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Full text of "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie"

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Vierteljahrssehrift 

für 

wissenschaftliche 

Philosophie  und  Soziologie 

gegründet  von 

Richard  Avenarius, 

in  Verbindang  mit 

Friedrich  Jodl  und  Alois  Riehl 

herausgegeben 


von 


Paul  Barth. 


Zwelanddreifsifster  Jahrgang.    Neue  Folge  Tl. 


Lieipzig. 
O.   R.   R  e  i  s  1  a  n  d. 

1908. 


Maltsverzeichiiis 

des 

32.  Jahrganges. 


(Die  römischen  Ziffern  bezeichnen  das  Heft,  die  arabischen  die  Seite.) 


Artikel. 


Barth,  Paul,  Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  Be- 
leuchtung.   VII.    IV,  488-509. 

Olasenapp,    G.    v.,    Die    Leviratsehe.     Eine   soziologische   Studie. 
m,  37y-401. 

Gusti,  Denaetrius,  Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren 

Ethik.    I,  134-169. 
Hessenberg,   Gerhard,  „Persönliche^  und  „sachliche"  Polemik. 

m,  402-408. 

Hönigswald,    B.,    Zum    Problem    der    philosophischen    Skepsis. 

I,  6^—94. 
Lehmann,  Ernst,  Idee  und  Hypothese  bei  Kant.    III,  827 — 878. 

Mittenzwey,  Kuno,  Der  III.  internationale  Philosophenkongreß. 
IV,  468—487. 

Maller-Freienfels,    Eichard,    Zur   Theorie    der    ästhetischen 
Elementarerscheinungen.    I.    I,  95—133.    IL    II,  193—236. 

—  Die  Bedeutimg  des  Ästhetischen  für  die  Ethik.    IV,  435 — 466. 
Oppenheimer,  Franz,  Moderne  Geschichtsphilosophie.  II,  237 — 266. 
Schwarze,  H.  K.,  Die  Ethik  Herbert  Spencers.    I,  1—61. 
Wize,  K.  F.,   Eine  Einteilung  der  philosophischen  Wissenschaften 
nach  Aristoteles'  Prinzipien. 

Besprechmigen. 

Aäam,  Max,  Schellings  Kunstphilosophie.  —  Von  O.  Klemm.    II,  275. 

Amdidt,  Emüy  Gesammelte  Schriften.  —  Von  0.  Klemm.    II,  278. 

Brntetj  Otto,   Die   Nationalitätenfrage   und  die  Sozialdemokratie.  — 
Von  Georg  Liebster.    I,  171—172. 

Btcher,  Erich,   Philosophische  Voraussetzungen  der  exakten  Natur- 
wissenschaften. —  von  O.  Klemm.    I,  176. 

Äedt,  P.,  Die  Ekstase.  —  Von  Walt  her  Regler.    IV,  514—518. 


il>5932 


IV  Inhaltsverzeichnis. 

BertUng,  0.,  Geschichte  der  alten  Philosophie  als  Weg  der  Erforschung; 
der  Kausalität.  —  Von  0.  Klemm.    II,  276. 

Jiiermann,  W.  Ed.,  Die  Weltanschauung  des  Marxismus.  —  Von  Paul 
Barth.    IV,  528. 

Bornhausm,  K.,  Die  Ethik  Pascals.  —  Von  C.  M.  Gießler.    II,  279. 

Brockhoff,  Baron   Kay  v.,  Die  Geschichte  der  Philosophie  und  das 
Prohlem  ihrer  Begreiflichkeit.  —  Von  Paul  Barth.    IV,  522—623. 

BÖhringery  Adolf ,  Kants   erkenntnistheoretischer  Monismus.  —  Von 
0.  Klemm.    II,  276. 

Dippe,  Alfred,  Naturphilosophie.  —  Von  0.  Klemm.    I,  176—179. 

Drews,  A^  Das  Lehenswerk  Eduard  v.  Hartmanns.  —  Von  C.  M.  G  i  e  ß  1  e  r. 
n,  279. 

Fouill^,  A.,  Der  Evolutionismus  der  Kraft-Ideen.  —  Von  Paul  Barth. 
IV,  521—522. 

—  Temperament  et  Caractöre.    IV,  518—521. 

—  Les  el^ments  sociologiques  de  la  morale.    VI,  518. 

—  Critique   des  syst^mes   de  morale  contemporains.  —  Von   Paul 
Barth.    IV,  518. 

Go8win,    Uphues,   Vom  Bewußtsein.  —  Von  B.  HönigswaldL     IV^ 
180—181. 

Hoflemann-Dyroffj  Elemente  der  Philosophie.   —    Von   0.   Klemm., 
i,  179—180. 

Hegels  Eeligionsphilosophie.  —  Von  Richard  Fritzs che.    II,  295. 

Jungmann,  Karl,  Die   Weltentstehungslehre   des  Descartes.  —  Von 

0.  Klemm.    II,  175. 

Stöhr,  Adolf,  Philosophie  der  unbelebten  Materie.  —  Von  0.  Klemm. 

1,  176. 

Kant,  Gesammelte  Schriften.  —  Von  RaoulBichter.    II,  267. 

Kostet,  Rudolf,  Die  Schrift  bei  Geisteskranken.  —  Von  0.  Klemm. 

II,  277—278. 
Krau8^  Oskar,  Zur  Theorie  des  Wertes.  —  Von  LeoBauschenbaoh. 

II,  283. 
Kreilig,  Josef  Clemens,  Psychologische  Grundlegung  eines  Systems  der 

Werttheorie.  —  Von  teo  Bauschenbach.    II,  284. 

Kuntze,  Friedrich,  Die  kritische  Lehre  v^on  der  Objektivität.  —  Von 
O.  Klemm.    H,  273-274. 

Levi,   Adolf Of   L'Indeterminismo   nella  filosofia    francese   comtempo- 
ranea.  —  Von  O.  Klemm.    II,  274. 

Liepmann,  H.,  Über  Störungen  des  Handelns  bei  Gehimkranken.  — 
Von  C.  M.  Gießler.    II,  282. 

Misch,    Georg,    Geschichte    der   Autobiographie.   —   Von   Richard 
Fritzsche.    IH,  421-424. 

Philosophische  Bibliothek.  —  Von  Richard  Fritzsche.    n,  285—295. 

V.  d.  Pfordten,  Freiherr  Otto^  Vorfragen  der  Naturphilosophie.  —  Von 
O.  Klemm.    I,  176. 

Richter,  Raoul,  Der   Skeptizismus   in   der  Philosophie.  —  Von  Karl 

Joöl    m,  409-421. 
Sanus,  Similismus.  —  Von  0.  Klemm. 

Salvadori,  Ouglielmo,  Das  Naturrecht  und  der  Entwicklungsgedanke.  — 
Von  G.  Liebster.    II,  268—269. 


r 


Inhaltsverzeiclinis.  V 

Schüler f  F.  C  S.,   Studies  in  Humanism.  —  Von  Hichard  Müller- 
Freienfels,     II,  269-271. 

Sdiins,  MaXy  I>ie  Moralphilosophie  von  Tetens.  —  Von  C.  M.  Gießler. 
IV,  511—512. 

.Seftwid,  Bastian,  Philosophisches  Lesebuch.  —  Von  WaltherRegler. 
n,  267—268. 

i^<^wwnkavtery  ArÜhur^  Sein  philosophisches  System.  —  Von  O.  Klemm. 

i^tkuUf  Wolfgang,  Stadien  znr  antiken  Kultur.  —  Von  0.  M.  Gießler. 
IV,  514. 

TroüOj  EmUnio,  Xia  filosofia  di  Giordano  Bruno.  —  Von  O.  Klemm, 
n,  275. 

Waaner,  Adolfe    Dr.,  Der  neue  Kurs  in  der  Biologie.  —  Von  Franz 
Hornickel.     I,  172—176. 

WemtTy  O.,  Lebenszweck  und  Weltzweck  oder  die  zwei  Seinszustände. 
—  Von  C.  M.  Gießler.    IV,  513. 

Zmr  Wiedergeburt  des  Idealismus.    Philosophische  Studien  von  Ferdinand 
Jakob  Schmidt.  —  Von  Richard  Fritzsche.    II,  295--d00. 

Philosophische  und  goziologische  Zeitschriften. 

I,  18S-187.    IV,  524-^28. 

Bibliographie. 

1, 18&~192.     rV,  529—536. 

Notizen. 

11,302-304. 

Erwiderung. 

n,  300-301. 

Erldärnn^. 
ni,  424-^25. 


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Abhandlungen. 


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Die  Ethik  Herliert  Spencers. 

Eine  kritische  Studie. 
Von  Heinrich  Karl  Schwarze. 


Inhalt« 
A.  KfadeitvBgs  Speneerg  Metai^hyglh  und  ErkenntBistheorie. 


S«iU 


1.  Metaphysik:  Der  Realismus,  die  einzig  berechtigte  Auf- 
fassong  des  Seins.  Nioht  naiver,  sondern  „verklärter''  Bealis- 
mns.    Wesen  der  absoluten  Existenz  unerkennbar 3 

2.  Erkenntnistheorie:  Relativität  aller  Erkenntnis.  Nachweis 
durch  Analyse  des  subjektiven  Denkprozesses,  des  objektiv- 
wissenschaftlichen Denkproduktes  und  der  Lebensvorgänge  im 
allgemeinen.  Unmöglichkeit  der  Beseitigung  des  Bewußtseins 
absoluter  Existenz 5 

Fundamentale  Voraussetzungen  der  Erkenntnistheorie.  Die 
Quelle  aller  Erkenntnis.  Das  scheinbar  Transzendentale  des 
menschlichen  Geistes.  Möglichkeit  der  Feststellung  der 
fundamentalsten  und  universellsten  Gleichheit  und  Verschieden- 
heit: Sehwache  und  lebhafte  Manifestationen  des  Unerkenn- 
baren =  Ich  und  Nichtich.  Weitere  Sonderung  in  allgemeine 
Formen  (Raum,  Zeit,  Stoff,  Bewegung,  Kraft),  Ableitung  all- 
gemeiner Gesetze  aus  diesen  Erfahrungsgebieten.  Das  Streben 
der  Philosophie  nach  Zusammenfassung  dieser  Gesetze  zu 
einem  einzigen.  Die  Entwicklungsformel.  Induktive  und 
deduktive  Ableitung  derselben« 


TiertelJAhrssehriffcf.  wiBsenflohafftl.Philos.  u.  Sozio!.  XXXII.  1. 


1 


2  Inhalt. 

B.  Die  Ethik  Spencers. 

Seit« 

1.  Methodologischer  Teil: 

a)  Der  wissenschaftliche  Charakter  der  Ethik  im  allgemeinen : 

Die  bisherige  Ethik  nur  eine  induktive,  nicht  eine  deduktive. 
Das  Entwlcklungs-  bzw.  Kausalitätsprinzip  in  der  Ethik         11 

b)  Vom  Willen  und  der  Willensfreiheit: 

Wesen  und  Zusammenhang  des  Willens  mit  der  psychischen 
Tätigkeit  überhaupt.  Annahme  der  Willensfreiheit  eine 
Täuschung  subjektiver  und  objektiver  Art 12 

c)  Absolute  und  relative  Ethik: 

Möglichkeit  der  Aufstellung  idealethischer  Gesetze.  Ver- 
hältnis der  absoluten  Ethik  zur  relativen.  Der  absolut 
ethische  Zustand  als  Ziel  der  menschlichen  Entwicklung    •     14 

Kritik 16 

2.  Ziel  bzw.  Wesen  des  sittlichen  Handelns: 

a)  a)  Natürliche  Bestimmung 25 

ß)  Kulturelle  Bestimmung.  Gut  und  böse  —  zweckdienlich 
und  zweckschädigend  »=»  f  reude-  und  schmerzbringend = ent- 
wickelt und  unentwickelt.  Glück»  der  allgemeine  Maßstab 
des  Lebenswertes.  Identität  der  Ergebnisse  beider  Be- 
stimmungswege   26 

b)  Betrachtung  und  weitere  Ausführung  vom  Standpunkte  der 
wissenschaftlichen  Grundlagen  der  Ethik  aus: 

a)  Vom  physikalischen  Standpunkte  aus:  Notwendigkeit 
zwischen  physikalischer  und  sittlicher  Entwicklung,  Identi- 
tät der  Ziele 27 

ß)  Vom  biologischen  Standpunkt  aus :  Sittlich  gleich  normal 
gleich  erfreuend.  Das  vielfache  Nichtbestehen  dieser 
Identität  und  seine  Gründe.  Identität  des  Ziels  der  sitt- 
lichen und  biologischen  Entwicklung 28 

y)  Vom  psychologischen  Standpunkt  aus:  Die  emotionellen 
und  intellektuellen  Momente  des' Handelns.  Bedeutung 
der  Zunahme  der  Kompliziertheit  dieser  Momente.  Das 
Gewissen.  Identität  des  Ziels  der  sittlichen  und  der 
psychischen  Entwicklung 29 

l)  Vom  soziologischen  Standpunkte  aus :  Verhältnis  der  Ge- 
sellschaftserhaltung  zur  Selbsterhaltung.  Soziologische 
Definition  des  vollkommenen  Lebens.  Bedingungen  der 
Verwirklichung  des  vollkommenen  Lebens *  .    32 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  3 

Seit« 
c)  Egoismus  und  Altmismus:  Notwendigkeit  der  Erweiterung 
beider  Begriffe.    Egoismus  oder  Altruismus?     Notwendig- 
keit eines  Kompromisses.    Endliche  Versöhnung.    Das  Mit- 
gefühl.  Dauernde  Formen  des  Altruismus 34 

Kritik 37-61 

A.  Einleitang. 

Der  y ersuch,  das  ethische  Problem  zu  lösen,  kann  nicht  unter- 
nommen werden  ohne  vorherige  Auseinandersetzung  mit  dem  er- 
kenntnistheoretischen und  dem  metaphysischen  Problem,  und  um- 
gdiehrt  das  Verständnis  eines  ethischen  Systems  hat  die  Kenntnis 
des  erkenntnistheoretischen  und  metaphysischen  Standpunktes  seines 
Schöpfers  zur  Voraussetzong.  Es  wird  daher  nötig  sein,  vor  der 
Betrachtung  der  Ethik  Spencers  seine  Erkenntnistheorie  und  Meta- 
physik kurz  zu  charakterisieren. 

Die  Metaphysik ;  Die  Dinge  und  Vorgänge  unserer  Um- 
gebung nötigen  uns  nicht  weniger  als  die  Erscheinungen 
unseres  Bewußtseins  zur  Annahme  einer  außer  unserem  Be- 
wußtsein liegenden  Existenz,  die  als  letzte  Ursache  allen 
Erscheinungen  zugrunde  liegt.  Diese  Anschauung,  die 
realistische,  wird  negativ  gerechtfertigt  dadurch,  daß  der 
Antirealismus  im  Widerspruche  mit  allen  Äußerungen  des 
Bewußtseins,  im  besonderen  mit  dem  höchsten  Prüfstein  der 
Wahrheit  —  daß  nämlich  ein  Urteil,  dessen  Negation  un- 
vorstellbar ist,  unvermeidlich  angenommen  werden  muß  ^)  — 
im  Grunde  behauptet,  daß  das  Bewußtsein  ewig  existierend 
ist,  gleichzeitig  schaffend  und  erschaffen,  daß  es  immer  war 
und  sein  wird  die  Summe  aller  Ursachen  und  Wirkungen, 
allmächtig  und  allgegenwärtig*).  Sie  wird  positiv  gerecht- 
fertigt durch  das  djmamische  Gesetz  des  Bewußtseins,  nach 
welchem  alle  unsere  Gedanken  notwendig  durch  die  relativen 
Zusammenhänge  der  einzelnen  Bewußtseinszustände  bestimmt 
werden  und  die  stärksten  Zusammenhänge  für  den  Ge- 
dankenverlauf entscheidend  sind  und  schließlich  als  unauf- 


1  Pr.  of  Psych.  §  471. 
«  Pr.  of  Psych.  §  475,  1. 

1* 


4  H.  K.  Schwarze: 

löslich  im  geistigen  Besitz  verbleiben^).  „Die  realistische 
Auffassung  ist  nicht,  wie  Hume  meint,  das  Resultat  einer 
natürlichen  Geneigtheit,  die  mit  den  Denkgesetzen  in  Wider- 
spruch steht;  sie  ist  auch  nicht,  wie  Hamilton  ausftihrt,  ein 
in  wunderbarer  Weise  eingehauchter  Glaube,  sondern  sie  ist 
ein  unvermeidliches  Ergebnis  des  Denkprozesses,  welcher 
in  jedem  G^tigkeit  besitzenden  Beweis  ausgeführt  wird'). 
Jedoch  erkenntnistheoretische  Gründe  widerstreiten  dem 
naiven  Realismus,  der  behauptet,  daß  irgendeine  bestimmte 
Art  der  objektiven  Existenz  oder  die  Zusammenhänge 
zwischen  ihren  Formen  in  Wirklichkeit  das  seien,  was  sie 
scheinen.  Der  berechtigte  Realismus  kann  nur  der  sein,  der 
einfach  und  lediglich  behauptet,  daß  objektive  Existenz  ge< 
trennt  und  unabhängig  ist  von  subjektiver.  Wegen  dieses 
Unterschiedes  vom  naiven  Realismus  wird  er  treffend  „ver- 
klärter Realismus*'  (Transfigured  Realism)  genannt.  Er  faßt 
die  Erscheinungen  des  Universums  auf  als  Kundgebungen 
einer  absoluten  Realität. 

Fragt  man  jedoch  nach  dem  Wesen  dieser  absoluten 
Existenz,  so  erweist  sich  keine  der  darüber  aufgestellten 
Hypothesen  als  ausreichend,  alle  schließen  sie  eine  Reihe 
alternativer  Unmöglichkeiten  des  Denkens  in  sich,  und  ihr 
Effekt  ist  nur  die  immer  klarere  Beleuchtung  der  einen  all- 
gemeinsten, tiefsten  und  gewissesten  Tatsache,  daß  die  letzte 
Ursache  imerkennbar  ist,  mag  man  nun  auf  religiösem  oder 
wissenschaftlichem  Wege  zu  ihrer  Erforschung  ausziehen. 
Im  besonderen  versagt  letzterer  vollständig:  „Die  wissen- 
schaftlichen Grundbegriffe :  Raum,  Zeit,  Materie,  Bewegung, 
Kraft,  Umfang  und  Substanz  des  Geistes,  erweisen  sich 
sämtlich  als  Realitäten,  die  nicht  begriffen  werden  können. 
Darum  ist  auch  die  Aufstellung  neuer  Hypothesen  über  sie 
vollständig  zwecklos*.    Es  bleibt  nichts  anderes  übrig,  als 


>  Pr.  of  Psych.  §  471. 

«  Pr.  of  Psych.  §  471. 

'  Hiermit  negiert  Spencer  im  Grande  alle  Metaphysik,  deren 
Aufgabe  es  ja  gerade  ist,  über  das  empirisch  nicht  enthoUoare  Wesen 
von  Substanz,  Materie  und  Seele  spekulative  Aufklärung  zu  geben. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  5 

die  objektive  Wirklichkeit  imendlich  und  absolut  zu  denken, 
obwohl  die  Vorstellung  des  Absoluten  und  unendlichen  auf 
keine  Weise  ohne  eine  Fülle  von  Widersprüchen  möglich 
ist.  .Höchstwahrscheiulich  werden  wir  immer  genötigt  sein, 
das  höchste  Sein  als  eine  gewisse  Art  des  Seins  überhaupt 
aufzufassen,  uns  dasselbe  in  einer  gewissen,  wenn  auch  noch 
so  unbestimmten  Form  des  Denkens  vorzustellen,  und  wir 
werden  damit  nicht  auf  Abwege  geraten,  solange  wir  jeden 
so  gebildeten  Begriff  als  bloßes  Symbol  behandeln,  das  ganz 
und  gar  der  Ähnlichkeit  mit  dem  entbehrt,  was  es  vertritt/' 
Das  streift  jedoch  schon  stark  erkenntnistheoretisches  Gebiet. 
Die  Erkenntnistheorie: 

Der  Hauptgrund  der  ünerkennbarkeit  der  allen  Er- 
scheinungen zugrunde  liegenden  Wirklichkeit  sind  aber  die 
Tatsachen,  die  ihren  umfassenden  Ausdruck  finden  im  Prinzip 
der  Relativität  aller  Erkenntnis,  nämlich  die  Analyse  des 
subjektiven  Denkprozesses  des  objektiv-wissenschaftlichen 
Denkprodukts  und  der  Lebensvorgänge  im  allgemeinen. 

Alles  Denken  ist  Beziehen,  Unterscheiden,  und  zwar 
geht  jeder  Erkenntnisakt  hervor  aus  der  Bildung  einer 
Relation  im  Bewußtsein,  welche  einer  Relation  in  der  Um- 
gebung parallel  läuft.  Darum  muß  es  seine  Grenzen  da 
haben,  wo  keine  Möglichkeit  der  Beziehung  vorhanden  ist, 
das  ist  aber  in  dem  Begriff  der  absoluten  Existenz;  denn 
wo  sind  hier  die  zur  Erkenntnis  derselben  nötigen  Elemente 
der  Relation? 

Jedes  Eigebnis  des  Denkens  ist  eine  Feststellung  von 
Übereinstimmung  und  Nichtübereinstimmung.  Nichts  kann 
darum  t^rkenntnis  werden,  was  nicht  schon  mit  vorhandener 
Erkenntnis  irgendwie  überdbstimmend  und  nicht  überein- 
stimmend festgestellt  werden  kann. 

Auch   die   bloße  Definition  des  Lebens,  dieses  als  Er- 

schemung  betrachtet,   enthüllt,  wenn  auf  die  abstrakteste 

Form  gebracht,  das  Prinzip  der  Relativität  aller  Erkenntnis. 

Das  Leben ,    soweit  es  für  uns  erkennbar  ist ,  besteht  mit 

Emscblnß  der  Intelligenz  in  ihren  höchsten  Formen  in  der 

bestandigen    Anpassung    innerer    Beziehungen    an    äußere. 


t)  H.  K.  Schwarze. 

"Wie  kann  da  die  Erkenntnis  anders  als  relativ  sein?  "Wir 
können  nur  Kundgebungen  des  Absoluten  erkennen,  nicht 
das  Absolute  selber.  Das  Prinzip  der  RelativitÄt  ist  somit 
das  das  Gebiet  der  Erkenntnis  bestimmende  Prinzip. 

Jedoch  ist  es  nicht  auch  das  den  Umfang  des  Geistes 
überhaupt  bestimmende,  sondern  unser  Geist  enthalt  auch 
etwas,  was  die  Erkenntnis  übersteigt.  Ba  nämlich  unser 
Bewußtsein  von  dem  Bedingungslosen  buchstäblich  das  be- 
dingungslose Bewußtsein  oder  das  Rohmaterial  des  Denkens 
ist,  dem  wir  beim  Denken  bestimmte  Form  verleihen,  so 
folgt,  daß  ein  stets  vorhandenes  lebendiges  Gefiihl  der 
realen  Existenz  nicht  eigentlich  die  Grundlage  unseres 
Denkvermögens  bildet.  Die  Denkgesetze  verbieten  uns  zwar 
schlechterdings  die  Bildung  eines  Begriffs  absoluter  Existenz^ 
zu  gleicher  Zeit  verhindern  uns  aber  dieselben  Denkgesetze^ 
uns  von  dem  Bewußtsein  absoluter  Existenz  freizumachen» 
Wenn  also  der  Mensch  der  positiven  Existenz  des  Absoluten 
gewiß  sein  kajin,  so  ist  ftir  diese  Gewißheit  die  Tatsache 
die  Erklärung,  daß  neben  jenem  bestinmiten  Bewußtsein,, 
für  welches  die  Logik  die  Gesetze  formuliert,  es  noch  ein 
unbestimmtes  Bewußtwerden  gibt,  welches  nicht  in  Formeln 
gebracht  werden  kann  ^  Es  stellt  sich  dies  Bewußtsein  dar 
als  Abstraktion  nicht  aus  irgendeiner  Gruppe  von  Ge- 
d۟iken,  Ideen  und  Vorstellungen,  sondern  aus  allen  Ge- 
danken, Ideen  und  Vorstellungen ;  ja  es  ist  dies  Bewußtsein, 
geradezu  der  Gegensatz  zum  Selbstbewußtsein  und  trotz 
seiner  Unbestimmtheit  ebenso  unerschütterlich  wie  daa 
letztere  in  seiner  relativen  Bestimmtheit.  Aus  dem  Gegen- 
satz beider  Bewußtseinsformen  fließen  aber  zwei  für  die 
Erkenntnistheorie  fundamentale  Voraussetzungen,  nämlich 
1.  Es  gibt  erkennbare  Gleichheiten  und  Ungleichheiten  unter 
den  Kundgebungen  des  Absoluten,  für  welche  Behauptung 
die  Beständigkeit  eines  Bewußtseins  von  Gleichheit  und 
Ungleichheit  unsere  letzte  Gewähr  ist,  und  2.  es  gibt  eine 
daraus    hervorgehende    Sonderung    der   Kundgebungen    in 


»  F.  Pr.,  3rd  Ed.,  p.  88. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  7 

Subjekt  und  Objekt.  Beide  Annahmen,  erstere  den  ftinda- 
mentalen  Denkprozeß,  letztere  das  fundamentale  Denk- 
prodnkt  bezeichnend,  sind  jene  psychischen  Inhalte,  die  von 
dem  übrigen  Geistesinhalt  nicht  ohne  Auflösung  des  gesamten 
geistigen  Zusammenhanges  überhaupt  getrennt  werden 
können,  „fundamentale  Intuitionen''.  Die  vorläufig  an- 
zunehmende Unanfechtbarkeit  beider  Voraussetzungen  wird 
gerechtfertigt  und  dauernd  gemacht  durch  die  Resultate 
ihrer  Anwendung,  nämlich  durch  den  Nachweis  der  Über- 
einstimmung der  von  ihnen  angedeuteten  Erfahrung  mit  der 
faktischen,  d{t  „ein  anderes  Wissen  als  das  aus  dem  Be- 
wußtsein solcher  Übereinstimmung  und  ihrer  korrelativen 
Nichtübereinstimmung  hervorgehende  nicht  möglich  iBt"  ^). 
Dsunit  ist  schon  gesagt,  daß  alle  Erkenntnis  aus  der  Er- 
fahrung entspringt  und  die  höchste  Form  der  Wahrheit  der 
Erkenntnis  nicht  mehr  sein  kann,  als  eine  durch  das  ganze 
Qebiet  unserer  Erfahrung  reichende,  vollkommene  Über- 
einstimmung zwischen  jenen  Repräsentationen,  welche  wir 
ideal  nennen,  zu  jenen,  welche  wir  als  reale  bezeichnen^). 
Es  gibt  keine  Erkenntnisfunktionen  a  priori  im  Sinne 
Kants,  sondern  das  scheinbar  Transzendentale  des  mensch- 
lichen Geistes  enthüllt  sich  als  organisierte  generelle  Er- 
fahrung. Die  Untersuchungen  über  den  Zusammenhang  von 
Körper  und  Geist  drängen  zu  dem  Schluß,  daß  das  geistige 
Leben  strukturelle  Modifikationen  des  Nervensystems  bedingt 
und  daß  diese  Modifikationen,  wenn  durch  häufige  Wieder- 
holung bleibend,  oiganisch  gemacht,  vererbbar  sind,  wodurch 
aus  allgemein  menschlichen  Erfahrungen  bestimmte  all- 
gemeine menschUche  Intuitionen  entstehen  und  die  nach- 
folgenden Geschlechter  durch  größere  Leichtigkeit  in  der 
Bildung  gewisser  psychischer  Inhalte  vor  den  vorhergehenden 
ausgezeichnet  sind.  Die  Analyse  des  geistigen  Lebens  ftihrt 
auf  die  Empfindung  als  die  fundamentale  psychische  Ein- 
heit, und  diese  wiederum  setzt  sich,  wie  die  Schallempfin- 
duDgen   am   deutlichsten  zeigen,  höchstwahrscheinlich  aus 

»  F.  Pr.  139,  Pr.  of  Psych.  II,  312. 
»  F.  Pr-  186. 


6  H.  E.  SohwarEe: 

eimselnen  Nervenstöfien  zusammen.  Nur  in  dem  Sinne  kann 
darum  von  Erkenntnis  a  priori  geredet  werden,  daß  man 
auf  genereller  Erfahrung  ruhende  und  aus  ihr  abgeleitete 
damit  bezeichnet,  woraus  sich  von  selbst  die  Bezeichnung 
Erkenntnis  a  posteriori  fLU*  die  auf  individueller  Erfe^hrung 
beruhende  ergibt. 

Da  eben  Erkennen  das  Zusammenfassen  des  Gleichen 
und  das  Trennen  des  ungleichen  ist,  so  muß  es  möglich, 
sein,  durch  fortgesetzteAbstraktion  die  fondamentalste  Gleich- 
heit imd  Verschiedenheit  festzustellen,  die  allen  Erfahrungen 
gemeinsam  ist.    Das  ist  in  der  Tat  möglich,    die  beiden 
großen  Belassen,  die  sich  so  ergeben,  sind  die  der  lebhaften 
und  die  der  schwachen  Kundgebungen  des  unerkennbaren 
(vivid   and   faint  manifestations)    bzw.  Erfahrungen.     „Die 
ersteren,   die  unter  der  Bedingung  der  Wahrnehmung  er- 
folgen,  sind  Originale;   die  letzteren,    die  unter  den  Be- 
dingungen  der   Überlegung,    des   Gedächtnisses,    der  Ein- 
bildungskraft   oder    der   Ideengestaltung    auftreten,    sind 
Kopien*"*).   Sie  bilden  beide  eine  Reihe  oder  einen  hetero- 
genen Strom,  dessen  Unterbrechungen  niemals  direkt  wahr- 
genommen werden.  Offenbar  ist  diese  Unterscheidung  gleich- 
wertig mit  der  zwischen  Objekt  und  Subjekt,  zwischen  dem 
Selbst  und  dem  Nichtselbst;  denn  die  Kraft,  welche  sich  in 
der  Reihe  der  schwachen  Kimdgebungen  offenbart,  nennen 
wir  das  Ich,  die  in  der  der  lebhaften  das  Nicht-Ich.  Diese  Aus- 
einanderhaltung  der  Kundgebungen   und   ihre  Zusammen- 
fassung zu   zwei  verschiedenen  Ganzen  tritt  zum  großen 
Teil  von  selbst  ein  und  geht  allen  wohlerwogenen  Über- 
legungen voraus,   obschon  sie  von  solchen  Überlegungen, 
wenn  sie  angestellt  werden,  bestätigt  werden***).    Die  Ur- 
teilskraft hilft  bloß  solche  Manifestationen,  welche  sich  nicht 
entschieden  mit  den  übrigen  ihrer  Art  vereinigt  haben,  ihrer 
betreffenden  Klasse  zuzuweisen**  ^)' 


1)  Collims-Cabus,  Epitome  der  8yntbetiBohen  Philosophie,  H.  Spsncrr 
S.  20. 

•  F.  Pr.  150. 
>  Ebenda  151. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  9 

Übrigens  lehrt  die  Übereinstimmung  der  durch  wahr- 
nehmbare Anteeedentien  veranlaßten  lebhaften  Emidgebimgen 
mit  solchen,  deren  Antezedentien  nicht  wahrnehmbar  sind, 
ancb  die  Bzistenz  eines  ungeheoren  Reiches  von  potentiellen 
lebhaften  Manifestationen,  welche  sowohl  jenseit  des  mi- 
mitbelbar  gegenwärtigen  phänomenalen  Ich,  als  auch  des 
phänomenalen  Nicht-Ich  liegen. 

Die  Manifestationen  des  unerkennbaren,  als  dem  Ich 
und  dem  Nicht-Ich  zngehörend,  sind  weiter  teilbar  in  gewisse 
Formen,  deren  ReaUtät  von  den  Wissenschaften  wie  von 
dem  gemeinen  Menschenverstand  in  jedem  Augenblick  als 
absolut  sicher  angenommen  wird:  Raum,  Zeit,  Stoff,  Be- 
wegung, Eraft.  Die  Analyse  zeigt  sie  als  auf  der  Erfahrung 
von  Kraft  beruhend,  nämlich  Raum  und  Zeit  als  die  Ab- 
strakta  aus  den  Formen  verschiedenartiger  geistiger  Be- 
ziehung, und  zwar  Zeit  als  das  Abstraktum  aller  Sukzessionen, 
Raum  als  das  aller  Coexistenzen,  Stoff  und  Bewegung  als 
die  Conkreta  aus  den  Inhalten  verschiedenartiger  geistiger 
Beziehung,  und  zwar  Stoff  als  das  mit  Widerstand  und  Aus- 
dehnung, Bewegung  als  das  mit  fortgesetzter  Lageveränderung 
ausgestattete  Eonkretum.  Die  Eraft  als  symbolisches  Mittel 
und  Ursache  von  Veränderungen  ist  das  letzte  Ergebnis  der 
Analyse,  und  Erfahrung  Von  Erafteindrücken  der  erste  Be- 
ginn alles  geistigen  Lebens. 

Aus  den  vielen  Erfahrungen  von  Stoff,  Bewegung  und 
Eraft  hat  die  Wissenschaft  in  ihrem  Streben  nach  Ver- 
einheitlichung der  Erkenntnis  allgemeine  Gesetze  abgeleitet, 
die  ftbr  alle  Erscheinungen,  physische  wie  psychische,  gültig 
sind.  Es  sind  folgende:  das  Gesetz  der  Eontinuität  der 
Bewegung,  der  Umformung  und  Gleichwertigkeit  der  Eräfte, 
des  Verlaufs  der  Bewegung  in  Richtung  des  kleinsten  Wider- 
standes, des  Rhythmus  der  Bewegung  und  das  allen  zu- 
gronde  liegende  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Eraft  *).  Die 
Pfaüosophie  jedoch,  deren  Wesen  in  vollständiger  Vereinheit- 


^  Spshcbr    wählt   die   Bezeichnung:    The   Persistence   of   Force 
(F,  Pr.,  p.  iSe.) 


10  H.  K,  Schwarze: 

lichung  der  Erkenntnis  besteht,  verlangt  nacli  einer  alles 
umfassenden  Vorstellung  der  Dinge,  einer  universellen  Syn- 
these. Die  einzelnen,  eben  genannten  allgemeinen  Gesetze 
vermögen  sie  nicht  zu  geben,  wohl  aber  sind  sie  die  Fak- 
toren dieser  Synthese,  die  Synthese  selbst  kann  nur  seixi 
das  Gesetz  ihres  Zusammenwirkens,  d.  h.  das  Gesetz  der 
kontinuierlichen  Andersverteilung  von  Stoff  und  Bewegung. 
Wenn  es  gelingt,  dieses  Gesetz  zu  finden,  so  ist  die  Philo- 
sophie am  Ziele. 

Die  Erfahrung  lehrt  universell,  daß  jede  wahrnehmbare 
Erscheinung  einen  Prozeß  durchmacht  von  Integration  des 
Stoffes  und  Aufgabe  der  Bewegung  zu  Integration  der  Be- 
wegung und  Zerstreuung  des  Stoffes,  wobei  beide  Vorgänge, 
identisch  mit  Entwicklung  (evolution)  und  Auflösung  (disso- 
lution)  und  gleicherweise  für  greifbaare  Massen  wie  für  Mole- 
küle geltend,  stets  gleichzeitig  vor  sich  gehen,  aber  nie  im 
Gleichgewicht  sind.  Die  Betrachtung  der  verschiedensten 
Erscheinungen  des  Universums  ergibt  folgende  Definition 
der  Entwicklung:  Evolution  ist  eine  Integration  von  Sub- 
stanz und  eine  diese  begleitende  Zerstreuung  von  Bewegung, 
während  welcher  die  Substanz  von  einer  relativ  unbestimmten, 
unzusammenhängenden  Gleichartigkeit  zu  einer  relativ  be- 
stimmten, zusammenhängenden  üngleichartigkeit  übergeht 
und  die  zurückgebliebene  Bewegung  eine  parallele  Um- 
gestaltung erflLhrt^). 

Als  Deduktion  folgt  diese  Entwicklungsformel  aus  dem 
Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kxe£t  mittels  der  Tatsachen 
der  Unstetheit  des  Homogenen,  der  Vervielfältigung  der 
Wirkungen  und  der  Sonderung  (Segregation)  des  Gleich- 
artigen vom  Ungleichartigen.  Die  Auflösung  oder  Disso- 
lution  vollzieht  sich  nach  dem  entgegengesetzten  Gesetze 
und  ist  von  der  Evolution  durch  einen  momentanen  Gleich- 


*  F.  Pr.,  6*i>  Ed.,  §  145:  Evolution  is  an  integration  of  matter 
and  conoomitant  dissipation  of  motion;  during  which  the  matter 
passes  from  an  relatively  indefinite,  incoherent  homogeneitv  to  a 
relatively  definite,  ooherent  heteroe;eneity  and  during  which  the 
retained  motion  imdergoes  a  paraHertransformation. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  11 

gewichtsznstand  getrennt.  Dem  Denken  bleibt  keine  andere 
Wahl,  als  dem  Universum  einen  fortgesetzten  Rhythmus 
zwischen  Sntwicklung  und  Auflösung  zuzuschreiben.  Es 
durchläoA«  jetzt  das  Stadium  der  Evolution ;  bis  zum  Gleich- 
gewichtszustand wird  —  fär  diese  Frage  sind  besonders 
astronomische  Erwägungen  maßgebend  —  eine  unsagbar 
lange  Zeit  vergehen. 


B.   Die  Ethik  Spencers. 

1.   liAethodologlBcher  Teil  (Daratellunfir). 

a)    Der    -wissenschaftliche    Charakter   der   Ethik 

im  allgemeinen. 

„Jede  Wissenschaft  beginnt  mit  der  AnhäuAmg  von 
Beobachtungen  und  verallgemeinert  dieselben  dann  sofort 
auf  empirischem  Wege;  allein  erst  dann,  wenn  sie  das 
Stadixmi  erreicht  hat,  in  welchem  ihre  empirischen  Ver- 
allgemeinerungen in  eine  rationelle  zusammengefaßt  werden, 
wird  sie  zur  entwickelten  Wissenschaft"  (I,  69)*). 

Der  Ethik  als  der  Wissenschaft,  die  das  Handeln  der 
vergesellschafteten  menschlichen  Wesen  von  einer  bestimmten 
Seite  aus  betrachtet,  mangelt  noch  eine  derartige  Verall- 
gemeinerung; selbst  die  ethische  Richtung  der  Gegenwart, 
die  einer  wissenschaftlichen  Auffassung  der  sittlichen  Tat- 
sachen am  nächsten  steht,  der  ütilitarismus,  findet  die  Grund- 
sätze des  sittlichen  Handelns  nur  mittels  Induktion.  Sie  ist 
eine  empirisch  und  nicht  eine  rationell  vorgehende  Ethik. 
Der  deduktive  Weg,  d.  i.  die  Ableitung  der  sittlichen  Prin- 
zipien von  allgemeinen  Prinzipien,  wird  für  aussichtslos  ge- 
halten und  ist  darum  auch  noch  von  keinem  der  bekannteren 
ethischen  Systeme  eingeschlagen  worden.  Man  findet  ihn  auf 


^  Diese   in  den  Text  eingestreuten  Hinweise  beziehen  sich  auf 
'sTTEjusoHs  Übersetzung  der  Ethik  Spencebs. 


12  H.  K.  Schwarze: 

zweierlei  Weise,  einmal  auf  eine  mehr  allgemeine,  indem  man. 
das  universale  Handeln,  und  sodann  auf  eine  mehr  spezielle, 
indem  man  die  Ethik  im  Verhältnis  zu  ihren  wissenschaft- 
lichen Grundlagen,  Physik,  Biologie,  Psychologie  und  Sozio- 
logie betrachtet^).  Beide  Betrachtungen  führen  zum  Evo- 
lutionismus, bzw.  zu  dem  seine  logische  Grundlage  bildenden 
KausaUtätsprinzip  als  dem  obersten  Prinzip,  nach  dem  die 
Ethik  ihre  Grundsätze  zu  deduzieren  hat,  imd  lassen  als 
allein  richtige  Methode  der  Ethik  die  erkennen,  nach  welcher 
die  notwendigen  Beziehungen  zwischen  den  Lebens- 
bedingungen als  Ursachen  und  den  Lebensvorgängen  als 
Wirkungen  festgestellt  und  von  bestimmt  formulierten  Ge- 
setzen aus  die  Regeln  des  Handelns  abgeleitet  werden.  Da 
dieser  Zusammenhang  durch  keine  Autorität  und  kein  Mittel 
eingerichtet  oder  verändert  werden  kann,  so  irren  die  ethi- 
schen Systeme,  die  diese  Methode  nicht  gebrauchen.  Das 
sind  aber  alle,  die  theologischen,  die  politischen,  die  intuitio- 
nalen  und  auch  die  empirisch-utilitaristischen ;  die  letzteren 
müssen  mit  genannt  werden,  weil  sie  nur  iigendeine,  aber 
nicht  die  Beziehung  zwischen  Ursache  und  Wirkung  an- 
erkennen. 

b)   Vom  Willen  und  von  der  Willensfreiheit. 

Dieser  unerschütterliche  Zusammenhang  besteht  auch 
in  bezug  auf  das  Psychische.  Niemals  kann  eine  Handlung 
durch  eine  freie  Ursache,  etwa  durch  den  sogenannten  freien 
Willen  erfolgen,  sondern  die  Ursache  ist  in  allen  Fällen 
eine  bedingte,  ihrem  objektiven  Wesen  nach  eine  Bewegung, 
d.  i.  eine  Andersverteilung  von  Kraft  und  Stoff  mit  einer 
unabsehbaren  Reihe  von  Voraussetzungen,  ihrem  subjektiven 
Wesen  nach  ein  Geftthl  oder  ein  Komplex  von  Geftthlen, 
wiederum  mit  mannigfachen  Vorbedingungen. 

Da   alle  Formen   des  Bewußtseins   mit  Einschluß  des 


0  The  ethics  can  find  its  ultimate  interpretations  only  in  those 
fundamental  traihs  whioh  are  commonly  all  of  them.  (Pr.  of  Eth.  1, 63.) 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  13 

Willens   xiicKts   anderes  sind  als  Begleiterscheinungen  des 
ZnsammeTili  anges  zwischen  Organismus  und  Auiienwelt,  mit 
anderen  "Wortyen  nur  verschiedene  Seiten  oder  Phasen  der 
koardinierten  Ghruppen  von  Veränderungen,  wodurch  innere 
an  Kufiere  Beziehungen  angepaßt  werden,  so  bedeuten  Ge< 
dachtnis,  Yemxmft,  Gefiihl,  Wille  alle  denselben  psychischen 
Vorgang,  nur  eben  von  verschiedenen  Seiten  aus  betrachtet. 
Alle    die    genannten  psychischen  Erscheinungen  entstehen 
^eichzeitig,  sobald  die  automatischen  Tätigkeiten  kompli- 
zierter, seltener  und  zögernder  werden,  und  umgekehrt  ver 
schwinden  sie  gleichzeitig  in  demselben  Maße,  als  die  psychi- 
sclien  Veränderungen  automatisch  werden.    Im  besonderen 
ist  das  Aufhören  der  automatischen  Tätigkeit  und  das  Auf- 
dämmern  des  Wollens   durchaus  eins  und   dasselbe.    Das 
Wollen  ist  zu  definieren  als  jener  Zustand  des  Bewußtseins, 
der  dadurch  entsteht,  daß  die  einem  komplizierten  Eindruck 
entsprechenden  motorischen  Veränderungen  durch  den  Gegen- 
satz  ssa  anderen  gleichfalls  erregten  motorischen  Verände- 
rungen an   der  sofortigen  Ausführung  verhindert  werden, 
welcher  Zustand   schUeßHch  doch  zur  Tätigkeit  führt,  also 
kurz  der  Widerstreit  zweier  Ghruppen  idealer  motorischer  Ver- 
änderungen um  die  Realisation,  von  denen  endlich  eine  siegt. 
Während  dieses  psychischen  Zustandes  ist  jedoch  weit 
mehr  im  Bewußtsein  als  nur  diese  widerstreitenden  Ghruppen^ 
nämlich  ein  A^pregat  idealer,  die  Folgen  früherer  Hand- 
lungen repräsentierender  Sinneseindrücke,   die   durch  indi- 
viduelle und  generelle  Erfahrung  in  den  geistigen  Besitz 
des    Handelnden   gelangt   sind.     Infolge    der   ungeheueren 
Menge  dieser  organisierten  Erfahrungen  werden  diese  Ver- 
änderungen  hervorgerufen,    die   in  jedem   Augenblick   im 
menschlichen  Bewußtsein  ablaufen,  und  u.  a.  auch  die,  von 
denen  der  Mensch  sagt,  daß  er  sie  wolle,  indem  diese  Er- 
fahrungen zusammenwirken  mit  deDfunmittelbaren  Eindrücken 
seiner  Sinne.    Die  Wirkungen  dieser  kombinierten  Faktoren 
werden   dcuin   in  jedem  Falle  noch  durch  den  allgemeinen 
oder  lokalen  physischen  Zustand  seines  Organismus  einiger- 
nmßen  abgeändert. 


14  H.  K.  Schwarze: 

Darin  liegt  aber,  daß  der  Menscli  wohl  tun  kann,  was 
er  zu  tun  wünscht,  daß  er  aber  nicht  nach  Belieben  begehren 
und  nicht  begehren  kann*),  d,  h.  daß  die  Frage  nach  der 
Freiheit  des  "Willens  entschieden  und  gänzlich  zu  verneinen 
ist.  Der  ganze  Begriff  der  Willensfreiheit  beruht  auf  einer 
Täuschung  subjektiver  und  objektiver  Art.  Das  geistige 
Ich  wird  f[ir  mehr  gehalten,  als  das  jeweils  bewußte  Aggregat 
von  Gtefuhlen  und  Vorstellungen  und  ihm  eine  Existenz 
neben  diesem  zugeschrieben,  während  doch  beide  identisch 
sind;  darum  auch  der  Ausdruck:  ich  habe  mich  entschlossen, 
insofern  eine  Inkorrektheit  enthält,  als  die  Entschließungen 
keineswegs  aus  einem  in  der  eben  dargelegten  Weise  ver- 
standenen Ich  bewirkt  werden,  sondern  notwendig  aus  der 
Art  der  widerstreitenden  Bewußtseinsinhalte  und  ihrer  Zu- 
sanmienhänge  mit  dem  unbewußten  hervorgehen. 

Die  objektive  Täuschung  besteht  in  dem  Mißverständnisse 
der  Tatsache,  daß,  je  größer  und  mannigfaltiger  dem  Qrade 
nsich  die  Zusammenhänge  eines  jeden  psychischen  Zustandes 
mit  anderen  werden,  desto  unberechenbarer  und  scheinbar 
gesetzloser  auch  die  psychischen  Veränderungen  selbst  er- 
scheinen müssen.  Die  scheinbare  Gesetzlosigkeit  ist  jedoch 
nicht  auf  Konto  eines  unabhängigen  Willens  zu  setzen, 
sondern  auf  das  der  verwickelten  Zusammensetzung  der  Ur- 
sachen; sie  ist  aber  auch  nur  scheinbar;  in  Wirklichkeit 
sind  die  Folgen  dieser  komplizierten  Ursachen  ebenso  gesetz- 
mäßig wie  die  einfachste  Beflextätigkeit '). 

c)   Absolute  und  relative  Ethik. 

Können  aber  die  sittlichen  Tatsachen  in  jeder  Beziehung 
auf  das  Kausalprinzip  zurückgeführt  werden,  und  ist  die 
Ethik  durch  den  Evolutionismus  zur  entwickelten  Wissen- 


^)  That  every  one  is  at  liberty  to  do  what  he  desires  to  do 
(supposing  there  are  no  extemal  hindrances)  all  admit;  though  people 
of  confused  ideas  commonly  suppose  this  to  be  the  thing  demed. 
But  that  eveity  one  is  at  libeTty  to  desire  or  not  to  desire  which  is 
the  real  proposition  involved  in  tne  do^ma  of  free  will,  is  negatived . .. 
by  the  analysis  of  consciousness.    (Princ.  of  Psych.  I,  500.) 

«)  Vgl.  hierzu  Princ.  of  Psych.  I,  517—527. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  15 

schafb  ge^worden,  so  heißt  das,  daß  letzte  dauernde  Gesetze 
aiifgestellt    und  bestimmt  formuliert  werden  können.    Das 
ist  in  der  Tat  mögliöh  und  geschieht  wie  bei  allen  anderen 
Wissenscliaften.     So  wie  z.  B.  die  Mechanik  zu  ihren  ab- 
soluten Wahrheiten  gelangt,   indem  sie  aus   den  ihrer  Be- 
trachtang unterliegenden  Vorgängen  die  unwesentlichen,  ver- 
wirrenden   Momente    eliminiert    und   nur   die   idealen   Be- 
dingungen   ins    Auge    faßt,    so   muß    auch   die   Ethik   die 
endgültigen  Gesetze  des    sittlichen  Handelns   unter  EUmi- 
nation  aller  sie  verdunkelnden  Zufälligkeiten  feststellen.  Erst 
wenn  sie  das  getan  hat,  kann  sie  es  unternehmen,  auch  das 
tatsachliche,  unter  der  verwickelten  gegenwärtigen  Wirklich- 
keit  sich  vollziehende  Handeln  zu  untersuchen,   d.  h.  die 
relativen  Wahrheiten   zu   formulieren.    Da   aber   die  Ver- 
wickeltheit  des  gegenwärtigen  Handelns  die  Folge  mannig- 
facher Widerstreite   und   Hemmungen   ist,   wie    sie    einem 
Übergangszustande  anhaften,  so  sind  die  darin  sich  offen- 
barenden  absoluten  Wahrheiten  zugleich  die  Gesetze  eines 
Zustandes  vollkommener  Entwicklung,  und  es  ist  die  Be- 
hauptung gerechtfertigt,  da£  ein  idealer  Kodex  des  Handelns 
bestehen  muß,   welcher  das  Betragen   des  vollkommen  an- 
gepaßten,   des  idealen  Menschen  in  der  vollkommen  ent- 
wickelten Gesellschaft  zum  Ausdruck  bringt.     „Ein  solcher 
Kodex  ist  es,   was  wir  hier  absolute  Ethik  nennen,   zum 
Unterschied  von  der  relativen  Ethik,  ein  Kodex,  dessen  Ge- 
bote allein  als  absolut  richtig  anzusehen  sind  im  Gegensatz 
zu  jenen,   die  nur  relativ  richtig  oder  am  wenigsten  böse 
sind,  und  der  als  System  des  idealen  Handelns  des  höchsten 
Maßstab    darstellen    soll ,  *  wenn   wir    so    gut   als    möglich 
die    Angabe    des    realen    Handelns   zu    lösen    versuchen^ 
(I,  308). 

Diese  Unterscheidung  ist  um  so  nötiger,  als  es  keineswegs 

in  jedem  Falle  nur  einen  guten  und  einen  bösen  Weg  gibt, 

vielmehr  in  zahlreichen  Fällen  von  gut  im  eigentlichen  Sinne 

gar  nicht  geredet  werden  kann,  sondern  nur  vom  kleinsten 

Übel,  und   in  anderen  wieder  es  nicht  einmal  möglich  ist, 

irgendwie  bestimmt  festzustellen,  welches  das  kleinste  Übel 


16  H.  IL  Schwarze: 

ist.    Ein  Handeln  aber,  das  irgendein  Übel  sohafH,  kann 
nicht  absolut  gut  sein. 

Die  Entwicklung  strebt  nun  dahin,  die  Übel  immer 
seltener  zu  machen,  die  Natur  des  Menschen  so  an  seine 
Lebensbedingungen  anzupassen,  daß  endlich  die  absolute 
Ethik  allein  und  allenthalben  heirschen  wird.  Dann  aber 
wird  der  Mensch  den  Zustand  des  „ideal  man''  erreicht 
haben,  wie  er  allen  Moralisten  vorschwebt. 

L  Methodolo&riBcher  Teil  (Kritik). 

a)    Der  wissenschaftliche    Charakter   der  Ethik 

im  allgemeinen. 

Spencers  Kritik  der  Wissenschaftlichkeit  einer  Wissenschaft  ist 
ein  Ausfluß  seiner  in  den  First  Prindples  dargele^n  Lehre,  dafi  der 
Fortschritt  der  Wissenschaften  in  der  Vereinheithchun^  des  Wissens 
bestehe.  Man  wird  ihm  beistimmen  müssen,  wenn  er  hier  ma  besonderen 
als  CharakteristilEum  einer  entwickelten  Wissenschaft  die  Zusammen- 
fassung ihrer  empirischen  Verallgemeinerungen  in  eine  rationelle  er- 
kennt und  von  der  Ethik  sagt,  daß  ihr  eine  solche,  das  ist  eine  Ver- 
allgemeinerung aus  den  inneren  ursächlichen,  nicht  aus  dem  äußerlich 
sinnfälligen  Zusammenhange  der  Tatsachen  heraus,  noch  fehle.  £r 
entnimmt  aus  dem  Vorhandensein  dieses  Mangels  für  sich  die  Auf- 

fabe,  der  Ethik  die  „rationelle  Veralleemeinerung**  zu  geben.  Di& 
.ufsabe  ist  die  höchste,  die  er  sich  wählen  konnte.  Es  muß  jedoch 
die  Frage  gestellt  werden,  ob  sie  für  die  Ethik  lösbar  ist,  und  wenn, 
ob  die  au^efundenen  ursächlichen  Zusammenhänge  in  ein  einziges 
allgemeines  Gesetz  zusammengefaßt  werden  können.  Es  ist  dies  oei 
dem  besonderen  Charakter  der  Moralwissenschaft  keineswegs  eine 
Frage,  deren  positive  Lösung  ohne  weiteres  klar  wäre. 

Die  Ethik  ist  in  erster  Linie  eine  praktische  Wissenschaft,  ja 
die  praktische  Wissenschaft  schlechthin,  sowohl  in  dem  Sinne,  daß 
lediglich  die  Führung  des  Lebens  und  seine  Resultate  das  Objekt 
ihrer  Untersuchung  sind,  als  auch  in  dem,  daß  ihr  dieses  Objekt 
Selbstzweck  ist.  Diese  Eigenart  bedingt  mannigfache  Schwierigkeiten 
der  ethischen  Forschung.  Die  Kompliziertheit  und  Üngleicharti^keit 
des  Objekts,  die  fortwährenden,  äußerst  vielseitig  bedingten  Wand- 
lungen der  ethischen  Anschauungen  lassen  der  exakten  Untersuchung 
nur  wenig  Raum.  Die  erfolgreichen  Forschungswege,  die  andere 
Wissenschaften  einzuschlajgen  vermögen,  bleiben  der  Ethik  entweder 
ganz  verschlossen,  wie  die  des  Experimente,  oder  sind  nur  im  be- 
schränkten Maße  gangbar,  wie  die  der  historischen  Betrachtung. 
Schon  das  muß  die  Zusammenfassung  der  empirisch  ethischen  Ver- 
allgemeinerungen in  eine  rationelle  viel  schwieriger  erscheinen  lassen 
als  in  allen  anderen  Wissenschaften. 

Sodann  ist  die  Ethik  eine  Wissenschaft  höheren  Grades,  ein  Teil 
der  Philosophie.  Als  solche  muß  sie  sich  auf  die  Ergebnisse  spezieller 
Wissenscharten  stützen,  um  zu  ihren  Ergebnissen  zu  gelangen,  nicht 
bloß  einiger  Wissenschaften,  sondern  aller,  allerdings  einiger  in  be- 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  17 

sonderem  Maße.    Es  muB  ohne  weiteres  zugegeben  werden,  daß  die 
Ethik  in  diesen  Entlehnungen  rationell  entsprechend  den  betreffenden 
Wissenschaften  sein  muß.    Aber  wo  ist  die  Zusammenfassung  aller 
Wissenschaften  in  ein  einziges  oberstes  Prinzip?    Nur  diese  könnte 
]a  'Wohl   der  Ethik  die  rationelle  Yeralleemeinerung  oder,  was  das- 
selbe istf  das  eine  alle  sittlichen  TatsacSaen  umfassende  Deduktions- 
prinüp  geben,  das  ihr  fehlt.    Noch  ist  die  Philosophie  nicht  so  weit, 
daß    sie  dieses  Prinzip  gefunden  hätte.     Alles  bisher  in  dieser  Be- 
ziehung;  Geleistete  ist  höchstens  individuell  subjektive  Rationalität, 
nicht  aber  generell  objektive.    Vielleicht  liegt  diese,  wenn  sie  auch 
immer  das  iSeale  Endziel  alles  Wahrheitsstrebens  sein  muß,  überhaupt 
jenseit  der  Grenzen  menschlicher  Fähigkeit.    Solange  sie  jedoch  nicnt 
^tuenden  ist,  muß  sich  die  Etiliik  der  Möglichkeit  einer  uniformen, 
in  allen  ihren  Teilen  gleichgerichteten  Deduktion  entziehen,  und  es 
muß  daran  festgehalten  werden,  daß  die  Lösung  der  höchsten  Fragen 
des  Daseins  naäi  wie  vor  wenieer  objektiv  erkennbar  als  subjektiv 
erfaßbar  ist,  und  daß  nur  darin  das  G^nie  sich  offenbart,  daß  es  der 
Mond  vieler  ist. 

Spencer  glaubt  aber,  dieses  oberste  Prinzip  in  der  Entwicklun^- 
theorie  gefunden  zu  haben.    So  hoch  die  Entwicklungstheorie  em- 

feschätzt  zu  werden  verdient,  und  so  wichtig  ihre  Leistungen  für 
as  i^anze  moderne  Geistesleben  schon  sind  und  noch  sein  werden, 
muß  jedoch  der  Glaube  an  diese  Anwendbarkeit  des  Evolutionsprinzipes 
als  eine  Überschätzung  erscheinen.    Das  Entwicklungsprinzip  ist  ein 
Prinzip  des  Werdens,  nicht  des  Seins;  es  liegt  aber  im  Wesen  des 
Sittlichen  das  Moment  des  Beharrenden,  einer  bestimmten  stetigen 
Zust&ndlichkeit ,    die  unabhängig   bestehe   von   dem   fortwährenden 
Wandel  und  über  demselben  *),  und  dieses  Moment  —  man  könnte  es 
die  metaphysische  Seite  des  Moralischen  nennen  —  widerstrebt  der 
Alleinherrschaft  des  Entwicklungsprinzipes  in  der  Ethik.    Außerdem 
^bt  der  Evolutionismus  im  letzten  Grunde  höchstens  eine  Antwort 
auf  die  Frage,  wie  etwas  geschieht,  nicht  aber  auf  die,  warum  es 
geschieht.     Das  kommt   aucn   in   Spencers   Entwicklungsformel    zur 
Geltung.    Logisch  betrachtet  ist  diese  lediglich  eine  Deskription,  nicht 
aber  ein  Gesetz,  wenn  man  mit  Wundt  als  die  wesentlichen  Merk- 
male   eines    Gesetzes   auffaßt:    1.    die    Verknüpfung   selbständig    zu 
denkender   Tatsachen,   2.   das   direkte    oder   indirekte   kausale    v  er- 
h&ltnis,  und  3.  den  heuristischen  Wert  und  die  generelle  Bedeutung^). 
Dazu  kommt  der  hypothetische  Charakter  sowohl  einiger  ihrer 
Voraussetzungen    als   vor  allem    ihrer   Konsequenzen.     Unter    den 
ersteren  ist  besonders  zu  nennen  die  Annahme,  daß  die  Entwicklungs- 
formel  das  Gesetz  der  Zusammenwirkung  der  einzelnen  fundamentalen 
Kraftgesetze  sei,  und  daß  alle  Bewegung  rhythmisch  verlaufe,  unter 
den  letzteren  die  Annahme  der  universellen  Gültigkeit  der  Formel 
und    die    Idee    der   Vervollkommnung.     Was    die    Idee    der   Ver- 
vollkommnung betrifft,  so  muß  sie  auf  dem  Boden  einer  mechanischen 
Weltanschauung  seltsam  erscheinen.    Der  Ausgleich  der  Kräfte  geht 
unaufhörlich  und  stetig  vor  sich  und  vollkommen;  es  ist  überflüssig 
zu  sagen,  gemäß  seinen  Bedingungen;  denn  diese  Bedingungen  sind 

')  Hierauf  beruht  auch  die  große  Verwandtschaft  zwischen  Ethik 
and  Beligion.    Das  Wesen  dieser  Zuständlichkeit  und  die  Mittel  zu 
ihrer  Verwirklichung  zu  bestimmen,  muß  schließlich  als  der  wesent- 
lichste Zug  des  ethischen  Problems  erscheinen. 
«)  Wundt,  Logik,  2.  Auflage,  II,  2,  132  ff. 

VierteljahrsBcbrift  f.wisBenschaftl.Philos.  u.Soz.  X^XII.  1.  2 


18  H.  K.  Schwarze: 

eben  Kräfte.  Wenn  nun  alle  Din^  und  Erscheinungen  Produkte 
dieses  AuBgleichs  sind,  so  müssen  sie  wie  d^  Ausgleich  selbst  voll- 
kommen oder  besser  jenseit  von  vollkommen  und  unvollkommen  sein. 
Die  Entwicklung  als  Ganzes  objektiv  und  materialistisch  betrachtet, 
kann  demnach  nicht  ein  Höherbilden,  sondern  nur  ein  Umbilden  be- 
deuten,  und  ihre  graphische  Darstellung  muß  nach  diesem  Stand- 
punkte eine  nach  der  Unendlichkeit  orientierte  Gerade  sein.  Anders 
vom  subjektiven  und  psychologischen  Standpunkte  aus.  Hier  sind 
nur  bescnränkte  Zeitstreckeo  zu  Oberschauen  möglich,  und  ihre 
Orientierung  geschieht  nach  den  drei  Merkmalen  der  geistigen  Seite : 
der  Erfahrung:  der  Wertbestimmung,  der  Zwecksetzung  und  der 
Willensbetätigung ').  Und  in  der  Tat  erscheint  von  hier  aus  die  Kurve 
der  Entwicklung  auf  und  absteigend,  so  daß  hier  der  Begriff  Ver- 
vollkommnung mit  seinem  Gegenteil  ganz  am  Platze  ist. 

Da  Spbncer  die  Yerschieoenheit  der  Standpunkte  Obersieht,  ist 
seine  Entwicklungsformel  weder  dem  einen,  noch  dem  anderen  adftq^uat ; 
im  besonderen  kann  sie  darum  fOr  die  Ethik  nicht  die  Bedeutung 
haben,  die  Spencer  ihr  zuschreibt,  da  diese  die  geistige  Seite  eines 
großen  und  wichtigen  Teils  der  Erfahrung  in  einem  ganz  besonders 
intensiven  und  charakteristischen  Sinne  zum  Objekte  hat. 

Auf  zweierlei  Weise  sucht  er  seine  Entwicklungsformel  als  einzie 
maßgebendes  Prinzip  in  die  Ethik  einzuführen,  einmal  auf  mehr  all- 
gemeine, indem  er  das  „universale  Handeln^  betrachtet,  und  sodann 
auf  eine  mehr  spezielle,  indem  er  die  wissenschaftlichen  Grundlagen 
der  Ethik  untersucht.  Zu  einem  wenig  sympathischen  allgemeinen 
Schlüsse  gelangt  er  auf  letzterem  Wege.  Er  findet,  daß  die  Ethik 
eine  psysikalische,  biologische,  psychologische  und  soziologische  Seite 
habe  und  darum  ihre  letzten  Erklärungen  nur  in  jenen  Tatsachen 
finden  könne,  die  allen  diesen  Einzel  Wissenschaften  gemeinsam  sind. 
Damit  wird  die  Ethik  aller  Selbständigkeit  entkleidet  und  lediglich 
als  ein  Gebiet  dargestellt,  das  allen  diesen  vier  Wissenschaften  ge- 
meinsam zugehört  und  infolge  dieser  vierseitigen  Zugehörigkeit  eme 
gewisse  Originalität  und  das  Kecht  der  Existenz  als  besondere  Wissen- 
schaft besitzt.  Das  heißt  aber:  es  gibt  überhaupt  kein  etiiisches 
Problem,  sondern  das,  was  bisher  als  solches  bezeichnet  wtirde,  ist 
lediglich  eine  etwas  eigenartige  Seite  der  Naturwissenschaft  und 
findet  seine  Lösung  durch  eine  geschickte  Normierung  dessen,  was 
Physik,  Biologie,  Psychologie  und  Soziologie  über  das  universale 
Handeln  im  allgemeinen  und  das  menschliche  Handeln  im  besonderen 
zu  sagen  haben. 

Demgegenüber  muß  aber  betont  werden,  daß  es  eine  spezifisch- 
ethische Betrachtung  des  Handelns  gibt,  die  als  das  Handeln  im 
Lichte  eines  gewissen  Normbegriffs  scnauend  und  an  gewisse  ethische 
Lituitionen  anknüpfend,  unvergleichbar  ist  den  genannten  einzel- 
wissenschaftlichen Untersuchungen;  welcher  Normbe^ff  zwar  nicht 
ursprünglich  gegeben,  aber  auch  nicht  bloß  eine  ICombination  von 
ph'*''sikarischen ,  biologischen,  psychologischen  und  soziologischen 
Wahrheiten  ist,  sondern  der  Gesamtheit  aller  Wissenschaften,  mit 
anderen  Worten,  der  gesamten  geistigen  Kultur  entspringt  und  der, 
insofern  sich  diese  in  mren  höchsten  S'ormen,  wie  die  Geschichte  der 
Menschheit  beweist,  in  gewissen,  sich  immer  gleichbleibenden  Bahnen 
bewegt,  jene  Konstanz  besitzt,  die  dem  innersten  Wesen  des  Sittlichen 

*)  WuNDT,  vgl.  Eisleb:  W.  Wundts  Philosophie  und  Psychologie, 
Leipzig  1902,  S.  38. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  19 

«ntspricht.  Diesen  Narmbegriff  aber  vermögen  Physik,  Biologie, 
Psj^chologie  und  Soziologie  weder  zu  fassen,  noch  zu  erzeugen,  wenn* 
^eich  sie  ihm  sicherlich  die  wichtigsten  ZOee  liefern. 

Vor  allem  muß  man  unter  den  rar  die  Emik  als  besonders  wichtig 
genannten  Wissenschaften  ein  Gebiet  vermissen,  das  ist  die  Geschichte. 
Soziologie  soll  sie  zwar  wahrscheinlich  mit  unifassen,  wird  sie  doch 
.Philosophie  der  Geschichte'' ')  genannt,  aber  sie  tut  es  in  Wirklich- 
keit nicht,  w^euigstens  nicht  bei  Spencer,  bei  dem  sie  einen  viel  engeren 
Zusammenhang  hat  mit  naturwissenschaftlichen  Hypothesen  als  eben 
mit  der  geschichtlichen  Tatsächlichkeit.  Die  vier  wissenschaftlichen 
Gnmdlagen  der  Ethik,  wie  sie  Spencer  gestaltet,  bieten  infolge  ihrer 
univerBeiL  evolutionistischen  Auffassung  wenig  Baum  für  das  spezifisch 
Menschliche.  Es  liegt  hier  die  Erklärung  für  den  großen  Optimismus 
Spencers,  der  allerorten  in  seinem  ethischen  System  zutage  tritt. 

Die  logische  Grundlage  des  Evolutionismus  ist  das  Kausaiitäte- 
prinzip.  Dieses  als  ein  rem  formales  Prinzip  kann  zwar  nicht  die 
oberste  allumfassende  Deduktionsquelle  der  Ethik  sein,  dazu  gehört 
ein  substantielles  Urteil,  es  kann  aber  als  der  einzige  Weg  betrachtet 
werden,  der  schließlich  zu  ihr  hinführt.  In  der  Foraerung  der  Unter- 
suchung der  kausalen  Zusammenhänge  allenthalben  in  den  ethischen 
Erscheinungen  liegt  darum  auch  Spencers  Bedeutung  für  die  Ethik. 
Es  tritt  hierin  der  überwältigende  Einfluß  der  modernen  Naturwissen- 
schaft in  ihm  zutage,  deren  Methode  er  ohne  weiteres  auf  die  Ethik 
fiberträgt.  Das  fSirt  aber  auf  den  Gegenstand  des  nächsten  Ab- 
schnitts. 

b)   Vom  "Willen  und  von  der  "Wiillensfreiheit. 

Mit  der  Forderung  der  unbeschränkten  Geltung  des  Kausal- 
prinzips  auf  ethischem  Gebiete  tritt  Spencer  ein  in  &n  Kampf  um 
die  Willensfreiheit.  Seine  evolutionistischen  Prinzipien  im  allgemeinen 
und  seine  physiologisch-psychologischen  drängen  ihn  zum  radikalen 
Betermiiiismus.  Was  die  letzteren  Prinzipien  betrifft,  so  stimmen 
sie  vielfach  und  in  wichtigen  Punkten  mit  den  Ergebnissen  der 
modernen  deutschen  Psychologie  überein,  so  z.  B.  in  bezug  auf  die 
Lehre  von  der  Kontinuität  und  prinzipiellen  Gleichheit  aller  geistigen 
Vorgäne;e,  die  klare  Erkenntnis  der  Bedeutung  des  Überindividuellen, 
den  votrständigen  Bruch  mit  der  Vermögenstheorie,  dazu  kommen 
auch  Spuren  einer  Auffassung  aller  psychischen  Existenz  lediglich 
als  Ereignis.  Leider  ist  Spencer  nicht  durchgedrungen  zuru)rinzipiellen 
Sonderung  von  Psychologie  und  Physiologie,  des  Psvonischen  vom 
Physischen.  Sicherlich  kann  und  soll  die  Physiologie  die  Psychologie 
unterstützen,  aber  sie  soll  sie  nicht  bestimmen ").  So  hat  Spencer  eme 
Reihe  physiologischer  Hypothesen  in  seiner  Psychologie,  wie  z.  B. 
die  Zurückfülurung  des  Psychischen  auf  Mole£;ularbewegungen  im 
Gehirn  und  in  den  Nervenbahnen,  die  Identifikation  des  Psychischen 
mit  auf  unerkennbare  Weise  umgewandelter  nervöser  Energie,  die 
weitgehendste  Abhängigkeit  des  Psychischen  von  der  Ausbildung  bzw. 
dem  V  orhandensein  entsprechender  Nervenstrukturen,  womit  er  direkt 
die  Wichtigkeit  des  Assoziationsgesetzes  als  des  Grundgesetzes  alles 


')  ^gl-  BAurH,  Philosophie  der  Geschichte  als  Soziologie,  Leipzig 

*)  Wt'SDT,  Vgl.  E18LKR  a.  a.  O.  S.  36. 

2* 


20  H.  K.  Schwarze: 

physiBchen  Geschehens  in  Verbindung  bringt  %  die  nervös-strukturell» 
Vererbung  der  generellen  oder  organisierten  Erfahrung.  Natürlich. 
ist  auf  wund  solcher  Hypothesen  die  Geltung  der  mechanischen 
Kausalität  auf  dem  Gebiete  des  Psychischen  eine  selbstverständliche 
Konsequenz.  Vielleicht  würde  Spenceb,  wenn  er  nur  seinen  psycho- 
logischen Prinzipien  gefolgt  wäre,  zu  einer  ähnlichen  Auffassung;' 
gekommen  sein  wie  Wundt,  nämlich  zur  Annahme  einer  besonderen 
psychischen  Kausalität  neben  der  vollständig  geschlossenen  physischen» 
die  der  Erfahrung  der  Willensfreiheit  vollständig  gerecht  wird  durch, 
die  Annahme  eines  psychischen  Determinismus  oder  einer  Kausalität 
des  Charakters. 

Was  Spencbbs  spezielle  Willenstheorie  betrifft,  so  vermag  sie 
zwar  den  physiologischen  Grund  nicht  zu  verbergen,  aber  sie  drängt 
ihn  doch  auch  nicht  gerade  einseitig  hervor,  ja  vielfach  tritt  hier 
Übereinstimmung  mit  der  modernen  deutschen  Willenstheorie  bzw. 
Psychologie  hervor,  so  in  bezug  auf  den  engen  Zusammenhang  des- 
Willens mit  dem  Gefühl,  die  Erkenntnis  des  Widerstreits  der  Be- 
wußtseinsinhalte als  des  wesentlichsten  Moments  des  Willensvorganges,, 
die  Mitwirkung  des  Überindividuellen,  die  Ablehnung  eines  besonderen 
unabhängigen  Willensvermögens.  Bedenken  muß  Spencers  Willen- 
theorie besonders  erregen  in  bezug  auf  die  Entstehung  des  Willens,, 
damit  zusammenhängend  auf  die  eng^  Beschränkung  des  Gebiets  der 
Willenserscheinungen  und  die  allzu  geringe  Einsenätzung  der  Be- 
deutung des  Willens  auf  dem  Gebiete  des  Psychischen  überhaupt. 

Was  den  ersten  Punkt  betrifft,  so  ist  Spencer  der  Meinung,\da& 
der  Wille  in  jedem  Falle  eine  objektive  Ursache  habe  und  dalT  diese 
Ursache  „eine  Bewegung,  d.  i.  eme  Andersverteilung  von  Kraft  und 
Stoff,  sei  mit  einer  unabsehbaren  Kette  von  Voraussetzungen.  Es 
folgt  diese  Lehre  direkt  aus  seiner  physiologischen  Pundamentierung- 
der  Psychologie.  Wenn  aber  eine  psychische  Erscheinung  rein 
psychologisch  betrachtet  werden  muß,  so  ist  es  der  Wille;  dßnn  das 
Formende  und  nach  logisdien  und  ethischen  Normen  Verbindende» 
das  die  höheren  psychischen  Prozesse  auszeichnet,  kommt  bei  ihm  in 
besonderem  Maße  zur  Geltimg.  Es  ist  eine  unannehmbare  Ver- 
allgemeinerung Spencers,  wenn  er,  mag  es  auch  bei  vielen  besonders 
einfachen  Willensprozessen  zutreffen,  behauptet,  alle  unsere  äußeren 
Willenshandlungen  hätten  eine  Bewegung  zur  notwendigen  Voraus- 
setzung. Zunächst  ist  damit  die  Veranlassung  des  Willensvorgan^es- 
durchaus  nicht  erklärt;  denn  es  kann  mit  keinem  Mittel  begreif bch 

gemacht  werden,  wie  aus  einer  Bewegung  eine  Empfindung  oder  ein 
efühl  oder  überhaupt  Psychisches  werden  kann'.  Sodann  fehlt 
dieser  Ver^gemeinerung  jeder  Beweis,  weder  gibt  ihm  die  unmittel- 
bare Beobachtung  und  Erfahrung,  noch  kann  er  aus  dem  allgemeinen 
Zusammenhang  zwischen  Leib  und  Geist  erschlossen  werden,  wenn 
auch  zuzugeben  sein  wird,  daß  jeder  psychische  Vorgang  seine 
physiologische  Korrespondenz  besitzt,  Korrespondenz,  nicht  aber 
Ursache.  Spencers  Lehre  über  die  Veranlassung  des  Willensvor^angea 
ist  eine  petitio  principii,  entflossen  der  Verquickung  von  Physiologie 
und  Psychologie. 

Damit  hängt  direkt  zusammen  die  enge  Beschränkung  des  Ge- 
bietes der  Willenserscheinungen.    Das  Wollen  ist  ihm  der  Widerstreit 

')  Vgl.  Princ  of.  Psych.  I,  §  116. 

^)  Spencer  spricht  übrigens  dasselbe    aus:   vgl.  First  Principles 
21  f.;  Pr.  of.  Psych.  §§  270-72. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  21 

zweier  Gruppen  idealer  motorischer  Veränderungen  um  die  Beali- 
sation,  „von  denen  schließlich  eine  siegt^.  Wenn  man  sich  vergeeen- 
w&rtigt,  daß  jeder  klarbewußte  Willensvorgang  im  Subjekt  ein  G-etühl 
der  Selbsttätigkeit  erweckt  und  dieses  Gemhl  lediglich  den  Willens- 
akten anhaftet,  also  ein  Kennzeichen  für  sie  ist,  so  springt  in  die 
Augen,  wie  viel  zu  eng  Spkncbrs  Definition  ist.  Sie  vernachlässigt 
alles  das,  was  Wondt  innere  Willenshandluns  nennt,  und  wird  der 
fundamentalen  Bedeutung  des  Willens  fQr  alle  psychischen  Prozesse 
durchaus  nicht  gerecht. 

Kein  Wunder  daher,  wenn  die  Willensvorgän^e  als  ohne  Einfluß 
auf  die  Entwicklung  im  allgemeinen  angesehen,  ja  schließlich  über- 
haupt nicht  als  besondere  psychische  Erscheinungen  anerkannt,  sondern 
inbegriffen  werden  in  die  des  Gedächtnisses,  der  Vernunft  und  im 
besonderen  des  Gefühls  als  gleichzeitig  mit  ihnen  und  neben  ihnen 
entstehend.  Jedoch  eben  darin,  daß  cQe  Willensvorgänge  durch  die 
Wechselwirkung  der  Bewußtseinsinhalte  aufeinander  entstehen,  außer 
derselben  aber  keine  Existenz  haben ,  liegt  der  Charakter  ihrer  Be- 
sonderheit und  die  Nötigung,  das  Wollen  als  spezifischen  psychischen 
Vorsang  anzuerkennen,  liegt  zugleich  seine  Bedingtheit  und  seine 
Fremeit,  seine  Abhängigkeit  von  allen  psychischen  Inhalten  und  seine 
Herrschaft  über  alle. 

Da  aber  die  Bewußtseinsinhalte  als  Psychisches  außerhalb  der 
mechanischen  Kausalität  stehen,  so  kann  auch  die  Bedingtheit  und 
Unabhängigkeit  des  Willens  nur  eine  psychische  sein.  Diese  psychische 
Elausalität  ist  nicht  ein  Abbild  oder  eine  Wirkung  der  physischen 
vermittelst  der  Erfahrung;  denn  die  psychischen  Zusammenhänge 
sind  nach  eigenen  Gesetzen  und  zum  grouen  Teil  unter  Vermittlung 
des  Willens  durch  eine  apperzeptiv-synthetische  Bewußtseinsfunktion 
hergestellt,  sondern  die  physische  Kausalität  ist  eine  Folge  der 
psychischen,  lediglich  ein  logisches  Prinzip.  Sicherlich  besteht  also 
9PEMCKB8  Behauptung,  daß  der  Mensch  nicht  nach  Belieben  wollen 
kann,  an  sich  betrachtet,  vollständig  zu  recht;  da  er  aber  nicht  unter- 
scheidet zwischen  psychischer  und  mechanischer  Kausalität ,  sondern 
nur  die  mechanische  "kennt,  so  birgt  sie  einen  großen  Mangel.  Damit 
erledigt  sich  der  Vorwurf  einer  objektiven  und  einer  subjektiven 
Täuschung,  den  Spkncer  den  Anhängern  der  Willensfreiheit  macht. 
Er  muß,  wenn  an  sich  betrachtet,  als  berechtigt  anerkannt  werden. 
Wird  er  aber  in  bezug  zu  seinen  physiologiscnen  Voraussetzungen 
betrachtet,  ergibt  sich  die  Nötigung,  den  Vorwurf  zurückzugeben. 
Spencer  macht  sich  einer  subjektiven  Täuschung  schuldig,  indem  er 
die  intuitive  Gewißheit  der  Wahlfreiheit,  deren  sich  der  Mensch  fort- 
während bewußt  wird,  übersieht  und  nicht  erkennt,  daß  auch  das 
Handeln  „im  Bewußtsein  der  Bedeutung,  welche  die  Motive  und 
Zwecke  für  den  Charakter  des  Wollenden  besitzen''^),  ein  freies 
Handeln  ist.  Und  er  macht  sich  einer  objektiven  Täuschung  darin 
schuldig,  daß  er,  wie  schon  gesagt,  psychische  und  mechanische 
Eausahtät  nicht  unterscheidet. 

c)   Absolute  und  relative  Ethik. 

Die  Scheidung  der  Ethik  in  absolute  und  relative  hängt  einer- 
seits eng  mit  der  Frage  nach  der  Wissenschaftlichkeit  der  Ethik, 
andereeits   mit    der   nach   dem   sittlichen   Ideal   bzw.  dem   sittlichen 


J)  WuNDT,  Ethik,  3.  Aufl.,  11,  70. 


22  H.  K.  Schwarze: 

Endzustand  zusammen.  War  die  Forderung  nach  rationeller  Ethik 
niehr  vom  rein  theoretischen  Standpunkt  aus  erfolgt,  so  spricht  hier 
die  praktische  Auffassung  wesentlich  mit,  ja  sie  liefert  schließlich  die 
alleinige  Stütze;  denn  die  theoretische  Begründung  erweist  sich  bei 
näherem  Zusehen  als  nicht  standhaltend. 

Was  zunächst  die  letztere  betrifft,  so  ist  zuzugeben,  daß  auch 
für  die  Ethik  die  Abstraktion  umfassender  allgemeiner  Wahrheiten 
aus  den  einzelnen  konkreten  Fällen  das  Kennzeichen  wissenschaft- 
lichen Fortschritts  ist,  aber  doch  in  etwas  anderem  Sinne  als  bei  den 
Einzelwissenschaften.  Zu  den  schon  Seite  20  f.  angeführten  Gründen 
ist  hier  hinzuzufügen,   daß    die    allgemeinsten   spezifisch  ethischen 

.  J^ahrheiten  seit  langer  Zeit  feststehen.    Was  die  Ethik  zu  leisten 
nat,  ist  darum  nicht  zuerst  Feststellung  neuer  Werte,  sondern  Schutz 

-*  der  alten,  altbewährten,  dem  menschlichen  Wesen  adäquaten  vor  der 
Beseitigung  durch  Umstürzler,  sodann  Umprägung  in  eine  Form  ent- 

.  sprechend  dem  Geeiste  der  Zeit,  so  daß  ihre  veredelnde,  unersetzbare 
Leitung  trotz  der  immer  stärker  werdenden  Verdimklung  durch  die 
wachsende  Kompliziertheit  der  Lebensverhältnisse  von  neuem  erkannt 
werde  und  allgemein  wirksam  sei.  In  bezug  auf  den  ethisch-wissen- 
schaftlichen Fortschritt  kann  es  sich  also  nur  um  die  neuartige  Be- 
gründung und  höchstens  um  Ergänzung  dieser  Altwerte  und  im  be- 
sonderen um  die  Ausschließung  alles  prinzipi^len  Schismas  handeln. 
Anders  bei  den  Einzelwissenschaften ,  im  besonderen  bei  der 
Naturwissenschaft.  Hier  kommt  es  in  erster  Linie  ja  lediglich  auf 
die  Grewinnung  neuer  und  allgemeinster  Wahrheiten  und  ihre  syste- 
matische Daxstellung  an.  Der  Unterschied  liegt  begründet  in  dem 
Charakter  der  Ethik  als  theoretisch-praktischer  Disziplin  und  der 
Wissenschaften  als  rein  theoretischer  Gebiete.  Damit  hängt  zusammen,, 
daß  die  allgemeinsten  Wahrheiten  der  Ethik  Normen  für  den  Willen^ 
die  der  Wissenschaften  Definitionen  für  den  Verstand  sind. 

Das  führt  auf  die  größte  Schwierigkeit,  die  der  SpENCKKSchen 
Scheidung  der  Ethik  in  absolute  und  relative  entgegensteht.  Sprnckr 
ist  infolge  seiner  Evolutionstheorie  der  unerschütterlichen  Gewißheit, 
daß  dem  menschlichen  Handeln  gewisse,  im  äußeren  Geschehen  be- 
dingte und  demselben  analoge  Gesetze  zugrunde  liefen  und  daß  es- 
nur  gilt,  diese  Gesetze  festzustellen  und  zu  formuLeren,  um  einen 
idealen  Kodex  des  Handelns  zu  haben.  Der  Gedanke  der  gesetz- 
mäßigen Bedingtheit  des  Handelns  ist  ein  großer  und  viel  erörterter 
und  seine  Betonung  entschieden  eine  glänzende  Seite  der  SpRNCEBSchen 
Ethik,  aber  man  wird  von  vornherein  behaupten  können,  daß,  wenn 
hier  ein  positives  Ergebnis  möglich  ist,  dies  nur  auf  psychologischem 
Wege  gefunden  werden  kann,  da  sowohl  die  äußeren  als  besonders 
die  inneren  Bedingungen  des  Handelns  lediglich  als  psychische  Werte 
die  Ausführung  der  Bandlungen  bewirken,  die  psychischen  Vorgänge 
aber,  selbst  wo  sie  direkt  äußerlich  bedingt  erscheinen,  nicht  Funktionen, 
sondern  nur  Parallelerscheinungen  der  physisdien  sind.  Nach  dieser 
Überlegung  kann  Spencers  Physiologismus  nicht  als  geeignet  er- 
scheinen, em  befriedigendes  Ergebnis  nerbeizuführen,  vielmehr  legen 
die  Gesetze  der  psychischen  Kausalität,  im  besonderen  das  der  Hetero- 
gonie  der  Zwecke  nahe,  daß  zwischen  den  physischen  und  den 
psychischen  Bedingungen  des  Handelns  durchaus  nicht  jener  gesetz- 
mäßige Zusammenhang  besteht,  dessen  Spencer  bedarf.  Die  Statistik, 
in  der  ja  die  auf  das  menschliche  Handeln  bezüglichen  Lehren  der 
Biologie  und  Soziologie  am  ausdruckvollsten  zutage  treten,  beweist 
nur,   daß  der  WiUe  durch  äußere  besonders  soziale   Zustände  „be- 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  23 

einfliißt,  nicht  aber,  daß  er  einzig  und  allein  durch  sie  bestimmt  wird" ; 
das  hauptalU^hlioh  Bestimmende,  der  persönliche  Faktor,  entzieht  sich 
vielmehr  allen  statislischen  Berechnungen^). 

WuNDTs  Gesetz  der  Heterogouie  der  Zwecke  besteht  bekanntlich 
darin,  »daß  die  £ffekte  bestimmter  psychischer  Ursachen  stets  ttber 
den  Umkreis  der  in  den  Motiven  vorausgenommenen  Zwecke  hinaus- 
reichen und  daß  aus  den  gewonnenen  Mfekten  neue  Motive  hervor- 
gelxen,  die  eine  abermalige  schöpferische  Wirksamkeit  entfalten 
können^  ^.  Diese  Ober  die^^illenssphäre  des  handelnden  Subjekts 
hinausliegenden,  häufig  zufällig  genannten  Nebeneffekte  können  aber 
nie  im  voraus  bestimmt  werden  und  müssen  darum  alle  von  den 
Effekten  des  Handelns  abgeleiteten  Gesetze  des  Handelns  illusorisch 
machen.  Damit  wird  zugleich  die  Möglichkeit  einer  absoluten  Ethik 
im  Sinne  Spehckrs  im  Prmzip  verneint  und  seine  Annahme,  daß  die 
organische,  besonders  soziale  Entwicklung  Zustände  zeitigen  werde, 
wo  seine  Gesetze  ohne  irgend  welche  störende  Beeinflussung  geltend, 
d.  h.  also,  wo  die  eben  erwähnten  Nebeneffekte  bzw.  Zufuligkeiten 
nicht  mehr  zu  beobachten  sein  werden,  muß  als  unpsychologischer 
Optimismus  abgewiesen  werden. 

Die  Vergleiche,  die  Sfencsr  zur  Erläuterung  des  Verhältnisses 
der  absoluten  zur  relativen  Ethik  zwischen  der  Moralwissenschaft 
und  anderen  Wissenschaften,  z.  B.  der  Mechanik,  der  Physiologe 
bzw.  Pathologe  usw.  zieht,  sind  sehr  lehrreich;  sie  zielen  aber  im 
Grande  auf  em  anderes  Ergebnis  als  das  beabsichtigte  ab;  sie  illu- 
strieren nämlich  nichts  anderes  als  den  fundamental  methodischen 
Prozeß,  der  zur  G^winnun^  neuer  Erkenntnisse  führt.  Wenn  Spencer 
meint,  daß  in  der  Ethik,  wie  z.  B.  in  der  Mechanik  gewisse  allgemeine 
Wahrheiten  aus  der  besonderen  konkreten  Umhüllung  herausgeschält 
werden  können,  so  bedeutet  das  nichts  anderes,  als  daß  sie  durch 
Abstraktion  aus  ihnen  gewonnen  werden  können,  nichts  anderes,  als 
daß  Induktion  der  primäre  Weg  zur  Erkenntnis  ist  und  Deduktion 
der  sekundäre,  nichts  anderes  als  daß  man  nach  der  gewöhnlichen 
Ausdracksweise  von  der  Praxis  zur  Theorie  aufsteigt  und  diese  wieder 
zur  Beurteilung  der  Praxis  gebraucht,  nichts  anderes  also  als  den 
uralten  Gegensatz  zwischen  Theorie  und  Praxis.  Daß  dieser  Gegen- 
satz auch  m  der  Ethik  besteht,  ja  hier  sein  eigentliches  Gebiet  nat, 
ist  eine  ebenso  bedauerliche  wie  unabänderliche  Tatsache.  Spencebb 
Lehre  von  der  absoluten  Ethik  ist  im  Grunde  nichts  anderes  als  ein 
Versuch,  sie  aus  der  Welt  zu  schaffen.  Zu  diesem  Zwecke  verbindet 
er  die  aus  den  einzelnen  Vergleichen  hervorgehende  allgemeine 
Wahrheit  mit  den  das  Ziel  alles  organischen  Daseins  betretenden 
Ergebnissen  seiner  Entwicklungstheorie  und  nennt  dies  absolute  Ethik. 
Seme  Lehre  geht  also  nicht  aus  der  fundamentalen  Gleichheit  der 
Methode  der  Ethik  mit  den  anderen  Wissenschaften  hervor,  sondern 
ist  der  Ausdruck  eines  utopistischen  Optimismus,  wie  im  einzelnen 
später  nachzuweisen  sein  wird.  Sie  ist  dasselbe,  was  die  Religionen 
psychologischer  und  darum  wirkungsvoller  zu  leisten  versuchen,  wenn 
sie  von  einem  Zustande  der  Vollendung  und  Vollkommenheit  außer- 
halb der  materiellen  Existenz  reden. 

Was  im  besonderen  den  Vergleich  der  Physiologie  bzw.  Patho- 
logie mit  der  absoluten  bzw.  relativen  Ethik  betrifft,  so  berührt 
sympathisch  an  ihm  die  Betonung  der  Wichtigkeit  der  regressiven 


0  EisLKB,  WüNDTs  Philosophic  und  Psychologie  S.  80. 
«)  WujiDT,  Logik,  2.  Aufl.,  2,  S.  281. 


24  >H.  K.  Schwarze: 

Betrachtung  in  der  Ethik.  Aber  der  Vergleich  hinkt  bedenklich 
insofom,  als  Gesundheit  und  Krankheii  wirklich  und  nebeneinander 
existieren,  während  der  Zustand  der  absoluten  i  Ethik  nur  ein  hypo- 
thetischer, aus  dem  der  relativen  sich  entwickelnder  ist,  dessen  Beali- 
sierungsmöglichkeit  für  jetzt  Spencer  auch  nur  im  einzelnen  Individuum 
energisch  bestreitet.  Die  Pathologie  seht  von  der  Physiologie  aus 
und  lindet  die  Krankheiten  und  £e  Mittel  ihrer  Beseitigung  durch 
ständige  Bezumahme  auf  den  gesunden  Körper,  in  diesem  immer 
einen  sicheren  Prüfstein  und  die  sofortige  Korrektur  ihrer  Folgerungen 
besitzend.  In  der  Ethik  ist  es  umgekehrt,  da  geht  die  der  Physio- 
logie entsprechende  absolute  Etliä  von  der  der  Pathologie  ent- 
sprechenden relativen  Ethik  aus,  so  dafi  also  die  Gesetze  des  sitt- 
lich gesunden  Daseins  nur  Konstruktionen  aus  dem  sittlich  kranken 
sind  und  jeglicher  exakte  Prüfstein  fehlt.  Das  Bedenkliche  der 
Analogie  und  zugleich  des  ganzen  evolutionistischen  Perfektionismus 
Spencers  wird  besonders  deutlich,  wenn  man  die  Analogie  vervoll- 
ständigt und  umkehrt  und  sagt:  Wie  der  von  Anbeginn  des  mensch- 
lichen Daseins  bestehende,  sich  jedoch  mehr  und  mehr  verflüchtigende 
Zustand  sittlicher  Krankheit  einen  Zustand  sittlicher  Gesundheit  vor- 
hersagen läßt,  so  läßt  der  seit  derselben  Zeit  bestehende  Zustand 
körperlicher  Krankheit  auf  das  endliche  Eintreten  eines  Zustandes 
körperlicher  Gesundheit  schließen.  Was  würde  man  hierzu  sagen?  — 
Ein  etwas  anderes  G^cht  gewinnt  die  Unterscheidung,  wenn 
man  den  praktischen  Grund  ins  Auge  faßt.  Da  es  hierbei  wesentlich 
auf  die  Definition  von  sittlich  ankommt,  so  muß  hier  dem  diese  er- 
örternden nächsten  Teile  dieser  Arbeit  etwas*  vorgegriffen  werden. 
Spencer  definiert  sittlich  mit  erfreuend.  Von  dem  Standpunkt  dieser 
Definition  aus  wird  man  tatsächlich  häufig  Fälle  finden,  wo  eine 
ethisch  vollständig  einwandsfreie  Handlungsweise  gar  nicht  zu  finden 
ist,  und  noch  häufiger  Fälle,  wo  die  vorhandene  nicht  ausgeführt 
werden  kann,  wo  also  bestenfalls  nur  Handlungen  des  kleinsten  Übels 
oder  eben  relativ  ethische  möglich  sind.    Hier  liegt  denn  auch  eine 

fewisse  Nötigung  vor,  die  Unterscheidung  zwischen  absoluter  und 
elativer  Ethik  einzuführen  imd  besondere  Normen  für  jeden  der 
Zeiden  Teile  aufzustellen,  wenn  dies  auch  nodi  nicht  die  Realität  eines 
kustandes  bedingen  würde,  wo  die  absolute  Ethik  allein  und  voU- 
rommen  verwirklicht  sein  wird. 

Diese  Nötigung  verschwindet  jedoch  sofort,  wenn  man,  wie  man 
muß  (s.  u.),  einen  anderen  Begriff  des  Sittlithen  einführt.  Spencers 
ganze  Ethik  ist  in  Konsequenz  seiner  Anschauungen  über  die  Kau- 
salität darauf  angelegt,  für  die  sittliche  Beurteilung  in  erster  Linie  den 
Effekt  der  Hanflungen  maßgebend  sein  zu  lassen  (s.  u.)  und  dem- 
entsprechend ist  auch  sein  Begriff  des  Sittlichen  veräußerlicht.  Die 
psychologische  und  authentischere  Betrachtung  jedoch  legt  die  gegen- 
teilige Auffassung  nahe,  nämlich  vor  allem  den  Willen  und  die  Motive 
zu  betonen,  also  nicht  in  erster  Linie  das  intellektualistische  Prinzip 
des  objektiven  Wissens  und  Erreichens,  sondern  das  voluntaristische 
vom  konsequenten  Wollen  der  besten  Effekte,  das  ist  die  Gesinnung 
oder  der  Charakter  des  Handelnden,  d.  h.  auf  die  Motive  muss  es 
vornehmlich  ankommen.  Demnach  muß  gelten:  Sind  die  Motive 
einer  Handlung  alle  gut,  so  ist  die  Handlung  vollkommen  sittlich; 
die  Beurteilung  des  erreichten  Effektes  und  der  Ausführung  der  Hand- 
lung an  sich  geschieht  nicht  zunächst  vom  sittlichen  Standpunkt, 
sondern  vom  utilitaristischen  aus,  vom  sittlichen  nur  insofern,  als  der 
Effekt  Motiv  zu  neuen  Handlungen  wird.    Aber  dies  kann,  wie  gesagt, 


Die  Ethik  Herbert  Spenoers.  25 

nur  aekondär    sein,    da  ja  nach  dem  Prinzip   der  Heterogonie   der 
Zwecke   der   Totaleffekt  weder  nach  Qualität  noch  nach  Quantität 
eonau  beetiinint    -werden  kann.    Die  Fälle,  wo  eine  unumgängliche 
WahlzwisolieiiScü[idlungen  nötig  wird,  die  von  vornherein  nach  gewisser 
iUchtong  hin  bestimnit  als  schädlich  wirkend  anerkannt  woroen  sind, 
stehen  nach  dieser  Wertung  außerhalb  der  moralischen  Beurteilung, 
da  diese  ^cb.  auf  die  empirisch-praktische  Willensfreiheit,  also  auf  die 
Freiheit  der  ^Entschließung  und  den  Zwang  der  Verantwortung  gründet. 
Die  Ethik  hat  an  ihnen  nur  insofern  ein  Interesse,  als  sie  dem  Han- 
delnden   die   bestmöelichste  Abschätzung  der  Effekte  und  die  Wahl 
des  besten  Effekts  als  Zweck  zur  Pflicht  macht.    Ma^  der  Handelnde 
nun  faktisch  das  größere  Übel  gewählt  haben,  er  ist  sittlich  einwands- 
&ei,  wenn  er  der  Überzeug;ung  war,  daß  es  das  kleinere  sei. 

Hieraus  ergibt  sich  aber,  daß  die  Ethik  nur  in  einer  Form,  näm- 
lich als  die  Wissenschaft  vom  vollkommen  Guten  oder  besser  vom 
vollkommen  guten  Willen  existieren  kann.  Doppelte  Formulierung 
muß  verwirrend  wirken,  und  im  besonderen  kann  eine  relative  Ethik 
in  Ihrer  Unfähigkeit  für  strenge  und  umfassende  Imperative  nur  etwas 
Lanes  nnd  Laxes  bedeuten. 

Diese  Auffassung  von  der  Ethik  als  der  Wissenschaft  des  voll- 
kommen Guten  ist's  auch,  die  sich  durch  die  ganze  Geschichte  der 
Philosophie,  bisher  unbestritten,  hindurchzieht  und  immer  ihren 
konzentierten  Ausdruck  findet  in  der  Aufstellung  des  sittlichen  Ideals. 
In  dem.  Begriff  Ideal  Uegt,  daß  ihm  objektive  Bealität  abgeht.  Es  ist 
ein  Phantom,  aber  ein  wirkendes,  und  das  sittliche  Ideal  muß  das 
höchste  und  begeisterndste,  das  göttlichste  sein. 

Was  Spemcebs  Lehre  über  die  Realisation  des  idealen  Zustandes 
im  allgemeinen  betrifft,  so  kann  ihre  entwicklungstheoretische  Not- 
wendigkeit keineswegs  als  unerschütterlich  angesehen  werden.  An- 
8sun^  und  Vererbung,  so  überaus  wichtige  Fakforen  der  organischen 
Ltwi<£lung  sie  sind,  vermögen  nicht  den  absolut  ethischen  Zustand 
herbeizuführen,  da  sie'als  Zeit  erfordernde  und  nach  Spencer  vollständig 
vom  allgemein  kosmischen  Wandel  bedingte  Vorgänge,  stets  hinter 
diesem  Wandel  zurückbleiben  und  so  sich  stetige  Dissonanzen  zwischen 
der  objektiven  und  subjektiven  Verfassung  ergeben  müssen. 

