungen von dem Effekt der einzelnen sittlichen Hand-
lungen verbunden mit den entsprechenden Lustgefühlen sich nach
rückwärts alle mit derselben Vorstellung assoziieren, nämlich der Vor-
stellung der sittlichen Handlung selbst. An diese Vorstellung als
einen gemeinsamen Mittelpunkt legen sich reproduzierte Lustgefühle
an, indem die Effektvorstellungen wegfallen.
Erfurt. C. M. Giksslui.
Lebenszweck und Weltzweck.. 513
0« Werner, Lebenszweck undWeltzweck oder die
zwei Seinszustände. Leipzig 1907, Haberland. 274S.
Die von uns wahrgenommenen Dinge täuschen uns nicht, sondern
sie offenbaren den Sinnesorganen ihr wirkliches Wesen in einer der
materiellen Beschaffenheit derselben entsprechenden Weise. Für das,
was ein Din^ ist, kommen jedoch nur seine inneren Beziehungen in
Betracht. Die Körper nun werden in ihrer Natur und Erscheinung
stets mitbedingt von einem urkörperlichen Etwas, das als Kraft be-
zeichnet werden kann, und das senr häufig als Wärme sich entpuppt.
Schon Hblmholtz führt den Stoff auf Materien mit unveränderten
Kräften (unvertilgbaren Qualitäten] zurück. Es sind einfache Wesen-
heiten, Dinge für sich. Kräfte also bilden die inneren Beziehungen
des Körpernchen. Im Grunde genommen gibt es nur eine Kraft,
welche in verschiedener Form auftritt. Das Gesetz von der Erhaltung
der Kraft aber gilt nach Verf. nur für tote Körper, woil es sich auf
äufiere Beziehungen erstreckt. Er bemüht sich, dieses Gesetz für
lebende Körper zu entkräften, indem er zu beweisen sucht, daß die
kalorimetrischen Versuche, welche die Frage nach diesem Verlust
zum Gegenstände haben, gar nicht nötig gewesen seien. Nie erhalten
wir völlig und rein die Wärme aus dem, was der Körper empfangen
hat. Verf. spricht daher von einem „Verschwinden der Kraft aus
der Erscheinung'^. Und diese Annahme bildet den Kernpunkt, auf
welchen die nun folgenden philosophischen Auseinandersetzungen ge-
gründet werden.
Nichts kann wirklich verschwinden, sondern sich höchstens um-
wandeln. Für den vorliegenden Fall ist anzunehmen, daß das Sein
aus dem diesseitigen Zustand in den jenseitigen übergeht, daß nämlich
ein Teil dieser Körperwärme zur Basis für bewuste seelische Vor-
gänge wird. Aus der im Diesseits uns anhaftenden Stofflichkeit er-
steht uns ein Hindernis des Schauens, des Verfol^ens der Fäden
unserer Beziehungen ins Üngemessene. Den jenseitigen seelischen
Inhalt erwerben wir uns durch diesseitige Denkarbeit. Im Jenseits
gibt es nur fertige Tatsachen. Wir haben dabei nur die Bolle des
Schauens. Wohl aber wächst der Überblick über das Ganze und die
Vertiefung in das Einzelne. Auch das tierische und pflanzliche Sein
haben Anspruch auf die jenseitige Welt. Jedes Geschöpf schaut dort
nach seiner eigenen „kreatürlichen** Art.
Leben entsteht nicht aus Totem, sondern umgekehrt läßt das
Lebendige Totes zurück. Das Leben bildet eine Kette, deren erster
Ursprung sich dem Blick entzieht. Der Stoff verdichtet, verstofflicht
sich immer mehr und mehr. Das Leben kann also nichts Stoffliches
gewesen sein. Das Kennzeichen des Lebens ist die Bewußtheit. Als
zum ersten Male Bewußtsein auftrat, trat das Sein aus sich heraus,
ohne seine Einheit aufzugeben. Aber das Ziel, welchem das Sein zu-
strebte , war damit noch nicht erreicht. Zur vollen Bewußtheit ge-
hörte nicht bloß das Bewußtsein, daß es sei , sondern auch , was es
sei. Es mußte also der ersten Heraussetzung noch eine zweite folgen.
Von dem eiiisti^en bewußten Sein ist dem stofflichen Sein nur
noch ein Trieb übng geblieben: der Trieb nach absoluter Un-
beschränktheit, der Drang, sich selber alles zu sein. Mit fort-
schreitender Verstofflich ung versiegt die Daseinskraft mehr und
mehr. •—
Obwohl Werner große Belesenheit auf naturwissenschaftlichem
Gebiete zeigt, müssen doch seine Spekulationen mit großer Vorsicht
514 C. M. Gießler:
aufgenommen werden. Der größere Teil des Buches wendet sich
überhaupt an ^das Ahnen eines gläubigen Gemüts". Immerhin dürften
seine PhantasiestQcke über das Jenseits für viele interessant sein.
Erfurt. C. M. Giessi.bitw
Wolfgang SehulZy Studien zur antiken Kultur.
Heft n und HI. Erste Hälfte. Altjonische Mystik.
"Wien und Leipzig 1907, Akademischer Verlag. 355 S.
Ein von wissenschaftlichem Greiste getragenes Werk, welches
sich einem der interessantesten Teile der Philosophie widmet!
Bevor Verf. zur eigentlichen Behandlung seines Gegenstandes
übergeht, macht er sich die Schwierigkeiten klar, welche dem Forscher
hier entgegenstehen. £r findet sie zunächst im fragmentarischen
Zustande des Überlieferten, sodann in der Schwierigkeit, die Lehren
der Philosophie einheitlich zu verbinden, sie aus der Persönlichkeit
des Systembegründers zu entwickeln und auf die Kultur ihrer Zeit
zu beziehen, wobei es auch unerläßlich ist, aus einzelnen überlieferten
Sätzen dominierende Gedanken zu entwickeln. Verf. weist darauf hin,
daß für den Philosophen Methodenlehre und Logik eine nebensäch-
liche Eolle spielen, und daß das Wegefinden die Hauptsache ist. Der
Philosoph muß danach streben, „mit möglichst gemeinverständlichen»
möglichst erweisbaren Sätzen letzte Erlebnisse auszusprechen".
„Philosophie ist der Ausdruck eines Innenlebens von Sätzen, welche
wahr, d. h. erweisbar und deshalb gemeinverständlich sem sollen.*^
Hierin liegt zugleich der Grund, weshalb Philosophie aus sich heraus
Wissenschaft zeitigt: Die Philosophen -schaffen Wissen, um ver-
standen zu werden". Umgekehrt iindet die Wissenschaft durch ihre
Methoden keine „großen Einsichten^, sondern durch Bemerkungen,
welche „im Kopfe des Begnadeten plötzlich ein ganz neues System
auslösten^.
Was nun das vorliegende Thema betrifft, so stimmen nach Yerf .
die Mystiker immer mehr miteinander überein, „je mehr sie sich in
die Abrunde ihrer Gedanken versenken"*. Und es ist die Aufgabe
des Philosophiehistorikers, „in der Einheit, welche die Mystik in sich
schließt, ein orientierendes Prinzip für die Geschichte der antiken
Philosophie wie der Philosophen überhaupt nachzuweisen". „Die
Gesamtneit des von Leben, Lehre und Wirken eines Philosophen
Überlieferten ist noch nicht dessen System". Letzteres ergibt sich
dadurch, „daß die erhaltenen Lehren miteinander organisch verbunden
und als Einheit gegliedert werden".
Nach solchen und anderen wichtigen Vorbemerkungen behandelt
Verf. der Reihe nach die Philosophie von Thales, Axaxulandkr,
Amaximemes, Xenophanes, Alkmaion von £botom und Paemenides. Den
Schluß des Buches bilden Abschnitte über Biographisches, über
Pythagorische Traditionen und über philosophische Systematik.
Erfurt. C. M. GiEasusR.
P. Beck^ Die Ekstase. Ein Beitrag zur Psychologie und
Völkerkunde. Bad Sachsa im Harz 1906, Hermann
Haacke. 255 S. 6 M.
Die Ekstase. 515
Die heutige experimentelle Psychologie ist in der Hauptsache
Seelenchemie; sie faßt das Seelenleben als Verbindungen von Emp-
findungen und Elemexrtargef Uhlen auf, vermag es aber so wenig ver-
ständlich zu machen, so wenig die Biologie den Bau eines Organismus
lediglich durch chemische und physikalische Begriffe würde ver-
ständlich machen können. Diese berücksichtigt vielmehr die gesamten
Lebensverhältnisse und die Entwicklung, erflärt den Bau eines Wal-
fisches aus seinem Leben im Meere bzw. aus einem früheren terre-
strischen Dasein. Das Obiekt der Psychologie hat nun mit der
Biologie weit mehr Yerwanatschaft als mit der Chemie. So kann der
Versuch aussichtsreich erscheinen, die Grundbegriffe der Biologie für
die Psychologie fruchtbar zu machen. Insbesondere muß dem bio-
logischen Begriffe der Lebensverhältnisse der psychologische Begriff
der Gesamtlage des Bewußtseins nachgebildet und der Entwicklungs-
fedanke in umfassendem Maße herangezogen werden. G^samtlage
es Bewußtseins : beim ästhetischen und beim normalen Sehen z. S.
befinden wir uns in verschiedenen Bewußtseinslagen. In der
Konsequenz des Entwicklungsgedankens liegt es, daß die psychische
Gesamtlage verschiedene Stufen durchwandelte. Solcher Stufen sind
drei festzustellen: 1. Unvermögen Ich und Außenwelt zu unter-
scheiden; Instinkthandlungen, deren Subjekt die Art ist; Stufe der
niederen Tiere. 2. Innere Nachahmung; Nachahmungshandlungen,
deren Subjekt die Gemeinschaft ist; gesellige Tiere, Mensch. 3. Gegen-
überstellung von Ich und Außenwelt; Vernunfthandlungen, deren
Subjekt das Ich; der heutige Mensch. Wie die psychische Situation
der Nachahmung uns noch am deutlichsten erkennbar ist aus der
Sprache (Metapher, S. 9, 17) und der Mythologie (sogenannte Per-
Honifikation, S. 6 ff., 17), so ist die Crform des Bewußtseins, die sich
also von der nachahmenden und vernünftigen Seele durch Abwesen-
l^eit aller Vorstellungen unterscheidet, uns bekannt in dem seelischen
Verhalten des Menschen in den Momenten, in denen sein Handeln
dem instinktiven Tun des Tieres gleicht oder doch nahekommt (S. 11).
Solche Zustände sind der Heißhunger, die Wut, die Panik u. a. (S. 19);
in solchen Momenten nehmen wir ein Objekt nicht in gewöhnlicher
Weise als einen zur Außenwelt gehörigen Ge^enstana wahr. Die
Affekte sind nun freilich wohl immer, auch m den höchsten Zu-
ständen der Erregtheit, von Vorstellungen begleitet, sie bieten also-
kein reines Bild des ürbewußtseins, sondern nur ein verwandtes, von
den späteren Bewußtseinslagen affiziertes; ein wirklicher Büokfall
in das Urbewußtsein hingegen ist der ekstatische Zustand. Vergleicht
man die Ekstase mit einem alten meerbedeckten Kontinent, so sind
die Affekte die aus dem Meere der Sitte und Vernunft hervorragenden,
an die Urzeit erinnernden Inseln, die nicht mehr die alten Berg-
spitzen selbst sind, sondern durch das umgebende Meer vielfach ver-
ändert (S. 50).