2.  Ziel  bzw.  ^Vesen  des  sittlichen  Handelns  (Dar- 
stellung:)*. 

a)  a)   Natürliche  Bestimmung. 

Das  Objekt  der  Ethik  ist  ganz  allgemein  bestimmt  das 
von  einer  gewissen  Seite  aus  betrachtete  Handeln  des 
Menschen.  Da  Handebi  als  Anpassung  von  Handlungen  an 
Zwecke  oder  als  Aggregat  Zwecken  angepaßter  Handlungen 
mehr  oder  weniger  die  Aktivitätsentfaltung  sämtlicher 
tierischer  Wesen   in  sich  faßt,   man  also  von  einem  uni- 


^)  Von  hier  an  iolgt  die  Darlegung  in  der  Hauptsache  der  An- 
oidnim^  der  Pr.  of  Etnics,  da  es  von  Interesse  ersiäiien,  auch  den 
saferen  Gan^  der  moral-philosophischen  Untersuchungen  Spencer» 
ertemen  zu  fassen. 


26  H.  K.  Schwa-Tze: 

versalen  Handeln  reden  kann,  so  wird  klar,  daß  das  mensch- 
liche Handeln  nur  im  Zusammenhang  mit  diesem  all- 
gemeinen Handeln,  dasselbe  nach  seinem  gegenwärtigen 
Zustand  wie  auch  und  besonders  nach  seiner  Entwicklung 
betrachtet,  recht  verstanden  werden  kann.  Aus  dieser  Be- 
trachtung ergibt  sich,  woran  der  ethischen  Behandlung  vor 
allem  gelegen  ist,  das  natürliche  Ziel  alles  menschlichen 
Handelns;  es  ist  die  Vollkommenheit  des  Lebens,  des  Ich, 
der  Art  und  der  Gesellschaft,  da  sich  Vervollkonminung  des 
Lebens  nach  den  drei  Richtungen  der  Selbst- ,  Art-  und 
Qesellschaftserhaltung  geradezu  als  Tendenz  der  organischen 
Entwicklung  herausstellt. 

ß)  Kulturelle  Bestimmung. 

Diese  Zielsetzung  der  natürlichen  Entwicklung  wird 
durchaus  bestätigt  von  der  kulturellen.  Eine  Analyse  der 
die  sittlichen  Qualitäten  am  allgemeinsten  und  fast  aus- 
schließlich bezeichnenden  Begriffe  gut  und  böse  lehrt  dies. 
Die  verschiedensten  Anwendungen  beider  Wörter  fahren 
zunächst  auf  eine  sekundäre  Grundbedeutung,  die  von 
zweckdienlich  und  zweckschädigend,  und  sodann  auf  eine 
primäre,  die  von  freude-  und  schmerzbringend.  Die  Brücke 
zwischen  beiden  Bedeutungen  bildet  ihre  Identität  mit  ent- 
wickelt und  unentwickelt ;  denn  wenn  von  zwei  Handlungen 
unter  gleichen  Umständen  immer  die  der  Selbst-,  Art-  oder 
Gesellschafbserhaltung  förderliche  gut,  die  gegenteilige  böse 
genannt  wird,  wie  es  ja  geschieht,  so  muß  gut  und  böse 
identisch  gesetzt  werden  mit  entwickelt  und  unentwickelt. 
Da  aber  entwickeltes  Handeln  dasselbe  ist  wie  leben- 
fordemdes,  im  allgemeinen  aber  nur  das  Leben  gut  genannt 
wird,  das  einen  Überschuß  von  Freuden  über  die  Schmerzen 
enthält,  so  ist  damit  die  primäre  Bedeutung  von  gut  und 
böse  als  freude-  bzw.  schmerzbringend  enthüllt. 

Letztere  Überlegung,  als  auf  dem  Gegensatz  von 
Optimismus  und  Pessimismus  fußend,  zeigt  zugleich  als 
den  von  der  ganzen  Menschheit  wie  auch  im  besonderen 
von  allen  ethischen  Systemen  gebrauchten  höchsten  Maßstab 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  27 

des  Lobenswertes  den  Glücksgehalt  des  Lebens.  Demnach 
mofi  das  Glück  als  oberstes  Ziel  des  Handelns  gelten  und 
die  Beziehung  seiner  Handlung  zum  Glücke  bestimmend 
sein  über  ihren  sittlichen  Charakter«  Gut  ist  ganz  allgemein 
das  Erfreuende,  darum  gehört  in  das  Gebiet  der  Ethik  alles 
das  Handeln,  das  in  irgend  einer  "Weise  menschliches  Glück 
vermehrt  oder  vermindert.. 

Sind  aber  hochentwickelt  bzw.  lebenfbrdemd  und  freude- 
bringend identisch  mit  gut,  so  sind  Vollkommenheit  des 
Lebens  und  Glück  identische  Ziele  des  sittlichen  Handelns. 

b)  Betrachtung  und  weitere  Ausführung  des 
Ziels  und  "Wesens  des  Sittlichen  vom  Stand- 
punkte der  wissenschaftlichen  Grundlagen   der 

Ethik  aus. 

Die  Richtigkeit  der  vorstehenden  Ziel-  und  Wesens- 
bestimmung  des  Sittlichen  erfahrt  Bestätigung  und  weitere 
Ausfahrung,  wenn  sie  im  Lichte  jeder  einzelnen  der  wissen- 
schaftlichen Grundlagen  der  Ethik  betrachtet  wird. 

a)  Vom  physikalischen  Standpunkte  aus. 
Vom  physikalischen  Standpunkte  aus  enthüllen  sich 
vor  aUem  die  Beziehungen  des  Handelns  mit  Einschluß  des 
sittlichen  zur  Entwicklungsformel.  Da  das  menschliche 
Handeln  wie  alle  Äußerungen  von  Kraft  unter  das  Gesetz 
vom  Fortbestehen  der  Kraft  fallt,  so  wird  klar,  daß  die 
sittlichen  Grundsätze  sich  den  physikalischen  Notwendig- 
keiten und  Gesetzmäßigkeiten  fügen  müssen,  somit  also 
vollkonmiene  Übereinstimmung  herrschen  muß  zwischen  rein 
physikalischer  und  sittlicher  Entwicklung.  In  der  Tat  ist 
auch  zu  konstatieren,  daß  ein  größerer  Zusammenhang  und 
größere  Bestimmtheit  sowie  endlich  größere  Mannigfaltig- 
keit das  sittliche  Handeln  vom  unsittlichen  unterscheiden. 
Da  nun  das  Leben  physikalisch  zu  definieren  ist  als  „die 
Erhaltung  einer  Kombination  innerer  Tätigkeiten  im  Gleich- 
gewicht mit  und  entgegengesetzt  den  äußeren  Kräften,  welche 
es  zu   zerstören  streben"   (I,  80),   so  erweist  sich  also  das 


28  H-  K,  Schwarze: 

sitüiclie  Handeln  und  seine  Entwicklung  als  ein  Mittel  zur 
Vervollkommnung  dieses  beweglichen  Gleichgewichts,  und 
die  Vollkommenheit  der  Aufrechterhaltung  desselben  muß 
als  das  Ziel  des  sittlichen  Handelns  gelten. 

ß)   Vom  biologischen  Standpunkte  aus. 

Besteht  das  Leben  physikalisch  in  dem  beweglichen 
Gleichgewicht  innerer  Tätigkeiten  mit  und  enigegengesetzt 
zerstörenden  äußeren  Kräften,  so  ist  es  biologisch  die  Aus- 
gleichung der  Funktionen,  und  der  sittliche  Mensch  kenn- 
zeichnet sich  dadurch,  daß  die  Funktionen  aller  seiner 
Organe  „sämtlich  gerade  in  dem  Maße  sich  vollziehen,  daß 
sie  den  Existenzbedingungen  gehörig  angepaßt  sind"  (I,  85). 
Ja,  sittlich  kann  biologisch  geradezu  identifiziert  werden 
mit  normal,  denn  das  Normale  ist  das  Erfreuende  nach  der 
Natur  der  empfindenden  Existenz.  Die  Entwicklung  des 
organischen  Lebens  setzt  nämlich  die  Bildung  geeigneter 
Verbindungen  zwischen  äußeren  Einwirkungen  und  inneren 
Folgen  voraus,  „lange  bevor  das  Bewußtsein  zur  Ausbildung 
kam",  und  „wenn  immer  Empfindungsfähigkeit  als  Begleit- 
erscheinung hinzugetreten  sein  mag,  ihre  Formen  müssen 
stets  solche  gewesen  sein,  daß  das  erzeugte  Gefühl  in  einem 
Falle  von  der  Art  ist,  daß  es  aufgesucht  wird:  Freude,  im 
anderen  von  der,  daß  es  vermieden  wird:  Schmerz**  (I,  89^). 

Es  folgt  demnach  geradezu  als  Denknotwendigkeit  aus 
der  Natur  der  empfindenden  Existenz  die  Unmöglichkeit 
der  Bildung  sittlicher  Vorstellungen  ohne  die  Erfahrung 
von  Freude,  d.  h.  aber  die  aller  Wertschätzung  von  Recht 
und  Unrecht  zugrunde  liegende  Wahrheit  muß  eben  die 
sein,  „daß  empfindende  Wesen  sich  nur  unter  der  Be- 
dingung entwickeln,  daß  freudebringende  Handlungen  zu- 
gleich lebenerhaltende  sind**  (I,  93).  Stützendes  Argument 
hierfür  ist  auch  die  Tatsache,  daß  eine  universale  Ver- 
bindung besteht  „zwischen  Freude  im  allgemeinen  und 
physiologischer  Steigerung  und  zwischen  Schmerz  im  all- 
gemeinen und  physiologischer  Gedrücktheit"  (I,  98). 

^)  Vgl.  auch  Pr.  of.  Psych.,  §  124. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  29 

Das  Versagen  der  eben  ausgesprochenen  fundamentalen 
Wahrheit  in  den  zahlreichen  Fällen,  wo  Leiden  wohltätige 
nnd  Freuden  schädliche  Folgen  haben,  ist  nur  eine  vorüber- 
gehende und  zufällige  Erscheinung,  die  bedingt  ist  durch 
die  mangelnde  Anpassung  der  Menschheit  an  ihre  Existenz- 
bedxQgnngen.  Der  fortwährende  Wechsel  derselben,  das 
Nebeneinander  zweier  sich  widersprechender  Lebensweisen, 
des  LidxLstrialismus  und  des  Militarismus,  bewirken,  daß 
spezielle  Leiden  und  Freuden  mit  Bücksicht  auf  entfernte 
und  allgemeine  außer  acht  gelassen  werden  müssen,  und  daß 
die  Leitung  durch  nächstliegende  Leiden  und  Freuden  sehr 
ofl  nicht  zum  Vorteil  gereicht. 

Die  Entwicklung  muß  aber  auf  einen  Zustand  fuhren, 
wo  die  emotionellen  Leiden  und  Freuden  die  ihnen  ge- 
bührende Stelle  in  der  Leitung  des  Handelns  ebenso  voll- 
kommen ausfüllen  werden  wie  schon  jetzt  die  sensationellen, 
gegenüber  den  imerbittlichen  physikalischen  Anforderungen. 

7)  Tom  psychologischen  Standpunkte  aus. 

Zu  dem  gleichen  Schlüsse  fahrt  auch  die  psychologische 
Betrachtung  des  Handelns.  „Der  geistige  Prozeß,  durch 
welchen  in  jedem  einzelnen  Falle  die  Anpassung  von 
Handlungen  an  Zwecke  bewerkstelligt  wird,  und  welcher  in 
seinen  höheren  Formen  den  Hauptgegenstand  der  ethischen 
Beurteilung  bildet,  läßt  sich  zerlegen  in  die  Entstehung 
eines  Greföhls  oder  von  Gefahlen,  welche  das  Motiv  dar- 
stellen, und  den  Gedanken  oder  die  Gedanken,  durch  welche 
das  Motiv  bestimmte  Gestalt  erhält  und  sich  endlich  in 
einer  Handlung  äußert.  Diese  beiden  Momente  gelangen 
im  Laufe  der  Entwicklung  von  der  einfachsten  Gestalt  zu 
unübersehbarer  Kompliziertheit.  Da  die  größere  Kompliziert- 
heit der  psychischen  Gebilde,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  einen 
höheren  Wert  derselben  far  die  Wohlfahrt  des  Organismus 
bedingt,  so  ergibt  sich,  „daß  die  durch  kompliziertere  Motive 
nnd  verwickeitere  Gedanken  charakterisierten  Handlungen 
seit  den   firühesten  Zeiten  eine  höhere  Wichtigkeit  für  die 


30  H.  K.  Schwarze: 

Leitusg  der  Lebewesen  beanspruchen  konnten"  (I,  120)  als 
die  einfachen. 

Hierauf  aber  beruht  die  Lehre,  die  sekundär  auch  durch 
das  jetzt  häufige  Versagen  der  fundamentalen  biologischen 
Wahrheit  des  Zusammenhangs  zwischen  Freude  und  Nutzen 
bzw.  Schmerz  und  Schaden  gestützt  wird,  daß  Leiden  zu 
ertragen  gut,  Freuden  zu  genießen  aber  böse  sei.  Diese 
Lehre  enthält  jedoch  einen  dreifachen  Irrtum:  sie  ist  irrig 
in  der  Annahme,  daß  die  Autorität  der  höheren  Gefühle 
über  die  niederen  unbegrenzt  sei,  daß  die  Gebote  der 
niedrigeren  nicht  befolgt  werden  dürften,  wenn  sie  auch 
den  Geboten  der  höheren  nicht  widersprechen,  und  endlich, 
daß  nur  fernliegende  Genüsse  zu  erstreben  gut  sei. 

Neben  dieser  bedauerlichen  Mißauffassung  des  Wertes 
der  Leiden  und  Freuden  hat  aber  diese  Unterordnung  der 
einfacheren  unter  die  komplizierteren  Gefahle  eine  ungemein 
wichtige  psychische  Bildung  zur  Folge  gehabt,  die  des  sitt- 
lichen Gewissens  oder  des  moralischen  Bewußtseins.  Die 
Analyse  ergibt  folgende  zwei  Momente :  das  der  moralischen 
Selbstbeschränkung  und  das  der  moralischen  Verpflichtung. 

Das  erstere  hat  seinen  Ursprung  in  den  Schranken,  „die 
in  der  geistigen  Wiedergabe  der  innerlichen  Folgen  von 
Handlungen  bestehen,  und  welche  sich  in  ihren  einfacheren 
Formen  vom  ersten  Anfang  an  zu  entwickeln  begonnen 
haben"  (I,  147).  Zu  ihnen  sind  mit  dem  Eintritt  des  sozialen 
Zustandea  Schranken  hinzugetreten,  „die  durch  geistige 
Wiedergabe  von  äußerlichen  Folgen  in  Gestalt  von  staat- 
lichen, religiösen  und  sozialen  Strafen  hervorgerufen  wiu*den" 
(I,  147).  Ln  Laufe  der  sozialen  Entwicklung  hat  sich  dann 
die  moraKsche  Beschränkung  mehr  und  mehr  von  der 
politischen,  religiösen  und  sozialen  differenziert,  wenn  auch 
bis  auf  den  heutigen  Tag  noch  unvollkommen.  Der  wesent- 
liche Unterschied  zwischen  moralischer  und  anderer  Be- 
schränkung besteht  aber  darin,  daß  die  moralische  Kontrolle 
sich  auf  die  innerlichen,  d.  i.  die  natürlichen  Folgen  bezieht, 
jede  andere  auf  die  äußerlichen,  zufälligen,  wobei  nicht  bloß 
ein  klares  Bewußtsein  der  individuellen,  sondern  vor  allem 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  31 

ein  unklares,  aber  tunfasBendes  Bewnfitsein  der  voielter- 
liehen  Erfahrongen  zur  Geltang  kommt.  „Das  Ganze  ergibt 
ein  Gefahl,  dafi  sich  sowohl  dorch  Gewichtigkeit  als  durch 
Unbestimmtheit  auszeichnet"  (I,  187). 

Das  andere  Moment  des  Gewissens,  „das  Geföhl  der 
Verpflichtung,  ist  ein  abstraktes  Gefühl  und  entsteht  auf 
ähnliche  Weise,  wie  abstrakte  Begriffe  entstehen"  (I,  141). 
Durch  Zusammenordnung  der  die  moralische,  religiöse, 
politische  und  soziale  Kontrolle  ausübenden  repräsentativen 
Gefühle  —  welche  Zusammenordnung  auf  einem  gemein- 
samen Element  beruht  —  und  durch  die  damit  zusammen- 
hängende Aufhebung  der  abweichenden  Elemente  tritt  jenes 
gemeinsame  Element  verhältnismäSig  stark  hervor  und  wird 
so  zu  einem  abstrakten  Gefühl,  dem  der  Pflicht.  Das  ge- 
meinsame Element  ist  einerseits  das  viel  stärkere  Hinzielen 
der  repräsentativen  Gefühle  auf  die  Zukunft  als  auf  die 
Gegenwart  und  damit  die  daran  sich  anheftende  Vorstellung 
von  autoritativer  Geltung  und  anderseits  das  Element  des 
Zwai^es,  das  sich  aus  den  Erfahrungen  der  verschiedenen 
Formen  der  Schranken  ausgebildet  hat  und  mit  den  normalen 
Gef&hlen  indirekt  durch  Assoziation  in  Verbindung  tritt: 
die  Vermittlung  übernimmt  dabei  die  Vorstellung  von  den 
zukünftigen  schmerzbringenden  Polgen,  d.  i.  das  Element 
der  Furcht. 

Das  Gefahl  der  Verpflichtung  ist  also  mehr  proethisch 
als  ethisch  und  ist  mit  dem  moralischen  Bewußtsein  infolge 
seines  Ursprunges  aus  staatlichen,  religiösen  und  sozialen 
Motiven  verbunden.  Es  verliert  sich  mehr  und  mehr,  je 
mehr  das  moralische  Bewußtsein  zur  Selbständigkeit  imd 
OberhörrschaA  gelangt.  „Das  Gefühl  der  moralischen  Ver- 
pflichtung ist  also  etwas  Vorübergehendes  und  muß  in  dem- 
selben Maße  abnehmen,  als  die  Sitthchkeit  zunimmt"  (I,  145), 
d.  iL  die  Pflichterfüllung  muß  zur  normalen  Tätigkeit  werden 
ohne  irgendein  Gefühl  des  Zwanges,  wie  es  z.  B.  schon 
der  Fall  ist  mit  der  Pflichterfüllung  der  Eltern  gegen  die 
Kinder.  Es  vnrd  so  weit  kommen,  „daß  die  sittlichen  Ge- 
ftkle  den  Menschen  zur  rechten  Zeit  an  der  rechten  Stelle 


32  H«  K.  Schwarze:  V 

und  im  rechten  Grade  genau  ebenso  spontan  und  angemessen 
leiten  werden,  wie  es  gegenwärtig  die  Empfindungen  tun 
(I,  146),  daß  also  „das  moralische  und  das  natürliche  Handeln 
eins  und  dasselbe  werden"  (I,  149). 

h)  Vom  soziologischen  Standpunkte  aus. 

Der  Mensch  ist  ein  Gesellschaftswesen:  darum  ist  der 
soziologische  Faktor  in  der  Formel  vom  vollkommenen 
Leben,  d.  i.  in  der  Bestimmung  des  Wesens  des  Sittlichen^ 
von  größter  Bedeutung. 

Da  das  Gesellschaftsleben  nur  als  ein  Mittel  zur  Er- 
haltung der  Einheiten  ins  Dasein  getreten  ist,  ergibt  sich 
einerseits,  daß  die  Gesellschaftserhaltung  nicht  Selbstzweck 
sein  kann,  anderseits  aber,  daß  sie  als  nächsthegender  Zweck 
den  Vorrang  behaupten  muß  vor  der  individuellen  Selbst- 
erhaltung als  dem  letzteren  Endzwecke.  Es  ist  also  von  vorn- 
herein klar,  daß  die  Unterordnung  der  individuellen  unter 
die  soziale  Wohlfahrt  nur  eine  zufällige  Erscheinung  ist, 
da  sie  ja  nur  in  Betracht  kommen  kann,  wenn  die  Existenz 
der  Gesellschaft  gefährdet  ist,  d.  h.  aber,  „diese  Unter- 
ordnung hängt  ab  von  dem  Vorhandensein  von  sich  be- 
kämpfenden Gesellschaften"  (I,  151).  Sie  muß  also  mit  dem 
Verschwinden  solchen  Kampfes  aufhören;  denn  dann  wird 
es  überhaupt  keine  öflfentlichen  Ansprüche  mehr  geben,  die 
im  Widerspruch  mit  privaten  stehen  könnten.  Damit  wird 
das  soziale  Leben  dahin  kommen,  sich  die  individuelle 
Wohlfahrt  auch  zum  nächsten  Zwecke  setzen  zu  können. 
Die  bezüglich  des  menschlichen  Handelns  geltenden  sozio- 
logischen Folgerungen  werden  also  im  wesentlichen  davon 
bestimmt  sein,  ob  ein  Zustand  gelegentUchen  bzw.  ge- 
gewohnheitsmäßigen Krieges  oder  dauernden  und  allgemeinen 
Friedens  herrscht.  Ersterer  Zustand  wird,  da  in  ihm  die 
Sittengesetze  unter  zwei  sich  widersprechenden  Einflüssen 
stehen,  dem  der  Ethik  der  Freundschaft  nach  innen  und 
dem  der  Feindschaft  nach  außen,  einen  stets  wechselnden 
Kompromiß  erzeugen,  der  zwar  nicht  bestimmt  definierbar 
und  durchaus  konsequent  ist,   der  aber  doch  jedesmal  für 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  33 

seine  Zeit  autoritative  Geltung  hat  und  den  iHm  ent- 
sprechenden Systemen  ihre  innere  Berechtigung  gibt.  Daß 
dabei  vom  vollkommenen  Handeln  keine  Rede  sein  kann, 
liegt  auf  der  Hand. 

Unter  Voraussetzung  des  letzteren  Zustandes,  eines 
dauernden  und  allgemeinen  Friedens,  lassen  sich  aber  die 
Bedingungen  des  vollkommenen  Lebess,  das  sich  sozio- 
logisch definieren  läßt  als  harmonisches  Zusammenwirken 
in  dem  Streben  nach  Selbsterhaltnng,  leicht  feststellen.  Sie 
bestehen  einmal  darin,  daß  zwischen  empfangenen  Vorteilen 
und  geleisteter  Arbeit  ein  richtiges  Verhältnis  obwalte  — 
die  Glieder  einer  Gesellschaft  dürfen  sich  also  nicht  gegen- 
seitig angreifen,  weder  direkt  durch  Überfall,  Raub  usw., 
noch  indirekt  durch  Vertragsbruch,  wodurch  ja  das  Grund- 
gesetz der  physiologischen  sowohl  wie  der  soziologischen 
Arbeitsteilung  illusorisch  würde  — ,  und  sodann  darin,  daß 
freiwillige  Anstrengungen  gemacht  werden,  das  Wohlergehen 
anderer  zu  fördern,  daß  also  zur  Gerechtigkeic  noch  Wohl- 
tätigkeit gefügt  wird.  „Darum  ist  sittlich  vom  soziologischen 
Standpunkt  das  Handebi,  das  für  den  gesellschafüichen 
Zustand  geeignet  ist,  und  zwar  in  der  Weise,  daß  das  Leben 
jedes  einzelnen  und  aller  übrigen  seiner  Länge  wie  seiner 
Tiefe  nach  so  vollkommen  als  mögUch  sich  gestalten  kann'' 
(I,  150).  „Die  Bürger  einer  großen  industriell  organisierten 
Nation  haben  das  für  sie  mögliche  Ideal  von  Glück  erreicht, 
wenn  die  Hervorbringung  und  Verteilung  der  Güter  und 
andere  Tätigkeiten  in  solcher  Art  und  solchem  Grade  statt- 
finden, daß  jeder  einzelne  darin  einen  Platz  für  alle  seine 
Kräfte  und  Fähigkeiten  findet,  während  er  zugleich  die  Mittel 
Zur  Befriedigung  aller  seiner^Bedürfiiisse  erlangt"  (I,  190/91). 

Endlich  dürfen  wir  nicht  allein  als  möglich,  sondern 
auch  als  wahrscheinlich  die  schließliche  Existenz  einer 
gleichfalls  industriellen  Gemeinschaft  annehmen,  deren  Mit- 
glieder, während  ihre  Natur  ebenso  vollkommen  diesen  An- 
forderungen entspricht,  sich  außerdem  noch  durch  vor- 
herrschende  ästhetische  Fähigkeiten  auszeichnen,    und  die 

Vierteljülinwohriftf.wiflsenaohaftl.Philos.  u.Soz.  XXXII.  1.  8 


34  H.  K.  Schwarze: 

also  voUkommenes  Glück  erst  dann  erreicht  haben,  wenn 
ein  großer  Teil  ihres  Lebens  mit  künstlerischer  Tätigkeit 
ausgefoUt  ist"  (I,  191). 

c)   Egoismus  und  Altruismus. 

Es  entsteht  nun  die  Frage,  für  wen  soll  das  handelnde 
loh  das  Glück  oder  besser,  da  das  Glück  selbst  nicht  über- 
tragbar ist,  die  Bedingungen  des  Glücks  in  erster  Linie  er- 
streben, für  sich  oder  fiir  andere,  d.  h.  soll  es  egoistisch 
oder  altruistisch  handeln  ?  —  Zunächst  ist  die  hergebrachte 
Auffassung  der  Begriffe  Egoismus  und  Altruismus  einer 
Kontrolle  bzw.  Berichtigung  zu  unterziehen.  Egoismus  wird 
im  allgemeinen  definiert  als  die  bewußte  Ausbeutung  anderer 
zugunsten  des  eigenen  Ich  und  Altruismus  als  die  bewußte 
Aufopferung  des  eigenen  Ich  zugunsten  anderer.  Diese 
Definitionen  sind  zu  eng.  Der  Egoismus  umfaßt  vielmehr 
unter  sich  alle  die  Handlungen,  welche  im  normalen  Verlauf 
der  Dinge  dem  Handelnden  selbst  und  nicht  einem  anderen 
Nutzen  schaffen ,  und  der  Altruismus  aUe  die ,  welche  im 
normalen  Verlauf  der  Dinge  anderen,  statt  dem  Handelnden 
nützen.  Auf  das  Attribut  bewußt  oder  unbewußt  kann  es 
dabei  nicht  ankommen,  denn  Beute  und  Opfer  gehen  im 
Laufe  der  Entwicklung  durch  unendhch  kleine  Übergänge 
aus  der  unbewußten  in  die  bewußte  Form  über  und  werden 
dadurch  in  ihrem  Wesen  nicht  geändert,  sondern  sind  nach 
wie  vor  Gewinn  bzw.  Verlust  von  Körpersubstanz. 

Die  Hoffaung,  die  Entscheidung  zwischen  Egoismus 
und  Altruismus  auf  ihre  Bedeutung  ftir  die  Entwicklung  des 
Lebens  gründen  zu  kömien,  erweist  sich  als  trügeris^,  da 
der  ganze  Verlauf  der  organischen  Entwicklung  sich  von 
beiden  in  gleichem  Grade  abhängig  erweist,  wenn  auch  der 
Egoismus  entschieden  als  die  primäre  Form  des  Handelns 
angenommen  werden  muß.  Hieraus  geht  die  Notwendig- 
keit eines  Kompromisses  zwischen  beiden  Anschauungen 
hervor,  und  diese  Notwendigkeit  wird  fraglos  gemacht  durch 
die  Untersuchung,  ob  eins  der  beiden  Prinzipien  in  seinem 
Extrem,  also  reiner  Egoismus  oder  reiner  Altruismus ,  das 
größtmögliche  Glück  zu  erzeugen  fähig  ist ;  denn  davon  muß 
ja  schließlich,  da  Glück  das  Endziel  des  Hcmdelns  ist,   die 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  35 

Entscheidung  zwischen  beiden  abhängen«  Niemand  wird 
vernünftigerweise  die  Alternative  zugunsten  des  einen  oder 
des  anderen  entscheiden  wollen,  gegen  beide  extreme  Stand- 
punkte gibt  es  Gründe  in  Menge.  Es  ist  viebnehr  leicht 
einzusehen,  daß,  selbst  wenn  das  allgemeine  Glück  im  Sinne 
Bknthams  und  Mills  als  letztes  Ziel  des  Handelns  an- 
genommen wird,  es  doch  hauptsächlich  nur  durch  ent- 
sprechendes Streben  aller  Individuen  nach  ihrem  eigenen 
Glücke  zu  erreichen  ist,  während  da.s  Glück  der  Individuen 
nur  zum  Teil  durch  ihr  Streben  nach  dem  allgemeinen  Glück 
erreicht  werden  kann.  Dieser  Kompromiß,  in  dem  der 
Egoismus  deutlich  als  hervorgehoben  zu  erkennen  ist,  hat 
sich  allmählich  von  selbst  hergestellt,  und  „die  wirklichen 
Ansichten  der  Menschen,  wohl  zu  unterscheiden  von  ihrem 
nomineUen  Glauben ,  sind  der  voUen  Anerkennung  seiner 
Bedeutung  immer  näher  gekommen''  (I,  266)  Bezüglich 
seiner  Geltungsdauer  läßt  die  Aussöhnung  der  egoistischen 
und  altruistischen  Interessen  im  Familienleben  vermuten, 
dafi  eine  ähnliche  Aussöhnung  auch  im  Gesellschaftsleben 
stattfinden  wird.  Man  wird  also  sagen  können,  der  Kom- 
promiß zwischen  Egoismus  und  Altruismus  strebt  ständig 
einem  Zustande  entgegen,  in  dem  beide  in  eins  verschmelzen 
und  die  dem  einen  und  dem  anderen  entsprechenden  Ge- 
fühle zu  vollkommener  Übereinstimmimg  gelangen  werden. 
Der  diesbezügliche  Nachweis  ist  sowohl  für  den  elter- 
lichen als  den  sozialen  Altruismus  in  seinem  Verhältniä 
zum  Egoismus  leicht  zu  fuhren. 

Was  den  ersteren  ahbetrifift,  so  ist  schon  jetzt  die  Ver- 
söhnung so  weit  gediehen,  daß  die  Erreichung  elterlichen 
Glückes  mit  der  Sicherung  des  Glückes  der  Nachkommen 
eng  zusammenhängt.  Da  die  Weiterentwicklung  infolge  der 
sich  immer  mehr  steigernden  Gehirntätigkeit  mit  einer  Ab- 
nahme der  Fruchtbarkeit  verbunden  sein  wird,  so  wird,  da 
die  Folge  davon  eine  Verminderung  des  elterlichen  Opfers 
sein  muß,  ein  Stadium  erreicht  werden,  in  welchem  die 
Freuden  des  erwachsenden  Lebens  in  weit  höherem  Maße 
als  jetzt  darin  bestehen  werden,  die  Nachkommenschaft  zur 

3* 


36  H-  ^*  Schwarze: 

YoUkonmienheit  heranzuziehen    und   gleichzeitig    das    an- 
mitteilbare  Glück  der  Nachkommen  zu  fördern. 

Was  die  Versöhnung  des  sozialen  Altruismus  mit  dem 
Egoismus  betrifft,  so  Termag  sie  zwar  nie  diese  Höhe  zu 
erreichen,  weil  dem  sozialen  Altruismus  gewisse  Elemente 
des  elterlichen  fehlen,  sicherlich  wird  aber  auch  hier  ein 
Zustand  erreicht  werden,  daß  die  Fürsorge  für  das  Glück 
anderer  zum  täglichen  Bedürfnis  werden  wird,  so  daß  die 
niederen  egoistischen  Genüsse  beständig  und  spontan  diesen 
höheren  untergeordnet  sein  werden. 

Vom  subjektiven  Standpunkt  wird  also  die  Versöhnung 
zwischen  Altruismus  und  Egoismus  schließlich  dahin  lauten, 
„daß  zwar  die  altruistischen  Freuden,  weil  sie  eben  einen 
Teil  des  Bewußtseins  des  sie  Erfahrenden  bilden,  im  Grunde 
niemals  anders  als  egoistisch  sein  können,  daß  sie  aber 
wenigstens  nicht  bewußt   egoistisch  sein  werden"    (I,  279). 

Voraussetzung  des  Altruismus  ist  das  Mitgefühl.  Die 
Biologie  zeigt,  daß  sich  eine  Fähigkeit  nur  dann  entwickeln 
kann,  wenn  sie  im  Durchschnitt  einen  Überschuß  von 
Freuden  über  Schmerzen  gewährt.  Das  Mitgefühl  wird  sich 
also  nur  ausbilden,  wenn  die  es  erregenden  Erscheinungen 
vorwiegend  freudig  sind;  sind  sie  schmerzHch,  so  muß  Ab- 
stumpfung des  Mitgeftihls  die  Folge  sein. 

Quellen  fortwährenden  Schmerzes  und  damit  fort- 
währender Hemmung  der  Entwicklung  des  Mitgefiihls  sind 
aber  die  Kriege,  die  noch  ungenügende  Anpassung  an  den 
industriellen  Zustand  und  die  mangelhafte  Selbstkontrolle 
bzw.  ungenügende  Voraussicht  der  Folgen  des  Handelns. 
Aber  selbst  wenn  die  Anpassrmg  an  diese  drei  Beziehungen 
vollkommen  sein  würde,  würde  doch  das  allgemeine  Leid 
nicht  aufhören,  solange  die  Vermehrung  die  Sterblichkeit 
überwiegt ;  wird  doch  dadurch  ein  ständiger  Druck  auf  die 
Subsistenzmittel  erzeugt.  Das  Mitgefühl  kann  also  nur 
in  dem  Maße  an  Bedeutung  zunehmen,  als  das  Elend  ab- 
nimmt, d.  i.  sehr  langsam. 

Darin  aber,   daß  der  Mensch  Befriedigung  finden  wird 
in  dem  Mitgefühl  für  jene  Befriedigung  anderer,  die  haupt- 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  37 

sächlich  durch  die  erfolgreiche  Ausübung  ihrer  Tätigkeiten 
hervorgerufen  wird,  wird  die  höchste  Form  des  Altruismus 
bestehen;  ,,es  wird  eine  mitfühlende  Befriedigung  sein,  die 
dem  Empfänger  nichts  kostet,  sondern  eine  Gratisbeigabe 
zu  seinen  egoistischen  Genüssen  bildet"  (I,  284).  Sie  wird 
erleichtert  werden  durch  die  Zunahme  des  ümfanges  und 
des  VerstÄndnisses  der  emotionellen  Sprache. 

Der  Formen  übrigens  des  Altruismus,  die  immer  bleiben 
werden,  sind  drei: 

1.  der  Altruismus  des  Familienlebens,  d.  i.  der  Eltern 
gegen  die  Kinder  und  umgekehrt;  er  wird  dauernd 
ein  großes  Betätigungsgebiet  haben; 

2.  der  soziale  Altruismus,  d.  i.  das  Streben  nach  sozialer 
Wohlfahrt,  in  welchem  die  selbstischen  Interessen 
den  selbstlosen  weichen;  er  muß  sich  mehr  und  mehr 
verengen ; 

3.  der  private  Altruismus,  dör  sich  in  Krankheit  und 
Unglücksfallen  betätigt;  er  muß  ebenfalls  mehr  und 
mehr  an  Bedeutung  verlieren,  ohne  doch  jemals, 
selbst  bei  vollkommenster  Anpassung,  gänzlich  ver- 
schwinden zu  können. 

2.  Ziel  bzw.  Wesen  des  sittlichen  Handelns  (Kritik). 

a)  a)   Natürliche  Bestimmung. 

Spencsr  beginnt  den  Aufbau  seines  ethischen  Systems  mit  der 
Erörterung  der  Frage  nach  dem  sittlichen  Ziel,  wie  er  auch  in  dem. 
«Tsten  Entwurf  seiner  Ethik,  der  Social  Statics,  getan ;  er  weicht  also 
hierin  von  der  allgemeinen  Gepflogenheit  nicht  ab.  Sein  Streben 
^ht  dahin,  dem  sittlichen  Handeln  ein  möglichst  objektives,  von 
mdividueller  Reflexion  unabhängiges  Ziel  vorzustellen.  Die  entwick- 
longatheoretische  Betrachtung  des  menschlichen  Daseins  zeigt  ihm 
sÜB  solches  Ziel  die  Vollkommenheit  des  Lebens  nach  Qualität  und 
QaantitAt.  Selbst  wenn  man  an  der  Kompetenz  der  Entwicklungs- 
theorie für  prinzipiell-ethische  Fragen  zweifelt,  gesen  dieses  Ziel  kann 
im  aUgememen  sachlich  kaum  etwas  eingewendet  werden.  Müssen 
nicht  alle  Ziele,  die  ein  Menschenherz  erstreben  kann,  in  dem  BegriHe 
FoUkonunenheit  des  Lebens  nach  Qualität  und  Quantität  enthalten 
sein?    Sicherlich. 

Anders  muß  jedoch  das  urteil  lauten,  wenn  das  Ziel  nach  seiner 
iormalen  Seite  ins  Auge  gefaßt  wird.  Da  fällt  ohne  weiteres  auf, 
wie  es  den  Bereich  des  Sittlichen  ins  Ungemessene  erweitert,  da  nun 
tkUea  Tun«    ^wss   auf  das  Leben  des  Menschen  Bezug  hat,  lediglich 


38  H.  K.  Schwarze: 

wegen  dieser  Beziehung  direkt  und  an  sich  sittlichen  Wert  besitztr 
nicht  wie  früher  indirekt  und  nur  unter  gewissen  Bedingungen  sitt- 
liches  Interesse  beansprucht.  So  kommt  auch  den  automatischen 
Tätigkeiten  ein  gewisser  sittlicher  Wert  zu,  und  in  der  Tat,  SpENcsRa 
Definition  des  Handelns  als  Anpaßung  von  Handlungen  an  Zwecke 
oder  als  Aggregat  Zwecken  angepaßter  Handlungen  schließt  sie  mit 
in  sich,  ein,  während  sie  alles  das,  was  sonst  innere  Willenshandlung 
genannt  wird,  nicht  in  sich  faßt.  Aus  der  Wissenschaft  vom  idealen 
S.echtleben  im  platonischen  Sinne  wird  die  Ethik  jetzt  zur  Wissen- 
schaft des  realen  Auslebens  im  Sinne  Epikurs.  Demgegenüber  aber 
ist  zu  betonen,  daß  die  Ethik  in  erster  Linie  nicht  die  W  issenschaft 
des  Lebens,  sondern  die  des  Strebens  sein  muß.  Es  ist  klar,  wieviel 
sie  durch  die  SpENCERsche  Fomulierung  verlieren  muß.  Ihre  Haupt- 
aufgabe, der  Menschheit  ein  begeisterndes  Ziel,  ein  höchstes  Gut  vor- 
zustellen, das  sie  anrege  nnd  erhebe  über  die  Miseren  des  Alltags- 
lebens,  muß  sie  nun  vollständig  verfehlen.  Statt  die  Tatkraft  an- 
zuspornen, spannt  das  SpsNCEKScne  Ziel  sie  ab ;  denn  Vollkommenheit 
ist  ein  Begriff,  der,  weil  er  alles  sagt,  nichts  sagt. 

Spencer  geht  aus  von  dem  Gedanken ,  daß  das  sittliche  Handeln 
ein  Teil  des  menschlichen  Handelns  im  allgemeinen  sei  und  dieses 
wieder  mit  dem  tierischen  zum  universalen  Handeln  sich  zusammen- 
schließe. Der  höchste  Zweck  dieses  universalen  Handelns  müsse  also 
auch  das  Ziel  des  sittlichen  sein.  Das  ist,  was  die  Prämissen  betrifft^ 
logisch  vollständig  einwandfrei;  im  besonderen  ist  die  Berechtigung  des 
Ausdrucks  „imivcrsales  Handeln'^  ohne  allen  Zweifel ;  sie  ergibt  sich 
ja  für  jeden  aufmerksamen  und  objektiven  Beobachter  unmittelbar 
aus  dem  Vergleiche  tierischer  und  menschlicher  Tätigkeit.  Aber 
gegen  den  Schluß  muß  protestiert  werden.  Er  verstößt  so  gegen  alle 
moralische  Intuition,  wie  nach  Spencers  Meinung  Kant  mit  seiner 
Lehre  von  der  Subjektivität  von  Baum  und  Zeit  gegen  alle  intellek- 
tuelle Intuition  verstößt^).  Denn  gesetzt,  es  gäbe  einen  höchsten 
Zweck  des  universalen  Handeina,  so  wäre  damit  doch  die  Identität 
desselben  mit  dem  Ziel  des  sittlichen  Handelns  oder  auch  die  Unter- 
ordnung des  letzteren  unter  ihn  noch  keineswegs  denknotwendig  — 
notwendig  wäre  nur  die  Forderung  der  Harmonie  zwischen  beiden  — ; 
denn  nicht  allein  das  kann  für  die  Bestimmung  des  sittlichen  Zieles 
entscheidend  sein,  daß  das  sittliche  Handeln  ein  Handeln  ist,  sondern 
auch  vor  allem,  daß  es  sittlich  ist.  Mit  der  Eigenschaft  der  Sittlich- 
keit kommt  aber  ein  vollständig  neuer  und  eigenartiger  Gesichtspunkt 
der  Beurteilung  auf,  der  nicht  im  Handeln  liegt,  auch  nicht  allein 
auf  das  Handeln  sich  beschränkt,  sondern  als  allgemeiner  Nieder- 
schlag der  gesamten  menschlichen  Kultur  sich  ergibt  und  wie  an 
alle  willkürlichen  Geistesäußerungen  des  Menschen  so  auch  und 
besonders  an  das  menschliche  Handeln  angelegt  wird.    Dieser  Maß- 


')  In  dem  ersten  Bande  von  Spencers  Autobiographie  findet  sich 
folgende  interessante  Bemerkung  S.  252 :  This  (a  translation  of  Kant's 
Critique  of  Pure  Eeason)  I  commenced  reading  (1844)  but  I  did  not 
^o  far.    The  doctrine,  that  Time  and  Space  are  nothing  but  sub- 

tective  forms  -^  pertain  ezclusively  to  consciousness  and  have  nothing 
»eyond  consciousness  answering  to  them  —  I  rejected  at  once  and  ab- 
solutely  and  having  done  so  went  no  turther. 

S.  258:  It  remains  only  to  say  that  whenever  in  later  vears  I 
have  taken  up  Kant's  Cr.  of  P.  B.  I  have  similarly  stoppecl  short 
after  rejecting  its  primary  proposition. 


Die  Ethik  Herbert  Spensers.  39 

Stab  aber  kann  nicht  einfach  dekretiert  werden,  sondern  ist  objektiv 

^geben  in  der  sittlichen  Entwicklung  der  Menschheit  und  subjektiv 

im  sittlichen  Bewnfitsein.    Mit  anderen  Worten :  Wenn  man  wissen 

wül,   'was    das  Ziel  des  sittlichen  Handelns  ist,  genügt  es  nicht  zu 

wissen,  w^as  der  „Zweck"  des  universalen  Handelns  ist,  sondern  man 

mufi   'wissen,    w^as   Sittlichkeit  ist.    Spencer  befindet  sich  hierbei  im 

Irrtum,  wenn  er  meint,  es  finde  ein  ^anz  allmählieer  Übergang  vom 

dttlich  gleichgültigen   zum  sittlich  mteressanten  Handeln  statt')  — 

es  ist  dies  übrigens   eine  Voraussetzung,  die  erst  aus  seinem  Begriff 

des  SittUchen  zu  beweisen  hat,  aus  der  er  aber  nicht  umgekehrt  das 

sittliche  Ziel  bestimmen  kann  — ;    im  Gegenteil,   in  allen  Beispielen, 

die  er  zu   dem  Beweis  seiner  Behauptung  an^bt,  wie  überhaupt  in 

einem  Handlungsverlauf  ist  der  Eintritt  des  sittlichen  Moments  äußerst 

markant. 

Aber  ist  die  teleologische  Betrachtung  des  universalen  Handelns, 
wenn  das  menschliche  ausgeschieden  wird,  Oberhaupt  berechtigt? 
Kann  es  einen  höchsten  ZwecK  des  universalen  Handelns  geben.  Im  all- 
gemeinen handelnTiere  nicht  bewußt  zweckmäßig,  sondern  nur  instinktiv 
zweckmäßig;  sie  selbst  setzen  sich  nicht  die  Zwecke,  sondern  der 
unmittelbare  Wechsel  in  den  Zuständen  ihres  eigenen  Körpers  oder 
ihrer  Umwelt  setzt  ihnen  dieselben ;  darum  ist  ihre  Aktivität  im  Grunde 
eine  sekundäre,  eine  mit  fast  passivischem  Charakter.  Ihr  Handeln 
erscheint  nicht  als  zusammenhängendes  Ganzes  mit  bewußt  einheit- 
licher lieitung,  sondern  als  eine  Summe  von  Tätigkeiten  mit  instinktiv- 
impulsiver Veranlassung  von  Pall  zu  Fall.  Es  kann  darum  höchstens 
von  unmittelbaren  Zwecken  der  einzelnen  Tätigkeiten  oder  von  einem 
ihideffekt  ihres  Ag^egats gesprochen  werden,  aber  nicht  von  einem 
höchsten  Zweck  ^  Der  Name  höchster  Zweck  für  diesen  Effekt  ist  als 
falmshe  Analogisierung  der  tierischen  mit  menschlichen  Verhältnissen 
abzuweisen,  oder  der  menschlichen  mit  den  tierischen,  indem  die 
Aktivität  der  Menschen  ebenso  wie  die  der  Tiere  als  eine  sekundäre, 
gewissermaßen  defensive  aufgefaßt  wird. 

Aus  den  dargele^en  formalen  Gründen  muß  die  Identifikation 
des  h^othetischen  Zieles  der  organischen  Entwicklung  mit  dem  Ziele 
des  sittlichen  Handelns  abgelehnt  werden.  Es  gesellt  sich  zu  ihnen 
noch  ein  sachlicher  Grund,  auf  den  Bolph  aufmerksam  macht').  Spencer 
ist  der  Ansicht,  daß  die  Anpassung  an  die  Existenzbedingungen  mit 
der  Höhe  der  Entwicklimg  zunimmt;  Bolph  weist  hingegen  darauf 
hin,  daß  das  Überleben  der  Art  diese  Behauptung  ohne  weiteres  ent- 
kräftet und  vielmehr  die  Annahme  einer  relativen  Gleichheit  der 
Anpassung  in  dem  ganzen  Gebiet  der  organischen  Entwicklung  not- 
wendig macht.  Die  Kraft  dieses  Einwandes  ist  in  der  Tat  so  ^oß, 
daß  Spencers  ganze  Ableitung  seines  entwicklungstheoretisch-sittlichen 
Zieles  erschütt^i^  wird,  und  nicht  bloß  diese,  sondern  auch  manche  der 
auf  die  Zunahme  allgemein  tierischer  Anpassung  gegründeten  Schlüsse. 
Man  muß  sich  fragen,  wie  konnte  Spencer  diesen  wichtigen  Punkt 
übersehen?  —  Er  vergißt  in  der  Tat   alle  Gesetze  der  Perspektive 


')  Pr.  of  E,  I,  6:  These  instances  will  sufficiently  suggest  the 
tnzth  that  conduct  with  which  Moralitj  ia  not  conserved,  passes  into 
condnct  -which  is  moral  or  immoral,  by  small  degrees  and  in  countless 

wavs. 

*)  Vgl.  Pr.  of  E.  I,  6f. 

«)  Vgl.   KoLPH,  Biologische    Probleme,  i  2.  Aufl.     Leipzig   1884. 

S.  33. 


40  H*  ^  Schwarze: 

und  betrachtet  alle  Dinge  luiter  dem  gleichen,  dem  anthropozentrischen 
Gesichtswinkel.  Er  verwechselt  die  Anzahl  der  einzelnen  Anpassungen 
und  ihren  quantitativen  Gesamteffekt  mit  dem  qualitativen,  während 
der  letztere  überall  relativ  der  gleiche  ist,  ist  der  erstere  als  Fol^e 
der  Kompliziertheit  der  Lebensbedingungen  unendlich  mannigfaltig. 
Er  ttber8ieht(  daß  Erhöhung  der  Anpassung  im  allgemeinen  noch  nicht 
Erhöhung  des  Lebenswertes  bedeutet,  sondern  meist  paralysiert  wird 
durch  erhöhte  Mannigfaltigkeit  und  Schwierigkeit  der  Lebensdingungen. 
Es  muß  jedoch  gesagt  werden :  im  allgememen ;  es  trifft  nämlich  in 
einem  besonderen  Falle  nicht  zu,  da  nicht,  wo  eine  Geschichte,  wo 
Kultur  besteht,  bei  den  Menschen.  Die  Kultur  ist,  im  Sinne  Spehcers 
zu  reden,  kristallisierte  und  objektivierte  Anpassung,  es  ist  ein  Schatz, 
der  die  Menschheit  befähigt,  sich  immer  Höheres  zu  erwerben.  In  der 
Kultur  liegt  der  Punkt,  wo  die  menschliche  Entwicklung  energisch  ab- 
zweigt von  der  allgemein  tierischen,  und  von  dem  an  sie  diese  weit  hinter 
sich  läßt.  Hier  ist  der  Punkt,  wo  die  Entwicklung  des  Menschen 
sich  mehr  und  mehr  der  physischen  Kausalität  entwindet  und  der 
psjrchischen  folgt,  und  hier  ist  die  Zunahme  der  Anpassung  möglich, 
weil  sie  sich  auf  eeistige  Energie,  auf  bewußte  Wertbestimmung 
gründet  und  es  ein  Wachstum  der  geistigen  Energie  gibt  ^).  Li  diesem 
Regt  ein  Mittel,  auch  der  größten  Zunahme  der  Komplikation  der 
Lebensbedingungen,  sofern  sie  nur  nicht  katastrophistisch  geschieht, 
begegnen  zu  können.  Lidem  so  die  Anpassung  oei  den  Menschen 
sich  von  wesentlich  anderem  Charakter  enthüllt  als  bei  den  Tieren, 
muß  die  Anpassung  im  allgemeinen  ihren  bestimmenden  Einfluß  auf 
die  Festsetzung  des  Zieles  des  sittlichen  Handelns  verlieren,  und  es 
muß  hieraus  me  Folgerung  gezogen  werden,  daß  diese  Festsetzung 
nur  der  spezifisch  menschlichen  Existenz  zu  entnehmen  ist,  nicht  der 
allgemein  organischen.  Es  erscheint  somit  der  Schluß  gerechtfertigt, 
dau  Spkncer  mit  seinem  Ergebnis  nicht  irgendeine  Bestimmung  des 
sittlichen  Zieles,  sondern  leoiglich  des  Effektes  allgemeinen  tierischen 
Handelns  gegeben  hat. 

Wie  ÖPKNCKR8  biologische  Betrachtung  bisher  als  für  die  Be- 
stimmung des  sittlichen  Zieles  im  allgemeinen  nicht  autoritativ  hat 
bezeichnet  werden  können,  so  muß  dies  ganz  besonders  gelten  von 
seiner  Angabe  der  sittlichen  Teilziele.  Mit  seinem  Ziele  proklamiert 
Spencer  Leben  als  Selbstzweck,  und  zwar  Leben  des  Icn,  der  Art 
und  der  Gesellschaft.  Es  heißt  jedoch  die  bisherige  ethische  Ent- 
wicklung ignorieren,  wenn  auch  die  Selbsterhaltung  als  sittlicher 
Selbstzweck  hingestellt  wird.  Spencer  kann  diese  seine  Behauptung 
durchaus  nicht  zwingend  begründen.  Wo  das  individuelle  Wohl  in 
der  Tat  erstrebenswert  erscheint,  handelt  es  sich  nicht  um  das  Ich, 
spndem  um  seine  Beziehungen  zur  Allgemeinheit,  und  wo  der  sitt- 
liche Wert  der  individuellen  Selbsterhaltung  an  sich  in  Frage  steht, 
fehlt  die  Begründung.  Der  einzige  Grund,  nämlich  der,  daß  ein 
starker  Trieb  zur  Selosterhaltung  dem  Menschen  mit  allen  übrigen 
Organismen  gemeinsam  und  natürlich  sei,  ist  keiner,  denn  die  Identi- 
fikation von  sittlich  und  natürlich  muß  abgelehnt  werden.  Das 
Natürliche  an  sich  ist  ienseit  von  gut  und  böse. 

Für  den  Wert  der  Ableitung  der  Selbsterhaltung  als  eines  ethischen 
Selbstzwecks  aus  der  allgemeinen  organischen  Entwicklung  und  die 
Bedeutung   der  letzteren    für  die  Bestimmung    ethischer   Prinzipien 

')  Vgl.  WuNDT,  Grundriß  der  Psychologie,  5.  Aufl.,  S.  396;  Logik 
II,  2.  Aufl.,  S.  275  ff. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  41 

QberbaaDt  ist  auch,  die  Tatsache  bezeichnend,  dafi  unter  den  drei 
Poeten  der  Lfebenssomme  Selbsterhaltung  der  einzige  ist,  der  all- 
gemein erstrebt  vrird,  während  von  art-  und  gesellschaftserhaltendem 
Streben  nur  als  von  einer  in  der  organischen  Existenz  weit  ver- 
breiteten £r8clkeinung  ^)  gesprochen  werden  kann.  Damit  aber  wird 
der  von  Spekcbr  so  eifrig  gesuchte  enge  Zusammenhaue  zwischen 
dem  menschliclien  und  universalen  Handeln  stark  gelockert.  Ent- 
wieklnnrntlieoretiscli  konsequenter  würde  Spenceb  eewesen  sein,  wenn 
er  wie  ^istzsche  xind  Spinoza  lediglich  die  Selbsterhaltung  als  höchstes 
Ziel  des  Handelns  erkl&rt  hätte.  Er  wUrde  sicherlich  dabei  bemerkt 
habeut  in  iw^elcli  scliarfem  Antagonismus  sich  organisch-entwicklungs- 
theoretisclie  Ziele  einerseits  und  sittliche  anderseits  befinden;  denn 
die  gerade  dem  biologischen  Evolutionismus  so  durchaus  konsequente 
Erheonng  der  Selbsterhaltung  zum  sittlichen  Selbstzweck  wird  von 
dem  ethiscben  Empfinden  aller  Zeiten  bestimmt  und  allgemein  abge- 
wiesen. ObvT'olil  Spkkcer  gelegentlich  auch  eine  Handlung  der  Selbst- 
erhaltong  mit  einer  Art-  una  Gesellschaftserhaltung  nach  ihrem  sitt- 
lichen w  erte  vergleicht  und  erkennt,  daß  erstere  den  geringsten, 
letztere  den  höchsten  Wert  hat,  zieht  er  doch  nicht  den  SchluC  dafi 
die  sittlichen  Werte  außerhalb  des  individuellen  Daseins  liegen  bezw. 
aber  es  hinausragen.  Auch  die  kulturelle  Bestimmung  des  Zieles,  die 
er  im   folgenden    vornimmt,  veranlaßt  ihn  nicht  hierzu. 

^)  Die  knlturelle  Bestimmung  des  Wesens  und  Zieles  des 

Sittlichen. 

Spencbb  fahrt  die  kulturelle  Herleitung  des  sittlichen  Zieles  aus 
mittels  der  Betrachtung  der  Begriffe  gut  und  böse.  Er  vergleicht 
die  verscliiedenartigsten  Anwendungen  derselben  miteinander  und 
findet  so,  daß  sut  und  böse  sedundär  gleich  zweckdienlich  und  zweck- 
schädigend.  sind«  primär  gleich  freude-  und  schmerzbringend,  woraus 
er  in  3er  Sauptsache  sein  hedonistisches,  dem  evolutionistischen  nach 
seiner  Meinung  identisches  Ziel  Glück  und  Freude  ableitet.  Man 
wird  nicht  i^ti^in  können,  am  Werte  solcher  Art  der  Feststellung 
wissenschaftlicher  Ergebnisse  zu  zweifeln.  Kann  schon  der  Sprach- 
gebrauch im  allgemeinen  nicht  als  zuverlässige  Erkenntnisquelle  gelten, 
80  gleich  gar  nicht  in  bezug  auf  ethische  Wahrheiten.  Er  liefert 
äußerst;  unsichere  Induktionen,  zumal  wenn  die  historische  Sprach- 
betraclitung  noch  fehlt  wie  bei  Spencer.  Es  darf  nicht  übersehen 
werden,  dsS  man  in  den  beiden  Worten  gut  und  böse  nicht  nur  einen 
spezifisch  ethischen,  sondern  vor  allem  einen  der  vollkommensten 
ailgemeinen  Wertbegriffe  vor  sich  hat,  die  die  Kulturwelt  besitzt. 
In  seinem  T7i«prunge  unbestimmt,  sicherlich  in  die  ersten  Anfänge 
menschlichen  Gr^meinschaftslebens  hineinragend,  im  Laufe  der  Zeiten 
oft  vom  -wissenschaftlichen  Denken  fixiert,  ist  seine  heutige  allgemeine 
Bedeutung  das  Ergebnis  jenes  Abstraktionsprozesses,  der  unbemerkt 
and  stäncug  am  Werke  ist,  die  Fülle  der  Erscheinungen  zusammen- 
zuordnen,  und  der  vom  allgemeinen  geistigen  Fortschritt  sich  ebenso- 
wenig trennen  läßt  wie  der  Schatten  vom  einseitig  beleuchteten 
EörMr.  G-ut  ist  sicherlich  der  älteste  Wertbegriff  und  war  darum 
womauch  immer  der  allgemeinste,  wogegen  er  unzweifelhaft  ein 
Kennzeichen  sein  kann  für  den  allgemeinen  Charakter  einer  Zeit,  aber 
auch  nur  fOr  den  allgemeinen. 


i\  Vgl.  BocPH,  Biolog.  Probleme,  S.  36  f. 


42  H.  K.  Schwarze: 

Spencer  mißversteht  dies;  er  nimmt  einfach  den  Allgemeinbegriff 
gut  für  den  spezifisch-ethischen.  Das  ist  aber  unlog^h,  solange  es. 
noch  ethisch  mdifferente  Gebiete  menschlicher  Betätigung  gibt.  Und 
selbst  zugegeben,  er  habe  den  ersteren  mit  zweckdienlich  bzw.  zweck- 
schädigend treffend  definiert  —  die  alljgemeine  Analyse  ergibt  aber 
mit  gleicher  Präzision  lobenswert,  tauglich  — '),  so  erfordert  doch  die 
LogLK,  daß  die  Definition  jeder  besonderen  Anwendung  eines  All- 
semeinbegriffes diese  Besonderheit  enthalte.  Srencrr  würde  demnach 
logischerweise  gut  im  ethischen  Sinne  definieren  müssen  als  sittlichen. 
Zwecken  dienlich.  Damit  aber  würde  er  mit  leeren  Händen  zum 
Ausgangspunkte  zurückkehren.  Er  hat  das  auch  gefühlt;  das  geht 
daraus  hervor,  daß  er.  das  Ergebnis  hier  mit  dem  aus  der  Betrachtunjg 
der  Entwicklung  des  imiversuen  Handelns  kombiniert  und  sagt :  Wir 
nennen  unter  sonst  gleichen  Umständen  gut  die  Handlungen,  die 
förderlich  sind  zum  vollkommenen  Leben  des  Ich,  der  Art  und  der 
Gesellschaft  (I,  50),  damit  eben  das  umbestimmte  Gefühl  bekundend, 
daß  gut  gleich  zweckdienlich  in  seinem  ethischen  Sinne  sowohl  noch 
eine  Bestimmung  des  Zwecksetzers  bedarf  —  darum  „wir^,  die  All- 
gemeinheit —  wie  auch  eine  Bestimmung  der  Art  der  Zwecke 
erfordert  — ,  darum  vollkommenes  Leben  des  Ich,  der  Art  und 
der  Gesellschaft.  Diese  Zusätze  aber  widersprechen  der  Defimtion 
gut  gleich  zweckdienlich  im  allgemeinen;  sie  entspringen  auch  nicht 
der  Analyse,  sondern  sind  nachträgliche  Einführungen. 

Und  noch  eine  andere  Überlegung  verbietet  die  Identifikation 
von  ^ut  im  ethischen  Sinne  mit  zweckdienlich  im  allgemeinen.  Zwecke 
existieren  nicht  objektiv,  sondern  nur  subjektiv.  Die  ^Entscheidung  über 
die  Zweckmäßigkeit  einer  Handlung  wird  darum  nur  der  ssweck- 
setzenden  Intelligenz  voll  möglich  sein,  da  sie  auf  Kenntnis  der 
psychischen  Voraussetzimgen  beruht.  Ist  aber  sut  bleich  zweckdien- 
lich, so  werden  damit  Subjektivismus  bzw.  Individualismus  zum  A 
und  O  aller  Ethik  erklärt  und  damit  der  ethische  Anarchismus;  denn 
von  beiden  ist  es  nicht  weit  zum  dritten.  Bolph  findet  in  dieser 
Definition  auch  einen  Anklang  an  die  jesuitische  Lehre:  Der  Zweck 
heiligt  das  Mittel*). 

Diese  Überlegung  zeiget  übrigens  von  einer  anderen  Seite,  daft 
das  Sittliche  über  das  Individuelle  ninausliegt,  sittliche  Zwecke  nicht 
individualistische  sein  können,  sondern  allgemeine  sein  müssen,  sowohl 
von  der  Allgemeinheit  festgesetzte  als  auch  auf  die  Allgemeinheit 
sich  beziehende,  da  eben  die  Sittlichkeit  nur  eine  Erscheinung  des 
Gemeinschaftslebens  ist. 

Mit  der  Feststellung  der  primären  Bedeutung  von  gut  und  böse 
ist's  nicht  viel  anders  als  mit  der  sekundären.  Übrigens  hat  die 
Unterscheidung  von  sekundär  und  primär  einen  rein  psychologischen 
Grund,  indem  nämlich  das  Gefünl  das  Primäre,  cue  Vorstellung» 
zu  der  der  Zweck  seinem  Wesen  nach  gehört,  das  Sekundäre  im 
geistigen  Geschehen  bedeutet.  Auch  hier  definiert  Spencer  nicht  den 
spezifisch  ethischen  Begriff,  sondern  den  Allgemeinbegriff  gut,  faßt 
also  nicht  den  Gehalt  an  ethischem  Gefühl  ins  Auee,  sonaem  den 
Gefühlswert  im  allgemeinen.  Er  dreht  den  Satz :  Das  Gute  ist  er- 
freuend, einfach  um  und  sagt :  Das  Erfreuende  ist  gut,  genau  so  wie 
er  statt  zu  sagen:  Das  Gute  ist  im  allgemeinen  zweckmäßig,  sagt: 
Das  Zweckmäßige   ist   gut.     Spencer  meint  Freude  jeder  Art,  nicht 

')  Vgl.  WuNDT,  Ethik  I,  24  ff. 

')  Bolph,  Biolog.  Probleme,  S.  44. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  43 

etwa  nur  die»  die  ans  der  naditräglichen  Eeflexion  über  das  Handeln 
entspringt.  Aber  sicherlich  ist  das  Moment  Freude  nicht  das  Haupt- 
diarakteristikuni  des  Guten.  Wenn  die  Allsemeinheit  als  ausschlag- 
gebende Autorität  bei  der  Entscheidung  Über  die  sitttlichen  Werte 
anerkannt  i^ird  —  und  das  wird  füglich  geschehen  müssen,  da  eine 
bessere  fehlt  — ,  so  ist  nicht  das  unter  allen  Umständen  ^t,  was  nach 
Motiv  und  Erfole  Freude  ist,  sondern  das,  was  nach  Motiv  und  Erfolg 
oder  auch  nach  Motiv  allein  den  Menschen  über  sich  selbst  erhebt  und 
dem  Idealbüde  menschlichen  Gemeinschaftslebens  ^emäß  ist.  Alle 
materielle  Auffassung  ist  daher  der  wahren  Sittlicläeit  fremd,  und 
diese  steht  nicht  zuerst  unter  dem  Kriterium  berechnender  Klugheit, 
sondern  vielmehr  unter  dem  der  Yemunft  und  des  Gefühls.  Die 
Identifikation  des  Sittlichen  mit  dem  Freudebringenden  ist  schlecht- 
hin eine  Verkennung  und,  nimmt  man  die  Auffassung  Kants  hinzu, 
die  sicherlich  einen  lierrlichen  Kern  hat,  eine  Profanation  des  Sitt- 
lichen. Das  Gute  ist  wertvoll  an  sich;  der  Lohngedanke,  zu  dem 
die  Menschheit  zu  erziehen  die  Eeligionen  und  der  Utilitarimus  nicht 
mQde  werden,  ist  proethisch. 

Ebenso  unterstützt  die  Betrachtung  der  Zielsetzung  verschiedener 
ethischer  Systeme  Spencebs  Ausführungen  nicht.  Mit  gewissem  Pathos 
konstatiert  er:  „Freude  irgendwo,  zu  irgendeiner  Zeit,  von  irgend- 
einem oder  vielen  Wesen  erfahren,  ist  ein  nicht  zu  verdrängendes 
Element  der  Vorstellung  des  sittlichen  Zieles.  Es  ist  dies  ebenso  sehr 
eine  notwendige  Form  der  moralischen  Intuition,  wie  Baum  eine 
notwendige  Form  der  intellektuellen  Intuition  ist."  (I,  52.)  Selbstver- 
ständlich wird  alles,  was  für  Menschen  erstrebenswert  ist,  auch  einen 
angenehmen  Gefühlswert  haben;  hat  es  ihn  nicht  von  Haus  aus,  so 
gewinnt  es  Dm  eben  dadurch,  daß  es  als  erstrebenswert  hingestellt 
wird.  Das  sittliche  Ziel  muß  das  Moment  der  Freude  haben,  einfach 
weil  es  im  Zielbegriff  liegt.  Es  liegt  aber  hierin  nimmermehr  eine 
Notwendigkeit  zu  der  Folgerung,  daß  Freude  der  hauptsächliche 
oder  gar  einzige  Inhalt  des  Begriffes  des  sittlichen  Zieles  wäre,  wie 
Spenckb  doch  meint. 

Spexckr  gelangt  zu  seiner  Auffassung  der  primären  Bedeutung  von 
gut  und  böse,  mdem  er  den  von  Optimisten  wie  Pessimisten  bei  der  Lebens- 
Wertung  gebrauchten  Maßstab  untersucht.  Sicherlich  ist  dieser  Maßstab 
der  ganzen  Menschheit  gemeinsam,  doch  es  ist  immer  nur  wieder  der 
natürliche,  der  naive  Maßstab  des  Lebens,  nicht  aber  der  sittliche. 

Ein  Bückblick  über  die  beiden  eben  erörterten  Abschnitte  zeigt, 

daß  Spencer  zwei  Ziele  des  sittlichen  Handelns  aufstellt:  Leben  und 

GlüdL    Daß  beide  nicht  identisch  sind,  lehrt  der  bloße  Augenschein ; 

auch  SpeKCEH  ist  sich   darüber  klar.    Jedoch  ist  ihm  der  Dualismus 

der  Ziele  kein  so  unerschütterlicher,  daß  er  sich  etwa  veranlaßt  fühlen 

müßte,  ihn  zu  vermeiden.    Im  Gegenteil,  er  ist  ihm  sehr  wichtig  und 

eine  seiner   fundamentalen    ethiscnen    Lehren;    auf   ihm   beruht  im 

Grunde  seine  Unterscheidung  zwischen  absoluter  und  relativer  Ethik. 

Sein  Evolutionismus  -macht  ihn  so  optimistisch,  einen  Zustand   der 

absoluten  Ethik,  d.i.  eben  der  Identität  zwischen  Leben  und  Glück,  yor- 

herznsajgen,  und  zwar  nach  dem  Wesen  der   absoluten  Ethik  einen 

Zostanoaer  objektiv  verwirklichten  Identität,  worüber  in  den  nächsten 

Abschnitten  noch  zu  handeln  sein  wird.     Es  muß  zugegeben  werden, 

daß   die    Vorstellung   dieser   Identität    eine   durchaus   geläufige   ist, 

schon  von  der  religiösen  Belehrung  ^).    Es  muß  diese  Lehre  bei  Spencer 


')  Nach  Kant  bekanntlich  geradezu  als  Postulat  der  praktischen 
Yemunft  anzusehen. 


44  H.  K.  Schwarze: 

feradezn  als  ümdeutuns  der  Paradiseslehre  erscheinen,  nachdem  ihm 
er  ünsterhlichkeitsgedanke  znr  Absurdität  geworden  ist.  Freilich 
sie  hat  nichts  von  jeneih  das  Streben  anregenden  und  anspornenden 
Charakter  der  Lehre  der  Beligionen,  worin  doch  nur  ihr  Wert  be- 
stehen  kann,  nichts  auch  von  jenem  kühnen  Schwunde  der  NnsTzscHE- 
schen  Lehre  vom  Konmien  des  Übermenschen.  Sie  ist  matt  und 
kraftlos. 

Der  Dualismus  der  Ziele  bleibt  also  für  Spencer  nur  bestehen 
für  die  relative  Ethik.  Wie  er  ihn  hier  ausgleicht,  ist  eine  Frage, 
die  ebenfalls  in  den  nächsten  Abschnitten  zu  erörtern  sein  wird.  Fh: 
besitzt  durchaus  nicht  allgemeines  ethisches  Interesse,  da  ja  einerseits 
die  SpENCERSche  Unterscheidung  zwischen  relativer  und  absoluter 
Ethik,  anderseits  seine  Formulierung  des  sittlichen  Zieles  abgelehnt 
werden  mußten. 

b)  Betrachtung  und  weitere  Ausführung  des 
Zieles  bzw.  Wesens  des  sittlichen  Handelns  vom 
Standpunkt  der  wissenschaftlichen  Grundlagen 

der  Ethik  aus. 

a)  Vom  physikalischen  Standpunkt  aus. 

Man  ist  einigermaßen  erstaunt,  die  Physik  lediglich  infolge  der 
Tatsache,  daß  das  Handeln  mit  Einschluß  des  Sittlichen  als  iCraft- 
Äußerung  unter  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft  falle,  als 
wissenschaftliche  Grundlage  der  Ethik  hingestellt  zu  sehen.  Sicher- 
lich besteht  dieser  Zusammenhang,  wenn  man  die  Handlung  nur  nach 
ihrer  äußeren  Seite  als  Bewe^ng  von  Körperteilen  auffaßt.  Da 
aber  bei  weitem  nicht  alle  Handlungen  eine  derartige  wahrnehmbare 
Seite  haben,  sondern  auch  viele,  besonders  sittliche,  über  das  Stadium 
der  sogenannten  inneren  Willenshandlung  nicht  hinwegkommen,  so 
erscheint  doch  der  Zusammenhang  nicht  wichtig  genug,  um  der 
Physik  den  Rang  einer  Grundwissenschaft  der  Ethik  einzuräumen. 
Daß  SraKCER  es  tut,  ist  bezeichnend  für  ihn.  Bei  seiner  Ansicht  von 
der  uneingeschränkten  Herrschaft  der  mechanischen  Kausalität  auch 
auf  dem  Gebiete  des  Psychischen  und  der  der  Identität  des  Sittlichen 
mit  dem  Natürlichen  hat  allerdings  die  Physik  eine  höhere  Bedeutung 
für  die  Ethik,  als  ihr  sonst  allgemein  zuerkannt  wird. 

Gerade  Spencebs  Ausführungen  über  die  volle  Übereinstimmung  der 
sittlichen  mit  der  phvsischen  Entwicklung,  denen  das  ganze  Kapitel  über 
den  physikalischen  lätandpunkt  gewidmet  ist,  offenbaren  deutlich  das 
Gegenteil,  ja,  das  Disparate  der  sittlichen  und  der  physischen  Entwick- 
lung; denn  es  ist  nicht  wahr,  daß  größerer  Zusammenhanhang,  &;rößere 
Bestimmtheit  und  größere  Mannigfaltigkeit  das  sittliche  Handeln  vom 
unsittlichen  unterscheidet.  Spenckr  selbst  wird  es  sehr  schwer ,  am  sitt- 
lichen Handeln  die  beiden  Eigenschaften  des  größeren  Zusammenhanges 
und  der  größeren  Bestimmtheit  auch  nur  einigermaßen  scharf  vonem- 
ander  zu  unterscheiden,  und  man  behauptet  nicht  zu  viel,  wenn  man 
sa^t :  Ebenso  sehr  wie  seine  Behauptung  der  größeren  Mannigfaltig- 
keit des  sittlichen  Handelns  gegenüber  dem  unsittlichen  stimmt,  stimmt 
auch  die  gegenteilige.  Dasselbe  gilt  bezüglich  der  Gleichartigkeit; 
es  kommt   nur  auf  den  Standpunkt  an,   ob  man  nämlich  die  unter 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  45 

{gleichen  oder  ähnlichen  Bedingungen  wiederkehrenden  Handlungen 
ms  Aage  faßt  oder  die  unter  vollständig  verschiedenen.  Die  Ethik 
Spescebs  wird  es  nicht  vermögen,  dem  fulgemeinen  Begriff  des  sitt- 
lichen Charakters  das  Moment  der  Konsequenz  und  des  Grundsätz- 
lichen zu  entziehen.  So  sehr  man  die  Relativität  aller  Ethik  an- 
erkennen mufi,  die  Notwendigkeit  bestimmter  nicht  blofi  ganz  all- 
gemeiner, sondern  auch  spezieller  moralischer  Maximen  und  eine  ^- 
wisse  strenge  Pedanterie  und  Peinlichkeit  im  Danachhandeln  ist 
ebenso  unabweisbar. 

Viel  wichtiger  aber  als  der  Hinweis  darauf,  welche  Schwierig- 
keit der  BegrQndun^  die  Übereinstimmung  der  sittlichen  mit  der 
physikalischen  Entwicklung  SpENCERselbst  schon  bereitet,  ist  der 
mnweis  auf  die  diese  Schwierigkeit  bedingende  Tatsache,  daß  alle 
die  Eigenschaften  des  Zusammenhanges,  der  Bestimmtheit  und  der 
Mannigfaltigkeit  nicht  dem  sittlichen  Moment  am  Handeln,  sondern 
im  allgemeinen  dem  Handeln  zugehören;  denn  das  sittliche  Handeln 
eines  nochentwickelten  Menschen  zeigt  genau  den  hohen  Grad  von 
Znaammenhang,  Bestimmtheit  und  Mannigfaltigkeit  als  das  unsittliche 
eines  anderen  ebenso  hoch  entwickelten  Menschen.  Ja,  man  kann 
geradezu  sagen,  daß  zu  allen  Zeiten  die  Verbrecher  die  äugen- 
alligsten  Beweise  für  die  Größe  menschlichen  Scharfsinns  erbracht 
hi^>en,  tmd  heute  ist  es  noch  ebenso.  Die  Kehrseite  dieser  Tatsache 
aber  ist,  daß  ein  unzivilisierter  Mensch  relativ  ebenso  sittlich  sein 
kann  ivie  ein  hochzivilisierter.  Spemcbr  bestreitet  das,  wie  früher 
(I,  llff.)f  80  auch  hier  (I,  75ff.)i  das  heißt,  es  verrät  sich  hier  der- 
selbe fundamentale  Irrtum,  der  schon  zur  ünterschätzung  der  tierischen 
Anpassung  geführt:  der  Mangel  an  Perspektive  und  die  allzu  weit 
gehende  Identifikation  geistiger  und  materieUer  Bealität.  Damit  ist 
aber  gesagt,  daß  sittlich  und  hochentwickelt  im  physikalischen  Sinne 
nicht  eins  sein  können.  Das  Moment  des  Sittlichen  liegt  nicht  im 
Handeln  an  sich,  am  allerwenifi;sten  in  der  äußeren  Handlung,  wohin 
es  za  verlegen  Spekcer  sich  bemüht,  sondern  in  den  psychischen 
Voraussetzungen,  und  es  ist  die  wichtigste  derselben.  Darum  ist  die 
vor  allem  psychologische  Auffassung  und  Beurteilung  des  Handelns 
nötig  und  oerechtigt,  und  die  Forderung  Spencers,  daß  die  äußeren 
wahrnehmbaren  Elemente  als  die  für  die  Ethik  wichtigsten  betrachtet 
werden  sollen,  muß  Widerspruch  herausfordern.  Nicht  im  Effekt  der 
Handlung  liegt  das  Sittliche,  sondern  in  der  Voraussetzung,  der  Ge- 
sinnung. Der  Effekt  steht  bei  der  immer  größer  werdenden  Kom- 
Slizier&eit  des  Lebens  zum  guten  Teil  außerhalb  der  Machtsphäre 
es  einzelnen,  sowohl  nach  Qualität  als  Quantität,  aber  das,  was  er 
^anz  sein  eigen  nennt,  ist  sein  Inneres,  sein  Wollen^).  Darum  kann 
sich  nur  darauf  die  Ethik  gründen^.  Sicherlich  ist  das  sittliche 
Handeln  und  seine  Entwicklung  ein  Mittel  zur  Lebenserhaltung,  aber 
darin  liegt  noch  keineswegs  die  Notwendigkeit,  die  Lebenserhaltung 


>)  Vgl.  WuiiDT :  „Es  gibt  schlechterdings  nichts  außer  dem  Menschen 
220ch  in  ihm,  was  er  voll  und  ganz  sein  eigen  nennen  könnte,  aus- 
genommen seinen  Willen.*'  (Vorlesungen  über  die  Menschen-  und  Tier- 
seele, 2.  Aufl.,  S.  270.) 

<)  VgL  Kant:  „Es  ist  überall  nichts  in  der  Welt,  ja  überhaupt 
aach  axSetr  derselben  zu  denken  möglich,  was  ohne  Emschränkung 
fOr  gut  könnte  gehalten  werden,  als  allein  ein  guter  Wille.*^  i  Grund- 
Jegong  zar   Metaphysik  der  Sitten,  Ausgabe  von  Dr.  Th.  Fritzbch, 

S.  21.; 


46  'S.  K.  Schwarze: 

als  höchstes  sittliches  Ziel  aufzustellen,  zumal  ja  allgemein  als  höchste 
sittliche  Tat  gilt  Hingahe  des  Lehens  im  Dienste  des  Sittlichen. 

Übrigens  ist  auch  die  physikalische  Definition  des  Lebens,  dieses 
als  Ganzes  oder  nur  in  einem  gegebenen  Augenblick  betrachtet,  nicht 
ohne  Widerspruch  hinzunehmen.  Spencer  liebt  den  Ausdruck  „Gleich- 
gewicht'' f  Or  den  Höhepunkt  aller  Entwicklung,  und  er  tut  ja  sicherlich 
nach  seiner  Theorie  vollständig  recht  daran,  aber  deswegen  ist  die 
Übertragung  des  Ausdrucks  vom  Mechanischen  auf  Organisches  und 
Psychis^es  nicht  weniger  anfechtbar.    Das  Leben  ist  nicht  Gleich- 

gewicht  der  inneren  Tätigkeiten  und  Kräfte  mit  den  äußeren  Ein- 
ttssen,  es  ist  nie '  Gleichgewicht ,  auch  nicht  labües;  es  ist  Über- 
gewicht. Gleichgewicht  ist  die  Gleichheit  von  Wirkung  und  Gegen- 
wirkung. Wann  aber  ist  das  Leben  physikalisch  eine  solche  Gleich- 
heit? Nie,  nicht  einmal  im  Schlafe,  mcht  im  höchsten  Alter,  auch 
nicht  im  Augenblick  des  Todes,  nicht  in  der  Narkose  oder  im  Starr- 
krampf. Das  Leben  ist  vielmehr  Ungleichheit  vom  ersten  Augenblick 
an,  es  ist  ein  Strömen  und  Wachsen  und  ein  Überwiegen  der  Lebens- 
energie  über  die  Einflüsse  der  Zerstörung,  und  es  ist  dies  bis  zum 
letzten  Augenblicke,  wenn  auch  erst  mit  wachsender  und  sodann  mit 
fallender  Intensität. 

Aus  Spencers  phvsikalischer  Definition  des  Lebens  ergibt  sich 
sodann  noch  eine  wichtige  Folgerung  in  bezue  auf  seine  Konzeption 
des  absolut  ethischen  Zustandes,  in  dem  ja  die  Definition  vollkommen 
realisiert  sein  soll.  Da  die  Entwicklung  des  Menschen  vom  physika- 
lischen wie  auch  vom  biologischen  und  soziologischen  Standpunkte 
aus  nach  Spencer  nur  ein  B^lex  des  Wandels  um  ihn  ist,  womit  er 
nach  der  einen  Seite  sicherlich  recht  hat,  so  ist  der  absolut  ethische 
Zustand  nur  möglich,  wenn  die  Lebensbedingun^n  vollständig 
konstante  und  rhythmische  werden,  wenn  also  ein  Wechsel  im 
einzelnen  aufhört;  denn  dann  nur  kann  das  Leben  annähernd  ein 
Gleichgewichtszustand  sein.  Je  mehr  aber  der  Wandel  schwindet, 
desto  überflüssiger  werden  vielerlei  Tätigkeiten  des  Menschen  werden, 
damit  auch  die  entsprechenden  Organe,  mit  anderen  Worten,  es  muß 
eine  Bückbildung  eintreten,  bis  der  Mensch  auf  den  vollkommenen 
Rhythmus  seiner  Existenzbedingungen  vollkommen  abgestimmt  ist. 
Dann  aber  wird  er  etwa  gleich  sein  den  Geschöpfen,  die  schon  jetzt 
n  nahezu  konstanten  Verhältnissen  leben,  d.  h.  den  niedersten  Tieren. 

ß)  Vom  biologischen  Standpunkt  aus. 

Den  meisten  Einfluß  gewinnt  die  Physik  auf  die  Ethik  ver- 
mittels der  Biologie,  von  der  Spencer  sagt,  daß  sie  das  Studium  der 
Ethik  vorbereiten  solle.  Seine  biologischen  Argumente:  Einfluß  der 
Empfindun^fähigkeit  auf  die  organische  EntwickluAg,  Vollkommen- 
heit der  Leitung  des  tierischen  Lebens  durch  die  Empfindun^n  und 
physiologischer  VVert  der  Freude  sind  scharf  und  wissenschaftlich 
dargelegt;  aber  sie  vermögen  doch  seine  moral- philosophischen 
Folgerungen  über  Ziel  und  Wesen  des  Sittlichen  nicht  zwingend  imd 
unaoweisbar  zu  machen.  Alles,  was  sie  leisten,  ist,  die  Sorse  für  die 
Gesundheit  als  die  Bedingung  für  körperliche  und  geistige  Leistungs- 
fähigkeit zu  einer  sittliäien  Verpflicntung  zu  machen.  Mail  sollte 
meinen,  daß  es  dazu  keiner  besonderen  biologischen  Auseinande]> 
Setzungen  bedürfe,  daß  diese  ihre  geeignetste  Stelle  vielmehr  da 
finden,  wo  es  sich  um  Ableitung  und  Begründung  hygienischer  Vor- 
schriften handelt;  denn  daß  Moral  schließlich  dasselbe  sein  soll  wie 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  47 

Hygieney  ^wird  doch  wohl  PrivatanBicht  bleiben.  Spencer  ist  einer  der 
enten,  der  ihr  zuneigt').  Die  Forderung  nach  Erhaltung  der  Ge- 
sundheit ist  aber  nicht  etwa  an  sich  eine  ethische;  sie  ist  es  nur  in- 
sofern, als  die  Gesundheit  Voraussetzung  für  alle  kraftvollen 
Äufierungen  des  menschlichen  Lebens  in  der  Gemeinschaft  ist.  Alle 
Ediiker  Btdmmen  hier  mit  Spencer  aberein.  Wie  es  keinen  Sinn  hat, 
dem  Einzel'weeen  Mensch  eine  Ethik  zuzuschreiben,  so  ist  auch  die 
individuelle  Gkeunderhaltung  an  sich  nicht  eine  sittliche  Pflicht, 
sondern  höchstens  ein  Gebot  der  EHujeheit. 

Alle  übrigen  Folgerungen,  die  Spencer  im  biologischen  Kapitel 
beEdglich  des  Sittlichen  zieht,  hängen  zusammen  mit  der  Identifizierung 
von  normal  und  sittlich.  Was  ist  das  Normale  oder  besser  die 
Normale?^  Nach  Spencers  Auffassung  in  diesem  Abschnitt  ein 
j,trennender  Strich  zwischen  Exzeß  und  Vernachlässigung^,  wie  Bolph 
sagt.  „Wem  sollte  es  auch  in  der  vollkommensten  Gesellschaft  ge- 
lingen, auf  ihm  entlang  zu  balancieren,  ohne  nach  der  einen  oaer 
anderen  Seite  abzufallen?'' ')  In  Ansehung  der  Beservestoffe  ist  die 
Konnale  der  „Bereich  des  straflosen  Exzesses  und  der  straflosen 
Unterlassung'',  „nicht  ein  rigoroser  Kreidestrich,  sondern  eine  ziemlich 
breite  Strafie**,  so  daß  eine  mäßige  Abweichung  von  Spencers  Normale 
nicht  mit  Leid  verbimden,  normal  und  erfreuend,  unnormal  und  leid- 
bringend, also  nicht  genau  identisch  ist.  Bolph  hätte  noch  weiter 
gehen  und  sagen  können,  daß,  weil  diese  Abweichung  nach  der 
Ezzeßseite  Voraussetzung  und  bestes  Mittel  zur  Steigerune  einer 
Fähigkeit  ist,  auch  normal  und  lebenf ordernd  nicht  genau  identisch 
sind,  somit  also  entweder  eine  gewisse  Unnormalität  moralisch  im 
SpBsicEBschen  Sinne  genannt  werden  muß  oder  die  Identifikation  von 
moralisch  und  normal  eine  Zunahme  der  Summe  des  Lebens  nach 
Quantit&t  und  Qualität  ausschließt,  also  seinem  Ziel  widerspricht. 
Diese  Alternative  verneint  demnach  die  Lehre,  daß  das  funktionell 
Normale  sittlich  tmd  das  Sittliche  funktionell  normal  sei. 

In  der  Tat  zeigt  auch  die  täglicftie  Erfahrung,  daß  viele  sittliche 
Handlungen,  ja  die,  die  den  sittlichen  Charakter  am  deutlichsten 
zeigen,  funktionell  unnormal,  die  meisten  funktionell  normalen  aber 
sitSich  indifferent  sind,  und  das  berechtigt  zu  dem  Schluß,  daß 
fumktionell  normal  und  sittlich  vollständig  disparate  Begriffe  sind 
und  bleiben  müssen,  wenn  nicht  geradezu  eine  Vernichtung  aller 
heimbrachten  sittlichen  Auffassung  bewirkt  werden  soll.  Diesem 
Scmuß  ist  keineswegs  das  Zugeständnis  widersprechend,  daß  aus 
moralischen  Gründen  die  funktionelle  Normale  größere  Beachtung 
verdient  als  bisher,  doch  so,  daß  die  vollkommene  Souveränität  des 
sittlichen  Willens  über  die  Leistungen  und  Fähigkeiten  des  mensch- 
lichen Körpers  stete  das  wichtigere  Moment  des  sittlichen  Ideals  ist. 
Nun  betont  Spencer  freilich,  daß  seine  Identifikation  nur  für  den 
absolut-ethischen  Zustand  Geltung  haben  kann  und  soll.  Doch  ändert 
dies  die  Sache  nicht;  er  erÜärt  damit  nur,  daß,  solange  dieser  Zustand 
nicht  erreicht  ist,  normal  nicht  gleich  sittlich,  seine  Identifikation 
alflo  fflr  den  relativ  ethischen  Zustand  nicht  das  sein  kann,  was  es 


M  In  neuerer  Zeit  besonders  A.  Forel;  vgl.  seinen  Vortrag: 
Sexuelle  Ethik,  München  1906,  S.  14. 

*)  Siehe  hierzu  Bolphs  Kritik  bezüglich  des  Mangels  einer  ge- 
nauen and  konsequent  beibehaltenen  Definition  des  Begriffes  „normal''. 
(Bolph,  Biologische  Probleme,  S.  45  f.) 

')  Itoi'pH«  ebenda  S.  45. 


48  ^'  ^  Schwarze: 

sein  soll,  nämlich  oberstes  Leitunffsprizizip  ^).  Außerdem  erweisen  die 
obigen  Erörterungen  über  den  iSegriff  normal  und  dazu  noch  die 
Tatsache,  daß  es  überhaupt  keine  feste  Normale  gibt  —  indem  nämlich 
das,  was  zur  einen  Zeit  normal  ist,  zur  anderen  über  oder  unter 
normal  sein  kann  und  somit  das  absolut  ethische  Handeln  nicht  die 

feringste  Bestimmtheit  zeigen  würde  —  daß  sie  es  auch  nicht  für 
en  absolut  ethischen  Zustand  sein  kann;  abgesehen  davon,  daft 
überhaupt  gewichtige  Gründe  der  SpENCEBschen  Konzeption  der  ab- 
soluten Ethik  an  sicn  entgegenstehen. 

Die  Identifikation  von  sittlich  und  normal  muß  also  als  eine  Über- 
schätzung der  Wichtigkeit  der  Biologie  für  die  Ethik  bezeichnet  werden» 
Das  biologische  KJ4>itel  ist  auch  das  Kapitel,  in  dem  Spencbu 
offen  die  Nichtkongruenz  von  Leben  und  Glück  für  den  relativ 
ethischen  Zustand  zugibt  und  die  Gründe  hierfür  aufzählt.  Es  ist  der 
allgemeine  Grundf^ler  menschlichen  Daseins,  der  allenthalben  die 
Aufstellung  von  Sittengesetzen  erschwert,  nämlich  der  Mangel  an 
Anpassung;  an  die  Existenzbedingungen,  im  einzelnen  der  fortwährende 
Wandel  derselben  mit  den  daraus  hervorgehenden  Mißanpassungen 
und  das  Nebeneinander  zweier  sich  widersprechender  Lebensweisen^ 
des  Militarismus  und  des  Industrialismus,  d.  i.  die  des  zwangsweisen 
und  die  des  freiwilligen  Zusammenwirkens.  Daß  Spemckb  als  ersten 
Grund  den  Wechsel  der  Existenzbedingungen  nennt,  ist  interessant. 
Es  ist  bereits  erwähnt  worden,  daß  dieser  Wechsel  nie  verschwinden 
kann,  daß  heißt  aber  hier,  daß  er  eine  dauernde  Quelle  der  In- 
kongruenz von  Leben  und  Glück  sein  muß.  Daß  die  Menschheit  all- 
mälüich  die  Fähigkeit  erlangen  werde,  jedem  Wechsel  gegenüber 
sofort  entsprechend  zu  reagieren,  d.  h.  sofort  angepaßt  zu  sein,  ist 
ein  Widerspruch  zum  Wesen  des  Menschen  als  eines  Organismus» 
zumal  bei  einer  im  Grunde  dodi  passiven,  willenlosen  Anpassung^ 
wie  sie  Spknceb  im  Sinne  hat. 

Etwas  sehr  Wahres  muß  dagegen  gefunden  werden  in  der 
Forderung  des  allmählichen  Y^rschwindens  des  zwangsweisen  Zu- 
sammenwirkens zu^nsten  des  freiwilligen.  Aus  allgemein  mensch- 
lichen Gründen  ist  ihre  Verwirklichung  zu  wünschen ;  jedoch  sie  wird 
wohl  immer  eine  ideale  Forderung  bleiben  müssen,  denn  sie  setzt 
eine  Vollkommenheit  menschlicher  Verhältnisse  voraus,  für  welche 
bisher  noch  alle  Anzeichen  fehlen ;  darum  ist  das  „ideal''  zu  be- 
tonen. Spencer  findet  ein  Anzeichen  darin,  daß  der  Krieg,  die  eine 
Form  zwangsweisen  Zusammenwirkens,  bei  den  zivilisierten  Völkern 
mehr  und  mehr  Abscheu  erweckt.  Wohl  geht  die  Friedensbewegung 
in  neuerer  Zeit  hoch,  aber  haben  sich  nicht  trotz  derselben  die 
mörderischsten  Kämpfe  zwischen  gebildeten  Nationen  abgespielt? 
Kriege  sind  die  gewaltigsten  Entladungen  des  Selbsterhaltungstriebes 
der  Völker,  mag  dieser  zu  Becht  oder  unrecht  erregt  sein.  Solange 
siidi  aber  der  Selbsterhaltung  Hindemisse  entgegenstellen,  werden 
und  können  sie  nie  verschwinden,  welche  Form  sie  auch  immer  an- 
nehmen mögen.  Und  anderseits  haben  diese  Hindemisse  eine  un- 
geheure Bedeutung  für  die  Entwicklung  der  Völker.  Der  Krieg  ist 
ein  Anreiz  zur  Entfaltung  größter  Aktualität,  und  darum  ist  er  nach 

^)  „Hence  I  conclude,  as  before,  that  the  guidance  afforded  bj 
Mr.  Spencers  bioloepioal  law  cannot  possibly  be  such  as  to  supersede 
the  empirical  method  of  ascertaining  effects  of  actions  on  happiness." 
SiDG wiCK,  Lectures  on  the  Ethics  of  T.  H.  Green,  Mr.  Herbert  Spencer 
and  J.  Mariineau,  p.  168. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  49 

äßm  alten   klassischen  Worte  „der  Vater  aller  Dinge";  denn  so  viel 
Aktaalit&t,  soviel  Realität. 

Und  noch  aus  einem  anderen  Grande  muß  die  Möglichkeit  einer 

solchen    Anpassung,   daß   das  sittliche  Handeln  identisch   mit   dem 

freudebiinsenden    bzw.  normalen  und  natürlichen  wird,  bezweifelt 

werdeoL     Spemcbr  ist  sich  darQber  klar,  daß  die  Existenzbedingungen 

sehr  viele  Tätigkeiten  erfordern,  die  dem  handelnden  Ich  keineswegs 

nur  Freude  schaffen,  die  es  nur  vollbring,  weil  sie  vollbracht  werden 

müssen.     Wird   das   nicht  immer  so  sem?  —   Spki«cer  sagt:    „Nein, 

sondern  die  notwendigen  Tätigkeiten  werden  mit  der  Zeit  angenehm 

werden;   unter   dieser  Bedingung  nur  haben  sich    die   Organismen 

bisher  entwickelt,  und  unter  dieser  Bedingung  nur  können  sie  sich 

weiter  entwickeln. '^     Angenehm  werden   Täti^eiten  nach  Spkmcers 

Aosicht,  wenn  die  zu  ihnen  gehörenden  psychischen  Vorgänge  leicht 

und  ungehindert  und  vielseitig  ablaufen  können.  Bedingung  wiederum 

dieses  Ablaufs  ist  das  Vorhandensein  entsprechender  Mervenverbin- 

dun^en.    Diese  Ansicht  ist  sicherlich  sehr  einleuchtend;  es  läßt  sich 

auch  sehr  wohl  begreifen,  daß  durch  psj^chische  Vorgänge  strukturelle 

Modifikationen  des  Nervensystems  bewirkt  und  diese  vererbt  werden ; 

auch  das  kann  hier  schließlich  außer  acht  bleiben,  ob  und  wie  die 

Umsetzung  nervöser  Energie  in  psychische  Werte  gedacht  werden 

soll,  Spkxcer  lehrt  ja,  daß  dies  unerkennbar  sei.     Gleichwohi  wird 

durch  alles  dies  die  Lehre  von  der  vollkommenen  Anpassung  nicht 

annehmbarer  ^macht;  denn  erstens  nur  solche  Tätigkeiten  können 

dauernde  Modifikationen  in  den  Nervenverbindungen  bewirken,  die 

hänfig  und  während  einer  verhältnismäßig  langen  Zeit   ausgeführt 

w^dfn,  alle  seltneren  und  neuartigen  vennögen  es  nicht;  fetztere 

sind  aber  gerade  die  sittlich  wichtigen.    Zweitens  müssen  mit  dem 

Wechsel  der  Existenzbedingungen  fortwährend  neuartige  Handlungen 

nötig   und  bereits  gewohnte  überflüssig  werden,  d.  h.  es  muß  ein 

ständiges  Bilden  und  Verfallen  von  Nervenverbindun^en  stattfinden. 

Drittens  bleiben  Handlungen  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  der 

Häufigkeit  der  Ausführung  mit  Gefühlswerten  verbunden,  nimmt  die 

BÜlufigkeit  der  Ausführung  über  diesen  Grad  hinaus  zu,  so  wird  die 

Handlung  automatisch  und  verliert  an  Gefühlswert.     Damit  hän^t 

viertens  endlich  zusammen,  daß  ein  Leben  mit  vornehmlich  einseitig 

getontem  und  besonders  mit  vornehmlich  angenehm  getontem  Gefühls- 

fehalt  die  Gefühlsfähigkeit  und  damit  die  geistige  Kraft  der  Mensch- 
eit  überhaupt  degenerieren  muß;  denn   eine  der  wichtigsten  Be- 
dmgungen  starker  Gefühlswirkung  ist  der  Kontrast  der  Gefühle. 

j)  Vom  psychologischen  Standpunkt  aus. 

Wie  ein  Überlesen  des  Inhaltes  des  psycholo^chen  Kapitels 
ohne  weiteres  schon  sehen  läßt,  enthält  es  vornehmlich  Erörterungen 
über  den  relativ  ethischen  Zustand,  während  das  biologische  besonders 
dem  absolut  ethischen  gewidmet  war.     Leicht  wird  man  auch  er- 
kennen, daß  das  psychologische  Kapitel  die  Fortsetzung  des  biologischen 
ist;  im  allgememen  wie  im  besonderen,  im  allgemeinen,  indem  im 
absolut    ethischen  Zustand   alles   von   biologischen   Gesichtspunkten 
aus  zu  beurteilen  sein  wird,  auch  das,  was  jetzt  noch  eine  speziell 
psychologische  Betrachtung  notwendig  macht,  im  besonderen,  indem 
SrexcER  im  biologischen  Kapitel  unumwunden  zubegeben  hat,   daß 
die  Leitung  des  Handelns  durch  den   G^nuß,  die  nedonistische,  wie 
SiDGwicK  e&gt,  im  relativ  ethischen  Zustand  vielfach  nicht  vorteilhaft 
f flr  den  Organismus  ausfällt,  d.  h.  daß  hier  eine  besondere  Modifikation 

VierteljabrflBolurtft  f.wissenschaftl.Philos.  u.Soziol.  XXXII.  1.  4 


50  H.  K.  Schwarze: 

des  hedomatiBchen  Leituxigsprixizips  nötig  sei.  Die  Psychologie  lHJßt 
ihn  diese  finden  in  der  Kontrolle  der  spä,ter  entwickelten,  kon;L- 
pUzierten,  repräsentativen  Grefühle  über  die  früher  entwickelten,  ein- 
fachen, präsentativen,  im  besonderen  im  Gewissen.  Spencer  meint, 
daß  die  Überordnimg  der  ersteren  über  die  letzteren  ihren  Grund 
darin  habe,  dafi  die  ersteren  eine  bessere  Erhaltung  und  Förderung 
des  Lebens  bedingten  als  die  letzteren.  Der  Beweis  ist  sehr  über- 
zeugend geführt  und  die  Beispiele  treffend  gewählt,  aber  doch  muß 
die  Xiehre  als  eine  Ansicht  bezeichnet  werden,  die  durch  ebenso  gute 
gegenteilige  Beispiele  widerlegt  werden  kann,  Beispiele,  in  denen  das 
Verhältnis  der  Überordnung  gerade  umgekehrt  ist,  und  die  da  zeigeuj 
daß  nicht  in  erster  Linie  der  Grad  der  Kompliziertheit,  die  Zeit  der 
Entwicklung  und  der  Grad  der  Eepräsentativität  maßgebend  sind, 
sondern  die  Litensität  der  Gefühle  und  ihre  Beziehung  zum  Charakter 
des  Handelnden.  Auch  die  Behauptung,  daß  die  moralischen  Ge- 
fühle als  die  am  spätesten  entwickelten  &n  repräsentativen,  Charakter 
am  stärksten  zeigen,  findet  Widerspruch.  So  weist  Sumiwick  daorauf 
hin,  daß  die  rehgiösen  Gefühle  z.  B.  weit  mehr  repräsentativ  sind 
als  die  echt  moralischen^). 

Der  Leser  der  Principlea  of  Ethics  erwartet,  daß  Spencer  hier 
eine  genane  psychologische  Analyse  des  einer  Handlung  voraus- 
gehenden psychischen  Prozesses  geben  werde,  um  auf  sie  eine  psycholo- 
fische  Feststellung  des  Wesens  und  Zieles  des  Sittlichen  zu  grüi^den. 
edoch  die  Erwartung  wird  auch  hier  enttäuscht.  Spencer  setzt  ja 
zur  Analyse  an,  aber  er  geht  über  das  Allgemeixiste  nicht  hinaus, 
sondern  schwenkt  sofort  um  in  eine  Darstellung  der  Entwicklung 
der  beiden  Grundelemente,  des  gefühlsseitigen  und  des  intellkuellen, 
zu  immer  höherer  Kompliziertheit.  So  tut  er  hier  und  auch  ander- 
wärts, indem  ihn  da  immer  das  Bestreben  hindert,  die  Analogie  mit 
dem  allgemein  tierischen  Handeln  nicht  zu  erschweren,  eine  ebenso 
kuriose  wie  bedauerliche  Tatsache.  Jedoch  für  das  Wesentliche  einer 
Handlung,  den  Willensvorgang,  ist  das  psychologische  Kapitel  von 
größerer  Wichtigkeit,  als  es  scheint;  denn  es  enthält  im  allgemeinen 
ein  starkes  Zugeständnis  an  die  Betonung  des  Willens  in  der  Ethik. 
Denn  was  ist  die  gegenseitige  Kontrolle  der  Gefühle  anderes  als  eben 
die  Voraussetzung  des  Willens?  und  die  Überordnung  der  höheren 
Gefühle  über  die  niederen  anderes  als  die  vornehmste  Ersohei- 
nong  des  Willens?  —  Daß  dies  in  Spencers  Ausflüirungen  nicht 
ohne  weiteres  erkannt  wird,  liegt  daran,  daß  ina^  es  nicht  bei 
ihm  vermutet,  sodann  auch  an  der  entwicklunsstheoVetischen  Ein- 
kleidung und  endlich,  weil  er  von  vornherein  eine  scharfe  Polemik  gegen 
die  Überschätzung  des  Prinzips  der  Überordnung  betreibt.  Aber  doch 
ist  das  Kapitel,  wenn^s  auch  Spencer  sicherlicn  nicht  beabsichtig 
eine  Anerkennung  wenigstens  der  Willenssuprematie.  Denn  ein 
Gefühl  kann  nie  ohne  weiteres  oder  automatisch  ein  anderes  kon- 
trollieren ;  es  ist  dazu,  wie  auch  Spencer  betont,  immer  der  Schauplatz  des 
Bewußtseins  nötig,  d.  h.  aber,   der  Wille  tritt  in  Aktion.    Zugleich 

gewinnt  damit  der  ganze  seelische  Habitus  des  Subjekts,  im  besoimeren 
er  Charakter,  ausschlaggebenden  Einiluß,  und  die  gegenseitige  Kon- 
trolle ist  nicht  mehr  bloß  ein  Messen  nach  ihrer  Kompliziertheit  und 
Bepräsentativität,  auch  nicht  nach  ihrem  Lebenswerte,  sondern  vor 
allem  eine  Sphäre  des  Charaktereinflusses,  weicher  Einfluß  auch  die 
Art  des  Willens  und  Handelns  zu  allererst  bestim^it. 

^)  SiDGwicK,  Lectures,  p.  17i. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  51 

Die  Fol^xuns  hieraus  ist,  daß  der  Charakter  die  besondere  Auf > 
merksamkeit  des  JMvalphilosophen  verdient.  Spsmcbs  zieht  sie  jedoch 
nicht»  hier  nichit  und  anderwärta  nicht.  Hier  ist  ihm  yiebnehr  daran 
eelegen,  die  seiner  Definition  des  Sittlichen  widersprechenden,  von 
üun  als  Nachwirkungen  des  Asketizismus  aufgefaßten  allgemeiinen 
Ansichten  Hber  den  Wert  von  Leiden  und  Freude»  zu  beseitigen, 
daß  nämlich  körperliche  und  naheliegende  Freuden  zu  genießen  böse, 
Leiden  zu  ertragen  inunor  ^ut  sei.  Er  meint,  diese  Auffassung  habe 
neben  dev  schon  im  biologischen  Kapitel  erwähnten  häufigen  Erfärung 
von  der  Schädlichkeit  cLec  Freuden  und  Nützlichkeit  der  Leiden  vor 
allem  das  Mißverständnis  des  Prinzips  der  Unterordnung  der  a^ter 
entwickelten,  komplizierten,  repräsentativen  unter  die  gegenteiligen 
zum  Grunde.  Um  diese  Auffassimg  zu  entkräften,  weißt  er  die  Not- 
wenigkeit der  Einschränkung  des  JPrinzips  der  Unterordnung  nach. 
Was  er  sagt,  ist  vollständig  zutreffend.  Aber  die  Wichtigkeit  seüier 
Ausführungen  für  die  Festigung  seiner  Definition  des  Sittlichen  ist 
nicht  einzusehen.  Daß  die  getadelten  Auffassungen  des  Wertes  von  Leid 
und  Freude  falsch  sind^  beweist  noch  nicht,  daß  seine  Definition  richtig 
ist.  Das  Ganze  macht  vielmehr  den  Eindruck,  als  ob  er  gegen  einen  Stroh* 
mann  käin|^£e,  gegen  ein  selbstgemachtes  Gespenst ;  denn  keinem  ver- 
nünftigen Üenschen  wird  es  heutzutage  einfallen ,  die  mittelalterlich 
asketische  Lehre  zu  predigen,  daß  Freu(fo  zu  genießen  böse  seL  Es  wäre 
verständlicher  und  verdienstlicher  gewesen.,  wenn  Spencbb  das  gregen- 
teilige  Ibctrem,  daß  nämlich  Freuden  zu  gemessen  gut  an  sich,  Leiden  zu 
ertragen  ah&r  böse  sei,  statt  es  zu  predigen,  energisch  bekämpft  hätte. 
Daß  er  den  stark  erzieherischen  Zweck  und  den  immens  erziehlichen 
Wert  der  getadelten  Lehren  mit  keinem  Worte  streift,  darf  man  ihm  nicht 
verdenken;  er  hätte  ihn  zugeben  und  damit  seine  eigene  Auffassung 
diskretitieren  müssen.  Untersucht  man  diese  aber  in  dieser  Beziehung, 
so  wird  man  nicht  anders  können,  als  nur  Befürchtungen  hegen  für  den 
Fall  einer  allgemeinen  Befolgung.  Alle  Perioden  der  Geschichte,  in 
denen  der  Genuß  als  oberstes  Prinzip  des  Handelns  herrschte,  zeigen 
sittlicheDeg^neration  und  Verkommenheit,  körperliche  Verweichlichung 
und  geistig  Schwäche.  Sollte  eine  mehrtausendjährige  Erfahrung  in 
dieser  Begehung  nicht  höhere  Beweiskraft  besitzen  als  die  auch  noch 
so  scharfsinnigen  gegenteiligen  Ergebnisse  des  Denkens  eines  einzelnen? 
—  Es  beel^eht  übrigens  ein  gewisser  Widerspruch  zwischen  dem  eben 
erörterten  Teile  &s  psychologischen  Kapitels  und  dem  folgenden. 
Bisher  hat  sich  Spsiicsb  besonders  angelegen  sein  lassen,  die  unein- 
geschränkte Überordnung  der  später  entwickelten,  komplizierten, 
repräsentativen  Gefühle  über  die  früher  entwickelten,  einfachen, 
präsentativen,  kurz  der  höheren  über  die  niederen  zurückzuweisen, 
im  folgenden,  in  der  Erörterung  über  das  Gewissen,  wird  er  nicht 
müde,  gerade  den  moralischen  Gefühlen  den  Charakter  der  Kompliziert- 
heit der  späteren  Entwicklung  und  der  größten  Repräsentativität 
zozoschreiben  und  darin  die  Erklärung  und  die  Notwendigkeit  zu 
finden  für  ihre  uneingeschränkte  Überordnung  über  alle  anderen 
Gefohle.  Spkncsbt  muß  diesen  Widerspruch  selbst  bemerkt  haben; 
denn  in.  der  Zusammenfassung  am  Schlüsse  des  Kapitels  läßt  er  den 
ersten  Teil,  die  Einschränkung  der  Überordnung,  ganz  unberück- 
sichtigt. Da  dieser  Teil  die  direkte  Fortsetzung  und  Konsequenz  aus 
dem  biolologischen  Kapitel  ist,  so  ist  der  Widerspruch  bedeutun^- 
voller,  als  er  im  ersten  Augenblicke  scheint.  Was  das  Nebenem- 
ander  beider  Teile  stört,  ist,  daß  der  erste  wesentlieh  vom  Stand- 
punkte  konstruierender  Reflexionsbiologie,  der   zweite,   wenn  auch 


52  S«  K.  Schwarze: 

nicht  durchaus,  so  doch  in  der  Hauptsache  von  dem  psycholo^cher  Tat- 
sächlichkeit geschrieben  ist.  Daher  deckt  sich  die  biologische  I)efimtion : 
sittlich  gleich  normal  gleich  erfri^uend,  die  für  den  r^ativ  ethischen 
Zustand  die  Einschränkunkung  des  oben  genannten  Prinzips  der  Üb^r- 
Ordnung  der  höheren  über  die  niederen  Gefühle  verlang  nicht  mit 
der  aus  der  Betrachtung  des  moralisdien  Bewußtsems  oder  de» 
Gewissens  hervorsehenden,  die  diese  Einschränkung  nicht  kennt,  ia^ 
der  sie  widerspricht.  Und  wenn  Spbnceb  am  Schlüsse  doch  noch  die 
Koneruenz  zustande  bringt,  so  kann  er  es  nur  mittels  der  Hypotiiese^ 
daß  das  moralische  und  das  natürliche  Handeln  ein  und  dasselbe  sein 
werden.  Damit  aber  versagt  das  Kapitel  für  seinen  Zweck,  nämlich 
in  Ergänzung  des  biologischen  Kapitels  ein  eindeutiges  sicheres 
Leitungsprinzip  für  den  relativ  ethischen  Zustand  aufzustellen.  Es 
kommt  nicht  über  eine  empirische  Abschätzung  der  Folgen  des 
Handelns  hinaus  und  leistet  so,  wie  auch  das  biologische  iCapitel» 
nichts  zur  Verwirklichung  der  deduktiven  Ethik  ^). 

Was  die  Grewissenstheorie  Spencers  betrifft,  so  legt  sie  einen  Ver- 
gleich mit  der  Wumdts  nahe.  Die  Analyse  des  Gewissens  läßt  zu- 
nächst deutlich  seine  Beziehung  zum  geistigen  Geschehen  im  all- 
femeinen  erkennen,  nämlich  seine  Zugehörigkeit  zum  Gefühlsverlauf 
zw.  zum  Willen.  Sodann  nennt  Spencer  als  das  eine  und  wesent- 
lichste Moment  die  Kontrolle  eines  oder  mehrerer  Gefühle  über  ein 
anderes  oder  mehrere  andere,  d.  i.  die  moralische  Selbstbeschränkung; 
WuNDT  sagt  Ähnliches:  „Das  Gewissen  kann  nur  beruhen  auf  dem 
Verhältnis  verschiedener  Motive  zueinander."')  Als  das  andere 
Moment  nennt  Spencer  das  Gefühl  der  Verpflichtune,  d.  i.  der  autori- 
tativen Geltung  und  des  Zwanges;  Wundt  sagt:  das  Moment  „der 
imperativen  Motive"**).  Etwas  gesucht  erscheint  hier  bei  Spencer  die 
Zerlegung  des  Pflichtgefühls  in  ein  Moment  der  autoritativen  Geltung 
und  ems  des  Zwanges.  Sollten  die  beiden  Momente  nicht  vielmehr 
identisch  sein  und  eins  das  andere  umfassen? 

Eine  andere  wichtige  Seite  der  SpENCERSchen  Gewissentheorie  ist^ 
daß  er  in  der  Frage  der  Entstehung  des  Gewissens  über  den  empiri- 
schen Utilitarismus  hinausgeht,  indem  er  nicht  die  Erkenntnis  der 
Nützlichkeit,  also  eine  verhältnismäßig  späte  Entwicklungsstufe 
psychischen  Lebens,  maßgebend  sein  läßt,  sondern  vielmehr  dem  Ge- 
wissen eine  stetige  Entwicklung  von  den  Anfängen  seelischer  Tätig- 
keit an  zuschreibt.  Freilich  bezüglich  der  Frage  nach  den  Entwick- 
lungsbedingungen marschiert  er  doch  mit  dem  empirischen  Utilitaris- 
mus in  derselben  falschen  Front.  Die  Bedingung  ist  ihm  von  Anfang 
an  das  Gefühl  der  Lust  und  später  dazu  noch  die  Erkenntnis  des 
Nutzens,  und  zwar  auf  dem  ursprünglich  einzigen,  im  Laufe  der 
sozialen  Entwicklung  aber  sich  vierfach  differenzierenden  Zweckgebiete 
der  Lebenserhaltung.  Diese  Auffassung  muß  zurückgewiesen  werden. 
Ebenso  wie  das  Sittliche  nicht  identisch  ist  mit  dem  Passenden  oder 
Nützlichen,  ist  auch  das  moralische  Bewußtsein  nicht  in  dem  Gefühle 
bzw.  der  Erkenntnis  des  Nutzens  begründet.  Wie  könnte  es  sonst 
ein  so  souveränes  Erinzip  sein,  an  sich  unabhängig  von  der  Qualität 
der  Gefühle  und  überall  mit  seinen  Boten,  den  Affekten  der  Billigung 
und  Mißbilligung  da  hervortretend,  wo  sich  das  Bewußtsein  mit  der 
Beziehung  von  Motiven  und  Effekten  des  Handelns  zum  Charakter 

')  Vgl.  hierzu  Sidgwick,  Lectures,  p.  174. 
2}  Wundt,  Ethik  II,  S.  91. 
»)  Wundt,  ebenda  S.  98. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  53 

des  handelnden  Subiekts  befaßt?    Es  wird  hier  das  Ergebnis  vorzn- 
nehen  sein,  zu  dem  Wundt  kommt,   nämlich  „daß  sich  als  ursprüng- 
lichste AnlaMn  der  tatsächlichen  Entwicklim^  des  sittlichen  Bewußt- 
seins Gefühle  und   Triebe  ergeben,   die  an  sich  nicht  sittlicher  Art 
sind,  aber  durch  ihre  Verbindung  und  Wechselwirkung:  sittliche  Motive 
hervorbringen^.^)  Von  diesem  Standpunkte  aus  erscheint  auch  die  Tat- 
sache, daß  dfe  moralische,  von  allen  Formen  der  Selbstbeschränkung, 
weil  sie  auf  dem  Bewußtsein  der  inneren  Folgen  des  Handelns  beruht, 
zuletzt   zur   Entwicklung  kommt,  besser  gestützt  als  von  dem  des 
Utiiltarismus  aus.    Müßte  man,    wenn  das  Bewußtsein  des  Nutzens 
für  die  Entonricklung  des  Gewissens  maßgebend  wäre,  nicht  gerade,  da 
die  inneren  Folgen  konsequenter  und  Gestimmter  eintreten  als  die 
äusseren  und  besonders  bei  so  ausg^biger  Anwendung  der  Vererbungs- 
hjpothese,  ivie  Spencer  sie  hat,  das  G-egenteil  annehmen  oder  wenigstens 
eme  gleichzeitige  Entwicklung  aller  vier  Formen  der  SelbstbesSirän- 
kung.  der  religiösen,  politischen,  sozialen  und  moralischen? 

Spkxcrrs  Gewissenstheorie  berührt  auch  in   dem  Punkte  sym- 

Satiscb,  daß  sie  entschieden  die  Annahme  des  Intuitionismus  ^),  nämlich 
ie  eines  ursprünglichen  und  angeborenen  sittlichen  Bewußtseins  oder 
moralischen  Sinnes  ausschließt.  Er  behauptet  und  beweißt  vielmehr, 
wie  schon  erwähnt,  die  allmähliche  Entwicklung  und  den  fortgesetzten 
Wandel  des  Gewissens.  Er  tut  dies  besonders  und  ausführlich  in 
seinen  Inductions  of  Ethics.  Es  ist  hier  die  rechte  Stelle,  darauf  kurz 
einzugehen.  Spencer  sa^ :  Es  gibt  keinen  ursprünglichen  moralischen, 
Sinn,  sondern  die  in  einer  Gesellschaft  herrschenden  ethischen  An- 
9chauunungen  sind  bestimmt  durch  die  örtlichen  Verhältnisse  und 
besonders  durch  die  in  der  Gresellschaft  vorherrschenden  Formen  der 
Tätigkeitsäußerung,  kurz  sie  sind  lediglich  „Verallgemeinerungen  des 
Passenden.*'')  Es  ist  darüber  nichts  rTeues  zu  sagen.  Der  negative 
T^  dieses  Satzes  enthält  eine  mehr  und  mehr  aUgemein  werdende 
Ansicht;  der  positive  dagegen  ist  der  nackte  Utilitarismus,  dessen 
sachliche  Unzulänglichkeit  und  moralische  Minderwertigkeit  schon 
mehrfach  erörtert  sind.  Sicherlich  sind  alle  die  genannten  Faktoren 
wichtig  für  die  Entwicklung  der  ethischen  Anschauungen,  aber  ebenso 
sicherlich  ist  auch  die  sich  schon  sehr  frühe  äußernde  metaphysische 
und  ästhetische  Neigung  des  menschlichen  Geistes  und  der  Schatz 
seiner  Erzeugnisse  dazu  wichtig  und  darin  der  ebensosehr  wie  in  dem 
Charakter  des  Passenden  begründete  enge  Zusammenhang  des  Sitt- 
lichen mit  der  Sitte  und  dem  Religiösen;  der  Schatz  der  geistigen 
Erzeugnisse  einer  Gesellschaft  und  nicht  nur  einer,  sondern  aller  ist 
eine  Macht,  die  der  der  natürlichen  Verhältnisse  an  Größe  nnd  Ein- 
fluß nicht  nachsteht,  ja,  sie  ganz  auszuscheiden  vermag.  « 

Eine  der  wichtigsten  Folgen  der  Entwicklung  des  Gewissens  ist 
die,  daß  das  Gefühl  der  Verpflichtung  in  dem  Maße  abnehmen  und 
einem  Gefühl  der  Spotaneität  Platz  machen  muß,  als  die  Sittlichkeit 
zunimmt.  Diese  Folgerung  tritt  in  der  Tat  hervor  und  wird  auch 
von  Spexceb  erkannt  und  gewürdigt.  Sie  liefert  ihm  den  spycholo- 
gischen  Grund  zu  seiner  absolut  ethischen  Identifikation  von  sittlich 

J)  Wundt,  Ethik  II,  S.  98. 

')  Anfänglich  war  Spencer  selbst  ein  Anhänger  des  Intuitionismus, 
wie  die  erste  Ausgabe  der  Social  Statics  (1851)  beweist,  und  wie  er 
auch  selbst  sagt  in  Pr.  of  E.  I,  470. 

«)  Vgl.  Programm  der  synthetischen  Philosophie,  abgedruckt  in 
First  Principles  S.  XIII. 


54  H.  E.  Schwarze: 

und  natürlich.  Nun  ist  jedoch  zwischen  natürlichem  und  sittlich 
freiem  Handeln  sicherlich  ein  eroßer  Unterschied;  während  das  letztere 
eine  immens  intensiv  psychiscäe  Leistung  hedeutet,  nähert  sicherstere 
der  Befleztätigkeit. 

So  läuft  schließlich  der  Schlufi  dieses  Kapitels  darauf  hinaus, 
daß,  obwohl  das  psychologische  Prinzip  der  Kontrolle  der  höheren 
Gefühle  über  die  niederen  höher  steht  als  das  biologische  der  Normale, 
es  doch  im  absolut  ethischen  Zustand  diesem  letzteren  nachstehen 
muß,  d.  h.  daß  das  absolut  ethische  Handeln,  d.  i.  das  höchstent- 
wickelte,  unter  der  ausschließlichen  Leitung  eines  (geringerwertigen 
Prinzips  stehen  wird  als  das  relativ  ethische.  Das  ist  sicherlich  ein 
Widersinn '). 

S)  Vom  soziologischen  Standpunkte  aus. 

Die  bisherigen  Erörterungen  vom  Standpunkte  der  grundlesenden 
Einzelwissenschaften  haben  die  ursprüngliche  Definition  von  Wesen 
und  Ziel  des  Sittlichen  nicht  zu  festigen  vermocht.  Was  leistet  nun 
das  soziologische  Kapitel  diesem  Zweck?  Man  erhält  von  vornherein 
volle  Klarheit  durch  die  Lehre  Spencers,  daß  das  Gesellschaftaleben 
nur  als  ein  Mittel  zu  Erhaltune  der  Einheiten  ins  Dasein  getreten 
sei  und  darum  die  individuelle  Wohlfahrt  ihr  letzter  Endzweck  sein 
müsse.  Es  zeigt  sich  hierin  wiederum  der  einseitig  reflexiv-utiHta- 
ristische  Standpunkt,  der  im  Grunde  die  Fol^e  als  Voraussetzung 
der  Bedingung  proklamiert ;  nach  Spenckbs  Ansicnt  ist  man  gezwungen 
anzunehmen,  daß  die  Erfahrung  des  Nutzens  der  Gesellschaft  für  die 
individuelle  Wohlfahrt  ihrem  Bestehen  vorausgegangen  sei.  Auch 
wenn  diese  Erfahrung  nur  vorübergehenden  oder  zufälligen  Zusammen- 
schlüssen entstammte,  so  würde  doch  die  Möglichkeit  solchen  Zustande- 
kommens noch  eine  Erklärung  erheischen,  £e  Spencers  Lehre  nicht  zu 
geben  vermag.  Sie  liegt  aber  darin,  daß  ein  Zusammenleben  von  Anfang 
an  und  ein  daraus  hervorgehender  Geselligkeitstrieb  angenommen 
wenden  muß  von  ähnlicher  Ursprünglichkeit  wie  der  Nahrungstrieb  ^); 

^)  Das  rügt  auch  Barth,  wenn  er  sagt:  unhaltbar  scheint  mir 
die  Parallele,  die  Spencer  unter  dem  ^ psychologischen  Standpunkt^ 
zieht.  Denn  wenn  wir  im  Tierfeich  und  vom  Tiere  zum  Menschen 
übergehend  eine  stetig  wachsende  Komplikation  der  Motive,  eine 
immer  größere  Entfernung  vom  unmittelbaren  sinnlichen  Beiz  an- 
nehmen, und  zwar  parallel  gehend  mit  der  in  der  Tierreihe  doch  zur 
Geltung  kommenden  höheren  Anpassung,  wie  soll  da  der  Mensch, 
das  höchstangepaßte  Wesen,  zu  der  Einfachheit  der  Handlung  zurück- 
kehren, die  einer  eindeutig  bestimmten  Reflexbewegung  ähnlich  sieht? 
Es  wäre  dies  eine  sonst  beispiellose  Kückkehr  zum  ersten  Anfang. 
So  hat  Spencer  in  seiner  Vorliebe  für  die  Natur  mehreres  in  sie 
hineingelegt,  was  nicht  in  ihr  ist,  dessen  er  nur  für  sein  moralisches 
Ziel  zu  bedürfen  glaubte.  (Philosophie  der  Geschichte  als  Soziologie, 
S.  123  f.) 

*)  Auf  Grund  von  Rolphs  Emährungstheorie  (vgl.  „Biologische 
Probleme"  S.  55—71)  ergibt  sich  leicht  eine  einfache  Erklärung  des 
Ursprungs  gesellschaftlichen  Zusammenlebens.  Danach  kann  die 
Reflexion  über  die  Erfahrung  des  Nutzens  als  letzter  Grund  gar  nicht 
in  Frage  kommen,  aber  wom  die  ursprüngliche  Gunst  der  Existenz- 
bedingungen, z.  B.  NahrungsübeHluß.  Diese  hat,  wie  sie  auch  heute 
noch  tut,  die  Menschen  an  bestimmten  Stellen  beisammengehalten. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  55 

denn  irgends  und  auch  nicht  auf  der  niedrigsten  Entwicklungstufe 
lebt  der  Mensch  ungesellig. 

Wird  aber  diese  Grundanschauung  abgelehnt,  so  folgt  daraus 
auch  die  Unannehmbarkeit  der  Folgerungen,  die  Spencer  aus  ihr  zieht, 
zunächst  der,  daß  die  Erhaltung  der  GesellschidEt  nur  nächster  Zweck, 
d.  h.  nur  Mittel  zum  Endzweck,  nähmlich  der  individuellen  Wohlfahrt 
sei  Sicherlich  ist  die  Gesellschaftserhaltnn^  nicht  ein  Selbstzweck, 
aber  ebenso  sicherlich  ist  sie  auch  nicht  m  erster  Linie  oder  gar 
ausschließlich  Mittel  zur  individuelten  Wohlfahrt.  Denn  ist  die  Gesell- 
schaft in  ihrem  Ursprung  eine  yon  inyidueUen  Entschließungen  un- 
abh&njKiee  Existenz  ,80  ist  auch  klar,  daß  ihre  Betätigungsgebiete 
nicht  lediglich  nach  inviduellen  Zwecken  bestimmt  sein  können;  sie 
muß  überindiyiduelle  Zwecke  habeU.  Das  ist  in  der  Tat  der  Fall :  die 
geistigen  Erzeugnisse  sind  solche  überindividuelle  Zwecke.  In  ihrer 
Gesamtheit  bilden  sie  einen  kontinuierlichen  Strom  durch  alle  Zeiten. 
Wie  Geschlechter  kommen  und  gehen,  arbeiten  sie  an  seiner  Tiefe 
und  Breite,  und  er  tränkt  sie  und  trägt  sie  fort  zu  den  Gefilden 
größerer  geistiger  Freiheit.  Indem  aber  der  Einzelmensch  seinem 
&nfluß  unterliegt,  und  je  mehr  er  ihm  unterliegt,  wird  er  ein  Indi- 
viduum, d.  i.  ein  selbständiges  Einzelwesen.  Für  einen  großen  Teil  seines 
Lebens  ist  er's  nicht  erst  von  dem  Punkte  an,  wo  er  selbst  schaffend  an 
den  Webstuhl  seiner  Zeit  trist,  ist  er  ein  Individuum  zu  nennen.  Für  alle 
anderen  Glieder  der  Gesellschaft,  die  diese  Aufgabe  nicht  erfaßt,  ist 
der  Begriff  Individuum  eine  bloße  Abstraktion.  Für  sie,  die  Drohnen 
der  G-esellschaft ,  ist  dann  allerdings  auch  der  Effekt  des  sozialen 
Lebens  schießlich  der,  den  Spencer  im  Sinne  hat,  nämlich  individuelle 
Wohlfahrt,  und  dieser  Effekt  darf,  ja  soll  eintreten,  aber  er  soll  nicht 
der  einzige  und  höchste,  nicht  „der''  soziale  Endzweck  sein.  Dieser 
besteht  vielmehr  darin,  daß  die  Gesellschaft  ihre  Glieder  zu  Indivi- 
duen ersieht  und  ihre  Kräfie  hinlenkt  auf  die  großen  allgemein 
menschlichen  und  idealen  Ziele  der  Wahrheit,  d.  i.  der  Befreiung  des 
Geistee,  so  hinlenkt,  daß  Wohlfahrt  und  Leben  nicht  mehr  als  der 
Güter  höchste  betrachtet  werden. 

Yon  diesem  Standpunkte  aus  muß  auch  abgelehnt  werden,  von 
einem  Gegensatz  zwischen'  Gesellschaft  und  Individuum  zu  reden, 
sondern  Gesellschaft  und  Individuum  sind  Korrelate,  die  einander 
gegenseitig  bedingen;  das  primäre  aber  ist  die  Gesellschaft,  unzweifel- 
haft bei  zivilisierten,  sicherlich  auch  bei  unzivilisierten  Menschen,  und 
die  höchsten  Formen  von  Individualität  müssen  gefunden  werden 
in  den  Größten  der  Gesellschaft,  den  Genies  des  Geistes,  nicht  in  dem 
Sinne,  daß  diese  eine  von  der  Gesellschaft  möglicherweise  gesonderte 
Eidstenz  bedeuten,  sondern  in  dem,  daß  sie  eine  Zusammenfassung, 
gewissermaßen  die  Ausgeburt  gesell schafÜichen  Zielbewußtseins  oder 
auch  nur  nur  einiger  Züee  siiid,  daß  sie  das  Wesen  der  Gesellschaft 
in  sich  spiegeln,  einheitlich  überdenken  und  erkennen  und  durch  diese 
Erkenntnis  die  Führer  der  Gesellschaft  zum  Fortschritt  werden. 

Sodann  ist  auch  die  Folgerung  Spencers  zurückzuweisen,  daß, 
solange  eine  Gesellschaft  in  ihrer  Existenz  bedroht  ist,  d.  h.  solange 
es  sidi  bekämpfende  Gesellschaften  gibt,  die  Aufrechterhaltung  der 

Es  haben  sich  die  Empfindungen  mit  ihren  Ausdrucksbewegungen 
und  Ausdrucksklän^en  dzw.  Worten  entwickelt,  die  in  Verbmdung 
mit  anderen  Gref ühlen  und  £}mpf indungen ,  *  im  besonderen  von  den 
auf  Fortpflanzung  bezüglichen,  dem  Menschen  das  Zusammenleben 
mit   seines   Gleichen  zur  gewohnheit  bzw.  Notwendigkeit  machten. 


56  S*  ^*  Schwarze: 

Gesellschaft  der  individuellen  Selbsterhaltung  übergeordnet  sein  müsse, 
daß  aber,  wenn  diese  Bedrohung  aufgehört  habe,  die  individuelle 
Wohlfahrt  oberstes  Ziel  der  Gesellschaft  sein  müsse.  Im  Hinblick 
auf  das  eben  Gesagte  muß  behauptet  werden,  daß  die  Erhaltung  und 
Förderung  der  Gesellschaft  als  der  dem  Einzelwesen  übergeordneten 
Existenz  dauernd  oberstes  Ziel  der  Gesellschaften  wie  der  Individuen 
sein  muß.  Es  ist  interessant,  hier  die  Faktoren  der  Zerstörung  ge- 
sellschaftlichen Lebens  kennen  zu  lernen.  Das  negierende  Individuum 
gehört  nicht  zu  ihnen,  nur  eine  Gesellschaft  kann  eine  andere  ver- 
nichten. Es  tritt  hier  derselbe  Mangel  hervor,  der  schon  bei  der 
ersten  Folgerung  sich  geltend  gemacht  hat,  nämlich  die  Unter- 
Schätzung  der  fSirenden  Geister.     Auch   dem   Untergang  ent^e^en 

fibt^s  fü&ende  Geister,  und  daß  einzelne  Menschen  wie  Exankneits- 
eime  schließlich  einen  ganzen  gesellschaftlichen  Organismus  ver- 
nichten können,  ist  eine  Gassenweisheit.  Die  Gegensätze  zwischen 
zwei  verschiedenen  Gresellschaften  sind  dem  Wesen  nach  genau  das- 
selbe wie  die  Gegensätze  innerhalb  einer  Gesellschaft,  nur  graduell 
verschieden.  Aus  dem  Prinzip  der  Heterogonie  der  Zwecke  und  dem 
der  Kontrastwirkung  folgt,  daß  diese  Gegensätze  sowohl  der  einen 
wie  der  anderen  Art  nie  aufhören  werden,  und  man  muß  hinzufügen, 
nie  aufhören  dürfen;  denn  mit  dem  Verschwinden  der  Gregensätze 
müßte  der  wirksamste  Antrieb  zur  Höherentwicklung  verschwinden, 
und  statt  einer  Weiterentwicklung  oder  auch  nur  emes  Stillstandes 
der  Entwicklung  würde  Bückentwicklung  eintreten.  Immerhin  ist 
Spencer  scharfsichtig  genug,  um  zu  sehen,  daß  die  Gesellsohafts- 
erhaltimg  bis  auf  weiteres  der  individuellen  Selbsterhaltung  über- 
geordnet sein  muß.  Da  der  von  ihm  prophezeite  Zustand  nie  ein- 
treten wird,  so  heißt  das  in  praxi,  die  Uberordnung  muß  immer 
bleiben. 

Übrigens  ist  hier  Spencer  in  dem  Hinweis  auf  die  soziologische 
Notwendigkeit  des  Verschwindens  des  Krieges  bei  seinem  Lieblings- 
thema angelangt,  das  zu  erörtern  er  stets  bereit  ist  und  nie  müde 
wird,  in  Befolgung  der  psychologisch  wohl  begründeten  Taktik,  daß 
das,  was  oft  gesagt  wird,  schließlich  Glauben  findet. 

Endlich  kann  auch  die  soziologische  Definition  des  vollkommenen 
Lebens  in  Konseauenz  des  die  fundamentale  Behauptung  ablehnenden 
Standpunktes  nicnt  ohne  Widerspruch  hingenommen  werden.  Das 
vollkommene  Leben  kann  soziologisch  nicmt  definiert  werden  als 
harmonisches  Zusammenwirken  im  Streben  nach  individueller  Selbst- 
erhaltung, sondern  muß  definiert  werden  als  harmonisches  Zusammen- 
wirken im  Streben  nach  Gesellschaftserhaltung  und  -f örderung.  Denn 
die  Auffassung  kann  nicht  aufgegeben  werden,  daß  die  Gesellschaft 
eine  höhere  Form  des  Lebens  repräsentiert  als  das  Einzelwesen,  was 
ja  auch  im  Sinne  der  SpENCEuschen  Entwicklungsformel  ist  und  außer 
m  dem  schon  Erwähnten  sich  besonders  darin  deutlich  zeigt,  daß  die 
Gesellschaft  nicht  restlos  in  ihre  Glieder  zerlegbar  ist  und  umgekehrt 
eine  Vielheit  von  Einzelmenschen  nicht  ohne  weiteres  eine  Greseilschaft 
bildet.  Besteht  aber  diese  Überordnung  der  Ges^lschaft  über  das 
Individuum  im  relativ  ethischen  Zustand,  wieviel  mehr  müßte  sie 
bestehen  im  absolut  ethischen. 

Bückhaltlose  Zustimmung  aber  verdient,  was  Spnncer  als  Be- 
dingungen des  harmonischen  Zusammenwirkens  nennt.  In  der  Tat 
sind  dies  Gerechtigkeit  und  Wohltätigkeit.  Daß  freilich  jemals  die 
absolute  Ethik  in  oezug  auf  sie  wirklich  werden  könnte,  muß  auch 
hier  bezweifelt  werden;  um  vollkommene  Harmonie  im  Zusammen- 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  57 

wirken^  zu  erzeusen,  ist  yoUkominene  Gerechtigkeit  nötig ;  wann  aber 
wird  die  Menadmeit  und  jeder  einzelne  Mensch  zu  vollkommener  Ge- 
rechtigkeit fähig  sein?  sicherlich  nie,  wenn  sich  nicht  die  geistige 
Kapazität  zur  Unendlichkeit  steigert. 

Seine  sehr  eingehenden  Ansführungen  über  die  genannten  Be- 
dingungen hier  undlbeeonders  in  der  Ethä:  des  sozialen  lieben  machen 
es  Yerat&ndüch ,  wenn  sich  Spencebs  Ethik  in  vielen  Beziehungen  der 
Sympathie  der  Sozialdemoloratie  erfreut.  Sein  soziologisches  Ideal, 
Hervorbringung  und  Verteilung  der  Güter  und  andere  Tätigkeiten  in 
solcher  Art  und  in  solchem  Grade,  daß  jeder  einzelne  darin  einen 
Platz  für  alle  seine  Kräfte  und  Fähigkeiten  findet,  während  er  zu- 
gleich die  Mittel  zur  Befriedigung  aUer  seiner  Bedürfnisse  erlangt, 
ist  sicherlich  ein  sehr  anerkennenswertes  Ideal,  aber  dadurch,  dafi 
Sfescer  seine  endliche  und  vollkommene  Verwirklichung  predigt,  wird 
es  ZOT  Utopie,  von  der  sich  das  sozialdemokratische  Ziel,  wenn  es 
gereini^  wird  von  allen  Auswüchsen,  im  wesentlichen  nur  darin 
unterscheidet,  dafi  es  doppelt  utopistisch  ist,  wenn  man  so  sagen  darf, 
indem  es  näxnlich  als  in  absehbarer  Zeit  erreichbar  hinbestellt  wird. 

Jedoch  ist  dieses  wirtschaftliche  Ideal  noch  nicht  Spencers 
höchstes.  Die  besondere  Betonung  und  Hervorhebung  des  ästhetischen 
Bedürfnisses  muß  zu  einem  noch  höheren  Glück  führen.  Es  ist 
äußerst  interessant,  daß  Spencer  noch  zu  dieser  Konzeption  des 
Ideals  durchdringt,  wenn*s  auch  ziemlich  spät,  etwas  unvermittelt 
und  weniß  nachdrücklich  geschieht.  Wenn  irgend  etwas  in  der  Welt 
übttindividuell  ist,  so  ist  es  die  Kunst.  In  der  Betonung  der  künst- 
lerischen Betätigung  für  den  höchsten  Zustand  der  menscnlichen  Ent- 
wicklung liegt  darum  in  gewissen  Beziehungen  ein  Verzicht  auf  den 
Individualisnius. 

c)   Egoismus  und  Altruismus. 

Es  bleibt  nun  noch  eine  der  wichti^ten  prinzipiellen  Fragen  zu 
erörtern,  nämlich,  ob  das  Handeln  egoistisch  oder  altruistisch  sein 
soU.  Man  wird  nicht  erwarten  dürfen,  daß  Spencer  als  ütilitarist 
bzw.  Hedonist  und  mit  dementsprechend  gefärbter  Auffassung  des 
Wesens  des  Sittlichen  sie  end^ltig  lösen  werde. 

Entsprechend  seiner  physiologischen  Auffassung  des  psychischen 
Greschehens,  im  besonderen  seiner  geringen  Bewertung  des  Willens 
sacht  er  zunächst  die  Begriffe  Egoismus  und  Altruismus  zu  modifi- 
zieren, und  zwar  zu  erweitem,  inoem  er  das  Moment  des  Bewußtseins, 
d.  L  des  Willens,  aus  ihnen  entfernt. 

Er  unternimmt  die  Erweiterung,  um  nachweisen  zu  können,  daß 
wie  der  Egoismus  so  auch  der  Altruismus  eine  dem  ganzen  Bereich 
organischen  Lebens  gemeinsame  Erscheinung  sei,  indem  nun  auch 
z.B.  der  Akt  der  Zeugung  und  Geburt  von  Nachkommen  zum 
Altruismus  gehört,  und  weiter,  um  seine  Lehre  von  der  endlich  voll- 
ständigen Versöhnung  altruistischer  und  egoistischer  Interessen 
biogenetisch  stützen  zu  können.  ' 

Es  ist  jedoch  hierzu  zu  sagen,  daß  diese  rein  physikalische  oder 
biologische  Auffa^ung  von  Egoismus  und  Altruismus  als  Gewinn 
bzw.  Verlast  von  Körpersubstanz  auf  Kosten  bzw.  zugunsten  anderer 
nicht  auch  die  sittliche  ist  und  sein  kann.  Die  sittliche  Betrachtung 
des  Handelns  muß  an  dem  Moment  des  Bewußtseins  oder  der  Wahl- 
^iheit  festhalten  für  alle  ihre  Erscheinungen.  Unbewußter  mensch- 
licher Egoismus  und  Altruismus  unterliegen  darum  nicht  ihrem  Urteil, 


58  H.  K.  Schwarze: 

sondern  nur  ihrer  Belehninffi  d.  h.  also  zun&chst  der  Umwandlung 
in  die  bewußten  Formen  una  danach  erst  der  sittlichen  Beurteilung, 
wie  die  Ethik  at^ch  von  sittlichen  Gewohnheiten  verlangt,  daß  sie 
auf  bewußten  Entscheidungen  beruhen  und  niemals  so  automatisch 
werden,  daß  sie  sich  dem  verändernden  Einfluß  neuer  Entscheidungen 
entziehen.  Daß  organische  Funktionen  nicht  egoistisch  oder  altruistisch 
genannt  werden  können,  ist  evident,  also  auch  nicht  Zeugung  und 
Geburt  von  Nachkommen,  wenigstens  nicht  ohne  weiteres^).  Mit 
seiner  Erweiterung  beraubt  Spemckr  die  beiden  Begriffe  Egoismus  und 
Altruismus  gerade  des  für  die  sittliche  Beurteilung  notwendigsten 
Momente.  Da  sie  aber  auf  der  Vermengung  von  Zweck  und  iSfekt 
des  Handelns  beruht,  muß  sie  zurückgewiesen  werden.  Übrigens 
besitzt  die  Fra&^  Egoismus  —  Altruismus  für  den  Utilitarismus  die 
bei  weitem  gröute  Bedeutung  von  allen  ethischen  Systemen. 

Spenckr  entscheidet  sich  für  einen  Kompromiß  zwischen. beiden 
Handlungsweisen,  weist  aber  dem  Egoismus  die  führende  Rolle  zu. 
Zum  Kompromiß  drängt  ihn  sein  Evolutionismus  ebensosehr  wie 
sein  Hedomsmus,  da  die  egoistische  wie  die  altruistische  Handlungs- 
weise für  die  Entwicklung  des  Lebens  und  für  die  Verwirklichung 
des  Glücksziels  sich  als  gleich  wichtig  oder  als  fast  gleich  wichtig 
enthüllen.  Spemcer  geht  also  einen  Mittelweg  und  hält  sich  so  fern 
von  jenem  Radikalismus,  der  in  bezug  auf  den  Egoismus  für  die 
darwmistischen  Ethiker  eine  naheliegende  Gefahr  ist.  Ganz  kann  er 
freilich  doch  auch  den  von  der  biologischen  Betrachtung  des  Sitt- 
lichen herrührenden  Zug  zum  Egoismus  nicht  verleugnen;  darum: 
Der  Egoismus  muß  in  dem  Kompromiß  als  „hervorgehoben''  be- 
trachtet werden.  Infolgedessen  verwirf t  er  den  sozialen  Eudämonismus 
Benthams  und  Mills,  die  bei  dem  Prinzip  der  Maximation  des  Glücks 
das  allgemeine  Glück  als  das  oberste  Strebeziel  hinstellen.  Er  be- 
merkt dazu  sehr  treffend,  daß,  da  jedes  Individuum  seines  Glückes 
Schmied  am  besten  selbst  ist,  das  größtmögliche  allgemeine  Glück 
auch  nur  dadurch  erreicht  werden  kann,  daß  jeder  einzelne  in  erster 
Linie  sein  eigenes  Glück  erstrebt. 

Allein  diese  Betonung  des  Egoismus  muß  bedenklich  erscheinen 
in  bezug  auf  die  wichtige  Aufgabe  der  Ethik,  nämlich  die,  dem 
Menschen  ein  begeisterndes,  höchstes  Gut  vorzustellen,  das  nachhaltig 
und  intensiv  als  Motiv  auf  sein  Handeln  zu  wirken  vermag;  denn  es 
liegt  im  Wesen  des  Egoismus,  überall  wo  er  das  Obergewicht  über 
den  Altruismus  besitzt,  die  Gesellschaft  in  ihre  Atome  aufzulösen. 
„Eine  Summe  individuell  zersplitteter  Glückseligkeiten,  die  dem 
einzelnen  Bewußtsein  immer  als  abstrakter  Begriff  gegeben  ist'',  kann 
jedoch  kein  Gut  sein,  .für  das  sich  ein  mensäiliches  Merz  erwärmen 
und  das  auf  das  menschliche  Handeln  als  Motiv  zu  wirken  vermöchte.''  *) 
Sie  kann  auch  nicht  ein  Zweck  sein,  „dessen  objektiver  Wert  groß 
genug  ist,  um  das  Opfer  zu  lohnen,  daß  die  sittliche  Norm  verlangt".') 
Es  darf  deswegen  auch  nicht  die  Selbsterhaltung  als  ein  oberster 
sittlicher  Zweck  gelten,  wie  Spencer  meint,  sondern  sie  muß  der  Art- 
und  Gesellschaftserhaltung  untergeordnet  sein,  worauf  auch  das 
Wesen  des  Sittlichen  als  einer  Erscheinung  des  Lebens  der  Gesell- 
schaft hinweist.    Es  ist  das  eben  erwähnte  Argument  Wundts  gegen 


')  Vgl.  hierzu  Rolph,  Biol.  Probleme,  S.  41. 

•)  WUNDT,  E.  II,  24. 

«)  Ebenda  S.  25. 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  59 

den  reinen  fi^oismus,  das  auch  hier  gegenüber  dem  vorwiegenden 
^^ismxLB  gebraucht  wurde,  freilich  fOr  Sfenckb,  der  sich  um  das 
Wülenfimoment  des  Handels  wenig  kümmert,  kein  allzu  bedeutsames. 
Ihm  ist  individuelles  Glück  das  Hauptziel,  und  man  darf  sagen,  daß 
der  Weg,  den  er  mit  seinem  Krompromiß  zei^,  wohl  dsJiin  führen 
mag,  freilich  nur  auf  Kosten  seines  anderen  Zieles :  der  Vollkommen- 
heit des  Liebens;  denn  es  ist  klar,  daß  eine  in  lauter  Individuen  zer- 
CTaltene  Geeellschaft,  die  sich  nicht  als  Ganzes  fühlt  und  betätigt, 
ihren  Gliedern  ein  weniger  vollkommenes  Leben  zu  ^währen  ver- 
mag als  eine  Gesellschaft,  die  als  unteilbares  Ganzes  em  eigenes  und 
höheres  Ijeben  führt  als  die  Einheiten  und  dadurch  das  Leben  ihrer 
Glieder  beeinflußt. 

Die  Aufrechterhaltung  eines  Krompromisses  kann  jedoch  nur 
mit  K^iuschten  Gefühlen  verbunden  sein.  Darum  kann  der  Kompro- 
miß lür  den  absolut  ethischen  Zustand,  der  ja  den  Schmerz  als  das 
Böse  negiert,  nicht  in  Betracht  kommen.  Welches  Verhältnis  zwischen 
E^ismus  besteht  für  ihn  ?  Nun,  der  Kompriß  wird  verschwinden,  nicht 
objektiv,  sondern  subjektiv,  nicht  er  selbst,  aber  das  Bewußtsein  von 
ihm.  „Es  wird  soweit  kommen,  sagt  Spencer,  daß  die  dem  Egoismus 
and  dem  Altruismus  CLtspringenden  Gefühle  zu  vollständiger  Über- 
einstimmung gelangen  werden."  Er  kommt  zu  diesem  Optimismus  aus 
der  Betrachtung  des  Familienlebens.  Wie  hier  eine  vollständige  Ver- 
söhnung der  altruistischen  und  egoistischen  Interessen  stattgefunden 
hat,  so  wird  sie  auch  zwisdien  den  Interessen  der  Individuen  und 
der  Gesellschaft  eintreten. 

Zeigt  das  Familienleben  nun  wirklich*  eine  Versöhnung  der 
altruistischen  und  egoistischen  Interessen  oder  ist  es  nicht  viäunehr 
die  Herrschaft  des  Altruismus,  die  in  ihm  zur  Geltung  kommt  ?  Die 
Erfahrung  lehrt,  daß  das  Familienleben  um  so  höher  steht,  je  höher 
der  Altruismus  der  Glieder  entwickelt  ist.  Daß  aber  Altruismus  in 
der  Familie  zur  Herrschaft  gelangen  kann,  hat  seinen  Grund  in  den 
äußerst  mannigfachen  und  festen  Grefühlsverbindungen  zwischen  den 
GUedem,  die  einmal  geradazu  ursprünglich  sind  und  zum  andern 
auf  häufiger,  zu  genauer  gegenseitiger  (Erkenntnis  und  Wertung 
führenden  Reflexion  oeruhen,  welche  Gefühlsverbindungen  die  Familien- 

fUeder  einander  fast  identisch  machen.  Mag  dabei  diese  oder  jene 
.ußerung  des  Altruismus  zur  selbstverständlichen  Gewohnheit  werden, 
er  selbst  bleibt  durch  den  ständigen  Wechsel  der  vorkommen  den  Gelegen- 
heiten des  Handelns  vor  dem  Automatismus  bewahrt.  Auch  im  Ge- 
sellschaftsleben ist  das  nicht  anders. 

Aus  der  Tatsache  freilich,  daß  hier  zwischen  den  Gliedern  nie 
so  enge  und  feste  Gefühlsverbindungen  entstehen  können  als  zwischen 
den  ^uniliengHedem,  folgt  unmittelbar,  daß  in  ihm  der  Altruismus 
nie  jene  Herrschaft  erlangen  kann  wie  im  Familienleben.  Aber  doch 
gibt  es  allgemeine,  alle  Glieder  einer  Gesellschaft  betreffende  Be- 
ziehungen, die  dem  Altruismus  wenigstens  zum  Übergewicht  über 
den  Egoismus  verhelfen  können.  Das  sind  die  Bande  der  Nationalität, 
der  Geschichte  und  daraus  resultierende  gleiche  Charakterzüge.  Das  sich 
mit  dem  Schwinden  der  Verbrechen  immer  mehr  steigernde  Vertrauen 
und  die  wachsende  Bildung  werden  das  ihre  tun,  die  Glieder  einer 
Gesellschaft  einander  immer  näher  zu  bringen.  Und  wenn  selbst 
Spcsckb  jetzt  vollkommen  recht  hat  mit  der  bittereren  Bemerkung, 
daß  der  Kompromiß  mit  dem  hervorgehobenen  Egoismus  durchaus 
aach  den  wirklichen  Ansichten  der  Menschheit  entspricht  im  Gegen- 
satz zu  ihrem  nominellen  Glauben,  der  den  Altruismus  betont,  so  ist 


60  H.  K.  Schwarze: 

es  doch  wesentlich,  daß  wenigstens  dieser  nominelle  Glaube  besteht. 
£s  ist  eine  soziale,  wenn  aMcn  nur  proethische  Schranke  und  damit 
ein  Zügel  des  Egoismus,  ohne  dessen  gewaltigen  Einfluß  der  egoistische 
Immoralismus  noch  öfterer  in  abschrecken&ter  Gestalt  hervortreten 
würde,  als  es  so  schon  geschieht. 

Wirklich  vermag  auch  Spenceb  die  Versöhnung  der  altruistischen 
und  egoistischen  Interessen  im  Gesellschaftsleben  nicht  anders  begreif- 
lich zu  machen  als  durch  Vermutungen,  die  er  der  Analogie  mit  dem 
Familienleben  entnimmt,  trotz  des  von  ihm  wohl  erkannten  großen 
Unterschiedes  zwischen  Familie  und  Gesellschaft.  Er  meint,  daß  alL- 
mählich  in  bezug  auf  Altruismus  Gewohnheiten  sich  ausbilden  werden, 
die  die  Notwendigkeit  der  bewußten  Entscheidung  zwischen  beiden 
auf  ein  Minimum  beschränken  würden.  Daß  jedoch  das  überaus 
Wechselvolle  in  der  Veranlassung  des  Handelns  jemals  durch  bloße 
Gewohnheiten  und  Instinkte  wird  bew&ltigt  werden  können,  ist  bei 
der  Steigerung  der  Komnliziertheit  des  Lebens  eine  unmöglidie 
Annahme.  Schon  der  bloße  Gedanke  ist  Widersinn,  daß  neuartige 
Handlungen  sofort  triebartig  in  vollkommener  Weise  sollen  ausge- 
führt werden  können.  Bei  ihnen  muß  sich  auch  die  bewußte  Ent- 
scheidung zwischen  Egoismus  und  Altruismus  mit  allen  damit  ver- 
knüpften psychischen  Akten  vollziehen.  Sie  sind  ja  eigentlich  auch 
nur  die  sittlich  interessanten  und  für  die  Ethik  maßgebenden.  Wenn 
also  Spencer  eine  schließliche  Versöhnung  zwischen  Egoismus  imd 
Altruismus,  d.  i.  eine  vollständige  Kongruenz  der  den  beiden  Handlungs- 
weisen entsprechenden  Gefühle  annimmt,  so  involviert  diese  Annahme 
entweder  eine  allmähliche  Stabilisierung  der  allgemein  menschlichen 
Lebensverhältnisse  oder  eine  allmähliche  Identinzierung  von  Selbst- 
und  Mitgefühl.  Ersteres  ist  aber  eine  physikalische,  letzteres  eine 
psychologische  Unmöglichkeit.  Darum  kann  es  sich  für  die  Zukunft 
nicht  um  eine  Versöhnung  dei:  beiden  Handlungsweisen  entsprechen- 
den G^efühle  handeln,  sondern  nur  um  die  Herrschaft  der  einen  über 
die  anderen.  Da  die  des  Egoismus  über  den  Ultruismus  die  Mensch- 
heit der  Gefahr  des  Immoralismus  aussetzt,  so  bleibt  nur  die  des 
Altruismus  über  den  Egoismus  erstrebenswert.  Da  sie,  wie  zugegeben 
werden  muß,  der  individuell  menschlichen  Natur  weniger  adäauat 
ist  als  das  umgekehrte  Verhältnis,  so  erfordert  sie  einen  starken 
Willen,  auch  insofern  ihren  immens  sittlichen  Charakter  und  ihre 
sittliche  Wirkung  erweisend.  Das  ist  in  der  Tat  auch  die  von  den 
meisten  Moralisten  aller  Zeiten  vertretene  Entscheidung  zwischen 
Eeoismus  und  Altruismus,  das  ist  schließlich  in  praxi  auch  die  Ent- 
scheidung Spencers,  wie  seine  Ethik  des  sozialen  Lebens  zeigt. 

Zu  seiner  Versöhnungstheorie  haben  ihn  nicht  zum  wenigsten 
seine  Anschauungen  über  das  Mitgefühl  hingeführt.  Er  leitet  das 
Mitgefühl    ab   aus    der  Wahrnehmung    der   als   Lust    oder  Unlust 

fetonten  Gefühle  der  Mitmenschen  und  läßt  seine  Entwicklung  be- 
ingt  sein  davon,  daß  es  durchschnittlich  einen  Überschuß  der  Mit- 
freuden über  die  Mitleiden  vermittle  in  Analogie  zur  Entwicklung 
der  organisch  funktionellen  Fähigkeiten.  Nun  ist  aber  zweifellos  der 
Ursprung  des  Mitgefühls  durchaus  nicht  in  erster  Linie  bewirkt  durch 
das  gesellschaftlicne  Leben,  sondern  es  beruht  auf  dem  Bewußtsein 
von  oubiekt  und  Objekt  überhaupt  und  ist  eine  direkte  Wirkung  des 
psychiscnen  Lebens  der  einzelnen  Menschen;  es  ist  „eine  ursprüng- 
liche Eigenschaft  des  menschlichen  Gemüts" ;  „bildet  doch  die  Umgebung 
einen  unveräußerlichen  Bestandteil  des  eigenen  Bewußtseins,  in 
welchem    jeder    Vorstellung    ihr    eigentümUcher    Gefühlswert    zu- 


Die  Ethik  Herbert  Spencers.  61 

kommt*  'X  alBO  auch  den  die  Erlebnisse  anderer  Menschen  betreffenden. 
Dabei  brauchen  diese  Gefflhle  keineswe^  qualitativ  mit  den  in  den  Mit- 
menschen ursprOngUch  erregten  identisch  zusein  (am  häuf  igsten  sind 
Übereinstimniungen  des  Geftmlstones,  und  so  redet  man  von  Mitleid  und 
Mitfreude).    Es  ^eht  aber  ohne  weiteres  daraus  hervor,  daß  die  Ent- 
wicklung des  Mitgefühls  nicht  abhängig  sein  kann  von  dem  durch- 
schnittlichen Übergewicht  der  Mitfreuden  über  die  Mitleiden,  sondern 
nur  von  der  Intensität  und  Mannigfaltigkeit  der  auf  die  Erlebnisse 
der  Mitmenschen   bezüglichen    Eindrücke  bzw.  Y orstellungeli ,    was 
auch  die  Erfahrung   in  der  Tat  durchgehends  bestätigt.     Und  weiter 
er^;ibt  sich  aus  dem  eben  Dargelegten  und  aus  dem  auf  Seite   53  über 
die  Möglichkeit  des  Verschwindens  des  Leides  Gesagten  die  Foleerun^, 
dafi  niemals  Mitlreude   ohne  Mitleid  existieren  kann,  ia,  daß  Mitleid 
wahrscheinlich    immer    die    wichtigere    Form    des    Mitgefühls    sein 
wird.    Dadurch  daß  das  Zusammenleben   der  Menschen  sich   immer 
en^er  und  enger  gestaltet,  muß  die  Gelegenheit,   die  Erlebnisse  der 
Mitmenschen  mit  zu  erleben,  immer  ausgedehnter  und  häufiger  und 
das  Mitgefühl  als  Mitfreude  sowohl  wie  als  Mitleid  immer  öfterer 
erregt  werden.    Da  nun  die  Mitfreude,  die  im  alleemeinen  ihrer  Natur 
naich    weni^r  intensiv  sein  kann  als  das  Mitleid,    da  sie  nämlich 
weniger  mit  spannenden   und  erregenden  als  mit  lösenden  und  be- 
ruhigenden Gefühlen  vergesellschaftet  ist,  so  muß  auch  dem  Mitleid, 
als  stArkere  WiUensimpufse  auslösend,  die  größerere  moralische  Be- 
deutung zugesprochen  werden. 

Nun  hat  freilich  die  Mechanisierung  der  psjrchischen  Vorgänge 
auch  über  das  Mitgefühl  Gewalt  aber  unter  keinerlei  anderen  Be- 
dingungen als  anderwärts.  Häufig  genau  dieselbe  Erfahrung  kann 
sicherlich  das  Mitgefühl  abstumpfen,  aber  nicht  nur  das  Mitleid, 
sondern  ebensogut  auch  die  Mitfreude,  und  nicht  im  allgemeinen, 
sondern  nur  in  bezug  auf  die  betreffende  Erfahrung.  Das  Mitleid 
im  allgemeinen  kann  nicht  von  dieser  Mechanisierung  oder  Ab- 
stumpfung betroffen  werden,  da  es  in  ständig  neuer  Einkleidime  aji 
den  Mitfühlenden  herantritt;  es  muß  vielmehr  als  Gesamtergebnis 
ein  gewaltiges  Streben  nach  Beseitigung  des  fremden  Leides  und 
seiner  Ursachen  zur  Folge  haben,  emen  Drang  nach  umfassender 
sozialer  JBetfiti^ung. 


')  WuxDT,  E.  n,  62. 


Znm  ProUsm  ist  philasopMscIu»  Skepsis. 

Von  B«  Hönigswald,  BreslaiL 
Inhalt. 

I.  Der  Zweifel  als  Gegenstand  rerschiedenartiger  Betrachtunssweisen.  — 
Die  Skepsis  unter  den  Gesichtspunkten  der  Erkenn tnislenre.  —  Das 
Problem  der  philosophischen  Skepsis  im  Lichte  der  Beziehungen  swisohen 
Kant,  Hume  tind  den  antiken  Skeptikern. 
II.  Die  Argumente  der  ^rationalen**  Skepsis  der  Griechen  in 
ihrer  methodologisi^hen  Bedeutung.  —  Ihr  YerhAltnis  zur 
a^totelisohen  und  zur  galileiachen  Theorie  der  L&duktion.  —  Di«  Ein^ 
wände  der  ^rationalen**  Skeptiker  gegen  die  Induktion  und  der  Betrieb 
der  empirischen  Wissenschaft. —  Die  Einw finde  der  «rationalen* 
Skepsis  Regen  die  aristotelische  Deduktion  in  ihrer  metho- 
dologiscnen  Bedeutung.  —  Ihr  YerhAltnis  znm  nanalvtischen** 
Verfahren.  —  Ihre  Abh&ngigkeit  vom  SubsumtionsschluB.  —  Die  Argu- 
mente der  «rationalen*'  Skepsis  und  der  wissenschaftliche  Sub- 
sumtionsschlufi.  —  Über  die  methodologische  Berechtigung  des  Zweifels 
Oberhaupt. 
III.  Die  erkenntnistheoretischen  Probleme  der  «sensualen**  Skepsis.  —  Die 
Bedeutung  des  Isosthenie-Prinzips.  —  Die  Skepsis  in  ihren  Beziehungen 
zur  Wahrneit  uad  zum  Problem  vom  Dinge  an  sich.  —  Die  Skepsis  und 
die  Lehre  Ton  den  spezifischen  Energien  der  Sinnesorgane.  —  Die 
Skepsis  und  der  philosophische  Kritizismus.  —  Schluik 

I. 

Das  Zweifeln  gehört,  gleichwie  das  Erkennen,  zu  den 
typischen  Äußerungen  des  menschlichen  Geistes.  Wo  immer 
das  Erkennen  zum  Bewußtsein  seiner  selbst  und  damit  der 
Bedingungen  seines  Bestandes,  vor  allem  aber  der  Schwierig- 
keiten seines  Betriebes  kommt,  dort  stellt  sich  als  seine 
psychologisch  und  methodologisch  gleich  bedeutsame  Begleit- 
erscheinung stets  auch  der  Zweifel  ein.  —  Die  Rolle 
des  letzteren  im  Ganzen  des  geistigen  Lebens  der  Mensch- 
heit ist  zu  verschiedenen  Zeiten  freilich  ebenso  ver- 
schieden gewesen,  wie  es  die  Umstände  waren,  unter 
welchen  er  sich  zeitweilig  zu  einer  umfassenden  und  den 
Bedingungen  seiner  Entstehung  gegenüber  relativ  selb- 
ständigen Lehrmeinung  oder  doch  zu  einem  wesentlichen 
Bestandstück  philosophischer  Systeme  entwickelt.  —  Mannig- 


Zum  Problesa  der  pkilosopbischen  Skepsis.  63 

fach  ist  aucli  di^  Ansmafi  und  die  Intensität,  in  welchem  er 
als  Qegenst«ti.d  der  wissenschafblichen  Betrachtung  das  philo- 
sophisohe  Interesse  fesselt.  Bald  wird  es  bestimmt  durch 
die  Zahl  der  Objekte,  auf  welche  sich  der  Zweifel  richtet-, 
bald  durch  deren  Pignität;  bald  wieder  durch  die  positive 
oder  negative  Bewertung  der  psychologischen  Motive,  die  dem 
Zweifel  zugrunde  liegen.  —  AUein,  keiner  dieser  immer  doch 
mir  subjektiven  Gesichtspunkte  vermag  die  grundsätzliche 
Stellung  der  wissenschaftlichen  Philosophie  zum  Problem 
der  Skepsis  überhaupt  zu  bestimmen.  Dazu  bedarf  es 
einer  Besinnung  auf  deren  erkenntnistheoretische  Grundlagen, 
einer  Analyse  der  Argumente,  auf  die  sie  sich  stutzt. 
Nur  einer  solchen  enthüllt  sich  die  den  Wechsel  der  zeit- 
lichen Gestaltungen  beherrschende  Einheit  ihres  Wesens.  — 
Eine  erschöpfende  Darstellung  dieses  letzteren  nun  kann 
freilich  nicht  die  Aufgabe  der  vorliegenden  Untersuchung 
bilden.  Vielmehr  bescheidet  sich  diese,  einige  fundamentale 
Gesichtspunkte  geltend  zu  machen,  welche  die  Stellung  der 
wissenschaftlichen  Philosophie  zum  Problem  der  philosophi- 
schen Skepsis  unter  aUen  Umständen  beherrschen  müssen. 

Zunächst  scheint  dieses  Problem  von  selbst  hin- 
zuweisen auf  das  Problem  der  Wissenschaft;  auf  das 
Problem  von  dem  Begriff  und  von  den  Grenzen  der 
wissenschaftlichen  Erkenntnis-,  kurz  auf  das  Problem  der 
kritischen  Philosophie.  Schon  die  allbekannten  histo- 
rischen Umstände  der  Entwicklung  dieser  letzteren  be- 
zeugen dies:  die  zentrale  Stellung  der  Fragen  und  Er- 
gebnisse der  Bums  sehen  Erkenntnislehre  im  Gedanken- 
kreise Kants. 

Das  Verhältnis  der  Yemunfbkritik  zu  Hume  erscheint 
den  einen  als  eine  Überwindung  Humes  durch  Kant,  den 
anderen  als  ein  vergeblicher  Kampf  des  Rationalismus  gegen 
die  Skepsis  überhaupt,  wenigstens  soweit  diese  als  grund- 
sätzlich berechtigte  Lehrmeinung  in  Betracht  kommt. — Allein, 
beide  Sätze  tre£Een  augenscheinlich  nur  in  einem  bedingten 
Sinne,  nämlich  imter  der  Voraussetzung  zu,  daß  man  in  Hume 
den  typischen  Repräsentanten  des  theoretischen  Skeptizismus 


64  R*  Hönigswald: 

ZU  erblicken  habe.    Darf  er  als  solcher  betrachtet  werden?  — 
Seit  langem  schon  gehört  diese  Frage  zu  den  Grondpröblemen 
der  Geschichte  der  Philosophie.    Ist  doch  geradezu  das  Ver- 
ständnis der  Absichten  und  der  Leistungen  des  philosophischen 
Kritizismus  an  die  Antwort  auf  sie  geknüpft.    Im  Hinblick 
darauf  aber  wird  sie  selbst  eine  Grundfrage  auch  der  syste- 
matischen Philosophie.  —  Hume  ist  Skeptiker  nur  vom 
Standpunkte    einer    erkenntnismäßigen   Beweisbarkeit    der 
kausalen  oder,  was  für  ihn  dasselbe  bedeutet,  der  erfahrungs- 
mäßigen Notwendigkeit.  Er  ist  Skeptiker,  sofern  er  an  der  er- 
kenntnismäßigen Erweisbarkeit  des  Kausalprinzips  als  der 
Grundlage  aller  Erfahrung  zweifelt.  Aber  er  ist  nicht  Skeptiker, 
sofern  er  —  und  dies  tut  er  mit  aller  Entschiedenheit  — 
das  Kausalprinzip  für  die  unentbehrliche  Voraussetzung  aller 
Erfahrung  hält,  sofern  er  die  Notwendigkeit  der  Beziehung 
zwischen   den   Gliedern   der  Kausalrelation   biologisch^ 
d.  h.  in  einer  Weise  begründen  will,  welche  sie  auch  der  ent- 
ferntesten Möglichkeit  eines  Zweifels  von  vornherein  entrückt, 
kurz  sofern  er  sie  auf  ein  Prinzip  gründet,  das  ebenso  vor 
jedem  Zweifel  wie  vor  jeder  Erkenntnis  feststeht.  —  Hume 
ist  andererseits  Skeptiker,  sofern  er  die  Annahme  der  realen 
Existenz  beharrender  Außendinge  vom  Standpunkt  der  Er- 
kenntnis als  „Fiktion"  bezeichnet;  aber  er  ist  nicht  Skeptiker, 
sofern   er   den   Glauben  an  jene    Existenz   dem  Gesichts- 
punkte der  Erkenntnis  entrückt,  indem  er  ihn,  gleich  der 
Notwendigkeit  der  Kausalrelation,  auf  ein  physiologisches 
Prinzip  gründet  *).  —  Der  Philosoph  ist  durchaus  konsequent, 
wenn  er  vor  der  „phantastischen  Sekte  der  Zweifler"  warnt. 
Er  selbst  fühlt  sich  eben  nicht  als  Skeptiker.    Erst  in  den 
Augen  und  unter  den  spezifischen  Gesichtspunkten  der  Er- 
gebnisse Kakts  konnte  er  als  solcher  erscheinen.    Denn  Kant 
bejaht  die  Fragen,   die  Hume  verneint  hatte. 

Die  Lehre  Humes  von  den  biologischen  Grundlagen  der 
Erfahrung  im  weitesten  Sinne  —  das  ist  es,  was  man  unter 
den  Gesichtspunkten  der  Ergebnisse  Kants  als  seinen  Skep- 

.    ')  Vgl.  hierzu  auch  meine  Schrift  „Über  die  Lehre  Humes  von 
der  Healität  der  Aussendinge*'.    Berlin  1904. 


Zum  Problem  der  philosophischen  Skepsis.  (35 

tizismas  bezeichnen  muß,  das  ist  es  aber  auch,  worauf  sein 
Skeptizisinns  sich  beschränkt.  Es  gibt  keinen  Beweis 
für  die  Gültigkeit  des  Kausalprinzips  und  des  Grundsatzes 
der  Substanz  in  aller  Erfahrung  —  das  ist  der  Standpunkt 
HüMES.  Es  gibt  nur  einen  uns  durch  biologische  Faktoren 
au%enötigten  und  schlechthin  unüberwindlichen  Glauben 
an  jene  Gültigkeit.  —  Die  Grundsätze  der  KausaKtät  und 
Substanz  sind  in  aller  Erfahrung  gültig,  weil  Kausalität  und 
Substanz  die  Bedingungen  der  Gegenstände  aller  Erfahrung 
darstellen^  d.  h.  den  Begriff  dieser  Gegenstände  definieren; 
die  objektive  Geltung  von  Kausalität  und  Substanz  ist 
Tnifhin  im  strengen  Sinne  beweisbar  —  dies  ist  der  Stand- 
punkt Kants.  Nicht  Glauben  und  gewohnheitsmäßige  Er- 
wartung ist  die  Grundlage  der  Geltung  jener  Prinzipien, 
sondern  Beweise,  d.  h.  Wissen  und  Erkenntnis.  Wer  wie  Hume 
das  letztere  leugnet,  der  ist  —  mag  er  im  übrigen  die  Geltung 
von  Kausalität  und  Substanz  auf  ein  Prinzip  gründen,  das 
als  ein  biologisches  fester  steht  als  jeglicher  Beweis  — 
Skeptiker.  So  lautet  die  Entscheidung  Kants  über  Hüme. 
Nun  ist  ersichtlich,  daß  trotz  dieser  Entscheidung,  ja 
wegen  der  sie  bestimmenden  speziellen  Motive,  die  Stellung 
HuxES  zur  Skepsis  im  typischen  Sinne  des  Wortes  noch 
der  Klärung  harrt.  Und  iu  dieser  Hinsicht  wird  der  von 
den  besonderen  methodischen  Gesichtspunkten  der  Vemunft- 
kritik  freien  historischen  Betrachtung  dies  eine  sicher  stehen: 
Kant  ist  von  der  angeblichen  Skepsis  Hümes  nicht  weiter 
entfernt  als  HuifE  von  der  antiken  Skepsis  der  Hellenen.  — 
Gewiß,  an  manchen  Punkten  hat  ja  die  griechische  Skepsis 
den  Standpunkt  Humes  geradezu  vorweggenommen,  so  z.  B. 
wenn  sie  erklärt«  die  ursächliche  Beziehung  zwischen  den  auf- 
einanderfolgenden Erscheinungen  könnte  durch  keinerlei 
Augenschein  bezeugt  werden,  oder  wenn  sie  etwa  iu  ihrer 
späteren,  der  positiven  Forschung  zugewandten  Periode  von 
einer  Beglaubigung  gewisser  Instanzen  „durch  das  Leben 
selbst"  spricht  (oico  toü  ßtbo  ircitioTTeüfievov)  *).    Aber  dem  Ganzen 

')  Sextus,  P,  II,  102.  —  Vgl.  auch  Richter,  Der  Skeptizismufl  in 
der  Philosophie.    I.    Leipzig  1904.    S.  105. 

Ti«rteIJAhr«8chrift  f.  wissensohaftl.  Philos.  u.  Soziol.  XXXII.  1.  5 


<j(5  H.  Hönigswald: 

ihrer  Absicht  nach  betrachtet,  befindet  sich  Hume  in  einem 
entschiedenen  Gegensatz  zu  jenen  antiken  Zweiflern.  Wenn 
nämlich  die  klassische  Skepsis  von  der  Unerkennbar- 
keit  der  Dinge  —  ihr  zentrales  Problem  auf  theoretischem 
Gebiete  —  sprach,  dann  meinte  sie  in  der  Regel  auch 
Ungewißheit.  Gerade  dies  aber  ist  bei  Hume  das  Neue 
und  Bedeutende,  wenn  auch  durch  den  Kritizismus  Kants 
endgültig  Überholte:  daß  für  ihn  Unerkennbarkeit  nocli 
lange  nicht  Ungewißheit  bedeutet.  Hume  hatte  auf  ein 
Prinzip  verwiesen  —  es  ist  der  auf  unserer  Organisation 
gleich  der  Verdauung  und  anderen  vegetativen  Funktionen 
gegründete  Glauben,  der  belief  — ,  das  sicherstellt,  was 
die  vernünftige  Überlegung  sicherzustiollen  unvermögend  ist. 
Ja,  das  Wesen  der  Hume  sehen  Skepsis  liegt  geradezu  in 
der  Erweiterung  des  Begriffes  der  Gewißheit  über  den  der 
Erkenntnis  hinaus.  Es  gibt  eine  Gewißheit,  so  lehrt  Hume, 
die  auf  Erkenntnis  beruht;  sie  liegt  vor  in  analytischen 
Sätzen  und  in  der  Mathematik.  Es  gibt  aber  daneben  auch 
eine  Gewißheit,  die  nicht  auf  Erkenntnis  beruht;  und  diese 
Art  der  Gewißheit  liegt  vor  in  der  Erfahrung. 

Es  ist  nicht  schwer,  die  Bestrebungen  Kants,  Hümes 
und  der  antiken  Skeptiker  unter  dem  umfassenden  Gesichts- 
punkte des  Verhältnisses  zwischen  Erkenntnis  und  Gewiß- 
heit zu  überblicken.  —  Die  antike  Skepsis  war  —  welches 
immer  ihre  Ergebnisse  gewesen  sein  mochten  —  im  großen 
und  ganzen  beherrscht  von  der  Tendenz ,  den  Begriff  der 
Gewißheit  dem  der  Erkenntnis  unterzuordnen:  —  zugleich 
freilich  von  dem  Bewußtsein  der  Unmöglichkeit  diese 
Tendenz  zu  verwirklichen.  Das  eine  ist  für  die  antike 
Skepsis  ebenso  bezeichnend  wie  das  andere.  Beides  zu- 
sammen erzeugt  ihr  merkwürdiges  Schwanken  zwischen 
Rationalismus  und  Relativismus.  Jener  entspricht  der  Ab- 
sicht überhaupt,  dieser  der  Einsicht  der  Skeptiker  in  die 
Unmöglichkeit  ihr  Ziel  zu  erreichen.  Denn  die  Gewißheit 
selbst  ist  für  sie  auf  jeden  Fall  ein  unerreichbarer,  weil 
nur  durch  Erkenntnis  möglicher  Idealzustand.  —  Für 
Hume  hingegen  ist  der  Begriff  der  Gewißheit  —  wie  oben 


Zum  Problem  der  phllosophisclien  Skepsis.  67 

scLon  angedentet  —  dem  der  Erkenntnis  übergeordnet, 
cL  h.  neben  einer  objektiven  und  erkenntnismäßigen  Gewiß- 
heit gibt  es  für  ihn  noch  eine  subjektive  und  erfahrungs- 
mäßige.  —  Mit  der  Verwirklichung  der  Tendenzen  der 
antiken  Skepsis  auf  der  ganzen  Linie  der  theoretischen 
Philosophie  durch  die  „transzendentale  Methode"  hat 
schließlich  Kant  Huif£  und  die  antike  Skepsis  überwunden. 
Kant  ist  —  die  Bemerkung  entbehrt  angesichts  des  sich  ge- 
legentlich immer  noch  regenden  Versuchs,  in  ihm  den 
Agnostiker  zu  feiern  oder  zu  verurteilen,  auch  heute  nicht 
einer  gewissen  Aktualität  —  so  gewiß  nicht  Skeptiker,  so 
gewiß  er  —  man  gestatte  die  paradoxe  Wendung  —  die 
Tendenzen  der  antiken  Skepsis  realisierte.  Er  hat  die 
Frage  nach  der  Erkennbarkeit  der  Dinge,  an  welche  die 
antike  Skepsis  anknüpft,  in  positivem  Sinne  beantwortet, 
nicht  freilich  ohne  vorher  die  Voraussetzungen  der  skep- 
tischen Fragestellung  durch  die  Einfuhrung  des  methodischen 
Begriffes  der  Erscheinung  zu  revidieren,  —  Weil  nun 
diese  Fragestellung  der  Skepsis  mit  besonderer  Schärfe  natur- 
gemäß dort  hervortritt,  wo  die  Untauglichkeit  unserer 
Sinnes  Wahrnehmungen  zur  Vermittlung  von  Erkenntnis 
erwiesen  werden  soll,  rücken  fiir  die  erkenntnistheoretische 
Betrachtung  vor  allem  die  Probleme  der  sogenannten 
sensualen  Skepsis  in  den  Vordergrund  des  Interesses. 

n.  . 

Allein,  näher  als  die  Argumente  der  sensualen  Skepsis 
gegen  den  Begriff  der  Wissenschaft  berührt  eine  unbefangene 
Betrachtung  des  skeptischen  Gedankenkreises  der  Kampf 
der  sogenannten  rationalen  Skepsis  gegen  die  faktische 
Möglichkeit  eines  wissenschaftlichen  Betriebes.  Hier  wird 
das  Verfahren  der  Wissenschaft  zum  Problem  und  weiter- 
hin zum  Gegenstand  des  Angriffs.  Die  griechische  Skepsis 
will  m.  a.  W.  nicht  bloß  beweisen,  daß  wir  durch  unsere 
Erkenntnisniittel  zur  „Wahrheit"  über  die  „Dinge"  wegen 
deren  Transzendenz  niemals  vorzudringen  vermögen,  sie  will 

auch   dartun,   daß  der  Gebrauch  unserer  Erkenntnismittel 

5* 


gg  E.  Hönigswald: 

in  sich  selbst  widerspruchsvoll  ist.  Es  ist  dies  diejenige 
Seite  der  antiken  Skepsis,  die  vor  allem  den  Logiker 
fesselt.  Sie  ist  gleichsam  das  irpeSiepov  irp&c  >)}ag(c  ;  sie  soll  hier 
noch  vor  den  im  engeren  Sinne  erkenntnistheoretischen 
Gesichtspunkten  der  sensualen  Skepsis  ins  Auge  gefaßt 
werden. 

Es  handelt  sich  dabei  im  wesentlichen  um  die  skep- 
tischen EiQwände  gegen  die  aristotelische  Theorie  der  In^ 
duktion  und  der  Deduktion.  —  Welche  methodologische 
Bedeutung  nxm  haben  diese  Einwände,  wie  verhalten  sie  sich 
zu  jenen  methodischen  Prinzipien  der  Forschung,  welche 
auf  dem  Boden  des  tatsächlichen  Betriebes  der  modernen 
Wissenschaft  erstanden  sind? 

1.  Das  Ziel  der  aristotelischen  Induktion  ist  die  Ge- 
winnung eines  allgemeinen  Satzes  aus  vielen  einzelnen; 
ihre  Methode  ist  die  vergleichende  Beobachtung  vieler  Fälle 
einer  Erscheinung.  Nur  durch  die  vergleichende  Beobachtung 
der  Blutwärme  vieler  Pferde  gelange  man  zum  allgemeinen 
Satz:  Das  Pferd  ist  ein  Warmblüter*). 

Gegen  diese  Art  des  Beweises  richtet  sich  die  Skepsis 
mit  einem  Argumente  von  beispielloser  Schärfe.  Die 
aristotelische  Induktion  —  so  erklären  die  alten  Skeptiker" — 
ist  entweder  imvollständig,  oder  sie  ist  vollständig,  d.  h.  ent- 
weder sind  alle  Einzelfalle,  auf  die  sie  sich  überhaupt 
stützen  kann,  untersucht  worden  oder  nicht.  Ist  das  letztere 
der  Fall,  so  fehlt  die  Grundlage  für  den  allgemeinen  Satz: 
„Jedes  Pferd  ist  Warmblüter."  Also  ist  Erkenntnis  all- 
gemeiner Sätze  aus  Erfahrung  nur  durch  vollständige 
Induktion  möglich.  Eine  solche  aber  —  in  dem  angefiihrten 
Beispiele  die  Untersuchung  eines  jeden  Pferdes  —  ist 
schlechterdings  unmöglich.  Also  ist  auch  die  aristotelische 
Induktion,  die  litaYa>Y>;  kein  brauchbares  Instrument  der 
wissenschaftlichen  Erkenntnis  *). 

Im  Rahmen  des  griechischen  Denkens  mochte  diese 
'Argumentation    nur   durch   ihre    formale    Schärfe    gewirkt 

')  Vgl.  Richter  a.  a.  0.  S.  70. 
*)  Skxtus,  P.  II,  204. 


Zum  Problem  der  philosophischen  Skepsis.  69 

liaben;  ihre  Bedentimg  für  die  moderne  Logik  aber  gewinnt 
sie  vor  allen  Dingen  durch  ihre  nahe  Verwandtschaft  mit 
dem  Ausgangspunkte  der  Wissenschaftslehre  Galileis.  Das 
An&ahlen  von  Einzelfallen  zum  Zwecke  der  Erforschung 
ihres  Gesetzes  —  so  widerlegt  Galilei  die  Einwände  eines 
Aristotelikers  seiner  eigenen  Zeit  —  ist  entweder  unmöglich, 
oder  es  ist  imnütz;  unmöglich,  wenn  die  Zahl  der  Einzel- 
falle unendlich  ist ;  unnütz,  wenn  sie  begrenzt  wäre.  Denn 
ist  sie  unendlich,  so  könnte  ja  das  Verfahren  niemals  ab- 
geschlossen werden;  und  ist  die  Zahl  der  Einzelfalle  be- 
grenzt, so  hätten  wir,  da  sie  ja  alle  schon  aufgezählt  worden 
waren,  im  Schlufisatze  nur  wiederholt,  was  in  den  Prämissen 
jüchon  enthalten  gewesen.  —  Unverkennbar  ist  die  Ge- 
meinsamkeit des  kritischen  Standortes  bei  Galilei  und 
den  Skeptikern  gegenüber  der  peripatetischen  Theorie  der 
Induktion.  Diese  wie  jener  suchen  die  aristotelische  Lehre 
von  der  Induktion  durch  eine  erschöpfende  Bestimmung  der 
formalen  Umstände,  unter  welchen  sie  erfolgen  muß,  ad 
absurdum  zu  fuhren.  Galilei  wie  die  Skeptiker  leitet  die 
Absicht,  die  inneren  Widersprüche  der  aristotelischen  In- 
duktion durch  eine  Analyse  der  Quantitätsbestimmung  des 
Schlußsatzes  aufzudecken.  Ja  selbst  die  äußere  Gestalt  der 
GAULEischen  Argumentation  gleicht  jener  der  skeptischen:  da 
wie  dort  ein  auf  vollständiger  Disjunktion  ruhendes,  scharf 
gegliedertes  Dilemma. 

Dennoch  ist  der  grundsätzliche  Unterschied  zwischen 
Galilei   und    der   Skepsis   nicht   kleiner  als   der  zwischen 
Galilei    und    Aristoteles.      Denn   im    Gegensatze    zu 
Galilei   bekämpft  die  Skepsis   die  aristotelische 
Induktion     auf   der    logischen    Grundlage    und 
unter   den   Voraussetzungen  dieser  selbst.     Für 
die  antiken  Skeptiker  ist  das  ideale  Verfahren  zur  Erlangung 
eines  auf  Erfahrungsschlüssen  ruhenden  Wissens   die  voll- 
standige  Induktion  im  Sinne  des  Aristoteles.    Das  Bewußt- 
sein  der   Unerreichbarkeit  einer   solchen   begründet    an 
diesem  Punkte  geradezu  ihre  Skepsis.  Galilei  hingegen  befreit 
.sich    im    Kampfe  gegen    die   Aristoteliker   auch   von   dem 


70  R.  Hönigswald: 

induktiven  Wissenschaftsideal  der  antiken  Skepsis.  Er 
entdeckt  den  Begriff  des  Naturgesetzes,  das  dem  Er- 
gebnis einer  numerisch  vollständigen  Induktion  als  die  all- 
gemeine logische  Bedingung  einer  Erscheinung  gegenüber- 
steht, wenn  sich  diese  ereignet:  die  Wissenschaft  gilt 
Galilei  als  „ein  System  reiner  Bedingungssätze"  *).  —  Natur- 
gesetze haben  also  für  Galilei  eine  andere  logische  Valenz 
wie  für  Skeptiker  und  Aristoteliker.  Sie  sind  für  ihn  mehr  als 
Sätze  von  empirischer  und  numerischer  Allgemeinheit.  Sie 
beruhen  nicht  auf  einer  Kenntnis  imd  Zusammenfassung 
aller  möglichen  Fälle  einer  Erscheinung,  vielmehr  lehren 
sie  uns  jeden  einzelnen  möglichen  Fall  aus  dessen  Be- 
dingungen zu  begreifen^).  Daher  kennzeichnet  auch  die 
logische  Analyse  das  Wesen  des  GALiLEischen  Verfahrens.  — 
Das  Naturgesetz  Galileis  entbehrt  denn  auch  jener  logischen 
Quantitätsbestimmung,  die  jedem  auf  vergleichender  Be- 
obachtung beruhenden  Satze  eigen  ist").  Daß  sich  „alle'*  im 
luftleeren  Raum  frei  herabfallenden  Körper  mit  einer  der  Zeit 
proportionalen  Geschwindigkeit  bewegen,  ist  ebenso  richtig 
wie  der  Satz,  daß  die  Winkelsunmie  „aller"  ebenen  Dreiecke 
180^  betrage.  Beide  Sätze  aber  sind  ein  nur  durchaus 
inadäquater  Ausdruck  für  die  durch  sie  darzustellende 
logische  Situation.  Jeder  von  ihnen  enthält  seiner  logischen 
Valenz  nach  betrachtet  mehr  als  die  Quantitätsbestimmung 
des  Subjektsbegrrflfes  vermuten  läßt.  „Alle"  Körper  fallen 
mit  einer  der  Zeit  proportionalen  Geschwindigkeit  zu  Boden, 
und  „alle"  ebenen  Dreiecke  haben  eine  Winkelsumme  von 
180®,  weil  diese  Merkmale  und  Beziehungen  von  den  Bo- 


')  Vgl.  Cassirku,  Das  Erkenntnisproblem  in  der  Philosophie  und 
Wissenschaft  der  neueren  Zeit.    Erster  Band.    Berlin  1906.    S.  295. 

^)  ^S^'  B.IKHL,  Über  den  Begriff  der  Wissenschaft  bei  Galilei. 
Viertel jahrsschr.  f.  wiss.  Phil.  1ö91.  S.  4.  Derselbe,  Logik  und 
Erkenntnistheorie  in  Hikmkbkrgs  „Kultur  der  Gegenwart".  Teil  I. 
Abt.  VI.  Berlin  und  Leipzig  19Ö7.  S.  85;  femer  Natorp,  Galilei 
als  Philosoph.  Philosophische  Monatshefte  1882.  —  Vgl.  auch  meine 
Schrift,  Beiträge  zur  Erkenntnistheorie  und  Methodenlehre.  Leipzig 
1906.    I.  u.  II.  Abschnitt. 

•)  Vgl.  BtEHL,  Beiträge  zur  Logik.  Vierteljahrsschrift  f.  wiss. 
Phil.    1892.    S.  142» 


Zum  Problem  der  philosophischen  Skepsis.  71 

griffen  des  freien  Falles  der  Körper  und  des  ebenen 
Dreieckes  bewiesen  worden  sind,  weil  sie  jene  Begriffe 
definieren. 

Der  aristotelischen  Theorie  der  Induktion  gegenüber 
hat  die  antike  Skepsis  geleistet,  was  auf  der  Grundlage  der 
peripatetischen  Logik,  also  auf  der  Grundlage  jener  Theorie 
selbst,  zu  leisten  möglich  war.  Sie  hat  die  im  Begriff  der 
aristotelischen  Induktion  gelegenen  Widersprüche  aufgezeigt. 
Aber  so  gewiß  sie  selbst  sich  von  den  Voraussetzungen  der 
aristotelischen  Induktion  nicht  zu  befreien  vermocht  hatte, 
so  gewiß  mußte  sie  bei  der  Negation  verharren,  so  wenig 
konnte  ihre  immanente  Kritik  zum  Ausgangspunkt  für  eine 
truchtbare  Reform  des  wissenschaftlichen  Verfahrens  werden. 
Dazu  bedurfte  es  einer  neuen  Orientierung  an  einem  neuen 
Begriff  der  Wissenschaft. 

Nicht  die  Passivität  also,  zu  welcher  die  Skepsis  durch 
ihr  Verneinen  verurteilt  gewesen  war,  benahm  ihr  die  Kraft 
der  methodischen  Initiative,  sondern  die  Grundlage  ihres 
Vemeinens.  Und  wie  zum  Beweise  ihrer  Gebundenheit  an 
die  Formen  der  peripatetischen  Logik  entfaltet  sie  auch  die 
spärlichen  aktiven  Seiten  ihres  Wesens  an  einem  Forschungs- 
gebiet, das  aus  tiefliegenden  methodischen,  hier  jedoch  nicht 
näher  zu  erörternden,  Gründen  dem  GALiLEischen  Verfahren  bis 
auf  den  heutigen  Tag  sich  entziehen  mußte :  an  der  Medizin. 
Hier  entwickelt  die  Skepsis  gegen  die  Interessen  ihres  zu 
Negation  und  Passivität  neigenden  Geistes  die  Überzeugung, 
daß  Wissenschaft  nur  dort  gedeihen  könne,  wo  an  Stelle 
der  zufälligen  und  natürlichen,  also  an  Stelle  einer  gleichsam 
zwangsweisen  und  passiven  die  beabsichtigte  und  plan- 
mäßige Beobachtung,  kurz  die  aktive  und  ihrer  Aktivität 
bewußte  Forschung  tritt.  In  der  Schule  der  sogenannten 
„methodischen  Arzte" ,  welche  einerseits  von  der  Skepsis 
beherrscht  ist,  lun  andererseits  auf  deren  weitere  Gestaltung 
mächtig  zurückzuwirken,  spielt  nicht  nur  der  Analogieschluß 
(r,  TOü  ijiotoü  jjLeTaßaaic),  sondern  zur  Entscheidung  der  Richtig- 
keit des  Analogieschlusses,  auch  das  Experiment  eine 
hervorragende   Rolle,    Ja  die  Skepsis   erhebt  sich  hier  zu 


72  R.  Hönigswald: 

einer    grundsätzlichen    Unterscheidung^   von     bestechender 
Schärfe,   sie  trennt  die  rohe  und  unmethodische  Erfahrung 
—  irrationalem  eruditionem  —  von   der  methodischen  und 
denkend  erlangten.  —  Und  doch  ist  die  Logik  der  skeptischen 
Arzte  von    dem   ÖAULKischen    Grundsätze    des    „senso    ac- 
compagnato    col  discorso"   weit   entfernt.     Denn   nirgends 
erreicht  sie  jenes    die    Grenzen  der   aristotelischen  Logik 
80  weit  überschreitende  und   deren  Schranken  sprengende 
Maß    der     „denkenden    Erfahrung"^):     stets    ist    die    Ab- 
straktion und  niemals   die   Analyse  das  Prinzip  ihres  Ver- 
fahrens*).     Die    „denkende    Erfahrung"    bedeutet    für    die 
Skeptiker    die    unmittelbare     oder    mittelbare    Bestätigung 
eines   aus  vielen  Fällen   abstrahierten   Tatbestandes   durch 
das  Experiment ;  für  Galilei  bedeutet  sie  die  experimentelle 
Verifikation  des   Ergebnisses    einer   logischen  Analyse  des 
Einzelfalles.     Der   aristotelische    Skeptiker   sucht   etwa 
durch  das  Experiment  seine  Vermutung  zu  bestätigen,  daß 
eine   Eigenschaft,    welche    einem   von   vielen    sonst   über- 
einstimmenden Fällen  einer  Erscheinung  zukommt,   allen 
Fällen    der    betrejffenden    Erscheinung    zukommen    werde. 
D.  h.  er  bringt  jene  Fälle  durch  die  Ausschaltung  störender 
Umstände    in   Verhältnisse,    unter   welchen    auch   die    Ge- 
meinsamkeit jener  einen  Eigenschaft  der  Beobachtung  zu- 
gänglich wird.    Bei  Galilei  bestätigt   das  Experiment  eine 
Hypothese,    welche    den    in    jedem    einzelnen    Fall    ver- 
wirklichten Begriff  einer  Erscheinung  definieren  soll.    Ist 
dieser  Begriiff  —  für  Galilei  handelt  es  sich  bekanntlich 
um   den   des   freien  Falles   der  Körper  —  einmal  definiert, 
so  ist  in  ihm    das    apodiktisch   gültige    Gesetz    der  be- 
treffenden  Erscheinung   gefunden.     Und   definiert  ist   er, 
nachdem  .das  Experiment  die  hypothetische  Annahme,   daß 
der  freie  Fall  des  Körpers  das  Phänomen  der  gleichförmig 
beschleunigten  Bewegung  darstelle,  bestätigt  hat.    Nun  gilt 
nicht  bloß  der  Satz:  „Alle  im  luftleeren  Räume  frei  herab- 


\)  ^S^-  liiorzu  auch  Gokdkckemeykr.  Die  Geschichte  des  griechischen 
Skeptizismus.    Leipzig  1905.    S.  161. 

*)  Vgl.  auch  BiKHi^  ohen  genannten  Beitrag  zur  „Kultur  der 
Gegenwart". 


Zum  Problem  der  philosophischen  Skepsis.  73 

tauenden  Körper  bewegen  sich  mit  einer  der  Zeit  pro- 
portionalen Q-eschwindigkeit,"  —  nun  gilt  —  und  zwar  als 
Ausdruck  des  Fehlens  jeder  logischen  Quantitätsbestimmung 
—  der  Satz:  „Ein  Körper,  dessen  Gescbwindigkeit  nicht 
der  Zeit  proportional  wächst,  fallt  nicht  frei.**  —  Die  ein- 
fache Induktion  durch  Vergleichung  konstatiert  demgegen- 
über —  ancli  wo  sie  sich  des  Experimentes  bedient  —  bloß 
eine  Regel,  unter  welcher  der  einzelne  Fall,  sofern  er  die 
Bedingungen  dieser  Regel  erfüllt,  höchstens  subsumiert 
werden  kann,  unter  die  er  aber  niemals  subsumiert  werden 
muß,  eben  weil  ihn  jene  Regel  nicht  definiert;  oder  weil 
doch  eine  solche  —  auch  wenn  sie  es  ihrem  Inhalte  nach 
sollte  tun  können  —  den  formalen  Rechtsanspruch,  eine 
Definition  des  Einzelfalles  zu  enthalten,  niemals  zu  be- 
gründen vermöchte. 

Im  Rahmen  des  GALiLEischen  Verfahrens  erschöpft  die 
Bedeutung  des  Experimentes  sich  darin,  daß  dieses  ein  den 
Bedingungen  der  Hypothese  genau  entsprechendes  Glied 
der  Defiboition  des  Einzelfalles,  beziehimgsweise  der  ihm 
gleichen  Fälle,  darstellt.  —  Das  Experiment  im  Rahmen  der 
aristotelisch-skeptischen  Logik  hat  eine  hiervon  ganz  ver- 
t^chiedene  methodologische  Valenz.  Es  könnte  an  sich 
schon  —  d.  h.  ganz  und  gar  unabhängig  von  seiner  Funktion 
im  aristotelisch-skeptischen  Verfahren,  das  Resultat  eines 
Analogieschlusses  zu  bestätigen  —  den  Ausgangspunkt  emer 
Feststellung  bilden,  welche  in  bezug  auf  ihren  Gewißheits- 
wert von  jenem  Resultate  des  Analogieschlusses  nicht  ab- 
wiche. Würde  man  m.  a.  W.  das  der  Bestätigung  eines 
Analogieschlusses  dienende  Experiment,  anstatt  es  unter 
dem  Gesichtspunkte  jenes  Analogieschlusses  gleichsam  zu 
suchen,  durch  einen  glücklichen  Zufall  gefunden  haben, 
so  könnte  es  ohne  weiteres  als  Instanz  für  einen  Satz  dienen, 
der  den  gleichen  Grad  bloß  empirischer  Allgemeinheit  be- 
säfie  wie  das  Ergebnis  des  Analogieschlusses  selbst.  Es  ist 
eben  einem  Erfahrungssatze  von  empirischer  Allgemeinheit 
nicht  anzusehen,  ob  er  sich  auf  Experimente  allein  stützt 
oder,  ob  ihna  die  Verifikation  einer  Annahme  von  empirischer 


74  H*  HÖnigBwald: 

Allgemeinheit  durch  ein  Experiment  zugrunde  liegt.  —  Kein 
Experiment  ab'er  kann  für  sich  als  Instanz  für 
die  Auffindung  eines  Gesetzes  im  GALiLEischen 
Sinne  betrachtet  werden,  weU  kein  Experiment  un- 
abhängig von  einer  auf  der  logischen  Analyse  des  Einzel- 
falles beruhenden  Hypothese  den  Begriff  eines  Phänomens 
zu  definieren  vermag. 

Nur  auf  der  Grundlage  des  GALiLEischen  "Wissenschafts - 
begriffes  konnten  die  von  der  Skepsis  geltend  gemachten 
Mängel  der  aristotelischen  Induktion  beseitigt  werden.  Die 
Skepsis  selbst  war  wegen  der  aristotelischen  Fundamente 
ihrer  eigenen  Logik  hierzu  unvermögend  und  ihre  Argumente 
gegen  die  aristotelische  Induktion  mußten  sich  überall  dort 
unfehlbar  gegen  ihre  eigene  Position  kehren,  wo  sie  mit 
größerer  oder  geringerer  Inkonsequenz  aus  der  Passivität 
der  Negation  heraustrat. 