Auf Grund einer kritischen Betrachtung der Selbstzeugnisse
RiBOTS, Ekkbharts, Anu. Silesius, der Hi.. Thekese u. a. werden folgende
Merkmale der Ekstase festgestellt: 1. Das Ichbewußtsein verschwindet;
2. das Bewußtsein von Baum und Zeit geht verloren; 3. es fehlen
alle Vorstellungen und Begriffe. Letzterer Umstand hat zur Folge,
daß eine adäquate Beschreioun^ der Ekstase ausgeschlossen ist; nur
der philosophisch Gebildete wird sie als Identität von Objekt und
Subjekt bestimmen; andere benutzen je nach Zeitanschauung und
Bildungs^ad die weitverbreitete Unterscheidung einer sinnlichen und
übersinnlichen Welt, bezeichnen sie etwa als Besessenheit durch
Vierteljahrsschrift f. wiseecschaftl. Philo«. u.Souol. XXXII. 4. 33
516 Walther Regler:
ein fremdes Ich statt als einen ichlosen Zustand. Unter den physio-
logischen Begleiterscheinungen weisen besonders die Empfindungen
des Gleichgewichts, des Lichtes und der Hautmuskulatur auf einen
Zusammenhang mit tierischen (marinen) Ahnen hin. — Diese ent-
wicklungsgeschichtliche Erklärung der Ekstase erscheint mir als das
prinzipiell \Vichtieste an Becks Buch. Wenn der menschliche Körper
far nicht verstanden werden kann ohne beständige Bezugnahme auf
ie früheren Stadien der Entwicklung , so wird das bei der mensch-
lichen Seele nicht anders sein. „Nicht nur Knochen und Muskeln,
sondern auch die Beschaffenheit des Blutes und der Nerven ändern
sich im Laufe der Entwicklung. Damit ist es aber auch höchst
wahrscheinlich gemacht, daß die Form des Bewußtseins sich ändert"
(S. 22). Vielleicht geht Bkck dabei zu weit; so wenn er z. B. (S. 258 ff.)
den jüdischen Propheten und Jesus ein Persönlichkeitsbewußtsein
einfach abstreitet. Ob sich die menschliche Seele in ihren elementaren
Fähigkeiten so sehr und so schnell verändert habe, ist doch wohl
fraglich (vgl. P. Barth, Elemente der Ei^iehun^s- und Unterrichts-
lehre, 2. A., 1908, S. 7). Aber vielleicht ergibt sich das aus weiteren
Untersuchungen zur Stammesgeschichte der menschlichen Seele, die
in der Bichtung des BECKSchen Gedankens unternommen werden
müßten (Becks Buch über die Nachahmung ist mir leider nicht bekannt).
Hinsichtlich der BECKSchen Ekstasentheorie selber scheint freilich
noch nicht alles spioichreif. Einmal stehen den vorzüglichen Aus-
führungen Beck» über das Fehlen der Voratellungen bzw. der Außen-
welt im Bewußtsein der Pflanzen und niederen Tiere (S. 12 ff.) die
fegen teiligen Ansichten anderer Forscher, insbesondere Franc £d in
essen sämtlichen Werken und in verschiedenen Aufsätzen in der
Zeitschrift für den Ausbau der Entwicklungslehre gegenüber; den
höheren Tieren schreibt auch Beck Vorstellungen, wenn auch nicht
Erinnerungen zu (S. 201). Aber auch angenommen, der Zustand der
Ekstase und der des Bewußtseins eines niederen Organismus sei
faktisch der gleiche, so ist damit der Rückfallcharakter der Ekstase
2war wahrscheinlich, aber nicht unbedingt erwiesen. Klarer wäre
-die Sache vielleicht geworden, wenn Beck der Kontinuität des Ur-
bewußtseins oder, was dasselbe ist, des ekstatischen Bewußtseins vom
niederen Organismus bis auf den Menschen mehr Aufmerksamkeit
geschenkt hätte.
Aber auch wer aus diesen oder anderen Gründen den prinzipiellen
Erörterungen Beokh seine Zustimmung hat etwa versagen müssen,
wird in den folgenden Kapiteln reiche Belehrung und vielseitige An-
regung finden. Im dritten und vierten Kapitel wird das Verhältnis
der Ekstase zur Religion behandelt und nachzuweisen versucht, daß
das Neue und Wesentliche der höheren Beligionen (Christentum,
Islam, Buddhismus), wodurch sie sich von den bloßen Mytholo^en
und Kultusreligionen unterscheiden, ekstatische Moment« sind.
Religion ist der seelische Zustand, der sich vom gewöhnlichen mensch-
lichen Bewußtsein, das auf dem princi^ium individuationis beruht,
fenerell unterscheidet, indem er Atman ist, die Einheit von Ich und
richtich oder das Gefühl der Abhängigkeit, d. h. der Zustand, in
dem das Ich sich dem Unendlichen ningibt , als Einzeldasein ver-
schwindet, um am Leben des Universums teilzunehmen. Je stärker
also das ekstatische Moment, um so reiner die Religion. Im Christen-
tum ist die Religion mit der Moral eng verwachsen, obwohl die
Moral als soziale Erscheinung mit der Tendenz auf Vervollkommnung
also Selbstbehauptung geradezu in einem gewissen Antagonismus zur
Die Ekstase. 517
Heligion steht. Die geschichtliche Entwicklung des ekstatischen Er-
lebens verläuft nach Beck folgendermaßen. In der altjüdischen
BreUeion ist die Ekstase nur ein Mittel, die göttliche Hilfe herbei-
zuführen, im Prophetismus dient sie der AuswtOil der Individuen, die
den Willen der Gottheit verkündigen sollen. Der Inhalt der Religion
wird erst in den letzten Jahrhunderten vor Christus durch sie be-
einflußt, was sich am deutlichsten kundgibt in der Aufnahme der
Idee der Unsterblichkeit, in der die Tatsache Ausdruck findet, daß
der Fromme Erlebnisse gehabt hat, für die Zeit, Baum, Welt nicht
vorhanden waren; in diese Beihe gehört Jesus, mehr noch Paulus,
„Johannes" und der Gnostizismus, während die in der Welt sich ein-
richtende Kirche das ekstatische Moment auf Dogma und Mönchtum
beschränkte. Der Protestantismus schob in seiner Diesseitigkeit und
Lebensfreude auch dies ab, wie alles ^ was zur Aufhebung des Ich
führt. „Die Kemlieder des Protestantismus könnten auch bei einem
Höhenfest um 900 v. Chr. gesungen worden sein" (S. 188). Für Paulus
war der Glaube: vom Geist erfüllt sein, Erlösung; für Luther: persön-
liches Vertrauen auf den gnädigen Gott, der die Sünden vergibt und
so die „Sicherung des Selbstgefühls vor der Welt" bewirkt. Das
stärkere Hervortreten des ekstatischen bzw. religiösen Erlebens sieht
Beck begründet in dem Zerfall der festgefügten Volksverbände und
im Erstarken des Individualismus (S. 181, 221). Die religiöse Anlage
ist ja als rudimentärer Überrest einer uralten Zeit allen Menschen
femeinsam und also nur durch Vererbung übertragbar, nicht durch
Tachahmung, also in ihrer Entwicklung von äußeren Verhältnissen
abhängig. ^Eine Geschichte der Beligion — Beligion als inneres Er-
lebnis gefaiit — gibt es nicht, ebensowenig wie es eine Geschichte
des Hungers gibt/ sondern nur eine Geschichte der wirtschaftlichen
Verhältmsse und eine Geschichte der begrifflichen Deutungen des
religiösen Erlebnisses (S. 180).
Wichtig wurde das ekstatische Erlebnis für die Entwicklung des
Bealitätsgedankens. Das primitive Denken kennt nicht die Begriffe
^subjektiv objektiv** ; es stent vielmehr ^anz unter der Herrschaft des
Kealitätsbegnffs und unterscheidet so eine greifbare und ungreifbare
(sinnliche und übersinnliche) Welt. Je mehr nun das Innenleben
ekstatisch bestimmt ist. um so mehr nimmt jene übersinnliche Welt
die charakteristischen Eigentümlichkeiten des ekstatischen Seins an,
absolute Einheit und „Ewigkeit*^ (die Eleaten !). In den Ideen des einen,
ewieen Seins liegt auch eine Wurzel des Substanzbe^if f s , der be-
zeicnnenderweise von Xexuphanes bis auf Lkibmiz „religiös'' bestimmt
war. Die neuere Philosophie verzichtete auf den Bealitätsgedanken
und suchte die Welt durch den (Gegensatz Ich — ^Nicht-ich zu erklären.
Durch die hohe Wertung des Ichbewußtseins kam es zur Bildung des
Bewußtseins der „Persönlichkeit" (S. 228, 284 ff). Darunter wird der
einheitliche Zusammenschluß von sj>ielenden Erneuerungen der psy-
chischen Elemente der Vergangenheit verstanden, von ästhetiscnen,
moralischen, religiösen, poetischen Gefühlen, die sämtlich ihre Wurzeln
in der psychischen Situation der Vorfahren haben, jetzt im Kampf ums
Dasein keine ernsthafte praktische Bedeutung mehr haben, und im
Spiele (in der Poesie) ertragen werden, die aber mindestens nicht
fenlen dürfen, wenn nicht das („wirtschaftliche'^) Ich als gemein,
niedrig und roh gelten soll. In der Ekstase kann sich nun (so bei
FrcHTE, S. 224) die Persönlichkeit vollständig zum „reinen Ich" er-
weitem, d. h. auflösen, indem das Ich das Nicht-ich ai^immt. Eine
enge Verbindung zwischen den Ideen Persönlichkeit und Ewigkeit
33*
518 A. Fouillee:
hat dagegen Schleiebuacheb hergestellt. „Jyas Erleben des Ewigen, in
dem die l^ersönlichkeit .aus sicn selbst herauswächst und ihres Zu-
sammenliangs mit dem Universum sich bewußt wird, ist der Höhe-
Sunkt des persönlichen Lebens" (S- 250). Diese Persönlichkeitsreligiou
er Gegenwart übertragen die Theologen „mit staunenswerter Naivität"
in die Vergangenheit, ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß das
Seelenleben der Menschen sich in alter Zeit in ganz anderer Form
vollzogen hat.
Es würde sich wohl lohnen, über verschiedene Punkte in diesen
Kapiteln, etwa über den Beligionsbegriff und über den bedeutsamen
Versuch , das religiöse Gefühl aus der psychischen Beschaffenheit der
menschlichen Ahnen herzuleiten, sich mit dem Verfasser auseinander-
zusetzen. Doch müßte das in breiterer Weise, als hier angängig, ge-
schehen. Den methodologischen Wunsch jedoch will ich nicht unter-
drücken, der Verfasser möchte seine Erörterungen mehr gruppieren,
so daß das, worauf es eigentlich ankommt, stärker hervortrete. Sein
sonst sehr anschaulich geschriebenes, interessantes und wertvolles
Buch würde dadurch noch klarer werden.
Schneeberg i. Erzgeb. Walther Eeolkr.
A. F011III669 Tempörament etCaractere, 3. ed. Paris
1901, F. Alcan. XX und 378 S.
— Les elements sociologiques de la morale,
2. ed. Paris 1905, F. Alcan. XU und 379 S.
— Critique des systemes de morale contempo-
rains, 5. ed. Paris 1907, F. Alcan. XV und 411 S.
Die Bücher A. Pouill^es verdienen eine besondere Beachtung; in
Deutschland, da er sich in vielen Beziehungen den deutschen Denkern
der Vergangenheit und der Gegenwart, besonders Kant und Wukdt,
annähert. 8ie zeichnen sich außerdem alle aus durch lebendige, an-
schauliche Darstellung, der es inmier selingt, die allgemeine Theorie
durch kennzeichnende Tatsachen der allgemeinen Erfahrung und der
Wissenschaft zu stützen und zu illustrieren.