Haben  nun  die  skeptischen  Einwände  gegen  die 
aristotelische  Induktion  nicht  auch  heute  noch  ihre  relative 
Berechtigung  für  Forschungsgebiete,  die,  gleichviel  aus 
welchem  Grunde,  auf  die  einfache  Induktion  durch  ver- 
gleichende Beobachtung  vieler  Fälle  angewiesen  bleiben? 
Vermögen  jenen  Einwänden  die  empirischen  Wissenschaften 
im  engsten  Sinne  standzuhalten?  Fast  scheint  diese  Frage 
verneint  werden  zu  müssen.  Fast  scheinen  die  Vertreter 
streng  empirischer  Disziplinen  vor  die  Alternative  gestellt 
zu  sein,  entweder  den  erfolgreichen  Betrieb  ihrer  Forschmigs- 
arbeit  einzustellen  oder  vor  einem  schwerwiegenden  und 
unwiderlegten  grundsätzlichen  Einwände  die  Augen  zu  ver- 
schließen. Allein,  die  Besinnung  auf  ihre  erkenntnistheore- 
tische Eigenart  bewahrt  die  empirischen  Wissenschaften  vor 
dieser  verhängnisvollen  Situation,  Wenn  nämlich  die 
Männer  der  rein  empirischen  Forschung  der  bloß  be- 
dingten und  komparativen  Allgemeinheit  ihrer  Ergebnisse, 
oder  was  dasselbe  bedeutet,  der  subjektiven  Natur  des 
Prinzips  ihrer  Wissenschaft,  eingedenk  bleiben,  dann  ent- 
gehen sie  von  selbst  den  Einwänden  ihrer  skeptischen 
Kritiker.     Wenn   sie   den  Anspruch  auf  jene   Art  der  All- 


Zum  Problem  der  philosophiBclien  Skepsis.  75 

gemeinheit ,  deren  Möglichkeit  der  Skeptiker  grundsätzlich 
bezweifelt,  gar  nicht  erheben,  dann  sind  sie  auch  gegen  die 
Angriffe  der  Skepsis  gefeit.  Verbindet  m.  a.  W.  der 
^empirische"  Naturforscher  im  engsten  Sinne  mit  dem  Begriff 
.aller"  Fälle,  über  welche  seine  Aussage  als  das  Ergebnis 
seiner  Untersuchung  ergeht,  weder  die  Vorstellung  einer 
vollständigen  Induktion,  noch  aber  die  jener  Ailgemeingültig- 
keit,  wie  sie  ntu*  dem  Besultate  einer  Demonstration  durch 
Analyse  des  Einzelfalles  zukommen  kann,  sondern  beschränkt 
er  ihn  auf  die  Vorstellung  „aller  bisher  beobachteten 
Fälle"  ,  dann  trifft  ihn  keiner  der  skeptischen  Einwände 
gegen  die  Induktion.  Die  Argumente  der  Skepsis  gründen 
sich  eben  nur  auf  den  strengen  "Wortsinn,  einer  milderen 
Interpretation  des  Ausdrucks  „alle"  steht  sie  absolut  fem. 
Gerade  das  Bewußtsein  von  der  Unerläßlichkeit  einer  solchen 
aber  bezeichnet  die  erkenntnistheoretische  Haltung  des  be- 
sonnenen Empirikers,  der  sich  über  die  grundsätzlichenMängel 
xmd  die  Gh-enzen  der  Leistungsfähigkeit  seines  Verfahrens 
Bechenschaft  gibt.  —  Die  „Erkenntnis"  des  Empirikers  im 
engsten  Sinne  wurzelt  m.  a.  W.  in  dem  Prinzip  der  Hume- 
schen  Erfahrung,  d.  h.  sie  besteht  in  dem  „Glauben",  in  der 
„Erwartung",  daß  die  bisher  beobachteten  die  Repräsen- 
tanten aller  FäUe  einer  Erscheinung  seien.  Die  Skepsis  aber 
subintelligiert  ihm,  anstatt  etwa  erkenntnistheoretisch  die 
Legitimation  seines  Glaubens  zu  prüfen,  ein  Wissen,  um 
dann  die  Möglichkeit  eines  solchen  zu  bestreiten. 

So  ungerecht  es  wäre  zu  verkennen,  daß  eigentlich  erst 
die  skeptischen  Einwände  die  aristotelische  Theorie  der  In- 
duktion  zur  Diskussion  gestellt  haben,   so   gering  müssen 
wir  doch  nach  allem  dem  die  logische  Bedeutung  der  Kritik, 
welche  die  rationale  Skepsis  an  jener  Theorie  geübt  hatte, 
veranschlagen.     Die  skeptische   Kritik   der   Induktion   hat 
nur  historische  Bedeutung;  denn  an  keinem  Punkte  vermag 
ein  Zurückgreifen  auf  ihre  Argumente  die  aktuellen  Probleme 
der  Methodenlehre  zu  fördern.    Weder  zeigt  sie  sich  der 
neuen    mit    Galilei    einsetzenden   Logik    der    Erfahrungs- 
wissenschaft  gewachsen,  noch  aber  vermag  sie  —  und  dies 


76  R-  Hönigswald: 

ist  von  ihrem  eigenen  Standpunkte  aus  betrachtet  vielleicht 
noch  bedeutsamer  —  der  erkenntnistheoretischen  Eigenart 
jener  empirischen  Wissenschaften  gerecht  zu  werden,  deren 
Möglichkeit  und  Berechtigung  ihre  Kritik  auf  den  ersten 
Blick  in  Frage  zu  stellen  scheint. 

2.  Wir  wenden  ims  nun  zu  den  skeptischen  Einwänden 
gegen  die  Deduktion.  Drei  Argument-e  vor  allem  hält  die 
Skepsis  zum  Beweise  der  Unbrauchbarkeit  der  Deduktion  als 
Mittel  der  Erkenntnis  bereit.  —  Die  Wahrheit  eines  Schluß- 
satzes sei — so  lautet  das  erste  —  unbeweisbar,  weil  sie  sich  nie- 
mals aus  einer  begrenzten  Anzahl  von  Schlüssen  ergebe.  Denn 
jeder  Schlußsatz  setzt  die  Geltung  eines  Obersatzes  voraus. 
Die  begründete  Geltung  eines  Obersatzes  aber  weist  auf 
einen  neuen  Schluß  und  auf  einen  weiteren  Obersatz  zurück, 
dessen  Geltung  wieder  nur  ein  Schluß  zu  begründen  ver- 
möchte. So  werden  wir  ruhelos  von  Schluß  zu  Schluß  ins 
Unbegrenzte  zurückgetrieben.  Was  wir  überblicken  können, 
der  einzelne  Schluß  —  bzw.  eine  begrenzte  Zahl  von 
Schlüssen  —  ist  nur  ein  verschwindend  kleiner  Teil  einer 
schlechthin  unübersehbaren,  weil  unendlichen  Reihe;  was 
wir  überblicken  müßten,  um  zu  einer  wirklichen  Er- 
kenntnis durch  Deduktion  zu  gelangen,  ist  jene  unendliche 
Reihe  selbst.  Niemand  aber  ist  dessen  föhig,  daher  auch 
niemand  imstande,  sich  von  der  Wahrheit  eines  Schluß- 
satzes zu  überzeugen.  Man  müßte  die  „ins  unendliche 
hinaustreibende  Art"  des  Schlusses,  tiv  zU  aicetpov  ixßaXXovta 
Tp6icov,  beseitigen,  sollte  er  uns  als  brauchbares  Erkenntnis - 
mittel  dienen  können.  —  Freilich  reihen  wir  in  Wirklichkeit 
nicht  Schluß  an  Schluß,  Prämisse  an  Prämisse.  Vielmehr 
halten  wir  an  irgendeinem  Punkte  unseres  Weges,  bei  einer 
der  Begründung  nicht  mehr  bedürftig  erscheinenden  Prämisse 
inne;  wir  setzen  diese  kurzweg  als  wahr  voraus.  —  Allein — und 
dies  bildet  den  zweiten  Einwand  des  Skeptikers  —  mit 
eben  dem  Rechte,  mit  welchem  ich  bei  irgendeiner  Prämisse 
Halt  mache,  um  sie  als  wahr  allen  übrigen  zugrunde  zu  legen, 
könnte  ich  ja  gleich  —  nur  mit  geringerer  Mühe  —  das  zu 
Beweisende  selbst  für  wahr  erklären.    Es  sei  grundsätzlich 


Zum  Problem  der  philosophischen  Skepsis.  77 

durchaus  gleichgültig,  an  welchem  Punkte  meines  Beweis- 
ganges ich  naeine  Zuflucht  zur  „Selbstverständlichkeit"  einer 
Prämisse  nehme.  „Wenn  das  Voraussetzen  etwas  zur  Be- 
glaubigung hilft,  so  soU  er  das  Gesuchte  selbst  voraus- 
setzen und  nicht  etwas  anderes,  wodurch  er  eben  das  Bing 
begründen  will,  von  dem  die  Bede  ist;  wenn  es  aber  wider- 
sümig  ist,  ^das  Gesuchte  vorauszusetzen,  so  wird  es  auch 
widersinnig  sein,  das  Allgemeinere  vorauszusetzen."  *)  Der 
koyo^  tnco&6Tixic  ist  der  zweite  Beweisgrund  der  Skepsis  für 
die  Untauglichkeit  der  Deduktion  zur  Erkenntnis,  Er 
ergänzt  gleichsam  den  ersten.  Stellte  uns  dieser  vor  die 
unmöglich  zu  lösende  Aufgabe  zur  Begründung  des  ein- 
fachsten Satzes  schon  eine  unbegrenzte  Anzahl  von  Schlüssen 
zu  vollziehen,  so  zeigt  uns  jener,  daß  es  unmöglich  sei,  an 
einem  bestimmten  Punkte  imseres  Weges  innezuhalten.  Wir 
können  der  Notwendigkeit  eines  regressus  in  infinitum 
schlechterdings  nicht  entgehen,  und  weil  wir  ihn  auszufahren 
unfähig  sind,  gibt  es  keine  Erkenntnis  durch  Deduktion. 
Das  immanente  Gesetz  des  Schlusses  und  die  Beschränkt- 
heit unserer  Fähigkeiten  ihm  zu  genügen  treiben  uns  zur 
Skepsis.  —  Und,  wie  um  unseren  Glauben  an  die  Leistungs- 
fähigkeit der  Deduktion  vollends  zu  brechen,  sucht  der 
Skeptiker  in  einem  dritten  Argumente  zu  zeigen,  daß  wir 
mit  allen  unseren  deduktiven  Beweisen  in  einen  verhängnis- 
vollen Zirkel  geraten  müssen.  Wenn  ich  sage:  „Alle 
Menschen  sind  sterbhch",  und  nun  daraus,  daß  auch  Cajus 
ein  Mensch  sei,  schließe:  „Also  ist  auch  Cajus  sterblich", 
so  hatte  ich  mich  nach  der  Meinung  des  Skeptikers  recht 
eigentlich  im  Kreise  herumgedreht;  denn  so  gewiß  Cajus 
ein  Mensch  ist,  so  gewiß  wäre  seine  Sterblichkeit  in  dem 
Satze:  „Alle  Menschen  sind  sterblich"  implicite  schon  mit- 
behauptet. Ich  hätte  also  schon  vorausgesetzt,  was  ich  erst 
beweisen  sollte,  ich  hätte  Beweisstück  imd  Beweisergebnis, 
Prämisse  und  Schlußsatz  vermengt  und  verwechselt.  Der 
Tpozog  mdkXr^^og  gut  dem  Skeptiker  als  der  dritte  Beweis- 
grand für  die  vöUige  Wertlosigkeit  des  Syllogismus. 


')  Sextvs,  P.  I,  174. 


78  ^'  Hönigswald: 

Ist  diese  nun  durch  die  skeptischen  Einwände  erwiesen, 
hat  die  Deduktion  wirklich  keinen  Anteil  mehr  an  der  wissen- 
schaftlichen Erkenntnis?  Wie  verhalten  sich  die  kritischen 
Einwände  der  Pyrrhoniker  zu  den  lebendigen  Bedürfnissen 
der  forschenden  Wissenschaft?  Sind  vor  allem  die  ersten 
beiden,  auf  die  Unerläßlichkeit  eines  regressus  in  iafinitum 
gegründeten,  stichhaltig? 

Gewiß,  das  an  den  Xofoc  uTro&exixi?  anknüpfende  Argument 
verrät  das  tiefe  Verständnis  der  Skeptiker  fiir  einen  der 
gewöhnlichsten  Denkfehler.  Es  erinnert  uns  daran,  daß  die 
meisten  unserer  Begründungen  im  täglichen  Leben  „nur 
provisorisch  sind  und  auf  strenge  Beweiskraft  keinen 
Anspruch  erheben  können«.  Es  warnt  uns  davor  unsere 
„Alltagsbehauptungen  als  naive  Dogmatiker  für  streng  er- 
wiesene Wahrheiten  zu  halten."  *)  AUeiu,  so  wohltätig  die 
Skepsis  hier  auch  wirkt,  der  (bedanke  von  der  unendlichen 
Zahl  der  Prämissen  jedes  Schlusses,  welcher  die  positive 
Seite  der  beiden  ersten  Argumente  ausmacht,  widerspricht 
in  seiner  von  den  Skeptikern  geforderten  Allgemeinheit 
fimdamentalen  Ergebnissen  der  Erkenntniswissenschaft. 
Denn  es  gibt  Sätze,  die  einer  weiteren  Be- 
gründung durch  Schlüsse  weder  fähig  sind 
noch  bedürfen.  Es  sind  dies  vor  allem  diejenigen, 
deren  Geltung  aus  dem  Begrijff  ihres  Subjektes  folgt,  die 
analytischen  Aussagen.  Der  analytische  Obersatz  eines 
Schlusses  ist  niemals  die  Konklusion  eines  zweiten  Schlusses, 
so  gewiß  er  den  Grund  seiner  Geltung  in  sich  selbst  trägt.  — 
Eine  Reihe  wichtiger  Sätze,  die,  wie  wir  seit  Kant  sagen, 
auf  „reiner  Anschauung"  beruhen,  sind  weiterhin  durch 
Deduktion  ebenfalls  nicht  zu  begründen.  Es  gibt  schlechter- 
dings keinen  Obersatz,  aus  welchem  die  geometrischen  und 
chronometrischen  Axiome  hergeleitet  werden  könnten.  Der 
Satz  etwa  von  der  Einzigkeit,  der  Kontinuität  und  der  Un- 
endlichkeit des  Raumes  und  der  Zeit,  ist  aus  keiner  Prämisse 
einzusehen.    Daher  imterliegen  auch  Schlüsse,  deren  Ober- 


')  Vgl.  Richter  a.  a.  0.,  S.  236. 


Zum  Problem  der  philosophischen  Skepsis.  79 

Sätze  geometrische  oder  chronometrische  Axiome  enthalten, 
den  skeptischen  Einwänden  ebensowenig  wie  die,  welche  sich 
auf  analytische  Sätze  gründen.  —  Es  gibt  also  Sätze,  bei 
denen  wir  —  wenigstens  soweit  das  Verfahren  der  em- 
tachen  Deduktion  in  Frage  kommt  —  nicht  bloß  Halt 
machen  dürfen  und  können,  sondern  bei  denen  wir  Halt 
machen  müssen.  Die  skeptische  These  von  der  Un- 
möglichkeit solcher  Sätze  ist  daher  falsch,  d.  h.  weder  der 
erste,  noch  der  zweite  Einwand  der  Skeptiker  gegen  die 
Deduktion  gilt  in  der  von  ihnen  geforderten  Allgemeinheit. 
—  Bilden  m.  a.  W.  Sätze  der  genannten  Art  die  Obersätze 
von  Schlüssen,  welchen  methodologischen  Zwecken  immer 
diese  auch  dienen  mögen,  so  sind  solche  Schlüsse  den  Ein- 
wänden der  Skeptiker  gegenüber  als  brauchbare  Instnimente 
der  Erkenntnis  legitimiert.  —  Allein,  die  wenigsten  unserer 
Schlüsse  sind  solcher  Art  und,  sofern  sie  es  nicht  sind, 
seheinen  ja  die  Skeptiker  immerhin  recht  zu  behalten. 
Eine  genauere,  von  der  Besinnimg  auf  die  Bedürfnisse  der 
forschenden  Wissenschaft  geleitete  Überlegung  belehrt 
darüber,  daß  dem ^ dennoch  nicht  so  ist.  Im  Zusammen- 
hange des  wirklichen  Denkens  ist  es  in  den  wenigsten 
Fällen  unsere  Absicht,  einen  Satz  deduktiv  zu  begründen. 
Vielmehr  hat  der  Schluß  in  den  wichtigsten  Fällen  seiner 
wissenschaftlichen  Verwendung  den  Zweck,  die  Konsequenzen 
eines  für  wahr  angenommenen  Satzes  zu  entwickeln, 
nm  auf  diesem  Umwege  die  "Wahrheit  jenes  Satzes  selbst 
zu  prüfen  und  zu  erweisen.  D.  h.  wir  schließen:  An- 
genommen der  Satz  „Alle  A  sind  B"  sei  wahr,  was 
folgt  aus  ihm?  Und  nun  prüfen  wir,  gleichviel  wie  und 
unter  welchen  Gesichtspunkten,  den  Wahrheitswert  der 
Konsequenz,  um  implizite  die  Wahrheit  des  Obersatzes 
festzustellen.  Hier  ist  keine  Spur  jenes  regressus  in  in- 
finitum  zu  entdecken,  in  den  uns  der  Skeptiker  hinein- 
treiben will,  ebensowenig  wie  eine  Spur  jenes  willkürlichen 
Innehaltens  bei  einer  beUebigen  Prämisse,  vor  der  er  uns 
warnt.  Denn  hier  begründen  wir  im  Schlüsse 
nicht    sowohl   die   Konklusion   als   vielmehr  den 


80  ß.  Hönigswald: 

Obersatz.  Gerade  die  bedeutsamste  Form  also,  in 
welcher  die  forschende  Wissenschaft  sich  der  Deduktion 
bedient,  das  sogenannte  analytische  Verfahren,  ent- 
zieht sich  den  skeptischen  Einwänden,  deren  methodo- 
logische Bedeutung  damit  auf  ein  Minimum  herabsinkt. 
Das  Aufsuchen  der  Bedingungen  von  Angaben  unter  der 
Voraussetzung  ihrer  bereits  erfolgten  Lösung  und  die  tat- 
sächliche Lösung  der  betreffenden  Aufgaben  durch  das 
Auffinden  ihrer  Bedingungen  —  das  ist  die  moderne,  Mathe- 
matik, Naturforschung  und  vermittelst  der  transzendentalen 
Methode  selbst  den  Betrieb  der  Erkenntnis  lehre  be- 
herrschende Form  der  Deduktion.  Ihr  gegenüber  sind  .die 
Einwände  der  antiken  Skeptiker  machtlos. 

Der  methodologischen  Bedeutungslosigkeit  der   ersten 
beiden  Argumente  entspricht  auch  das  dritte.  —  Bewegen  wir 
uns  denn  in  unseren  wissenschaftlichen  Deduktionen  wirklich 
in  jenem   verhängnisvollen   Zirkel,    den  der  Skeptiker   in 
seinem  Tp6uo?  StoiXXrjXoc  kennzeichnet?  —  Eines   ist  hier  zu- 
nächst festzuhalten.     Die  Skeptiker  sowohl  wie  ihr  großer 
Gegner  Aristoteles  kennen   oder  berücksichtigen  doch  nur 
eine  Art  der  Deduktion,  nämlich  den  sogenannten  Sub- 
sumtionsschluß ,   den   Schluß  also,   dessen  Obersatz   eine 
allgemeine  These  bildet,  dessen  Untersatz  die  Subsumtion 
eines   speziellen  Falles  unter  diese   These   ausspricht  und 
dessen  Schlußsatz  die  Konsequenzen  dieser  Subsumtion 
entwickelt.    Nun  richtet   sich  ein   sehr  beträchtlicher  und 
bedeutsamer  Teil  unserer  wissenschaftlichen  Schlüsse  gar 
nicht    nach    diesem    aristotelischen    Schema.      Mit    großer 
Schärfe  verweist  hierauf  Riehl.    In  dem  zweifellos  richtigen 
Schlüsse  z.  B. :    „r  >•  s,  r  <  p,  folglich  p  >  s"    suchen 
wir  vergebens  Subsumtion  und  Diallele;  und  ebensowenig 
finden  wir  sie   etwa  in  der  Folgenmg  auf  die  Ähnlichkeit 
zweier  Dreiecke   aus  deren  Ähnlichkeit  mit  einem  Dritten, 
wobei  natürlich  der  Grandsatz,  gemäß  welchem  geschlossen 
worden  war,   mit  dem  Obersatze  des  Schlusses  nicht  ver- 
wechselt werden  darf. 

Aber  selbst  wenn  dem  Subsumtionsschluß   auch  weit 


Zum  Problem  der  philosophischen  Skepsis.  81 

geringere  Bedentung  zuztigestehen  wäre,  als  es  die  peripa- 
tetische  beziehungsweise  die  skeptische  Logik  zu  fordern 
scheint,  so  bilden  doch  immerhin  Subsumtionsschlüsse  einen 
betrachtlichen  Teil  unserer  wissenschaftHchen  Folgerungen. 
Die  Frage  kann  daher  nicht  umgangen  werden :  Treffen  die 
skeptischen  Einwände  wenigstens  ausnahmslos  alle  Sub- 
sumtionsschlüsse? Auch  diese  Frage  aber  ist  nicht 
ruckhaltslos  zu  bejahen.  Der  Vorwurf,  daß  wir  uns  mit 
jedem  Schluss  im  Kreise  bewegen,  daß  das  zu  Erschließende 
im  Grunde  genommen  stets  schon  als  Prämisse  fungierte,  kann 
nämlich  nur  dort  erhoben  werden,  wo  der  allgemeine  Ober- 
satz auf  vergleichender  Beobachtung  vieler  Fälle  beruht, 
genauer  wo  der  Schlußsatz  einen  derjenigen  Fälle  darstellt, 
welche  zur  Begründung  des  Obersatzes  tauglich  sind.  Die 
Sterblichkeit  des  Cajus  könnte  den  allgemeinen  Satz  von 
der  Sterblichkeit  der  Menschen  immerhin  begründen  helfen.  — 
Anders  ist  es,  wenn  der  Obersatz  der  eben  genannten  Be- 
dingung nicht  genügt.  Ist  der  Obersatz  z.  B.  ein  ana- 
lytisches Urteil,  so  gilt  der  skeptische  Einwand  nicht 
mehr.  Er  gilt  also  nicht  für  einen  methodologisch  äußerst 
wichtigen  Fall,  nämlich  den,  in  welchem  das  Ergebnis  einer 
wissenschaMichen  Überlegung  durch  die  Besinnung  auf  den 
Begriff  eines  Faktors  -  denn  eben  hierin  liegt  die  methodo- 
logische  Bedeutung  von  Schlüssen  mit  analytischen 'Ober- 
sätzen —  kontroUiert  und  korrigiert  werden  soll.  Allgemein 
gesprochen  gilt  er  für  alle  jene  Schlüsse  nicht,  deren  Ober- 
sätze eine  weitere  Begründung  durch  Deduktion  nicht  mehr 
gestatten  —  sofern  nämhch  diese  letzteren  sich  auch  auf 
Erfahrung  nicht  gründen  können.  An  der  Eigenart  dieser 
Schlüsse  scheiterten  schon,  wie  wir  zeigen  konnten,  die 
ersten  beiden  Argumente  der  Skeptiker.  Nun  erweist  sie 
sich  auch  als  dem  dritten  überlegen. 

Aber  selbst  dort,  wo  die  Obersätze  unserer  Sub- 
sumtionsschlüsse auf  Erfahrung  beruhen,  unterliegen  wir 
nicht  ausnahmslos  den  Fährlichkeiten  des  xpoicoc  810tX.X7jX.oc;  — 
dann  nämlich  nicht,  wenn  jene  Obersätze  allgemeiogültige 
Erßahrungssätze  sind,  d.  h.  Erfahrungssätze,  die  nicht  durch 

Viartalj&hrsschriftf.  wis8enaoh»ftl.Philo8.  n.  Soziol.  XXXII.  1.  6 


82  R-  Hönigswald: 

vergleichende  Beobachtung  vieler  Fälle,  sondern  durch  die 
Analyse  eines  einzigen  Falles  gewonnen  worden  waren.  Der 
Subsumtionsschluß  z.  B.  von  der  Geltung  des  GALiLEischeu 
Fallgesetzes  auf  die  Geschwindigkeit  eines  bestimmten  im 
luftleeren  Raum  herabfallenden  Körpers  unterliegt  dem 
skeptischen  Einwände  nicht,  ob  sc  hon  sein  Obersatz  auf  Er- 
fahrung beruht.  Denn  diese  Erfahrung  besteht  nicht  in 
einer  vergleichenden  Beobachtimg  vieler  Fälle.  Eine  Be- 
gründung des  Obersatzes  durch  die  Konklusion  und  damit 
die  Möglichkeit  einer  Diallele  ist  daher  hier  ausgeschlossen. 
So  blieben  denn  wirklich  nur  diejenigen  Fälle  dem 
dritten  Einwände  der  Skeptiker  ausgesetzt,  in  welchen  es 
sich  um  empirische  Subsumtionsschlüsse  im  engsten 
Sinne  handelt,  wo  also  der  Obersatz  wirklich  nichts  als  eine 
Zusammenfassung  aller  Fälle  einer  Erscheinung  darstellt^). 
Hier  ist  der  Skeptiker  mit  seinem  Einwände,  daß  wir  uns 
im  Zirkel  bewegen,  formell  sicherlich  im  Rechte.  Zu 
allen  Menschen,  von  welchen  im  Obersatze  Sterblich- 
keit behauptet  wird,  gehört  auch  Cajüs,  folglich  ist  die 
scheinbar  erschlossene  Sterblichkeit  des  Cajus  im  Grunde 
genommen  schon  vorausgesetzt  worden.  —  Allein,  auch  hier 
versagt,  sobald  man  nur  etwas  tiefer  dringt,  der  Scharfsinn 
des  Skeptikers.  Die  Wissenschaft  als  solche  bleibt  von  dem 
Formalismus  des  skeptisch-peripatetischen  Schulbeispiels  un- 
berührt. Nur  in  der  formalen  Logik  wird  die  Sterblichkeit  des 
Cajus  durch  dessen  Subsumtion  unter  die  Gruppe  „aller 
Menschen"  begründet.  In  der  forschenden  Wissenschaft 
hingegen  werden  empirische  Subsumtionsschlüsse  gar  nicht 
zu  dem  Zwecke  und  in  der  Absicht  gezogen,  um  zu  beweisen, 
daß  nun  auch  ein  Fall,  der  unter  dem  Subjektsbegriff  des 
Obersatzes  subsumierbar  ist,  die  Merkmale  dieses  letzteren 
besitzen  wird.  Die  Wissenschaft  vollzieht  empirische  Sub- 
sumtionsschlüsse vielmehr  in  ganz  anderer  Absicht.  Wenn 
der  Naturforscher  einen  Subsumtionsschluß  mit  empirisch 


MANN 


*)  Vgl.  LoTZE,  Logik.    Leipzig  1874.    S.  122  f.,  und  Bbnno  Eru- 
NN,  Lo^k,  Band  I,  2.  Aufl.    Halle  1907.    S.  729. 


Zum  Problem  der  philosopkischen  Skepsis.  83 

allgemeinein  Obersatz  macht,  so  ist  er  sicli  zugleich  der 
relativen  TJngenauigkeit  seines  Verhaltens  bewußt.  Wenn 
er  sagt:  „Alle"  Körper  einer  bestimmten  Art  verhalten  sich 
in  bestimmter  Weise,  so  weiß  er,  daß  er  hierzu,  genau  ge- 
nommen, kein  Recht  habe,  daß  er  also  immer  nur  von 
,allen  bisher  beobachteten"  Fällen  sprechen  dürfe.  Er  weiß 
m.  a.  W.,  daß  ihn  jede  neue  Erfahrung  widerlegen  kami. 
Und  gerade  um  zu  erfahren,  ob  sie  es  wirkHch  tut,  macht 
er  seinen  empirischen  Subsumtionsschluß.  Wenn  etwa  der 
Physiker  erklärt:  „Jeder  elektrisch  geladene  Körper  verliert 
unter  dem  Einfluß  von  Röntgenstrahlen  seine  elektrischen 
Eigenschaften",  nnd  nun  hinzufugt:  „Also  wird  auch  dieser 
elektrisch  geladene  Körper  A  seine  Elektrizität  unter  dem 
Einfluß  von  Röntgenstrahlen  verlieren,"  —  so  vollzieht  er 
diesen  Schluß,  um  den  elektrisch  geladenen  Körper,  dessen 
Begriff  dem  Subjekt  des  Obersatzes  subsumiert  worden  war, 
zu  untersuchen,  d.  h.  um  festzustellen,  ob  dessen  Ver- 
balten den  Bedingungen  der  These  des  Obersatzes  bzw.  der 
dieser  entsprechenden  „Erwartung"  des  Forschers  wirklich 
genügt  *).  Weil  und  sofern  also  der  Naturforscher  die  bloß 
bedingte  Allgemeinheit  seines  Obersatzes  von  vornherein 
zugesteht,  d.  h.  weil  er  weiß,  daß  das  Verhalten  des  Einzel- 
falles, von  dem  im  Schlußsatze  die  Rede  ist,  weder  aus  der 
Subsumtion  des  Untersatzes  unter  den  Obersatz  eingesehen 
werden,  noch  aber  diesen  letzteren  selbst  begründen  kann, 
so  unterüegfc  sein  Verfahren  auch  nicht  dem  Vorwurf  des 
Skeptikers,  es  bestehe  in  einer  Diallele. 

Zweierlei  also  ist  festzuhalten.  Die  skeptische  Kritik  der 
Deduktion  hat  bloß  empirische  Subsumtionsschlüsse  im  Auge, 
während  doch  die  Gruppe  der  letzteren  nur  einen  Teil  der 


')  Im   Zusammenhange  mit  dem  Problem  der  Begründung  von 

Sätzen  durch  den  Syllogismus  sj^reche  ich  hier  ausdrüälich  von  der 

Bolle  des  Subsumtionsschlusses  m  der  forschenden  Wissenschaft. 

£s  versteht  sich  von  selbst,  daß  Subsumtionsschlüsse  auch  die  wissen- 

achaftliche   Grundlage  des  Handelns  bilden  können,  so  z.  B.  in  der 

Medudn  oder  etwa  in  der  praktischen  Pädagogik.  —  Auch  ist  natürlich 

axd  die  Sedeatung  des  Subsumtionsschlusses  für  die  klassifizierende 

Definition  zu  achten.    . 

6* 


84  B.  Hönigswald: 

dedaküven  Schlüsse  überhaupt  umfaßt.  Dann  aber  sind 
selbst  empirische  Subsumtionsschlüsse,  auch  sofern  sie  den 
skeptischen  Einwänden  formell  unterliegen,  weit  eher  ein 
wertvolles  Instrument  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis 
denn  ein  Beweis  gegen  die  Möglichkeit  einer  solchen. 

3.  An  allen  Punkten  entzieht  sich  also  die  moderne  an 
den    konkreten    Au%aben    der    forschenden    Wissenschaft 
orientierte  Logik  den  bestechenden  Einwänden  der  antiken 
Skeptiker.  —  Genau  in  dem  Maße,  in  welchem  die  Wissen- 
schaftslehre sich  von  den  aristotelischen  Idealen  der  „voll- 
ständigen Induktion"   und  der  Begründung  singulärer  Aus- 
sagen im  empirischen  Subsumtionsschluß  befreit,  emanzipiert 
sie   sich   auch   von  den  Einwänden  der  rationalen  Skepsis. 
Der    GALiLEische    Wissenschaftsbegriff  .sowohl,     wie    jene 
bloß  empirisch-allgemeinen   Sätze,   deren   erkenntnistheore- 
tische Eigenart  der  Begriff  der  HuMCschen  Erfahrung  definiert, 
halten  den  skeptischen  Argumenten  in  gleicher  Weise  stand. 
Die   Induktion   im  wissenschaftlichen   Sinn   des   Wortes 
erreichen    die   Angriffe    der   rationalen  Skepsis   überhaupt 
nicht.    Die  Deduktion  aber  erweist  sich  den  skeptischen 
Einwänden  unzugänglich,    schon  deshalb,   weil   diese    der 
methodologischen  Bedeutung  der  Deduktion  im  allgemeinen, 
vor  allem  aber  ihrer  BoUe  im  Rahmen  des  analytischen  wie 
des  empirischen  Verfahrens  nieht  gerecht  wird. 

Die  rationale  Skepsis  der  Pyrrhoniker  entspricht  bloß 
der  antiken  Logik,  genauer  jener  streng  formalistischen 
Auslegung  der  antiken  Logik,  die  man  lange  Zeit  ftir  das 
Wesen  dieser  philosophischen  Disziplin  überhaupt  hielt. 
Nur  den  Formalismus  der  antiken  Logik  bezwingt  daher 
der  Scharfsinn  der  Skeptiker.  Den  neuen  Formen  des  Ver- 
fahrens, das  die  neue  Wissenschaft  sich  schuf  und  auch  den 
alten  Formen,  sofern  sie  durch  einen  neuen  Inhalt  neue 
Bedeutung  erlangen,  ist  die  antike  Skepsis  —  wir  wieder- 
holen es  —  nicht  gewachsen. 

Die  methodologische  Berechtigung  des  Zweifels  über- 
haupt bleibt  durch  solche  Erwägungen  freilich  unangetastet. 
Gerade  eine  an  der  Wissenschaft  orientierte  Logik  muß  an 


Zum  Problem  der  philosophischen  Skepsis.  85 

dem  Z'weifel,  als  an  einem  Lebenselement  aller  wissenschaft- 
lichen Forschung  festhalten.  Wenn  J.  St.  Mill  in  einem 
seiner  politisclien  Essays  den  bekannten  Ausspruch  tut, 
«der  -wahre  Forscher  zeige  sich  in  nichts  so  deutlich  wie 
in  den  Fragen,  die  er  stellt",  so  dürfen  wir  erklären:  In 
nichts  zei^  sich  der  wahre  Forscher  so  deutlich  wie  in  der 
Auffindung  des  Punktes,  an  welchem  er  mit  seinem  be- 
gründeten Zweifel  als  der  sichersten  Gewähr  des  Fort- 
schrittes einsetzen  kann.  Denn  Fragen  stellen  heißt  in  der 
Wissenschaft  aus  Gründen  zweifeln,  aus  den  Gründen  des 
Zweifels  die  Bedingungen  einer  Lösung  von  Aufgaben  ent- 
wickeln. Aus  Gründen  zweifeln  aber  heißt  die  Methoden 
und  den  Begriff  der  "Wissenschaft  prinzipiell  voraussetzen. 
So  gewiß  also  die  Wissenschaft  nur  im  grellen  Lichte  des 
Zweifels  gedeiht,  so  gewiß  muß  sie  sich  auch  der  Grenzen  des 
möglichen  Zweifels  bewußt  werden.  —  Daß  die  methodischen 
Grandsätze,  aufweichen  unsere  Wissenschaft  beruht,  jenseits 
dieser  Grenze  liegen,  ist  hier  —  wenn  auch  nur  mittelbar  — 
zu  zeigen  versucht  worden :  es  kann  gezweifelt  werden,  ob 
in  einem  bestimmten  Fall  die  Bedingungen  ihrer  Ver- 
wendung erfüllt  sind,  aber  es  kann  nicht  gezweifelt  werden 
an  dem  Erkenntniswert  jener  Ghiindsätze  selbst. 

m. 

Wir  wenden  uns  nun  zu  den  im  engeren  Sinne  er- 
kenntnistheoretischen Problemen,  die  vor  allem  in 
der  „sensualen  Skepsis"  der  Pyrrhoniker  diskutiert  worden 
waren.  Diese  umfaßt  jenes  berühmte  System  von  Argumenten, 
welches  der  Pyrrhonismus  unter  dem  Namen  der  skeptischen 
Tropen  des  Änesidemos  zur  Widerlegung  des  Erkenntnis- 
wertes  der  Wahrnehmungen,  genauer  zum  Beweise  der  Un- 
erkennbarkeit  von  Dingen  an  sich  selbst  durch  Wahr- 
nehmungen, bereit  hielt.  Das  logische  Symbol  für  die 
absolute  Unzulänglichkeit  unserer  sinnlichen  Mittel  zur  Er- 
kenntnis der  Dinge  an  sich  selbst  ist  für  die  sensuale  Skepsis 
das  sogenannte  Prinzip  der  Isosthenie:  Weil  wir  die  Be- 
schaffenheit   von    Dingen,    unabhängig  von    deren   Wahr- 


86  B.  Hönigswald: 

genommenwerden  niemals  zu  erkennen  vermögen  ,  sind 
selbst  einander  entgegengesetzte  Aussagen  über  Dinge 
an  sich  möglich  und  von  gleichem,  daher  gleich  negativem, 
Erkenntniswert.  Einen  Turm  an  sich  nenne  ich  z.  B.  mit 
eben  demselben  Rechte  eckig,  mit  dem  ich  ihn  als  rund 
bezeichnen  kann,  denn  er  erscheint  mir  das  eine  Mal  (aus 
der  Nähe  besehen)  eckig,  das  andere  Mal  (aus  der  Ferne 
betrachtet)  rund.  Die  Unmöglichkeit  einer  Erkenntnis  des 
Turmes  an  sich  zeitigt  den  unmöglichen  Erkenntnis- 
zustand, ihn  durch  einander  entgegengesetzte  und  wider- 
sprechende Merkmale  mit  dem  gleichen  Anspruch  auf  An- 
erkennung zu  kennzeichnen.  Das  Isosthenieprinzip ,  also 
der  Grundsatz  von  der  öleichkräftigkeit  entgegengesetzter 
Aussagen  über  Dinge  an  sich  ist  der  Ausdruck  der  Einsicht, 
daß  die  sinnliche  "Wahrnehmung  immer  nur  ein  vermeint- 
liches Mittel  der  Erkenntnis  sei,  daß  sie  also  niemals  wahre 
Erkenntnis  liefern  könne,  d.  h.  eine  solche,  deren  Geltung 
von  den  Zuständen  des  Erkennenden  bzw.  den  Umständen 
der  Erkenntnis,  gleichwie  das  Dasein  und  die  Beschaffen- 
heit von  Dingen  an  sich  selbst,  unabhängig  ist. 

.  Zwei  erkenntnistheoretisch  bedeutsame  Voraussetzungen 
macht  hier  implizite  der  Skeptiker:  die  Einzigkeit  der 
WaJu'heit  und  die  reale  Existenz  unerkennbarer  Dinge.  Als 
dritte  kommt  zu  diesen  beiden  hinzu  die  Voraussetzung, 
daß  die  einzige  Wahrheit  an  die  real  existierenden,  ihrer 
Beschaffenheit  nach  jedoch  unerkennbaren  Dinge,  gleichviel 
wie,  gebunden  und  eben  deshalb  unerreichbar  sei.  Diese 
drei  Gesichtspunkte  bestimmen  die  erkenntnistheoretische 
Eigenart  der  antiken  Skepsis:  ihre  Tropen  entwickeln  die 
Gründe  für  die  Unerreichbarkeit  der  ihrer  Natur  nach 
einzigen  Wahrheit  von  den  real  existierenden  Dingen.  —  Es 
ist  wichtig,  diesen  Gesichtspunkt  mit  allem  Nachdruck  zu 
betonen.  Denn  nichts  ist  häufiger  als  die  Verwechslung 
der  Skepsis  mit  einer  Lehre  von  dem  bloß  relativen 
Wert  aller  Wahrheit.  Eine  solche  Lehre  widerspricht  aber  ge- 
radezu den  Anschauungen  der  Skeptiker.  Was  das  skeptische 
Isosthenieprinzip  meint,  ist  nämlich  nicht  dies :  eine  jede  der 


Zum  Problem  der  philosophischen  Skepsis.  87 

entgegengesetzten  Aussagen  sei  gleich  wahr.  Das  Isothenie- 
prinzip  behauptet  viehnehr  nur:  Wir  wissen  nicht,  welche 
rler  Aussagen,  ja  ob  überhaupt  eine  von  ihnen  wahr  sei.  — 
Niemals  also  ist  dieses  Prinzip  ein  Ausdruck  des  Zweifels 
daran,  daß  es  nur  eine  Wahrheit  gebe.  Vielmehr  enthält  es 
eine  entschiedene  Abweisung  selbst  der  Möglichkeit  eines 
solchen  Zweifels.  Ein  Turm  erscheint  uns  —  um  auf  das 
Beispiel  noch  einmal  zurückzukommen  —  je  nach  seiner 
Entfernung  von  uns  rund  oder  eckig.  Ist  er  nun  an  sich, 
also  unabhängig  von  den  Umständen  seiner  Beobachtung, 
rund  oder  ist  er  eckig  oder  ist  er  weder  rund  noch 
eckig  —  so  fragt  der  Skeptiker.  In  diesem  „oder"  ver- 
körpert sich  sein  Bewußtsein  von  der  Einzigkeit  der  Wahr- 
heit. Ja,  dieses  Bewußtsein  fahrt  ihn  ja  überhaupt  erst  zu 
seinem  Problem!  Und  wenn  man  sagen  darf:  die  sensuale 
Skepsis  finde  ihren  markanten  Ausdruck  imisosthenieprinzip, 
so  darf  man  mit  dem  gleichen  Rechte  behaupten,  sie  finde 
ihren  Ausdruck  in  dem  Bewußtsein  der  Unzulänglichkeit 
der  Sinne  für  die  Erkenntnis  der  in  ihrer  Art  immer  nur 
einzigen  und  absoluten  Wahrheit  über  die  Dinge.  Gerade 
weil  die  Relation  der  Dinge  an  sich  zum  Erkennenden  nicht 
ausgeschaltet  werden  kann,  gilt  den  Skeptikern  die  ihnen 
von  den  Dingen  an  sich  untrennbar  erscheinende  Wahrheit 
als  schlechthin  unerreichbar.  Die  Begriffe  von  Wahrheit 
und  Relativität  vertragen  sich  also  auch  für  den  Skeptiker 
nicht,  und  nur  weil  die  Skepsis  in  ihren  Tropen  immer  bloß 
die  Bedingungen  der  Relativität  aller  sonsualen,  d.  h.  die 
Voraussetzungen  für  die  Unerreichbarkeit  aller  wahren  Er- 
kenntnis entwickelt ,  ist  sie  in  den  Verruf  gekommen,  die 
Einzigkeit  und  den  absoluten  Charakter  der  Wahrheit  ge- 
leugnet zu  haben ;  —  während  sie  doch  nur  die  Zugänglich- 
keit der  Wahrheit  geleugnet,  ja  deren  Unerreichbarkeit 
vielfach  resigniert  beklagt  hatte. 

Man    kann  den   Begriff  der  Wahrheit   den  Relationen 

des  Daseins   kaum  mehr  entrücken,   als   es   die   Skeptiker 

getan    haben.     Sie  verwechseln  sie  nicht  mit  der  Meinung 

der  Majorität    und   die   Übereinstimmung    aller    gilt   ihnen 


88  R-  Hönigswald: 

niemals  als  das  Kriterium  der  Wahrheit,  schon  deshalb 
nicht,  weil  jene  Übereinstimmung  für  sie  in  der  Organisation 
unserer  perzipierenden  Organe  wurzelt,  welchen  die  Wahr- 
heit von  den  Dingen  an  sich  schlechterdings  verschlossen 
bleibt.  Majoritäten  und  Minoritäten,  die  BegriflFe  der  Norm, 
des  Durchschnittes  und  der  Abnormität,  die  Begriffe  der 
Gesundheit  und  der  Krankheit  haben  für  die  antiken  Skeptiker 
keine  Beziehung  zur  Wahrheit.  „Denn"  —  so  sagen  sie 
wörtlich  —  „wie  die  Gesunden  einerseits  gemäß  der  Natur 
sich  verhalten,  nämlich  der  der  Gesunden,  anderseits  gegen 
die  Natur,  nämlich  die  der  Kranken,  ebenso  verhalten  sich 
auch  die  Kranken  einerseits  wider  die  Natur  der  Gesunden, 
anderseits  gemäß  der  Natur  der  Kranken*)."  Ist  also  die 
Meinung  der  Gesunden  „Wahrheit",  so  ist  es  auch  die  der 
Kranken,  d.  h.  wir  erreichen  auf  allen  Gebieten  nur 
isosthenische  Sätze ,  und  nirgends  erheben  wir  uns  zu  der 
alle  Isosthenie  ihrer  Natur  nach  ausschließenden  absolut 
eindeutigen  Erkenntnis ,  denn  niemals  erlangen  wir  —  das 
ist  ja  das  spezifische  Motiv  der  sensualen  Skepsis  —  eine 
Erkenntnis  von  den  Dingen  an  sich  selbst.  —  Nun  galt  den 
antiken  Zweiflern  diese  Unerkennbarkeit  —  wenn  man  den 
Ausdruck  gestatten  will  —  als  eine  Funktion  unserer  psycho- 
physiologischen Organisation.  Sie  galt  ümen  als  Funktion 
insbesondere  desjenigen  Verhaltens  unserer  Sinnesorgane, 
das  wir  seit  Johannes  Müller  als  die  Spezifizität  ihrer 
Energien  zu  bezeichnen  pflegen.  —  Damit  aber  ist  ein  enger  Zu- 
sammenhang zwischen  der  antiken  Skepsis  und  den  von 
der  MüLLERschen  Lehre  beeinflußten  Formen  der  Erkenntnis- 
theorie gegeben.  In  der  Tat  ist  Schopenhauer,  der  jene 
Lehre  in  seinem  groß  angelegten  philosophischen  System 
verarbeitet  hatte,  ein  Vertreter  der  sensualen  Skepsis.  Weil 
die  Welt  „meine  Vorstellung"  ist,  ist  sie  an  sich  unerkennbar. 
Nicht  um  eine  Auffindung  der  formalen  Bedingungen  der  Er- 
kenntnis von  Dingen  war  es  also  Schopenhauer  und  seinen 
antiken  Vorläufern  zu  tun,  sondern  stets  darum,  Anhalts- 
punkte für  die  Behauptung  der  Unerkennbarkeit  der  Dinge 

*)  Vgl.  RicHTEK  a.  a.  0. 


Zum  Problem  der  philosophischen  Skepsis.  S9 

zu  gewinnen.  Die  Wissenschaft  gilt  der  Skepsis  —  und  ganz 
besonders  der  Schopenhauers  —  nicht  als  das  vomehmlichste 
Objekt  nnd  Problem  der  philosophischen  Forschung ;  vielmehr 
bereitet  sie  ihr,  durch,  ihr  Dasein  allein  schon,  eine  Art  von 
Verlegenheit.  Man  mußte  die  Wissenschaft  ignorieren,  um 
einer  von  der  Philosophie  der  Wissenschaft  unabhängigen 
Erkenntnislehre  habhaft  zu  werden.  An  die  Stelle  des 
XEWTONschen  Gravitationsgesetzes  trat  denn  auch  für  Schopen- 
hauer eine  romantische  „Sehnsucht  der  Körper  nach  Ver- 
einigung". 

Der  Gegensatz  zwischen  der  Skepsis  und  der  kritischen 
Erkenntnistheorie  als  Wissenschaftslehre  kann  nicht  groß 
genug  gedacht  werden,  —  Gewiß,  wir  sind  unweigerlich  in 
den  Elreis  unserer  sinnlichen  Vorstellungen  gebannt.  Aber 
wir  beziehen  diese,  Bedingungen  gemäß,  die  in  den  sinn- 
lichen Vorstellungen  selbst  liegen,  auf  einen  außerhalb  ihrer 
stehenden  und  sie  in  allgemeingültiger  Weise  bestinunenden 
Faktor.  Wir  verknüpfen  die  sinnlichen  Vorstellungen  nach 
formalen  Regeln,  deren  Geltung  von  dem  Dafürhalten  des 
Einzelnen  unabhängig  ist,  im  Begriff  des  Gegenstandes  der 
Erfahrung,  und  wir  definieren  zugleich  den  Begriff  einer 
Erkenntnis  von  Dingen  durch  jene  Regel.  —  Erkenntnis 
also  ist  nicht  unmögUch,  weil  uns  die  Dinge  nur  in  Vor- 
stellungen gegeben  sind,  sondern  sie  ist  nur  möglich,  weil 
wir  von  Dingen  gemäß  unserer  Organisation  Vorstellungen 
empfangen.  Denn  Vorstellungen  allein  sind  nach  jener 
Regel,  die  zugleich  das  Gesetz  aller  besonderen  Gesetze 
der  Natur  darstellt,  verknüpf  bar.  —  Wir  erkennen  die 
Dinge  in  den  Gesetzen  ihrer  Erscheinungen. 

Unter  erkenntnistheoretischen  Gesichtspunkten  be- 
trachtet liegt  die  Schwäche  der  Skepsis,  der  antiken  pyr- 
rhonischen  wie  der  modernen  ScHOPENHAUERschen ,  schon  in 
den  Voraussetzungen  ihrer  Fragestellung,  in  der  Be- 
schränkung ihres  Erkenntniszieles  auf  die  Beschaffenheit  der 
Dinge  an  sich  selbst.  Die  Skepsis  verkennt  das  schlechthin 
nnd  grundsätzlich  Utopische  dieses  Erkenntniszieles  — 
anch  wenn  sie  dessen  tatsächliche  Unerreichbarkeit  in  den 


90  R-  Hönigswald: 

Mittelpunkt  ihres  Räsoimements  rückt.  Nur,  weil  für  sie 
die  Dinge,  als  Gegenstände  der  Erkenntnis,  nicht  durch  die 
Fonnalgesetze  ihrer  Erscheinungen  definiert  waren,  konnte 
sie  auf  den  sich  selbst  widersprechenden  Gedanken  ver- 
fallen, die  Dinge,  wie  sie  unabhängig  von  jenen  Gesetzen 
sein  mögen,  erkennen,  d.  h.  bestimmen  zu  wollen,  wie  sich 
ein  Faktor  unabhängig  von  den  Bedingungen  seiner  Möglich- 
keit wohl  ausnehmen  möchte ;  ja  in  dieser  unmöglichen  Be- 
ziehung geradezu  das  Ideal  aller  Erkenntnis  zu  erblicken. 
Die  Skepsis  hat  den  Schritt  vom  Phänomenalismus  zum 
Kritizismus  nicht  getan.  Sie  ist  bei  der  These  stehen  ge- 
blieben, daß  uns  die  Dinge  nur  in  ihren  sinnlichen  Er- 
scheinungen gegeben  seien.  Sie  hat  aber  aus  dieser  an  sich 
richtigen  Einsicht,  weil  ihre  Blicke  stets  auf  das  Erforschen 
der  Dinge  an  sich  und  nicht  auf  die  Bestimmung  ihres 
Anteils  an  der  objektiven  Erkenntnis  gerichtet  blieben  — 
eine  negative  Philosophie,  eine  theoretische  Entsagungs- 
philosophie gemacht.  Der  Skepsis  fehlt  es  —  und  zwar  in 
allen  ihren  Formen  —  an  den  Voraussetzungen  für  das  Ver- 
ständnis der  grundsätzlichen  Frage  des  Kritizismus  nach 
dem  Begriff  oder,  was  dasselbe  ist,  nach  den  Grenzen 
der  Erkenntnis.  Sie .  sieht  immer  nur  deren  Schranken,  um 
in  sehnsüchtiger  Resignation  in  das  jenseits  dieser  Schranken 
gelegene  Gebiet  der  Dinge  an  sich,  das  sie  für  das  Gebiet 
der  wahren  Erkenntnis  hält,  hinüberzublicken. 

Im  Gegensatze  zur  Skepsis  nun  definiert  die  kritische 
Philosophie  den  Begriff  und  die  formalen  Grenzen  einer 
möglichen  Erkenntnis  von  Dingen,  genauer  sie  begreift  die 
formalen  Grenzen  der  Erkenntnis  aus  deren  Begriff.  Daher 
begreift  sie  auch  das  Utopische  eines  Erkenntnisstrebens, 
das  diesem' Begriff  nicht  entspricht.  Der  philosophische 
Kritizismus  ist  nicht  wie  die  Skepsis  Entsagungsphilosophie, 
im  theoretischen  Sinne  so  wenig  wie  im  praktischen.  Denn 
er  ist  die  Wissenschaft  von  den  formalen  Voraussetzungen, 
unter  welchen  eine  Erkenntnis  von  Erscheinungen  der  Dinge 
stehen  muß,  die  Wissenschaft  von  den  Voraussetzungen  der 
Wahrheit  über  die  Erscheinungen  der  Dinge.  —  Damit  aber 


Zum  Problem  der  philosophischen  Skepsis.  91 

ist  ein  weiterer  Punkt  bezeichnet,  den  die  Erkenntnislehre 
der  Skepsis  übersieht:  sie  verkannte,  daß  die  beiden  Grund- 
Sätze  aller  gegenständlichen  Erkenntnis,  die  Einzigkeit  und 
Absolutheit  der  "Wahrheit  und  das  Beschränktsein  unserer 
Kenntnis  von  den  Dingen  auf  deren  Erscheinungen  ein- 
ander nicht  widersprechen,  kurz  sie  ermangelt  des  kritischen 
Begriffes  vom  Naturgesetz. 

Dabei  blieb  die  antike  Skepsis  in  ihrem  Agnostizismus 
wenigstens  konsequent;  Schopenhauer  glaubte  in  seiner 
Willenslehre  auch  diesen  überwunden  zu  haben.  In  Wahr- 
heit fireilich  ist  die  Vemunftwidrigkeit  jenes  „Willens",  der  das 
Wesen  der  Welt  sein  soll,  nur  der  metaphysisch  hypostasierte 
Agnostizismus  des  Skeptikers,  das  Seitenstück  fiir  sein  Ver- 
zweifeln an  der  Erkennbarkeit  der  Dinge  an  sich  selbst.  — 
Schopenhauer  ist  eben  nicht,  wofür  er  innner  noch  gehalten 
zu  werden  pflegt,  weil  er  sich  [selbst  dafür  erklärt,  ein 
Weiterbildner  der  KANTschen  Philosophie  und  der  Vollender 
des  Kritizismus.  Er  ist  ein  Weiterbüdner  der  skeptischen 
Philosophie  in  der  Richtung  der  Romantik,  d.  h.  er  steht 
an  theoretischer  Konsequenz  genau  so  weit  selbst  hinter  der 
Skepsis  zurück,  als  er  in  seiner  Willenslehre  über  sie 
hinausging. 

Skepsis  und  philosophischer  Kritizismus  konunen  also 
überein  in  der  These  von  der  Unerkennbarkeit  real 
existierender  Dinge  an  sich  selbst.  Sie  kommen  überein  in 
der  These,  daß  uns  die  Dinge  nur  in  ihren  Erscheinungen 
gegeben  sind.  Sie  kommen  schließlich  überein  auch  in  der 
These  von  der  Einzigkeit  und  Absolutheit  der  Wahrheit. 
Aber  ihre  Wege  trennen  sich  bei  der  Bestinmiung  des  Be- 
griffes der  Erkenntnis.  Erkenntnis  bedeutet  für  den  Skep- 
tiker einen  unerreichbaren  Idealzustand,  weil  sie  ftir  ihn 
an  die  schlechthin  unerreichbaren  Dinge  an  sich  gebunden 
ist.  Dies  aber  ist  sie,  weil  der  Skeptiker  die  absolute  Natur 
der  Wahrheit  nur  in  deren  Beziehung  auf  eine  den  Re- 
lationen des  Erkennens  entrückte  Existenz,  eben  das  Ding  an 
sieb,  verbürgt  sieht.  Für  den  kritischen  Philosophen  ist 
der   Begriff  der   Erkenntnis,    gerade   im  Hinblick  auf  die 


92  ß-  Hönigswald: 

positiven  Beziehungen  des  letzteren  zur  absoluten  Wahrheit, 
von  dem  der-  Erfahrung  nicht  zu  trennen,  so  gewiß  das 
Wesen  seiner  Position  die  Bejahung  der  Frage  bildet,  ob 
Erfahrung  Erkenntnis  sei.  Erfahrung  ist  Erkenntnis,  weil 
die  Voraussetzungen,  unter  welchen  der  Betrieb  der  Er- 
fahrung und  die  BegriflFe  ihrer  Gegenstände  stehen  müssen, 
die  Formen  der  orkenntnismäßigen  Verknüpfung  von  Vor- 
stellungen im  Urteil,  d.  h.  Kategorien,  sind.  In  der  kritischen 
Philosophie  sind  also  die  Begriffe  einer  strengen,  unter  der 
Voraussetzung  der  absoluten  Wahrheit  stehenden  Erkenntnis 
von  Dingen  und  des  Dinges  an  sich  selbst  getrennt  und 
damit  die  eigenartige  agnostische  Erkenntnismetaphysik  der 
Skeptiker  überwimden.  „Nur  in  der  Erfahrung  ist  Wahrheit," 
weil  Erfahrung  bis  in  ihre  letzten  Elemente  Verknüpfung 
von  Erscheinungen  der  Dinge  durch  Formen  der  Erkenntnis 
ist.  —  Die  Gegenüberstellung  von  Skepsis  und  Kritizismus 
enthält  zugleich  eine  Kritik  der  Fragestellung  jener.  Nicht 
wie  der  Turm,  der  je  nach  seiner  Entfernung  vom  Beschauer 
einmal  eckig  und  einmal  nmd  erscheint,  an  sich  beschaffen 
ist  —  ob  rund  oder  eckig  oder  keines  von  beiden,  ist  der 
Skepsis  gegenüber  das  Problem  der  positiven  und  der  Er- 
kenntniswissenschaft;  sondern  dieses:  welche  empirischen 
Gesetze  bestimmen  unsere  auf  die  Gestalt  von  Gegen- 
ständen bezüglichen  Urteile  und  welchen  formalen  Be- 
dingungen müssen  die  uns  gegebenen  Elemente  der  Er- 
fahrung genügen,  um  überhaupt  als  Bestimmungen  von 
Gegenständen  betrachtet  zu  werden.  Nur  scheinbar  ist  die 
Skepsis  bei  der  Betonung  der  subjektiven  Bedingtheit  aller 
tatsächlichen  Erkenntnis  der  Vorläufer  des  philosophischen 
Kritizismus.  In  Wahrheit  ist  sie  gerade  hier  sein  ent- 
schiedenster Gegner.  Denn  gerade  das  Ergebnis  der  Skepsis 
war  im  Kritizismus  zu  überwinden:  wie  Erkenntnis  von 
Dingen  ungeachtet  der  subjektiven  Bedingtheit  ihrer  Ent^ 
stehimg  objektive  Geltung  haben  könne,  ist  sein  Problem. 
Und  er  löst  es,  indem  er  den  Begriff  des  Subjektes  über 
den  des  psychologischen  und  empirischen  hinaus  erweitert. 
Er  entdeckt  im  „transzendentalen"  Subjekt  die  formale  Be- 


Zum  Problem  der  philosophifichen  Skepsis.  93 

dingang  für  die  objektive  Geltung  derjenigen  Erfahnmgs- 
elemente,  deren  Entstehnngsbedingungen  der  Skepsis  falsch- 
lich als  die  Kriterien  der  Relativität  aller  Erkenntnis  von 
Dingen  gedient  hatten.  Der  Skeptiker  kennt  nur  das  Ver- 
hältnis der  Dinge  zum  empirischen  Subjekt,  d.  h.  er  besitzt 
kein  Mittel  zur  Trennung  der  Begriflfe  des  Scheins  und  der 
Erscheinung,  wie  wir  im  Gegensatz  zum  Scheine  das  Ver- 
hältnis zwischen  den  Dingen  und  jenem  System  formaler 
Einheitsbedingungen  zu  nennen  haben,  die  man  seit  Kant 
als  das  transzendentale  Subjekt  bezeichnet.  —  Die  Skepsis 
ist  ein  Vorläufer  des  philosophischen  Kritizismus  nur  dort, 
wo  sie ,  gleichviel  aus  welchen  Motiven ,  den  Begriff  einer 
unverbrüchlichen  Gesetzmäßigkeit,  einer  objektiven  Ordnung 
der  Natur  konzipiert.  —  Solche  Gedanken  —  ich  erinnere 
an  die  der  subjektivistischen  Auffassung  gegenüber  geltend 
gemachte  Vorstellung  eines  naturgemäßen  Verhaltens  der 
Dinge  (irpic  ttjv  oücjiv)  —  regen  sich,  vielleicht  als  Reminiszenz 
an  die  berühmte  sophistische  Unterscheidung  ^öaei-ftlcret  schon 
ärühzeitig.  —  Mit  voller  Deutlichkeit  jedoch  melden  sie  sich 
erst  zur  Zeit  des  Wiederauflebens  der  Skepsis  in  der 
Renaissance  unter  dem  Einfluß  jener  merkwürdigen  Kom- 
bination von  Glauben  und  Zweifel,  welche  die  Ablehnung 
jeder  plumpen  Zweckmäßigkeitslehre  nach  sich  zog.  Auf 
dem  Umwege  über  seine  „gläubige  Skepsis"  bestimmt  z.  B. 
MoHTAiGNE  die  Natur  als  das  von  aller  menschlichen  Zweck- 
mäßigkeit freie  Dasein  der  Dinge.  Das  tiefe  Gefühl  der 
Beschränktheit  des  menschlichen  Geistes  läßt  es  ihm  als  den 
Gripfel  der  Vermessenheit  erscheinen,  daß  der  Mensch,  „dieses 
elende  und  ärmliche  Geschöpf",  der  Mittelpunkt  der  Welt 
za  sein  glaubt.  In  skeptischer  Selbstbeschränkung  hin- 
sichtlich der  Frage  des  im  Universum  sich  verwirklichenden 
Zweckes  lehrt  der  Philosoph  das  Dasein  der  Dioge  nach 
Gesetzen,  den  Begriff  einer  allgemeinen,  vom  Wohl  und 
Wehe  des  Menschen  unabhängigen  Gesetzlichkeit  der 
Natur.  —  Diesen  dann  durch  den  methodischen  Begriff  der 
Erscbeianng  definiert  zu  haben,  war  die  theoretische 
Leistang  d^^  philosophischen  Kritizismus. 


04  B.  Hönigswald. 

Der  philosophische  Kritizismus  überwindet  die  er- 
kenntnistheoretische  Skepsis,  weil  er  deren  Probleme  be- 
seitigt; er  überwindet  sie,  weil  das  Problem  der  Skepsis 
kein  anderes  ist  wie  das  Problem  einer  Erkenntnis  des 
Dinges  an  sich  selbst. 

Wir  fassen  zusammen.  Der  Zweifel  ist  ein  Objekt  der 
wissenschaftlichen  Philosophie  nur  als  ein  methodisch  und 
zielbewußt  zu  handhabendes  Instrument  der  positiven 
Forschung.  D.  h.  es  gibt  einen  Zweifel  nur  im  Rahmen, 
nicht  aber  an  dem  Begriff  der  Wissenschaft,  so  gewiß  dieser 
zu  den  Voraussetzungen  jedes  methodisch  betätigten  Zweifels 
gehört.  Es  gibt  ein  methodologisches  Problem  des  Zweifels, 
aber  unabhängig  von  den  G-esichtspunkten  der  „rationalen" 
Skepsis.  Die  Skepsis  als  erkenntnistheoretische  Lehrmeinung 
im  engeren  Sinne  aber  ist  orientiert  an  dem  metaphysischen 
Problem  einer  Erkenntnis  des  Dinges  an  sich  selbst.  Wie 
jeder  Dogmatismus,  so  steht  daher  auch  sie  außerhalb  der 
Grenzen  einer  Philosophie  als  Wissenschaft. 


Zv  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerschelnongen. 

Von  Dr.  Rlcliard  Mflller-Freienfels,  Berlin. 

Inhalt. 

Einleitung.  1.  Knnnt  als  Spiel  o<ier  als  Aasdruck.  2.  Die  ftsthetischen 
EIoiientaTfonnen  und  das  ökonomieprinzip.  a.  Die  dynamische  Oefflhlstheorie. 
4  Zur  Methode  der  Untersnohnnff. 

I.  Rhythmus.  1.  Motorisoner  und  sensori scher  Rhythmus.  2.  Krafterspamis 
behn  motorischen  Rhythmus.  8.  Automatisierung^.  4.  Bflchers  Theorie  vom 
Ursprunff  des  Lieds  und  der  Musik.  5.  Rhythmus  in  Musik  und  Arbeit,  beide 
boruheod  auf  Ojjconomischen  Prinzipien.  6.  Krafterspamis  und  Kraft- 
vergeudung. 7.  Altere  Theorien  Aber  den  Rhythmus.  8.  Der  sensorische 
Rhythmus.  9.  Die  intellektualistische  Erklärung.  10.  Bedenken  dagegen. 
11.  Automatisierung  der  sensorischen  Tätigkeit.  12.  Die  Intensität.  IS.  Die 
zeitliehen  Kigensohnften  ( Mach) .  14.  Spannung  und  Losung.  15.  Die 
sekundären  motorischen  Wirkungen  und  ihre  Bedeutung.  16.  Beeinflussung 
der  Atmung  und  des  Blutkreislaufs.  17.  Die  Rausch  Wirkung  des  Rhythmus. 
18.  Assoziative  Elemente  beim  Rhythmus.  19.  Rhythmussteigemde  Er- 
scheinungen. 

II.  Konsonanzersoheinungen.    1.  Die  primitive  Musik.     2.  Geräusch   und 
Klang.   8.  Konsonanz  bei  primitiven  Völkern.    4.  Entwicklung  des  Harmonie- 

Sefflhls.  5.  Die  Melodie  und  ihre  Ökonomische  Bedeutung.  Ü.  Die  Ausbildung 
es  HarmoniegefÜhls  bedingt  durch  die  zur  Verwendung  gelangenden  In- 
strumente. 7.  Die  Theorie  der  Verschmelzung.  8.  Konsonanz  und  Lust- 
gefahL  9.  Konsonanz  und  ökonomieprinzip.  10.  Konsonanz  aufeinander- 
folgender Tone.  Zusammenfassung.  11.  I4pps  und  seine  Erklärung  der 
Konsonanz  durch  unbewuAte  Rhythmen.  12.  Der  Oeftthlswert  der  Melodie. 
III.  Die  Elementarformen  der  bildenden  Kunst.  1.  NaturschOnheit  und 
KunstsohOnheit.  2.  Theorien  Aber  den  Ursprung  der  Kunst.  8.  Zwei  Theorien 
aber  die  Herkunft  der  Elementarformen.  4.  Versuch  einer  Vereinigung 
beider.  5.  Zur  Psychologie  der  Nachahmung.  6.  Plastik  und  Malerei.  7.  Die 
Formen  der  Natur.  8.  Nachahmung  und  Ornamentik.  9.  Symmetrie. 
10.  Rhythmische  Anordnung  der  Formen.  11.  Ökonomie  und  Linearkunst. 
Einheit  und  Mannigfaltigkeit.    12.  Zur  Psychologie  des  Symmetriegeftthls. 

Einleitang. 

1.  Als  die  heutzutage  wohl  am  weitesten  verbreitete 
Theorie  über  das  Wesen  der  Kunst  ist  diejenige  an- 
zusehen, welche  die  Kunst,  als  Schöpfung  sowohl  wie  als 
Greimfi  (der  ja  immer  ein  Nachschaffen  ist),  als  eine  Form 
des  Spieles  betrachtet.  Man  definiert  die  Kunst  als  eine 
Tätigkeit,  die  keinem  äufieren  Zwecke  nachgeht,  sondern 
ihren  Wert  in  sich  selber  hat  und  nur  der  Lösung  innerer 
Spannungen  dient.  Physiologisch  ausgedruckt  würde  das 
heifien,  daß  die  Bedeutung  der  Kunst  wie  des  Spieles  über- 
haupt im  Verbrauch  überflüssiger  —   oder  wie   man  jetzt 


96  Richard  MüUer-Freienf eis- 

besser noch,  sagt  —  unverbrauchter  Kräfte  beruht.  Diese 
zuerst  von  Schiller  ausgesprochene,  dann  von  Herbert 
Spencer  und  anderen  weiter  ausgeführte  Lehre,  hat  neuer- 
dings durch  die  verdienstvollen  Werke  von  Karl  Groos  eine 
andere  Wendung  bekommen  ^).  Dieser  will  mehr  in  den  zur 
Übung  drängenden  angeborenen  Instinkten  das  Wesen 
des  Spieltriebs  und  damit  auch  des  Kunsttriebes  erblicken, 
doch  dürften  diese  beiden  Fassungen  der  Spiel-Kunsttheorie 
nicht  unvereinbare  Gegensätze  sein,  wie  iDereits  Ribot*)  be- 
merkt hat,  sondern  man  hat  in  der  Formulierung  von  Groos 
nur  eine  Präzisierung  der  ursprünglichen  zu  sehen,  da  das, 
was  die  Instinkte  zur  Tätigkeit  treibt,  in  letzter  Instanz 
doch  aufgespeicherte  und  zur  Dissimilation  drängende 
Kräfte  sind. 

Irgendwie  liegt  diese  Anschauung  allen  ernst  zu 
nehmenden  Theorien  auf  diesem  Gebiete  immer  zugrunde, 
nur  in  der  Fassung  oder  speziellen  Anwendung  differieren 
sie.  Das  gut  besonders  auch  von  jener  anderen  Anschauung, 
die  den  Kunsttrieb  als  das  Streben  nach  Ausdruck 
definiert  und  die  besonders  in  den  Werken  von  Yrjö  Hirn*), 
J.  CoHN*)  und  anderen  ihre  Vertreter  gefanden  hat.  Sie  tritt 
nicht  Grogs,  sie  erklärt  sie  nur  nicht  für  ganz  ausreichend, 
eigentlich  in  Gegensatz  zu  der  Theorie  von  Spencer  und 
Ausdrücklich  bemerkt  Hirn*),  daß  jene  Theorie  bloß  das 
negative  Kennzeichen  der  Kunst  bestimme;  er  selbst  wiU 
dagegen  eine  positive  Belehrung  über  die  Natur  der  Kunst 
durch  seine  Ausdruckstheorie  geben. 

Es  kann  uns  jedoch  hier,  wo  es  sich  um  eine  Deutung 
der  sogenannten  ästhetischen  Elementarformen,  wie  Rhyth- 
mus ,  Harmonie ,   Symmetrie  usw.  handelt,  nicht  darauf  an- 


')  Vgl.  Schiller,  Briefe  über  ästhetische  Erziehung  des  Menschen. 
Brief  37.  H.  Spencer,  Principles  of  Psychology,  HI,  Ed.  II,  627 ff. 
Gboob,  Spiele  der  Tiere:  Spiele  der  Menschen:  Der  ästhetische  Genuß, 
S.  16f. 

*)  BiBOT,  Psychologe  des  Sentiments,  S.  332. 

•)  Ybjö  Hirm,  Der  Ursprung  der  Kunst. 

*)  J.  CoHN,  Allgemeine  Ästhetik. 

^)  Hirn,  a.  a.  0.  S.  29. 


Zur  Theorie  der  ästhetiBchen  Elementarerscheinungen.         97 

kommen,  jene  Streitfrage  ausführUch  zu  diskutieren.  Für 
unsere  Zwecke  jedenfalls  sind  sowohl  die  Spiel-  wie  die 
Äusdruckstheorien  gleich  brauchbar,  da  es  sich  ja  in  beiden 
Fällen  um  eine  Lösung  innerer  Spannungen  handelt,  was 
wir  hier  brauchen.  Für  uns  kommt  es  nicht  darauf  an,  ob 
man  diese  Lösung  mit  Groos  als  die  Betätigung  angeborener 
Instinkte  sieht  oder  mit  Hirn  den  Nachdruck  mehr  auf  die 
Steigerung  der  Gefühle  und  sozialen  Einflüsse  legt.  Auf 
einzelnes  wird  die  weitere  Untersuchung  zurückführen. 

2.  Wir  nehmen  also  an,  daß  die  künstlerische  Tätigkeit 
von  innen  heraus  bestimmt  ist,  daß  eiue  Anpassung  an 
äußere  Zwecke  dabei  nicht  stattfindet,  höchstens  eine 
kleine  Modifikation  infolge  der  zur  Verwendung  gelangenden 
Mittel  und  Instrumente.  Wenn  wir  nun  also  jene  ästhetischen 
Elementarformen,  wie  Rhythmus,  Konsonanz,  Symmetrie  usw., 
bei  ziemlich  allen  Völkern  unabhängig  ausgebildet  finden, 
so  kann  ihr  Entstehen  natürUch  nicht  zufallig  sein,  sondern 
mnS  bei  dem  Fehlen  der  äußerlichen  Bedingtheit  alleia  aus 
der  Natur  des  Menschen  selber  erklärt  werden.  Es  soll  nun 
im  folgenden  der  Versuch  gemacht  werden,  jene  allgemeinen 
Formen  in  erster  Linie  aus  dem  spezifischen  Wesen  der  in 
Betracht  kommenden  menschlichen  Organe  abzuleiten,  die 
Konstübung  muß  sich  als  die  adäquateste  Form  der  Lebens- 
betätigung  erweisen,  das  heißt  als  diejenige  Form,  in  der 
die  Funktionen  des  menschlichen  Organismus  am  reinsten 
zum  Ausdruck  kommen,  und  welche  dem  Bestehen  seiner 
Organe  am  günstigsten  sind,  da  hier  nur  die  Seele  selbst 
sich  die  Form  vorschreibt,  nicht  äußere  Zwecke  sie  ver- 
gewaltigen. In  der  künstlerischen  Tätigkeit  muß  das  all- 
gemeine Lebensprinzip,  wenn  es  ein  solches  gibt,  sich  am 
klarsten  entfalten. 

Dieses  Prinzip  aber,  das  alle  Funktionen  des  tierischen 
Organismus    beherrscht,    ist   das    des  kleinsten  Kraft- 
maßes,   oder  wie  man  es  sonst  nennen   wül,  eiu  öko- 
Domisclies  Prinzip,  demzufolge  der  Organismus 
immer    diejenigen    Tätigkeiten    bevorzugt,    die 
ihm  bei  einem  Minimum  von  Kraftaufwand  ein 

TiertelJahrsAebrift  f.wi8Mn8ohafÜ.Philo8.  u.Soziol.  XXXn.  1.  7 


98  Bicliard  Müller-Freienfels: 

Maximum  von  harmonischem  und  wertvollem, 
daher  lustbetonten  Erleben  verschaffen*  Man 
hat  dieses  Prinzip  sehr  verschiedenartig  im  einzelnen 
formuliert.  Ich  gebe  hier  nur  den  Wortlaut  wieder,  den 
Richard  Avenariüs  ihm  gegeben  hat:  „Die  Seele  verwendet 
2U  einer  Apperzeption  nicht  mehr  Kraft  als  nötig  und  gibt 
bei  einer  Mehrheit  möglicher  Apperzeptionen  derjenigen  den 
Vorzug,  welche  die  gleiche  Leistung  mit  einem  geringeren 
Kraftaufwand  bzw.  mit  dem  gleichen  Kraftaufwand  eine 
größere  Leistimg  ausführt;  unter  begünstigenden  umstanden 
zieht  die  Seele  selbst  einem  augenblicklich  geringeren  Kraft- 
aufwand ,  mit  welchem  aber  eine  geringere  Wirkungsgröße 
bzw.  Wirkungsdauer  verbunden  ist,  eiue  zeitweilige  Mehr- 
anstrengimg  vor,  welche  um  so  viel  größere  bez.  andauernde 
Wirkungsvorteüe  verspricht."  *)  Dieses  Prinzip  ist  von 
AvENARius  selbst  auf  wesentlich  andere  psychische  Phänomene 
angewandt  worden.  Hier  nun  soll  nachgewiesen  werden, 
daß  auch  die  ästhetischen  Formen  sich  hauptsächlich  darum 
durchgesetzt  haben,  weil  sie  ein  Maximum  von  psychischem 
Erleben  bei  einem  Minimum  von  Kraftaufwand  gestatteten. 

Der  Versuch,  die  ästhetischen  Elementarerscheinimgen 
von  diesem  Prinzip  aus  zu  begreifen,  ist  nicht  völlig  neu. 
Für  einzelne  Gebiete  ist  das  schon  mit  Erfolg  geschehen. 
Bereits  Fechner  hat  in  der  „Vorschule  der  Ästhetik"  auf  dieses 
Prinzip  hingewiesen  und  es  schon  ausgesprochen,  daß  man 
wohl  daran  denken  könne ,  dies  Prinzip  an  die  Spitze  der 
ganzen  Ästhetik  zu  stellen.  Neuerdings  hat  Bücher  dieses 
Prinzip  für  die  Erklärung  der  motorischen  Rhythmus - 
erscheinungen  verwandt,  für  die  Elementartatsa^chen  auch 
in  der  bildenden  Kunst  ist  es  herangezogen  worden,  und 
auch  sonst  vielfach  sind  Ansätze  zu  dieser  Deutung  der 
ästhetischen  Elementarerscheinung  zu  finden,  wenn  das 
gleich  noch  nirgends  —  meines  Wissens  —  konsequent 
durchgeführt  worden  ist.    Hierher  gehört  auch  eine  größere 


')  R.  AvBNARius,  Philosophie  als  Denken  der  Welt  gemäß  dem 
Prinzip  des  kleinsten  Kraftmaßes.    1876.    S.  IV. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.         99 

Schrift  von  Soret  *),  in  welcher  auf  die  wichtige  Rolle  hin- 
gewiesen wird,  die  in  der  Kunst  die  Wiederholung  der- 
selbenEindrücke  spielt.  Für  die  verschiedensten  Zweige 
knnstlerisclier  Tätigkeit  hat  er  die  Bedeutung  dieser  „im- 
pressions  reiteröes"  nachgewiesen.  Doch  ist  leider  Soret  eine 
tiefere  Erklärung  des  Ghrundes,  warum  denn  die  Wiederholung 
so  InstvoU  wirkt,  schuldig  geblieben.  Wir  werden  im  folgenden 
auf  den  Begriff  der  Wiederholung  oder  der  Übung  oft 
zurückzukommen  haben,  denn  gerade  in  dieser  Form  kommt 
das  Prinzip  des  kleinsten  Kraftmaßes  oder  des  kleinsten 
Zwanges  am  häufigsten  zur  Geltung. 

Wir  nehmen  also  an,  daß  die  ästhetischen 
Elementarformen  die  Formen  sind,  in  welchen 
die  Betätigung  der  betreffenden  Organe  und 
damit  die  Zersetzung  der  unverbrauchten 
Energie  am  leichtesten  und  besten  vonstatten 
geht.  Man  kann  auch  mit  Berücksichtigung  einer  neueren, 
noch  genauer  zu  behandelnden  Theorie  von  Härwey  A.  Carr*) 
sagen,  daß  sie,  speziell  der  Rhythmus,  die  Formen  sind,  die 
die  besten  Bedingungen  zur  Herbeischaffiing  einer  hin- 
reichenden Kraftmenge  liefern.  Im  einzelnen  wird  darauf 
zurückzukommen  sein. 

3.  Darum  also,  weil  diese  Formen  die  besten  Be- 
dingungen für  die  Zersetzung  der  Nervenenergie  bieten, 
sind  sie  von  Lustgefühlen  begleitet.  Damit  nun  stellen  wir 
uns  auf  den  Boden  der  sogenannten  dynamischen  Ge- 
fühlstheorie, die  das  Lustgefühl  als  ein  Symptom  dafür 
annimmt,  daß  die  betreffende  Reizung  oder  Tätigkeit  des 
Organs  seiner  Erhaltung  zuträglich  sei.  So  ist  diese  Theorie 
schon  von  verschiedenen  älteren  und  neueren  Philosophen  und 
Psychologen  angestellt  worden,  und  in  allemeuster  Zeit 
hat  sie  besonders  durch  die  bedeutenden  Forschungen  Alfred 
Lehmasss  eine  starke  empirische  Basierung  gefunden.    Ich 


')  J.  SoB£T ,   Sur  les  conditlons  physiques  de  la  perception  du 
bean.    Gen^^e  1892.  .^  :    . 

*)  Habwbt  A.  Carr,  Tlie  survival  values  f^i^Ta,y*iy(xt,.;VgL  dazu 
GtLoos  Pas  Seelenleben  des  Kindes.    Berlin  1904.  "S.  57 1' 

7* 


100  B-ichard  Müller-Freienfels: 

gebe  "aarum  die  Fassung  dieses  Psychologen  hier  wieder^ 
weil  ich  mich  vor  allem  auf  sie  stützen  werde.  Man  geht 
davon  aus,  daß  jedes  wohl  ernährte  Organ  einen  Drang  zur 
Tätigkeit,  zur  Arbeit  hat  und  daß  diese  Arbeit,  wenn  sie 
nicht  die  verftigbaren  Kräfle  übersteigt,  ein  Lustgefühl 
hervorruft,  daher  die  Bezeichnung  „dynamische  6e- 
fühlstheorie".  Nun  sagt  Lehmann :  „Die  Gefühlsbetonung 
Lust  und  Unlust,  die  jeden  psychischen  Zustand  oder  jede 
psychische  Tätigkeit  begleitet,  ist  der  psychische  Ausdruck 
für  den  Biotonus  (Ausdruck  Verworns :  =  Verhältnis  von 

.    .    .     .      A 

Assimilation  und  Dissimilation  ^)  der  arbeitenden  Neuronen. 

A  . 

Ist  YÄ  =  1 »  so  wird  der  resultierende  psychische  Zu- 
stand lustbetont,   und  zwar   um   so   stärker,   je  größer  D 

A 
und  A  sind;  wird  p:  <  1,  so  ist  der  Zustand  unlustbetont^ 

A 

und    zwar    um    so    stärker,    je    kleiner  w  ist.      Mit    dem 

wechselnden   Zustand    des    Organismus   variiert   der   Wert 

A  .      . 

von  D,   bei  welchem  ^  aus  eins  in  <  1  übergeht  und  somit 

auch  die  Stärke  und  Art  der  Gefühlsbotonung."*)  —  „Wenn 
ein  physiologischer  Prozeß  keinen  größeren  Verbrauch  der 
Energie  jedes  einzelnen  arbeitenden  Neurons  erfordert,  als 
daß  der  Stoffwechsel  fortwährend  den  Verbrauch  zu  ersetzen 
vermag,  so  wird  die  psychische  Wirkung  hiervon  ein  Lust- 
gefühl sein,  während  die  physiologische  Wirkung  die 
Bahnung  von  Bewegungen  in  andere  Zentren  wird.  Das 
Maximum  des  Lustgefühls  wird  erreicht,  wenn  der  Stoff- 
wechsel den  stattfindenden  Verbrauch  gerade  zu  decken 
vermag.  Bei  Überschreitung  dieser  Grenze  ninmit  sowohl 
das  Lustgefühl  als  die  Bahnung  schnell  ab,  indem  der 
Verbrauch  im  Arbeitszentrum  nun  einen  Energiestrom  aus 
den  Umgebungen  bewirkt,  wodurch  gleichzeitig  Prozesse  in 

^)  A^.f^-  L^umln:«  ,   Über  den   körperlichen  Ausdruck  seelischer 
Zustände,  HI,  404. 


Zur  Theorie  der  äathetischen  Elementarerscheinnngen.        IQl 

letzterem  gehemmt  werden.  Der  psychische  Zustand  ist 
unter  diesen  Verhältnissen  zunächst  neutral,  je  nach  den 
umstanden  bald  zur  Lust,  bald  zur  Unlast  tendierend.  Wird 
endlich  der  Verbrauch  in  den  arbeitenden  Neuronen  so  groß, 
daß  er  nicht  durch  den  Stoffwechsel  im  Verein  mit  dem 
interzellulären  Energiestrom  gedeckt  werden  kann,  so  wird 
die  psychische  Wirkung  ein  Unlustgeftihl  werden.  Eine 
Hemmung  anderer  gleichzeitiger  Prozesse  wird  deshalb  stets 
das  Unlustgeftihl  begleiten,  ausgenonamen,  wenn  dieses  nur 
von  rein  instantaner  Dauer  ist,  so  daß  kein  Energiestrom 
zustande  kommt.  Alsdann  wirkt  die  Bewegung  im  Arbeits- 
zentrum bahnend.«  ÄhnHche  Anschauungen  finden  sich  femer 
bei  RiBOT,  bei  Henry  Rütgers  Marshall  und  anderen. 

Es  wird  nun  nachzuweisen  sein,  daß  die  hier  zu  be- 
sprechenden ästhetischen  Elementarformen,  wie  Rhythmus, 
Konsonanz  usw.,  besonders  günstige  Voraussetzungen  für  die 
Dissimilationstätigkeit  bieten,  und  zwar  darum,  weil  sie 
ihren  Zweck  am  vollständigsten  erfüllen  und  doch  dabei 
durchaus  ökonomisch  verfahren. 

4.  Da  nun  aber  das  Prinzip  des  kleinsten  Kraftmaßes, 
das  hier  überall  in  seiner  Bedeutung  für  die  Ästhetik  der 
Elementarformen  erwiesen  werden  soll,  ein  Entwicklungs- 
prinzip ist,  so  wird  daher  unsere  Untersuchung  notwendig 
eine  entwicklungsgeschichtliche  sein  müssen.  Die  Frage, 
die  wir  überall  zu  beantworten  streben,  ist  die:  Welche 
Ursachen  haben  es  bewirkt,  daß  sich  gerade  diese  Formen 
der  künstlerischen  Tätigkeit  (Rhythmus,  Konsonanz  usw.) 
überall  als  Grundformen  durchgesetzt  und  herausgebildet 
haben.  Eine  psychologische  und  womöghch  physiologische 
Begründung  für  diese  Tatsache  zu  gewinnen  ist  unser  Ziel. 

Dabei  haben  wir  überall  ein  zwiefaches  Tatsachengebiet 
zu  sichten.  Einmal  gilt  es  jene  Gründe  zu  fassen,  die  für 
die  künstlerische  Produktion  im  weitesten  Sinne  also  mit 
Inbegriff  der  Reproduktion  galten,  anderseits  aber  auch 
jene,  die  das  Aufnehmen  dieser  Art  von  Eindrücken  so 
Instvoll  naachten.  Die  Faktoren,  die  dabei,  besonders  für 
die  Prodoktion,   in  Betracht  konmien,   sind  durchaus  nicht 


102  Eichard  Müller-Freienfels: 

rein  ästhetischen,  sondern  sehr  verschiedenen  Ursprungs. 
Daß  eine  Form  freilich  sich  znr  Eunstform  entwickeln 
konnte,  dazn  gehört,  daß  sie  sowohl  in  der  Produktion  wie 
im  Genuß  lustvoll  wirkte.  So  zum  Beispiel  ist  die  große 
Bedeutung  des  Rhythmus  nur  darin  zu  suchen,  daß  er  so- 
wohl sich  als  beste  Form  für  die  Erzeugung  wie  für  das 
Aufnehmen  von  Eindrücken  motorischer,  akustischer  usw. 
Art  herausstellte.  Wir  werden  dann  im  Laufe  der  Unter- 
suchung finden,  daß  unser  Prinzip,  weil  es  eben  ein  all- 
gemeines Prinzip  für  jede  Funktion  des  animalischen 
Organismus  ist,  sowohl  für  das  motorische  wie  für  das 
sensorische  Gebiet  seine  Geltung  besitzt. 

Das  Material  für  unsere  Untersuchung  entnehmen  wir 
in  erster  Linie  den  Forschungen  über  die  primitiven  Völker 
oder,  wie  man  richtiger  sagen  würde:  die  primitiveren 
Völker.  Denn  hier  liegen  die  Verhältnisse  noch  einfacher, 
während  die  Linien  der  Entwicklung  auf  höheren  Stufen 
sich  mehr  verwirren.  Doch  wird  natürUch  auch  die  Ge- 
schichte der  Musik  und  der  anderen  Künste  zu  be- 
rücksichtigen sein.  Alles  in  allem  wird  jedoch  mehr  Wert 
auf  diese  ethnographische  Fakta  gelegt  als  auf  psycho- 
logische Experimente,  obwohl  auch  hier  sehr  interessante 
Arbeiten  von  Stumpf,  Meumann,  Bolton  u.  a.  benutzt  werden 
konnten.  Während  sich  jedoch  hier  immer  Subjektives  ein- 
schleichen muß,  bieten  jene  Experimente  angewandter 
Psychologie,  wie  sie  die  Geschichte  liefert,  ein  bedeutend 
objektiveres  Tatsachenmaterial.  Dies  ist  denn  der  Grund 
für  die  eingehende  Berücksichtigung  der  ethnologischen 
Forschungen,  wie  sie  besonders  die  zusammenfassenden 
Werke  von  Grosse,  Hirn,  Wallaschek,  Hörnes  ,  Wundt  usw. 
darbieten. 

I.  Rhythmus. 

1.  Da  zunächst  für  unsere  Zwecke  eine  speziellere 
Definition  des  Rhythmus  nicht  vonnöten  ist,  so  übergehen 
wir  vorläufig  alle  einzelnen  Theorien  und  sagen  nur  ganz 
allgemein :  alle  in  regelmäßigen,  nicht  zu  großen  Intervallen 
wiederkehrenden  Erregungen  des  Nervensystems  nennen  wir 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       103 

rhythmisch.  Püftjjtic  to^vüv  äotl  a6avr^}ia  ix  xp^vcov  xaxa  ttva 
TQ&v  auYxet{iiva»v,  definierten  bereits  die  Griechen. 

Suchen  wir  die  so  gegebenen  Tatsachen  zu  überschauen, 
so  teilen  sie  sich  unschwer  in  zwei  Gruppen.  Die  eine 
davon  umfaßt  die  motorischen  Erscheinungen,  wozu  die 
rhythmischen  Bewegungen  bei  Arbeit,  Tanz,  Musikerzeugung 
gehören*),  die  andere  die  sensorischen,  unter  welchen 
wiederum  die  akustischen  besonders  hervortreten,  da  die 
optischen  und  taktilen  ßhytimiusempfindungen  daneben  eine 
geringe  Rolle  spielen.  Die  meisten  bisherigen  Behandlungen 
der  Bhythmusfragen  haben  allzu  einseitig  nur  eins  der  beiden 
^Tebiete  in  den  Vordergrund  gerückt.  Wir  werden  zunächst 
die  beiden  Gruppen  getrennt  voneinander  behandeln,  wobei 
sich  allerdings  das  beiden  gemeinsame  Prinzip  bald  heraus- 
steUen  wird. 

Von  diesen  beiden  Gruppen  ist  die  der  motorischen 
Rhythmuserscheinuugen  unbedingt  die  primäre,  denn  eigent- 
lieh  nur  im  Anschluß  an  diese  treten  sensorische  Rhythmus- 
erscheinungen auf.  Was  die  Natur  an  rhythmischen  Tat- 
sachen zu  bieten  hatte,  wurde  teils  überhaupt  nicht  wahr- 
genommen, wie  das  Klopfen  des  Herzens,  des  Pulses  usw., 
teils  war  es  zu  selten ,  lokal  beschränkt  und  von  geringem 
Interesse  för  primitivere  Menschen,  wie  das  rhythmische 
Schlagen  der  Meeresbrandung  oder  ähnliches.  Wo  aber  die 
Rhythmusempfindungen  wirkUch  stark  hervortreten,  wie  im 
Tanze,  in  der  Musik,  in  der  Poesie,  dort  ist  der  eigentliche 
Grund  auf  motorischem,  nicht  auf  sensorischem  Gebiete  zu 
suchen.  Alle  diese  Tätigkeiten  sind  Entladungen  innerer 
Spannungen,  der  Rhythmus  hat  sich  nur  aus  den  hier  zu 
untersuchenden  Gründen  als  die  beste  Form  dieser  Ent- 
ladungen herausgestellt.  Es  ist  aber  durchaus  nicht  nötig, 
von  vornherein  Zuhörer  oder  Zuschauer  anzunehmen.  Bei 
den  ganz  primitiven  Eunstleistungen,  wo  Tanz,  Musik  und 


')  Die  an  die  sensoriscken  Rhythmen  sich  anschließenden  inner- 
motoiischen  Erregungen,  die  icn  als  sekundär-motorische  oder 
sensorisch-motorische  Phänomene  bezeichnen  könnte,  werden  zunächst 
nicht  behandelt,  da  ihnen  später  eine  besondere  Betrachtung  ge- 
widmet wird. 


104  Itichard  Müller-Freienfels: 

Poesie  gemeinsam  auftreten,  handelt  es  sich  in  erster  Linie 
um  subjektive  Betätigungen;  das  Motorische  ist  die 
Hauptsache,  nicht  das  Sensorische.  Erst  auf  einer  ent- 
wickelteren Stufe  tritt  die  Arbeitsteilung  auf,  daß  eine 
Trennung  zwischen  Künstler  und  Publikum  stattfindet, 
d.  h.  zwischen  einem  Teil,  der  die  motorischen  Leistungen, 
das  Tanzen,  Beckenschlagen,  Singen  übernahm  und  einem 
anderen  Teil,  dessen  Tätigkeit  im  Empfinden  der  von  jenen 
dargebotenen  Beize  bestand.  Das  dies  freilich  geschehen 
konnte,  daß  der  Rhythmus  einmal  in  motorischer,  ein  ander- 
mal in  sensorischer  Form  seine  Wirkung  tun  konnte,  setzt 
ein  gemeinsames  Prinzip  voraus,  und  dieses  kann  nur  in 
der  Beschaffenheit  der  Nerventätigkeit  zu  suchen  sein,  die 
sich  dort  in  den  motorischen,  hier  in  den  sensorischen 
Organen  äußert.  Jedenfalls  aber  sind  die  motorischen 
Rhjrthmuserscheinungen  durchaus  als  die  primären  an- 
zusehen, wobei  es  sich  natürlich  um  die  logische,  nicht 
(Jie  historische  Priorität  handelt. 

2.  Über  das  Gebiet  der  motorischen  Rhythmus - 
tatsachen  haben  wir  die  interessante  Monographie  von 
Bücher,  „Arbeit  und  Rhythmus".  So  sehr  wir  auch  ge- 
zwungen sind,  im  weiteren  Verlaufe  von  den  dort  ver- 
tretenen Anschauungen  abzuweisen,  so  können  wir  in  der 
allgemeinen  Auffassung  rhythmischer  Tätigkeit  uns  durchaus 
dem  Verfasser  anschließen. 

Auch  nach  Bücher  ist  der  Rhythmus  ein  ökonomisches 
Entwicklungsprinzip,  das  als  regulierendes  Element  spar- 
samsten Eräfteverbrauchs  alle  Betätigungen  des  tierischen 
Organismus  beherrscht.  „Das  trabend»  Pferd  und  das  be- 
ladene  Kamel  bewegen  sich  ebenso  rhythmisch  wie  der 
rudernde  Schiflter  und  der  hämmernde  Schmied.  —  Durch 
den  Rhythmus  scheint  in  der  Jugendzeit  des  menschlichen 
Geschlechts  das  ökonomische  Prinzip  instinktiv  zur  Geltung 
zu  kommen,  welches  (nach  Schäffle)  uns  befiehlt,  möglichst 
viel  Leben  und  Lebensgenuß  mit  möglichst  geringer  Auf- 
opferung an  Lebenskraft  und  Lebenslust  zu   erstreben."  ^) 

*)  Bücher,  Arbeit  und  Rhythmus,  III.  Aufl.,  397  f. 


Zur  Theorie  der  fisihetischen  Elementarerscheinungen.        105 

Jedermann  kann  ja  alltäglich  an  sich  selber  die  Be- 
obachtung machen,  wieviel  anstrengender  es  ist,  unregel- 
mäfiige  Bewegungen  auszuführen  als  gleichmäßige.  Jeder 
Fnfiganger  und  Bergsteiger  erfahrt  das;  wenn  man  eine 
Treppe  mit  ungleichen  Stufen  zu  ersteigen  hat,  ermüdet  man 
bedeutend  rascher,  als  wenn  man  eine  ganz  regelrecht  ab- 
gestufte erklimmt,  und  ganz  ohne  unser  überlegtes  Zutun 
sacht  der  Organismus  jede  Tätigkeit,  bei  der  es  einiger- 
maSen  angängig  ist,  in  eine  rhythmische  zu  verwandeln. 

3.  Auch  fitr  die  physiopsychologische  Erklärung  hat 
Bücher  den  wichtigsten  Punkt  hervorgehoben.  Denn  das 
wesentlichste  Ersparnis  von  Arbeit  bei  der  rhythmisch- 
regelmäßigen Tätigkeit  gegenüber  der  unregelmäßigen  ist 
die  Automatisierung  der  Tätigkeit.  Es  ist  immer  die- 
selbe zentrale  Innervation,  die  alsbald  rein  mechanisch  vor 
sich  geht  und  nicht  immer  wieder  von  neuem  die  Auf- 
merksamkeit und  das  Kachdenken,  damit  also  das  Gehirn 
in  seinem  weiteren  Umfange  in  Anspruch  nimmt.  Diese 
Automatisierung  aber  tritt  ein,  wenn  man  die  Bewegungen 
so  reguliert,  daß  sie  regelmäßig  wiederkehrend  in  dieselben 
räomlichen  xmd  zeitlichen  Grenzen  fallen.  „Durch  die  in 
den  gleichen  Intervallen  erfolgende  und  gleich  starke  Be- 
wegung desselben  Muskels  wird  das  hervorgebracht,  was 
wir  Übung  nennen  •,  die  einmal  in  Tätigkeit  gesetzte,  in  be- 
nimmten  zeitlichen  und  dynamischen  Maßverhältnissen 
wirkende  körperliche  Funktion  setzt  sich  mechanisch  fort, 
ohne  eine  neue  Willensbetätigung  zu  erfordern,  bis  sie  durch 
das  Eingreifen  eines  veränderten  Willensentschlusses  ge- 
hemmt, unter  Umständen  auch  besohleunigt  oder  verlangsamt 
wird.  —  Alle  Übung  ist  Anpassung;  die  Muskelbewegungen 
werden  an  eine  Regel  gebunden;  ihr  Stärkegrad  wechselt 
nicht  in  unsicherem  Tasten;  die  Ruhepunkte  und  Er- 
holungsmomente zwischen  den  einzelnen  Bewegungen  werden 
mit  der  Kraftausgabe  in  Einklang  gebracht  und  in  ihrer 
Zeitdauer  ebenso  bestimmt,  wie  es  die  Bewegungen  selbst 
sind."')      Fast    jede   Tätigkeit    aber    setzt    sich   aus    zwei 

V  BOcHEB,  a.  a.  0.  S,  23  ff. 


106  Bichard  Müller-Freienfels: 

Elementen  zusammen,  Hebung  und  Senkung,  Stoß  und  Zug, 
Streckung  und  Einziehung  und  diese  regelmäßige  Wieder- 
kehr der  gleich  starken  und  in  gleichen  Zeitgrenzen  ver- 
laufenden Bewegungen  empfinden  wir  als  Bhythmus,  was 
noch  verstärkt  wird,  wenn  durch  die  Berührung  des  Werk- 
zeugs mit  dem  Stoff  ein  Ton  erzeugt  wird,  also  zu  dem 
motorischen  Element  ein  sensorisches  hinzutritt. 

Wir  haben  also  bis  jetzt  eine  zweifache  Ersparnis  bei 
der  rhythmischen  Tätigkeit.  Einmal  die  Ersparnis  in- 
tellektueller Leistungen  durch  das  Automatisch- 
werden der  Arbeit,  dann  aber  auch  das  Eintreten 
kleiner  Erholungspausen,  die  der  Ermüdung 
vorbeugen,  welche  bei  kontinuierlicher  Anstrengung  der 
Muskeln  viel  stärker  sein  würde.  Dem  allen  widerspricht 
keineswegs  die  Beobachtung,  auf  die  neuerdings*)  hin- 
gewiesen ist,  daß  die  Ermüdung  nicht  verhindert  wird,  so- 
bald der  Rhythmus  dem  Individuum  von  außen  her  durch 
die  Verhältnisse  vorgeschrieben  wird,  wie  z.  B.  wenn  ein 
Arbeiter  sich  mit  seinen  Handgriffen  nach  der  Maschine 
richten  muß.  Denn  .  in  diesem  Falle  hat  eben  jene  An- 
passung nicht  stattgefxmden ,  hier  ist  der  Rh3rthmus  nicht 
die  beste  Form  der  Tätigkeit,  die  der  Organismus  sich 
selber  gefunden  hat,  wie  das  sonst  der  Fall  ist-,  der  Rhythmus 
kann  hier  andere  Tätigkeiten  durchkreuzen  usw. 

Mit  jenen  beiden  Faktoren  der  Krafberspamis  ist  aber 
noch  längst  nicht  das  ganze  Gebiet  erschöpft.  Es  kommen 
vor  allem  noch  soziale  Momente  hinzu,  die  eintreten,  so- 
bald mehrere  Individuen  ah  derselben  Arbeit  beschäftigt 
sind.  Aus  allen  diesen  Ghründen  begreift  sich  die  überaus 
große  Verbreitung  der  rhythmischen  Form  der  Arbeit,  die 
zu  beobachten  sich  überall  Gelegenheit  bietet,  wohin  man 
in  Handwerk  und  Gewerbe  auch  blicken  mag. 

4.  Von  diesem  allverbreiteten  Rhythmus  der  praktischen 
Tätigkeit  ist  Bücher  nun  weitergegangen  und  hat  eine  Theorie 
aufgestellt,    die    den   Rhythmus   in   der  Kunst   und   damit 

*)  Margaret  Keiver  Shith,  Rhythmus  und  Arbeit  in  „Philo- 
sophische Studien«,  XVI,  71  ff. 


Zur  Theorie  der  ästhetisclien  Elementarerscliemungen.       107 

eigentlich  alle  primitive  Musik  und  Dichtung  aus  der  Arbeit 
ableitet  ^).  Auf  der  primitiven  Stufe  ihrer  Entwicklung  seien 
Arbeit,  Musik  und  Dichtung  in  eins  verschmolzen  ge- 
wesen, das  Grundelement  dieser  Dreieinheit  aber  sei  die 
Arbeit  gewesen.  Den  beiden  anderen  käme  nur  akzessorische 
Bedeutung  zu.  Es  soll  die  energische,  rhythmische  Körper- 
bewegung gewesen  sein,  die  zur  Entstehung  der  Kunst 
gefuhrt  habe.  Durch  Variation  und  Ausspinnung  jener  halb- 
tierischen  Laute,  die  der  Gang  der  Arbeit  den  Menschen 
entpreßte,  soUen  die  primitivsten  Arbeitsgesänge  entstanden 
sein.  So  seien  aus  diesen  Naturlauten  zunächst  Gesänge 
entstanden,  die  sich  aus  sinnlosen  Lautreihen  zusammen- 
gesetzt hatten  und  bei  deren  Vortrag  allein  die  musikalische 
Wirkung,  der  Tonrhythmus  als  Unterstützungsmittel  des 
Bewegungsrhythmus,  in  Betracht  kam.  Im  weiteren  Ver- 
laufe habe  man  dann  einfache  Sätze  zwischen  die  Laut- 
reihen eingeschoben,  die  Kehrreimlieder  seien  so  entstanden, 
und  so  sei  Schritt  für  Schritt  aus  dem  Arbeitsgesange  die 
poetische  Schöpfung  herausgewachsen,  nachdem  man  auch 
die  Refrains  habe  fallen  lassen.  Manche  Beobachtungen, 
so  das  Auftreten  der  konventionellen  Kehrreime,  bei  fast 
allen  Völkern  scheinen  dieser  Theorie  günstig  zu  sein,  und 
Bücher  hat  sie  auch  auf  Spezielleres  angewandt  und  sie 
auch  weiter  ausgedehnt,  indem  er  z.  B.  auch  die  Musik- 
instrumente aus  Arbeitswerkzeugen  entstanden  sein  läßt. 
Daß  in  einzelnen  Fällen  es  niemals  so  zugegangen  ist,  ist 
natörlich  nicht  zu  erweisen,  sondern  sogar  recht  denkbar, 
die  universelle  Geltung  dieser  Theorie  aber  ist  fast  von 
allen  Seiten  abgelehnt  worden.  Es  braucht  darum  hier 
nicht  noch  einmal  zu  geschehen;  dagegen  mögen  einige 
wichtige  Bausteine  für  eine  andere  Theorie  ihr  entnommen 
sein,  die  im  folgenden  kurz  entwickelt  werden  soll. 

5.  Beibehalten  werden  kann  von  der  Theorie  Büchers 
unbedingt  jener  Teil,  der  die  Bedeutung  des  Rhjrthmus  in 
der  Ersparnis  von  Kräften  sieht.  Aber  es  ist  durchaus  nicht 
gesagt,  daß  alle  Musik  und  alle  rhythmische  Poesie  bei  der 


')  BücHKB,  a.  a.  0.,  S.  342  ff. 


108  Eichard  Müller-Freienfels: 

Arbeit  entstanden  sind.  Denn  einmal  singen  die  Völker  in 
erster  Linie  in  ihren  Mußestunden,  und  dann  kommt  in 
jenem  primitiven  Zustande  der  Entwicklung,  wohin  der 
Ursprung  der  Kunst  zu  verlegen  ist,  die  Arbeit,  man  mag 
diesen  Begriff  so  weit  fassen,  als  man  will,  doch  lange  nicht 
in  solchem  Maße  in  Betracht,  daß  man  ihr  eine  so  gewaltige 
Wirkung  wie  die  Schaflftmg  von  Musik  und  Poesie  zutrauen 
könnte.  Nein,  wir  sehen  die  Entst-ehung  von  Tanz,  Musik 
und  Dichtung  durchaus  in  dem  sogenannten  „Spieltrieb", 
das  heißt  in  dem  Trieb  zur  Entladung  unverbrauchter  an- 
gesammelter Energie,  der  sich  in  allen  Organen  geltend 
machen  kann.  Und  hierfür  gilt  dasselbe  Prinzip,  das  jede 
andere  organische  Betätigung  beherrscht,  daß  man  für  die 
kleinste  Mühe  und  den  geringsten  Kraftaufwand  die  möglichst 
höchste  Menge  an  Erleben,  Empfindungen  und  Gefählen 
eintauschen  will.  Und  als  Form  fiir  diese  Tätigkeit  bot  sich 
hier  wie  bei  der  Arbeit  der  Rhythmus  dar.  Der  Ursprung 
der  rhythmischen  Kunstbetätigung  ist  also  nicht  in  der 
rhythmischen  Arbeit  zu  suchen,  sondern  beide  Be- 
tätigungen, wie  jede  andere,  die  man  noch  auf- 
stellen mochte,  werden  von  demselben  Prinzip 
beherrscht,  dem  des  möglichst  geringen  Kraft- 
aufwandes. 

Jedermann  kann  bei  Kjndem  immer  von  neuem  wieder 
die  Beobachtung  machen,  daß  sich  der  „Spieltrieb"  (wir 
behalten  aus  Gründen  der  Einfachheit  diesen  kurzen,  wenn 
auch  nicht  ganz  exakten  Ausdruck  bei)  besonders  gern  im 
Lärmen  äußert.  Schon  Plato  bemerkte,  daß  die  Natur  des 
Menschen  ihn  zu  lärmender  Bewegung  hinrisse.  Wenn  nun 
auch  neuerdings*)  die  Behauptung  aufgetaucht  ist,  daß  ge- 
wisse flötenartige  Instrumente  die  ersten  gewesen  seien,  so 
ist  doch  nicht  wegzuleugnen,  daß  das  Schlagzeug  in  den 
mannigfachsten  Formen  doch  eigentlich  die  primitivsten 
Lärmwerkzeuge  Kefert,  was  auch  Bücher  annimmt.  Daß  sie 
zufilllig  sich  historisch  nicht  als   erste  nachweisen  lassen, 


^)  Wallaschek,  Anfänge  der  Tonkunst,  S.  831. 


Zur  Theorie  der  ästhetisdieii  ElementarerscheinuBgen.       109 

scheint  mir  nicht  unbedingt  zwingend  zu  sein,  und  für  den 
Verstand  jedenfalls  erscheint  eine  Klapper  noch  bedeutend 
primitiver  als  auch  die  einfachste  Knochenflöte. 

Wie  nun  auch  immer  diese  Lärmwerkzeuge  beschaffen 
sein  mochten,  ob  es  Klappern,  Kastagnetten ,  Tamtams, 
Gongs,  Glocken,  Trommeln,  Pauken,  Ratteln,  Tamburins 
waren,  inmier  mußten  sie  durch  Muskelanstrengungen  in 
Bewegung  gesetzt  werden,  und  fiir  diese  Tätigkeit  mußte 
der  primitive  Mensch  dieselbe  Erfahrung  machen,  die  er  bei 
seiner  „Arbeit"  machte,  nämlich,  daß  es  bedeutend  weniger 
anstrengend  war,  das  Tamtam  oder  den  Gong  rhythmisch 
zu  schlagen,  als  unregelmäßig.  Dabei  mochte  die  Gewohn- 
heit des  rhythmischen  Arbeitens  vom  Rudern  usw.  noch 
unterstützend  eintreten.  Aus  rein  ökonomischen  Gründen 
mußte  sich  also  bei  den  primitiven  Instrumenten  die  rhyth- 
mische  Musik  einstellen. 

Auch  fiir  die  anderen  Instrumente  galt  ähnliches.  Bei 
Blasinstrumenten  ist  auch  das  primitivste  Modulieren  durch 
Einbohren  von  Löchern  usw.  dem  Absetzen  und  Neu- 
anblasen gegenüber  kompliziert,  und  dieses  mußte  natürlich 
ebenso  wie  jede  andere  Musik  zu  einer  gewissen  Rhythmik 
fahren.  Auch  für  die  gezapften  oder  gestrichenen  Saiten- 
instrumente gilt  dasselbe. 

Ahnliches  läßt  sich  für  den  Gesang  behaupten,  der  auf 
der  primitiven  Stufe  fast  immer  mit  dem  Tanze  gemeinsam 
vorkommt  und  daher  auch  im  Zusammenhang  mit  dem 
Tanze  betrachtet  werden  muß.  Auch  für  die  Tanzbewegung 
gilt  natürlich,  was  für  jede  andere  Bewegung  gilt,  daß  un- 
regelmäßiges Springen  zu  viel  rascherer  Ermüdung  führt 
als  rhythmisches.  So  leitet  auch  Ferrero  *)  die  Verhebe  der 
Wilden  für  den  Tanz  gerade  aus  seinem  automatischen 
Charakter  ab.  Nur  die  erste  Bewegung  setzt  eine  "Wülens- 
betätignng  des  Tänzers  voraus,  die  weiteren  erfolgen  gleichsam 
von  selbst  und  steigern  sich  ganz  automatisch.  Da  die 
primitive  Musik  und  die  primitive  Poesie  immer  mit  dem 


')  Eevue  scientifique,  4.  Serie,  Tome  V,  S.  333. 


110  Richard  Müller-Freienf eis: 

Tanze  verbunden  auftreten,  so  unterstützten  sich  der 
motorische  und  akustische  Rhythmus,  und  von  diesem 
Standpunkte  aus  mag  man  immerhin  im  Tanze  die  UrzeUe 
der  Poesie  (Scherer)  erblicken,  wozu  noch  die  Erleichterung 
für  das  Atemholen  kommen  mag,  die  im  rhythmischen  Ge- 
sänge gegeben  war. 

6.  Es  muß  nun  einem  Einwand  begegnet  werden,  der 
schon  gegen  Bücher  erhoben  wurde  und  der  auch  hier  sich 
einstellen  mag.  "Widerspricht  sich  nicht  die  Lehre  von  der 
Entladung  der  „owerflowing  energy"  mit  der  anderen  von 
der  möglichst  sparsamen  Verwendung  der  Mittel?  Findet 
nicht  gerade  in  dem  Tanzen  eine  törichte  Vergeudung 
von  Kräften  statt? 

Der  Widerspruch  ist  nur  scheinbar.  Die  ^ Vergeudung" 
gilt  nur  für  die  Tätigkeit  im  allgemeinen,  nicht  für  die  Art 
des  Verbrauchs  im  einzelnen.  Hier  verfährt  der  Organismus 
unwillkürlich  in  derselben  Weise,  die  auch  für  seine  übrigen 
Betätigungen  gilt,  daß  er  nämlich  für  einen  möglichst  ge- 
ringen Aufwand  von  Energie  die  möglichst  höchste  Menge 
von  Empfindungen  und  damit  von  Lustgefühlen  einzutauschen 
strebt.  Unwillkürlich  mußte  jeder  primitive  Mensch,  sei  es 
in  Australien  oder  auf  den  Andamanen  oder  im  Feuerland, 
die  Erfahrung  machen,  daß  wenn  auch  die  Intensität  des 
Lustgefühls  bei  einer  ins  Rasende  überspannten  Tätigkeit 
größer  sein  mochte,  die  G-esamtsumme  des  Lustgefühls 
bei  längerer  Dauer  doch  überwiegen  mußte.  Danach  stellte 
sich  dann  seine  Tätigkeit  von  selber  ein.  Sollte  man  aber 
dennoch  annehmen,  daß  es  einzelne  so  leidenschaftliche 
Individuen  gegeben  habe,  daß  sie  von  selbst  gar  nicht  zu 
einem  ökonomischen  Verfahren  hätten  gebracht  werden 
können,  so  mußte  doch  der  Einfluß  der  anderen  hier  mit- 
wirken ,  der  Umstand ,  daß  die  Kunstübung  auf  primitiver 
Stufe  vor  allem  auch  soziale  Tätigkeit  ist,  und  im  Massen- 
tanz mußten  die  Extravaganzen  der  einzelnen  eine  gewisse 
Bändigung  erfahren.  Es  kommt  eben  hier  die  soziale 
Wirkung  des  Rhythmus  in  Betracht,  auf  die  schon  Bücher 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       Hl 

und  neuerdings  besonders  YkjO  Hirn^)  hingewiesen  hat, 
Wie  sich  aber  der  umstand,  daß  die  Tänze  ofb  bis  zur 
röUigen  Erschöpfong  fortgesetzt  werden,  vereinigen  läßt  mit 
der  EjraftenÜadnngstheorie,  das  genau  auseinanderzusetzen, 
würde  hier  abfahren,  da  es  sich  nicht  um  eine  speziell  beim 
Rh3rthmiis  auftretende  Erscheinung  handelt,  sondern  eine  bei 
Spiel  und  Kunst  ganz  allgemeine.  Es  genüge  hierfür,  auf 
Grogs*)  zu  verweisen,  der  dieser  Frage  ausführlich  näher 
getreten  ist. 

7.  Halten  wir  also  fest,  was  wir  bisher  gefunden  haben. 
Der  Rhythmus  erweist  sich  bei  allen  dauernden  Tätigkeiten 
des  Organismus  als  diejenige  Form,  die  ein  Maximum  von 
Leistung  mit  einem  MiuiTnum  von  Kraftaufwand  ergibt. 
Diese  Form  stellt  sich  bei  jeder  Art  von  Tätigkeit  ein,  mag 
diese  nun  praktischer  Art  sein,  also  Arbeit,  oder  spielerischer 
oder  künstlerischer  Art  und  bloß  der  Entladung  innerer 
Spannungen  dienen  (oder  die  Auslösung  solcher  Spannungen 
bei  anderen  bezwecken,  wodurch  die  Kunstbetätigung  zur 
-Arbeit"  wird).  Auf  keinen  Fall  aber  braucht  man  der 
praktischen  Tätigkeit  so  das  Primat  zuzuerkennen,  wie  das 
Bücher  getan  hat.  Die  rhythmischen  Erscheinungen  bei 
Arbeit  wie  bei  Spiel  und  Kunst  haben  vielmehr  dieselbe 
Ursache,  nämlich  die  allgemeine  ökonomische  Tätigkeits- 
form des  Organismus.  In  ihrer  Entwicklung  haben  sie  sich 
wahrscheinlich  gegenseitig  unterstützt,  indem  einerseits  der 
künstlerische  Rhythmus  die  Arbeit  erleichterte,  anderseits 
aber  auch  die  rhythmische  Arbeit  die  Entwicklung  der 
rhythmischen  Kunsttätigkeit  förderte. 

Hiermit  wäre  ein  Prinzip  für  die  Entstehung  der 
rhythmischen  Erscheinungen  gefunden,  das  bei  einer  anderen 
Theorie,  die  ebenfalls  als  genetische  gelten  will,  nicht  er- 
reicht ist.  Diese  von  vielen  Neueren,  z.  B.  Schebek^)  auf- 
genommenen Theorie  geht  in  letzter  Linie   auf  den  alten 


*)  Yrj«>  Hirn,  Ursprung  der  Kunst,  S.  255  f.  und  passim. 
*)  Groos,  Spiele  der  Tiere  und  Spiele  der  Menschen. 
•)  ScHBBSB,  Poetik,  S.  12. 


112  Richard  Müller-Freienfels: 

K.  Ph.  Moritz  *)  zurück  und  sucht  allen  Rhythmus  in  Poesie 
und  Musik  auf  den  Rhythmus  des  Tanzes  zurückzuführen. 
Es  ist  ja  gewiß  etwas  Richtiges  daran,  doch  leistet  diese 
Theorie  das  Allerwesentlichste  nicht,  denn  sie  bleibt  die  Er- 
klärung schuldig,  warum  denn  der  Rhythmus  im  Tanze 
wohlgefällig  war.  Sie  verhält  sich  also  wie  der  Inder  der 
oft  zitierten  Geschichte,  welcher  den  Elefanten,  der  die 
Welt  trägt,  auf  einer  großen  Schildkröte  stehen  läßt,  ohne 
aber  nun  anzugeben,  worauf  denn  die  große  Schildkröte 
ruhe.  MoRJTZ  äußert  sich  dahin,  die  Menschen,  die  ihre 
überflüssigen  Kräfte  betätigen  mußten,  hätten  bei  ihren 
springenden  und  tanzenden  Bewegungen  zufällig  die 
periodische  Abwechslung  schneller  und  langsamer  Be- 
wegungen beobachtet,  und  diese  zufallig  entstandene  rhyth- 
mische Ordnung  habe  das  Lustgefühl  erregt  und  sei  nach- 
geahmt worden.  Die  beiden  Hauptfehler  dieser  Lehre  sucht 
die  hier  vertretene  zu  vermeiden,  indem  sie  einmal  den 
Zufall  ausschaltet  und  dafür  ein  ökonomisches  Prinzip  als 
Erklärung  einsetzt,  anderseits  indem  sie  zu  erklären  strebt, 
warum  auch  als  sensorische  Erscheinung  der  Rhythmus 
wohlgefällig  wirkt,  was  im  nächsten  Absatz  seine  Behandlung 
finden  wird. 

Noch  eine  zweite  der  sogenannten  genetischen  Theorien 
über  die  Entstehung  des  Rhythmus  sei  kurz  berührt.  Sie 
findet  sich  schon  bei  Aristoteles  und  ist  seitdem  wiederholt 
und  zwar  meist  mit  dem  Anspruch  absoluter  Originalität  auf- 
getaucht. Es  ist  das  jene  Lehre  über  die  Entstehung 
rhythmischer  Formen,  die  im  Atem  und  Pulsschlag  des 
menschlichen  Körpers  das  Vorbild  dafür  sehen  will.  Diese 
Anschauung  gibt  gar  keine  wirkliche  Erklärung,  denn  irgend- 
welche Beziehungen  zwischen  den  organischen  Rhythmen 
und  jenen  in  Praxis  und  Kunst  vorkommenden  sind  nirgends 
zu  erweisen.  Höchstens  auf  etwas  mag  bei  dieser  Gelegen- 
heit hingedeutet  werden,  nämlich  daß  auch  beim  Atmen 
zum  Beispiel  der  regelmäßige  Rhythmus  die  ökonomischste 


')  Moritz,  Deutsche  Prosodie.    1786. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       113 

Form  der  Tätigkeit  ist;  eine  einfache  Probe  kann  jeden 
überzeugen,  zu  wie  rascher  Ermüdung  auch  hier  ein  un- 
rhythmisches  Verfahren  fuhren  würde.  Dagegen  freilich 
werden  wir  foiden,  daß  die  Atmung  von  der  rhythmischen 
Tätigkeit  beeinflußt  wird,  nicht  umgekehrt,  und  daß  dieser 
Einfluß  von  großer  Bedeutung  gerade  für  die  psychisch- 
künstlerische Wirkung  des  Rhythmus  ist. 

8.  Fast  überall,  wo  sie  vorkommen,  sind  die  motorischen 
Rhythmuserscheinungen  mit  sensorischen  verbunden. 
Oft  ist  das  bloß  zufällig,  wie  bei  vielen  manuellen  Arbeiten, 
wo  die  SchaUempflndungen  nur  als  Begleiterscheinungen 
auftreten,  oft  unterstützen  sich  motorische  ujad  akustische 
Rhythmen  gegenseitig,  wie  beim  musikbegleitenden  Tanze, 
oft  auch  ist  die  Erzeugung  akustischer  Rhythmen  aus- 
schließlicher Zweck  der  motorischen  Tätigkeit,  wie  beim 
Trommelschlagen  usw.  —  Während  das  motorische  Gebiet 
besonders  von  nationalökonomischer  Seite  aus  untersucht 
wurde,  sind  es  hauptsäcWich  Psychologen  gewesen,  die 
die  sensorischen  Erscheinungen,  oft  isoliert  von  den 
motorischen,  behandelt  haben.  Ehe  wir  jedoch  uns  den 
psychologischen  Theorien  zuwenden,  müssen  wir  doch  die 
Definitionen  des  Rhythmus  etwas  schärfer  ins  Auge  fassen, 
da  gerade  über  die  akustischen  Formen  die  Anschauimgen 
auseinander  gehen. 

Es  sind  besonders  zwei  Meinungen,  die  sich  scharf 
gegenüberstehen.  Die  eine  behauptet,  Rhythmus  sei  eine 
bloße  zeitliche  Gliederung  der  Eindrücke,  andere 
sehen  in  den  Gewichtsverschiedenheiten  der  Töne 
das  Charakteristikum.  Für  uns,  die  wir  nur  eine  ganz  all- 
gemeine Theorie  des  Rhythmus  anstreben,  ist  es  nicht  nötig, 
sehr  ins  einzelne  zu  gehen.  Wir  können  ganz  einfach  die 
zeitliche  Ordnung  und  den  Akzentwechsel  als  gleichwertig 
ansehen.  Rhythmische  Reihen  sind  für  uns  wohl  die  erste 
wie  die  zweite  der  folgenden  Formen 


'  ~t"in"Qy^  n  ^^f-rfh^ 


t 


If 


Ti«rtoIJahTsaohrlft  f.  wlneniohaftl.  Philo*,  a.  Soxiot.  XXXIL  1.  8 


114  Richard  Mttller-Freienf eis: 

Femer  kommt  es  hier  nicht  darauf  an,  ob  der  Zwischenraum 
zwischen  den  beiden  Hauptakzenten  durch  einen  Nebenton 
ausgefüllt  ist,  oder  ob  bloß  eine  Pause  dasteht.  Eine 
rhythmische  Reihe  ist  auch  die  folgende  Figur: 


5 


Femer  kommen  für  unsere  Zwecke  nicht  in  Betracht  die 
Unterschiede  zwischen  Takt  oder  Metrum  und  Rhythmus, 
worüber  überhaupt  noch  Uneinigkeit  herrscht.  Für  uns  ist 
der  Takt  nur  ein  erweiterter  Rhythmus,  ein  Rhythmus 
zweiter  Ordnung.  Die  speziellere  Formulierung  der  Unter- 
schiede würde  hier  abfuhren.  So  macht  auch  zum  Beispiel 
eine  so  hochentwickelte  Sprache  wie  die  englische  gar 
keinen  Unterschied  zwischen  Rhythmus  und  Takt,  sondern 
bezeichnet  beide  ganz  gleichmäßig  als  „rhythm*'. 

Auch  die  Tatsache  der  subjektiven  Rhythmisierung 
werden  wir  nicht  näher  behandeln,  da  es  hier  nur  darauf 
ankommt  ein  Verständnis  für  die  Tatsache  zu  gewinnen, 
daß  die  rhythmischen  Erscheinungen  besonders  in  Musik 
und  Dichtkunst  eine  solche  Verbreitung  erlangt  haben  und 
mit  so  starken  Lustgefühlen  verbunden  sind. 

9.  Die  heutzutage  wichtigste  und  verbreitetste  aller 
Rhythmustheorien  dürfte  die  von  WüNDT^)  zuerst  vor- 
getragene, von  Meumann  und  anderen  weiter  ausgeführte 
sein,  die  sich  selber  die  psychologische  nennt,  die  man 
aber  vielleicht  noch  besser  als  die  intellektualistische 
bezeichnet. 

Diese  Lehre  bringt  die  Gesamtheit  der  Rhythmus- 
tatsachen in  Zusammenhang  mit  der  Ordnung  sukzedierender 
Empfindungen  zu  Vorstellungen,  einer  allgemeinen  psy- 
chischen Funktion,  durch  welche  die  Reihe  unzusammen- 
hängender Schalleindrücke  oder  Töne  zu  einem  leicht  über- 
schaubaren  Ganzen  wird.     Als   spezielles  Gebiet,   wo  sich 


*)  WuKDT,  Physiologische  Psychologie,  5.  Aufl.,  III,  94  ff.,  154  ff. 
Mkumann,  Untersuchungen  zur  Psychologie  und  Ästhetik  des  Rhjrthmus 
in  Philosophische  Studien,  X,  249  ff.,  speziell  282  f. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.        115 

die  ordnende  Kraft  des  Bewußtseins  beim  Zustande 
kommender  rhythmischen  Erscheinungen  betätigt,  gilt  das 
Grebiet  der  unmittelbaren  und  mittelbaren  Zeitvorstellungen. 
Bei  aller  Rhythmuswahmehmung  fassen  wir  die  isolierten 
Schallempfindungen  zu  mehr  oder  weniger  komplizierten 
Systemen  von  zeitlich  geordneten  Vorstellungsgruppen  zu-  j 

sammen.  Soweit  wir  nun  imstande  sind,  die  zu  einem  Takt- 
ganzen geordneten  Vorstellungen  noch  zu  einer  Gesamt- 
vorstellung zusammenzufassen,  ohne  daß  der  umfang  des 
Bewußtseins  überschritten  wird,  fällt  die  Taktperzeption  in 
den  Bereich  einer  unmittelbaren  Zeitvorstellung ;  soweit  die 
größere  Kompliziertheit  der  rhythmischen  Gebüde  unseren 
Bewußtseinsumfang  überschreitet  und  uns  zwingt,   die  Re-  , 

Produktion  firüherer  Eindrücke  zu  Hilfe  zu  nehmen,  wenn 
wir  noch  imstande  sein  sollen,  das  rhythmische  Gebilde  als 
ein  Ganzes  aufzufassen,  wird  der  Rhythmus  Objekt  mittel- 
barer Zeitvorstellungen.  Die  rhythmische  Gliederung  der 
Eindrücke  verrichtet  dabei,  wie  die  Versuche  über  den 
Bewußtseinsumfang  zeigen,  die  Funktion  einer  sehr  be- 
deutenden Erweiterung  des  Bewußtseinsumfanges  und  einer 
Erleichterung  der  Zeitschätzung. 

10.  Diese  Theorie  mag  fiir  das  enge  Gebiet,  wofür  sie 
paßt,  ihre  Richtigkeit  haben,  in  Wirklichkeit  jedoch  umfaßt 
sie  nur  einen  ganz  geringen  Teil  der  rhythmischen  Er- 
scheinungen, und  jedenfalls  paßt  sie  fast  gar  nicht  für  die  hier 
zu  untersuchende  ästhetische  "Wirkung  des  Rhythmus.  Sie 
paßt  nur  für  jene,  wo  es  sich  um  eine  intellektuelle 
Auffassung  der  rhythmischen  Tatsachen  handelt; 
dieser  Fall  jedoch  kommt  außerhalb  der  psychologischen 
Laboratorien  in  der  Regel  selten  vor.  Dort,  wo  uns  am 
häufigsten  die  sensorischen  Rh3^thmuswirkungen  entgegen- 
treten, in  Musik  und  Dichtimg,  handelt  es  sich  eigentlich 
gar  nicht  um  Rhythmuswahrnehmungen-,  wir  nehmen 
den  Rhythmus  gar  nicht  gesondert  wahr,  sondern  er  ist 
nur  eine  Komponente  eines  größeren  Empfindungskomplexes, 
ans  welchem  er  nur  durch  Abstraktion  herausgelöst  werden 

iann,  ja,  es  kommen  Fälle  vor,  wo  unsere  Stimmung  sehr 

8* 


116  Richard  Müller-Freienfels: 

stark  durch  rhythmische  Reizungen  der  Nerven  beeinflußt 
wird,  wälirend  wir  uns  gar  nicht  einmal  des  Hörens  bewußt 
werden.    So  zum  Beispiel  kann  meine  Stimmung,  während 
ich  konzentriert  arbeite  und  ganz  in  die  Arbeit  vertieft  bin, 
sehr  stark  durch  eine  ferne  Musik  beeinflußt  werden.    Ein 
intellektueller  Vorgang,  ein  Ordnen  der  Eindrücke  tritt  auf 
keinen  Fall  ein.    Die  Beispiele  ließen  sich  häufen,   wo  es 
sich  nicht  um  eine  psychologisch-intellektualistische  Wirkung 
des  Rhythmus  handelt,  sondern  nur  um  eine  rein  physio- 
logische Affi zierung  des  Nervensystems,  von  dem  weiter 
nichts    als    ein   Gefühl   ohne   intellektuelle   Begleiter   als 
Komponente  in   die   Gesamtstimmung  eintritt  und   uns    in 
eine    Art    hypnotischen    Zustand    versetzt.      So     ist     die 
Wirkung  des  Rhythmus  bei  Poesie  und  Musik,  wenn  wir 
nicht  speziell  auf  das  Metrum  horchen,  fast   immer  aut- 
zufassen.   Auch  auf  Kinder  und  "Wilde,  ja  auf  Tiere  wirkt 
der  Rhythmus,  und  man  wird  hier  doch  kaum  intellektuelle 
Vorgänge  als  Grund  annehmen  dürfen.    Mag  man  auch  die 
Erzählungen    von    Orpheus   und    Arion   immerhin    für   Er- 
findungen halten,   daß  der  Rhythmus   auf  Tiere  eine  sehr 
starke  Wirkung  ausüben  kann,  verbürgen  uns  auch  solidere 
Beobachtungen.    Solche  Wirkungen  sind  an  Hunden,  Katzen, 
Pferden,   Schlangen,   Spinnen  usw.  bemerkt   worden,   und 
speziell  an  Elefanten  hat  man  in  Paris  interessante  hierher- 
gehörige   Beobachtungen    gemacht^).      Ebenso    hat    man 
musikalische  Wirkungen  auf  Idioten  beobachtet,  bei  denen 
alle  intellektuellen  Tätigkeiten  fehlten*). 

11.  Eine  Theorie  des  Rhythmus,  welche  allen  Teilen 
des  weiten  Gebietes  gerecht  werden  soll,  kann  darum  un- 
möglich eine  intellektualistisch-psychologische  sein,  sondern 
muß  vor  allem  eine  physiologische  Begründung  haben. 
Es  können  beim  Rhythmus  Vorstellungen  und  sonstige 
intellektuelle  Vorgänge  eintreten,  sie  müssen  es  aber  nicht 
und  fehlen  auch  in  der  Regel.    Als  psychische  Erscheinung 

M  Beauquikr,  Philosophie  de  la  muaiaue,  p.  65. 
•)  WiLDi;RiiuTH-SrKTTBN,   Allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie. 
1889.    S.  5M. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       117 

konont  der  Rhythmus  in  erster  Linie  als  Gefühlswirkung 
in  Betracht,  die  freilich  auch  in  der  Regel  nicht  gesondert 
auftritt,  weü  sie  dann  zu  sehr  rascher  Ermüdung  und  Ab- 
stumpfung fuhren  würde. 

Die  Bedeutung  und  der  Lustwert  des  akustischen 
Rhythmus  liegt  darin,  daß  er  die  betreffenden  Organe  samt 
den  zentralen  Teilsystemen  in  eine  intensive  Tätigkeit  ver- 
setzt, die  mühelos  und  ohne  stärkere  Inanspruchnahme  der 
übrigen  Himpartien  vor  sich  geht.  Damit  wäre  nun  freilich 
nicht  die  gesamte  Lustwirkung  des  Rhythmus  erklärt,  sondern 
nur  ein  Teil;  aber  die  Hauptwirkung  liegt  gar  nicht  auf 
akustischem  Gebiete  und  wird  darum  gesondert  be- 
handelt werden.  Hier  kommt  es  zunächst  nur  darauf  an, 
zu  zeigen,  inwiefern  auch  für  die  sensorischen  Organe  die 
rhythnüsche  Erregung  eine  so  besonders  lustvolle  ist.  Auch 
hier  liegt  die  Tatsache  zugrunde,  daß  der  Rhythmus  die- 
jenige Form  ist,  in  welcher  die  Organe  ein  Maximum  an 
Tätigkeit  vermittelst  eines  Minimums  von  Kräften  erzielen, 
ohne  daß  die  übrigen  Himpartien  sonderlich  in  Anspruch 
genommen  würden. 

Auch  für  die  sensorischen  Organe  besteht  die  Er- 
sparnis an  Kraft  hauptsächlich  in  einem  Automatischwerden 
ihrer  Tätigkeit.  Der  erste  Ton  einer  rhythmischen  Reihe 
ninmit  das  ganze  Gebiet  der  Aufmerksamkeit  in  Anspruch, 
der  zweite  schon  bedeutend  weniger.  Bei  dem  ersten  muß 
der  neue  Eindruck  in  Beziehung  gesetzt  werden  zu  dem 
ganzen  augenblicklichen  Kreis  der  Aufmerksamkeit,  er  muß 
klassifiziert  und  erklärt  werden,  nimmt  also  die  ganze  Auf- 
merksamkeit in  Anspruch.  Ist  nun  der  zweite  Eindruck  der 
rhythmischen  Reihe  eingetreten,  so  ist  er  schon  bedeutend 
weniger  neu  und  bereits  bekannt,  und  die  folgenden  be- 
schäftigen das  übrige  Gehirn,  speziell  die  Assoziationszentren, 
überhaupt  nicht  mehr  wesentlich.  Ist  es  eine  bloß  rhythmische 
Reihe  ohne  qualitative  Verschiedenheit  der  Elemente,  so 
stumpft  sich  freilich  das  Hirn  rasch  so  sehr  dagegen  ab, 
daß  es  überhaupt  nichts  mehr  davon  wahrnimmt,  wie  der 
3füller   das    Klappern  seiner  Mühle  nicht  mehr  hört.    Die 


118  Richard  Moller-Freienf eis: 

Tätigkeit  des  Ohres  geht  automatisch  vor  sich,  ohne  be- 
deutendere Inanspruchnahme  des  Großhirns.  Infolgedessen 
ist  der  Lustwert  einer  solchen  einfachen  rhythmischen 
Reihe  auch  sehr  gering,  tritt  jedoch  ein  Unterschied  in  der 
Tonhöhe  hinzu,  und  sind  diese  Töne  als  solche  nicht  störend 
für  das  Ohr,  so  wird  die  Abstumpfung  vermieden,  der  Rhythmus 
erleichtert  außerordentlich  das  Auffassen  der  so  entstandenen 
Melodie  und  trägt  durch  diese  Erleichterung  ganz  wesentlich 
zur  Annehmlichkeit  der  Melodie  bei.  Dasselbe  gilt  für  den 
Vorsrhythmus,  wenigstens  die  rein  akustischen  Elemente  des 
Verses.  Für  die  sensorischen  Organe  also  können  wir  die 
AnnehmKchkeit  des  Rhythmus  so  erklären,  daß  er  dadurch, 
daß  er  einen  Teil  der  Eindrücke  automatisch 
werden  läßt  und  für  sie  eine  große  Ersparnis 
von  Aufmerksamkeit  bedeutet,  die  Auffassung 
der  Gesamtheit  der  Melodie  und  des  Verses  er- 
leichtert. Die  eigentlich  emotionelle  Wirkung  des  Rhji^h- 
mus  ist  damit  freilich  nicht  erklärt,  aber  wie  schon  gesagt, 
darf  diese  überhaupt  nicht  auf  speziell  sensorischem  Gebiete 
gesucht  werden.  Für  die  Gehörorgane  allein  besteht  der 
Lustwert  des  Rhythmus  in  weiter  nichts  als  in  einer  ge- 
wissen Leichtigkeit  der  durch  ihn  erregten  Tätigkeit,  auf 
die  wir  zunächst  noch  weiter  einzugehen  haben. 

12.  Wir  hatten  gefunden,  daß  bei  den  in  der  Kunst 
verwandten  rhythmischen  Gebilden,  also  den  Melodien  imd 
rhythmischen  Versen,  die  Tätigkeit  der  sensorischen  Apparate 
erleichtert  wird  dadurch,  daß  ein  Teü  der  dargebotenen 
Elemente  automatisch  aulgenommen  wird.  Das  heißt  mit 
anderen  Worten :  ein  Teil  der  so  gegebenen  Wirkungen  ist 
derart,  daß  zu  ihrer  Aufnahme  nicht  stets  eine  erneute 
Inanspruchnahme  des  Großhirns  erforderlich  ist. 

Bei  den  in  unserer  Kunst  vorkommenden  rhythmischen 
Reihen  sind  es  besonders  zwei  Wirkungen,  die  im  Rhythmus 
automatisch  aufgenommen  werden,  weil  sie  im  wesentlichen 
sich  gleich  bleiben,  einmal  die  Intensitätswirkungen 
und  ferner  die  zeitliche  Inanspruchnahme  der 
Nerven. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       119 

Für  die  Gleichheit  der  Intensitätswirkungen  liegt  die 
Sache  einfach.  So  sehr  die  moderne  Musik  auch  danach 
b-trebt,  die  Möglichkeit  der  dynamischen  Nuancen  zu  er- 
weitem, so  sind  die  Unterschiede  doch  selten  so  grell,  so 
schroff  und  plötzlich,  als  daß  sie  als  solche  unsere  Auf- 
merksamkeit in  Anspruch  nehmen,  uns  plötzlich  zwingen, 
uns  klar  zu  werden  über  einen  Wechsel  der  Intensität.  Ein 
plötzlicher  Paukenschlag  wie  in  Haydns  C-dur-Symphonie 
ii!.t  eine  Ausnahme.  In  der  Hauptsache  ist  die  Intensität 
doch  so  gleichmäßig,  die  Übergänge  sind  so  kontinuierlich, 
daß  ftir  die  Perzeption  der  rein  dynamischen  Eig|pschaften 
eine  besondere  intellektuelle  Tätigkeit  nicht  erforderlich  ist. 
Die  int-ensiven  Wirkungen  werden  nicht  abstrahiert,  sie 
treten  nur  als  unabgesondertes  Element  für  die  Gefühls- 
wirkung des  ganzen  Toneindrucks  hinzu.  So  bedeutet 
pinmal  die  dynamische  Ordnung  in  der  rhythmischen  Reihe 
eine  große  Erleichterung  der  Perzeption. 

13.  Außer  den  Intensitätswirkungen  sind  im  Rhythmus 
speziell  die  zeitlichen  Eigenschaften  der  Reize  ge- 
ordnet. Hier  aber  liegt,  besonders  auch  ftir  die  physio- 
logische Seite,  die  Sache  nicht  so  einfach. 

Es  kommt  hier  vor  allem  eine  von  Mach^)  wiederholt 
ausgeführte  Theorie  in  Betracht.  Dieser  hat  sich  bemüht, 
ein  physiologisches  Äquivalent  für  den  Rhythmus,  speziell 
seine  zeitlichen  Elemente,  zu  finden.  Er  vertritt  die  Ansicht, 
daß  in  einer  Melodie  sich  die  bloß  rhythmischen,  d.  h.  bloß 
zeitlichen  Elemente  loslösen  lassen  von  den  qualitativen. 
Er  hat  hierüber  kleine  Experimente  angestellt,  indem  er 
aufgab,  nach  dem  bloßen  Klopfen  des  Rhythmus,  ohne 
Markierung  der  Tonhöhe  eine  Melodie  zu  erraten.  Diese 
Versuche  sind  ihm,  soweit  es  sich  um  rhythmisch  scharf 
markierbare  Melodien  handelte,  in  der  Regel  gelungen.    So 


')  Vgl.  Mach,  Untersuchungen  über  den  Zeitsinn  des  Ohres. 
Wien.  Sitzungsbericht  1865.  Mathem.-naturvv.  Klasse  51,  II,  S.  183f. — 
BemerkuBgen  über  die  Akkomodation  des  Ohres.  Ebenda  S.  848  f.  — 
Analyse  der  Empfindungen.    S.  190  ff. 


120  Eichard  Müller-Freienfels: 

wurden    nach    seiner    Angabe    fast    immer    die    folgenden 
Rhythmen  erraten: 

R.  Wagner.    Andante  maestoso. 
8 


4 


iH  r  r  I  r  cirl  r  r  r\r  r  r 


1» — # — 


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T  rr  I  r  r'  5 


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I 

In  einem  früheren  Aufsatze  nun  woUte  er  in  den  Akkom- 
modationsempfindungen  des  Ohres  die  Möglichkeit  dieser 
Rhythmusempfindungen  nachweisen,  ähnlich  wie  beim  Auge 
zu  den  Farbenempfindungen  beim  Fixieren  die  Muskel- 
empfindimgen  hinzutreten.  In  den  durch  Ermüdung,  Nach- 
lassen, Erholung  im  Fixationsapporat  des  Ohres  eintretenden 
Veränderungen  woUte  er  den  physiologischen  Grund  dieser 
Rhythmusempfindungen  sehen.  —  Später  jedoch  ist  Mach 
auf  diese  Theorie  nicht  mehr  zurückgekommen.  Die  Ein- 
wände von  Meümann  scheinen  mir  nicht  begründet.  Ob 
man  von  einer  gesonderton  Zeit  empf  in  düng  sprechen 
darf  oder  nicht,  ist  wohl  in  letzter  Linie  ein  Wortstreit. 

Mach  bedient  sich  auch  in  seinen  späteren  Schriften^) 
dieses  sicherlich  för  die  Terminologie  der  sonstigen 
Psychologie  prekären  Ausdrucks  „Zeitempfindung".  ^So 
wie  sich  uns  verschieden  gefärbte  Körper  von  gleicher 
Raumgestalt  darstellen  können,  so  finden  wir  akustisch 
verschieden  gefärbte  Tongebilde  von  gleicher  Z  e  i  t  - 
gestalt.  —  Dies  ist  nicht  Sache  des  Verstandes  oder 
der  Überlegung ,  sondern  der  Empfindung."*)  Zu 
dieser  Anschauung  gelangt  Mach  getreu  seinem  stets  an- 
gewandten allgemeinen  psychologischen  Forschungsprinzip : 
daß   man  für  alle   psychologisch   getrennt  wahrnehmbaren 


')  Analyse  der  Empfindungen  passim. 
2)  Ebenda,  3.  Aufl.,  S.  1921 


Zur  Theorie  der  ftsthetischen  Elementarerscheinungen.       121 

Elemente  auch  physiologisch  verschiedene  Prozesse  an- 
zunehmen habe.  Daß  er  diese  unmittelbaren  Zeitempfin- 
dongen  nnr  bezüglich  kleiner  Zeiten  gelten  läßt,  genügt  für 
tmsere  Zwecke  durchaus,  da  ja  nur  solche  beim  Rhythmus 
in  Betracht  kommen. 

Diese  Zeitempfindung  soll  nun  mit  der  notwendig  an 
das  Bewußtsein  geknüpften  organischen  Konsumtion  zu- 
sammenhängen. 

Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls  wäre,  wenn  wir  eine  von 
den  qualitativen  Empfindungen  abtrennbare  Zeitempfindung 
annehmen,  die  vom  Organismus  in  der  Rhythmusaufnahme 
zu  leistende  Arbeit  schon  dadurch  bedeutend  geringer,  daß 
durch  die  völlige  oder  annähernde  Gleichheit  der  Zeit- 
empfindungen im  Rhj^thmus  die  Aufnahme  der  Reize  be- 
deutend erleichtert  wird,  eine  „Übung"  und  damit  eine  An- 
passung oiatritt.  Doch  wollen  wir  hier  diese  Hypothese 
mu:  durchaus  als  Hypothese  hingestellt  haben,  ohne  gerade 
hierauf  allzusehr  unsere  Folgerungen  zu  stützen.  Die 
physiologische  Forschung  ist  gerade  auf  diesem  Gebiete 
noch  nicht  weit  genug,  daß  man  ganz  Sicheres  behaupten 
könnte.  Wie  man  sich  nun  auch  zur  Theorie  Machs  stellen 
mag,  ob  man  zugibt,  daß  es  spezifische  Zeitempfindungen 
gibt  oder  nicht,  das  jedenfalls  muß  anerkannt  werden,  daß 
durch  den  Rhythmus,  die  zeitliche  Ordnung  der  Reize,  die 
Aufnahme  der  Reihe  bedeutend  erleichtert  wird.  Im  Grunde 
L*it  das  etwas  sehr  Verwandtes  mit  dem,  was  "Wundt  und 
^eine  Schüler  annehmen,  nur  daß  diese  stets  von  der 
Rhythmuswahrnehmung  und  -Vorstellung  sprechen, 
während  nach  der  hier  vertretenen  Ansicht  gerade  in  dem 
Wegfallen  gewisser  zentraler  Prozesse  die 
Leichtigkeit  und  Annehmlichkeit  der  rhythmischen  Er- 
reflrungen  für  die  Nerven  besteht. 

14.  Auch  einem  zweiten  Grunde  für  die  Lustwirkung 
des  Rhythmus,  den  Wünüt  weiter  entwickelt^),  kann  ich 
teilweise  beistimmen,   nur  daß  auch  hier  die  Formulierung 


>)  WüNDT,  Physiologische  Psychologie,  5.  Aufl.,  III,  158  ff. 


122  Richard  Müller-Freienfels: 

wieder  allzu  intellektualistisch  ausgefallen  ist.  —  Er  nennt 
den  Rhythmus  ein  resultierendes  Gefühl,  das  immer 
erst  aus  dem  Wechsel  gewisser  einfacherer  Q-eftihle  ent- 
springt, die,  im  Kontrast  zueinander  stehend,  an  sich  weder 
Lust-  noch  Unlustgefühle  sind.  Als  solche  Gefühlsfaktoren 
ergeben  sich  nun  die  Gefühle  der  Spannung  und 
Lösung,  die  in  verhältnismäßig  reinen  Formen  gerade  bei 
indifferenten  Rhythmen,  wie  sie  den  elementaren  ästhetischen 
Wirkungen  zugrunde  liegen,  beobachtet  werden.  Dabei  ist 
jedoch  zu  bemerken,  daß  an  und  für  sich  diese  einfacheren 
Faktoren,  aus  denen  das  ästhetische  Gefallen  am  Rhythmus 
entspringt,  beide  absolut  leer  von  Lust-  und  Unlustgefühlen 
sein  sollen. 

Tatsächlich  tritt  eine  solche  Spannung  und  darauf  mit 
dem  Eintritt  des  in  regelmäßiger  Folge  erwarteten  rhyth- 
mischen Eindrucks  eine  Lösung  ein,  nur  braucht  man  nicht 
dabei  an  eine  bewußte,  intellektuelle  Spannung  denken. 
Auch  hier  können  intellektuelle  Begleiterscheinungen  vor- 
handen sein,  der  Rhythmus  kann  bewußt  sein,  es  ist  aber 
keine  Notwendigkeit.  Jene  Spannung  ist  weiter  nichts  als 
eine  Art  Selbsteinstellung  des  Nervenapparates.  Dieser 
scheint  sich  dem  kommenden  Eintritt  regelmäßig  wieder- 
kehrender neuer  Erregungen  anzupassen,  um  so  leichter  den 
an  ihn  gestellten  Anforderungen  genügen  zu  können.  Und 
ganz  deutlich  spüren  wir  Unlust,  wenn  plötzlich  eine 
rhythmische  Reihe  stockt,  wenn  jene  Lösung  nicht  eintritt, 
auf  die  sich  das  Nervensystem  eingestellt  hatte.  Diese  Ein- 
stellung des  Organismus  auf  regelmäßige  Tätigkeiten  gilt 
nun  nicht  etwa  allein  von  den  sensorischen  Nerven  und  so 
kleinen  Litervallen,  wie  der  Rhythmus  sie  bietet ,  es  handelt 
sich  hier  um  eine  Tatsache,  die  den  ganzen  Organismus 
beherrscht,  die  überall  sich  zeigt.  So  paßt  sich  der  Körper 
in  seinen  Funktionen  ganz  genau  den  Zeiten  an,  in  denen 
ihm  regelmäßig  Nahrung  zugeführt  wird,  und  wo  er  Arbeit 
zu  leisten  hat.  Man  kann  den  Magen  gewöhnen,  in  be- 
liebigen Pausen  in  regelmäßiger  Wiederkehr  Nahrung  zu 
verlangen,   ebenso   drängen   die  Muskeln  nach  Tätigkeit  in 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       123 

bestimmten  Intervallen,  sobald  sie  einmal  an  gewisse  Regel- 
mäßigkeiten gewöhnt  sind.  Wir  können  also  diese  An- 
passung an  eine  regelmäßige  Ordnung  als  eine  allgemeine 
Tatsache  des  Organismus  ansehen,  er  stellt  sich  selber  ein, 
es  entsteht  eine  Spannung,  und  deren  Lösung  ist  natur- 
gemäß von  einem  Lustgefühl  begleitet.  Wündt  faßt 
tieilich  das  alles  ziemlich  anders  auf,  doch  können  wir  ihm 
darin  nicht  folgen,  da  uns  seine  Annahme  besonderer 
Spanntmgsgefuhle  nicht  haltbar  scheint. 

Durchaus  nicht  nötig  jedoch  ist  es,  daß  jene  Spannimgen 
nnd  Lösungen  gesondert  sich  dem  Bewußtsein  bemerkbar 
machen,  nur  das  aus  ihnen  resultierende  Lustgefühl,  das 
Rhythmusgef&hl,  erscheint  uns  alsKomponent  eines  größeren 
Komplexes,  als  Faktor  einer  Stimmung,  der  uns  nicht  ab- 
gelöst bewußt  wird.  Immerhin  aber  erhält  das  gesamte 
Rhythmusgefühl  gerade  durch  diese  Spannungs-  und  Lösungs- 
empfindungen seine  charakteristische  Färbung.  Allerdings 
gehören  diese  Spannungen  und  Lösungen  nur  noch  teil- 
weise dem  sensorischen  Gebiete  an,  sie  spielen  schon  stark 
auf  das  motorische  Gebiet  hinüber,  auf  das  die  Empfindungen 
überleiten,  und  dem  ich  mich  nunmehr  zuwenden  muß. 

15.  So  stark  das  Lustgefühl  auch  sein  mag,  das  auf  die  be- 
schriebene Weise  in  den  sensorischen  Organen  zustande  konunt, 
der  ganze  Bereich  der  Rhythmuserscheinungen  wird  nicht  da- 
durch erschöpft.  Es  ist  damit  allein  die  geradezu  zauber- 
hafte Wirkung  nicht  zu  erklären,  die  der  Rhythmus  be- 
sonders auf  primitive  Menschen  auszuüben  vermag,  worüber 
alle  Reisenden  einstimmig  berichten.  Es  muß  noch  etwas 
anderes  hinzukommen,  eine  spezielle  Wirkung  auf  die 
Affekte,  und  diese  ist  nur  auf  motorischem  Gebiete  zu 
suchen. 

Die  im  folgenden  zu  erörternden  motorischen  Er- 
scheinungen nun  fallen  nicht  ohne  weiteres  mit  jenen 
motorischen  Tatsachen  zusanmien,  die  wir  im  Anfang  dieses 
Kapitels  bei  Gelegenheit  der  Rhythmuserzeugung  zu  be- 
>prechen  hatten.  Mitunter  sind  sie  dieselben  wie  beim 
Tanze  oder  beim  Marsche,  sonst  aber  haben  wir  noch  ab- 


124  Eichard  MOller-Freienfels: 

geleitete  motorische  Erscheinungen,  sekundäre 
motorische  Erscheinungen,  und  diese  kommen  hier 
hauptsächlich  in  Betracht,  zumal  da  sie  für  die  Kultur- 
menschheit am  wichtigsten  sind,  wo  der  Tanz  als  Ausdrucks- 
mittel  fast  völlig  zurückgetreten  ist. 

Es  handelt  sich  hier  um  jene  motorischen  Erscheinungen, 
die    durch    rhythmische    Empfindungen    des    Gehörs    un- 
mittelbar ausgelöst  werden.     Es  ist  nicht  nötig,    daß  sie 
sich  immer  äußerlich  sichtbar  darstellen,  obwohl  ein  scharf 
markierter  Rhythmus  uns   unwillkürlich   dazu   fuhrt,   auch 
äußerlich,  durch  Bewegungen  ihn  zu  begleiten.     Es  ist  das 
natürlich  individuell  verschieden,   doch  braucht  man  nicht 
gerade  zum  „motorischen  Typus«  (um  diese  Einteilung  der 
französischen   Psychologie    anzuwenden)    zu   gehören,    daß 
man   einen  Marschrhythmus   durch  rhythmisches  Bewegen 
der    Füße,    der    Hände,    durch    Taktieren    oder    sonstwie 
motorisch  begleitet.    Wir  haben  durch  den  Zwang  der  Sitte 
viel   zu  gut  gelernt,   unsere  Bewegungen  zu  unterdrücken, 
bei  Kindern  und  ganz  naiven  Menschen  jedoch  bewirkt  der 
Rhythmus   noch  reflexartige   Bewegungen,     und  irgendwie 
lösen    auch    bei    uns    rhythmische    Gehöreindrücke    immer 
rhythmische  motorische  Vorgänge  aus,  mögen  es  auch  nur 
ganz   schwache  Bewegungs Vorstellungen  sein,  die  ja  aber 
ihrerseits  auch  Bewegungen  im  Entstehen  sind.    Ein  neuerer 
Ästhetiker,  Konrad  Lange,  will  die  Wirkung  der  Musik  haupt- 
sächlich als   Bewegungsillusion  begreifen.     Jedenfalls 
läßt   sich  konstatieren,   daß  diese  motorische  Wirkung  des 
akustischen  Rhythmus  von  großer  Wichtigkeit  ist,  und  zwar 
können  wir  beobachten,   daß   die  psychische  Wirkung  des 
Rhythmus  um  so  größer  ist,  je  mehr  wir  diesen  motorischen 
Impulsen  nachgeben. 

Darauf  nun  gründen  wir  unsere  Anschauung  über  die 
positive,  emotionelle  Wirkung  des  Rhythmus.  Wir  sagen: 
Jene  motorischen  Vorgänge,  die  beim  Anhören 
rhythmischer  Musik,  rhythmischer  Verse  in  uns 
auftreten,  sind  keine  Begleiteitorscheinungen, 
keine   bloße    „körperliche    Resonanz",    sondern 


Zur  Theorie  der  ästhetisclien  Elementarerscheinungen.       125 

üe  sind  die  wichtigste  Ursache  jener  Gefühls- 
zustände  der  Belebung,  der  Aufregnng,  der  Ergriflfen- 
heit  ujsw.,  die  der  Rhythmus  in  unserer  Seele  erzeugt.  Den 
Beweis  scheint  schon  jene  Tatsache  zu  erbringen,  daß  wir 
um  so  mehr  auch  psychisch  ergriffen  werden,  je  mehr  wir 
physisch  jenen  Bewegungsimpulsen  nachgeben.  Darin  beruht 
eben  die  überwältigende  Macht  des  Rhythmus^)  auf  die 
Wilden,  daß  jene  in  ihren  Tänzen  die  motorischen  Impidse 
sich,  ganz  ausleben  lassen,  während  wir  sie  im  allgemeinen 
last  vollkommen  hemmen  und  im  Entstehen  unterdrücken. 
Ich  halte  den  Ausdruck  „innere  Nachahmung",  den  Groos*) 
anwendet,  und  der  sonst  sehr  brauchbar  ist,  für  die  hier  an- 
gefahrten Tatsachen ,  für  nicht  besonders  gut ,  weil '  die 
motorische  Wirkung  des  Rhythmus  eben  keiue  Nachahmung, 
sondern  eine  rein  reflektorische  Auslösung  ist.  Im  übrigen 
jedoch  hat  G-roos  die  Bedeutung  der  inneren  motorischen  Vor- 
gänge für  den  künstlerischen  Genuß  wohl  am  schärfsten  er- 
kamit.  Cs  kommen  derartige  innere  motorische  Vorgänge 
auch  sonst  in  der  Kunst  in  Betracht,  besonders  auch  in  der 
bildenden  Kunst.  Hier  gilt  es,  ihre  Wichtigkeit  für  den  Rhyth- 
mus hervorzuheben,  wo  sie  vieDeicht  am  stärksten  überhaupt 
auftreten,  und  zwar  sehen  wir  ihre  Bedeutung  nicht  bloß 
in  der  Ausdehnung  rhythmischer  Erregung  über  den  ganzen 
Körper,  sondern  wir  fassen  gerade  diese  motorischen  Vor- 
gange als  die  Hauptursache  der  psychischen  Zustände  auf,  die 
der  Rhythmus  hervorbringt;  die  sensorisch-akustischen  Er- 
scheinungen wären  also  zum  Teil  nur  mittelbar  die  Ursache 
der  Gefühle,  da  das  durch  sie  direkt  erzeugte  Lustgefühl 
niemals  allein  eine  solche  Stärke  erreichen  könnte,  wie  es 
durch  Mitwirkung  der  motorischen  Erregung  geschieht. 

Diese  motorischen  Erregungen  sind  nun  wieder  ver- 
schiedenen Ursprungs.  Zunächst  haben  wir  hier  die  reflex- 
artigen Bewegungen  resp.  ihre  gehemmten  Innervationen, 
die  sich  unmittelbar  an  den  Gehörsreiz    anschließen.     Es 


')  Beispiele  zahlreich  bei  Bolton,  Bhythm.    American  Journal  of 
Pajchology,  VII,  163  f. 

*)  Oboos,  Der  ästhetiBche  Genuß,  8.  179  ff. 


126  Richard  Müller-Freienfels: 

gibt  über  diese  Verbindung  von  q^stisch- sensorischen  mit 
motorischen  Nervenprozessen  eine  Theorie,  die  dies  Zu- 
sammenfallen mit  dem  umstände  in  Beziehung  bringt,  daß 
die  Organe  des  Gehörsinnes  und  des  Gleichgewichtsinnes 
so  nahe  verwandt  sind.  So  schreibt  Meümann:  „Zahlreiche 
anatomische  und  physiologische  Tatsachen  weisen  auf  die 
Verbindung  zwischen  Gehörorgan  und  Atem  und  vielleicht 
auch  Gefaßzentren  einerseits  und  speziell  zwischen  dem 
Bogenlabyrinth  des  Ohres  und  dem  Tonus  unserer  will- 
kürlichen Muskulatur  anderseits  hin.  Es  ist  ja  sehr  leicht 
möglich,  gerade  auf  die  von  R.  Ewald  neuerdings  wahr- 
scheinlich gemachte  Tatsache  (die  freihch  von  Breuer 
wiederum  bezweifelt  worden  ist),  daß  der  Muskeltonus 
unserer  willkürlichen  Muskulatur,  ganz  besonders,  soweit  sie 
der  feineren  Beweghchkeit  des  Körpers  dient,  einer  be- 
ständigen Reguherung  durch  das  Bogenlabyrinth  des  Ohres 
unterhegt,  Hypothesen  zu  begründen,  die  dem  Zusammen- 
hang der  Perzeption  von  Schalltakten  und  begleitenden 
Bewegungen  unserer  willkürlichen  Muskulatur  eine  be- 
stimmte anatomische  Grundlage  geben.  Stärkere,  vielleicht 
ganz  besonders  periodische  Erschütterungen  des  inneren 
Ohres  könnten  ja  die  Endolymphe  der  Bogengänge  in  Mit- 
leidenschaft ziehen  und  hierdurch  den  oft  unwiderstehUchen 
Drang  zu  rhythmischer  Bewegung  der  Körpermuskulatur 
bedingen,  noch  mehr,  die  von  den  Bogengängen  ausgehende 
Reflexerregung  bezieht  sich  jedenfalls  ganz  besonders  auf 
die  Kopf-  und  Halsmuskulatur,  und  die  Halsmuskulatur  wird 
auch  ganz  besonders  leicht  für  die  rhythmischen  Bewegungen 
in  Anspruch  genommen." 

Für  unsere  Innervationen  würde  dann  nach  unserer 
Anschauung  dasselbe  gelten,  was  wir  oben  fiir  die  bewußten 
motorischen  und  die  sensorischen  Erscheinungen  ausgeführt 
haben.  Es  sind  diese  sekundären  motorischen  Erscheinungen 
durch  den  Rhythmus  ebenfalls  so  geordnet,  daß  eine  be- 
sondere Inanspruchnahme  der  Aufmerksamkeit  nicht  nötig 
ist,  und  daß  durch  die  gleichmäßige  Verteilimg  stets  nur 
ein   Minimum  von   psychischer   Arbeitsleistung   notwendig 


Zur  Theorie  der  aBthetischen  Elementarerscheinungen.       127 

wd  und    dennoch   in  den  betreffenden  Organen  günstige 
Dissimilationserscheinnngen  geschaffen  sind. 

10.  Aber  diese  motorischen  Eefiexe  sind  nicht  die 
einzigen  körperlichen  Vorgänge,  die  durch  den  Rhythmus 
aasgelöst  ^Jirerden ;  es  kommt  auch  noch  eine  offenbare  B  e  - 
einflussung  der  Respirationstätigkeit  und  der 
Blutbe^wegung  hinzu.  Bereits  Grftry,  der  alte  Musiker, 
hat  Beobachtungen  an  sich  selber  gemacht,  daß  der  Puls 
•lurch  den  Rhythmus  beeinflußt  und  je  nachdem  verlangsamt 
oder  beschleunigt  wird.  Auch  für  die  Atembewegungen, 
wie  anch  Bolton  beobachtet  hat,  gilt  Ahnliches.  Eiogehend 
sind  die  Wirkungen  akustischer  Sinnesreize  auf  Puls  und 
Atmung  besonders  von  Paul  Mentz  *)  studiert  worden.  Dieser 
kommt  zu  dem  Resultat,  daß  schon  bei  der  objektiv  ein- 
fachen Folge  von  Metronomschlägen  der  Atem  ein  viel- 
faches Zusanunenfallen  von  Atemgipfel  und  Atemtal  mit  den 
Metronomschlägen  zeigt.  Ganz  dasselbe  findet  bei  den 
betonten  Schlägen  eines  objektiv  gegebenen  Klingelaktes 
>tatt.  Danach  würden  also  die  einfachen  Metronomschläge 
wie  die  betonten  eines  gegebenen  Taktes  durch  direkte 
Innervation  dem  Atem  einen  Anstoß  zum  Beginn  der  In- 
spiration oder  Expiration  geben. 

Aber  auch  außer  diesen  direkten  Beeinflussungen  der 
Atemtätigkeit  muß  man  bei  einer  so  starken  Erregung  des 
«ganzen  Organismus,  wie  sie  der  Rhythmus  besonders  in 
Tanz  und  Musik  darstellt,  eine  indirekte  Beeinflussung 
des  Kreislaufes  annehmen.  Denn  die  starke  Inanspruch- 
nahme der  Zellen  macht  eine  starke  Zufuhr  frischen  Blutes 
notwendig,  und  ebenso  müssen  die  verbrauchten  Stofte 
weggeschafft  werden.  Nun  ist  es  sehr  wahrscheinlich,  daß 
die  rhythmische  Erregung  durch  die  Gleichmäßigkeit  und 
die  Erholxingsspausen  besonders  günstige  Verhältnisse  fiir 
die  Zufiihr  und  Wegschaffung  der  Stoffe  bietet,  und  daß 
darum  sich  auch  hieran  ein  Lustgefühl  anschließt  nach  der 


^)  Paul  Mbntz,  Die  Wirkungen  akustischer  Sinnesreize  auf  Puls 
und  Atmung.     Pbil.  Stud.  1895.    S.  805. 


138  Bichard  Müller-Freienfels: 

oben  besprochenen  dynamischen  Q-efühlstheorie.   Besonders 
günstig  wäre  für  diese  Anschauung  auch  jene  oben  bereits 
kurz  erwähnte  Theorie,  die  von  H.  A.  Carr  *)  herrührt,  und 
die  die  Lehre  Spencers  von  der  überschüssigen  Energie  zu  er- 
setzen bestimmt  ist.     Carr  möchte  an  die  Stelle  einer  vor- 
handenen,   aufgespeicherten   Kraft  eher   die   Bedingungen, 
einen  Kraftüberschuß  leicht   und    schnell  herbeizuschaffen, 
gesetzt  sehen.     „Stored  force",   sagt  er  (S.  16),   „is  rather 
an  unfortunate  term,  for  it  is  doubtful,  if  nerve  cells  störe 
any  great  amount  of  nervous  energy ;  the  term  means  rather 
conditions  for  securing  an  abundance  of  energy  readily  and 
quickly."     Es   ist  leicht  einzusehen,  wie  diese  Ansicht,   zu 
der  auch  ÖROOS   sich  sehr  günstig  stellt,   mit  meiner  oben 
ausgeführten  Anschauung  übereinstimmen  würde,   daß   ein 
großer  Teil  der  durch  die  rhythmische  Erregung  erzeugten 
Lustgefühle  daher  käme,   daß  die  Beeinflussung  des  Atems 
und  die  Anregung  auf  den  Kreislauf  d^s  Blutes  diese  Lust- 
gefühle  erzeugte   und    durch    den    Rhythmus,    genau 
wie   oben  ausgeführt,  günstige  Dissimilations- 
bedingungen,  so   auch  günstige  Assimilations- 
bedingungen geschaffen  werden. 

Denn  man  braucht  nicht  unbedingter  Anhänger  der 
Lehre,  daß  alle  Gemütszustände  Folgen  motorischer  Vor- 
gänge sind,  zu  sein,  um  doch  die  hochbedeutende  RoUe 
anerkennen  zu  müssen,  die  in  allen  Gemütserregungen 
die  Bewegungen  des  Blutes,  der  Atmung  usw. 
bilden.      Jene    sogenannte    Lange -Jame  sehe    Theorie    ging 


')  Harney  A.  Cabr  ,  The  survival  value  of  play,  1902.  Ich  zitiere 
hier  nach  Karl  Groos  :  Das  Seelenleben  des  Kindes.  •  Berlin  1904.  S.  58, 
Wie  mir  danach  scheint,  düi^  die  Theorie  Garbs,  dessen  Abhandlung 
mir  leider  nicht  zugänglich  geworden  ist,  meinen  Anschauungen 
nahe  stehen,  die  ich  in  meiner  Abhandlung  „Über  die  physio- 
logische und  biologische  Bedeutung  der  Kunst"  (Natur- 
wissenschaftliche Wochenschrift,  Neue  Folge,  VI,  S.  209  ff.)  entwickelt 
habe.  Dort  stellte  ich  denjenigen  Auffassungen,  die  die  Bedeutung 
der  Kunst  nur  in  dissimilatorischen  Wirkungen  sehen  wollen,  die 
Ansicht  gegenüber,  daß  die  Kunst  durch  die  Lieferung  von 
trophiscnen  Heizen  (Ausdruck  nach  YerworiO  auch  die  Assi- 
milation vorteilhaft  zu  beeinflussen  vermochte.  —  Näheres  vergleiche 
an  der  angeführte  Stelle. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       129 

sicherlich  in  vielem  zu  weit,  besonders  wenn  man  sie  in 
der  Form  atdGfaSt,  in  der  sie  so  oft  bekämpft  wnrde.  Doch 
wird  sich  allmählich  der  wahre  Kern,  der  darin  steckte, 
heranslösen,  und  die  Fassung,  die  neuerdings  Alfred  Leh- 
mann dieser  Lehre  gegeben  hat,  dürfte  wohl  das  Rechte 
treffen.  Jämes  selbst  hat  durch  seine  Formulierung:  „daß 
vir  nicht  weinen,  weü  wir  traurig  sind,  sondern  traurig 
sind,  weü  wir  weinen«,  selbst  zum  großen  Teil  den  Wider- 
spruch hervorgerufen,  der  seiner  Lehre  so  vielfach  begegnet 
ist.  Denn  man  nahm  „Weinen"  als  identisch  mit  „Tränen- 
sekretion" ,  übersah  aber  häufig ,  daß  vor  allem  auch  die 
inneren  vasomotorischen  usw.  Vorgänge  damit  einbegriffen 
waren,  deren  äußere  sichtbare  Wirkung  nur  die  Tränen- 
sekretion ist.  Daß  diese  inneren  Zustände  des  Kreis- 
laufes und  die  Atmung  sehr  stark  auf  das  Gefühl 
wirken,  kann  jedoch  nicht  bezweifelt  werden. 
Da  nun  durch  die  rhythmische  Erregung,  wie  durch  die 
Experimente  von  Mentz  und  anderen  außer  Frage  gestellt 
ist,  eine  solche  Beeinflussung  der  Atmung  und  des  Kreis- 
laufes stattfindet,  so  werden  wir  einen  Teü  des  durch  den 
Rhythmus  ausgelösten  Gefühles  auch  hierher  leiten  dürfen.- 
Ja,  man  darf  annehmen,  daJS  alle  jene  Affekte,  die  wie 
Freude,  Trauer,  Schreck  usw.  Varianten  der  Lust  und 
ünlusigefuhle  sind  und  deren  physiologische  Basis  leicht 
durch  Beeinflussung  der  innermotorischen  Tätigkeit  erzielt 
werden  kann,  durch  den  Rhythmus  direkt  zu  erzeugen  siud  *). 

17.  Es  zeigt  sich  also,  daß  diese  sogenannte  Elementar- 
erscheinung, der  Rhythmus  in  seiner  Wirkung  auf  den 
Olganismus,  höchst  kompliziert  ist,  und  daß  das  durch  den 
musikalischen  oder  motorischen  Rhythmus  ausgelöste  Lust- 
gefahl  durch  mehrere  verschiedene  Faktoren  zustande 
kommt.  Da  ist  erstens  das  in  den  sensorischen  Organen 
durch  die  adäquate  Reizung  erzeugte  Lustgefühl,  da  ist 
femer  das  in  den  motorischen  Organen,  sei  es  primär  im 
Tanze,    sei    es    sekundär    durch    die    oben   beschriebenen 


')  Ähnlich  auch  Siebeck,  Über  musikalische  Einfühlung,  S.  5. 
Vjerteljahrsschriftf.wissensohaftl.  Philos.  u.Sociol.  XXXII.].  9 


130  Richard  Müller-Freienfels: 

Reflexwirkungen,  ausgelöste  Lustgefühl,  dazu  kommt  die  an 
die  stärkere  Anregung  der  Zirkulations-  und  Atemtätigkeit 
sich  knüpfende  Lust ,  welche  alle  zusammen  uns  das 
Gefühl  einer  erhöhten  unddoch  in  keiner  Weise 
mühsamen,  weil  wohl  verteilten  Lebenstätigkeit 
geben,  wozu  noch  die  für  das  Rhythmusgefülil 
charakteristische  Färbung  durch  die  Spannungs- 
und Lösungsempfindungen  hinzutritt.  In  ihrer 
Gesamtheit  aber  bewirken  alle  diese  Erscheinungen  eine  lust- 
volle Erregung  des  ganzen  Organismus,  die  wir  am  besten 
als  Rausch  bezeichnen,  und  in  dieser  auf  die  beschriebene 
Weise  zustande  kommenden  Rauschwirkung  sehe  ich  den 
eigentlichen  ästhetischen  Reiz  des  Rhythmus.  Das  hat 
bereits  Karl  Grogs  ^)  sehr  klar  herausgestellt,  und  auch  bei 
früheren  Autoren  finden  sich  derartige  Gedanken  aus- 
gesprochen: „Der  Rhythmus  hat  etwas  Zauberisches,  sogar 
macht  er  uns  glauben,  das  Erhabene  gehöre  uns  an,"  sagte 
Goethe  in  den  Maximen  und  Reflexionen,  und  Groos  zitiert 
einen  Ausspruch  Nietzsches*),  der  den  Rausch  für  die 
physiologische  Vorbedingung  jeden  ästhetischen  Tuns  und 
Schauens  erklärt.  In  der  Tat  sehen  wir  bei  fast  allen 
Völkern  den  Rhythmus  zur  Erzeugung  von  rauschartigen 
extatischen  Zuständen*  verwandt. 

Das  physiologische  Zustandekommen  dieses  Rausches 
hat  seine  Erklärung  in  den  oben  beschriebenen  Zuständen : 
die  stärkere  Tätigkeit  des  Gehirns  erzeugt  eine  größere 
Anregung  des  Kreislaufs,  alle  Zellen  arbeiten  rascher,  und 
durch  die  lustvolle  Tätigkeit  tritt  das,  was  Alfred  Lehmann 
die  „Bahnung"  nennt,  ein,  das  heißt  die  frei  werdende 
Nervenenergie  wirkt  erregend  auf  die  umliegenden  Zentren, 
und  so  tritt  jene  gesteigerte  Assoziationstätigkeit  ein,  die 
wir  beim  Rausche  jeder  Art  finden.  Das  macht  den  Zustand, 
in  den  uns  zum  Beispiel  die  Musik  versetzt,  dem  Traiune 
so  ähnlich,   daß  alle  Assoziationen  viel  reicher  und  in  viel 


1)  Diese   Zeitschrift   XXII,   S.  10  f.     Vgl.  auch   das   betreffende 
Kapitel  der  Spiele  der  Menschen. 

■)  NiETZscHK,  Werke,  VIII,  S.  122. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       131 

nngewohnteren  Bahnen  verlaufen.  Groos  macht  auch  auf 
die  hypnotisierende  Wirkung  des  Rhythmus  noch  auf- 
merksam, und  ebenso  hat  Soüriau^)  das  besonders  hervor- 
gehoben. Mir  scheint  jedoch  der  Rausch  voranzustehen, 
die  starke  Anregung  der  ganzen  Lebenstätigkeit,  wobei  sich 
dami  jene  Einschläferung  der  Urteilstätigkeit  mehr  als 
sekundärer  Paktor  einstellt,  da  sie  von  den  stark  lust- 
betonten Empfindungen  zurückgedrängt  werden. 

In  der  Tat  hat  die  Wirkung  des  Rhythmus  eine  ge- 
wisse  Ähnlichkeit  mit  dem  durch  Alkohol,  Äther  und 
ähnliche  Mittel  erzeugten  Zustande-,  hier  wie  dort  handelt 
es  sich  um  eine  künstliche  Steigerung  aller  Lebenstätig- 
keiten, und  in  diesem  Rauschzustand  glauben  wir  uns  dann 
in  eine  „höhere  Welt"  versetzt,  was  von  früheren  Ästhetikern 
oft.  als  das  Ziel  aller  Kunsttätigkeit  angepriesen  wurde.  Es 
tritt  eine  lebhafte  Anregung  des  Blutkreislaufes  usw.  ein 
nnd  infolge  davon  jene  lebhaftere  Tätigkeit  der  Gehim- 
zentren ,  wodurch  jenes  intensive  Erleben  ermöglicht  wird, 
was  der  Rhythmus  in  uns  erzeugt.  So  kommt  es,  daß  wir 
in  diesem  erregten  Zustande  alle  sonst  gebotenen  Eindrücke, 
wie  die  melodische  Folge  der  Töne,  die  reproduktiven 
Elemente  bei  den  Worten,  in  viel  stärkerem  Grade  auf- 
nehmen, mit  viel  größerer  Intensität  erleben.  Daher  das 
höhere  Leben,  das  die  Kunst  vermittelt.  In  diesem  Sinne 
ist  also  der  Rhythmus  die  Vorbedingung  alles  höheren 
ästhetischen  Genießens,  wie  Niktzsehe  sagt,  oder  zum 
mindesten  ein  ganz  bedeutendes  Verstärkungsmittel.  Da- 
durch, daß  er  uns  in  jenen  oben  beschriebenen  Rausch- 
zustand versetzt,  verleiht  er  uns  die  Fähigkeit,  mit  einer 
in  gewöhnlichen  Umständen  unmöglichen  Stärke  zu  emp- 
finden und  zu  fühlen,  und  darin  besteht  eben  seine  mittel- 
bare ästhetische  Bedeutung,  während  seine  unmittelbare 
ästhetische  Wirkung  in  jenem  Spannungs-  und  Lösungs- 
gefiihl  zu  sehen  wäre. 

18.    Aber  noch  ist  damit  die  Wirkung  des  Rhythmus 


<)  SoL'BXAu,  „La  Suggestion  dans  Part.'' 


132  Richard  Müller-Freienfels: 

nicht  erschöpft.  Man  ist  zwar  seit  Fechner  gewöhnt, 
gerade  den  Rhythmus  als  typisches  Beispiel  ftlr  die 
direkten  Wirkungsfaktoren  der  Kunst  den  assozia- 
tiven gegenüberzustellen,  doch  darf  das  nicht  in  dem  Sinne 
verstanden  werden,  wie  es  zuweilen  geschehen  ist,  als  sei 
der  Rhythmus  ausschließlich  direkt,  nur  Empfindung 
ohne  assoziierte  Vorstellung.  Das  gibt  es  überhaupt  nicht 
beim  erwachsenen  Menschen;  sondern  wenn  man  den 
'  Rhythmus  als  einen  direkt  wirkenden  Kunstfaktor  be- 
zeichnet, so  kann  das  nur  in  dem  Sinne  geschehen,  daß 
man  sagt,  das  Assoziative  tritt  zurück  gegenüber  der 
direkten  Wirkung.  Ein  haarscharfe  Trennung  zwischen 
direkten  Faktoren  und  assoziativen  ist,  wie  überall,  so  auch 
hier  verkehrt,  und  man  kann  wohl  annehmen,  daß  bei 
allen  rhythmischen  Eindrücken  assoziative  Elemente  mit- 
spielen. So  ist  fast  unzertrennlich  verbunden  schneller 
Rhythmus  und  lebhafte,  erregtere,  ja  heitere  Stimmung  und 
langsamer  Rhythmus  und  ernste,  würdige,  ja  traurige 
Stimmung,  was  allein  auf  assoziative  Elemente  zurück- 
zuführen ist.  Viel  weiter  noch  war  das  bei  den  Griechen 
entwickelt,  für  die  an  jedes  Versmaß  sich  bestimmte 
Assoziationen  knüpften.  Der  Rhythmus  eines  Marsches,  eines 
Walzers  usw.  sind  jedoch  auch  bei  uns  ganz  unzertrennlich 
von  gewissen,  wenn  auch  vagen  Assoziationen  begleitet,  die 
ebenfalls  mitwirken  bei  der  Gesamtheit  des  komplizierten 
Rhythmusgefiihls. 

19.  Als  Erweiterungen  und  Steigerungsformen  des  Rhyth- 
mus, zum  Teil  auf  denselben  psychologischen  Grundlagen 
beruhend,  sind  auch  alle  jene  Formen  anzusehen,  die,  wie 
der  Refrain  und  die  Satzwiederholung  in  der  Poesie,  die 
Nachahmung,  Umkehrung  usw.  in  der  Musik,  Wiederholimgen 
einer  größeren  Einheit  sind.  Auch  hier  haben  wir  es  überall 
mit  einer  Ersparnis  an  Arbeitsleistung  bei  Vermehrung  der 
psychischen  Eindrücke  zu  tun.  Die  Beispiele  sind  zahlreich 
für  die  verschiedenen  hierher  gehörenden  Formen  und 
überall  in  der  Kunst  des  Volkes,  wo  der  Refrain  dominiert» 
in  dem  „ParaUelismus  membrorum"  der  hebräischen  Poesie, 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       133 

den  Stxoplienfonnen  der  andern  Völker,  besonders  in  der 
Musik  des  strengen  Satzes  finden  sieh  diese  Wiederholungs- 
fonnen.  Aus  diesen  Gedankenwiederholungen  haben  sich 
dann  nach  Wündt^)  auch  die  bloßen  Lautwiederholungen 
entwickelt,  von  denen  die  frühere  Form,  die  Alliteration, 
eine  spätere  Assonfiuiz  und  Beim  sind.  Der  letztere  soU 
aas  dem  Befrain  hervorgegangen  sein.  Wiederholungen 
äußerer  Vorgange',  neben  denen  das  gesungene  Lied  her- 
ging, miögen  ebenfalls  fördernd  gewirkt  haben  für  diese 
Wiederholungsformen.  So  beim  Arbeitslied  die  regelmäßige 
Wiederkehr  bestimmter  Bewegungen,  beim  Tanze  die 
Wiederkehr  gleicher  Figuren;  so  sollen  die  Germanen  die 
Gewohnheit  gehabt  haben,  die  Stäbe  ihrer  Gesänge  durch 
Schlagen  an  die  Schilde  zu  unterstützen,  und  auch  das 
Zauber-  und  Kultlied  dl*ängte  von  frühe  an  zu  Wieder- 
holungen durch  intensivere  Betonung  solcher  Wendungen, 
denen  man  eine  besondere  magische  Wirkung  zuschrieb*). 
Aus  so  verschiedenen  Wurzeln  erwuchsen  also  jene 
typischen  Wiederholungsformen,  die  uns  heute  als  unverlier- 
bare Stümittel  unserer  Dichtung  und  Musik  erscheinen. 


')  WüNDT,   Völkerpsychologie,  II,  S.  324. 
»J  Wüwi>T  a.  a.  O-,  S.  325. 


(Fortsetzung  in  nächster  Nummer.) 


Die  soziologischen  Bestrelmngeii  in  der  neueren  Ethik. 

Von  Bemetrius  Gusti,  Berlin. 
Inhalt. 

A.  Zur  Soziologie  der  ethisohen  Prinzipienfraffen.  1.  Aufgabe  des 
Aufsatzes.  2.  Die  zwei  prinzipiellen  Grundfragen  der  JSthik ;  die  ethisch-literarische 
Bewegung  unserer  Zeit  läBt  sich  methodolo^sch  durch  die  Stichwörter:  Sozial- 
eYolutionismus,  Sozialkritizismus  und  Sozialismus  charakterisieren.  3.  Die  sozial- 
kritische,  formalistisch-deduktive  Methode  in  Cohens  Ethik  ist  unfruchtbar.  4.  Die 
Bedeutsamkeit  der  proletarischen  Ethik  Kautskys,  die  von  ihm  angewandte 
Ökonomisch-biologische  Methode  ist  unzulänglich.  5.  Die  soziologische  Begrdndung 
der  Ethik  durch  Staudinger.  H.  Der  juristisch-sozialistische  Standpunkt  Mengers 
ist  ethisch  unzul&asig.  7.  Der  Sozialevolutionismus  der  positiven  Ethik  Batzen- 
hofers  ist  metaphysisch.  8.  Der  aprioristische  Gesichtspunkt  im  dogmatisch- 
induktiven  Sozialevolutionismus  der  Ethik  Westermarcks.  9.  Lev^r-Bruhls 
Amoralismus  ist  nur  angedeutet.  10.  FoulUäes  Versuch  ist  logisch  -  kon- 
struktiv. 11.  Die  Ethik  Paulsens  ist  historisch-genetisch  und  sozial-teleolo^isch. 
12.  Wundts  Ethik  ist  sozialevolutionistisch  und  kritisch-realistisoh.  lA.  Das  Fazit 
der  bisherigen  Auseinandersetzungen.  —  B.  Zur  soziologischen  Betraohiung 
der  Willensfreiheit  in  der  Straf rechtswissenschaft.  14.  Strafrecht- 
liche Bedeutuns  der  Willensfreiheit:  de  lege  lata  und  de  lege  ferenda. 
15.  Windel  b  an  a  8  Monographie.  16.  Für  und  wider  die  Willensfreiheit  in  der  neuesten 
kriminalistischen  Literatur:  Kohler,  v.  Ko  bland,  Cathrein,  Pf  ist  er.  Gut- 
beriet, Gr.if  zu  Dohna,  v.  Hippel,  Petersen.  17.  Bonger  vertritt  den 
Uuliersten  sozialen  Determinismus.  18.  v.  Liszts  soziologische  hundierung  d«»8 
Strafrechts.  —  G.  Zur  Univer  sitfttsffthigkelt  einer  selbständigen, 
soziologischen  Disziplin.  19.  Sozialphilosophische  Erneuerung  der  philo- 
sophischen und  Sozialwissenschaft«n ;  die  diiettierenden  PlJüiemacher  diskreditieren 
die  Soziologie:  sie  muß  in  das  Universitätsstudium  aufgenommen  werden. 

A.  Zur  Soziologie  der  ethischen  Prinzipienfragen. 

1.  Keinem  denkenden  Beobachter  der  Gegenwart  ist  die 
Tatsache  entgangen,  daß  einer  gewissen  Geringschätzung 
der  Ethik  eine  „ethische  Bewegung"  gefolgt  ist,  welche  die 
Revision  des  modernen  Gewissens  gebieterisch  fordert. 

Die  Frage  nach  dem  Verhältnis  des  Wissens  zum  Ge- 
wissen, des  Seienden  zum  SeinsoUenden,  des  geistig-sozialen 
Lebens  zum  kategorischen,  gesetzgebenden  Imperativ  wurde 
durch  mannigfache  Gestaltungen  des  modernen  sozialen 
Lebensinhaltes,  unter  welchen  als  die  wichtigsten  folgende 
hervorzuheben  wären,  zu  einer  dringenden  gemacht:  die 
eigentümliche  Art,  in  der  die  verschiedenen  sozialen  Gruppen 
das  Verhältnis  der  Individuen  zueinander  und  zum  Ganzen 


Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       135 

bestimmen,  der  Kontrast  zwischen  Arbeitslosigkeit  und  Über- 
arbeitung, das  Verhältnis  in  der  Verteilung  von  Arbeit  und 
Genuß,  die  Zunahme  der  Selbstmorde  und  der  jugendlichen 
Verbrecher,  sowie  die  Zunahme  der  Verbrecher  gegen  die 
Sittlichkeit  und  der  Rückfalligen,  femer  die  einfache  Tat- 
sache des  Strebens  der  breitesten  Masse  nach  der  Beteiligung 
an  der  Gesetzgebung,  sowie  der  Gedanke  der  Intemationalität 
in  der  Politik  und  Volkswirtschaft  und  nicht  zuletzt  das  leb- 
haft empfondene  religiöse  nud  metaphysische  Bedürfnis  nach 
einem  neuen  Lebensideal. 

Ein  Blick  auf  die  Anschauungen  der  Zeitgenossen  zeigt 
das  neu  belebte  und  allgemein  gesteigerte  Interesse  für 
ethische  Probleme  zur  Evidenz.  Zunächst  ist  an  den 
ethischen  Hintergrund  und  die  ethische  Tragweite  der  Tätig- 
keit der  verschiedenen  einflußreichen  Vereinigungen  der 
(Gegenwart  zu  erinnern.  Als  Ausfluß  des  erwachenden  und 
immer  mehr  wachsenden  Pflichtbewußtseins  tritt  uns  bei 
den  Nationalökonomen  der  „Verein  für  Sozialpolitik",  bei 
den  Kriminalisten  „die  internationale  kriminalistische  Ver 
einigung",  bei  den  Moralphilosophen  die  „Societies  of  ethical 
culture"  (die  Gesellschaft  für  ethische  Kultur  in  Deutschland) 
entgegen,  die  Theologen  haben  „die  sozial-evangelischen 
Kongresse"  und  sogar  die  Staaten  selber  „die  inter- 
nationalen Friedenskonferenzen"  zu  einer  periodisch  wieder* 
kehrenden  Erscheinung  gemacht. 

In  besonders  charakteristischer  "Weise  erscheint  uns 
aber  diese  „ethische  Bewegung"  bei  den  Denkern  unter  den 
modernen  Dichtern,  so  in  Tolstois  „Erneuerung  des  Christen- 
tums" ,  in  Nietzsches  „Übermenschen",  „in  Ibsens  „drittem 
Reiche"  einerseits  und  in  den  moralphilosophischen  Unter- 
suchungen der  neuesten  Vergangenheit  anderseits. 

In  dieser  Abhandlung  sollen  zunächst  die  einzelnen 
Hauptrichtungen,  in  denen  sich  die  Moralphüosophie  gegen- 
TTärtig  bewegt,  zu  Worte  kommen. 

Daran  schließt  sich,  imi  ein  möglichst  treues  Bild  von 
den  Bestrebungen  der  neueren  Ethik  zu  geben,   die  kurze 


13G  Demetrius  Gusti: 

Betrachtung  eines    ethischen  Einzelproblems,   der  Willens- 
freiheit, in  der  Strafrechtswissenschaffc. 

Anhangsweise  sollen  schließlich  einige  kurze,  aus  dem 
Aufsatz  sich  von  selbst  ergebenden  Bemerkungen  über  die 
Soziologie  als   einer  universitatsfahigen  Disziplin  folgen^). 

2.  Vorerst  ein  paar  einleitende  Erwägungen  prinzipieller 
und  methodologischer  Art  zur  Gewinnung  eines  einheit- 
lichen Qesichtspunktes : 

Das    Ausschlaggebende    der   Ethik    besteht    m«   E.    in 
einer    doppelten    Frage:    in    einer    Frage    nach   dem   tat- 
sächlichen Inhalt  der  Sittlichkeit,  wie  er  sich  in  seiner  Ent- 
wicklung darstellt,   und  in  einer  Frage  nach  der  sittlichen 
Beurteilung  dieses  Inhalts,  wie  sie  als  das  Sittiich-Normative 
zur  Geltung  kommt.    Hiermit  spaltet  sich  die  Ethik  in  zwei 
Seiten.     Es   entsteht  erstlich  die  Frage  nach  der  Entwick- 
lung   des    sittlichen    Seins   imd   Werdens    und    dann    erst 
die  Ergänzungsfrage  nach  der  Allgemeingültigkeit  des  sitt- 
lichen   Seinsollens.      Diese    beiden    Seiten    der    ethischen 
Betrachtung  werden  naturgemäß  bei  ihrer  Bearbeitung  zu 
zwei  getrennten  Teilen   der  Ethik  und  benötigen  einander. 
Der  erste    Teil  ist  ohne   den  zweiten  unfertig,   der  zweite 
ohne   den   ersten  unmöglich ,   denn  einerseits   sagt  uns  die 
Erkenntnis   der  sittHchen  Erscheinungen  als  solche  nichts 
über  das,  was  wir  tun  soUen,  und  anderseits,  was  geschehen 
soll,  kann  nur  der  angeben,  der  weiß,  was  bisher  geschehen 
ist,  und  was  unter  bestimmten  Bedingungen  geschehen  kami. 
Mit  dem  prinzipiellen  Verzicht  auf  diesen  oder  auf  jenen 
Teil  gibt  sich  die  Ethik  als  solche  selbst  auf.    In  der  Be- 
gründung und  Ausführung  dieser  beiden  Seiten  der  Ethik 
und  des  Verhältnisses  derselben   zueinander  besteht  m.  E. 
das  ethische  Problem. 

Wer  zur  Lösung  des  Moralproblems  einen  Beitrag  zu 
liefern    unteminmit,    muß    vor    allem    über    die    methodo- 

1)  Ich  betone  ausdrücklich,  daß  es  nicht  meine  Absicht  sein  kann, 
im  Rahmen  dieser  Abhandlung  eine  eingehende  und  erschöpfende 
Kritik  der  besprochenen  Anschauungen  zu  geben;  es  soll  vielmehr 
dies  nur  insoweit  geschehen,  als  es  für  eine  rasche,  prinzipielle  Orien- 
tierung über  die  oben  genannten  drei  Punkte  notwendig  erscheint. 


Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       137 

logischen  Mittel,  mit  welchen  man  das  Moralproblem  wissen- 
tfchafUicIi  zTi  bearbeiten  hat,  klar  sein. 

Es  sind  insbesondere  drei  methodologische  Ghnmd- 
i^anken,  die  in  der  neueren  Ethik  zu  voller  Entfaltung 
und  Fmclitbarkeit  gediehen  sind,  und  welche  gleichzeitig 
den  drei  großen  Weltanschauungen  unserer  Zeit  entsprechen, 
die  man  kurz  als  den  Sozialevolutionismus  (die  kausale  und 
teleologische  Untersuchung  der  Entwicklungssta^ien  der 
sozialen  Kealität),  den  Sozialkritizismus  (die  erkenntnis- 
kritiscHe  Analyse  des  Bestehens  des  sozialen  Entwicklungs- 
produktes) imd  endlich  den  Sozialismus  *)  (die  kausal- 
ökonomische  Erkenntnis  der  notwendigen  Entwicklungs- 
tendenz des  Sozialen)  bezeichnen  kann*).  In  diesen  drei 
Forschnngsmethoden  scheint  mir  der  tiefste  Grund  aller 
sozialwissenschafblichen  Kämpfe  sowie  der  verschieden- 
artigen Formulierungen  und  Begründungen  der  ethischen 
Forderungen  zu  Uegen. 

Von  diesen  aufs  allerknappste  skizzierten  Methoden 
der  prinzipielien  Fragestellung  aus  sollen  in  zusammen- 
hängender Aneinanderreihung  die  Besprechungen  der  uns 
vorliegenden  Werke  von  Cohen,  Kautsky,  Staüdingek,  Menger, 

')  Es  ist  wohl  nicht  nötig  darauf  einzugehen,  daß  „sozialistisch^ 
und  j^zialdemokratisch''  nicht  identische  Ausdrücke  sind,  vgL  über 
den  ÜTSprung  derselben  C.  Grünbero,  Der  Ursprung  der  Worte 
Sozialismus  und  Sozialist  „Zeitschrift  für  Sozialwissenschaft",  Jahrg. 
1906,  S.  495  f. 

')  Um  möglichen  Mißverständnissen  vorzubeugen ,  füge  ich 
hinzu,  daß  diese  Grundtypen  ethischer  Forschung  Schlagwörter 
sind,  die  nur  die  vorherrschenden  Grundrichtungen  der  neueren  Ethik 
kennzeichnen  wollen.  Sie  kommen  natürlich  auch  in  reiner  Form  vor, 
wie  uns  die  folgenden  Auseinandersetzimeen  zeigen  werden  (so 
sind  flJs  Vertreter  des  [dogmatischen]  SoziaTevolutionismus  Wester- 
sfARCK,  des  reinen  Sozialkritizismus  Cohen,  des  [dogmatischen]  Sozialis- 
mus Kautsky  zu  nennen),  sie  lassen  sich  aber  nicht  immer  scharf 
und  deutlidi  gegenein  anaer  abheben;  ist  doch  der  Marxismus  selber 
Ktreng  genommen  nur  eine  unter  Hegelianischem  Gewand  hervor- 
tretende Abart  des  Sozialevolutionismus;  sie  lassen  sich  vielmehr 
friedh'ch  untereinander  vereinigen  und  ergänzen,  so  daß  sie  in  allen 
md^lichen  Kombinationen  erscheinen  können:  als  kritischer  Sozial- 
evoTutfonismufl  (Wündt,  Pauiäen)  oder  als  kritischer  Sozialismus 
(SrADDmoE&jy  ja,  sie  nehmen  auch  sonst  andere  Formen  an  wie  die  des 
znetaphysischeii  Sozialevolutionismus(E>ATZENHOFER)  oder  die  des  juristisch- 
ntopimmen  Sozialismus  (Menoer). 


138  Demetrius  Gusti: 

Ratzenhofeb,    Westermakck   resp.    Hobhouse,    Lävy- Brühl, 
FouiLLÄE,  Paulsen  resp.  Thilly  und  Wündt  folgen, 

3.  Die  Arbeiten  von  Hermann  Cohen,  Ethik  des  reinen 
Willens,  Berlin  1904  (System  der  Philosophie,  zweiter  Teil, 
()41  S.),  und  von  Karl  Kaotsky,  Ethik  und  materialistische 
Geschichtsauffassung,  Stuttgart  1906  (144  S.)  bilden  den 
denkbar  schönsten  und  lehrreichsten  Gegensatz. 

Das  erste,  womit  eine  ethische  Untersuchung  zu  be- 
ginnen hat,  meint  Cohen,  ist  das  SoUen;  „Die  Idee  muß 
restlos  in  dem  Sollen  aufgehen.  Die  Idee  ist  das  Sollen. 
Dieses  Sollen  beschreibt  und  bestimmt  das  Wollen,  welches 
den  Inhalt  der  Ethik  bildet?"  (S.  26).  Gerade  das  Gegenteil 
behauptet  Kautsky:  „Die  Wissenschaft  hat  es  stets  nur  mit 
dem  Erkennen  des  Notwendigen  zu  tun.  .  .  .  Die  Ethik 
darf  stets  nur  ein  Objekt  der  Wissenschaft  sein;  diese 
hat  die  sittlichen  Triebe  wie  die  sittlichen  Ideale  zu  er- 
forschen imd  begreiflich  zu  machen ;  sie  hat  aber  von  ihnen 
keine  Weisungen  zu  empfangen  über  die  Resultate,  zu  denen 
sie  zu  gelangen  hat"  (S.  141).  Die  Eigenart  dieser  gegen- 
sätzlichen Ausgangspunkte  erklärt  sich  dadurch,  daß  die 
Leuchte,  an  der  sich  Cohen  orientiert,  Kants  Methode,  der 
orientierende  Pol  für  Kautsky  dagegen  Marx'  Lehre  ist.  Die 
Untersuchungen  Cohens  und  Kaütskys  haben  die  Programme 
von  Kant  und  Marx  ins  einzelne  ethisch  ausgeführt.  Prüfen 
wir  nunmehr  des  näheren,  worin  diese  Ausführungen  be- 
stehen. 