Das erste der oben genan^ten Werke ist älteren Datums, aber
gewissermaßen eine psychologische Einleitung zu Fouill^es ethischen
Schriften.
Über die Klassifikation der Charaktere wird in Frankreich eine
lebhafte Diskussion geführt. Ferez wollte die Charaktere einteilen
nach der Energie der Bewegungen imd unterschied sie darum nach
Schnelligkeit, Langsamkeit und. Eifer (ardeur). Mit Kecht wendet
FouiLLißE ein, daß die Bewegungen nur äußere Zeichen, nicht Wesen
des Charakters sind und em und derselbe IVpus der Bewegungen
sehr verschiedenen Ursprunges sein kann, „inlann man nicht eifrig
und energisch sein in den edelmütigen Leidenschaften wie in denen,
die das abscheuliche Ich zum Zentrum haben? . . . Sind deine Be-
wegungen oder Handlungen rasch, so wirst du unter die Lebhaften
ferechnet, die nach Pkrbz „leichtsinnig^' sind. Aber deine Baschheit
ann zwei sehr verschiedene Ursachen nahen: entweder hast du nicht
nachgedacht, und dann verdienst du den Vorwurf des Leichtsinns;
oder deine Denkfähigkeit ist rasch, du hast geistigen Scharfblick und
Temperament et Caractere. 519
bist darum doch nicht leichtsinnig" (Foüilläe, Temperament usw.,
S. 18 f.). Ähnlich, wie Pkrez, klassifiziert Paulhak aie Charaktere
nicht nach den seelischen Elementen (Trieben, Vorstellungen usw.),
sondern nach ihrem Verhältnisse zueinander. Fouill^e unterscheidet
scharf zwischen Temperament und Charakter. Das Temperament
ist eine biologische Tatsache. Seine Unterschiede beruhen auf dem
Vorwiegen der aufbauenden oder der zersetzenden Prozesse im
Nervensystem. Dem ersten entspricht das sensitive, dem zweiten das
aktive Temperament. Indem er im ersten Typus wiederum das
sanguinische und das nervöse (melancholische), im. zweiten das phleg-
matische oder cholerische Temperament unterscheidet, erneuert er
die altgriechische Lehre, die er durch seine biologische Hypothese
festtUzt zu haben glaubt. — Die Charaktere hingegen klassifiziert
oDiLL^R nach den drei seelischen Elementarphänomenen als Gefühls-,
Gedankens- und Willensmenschen (sen.sitifs, intellectuels et volontaires).
Diese Methode scheint mir berechtigter als jede andere. Denn wie
"\V. WiNDT richtig feststellt, das Temperament ist Af f ektanla^e , der
Charakter Willensanlage, und der Wille ist sehr abhängig vom
Fahlen und vom Denken. Auch zeigt die europäische Literatur drei
einseitige Tjrpen, die ForiLLfeK zur Iliustrierung seiner Klassifikation
hätte heranziehen können, als reinen Gefühlsmenschen Werthek, als
reinen Gedankenmenschen Hamlet, als reinen Willensmenschen, aller-
dings mit sehr schwachem Denken, Dox QrixorK. Nach der all-
femeinen Beleuchtung des Charakters geht Fouill^:e über zur speziellen
ehandlung der Modifikation des Charakters, die durch Geschlecht
und Basse bewirkt wird. Hier findet er überall die starken, mäch-
tigen Züge der Natur, die so oft das Interesse oder das Vorurteil zu
verhüllen sucht. Das Wesen des weiblichen und des männlichen
Turnus findet er schon im Eie und im Samenfaden vorgebildet, indem
sich das Ei ruhig, konservativ, wohlgenährt, der Samenfaden beweg-
lich, strebend, hungrig zeigt.
Für die Zukunft der höheren Rassen betrachtet er ihren sittlichen
Charakter als wesentlichen Faktor.
Der Titel des zweiten Buches, Les elements sociologiques de la
morale, könnte die Erwartung wecken, daß es eine Begründung der
Moral auf die sozialen Beziehungen sein solle. Es handelt aber viel-
mehr von den Schranken der biologischen und der soziologischen
Moral. Die erste, vertreten besonders durch Nietzsche und einige An-
hänger Darwins, sieht in der Moral eine Feindin des Lebens (S. 101),
eine schädliche Milderung des tierischen Daseinskampfes, der allein
zu wohltätiger Auslese und zum Fortschritte führe. Solche Über-
tragung naturgeschichtlicher Prinzipien auf die Menschenwelt ist
nacli ForiLLtE „Simplismus" (simplisme), „das Verderben der wahren
Wissenschaft und der wahren Philosophie" (S. 52). „Wenn die Natur-
forscher sich lieber mit Naturgeschichte beschäftigen wollten, anstatt
abenteuerliche und törichte Ausflüge in das Gebiet der Moral zu
machen, würde jedermann dabei gewinnen*^ (S. 82). Ja sogar in bezug
auf die Tiere ist die Moral der Pseudo-Darwinianer und Nietzsches
falsch. Schon bei den Tieren „verbindet sich mit der elementaren
Gerechtigkeit eine Art instinktiver Wohltätigkeit, die ... bis zur
Hingebung gehen kann. Die Moral der Tiere ist, wie die unsere,
der Aampf gegen den Daseinskampf' (S. 141). Nietszchk ist ein „ent-
fleister Ethifcer" (moraliste devoye). — Zur soziologischen Ethik ge-
ören die Utilitarier und die Fositivisten (Comte und seine Nach-
folger). „Die Utilitarier sind im Unrecht, da sie nur eine einzige der
520 Paul Barth:
austauschenden Beziehungen der Menschen sehen: die des persön-
lichen, wechselseitig gewordenen Interesses, oft auch die gegenseitige
Furcht. Es bestehen, wie wir sezeigt haben, verschiedene und ur-
sprünglichere Beziehungen, die die wahrhaft sozialen sind: Sympathie
und Anziehung des CrleiGhen ffir das Gleiche, Zusammenwirken,
Nachahmung usw." Hier mag Bentham, mag auch mancher An-
hänger Benthaus richtig gezeichnet sein, von J. St. Mill aber kann
man nicht behaupten, San er die Sympathie und die sozialen Triebe
überhaupt als Grundlage der Moral nicht würdige. Sie sind für ihn
gerade die Brücke, die vom Egoismus zum Altruismus führt. Sehr
richtig dagegen und — mit Ausnahme Mills vielleicht — vom ganzen
englischen Utilitarismus (auch von Huu^ gültig ist das, was Foi:iLL£e
in dem dritten oben genannten Buche (S. 25) gegen Spkkcek bemerkt :
„Spencer läfit die (wissenschaftlich begründete) Idee hinter dem Glauben
marschieren, den Glauben hinter dem Gefühl, das Gefühl hinter dem
Triebe, den Trieb hinter der Tatsache der sozialen Anpassung. Die
Idee ist für ihn nur die letzte und abstrakteste Formel der Anpassung
selbst, ihre algebraische Gleichunj^. Mag dies die geschichtliche
Ordnung unserer geistigen und sittlichen Entwicklung sein, wir
leugnen es nicht. Aber Spencers Betrachtung schließt die unsere
keineswegs aus. Durch den Tatbestand einmal hervorgebracht,
modifiziert die Idee den Tatbestand selbst und wird eine wesentliche
Triebfeder, auf ihn zu wirken." Was die positive Ethik betrifft, so
gesteht ihr Fouillee zu, daß jede Moral .zum großen Teile eine an-
gewandte Soziologie ist" (S. 1 ^6). „Aber die Gesellschaft ist nur eine
notwendige Bedin^ng, nicht die (schöpferische) Ursache der Moral"
(S. 249). Es gibt eine selbständige Fortbildung der Reli^on, die auf
die Moral neben anderen Faktoren gestaltend wirkt. Die Soziologen
beschränken ihren Blick zu sehr auf die primitiven Stufen aer
Beligion (S. 260). Und der normative Charakter jeder Ethik wird
von den Soziologen übersehen (S. 261). „Außerdem sind es die
Individuen und Genies, durch deren Tätigkeit die Menschheit fort-
schreitet" (S. 250). ,.Wenn die Moral Funktion der Gesellschaft ist^
so ist sie auch Funktion der Persönlichkeit. Das Individuum kann
sich, im Namen der Moral, gegen die bestehende soziale Ordnung
erheben" (S. 279). Nicht bloß die Soziologie, sondern auch die
Psychologie und die Kosmologie sind für die Grundlegung der Moral
notwendig. Sie muß „aDen Erwerb dieser Wissenschaften in einer
Lehre vom inneren, äußeren und höheren Leben vereinigen" (S. 285).
Dies alles ist zweifellos richtig. Das Individuum strebt immer höher
als die Gesellschaft, und es ist nicht bloß von ihr bestimmt, sondern
auch von der Natur, vom Weltall. Aber zugleich darf man nicht
vergessen, daß jeder sittliche Gedanke erst Erfolg hat, wenn er nicht
individuell bleibt, sondern eine Gemeinschaft zu oeherrschen und da-
durch fest zusammenzuhalten imstande ist.
Das schon erwähnte dritte der oben genannten Bücher Fouill£cs
ist zuerst ähnlichen Inhalts wie das zweite. Es gibt — aber wiederum
von neuen Gesichtspunkten — eine Kritik der Ethik des Evolutio-
nismus (Spencer) und des Positivismus (LtTTRft, Taine), von denen beiden
auch schon im zweiten Buche die Rede war. Er wirft der ersten mit
Recht vor, daß sie zu sehr im Gefühle stecken bleibe, daß sie den
Wert der bewußten, gestaltenden Idee unterschätze. Dem Posi-
tivismus hält Folill£e vor, daß er den Altruismus nicht anders zu
f «bieten vermag, als weil der Altruismus der „spätere (ulterieur) und
er komplexere (plus complexe)" sei, während der englische Evo-
I
Der Evolutionismus der Kraft-Ideen. 521
lutionismus sich mit Erfolg bemüht, den Altruismus aus dem Evo-
lutionismus abzuleiten. Auch die „logische Wahrheit", auf die sich
die Positivisten berufen, obgleich dem bewußten Denken einiger-
maßen zu seinem Hechte verhelfend, ffenügt doch nicht, die sitthche
Handlung zu erklären und zu begründen (S. 53 f.). Außer dem Evo-
lutionismus aber und dem Positivismus behandelt Fouillke sehr ein-
gehend auch den Kritizismus (Kant, RENomaER, Pillon) und weist be-
sonders nach, daß die „Materie« des Wollens, die Kant und seine
Anhänger ausschließen, für das Wollen unentbehrlich ist. Femer
kritisiert er noch die Moral des Pessimismus (Schopbnhauee), des
Spiritualismus (Pail Jaket, Yachebot), des ästhetischen Mystizismus
(Pascal, Maine de Biran, Schelling, Ravaisson), endlich die Moral, die
sich auf Theologie gründet (SECRfiTAN u. a.). Seine eigene Moral
deutet FouiLLfiE am iSide seines zweiten Buches an und stellt ein
System derselben in Aussicht, das auf der „idee-force'' beruhen wird.
Alle drei Bücher Fouill^es verdienen dem deutschen Leser auf
das wärmste empfohlen zu werden. Niemand wird sie ohne reichen
Grewinn aus der Hand legen. Was man vermißt, ist nur die Orts-
angabe der Zitate aus den Autoren, die Foijill£e anführt. Diese
Zitate erscheinen bei ihm fast immer heimatslos.
Leipzig. Paul Barth.
Foaill^e, A«, DerEvolutionismus der Kr af t -Ideen,
Deutsch von Rudolf Eisler (Philosophisch-soziologische
Bücherei, Band III). Leipzig 1908, Dr. W. Klinkhardt.