Die  Ethik  Cohens  ist,  so  seltsam  das  klingen  mag, 
kantianisch,  juristisch  und  sozialistisch;  die  ihr  zugrunde 
gelegte  Methode  kann  als  eine  formaldeduktive,  sozial- 
kritische bezeichnet  werden.  In  Cohens  Ethik  feiert  die 
kantische  „Methode  der  Reinheit**  ihren  höchsten  Triumph ; 
die  durch  diese  Methode  erzeugten  reinen  Begriffe  werden 
in  der  Wirklichkeit  als  einfach  gegebene  hypostasiert. 
„Überall  wo  die  Reinheit  waltet,  schreibt  Cohen,  da  werden 
Inhalte  erzeugt,  denen  eine  Art  des  Seins  zusteht"  (S.  400). 
„Der  tiefste  Sinn  der  Reinheit",  lautet  eine  andere  Stelle, 
M liegt   in  der  Anwendbarkeit,   in  der  Erzeugung  des  Seins, 


Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       139 

als  einer  Anwendung  des  reinen  Begriffes.  Auf  die  Wirklich- 
keit geht  die  Anwendung  der  Reinheit;  aber  die  Reinheit 
vollzieht  dabei  die  Umwandlung  der  Wirklichkeit"  (S.  370). 
Der  Inhalt  der  Ethik  ist  der  Begriff  des  reinen  Willens 
(S.  7G/77).  Der  reine  Wille  wird  folgendermaßen  definiert: 
,er  ist  das  Gesetz  des  Willens,  also  das  Sollen"  (S.  268). 
Der  Inhalt  des  reinen  Willens  ist  das  Selbstbewußtsein:  „es 
ist  das  Sollen  des  Selbstbewußtseins,  welches  im  reinen 
Wollen  sich  vollzieht"  (S.  268).  Nun  ist  das  Selbst  eine 
Einheit.  Den  Begriff*  von  der  Einheit  kennt  man  von  der 
Logik  her,  die  Logik  ist  also  die  Voraussetzimg  der  Ethik 
<S.  36,  69,  83,  85,  369);  mit  dem  Begriff  der  Einheit  eröffnet 
sich  uns  zugleich,  fahrt  Cohen  fort,  der  Zusammenhang  der 
Ethik  mit  der  Rechtswissenschaft;  in  der  Tat  ist  die  Rechts- 
wissenschaft, nach  Cohen,  die  Mathematik  der  Geistes - 
Wissenschaften,  also  auch  der  Ethik  selbst  (S.  63,  75,  255, 
'M\,  587);  an  die  Jurisprudenz  muß  sich  also  die  Ethik  an- 
lehnen. Und  zwar  in  folgender  Weise:  Die  Einheit  des 
Individuums  ist  begrifflich  ermöglicht  nur  durch  die  Allheit, 
Repräsentant  der  Allheit  ist  der  reine  Begriff'  des  Staates 
(welcher  sich  im  wesentlichen  mit  dem  Menschheitsbegriff 
deckt),  und  die  Wissenschaft  vom  Staate  ist  die  Juris- 
prudenz. 

Die  Ethik  des  reinen  Willens  ist  —  wenn  man  den 
Grundgedanken  seines  Werkes  zusammenfaßt  —  die  Lehre 
von  Einheit  und  Allheit;  diese  Grundbgriffe  sind  von  den 
Begriffen  der  Einzelheit  und  Mehrheit  streng  zu  scheiden: 
-Vielheit  ist  nicht  Gesamtheit;  Vielheit  ist  Mehrheit;  Ge- 
samtheit ist  Allheit.  Einheit  ist  vorzugsweise  Allheit ;  sonst 
nur  Einzelheit,  welche  der  Mehrheit  zugehört  (S.  75/76,  219, 
220,  353,  489).  Von  der  Einzelheit  und  Mehrheit  handelt 
die  empirisch  geförbte  Soziologie,  welche,  wie  die  Psycho- 
logie, auf  der  Ethik  errichtet  werden  muß,  ebenso  wie  die 
Naturwissenschaft  auf  der  Mathematik  und  nicht  xungekehrt 
(S.  9,  38,  41,  98,  322,  603). 

Die  vorliegende  Ethik  des  fiir  die  Kantforschung  ver- 
dienstvollen Marburger  Professors,  als  eine  im  Sinne  Kants 


140  DemetriuB  Gusti: 

geschriebene  Logik  der  Ethik,  schärft  den  Verstand  und 
enthält  manche  för  die  Rechtswissenschaft,  besonders  für 
die  Begrifisjxirisprudenz .  anregende  Ausführungen ,  wovon 
diejenige  über  die  Juristische  Person"  (S.  217 — 231)  und 
„den  Staat"  (S.  227)  hervorzuheben  wären;  sie  ist  aber,  was 
die  ethischen  Prinzipienfragen  anbetrifft,  arm  an  Resultaten 
und  unfruchtbar,  wie  alle  philosophischen  auf  „reine"  Be- 
griffe aufgebauten  Werke.  Denn  wieviel  wir  auch  Kant 
verdanken,  und  so  reichen  Gewinn  wir  auch  heute  noch 
aus  seiner  Lehre  ziehen  können,  gerade  in  dem  Punkte  der 
„reinen"  Methode  sind  wir  heute  seine  Schüler  nicht  mehr. 
Cohens  Ethik  nimmt  das  Nichts,  das  „Nirgendwo"  als  Aus- 
gangspunkt und  will  „die  WirkHchkeit  umklammem,  um  sie 
zu  bändigen,  zu  meistern,  zu  verwandeln"  (S.  370).  Diese 
Operation  ist,  nach  ihm,  der  tiefste  Sinn  der  Reinheit  (370). 
Es  sei  mir  gestattet,  ein  Beispiel  von  dieser  Reinheits- 
methode zu  geben;  S.  126  bezeichnet  Cohen  den  reinen 
Willen  als  „Ursprung  der  Bewegung",  und  charakterisiert 
dies  wie  folgt:  „Die  Seele  ist  Selbstbewegung,  das  bedeutet 
ims:  die  Bewegung  hat  ihren  Ursprung  in  sich  selbst;  das 
heißt:  sie  ist  rein  wie  das  reine  Denken.  Aber  das  reine 
Denken  erschöpft  den  Begriff  der  Seele  nicht.  Wohlan, 
die  Seele  ist  auch  Wüle.  Und  der  Wille  ist  auch  Bewegung. 
Auch  diese  seelische  Bewegung  ist  Selbstbewegung,  muß 
ihren  Ursprung  in  sich  selbst  haben." 

Jeder,  der  auch  nur  eine  Dosis  von  Wirklichkeitssinn 
besitzt,  wird  ein  solches  Räsonnement,  das  das  obige  Zitat 
enthält,  als  eine  Spekulation  für  das  Wölkenkuckucksheim 
bezeichnen  müssen. 

Cohen  stellt  in  seiner  Ethik  kein  neues  „absolutes, 
logisch  notwendiges"  Moralprinzip  auf,  er  eignet  sich  viel- 
mehr die  alte  zweite  EANTsche  Fassung  des  kategorischen 
Imperativs  an:  „Handle  so,  daß  du  deine  Person  wie  die 
Person  eines  jeden  anderen  jederzeit  zugleich  als  Zweck, 
niemals  bloß  als  Mittel  brauchst."  Interessant  ist  die  Cohen- 
sche  Interpretation  dieser  Fassung,  sie  deklariert  nämlich, 
nach  ihm,  „die  Idee  der  Menschheit  und  die  politische  Idee 


Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.      141 

des  Sozialismus",  und  er  fagt  noch  hinzu:  „In  diesen  Worten 
ist  der  tiefste  und  m&chtigste  Sinn  des  kategorischen  Ln- 
perativs  ausgesprochen ;  sie  enthalten  das  sittliche  Programm 
der  neuen  Zeit  und  aller  Zukunft  der  Weltgeschichte" 
(S.  303/4) »). 

Für  den  sozialistischen  Geist  der  CoHENschen  Ethik 
sprechen  noch  folgende  Belege :  er  spricht  einmal  von  dem 
.sittlichen  Feuergeist"  Marx;  er  nennt  ihn  sogar  einen 
-Gesandten  Gottes"  (S.  296),  die  „materiaUstische  Geschichts- 
ansicht" ist  endlich,  nach  ihm,  nur  ein  logischer,  „aber  kein 
ethischer  Fehler"  (S.  296,  36). 

4.  K.  Kaütsky,  der  wissenschaftliche  Führer  der  strengen 
Marxisten,  ist  mit  den  Ausfahrungen  Cohens  gar  nicht  ein* 
verstanden.  Kaütsky  ist  ein  lebhafter  Gegner  des  Ein- 
dringens des  Eantianismus  in  den  Sozialismus,  er  hielt  daher 
die  Veröffentlichung  seiner  Ethik,  „angesichts  des  großen 
Einflusses,  den  die  KANTsche  Ethik  in  unserer  eigenen  Beihe 
gewonnen",  als  „dringend  notwendig"  (Vorwort).  In  der 
Tat,  die  Kritik  der  KANTschen  Ethik  (S.  22—44)  bildet  trotz 
einiger  allzu  scharfer  Ausdrücke  den  besten  Teil  der  Schrift  *). 
Der  Versuch  Kaütskys,  Kakts  Ethik  zu  widerlegen,  kulminiert 
in  dem,  wie  mir  scheint,  richtigen  Satze,  daß  der  kate- 
gorische Imperativ  empirische  Elemente  in  sich  enthält,  d.  h. 
soziale  Tendenz  hat:  „Es  sollen  hier",  schreibt  Kautset, 
.nicht  bloß  die  Gesellschaft,  sondern  auch  schon  ein  be- 
stimmter Gesellschaftiszustand  als  möglich  und  wünschbar 
vorausgesetzt  werden"  (S.  32),  femer,  „das  Sittengesetz 
hat  demnach  eine  harmonische  Gesellschaft  zu  schaffen. 
Und  eine  solche  muß  möglich  sein,  sonst  wäre  es  doch 
widersinnig,  sie  schaffen  zu  wollen"  (S.  33)*). 

')  Dies  ist  ein  alter  Gedanke  Cohens.  Schon  in  der  fünften  Auf- 
lage seines  Werks  „Kants  Begründung  der  Ethik*^.  Berlin  (1896) 
finden  wir  den  Satz:  Kant  ist  der  wahre  und  wirkliche  Urheber  des 
deutschen  Sozialismus  (S.  LXVl 

^  Diesbezüglich  ist  besonaers  auf  die  gleich  nach  dem  Erscheinen 
der  Sichrift  entstandene  Polemik  zwischen  Kaütsky  und  Bauer  hin- 
zuweisen. Vgl.  Otto  Bauer,  Marxismus  und  Ethik.  „Neue  Zeit".  1906. 
S.  455  f. ;  K.  Kaütsky,  Leben,  Wissenschaft  und  Ethik.  Ebenda.  1906. 
8.  516  f. 

^  Diese  Auffassung  des  kategorischen  Imperativs  Kants  ist  vor 


142  Demetrius  GuBti: 

Ich  wende  miöh  zu  dem  positiven  Teil  der  Ethik 
Kautskys  und  hebe  zuerst  die  symptomatische  Bedeutung 
der  Veröffentlichung  der  Schrift  als  solche  hervor. 

Ich  setze  die  sog.  materialistische  Geschichtsauffassung 
als  bekannt  voraus  *)  und  erwähne  nur  die  Anschauimg  der- 
selben, der  Engels  in  seiner  Rede  an  Marx'  Grabe  den  besten 
Ausdruck  gab,  nämlich,  daß  Marx  das  Entwicklungsgesetz 
der  menschlichen  Gesellschaft  [entdeckt  hat  —  wie  Darwin 
das  Gesetz  der  menschlichen  Natur  — ,  welches  darin  besteht, 
daß  die  kommende  Umgestaltung  der  Gesellschaft,  die 
Herausentwicklung  des  Sozialismus  und  des  Kapitalismus 
mit  der  Notwendigkeit  eines  Naturgesetzes  sich  vollziehen 
wird;  dies  heißt  mit  anderen  Worten,  daß  die  gesellschaft- 
liche Entwicklung  ein  naturgeschichtliches  Produkt  ist, 
welches  nicht  nur  vom  Wollen  und  Bewußtsein  der  Menschen 
unabhängig  ist,  sondern  vielmehr  umgekehrt  deren  Bewußt- 
sein und  Wollen  notwendig  bestimmt.  Dieser  Auffassung  der 
Sittlichkeit  gemäß  betrachtete  sich  der  Marxismus  als 
„amoral"  und  „moralfrei"  und  sprach  geringschätzig  von 
aller  Ethik  als  von  einer  „konventionellen,  schönfärberisch- 
heuchlerischen  offiziellen  Ethik**.  Der  Versuch  Kautskys, 
nunmehr  das  Wesen  des  sittlichen  WoUens  näher  zu  er- 
fassen (vgl.  S.  3),  ist  infolge  der  Erkenntnis  seiner  Be- 
deutung als  eine  wertvolle]; Konzession  anzusehen  zugunsten 
derjenigen  Marx-Frevler,  die,  ohne  den  wahren  Kern  der 
Marxistischen  Lehre  zu  verkennen,  gegen  die  oben  entwickelte 
absolute  Degradierung   des   Bewußtseins  und  Wollens    des 

Kaitsky  von  Conrad  Schmidt  in  klarer,  überzeugender  Weise  ver- 
treten worden.  Vgl.  Conrad  Schmidt,  Sozialismus  und  Ethik.  ^Sozia- 
listische Monatshene^.  1900.  S.  522  f.,  dagegen  L.  Woltmann,  Die  Be- 
gründung der  Moral.  (Ebenda.  1900.  S.  718  f.);  vgl.  auch  die  Er- 
widerung C.  Schmidts,  Nochmals  die  Moral.  (Ebenda.  1900.  S.  795  f.). 
^)  Vgl.  zur  Einführung  in  die  Marxistische  Gedankenwelt: 
Fr.  Engels,  Herrn  Dührinos  Umwälzung  der  Wissenschaft  6.  Aufl. 
Stuttgart  1907.  P.  Barth,  Die  Philosophie  der  Geschichte  als  Sozio- 
logie. Leipzig  1897.  S.  303.  Eine  gute  Orientierung  gibt  neuer- 
dings W.  Ed.  Biermann  in  seiner  mit  vielen  Literaturangaben 
versehenen  Schrift:  Die  Weltanschauung  des  Marxismus.  Leipzig 
1908  (83  S.).  Siehe  noch:  Adolph  Landry,  L'ethique  de  Karl  Murx. 
Paris  1904  (24p.)  und  Eerdinando  Puulia,  La  realt^  sociale  ed  il  problema 
etico.    Messina  1906.    S.  81—130. 


Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik,       143 

Menschen  protestierten,  —  eine  Konzession,  die  doch  auf 
gewisse  Modifikationen  der  sog.  materialistisLchen  Geschichts- 
anffassnng  hinauslaufen  muß.  Allerdings  Eautskt  behauptet 
noch  mit  Energie,  daß  „eine  Wechselwirkung  zwischen 
der  Ökonomie  und  ihrem  geistigen  Überbau  —  Moral, 
Religion,  Recht,  Kunst"  besteht  (S.  128),  und  daß  die  Moral 
<wohl  als  Wirkung!)  auf  das  gesellschaftliche  Leben  (als 
Ursache!)  fördernd  zurückwirke  (S.  129).  Es  ist  aber  klar, 
daß  Kaütsky  mit  diesen  Behauptungen  das  Opfer  seiner 
Dialektik  wird,  denn  seltsam  muß  es  anmuten,  von  einer 
Wechselwirkung  zu  reden,  in  welcher  die  Wirkung  die 
Ursache  fördere !  Übrigens  gibt  Kautsky  selbst  zu,  daß  der 
Geist  in  der  Technik  „auch  eine  Rolle  spielt  neben  dem 
Werkzeug"  (S.  128),  ja  diese  Rolle  ist  sogar  eine  sehr  be- 
arhtensw^erte,  denn  Kautsky  definiert  die  Technik  als  die 
.bewußte  Erfindung  und  Anwendung  von  Werkzeugen  durch 
den  denkenden  Menschen"  (S.  128,  vgl.  auch  S.  8Ö). 

In  diesen  konkludenten  und  gewollten  Zugeständnissen 
t>e^*teht  das  Bedeutsame  der  Veröffentlichung  der  Ethik 
Kautskts.  Der  positive  Ausbau  dieser  Ethik  ist  jedoch  nicht 
auf  der  Höhe  dieser  Bedeutsamkeit.  Kaütskys  ethischer  Stand- 
punkt istderspinozistische:  res  humanas  nee  ridere,  neclugere 
sed  intelligere,  er  will  das  Sittliche  nur  begreifen  und  kausal 
verstehen ;  für  diesen  Zweck  bekennt  er  sich  in  unkritischer 
Weise  zu  der  so  lebhaft  befehdeten  Darwinistischen  Ethik,  die 
er  in  geschickter  Weise  mit  dem  historischen  Materialismus 
verknüpft.  Der  Mensch  ist  nach  ihm  mit  „sozialen  Trieben" 
ausgestattet,  die  weit  in  die  Tierheit  zurückreichen.  „Diese 
sozialen  Triebe  sind  aber,  nach  Kautsky,  nichts  anderes  als 
die  erhabensten  Tugenden,  ihr  Inbegriff  das  Sittengesetz" 
(S.  62).  Auch  das  Gewissen,  „die  Sonne  unseres  Sitten- 
tages", wie  Goethe  es  genannt  hat,  ist  „nichts  anderes"  als 
-ein  tierischer"  Trieb  (S.  63).  Die  Kraft  der  sozialen 
Triebe  gestaltet  sich  verschieden  in  verschiedenen  Zeiten 
und  Klassen  derselben  Gesellschaft;  die  ökonomische  Ent- 
wicklung schafft  besondere  moralische  Satzungen,  welche 
sich   innerhalb  der  Gesellschaft  auf  eine  einzige  Klasse  be- 


144  Demetrius  Gusti: 

schränken.  Das  sittliche  Ideal  ist  daher,  nach  Kautskt, 
negativ:  „nichts  als  der  Gegensatz  zur  herrschenden  Sitfc- 
liöhkeit"  (S.  136),  positiv:  „eine  besondere  Waffe  für  die 
besonderen  Verhältnisse  des  Klassenkampfes^  (S.  141). 

Kautsky     hat    da,s     ethische    Problem,     das     er    sich 
gestellt    hat,     nicht    gelöst,     sondern    beiseite    geschoben. 
Von    der    Formulierung    des    sittlichen    Ideals    kann    hier 
nicht    gesprochen    werden,    denn    dies    Ideal    ist    ftlr   ihn 
bloß    ein   politisches   Mittel   in   den   Händen    des    klassen- 
bewußten Proletariats  zur  Erreichung  rein  politischer  Zwecke. 
Es  bleibt  nur  seine  Erforschung  des  Sittlichen.   Der  Staud- 
punkt, den  er  einnimmt,  ist  aber  der  denkbar  naivste.    Zu- 
nächst fallt  es  auf,   daß  die  Aufzählung  und  Beschreibung 
der  von  ihm  angeführten  „sozialen  Triebe"  (Selbstlosigkeit, 
Tapferkeit,   Treue,   Disziplin,  Wahrhaftigkeit,  Ehrgeiz)  von 
seinem  biologischen  Standpunkte  aus  bei  weitem  nicht  er- 
schöpfend ist,   er  könnte  darüber  bei  Comte  und  Spencer, 
die  zusammen  beinahe  20  solcher  „Instinkte"  und  „Triebe" 
anfahren,    reiche   Belehrung    finden^).     Auffallend    ist   es 
femer,   daß   der  sonst  so  scharfsinnige  Analytiker  Kautsky 
die  Analyse  dieser  „Triebe"  in  etwas  hochtrabendem  Tone 
mit  Behauptungen,  wie:   nichts  als  „tierische  Triebe"  ab- 
zufertigen glaubt,   obwohl  es  sich  hier  um  so  komplizierte 
psychische  Tatsachen  handelt,  welche  in  innigem  Zusammen- 
hang  mit   der  Entwicklung  des   Selbstbewußtseins   stehen. 
Das  konmit  wohl  davon,  daß  er,  wie  es  scheint,  keine  klare 
Vorstellung  von   der  Fruchtbarkeit  und  der  Tragweit«  der 
psychologischen  Methode  hat  *).  Die  klassischen  Arbeiten  von 

')  Vg^l.  Demetrjuh  Gusti,  Bd.  1904  dieser  Zeitschrift  S.  7:  Egoismus 
und  Altruismus  bei  Comtb  und  Spencer. 

^)  Die  Auffassung  Kautskys  des  Sittengesetzes  als  ein  .Produkt 
der  Tierwelt''  hat  auch  in  den  Kreisen  der  Marxisten  Widersprach 
gefunden.  Vgl.  L.  Qüessel,  Der  Affe  als  Erzieher.  („Neue  Zeif^.  1907. 
§.  154  f.).  Kautsky  antwortet  darauf  mit  einem  Aufsatz:  „Über  den 
Ursprung  der  Moral."  (Ebenda,  1907.  S.  213  f.),  wo  er  zu  folgendem 
Geständnis  kommt:  „Ich  gebe  zu,  daß  ich  in  meiner  Ethik  im  Interesse 
der  Kürze  mit  den  Beweisen  fQr  meine  Behauptungen  vielleicht  allzu 
sparsam  war*"  (S.  227).  Die  Polemik  zwischen  Qusseel  und  Kautsky  setat 
sich  aber  in  sehr  gereizter  Art  fort ;  vgl.  Qubbsel,  SoziolOjgisch-ethisches 
Potpourri.  (Neue  Zeit.  1907.  S.  838  s  Kautsky,  Kannibalische  Ethik. 
(Ebenda   1907.     S.  860).     Charakteristisch  für  den  Stand   des  philo- 


Die  soziologiflcbeii  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.      145 

HmE  über  die  ^objektive",  diejenige  von  Smith  über  die 
-subjektive"  Sympathie,  um  nm*  zwei  Namen  zu  nennen, 
die  eben  diese  „Triebe"  psychologisch  zu  verstehen  versucht 
haben,  ignoriert  er. 

Auch  nach  diesem  neuesten  Versuch,  die  Ethik  „zoolo- 
gisch" zu  begründen,  muß  man  einen  Bankrott  der  bio- 
logischen Methode  in  der  Ethik  feststellen,  ebenso  wie  Tönnies 
von  einem  ähnlichen  Bankrott  der  biologischen  Politik 
neuerdings  gesprochen  hat*). 

Neben  dem  Versuch  Kaütskys  sind  noch  zwei  solche 
Schriften  von  sozialistischer  Seite  erschienen,  die  sich  mit 
dem  ethischen  Problem  beschäftigen,  es  sind  die  Arbeiten 
von  Staüdingbr  und  von  Menger,  die  ich  jetzt  nacheinander 
besprechen  werde. 

5.  Franz  Staüdinger,  derjenige  von  den  Neukantianern, 
der  am  entschiedensten  den  Marxismus  mit  dem  Kritizismus 
zu  verbinden  bestrebt  ist,  findet  die  Arbeiten  von  Cohen 
nnd  Kaütsky  einseitig^)  und  macht  sich  zur  Aufgabe  in 
seiner  Schrift  „Wirtschaftliche  Grundlagen  der  Moral" 
(Darmstadt  1907,  160  Seiten)  die  Grundlagen  der  Moralin  der 
sozialen  Wirklichkeit  zu  suchen,  und  an  der  Hand  dieser 
Erkenntnis  das  Sollen  der  Ethik  zu  bestimmen.  In  engem 
Anschluß  an  F.  Tönnies  (Gemeinschaft  und  Gesellschaft. 
Leipzig  1887,  Anast.  Nachdruck  1907)*)  geht  Staüdinger  von 
den  drei  logisch  möglichen  Grundbeziehungen  zwischen  den 
Menschen  aus,  welche  den  Menschen  in  ganz  verschiedener 
Weise  in  seinem  Wirken  und  Wollen  „lenken  und  be- 
herrschen" (S.  11):  erstlich  von  der  auf  dem  freien  Willen 
der  Menschen  beruhenden  Gemeinschaft,  zweitens  von  der 

sophiflch-wisaenschaftlichen  Denkens  im  Ejreise  der  Marxisten  ist,  daß 
der  Kritiker  Kactakts,  Quessel,  „die  menschliche  Sittlichkeit  von  der 
Gehimorganisation  abhängig''  machen  will  (loc.  cit.  S.  840)! 

^  F.  TöxxiEs,  Zur  naturwissenschaftlichen  Gesellschaftslehre.  4.  Ab- 
schnitt.    ^CHMOLUSRS  Jahrbuch".    1907.    S.  550. 

*  F.  STAUDiNGEB,  CoHEN  Und  Kautsky.  „Sozialistische  Monatshefte''. 
1906.    S.  315  f. 

'  Die  beste  Einführung  in  das  Gedankensystem  dieses  bedeutenden 
iSozioloeen  ist  F.  Tönnibs,  Das  Wesen  der  Soziologie.  Heft  3.  Jahrg.  40. 
JSeue  Zeit-  und  Streitfragen.^    Dresden  1907. 

Vi«rto]J»hrs8ohriftf.wi88en8chiiftl.Philo8.ri.  Sozio! .   XXXII.  1.  10 


14(j  Demetrius  Gusti: 

auf  dem  freien  Verkehrswillen  beruhenden  Gesellschaft, 
endlich  von  den  sachlichen  Beziehungen  zwischen  den 
Menschen  untereinander  (S.  3  f.).  In  dem  Lieinandergehcn 
oder  Nebeneinanderbestehen  dieser  drei  Formen  mensch- 
lichen Zusammenseins  und  -wirkens  bestehb  der  Inhalt  der 
Sittlichkeit.  Es  sind  besonders  drei  Mischungen,  schreibt 
Staüdinger,  die  in  der  Geschichte  hervorgehoben  sind,  und 
welche  auf  die  Differenzierung  des  Willens  stark  eingewirkt 
haben:  1.  die  Gemeinschaft  kann  neben  dem  Sach- 
verhältnis stehen,  eine  Beziehung,  die  die  erste  Ent- 
wicklungsstufe des  Willens  bestimmt ;  den  Instinkt  und  die 
Gewohnheit;  2.  die  Gemeinschaft  kann  dem  Sach Verhältnis 
untergeordnet  sein;  dies  ist  durch  die  andere  Willens- 
stufe charakterisiert:  durch  den  Zwang  und  die  Autorität; 
endlich  3.  kann  die  Gemeinschaft  selbst  „das  Regiment 
fuhren",  eine  Beziehung,  die  auf  die  im  Werden  begriffene 
Entwicklungsstufe  des  Willens,  auf  die  Einsicht  und  be- 
wußte Freiwilligkeit,  hinweist  (S.  41).  Jede  von  den  drei 
erwähnten  sozialen  Formationen  erzeugt  bei  ihren  Mit- 
gliedern eine  bestimmte  Willenseinheit  und  eine  bestimmte 
Moral. 

Die  Moral  wird  nun  zur  Ethik,  wenn  sie  höhere,  im 
vollen  Leben  wurzelnde  Gemeinschaftsziele  ins  Auge  faßt. 
Damit  ist  auch  das  ethische  Werturteil  gegeben :  „Das  Streben 
nach  höherer  Gemeinschaft  ist  moralisch  würdig,  das  ent- 
gegengesetzte aber  moralisch  nichtswürdig"  (S.  10.  92  *).  Die 
Auffindung  der  Mittel  zur  Verwirklichung  dieser  höheren 
Gemeinschaftsethik  ist  die  Aufgabe  der  ethischen  Politik  ^). 
Die  auf  willenssoziologischer  Grundlage  aufgebaute  Ethik 
Staudingers,  die  uns  das  Wesen  des  Sittlichen  und  Sittlich- 
Seinsollenden  aus  dem  Wesen  des  Sozialen  heraus  erkennen 
läßt,  gibt  uns,  wie  wir  gesehen  haben,  mehr  als  eine 
;,Fundamentierung  der  Ethik  vom  wirtschaftlichen  Gesichts- 


')  Interessant  sind  die  Ausführungen  Staudingers  über  die  ^sich 
^Ibst    aufhebende   Schablonisierung^    des    kategorischen   Imperativs 

»')  Vgl.  F.  STAuniNCiER,  Ethik  und  Politik.    Berlin  1899. 


Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       147 

punkte"  (S.  80),  wie  der  Verfasser  den  Zweck  seiner  Arbeit 
bezeichnet  hat.  Hier  sind  wir  zu  einem  Punkte  gelangt, 
von  dem  aus  wir  dem  Verfasser  nicht  weiter  folgen  können, 
denn  seine  Ausarbeitung  nimmt  jetzt  den  Charakter  einer 
pohtischen  Tendenzschrift  ersten  Ranges  (besonders  S.  130  f.) 
an  und  gibt  dem  Verfasser  Gelegenheit,  in  seinen  Aus- 
fuhrungen über  den  reinen  ökonomischen  Ursprung  der  ReU- 
gion,  Kultur  usw.  (S.  8 f.)  zu  zeigen,  daß  bei  einer  Ver- 
bindung der  Dogmatik  des  Kritizismus  mit  Marxismus  ein 
potenziertes  Dogma  entstehen  kann. 

6.  Wenn  die  Ausführungen  Staüdingers  betreffs  der 
ethischen  Problemstellung  und  -lösung  im  Vergleiche  mit 
dei^jenigen  Cohens  und  Kaütskys  als  Fortschritt  bezeichnet 
werden  müssen,  so  bedeutet  in  gleicher  Beziehung  die  Arbeit 
Anton  Mengers,  Neue  Sittenlehre  (Jena  1905,  82  Seiten)  einen 
entschiedenen  Rückschritt.  Der  ehemalige  österreichische 
k  k.  Hofirat  und  Professor  in  Wien  (gestorben  in  Rom  am 
6.  Februar  1906)  ist  der  Begründer  des  sogenannten  uto- 
pischen „Juristensozialismus" ,  welcher  die  soziale  Frage 
ausschließlich  als  ein  Verteilungsproblem  ansieht.  Das  Dekret 
einer  allmächtigen  Regierung  könnte,  nach  Menger.  genügen, 
um  die  soziale  Frage  zu  lösen,  d.  h.  die  gerechte  Verteilung 
nach  Maßgabe  der  Leistung  durchzusetzen.  Dies  ist  im 
wesentlichen  seine  „Gewalttheorie".  Diese  Theorie  hat  er 
nun  auf  das  Gebiet  der  Sittlichkeit  übertragen.  Die  ganze 
Sittlichkeit,  ist  nach  Menger  aus  den  Machtverhältnissen 
d.  h.  aus  dem  materiellen  Zwang,  abzuleiten  (S.  6 f.),  sie 
ist  ein  „Reflex  der  geltenden  Machtordnung"  (S.  34-,  Recht?), 
sie  ist  eine  „Anpassung  an  die  bestehenden  Machtverhältnisse" 
(S.  12).  Diese  so  entstandene  „Sittlichkeit"  ist  aber,  ßlhrt 
Menger  fort,  eigentlich  unsittlich :  „die  herrschenden  sozialen 
Machtfaktoren  sind  die  Quellen  aller  sittlichen  Mißstände", 
erst  „der  Sozialismus  wird  die  überlieferten  sozialen  Macht- 
verhältnisse so  umgestalten,  daß  sich  aus  der  umgebildeten 
Machtordnung  ein  höheres  sittliches  Leben  mit  Notwendig- 
keit ergeben  muß"  (S.  82).  Da  sollte  man  erwarten,  Menger 
wird  uns   endlich  doch  sagen,   was   er  unter  dem  Macht- 

10* 


148  Demetrius  Gusti: 

faktor  versteht,  und  warum  die  künftige  sozialistische 
Machtordnung  eine  „Verbesserung  der  Sittlichkeit"  herbei- 
führen könnte?    Aber  leider  erfahren  wir  darüber  nichts. 

Die  „neue  Sittenlehre"  Mengers  ist  wohl  das  Schwäxihste 
in  seinem  sonst  sehr  beachtenswerten  Lebenswerk^),  sie 
bildet  eigentlich  ein  Schulbeispiel  von  einer  seltenen  Begrifts- 
verwirrung  und  Unklarheit;  es  ist  merkwürdig,  wie  eui 
Professor  der  Rechte  solche  elementare  Begriffe  wie  Sitte 
und  Sittlichkeit,  Legalität  und  Moralität,  Recht  und  Gewohn- 
heitsrecht und  Sittlichkeit  in  so  sonderbarer  Weise  durch- 
einander werfen  konnte !  Als  höchst  eigenartig  verdient  die 
von  Menger  vorgenommene  Unterscheidung  einer  Sittlichkeit 
für  Ausnahmenaturen  und  Helden  und  einer  für  alltägliche 
Menschen  (S.  4.  5. 64)  hervorgehoben  zu  werden ;  er  illustriert 
beide  mit  dem  folgenden  Beispiel  aus  der  neuesten  euro- 
päischen Geschichte :  Wäre  das  serbische  Königspaar  in  der 
Mordnacht  am  10.  Juni  1903  aus  dem  Eönak  entkommen,  so 
wären  „gewiß"  die  verschworenen  Offiziere  hingerichtet 
worden,  und  ihre  Handlung  „mußte"  man  als  unsittlich  be- 
zeichnen; da  sie  aber  „rasche  und  gründliche  Arbeit  ver- 
richteten", „muß"  man  ihre  Handlung  als  eine  „sittliche'' 
loben  und  „bewundem";  Menger  fügt  noch  hinzu :  „Freilich 
gab  es  in  der  Kulturwelt  gar  manche  Pedanten,  der  nicht 
einsehen  wollte,  daß  Macht  und  Sittlichkeit  im  wesentlichen 
identisch  sind,  aber  ihre  verdammenden  Urteile  gelangten 
angesichts  der  allgemeinen  Zustimmung  und  Anerkennung 
zu  keiner  Bedeutung"  (S.  5).     Sapienti  sat! 

7.  Auch  die  „Positive  Ethik"  (Die  Verwirklichung  des 
Seinsollenden.  Leipzig  1901.  337  Seiten)  aus  der  Feder 
des  Soziologen  Gustav  Ratzenhofers  fördert  nicht  wesentUch 
die  Erörterung  des  ethischen  Problems.  Batzenhofer  (ge- 
storben auf  der  Heimreise  von  Amerika  am  8.  Oktober- 1904), 
ein  ehrlicher  und  origineller  Denker,  der  als  philosophischer 


M  Als  hervorragender  Jurist  (Zivilist)  und  als  gelehrter  Kenner 
des  alten  Sozialismus  hat  er  uns  heiehrende  Schriften  hinterlassen. 
Sein  reformatorisühes  Hauptwerk  ist:  Neue  Staatslehre.    Jena  1908. 


J>ie  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       149 

Dilletant  mit  den  schwierigsten  Problemen  zu  ringen  ge- 
wagt hat  ^),  vertritt  den  sogenannten  positiven  Monismus,  den 
er  in  seiner  Ethik  anwendet.  Die  gesamte  Welt  —  so  lautet 
sein  Monismus  —  von  dem  entferntesten  Planeten  und  den 
niedersten  Insekten  bis  zum  hochentwickelten  menschlichen 
Bewußtsein  ist  als  das  differenzierte  Produkt  einer  einheit- 
lichen, ursprünglichen  Urkraft^)  zu  betrachten;  jedes  fte- 
schöpf  hat  ein  angeborenes  Interesse  an  seiner  Entwicklung. 
Auf  den  angeborenen  und  entwicklungsfähigen  Anlagen 
Keruht  nun  die  Sittlichkeit  (S.  65):  „Nicht  der  Wille  ist  die 
Quelle  der  Sittlichkeit,  sondern  die  Entwicklung  des  in 
unseren  Anlagen  wurzelnden  inhärenten  Interesses"  (S.  6(5). 
Das  sittliche  Seinsollende  ist  „mit  dem  naturgesetzlich 
Gebotenen  für  die  Menschen"  gegeben  (S,  118),  es  ist 
ein  Entwicklungsprodukt,  eine  Harmonie  der  Individual-, 
Sozial-  und  Transzendentalinteressen  (S.  79.  83.  95.  114). 
Der  Mensch  lernt  allmählich,  daß  das  Individualinteresse 
ohne  das  Sozialinteresse  nicht  befiiedigt  werden  kann,  so 
daß  er  schließlich  auf  dasjenige  im  Individualinteresse  ver- 
zichtet, was  dem  Sozialinteresse  schadet,  das  um  so  mehr, 
weü  diese  Einschränkung  des  Individualinteresses  noch 
durch  das  Transzendentalinteresse  („das  Fühlen  des  Indi- 
viduums im  Zusanmienhang  mit  der  unendlichen  Urkraft" 
(S.  67])  gefördert  werde. 

Abgesehen  davon,  idaß  m.  E.,  eine  Ethik  in  die 
Metaphysik  münden  kann,  ihr  Fundament  aber  nicht  in 
einer  Metaphysik  suchen  darf,  ist  der  Ausdruck  Sittlich- 
Seinsollen  in  der  Ethik  Ratzenhofers  mindestens  inkorrekt, 
denn  nach  ihm  ist  das  Sittlich-SeinsoUende  mit  dem  Natur- 
gesetz  identisch,  und  als  solches  muß  es  einfach  gelten*, 
widerspruchsvoll  ist  femer  auch  die  Behauptung,  daß  das 
Sittliche  der  physiologischen  Natur  des  Menschen  immanent, 

*)  Vgl.  die  Biographie  des  verst.  Feldmarschall-Leutnants  a.  D. 
Hii-zEXHOFEB  von  dessen  Sohne  in  dem  Vorwort  des  nachgelassenen 
Werks  „Soziologie".    Leipzig  1907. 

*j  Die  Annahme  einer  Urkraft,  die  an  den  „ünknowahle"  Spenckbs 
«riimert,  hat  Ratzenhofbr  den  Namen  eines  „österreichischen  Spkncer'^ 
eingebracht. 


J50  Demetrius  Gusti: 

diese  sittliche  Immanenz  (das  Individualinteresse)  aber  dem 
sich  entwickelnden  Sein-SoUenden  feindlich  ist. 

8.  Den  bisher  besprochenen,  mehr  theoretisch-konstruktiven 
deutschen  Arbeiten  stehen  zwei  in  eujglischer  Sürache  erschienene, 
auf  einer  umfassenden  Unterlage  von  Tatea<^en  oernhende  ethische 
Untersuchungen  gegenüber:  es  sind  diejenigen  von  Edwaud  Westkk- 
MARCK,  The  ongin  and  development  of  the  moral  ideas.  (London  1906. 
Vol  I,  716  p.  —  deutsch  übersetzt  von  Lijopold  Katscher  unter  dem 
Titel:  Ursprung  und  Entwicklung  der  Moralbegpriffe.  Leipzig  1907. 
632  S.)  und  von  L.  T.  Hohhouse,  Morals  in  Evolution,  a  study  in  com- 

Sarative  ethics.  (London  1906.  Vol.  I,  375  p.,  vol.  II,  294  p.)  Von 
lesen  beiden  Arbeiten  berücksichtige  ich  nur  die  erste  als  die  wich- 
tigste') und  für  manche  Bestrebungen  der  vergleichenden  Ethik  die 
typische. 

Der  bekannte  englisch  schreibende  finnische  Professor  WESTEnMAucK» 
ausgerüstet  mit  einem  ungewöhnlichen  Grade  von  Forscherfleiß,  ist 
in  seinem  vergleichenden  Werke  redlich  bemüht,  der  Gesamtheit  der 
zu  erklärenden  sittlichen  Erscheinungen  gerecht  zu  werden;  mit  der 
Anwendung  der  vergleichenden  Methode  sind  aber  Gefahren  ver- 
bunden, die  Westermarck«  wie  ich  meine,  nicht  vermieden  hat:  seine 
Ausführungen  gehen  mehr  in  die  Weite  als  in  die  Tiefe. 

Die  Anordnung  des  wertvollen  Materials  ist  in  seinem  Werke 
unklar,  unübersichtlich  und  vor  allem  unlogisch;  er  beginnt  nämlich 
seine  Untersuchung  mit  dem  Ursprung  des  Sittlichkeitsinhalts  (engl. 
p.  4—314,  deutsch  S.  1 — 267),  den  er  noch  nicht  kennt  und  nicht  näher 
charakterisiert,  geht  dann  über  zur  Erörterung  der  sittlichen  Wertung 
desselben,  die  er  in  einigen  Zeilen  erledigt  (engl.  p.  314 — 327,  deutsch 
S.  267 — 279),  und  kommt  endlich  zu  einer  umfangreichen  Beschreibung 
des  Sittlichkeitsinhalts*)  (engl.  p.  327 — 716),  dessen  Entstehung  und 
sittliche  Bewertung  er  vorher  erörtert  hat  Das  Werk  enthält  aber 
auch  keine  tiefeindringende  Verwertung  des  Materials.  Die  ver- 
gleichende Methode  muß,  um  fruchtbar  zu  sein,  nicht  nur  auf  die 
Ähnlichkeit  und  Differenzen  der  verglichenen  Phänomene  hinweisen, 
sondern  durch  Analyse  und  Abstraktion,  durch  psychologische  Inter- 
pretation und  wertende  Kritik  der  Elemente  der  verglichenen  Gegen- 
stände zu  neuen  Erkenntnissen  kommen.  Nur  in  diesem  Sinne,  als 
methodologisches  Hilfsmittel,  kann  die  vergleichende  Methode  für  die 
Geisteswissenschaften  das  sein,  was  die  Induktion  und  das  Experiment 
für  die  Naturwissenschaften  ist.  Eine  solche  Methode  finden  wir  in 
dem  Werke  Wksikkmarcks  nicht.  Der  Leser  bekommt  von  der  Aus- 
arbeitung des  Buches  vielmehr  den  Eindruck,  als  ob  der  Verfasser 


*)  HoBHorsK  schreibt  selbst  im  V^orwort:  „Dr.  Wehtermarck»  im- 
portant  work  .  .  .  would  have  been  of  immense  vidue  to  me  had  it 
appeared  a  little  earlier.  It  is  particularl y  satisfactory  to  me  to  find 
that  so  far  as  we  cover  the  same  field  my  results  generally  hamio- 
nize  with  bis,  and  this  notwithstanding  a  material  divergence  in 
ethical  theory"  (vol.  1,  p.  VII).  Als  eine  Illustration  dieser  Worte 
kann  ich  die  Tatsache  anfühlten,  daß  Hobhouse  einen  ganzen  Abschnitt 
im  ersten  Band  seines  Werkes  an  Wkstermarcks  Ausführungen  direkt 
anschließt  (p.  122-133). 

^)  Ein  zweiter  Band  wird  der  Fortsetzung  dieser  Beschreibung 
gewidmet  sein. 


Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       151 

vor  der  Behandlung  der  einzelnen  Abschnitte  ein  bestimmtes  Hesultat 
schon  Yorausgesetzt  habe  und  eifrig  bemüht  sei,  diese  vorausgesetzte 
Anschauung  mit  reichlichen  Beispielen  von  dem,  was  Menschen  von  ver- 
schiedenen Hassen  zu  verschiedenen  Zeiten  für  sittlich  und  unsittlich 
galten  haben,  zu  belegen.  Das  Schema,  welches  als  das  Wesen  der 
Sittlichkeit  auf  allen  sozialen  Entwicklungsstufen  anzusehen  sei,  ist 
nach  WcsTKRMABCK  etwa  in  den  folgenden  Worten  zusammenzufassen: 
die  Moral  ist  auf  Gefühl  zu  gründen,  die  sittlichen  Urteile  sind  Ge- 
schmackurteile, die  Moralbegriffe  entstehen  dadurch,  daß  gewisse 
Handlungen  in  dem  Beschauer  Billigung  oder  Mißbilligung  hervor- 
rufen; diese  „sittlichen*  Gefühle  (morcQ  emotions)  stenen  in  Yor- 
wandtschaft  (!)  mit  den  außersittlichen  (non-moral)  Gefühlen :  die  Miß- 
billigung mit  dem  Zorn  und  der  Bache,  die  Billifi;ung  mit  der  Dank- 
barkeit; die  sittlichen  und  außersittlichen  Gefühle  gehören  zu  der 
umfassenderen  Gattung  der  Vergeltungsgefühle.  Das,  was  die  sitt- 
lichen von  den  außersittlichen  Gefühlen  unterscheidet,  ist  die  Un- 
parteilichkeit'), welche  sozial  bedingt  ist:  the  Solution  of  this  problem 
lies  in  the  fact  that  society  is  the  birthplace  of  the  moral  consciousness 
lengl.  p.  117,  deutsch  S.  98). 

Die  Bedeutung  des  We^sitskwarck  sehen  Buches  liegt  in  den  ver- 
.sleichenden  Ausführungen  des  Verfassers,  die  auf  Schritt  und  Tritt 
>ein  ungeheures  Wissen  ahnen  lassen.  In  dieser  Hinsicht  ist  dies 
Werk  äs  ein  Handbuch  und  Nachschlagewerk  der  vergleichenden 
Ethik  zu  nennen,  welches  eine  wahre  Fundgrube  von  Tatsachen 
und  Anregungen  für  jeden  Moral-,  Rechts-  und  Sozialphilosophen 
enthält.  Aus  diesem  Grunde  ist  zu  bedauern,  daß  die  sonst  sehr 
sorgfältige  deutsche  Übersetzung  des  Werkes  auf  viele  Zitate  der 
englischen  Ausgabe  verzichtet  hat;  so  habe  ich,  beispielsweise, 
bei  dem  Vergleich  des  Abschnittes:  Analvsis  of  the  principal  moral 
concepts  (Absch.  VI  in  der  englischen,  Absch.  IV  in  der  deutschen 
Ausgabe)  in  der  deutschen  und  englischen  Ausgabe  gefunden,  daß  der 
deutsche  Text  nur  16,  der  englische  42  Zitate  enthält! 

9.  Paülsen  erwähnt  in  der  sechtsen  Auflage  seiner  Ethik 
eine  Anekdote,  die  Sidgwick  einmal  erzählt:  Ein  Student 
antwortete  auf  die  Examensfrage,  wovon  die  Einwohner  der 
Hebriden  lebton,  folgenderweise:  sie  erwerben  sich  ihren 
kümmerlichen  Lebensunterhalt  dadurch,  daß  sie  einander  die 
Kleider  waschen.  Die  Geschichte,  meint  Paülsen,  paßt  auf 
manche  Moralphilosophen.  Sie  paßt  zum  Teil  auch  auf  die  oben 
erörterten  Versuche  einer  neuen  Ethik  und  sicherlich  ganz 
besonders  auf  die  sogenannten  Reformen  und  die  Neubegrün- 
dung der  Ethik,  die  im  Mittelpunkt  der  philosophischen 
Interessen  und  Diskussionen  in  Frankreich  stehen.  In  auf- 
fallend   ähnlicher  Weise   tritt  auch  in  Frankreich   derselbe 


')  Der  ^unparteiische'*  Beschauer  dieser  Ethik  erinnert  stark  an 
SwrHs  Theory  of  moral  sentiments  —  die  sittlichen  Geschmacks- 
urteile an  die  ästhetisierende  Ethik  Herbartb. 


152  Demetrius  Gusti: 

Gegensatz  in  der  Auffassung  des  ethischen  Problems,  den 
wir  bei  dem  obigen  Versuche  haben  beobachten  können, 
hervor :  die  einen  nehmen  das  Sein  als  Ausgangspunkt  ihrer 
Untersuchungen,  die  anderen  das  Sollen. 

Die  Hauptsprecher  dieser  zwei  prinzipiellen  Betrach- 
tungsweisen des  ethischen  Problems  sind  in  Frankreich 
Lävy- Brühl  und  Foüilläe. 

Der  Leitgedanke  in  C.  Lävy-Bruhls  Buch:    La  morale 
et  la  science  des  moeurs    (Paris   1907.    300  p.)  ist   —   im 
engen  Anschluß   an  die  Soziologie  Durkh£IMS  (vgl.   p.    14. 
273)  —  der  folgende :  „nous  cherchons,  schreibt  Lävy-Brühl 
am   Anfang    des   Buchs    (p.   XII),    ä    fonder    une    science 
qui   ait  la  „nature  morale"  pour  objet,   et,  s'il  se  peut,    un 
art  moral  rationnel,  qui  tire  des  applications  de  cette  science" ; 
an    anderer    Stelle    sagt    Verfasser    dasselbe    mit    anderen 
Worten:   „definir  les  faits  moraux  comme  des  faits  sociaux, 
concevoir  une  „nature  morale"  analogue  äla  „nature  physique**, 
etudier,  Tune  comme  l'autre  d'un  point  de  vue  objectif"  . . . 
das  wäre  die  programmatische  Au%abe  des  Buches.    Dabei 
ist  aber  ausdrücklich  zu  bemerken,   daß   der  Verfasser  in 
seinem  Buche  über  die  methodologische  Feststellung  dieser 
Aufgabe  nicht  hinausgegangen  ist ;  er  hat  in  jedem  Abschnitt 
von  neuem  die  Notwendigkeit  dieser  Angabe  betont,   sich 
darüber  mit  den  Gegnern  auseinandergesetzt;   aber  worin 
eigentlich  diese  „realite  morale"  besteht,  was  ihre  diflferentia 
specifica   und    ihr  genus   proximum  im  Unterschiede   oder 
Vergleiche  mit  der  „röalite  sociale"  sind,  was  er  ferner  ein- 
deutig   und   klar  unter   „moBurs"   versteht  (ist  die    „Sitte" 
nach  ihm   zugleich  Sittlichkeit?  und   wenn  er  dies   bejaht 
oder  verneint:  warum?)  hat   er  uns  nicht  gesagt.    Es  ist 
wohl  anzunehmen,  daß  er  dies  und  manches  andere  späteren 
Veröffentlichungen  vorbehalten  hat. 

10.  Hauptsächlich  gegen  diese  von  Läyy-Bruhl  ver- 
tretene Auffassung  der  Moralwissenschaft  hat  Alfred 
FouiLL^E  nicht  weniger  als  drei  kurz  nacheinander  er- 
schienene Bücher  veröffentlicht;  die  beiden  ersten:  Le 
moralisme  de  Kant  et  Tamoralisme  contemporain  (Paris  1905) — 


Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       153 

Les  elements  sociologiques  de  la  morale  (Paris  1905)  sind 
polemisclier  Art;  das  letzte  Buch,  das  ich  liier  «dlein  be- 
räcksichidgen  werde:  La  morale  des  idees  forces  (Paris  1908) 
Uft  systematischer  Art.  Für  Foüilläe  ist  „la  moralite  avant 
tous  nne  decision  de  Tindividu  (p.  Xlil),  und  zwar 
.cest  sur  la  nature  mentale  que  doit  se  fonder  la 
moralite''  (p.  XLIV).  „La  nature  mentale"  stellt  er 
absichtlich  der  „nature  morale"  L^vy-Brühls  gegenüber. 
Der  Ausgangspunkt  der  Ethik  ist,  nach  Fouilläe,  das  Be- 
wußtsein als  solches  und  die  fundamentale  moralische 
-Kraftjdee*',  d.  h.  die  Idee  des  Bewußtseins,  das  Bewußtsein 
der  Betätigung  des  Bewußtseins  (p.  1.  30)-,  die  Formu- 
lierung des  ethischen  Prinzips  ist  somit  eine  Variante  Des- 
cartes'  Cogito:  Cogito  ergo  sumus.  Die  möglichen  Be- 
ziehungen dieses  Prinzips  zu  dem  denkenden  Subjekt 
(p.  3.  105)  zu  dem  Verhältnis  der  denkenden  Subjekte 
untereinander  (p.  209.  242),  zu  dem  Objekt  (p.  105  bis 
180)  und  endlich  zu  dem  Verhältnis  zwischen  Objekt  und 
Subjekt  (pag.  180.  292)  schaflfen  den  Inhalt  der  Ethik  und 
die  ethischen  Werte. 

Das  Selbstbewußtsein  und  seine  Entwicklung  zum  Aus- 
gangspunkt einer  ethischen  Untersuchung  zu  machen,  ist 
ein  höchst  sympathischer  Gedanke.  Die  Ausfiihrungen  dieses 
Gedankens  in  FouiLLttEs  Buch  stehen  aber  auf  dem  Boden 
der  Reflexionspsychologie  und  -Soziologie,  so  daß  die  Neigung 
des  Verf.,  seine  eigenen  Überlegungen  den  so  komplizierten 
und  för  die  Interpretation  vieldeutigen  moralischen  Vor- 
gangen zu  substituieren,  eine  sehr  bedenkliche  Rolle  spielt; 
er  erblickt  in  der  logischen  Zurechtlegung  der  Entfaltung 
des  Selbstbewustseins  und  der  Entwicklung  der  Moralität 
das  tatsächliche  Selbstbewußtsein  und  die  tatsächliche 
Moralität  selbst;  die  Ethik  FoüiLLfiEs  gilt  nicht  dem  leben- 
digen Wesen,  sondern  einem  far  wissenschaftliche  Zwecke 
hergestellten  Präparat. 

Der  Streit  zwischen  L£vy-Bbuhi.  und  Fot  ill^ie,  zwischen  Tamora- 
iisme  et  le  moralisme,  wie  sie  ihn  pointiert  haben,  hat  eine  Reihe 
von  Zeitschriftenaufsätzen  und  Arbeiten  hervorgerufen.  Ich  zitiere 
eine  Arbeit  im  Sinne  Läty-Bruhl8,  von  A.  Bayet,  La  morale  scientifique. 
Eastd  sur  les  applications  morales  des  sciences  sociologiques  (Paris  1905), 


154  Demetrius  Gusti: 

und  eine  andere  im  Sinne  FouiLLfiEs  von   M.  Maixion,   Essai  sur   ]es 
Clements  et  r^volution  de  la  moralite  (Paris  1904). 

11.  Der  Nerv  aller  ethischen  Auseinandersetzungen  ist, 
daß  der  Inhalt  des  sittlichen  Sollens  irgendwie  gewollt 
werden  muß.  Das  Sollen,  um  überhaupt  eine  wirkende  und 
bewegende  Kraft  für  uns  zu  sein,  muß  ein  Wollen  sein ;  von 
einem  Sollen,  das  nur  ein  Gebot  wäre,  ohne  daß  ich  dieses 
Gebot  wollte,  ließe  sich  auf  mein  doch  nur  vom  Willen 
beherrschtes  Handeln  kein  Erfolg  erwarten.  Dieses  Ver- 
hältnis zwischen  dem  pflichtmäßigen  Sollen  und  dem  tat- 
sächlichen Wollen  ist  den  besprochenen  Autoren  nicht  ganz 
klar  zum  Bewußtsein  gekommen. 

Es  sind  die  bedeutendsten  und  einflußreichsten  Systeme 
der  Ethik  der  Gegenwart  von  Paulsen  und  Wundt,  die  dies 
im  großen  Stil  zum  Gegenstand  ihrer  Erörterungen  machten. 
Versuchen  wir  nun,  uns  über  das  prinzipiell  Wichtige  dieser 
Systeme  in  kurzem  zu  orientieren*). 

Friedrich  Paulsen  vertritt  den  sog.  Energismus  in  seinen 
ethischen  Werken:  System  der  Ethik  mit  einem  Umrisse 
der  Staats-  und  Gesellschaftslehre  (Siebente  und  achte 
verbesserte  Auflage.  Stuttgart  und  Berlin.  190(3.  Bd.  I, 
477  S.,  Bd.  n,  654  S.);  Ethik  in  „Systematische  Philosophie" 
(Die  Kultur  der  Gegenwart.  Leipzig  1907)  \  Zur  Ethik  und 
Politik  (Gesammelte  Vorträge  und  Aufsätze.  „Deutsche 
Bücherei",  Bd.  31—32,  zweite  Auflage)^). 

„Von  zwei  Tatsachen  geht  das  Nachdenken  aus,  das  in 
der  Ethik  seinen  systematischen  Abschluß  erreicht:  vom 
WoUen  und  vom  Sollen"  („Ethik"»),  S.  282).  Die  Ethik 
der  Gegenwart  ist,  fahrt  Paulsen  fort,  historisch-genetisch, 

')  Über  diese  beiden  moralphilosophischen  Systeme   sowie  über 
diejenigen  von  Mii.l,  Spknckr,  Lippb  und  v.  Hartmanx  vgl.  Gr.  Sh»rrin«, 
Ethische  Grundfragen.    Leipzig  1906.    Auf  dieses  Buch  gehe  ich  hier* 
nicht   ein,   weil   es  in   dieser  Zeitschrift   schon  von  v.  Astru,   1907, 
Heft  III,  S.  363,  besprochen  worden  ist. 

')  Ich  erwähne  noch  die  auf  Paulsen  scher  Grundlage  fußende, 
Paulsen  gewidmete  ^Einführung  in  die  Ethik**  von  Frank  Thillv,  aus- 
gezeichnet ins  Deutsche  übertragen  von  Dr.  Eislkr.  Leipzig  1907.  255  8. 

^)  Das  System  der  Ethik  zitiere  ich  mit  „System  ,  die  Ethik 
aus  der  Kultur  der  Gegenwart  mit  „Ethik". 


Die  soziologiscilen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       155 

was  das  Wollen  und  sozial-teleologisch ,  was  das  SoUen 
anbetrifit. 

„Die  historisch-evolutionistische  Denkweise  kann  ihre 
SteUnng  nur  auf  Seiten  der  teleologischen  Auffassung 
nehmen  ....  sie  wird  die  nächste  Au%abe  der  Moral- 
philosophie gerade  darin  setzen:  die  objektive  Sittlichkeit 
sozial-teleologisch  zu  erklären  oder  zu  begründen"  („Ethik", 
S.  290).  Von  dieser  Grund«uischauung  aus  erklärt  dann 
Paulsen  das  Sollen:  „die  Erscheinung  des  SoUens  im  Gegen- 
satz zum  WoUen,  jenes  Urphänomen  des  Sittlichen,  ist  aus 
dem  Verhältnis  des  Individuums  zu  dem  sozialen  Ganzen^ 
des  Eigenwillens  zum  allgemeinen  Willen  abzuleiten 
..Ethik",  S.  290). 

Da  aUes  Wollen  ein  Streben  nach  einem  Ziel  ist,  so 
erhebt  sich  also  die  Frage:  „Was  ist  das  letzte  Ziel,  oder, 
wenn  ein  erreichtes  Willensziel  ein  Gut  genannt  wird,  was 
ist  das  höchste  Gut,  worauf  der  menschliche  Wille  seiner 
Xatur  nach  zuletzt  gerichtet  ist?"  („Ethik, '^  S.  282.)  Die 
Beantwortung  dieser  Frage  hat  Paulsen  in  seinem  „System" 
gegeben.  Die  Formulierung  des  höchsten  Gutes  lautet  nach 
ihm:  „Ein  vollkommenes  Menschenleben,  d.  h.  ein  Leben, 
das  zu  voller  und  harmonischer  Entfaltung  der  leiblich- 
geistigen Kräfte  und  zu  reicher  Betätigung  in  allen  mensch- 
Hchen  Lebenssphären  führt,  in  inniger  Gemeinschaft  mit 
anderen  nächstverbundenen  Personen  und  in  allseitiger 
Teilnahme  an  dem  geschichtlichen  und  geistigen  Lebens- 
inhalt  der   großen  Gemeiaschaftsformen"    („System",  S.  4). 

Von  diesem  Gesichtspunkte  *)  aus  hat  Paulsen  in  seinem 
, System"     mit    frischer    Ursprünglichkeit    und     wunderbar 

0  Von  den  prinzipiellen  Fragen,  denen  vorzugsweise  Paulskx 
seine  neuerdings  veröffentlichte  „Ethik"  gewidmet  hat,  sei  hier  auf 
seine  Ausführungen  tther  das  Becht  der  formalistischen  Ethik  und 
ihre  Ergänzung  durch  die  teleologische  Ethik,  d.  h.  üher  den  „un- 
geeigneten una  irrefOhrenden"  in  der  neuesten  Zeit  aber  sehr  oft 
gemachten  Unterschied  zwischen  „Gesinnungs-  und  Erfolgsmoral" 
(^Ethik",  S.  298  f.,  802  f.)  besonders  aufmerksam  gemacht.  Zum  guten 
Handeln  gehört,  schreibt  Paulsen,  nicht  nur  die  gute  Gesinnung  des 
Handelnden,  wie  die  formalistische  Ethik  annimmt,  sondern  auch  die 
Richtigkeit  des  Handelns  (nämlich  jenes,  welches  in  der  Eichtung  auf  das 


156  DemetriuB  G-usti: 

klarer    Gedankenftihrung    das     ethische    Zeitbedürfnis     er- 
kannt,   die    Güter-,    Pflicht-    und   Tugendlehre    dargestellt 
(Buch    2    und    3),    und    das    ganze    Gebiet    des    sittlich. - 
sozialen  Lebens  erörtert  (Buch  4  und  5).     Paulsen  kommt 
es    vor    allem    darauf   an,    nachdem    er    „die    richtig    ge- 
bildeten Grundbegriffe   und   die  gesicherte   Methode"   fest- 
gestellt hat,    „das  sittliche  Leben,   seine  Aufgaben,    seine 
Organe ,     seine     Formen     und    Funktionen"     darzustellen 
(„System",  S.  7),  und  offenbar  auf  die  neuesten  Begründungen 
der  Ethik  bezugnehmend,   erscheint  es   ihm  nicht  „als  ein 
Anzeichen  eines  fortgeschrittenen  Zustandes  der  Ethik,  daß 
Werke,  die  statt  über  das  sittliche  Leben  ...  zu  handeln, 
nichts  als  langwierigste  Erörterungen  über  den  Begriff  des 
Sittlichen  und  die  Methode   seiner  Erforschimg  enthalteui 
ihre  Verfasser  in  den  Ruf  ausbündiger  Tiefe  und  Gründlich- 
keit bringen"  („System",  X).    Dies  sind  höchst  beherzigens- 
werte "Worte! 

12.  Der  Führer  unserer  philosophischen  Epoche,  Wilhelm 
WuNDT,  hat  in  seiner  Ethik  (Eine  Untersuchung  der  Tat- 
sachen und  Gesetze  des  sittlichen  Lebens.    Dritte  Auflage. 
Stuttgart  1903.    Bd.  I  523  Seiten,   Bd.  11  409  Seiten)   das 
ethische    Problem    großzügig    behandelt.      Einem    solchen 
Werke    gegenüber    kann    die    Aufgabe    einer    kurzen    Be- 
sprechung keine  andere  sein,  als  die,  das  Wesentliche   an- 
zudeuten.    WuNDT  teüt  die  Aufgabe  der  Ethik  in  eine  vor- 
bereitende :  die  Untersuchung  des  Ursprunges  und  der  Ent- 
wicklimg   des   sittlichen   Bewußtseins ,   und   in   eine    syste- 
matische: die  Feststellung  der  ethischen  Prinzipien  und  die 
Anwendung  derselben  auf  das  sittliche  Leben. 

„Die  ursprüngliche  Quelle  fiir  die  Erkenntnis  des  Sitt- 
lichen ist  das  sittliche  Bewußtsein  des  Menschen,  wie  er  in 
den  allgemeinen  Anschauungen  über  das  Recht  und  Unrecht 
und  außerdem  vornehmlich  in  den  religiösen  Vorstellimgen 


höchste  Gut  liegt)  („Ethik^,  S.  299);  aus  dieser  Erkenntnis  heraus  hat 
Paulsen  für  die  wissenschaftliche  Ethik  die  Parole  ausgeprägt:  nicht 
Zurück  zu  Kant!  sondern:  Endlich  los  von  Kant! 


Die  aoziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       157 

und  in  der  Sitte  seineu  objektiven  Ausdruck  findet"  (Bd.  I, 
S.  18).  Eine  notwendige  Ergänzung  far  die  Untersuchung 
des  Ursprungs  des  sittlichen  Bewußtseins  (Absch.  1,  Bd.  I) 
bildet  die  Erforschung  seiner  Entwicklung,  wie  sie  in  dem 
gesehichtlichen  Werden  der  sittlichen  Weltanschauungen  und 
der  gleiclizeitigen  Kulturbewegungen  ihren  deutlichsten  Aus- 
druck findet  (Absch.  2»  Bd.  I). 

Die  Entwicklung  der  Tatsachen  des  sittlichen  Lebens 
sowie  der  Sittlichkeitsbegriffe  ist  durch  das  Gesetz  der 
.sukzessiven  Differenzierung  und  Unifizierung  der  sittlichen 
Begriffe"  und  durch  das  Gesetz  der  „Heterogenie  der  Zwecke" 
bestimmt  (Bd.  I,  S.  274/5). 

Das  Sittliche  besteht  nun  in  einem  bestimmten  Zu- 
sammenwirken von  Motiven  und  Zwecken  des  „unserer  Be- 
ä:*acbtang  gegebenen  reifen  sittlichen  Bewußtseins**  (II,  158), 
nämlich  in  der  Übereinstimmung  der  Motive  des  Einzel- 
willens mit  den  Zwecken  des  Gesamtwillens:  „Sittlich  sind 
(jesinnungen  und  Handlungen,  in  denen  der  EinzelwiUe  mit 
dem  Gesamtwillen,  in  welchem  er  enthalten  ist,  überein- 
stimmt; und  falls  mehrere  übergeordnete  Willen  gleichzeitig 
in  ihm  wirksam  werden,  entscheidet  die  Übereinstimmung 
mit  dem  umfassenden  Gesamtwillen  über  den  "Wert  der  Ge- 
sinnung und  Handlung**  (H,  159;  vgl.  über  Einzel-  und 
(lesamtwille,  über  Natur  imd  Zweck:  H,  Absch.  3). 

Sittlich  wertvoll  ist,  dem  oben  von  Wündt  festgestellten 
Kriterium  nach,  die  Förderung  der  Entwicklung  des  Gesamt- 
willens. 

Die  höchsten  Zwecke  des  Gesamtwollens  liegen  in  der 
Hervorbringung  objektiver  geistiger  Werte,  d.  h.  solcher 
geistiger  Schöpfungen,  die  uns  in  Kunst,  Wissenschaft  und 
allgemeiner  Kultur  gegeben  sind.  Daher  gibt  es,  betont 
WüKDT,  keine  absolut  bleibenden  sitüichen  Zwecke,  denn 
die  jeweilig  zu  erstrebenden  Zwecke  müssen  sich  nach 
der  jeweilig  erreichten  und  erreichbaren  Entwicklungsstufe 
richten:  ^Die  Vergangenheit  hat  aufgehört  und  die  Gegen- 
wart wird  im  nächsten  Augenblick  aufhören,  sittlicher  Zweck 
zu  sein**  (II,  S.  119). 


158  Demetrius  Gusti: 

So  erscheint  denn  die  Kulturentwicklimg  als  der  höchste 
ideale  Zweck  des  Sittlichen.  Von  dieser  Erkenntnis  aus 
gelangt  Wundt  zu  folgender  Formulierung  der  höchsten  sitt- 
lichen Norm:  „Fühle  dich  als*^ "Werkzeug  im  Dienste  des 
sittlichen  Ideals",  oder  mit  anderen  Worten :  „Dusollst  dich 
selbst  dahingehen  für  den  Zweckj,  den  du  als  deine  ideale 
Aufgabe  erkannt  hast"  (11,  191). 

Die  Normen  wirken*auf  das  wirkliche  Leben  richtung- 
gebend   ein.     So    entsteht  die   praktische   Ethik   (II,    220), 
der  WüNDT  folgende  Aufgabe  zuschreibt:  „Ihr  Blick  ist  nur 
auf   die    sittlichen    Ideale    selbst   gerichtet,    nicht    auf   die 
äußeren  Mittel  und  Wege  ihrer  Verwirklichung.    Die  Unter- 
scheidung dieser  muß  sie  den  praktischen  Disziplinen  über- 
lassen, der  Volkswirtschaft,  der  Verwaltungslehre,  der  Rechts - 
wissenschafb,  der  Politik,  Lehrsystemen,  die  nicht  bloß  darin 
mit  der  praktischen  Ethik  übereinstimmen,   daß  sie  überall 
neben   der  Gegenwart  die  nähere  Zukunft  im  Auge  haben, 
sondern  vor  allem  auch  darin,   daß  ihre  eigenen  Aufgaben 
im  letzten  Ghninde  ethische  Aufgaben  sind  (II,  223).    Die 
einzelne  Persönlichkeit,  die  Q-esellschaft,  der  Staat  und  die 
Menschheit  bilden  die  sittlichen  Lebensgebiete  (11,  Absch.  4). 
Durch  den  wirtschaftlichen  Völkerverkehr  und  die  rechtlichen 
Beziehungen  der  Völker  untereinander  entwickelt  sich  all- 
mählich die  objektive  auf  Rechtsgleichheit  beruhende  humane 
Gesellschaftsordnung  der  Völker.     So  gipfelt  diese  weite, 
herrliche  Perspektive  des  evolutionistisohen  Universalismus 
WüNDTS  in  dem  Satze:  „Aus  einer  bloß  potentiellen  be- 
ginnt  die    Menschheit   zu    einer    aktuellen    Einheit    zu 
werden,  an  die  nun  mit  den  umfassenderen  Mitteln  auch 
umfassendere  sittliche  Au%aben  herantreten"  (IE,  362). 

Die  vorliegende  dritte  Auflage  der  Ethik  Wundts  ist  in 
zwei  Bänden  erschienen  im  Unterschiede  von  der  ersten 
Und  zweiten')  Auflage,   die  nur  je  einen  Band  umfaßten. 

')  Die  englische  Übersetzung  der  zweiten  Auflage  der  Ethik 
-Wundts  erschien  in  drei  Bänden:  vol.  I:  Faite  of  the  Moral  Life, 
vol.  11:  Ethical  Svstems,  vol.  UI:  The  Principles  of  Morality  and 
Sphere  of  their  Validity.    Vgl.  über  die  erste  Auflage  der  Ethik 


Die  802dologi8clien  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       159 

Fast,  völlig  neu  geschrieben  ist  der  zweite  Abschnitt  (Bd.  I) 
über  die  Entwicklung  der  sittlichen  Lebensanschauungen, 
stark  erweitert  ist  der  letzte  vierte  Abschnitt  (Bd,  II)  über 
die  sittlichen  Lebensgebiete,  in  dem  der  Verfasser  sich  über 
die  praktischen  Fragen  des  sittlichen  Lebens  eingehender 
als  in  den  vorigen  Auflagen  ausspricht. 

Im  übrigen  bietet  uns  diese  dritte  „umgearbeitete" 
Auflage  wie  die  vorigen  und  wie  alle  umfassenden  Werke 
WuNDTS  eine  überreiche  Fülle  von  Tatsachen  verbunden 
mit  einer  tief  belehrenden,  vorgetragenen,  prinzipiellen  Ver- 
arbeitung derselben. 

13.  Wenn  man  versucht  das  Fazit  der  obigen  Aus- 
einandersetzungen über  die  Aufgabe  der  Ethik  zu  ziehen, 
und  die  Grundgedanken  in  den  Vordergrund  zu  rücken,  diß 
voraussichtlich  am  geeignetsten  sind,  die  Führung  in  der 
Zukunft  zu  übernehmen,  so  muß  man  im  Anschluß  an 
WüNDT  und  Paulsen  der  Ethik  eine  doppelte  Aufgabe  zu- 
schreiben: zuerst  hat  sie  den  Sittlichkeitsinhalt  kausal, 
sozialevolutionistisch  zu  analysieren  und  sodann  auf  die 
aufgefundenen  Motive  das  sittliche  Ideal,  das  oberste  Willens - 
ziel  teleologisch,  kritisch-realistisch  aufisubauen. 

Die  bisherigen  Ausfuhrungen  haben  uns  femer  belehrt, 
daß  alle  Vertreter  der  neueren  Ethik  im  großen  und  ganzen 
der  Ansicht  sind,  daß  die  Ethik  von  dem  Verhältnis  zwischen 
dem  Individuum  und  der  Gesellschaft  und  nicht  bloß 
vom  Individuum  ausgehen  muß,  daß  die  Ethik  als  eine 
Funktion  und  ein  Regulator  im  Zweckzusammenhange  der 
Gesellschaft  anzusehen  ist. 

Die  besprochenen  Autoren  haben  infolgedessen,  da  es 
keine  allgemeine  Wissenschaft  der  Gesellschaftsformen  gibt, 
bei    den     einzelnen    Gesellschaftswissenschaften    Rat    und 

WysDTs  (1886,  576  Seiten)  die  ausführlichen  Analysen  von  E.  Durckheim, 
La  science  positive  de  la  morale  en  Allemagne  „Revue  philosophique", 
1887,  Aoüt,  p.  113  f.,  von  Th.  Lipps  in  „Göttingische  gelehrten  An- 
zeigen", 1^8,  Nr.  6,  und  von  Ed.  v.  Hartuann  in  „Zeitscn.  für  Philos. 
undphnos  Kritik",  1889,  S.82;  über  die  zweite  Auflage  (1892,  684  Seiten) 
siehe  die  Besprechung  des  Nationalökonomen,  W.  Hasbach,  ebenda, 
1«96,  S.  103. 


160  Demetrius  Gusti: 

theoretische  Orientierung  zu  finden  gesucht,  so  Cohen  und 
Menger  bei  der  Rechtswissenschaft,  Kaütsky  bei  der  National- 
ökonomie, Westermabck  bei  der  Ethnologie ;  Staudikger  stützt 
seine  Ethik  auf  die  Soziologie  von  Tönndes,  Batzenhofer 
die  positive  Ethik  auf  seine  metaphysisch  gefärbte  Sozio- 
logie, Paülsen  gibt  selbst  einen  Grundriß  der  Soziologie, 
und  WuNDTS  Methode  ist  eine  völkerpsychologisch -sozio- 
logische. 

B.  Znr  soziologischen  Betrachtung  der  Willensfreilieit  in 

der  Strafrechtswissenschaft. 

14.  Die  ethischen  Einzelprobleme  spielen  in  den  einzebien 
Sozialwissenschaften  eine  wesentliche  Bolle,  so  ist  das  Problem 
des  Egoismus  und  Altruismus  in  der  Volkswirtschaftslehre 
und  dasjenige  der  Willensfreiheit  (der  „grande  question", 
wie  Leibniz  es  genannt  hat)  in  der  Strafrechtswissenschafl 
von  grundlegender  Bedeutung.  Hier  soll  mit  einigen  Strichen 
ein  Überblick  über  den  die  Willensfreiheit  betreffenden 
Status  causae  et  controversiae  in  der  Strafrechtswissenschafb 
gegeben  werden. 

Das  Problem   der  Willensfreiheit  ist  strafrechtlich   de 
lege  lata  imd  de  lege  ferenda  von  Bedeutung. 

Zunächst  de  lege  lata.  Das  deutsche  Strafgesetzbuch 
spricht  in  §  51  (das  Bürgerliche  Gesetzbuch  in  §§  104  und  827) 
von  „freier Willensbestimmung".  Man  streitet  darüber,  ob  die- 
selbe im  Sinne  der  sogenannten  metaphysischen  Willens- 
freiheit oder  der  psychologischen  Willensfreiheit  (d.  h.  der 
Freiheit  von  äußerem  Zwang)  zu  interpretieren  ist  ^).  Diese 
Auslegungskontroverse  weist  auf  den  Streit  xun  die  Willens- 
freiheit de  lege  ferenda,  auf  einen  Kardinalpunkt  im  Streite 
der  Strafrechtstheorien,  hin.  »Wer  die  Willensfreiheit 
leugnet,"  sagt  einer  der  Hauptfahrer  der  sog.  „klassischen 
Schule",    K.   BiRKMEYER,     „der    kann    kein    Strafrecht    be- 


')  Die  letzte  Ausleras^  ist  m.  £.  die  einzig  mögliche;  im  Sinne 
der  sogenannten  psychologischen  WillensEreiheit  lautet  auch  Art.  64 
des  code  p6nal. 


Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       161 

gründen  . . .  der  führt  zu  einer  Auflösung  des  Strafrechts"  ^). 
Demgegenüber  behauptet  v.  Liszt,  der  Führer^)  der  so- 
genannten soziologischen  Schule:  „der  das  Strafrecht 
allein  berührende  wissenschaftliche  Determinismus 
lehrt,  daß  auch  das  Verbrechen  nur  begriffen  werden  kann, 
wenn  es  auf  seine  zureichende  Ursache  zurückgeführt  wird"  •). 
Während  aber  Birkmeyer  den  Gegensatz  zwischen  Deter- 
minisnins  und  Indeterminismus  als  den  allein  erheblichen 
Gegensatz  zwischen  den  Schulen  darstellt,  ist  v.  Liszt  der 
Meinung,  daß  der  Grrund  des  Streites  der  Strafrechtstheorien 
nicht  in  der  obigen  Gegenüberstellung,  sondern  im  Verhältnis 
zwischen   Generalprävention  und  Spezialprävention  liegt*). 

In  der  Tat,  eine  demonstratio  ad  hominem  gibt  v.  LiszT 
recht,  denn  Anhänger  der  modernen  Richtung,  wie  Prins, 
sind  zugleich  Indeterministen,  während  Anhänger  der  alten 
Schule,  wie  Finger,  zugleich  Deterministen  sind. 

Dies  zur  Einleitung  folgender  Besprechimgen. 

15.  Eine  lichtvolle  Orientierung  über  die  grundsätzlichen 
Gesichtspunkte,  die  in  dem  Problem  der  Willensfreiheit 
sich  kreuzen,  gibt  die  Monographie  von  "W.  Windelband, 
Über  Willensfreiheit  (Tübingen  und  Leipzig  1904.  223  Seiten). 
Das  Problem  der  Willensfreiheit,  fuhrt  Windelband  aus, 
schließt  in  sich  drei  Probleme,  das  der  Freiheit  des  Handelns 
(S.  19—32),  der  Freiheit  des  Wählens  (S.  31—106)  und  der 
Freiheit  des  Wollens  (S.  106—203). 

Die  Erörterung  der  Freiheit  des  Handelns  fuhrt  zu  der 
Analyse  „der  sozialen  Freiheit",  als  der  Abwesenheit  von 
äußerem  Zwange  (S.  29),  die  Analyse  der  Freiheit  des 
Wählens   zu  dem   „inneren"  Determinismus,   als  dem  Ver- 


^)  K.  Birkmeyer,  Was  läßt  v.  Liszt  vom  Strafrecht  übrig?  München 
1907.    S.  4.    97. 

^  Als  solcher  ist  er  vom  Gegner  anerkannt  worden,  Birkmeyer 
bat  ihn  in  seinem  1901  veröffentlicnten  Aufsatz  über  „ Gedanken  zur 
bevorstehenden  Reform  der  deutschen  Strafgesetzgebung'^  als  den 
sgenialen  Führer"  der  neuen  Schule  gefeiert.  -Goldtammers  Archiv." 
1901.    S.  72. 

^  Frauz  V. Liszt,  Lehrbuch  des  deutschen  Strafrechts.  I.Lieferung. 
Berlin  1907.     S.  82  f. 

*)  Loc.  cit.  S.  83. 

Tierteljahrsschrift  f.wi8sensohaftl.  Philos.  a.Soziol.  XXXII.  1.  11 


\Q2  Demetrius  Gusti: 

hältnis  der  momentanen  zu  den  konstanten  Motiven  (S.  (>7» 
75),  endlich  die  Untersuchung  der  Freiheit  des  WoUens 
fahrt  zur  sozialen  Kausalität  der  Persönlichkeit:  „Was  in 
i'liTn  (in  dem  Menschen)  an  Funktionen  des  Wollens  ge- 
schieht, ist  in  dem  allgemeinen  Zusammenhang  des  sozialen 
Geschehens  kausal  eingebettet"  (S.  153).  Am  Schluß  des 
Buches  definiert  der  Verfasser  die  Verantwortlichkeit  ^Die 
Persönlichkeit  ist  verantwortlich,  soweit  sie  die  wahlfreie 
Ursache  ihrer  Handlungen  ist"  (S.  220). 

IG.  Von  den  neueren  Autoren,  welche  die  heutige 
Stellung  der  Strafrechtswissenschaft  zum  Freiheitsproblem 
zum  Ausdruck  bringen,  stehen  auf  indeterministischer  Seite 
die  Anhänger  der  „klassischen"  Schule:  Joseph  Kohlek, 
Moderne  Rechtsprobleme  (Leipzig  1907.  Bd.  128:  „Aus 
Natur  und  Geisteswelt **)  und  W.  v.  Rohland,  Die  Willens- 
freiheit und  ihre  Gegner  (Leipzig  1905.  171  Seiten),  ebenso 
die  katholischen  Neothomisten :  V.  Cathrein,  Die  Grund- 
begriffe des  Strafrechts  (Freiburg  i.  B.  1905.  172  Seiten), 
D.  Pfister,  Die  Willensfreiheit  (Berlin  1904.  404  Seiten) 
und  C.  GuTBERLET,  Die  Willensfreiheit  und  ihre  Gegner 
(2.  Aufl.,    Fulda  1907.    458  Seiten) '). 

Unter  den  deterministischen  Arbeiten  sind  zu  erwähnen : 
Graf  zu  Dohna,  Willensfreiheit  und  Verantwortlichkeit 
(Heidelberg  1907.  26  Seiten),  ß.  v.  Hippel,  Willensfreiheit 
und  Strafrecht  (Berlin  1903.  30  Seiten)  und  vor  allem  die 
gründliche  Monographie  des  Reichsgerichtsrates  a.  D. 
J.  Petersen,  Willensfreiheit,  Moral  und  Strafrecht  (München 
1905.     235  Seiten). 


^)  Die  zitierten  Arbeiten  haben  das  Gemeinsame,  daß  sie  sich  auf 
die  Autorität  des  Fürsten  der  Scholastik,  des  Thomas  von  AgriKo, 
stützen;  durch  eine  vom  echt  scholastischen  Geiste  getragene  Dialektik 
bauen  sie  auf  die  Lehre  dieses  Mannes  keine  Enzyklopädien,  die  die 
Willensfreiheit  von  allen  nur  irgend  möglichen  Standpunkten  aus  er- 
örtern sollen.  Ein  Beispiel:  das  Buch  von  Gutberlet  enthält  folgende 
Abschnitte:  Beweis  für  Willensfreiheit  aus  der  Natur  des  Wulens, 
aus  Erfahrung  (Kap.  2),  ferner  die  Willensfreiheit  und  die  Moral- 
statistik (Kap.  3j,  oie  Anthropologe  (Kap.  4),  die  Ps^chopatholo^e 
(Kap.  5),  die  physiologische  PsycSiologie  (Kap.  7),  <ne  Spekulation 
(Kap.  8),  die  mechanische  Weltauffassung  (Kap.  9),  endlich  die  Willens- 
freiheit und  die  Theologie  (Kap.  10). 


Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       163 

Ich  werde  mich  beschränken  —  um  nicht  oft  Gesagtes 
nnd  dem  philosophisch  geschulten  Leser  sehr  Bekanntes  zu 
wiederholen  — ,  bei  der  Besprechung  dieser  Arbeiten  die 
darin  £ur  und  wider  die  Willensfreiheit  gebrachten  Argumente 
in  einige  Sätze  zusammenzufassen. 

Soweit  der  absolute  Determinismus  [und  der  absolute 
Indeterminismus  keine  Glaubens-  und  Weltanschauungs- 
fragen sind,  unterscheiden  sie  sich  im  allgemeinen  von- 
einander durch  folgende  Merkmale:  der  Indeterminismus 
hat  einen  metaphysischen  Hintergrund  (beispielsweise  die 
intelligibile  Welt),  nimmt  ein  freies  Wülensvermögen  (das 
.Auchandershandelnkönnen"  des  liberum  arbitrium  indiffe- 
rentiae)  an  und  ist  individualistisch ;  der  Determinismus  be- 
gründet sich  erkenntnistheoretisch  („zureichender  Grimd"), 
beruht  auf  dem  Willensbegriffe  der  modernen  Psychologie 
(gMotiv")  und  ist  sozialpsychologisch. 

Nun  kommen  Determinismus  und  Indeterminismus  in 
der  oben  zitierten  Literatur  in  veränderter  Gestalt  zum 
Vorschein,  sie  haben  ihren  „absoluten"  Charakter  verloren 
und  sind  „relativ"  geworden;  sie  unterscheiden  sich  von- 
einander nur  nach  dem  Umfang -der  Wülensfreiheit ,  nicht 
nach  der  Art  derselben.  Beide  Richtungen  sind  einig 
über  die  Allgemeingültigkeit  des  Satzes  vom  zureichenden 
Grunde,  sowie  über  den  bestimmenden  Einfluß  des  Motivs 
und  des  Charakters  auf  den  WiUen.  Zwar  sind  diese 
Zugeständnisse  des  Indeterminismus  zugunsten  des  Deter- 
mini^us  mit  der  folgenden  reservatio  mentaUs  gemacht 
worden:  1.  erfordert,  so  sagt  man  auf  der  indeter- 
ministischen  Seite,  das  Kausalgesetz  eine  formale,  keine 
materielle  Notwendigkeit;  im  Zusammenhang  damit  steht 
2.  die  scholastische  Annahme  der  „possibüitas  utriusque", 
der  Möglichkeit  eines  ursachlosen  Wollens,  einer  freien 
Ursache,  und  3.  ist  bezüglich  der  Wirksamkeit  der  Motive 
der  alte  Satz  Leibniz'  anzuwenden,  daß  die  Motive  des 
Wollens  nur  veranlassen,  nicht  nötigen  (inclinent  sans 
necessiter).     Aber   diese    drei  Einwände   enthalten   in   der 

Wirklichkeit  keine  Beweiskraft  gegen  den  Determinismus, 

11* 


1()4  Demetrius  Öusti: 

denn  die  ersten  zwei  Einwände  widersprechen  sich:  die 
Annahme  einer  „freien  Ursache"  *)  hebt  das  Kausalgesetz 
selbst  auf,  und  was  den  letzten  Einwand  betrifft,  so  Ist  es 
gleichgültig,  ob  man  von  veranlassenden  Bedingungen, 
oder  von  necessitierenden  Motiven  des  Wollens  spricht,  es 
kommt  nur  darauf  an:  die  Bedingtheit  und  die  Abhängigkeit 
des  "Wollens  als  solche  zuzugeben. 

17.  Der  Streit  zwischen  Determinismus  und  Indeter- 
minismus in  der  Strafrechtswissenschaft  hat  einen  tieferen 
Grund,  dieser  geht  von  der  individualistischen,  jener 
von  der  sozialen  Betrachtung  des  Verbrechers  aus.  Als 
Vertreter  des  äußersten  sozialen  Determinismus  nenne  ich 
"W.  A.  BoNGER,  welcher  in  seinem  Buche:  Criminalitö  et 
.conditions  öconomiques  (Amsterdam  1905,  750  Seiten)  zum 
erstenmal  vom  streng  marxistischen  Standpunkte  aus  die 
Ursachen  des  Verbrechens  systematisch  behandelt. 

Der  erste  Teil  dieses  Werkes  (S.  3 — 321)  ist  einer 
kritisch-klassi6katorischen  Übersicht  der  kriminalistischen 
Literatur,  der  zweite  Teil  einer  etwas  weitläufigen, 
m.  E.  überflüssigen,  Darstellung  der  Marxistischen  Lehre 
(p.  311 — 432),  der  dritte,  letzte  Teil  einer  ökonomischen 
Analyse  der  einzelnen  Verbrechensarten  (p.  432 — 727)  ge- 
widmet. Am  Schlüsse  des  Werkes  gibt  der  Verf.  sehr 
reichhaltige,  17  Seiten  umfassende  Literaturangaben  (p.  727 
bis  744), 

Der  einfache  Schlüssel,  dessen  sich  der  Marxismus  be- 
dient um  in  bequemer  Weise  die  Geheinmisse  der  Sozial- 
wissenschaften aufzuschließen,  ist  auch  von  Bonger  in  seiner 
Erklärung  der  Kriminalität  ausgiebig  benutzt,  nämlich  daß  die 
wirtschaftlichen  Faktoren  auf  die  Kriminalität  einzig  und 
allein  bestinamend  wirken,  daß  die  heutige  Kriminalität  in 
letzter  Linie  von  der  kapitalistischen  Struktur  abhängt,  end- 


')  Man  braucht  sich  übrigens  nicht  der  scholastischen  Argumente 
zu  bedienen,  um  von  einer  „Anlage  zur  Freiheit"  zu  sprechen,  erkennt 
doch  die  moderne  Psychologie  die  schöpferische  öpontaneität  im 
Menschen  an  (^Wachstum  der  geistigen  Energie"). 


Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       1(35 

lieh,  daß  imr  von  einem  Übergang  der  kapitalistischen  Gesell- 
schaft in  eine  sozialistische  Befreiung  der  Menschheit  von 
der  Kriminalität  „in  ihrer  heutigen  Gestalt"  zu  erwarten  ist. 

18.  Der  Auffassung  der  Indeterministen :  das  Ver- 
brechen ist  das  Erzeugnis  des  individuellen  freien  Willens, 
und  derjenigen  der  Marxisten:  das  Verbrechen  ist  ein  aus- 
schließliclies  Produkt  der  Ökonomie,  ist  die  von  Franz 
VON  LiszT  in  seinem  „Lehrbuche  des  deutschen  Strafrechts" 
(It).  und  17.,  völlig  durchgearbeitete  Auflage.  Lieferung  1. 
Berlin  1907)  vertretene  soziologische  Lehre  gegenüber- 
zustellen^ nämlich,  „daß  jedes  Verbrechen  durch  das  Zu- 
^sammenwirken  zweier  Gruppen  von  Bedingungen  entsteht, 
,(ler  iiidividuellen  Eigenart  des  Verbrechers  einerseits,  der 
.diesen  nmgebenden  äußeren,  physikalischen  und  gesell- 
. schaftlichen ,  insbesondere  wirtschaftlichen  Verhältnisse 
^anderseits"  (S.  70/71). 

Mit  Rücksicht  auf  die  in  die  Wege  geleitete  Reform 
des  deutschen  Strafrechts  und  auf  die  führende  Rolle,  welche 
V,  LiszT  in  dieser  Reformbewegung  einnimmt,  möchte  ich  in 
den  nachfolgenden  Zeilen  das  soziologische  Fundament  der 
Lehre  v.  LiszTs  skizzieren. 

Die  Grundbegriffe  des  Strafrechts  (besonders  der 
Begriff  der  Schuld)  sind,  nach  v.  Liszt,  unabhängig  von 
der  Hypothese  der  Willensfreiheit  (S.  82,  158,  163).  Der 
Determinismus  ist  aber  „durchaus  berechtigt",  denn  nur  er 
vermag  „die  einzelne  Tat  zu  der  ganzen  psychologischen 
Persönlichkeit  des  Täters  in  Beziehung  zu  setzen"  (S.  158), 
nur  er  gelangt  „zu  einem  Maßstab  für  die  Schuld"  (S.  159). 
Das  Gesetz  kann  den  materiellen  Inhalt  des  formellen 
Schuldbegriffes  nicht  schaffen,  es  findet  ihn  vielmehr  in  der 
(resellschaft  vor.  Das  Schuldprinzip  ist  also  in  dem  Wert  des 
Willensinhalts  des  Täters  begründet  und  in  der  Gesellschaft 
zu  suchen ;  es  ist,  betont  v.  Liszt,  die  antisoziale  Gesinnung 
des  Täters.  Das  formell  widerrechtliche  Verbrechen  ist 
materiell  eine  antisoziale  Tat,  eine  „Verletzung  oder  Ge- 
.fahrdung    besonders  schutzwürdiger  und  schutzbedürftiger 


\ 


1(56  Demetrius  Gusti: 

„Sozialinteressen"  (S.  67).  Die  Starafe  ist  eine  soziale 
Funktion ;  als  solche  hat  sie  die  sozialgefahrlichon  Elemente 
zu  bessern,  die  Gesellschaft  vor  den  sozialuntauglichen  Ele- 
menten zu  sichern  i). 

Nach  dem  neuen  soziologischen  Strafprinzip  hat  sich 
das  Strafensystem  einzurichten,  daher  die  Notwendigkeit 
der  Fürsorgeerziehung  für  die  Jugendlichen  (S.  73),  der 
sog.  bedingten  Verurteilung  (S.  75)  und  der  sog.  unbestimmten 
Strafurteile  (S.  178).  Das  neue  Schuldprinzip  führt  endlich 
zu  neuen  Grundsätzen  über  richterliche  Strafzumessung  und 
Strafvollzug  (S.  78).  Die  soziologische  Lehre  v.  LiszTs  von 
Verbrechen  und  Strafe  sucht  mit  aller  Energie  sich  einen 
Weg  in  die  Gesetzgebung  zu  ebnen  durch  die  1889  ins 
Leben  gerufene  „Internationale  kriminalistische  Vereinigung", 
die  Praktiker  und  Theoretiker  aus  aller  Herren  Länder,  in 
Ländergruppen  organisiert,  zu  Mitgliedern  hat,  und  die 
durch  zielbewußte  Arbeit  für  die  künftige  Beform  des  Straf - 
rechtes  bahnbrechend  ist*). 

Der  Versuch  v.  Liszts,  die  Stijafrechtswissenschaft  zu 
soziologisieren ,  gibt  die  beste  Veranschaulichung  von  der 
Fruchtbarkeit  einer  soziologischen  Betrachtung  der  einzelnen 
Sozial  Wissenschaften. 

C.   Zur  UniYersit&tof&higkeit  einer  selbständigen   sozio- 

logisehen  Disziplin. 

19.  Eine  Wissenschaft,  deren  Namen  man  heute  oft 
genug  hört,  ohne  daß  sich  immer  ein  klarer  Begriff  mit  dem 
Namen  verbände,  ist  die  Soziologie,  die  allgemeine  Gesell- 
schaftswissenschaft. Wir  haben  gesehen,  die  Ethik  hat  eine 
allgemeine  Gesellschaftswissenschaft  und  die  einzelnen  Ge- 
sellschaftswissenschaftien  zu  ihrer  Grundlegung  benötigt,  und 


1)  Die  80  aufgefaßte  Strafe  wird  vielfach  mit  den  Ausdrücken 
der  Zweckstrafe,  der  Sohutzstraf e ,  der  Geeinnungsstrafe  oder  der 
Sicherungsstrafe  bezeichnet. 

■J  S.  das  Nähere  über  die  Tätigkeit  dieser  Vereinigung  die  Mono- 
graphie von  F.  KiTziNOKB,  Die  internationale  kriminalistische  Ver- 
einigung.   München  1905.    164  Seiten. 


Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       167 

die  Stxafii'eclitswissenschaft  hat  durch  ihre  soziologische  Be- 
grändung  eine  tiefgreifende  Umgestaltung  ihrer  Grund- 
begriffe erfahren.  Dasselbe  Schauspiel  bieten  uns  die  Be- 
strebungen der  übrigen  philosophischen  und  Sozialwissen- 
schaften, die  unter  der  stillschweigenden  Voraussetzung 
einer  allgemeinen  Gesellschaftswissenschaft  ihre  Probleme 
sozialphilosophisch  fundieren  und  lösen,  so  daß  man  mit 
Becht  von  einer  sozialphilosophischen  Erneuerung  dieser 
Wissenschaften  sprechen  kann. 

Von  dieser  umfassenden  luid  vielgestaltigen  Bewegung 
erwähne     ich    die    eingreifenden    Versuche     einer    sozio- 
logischen Neugestaltung  der  Geschichtswissenschaft  durch 
Lamprecht  und   den  Herausgeber  dieser  Zeitschrift,  femer 
die    unter   dem   Zeichen    der    Soziologie    stehende   Volks- 
wirtschaftslehre  ScHMOLLERS,    die   er  in   seinem  „Grundriß" 
und   a Jahrbuch"    vertritt;    ich   weise   auf  die   auf  Rechts- 
vergleichung   fußende   Bechtssoziologie    Kohlers,    auf   die 
soziologisierende  Ethnologie  von  Steinmetz,  auf  die  von  dem 
ethnologischen  und  sozialen  Interesse   der  Zeit  getragene 
Theologie  luid  Beligionsphilosophie  hin,   endlich  erwähne 
ich   das    Riesenuntemehmen  Wündts,   welches   in  der  Er- 
gänzung der  individuellen  Psychologie   durch   die  Völker- 
psychologie  der  Sprache,   des  Mythus  und   der   Sitte  die 
beste  Vorarbeit  für  eine  allgemeine  Gesellschaftswissenschaft 
liefert. 

Mögen  die  Ansichten  über  Aufgabe  und  Methode  der 
Soziologie  schwanken^  über  ihre  Existenzberechtigung 
herrscht  kaum  mehr  ein  Zweifel,  denn  eine  Wissenschaft 
zeigt  ihre  Legitimität  durch  die  einfache  Tatsache  ihrer 
Notwendigkeit. 

Und  doch  bemerkt  man  in  den  akademischen  Kreisen 
eine  gewisse  Abneigung  gegen  die  soziologische  "Wissen- 
schaft. Dies  äußert  sich  darin,  daß  der  Soziologie,  die,  wie 
oben  erwähnt,  bedeutende  Gastrechte  bei  den  einzelnen 
Sozialwissenschaftien  genießt,  keine  eigene  selbständige 
akademische  Stellung  im  üniversitätsstudium  eingeräumt 
wird. 


168  Demetrius  Gusti: 

"Wie  erklärt  sicli  diese  tatsächliche  wissenschaMiche 
Anerkennung  und  zugleich  die  akademische  Greringschätzung 
der  Soziologie? 

Ein  hauptsächlicher  Erklärungsgrund  ist  m.  E,  zuerst 
in  der  Betätigung  der  dilettierenden  Plänemacher,  die  „die 
Zukunfts Wissenschaft" ,  die  Soziologie  auf  Kosten  anderer 
Wissenschaften  aufbauen  wollen,  zu  erblicken.  Be- 
sonders in  Frankreich  ist  die  Lage  „der  soziologischen 
Forschungen"  eine  trostlose;  ich  erwähne  diesbezüglich  nur 
zwei  unter  vielen  leider  allzu  vielen  Beispielen.  G.  Tarde 
hat  in  seinem  Buch  „La  logique  sociale"  (Paris  1895) 
auszuführen  versucht,  daß  die  von  ihm  begründete  Sozio- 
logie die  einzig  „wahre"  Logik  wäre*),  während  E.  de  Robkrty 
unter  seine  Soziologie  (s.  „Nouveau  programme  de  Sozio- 
logie". Paris  1904)  auch  die  Erkenntnistheorie  und  die 
individuelle  Psychologie  absorbieren  will!  Für  die  meisten 
„Soziologen",  für  die  die  Klassifikation  der  Wissenschaften 
Comtess  als  die  höchste  Entdeckung  des  philosophischen 
Geistes  gilt,  ist  femer  die  Soziologie,  wenn  nicht  die  Summe 
aller  Wissenschaften,  doch  eine  Enzyklopädie  der  einzelnen 
Sozialwissenschaften,  eine  Art  Theorie  der  sozialwissenschaft- 
lichen Zettolkartenordnung*). 

Auf  diese  Weise  wird  die  neu  aufstrebende  Disziplin 
diakreditiert.  Die  Soziologie  kann  sich  ihre  wissenschaft- 
liche Stellung  nur  durch  tatsächliche  Errungenschaften 
auf  dem  Gebiete  der  Erkenntnisbedingungen  des  Sozialen 
überhaupt  und  der  spezifischen  Erzeugnisse  und  Gebilde 
des  sozialen  Lebens  insbesondere,  nicht  aber  durch  phan- 
tastisches Pläneschmieden  sichern ;  nur  durch  jene  wird  sie 


^)  S.  dazu  Demetrius  Gusti,  Gabriel  Tarde.  Eine  Skizze  in 
ScHMOLLEKs  Jahrbuch.     1906.    S.  981. 

*)  G^gen  diese  Auffassung  der  Soziologie  als  eine  „Allerwelts- 
wissenschaft"  wendet  sich  neuerdings  auch  P.  Barth  (Die  Soziologie 
ScHÄFPLBs,  Bd.  1907  dieser  Zeitschrift,  8.467).  Barth  weist  der  Soziologie 
die  Aufeabe  an,  ,,die  prinzipiell  wichtigen  Veränderungen  des  menscli- 
liehen  Willens"  zu  untersuchen,  „wenn  sie  ein  zu  bewältigendes 
Arbeitsgebiet  haben  und  so  möglich  werden  will*^  (S.  472). 