IX und 394 S.
In diesem Werke faßt Forn.Li^iE seine psychologische Theorie
kürzer zusammen, die er bereit« in einem größeren Werke, „Die
Psychologie der Kraft-Ideen '^i dargestellt hat. Es ist dies eine sehr
voluntaristische Theorie, die derjenigen Wundts sehr ähnlich ist. Das
Urphänomen ist das Streben (französisch: tendance). Es enthält in
sicn drei Elemente: Empfindung, Gefühl, motorische Reaktion. Die
Empfindung kann nie isoliert auftreten, sondern ist immer mit den
anderen beiden Elementen verbunden; ebensowenig erscheinen die
anderen beiden Elemente jemals isoliert. Die Beflexbeweeun^en sind,
wie auch Wundt im Gegensatz zu Spencer lehrt, durch mechanisierende
und automatisierende Wiederholung von Triebbewegungen entstanden.
Aber wenn die Heflexbewegung „unbewußt" genannt wird, so ist
dies ein ungeeigneter Ausdruck, der besser „minimal bewußt" hieße.
Aus der Empfindung wird eine Vorstellung (Idee); da sie selbst Be-
wegung ist, muß sie auch Bewegung erzeugen, sie ist also eine
Kraft. Ein Denken ohne Gefühl und Streben ist eine logische
Fiktion. „Selbst in der einfachsten Vorstellung eines Dreieckes oder
Kreises findet sich eine ideelle Bewegung des Auges oder der Hand,
eine ideelle Zeichnung , eine Reihe von willenserfüllten Tätigkeiten"
(S. 153). Diese Eigenschaft der Idee, eine Kraft zu sein, gibt uns das
Bewußtsein der Freiheit, verbunden mit „der Idee unseres möglichen
Anteils an der universalen Determination" (S. 46). „Die Idee be-
zeichnet also den Punkt, wo der Determinismus sich gegen sich selbst
kehrt , wie die sich in den Schwanz beißende Schlange" (a. a. 0.).
„Die Idee ist das klare Bewußtsein der Kraft und deren Verhältni
522 Paul Barth:
zu den anderen Kräften, sie ist die zugleich intellektuelle und im-
pulsive, höhere Kraft. Sie ist in Wahrheit Kraft-Idee" (S. 394).
Solche Gedanken werden mit allen Vorzügen der SchreibweiBe
FoüiixÄEs des weiteren ausgeführt. Die Übersetzung ist terminologisch
korrekt und fließend. Eisler hat sich durch Einführung dieses zu-
sammenfassenden Werkes von Focili^e ein Verdienst erworben.
Leipzig. Paul Barth.
Baron Cay von Broiikdorff, Dr., Dozent der Philosophie,
Die Geschichte der Philosophie und das
Problem ihrer Begreiflichkeit. Mit einer Tafel
und vielen Figuren im Text sowie einem Schopenhauer-
schen Faksimile. Zweite, stark vermehrte Auflage.
Osterwieck a. Harz und Leipzig, A. W. Zickfeldt. XI und
154 S.
Der Verfasser will eine Gesetzmäßigkeit in der Geschichte der
Philosophie nachweisen. Sie soll nicht eine blofie Folge von Selbst-
erkenntnissen sein, die schließlich bloß Selbstbekenntnisse
werden, sondern eine Folge von Annäherungen an vollständige Er-
kenntnis der Welt und des Menschen (S. 13 f.). Freilich ist die Ent-
wicklung nicht gradlinig, sie verläuft in ^Richtungsgegensätzen*', die
aber so notwendig sind, wie Analyse und Synthese, wie Deduktion
und Induktion. Aoer auch die Individualität des einzelnen Philo-
sophen spielt hinein (S. 19}, freilich nicht willkürlich, sondern nur in-
dem sie eine Seite des Wirklichen mehr hervorhebt. Eine Probe ist
die Philosophie der Griechen bis zur Sophistik. Die Widersprüche
(besser wohl : Gegensätze) in der ersten Entwicklung der griechischen
Philosophie entstanden ,, nicht durch die Differenzierung des philo-
sophischen Gedankens, sondern durch die Umdeutung, die man (je
nach Individualität) den (empirisch vorgefundenen) Differenzen gab"
(S. 24). Der Begriff der Monade erlebt von Plato bis zu Leibxiz eine
beständige Umwandlung, je nach dem Zusammenhange, in den der
Denker ihn zu anderen Begriffen rückt (S. 72 f.). Besonders gelungen
ist im 4, Kapitel („Das Denken des Mittelalters**) eine Übersicht tJber
die Motive des Fortgangs vom Realismus zum Nominalismus. In
der Betrachtung der Philosophie der Neuzeit wird wiederholt Hitoens
als Philosoph gewürdigt.
Zu wünschen wäre vielleicht, daß der Herr Verf. seine Gedanken
straffer, ohne Abschweifungen, fortführte. Doch ist nicht zu ver-
kennen, daß die Abschweifungen vielfach gute Gedanken enthalten.
Bezüglich des Gegensatzes: konträr-kontradiktorisch meint der Verf.,
es lasse sich zu jedem Begriffe ein konträrer Gegensatz finden. Die
bestimmten Quantitäten, für die Aistotkles kein Konträres Gegenteil
finden konnte, und die geometrischen Begriffe seien nicht auszu-
nehmen. Der Verf. sagt (S. 133): „Denke ich also bei der Zahl an
eine Beziehung, eine Operation (5 ist entweder + 5 oder — 5), so kann
ich dem Gedanken an Entgegensetzungen gar nicht ausweichen.**
Das ist gewiß richtig, aber der Gegensatz Hegt dann eben in der
Operation, die der Herr Verf. hinzugedacht hat, nicht in der Zahl an
sich, während rot— gelb auch ohne geistige Operation uns sofort als
Die Q-eschichte der Philosophie und das Problepi ußvr. 523
Gegensätze erscheinen, dagegen etwa rot — Flötenklang nicht konträr,
wie der Herr Verf. zu meinen scheint, sondern disparat sind.
Das Buch ist gut ausgestattet. Es hat außerdem jgeschmack-
Tolle Kopfleisten und Schlußyignetten und ist mit emem Bilde
Galileis geziert.
Es ist nicht für Anfänger geeignet. Wer aber philosophisch
denken kann, wird darin manchen neuen Gesichtspunkt, mannigfache
Belehnmg und Anregung finden.
Leipzig. Faul Barth.
Blermann^ W« Ed., Dr., Privatdozent au der Universität
Leipzig, Die Weltanschauung des Marxismus.
An der materialistischen Geschichtsauffassung und an
der Wertlehre erörtert. Leipzig 1908. Roth & Schunke.
83 S.
Dieses Buch ist hervoreeganeen aus Vorträgen, die Biermann vor
der „Sächsischen Evangelisch-sozialen Vereini^ng'' gehalten hat. Es
behandelt, wie schon auf dem Titel bemerkt ist, die materialistische
Geschichtsauffassung und Marx' Wertlehre. Was die erste betrifft,
80 wird sie von Bibbmann sehr sorjgfältig, mit strenser Anlehnung an
die Aussprüche von Marx und seme Anhänger und an die Erläute-
rungen, die Engels gegeben hat, gewissermaßen aktenmäßig dar-
gestellt. Bezüglich der Kritik ^ibt Bierxann die prinzipiellen Grund-
züge an, in denen sich die Kritik bisher beweet hat und weiter be-
wegen wird. Das zweite Thema, die Wertiehre, wird ebenfalls
eenau dargestellt. Dann wird besonders der Widerspruch behandelt,
der bei Marx obwaltet, indem nach der Theorie des 1. Bandes des
„Kapitals** der Profit der Höhe des variablen Kapitals des Unter-
nehmers proportional sein muß, im 3. Bande aber zubegeben wird,
daß eine durchschnittliche Profitrate in jeder kapitalistischen Gesell-
schaft besteht, die sich aus dem gesamten Kapital ergibt, dem kon-
stanten und dem variablen zusammen, und von der wechselnden
Höhe des variablen Kapitals unabhängig ist. Es ist hier eben die
Konkurrenz der Kapitalisten von Marx nicht berücksichtigt, wie er
bei seiner Wertlehre nur den einen Faktor, die in der Ware ge-
wissermaßen geronnene Arbeitsmenge, nicht aber Angebot und Nach-
frage in Betracht gezogen hat. So bleibt der Wert bei Marx ein
idealer Maßstab, an dem man den Preis der Ware mißt, aber er dient
nicht den Preis zu erklären.
Das Buch bietet keine neuen Forschungen, aber es ist sehr ver-
dienstlich. Es dient vortrefflich zur ersten Einführung in die Fragen
der Geschichtsauffassung und der Wertlehre , besonders auch durch
die sehr reichhaltigen Xiteraturnachweise. Nirgends sonst in der
weitschichtigen nationalökonomischen Literatur wird der Leser auf
engem Baume so viel „Aktenmaterial'' zu den oben genannten Pro-
blemen und so viel Wegweisung zu weiterer Belehrung und zu-
weiterem Denken vereinigt finden wie in diesem Büchlein.
Leipzig. Paul Barth.
Phllosophisehe niii soziologische Zeitselffiften.
ArcliiT für Philosophie, I. Abteilung (Berlin, Beimer).
Bd. 32, Heft I (N. F. XT, 1).
Stilling. J., Über das Problem der Freiheit auf Grund Ton Kanta Kategorienlehre.
Gilbert, O., Aristoteles' Urteile Über die pythagoreiaehe Lehre.
Sohleainger,.M., Die Geschichte des SymbolbegrifliB in der Philosophie.
Haas, A. £., Ästhetische und teleolonsohe Gesichtn>unkte in der antiken Physik.
Br^hier, La th6orie des incorporels dans Tancien stoleisme.
Jahresbericht.
Zeitschrift für Psychologie vBd Physiologie der SinnesoinraBe.
(Leipzig, J. Ambr. Barth.) (I. Abt.: Zeitschrift fOr Psychologie.)
Bd. 48, Heft 5 und 6.
Hellpach, W., UubewnStes oder Wechselwirkung (SchlnS).
Alrutz, S^ Die Funktion der Temperatursinne in warmen BAdem.
de Beer, T. J., Zur gegenseitigen Wortassoziation.
Becher, £.. Energieerhaltnng und psychologische Wechselwirkung.
Lipmann, O., Eine Methode zur Vergleichung von zwei KoUektiTgegensiAnden.
Literaturbericht.
Bd. 48, Heft 1 und 2.
Hennig. R., Beitrtge zur Psychologie des Doppel-Ichs.
Aster, E. ▼., Die psychologische Beobachtung und ez
Ton De||kTorsftngen
cfei
»zperimentelle Untersuchung
Aall, A., Über den MaAstab beim Tiefensehen in Doppelbildern.
Literaturbericht.
Bd. 49, Heft 8 nnd 4.
Aall. A., Über den MaSstab usw. (S. Heft 1 und 2.)
Marbe, K., Über die Verwendung rußender Flammen in der Psychologie und deren
Grenzgebieten.
Eggert. B., Untersuchungen Aber Sprachmelodie.
Sailing, G , Assoziative Massenversuche.
PlaAmann, H., Astronomie und Psychologie.
Lipmann, O., Ein neuer Ezpositionsapparat mit ruckweiser Botation fflr Ge-
dftchtnis- und Lemversuche.
Literaturbericht.
Bd. 49, Heft 5.
Dftrr, E., Über die experimentelle Untersuchung der Denkvorgftnge.
Becher, E.. Über die Sensibilität der inneren (^gane.
Literaturbericht.
Philosophische und soziologische Zeitschriften. 525
Bd. 49, Heft 6.
Oroos, K., Untersuchungen Aber den Aufbau der Systeme.
Heymane, G., und Wiertma, E., Beltrftge zur speziellen Psychologie Auf Grund
einer Massennntersuchung.
Müller, A., Zur Geschichte und Theorie des Telegrammargumentes in der Lehre
Ton der psyohophysisohen Wechselwirkung.
Liters turbenoht.
ArchlT ffir die gesamte Psychologie (Leipzig, Engelmann).
Xin. Bd., Heft 1 und 2.
Warstat, W., Das Tragische. Eine psvchologisch-kritlsche Untersuchung.
Benussi, V., Zur experimentellen Analyse des Zeitvergleichs. II. Erwanungszeit
und subjektive ZeitgrOAe. (Mit 12 Fig.)
Sammelreferate. - Einzelbesprechung. — Referate.
Xm. Bd., Heft 8.
Scheinert, M., Wilhelm Ton Humboldts Spraohphilösophie.
Koch, E., Über die Geschwindigkeit der Augenbewegungen.
W e 1 c k e , Einheit und Einheitlichkeit.
Berichtigung. — Referate.
The PhUosophlcal Review (Macmillan Comp., Lancaster P. A.)-
Toi. XTII, Kr. 5.
Seth, H., The alleged fallaoles in Hill's ^Utilitarianism".
Fite, W., The agent and the observer.
Hollands, E. H., Neo-realism and idealism.
Wright, W. R., Happiness as an ethical postulate.
Reviews of books. — Notioes of new books. — Summaries of artioles. — Notes.
Toi. xyn. Kr. 6.
Bake well, Oh. M., On the meaning of truth.
Oreighton, J. E., The nature and criterion of truth.
Wright, H. W., Self-realization and the criterion of goodness.
Gunningham, G. W., The Hegelian conception of absolute knowledge.
Reviews of books. — Notices of new books. — Summaries of articles. — Notes.
The Psychological Review (Baltimore, Eeview Publishing Co.).
Toi. XT, Kr. 5.
Bawden, H., Studies in aesthetio value, II. The nature of aesthetic emotion.
Meyer, H., The nervous correlate of pleasantness and unpleasantness, II.
Petersen, A., Correlation of certain tracts in normal school students.
Tol. XT, Nr. 6.
Booley, 0. H., A study of the early use of self-words by a child.
Meyer, M., The nervous correlate of attention. I.
Stevens, H. 0., Peouliarities ofperipheral vision.
V Sidis, Boris, and Kalmus, H. T., A study of galvanometric defleotions due to
\ psycho-physiologioal processes. I.
Disoussion.
Mind (London, Williams and Norgate).
New Seriesy Kr. 68.
Taggart, H. B. M. C, The unreality of time.
Bailiie, Professor Laurie*s natural vealism.
Loveday. T., Studies in the histories of British Psychology: I. An early critieism
of Hoboes.
Temple, W., Plato's vision of the ideas.
Piscussions. — Oritical notioes. — New books. — Philosophical periodicals.
526 Philosophische und soziologische Zeitschriften.
The Socioloirical Reriew (London, Sherratt and Hnghee).
Toi. I, Nr. 4.
Sorley, W. S., The problem of decadence.
Frelre-Marreoo, B., Aathoritj^ in unciTilised ■oeietj.
Haokenzie, J. S., B«Mcent eontribution« to tbe ttody of socialism.
6edd«s, Ghelte«, past and possible.
Ratoliffe, S. K., Aapecta of tbe social movement in India.
Disenssions. — Beyiews of books. — Offioial publications. — Periodical literatur«»
Books received. — Notes and notices.
The Psychologlcal Bnlletin (Baltimore, fteview Publishing Co.).
Vol. V, Nr. 8.
Meyer, A., The problem of mental reaction typee, mental causes and ditease«».
Psyohological Ht^rature. — Notes and news.
Tol. y, Nr. 0.
Kahlmann, F^^, The present statns of memory InTestigation.
Baird, J. w.. The problems of color-blindness.
Piychologioal literatnre. — Books recelyed. — Notes and news.
Warren, H. C, Hedonic experienoe and Sensation.
>. — Di8<
Tol. T, Nr. 10.
. in, H. C, Hedonic c
Psyohological literatnre. — Discnssion.
Tol. T, Nr. 11.
Na sei, O., The evolution of the senses.
Baidwin, J. H., Oenetic logic and theory of reality ('*Real logic'').
Psyohological literatnre. — Keports and discussion etc.
The Jonmal of Philosoph/, Psychology and »Sclentlllc Methods.
(New York, Scientific Press.)
Tol. T, Nr. 19.
Thilly, Fr., Friedrich Paulsen.
Farley, J. H., Tyi>es of unity.
Tufts, J. H., Ethical yalue.
Reviews and abstracts of literatnre^ — Journals and new book». —Notes and now4.
Tol. T, Nr. 20.
Bawden, H. H., A new scientific arffument for immortality.
S(»llars, R. W., Critical reallsm ana the time problem.
Reviews and abstracts of literatnre etc.
Tol. T, Nr. 21.
Leighton, J. A., Time, change and time-transcendence.
Nakashima, T., The time or perception as a measure of diiferenoes in sensationn.
Hocieties. — Beyiews etc.
Tol. T, Nr. 22.
(TiWary, R. B. Mc, The Chicago "Idea*- and idealism.
Hollars. R. W., Critical realism and the time problem. II.
ReTiew etc.
Beme Phllosophiqae (Paris, Alcan).
88« ann^e, Nr. 10.
Pieron, H., Les problemes actuels de l'instinct.
Kozlowski, L'önergie potentielle est-elle une reality?
.Sr^hinz, A., Anti-pragmatisme. II. Pragmatisme et Vörit<^.
Ravuc cntique. — Anaiyses et comptes rendus.
/
/
Philosophische und soziologische Zeitschriften. 527
88. ann^, Nr« 11.
Lalo, Gh.. Le nouveau sentimentalisme esth^tique.
Segond. J., La philosophie des valeurs.
Ribot, Th., L'antipathle : ötude psyohologique.
Delaoroix, H., Le III. congrös international de Philosophie.
Analyses et compte« renaus.
88. ann^e, Nr. 12.
Bergson, H., La Souvenir du prösent et la faasse reconnaissance.
Belot, La triple origine de ria<^e de Dieu.
Chi de« La logique de Tanalo^ie.
Pioavet, F.« Thomisme et philosophie mödiöTalefl.
ftlyses et comptes rendus. — Notices bibliograpli
etrangers. — Lirres nouveaus. — Table des matferes.
Analyses et comptes rendus. — Notices bibliographiques. — Revue des p6riodiques
ers. — Lirres nouveaus. — Table des matte
Reyne de PhUosophie (Paris, Chevalier et Rivi^re).
8. annöe, Nr. 9.
Le Roy, Chez les primiüfs afrioains (I).
Beimond, S., L'existence de Dieu d'aprös Dnns Soot. 1.
ChoTet, F.f Les principes de la raison sont-ils röductibles h l'unitö?
Duhem, F., Le mouvement absolu et le mouToment relatif (X).
Cache, P. J., Les deuz aspects de rimmanenoe et le probieme religieuz.
Analyses et comptes rendus. — Fdriodiques. — L'enseignement philosophique.
8. anii^e, Nr. 10.
Fonsegrive, G., Certitude et v^rite. I.
Beimond, S., L'ezistence de Dieu d'aprös Duns Soot (An.).
Peillaube, £., L'organisation de la mömoire. IV. La reproduction des Souvenirs.
Le Boy, Ohez les prmiitifs africains (fln.).
Analyses etc.
8. anii^e, Nr. 11.
Geny, P., Sur la position du probieme de la connaissance.
Dornet de Norges, C.. Comment avons-nous Tid^e d'objet?
Fonsegrive, G., Certitude et v^rite. II.
Duhem, P-, Le mouvement absolu et le mouvement relatif. XI.
Trouche, H., „L'övolution crt^'atrice" de M. Bergson.
Analyses etc.
Reme N^o-Scolastique (Louvain, Institut superieur de philosophie).
15. annöe, Nr. 8.
Piat, Cl., L'ezpörienoe du divin.
Wulf.JI. de, Le mouvement philosophique en Belgique.
<:emelli, A.,«Le fondement biologique de la psychologie (suite et flu.).
M^langea et doouments. — Bulletin de l'Institut de Philosophie. — Comptes rendus.
— Chronique philosophique. — Ouvrages envoy^s ä la Rödaction.
15. ann^e, Nr. 4«
Mansion, P., Gauss contre Kant sur la göomötrie non-euclidienne.
Wulf, M. d€, Le mouvement philosophique en Belgique (suite et fin.).
Hoffmanns, P. Hadelin, La genese des sensations d*aprös Roger Baoon.
Deploige, S., Le conflit de la morale et de la sociologie (suite).
Möfanges et doouments etc.
Rirista FUo8oflca (Pavia, Bizzoni).
Anno X, Toi. XI, Fase. IT.
^«entile, G., U concetto della storia della filosofia.
Lugaro, Evi La base anatomica deir Intuizione.
Suali, L., Ün trattato elementare di fllosofla indiana (oontin. e fine).
Carlo, £. di, II ooncetto della natura ed il principio del diritto.
Xicoli, P. F^ La riforma deUa scuola media.
Vidari, G.. Terzo oongresso filosofico intemazionale.
Rassegna bibliograflca. — Discussioni. Libri ricevuti.
528 Philosophische und soziologische Zeitschriften.
Bl&tter für die gesamten Sozlalwissenschaften (Dresden, Böhmert).
Heft 9.
Betrachtungen eines in Deutschland reisenden Amerikaners Ober die Bibliothekei».
Chronik.
Heft 10.
Hofmann, W., Zur Reform des Yolksbibliothekwesens.
Chronik. — Neue Zeitschriften.
Przeglad Filozoflczny (Warschau).
Rock yi, Zeszjt IT.
Zensteller. L., Les idöes de J. Sluart Hill sur la eausalitö (fin.).
Kodis, J., Pnilosophie de Bergson.
Silberstein, A., L'esthötique ezperimentale oontemporaine (fin).
Revue critique. — Pöriodiques.
Geska Mysl (Prag, Laichter).
Roenik IX, Seslt 6.
Franke, £., Sur Testh^tique de B. Crooe.
Simerka, V\, Sur le rapport du suicide et des maladies mentales.
Svoboda, W^., Sur les argumenta de Zönon d'Elöe.
Blaha, J. A., L'indiridu et la sociötö.
Revue gönörale. — Analyses et comptes rendus. >~ Faits divers.
Proceedingrs of the Arlstotelian Society. New Serieg. Toi. Till
(London, Williams Norgate).
Haidane, B. B., The methods of modern iogic and the conception of inflnity.
Latta, R., Purpose.
Moore, O. E., Professor James* ''Pragmatism*.
Oaldeoott, A., The religious senttment : An inductive enquiry.
Hodgson, Sh. H., The fdea of totalitv.
Carr, H. Wildon, Impressions and ideas. — The problem of idealism.
Nunn, T. Peroy, On the ooncept of epistemoloffical levels.
Hioks, G. Dawes, The relation of subject and object from the point of view of
psychologloal development.
Alexander, J., Ward, J., Read, C, Stout, O. F., a Symposium. The natnre
of mental activity.
Abstracts of minutes of the Prooeedings for the XXIX. Session.
in.
BMographie.
I. Geschichte der Philosophie.
ClomperZ) Tli., Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken
Philosophie. 14. Lfg. (ni. Bd. 2. Lfg.) p. 97—192. — 15. Lfg.
(III. Bd. 3. Lfg. p. 198—288. Leipzig 1908. 8^ 2 M.