Die  soziologischen  Bestrebungen  in  der  neueren  Ethik.       169 

zu  immer  größerer  IQarheit  und  Erkemitnis  ihrer  wahren 
nnd  berechtigten  Aufgabe  kommen. 

Eine  wissenschaftliche  Forschung  setzt  aber  strenge 
Disziplin  des  Denkens  und  Erziehung  zu  wissenschaftlicher 
Methode  voraus;  dies  gewinnt  man  durch  das  akademische 
Studium;  denn,  wie  Paulsen  sagt,  die  Universitäten  siud 
nicht  nur  Anstalten  for  wissenschaftlichen  Unterricht,  sondern 
zugleich  „Werkstatte  der  wissenschaftlichen  Forschung  .  .  . 
die  eigentlichen  Träger  der  Kontinuität  der  wissenschaft- 
lichen Arbeit"  *). 

Die  Soziologie  ist  universitätsfahig;  sie  muß  infolge- 
dessen in  das  XJniversitätsstudium  aufgenommen  werden. 


')  F.  Paulsbn,  Die  deutschen  Universitäten  und  das  Universitäts- 
studium.     Berlin  1902.    S.  40,  257. 


L 

Besprechungen. 

lUneT,  Otto^  Die  Nationalitätenfrage  and  die 
Sozialdemokratie.  IL  Band  der  Marx-Studien. 
Herausgegeben  von  Dr.  Max  Adler  und  Dr.  Rudolf 
Hüferding.  Wien  1907.  Verlag  der  Wiener  Volks- 
buchhandlung Ignaz  Brand.    576  S. 

Österreich  ist  das  klassische  Land  der  Nationalitäten.  In  Oster- 
reich war  auch  die  Sozialdemokratie  am  frühesten  gezwungen,  mit 
den  Problemen  zn  ringen,  die  sich  aus  der  staatlichen  Zusammen- 
gehörigkeit vieler  Nationen  ergaben.  Der  Verfasser  geht  diesen 
Problemen  g^ndlich  zuleibe  und  entwickelt  aus  der  marxistischen, 
historüch-ökonomischen  Weltanschauung  heraus  eine  sozialdemo- 
kratische Nationalitätentheone.  Verfolgen  wir  in  Kürze  seinen  Ge- 
dankengang! 

Die  Nationen  verdanken  ihre  Entstehung  nicht  besonderen 
^Volksseelen",  sondern  bilden  sich  aus  der  Geschichte.  In  späteren 
Generationen  spiegeln  sich  die  Produktionsbedingun^en  früherer  Ge- 
schlechter wieder,  weil  erworbene  Eigenschaften  sich  vererben.  Die 
natürliche  Gemeinschaft  der  Abstammung  erhält  ein  Volk  nicht  als 
Ganzes,  differenziert  es  vielmehr  je  länger  je  mehr.  Erst  der  Besitz 
gemeinsamer  Kultur  schließt  es  zusammen.  Das  erste  Band,  das  die 
deutsche  Nation  umschloß,  war  die  höfisch-ritterliche  Kultur,  die  von 
der  Provence  her  übertragen  wurde  und  durch  die  anererbten  Eigen- 
schaften der  Deutschen  ihre  nationale  Färbtmg  erhielt.  Aus  ihr 
stammt  die  gesamte  deutsche  Kultur.  Das  war  jedoch  eine  Kultur 
der  herrschenden  Klassen,  weil  diese  allein  durch  die  Ausbeutung  der 
übrigen  im  Besitz  der  materiellen  Grundlagen  des  Kulturgenusses 
waren.  Die  große  Masse  der  Volksgenossen  blieben  die  Hintersassen 
der  Kultur.  Der  Kapitalismus  versucht  sie  dauernd  auszuschließen, 
der  Sozialismus  erstreot  die  Teilnahme  aller  an  der  nationalen  Kultur, 
die  er  damit  überhaupt  erst  vollendet.  Zunächst  scheinen  die  Sozia- 
listen kein  Interesse  für  nationale  Kultur  zu  haben,  weil  sie  als  An- 
gehörige aufsteigender  Klassen  mehr  rationalistisch  denken  im  Gegen- 
satz zu  den  herrschenden  Klassen,  die  ihren  Vorrang  auf  historische 
Bechtstitel     stützen.     In   Wirklichkeit  treibt   der  Sozialismus   eine 


172  Georg  Liebster: 

evolutionistisch-nationale   Politik,   das    heißt   eine   Entwicklung   des 
ganzen  Volkes  zur  Nation. 

Der  moderne  Staat,  der  sich  aus  der  Warenproduktion  entwickelt 
hat,  sucht  in  der  nationalen  Kulturgemeinschaft  sich  eine  feste  Grund- 
lage zu  geben.  Das  geschieht  zunächst  bei  den  großen  Nationen,  die 
eine  Geschichte  haben,  der  Kamtalismus  bringt  aber  auch  die  kleinen, 
geschieh tslosen  Nationen  zum  Erwachen,  und  zwar  so,  daß  sich  zu- 
nächst das  nationale  Bewußtsein  in  der  Form  kleinbürgerlicher  Be- 
wegung kundgibt.  Der  nationale  Haß  ist  transformierter  Klassenhaß, 
im  Kiembürgertum  hat  er  seine  Heimat,  das  Kapital  zieht  den  Nutzen 
aus  ihm,  insoiem  durch  ihn  die  Klassengegensätze  verschleiert  werden. 
In  Osterreich  gilt  eine  atomistisch-zentralistische  Verfassung,  inner- 
halb deren  die  einzelnen  Nationen  keinerlei  Selbständigkeit  genießen. 
Dadurch  wird  die  Politik  zum  Streit  um  die  Befriedigung  der  nationalen 
Kulturbedürfnisse. 

Die  Arbeiterinteressen  erfordern  kulturelle  Hebung  aller  Arbeiter, 
was  nur  durch  Teilnahme  jedes  einzelnen  an  seiner  nationalen  Kultur 
erreicht  wird.  So  gelangt  die  Arbeiterschaft  im  Gegensatz  zu  ihrem 
ursprünglichen,  naiven  Kosmopolitismus  zur  Forderung  der  nationalen 
Autonomie,  wobei  durch  Einführung  eines  Nationalkatasters  auch  den 
nationalen  Minderheiten  Freiheit  und  Selbstverwaltung  verschafft 
werden  muß.  Durch  nationale  Autonomie  würde  auch  die  ungarische 
Frage  gelöst  und  die  Abfallstendenz  verschiedener  Völker  aufgehoben. 
Die  Gefahr  für  Osterreich  liegt  in  dem  aufkommenden  kapitalistischen 
Imperialismus  der  benachbarten  Nationalstaaten,  Deutschland,  Buß- 
land, Italien.  Die  Arbeiter  müssen  den  Imperialismus  überall  be- 
kämpfen und  einen  Staatenstaat  bauen  mit  mtemational  geregelter 
Produktion.  Die  österreichische  Sozialdemokratie  hat  in  sich  eine 
organische  Föderation  errichtet  und  sucht  tun  der  Standesinteressen 
der  Arbeiter  willen,  um  eine  einheitliche  Gewerkschaitsbewogung  zu 
schaffen,  in  den  eigenen  Beihen  den  nationalen  Bevisionismus  nieder- 
zuringen, der  aus  der  österreichischen  Sozialdemokratie  einen  losen 
Bund  selbständiger  nationaler  Parteien  machen  möchtp. 

Das  Buch  bietet  eine  Fülle  interessantester  Einblicke  besonders 
in  die  verworrenen  Verhältnisse  Österreichs.  Die  ökonomischen 
Faktoren  der  geschichtlichen  Entwicklung  werden  stark  betont,  da- 
neben aber  die  Kraft  der  Ideologien  anerkannt.  Ein  bedeutsamer 
Fortschritt  für  sozialdemokratisches  Denken  ist  die  Erkenntnis  des 
nationalen  Charakters  jeder  Kultur. 

Leipzig.  Georg  Liebstkh. 

Wagner 9  Adolf ,  Dr.,  Privatdozent  an  der  Universität 
Innsbruck,  Der  neue  Kurs  in  der  Biologie.  All- 
gemeine Erörterungen  zur  prinzipiellen  Rechtfertigung 
der  Lamarckschen  Entwicklungslehre.  Stuttgart  1907. 
Franckhsche  Verlagshandlung.    96  S.     1,80  M. 

Im  Kampf  der  verschiedenen  biologischen  Bichtungen  der  Gegen- 
wart hat  der  Lamarekismus  —  „die  spezielle  Anwendung  des  all- 
gemeinen naturphüosophischen  Prinzips  einer  teleologischen  Gesetz- 
mäßigkeit in  der  Natur  auf  die  Entwicklungslehre"  —  eine  Auf- 
erstehung in  neuer  und  vertiefter  Form  erlebt:  Er  führt  „zur 
Bettung  des  naturwissenschaftlichen  Einheitsgedankens"^  die  psychische 


Der  neue  Kurs  in  der  Biologie.  173 

Kausalität  als  Erklärunffsprinzip  ein  und  wird  dadurch  zugleich  zur 
Signatar  eines  „neuen  Kurses''  in  der  Biologie.    Unter  spezieller  Be- 
zugnahme auf  zwei  fOr  weitere  exakte  biologische  Forschung  grund- 
legende Worke  (AvENABius,   Kritik  der  reinen  Erfahrung,  una  Cosz- 
3USX,  Elemente   der  empirischen  Teleologie),   die  bei  vielen  Natur- 
forschern —  zu  ihrem  eigenen  Schaden  —  noch  immer  nicht  gebührende 
Berücksichtigung  finden,  wendet  sich  der  Verfasser  in  seiner  streng 
wii«senschaftuchen  Abhandlung  zunächst  g^en  gewisse  dem   neuen 
Kurs  entgegenstehende  wissenschaftliche   Vorurteile ,   Irrtümer  und 
DoCTien.     Vor  allem  gegen  das  von  den  extremen  Mechanisten  ver- 
foentene  Dogma  von  der  ,,Alleingültigkeit^  der  mechanischen  Kausalität, 
die  weder  durch   die  Erfahrung  noch  durch  die  Lo^ik  des  Denkens 
gestützt  wird   (19).     Vielmehr   sind    die  Widersprüche  zwischen  der 
mechanistischen  Naturauffassung  und  dem  gesamten  Tatsachenmaterial 
nachgerade  unei'träglich  geworden  (89).    In  einer  vernichtenden  Kritik 
der  ^Maschinentheorie''  ^—50)  weist  der  Verfasser  nach,  daß  bei 
einer  naturwissenschaftlichen  (physikalischen)  Analyse  des  Organismus 
ein  sehr  großer  Best  übrigbleibt.    Dieser  enthält  aber  gerade  alles 
für  den  Organismus  besonders  Charakteristische  (Fähigkeit  der  Selbst- 
regulation) und   kann  —  wegen   des  Versagens   der   äußeren  —  nur 
durch  die  Daten  der  inneren  £^rfahrung  aufgelöst  und  nur  nach  dem 
Gesetz  der  psychischen  Kausalität  verstanden  werden  (50).    Letzteres 
hebt  daher  durchaus  nicht  die  Gültigkeit  der  mechanischen  Kausalität 
auf,  beide  Gesetzmäßigkeiten  bestehen  vielmehr  nebeneinander  (22). 
Einseitige  Mechanisten  versagen  aber  noch  den  psychischen  Faktoren, 
für  deren  Wirken  in  der  Natur  doch  schon  in  unserer  eigenen  Er- 
fahrung der  Beweis  erbracht  ist,  die  Anerkennung,  weil  sie  mit  ihnen 
.metaphysische  Elemente"  und  „Anthropomorphismus"  in  die  Wissen- 
schaft  emgeführt   sehen.    Was  ist  aber,  fragt  W.,   in  unseren  An- 
schauungen nicht  „anthropromorph'^?    Ist  es  nicht  selbst  das  Gesetz 
der  Kausalität  als  bloß  „erschlossen"  aus  den  durch  die  Beobachtungen 
allein    gegebenen    Sukzessionen!    (24).      „Metaphysisch**    nenneo    die 
Gegner  des  teleologischen  Prinzips  vor  allem  die*^  vom  Lamarekismus 
dem  Organismus  zugeschriebene  Fähigkeit  der  aktiven   Beteiligung 
an  den  Anpassung-  und  Entwicklungsvorgäugen  durch  die  Wahl  des 
Mittcds    zur   Befriedigung   eines   empfundenen  Bedürfnisses.     Dieses 
.charakteristische   Element    des   Lamarckismus'^    wird,    weil    es    ein 
Urteilen  voraussetzt,  als  metaphysisch  im  Sinne  von  übernatürlich, 
unwissenschaftlich    gebrandmarkt.      Nun    aber     lehren    die    gesetz- 
mäßigen   Beziehungen    zwischen    den    physischen    und    psychischen 
Lebensäußerungen  des  Menschen  (und  zwar  nicht  bloß  in  seinen  be- 
M'ußten   Handlungen)   das   Eingreifen  psychischer   Faktoren   in    den 
Kausalnexus  des  natürlichen  Geschehens  als  eine  Erfahrungstatsache. 
Wer  nun  solche   psychische  Faktoren  im  Menschen  als  uer  wissen- 
schaftlichen Analyse  unzugänglich  verwirft,  der  gibt  dadurch  nicht 
bloß  den  Menschen  als  naturwissenschaftliches  Studienobjekt   preis, 
sondern  mit  ihm  auch  zugleich  die  gesamte  Lebewelt.    Denn  nirgends 
besteht  auf  der  ganzen  Stufenleiter  des  Organischen  in  den  physio- 
ioeischen  Erscheinungen  ein  prinzipieller  Unterschied.    Zudem  bürgt 
scüon  die  Existenz  einer  wissenschaftlichen  Psychologie,  die  doch  die 
Gesetzmäßigkeiten  im  Psvchischen  lehrt,  dafür,  daß  dies  eben  deshalb 
nichts  Übernatürliches,  Gesetzwidriges  sein  kann  (37).    Die  Biologie 
des  neuen  Xurses  will  nicht  eine  „Mmiaturausgabe'*  der  menschlichen 
Psyche    in    den   niederen  Lebewesen,   menschliches   Empfinden   und 
Wollen     in     einer    Eiche,    einer    Quelle    wiederfinden,    wie    es    die 


174  Franz  Hornickel: 

Mechanisten  auffassen  wieder  mit  dem  Vorwurf  des  Metaphysischen 
und   des  Anthropomorphismus,  wenn  der  I/amarckismus   psychische 
Faktoren  wie  üoerhaupt  alle  das  Lehen   ausmachenden   Qualitäten 
schon  der  Zelle  zuschreibt.   Die  Psyche  ist  ein  „Summationsphänomen^, 
das  in  seiner  Gesamtheit  Erfahrungstatsache  ist.    Darum  müssen  es 
auch  seine  Elemente  sein.    Nur  diese  elementaren  Eigenschaften  und 
Gesetzmäßigkeiten,   die   schließlich  zu  dem   hoch  komplizierten    Er- 
scheinungsbild  der  menschlichen   Seele  konzentriert  erscheinen,  er- 
kennt analytisch  verfahrende  Naturwissenschaft  auf  den  verschiedenen 
niederen  Organisationsstufen  wieder.    Die  Annahme,  daß  die  physio- 
logische Differenzierung  der  Zellenfähigkeiten  physikalisch  erklärlich 
sei,  ist  eine  arge  Selbsttäuschung.    Denn  1.  ist  der  Begriff   „physi- 
kalisch^ nur  eine  Abstraktion  uncT  erschöpft  die  Naturerscheinungen 
nicht;  2.  ist  für  eine  kritische  Verbindung  der  Begriffe  auch  der  weg 
vom    Komplexen    zum    Einfachen   (nicht  bloß   umgekehrt)    zulässig; 
3.  sind    die  Begriffe  der  physikalischen   Naturbetrachtung  (Materie, 
Kraft,  Energie)  nichts  Einfaches,  sondern  (unvollständige)  Abstraktionen, 
und  4.  sind  uns  sille  Naturerscheinungen  nicht  direkt  gegeben,  sondern 
indirekt  durch  unser  Vorstellungs-,  Empfindungs-  und  Urteilsvermögen, 
sonach  durch  psychische  Faktoren  (6ö).    Wer  sich  nicht  nur  mit  der 
Beschreibung  der  Einzeltatsachen  begnügen,  sondern  sie  in  theoretischer 
Arbeit  verwerten  will,  hat  sich  dabei  immer  des  unabweislich  aus  der 
Erkenntniskritik  sich  ergebenden  relativistischenCharakters  aller  unserer 
Erfahrungen  bewußt  zu  bleiben.    Die  Art  dieser  Belativität,  nämlich 
wie  unsere  Vorstellungen  von  äußeren  Faktoren  (Einfluß  der  Um- 
gebung) nur  indirekt,  £rekt  aber  von  der  physiologischen  und  psycho- 
logischen Tätigkeit  des  Gehirns  abhängig  sind,  wird  einsehend  vom 
Verfasser  nachgewiesen.    Er  betont  hierbei,  daß  eine  bloß  von  den 
niedersten  Organismen  ausgehende  vergleichende  Betrachtung  ^von 
unten  nach  oben**  —  wie  sie  nicht  zum  „Triumph  der  analytischen 
Biologie^,  der  Zellularphysiologie  Oberhaupt  geführt  hätte,  auch  nicht 
volles  Verständnis  für  die  Entstehung  des  Gehirns  durch  fortgesetzte 
funktionelle  Steigerung  niederer  Zellqualitäten  ermöglicht  haben  würde. 
Diese  bei  AnerkennuDg  „nur-physikalischer^  Wirkungsweisen  beliebte 
Methode  schließt  zu  sehr  die  Gefahr  des  bloßen  „Konstruierens^  anstatt 
des  „Erkennens*  ein  (52,  68).    Sie  bedarf  daher  zur  notwendi^n  Er- 
gänzung der  den  Weg  »von  oben  nach  unten^,  vom  Komplizierten 
zum  Einfachen  einschlagenden  Methode.     Wenn  auch  auf  Analoge 
beruhend,  wie  jene,  hat  sie  doch  den  Vorzug  der  größeren  Zuverlässig- 
keit und  „Walirheit'' ,  weil  sie  vom  unmittelbar  Gegebenen  (den  Tat- 
sachen der  psychischen  Erfahrung)  zum   mittelbar  Gegebenen  fort- 
schreitet (nicht  umgekehrt,  wie  jene  andere)  und  die  Naturerkenntnis 
nicht  aus  einem  beschränkten  Gebiet  heraus  „konstruiert** ,  sondern 
durch  Analyse  und  Abstraktion  aus  der  gesamten  Erfahrung  ableitet, 
und  weil  die  so  gewonnenen  Resultate  immer  kontrollierbar  bleiben. 
Anthropomorphismus  soll  es  sein,  wenn  die  Lamarckisten  auch  den 
niederen   Tieren   und   den   Pflanzen  Empfindung  zuschreiben.     Der 
Vorwurf  läßt  sich  mit  viel  mehr  Recht  gegen  die  (^gner  der  Be- 
seelungslehre selbst  kehren.    Denn^  es  gibt  weder  physiologisch  noch 
psychologisch   eine  Grenze,   wo  ein   „einwandfreies  Kriterium**  der 
Empfindung  plötzlich  aufhörte  (73).    Wollte  man  dem  Analogieschluß 
die  wissenschaftliche  Berechtigung   absprechen,  so  müßte  man  den 
Begriff  der  Empfindung  überhaupt  aus  der  Spra<^he  der  Wissenschaft 
streichen,  —  auch  schon  beim  Menschen.    Der  Mangel  eines  Nerven- 
systems ist  kein  Beweis  für  mangelnde  Empfindung.    Für  Empfindung 


Der  neue  Kurs  in  der  Biologie.  I75 

sibt  66  nur  das  eine  „objektive^  Kennzeichen  der  Reizbarkeit.  Die 
Sktologische  Beeohaffenheit  der  ihr  dienenden  Organe  ist  als  solche 
dorchauB  unweaentüch.  Reizbarkeit  und  Beizleitung  ist  überall  im 
Organischen  in  verschiedenen  Formen  der  Abstufung  nachgewiesen, 
Obngens  die  unentbehrliche,  Voraussetzung  der  Selbstregulation. 
End»r.h  ist  Empfindung  nicht  notwendig  an  Bewußtsein  gebifipft. 
Denn  1.  ^bt  es  auch  Grade  des  Bewußtseins  („Schwellenwert  »  „ünter- 
bewußtsein'O»  2.  werden  „eingeübte''  (erblich  fixierte)  Empfindungen 
ohne  Beteiligung  des  Bewußtseins  aktiv  wirksam,  3.  ist  Bewußtsein 
fiberhaupt  kein  „objektives"  Kennzeichen.  Was  die  Bolle  anlangt, 
die  dem  Gehirn /psychologisch  zukommt,  gibt  es  keine  Möglichkeit, 
die  psychischen  Earlebnisse  in  eine  unmittelbare  physikalische  Kausal- 
beziehung zu  den  Veränderungen  im  Zentralorgan  zu  bringen.  Wir 
können  —  auf  dem  Boden  der  Erfahrungsanalyse  —  nur  annehmen, 
daß  „jedes  psychische  Erlebnis  im  Zentralorgan  implizite  enthalten 
idf.  Um  nicht  jede  von  einer  psychischen  Begung  ausgehende 
psychische  Handlung  zu  einem  Wunder  stempeln  zu  müssen,  bleibt 
nur  der  Ausweg,  die  Elemente  der  psychischen  Erlebnisse  schon  in 
den  niedrigeren  Organisationseinheiten  bis  hinab  zu  den  Zellen  an- 
zunehmen, „und  zwar  in  derselben  unmittelbaren  Abhängigkeit  von 
dem  durch  den  Beiz  jgeschaffenen  Zustand  des  Protoplasmas''  (78). 
Dann  ist  iede  Beaktion  der  Organismen  „der  Ausdruck  eines  durcn 
den  Unagebungsreiz  hervor^rufenen  psychiscJien  Erlebnisses''.  Das 
Abhängigkeitsverhältnis  zwischen  dem  psychischen  Faktor  und  der 
9chließlicnen  physiologischen  Beaktion  erweist  sich,  nach  unserer 
eigensten  Erfahrung,  unzweifelhaft  als  eine  Kausalität.  Sie  ist  wegen 
des  psychischen  FaiKtors  nicht  mechanisch,  sondern  teleologisch,  und 
zwar  autoteleologisch,  das  heißt  im  Organismus  selbst  gelegen,  und 
charakterisiert  durch  „die  dreifache  Abhängigkeitsbeziebung  zwischen 
Beiz,  Mittel  und  Endzustand  mit  Bezug  auf  die  Selbsterhaltungs- 
fiLhi^eit  des  Organismus''  (79X  für  die  bereits  Coszmann  die  empirische 
Formel  aufgestellt  hat  (21).  Danach  erscheint  der  Lamarekismus  in 
der  psychologischen  Fassung  des  neuen  Kurses  wissenschaftlich  durch- 
aus gerechtfertigt. 

Zum  Schluß  wendet  sich  der  Verfasser  noch  gegen  den  Glauben, 
daß  die  Annahme  einer  besonderen  (psychischen)  Kausalität  der 
Organismen  unberechtigt  sei,  weil  sie  das  Prinzip  der  Einheit  in  der 
Natur  durchbreche.  iS  besteht  a  priori  keine  Notwendigkeit  der 
prinzipiellen  Trennung  der  Organismen  und  Anorganismen.  Da  nun 
die  Erfahrungstatsachen  sowohl  die  mechanistische  wie  die  psycho- 
logische Betrachtungsweise  im  Stich  lassen  gegenüber  dem  ]^oblem 
der  Urzeugung,  so  sind  zwar  alle  Versuche  zur  Überbrückun^  des 
Organischen  und  Unorganischen  auf  bloße  Annahmen  angewiesen. 
Aber  unstreitig  verdient  dann  der  Versuch,  die  unorganische  Welt 
was  der  organischen  verstehen  zu  wollen,  den  Vorzug.  Denn  er  stützt 
sich  eben  auf  die  psychische  Kausalität,  und  die  lo^sche  Abstraktion 
erfolgt  hierbei  vom  Bekannten  zimi  Unbekannten.  Daraus  ergibt  sich 
allerdings  als  der  Erfahrung  am  besten  entsprechend  und  der  Kritik 
am  meisten  gewachsen  der  Standpunkt  des  Belativismus  (Avenabiüs, 
Mach  u.  a),  „der  UmgebungsobjeKt  und  subjektive  Empfindung  nur 
als  untrennbare  Einheit  kennf  und  „für  den  es  ebenso  unzulässig 
erscheint,  das  Materielle  zum  Weltprinzip  zu  erheben  wie  das 
Psychische''.  Aber  die  Naturwissenschaft  kann  nur  mit  einem 
^sitiven"  und  „monistischen"  System  zu  einer  Weltanschauung 
iQhren.      So    kann    als    alleingültiges    Erklärungsprinzip    nur    das 


176  0.  Klemm: 

Psychisclie  in  Betracht  kommen,  da  das  Materielle  erst  sekundär 
durch  dieses  vermittelt  erscheint.  —  Dieser  .psychische  Monismus^ 
wahrt  die  Einheit  der  Natur  und  hleibt  der  Erfanrun^  am  nächsten, 
weil  er  denjenigen  Faktor  zum  Erklärunffsprinzip  macnt,  der  in  der 
Erfahrung  dirät  und  unmittelbar  gegeben  ist**  (84).  —  Allen  den- 
jenigen, die  zu  einer  befriedigenden  Weltanschauung  auf  natur- 
wissenschaftlicher Grundlage  gelangen  möchten,  und  denen  es  daher 
ernstlich  um  El&rung  im  £ampf  der  widerstreitenden  Meinungen  zu 
tun  ist,  kann  die  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  noch  besondera  ver- 
dienstvolle, streng  kritische  Arbeit  Wagners  aufs  wärmste  zum  Studium 
empfohlen  werden. 

Schneeberg  (Sachsen).  Franz  Hornickel. 

Becher 9  Eriche  Dr.,  Privatdozent  der  Philosophie  an  der 
Universität  Bonn ,  Philosophische  Voraus- 
setzungen der  exakten  Naturwissenschaften. 
Leipzig  1907,  J.  A.  Barth.    243  S.    6,50  M. 

Pfordten,  Freiherr,  Otto  v.  iL,  Privatdozent  an  der  Uni- 
versität Straßburg,  Vorfragen  der  Naturphilo- 
sophie.   Heidelberg  1907,  Carl  Winter.    145  S.    3,80  M. 

Stöhr,  Adolf^  Dr.,  a.  o.  Professor  der  Philosophie  an  der 
Wiener  Universität,  Philosophie  der  unbelebten 
Materie.  Hypothetische  Darstellung  der  Einheit  des 
Stoffes  und  seines  Bewegungsgesetzes.  Leipzig  1907, 
J.  A.  Barth,  418  S.    7,00  M. 

Dippe^  Alfred,  Naturphilosophie.  KÜtische  Ein- 
führung in  die  modernen  Lehren  über  Kosmos  und 
Menschheit.    München  1907,  C.  H.  Beck    417  S.    5,00  M. 

Die  Zusanunenstelluns  dieser  Bücher,  die  durch  ihr  zufällig 
gleichzeitiges  Vorliegen  be£ngt  ist,  zeigt  wie  reich  und  zugleich  wie 
verschiedenartig  die  Bestrebungen  auf  dem  Gebiete  der  Natur- 
philosophie in  unseren  Tagen  sind. 

Neben  erkenntnistheoretischen  Erörterungen  der  Gnmdannahmeu 
der  exakten  Naturwissenschaften,  also  einer  formalen  Naturphilosophie, 
stehen  die  Versuche  eines  wirklichen  Aufbaues  des  unserem  Welt- 
bilde mutmaßlich  zugrunde  liegenden  Geschehens. 

Zur  ersten  Gruppe  gehören  die  beiden  an  erster  Stelle  genannten 
BOcher.  Becher  hat  sich  die  Aufgabe  gesetzt,  die  Grundannahmen 
von  Physik  und  Chemie  zu  rechtfertigen  und  zu  deuten.  Die  Becht- 
fertigung  besteht  in  erkenntnistheoretischen  Erwägungen,  in  denen 
es  sich  um  den  Wert  der  Hypothesen  im  allgemeinen  und  besonders 
um  den  der  wichtigsten  Hypotnese,  der  Außenweltshypothese,  handelt. 
Die  Deutung  ffUirt  zu  einer  Besprechung  der  großen  vereinheit- 
lichenden Theorien  der  Physik,  vomehmlicn  der  Elektronentheorie. 
Bewundernswert  ist  neben  der  Kenntnis  des  Gebietes  die  Leichtigkeit 


Naturphilosophie.  177 

der  Darstellung  y  -welche  auch  die  verwickeltsten  Fragen  dem  Ver- 
stfindnis  näher  Diin^.  Das  Kanitel:  Die  Diskontinuität  der  Materie 
ist  so  meisterhaft  in  dem  Aufbau  der  von  Stufe  zu  Stufe  an  Über- 
zeugungskraft zunehmenden  Beweise  und  Belege,  daß  es  ein  hoher 
Genuß  ist,  dem  Gedankengange  des  Autors  zu  folgen. 

Auch  den  erkenntnistheoretischen  Erwägungen  des  Verfassers 
kann  man  in  ihren  Ergebnissen  für  die  exakten  Wissenschaften  bei- 
pflichten. Er  definiert  die  Hypothesen  als  unbewiesene  Annahmen, 
die  um  anderer  Annahmen  oder  Tatsachen  willen  gemacht  werden, 
und  findet  den  Wert  der  Hypothesen  in  ihrer  Wahrscheinlichkeit. 
Bei  der  Anwendung  dieser  Sätze  aber  zur  Entkräftung  der  gegen  die 
Außenwelthypothese  gerichteten  Einwürfe,  muß  ich  einen  speziellen 
Punkt  zur  Sprache  bringen.  Der  Verfasser  sucht  den  Schluß  auf 
die  Außenwelt  oder  ein  fremdes  Bewußtsein  zu  rechtfertigen.  Nun 
findet  aber  die  Analyse  desienigen  Erlebnisses,  in  welchem  Teile  der 
Außenwelt  zum  Bewußtsein  kommen,  nichts  von  einem  Schluß.  Außer- 
dem bleibt  es  problematisch,  ob  wirklich  die  Beschränkung  auf  rein 
psychische  Inhalte  den  Gedanken  einer  allerdings  lückenhaften  Eegel- 
mäßigkeit  entstehen  lassen  kann,  der  erst  durch  (ue  Annahme  außerwelt- 
licher EinfltLsse  zu  einer  vollständigen  Begebnäßigkeit  umgewandelt 
wird,  oder  ob  nicht  vielmehr  bei  bloßer  Beschränkung  auf  psychische 
Inhalte  überhaupt  nicht  der  Gedanke  irgendwelcher  regelmäßiger  Ver- 
knüpfung entstehen  könnte.  Weiterhin  befremdet  denjenigen,  welcher 
die  neuere  Bewußtseinsphänomenologie  der  Münchner  und  der  Göttinger 
Schule  etrwa  anerkennt,  die  Meinung,  daß  „der  Begriff  des  Seins  durch 
Beachten  des  Gemeinsamen  in  dem  vergleichenden  Durchlaufen  der 
Bewußtseinsinhalte  entstehe**.  Im  Gegensatz  zu  dieser  psycho- 
logistischen  Ableitung  wäre  dann  die  Tatsache  als  letzte  Tatsache 
herauszoiieben ,  daß  wir  in  den  Bewußtseinsinhalten  Gegenstände 
denken,  imd  daß  die  qualitativen  Eigentümlichkeiten  dieses  Aktes  sich 
in  keiner  Weise  aus  Eigentümlichkeiten  anderer  Bewußtseinsinhalte  ab- 
leiten lassen.  Solche  Abweichungen,  die  bei  der  ümstrittenheit  der 
erkenntnispsychologischen  Begriffe  unvermeidlich  auftreten,  hindern 
indessen  mcht,  daß  sich  der  Leser  gern  der  umsichtigen  Führung  des 
Verfassers  anvertraut.  Dabei  muß  besonders  gerühmt  werden,  daß 
die  klare  Darstellung  dem  Phvsiker  auch  die  philosophischen  Teüe 
erschließt,  und  dem  speziell  philosophisch  geschulten  die  physikalischen 
Theorien  nahe  bringt.  Nur  wer  ein  Gebiet  beherrscht,  kann  es  in 
solcher  Einfachheit  darstellen. 

Während  Becheb  die  Annahme  einer  körperlichen  Außenwelt, 
die  aus  Molekeln,  Atomen  und  Elektronen  aufgebaut  ist,  und  die 
kinetische  Katurauffassung  gegen  erkenntnistheoretische  Angriffe  ver- 
teidigt, wendet  sich  v.  d.  Ffobdten  in  seinen  Vorfragen  der  Natur- 
philosophie geßen  die  philosophierenden  Naturforscher  selbst.  Sein 
buch  zerfällt  in  einen  erkenntnistheoretischen  Teil,  welcher  als  er- 
kenntnistheoretischen Grundsatz  eine  Theorie  des  Konformismus 
darstellt,  und  dann  zwei  Gesichtspunkte  als  unzureichend  erweist, 
unter  denen  eine  allseitige  Lösung  versucht  worden  ist,  die  Energie 
und  die  Empfindung;  und  in  einen  spekulativen  Teü,  welcher  die 
Naturgesetze  deutet  und  schließlich  ein  Gesamtbild  des  Natur- 
geschanens  entwirft.  Der  Verfasser  sucht  zwischen  dem  naiven 
Kealismus  und  dem  extremen  Phänomenalismus  zu  vermitteln,  indem 
er  die  Begriffe  der  Naturwissenschaft  und  die  daraus  gebildeten  Ge- 
setze der  Wirklichkeit  entsprechen  läßt;  diesen  Erkenntniswert 
bezeichnet  er  als  Konformismus  und  drückt  den  Grad  jeweiliger 

Vierteljahrssohrift  f.  wissenachAftl.  Philos.  n.  Soz.  XXXII.  1 .  12 


178  O.  Klemm: 

Erkemitnis  durch  eine  Konformität  verscliiedener  Ordnung  auB.  £r 
unterscheidet  dann  drei  Beiche  der  Erkenntnis:  das  der  Realität 
<  Wirklichkeit,  Einzel  dinge),  das  der  Konformitäten  (Allgemeines,  Be- 
griffe) und  das  des  Wesens  der  Dinge  (absolutes  Sein,  Dinge  „an  sich^). 
Seine  Abhandlung  will  durch  die  Tatsache  der  chemischen  S^these 
beweisen,  daß  ein  solches  zweites  Reich  existiert,  und  daß  die  Kon- 
formitäten des  zweiten  Reiches  eine  sichere  und  bestimmte  Ver- 
bindung und  Annäherung  zwischen  dem  ersten  und  dritten  Reiche 
darstellen  (S.  38).  Mir  scheint  es,  daß  der  Betriff  der  Konformität 
an  den  Vieldeutigkeiten  leidet,  die  dem  Begriffe  des  Entsprechens 
anhaften.  Unter  Entsprechen  läßt  sich  eigentlich  die  ganze  Stufen- 
folge von  Beziehungen  zweier  Gegenstände  denken,  £e  von  einer 
vielleicht  nur  durch  ein  einziges  Merkmal  vermittelten  Zuordnung 
bis  zur  größtmöglichen  Ähnlichkeit  führt.  Die  Anordnung  der  Kon- 
formitäten denkt  sich  der  Verfasser  nach  dem  Grad  von  experimenteller 
Richtigkeit  der  ihnen  zugrunde  liegenden  Urteile.  Fadls  hierunter 
die  Wahrscheinlichkeit  verstanden  ist,  zerfallen  die  Konformitäten  in 
die  altbekannte  Teilung  wahrscheinlicher  und  unwahrscheinlicher 
Hypothesen,  falls  die  Ordnung  der  Konformitäten  aber  nach  Graden 
der  Abstraktion  geschieht,  erhellt  wiederum  nicht,  in  welchem  Grade 
sie  das  Wirkliche  in  sich  fassen.  Obgleich  mir  demnach  hierin  noch 
eine  Schwierigkeit  zu  liegen  scheint,  ist  doch  der  Versuch  an- 
zuerkennen, die  Kluft  zwischen  dem  ersten  und  dem  dritten  Reiche 
zu  überbrtlcken,  und  wer  überhaupt  dieses  Problem  zugibt,  wird  gewiß 
auch  aus  den  Darlegungen  des  Verfassers  mannic^ache  Anregung 
schöpfen.  In  der  gerechten  Einschätzunc  seiner  Gegner  und  der 
ruhigen,  eingehenden  Prüfung  widersprewiender  Ansichten  ist  das 
Buch  ein  treffliches  Beispiel  für  diejenige  Art  philosophischer  Kritik, 
die  allein  fruchtbar  zu  werden  verspricht. 

Eine  in  allen  Einzelheiten  systematisch  durchgeführte  Natur- 
philosophie ist  endlich  die  Philosophie  der  unbelebten  Materie 
von  StÖhr.  Die  Anfechtungen,  welche  die  Grundlagen  der  Physik 
von  der  Erkenntnistheorie  zu  erleiden  hatten,  hemmen  ihn  nicht  in 
seinem  Vorhaben,  aus  bestimmten  Annahmen  über  die  Katur  der 
Uratome  der  Materie  die  Erscheinungen  unserer  physikalisch  denk- 
baren Welt  abzuleiten.  Nach  einer  kurzen,  nicht  tiefen  Erörterung 
des  erkenntnistheoretischen  Charakters  der  Atomistik  wird  gleich  die 
kleinste  Zahl  von  Eigenschaften  der  letzten  Teilchen  festgestellt  und 
ein  Urstoßgesetz  für  ihre  Bewegung  formuliert.  Mit  der  Austeilung 
solcher  elementarer  Eigenschaften  ist  der  Verfasser  nicht  ver- 
schwenderisch; so  haben  etwa  seine  Uratome  noch  nicht  die  Eigen- 
schaft der  Undurchdringlichkeit.  Aus  dem  Uratomgesetz  ergeben 
sich  Gesetze  für  Uratomballungen,  aus  Uratomballungen  bilden  sich 
Aggregate  der  ersten  bis  zur  siebenten  Ordnung;  zur  letzten  gehören 
die  festen  Körper.  Des  weiteren  werden  die  Eigengeschwindigkeiten 
dieser  Aggregate  besprochen  und  schließlich  an  der  Hand  reichen 
physikalischen  Materials  die  Möglichkeit  einer  m energetischen  Um- 
formung physikalischer  Hypothesen  dargelegt.  So  bewundernswert  der 
Scharfsinn  ist,  mit  dem  der  Verfasser  aus  reinen  Thesen  die  reiche 
Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  ableitet,  so  ungenießbar  sind  diese 
Ableitungen  doch  für  denienigen,  der  alle  solche  unverifizierbaren 
Vermutungen  eben  nur  als  Vermutungen  gelten  läßt.  Es  ist  ein 
Wagnis  unserer  Zeit,  für  deren  erkenntnistheoretische  Zurückhaltung 
die  oeiden  zuerst  besprochenen  Schriften  ein  Zeugnis  sein  können, 
ein    Buch    zu   unterbreiten,    das    an    die   Weltentstehungs lehre   des 


Elemente  der  Philosophie.  179 

DcscARTEs  enimert.  Die  ausgedehnten  rein  physikalischen  Teile  des 
Bnchee  liefen  außerhalb  des  Gebietes  dieser  Zeitschrift;  auch  hier 
stehen  die  Meinungen  des  Verfassers  bisweilen  in  auffallendem  Gegen- 
sätze zu  den  herkömmlichen.  So  verficht  er  etwa  die  Emissions- 
hvpothese  gegen  die  ündulationshypothese;  aber  wie  mir  scheint  mit 
wenig  Glück.  Seine  Argumente  werden  bei  dem  Laien  auf  Ver- 
stau dmislosi^keit,  bei  dem  Fachmann  auf  sachlichen  Einspruch  stoßen. 
So  glaube  ich,  daß  der  Nutzen  dieses  Buches  nicht  ganz  im  Ver- 
hältnis zu  seinem  großen  Umfange  steht. 

An  weitere  Kreise,  in  denen  philosophisches  Interesse  herrscht 
und  an  Freunde  der  Natur  und  der  Naturwissenschaft  wendet  sich 
endlich  die  populäre  Naturphilosophie  von  Dippe.  Der  Verfasser  sucht 
empirische  Naturwissenschaft  und  Erkenntnistheorie  im  transzenden- 
talen Realismus  zu  vereinigen  von  einem  dualistischen  Standpunkte 
aiis,  der  im  religiösen  Gebiete  zum  Theismus  gravitiert.  So  wichtig 
der  Teleologismus  als  heuristisches  Prinzip  für  die  Biologie  ist,  so 
unberechtigt  ist  es  auf  ihm  fußend  eine  metaphysische  teleologische 
Weltauffassung  zu  postulieren.  Die  Beweise,  die  etwa  aus  der  neueren 
Astronomie  für  die  teleologische  Bedeutung  der  Erde  genommen 
worden,  haben  mich  wenig  überzeugt,  ganz  abgesehen  von  der  ge- 
legentlich wenig  glücklichen  Stilisierung.  „Nirgends  im  ganzen 
Fixstemsystem  ist  ein  Leben  höherer  Tiere  und  intellektueller  Wesen 
möglich,  sofern  dort  nicht  ebenso  günstige  Bedingungen  wie  auf  der 
Erde  nachgewiesen  werden  können"  (S.  259).  Ist  denn  das  ein  Beweis  ? 
Ist  ein  Gegenstand  deshalb  unmöglich,  weil  ich  seine  Tatsächlichkeit 
nicht  beweisen  kann?  Was  sich  jenseits  der  Milchstraße  abspielt, 
kümmert  unseren  Argumentator  wenig.  Er  gibt  zwar  zu,  daß  „die 
Welt  jenseits  der  Milchstraße  nicht  mit  Brettern  vernagelt  sein  wird, 
aber  leuchtende  Körper  können  sich  daselbst  nicht  mehr  befinden, 
sonst  würden  wir  ihr  Licht  wahrnehmen"  (S.  260).  Wenn  die  Astro- 
phj'sik  so  simpel  wäre,  dann  würde  tatsächlich  die  populäre  Physik 
des  Alltags,  aie  jeder  von  uns  in  sich  ti*ägt,  der  wissenschaftlichen 
Forschung  vorzuziehen  sein.  Welche  Naivität  liegt  auch  in  der  Be- 
sprechung der  Marskanäle !  „Sicherlich  sind  sie  für  jetzt  keine  Wasser- 
zoleitungen  mehr**  (S.  255).  Das  Angeführte  mag  als  Stichprobe  ge- 
nügen. Auch  über  das  Kapitel  19,  Der  menschliche  Geist,  wollte  ich 
mich  hier  äußern.  Aber  ich  stehe  davon  ab,  da  sicherlich  die  Ver- 
schiedenheiten der  Richtungen,  welche  noch  in  die  moderne  Psjrcho- 
logie  hineinragen,  mit  Schuld  daran  tragen,  daß  sie  sich  in  demjenigen, 
wacher  auf  diese  Weise  dem  Weltgeiste  sich  nähern  will,  als  selt- 
samste Phantasmagorien  widerspiegeln. 

Leipzig.  O.  Klemm. 

Ilagemaiiii,  George  Dr.,  weil.  Professor  der  Philosophie  an 
der  Aka.deiuie  zu  Münster,  Elemente  der  Philo- 
sophie. Dritter  Teil.  Psychologie.  Ein  Leitfaden  für 
akademische  Vorlesungen  sovsde  zum  Selbstunterricht. 
Siebente  Auflage,  teilweise  neu  bearbeitet  und  vermehrt 
von  Dr.  Adolf  Dyroflf,  Professor  an  der  Universität  Bonn. 
Mit  27  Abbüdungen.    gr.  8®  (XII  u.  354).    Freiburg  1895, 

12* 


180  K*  Hönigswald: 

Herdersche    Verlagshandlung.     M.  4, — ,   geb.    in    Halb- 
leder M,  4,80. 

Die  HAOEMANNsche  Psychologie  ist  als  ein  fahrendes  Werk  allen 
denen  bekannt,  für  welche  die  Psychologie  unter  den  Elementen  der 
Philosophie  vorkommt.  Nach  dem  Tode  des  Verfassers  mußte  eine 
andere  Hand  die  neue  Auflage  herausgeben.  Die  Aufgabe  des  Buches 
blieb  dabei  gewahrt,  eine  kurze  und  nicht  allzu  abstrakte  Orientierung 
über  die  wichtigsten  und  anerkannten  Tatsachen,  Begriffe  und  Ge- 
setze der  Psychologie  zu  geben.  Da  hierbei  eine  Berücksichtigung 
mancher  Ergebnisse  der  neueren  experimentellen  Psychologie  er- 
forderlich war,  ist  der  Umfang  des  Buches  trotz  verschiedener 
Kürzungen  gewachsen.  Mit  anerkennenswerter  Kritik  hat  der  Be- 
arbeiter den  Standpunkt  des  Verfassers  im  wesentlichen  gewahrt,  und 
etwa  mit  Becht  die  endgültig  antiquierte  Lehre  von  dem  Gefühl  als 
dem  dritten  Seelenvermögen  ausgeschieden.  Nach  dem  Vorbild  der 
Darstellung  in  den  modernen  Lehrbüchern  der  Psychologie  hat  er 
auch  die  Einteilung  des  Stoffes  geändert ;  so  ist  die  Besprechung  der 
metaphysischen  Begriffe  an  das  Ende  gerückt.  Zahlreiche  Be- 
merkungen über  did  Geschichte  der  Psychologie  und  der  einzelnen 
psychologischen  Probleme  stellen  ebenso  interessante  Beziehungen 
zur  allgemeinen  Geschichte  der  Philosophie  her,  wie  sie  zur  Würdigung 
der  psychologischen  Bestrebungen  im  speziellen  beitragen. 

27  sinnesphysiolo^che  Abbildungen,  reiche  Literaturausgaben 
und  ein  Sachregister  dienen  in  erfreuEcher  Weise  zur  Orientierung. 

Leipzig.  0.  Klemm. 

Uphnes^  Goswin,  Prof.  Dr.,  Vom  Bewußtsein.    Zickfeldt. 
Osterwieck  i.  H.  1904.    50  S. 

„Bewußtsein^  bedeutet  für  Uphdeb  dreierlei:  eine  Gruppe  gleich- 
zeitiger und  aufeinanderfolgender,  vergangener  und  zukünftiger  Be- 
wußteeinsvorgänge,  die  wir  als  mein,  dein,  sein  . . .  bezeichnen^,  dann 
ein   „Wissen  von   Gejg;en8tänden ,   die  von   diesem  Bewußtsein   oder 
Wissen  verschieden  smd^ ,  und  schließlich  —  und  zwar  in  seiner  er- 
kenntnistheoretisch   wichtigsten   Bedeutung   die    „nota   constituens*', 
durch    welche    die    Bewußtseinsvorgänge    zu    Bewußtseinsvorgängen 
werden.    Bewußtsein  in  diesem  Sinne  nennt  der  Verfasser  „Bewußt- 
heit *".  Sie  ist  das  Wissen  jedes  Bewußtseinsvorganges  um  sich  selbst.  — 
Die  beständig  verschwindenden  Teile  der  Empfindungen  und  Gefühle 
werden  durcn  die  Bewußtheit  .zusammengehalten"  imd  zur  Einheit 
verbunden.  —  Nun  ist  die  Bewuntheit  aller  jBewußtseinsvorgänge  eine 
und  dieselbe,  sie  ist  „das,  was  wir  die  Einheit  des  Bewußtseins  nennen, 
was  wir  einzig  und  allein  unter  dem  Ich  verstehen  können''.  —  Dem 
Bewußtsein  gegenwärtig  ist  nur  das  Individualisierte,  nur  das,  was 
an  eine  ^materia  quantitate  signata*"  geknüpft  ist.   Dieses  aber  steht 
selbst  wieder  unter  der  Voraussetzung  eines  individualisierten,  d.  h. 
eines  Bewußtseins,  das  aufgefaßt  wird  als  mit  einem  „Eigen örtlich- 
keit'' besitzenden  Körper  verbunden.    Es  ist  der  Ausdruck  desselben 
Verhaltens,  daß  „Sach- Urteile*'  zu  ihrer  Voraussetzung  „Ich-Urteile'' 
haben,   die  eben  nur  unter  der  Bedin^ng  der  Annahme  eines  in- 
dividualisierten Bewußtseins  möglich  sind.     Den   Gegenstand  selbst 
„enthebt    die    Individuation    aus    der    Sphäre    des    Unbestimmten, 
Schwankenden",  sie  „gibt  ihm  eine  bestimmte,  eine  ihm  eigentümliche 


/ 


Vom  Bewußtsein.  181 

unQbeTtTagbare  Stelle  im  Beiche  der  Tatsachen  und  damit  im  Beicbe 
der  Wahrheit**.  —  Die  ersten  Bedingungen  der  Individuation  sind 
Baum  und  2ieit,  nach  Uphues  Begriffe,  oder  „die  objektiven 
Regehl,  die  den  Empfindungen  selbst  Halt  und  Bestand  geben". 
Dazu  kommt  als  weitere  Beoingung  „eine  Besonderung  des  raum- 
zeitlichen  Gesetzes,  in  der  besonderen  Grestalt,  wie  es  uns  in  der 
Widerstand  entgegensetzenden  Ausdehnung  entgegentritt".  Die 
psychologische  Leistung  des  Indiviiiuationsgesetzes  nun  ist  die  Be- 
ptUidun^  der  Gemeinsamkeit  unserer  Erlebnisse  vom  Gegenstande. 
Das  Individuationsgesetz  ist  der  Grund  der  Assoziation  der  auf  den- 
selben Gegenstand  Gezogenen  Gesichts-  und  Tastempfindungen.  Nun 
ist  Individuation  nach  üphues  die  Bedingung  der  Tatsächlicnkeit  von 
Erlebnissen  gerade  so,  wie  der  Wahrheit  von  Gredanken,  nur  daß  diese 
letzteren  ihre  Individuation  nicht  durch  die  „Eigenörtlichkeit*'  der 
Korper,  sondern  dadurch  erhalten,  „daß  sie  auf  das  aberzeitliche, 
alles  umfassende  göttliche  Bewußtsein  zurückgeführt  werden,  das  sie 
denkt  und  in  dem  sie  ihren  letzten  objektiven  Grund  haben".  Er- 
kenntnistheorie mündet  so  für  den  Verfasser  in  Metaphysik.  —  Streng 
genommen  sind  dem  Bewußtsein  gegenwärtig  stets  nur  Urteile,  die 
uns  nur  in  Wortvorstellungen  gegeben  sind,  und  zwar  in  Gesichts- 
vorstellungen geschriebener  oder  in  Gehörsvorstellungen  gesprochener 
Worte.  —  Die  Welt  der  Anschauungen  (oder  Dinge)  kommt  nur  ,^durch 
die  Begriffe,  die  Gesetze  sind,  zustande.  Sie  sind  da^  raumzeitliche 
Gesetz  der  Individuation".  —  Allein,  das  begriff  bildende  Denken  als 
Voraussetzung  der  Individuation  lehrt  ims  außer  dem  Dasein  der 
Dinge  auch  deren  „über  das  individuell  bestimmte  Dasein  hinaus- 
gehende Wesen"  kennen.  Es  kommt  in  dem  Verhältnis  der  Über- 
und  Unterordnung  der  Begriffe  zum  Ausdruck.  Mittelst  der  Begriffe 
erfassen  wir  gleicnsam  durch  das  Medium  der  Vergänglichkeit  hin- 
durch die  metaphysische  Welt  des  Seins  und  der  Wahrheit.  — 
Durchaus  originell  erscheinen  hier  aristotelische  und  thomistische 
Gedankenelemente  mit  Motiven  der  modernen  Erkenntniswissenschaft 
verarbeitet.  Vieles  ist  mehr  angedeutet  als  ausgeführt.  Das  zentrale 
Problem  der  UpHussschen  Erkenntnislehre  aber  kommt  auch  in  der 
vorlegenden  scharfsinnigen  Studie  zu  klarem  Ausdruck:  die  meta- 
physische Bedeutung  aller  Erkenntnis.  An  dieses  wird  daher  alle 
sachliche  Kritik  auch  hier  anzuknüpfen  haben. 

Breslau.  R.  Hönioswald. 


n. 

Philosophische  und  soziologische  Zeitschriften. 


ArchiT  für  Philosophie,  I.  Abteilung  (Berlin,  Eeimer). 
Bd.  21,  Heft  2  (N.  F.  XIT,  2). 

Leopold,  M.,  LBibnizons   Lohre  von  der  KOrperwelt   als  Kornpunkt  des  Systems. 

Antoniftdes,  15.,  Die  Staatslehre  des  Mariana. 

Schwarz,  £..  Beitr&ge  zur  Kantkritik. 

M  All  er,  A.,  Die  Religionsphilosophie  Teichmflllers. 

Schultz^  Ilv(iuyüQiiz. 

Jahresbericht. 

Zeitschrift   fBr    Philosophie    und    philosopliische    Kritik   (Leipzig, 
Voigtländer.) 

Bd.  181,  Heft  1. 

Faickenberj?,  R.,  Nachruf  auf  Ludwig  Busse. 

M  tili  er,  A.,  über  Atomismus  und  Mechanismus. 

Mall]^,  E.,  Das  Mafs  der  Vernchiedenheit. 

Du  toi  t,    R.,   Bericht   Über   die   Erscheinungen   der  französischen    philosophischen 

Literatur  im  Jahre  1903. 
Frischeiseii-Koehler ,  M.,  Die  historische  Anarchie  der  philosophischen  Systeme 

und  das  Problem  der  Philosophie  als  Wissenschaft. 
Rezensionen.  —  Notizen.  —  Neu  eingegangene  Schriften.  —  Aus  Zeitschriften. 

Zeitschrift    für   Psychologie    und   Physiologie   der   Sinnesorgane. 

(Leipzig ,  J.  Ambr.  Barth )    (I.  Abt. :  Zeitschrift  für  Psychologie.) 

Bd.  46,  Heft  3. 

Pappenheim,  M.,  Merkf&higkeit  und  Asnoziationsversuch. 

Haerwald,  R.,  Die  Methode  der  vereinigten  Selbstwahrnehmung. 

Literaturbericht. 

Müller-Freienfels,    R.,  Zur  Theorie  der  GefühlstOne  der  Farbenempfindungen. 

Uerbertz,  R.,  Die  angeblich  falsche  Wissonstheorie  der  Psychologie. 

Literaturbericht. 

ArchiT  fBr  die  gesamte  Psychologie  (Leipzig,  Engelmann). 
X.  Bd.,  Heft  1  und  2. 

Lehmann,  A.,  u.Pedersen,R.  IL,  Das  Wetter  und  unsere  Arbeit.   (Mit  20  Figuren 

im  Text.) 
Tassy,  E.,  Ideativer  Erethismus. 

(rebsattel,  £.  Frhr.  v.,  Bemerkungen  zur  Psycholc^ie  der  Gefflhlsirradiation. 
Biske.  F.,  Zum  Yerst&ndnis  des  psychophysischen  Gesetzes. 
Literaturbericht.  --  Einzelbesprechungen.  —  Referate. 

X.  Bd.,  Heft  8  und  4. 

Kose,  F.,  Johann  Georg  Sulzer  als  Ästhetiker. 
Kenauld,  v..  Über  reflexive  Sympathie. 
Kiesow,  F.,  Über  einige  Borünrungstäuschungen. 


Philosophische  und  soziologische  Zeitschriften.  133 

Jf artin,  L.  F.,  Zur  Begründung  und  Anwendung  der  Suggeationsmethode  und  der 

NoRDAljpsyohologie. 
LvTi,  R.,  Zar  Analyge  der  Empfindungen,  besonders  der  Lichtempfindungen. 
Messer.     A.,     Bemerkungen    zu     meinen    experimentell > psychologischen    Unter- 

SDchungen  über  das  Denken. 
Einzel  besprechnngen.  —  Referate. 

XL  Bd.,  Heft  1. 

Storring,  6.,  Experimentelle  Untersuchungen  aber  einfache  Sohlufsprozesse. 
Kirschmann,  A.,  u.  Dix,  D.  S.,  Experimentelle  Untersuchung  der  Komplimentär- 
rerbAltnisae  gebrftuchlicher  Pigmentfarben. 

Kritische  Blätter  für  die  gregamten  Sozialwissenschaften  (Dresden, 
Boehmertj. 

m,  Heft  11. 

Weber,  A-,  Über  die  Wertzuwachssteuer. 

Pape,  K..  Fabrik  und  Handwerk. 

Väiyi,  Die  französische  Soziologie  der  Gegenwart.    II.  Emile  Dnrkheim. 

Auerbach,  £.,  Zur  Justizreform,  II. 

Hottenrott,  Verfassungs-  und  Verwaltungsorganisation  der  StAdte. 

>^toecker,  H.,  Aus  der  modernen  Literatur  zur  sexuellen  Reformbeweg^ng. 

Kinzelbesprechungen.  —  Miscellen.  —  Bibliographie. 

Mind  (London,  Williams  and  Korgate). 
New  Fenres,  Nr.  65. 

Festen ,  H.,  Non-Phenomenality  and  Otherness. 

Stout,  G.  F.,  Immediacy,  Mediacy  and  Oohorence. 

Hay  wood,  M.,  Plato's  Psychologv  in  its  bearinff  on  the  Development  of  Miil  (I). 

Ditcussions.  —  Oritical  notices.  —  New  books.  —  Phllosophical  Periodicals.  —  Notes. 

The  Phllosophical  Reyiew  (Macmillan  Comp.,  Lancaster  P.  A.)< 
YoL  XYI,  Nr.  6. 

Leighton,  H.  A.,  The  objects  of  knowledge. 

LoTejoy,  A    O.,  Kant*s  oiassification  of  the  forms  of  judgment. 

Hollands,  E.  11.,  Possibility  and  reality. 

Cunningham,  G.  W.,  Discussion:  Dt.  Ewer  on  the  freedom  of  the  will. 

Üeviews  of  books.  —  Notices  of  new  books.  —  Summariea  of  articles.  —  Notes. 

The  Psychologlcal  Review  (Bsiltimore,  E.eyiew  Publishing  Co.). 
Yol.  XIV,  Nr.  6. 

Carr,  H.,  Apparent  control  of  the  positlon  of  the  Visual  fleld. 

Mead,  G.  HT,  Concerning  animal  peroeption. 

Sowland,  E.  H.,  A  study  in  Tertioal  symmetry. 

bttldwln,  H.  M.,  Logical  Community  and  the  difference  of  discernibles. 

Yol.  XV,  Nr.  1. 

Mars  hall,  H.  B.,  The  Methods  of  the  naturalist  and  the  psychologist:  Presidont's 
I  address. 

I  Kernald,  G.  M.,  Studios  from  the  Bryn  Mawr  College  Laboratory.    The  effect  of 

I  brightness  of  background  on  the  appearance  of  color-stimuli  in  peripheral  yision. 

I  Sidi.s.  B.,  The  doctrine  of  primary  ana  secondary  sensory  elements  (I). 

The  Hlbbert  Jonmal  (London,  Williams  and  Norgate). 
Yol.  YI,  Nr.  2. 

Tyrrell,  G.,  The  prospects  of  modernisra. 

Gerard,  The  papal  encyclical  from  a  catholic's  point  of  view. 

Schwab,  L.  H.,  The  papacy  in  its  relation  to  American  Ideals. 

Bishop  of  Carlisle,  The  catholic  church:  Wh«t  is  it? 

Lodge,  O.,  The  immortality  of  the  soul. 

Wallace.  Wm.,  The  religion  of  sensible  scotsmen. 

Schmidt,  N.,  The   „Jeranmeel"  theory,  and  the  historic  importance  of  the  negeb. 

Xuirhead,  Religion  a  necessary  constituent  in  all  education. 

Coe,  O.  A.,  The  nources  of  the  mystical  revelation. 

Moore,  Stuart,  The  magic  and  mystioism  of  to-day. 


184  PhiloBophische  und  soziologische  Zeitschriften. 

Brown,  A.,  The  reasonablenesB  of  ohriBtian  faith. 

Hack 8^  L.  P.,  The  alohemy  of  thoughfc. 

Disousaions.  —  Reviews.  —  Bibliography  of  reoent  literature. 

The  Psycholo^cal  Bnlletüi  (Baltimore,  Beview  Puhlishing  Co.). 
Yol.  IT,  Tür.  11. 

LoTejoy^  A.  O.,  Professor  Ormond's  Philosophy. 
Psychologioal  literature.  —  Diseussion.  —  Books  reeeived. 

Vol.  IT,  Nr.  12. 

Tufts,  J.  H..  On  the  psyohology  of  the  family. 
Hill,  C.  M.,  Yoluntary  organisations. 
Psychological  literature  etc. 

YoI.  V,  Nr.  1. 

Büchner,  £.  Fr.,  Psychological  progress  in  1907. 
Psychological  literature  etc. 

The   Journal   of  Philosophy,  Psychologrj  and  Scientific  Methods. 

(New  York,  Scientific  Press.) 

Vol.  IV,  Nr.  28. 

Fullerton,  G.  St.,  The  doctrine  of  the  eject. 

Hughes,  P.,  Gonorete  conceptual  synthesis. 

Ewer,  B.  C,  The  Anti  realistic  „How"? 

Heviews  and  abstracts  of  literature.  —  Journals  and  new  books.  —  Notes  and  news. 

Vol.  IV,  Nr.  24. 

Davies,  A.  £.,  Imagination  and  thought  in  human  knowledge. 
Franz,  Sh.  J.,  Psyohology  at  two  international  scientific  oongresses. 
Bush,  W.  Tl.,  Sub  specie  aetemitatis. 
Reviews  etc. 

Vol.  IV,  Nr.  26. 

CalkJDs,  M.  Wh.    Psychology:  What  is  it  about? 
Mc.  Crilvary,  E.  tfr.,  Realism  and  the  physioal  world. 
Reviews  etc. 

Vol.  IV,  Nr.  26. 

Vailati,  Q.,  The  attack  on  distinctions. 
Diseussion.  —  Reviews  etc.  —  Index  to  Volume  lY. 

Vol.  V,  Nr.  1. 

Lovejoy,  A.  O.,  The  thirteen  pragmatisms.    I. 

Calkins,  M.  Wh.,  Psychology  as  science  of  seif.    I:  Is  the  seif  body  or  has  it  body? 

Reviews  etc. 

Vol.  V,  Nr.  2. 

Lovejoy,  A.  O..  The  thirteen  pragmatisms.    II. 
Discuüsion.  —  Sooietles.  —  Reviews  etc. 

Vol.  V,  Nr.  8. 

Alexander,  A.  B.  D.,  Knno  Fischer,  An  estimate  of  his  lifo  and  work. 
Calkins,  M.  Wh.,  Psychology  as  science  of  seif.    II:  The  nature  of  the  seif. 
Diseussion  etc. 

The  Sociological  Beriew  (London  Sherratt  and  Hughes). 
Vol.  I,  Nr.  1. 

Hobhouse,  L.  T.,  Editorial. 

Westermarck    K.,  Suidde:  a  ohapter  in  oomparative  ethics. 
Morrison,  W.  D.,  The  criminal  problem.  ^ 

Marett,  R.  R.,  A  sooiological  view  of  comparative  religion. 


Philosopliische  und  soziologische  Zeitsohriften.  185 

Pifher,  H.  A.  It.,  The  soeiological  view  of  history. 

DiseascioiiB.  ~    BoTiews   of  books.  —  Periodioal  literature.  —  Books  reoeiyed.  — 

Rene  Philogophique  (Paris,  Alcan). 
tt.  amiite,  Nr.  13. 

Biervliet,     ▼an,     J.    J.,     La    Psychologie    quantitative.      III.    Psychologie    ek* 

p^rimentaltt. 
libot,  La  mömoire  affective:  Noavelles  remarques. 
Lee,  Vemon,  La  Sympathie  esthötique. 
Ab^vms  et  eomptes  rendus.  —  Revue  des  pöriodiques  ötrangers.  —  Livres  nouveaux.  — 

Table  des  matieres. 

8S.  ann^e.  Kr.  1. 

Lalande,  A.,  PragToatisme,  humanisme  et  v6rit^. 
Paslhaa,  F.,  Ija  oontradietion  de  rhomme. 
Biervliet,  van,  J.  J.,  La  psyoholo^ie  quantitative  (flu). 
Jankelovitoh,  Dr.,  Guerre  et  Paoiflsme,  d*aprö8  des  ouvrages  röcents. 
BeTQe  g^nörale.  —  Analyses  et  oomptes  rendus  eto. 

88.  aaB^e,  Nr.  2* 

Xillioud,  Hssai  sur  Thistoire  naturelle  des  idöes. 
Panlhan,  La  contradiction  de  Thomme  (Suite  et  An). 
Champeaux,  Dr.,  Une  critiaue  des  langues  oonventionnelles. 
Dumas,  G.,  Dr.,  La  logique  a*un  dement. 
Anaijses  et  eomptes  rendus  etc. 

Iteme  n^osGolastique  (Louvain,  Institut  sup^rieur  de  philosophie). 
XIT.  ann^e,  Nr.  4. 

Balthasar,  N.,  Db  probleme  de  Dieu,  d'apres  la  philosophie  nouvelle. 

^ulf,  M.  de,  Premiere  le^on  d'esthötique. 

liehotte.   A. ,   A  propos  de  la  „möthode  d'introspection"  dans  la  Psychologie  ex- 
perimentale. 

Xsndonnet,  P.,  Le  traitö  „De  erroribus  philosophorum"  (XIII.  siöcle). 

B«l\etina  bibliographiques.  —  Mölanges  et  documents.  —  Bulletin  de  Tlnstitut  de 

Philosophie.  —  Comptes  rendu-         '^ ^-   ''   '"    — «j--"«. 

<1ea  manöres  pour  Tannöe  1907. 


Philosophie.  —  Comptes  rendus.  —  Ouvrages  envoyös  k  la  rödaotion.  —  Table 


Berve  de  Pbllosophie  (Paris,  Chevalier  et  Biviöre). 
7.  ann^e^  Nr.  11. 

Hoisant,  X.,  Le  probldme  du  mal. 

Kotes  et  discussions.    -    jtude  critique.  —  Analyses  et  comptes  rendus.  —  Pürio- 
(Üques.  —  L'enseignement  philosophique. 

7.  ann^e,  Nr.  12. 

Peillanbe*  E  ,  L'organisation  de  la  memoire.    I.  La  fixation  des  impressions. 
Dvhem,  P.j.  Le  mouvement  absolu  et  le  mouvement  relatif  (III). 
lettnier,  R.,  La  Psychologie  et  la  philosophie  de  N.  Vaschide. 
>'ote«  etc. 

8.  ann^e,  Nr.  1. 

I>romard,  G.,  IjOS  ölöments  moteurs  de  Tömotion  esthötique. 

Peillaube,  £.,  L'organisation  de  la  mömoire.    II.  Vie  latente  des  Houvenirs. 

Xtrtin,  H.,  Une  histoire  des  idöes  esthötiques. 

^ari«t&.  —  Analyses  us-v^. 

8.  ann^,  Nr.  2. 

£aqii«te  sur  l'idöe  de  dömocratie. 
Borell,  Ph..  L*id6e  de  dömocratie. 

Beanpuy,  0.  de,  L*argument  de  saint  Anselme  est  a  posteriori. 
I^abem,  P.,  Le  mouvement  absolu  et  le  mouvement  relatif. 
•Me  critique.  —  Analyses  etc. 


186  Philosophische  und  soziologische  Zeitschriften. 

Rirista  Filosoflca  (Pavia,  Bizzoni). 
Anno  IX,  Toi.  X,  Fagc.  T. 

Juvalta,  E.^  II  metodo  deir  economia  pura  nell*  etica. 
Kossi,  G.,  Vico  nö  tempi  di  Yico. 
Morselli,  E.,  Vita  morale  e  vita  sociale. 

Carlo,  E.  di,  La  filosofia  del  diritto  ridotta  alla  fllosofia  dell'  economia. 
Faggi,  A  .  Ün  poeta  filosofo  (SuUy  Prudhomme). 

Rassegna  bibliograflca.  —  BoUettino  bibliografico.  —  Articoli  di  Reviate  atranieii.  — 
Soniinari  delle  Riviste  straniere.  —  iJbri  riceTuti.  —  Indice  doli*  annata. 

II  Binnoramento  (Milano). 
Anno  I,  Fase.  11-12. 

Norstroem,  N.,  La  vita  odiema  dello  s^irito. 

Graf,  A.j  Non  e  co.sa  nostra  il  cristianesimo? 

Boine,  G.,  S.  Giovanni  della  croce. 

Scotti,  T.  Gallarati,  Una  paffina  di  Mickiewioz. 

West,  A.,  11  bue  e  raaino  nella  leggenda  della  natiyitji. 

Crespi,  Ä.,  La  teoria  deir  evoluzione  nel  suo  aspetto  fllosofico. 

Murri,  R.,  L'enciclica  „pascendi"  e  la  fllosofia  modema. 

Valentini,  G..  Fede  intellettuale  o  fede  morale? 

Cronaca  di  studi  religiosi.  —  Cronaca  di  vita  e  pensiero  religiöse.    Libri  e  rivinte. 

äesca  Mjsl  (Prag,  Laichter). 
Bocnik  Till,  Sesit  5. 

^ada,  Fr.,  Sur  la  philosophie  de  Fr.  Amerling. 

Tichy,  G.,  L'individualisme  social  (Fin). 

Hocli,  Gh.,  Les  Hussitea  et  la  gnerre  (Suite). 

Revue  generale.  —  Analyses  et  comptes  rendus.  —  Revue  pöriodiquo.  —  Faiis  divor^. 

Bocnik  Tin,  Sesit  6. 

Nömec.  B.,  Remarques  sur  Tanniversaire  de  Linno. 
Hoch,  Ch.,  8.  Ses.  5  (Fin.). 

Gada,  Fr.,  Sur  In  philosophie  de  Fr.  Amerling. 
Documenta.  —  Rovue  g^n<>rale  etc. 

Prseglad  Filozoflczny  (Warschau). 
Bok  X,  Sesit  IT. 

Biegnnski,  W.,  Etat  actuel  de  la  philosopliie  de  la  nature. 

Der 8.,  Du  jugement  inductif. 

LukasiowioK,  J.,  Du  jugement  inductif. 

Twardowski,  K.,  Les  theories  idio  et  allog^netiques  du  jugement. 

OchorowicK.  J.,  Les  nouvellos  ideon  sur  la  matiere. 

Bieganaki,  W.,  L'analogle.  sa  valeur  scientifique. 

Lukasiewicz,  J.,  La  logique  et  la  psychologie. 

Borowski,  M.,  La  oritique  du  concopt  de  la  causalite. 

Wais,  K.,  Les  animaux  aont-ils  intelligents? 

Wy czülkowska,  A.,  La  psychologie  de  Toule. 

Der 8.,  La  psychologie  du  langage. 

Mikulski,  A.,  Les  travaux  polonais  i'^crits  par  des  ali^nös. 

Biro,  M.,  Theorie  des  perturoations  pbvchiquea,  causöos  par  des  tumeurs  c^/ri^brales. 

La^owski,  M.,  La  morale  de  la  popuiation  du  Royaume  de  Pologne  de  184S  a  liM>:, 

illuströe  par  des  chiffres. 
Bandrowski,  B.,  Analvso  psvchologique  des  phönomt^nes  de  la  penaöe. 
Witwioki,  W.,  Psychotogie  des  relations  personnelles. 

StOgbauer,  A.,  Ouand  les  diverses  roprösentations  ont-elles  le  mOme  objet? 
Szyc,  A.,  La  psycnologie  de  Penfant  au  .YX-eme  siecle. 
Ders.,  De  T^volutlon  des  notions  morales  chez  les  enfants. 
Kurnatowski,  J.,  L'aasociation  comme  facteur  moral. 
Rubczyüski,   W.,   Les   relations   entre   Thistoire   de  Testhetique  et  Thistoire  de 

l'art. 
Olazewski,  M.,  L'art  chez  Tenfant  et  ohez  Vhomme  primitif. 
Biesiekierski,  De  notione  et  divisioue  naturae  secundum  Aug^stinum. 
Gabryl,  F.,  De  l'eaaence  des  images  de  la  memoire. 
Lnwkowicz,  J..  La  philosophie  et  lea  scienoes  naturelles. 
Ders.,  Oritique  de  la  notion  naturaliate  du  progres. 
Minkiewicz,  R.,  L'analyse  de  l'instinct  du  d^guisement. 


PhiloBophische  und  soziologiBche  Zeitschriften.  187 

Xoisxewski,   K.,   Comment  naissent  les   notions  visuelles  de  la  ^grandeur  et  de 

l>loigiiexn«nt. 
Sterlinz,  S.,  La  psycho] ogie  de  la  pens^e. 
Ziotnieki,  De  la  döpersonnification  des  Souvenirs. 

iBthropos  (Salzbarg,  Zaunrith). 
Bd.  U,  Heft  1. 

Moriee,  F.  G.  A.,  The  ^reat  D6nö  race  (Conün). 

CAivt,  P.  H..  Au  pays  des  castes. 

Coli,  C.  V.,  Matrimonia  Indigenarum  Surinamensium. 

Malier,  Fr.  A.,  Trapp,  O.,  Wahrsagerei  bei  den  Kaffern  (Schluft). 

Arnäiz,   Fr.  Gr.,   Los  habitantes  de  la  prefeotura  de  Ghiang-ohiu,  Fu-kien,  Sfld- 

ehin»  (Contin). 
Soagier,  P.  £.,  Maladies  et  mödioines  h  Fiji  autrefois  et  aujourd*hui. 
Xaller,  Br.  H.,  Grammatik  der  Mengen-Sprache. 

Friedrich,  M.,  Desoription  de  Tenterrement  d*un  chef  k  Ibouzo  (Niger). 
Egidi,  V.  M.,  La  Tribü  di  Kuni. 
Cadiere,  L.,  Philosophie  populaire  annamite. 
i'asartelli,  Hindu  mythology  and  literature  as   recorded   by  Portuguese  missio- 

naries  of  the  early  17.  Century  (Coutin). 
Fin«rt,  A.  S.,  Gerogllfos  entre  los  Indios  de  la  Florida. 
Levistre,  L.,  Sur  quelques  stations  dom^niaues  de  TAlgörie. 
Lehmann,  W.,  £s8ai  d'une  monographie  bibliographie  sur  Tile  de  P&ques. 
I>ers.,  Le  congres  des  Amöricanistes  a  Quebec. 
Bibliographie. 

ReTMe  de  Metaphjsiqne  et  de  Morale  (Paris,  Colin). 
16,  aniie,  Nr.  1. 

Boutronz,  E.,  William  James  et  Texpörience  religieuse. 

Bergson,  H.,  A  propos  de  V  «Evolution  de  rintelligence  g^om^trique**. 

Boaas.se,  H.,  .  .ivolution  de  la  matiere  et  physioue  des  oorps  solides. 

Dwelshau  vers,  G.,  De  Tintuition  dans  racte  de  Tesprit. 

£.tades  critiques.  —  Discussions.  —  Questions  pratiques.  —  Supplement. 

PUIosophisches  Jahrbuch  (Fulda,  Aktiendruckerei). 
XXJ.  Bd.,  Heft  1. 

'rut beriet,  C,  Der  ffegenwArtige  Stand  der  psycholop^ischen  Forschung. 

Wanderle,  O.,  Die  Lehre  des  Aristoteles  von  der  Zeit. 

Ziesche,  K.,  Die  Naturlehre  Bonaventuras. 

0«yser,    J.,    Die  Vorztlge  und   Schwachen   der  neueren  Untersuchung   der  Denk- 

vor^an^e  durch  das  Aussageexperiment. 
Henner,  C,  Zur  ÄqnipoUenz  der  Urteile. 
Rezensionen   und  Referate.  —  Zeitschriftenschau.  —  Miszellen  und  Nachrichten. 


\ 


in. 
BMograpUe. 


I.    Geschichte  der  Philosophie. 

Abhandlungen  zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte.    Herausgegeben 
von  Benno  Erdmann.    25.-27.  Heft.    Halle  1907.    9,40  M. 

Inhalt:  25.  Heffels  Lehren  ttber  das  Verh&ltniB  Ton  Belig^on  und  Philosophie. 
Von  H.  Hadlioh.  VIII.  82  pp.  2,60  M.  —  26.  Die  Grundlagen  einer  vollständigen 
Syllogistik.  Von  J,  Ed.  Th.  Wüdschrey.  X,  160  pp.  Mit  1  Taf.  4M.  —  27.  Die 
Stellunir  des  Alexander  von  Aphrodisias  zur  Ajistotelisohen  Sohlufslehre.  Von 
G.  Volait.    vn,  104  pp.    2,80  M. 

Abhandlungen  zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte.    Herausgegeben 

von  R.  Falckenberjg.    8.  Heft.    Die  Lehre  vom  Zufall  bei  Emile 

Boutroux.    Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  neuesten  französischen 

Philosophie.     Von    0.   Beelitz.      Leipzig    1907.     S».      V,    120  pp. 

Subskr.-Pr.  8,20  M.;  Einzelpr.  4,—  M. 
Ammiindseii ,  T*.   Den  unge  Luther.    Studier  over  hans  Theologie. 

Ki0benhavn  1907.    160  pp.    8,75  M. 
B^lart,    H.    S.,    Friedrich   Nietzsche    und   Bichard   Wagner.     Ihre 

persönlichen  Beziehungen,  Kunst-  und  Weltanschauungen.    Berlin 

1907.    80.    IV,  104  pp.    2  M. 
Drews«  Arth«.  Biotin  und  der  Untergang  der  antiken  Weltanschauung. 

Jena  1907.    XII,  889  pp.    10  M. 
ILegelSj  G.  W.  F.«  Phänomenologie  des  Geistes,  mit  einer  Einleitung 

und  einigen  erläuternden  Anmerkungen  am  Fuße  der  Seiten  für 

den  akademischen  Gebrauch  herausgegeben  von  G..  J..  P..  J..  BoUand. 

Leiden  und  Amsterdam  1907. 
Siegel,  Gm  Herder  als  Philosoph.  Stuttgart  1907.  8^.  XVI,  245  pp.  4  M. 
Beiträge  zur  Geschidite  der  Philosophie  des  Mittelalters.    Texte  und 

Untersuchungen.      Herausgegeben    von     Clem.    Baeumker     und 

G.  V.  Hertling.    VI.  Bd.    3.  fieft.    Geschichte  der  Gottesbeweise 

im  Mittelalter  bis  zum  Ausgang  der  Hochscholastik.    Nach  den 

Quellen  dargestellt.     Von   G.  Ontnwald.     Münster  1907.    8^.    X, 

164  pp.    5,50  M. 
Forschungen    zur   Religion    und    Literatur    des   Alten    und    Neuen 

Testaments.     Herausgegeben  von  W.  Bousset  und^  Hm.  Gunkel. 

10.  Heft.    Hauptprobleme  der  Gnosis.    Von  W.  Bongset.   Göttingen 

1907.    8«.    VI,  398  pp.     12  M. 
Neumark,  D.«  Geschichte  der  jüdischen  Philosophie  des  Mittelalters, 

nach  Problemen  dargestellt.  I.  Bd.  Die  Grundprinzipien  I.   1.  Buch. 

Einleitung.    2.  Buch.    Materie  und  Form.    Berlin  19Ö7.  8^     XXIV, 

615  pp.    15  M. 


Bibliographie.  189 

Weuel,  Alfired)  Die  Weltanschauung  Spinozas.  I.  Bd.  Spinozas 
Lehre  von  Gott,  von  der  menschlichen  Erkenntnis  und  von  dem 
Wesen  der  Dinge.    Leipzig  1907.    8<>.    Vm,  479  pp.    9  M. 

Bigard,  M.,  Emerson.    Paris  1907.    8«.    7,50  M. 

Cu^irer,  E«,  Das  Erkenntnisproblem  in  der  Philosophie  und  Wissen- 
schaft der  neueren  Zeit.  II.  Bd.  Berlin  1907.  8^  XIV,  782  pp. 
15  M. 

II.    Allgemeine  Philosophie  und  Metaphysik. 

Frisclielseii-Köliler.  Mx.,  Moderne  Philosophie.  Ein  Lesehuch  zur 
EinfOhrung  in  inre  Standpunkte  und  Probleme.  Stuttgart  1907. 
XII,  412  pp.    9,60  M. 

Gottlob  9  Adf«,  Ablaßentwicklung  und  Ablaßinhalt  im  11.  Jahr- 
hundert.    3  Aufsätze.    Stuttgart  1907.    VII,  68  pp.    3  M. 

Gnmcoir,  O*.  Kurzer  Kommentar  zum  Zarathustra.  Oharlottenburg 
1907.     144  pp.    8  M. 

Gregory,  ۥ  B*.  Canon  and  Text  of  the  New  Testament.  Edinburgh 
1907.     548  pp.     14,40  M. 

Homeffer,  £••  Wege  zum  Leben.  Der  höchste  Wert.  Gott  und 
Mensch.    Die  Ehe.    Der  Tod.    Leipzig  1908.    8«.  III,  148  pp.   3  M. 

IftTGVS,  E«,  Das  Gesetz  der  Vernunft  und  die  ethischen  Strömungen 
der  Gegenwart.    Herford  1907.    8^    IX,  284  pp.    6  M. 

Haniflon*  F.«  The  Philosophy  of  conmion  Sense.  London  1907.  8^. 
472  pp.     10,15  M. 

Liide,  £•,  Natur  und  Geist  ak  Grundschema  der  Welterklärung. 
Versuch  einer  Kulturphilosophie  auf  entwicklun^geschichtlicher 
Grundlage.  Als  Unterbau  einer  künftigen  allgemeinen  Pädagogik. 
Leipzig  1907.    8«.    XVI,  655  pp.    9  M. 

illaa,  Andr.,  Matter  and  intellect.    London  1907.    224  pn.    6,75  M. 

Belureng,  J«,  Die  natürliche  Welteinheit.  Naturwissenschaftliche  und 
philosophische  Bausteine  zu  einer  idealistischen  Weltanschauung. 
Wismar  1907.    8^    319  pp.    4  M. 

111.    Psychologie  und  Sprachwissenschaft. 

Untersuchungen,  psychologische.  Herausgesehen  von  Thdr.  Lipps. 
I^  Bd.  4.  Heft.  Die  Erscheinungen.  Die  physikalischen  Be- 
ziehungen und  die  Einheit  der  Din^e.  Zur  Frage  der  Bealität 
des  Baumes.  Das  Ich  und  die  Gefühle.  Das  Wissen  von  fremden 
Ichen.    Von  Thdr.  Lipps.    Leipzig  1907.    8^.    in  u.  p.  523—722. 

8.  Nr.  1392.     6  M. 

Biottot«  Les   Grands  Inspires   devant  la  science.  —  Jeanne  d'Arc 

Paris  1907.    18».    3,50  M. 
Oeyser«  Jos«.  Lehrhuch  der  aUgemeinen  Psychologie.    Münster  1908. 

7,50  M. 

8«.    XVni,  526  pp.    7,50  M. 
Jübien,   Gst.«    Der   Anteil   der   nachkonstruierenden   Tätigest  des 

Auges  und  der  Apperzeption  an  dem  Behalten  und  der  Wieder- 

fahe   einfacher   ^Normen.     [Aus:    „Zeitschrift   für   experimentelle 
ädagogik«.]    Leipzig  1907.    8«.    ÜI.  77  pp.    Mit  34  Taf.    5  M. 
lisch.  G«9  Geschichte  der  Autohiographie.     I.  Bd.     Das  Altertum. 

Leipzig  1907.    8^    Vm,  472  pp.    8  M. 
Stell.  0*9  Das  Geschlechtslehen  in  der  Völkerpsychologie.    Leipzig 
19Ö8.    8«.    XIV,  1020  pp.    Mit  Ahhildgn.    30  M. 


190  Bibliographie. 

Tan  Ginneken«  Jac.«  Principes  de  linguistique  psychologique.    Amster- 
dam 1907.    8^    12,  552  pp.     15  M. 
Heinrich.  W.,  Psychologia  uczuc.   Krakau  1907.   S^,    V,  256  pp.    8  M. 

Psychologie  der  Gefühle. 


4. — 3.  Heft.    Neue   Folge   der  philosophischen   Studien.      Leipzig 
1907.    9  M. 

iV.    Ethik  und  Recfitsphilosopfiie. 

Sokolowski,  P.,  Die  Philosophie  im  Privatrecht.    11.  Bd.    Der  Besitz 

im  klassischen  Becht  und  dem  deutschen  bürg^erlichen  Gesetz.  Halle 

1907.     8».     XIV,  469pp.     S.  1902  Nr.  4239.     12  M. 

Sternberg,  Ttadn,  J.  H.  v.  Kirchmann  und  seine  Kritik  der  Rechts- 
wissenschaft. Zugleich  ein  Beitrag  zur  G-eschichte  des  real- 
politischen Liberalismus.  Mit  Untersttltzung  der  Philosophischen 
Gesellschaft  zu  Berlin.  Berlin  1908.  8<>.  XX,  209  pp.  Mit  Bildnis. 
5,60  M. 

Fonill^e,  A«,  Morale  des  iddes-forces.  Paris  1907.  8<^.  64,  895  pp. 
7,50  M. 

Frankenberger.  A.«  Entwicklung  und  Moral.  Berlin  1907.  8^  220  pp. 
4,50  M. 

de  Gaoltier,  J^^La  dependance  de  la  morale.    Paris  1907.    18^.   3,50  M. 

Gomperz,  H«,  Das  Problem  der  Willensfreiheit.  Jena  1907.  8^.  IV. 
166  pp.    4  M. 

Morawski,  M.^  Podstawy  etyki  i  prawa.    Krakau  1908.    8®.    488  pp. 

Fundamente  der  Ethik  nnd  des  Bechts.     8  M. 

Schnch,  ]I*9  Kant,  Schopenhauer,  Ihering.  Die  Gedanken-Motivatipn 
als  Problem  der  Willensfreiheit.    München  1907.   8».   88  pp.    2,50  M. 

V.  Pfiiiosopliie  der  Qesellscfiaft  und  der  Geschichte. 

Abhandlungen,  Staats-  und  völkerrechtliche.  Begründet  von  G.  Jellinek 
und  G.  Meyer,  herausgegeben  von  G.  Jellinek  und  Gh.  Anschütz. 

VI.  Bd.    8.  Heft.    Die  Gesellschafts-  und  Staatslehre  der  Physio- 
kraten.    Von  Bd.  Oflntzberg.    Leipzig  1907.    8^.   XV,  144  pp.   4  M. 

Kindermann.  C,  Parteiwesen  und  Entwicklung  in  ihren  Wirkungen 
auf  die  Kultur  der  modernen  Völker.  Stuttgart  1907.  8».  vll, 
180  pp.    3  M. 

Mermeix,  Le  syndicalisme  contre  le  socialisme.  Paris  1907.  18  ®.  8,50  M. 

Poincar^.  B.«  Qüestions  et  figures  politiques.  Paris  1907.  18  ^.  510  pp. 
3,50  M. 

Driesmanfi.  H.,  Dämon  Auslese.  Vom  theoretischen  zum  praktischen 
Darwinismus.    Berlin  1907.    8o.    XV,  349  pp.    3,50  M. 

Fanre,  A.,  LHndividu  et  Tesprit  d'autoritö.    Paris  1907.    18<>.   3,50  Af. 

Fiseher,  L.,  und  P.  C.  Boediger,  Die  Patentgesetze.  II.  Tl.  Deutsch- 
land, Bußland,  die  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika,  Frank- 
reich, Belgien,  Italien,  Spanien.  Eine  systematische  Übersicht. 
Berlin  1907.    8®.    III,  52  pp.    S.  1906  Nr.  915.   5  M. 

Forschungen,  Staats-  und  sozialwissenschaftliche,  herausgegeben  von 
Gst.  Schmoller  und  Mx.  Sering.  125.  u.  129.  Heft.  Leipzig  1907. 
8^    9,80  M. 


Bibliographie.  191 

Inhalt:  iSS.  Soziale  und  individualistisohe  Auffassung  im  18.  Jahrhundert. 
vomehmlieh  bei  Ad.  Smith  und  Ad.  Ferguson.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der 
Sofldologie.    Von  Hm.  Huth.    XV,  160  pp.    4,40  M.  —  8.  Nr.  2106. 

Bamiort,  M«  W.,  Chr.  W.  Dohm,  der  Gegner  der  Physiokratie  und 
seine  Thesen.     Berlin  1908.    8^    143  pp.    3  M. 

Btfuüatlan,  M«,  Studien  zur  Theorie  und  Geschichte  der  Wirtschafts- 
krisen.   1.  und  11.    München  1907.    8®.     UM. 

Inhalt:  I.  Wirtschaftskrisen  und  Überkapitalisation.  Eine  Untersuchung 
Aber  die  Ersohe  nungsformen  und  Ursachen  der  periodischen  Wirtschaftskrisen. 
VII,  188  pp.  4M.  —  il.  Geschichte  der  Handelskrisen  in  England  im  Zusammen- 
hang mit  der  Entwicklung  des  englischen  Wirtschaftslebens  1640—1840.  III, 
nt  pp.    7  M. 

Tncco,    A*    M.,    11   governo   economico   intemazionale   (la   dottrina 

utilitaria):     teorica    delle    Hallesint.      2   vol.     Milano    1907.      16^. 

:J56,  873  pp.     9  M. 
Arton^  Lora,   The  History  of  Freedom  and  other  Essays.    London 

1907.    8«.     678  pp.    13,50  M. 
Bfwe.   J«  A«,   Medieval  and  modern  History:  its  formative  Causes 

and  broad  Movements.    London  1907.    8®.    525  pp.     13,50  M. 

VI.    Religionsphilosophie  und  Theosophie. 

^mbel,  K*9  Vernunft  und  Gottesgedanke.   Ein  Beitrag  zur  Apologetik. 

Gießen  1907.    S^.    188  pp.    3,60  M. 
iinal.  A«,   La  Philosophie  religieuse  de   Charles  Benouvier.    Paris 

1907.     8».     335  pp.    7,50  M. 
d^Ercole*  A.,  Cristianesimo  e  suo  evo:  idee  religiöse.    Napoli  1907. 

X^    304  pp.     10  M. 
Tallot,  T.,  La  religion  de  la  solidarite.    Paris  1907.    lö®.   VII,  367  pp. 

3,50  M. 
Sevllard,  H.  H.,  Early  Christian  Ethics  in  the  West:  from  Clement 

to  Ambrose.    London  1907.    8®.    308  pp.    7,20  M. 
Watson,  J.,  The  philosophical  Basis  of  Iteligion.    Glasgow  1907.    8^'. 

■>14  pp.     11,50  M. 

VII.    Naturphilosophie. 

T.  Hartmantis,  Ed.,  System  der  Philosophie  im  Grundriß.  II.  Bd. 
Grundriß  der  Naturphilosophie.  Sachsa  1907.  8«.  VIII,  220  pp, 
S.  Kr.  1619.    6,50  M. 

BeD^ret,  Gh.,  Les  transformations  du  monde  animal.  Paris  1907. 
8».    3,50  M. 

lAmarek,  J«,  Philosophie  zoologique.    Paris  1907.    8^.    2  M. 

Snssell,  W.,  Medical  Philosophy.    London  1907.    8«.    10,15  M. 

Störrinsr«  0*«  Mental  Pathology  in  its  Itelation  to  normal  Ps\xho- 
logy.    London  1907.    8«.    308  pp.     12,50  M. 

Boveke,  Ew«  A*^  Goethes  Weltanschauung  auf  historischer  Grund- 
lage. Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  dynamischen  Denkrichtung 
und  Gegensatzlehre.    Stuttgart  1907.    S^.    XXI,  459  pp.    8  M. 

Kassowitz,  '  Mx.,  Welt — Leben — Seele.  Ein  System  der  Natur- 
philosophie in  gemeinfaßlicher  Darstellung.  Wien  1908.  8®.  III, 
^  pp.    5  M. 

T.  d.  Prordten,  0.,  Vorfragen  der  Naturphilosophie.  Heidelberg  1907. 
8«.    ni,  145  pp.    3,80  M. 


192  Bibliographie. 

VIII.    Allgemeine  PAdagogik. 

Hall.   6.  S«,  Youth,  its  Education,  Begimen  and  Hygiene.     Liondon 

mi.    8^    390  pp.    8  M. 
Meumann,  E.,   Vorlesungen  zur  Einführung  in   die  e^erimentelle 

Pädagogik  und  ihre  psychologischen  Grundlagen.   I.  Bd.    Lieipzig' 

1907.    8^.    XVin,  555  pp.    TM. 
Hom,  Ew.,  Das  höhere  Schulwesen  der  Staaten  Europas.    £ine  Zu- 
sammenstellung der  Stundenpläne.  Berlin  1907.  8®.  yill,209pp.  6M. 
Keatlnge,   M«    W«,    Suggestion   in  Education.     London    1907.  -  8^ 

210  pp.    6  M. 
Chancelfor ,   W«  E«,  A  Theory   of  Motives,  Ideals  and  Yalues   in 

Education.    Boston  1907.    8*.     13,  534  pp.    10  M. 
Menmaiiii ,  E«,  Vorlesungen  zur  Einführung  in  die  experimentelle 

Pädagogik  und  ihre  psychologischen  Grundlagen.   II.  Bd.    Lieipzig 

1907.    b\    Vin,  467  pp.    6  M. 
Scherer,   H.,  Führer  durch   die  Strömungen  auf  dem  Gebiete  der 

Pädagogik  und  ihrer  Hilfswissenschaften,  zugleich  ein  Ratgeber 

für  Lehrer  und  Schulheamte  hei  der  Einrichtung  von  Bibliotheken. 

3.  u.  4.  Heft.    Geschichtsunterricht.    Leipzig  1^.    8^    VIII,   168 

und  VIII,  207  pp.    Je  2  M. 


Altenbnrg. 
Pierenche  Hofbuchdmckerei 
Stephan  Geibel  &  Co. 


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Zur  Theorie  der  ästhettschen  Elementarerscheinangen, 

Von  Dr.  Richard  Mfiller-Freienfels,  Berlin. 

2.  Artikel. 
Inhalt  s.  1.  Heft  S.  95. 

U.  Konsonanzerscheinuiigreii. 

1.  Die  Musik  der  primitiven  Völker  ist  in  erster  Linie 
rhythmisch.  Melodik  und  Harmonie  treten  Verhältnis- 
maßig,  besonders  im  Vergleich  zu  der  Musik  der  heutigen 
Kulturvölker,  sehr  zurück  und  sind  wenig  entwickelt. 

Die  Form  des  Lärmmachens,   des  Schreiens,   Singens, 
Brüllens  usw.  scheint  für  jeden  tierischen  Organismus  neben 
der  Form   des  Gliederbewegens ,   Hüpfens  usw.  die  nächst- 
liegendste  Art  der  Entladung  innerer  Spannungen  zu  sein. 
Eine  Freude  am  Lärmmachen  kann  man  schon  bei  Kindern  im 
firühsten  Alter  bemerken.    Aber  auch  bei  Erwachsenen  ist 
häufig   eine  große  Freude   am  bloßen  Radau  zu  erkennen, 
auch  alle  diejenigen,  die  ganz  unmusikalisch  sind,  die  nicht 
das    geringste    Gehör   für    den   Unterschied   von    Tonhöhe 
haben,  ja  denen   sogar   das   Rhythmusgefühl  fast  ganz  zu 
fehlen  scheint,  können  dennoch  die  Musik,  wie  man  scherz- 
weise zu  sagen  pflegt,  als  angenehmes  Geräusch  empfinden. 
Auch   Gurney')  konstatiert  einmal,   daß   auch   solche  Per- 
sonen ,   die   man  ganz   unmusikalisch   nennt ,   denen  es  un- 
möglich ist,   die  geringste   Melodie  zu  behalten,   dennoch 
das   lebhafteste   Vergnügen   empfinden  können,    wenn   die 
Töne  in  großen  Massen  das  Ohr  durchbrausen. 

Das   primitivste  Instrument   dafür  ist   die  menschliche 
Stimme.     So   überwiegt  auch    noch   bei    den  Völkern    der 

')  GüBNEY,  Power  of  sound,  S.  306. 

Tierteljahrasohrift  f.  wissenschaftl.  Philos.  u.  Soziol.  XXXII.  2.  13 


194*  Kichard  Mttller-Freienfels: 

Tintersten   Eulturstofe   durchaus    die  Vokalmusik    über    die 
durch  Instrumente  erzeugte.    Das  Wertmaß  ftir  diese  Musik 
ist  durchaus  die  Stärke*).     „Je  läuter  desto  schöner"  ist 
das  ästhetische  Prinzip,  nach  welchem  der  primitive  Mensch 
urteüt,   und  schließlich  kann  man  ja  diese  Normierung  bis 
auf  eine  Kulturstufe  verfolgen,   die  sich  hoch  erhaben  über 
die   der  Jäger  und  Nomadenvölker  dünkt.    Im   Rhythmus, 
dessen   allgemeine  Verbreitung  durch   die  Verbindung  der 
Musik    mit    dem    Tanze    begünstigt    wurde,    so    daß    also 
motorischer  und   akustischer  Rhythmus   sich  unterstützten, 
tritt  das  erste  „Maß"  in  den  rohen,  ungeordneten  Ausdrucks- 
lärm, in  welchem  sich  die  inneren  Zustände  des  primitiven 
Menschen  zu  befreien  strebten.    Der  Rhythmus  ist,  um  uns 
einmal  der  Terminologie  Nietzsches  zu  bedienen,   das  erste 
apollinische  Element,   das   zu  dem  dionysischen  Lärm  trat. 
Es  handelt  sich  nun  darum  zu  verstehen,   wie  das  zweite 
„Formelement",    die    qualitative    Ordnung    der   Töne   sich 
entwickelte,  wie  sich  aus  dem  rhythmischen  „Lärmspielen" 
die  Melodie  und  Harmonie  heraus  entwickelten,   und   auch 
hier  wie  schon  beim  Rhythmus  haben  wir  zwei  verschiedene 
Gründe  zu  suchen,  einmal  solche,  die  in  der  Erzeugung 
der  Musik  liegen  und  femer  solche,  die  in  den  aufnehmenden 
Organen  zu  suchen  sind.    Und  auch  hier  erscheinen  die  in 
der  Ton  erzeug  ung  liegenden  Ursachen  als  die  primären. 
Denn  die  Entwicklung  wird  so  vor  sich  gegangen  sein,  daß 
die  Harmonien   usw.   darum   dem   Ohre  gefielen,   weil  sie 
durch  die  Erzeugung  von  Tönen  gegeben  waren,  nicht  etwa 
so,    daß    man    darum   auf  den   Gedanken   gekommen   sei, 
Harmonie  zu  erzeugen,  weil  sie  den  akustischen  Organen 
gemäß  waren.    Freilich  hätte  wohl  die  Gewohnheit  allein 
nie  ausgereicht,  für  sich  eine  solche  Entwicklung  der  Ton- 
kunst zu  bedingen,  und  so  müssen  wir  annehmen,  daß  auch 
die  Veranlagung  der  sensorischen  Organe  der  Entwicklung 
des  Harmoniesystems  entgegenkam.   Zunächst  aber  ist  jeden- 
falls   die    Erzeugung   der  Töne    zu  betrachten   und   zu 

')  Vgl.  hierzu  Wallaschek,  Anfänge  der  Tonkunst. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       195 

untersucheii ,  wie  das  Ohr  überhaupt  zuerst  dazu  kam, 
Harmonien  zu  vernehmen,  da  die  Natur  solche  nirgends  zu 
bieten  hat. 