Kohut. A«, David Friedrich Strauß als Denker und £rzieher. Leipzig
1908. 80. 240 pp. 8 M. Mit 7 Grav.
Ziegler, Th., David Friedrich Strauß. L Tl. 1808—1889. Straßhurg
1908. 8». XIX, 324 pp. 6 M. Mit Jugendhildnis von Strauß.
Ott, A«, Thomas von Aquin und das Mendikantentura. Freiburg i B.
1908. 8«. VIII, 100 pp. 2,50 M.
ROey, J. W.« American Philosophy; early Schools. New York 1907
8«. 10, 595 pp. 15 M.
Mannheimer 9 A., Geschichichte der Philosophie in übersichtlicher
Darstellung. Von Kant bis zur Gegenwart. I. Zeit des Idealismus.
Von A. Mannheimer. II. Zeit des Positivismus. Von Fr. Mann-
heimer. Frankfurt a. M. 1908. 8^ VIII, 287 pp. 8,50 M.
Pellissier, G., Voltaire philosophe. Paris 1908. 18». 3,50 M.
Dnncan, D., The Life and Letters of Herbert Spencer. London 1908.
8<>. 638 pp. 18 M.
Kowalewsi. A«, Arthur Schopenhauer und seine Weltanschauung.
Halle a. S. 1908. 8«. VII, 237 pp. 4,50 M.
Richter, R«, Der Skeptizismus in der Philosophie und seine Über-
windung. II. Bd. Leipzig 1908. S^. 584 pp. 8,50 M.
Rsewnski, S«, L'optimisme de Schopenhauer. Etüde sur Schopenhauer.
Paris 1908. 16 ^ 2,50 M.
Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte. Herausgegeben
von B. Erdmann. 28.— 80. Heft. Halle a. S. 1908. 5,40 M.
Inhalt: 28. Die philosophischen Lehren in Leibnizens Thöodio4e. YIII, 79 pp.
2 M. — 29. Über Christian Gabriel Fischers yemanftige Gedanken von der Natur.
Von A. Kurz. VII , 55 pp, 1 60 M. — 30. Materie und Organismen bei Leibniz.
Von Hs. L. Roch. VII, &> pp. 1,80 M.
Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Texte und
Untersuchungen. Herausgegeben von Clem. Baeumker, G. v. Hert-
ling und M. Baumgartner. VII. Bd. 1. Heft. Der angebliche ex-
zessive Bealismus des Duns Scotus. Von P. Minges IX, 108 pp.
3,75 M. — VI. Bd. 6. Heft. Pour l'histoire du probl^me de Ta-
530 Bibliographie.
moiir au moyen-äge. Von P. Kousselet. Monster 1908. 8^ VII^
104 pp. 8,50 M.
Bnrckbiurdt, 0« Ed.^ Die Anfänge einer geschichtlichen Fundamen-
tierung der Beligionsphüosophie^ Grundlegende Voruntersuchung
zu einer Darstellung von Merders historischer Auffassung der
ReUgion. Berlin 19C8. 8«. VI, 90 pp. 2,40 M.
Denssen, P«, Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer
Berücksichtigung der Religionen. I. Bd. 3. Abteil. Die nach-
vedische Philosophie der Inder. Nebst einem Anhang über die
Philosophie der Chinesen und Japaner. Leipzig 1908. 8®. XVI,
728 pp. 16 M.
Erbardt. Fr», Die Philosophie des Spinoza im Lichte der Kritik.
Leipzig 1908. 8«. Vm, 502 pp. 9 M.
Kinkel, n«, Geschichte der Philosophie als Einleitung in das System
der Philosophie. 2. Tl. Von Sokrates bis Plato. Gießen '' 1908.
VII, 133 u. is pn. 3,50 M.
PurpvSy W«9 Die Dialektik der Wahrnehmung bei Hegel. Ein Bei-
trag zur Würdigung der Phänomenologie des Geistes. I. Tl.
Schweinfurt 1908. 8^. 41 pp. 1 M.
Ronsgelot, P., Llntellectualisme de St. Thomas. Paris 1908. 8^. 2 M.
^vnttmann, J«, Kant und das Judentum. Leipzig 1908. 8^ 61 pp.
1,50 M.
Studien, Berner,3zur Philosophie und ihrer G-eschichte. Herausgegeben
von L. Stein. LXI Bd. Die Logik Salomon Maimons. Von
L. Gottselig. Bern 1908. 8». 11, 41 pp. 1 M.
Adamson. B., The Development of modern Philosophy. Edited by
W. R. Sorley. London 1908. 8«. 372 pp. 12,50 M.
Y. Hnmboldts, W«, gesammelte Schriften. Herausgegeben von der
königl. preußischen Akademie der Wissenschaften. VII. Bd.
2. Hälfte. Werke. Herausgegeben von Alb. Leitzmann. VII. Bd.
2. Hälfte. Paralipomena. Berlin 1908. 8®. p. 353-678. 7 M.
Schmidt, F. A.^ Friedrich Heinrich Jacobi. Eine Darstellung seiner
Persönlichkeit und seiner Philosophie als Beitrag zu emer Gre-
schichte des modernen Wertproblems. Heidelberg 1908. VIII,
366 pp. 8 M.
Brett, G. S,, The Philosophy of Gassendi. London 1908. 8®. 358 pp.
13,50 M.
Herranz y Establ^s. A., Compendio de historia de la filosofia.
Barcelona 1908. 8<>. 366 pp. 5 M.
Sehneider 9 F. J.^ Die Freimauerei und ihr Einfluß auf die geistige
Kultur in Deutschland am Ende des XVIII. Jahrb. Prag 19^.
80. X, 234 pp. 6 M.
Watsoiiy J«, Tne Philosophy of Kant explained. Glasgow 1908. 8^
528 pp. 13,50 M.
II. Logik und Erkenntnistheorie.
Minsse, A.. Erscheinung und Wirklichkeit. Eine Kritik der reinen
Empfindung. Leipzig 1907. 8^ 464 pp. 6 M.
LeTj, A., Die dritte Dimension. Eine philosophische Erörterung. III,
149 pp. 2 M. (Berner Studien zur Philosophie und ihrer Ge-
schichte. Herausgegeben von L. Stein. LX. Bd. Bern 1908. 8^.)
Baldwill, J« M., Thoughts and Things. Study of the Development
and Meaning of Thought. Vol. fl. London 1908. 8^ 462 pp.
14,20 M.
Bibliographie. 531
Meyerson, E., Identit^ et r^alite. Paris 1908. 8^. 7,50 M.
Honlleyiffne, L., Evolution des sciences. Paris 1908. 18 ^ 5,50 M.
Bonty, £•. La verit^ seien tifique. Sa poursuite. Paris 1908. 18^.
3,50 M.
DwelshaiiTers. G., La synth^e mentale. Paris 1908. 8®. 5 M.
Messer, A«, Empfindung und Denken. Leipzig 1908. YII, 199 pp.
a,80 M.
Beinholdy F«, Machs Erkenntnistheorie. Darstellung und Kritik.
Leipzig 1908. 8^ 215 pp. 3 M.
Wodehonse, H*. The Logic of Will. A Study in Analogy. London
1908. 8^. 178 pp. 4,75 M.
Tillalba ^ J., Elementos de logistica (Marcha, reposo, exploraciön,
segundad) Con ejemplares präcticas. Toledo 1908. 8^. 302 pp.
y 4 planes. 14 M.
ill. Allgemeine Philosophie und Metaphysik.
Ewald, 0.^ Kants kritischer Idealismus als Grundlage von Erkenntnis-
theorie und Ethik. Berlin 1908. 8®. IX, .314 pp. 10 M.
Brockdorffy €• t«, Die wissenschaftliche Selhsterkenntnis. Braun-
schweig 1908. 8«. XV, 216 pp. 4 M.
Marlano, B», Dairidealismo nuovo a quello di Hegel: motivi, riso-
nanze e variazioni sulle dottrine hegeliane. Firenze 1908. 16®.
460 pp. 5 M.
de Molinarl, G., Theorie de l'evolution. Paris 1908. 18 ^ 3,50 M.
Mflnsterberg , Hg«, Philosophie der Werte. Grundzüge einer Welt-
anschauung. Leipzig 19(fe. 8^ VIII, 486 pp. 10 M.
Boatroiix. £•• Science et religion dans la philosophio contemporaine.
Paris 1908. 18«. 3,50 M.
Le Dantec, F», Science et conscience. Paris 1908. 18 ^ 3,50 M.
Bax, £• B., The Roots of Reality: Being Suggestions for a philo-
sophical Reconstruction. New York 1908. 8^. 11, 831 pp, 12 M.
Kaadken, Jac, Livsfilosofi. Kjohenhavn 1908. 8^ 192 pp. 5,25 M.
Lasswitz, Kurd., Seelen und Ziele. Beiträge zum Weltverständnis,
Leipzig 1908. 8^ XI, 320 pp. 5 M.
Malapert^, P., Le^ons de phiiosophie. IL Morale, logique, m6ta-
physique. Paris 1908. 8^ 594 pp. i, 1907. 4,50 M. 5 M.
Berthelot, B., Evolutionnisme et platonisme. Paris 1908. 8^ 5 M.
Blewett, ©• J., The Study of Nature and the Vision of God and
other Essays in Philosophy. London 1908. 8^ 13,50 M.
Gomperz, H«, vVeltanschauungslehre. Ein Versuch, die Hauptprohleme
der allgemeinen theoretischen Philosophie geschichtlich zu ent-
wickeln und sachlich zu hearheiten. IL Bd. Noologie. 1. Hälfte.
Einleitung und Semasiologie. Jena 1908. 8®. VlII, 297 pp. 10 M.
T. Hartmann'g, £d«, System der Philosophie im Grundriß. IV. Bd.
Grundriß der Metaphysik. Sachsa 1908. 8^ VIII, 148 pp. S. Nr. «4.
5,50 M.
Lamlne, J.« La phiiosophie de Tinconnaissahle. La theorie de Tevo-
lution. Etüde critique sur les „Premiers principes" de H. Spencer.
Bruxelles 1908. 8«. 488 pp. 5 M.
Braun. O.« Hinauf zum Idealismus! Schelling-Studien. Leipzig 1908.
8^ X, 154 pp. 2,50 M.
Eucken, Bdf«. Einführung in eine Philosophie des Geisteslehens.
Leipzig 1908. 8^ VII, 197 pp. 3,80 M.
Vierteljahrasohrift f. wisBensohafÜ. Philos. u. Sozio]. XXXII. 4. 34
532 Bibliographie.
Be}> A», Les sciences philosophiques. Leur ^tat actaeL Paris 1908.
»®. 1042 _pp. 9 M.
Carn», P.« The Philosopher's Martyrdom. London 1908. 8^ 6 M.
Nyssens, E.« Essai de philosophie pr^oise. Bruxelles 1908. 8^ XIX,
850 pp. 6 M.
BUhars, AIf*.Neue Denklehre. (Der Metaphysik als Lehre vom Vor-
bewußten In. Bd ) Wiesbaden 1908. 8^. X, 157 pp. Mit 18 Ab-
bildgn. 4 M.
Hftberlui. P., Herbert Spencers Grundlagen der Philosophie. Leipzie
1908. 8». V, 205 pp. 5,40 M.
Key, A«, La philosopnie moderne. Paris 1907. 18 ^ 3,50 M.
IV. Psychologie und Sprachwissenschaft.
T* Hartmann's, Bd.^ System der Philosophie im Grundriß. UE. Bd.
Grundriß der Psychologie. Sachsa 1908. 8«. VIII, 179 pp. 6 M.
ReibmaTr, Alb., Die Entwicklungsgeschichte des Talentes und Genies.
I. Bd. Die Züchtung des individuellen Talentes imd (Genies in
Familien und Kasten. Manchen 1908. 8<>. 517 pp. Mit 3 Karten.
10 M. Soll in 2 Bdn. erAcheinen.
Ricerche di psicologia. Vol. I e ü. Reale Istituto di studi superiori
di Firenze: laboratorio di psicologia sperimentale, diretto daF.de
Sarlo. Firenze 1905/7. 8*». 245, 148 pp. 14 M.
Boirac, E., La psjchologie inconnue. Paris 1908. 8^. 5 M.
Erdmann, B«, Wissenschaftliche Hypothesen Aber Leib und Seele.
Köln 1908. S\ Ylh 294 pp. 4 M.
Hartenberg, P«, Physionomie et caract^e. Paris 1908. 8^ Avec
38 flg. 5 M.
Morse. Jos«, The Psychology and Neurology of Fear. New York
1907. 8^ 6, 166 pp. 6 M.
Ebbinghang. Hm«, Abriß der Psychologie. Leipzig 1908. 8®. IV,
196 pp. Mit 17 Fig. 3 M.
Maier, H«, Psychologie des emotionalen Denkens. Tübingen 1908.
8<^. XXVI, 826 pp. 18 M.
jEur Strassen, 0., Die neuere Tierpsychologie. Leipzig 1908. 8^
78 pp. 2 M.
Beers, Cl. W., The Mind that f ound itself : an Autobiography. London
19(fe. 8«. 10,15 M.
Bowne, B, P., Personalism. Boston 1908. 8«. 9, 326 pp. 9 M.
Morselii, E., Psicologia e spiritismo. 2. vol. Torino 1908. 16^
1116 pp. 15 M.
Bäamer, 0., und L. Droescher, Von der Kindesseele. Beiträge zur
Kinderpsychologie aus Dichtung und Biographie. Leipzig 1908.
8«. Vni; 429 pp. 6 M.
Orenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Begründet von L. Loewen-
feld und H. Kurella. Herausgegeben von L. Loewenfeld. 58. Heft.
Landläufige Irrtümer in der Beurteilung von Geisteskranken. Von
Osw. Bu^e. Wiesbaden 1908. 8*». WJ pp. s. Kr. 915. 2 M.
Kronthal, P., Nerven und Seele. Jena 1908. 8®. III, 431 pp. Mit
13 Fig. 10 M.
Schldss, H« Propädeutik der Psychiatrie für Theologen und Päda-
gogen. Mit Vorwort von H. Swoboda. Wien 1908. 8®. VIII,
125 pp. 3 M. , ^
Fachs, Wt., Frohsymptome bei Geisteskrankheiten. Vererbung. Ent-
artung. Übermenschen und Untermenschen. Antisozialität. Selbst-
Bibliographie. 533
mord. Verblödung. Ein 'Beitrag zur Persönlichkeitsforschiing.
Eberswalde 1908. 8«. 37 pp. 1,50 M.
HerbertZ) Reh«, Bewußtsein und Unbewußtes. Untersuchung über
eine Grenzfrage der Psychologie, mit historischer Einleitung. Köln
1908. 8®. 289 pn. 3,20 M.
Menmami. E«, Intelligenz und Wille. Leipzig 1908. 8®. YII, 293 pp.
3,80 M.
Boncher, J., Psychologie. Paris 1908. 120. 700 pp. 5 M.
Marty, Ant., Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen
Grammatik und Sprachphilosophie. I. Bd. Halle 1908. 8®. XXXII,
764 pp. 20 M.
Morgelli) £*9 Psicolo^a e spiritismo: Impressioni e note critiche sui
fenomeni medianici di Eusapia Paladino. 2 vols. Torino 1908. 8®.
464 e 586 pp. 15 M.
Yecchietti, £•, L'infinito: Sag|
Roma-Milano 1908. 8^ XV,
;gio di psicologia della matematica.
, 181 pp. 4 M.
Kllnike 9 F« , Der Mensch. Darstellung und Kritik des anthropo-
logischen Problems in der Philosopnie Wilhelm Wundts. Graz
1908. 8^ VIII, 274 pp. 2,90 M.
^^adastiny. Fr«. Untermenschen. Das ius talionis im Lichte der
Kriminalpsychologie. Leipzig 1908. 8^. IX, 191 pp. 6 M.
Jo€l, K., Der freie Wille. München 1908. 8^ XX, 724 pp. 10 M.
Studien, psychologische. Herausgegeben von W. Wnnd^ IV. Bd.,
8. Heft. ' Neue Folge der philosophischen Studien. ^Ceipzig 1908.
8«. 4 M.
V. Ethik und Rechtsphilosophie.
Bayet, A,, L'idee de bien. Paris 1908. 8®. 3,75 M.
Walter t. Walthoffen ^ H«, Lebensphilosophie und Lebeuskuust.
Populärwissenschaftliche Betrachtungen und praktische Anleitungen
für die gebildete Lesewelt. Wien 1907. 8^ VlII, 256 pp. 8,50 M.
Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Begründet von L. Loewen-
feld und H Kurella. Herausgegeben von L. Loewenfeld. 54. und
56. Heft. Wiesbaden 1908. 8«. 5,20 M.
Inhalt: M. Der Lärm. Em« Kampfschrift gegen die Qeräusohe unsere»
Lebens. Von Thdr. Leasing. V, 94 pp. 2,40 M. — 56. Sexiialethik. Ton Ch. von
Ehrenfels. IV, 99 i)p. 2,80 M.
Lacassagne. A., Peine de mort et criminalitä. Paris 1908. 18 ^ 190 pp.
Avec 4 illustr. et 5graph. 2,50 M.
Kallmeyer, £•, In Harmonie mit den Naturgesetzen. Die echte
Geistes- und Körperpflege. Erdsegen 1908. 8^. XI, 274 pp. Mit
Abbüdgn. u. 1 Taf. 5 M.
Oaede, U«9 Schiller und Nietzsche als Verkünder der tragischen
Kultur. Berlin 1908. 8«. 186 pp. 3,50 M.
Hook. A.« Humanity and its Proolems. London 1908. 8^ 820 pp.
6,7^ M. ■
dn RoQssaox. L., Ethique. Bruxelles 1908. 8^. XII, 809 pp. 4 M.
Boyce, J., The Philosophy of Loyalty. London 1908. 8«. 8,80 M.
Croet, J«. La vie du droit et Timpuissance des lois. Paris 1908. 18 ^
3,50 M.
Elirhardt. E«. La crise actuelle de la Philosophie du droit. Paris
1908. 8«. 182 pjp. 5 M.
Becher, Er«, Die Grundlage der Ethik. Versuch einer Begründung
des Prinzips der größten allgemeinen Gltlckseligkeitsförderung.
Köln 1908. 8«. VII, 217 pp. 3,50 M.
34*
534 Bibliographie.
Orobowsky, Adf«, Recht und Staat Ein Versuch zur allgemeinen
Rechte- und Staatslehre. Berlin 1908. S^, III, 95 pp. 2 M.
Arnold. Osk*. Philosophische Betrachtungen eines Juristen. Halle
1908. 8«. 119 p. 2,50 M.
T« Hurtmann'g 9 Ea», System der Philosophie im Grundriß. V. Bd.
Gnmdriß der Axiologie oder Wertwägungslehre. Sachsa 1908. 8 ^.
XI, 200 p. 6,50 M.
Yidaii, G*9 rindividuaUsmo nelle dottrine morali del secolo XIX.
Müano 1909. 16». XI, 400 pp.
del Yeceliio. G«9 H concetto deila natura ed 11 principio del diritto.
Torino 1908. 8^ 176 pp. 5 M.
VI. Ästhetik.
Hamann, Reh«, Der Impressionismus in Leben und Kunst. Köln 1907.
8®. 320 pp. Mit 16 Abbildgn. und zahlreichen Notenbeispielen.
7,50 M.
MSbins, K., Ästhetik der Tierwelt. Jena 1908. 8®. V, 128 pp. Mit
195 Abbildgn. und 3 (2 färb.) Taf. 6 M.
Lalo. Ch«. Esquisse d'une esth^tique musicale scientifique. Paris 1908.
8^ 5 M.
Lalo. Ch«, Testhetique experimentale contemporaine. Paris 1908. 8^.
3,75 M.
Dubnfe, G«, t. La valeur de Tart. Paris 1907. 18®. 8,50 M.
T. Franf^ois, Knrt, Aesthetik. I. Tl. Aesthetische Psychologie. I. Der
Fuiürtionszweck und die allgemeine Form der Ästhetischen Auf-
fassungsweise. Gr.-Lichterfelde 1908. 8®. 103 pp. 2 M.
Allen, G., Evolution in Italian Art. London 1908. 8<>. 372 pp.
14,20 M.
VII. Philosophie der Gesellschaft und der Geschichte.
Studien, Bemer, zur Philosophie \md ihrer Geschichte. Heraus-
gegeben von L. Stein. LIX u. LX. Bd. Bern 1908. 8«. 3 M.
Inhalt: LIX. Über den Ursprung der Zadniga. Eine soziologische Unter-
suchung. Von A. Stanisohitsch. 77 pp. 1 M.
Adaiii9P«.Leslmperiali3niesetlamoralede8peuples. Paris 1908. 3,50 M.
Dowd. J.« The Negro Races. A sociological Study. Vol. I. New
York 1907. 8^ 13, 493 pp. 15 M.
Jacobj. Wth., Der Streit um den Kapitalsbegriff. Jena 1908. 8^
V, 117 pp. 3 M.
Mallock. W* H«9 A critical Examination of Socialism. London 1908.
8». 326 pp. 7,20 M.
Kidd) D«9 Kafir Socialism and the Dawn of Individualism : an Intro-
duction to the Study of the native Problem. London 1908. 8^.
300 pp. 10,15 M.
de Robertj, E., Sociologie de Faction. Paris 1908. 8^ 7,50 M.
Eleatheropnlos, A«, Bechtsphilosophie, Soziologie und Politik. Zwei
Abhandlungen. Innsbruck 1908. 8^ 44 pp. 1,50 M.
Tierkandt, Alfr., Die Stetigkeit im Kulfcurwandel. Leipzig 1908. 8^
XIV, 2Ö9 pp. 5 M.
Bibliographie. 535
AbnuB, P«, Evolution du manage. Paris 1908. 18<^. 3,50 M.
Lee. y«9 Gospels of Anarchy and other contemporary Studies. London
1908. 8«. 872 pp. 14,20 M.
THgaii-Baranowsk7, Mch«, Der moderne Sozialismus in seiner ge-
schichtlichen Entwicklung. Dresden 1908. 8«. IV, 197 pp. 4M.
Picard. B«. La philosophie sociale de Renouvier. Paris 1908. 8^.
344 pp. 7,50 m:
Bofg, £• A«, Social Psychology. London 1908. 8<>. 8,80 M.
SinuneL 0*9 Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Ver-
gesellschaftung. Leipzig 1908. 8«. VIII, 782 pp.
Orenzinger, P«, Die Probleme des Krieges. II. Tl. Das Problem der
Strategie. 11. Bd. Friedrichs Strategie im 7 jährigen Kriege.
Leipzig 1908. 8«. XII, 246 pp. Mit 8 Schlachtenskizzen. 8,60 M.
Kretser, Eng«. Imperialismus und Homantik. Kritische Studie über
Emest Seilliöres Philosophie des Imperialismus. Berlin 1909. 8^.
80 pp. 2 M.
T* Bezold, Fr«, Gothein, E«, und Koser, R«, Staat und Gesellschaft
der neueren Zeit (bis zur französischen Revolution. [Aus : „Kultur
der Gegenwart."! Leipzig 1908. 8«. VI, 349 pp. 9 M.
Bre^sig, £iirt, Wolters, F., Tallentin, B. und Andreae, F., Grund-
risse und Bausteine zur Staats- und Geschichtslehre. Berlin 1908.
8®. VI, 222 pp. 4,50 M.
Bngnit, L., Le droit social. Le droit individuel et la transformation
de TEtat. Paris 1908. 16 ^ 2,50 M.
Beyer, E«, Kraft, ökonomische, technische und kulturgeschichtliche
Studien über die Machtentfaltung der Staaten. Leipzig 1908. 8^.
XVI, 380 pp. Mit 257 Fig. 6 M.
Stasinle witsch, M. M., Die Philosophie der Geschichte in ihren haupt-
sächlichsten Systemen. St. Petersburg 1908. 8®. II, 335, Vm pp.
6 M.
Talamo, S« , TL concetto della schiavitü da Aristotele ai dottori sco-
lastici. Roma 1908. 8». VII, 252 pp. 6 M.
Hohoff, W«, Die Bedeutung der Marzschen Kapitalkritik. Paderborn
1908. 8^ 339 PI). 4,50 M.
Posada, A., Principos de sociologia. Introducciön. Madrid 1908.
8«. 486 pp. 11 M.
VIII. Reli^onsphilosophie und Theosophie.
Briilin, W., Theosophie und Theologie. Glückstadt 1907. 8®. VII,
202 pp. 3 M.
Bois, H«, La valeur de Texperience religieuse. Paris 1908. 12 ^
2,50 M.
Holhnanii, F. Sargent, The Sphere of Eeligion: A Consideration of
its Nature and of its Influence upon the Progress of Civilization.
New York 1908. 8». 8, :^94 pp. 10,50 M.
Oesterley, W* 0. E«, The Evolution of the messianic Idea: a Study
in comparative ßeligions. London 1908. 8®. 4,75 M.
Baymond, G. L«, The Psychology of Inspiration: An Att«mpt to
distinguish religions from scientific Truth and to harmonize
Chrifltianity with modern Thought. New York 1908. 8®. 19,
840 pp. 8,40 M.
Kappsteui, Thdr., Psychologie der Frömmigkeit. Studien und Bilder.
Leipzig 1908. 8^ VIII, ^42 pp. 4,50 M:
53<> Bibliographie.
Mitchell. H« B«. Talks on Religion: a coUective Enqniry. London
1908. 8«. 8 M.
Schreiber^ H., Die religiöse Erziehung des Menschen im Lichte seiner
religiösen Entwicklung. Leipzig 1908. 8^ XU, 244 pp. 3 M.
Gelles« Sgfr*^ Die nantheistischen G^edanken in Leibniz' ^Üieodizee''
und Scnleiermachers „Beden Aber die Religion*'. Berlin 1908. 8^
44 pp. 2 M.
Oetker, K«, Die Seelenwunden des Kulturmenschen vom Standpunkte
modemer Psychologie und Nervenhygiene. Gedanken zu einer
wissenschaftlichen Religion. Waldshut 190a 8\ 214 pp.
Classen, J*« Vorlesungen über moderne Naturphilosophen (Du Bois-
Reymond, F. A.. Lange, Haeckel, Ostwald, Mach, Helmholtz, Boltz-
mann, Poincar^ und Kant). Hamburg 1908. 8^ VII, 180 pp,
3,50 M.
IX. Naturphilosophie.
T« Schnellen^ W«, Energetische Weltanschauung. Eine kritische
Studie, mit besonderer ROckaicht auf W. Ostwalds Naturphilo-
sophie. Leipzig 1908. 8®. VH, 141 pp. 3 M.
ProcnnoWf Osk., I)ie Lautapparate der Insekten. Ein Beitrag zur
Zoophysik und Deszendenz-Theorie. Guben und Berlin 1907. 8^.
178 pp. 5 M.
Harris. D« F«. The functional Inertia of living Matter. London 1908.
S^ 6,75 M.
Paalin, G.^ No Struggle for Existence, no Natural Selection. A critical
Examination of the Fundamental Principles of the Darwinian
Theory. Edinburgh. 1908. 8<>. 284 pp. 6,75 M.
Scheiner« J«« Populäre Astrophysik. Leipzig 1908. 8^. VI, 718 pp.
Mit 210 Fig. u. 30 Taf. 12 Hi.
Steiner^ Mx., Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen. Beiträge
zu emem systematischen Ausbau des Naturalismus. Berlin 19<^
8 «. VII. 244 pp. 3 M.
Walther, Johs«, Geschichte der Erde und des Lebens. Leipzig 1908.
8^ IV, 571 pp. Mit 353 Abbüdgn. 14 M.
Driesch. H.. The Science and Philosophy of the Organism. London
1909. 8^ 344 pp. 14,20 M.
Steinmaim 9 Gst«. Die geologischen Grundlagen der Abstammungs-
lehre. Leipzig 1908. 8«. IX, 284 pp. Mit 172 Fig. 7 M.
Lodge. O«. Leoen und Materie. Haeckels Welträtsel kritisiert. Berlin
1908. 8^ XI, 150pp. 2,40 M.
Schomaker, E« E«, The new Era in Natural Philosophy. Killertr
Wis. 1908. 12«. 7, 267 pp. 5 M.
Gntberlet« Kst«, Der Kosmos. Sein Ursprung \ind seine Entwick-
lung. Paderborn 1908. 8«. VH, 625 pp. 10 M.
Mlnot, €• S«« The Problem of Age, Growth and Death. New York
1908. 8«. 22, 280 pp. With niustr. 15 M.
X. Allgemeine PAdagoglk.
de Domlnicis, S.^ La scienza comparata dell'educazione. Parte L
Sociologia pedagogica. Torino 1908. 8*^. 660 pp. 15 M.
Dnbols, F., L*!Education de soi-mdme. Paris 1908. 8^ 265 pp. 4 M.
Hiiey^ The Psychology and Pedagogy of Reading. London 1907.
8 • 8 M.
Bibliographie. 537
Jinszyiiski, Fr.y Die Temperamente. Ihre psychologisch begründete
Erkenntnis und pädagogische Behandlung. Paoerbom 1907. 8^.
XII, 274 pjp. 4,60 M.
KynnersleT) £• M. S*^ H. M. I.: Some Passages in the Life of one
of H. M. Inspectors of Schools. London 1908. 8^ 366 pp. 10,50 M.
Yaudewalker. N. €•• The Kindergarten in American Education.
New York 1908. S«. 18, 274 pp. 7,50 M.
JFaqnez-Dalcroze« Methode. I. Teil. Rhythmische Gymnastik. I. Bd.
Neuch&tel 1908. 8^ XHI, 298 pp. Mit Fig. 10 M.
IVefff K«« Das pädagogische Seminar. Einführung der Kandidaten
der Pnilologie in die pädagogische Praxis. Mflnchen 1908. 8^
XIV, 296 pp. 6 M.
JFÖrgeg, Bdf«9 Psychologische Erörterungen zur Begründung eines
wissenschaftlichen Unterrichtsverfahrens. Leipzig 1908. ö". XI,
144 pp. 3,80 M.
Kohlransch. Oh« G«, Deutsches Turnen. Vorträge und Lehrpläne.
I. Bd. Magdeburg 1908. 8^ XI, 582 pp. Mit Abbildungen.
12 M.
Tleshman, A. O«^ The educational Process. Philadelphia 1908. 8^
7, 386 pp. 6,25 M.
Pfttsold. W., Geschichte des Volksschulwesens im Königreich Sachsen.
Frankfurt a. M. 1908. 8 <>. VI, 232 pp. 2,80 M.
Radier • M« £• • Moral Instruction and Training in Schools. 2 vols.
London 1908. 8». 596, 406 pp. 13,50 M.
Altenburg
Fienrsohe Hof buohdmckerei
Stephan G«ibel & Co.
-^
XXXn. Jahrgang.
<Nene Folge VII.)
IT. HefL
»-•>•»
Vierteljahrssehrift ^^^ ^
für
wissenschaftliche
PbilosopMe und Soziologie
gegründet von
Richard Avenarius,
in Verbindung mit
Friedrich Jod! und Alois Rieh!
herausgegeben
von
Paul Barth.
Inhalt:
Rieh. IIQIIer-Frelenf6l8 : Die Be-
deutung des Ästhetischen für die
Ethik.
KunO MittenZWey : Der in. inter-
nationale Philosophenkongreß.
Paul Barth: Die Geschichte der
Erziehung in soziologischer Be-
leuchtung. VII.
Besprechungen über «Sühriftenvon:
]\lax Schiti::, Die Moralphilosophie
von Tetens (C. M. Gießler).
O. Werner, Lebenszweck und Welt-
aweck oder die zwei Seinszustande
(C. M. Gießler).
Wolfgancf Schulz, Studien zur an-
tiken Kultur (C. M. Gießler).
P. Beck, Die Ekstase (Walther
Regler),
A. FouÜlee, Temperament et Carac-
tire (Paul Barth).
— Les eiiments sociologiques de
la rao'rale (Paul Barth).
— Critique des syst^mes de morale
contemporains (Paul Barth).
— Der Evolutionismus der Kraft-
Ideen (Paul Barth).
Baron Gay von Brockdorff, Die
Geschichte der Philosophie und
das Problem ihrer Begreiflichkeit
(Paul Barth).
W, Ed. Biermann f Die Weltauf-
fassung des Marxismus (Paul
Barth).
Philosophische u. soziologische
Zeitschriften.
Bibliographie.
Leipzig.
0. R. R e i s 1 a n d.
Karlstrasno 2i)
1909.
^v^ :..
Au.'igegf'bou am 12. Januar 1909.
Terlag ron FEBDITflND ENKE In Stattgart.
Soeben erschienen:
Wunilt, >K?rs. Lonik.
Dtitz, Dr. E., Grandzige fler ästhetischer
I^HI^hOnlollfQ ^^^ ^ Abbildungen und 2 Tabellen im Te^t
r dl ilCIUClII C. 8». 1908. geh. M. 4.-.
Eine Untersuchung der Prinzipiell
der Erkenntnis und der Methode]
wissenschaftlicher Forschung. Drei Bände. PI, Band.. ItOgik
der Qeiflteflwiiflengohaft- Dritte ^ aingearbeitete Auflage.
gr. 8^ 1908. geh. M. 15.80; in Leinwand geb. M. 17.40.
Stein, R Philosophische Strömunnen der
PQfffQlllAfOl^ S^' ^^' 1908. geh. M. 12, — ; in Leinwanl
UCygllWdl L geb. M. 13.60.
J. G.Gotta'schs Bvchbandlang Nacbf., Stattgartn.BerIin
Soeben erschienen:
Lehrbuch der Psychologie
Ton
Friedrich Jodl
o. 0. Professor der Philosophie an der Universität za Wien
Dritte Auflage ♦ Zwei Bände
Geheftet M. 16.-, in 2 Halbfranzb&nden M. 20.—
Die dritte Auflasre dieses bew&hrten Lehrbuchs ist unter
Vorwertung des in den letzten Jahren tllierreieh zugewachsenen
Materials vom Verfasser vermehrt und verbessert worden.
ZvL beziehen durch die meisten Bucbhandlongen
VERLAG VON O. R. REISLAND IN LEIPZIG.
Soeben erschien:
Von Dr. Eduard Zeller.
\euHfe Ai/fldf/e. Bearbeitet von Dr. Franz Lortztng.
22':8 Bogen gr. 8^. M. 5.40, geb. M. 6 20.
Hierzu je eine B«*ilage von Ferdinand Enke in Stuttgart "'"^
Vandoiihoeck k Knpreclit in Oöttiiij^en.
Piererseho llolbuchiinukorei ötephan Geibol &. Co. in Altenburg.
f a 9t^
9rlia
(e
m
m
f