2.  Harmonie  und  Melodik  waren  voi^gebildet  in  den 
klangerzeugenden  Instrumenten,  die  zur  Verwendung 
kamen«  Man  braucht  nicht  anzunehmen,  daß  von  vornherein 
der  primitive  Mensch  den  Blas-  und  Saiteninstrumenten  darum 
den  Vorzug  gab  vor  anderen  Lärmapparaten,  weil  dort  die 
Obertöne  reiner  gewesen  seien  und  sie  seinem  Harmonie- 
gefilhle  entgegengekonmien  wären.  Den  Qrund  für  die  Be- 
vorzugung der  Instrumente,  die  später  die  Entwicklung  der 
Tonkunst  förderten,  kann  in  erster  Linie  auf  praktischem 
Gebiete  gesucht  werden.  Die  menschliche  Stimme  war  das 
nächstliegende  Instrument  und  leistete  besonders  bei  an- 
gehaltenen Tönen  schon  recht  gute  Dienste  für  die  Er- 
Zeugung  von  Lärm  mxd  Klang,  mochte  dieser  nun  praktischen 
Zwecken,  wie  Wamungsrufen  und  Signalen,  oder  rein 
ästhetischen  Bedürfhissen,  d.  h.  der  Entladung  innerer 
SpannTingen  dienen.  Ebenso  sind  auch  die  klangerzeugenden 
lustruniente  (man  faßt  ja  die  Instrumente  überhaupt  jetzt 
gern  als  Erweiterung  unserer  Organe)  im  Erzeugen  von 
starken,  lang  anhaltenden  Tönen  solchen  Apparaten,  die 
bloße  Geräusche  hervorbringen,  bedeutend  überlegen.  Ihre 
Töne  dringen  weiter  und  sind  leichter  zu  erkennen  als  die 
bloßen  Geräusche.  Man  konnte  unmöglich  mit  Klappern 
oder  Kastagnetten  so  lange  anhaltende  Töne  hervorbringen 
als  mittelst  der  Instrumente,  welche  wirkliche  Klänge  er- 
zeugten. Es  lag  in  der  Natur  der  Sache,  daß  die  Klänge  vor  den 
Geräuschen  einen  großen  Vorzug  hatten,  dort  wo  es  sich 
wie  in  der  Kunst,  um  eine  Reizung  der  Gehörsnerven 
handelte,  die  einen  äußeren  Zweck  nicht  verfolgte.  Neben 
diesen  positiven  Vorzügen  der  größeren  Intensität  und 
Dauer  hatten  die  Klänge  und  die  sie  erzeugenden  Instrumente 
vor  den  Geräuschen  und  geräuschliefernden  Lärmapparaten 
den  anderen  Vorzug,  der  mehr  negativer  Natur  ist:  es 
ließen  sich  bei  den  Klängen  viel  leichter  alle  jene  Reizungen 

des  Ohres  ausschalten,  die  wie  Kratzen,  Schrillen  usw.  bloß 

13  ♦ 


196  Rioliard  MüUer-Freienfels: 

unlustvoU  vermerkt  werden,  was  seinen  Grund  in  der  un- 
gleichmäßigen Affizierung  der  Gehörsnerven  hat.  Aus  rein 
äußeren  Gründen  also  kamen  für  die  Lärmspiele  schon  die 
klangerzeugenden  Instrumente  mehr  in  Betracht  als  die 
bloßen  Geräuschapparate. 

3.  Dazu  kam,  daß  man  bald  bemerken  mußte,  daß  die 
klangerzeugenden  Instrumente,  also  die  spezifisch 
musikalischen  noch  die  qualitative  Variation,  die 
Änderung  der  Tonhöhe  zuließen,  außer  den  beiden 
anderen  Eigenschaften,  die  auch  den  Geräuschen  zukamen^ 
der  Intensität  und  der  Dauer. 

Das  hatte  ebenfaUs  seine  praktischen  Vorzüge,  denn  für 
Signale  usw.  konnte   also  größere  Mannigfaltigkeit   erzielt 
werden,    im   Reigentanz    die    einzelnen  Touren    auch  rein 
akustisch  voneinander  getrennt  werden.     Vor   allem   aber 
die  rein  ästhetischen  Vorzüge  der  größeren  Mannigfaltigkeit 
mußte    den    Ausschlag    für    die    Bevorzugung    der    „Ton- 
instrumente" vor  den  bloßen  Geräuschinstrumenten  geben. 
Und  mit  der  Änderung  der  Tonhöhe  beginnt  doch  eigentlich 
erst   die  Musik  in  unserem   Sinne.    Nun  finden  wir   aber, 
daß  bei  allen  Völkern,   bei  denen  überhaupt  eine  feste  Art 
der  Melodiebildung  beobachtet  worden  ist,  diese  eine  ganz 
bestimmte  Form  hat,  die  sich  ganz  unabhängig  von  fremden 
Einflüssen  überall  autochton   entwickelt    haben   muß.     Es 
handelt  sich  nicht  um   ausgebildete  Tonskalen  in  unserem 
Sinne  bei  den  primitiven  Völkern,  aber  gewisse  Stufen,  die 
Oktaven,   Quinten  usw.  finden  sich  sowohl  bei  Negern  wie 
Asiaten  und  Europäern,   und  es  müssen  also  sich  Gründe 
erkennen  lassen  für  diese  Parallelität  der  Entwicklung  bei 
den  verschiedenen  Völkern. 

Es  gilt  nun  zunächst  auch  hier  einem  Vorurteil  ent- 
gegenzutreten, das  noch  inmier  in  weiten  Kreisen  herrscht, 
nämlich  dem,  daß  die  Musik  in  ihren  niederen  Formen  nur 
eine  Melodik,  aber  keine  Harmonien  kenne.  In  der  Tat  ist 
ja  die  Melodik  bedeutend  entwickelter  (der  Grund  hierfür 
wird  später  besprochen  werden),  trotzdem  fehlen  den 
primitiven  Völkern   die  Harmonien  und   der  Sinn  für  Ak- 


Zur  Theorie  der  flsthetischen  Elementarerscheinungen.       197 

korde  dnrchaiis  nicht.  Es  ist  ein  Irrtum,  daß  die  Harmonie 
eine  moderne  europäische  Erfindung  sei.  Auch  die  Griechen 
hatten,  wie  Westphahl  bereits  nachgewiesen  hat,  wenigstens 
in  der  Begleitung  Akkorde.  Wenn  auch  die  Melodiebüdtmg 
sich  im  einzelnen  anders  entwickelt  hat  als  die  unsrige  und 
eine  latente  Harmonie  nicht  vorhanden  war  wie  bei  unseren 
Melodien. 

Besonders  Wallaschek^)  und  der  Amerikaner  Fillmore 
haben    sich,  bemüht,   auch  bei   den  Naturvölkern,  den  Sinn 
für  Hamionie  nachzuweisen  und  mannigfaches  Material  ge- 
sammelt.     So    wird  schon   aus   sehr  früher  Zeit  von  den 
Hottentoten  berichtet,   daß   sie  ihre  Gomgoms  harmonisch 
zusammenstimmten,  und   daß   sie  die  Töne  des  Dreiklangs 
von  oben  nach  unten  zur  tieferen  Oktave  zusammensangen, 
und  zTwar  so,  daß  jeder  mit  dem  ersten  Tone  begann,  wenn 
sein  Vorgänger  bereits   auf  dem  zweiten  und  dritten  Tone 
4aigelangt  war.    Femer  wird  von  den  Betschuanas,  von  den 
Negern   in    Sierra   Leone,   von   den  Aschantis  und  vielen 
anderen  Völkern  berichtet,  daß  sie  zwei-  und  mehrstimmig 
singen,  und  es  ist  durchaus  nicht  angängig,  überall,  wo  man 
derartiges   wahrgenommen    hat ,    europäischen    Einfluß    an- 
zunehmen.   Fillmore  hat  eine  große  Anzahl  von  Melodien 
der  Omahaindianer  gesammelt  und  sie  selbst  nach  europäischer 
Weise  mit  Harmonien  versehen.    Als  er  sie  den  Indianern 
vorspielte,  erzielte  er  durchaus  ihren  Beifall,  ja  die  Melodien 
mit  der  Begleitung  gefielen  den  Eingeborenen  sogar  besser 
als  ohne  die  Harmonien.    Nach  alledem  kann  man  wohl  an- 
nehmen ,   daß   der .  Sinn  für  Harmonie  durchaus  nicht  bloß 
als   miodem    europäische    Kulturerrungenschaft   aufzufassen 
ist,   sondern  daß  er  sich  wenigstens  „latent",  wie  man  das 
genannt  hat,  auch  bei  solchen  Völkern  findet,   die  in  praxi 
kein  Harmoniesystem  ausgearbeitet  haben  und  in  der  Regel 
nur  einstimmig  singen. 


')  Wallaschek,  Anfänge  der  Tonkunst,  S.  157  f.  —  Fletscher, 
La  Fl^chk  und  Tillmork,  A  Study  of  Omaha  Indian  Music.  Papers 
of  Peabody  Museum  I,  5.  Vgl.  dazu  Wallaschek,  Musikalische  Er- 
gebnisse des  Studiums  der  Ethnologie.    Globus  LXVIII,  S.  95  f. 


198  Richard  Müller-Freienfels: 

4.  Es  gilt  nun,  den  Sinn  für  Harmonie  in  der 
Entwicklung  zu  begreifen,  als  notwendiges 
Produkt  einmal  aus  dem  Einfluß  der  In- 
strumente, zweitens  aber  aus  der  Beschaffen- 
heit der  menschlichen  Gehörsorgane. 

Die  primitivste  Musik,  die  wir  kennen  (wirklich  primitive 
Kirnst,  so  daß  wir  sagen  könnten,  sie  sei  ganz  sicher  nicht 
das    Ergebnis    einer   schon  lange    vorausgegangenen    Ent- 
wicklung, gibt  es  in  der  Musik  ebensowenig  wie  auf  dem 
Grebiete  der  bildenden  Kunst  oder  der  Poesie)  scheint  nach 
den  Beschreibungen  der  Reisenden,  wenn  man   diese  An- 
gaben von  europäischen  Vorurteilen  und  Voreingenommen- 
heiten säubert,  die  zu  sein,  die  in  einem  allmählichen  Senken 
der  Stimme  von  einem  angegebenen  Ton  zu  etwa  der  tieferen 
Oktave  bestehen.    Das  Ganze  scheint  sehr  roh  aufzufassen 
zu  sein,  nur  in  einem  Herabsteigen  von  einer  Tonhöhe  zu 
einer  tieferen  unter  allerlei  rhythmischen  Abwechslungen. 
Irgendwelche  Tonstufen  werden  nicht  eingehalten.    Was  in 
den  europäischen  Aufzeichnungen  als  chromatisch  erscheint, 
mögen  in  Wirklichkeit  nur  Viertelstöne  und  schlechte  In- 
tonationen sein*).    Vielleicht  braucht  man  noch  nicht  ein- 
mal anzunehmen,  wie  Gbosse  tut,  daß  das  Sinken  der  Stimme 
beabsichtigt  war.    Es  kann  vielleicht  auch  einfach  als  un- 
beabsichtigtes   Detonieren    gefaßt    werden,     da    die    Kraft 
nachließ.     Hierzu  würde  auch  die  Schilderung  Brownes*) 
stimmen,   der  von  den  Australiern  berichtet,   daß  sie  ihren 
Gesang  laut  und  schriU  einsetzen  und  allmählich  ihre  Stimme 
bis  zum  äußersten  Piano  sinken  lassen.    Auch  dieses  De- 
crescendo braucht  nicht  ursprünglich  beabsichtigt  zu  sein,, 
sondern  mag  nur  eine  konventionell  gewordene  Form  sein, 
die  sich  aus  einer  ursprünglichen  Notwendigkeit  ergab.   Aus 
der  Not  ist  eine  Gewohnheit  geworden,  und  aus  dieser  wieder^ 
wie  das   so  oft  geschieht,   eine  Tugend.    Es  handelte  sich 
wohl   um   ein   ursprünglich  ganz   formloses    Singen.     Da» 


')  Gbo88e,  Anfänge  der  Kunst,  S.  272.    Waitjs-Gkbland  ,  Anthro- 
pologie der  Natiirvölker  VI,  752  ff. 


Zur  Theorie  der  ftsthetischen  Elementarerscliemiingen.       199 

allmähliche  Decrescendo  und  das  Sinken  der  Stimme  erklärt 
sich  als  die  einfache  äufiere  Unmöglichkeit,  den  Ton  in 
derselben  Stärke  nnd  auf  derselben  Höhe  zu  erhalten,  da 
der  Atem  zuletzt  fehlen  mußte. 

5.    Es    ist  nun  noch  die  Frage  zu  erörtern,  wie  man 
überhaupt    dazu  kam,    statt   einer   vollkommen   beliebigen 
Tonerzengung  feste  Formen  einzuführen,  die  Frage  nach  den 
psychologischen  Vorzügen  der  festen  Melodie. 
Auf  den    ersten  Blick  möchte  es  scheinen,   daß   die  Fest- 
haltnng  bestimmter  Formen  eine  intellektuelle  Anstrengung 
erforderten,  die  dem  sonst  hier  überaU  vertretenen  Prinzip 
vom  kleinsten  Eraftmaße  widerspräche.    Das  Gegenteil  ist 
jedoch  der  FalL    Es  ist  leichter,  eine  einmal  geprägte  und 
oft  gehörte  Melodie  nachzusingen,   als   eine  völlig  neue  zu 
erfinden.    Die  Aneignung  einer  "Weise  geht  unwillkürlich, 
ohne    Inanspruchnahme  des  Intellektes,  vonstatten.     Dazu 
kommt  noch  eine  bedeutende  Steigenmg   des  Lustwertes 
der  Melodie,   die  man  oftmals  hört,  gegenüber  der  neuen; 
einmal  durch  die  Gewöhnung,  die  die  Aufnahme  erleichtert, 
dann   aber  auch   durch  die   Freude   des  "Wiedererkennens. 
Gterade  solche  Melodien,  die  nur  ganz  gebräuchliche  Inter- 
valle  und   bequeme   Rhythmen   verwenden,   gefallen   dem 
naiven  Menschen  am  meisten.    An  jede  Neuerung  muß  man 
sich   erst  gewöhnen,   das  heißt  die  G^hörsorgane  und  das 
Gtehim   passen   sich   an,   die  ursprünglich   schwierige  Auf- 
gabe des  Aufnehmens  wird  immer  leichter,  schUeßlich  wird 
die  an&nglich  anstrengende  Tätigkeit  zu  einer  leichten,  be- 
quemen, adäquaten  Beschäftigung  der  Organe,   worin  eben 
aUe  primitive  Wirkung  der  Kunst  besteht.   Auch  die  Wieder- 
kennbarkeit  mußte  einen  großen  Vorzug  der  festen  Melodie 
g^enüber  der  willkürlichen  Tonreihe  bedeuten.    "Wie  stark 
die  Freude  des  Wiedererkennens  bei  naiven  Menschen  ist, 
kann  man   in  jeder  Opemaufiührung  beobachten,  wo  jede 
bekannte  Arie  immer  besondere  Freude  und  starken  Beifall 
erweckt. 

Dasselbe,  was  für  ganze  Melodien  gilt,  trifil  auch  für 
die   einzelnen  Intervalle  zu.     Hatte  man  feststehende,  ge- 


200  Eichard  Müller-Freienfels: 

bräuchliche  Formen,  so  mußten  diese  infolge  der  Gewöhnung 
an  und  für  sich,  auch  ohne  daß  die  Konsonanz  aufeinander- 
folgender Töne  mitwirkte,  größere  Lustwerte  erregen  als 
vollkommen  willkürliche  Sprünge. 

Die  Entstehung  der  festen  Tonstufen  ist  nun 
natürlich .  sehr   aJImählich   vor  sich  gegangen.    Bei   vielen 
Völkern  findet  noch  heute  ein  derartiges  Schwanken  und  solche 
Unsicherheit  statt,  daß  die  Meinung  entstehen  konnte,  diese 
Völker  verwendeten  Drittel-  und  Viertelstöne  in  ihrer  Musik. 
Neuere  Forscher,  besonders  Wallaschek,  haben  dem  freilich 
sehr  widersprochen  und  fahren  alles  auf  unreine  Intonation 
und    Falschsingen   zurück.     Wirklich   durchgebildete    Ton- 
skalen in  unserem   Sinne  finden  sich  aber  bei  primitiven 
Völkern   überhaupt   kaum.     Nur   gewisse    Grundzüge    sind 
überall   da,   so   besonders  die  Festlegung  der  am  stärksten 
konsonierenden  Intervalle,  der  Oktaven  und  Quinten.    Diese 
Formen  finden   sich  überall.     Die   Abstufung   im  weiteren 
jedoch    schwankt  und   ist  bei   den  verschiedenen   Völkern 
abweichend.     So   sollen  z.  B.  die  Siamesen  die  Oktave  in 
sieben  gleichgroße   Stufen    abteilen.    Während  für  Oktave 
und  Quinte,  die  ausgesprochenen  Konsonanzen,  das  überall 
gleiche   natürliche    Gefahl   für  Konsonanz,   das   durch   die 
Instrumente  entwickelt  wurde,  maßgebend  war,   ist  für  die 
Feststellimg  der  kleineren  Intervalle  häufig  der  Zufall  und 
die  Spekulation  entscheidend  geworden.    Durch  solches  zu- 
falliges Falschangeben  der  Terz  will  Wallaschek  z.  B.  die 
Dur-   und  Molltonleitem   erklären,   worin   ihm  freilich  von 
anderer  Seite  widersprochen  ist.    Um  eine  rein  spekulative 
Sache  scheint  es  sich  bei  der  Musik  der  Chinesen  zu  handeln. 
Das  Resultat  dieser  Spekulation  weicht  von  imserem  Ton- 
system so  ab,  daß  die  europäische  Musik  für  Chinesen  nur 
ein  sinnloser  Lärm  ist,  und  auch  umgekehrt  verhält  es  sich 
nicht  besser.    Das  aber  scheint  bei  allen  Völkern  gleich  zu 
sein,    daß    die   wichtigsten    Stufen   der  Skala  Oktave  und 
Quinte   sind,   d.  h.  die   beiden  reinsten  Konsonanzen.    Die 
Konsonanz  ist  also  das  Hauptprinzip,  das  überall  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  gleich  war,  auch  für  die  Melodie, 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       201 

Auch  die  Melodie  setzt  also  den  Sinn  für  Konsonanz 
voraus,  ebenso  wie  die  Harmonie,  Daß  dieser  Sinn  für 
Konsonanz  aber  überhaupt  sich  ausbilden  konnte,  setzte  das 
Vorhandensein  konsonierender  Töne  voraus.  Diese  aber 
bildeten  sich  ohne  Willen  der  Spielenden  auf  den  In- 
stnunenten. 

6.  Harmonien  mußten  nach  der  Natur  der  Instrumente, 
ohne  das  Dazutun  der  Spielenden  überall  entstehen.  So 
zunächst  beim  einfachsten  Instrumente,  der  menschlichen 
Stiimne.  Wenn  eine  Männer-  und  eine  Frauenstimme  zu- 
sammensangen, denselben  Ton  angeben  wollten,  so  gerieten 
sie  in  die  Oktave  *).  Bloß  durch  irrtümliches  Angeben  mag 
auch  oft  genug  die  Quinte  intoniert  worden  sein,  da  die 
SiUMPFschen  Versuche,  auf  die  noch  ausführlich  zurück- 
zukommen sein  wird,  erwiesen  haben,  daß  zwei  in  Quinten 
gestimmte  Töne  sehr  oft  für  einen  gehalten  werden. 

Ebenso  mußten  bei  den  Blasinstrumenten  bloß  durch 
Terschieden  starkes  Anblasen  die  Oktave  und  in  größerer 
Höhe  die  Quinte  miterklingen. 

Dazu  kommt,  daß  fast  überall  frühzeitig  die  mathe- 
matischen. Verhältnisse  bei  Flöten  und  Saiteninstrumenten 
beobachtet  wurden.  Sowohl  von  Griechen  wie  Chinesen 
wird  berichtet,  daß  sie  diese  Verhältnisse  mit  metaphysischen 
Spekulationen  in  Beziehung  brachten.  Auch  die  auf  den 
Saiteninstrumenten  zu  beobachtenden  Flageolettöne  mußten 
die  besondere  Stellung  der  Oktave,  der  Quinte  und  der 
anderen  Konsonanzen  hervortreten  lassen. 

So  mußte  das  Ohr,  lange  ehe  man  bewußt  daran  ging, 
Akkorde  und  Harmonien  hervorzubringen,  bloß  durch  die 
Praxis  daran  gewöhnt  werden,  vielleicht  ohne  daß  es  die 
Spielenden  merkten,  Akkorde  und  Harmonien  wahrzunehmen. 
Mit  der  Gewöhnung  an  die  komplizierteren  Formen  der 
Hänge   mußte   aber  zugleich  eine  Abstumpfung  gegen  die 


')  Hackbl  berichtet  von  einer  in  Indien  vorkommenden  Art  der 
Menschenaffen,  daß  sie  in  ganz  reinen  Oktaven  zusammenheulten. 
(Zitiert  nach  Dessoir,  Ästhetä  und  Allgem.  Kunstwissenschaft.) 


202  Richard  Müller-Freienfels: 

einfacheren  parallel  gehen«  Das  Ohr  lernte  cdlmählich  die 
zusammengesetzten  Tongebilde  ebenso  leicht  auffassen  wie 
die  einzelnen,  und  da  sie  ihm  eine  voUkommnere  Reizung 
bei  ebenso  geringer  Anstrengung  leisteten,  so  kam  es  dazu, 
diesen  den  Vo^  vor  den^achen  zu  geben.  Beispiele 
hierfür  bringen  wir  im  weiteren  Verlaufe  der  Unter- 
suchung. 

7.    Mag    sich    auch  immerhin   die    Tonskala    aas    den 
Instrumenten  ableiten  lassen,   die  Eonsonanzerscheinungen 
als  solche  sind  damit  nicht  erklärt.    Es  handelt  sich  hierbei 
um  die  Aufsuchung  eines  Prinzips  für  die  sensorische u 
Organe.    Da  alle  Theorien,  die  den  Grund  für  Konsonanz 
und  Dissonanz  in  unbewußten  Funktionen  oder  in  Gefühlen 
suchten,  entweder  überhaupt  nicht  leisteten,  was  sie  leisten 
wollten  oder  aber  der  Kritik  nicht  standhielten,    so  blieb 
nur  übrig,  in  den  Tonempfindungen  selbst  den  Unterschied 
zwischen  konsonanten  und  dissonanten  Tönen  zu  suchen.  Die 
früheren  Theorien  derart,  wie  Helbiholtz  sie  angestellt  hat, 
befriedigen  auch  nicht,  weder  diejenige,  die  das  Wesen  der 
Konsonanz  im  Zusammenfallen  der  begleitenden  Obertöne, 
noch  diejenige,  die  sie  im  Wegfallen  der  Schwebungen  sieht. 
Die  einzige  Theorie,   die  wirklich  das  Problem  dort  sucht, 
wo  es  gesucht  werden  mufi,  nämlich  in  den  Tönen  selber, 
ist  die  Verschmelzungstheorie  von  SruBfPF. 

„Der  Zusammenklang  zweier  Töne  nähert  sich  bald 
mehr,  bald  weniger  dem  Eindruck  eines  Tones,  und  es  zeigt 
sich,  daß  dies  um  so  mehr  der  Fall  ist,  je  konsonanter  das 
Intervall  ist.  Auch  dann,  wenn  wir  die  Töne  als  zwei  er- 
kennen und  auseinander  halten,  bilden  sie  doch  ein  Ganzes 
in  der  Empfindung,  und  dies  Ganze  erscheint  uns  bald  mehr, 
bald  weniger  einheitlich.  Wir  finden  diese  Eigenschaft  bei 
einfachen  Tönen  ebenso  wie  bei  Klängen  mit  Obertönen. 
Daß  die  Oktave  dem  wirklichen  Unisono  ähnlich  klingt, 
auch  wenn  wir  deutlich  zwei  Töne  darin  unterscheiden 
können,  ist  allzeit  anerkannt  worden,  obschon  es  nicht 
weniger  als  selbstverständlich,  sondern  eine  höchst  merk- 
würdige Tatsache  ist.    Dieselbe  Eigenschaft  kehrt  aber  in 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Element-arerscheinungen.       203 

abgeschwächter  "Weise  auch  bei  Quinten  und  Quarten,  ja 
bei  Terzen  und  Sexten  wieder"  *). 

Durch  Versuche  bei  unmusikahschen  Leuten  hat  nun 
Stukpf  den  umstand  zahlenmäßig  zu  erhärten  gesucht,  daß 
zwei  Töne  um  so  öfter  für  einen  gehalten  werden,  je  mehr 
sie  konsonieren*   Ich  gebe  hier  die  folgenden  Tabellen  wieder. 

Oktave     Quinte     Quarte     gr.  Terz     Tritonus     gr.  Sekunde 

76  22  —  5  —  — 

76  62  36  80  15  9 

—  56  40  28  23  — 

Dies  sind  die  Prozentzahlen  der  falschen  urteile.  Es 
wurden  also  z.  B.  Oktaven  unter  100  Fällen  76  mal  fiir 
einen  Ton  erklärt. 

Das  Ergebnis,  das  auch  von  anderer  Seite  nachgeprüft 
worden  ist,  was  zu  ähnlichen  Resultaten  geführt  hat,  kann 
als  ziemlich  feststehend  anerkannt  werden. 

Freilich  ist  damit  noch  lange  nicht  alles  erklärt,  und 
Stumpf  selber  hat  sich  bemüht,  noch  weiter  vorzudringen. 
Ein  „Ähnlichkeits Verhältnis''  zu  konstruieren,  das  ein  anderes 
ist  als  das  durch  die  Reihenfolge  der  Töne  gegebene,  er- 
scheint ihm  selber  nicht  ratsam,  dafür  aber  hat  er  nach 
einer  physiologischen  Erklärung  gesucht.  Er  nimmt  an, 
daß  beim  gleichzeitigen  Erklingen  (oder  bloßen  Vorstellen 
zweier  Töne,  die  ein  relativ  einfaches  Schwingvmgsverhältnis 
zueinander  haben,  im  Gehirn  zwei  Prozesse  stattfinden,  die 
in  einer  engeren  Verknüpfung  miteinander  stehen,  als  wenn 
weniger  einfache  Schwingungsverhältnisse  vorliegen.  Diese 
besondere  Verknüpfungsform  bezeichnet  er  als  spezifische 
Synergie. 

Man  mag  sich  zu  dieser  Hypothese   stellen  wie  man 
will,  das  jedenfalls  ist  unbedingt  daraus  zu  entnehmen,  daß 
es  bei  der  Konsonanz  auf  die  größtmögliche  Einfach- 
heit   des  Nervenprozesses  ankommt,  und  hier  nun   ' 
setzen    wir    mit   unserem   Prinzip    ein   und   sagen:    Kon- 


M  VgL  Stumpf,  Beiträge  zur  Akustik  und  Musikwissenschaft. 
I.  Heft:  Xonsonanz  und  Dissonanz,  S.  85.  Ferner  Tonpsychologie, 
Bd.  I,  „Neueres  über  Tonverschmelzung",  Zeitschrift  für  Psychol., 
XV,  180  f. 


204  Richard  Müller-Freienfels: 

sonanzen  sind  solche  Reizungen  der  Gehörs- 
nerven  und  ihrer  zentralen  Systeme,  welche  die 
größtmögliche  Tätigkeit  der  Organe  bei  mög- 
lichst geringem  Kraftaufwand  ermöglichen.  Aus 
demselben  Grunde  wurden  bereits  die  einfachen  Töne  ge- 
schätzt und  den  Geräuschen  vorgezogen,  welche  immer  eine 
übermäßige  Inanspruchnahme  einzelner  Teile  der  Gehörs- 
organe mit  sich  brachten. 

8.    Ehe  wir  jedoch  in  die  genauere  Begründung  dieser 
Auffassung  übergehen,  bleibt  das  Verhältnis  von  Kon- 
sonanz und  Lustgefühl,  ebenso  das  von  Dissonanz  und 
Unlustgefühl  zu  erörtern.  So  einfach,  daß  man  konsonierende 
Töne  ohne  weiteres   als   angenehme,   dissonierende  als  un- 
angenehme definieren  kann,    liegt   die    Sache   nicht.      Die 
allereinfachsten  Tatsachen   der  Musikgeschichte   lehren  das 
Gegenteil.    In  der  griechischen  Musik  galt  als  die  unbedingt 
schönste  Konsonanz  die  Oktave,   die  wir  heute  kaum  mehr 
mit   sonderlichen   Lustgefühlen   bewerten.     Im   Mittelalter 
hielt  man   die   Quinte  lange    für  besonders    ausgezeichnet, 
und  erst  ganz  allmählich  entschloß  man  sich,  auch  die  Terz 
als  Konsonanz  gelten  zu   lassen.     Daneben   sind   aber  die 
Dissonanzen  durchaus  nicht  ohne  weiteres  als  unangenehme 
Zusammenklänge  zu  bezeichnen.     Die  Erfahrung  lehrt,  daß 
die   Gewohnheit   hier    sehr  viel   tut,    daß    eine   zuerst  un- 
erträgliche   Dissonanz   später   einem  unentbehrlich   werden 
kann.    Überblickt  man  die  neueste  Musikgeschichte  nur  in 
den  allergröbsten  Linien,  so  fallt  bereits  ins  Auge,  wie  hier 
eine   Entwicklung    stattgefunden    hat.      Schon    als    Mozakt 
auftrat,   warf  man  ihm  seine  Dissonanzen  vor.    Dieselben 
Leute  aber,  die  an  seiner  Musik  erzogen  waren,  daß  sie  den 
früheren  Beethoven  noch  genießen  konnten,  vermochten  sich 
die  Harmoniefiihrung  in  des   Meisters   letzten  Werken  nur 
mit  seiner  Taubheit  zu  erklären.    Von  Rossinis  Musik  schrieb 
der  gute  W.  H.  Riehl,   das   sei   das  non  plus  ultra  an  ge- 
wagten Akkorden !    Man  höre  heutzutage  Rossini  !    Und  dann 
kam  Wagner,  imd  nach  ihm  kamen  Richakd  Strauss  und  Max 
Reger,    und  werden  vielleicht  noch  andere  kommen,   mit 


Zur  Theorie  der  ästhetisclien  Elementarerscheinungen.       205 

deren  Akkorden  verglichen  uns  die  Dissonanzen  im  „Helden- 
leben" als  harmlos  erscheinen  dürften.  Wie  mit  der  Harmonie 
war  es  genau  mit  der  Melodie.  Nur  die  zwischen  Tonika 
und  Dominante  sich  bewegende,  diatonisch  geführte  Melodie 
erscheint  dem  einfachen  Gemüte  als  Melodie.  Erst  fort- 
schreitende musikalische  Bildung  ermöglicht  auch  größere 
und  seltnere  Intervalle  in  der  Melodie  als  konsonant  und 
wohlgefällig  empfinden  zu  können.  „Melodie" ,  schreibt 
Robert  Schumann  gelegentlich,  „ist  das  Feldgeschrei  der 
Dillettanten  und  gewiß,  eine  Musik  ohne  Melodie  ist  gar 
keine.  Verstehe  aber  wohl,  was  jene  darunter  meinen: 
eine  leichtfaßliche,  rhythmisch  gefallige  gilt  ihnen  allein 
daför." 

Denn  das  können  wir  deutlich  erkennen;  es  findet 
eine  Verschiebung  der  Lustbewertung  statt  von 
den  ei  nf  ac  her  en  Ko  ns  o  nanz  en  zu  den  so- 
genannten Dissonanzen  hin,  die  aber  in  Wirklich- 
keit nur  weniger  konsonant  sind,  nicht  wesentlich, 
sondern  nur  gradweise  von  den  „eigentlichen**  Konsonanzen 
sich  unterscheiden.  In  dieser  Entwicklung  stumpft  sich  das 
Gefühl  für  die  einfacheren  Formen  der  Konsonanz  ab. 
Manche  Akkorde,  die  früher  als  ausgesprochene  Dissonanz 
galten,  wie  z.  B.  der  verminderte  Septimenakkord,  wirken 
durchaus  nicht  unlustvoll  auf  den  modernen  Hörer.  Daß 
trotzdem  unser  Ohr  bei  Akkorden  dieser  Art  noch  immer  nach 
einer  Auflösung  „verlangt",  hat  wohl  hauptsächlich  seinen 
Grund  darin,  daß  wir  gewohnt  sind,  in  Musikstücken 
die  Lösung  folgen  zu  hören.  Konsonanz  und  Annehmlich- 
keit der  Akkorde  sind  also  nicht  zwei  identische  BegrijBTe. 
Die  Konsonanz  ist  ein  mathematisch  ausdrückbares  Ver- 
hältnis, das  im  Altertum  durchaus  dasselbe  war  wie  heute, 
aber  die  Bewertung  der  Konsonanz  als  lustvoll  schreitet 
voran.  Das  Ohr  stumpft  sich  ab  gegen  die  einfacheren 
Konsonanzen  und  erlebt  größere  Lustgefühle  bei  den  kom- 
plizierteren. 

9.  Suchen  wir  also  diese  Ergebnisse  in  unserem  Sinne 
auszudeuten.     Bei   der  trotz  mannigfacher  Theorien  noch 


206  Bichard  Müller-Freienfela: 

sehr  mangelhafben  Kenntnis  der  physiologischen  Prozesse 
bei  den  Qehörsempfindungen  läßt  sich  nur  gan^  allgemeines 
aussagen.  Für  das  Ohr  des  Menschen  mufi  ursprünglich  der 
einfache  Klang  mit  ganz  periodischen  Schwingungen  die 
adäquateste  Reizung  gewesen  sein.  Es  scheint,  daß  hier  in 
ganz  kleinen  Verhältnissen  etwas  ähnHches  gilt,  wie  wir 
das  in  größerem  Maßstabe  beim  Rhythmus  gefunden  haben, 
daß  die  in  regelmäßigen  Perioden  ablaufende  Reizung  die- 
jenige ist,  die  den  Nerven  am  adäquatesten  ist.  Die  Ge- 
räusche, deren  physischer  Parallelvorgang  unperiodische 
Reizungen  der  Gehörsnerven  sind,  werden  also  aus  dem- 
selben Grunde  nicht  lustvoll  bewertet,  aus  dem  heraus  ein 
miregelmäßiger  Rhythmus  unangenehm  empfunden  wird. 
Über  die  physiologischen  Vorgänge  im  Ohre  ist  noch  nichts 
Bestimmtes  zu  entscheiden,  da  sowohl  die  HELMHOLTZsche 
wie  die  EwALDsche  Theorie  durchaus  nicht  das  leisten,  was 
wir  brauchten. 

Für  uns  ist  die  Hiiuptsache,   daß  ursprünglich  der  ein- 
facheren Tätigkeit  des  Ohres  das  größere  Lustgefühl   ent- 
sprach,  daß  dieses  freilich  im  Laufe  der  Entwicklung  sich 
mehr  und  mehr  den  komplizierteren  Formen  der  Reizungen 
zuwandte.    Hierher  gehört  z.  B.  auch  der  umstand,  daß  den 
Griechen  die  obertonfreien  Flötentöne  als  die  schönsten  er- 
schienen, während  für  unsere  schon  entwickelteren  Gehörs- 
apparate  der  viel  kompliziertere  Geigenton  schöner  klingt 
und  wir  die  Saiteninstrumente  am  höchsten  bewerten.    Was 
als   die  adäquateste  Reizung  der  Gehörsnerven  empfunden 
wirkt,  hängt  also  von  der  Entwicklungsstufe  ab.    Übergeht 
man  also  die  FäUe,  wo  infolge  von  Abstumpfung  die  Reize 
überhaupt  zu  schwach  bleiben,  um  Lustgefühle  zu  erwecken, 
so  werden  wir   sagen,   daß  wir  diejenigen  Klänge   als  be- 
sonders angenehm  bezeichnen,   die  unser   Ohr  in  eine  ad- 
äquate Tätigkeit  versetzen,  ohne  daß  an  die  Auffassung  aUza 
starke  Anforderungen  gestellt  werden.     Denn  man  hat  das 
Bedürfnis,   die  dargebotenen  Töne  als  Einheit  zu  erfassen, 
kann  dies  nicht  geschehen  wegen  allzu  starker  Dissonanz, 
so  tritt  das  Lustgefühl  nicht  ein.    Es  ist  kein  Widerspruch 


Zur  Theorie  der  ftstlietiscilen  Elemeatarerscliemuiigen.       207 

gegen  das  Prinzip  der  Ökonomie,  wie  wir  es  geformt  haben, 
daß  zuweilen  größere  Anstrengungen  gesucht  werden,  wenn 
sie  nur  eine  größere  Siunme  von  Lustgefühlen  versprechen. 
Das  ökonomische  Prinzip  gilt  nicht  sowohl  für  die  absoluten 
LeistfUDgen,  als  für  das  Verhältnis  von  Lustgefühl  und  auf- 
gewandter Kraft.  Diejenigen  Erlebnisse  oder  Tätigkeiten 
werden  bevorzugt,  die  bei  geringerem  Aufwände  das  größere 
Lustgefiihl  erregen.  Es  können  also  wie  in  der  Dissonanz 
größere  Ajaforderangen  an  die  Gehörsapparate  gestellt 
werden,  da  im  Laufe  der  Entwicklung  die  ganz  einfachen 
Harmonien  nicht  mehr  recht  wirken,  der  größere  Mühe- 
aufwand aber  kompliziertere,  stärkere  Gefühle  auslöst. 

10.  Für  den  hier  zu  bezeichnenden  Entwicklungsgang 
von  Harmonie  imd  Melodik  scheint  sich  nun  eine  Schwierig- 
keit zu  ergeben,  die  auch  von  Stumpf  ausführlich  berührt 
worden  ist.  "Wenn  nämlich  das  Harmoniegefühl  aus  der 
Verschmelzung  der  Töne  erklärt  werden  soll,  so  ist  damit 
einmal  noch  nicht  die  Konsonanz  aufeinanderfolgender 
Töne,  anderseits  aber  auch  nicht  der  Umstand  erklärt,  daß 
die  homophone  Musik  der  polyphonen  überall  vorausging. 

Die   erste   Schwierigkeit  hat  Stumpf^)  folgendermaßen 
beseitigt,   indem  er  erstens   darauf  hinwies,   daß  die  Ver- 
schmelzung zweier  Töne  auch  dann  stattfindet,   wenn  wir 
sie  nur  vorstellen,  statt  sie  wirklich  zu  empfinden,  zweitens 
indenoL  er  die  von  Exner  so  genannten  primären  Gedächtnis- 
bilder heranzog,  d.  h.  den  Umstand,  daß  jeder  Empfindungs- 
inhalt,   nachdem  die  Empfindung  selber  vorüber  ist,   noch 
eine   Zeitlemg  als  Vorstellung  im  Bewußtsein  bleibt.    "Wie 
auf  anderem  Gebiete  durch  diese  primären  Gedächtnisbilder 
allein   das   Sehen  von  Bewegungen  möglich  wird,   so   er- 
möglichen auch  sie  vor  allem  die  Melodieempfindung,  d.  h. 
die   Verschmelzung   des   zweiten   Tones   mit   dem  vorher- 
gegangenen ersten,  der  noch  vorgestellt  wird.    Die  Melodie 
ist  eben,   wie  schon  Bameau  sich  geäußert  haben  soll,  nur 
eine  auseinandeigezogene  Harmonie. 


^)  A.  a.  O.  S.  55  f. 


208  Richard  Müller-Freienfels: 

Wichtiger  für  unseren  Gedankengang  ist  hier  der  andere 
Einwand,  der  mehr  historischer  und  ethnographischer  Art 
ist,  nämlioh,  daß  man  eigentlich  erwarten  könne  nach  der 
Theorie  der  Verschmelzung,  daß  die  polyphone  Musik  der 
homophonen  vorausgehen  müsse,  während  doch  gerade  das 
umgekehrte  der  Fall  ist. 

Stumpf  hat  zur  Beseitigung  dieses  Einwandes  die  Theorie 
von  Helmholtz  herangezogen,  daß  man  die  Harmonie  durch 
das  Zusammenfallen  der  Obertöne  erklären  könne,  wonach 
also  der  Übergang  von  einem  zum  anderen  wohl  leichter 
hätte  sein  müssen.  Doch  ist  mit  dieser  Lehre  allein  auch 
wohl  wenig  gewonnen. 

Wichtiger  scheint  die  andere  Bemerkung*),  daß  die 
Musik  von  Anfang  gar  nicht  harmonisch  gewesen  zu  sein 
braucht,  daß  erst  allmählich  die  Entdeckung  und  Auswahl 
der  Intervalle,  die  in  der  Melodie  gebraucht  wurden,  durch 
Phänomene  des  gleichzeitigen  Hörens  veranlaßt  wurden. 

Wahrscheinlich  ist  der  primitivste  Gesang  überhaupt 
ohne  feste  Tonstufen  gewesen  (vgl.  die  oben  zitierten  Be- 
obachtungen), sondern  nur  ein  ganz  willkürlicheis  Variieren 
der  Qualität,  wie  wir  es  beim  Vogelgesang  noch  heute  be- 
obachten. Eine  feste  Melodie  entstand  erst  durch  das 
Fixieren  der  Tonstufen,  und  dieses  wiederum  geschah  unter 
dem  Einfluß  der  Instrumente,  worüber  schon  oben  ge- 
sprochen wurde.  Auch  Stumpf  denkt  sich  die  Entstehung 
der  festen  Melodie  so,  daß  sie  zuerst  auf  Instrumenten  her- 
gestellt und  dann  erst  durch  den  Gesang  nachgeahmt  wurde. 

Freilich  müßte  man  danach  wohl  annehmen,  daß  dann 
die  Oktaven  und  Quinten  in  den  Melodien  primitiver  Völker 
überwiegen  müßten,  weil  sie  die  einfachere  Konsonanz  haben. 
Dagegen  zeigt  eine  einfache  Betrachtung  der  uns  über- 
lieferten Melodien  von  Jägerstämmen  usw.,  daß  sie  die 
kleinen  Intervalle  doch  bevorzugen.  Den  Grund  hierfür  sehe 
ich  in  der  Tonerzeugung.  Es  ist  bedeutend  bequemer 
beim    Singen    oder    Anblasen    einer    Flöte,    die    kleineren 


»)  A   a.  0.  S.  60. 


Zur  Theorie  der  ästhetischeii  Elementaxerscileinungen.       209 

Intervalle  zu  erzeugen,  weil  der  Wechsel  der  Stimmbänder 
imd  der  Atemgebung  hier  viel  einfacher  ist.  Ahnlich  ist 
es  bei  Saiteninstromenten ,  wo  die  Töne  durch  Ghdffe  mit 
der  Hand  variiert  werden.  Auch  hier  sind  keine  so  großen 
Sprünge  vonnöten.  Indem  man  auf  den  Instrumenten  die 
kleineren  Intervalle,  die  nicht  durch  Naturtöne  zu  erzeugen 
waren,  herstellen  wollte  (durch  Einbohren  von  Löchern  in 
die  Knochenflöte),  trat  auch  fiir  die  kleineren  Intervalle 
Temperierung  ein,  an  welche  sich  allmählich  die  Vokalmusik 
anpassen  mußte. 

Außerdem  ist  in  Betracht  zu  ziehen,  daß  die  Instrumente 
primitiver  Völker  nicht  entfernt  den  Tonumfang  haben  wie 
unsere  heutigen.  Die  Tonerzeugung  hatte  aber  auf  die 
Bildung  von  Melodien  schon  aus  dem  Grunde  einen  viel 
größeren  Einfluß  als  das  Lustgefühl,  das  das  Hören  be- 
gleitete, weil  der  primitive  Mensch  eigentlich  die  Musik  gar 
nicht  in  erster  Linie  hört,  sondern  selbst  macht,  d.  h.,  daß 
das  Hören  etwas  ganz  Sekundäres  ist  und  ein  besonderes 
Publikum  erst  spät  in  der  Entwicklung  auftritt.  „Making 
music",  sagt  Wallaschek  *),  „means  in  the  primitive  world 
performing,  not  listening.  In  the  most  primitive  concerts 
an  audience  does  not  exist,  all  being  performers."  So  er- 
klärt es  sich,  daß  nicht  die  am  nächsten  miteinander  ver- 
wandten, sondern  die  für  den  Erzeuger  am  nächsten 
hegenden  Intervalle  in  der  primitivsten  Musik  dominieren. 
Als  hervorstechende  positive  Eigenschaften  der  primitiven 
Melodien  gibt  Wundt  *)  die  Vorliebe  für  Tonwiederholungen 
und  die  relative  Enge  der  Intervalle  an,  die  im  allgemeinen 
unserer  großen  und  kleinen  Sekunde  und  der  großen  und 
kleinen  Terz  entsprechen.  Dazu  käme  noch  offenbar  sehr 
frühe  die  Oktave.  Trotzdem  braucht  man  auch  in  diesem 
Umstand  keinen  Einfluß  des  sensorischen  Lustgefühls  zu 
sehen,   denn  die  Oktave  ist  leicht  zu  erzeugen  auf  Flöten, 


")  R.  Wallabchek,  On  the  Difference  of  Time  and  Rhytkm  in 
Music.    Mind  1895,  S.  33. 

*)  Wundt,  Völkerpsychologie  II,  S.  445. 

YierteljAhrsflchriftf.  wiMenschsftl.Philos.  u.  Soziol.  XXXII.  2.  14 


210  Bichard  Müller-Freienfels: 

Schabaieien  usw.  und  spricht  auch  als  Flageoletten  leicht 
bei  Saiteninstrumenten  an.  Zudem  erwähnt  auch  Wundt, 
daß  die  Oktave  meist  beim  Zusammensingen  von  Männer- 
und  Frauenstimmen  gehört  wird. 

Wir  können  also  durchaus  annehmen,  daß  die  Entstehung 
der  primitiven  Melodien  weit  mehr  durch  die  in  der  Er- 
zeugung liegenden  Qründe  als  durch  das  Lustgefühl  beim 
Anhören  bedingt  war. 

Noch   ein   anderes  Moment  möchte  ich  zur  Erklärung 
der  Priorität  der  Melodie  vor  der  Harmonie  heranziehen. 
Stumpf  hat  diesen  umstand  an   anderer  Stelle  behandelt, 
rein    negativ,    ohne    ihn    für    unseren    Fall    später   heran- 
zuziehen.    Es  ist  dies  der  umstand,   daß  die  Konsonanz 
sogar    stärker    empfunden    wird    bei    aufeinanderfolgenden 
Tönen  als  bei  gleichzeitigen.    Man  hat  statistische   Unter- 
suchungen hierüber.    So  erfolgten  70  ®/o  richtige  Urteile  bei 
einer  Vergrößerung  der  großen  Terz  um  2,18  Schwingungen, 
wenn  die  Töne  aufeinanderfolgten,   dagegen  erst  bei  einer 
Vergrößerung  um  5   Schwingungen,  wenn  sie  gleichzeitig 
waren.     Ebenso    erfolgten  etwa  90®/o  richtige  Urteile  bei 
einer   Verkleinerung    der   Oktave   um   0,46    Schwingungen, 
wenn   die   Töne  aufeinanderfolgten,   dagegen  ebenso   viele 
erst  bei  einer  Verkleinerung  von  3,1  Schwingungen,  wenn 
sie  gleichzeitig  waren  ^),    Die  Erklärung  hierfür  findet  man 
in  der  allgemeinen  Tatsache,  daß  zwei  Eindrücke,  nicht  nur 
solche  akustischer  Art,   iu  jeder  Hinsicht  sich  besser  mit- 
einander  vergleichen   lassen,    wenn   sie   aufeinanderfolgen 
oder  durch  eine  ganz  kurze  Pause  getrennt  sind,  als  wenn 
sie  gleichzeitig  sind    Wie  man  bei  gleichzeitigen  Eindrücken, 
falls  man  sie  vergleichen  will,  oft  gezwungen  ist,  sie  in  ihrer 
Einwirkung  abwechseln  zu  lassen,  bald  mehr  auf  das  eine, 
bald  mehr  auf  das  andere  die  Aufmerksamkeit  zu  leiten,  so 
ist  auch  offenbar  die  von  unserem  Hirn  zu  leistende  Arbeit 
geringer  beim  Aufeinanderfolgen  von  Tönen  als  beim  Zu- 


1)  Stumpf  a.  a.  O.  S.  55  f.    Tonpsychologie,  Bd.  I,  S.  100,  Bd.  II, 
S.  60—67. 


Zur  Theorie  der  ästhetisclieii  ElementarenclieinuDgen.      211 

Bammenklingen.  Eine  weitere  ErkllUning  dieser  allgemeinen 
Tatsache,  deren  auch  Stumpf  sich  enthält,  bratrcht  hier 
nicht  gegeben  zu  werden.  Es  genügt  festzustellen,  daß  die 
Konsonanz  bei  aufeinanderfolgenden  Tönen  stärker  emp- 
fanden wird,  daß  also  filr  Erzeugung  solcher  Töne  wie  für 
die  Anfi:)ahme  die  Bedingungen  günstiger  lagen.  Dadurch 
wäre  die  raschere  Entwicklung  der  Melodie  zu  erklären  aus 
der  leichteren  Erzeugung  derselben,  auch  in  der  Reproduktion. 
Denn  es  gehört  schon  eine  sehr  entwickelte  musikalische 
Phantasie  dazu,  um  eine  Harmonienfolge  sich  klar  vor- 
zustellen, während  eine  melodische  Reihe  sehr  einfach  vor- 
zustellen ist. 

In  verschiedenster  Hinsicht  also  sind  ökonomische 
Gi'ünde  bestimmend  fftr  die  Richtung  der  Entwicklung  des 
Hannoniegefiihls.  Weil  die  Klänge  und  Töne  leichter  als 
Geräusche  sonor  und  dauernd  zu  erzeugen  und  leichter  zu 
unterscheiden  sind,  werden  sie  bevorzugt  für  die  Hörspiele. 
Nur  mit  den  Tönen  war  eine  feste  Form  zu  bilden  möglich. 
Ökonomische  Ursachen  waren  auch  für  Wahl  und  Aus- 
gestaltung der  Instrumente  bedingend.  Und  die  Be- 
vorzugung fester  Formen  von  Tonskalen  und  Melodien  vor 
willkürlichen  Tonfolgen  hat  ebenfalls  in  solchen  ökonomischen 
Ursachen  ihre  Erklärung  zu  suchen.  Auch  die  Bevorzugung 
von  Konsonanzen  vor  den  Dissonanzen  suchten  wir  auf 
ökonomische  Ursachen  zurückzuführen,  ohne  jedoch  eine 
bestimmte  Theorie  für  die  physiologische  Basierung  an- 
zunehmen. Denn  die  SiUMPFsche  Lehre  von  den  spezifischen 
Synergien  ist  nur  eine  Hypothese,  die  zwar  sehr  wohl  in 
unserem  Sinne  auszudeuten  und  zu  benutzen  ist,  die  jedoch 
durch  die  physiologische  Spezialforschung  erst  des  ge- 
naueren fundiert  werden  muß.  Endlich  auch  für  die 
Priorität  der  Konsonanz  von  sich  folgenden  Tönen  vor  der 
simultanen  Konsonanz  fand  sich  eine  Erklärung  in  der 
größeren  Leichtigkeit  der  Auffassung.  —  Die  Konsonanz  als 
solche  ist  eine  von  allem  Subjektiven  loslösbare  Erscheinung, 
ihre   lustvoUe  Bewertung  durch  die  menschlichen  Organe 

14* 


212  Richard  Moller-Freienfols: 

jedoch  £ndet  Uire  Erklämng  am  besten  durch  das  Prinzip 
der  Ökonomie. 

11.    Obgleich  die  Erklärung  der  Konsonanz  durch  Ver- 
schmelzung heute  die  plausibelste  zu  sein  scheint,  soll  hier 
noch  kurz  eine  andere  Theorie  gestreift  werden,    die  jener 
gegenübersteht.  Auch  wenn  man  sich  der  letzten  anschlieiJen 
sollte ,  würde  unsere   Theorie  ,   daß   die  Verwendung   kon- 
sonierender  Töne   die  ökonomischste  Form  der  Betätigung 
der  Gehörsorgane  ist,  ihre  Geltung  behalten.     Jene  zweite 
Erklärung    der    Konsonanz,     die    ihren    Hauptvertreter    in 
Th.  Lipps  *)  gefunden  hat,  sucht  die  einfacheren  und  weniger 
einfachen  Schwingungsverhältnisse  zwischen  einfachen  Tönen 
zum   Grund   aller  Harmonie  und   Disharmonie  zu  machen. 
Lipps  geht  dabei  von  der  Tatsache  aus,  daß  sehr  tiefe  ein- 
fache Töne  nicht  in  der  Weise  glatt  und  kontinuierlich  ver- 
laufend erscheinen  wie  höhere  Töne  und  höchste,  vielleicht 
sind  wir  uns  bei  ihnen  der  den  einzelnen  Luftischwingungen 
entsprechenden    einzelnen    Tonstöße    mehr    oder    weniger 
deutlich  bewußt.    Dieser  Unterschied  der  einzelnen  Tonstöße 
muß  aber  —  nach  dieser  Theorie  —  für  die  Seele  auch  bei 
den  höheren  Lagen,  wo  wir  kein  Bewußtsein  mehr  haben, 
dennoch  irgendwie  vorhanden  sein.    Denn  da  die  tieferen 
Töne,  bei  denen  der  Unterschied  der  Schwingungen  bis  ins 
Bewußte  hineinragt,  allmählich  in  die  höheren  und  höchsten 
übergehen,   so  muß  sich  der  Unterschied  in  den  durch  die 
Töne  erzeugten  seelischen  Erreß:ungen   zwar  allmählich  in 
minderem  Grade  bemerkbar  machen;  es  ist  aber  nicht  ein- 
zusehen,  wie   er   auf  irgendeinem   Punkte   ganz    aufhören 
sollte,  in  dieselben  hineinzuklingen.    Indem  er  aber  hinein- 
klingt, klingt  auch  der  Rhythmus,  d.  h.  die  langsamere  oder 
schnellere    Art    der    regelmäßigen    Aufeinanderfolge    der 
Schwingungen,   in  die  Seele  und  ihre  Erregungen  hinein. 
Da  nun  der  Nervenreiz  des  Gehörsorganes  durchaus  als  ein 
Wechsel  von  Zuständen  zu  denken  ist,  und  man  femer  an- 


'j  Th.  Lipps,  Psycholog.  Studien,  S.  92  ff.  Vgl.  Hohenkmskb,  Zur 
Theorie  der  Toubeziehuugen.  Zeitschr.  f.  Psyah.  u.  Physiol.  der 
Sinnesorgane,  Bd.  XXVI,  S.  61  ff. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       213 

nehmen  muß ,  daß  der  in  den  Nerven  stattfindende  Be- 
wegungsvorgang oder  Wechsel  von  Zuständen  dem  Wechsel 
von  Zustanden,  aus  dem  die  objektive  Bewegung  besteht, 
zwar  nicht  hinsichtlich  seiner  qualitativen  Besonderheit 
wohl  aber  hinsichtlich  seines  Rhythmus  entspricht,  so 
muß  auch  dieser  Rhythmus  irgendwie  in  der  seelischen  Be- 
wegung, in  welche  die  Nervenreizung  sich  umsetzt,  wieder- 
kehren. Durch  diese  Rhythmen  nun  will  diese  Theorie 
Harmonie  und  Disharmonie  erklären.  Wie  es  beim  ge- 
wöhnlichen, bewußten  Rhythmus  viel  mehr  Anstrengung  er- 
fordert, auf  einen  komplizierten  Rhythmus  mit  Bewegungen 
zu  reagieren,  so  ist  das,  wie  Lipps  annimmt,  auch  für  die 
unbewußten  Rhythmen  der  Fall.  Es  müssen  sich  die 
Rhythmen  der  seelischen  Erregungen,  die  den  bewußten 
Tonempfindungen  zugrunde  liegen,  gegenseitig  sich  unter- 
stützen, wenn  sie  in  einfacher  Weise  sich  ineinander  ein- 
ordnen und  sich  hemmen,  wenn  sie  verschieden  sind  und 
sich  durchkreuzen.  An  diese  Zusammenklänge  heften  sich 
dann  Lust  und  Unlust. 

So  ist  die  Anschauung  von  Lipps.  Wenn  wir  diese  mit 
unserer  auf  das  Ökonomieprinzip  begründeten  Theorie  über 
das  Lustgefühl  an  der  Konsonanz  in  Beziehung  setzen 
wollen,  so  würden  wir  sagen,  daß  die  komplizierteren  dieser 
von  Lipps  angenommenen  unbewußten  Rhythmen  eine  bei 
sonst  gleicher  Intensität  der  Empfindung  viel  größere 
Inanspruchnahme  der  Nerven  bedingen  als  regelmäßige 
Rhythmen,  daß  also  darum  die  konsonierenden  Klänge  dem 
Nervensystem  bedeutend  adäquater  sind,  da  sie  bei  ge- 
rmgerem  Kräfteverbrauch  eine  größere  Summe  von  Erleben 
vermitteln  und  darum  von  Lustgefühlen  begleitet  sind, 
während,  je  unregelmäßiger  der  Rhythmus  würde,  die  An- 
strengung der  Nerven  wüchse  und  damit  ein  Unlustgefühl 
erregt  würde. 

Immerhin  jedoch  ist  die  Annahme  solcher  Rhythmen 
sehr  hypothetisch  Und  die  Verschmelzungstheorie  bedeutend 
vorzuziehen. 


214  Richard  Müller-Freieafels: 

11.  Es  mögen  auoh  ein  paar  Worte  im  Anschluß  hieran  üher 
den  Gefühlswert   der  Melodie  gesagt  werden.     Ich  glaube,   daß  die 
unmittelbare  Wirkung   auf  das   Gefühl  fast  allein  vom 
Rhythmus  und  den  Intensitätswirkun^en   ausgeht,   daß 
beinahe  alle  Wirkungen,  die  von  den  qualitativen  Änderungen  der  Töne 
auf  das  Gefühl  ausgehen,  assoziiert  sind.  ..Man  hat  oft  darauf  hin- 
gewiesen, daß  man  dieselbe  Tonf  ol^e  durch  Änderung  des  Tempos  aus 
einer  tieftraurigen  in  eine  sonnenheitere  übermütige  Weise  verwandeln 
kann.    Bei  einem  so  konsequenten  Vertreter  dramatischer  Musik  wie 
bei  Gluck,  der  behauptete,  jeder  Melodie  käme  ein  ganz  bestimmter^ 
nicht  übertragbarer  Ausdruck  zu,  hat  man  elf  Stücke  ausfindig  ge- 
macht, deren  Melodie  in  früheren  Opern  desselben  Künstlers  ganz 
anderen    Worten    unterlegt    war.      Die    Grundmelodie     des    hoch-, 
tragischen  Chores  „0  malheureuse  Iphig^nie**  findet  sich  in  der  Oper 
„Glemenza  di  Tito*^  mit  dem  Texte  emes  JJiebesliedes.    Dieselbe  Musik, 
welche  in  der  „Iphigenie  en  Tauride*'  zur  Trauerklage  des  Orest  er- 
klingt, dient  dem  Ausdruck  freudiger  Begrüßung  in  der  „Iphigenie 
in  Aulis" '). 

£s  soll  hier  nicht  in  die  Einzelheiten  des  Streites  um  den  ,, Inhalt^ 
der  Musik  hineingeführt  werden.  Es  soll  nur  eine  Theorie  kurz 
skizziert  werden,  die  zu  erklären  vermöchte,  wie  die  Assoziationen 
zustande  kommen.  Assoziativ  ist  es  ja  bereits,  wenn  im  allgemeinen 
die  hohen  Töne  als  heiter  und  hell,  die  tieferen  als  ernst  und  dunkel 
bewertet  werden.  Assoziationen  von  Kinderstimmen  im  Vergleich 
zu  ernsten  Männerstimmen  mö^en  hier  mitwirken.  Auch  das  iNoten- 
bild  mit  seinen  auf  und  absteigenden  Formen  mag  hier  mitgewirkt 
haben.  Wenigstens  habe  ich  an  mir  solche  optischen  Assoziationen 
sehr  stark  beobachtet. 

Für  die  Assoziationen  von  g^ewissen  Gefühlswerten  jedoch  an 
bestimmte  Tonfolgen  möchte  ich  eme  Theorie  heranziehen,  die  so  wie 
sie  ursprünglich  gemeint  war,  wohl  kaum  aufrecht  erhalten  werden 
kann,  die  jedoch  in  dieser  beschränkten  Anwendung  sehr  wohl  zur 
Geltung  gebracht  zu  werden  vermag.    Ich  meine  die  Theorie  Herbert 
Spencers  über  den  Ursprung  der  Musik.    Nach  Spencer  soll  sich  auch 
die   ganze   absolute   Musik  aus   dem  rezitativischen   Sprechen ,   dem 
Steigen   und   Fallen  der  Stimme .  in   der  erregten  Rede  entwickelt 
haben.    Ich  glaube  kaum,  daß  diese  Lehre  viel  Anhänger  hat,  und 
es  scheint  bedeutend  wahrscheinlicher,  daß  sich  die  M^odie  einfach 
aus  der  Freude  am  Variieren  der  Tonhöhe  entwickelt  hat,  wie  wir 
das  schon  bei  Tieren  beobachten  können,  die  gar  keine  Sprache  haben. 
Anderseits,  und  darauf  wollen  wir  hinaus,  kann  das  rezitativische 
Sprechen  sehr  wohl  zur  späteren  assoziativen  Ausdeutung  der  Melodien 
geführt  haben.    Die  auf  ganz  anderem  Wege  entstandenen  Melodien 
erinnerten  den  Hörer  durch  das  Steigen  und  Fallen  an  parallele  Vor- 
gänge beim  erregten  Sprechen  und  führten  so  zur  Ausdeutung  der 
Tonreihen.    So  kann  man  jener  Theorie  immerhin  eine,  wenn  auch 
sehr  beschränkte  und  vage,  Anwendung  sichern'). 

Noch   ein   anderer    Grund    assoziativer   Ausdeutung  reiner   In- 
strumentalmelodien   mag   kurz   berührt   werden.     Wenn   man  eine 


')  Ch.  Beauquiee,  La  musique  et  le  Drame  (nach  Kostlin,  Die  Ton- 
kunst, S.  256). 

^)  Auch  bei  Karl  Groos  finde  ich  übrigens  schon  diese  An- 
schauung. 


Zur  Theone  der  ästhetisohen  Elem^itarersdieinuiigen.       215 

Melodie  ^wohnt  ist,  mit  gewiflsen  Worten  und  damit  mit  einem 
gmnz  beetunmten  Gefühlsgehalt  zu  assoziieren,  so  wird  diese  Stimmung 
auf  eine  Melodie  übersehen,  die  an  jene  erinnert ,  ohne  daß  ihr  die- 
selbtti  Worte  oder  fibeniaupt  ein  Text  untergelegt  ist.  Solche  G 1  e  i  ch  > 
zeitigkeitsassoziationen  waren  es  besonders  bei  den  Griechen, 
die  diese  dazu  führten,  ffanz  bestimmte  Stimmungen  mit  ihren  Ton- 
arten zu  verbinden.  In  der  modernen  Musik  überwiegen  dagegen  die 
Ähnlichkeitsassoziationen. 

loh  habe  oft  an  mir  die  Beobachtung  gemacht,  daß  sich  mir 
beim  Spielen  von  Kammermusikwerken,  ohne  daß  ich  mir  während 
des  Bpieiens  ganz  klar  wurde  darüber,  ganz  bestimmte  Worte  den 
Melodien  unterschoben,  welche  dann  den  Stimmungsg^ehalt  der  wort- 
losen Kammermusik  ganz  in  ihrem  Sinne  für  mich  beeinflußten.  Teils 
waren  diese  Worte  Bruchstücke  von  Liedern,  die  im  Bhythmus  oder 
der  Melodieführung  eine  gewisse  Ähnlichkeit  hatten  mit  dfer  gespielten 
Musik,  oft  aber  stellten  sich  mir  diese  Worte  auch  ein,  ohne  daß  ich 
mich  einer  solchen  ähnlichen  Melodie  entsinnen  konnte,  und  bloß 
durch  die  ähnliche  Stimmführung  beim  erregten  Sprechen  mögen  sie 
sich  untergeschoben  haben,  und  es  würde  diese  JBeobachtung  eine 
lUustration  zu  der  oben  aufgestellten  Theorie  sein,  um  eine  solche 
Steigerung  zu  rezitatiyischer  Melodie  handelt  es  sich  übrigens  doch 
zuweilen  m  der  modernen  Musik,  wenn  ich  auch  glaube,  daß  eine 
Melodie  sich  innerlich  zuerst  gebildet  hat,  und  daß  erst  nachher  meist 
die  Anpassung  an  Worte  stattfindet,  womit  ich  sagen  will,  daß  allein 
der  Tonfall  des  gesprochenen  Wortes  nie  zur  wirklichen  Melodie 
führen  würde,  sondern  daß  eine  spezifisch  musikalische  Vorstellung 
doch  das  Überwiegende  auch  in  solchen  Schöpfungen  ist.  Ich  er- 
innere z.  B.  an  BEKTHorKN,  Quartett  op.  135,  wo  der  letzte  Satz  „Der 
schwergefaßte  Entschluß*^  überschrieben  ist,  und  dann  die  Haupt- 
motive des  Satzes,  die  später  rein  instrumental  verarbeitet  werden 
mit  untergelegtem  Texte  vorausgestellt  sind. 

(xramt,  Mlegro. 


Muß  es   sein  ?  Es  muß  sein !  Es  muß  sein. 

Auch  sonst  bei  Beefhoven  kann  man  beobachten,  daß  eine  solche 
Annäherung  von  Wort  und  Melodie  stattfindet.  Und  während  früher 
im  allgemeinen  die  Lieder  Melodien  mit  beliebig  unterlegtem  Texte 
waren,  ist  bereits  von  Gluck,  besonders  aber  von  Bicuabd  Waonee  die 
Forderung  vertreten  worden,  die  Worte  mit  einer  an  Gefühlswert 
ihnen  parallelen  Melodie  zu  versehen.  Trotzdem  handelt  es  sich  in 
Wirklichkeit  nur  um  einen  auf  entfernter  Analogie  beruhenden 
Parallelismus,  der  meist  mehr  durch  rhythmische  Ähnlichkeiten  und 
solche  der  Intensität  erzeugt  wird,  nicht  um  eine  wirkliche  innere 
Verwandtschaft,  denn  die  Melodie  unterliegt  ihren  eigenen  durch  die 
Konsonanz  bedingten  Formen. 

Selbst  die  Bewertung  der  Dur  ton  arten  als  der  harten,  starken, 
freudigen,  gegenüber  den  Molltonarten  als  den  weichen,  milden, 
traurigen  dürfte  allein  auf  solche  Assoziationen  zurückzuführen  sein. 
Viele  Keisende  haben  berichtet ,  daß  die  nicht  europäischen  Völker 
g;erade  zu  ihren  traurigsten  Texten  Durmelodien  sinken,  und  daß  sie 
m  ausgelassener  und  freudiger  Stimmung  gerade  in  Moll  musizieren. 


216  {EichArd  Müller-Freienfels: 

Und  es  sind  mir  auch  noch  heutzutage  unter  uns  Individuen  bekannt, 
die  gerade  Dur  als  das  Traurige,  Schwermütige  gegenüber  dem  Moll 
als  dem  Heiteren  empfinden  wollen.  Jedenfalls  hat  die  Assoziation 
auch  diese  scharfe  Trennung  zuwege  gebracht.  Da  wir  jgewöbnt  sind, 
zu  ernsten  Texten  meist  Molltonarten,  Dur  aber  mehr  bei  frohen  Ge- 
legenheiten verwandt  zu  hören,  wie  bei  den  Griechen  die  Anwendung 
ihrer  Tonarten  noch  genauer  spezialisiert  war,  so  hat  sich  dieser  ihnen 
beigelegte  Charakter  für  uns  unzertrennlich  mit  den  Melodien  ver- 
bunden. Auch  die  l^heorie  ist  von  Einfluß  gewesen,  die  Oberhaupt 
viel  derartige  Assoziationen  zustande  gebracht  hat.  und  von  der 
wahrscheinlich  überhaupt  die  erste  Unterscheidung  des  Gefühlswertung 
für  Dur  und  Moll  herrührt.  Früher  schrieb  man  ja  auch  den  einzelnen 
Tonarten  bestimmte  Gefühlsephären  zu.  Auch  das  dürfte  nur  auf 
Assoziation  beruhen,  wie  jetzt  die  allgemeine  Annahme  zu  sein  scheint. 
Denn  man  hat  nachgewiesen,  daß  dieses  Beurteilen  der  Tonarten  sehr 
viel  mit  der  Klangfarbe  zusammenhängt,  ähnlich  wie  dieses  Be- 
stimmen der  absoluten  Tonhöhe  selbst  an  bestimmte  Arten  von 
Instrumenten  geknüpft  ist  'X  während  es  bei  anderen  dagejcen  versagt, 
so  daß  manche  Leute  beim  Klavier  angeben  können,  um  welchen 
Ton  es  sich  handelt,  die  bei  einem  gesungenen  Tone  es  nicht  können. 
Überhaupt  ist  es  viel  leichter,  die  absolute  Tonhöhe  zu  bestimmen, 
je  komplizierter  der  Klang  ist,  es  geht  sicherer  bei  Akkorden  als  bei 
Einzeltönen.  Man  ersieht  hieraus,  von  wie  großem  Einfluß  die 
assoziativen  Nebenwirkungen  sind. 

III.  Die  Elementarformen  der  bildenden  Kunst. 

1.  Auch  für  die  bildenden  Künste,  für  Malerei, 
Skulptur,  Ornamentik,  läßt  sich  erweisen,  daß  die  Richtung 
ihrer  Entwicklung  durch  ökonomische  Ursachen 
bestimmt  ist.  Fast  noch  schärfer  als  bei  Rhythmus  und 
Harmonie  gilt  es  hier  die  Bedingungen  für  die  Ent- 
wicklung zu  trennen  einmal  in  solche,  die  durch  die  Her- 
stellung, das  Material,  die  manelle  Technik  gegeben 
waren,  und  zweitens  in  solche  Gründe,  die  im  ge- 
nießenden und  aufnehmenden  Subjekte  zu  suchen 
sind.  Auch  hier  sind  die  in  der  Herstellung  und  der  Technik 
liegenden  Gründe  die  primären,  die  rein  sensorischen  haben 
sich,  wenn  man  auch  für  sie  teilweise  eine  durch  die 
organische  Veranlagung  gegebene  Vorbereitung  anerkennen 
muß,  doch  erst  im  Anschluß  an  jene  ersten  entwickelt. 
Denn  das  ästhetische  Gefiihl  hat  sich  erst  durch  die  Kunst 
herausgebildet;  die  Kunst  ist  nicht  etwa  in  der  Absicht  ge- 


*)   Vgl.  A.  Wallaschek,    Psychologie  und   Pathologie   der  Vor- 
steUung,  ö.  2*24  ff. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       217 

^schaffen  worden,  einem  angeborenen  ästhetischen  Triebe  zu 
genügen,  sondern  für  die  zum  Teil  aus  ganz  anderen  als 
rein  ästhetischen  Gründen  entstandene  Kunst  bildete  sich 
eine  spezielle  Form  des  Lustgefühles  heraus,  die  wir  eben 
heute  ästhetisch  nennen.  So  hat  sich  auch  die  ästhetische 
Freude  an  der  Natur  erst  durch  die  Kunst  herausgebildet, 
welche  ganz  neue  Wertungen  einführte,  die  von  den 
praktischen  vollkommen  abwichen.  Das  Lustgefühl  an  Sym- 
metrie, rhythmischer  Anordnung  der  Formen,  bestinamten 
Proportionen  ist  hauptsächlich  erst  durch  die  Kunst  ge- 
schaffen worden.  Selbst  für  den  scheinbar  primitivsten 
ästhetischen  Genuß,  die  Freude  am  menschlichen  Körper, 
hat  das  seine  Geltimg.  Auch  hier  ist  das  ästhetische  Lust- 
gefühl an  harmonischer  Form  der  Gesichtszüge,  Eben- 
maß usw.  als  Produkt  der  Kunst  anzusehen;  der  primitive 
Mensch  schätzt  ganz  andere  Dinge  am  Weibe;  z.  B.  die 
Reize,  die  auf  ihn  wirken,  sind  bedeutend  materiellerer 
Natur,  und  die  Büdung  der  Züge  usw.  spielt  kaum  eine 
Rolle  für  ihn,  sondern  er  zieht  Größe,  massive  Bildung  der 
Gliedmaßen  usw.  bei  weitem  vor. 

2.  Auf  die  nun  herantretende  Frage  nach  dem  Ur- 
sprung der  bildenden  Künste  kann  hier  keine  er- 
schöpfende Antwort  versucht  werden,  schon  darum  nicht, 
weü  die  Wurzeln  zu  mannigfache  sind,  um  kurz  erledigt 
zu  werden.  Der  schöne  Wahn,  daß  es  einen  eiazigen  Haupt- 
schlüssel für  alle  die  verschiedenen  Probleme  der  Art  gäbe, 
ist  für  die  Kunstwissenschaft  lange  dahin. 

In  der  Hauptsache  läßt  sich  sagen,  die  bildnerische 
Darstellung  hat  zwei  Hauptwurzeln,  einmal  technisch- 
praktische  Bedürfnisse,  worunter  hier  auch  die 
religiösen  Motive  eingerechnet  werden,  und  zweitens  rein 
ästhetische,  d.  h.  solche  Bedürfnisse,  die  keinen  äußeren 
Zweck  im  Auge  hatten,  sondern  nur  inneren  Zuständen  des 
Individuums  entspringen,  reine  Freude  am  Darstellen  sind. 
Es  ist  oft  sehr  schwer,  wenn  nicht  unmöglich,  dem  end- 
gültigen Produkte  anzusehen,  ob  es  der  ersten  oder  zweiten 
Rubrik  zuzuordnen  ist,  ob  seine  Herstellung  aus  praktischen 


218  Bicbard  Müller-Freienfels: 

Absichten  geschah,   oder  ob  sein  Erzeiager  aus  bloßer  Lnst^ 
am   Bilden  imd  G-estalten  es  angef»:tigt  hat.     Wenn  wir 
auch  geneigt  sein  mögen,  als  Kunst  im  str^igen  Sinne  des 
"Wortes  nur  die  zweite  Gattung  gelten  zu  lassen,  so  erweist 
es  sich  doch  oft,   daß   die  beiden  Arten  sich  kreuzen,   daß 
sie    vereinigt    sind    an    demselben    Objekte,    daß    an    der 
Schaffung   manches   Gegenstandes   sowohl    praktische    Be- 
dürfnisse als  auch  die  bloße  Freude  aon  Gestalten  mitgewirkt 
haben.    Wir  werden  also  im  folgenden  gar  nicht  versuchen 
eine  genauere   Scheidung   zwischen   Technik  und    „eigent- 
licher   Kunst"     durchzuführen,     sondern    das     überlieferte 
Material  der  bildenden  Tätigkeit  des  Menschen   ohne  ein- 
gehendere Spekulation  über  den  jeweiligen  Ursprung  be- 
trachten.   Dabei  kann  jene  andere  Theorie,  die  alle  Kunst 
aus  Bewerbungsvorgängen  ableiten  will,  ohne  weiteres  bei- 
seite gelassen  werden,  da  gerade  für  die  bildende  Kunst  es 
am  allerschlechtesten  mit  ihr  bestellt  ist^). 

Die  fünf  von  WüNDT  *)  aufgestellten  Formen  der  bildenden 
Kunst  lassen  sich  alle  aus  den  beiden  angegeb^ien  Motiven 
ableiten*,  nur  treten  diese  in  verschiedener  Stärke  und  in 
verschiedener  Entwicklung,  aber  immer  fast  miteinander  ver- 
bunden auf.  WüNDT  unterscheidet  zunächst  die  Augen- 
blickskunst,  deren  Schöpfiingen  auf  keinerlei  Dauer 
rechnen,  und  welche  teils  einem  praktischen  Bedürfnisse, 
teils  einem  Triebe  zu  spielender  Betätigung  entspringen. 
Solche  Kunstgebüde  sind  flüchtig  in  den  Sand  gezeichnete 
oder  in  Baumrinden  geritzte  oder  durch  Zusammenlegen 
von  Steinen  oder  Zweigen  gebildete  Formen.  Hieraus  ent- 
wickelt sich  dann,  wenn  auch  sehr  allmählich,  die  Stufe  der 
Erinnerungskunst,  die  Denkmäler  auch  für  die  ferne 
Zukunft  schaffen  will,  sei  es,  daß  ein  Sieg  oder  sonst  ein 
gewaltiges  Ereignis  der  Nachwelt  überliefert  werden  soll, 
sei  es,  daß  mythologische  Vorstellungen  zur  Schaffung  von 


0  Vgl.  besondeni  Gboos,  Die  Anfänge  der  Kunst  und  die  Theorie 
Darwins,  ein  Vortrag.  Sonderabdruck  aus  den  heaa.  Blättern  für 
Volkskunde,  Bd.  III,  S.  273. 

2)  WuNDT,  Völkerpsychologie,  Bd.  II,  S.  98  ff. 


Zur  Theorie  der  fiBthedschen  Elementarerscheinungen.       219 

Idolen  treiben.  Daneben  aber  entwickelt  sich  eine  besondere 
Zierknnst,  worunter  Wükdt  alle  diejenigen  Betätigungen 
der  Phantasie  versteht,  die  aus  dem  Streben  nach  Schmuck 
hervorgegaDgen  sind.  Irgendein  Objekt,  der  menschliche 
Körper,  ein  Werkzeug  oder  Ge^  Verlockt  zu  einer  Um- 
formung, durch  die  irgendein  Gefühl  der  Bewunderung,  des 
Schreckens  oder  ein  ähnliches  im  anderen  erzeugt  werden 
solL  Eine  weitere  Stufe  würde  dann  die  Nachahmungs- 
kunst  bedeuten,  wo  der  Künstler  unmittelbar  nach  einem 
Modell  arbeitet,  während  die  Eriunerungskunst  nur  aus  dem 
Gedächtnis  schöpfte.  Treten  aber  die  subjektiven  Ideen, 
die  der  Künstler  seinem  Gegenstande  entnimmt  und  weiter 
entwickelt,  stärker  hervor,  tritt  das  Streben  nach  mögUchst 
treuer  Kopierung  des  Modells  zurück  gegen  den  Ausdruck 
innerer  Zustände  des  Schaffenden,  ist  die  Nachahmung  nur 
Mittel,  nicht  Zweck,  so  haben  wir  die  letzte  Stufe,  die  der 
Idealknnst.  Überall  aber  haben  wir  hier  jene  beiden 
von  uns  angedeuteten  Hauptmotive  für  das  Kunstschaffen, 
nur  daß  auf  den  niederen  Stufen  das  praktische  Interesse 
überwiegt,  während  zuletzt  in  der  Idealkunst  wir  es  fast 
allein  mit  dem  Ausdruck  seelischer  Dispositionen  zu  tun  haben. 

3.  Aber  wir  wollen  hier  überhaupt  nicht  von  dem  Ur- 
sprung der  Kunst  im  allgemeinen  sprechen,  sondern  was  wir 
suchen,  ist  eine  Theorie  für  den  Ursprung  der  fast  universell 
verbreiteten  Elementarformen,  die  in  der  bildenden 
Kunst  Verwendung  finden.  Wir  lassen  darum  die  Frage 
nach  dem  Ursprung  der  kunstschöpferischen  Neigungen  des 
Menschen  bei  den  gegebenen  kurzen  Andeutungen  ihr  Be- 
wenden haben  und  gehen  zu  der  Frage  über :  Wie  büdeten 
sich  die  ersten  Kunstformen  heraus? 

Es  sind  hauptsächlich  zwei  Antworten,  die  man  auf 
diese  Weise  gegeben  hat,  und  die  sich  schroff  gegenüber- 
stehen^).    Die  einen   behaupten,   alle  primitive  Kunst  sei 


')  Vgl-  2-  ^'  CoNZE ,  ober  den  Ursprung  der  bildenden  Kunst. 
Sitzungsberichte  der  preuß.  Akad.  der  Wissenschaften,  1,  1897.  Kieol, 
Stilfra^en,  Grundle^ngen  zu  einer  Gesch.  der  Ornamentik.  Hörnes, 
Urgeschichte  der  bTldenden  Kunst  in  Europa. 


220  Eichard  Müller-rreienf eis: 

naturalistisch;  Nachahmung  bestimmter  Natur- 
formen sei  das  einzige  Motiv  des  künstlerischen  Schaffens, 
und  alles,  was  an  Formen  sich  gefunden  habe,  wo  sich  diese 
Nachahmung  nicht  erkennen  lasse,  sei  doch  auch  im  letzten 
Grimde  nur  stilisierte  Nachahmung  gegebener  Formen.    Eine 
andere  Ansicht  geht  dahin,  daß  der  Anfang  aller  Bildkunst 
in  der  Herstellung  ge'v^isser  einfacher  „geometrischer" 
Figuren   zu   suchen   sei.    Die  früher  beliebte  spekulative 
Erklärung  freilich,   dies   habe   seinen  Grund  in   einem  an- 
geborenen Vergnügen  an  abstrakten,  einfachen  Formen,  hat 
man   fallen    lassen   und    durch   eine   realistischere    ersetzt. 
Diese  im   Anschluß    an    Gr.   Sebiper  vorgetragene    Meinung 
sucht    den    Grund    für    die   Entstehung  jener    einfachsten 
Formen  in  der  Technik  und  im  Material.    Durch  Bekritzeln 
und  Beschmieren  leerer  Flächen,   durch  das  Erproben  der 
verschiedenen  Härtegrade   zweier   Materialien   hätten    sich 
solche  einfachen  Linien  herausgebildet.     So  faßt  Grosse  M 
den  geometrischen  Stil   der  australischen  Figuren   als  das 
natürliche  Ergebnis  ihrer  Ritztechnik.    Er  weist  darauf  hin, 
daß  gerade  bei  den  eingeritzton  Mustern   der  geometrische 
Charakter  hervortritt,  während  die  aufgemalten  Figuren  sich 
durch   eine  weit  freiere   Behandlung  und  vor  allem  durch 
ihre  leicht  und  sicher  gezogenen  Kurven  unterscheiden. 

4.  Im  Grunde  nun  glaube  ich  nicht,  daß  diese  beiden 
verschiedenen  Antworten  auf  unsere  Frage  sich  ausschließen. 
Sie  lassen  sich  sehr  wohl  zusammenbiegen,  und  das  Prinzip, 
das  ihnen  beiden  gemeinsam  ist,  ist  das  des  kleinsten  Kraft- 
maßes. Nur  kommt  dieses  auf  zwei  verschiedenen  Gebieten 
zur  Geltung.  Bei  der  Nachahmung  natürlicher  Formen  ist 
es  die  aufgewandte  psychische  Tätigkeit,  die  nach  Möglich- 
keit erspart  wird.  Man  gab  sich  gar  keine  Mühe,  neue 
Formen  zu  erfinden,  man  nahm  einfach  die  in  der  Be- 
obachtung gegebenen.  Es  war  die  weitaus  bequemste  Form 
der  geistigen  Tätigkeit,  daß  man  einfach  nachzeichnete  und 
nachmalte,  was  man  vor  Augen  hatte.    Es  war  viel  müh- 

')  Grosse  a.  a.  O.  S.  152. 


Zur  Theorie  der  ästhetiscben  Elementarerscheinuugen.        221 

sanier,  neue  Formen  zu  erfinden,  und  warum  auch?  Die 
Mar  von  der  überreichen  Phantasie  des  primitiven  Menschen 
hat  schon  Hebbert  Spencer  in  den  Prinzipien  der  Soziologie 
gründlich  -widerlegt.  Und  jeder  Mensch  kann  sich  durch 
einen  einfachen  Versuch  überzeugen,  wieviel  schwerer  es 
ist,  z.  B.  eine  Burg  aus  freier  Phantasie  zu  zeichnen  als 
nach  einer  Vorlage  oder  selbst  bloß,  indem  man  sich  ein 
bestimmtes  Vorbild  klar  ins  Gedächtnis  ruft. 

Bei  der  zweiten  Art,  den  geometrischen  Formen,  handelt 
es  sich  weniger  um  eine  Ersparnis  von  Phantasietätigkeit, 
sondern  nm  eine  Ersparnis  von  rein  handwerklicher  ^ 
Bemühung.  Wenn  man  irgendeine  steinerne  Fläche  durch 
Ritzen  zu  schmücken  hatte,  so  war  es  weit  bequemer,  das 
in  einfachen,  geraden  Linien  zu  tun,  als  in  kunstvoll  ge- 
schwungenen Ornamenten. 

Einmal  also  war  für  die  Konzeption  die  Nach- 
ahmung der  Natur  die  bequemste  Art,  ander- 
seits war  für  die  technische  Ausführung  be- 
sonders bei  gewissen  harten  Materialien  die 
^geometrische"  Ausführung  die  nächstliegende. 
In  den  weitaus  meisten  Fällen  aber  wirkte  wohl  beides, 
Nachahmung  als  bequemste  Form  der  Auffassung  und 
Vereinfachung  der  Linien  als  bequemste  Form  der  Her- 
stellung, zusammen.  Die  Kunst  wie  wir  sie  besonders  auf 
früheren  Stufen  finden,  ist  eine  Resultante  aus  beiden.  Die 
stilisierte  Naturdarstellung  ist  eine  Kompromiß- 
form aus  der  naturalistischen  Nachahmung  und 
der  einfachsten  Herstellung.  Daß  später  die  stili- 
sierten Formen  einen  Selbstwert  bekommen,  hat  seinen 
Grund  darin,  daß  man  eben  die  gegebenen  Kunstformen  oft 
genauer  studierte  als  die  in  der  Natur  gegebenen  Vorbilder. 
Manche  Stilisierungen  werden  konventionell,  sie  erhalten 
besondere  Wertungen  als  solche. 

Je  nachdem  das  naturalistische  oder  das  stilisierende 
Element  überwiegt,  scheiden  wir  in  freie  Bildnerei  und 
Ornamentik,  Wo  auch  immer  die  Ornamentik  auftritt,  steht 
sie  in  engster  Verbindung  mit  industrieller  Tätigkeit.    Die 


222  Richard  MülUr-Freienfels: 

ersten  Formen  der  Ornamentik  sind  einfache,  durch  die 
Technik  beeinflußte  lineare  Motive.  „Aber  es  scheint,  daß 
ihnen  in  der  weiteren  Entwicklung  noch  ein  besonderer 
Sinn  beigelegt  wurde.  Das  noch  nicht  kunstgeübte  Auge 
des  Naturmenschen  sah  in  diesen  Formen  Abbilder  von 
Naturdingen  und  anderen  Q-egenständen  der  Wirklichkeit. 
So  schuf  es  sich  konventionelle  Zeichen,  welche  als  Fabriks-, 
Eigentümer-  oder  Stammesmarken  oder  auch  bloß  um  ihrer 
selbst  willen  —  durch  den  Lustwert  der  Erinnerung  an  die 
piktographisch  dargestellten  Gegenstände  —  Geltung  be- 
saßen« 1). 

Wir  hätten  also  wohl  eine  zweiseitige  Annäherung 
des  Naturalismus  und  des  „geometrischen  Stiles *"  anzunehmen. 
Einmal,  indem  die  naturalistischen  Formen  vereinfacht  und 
schematisiert  wurden,   dann  aber  auch,  indem  in  die  rein 
aus  technischer  Spielerei  entstandenen  primitivsten  Linien- 
formen Umrisse  von   Tieren  und  Menschen  hineingesehen 
und  bewußt  herausmodelliert  wurden.    Der  Bildsinn  wurde 
in  diese  reinen  Linienspiele   oft  erst  später  hineingetragen 
und   die  Linien  danach  modifiziert.     Es  genügen  für  den 
anspruchslosen  Menschen  sehr   wenige  Andeutungen,    nur 
ein  paar  Linien,   um  darin  ein  ganzes  Gemälde  zu  sehen. 
Am  besten  zeigt  das   die  Kunst  der  Kinder,   die   nur  ein 
paar  charakteristische,  oft  bloß  symbolische  Züge  gibt  und 
doch    befriedigt    ist    von    der   Darstellung.     Man    braucht 
darin  nicht  eine  überreiche,    „unverdorbene"  Phantasie  zu 
erblicken  und  traurig  darum  zu  seufzen,   daß  diese  dem 
Kulturmenschen  später  verloren  ginge,  es  ist  oft  das  direkte 
Gegenteil,  eine  große  Anspruchslosigkeit,   eine  Ungenauig- 
keit  des  Sehens. 

Der  Geschmack  an  einer  mehr  naturalistischen  oder 
einer  mehr  stilisierenden  Kunst  wechselt  mit  den  Zeit- 
läuften. Heutzutage  treten  auch  spekulative  Einflüsse 
immer  hinzu. 

Die  Kunst  der  primitiven  Völker  ist,   soweit  sie  nicht 


>)  HöRNEs  a.  a.  0.  S.  26. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elemeutarerscheinungen.       223 

ganz  onLamental  ist,  streng  naturalistisch.  Natürlich  setzt 
ein  solcher  Naturalismus,  wie  wir  ihn  an  kilnstlerischen 
(Gebilden  aus  prähistorischer  Zeit  oder  in  Australien  haben, 
eine  laaige  Ausbüdtmg  der  Technik  voratis,  und  wahrhaft 
primitive  Kunst  haben  wir  nirgends.  Es  ist  durchaus  nicht 
ang&ngig,  die  Kunst  der  Wilden  mit  der  Kunst  der  Kinder 
auf  eine  Stufe  zu  stellen.  Die  Kunst  der  Jägervölker  usw. 
ist  durchaus  nicht  traditionslos,  und  sie  strebt  durchaus 
naturalistische  Wiedergabe  an,  was,  wie  Grosse  gut  dar- 
gelegt hat,  durch  die  scharfe  Ausbildung  der  Sinne  und  die 
manuelle  Geschicklichkeit  dieser  Nomaden  sehr  erleichtert 
wird, 

5.  Nachdem  so  die  beiden  Hauptwnrzeln  der  bildenden 
Kunst,  erstens  die  naturalistische  Nachbildimg  von  Natur- 
formen, zweitens  die  Technik  und  die  Materialbehandlung 
ganz  allgemein  aufgezeigt  sind,  sollen  noch  einige  speziellere 
Bemerkungen  zu  jeder  von  beiden  gegeben  werden. 

Es  seien  zuerst  noch  einige  Worte  übet  die  Nach- 
ahmung  gesagt.  Manche  Ästhetiker  haben  für  die  Er- 
klärung des  Ursprungs  der  Kunst  einen  imaginären  „Nach- 
ahmungstrieb" herangezogen.  Psychologisch  gesprochen 
existiert  ein  solcher  ebensowenig,  wie  es  etwa  einen  be- 
sonderen Spieltrieb  gibt.  Man  mag  diesen  Ausdruck  höchstens 
aus  Bequemlichkeitsgründen  zuweilen  verwenden.  Es  sind 
einfach  unsere  gewöhnlichen  Triebe,  die  nach  Tätigkeit  ver- 
langen, und  zwar,  wenn  ein  äußerer  wirklicher  Zweck  fehlt, 
nach  einem  künstlichen,  eingebildeten. 

In  dem  Begriffe  „Nachahmung"  werden  zwei  ganz  ver- 
schiedene Dinge  zusammengeworfen,  die  eigentlich  wesent- 
Uch  verschieden  sind. 

Da  ist  einmal  die  unmittelbare,  direkte  Nach- 
ahmung, die  ohne  Hilfe  des  Verstandes  vor  sich  geht. 
Diese  kommt  so  zustande,  daß  man  eine  Bewegung,  einen 
Laut  usw.  wahminmit,  und  die  Bewegungsvorstellung,  die 
ja  immer  eine  Bewegung  im  Zustande  der  Entstehung  ist,  so 
stark  im  Gehirn  wird,  daß  sie  die  damit  koordinierte  Muskel- 
tätigkeit ohne  weiteres  auslöst.    So  kommt  die  Nachahmung 


224  Eichard  MüUer-Freienfels: 

bei  den  Affen,  bei  Kindern  und  primitiven  Menschen  zu- 
stande; darin  liegt  auch  der  Grund  für  die  ansteckende 
Wirkung  des  Lachens,  des  Gähnens  usw.  Diese  direkte 
spontane  Nachahmung  kommt  in  der  bildenden  Kunst  nicht 
in  Betracht. 

Die  zweite  Art  der  Nachahmung  ist  di^  reflektierte 
Nachahmung,     wobei     der    Verstand     mitwirkt. 
Diese  ist  es,   die  in  der  bildenden  Kunst  hervortritt.     Hier 
ist   die  Nachahmung  nur  eine  Form,   die  der  „Spieltrieb- 
annimmt.     Der    Tätigkeitstrieb    der   Seele    übernimmt    die 
in   der  Natur  usw.  gegebenen  Formen,   um  sich  darin  aus- 
zuleben.   Dieser  Spieltrieb  in  seiner  speziellen   imitativen 
Form  ist  die  Ursache  der  naturalistischen  Bildknnst.    Aber 
auch  jeder  andere   Trieb,   der  zum   Darstellen  führte,   ein 
praktisches  Bedürfnis  usw.  nahm  die  Form  der  Nachahmung 
an.    Diese   aber  kam  nicht  spontan,  fast  reflektorisch  zu- 
stande, sondern  brauchte  immer  die  Hilfe  des  überlegenden 
Verstandes.    Darum  fehlt  auch  jede  Spur  von  nachahmender 
Kunst   bei    Tieren,    weil    diese    eben    den   unbedingt    not- 
wendigen Intellekt  nicht  hatten. 

Es  würde  also  die  Herleitung  der  Kunst  aus  dem 
„Nachahmungstrieb",  die  man  ofl  der  Theorie  vom  „Spiel- 
trieb" entgegengestellt  hat,  gar  kein  wirklicher  Gegensatz 
sein,  sondern  nur  eine  spezielle  Form  dieser  anderen  Lehre, 
die  freilich  nur  fiir  einen  engen  Bereich  Gültigkeit  hat. 
Denn  auf  manche  Zweige  der  Kunst,  wie  z.  B.  die  Architektur, 
ist  sie  gar  nicht  verwendbar. 

Daß  aber  eine  imitative  Form  und  nicht  eine  frei- 
schöpferische  so  allgemein  zur  Entwicklung  gelangte,  da^s 
hat  eben  ökonomische  Ursachen,  und  darauf  kommt  es 
hier  an. 

6.  Von  diesem  Umstände  aus  läßt  sich  auch  noch  eine 
andere  Tatsache  erklären,  die  jetzt  ziemlich  festzustehen 
scheint,  nämlich,  daß  historisch  überall  die  Plastik  der 
Malerei  vorauszugehen  pflegte.  In  der  Materialbehandlung 
kann  der  Grund  für  diese  Tatsache  nicht  gesucht  werden, 
denn  daraus  müßte  man  eher  auf  das  Gegenteil  schließen. 


Zur  Theorie  der  Asthetischeii  Elem^itaTersclieinimgen.       225 

Dns  erscheint  dem  oberfiäichliclien  Beobachter  die  drei- 
dimensionaLe  Darstellnng,  das  Schnitzen  in  Holz,  das  Eneten 
in  Ton  viel  eher  als  eine  schwierigere  Tätigkeit  als  das 
Zeichnen  oder  Malen.  Der  Vorzug  der  Leichtigkeit  in  der 
Herstellung  für  den  primitiven  Menschen  bei  der  Plastik 
liegt  aber  gar  nicht  auf  manuellem  Gebiete,  sondern  auf* 
dem  geistii^n.  Die  Malerei  setzte  eine  Projektion  der  drei- 
dimensionalen Objekte  auf  eine  Ebene  voraus,  und  diese 
erforderte  eine  ziemlich  bedeutende  psychische  Arbeit. 
Wenn  naan  bedenkt,  wie  lange  Zeit  es  gebraucht  hat,  bi 
die  perspektivische  Zeichnung  sich  entwickelt  hat,  ja  daß 
die  Perspektive  bei  einem  so  hochbegabten  Volke  wie  bei 
den  Japanern  noch  heute  unvollkommen  ist,  dann  läßt  sich 
das  etwa  berechnen.  Dazu  kommt,  daß  für  den  Beschauer 
die  Skulptur  viel  leichter  zu  erfassen  ist  als  die  perspektive- 
lose Zeichnung.  Denn  die  Zeichnung  und  Malerei  des  ganzen 
Mittelalters  gab,  wie  Wölfflin  ^)  bemerkt,  nur  Anweisungen 
auf  die  Dinge  und  ihr  Verhältnis  im  Baume, 
aber  sie  wollte  sich  durchaus  nicht  mit  der  Natur  ver- 
gleichen. Auf  einer  Fläche  die  räumliche  Wirklichkeit  all- 
seitig zu  reproduzieren,  schien  eine  Unmöglichkeit.  Wir, 
deren  Aug^n  von  klein  auf  durch  perspektivische  Bilder 
geschult  sind,  können  uns  unmittelbar  überhaupt  keine 
Vorstellungen  von  den  Schwierigkeiten  machen,  welche  die 
Projektion  auf  die  zweidimensionale  Ebene  erforderte. 

7.  Die  möglichste  Ökonomie  der  Tätigkeit  in  der  Her- 
stellung von  Kunstwerken  war  jedoch  bereits  vorgebildet 
in  den  zur  Nachahmung  gelangenden  Natur- 
formen. Denn  auch  in  der  äußeren  Natur  herrscht  das 
Sparsamkeitsprinzip,  wenn  sich  auch  nicht  überall  genau  nach- 
weisen laßt,  in  welcher  Art  es  durchgedrungen  ist.  So  ist 
zum  Beispiel  die  regelmäßige  Form  der  Bienenzellen  nach 
BO(»K£R^)  dadurch  entstanden,  daß  die  Bienen  danach 
strebten,  „möglichst  viele  Zellen  bei  möglichst  viel  Wachs-, 


^)  WüLiVLiN,  Die  klassische  Kunst,  S.  9. 

*)  YgL  BOcHNER,  Aus  dem  Geisteeleben  der  Tiere. 

yierteljahrsflchriftf.wisseDSohaftl.  Philos.  u.Soziol.  XXXII.  2.  15 


226  Richard  Müller-Freienfels:   ^ 

Raum-  und  Arbeitserspamis"  zu  erzielen.  Die  Annahme 
von  V.  Graber  freilich,  daß  die  Zellen  ursprünglich 
zyhndrische  Form  gezeigt  und  nur  durch  Aneinanderdrängung 
von  selbst  jene  regelmäßige  prismatische  Gestalt  erhalten 
hätten,  scheint  nur  Hypothese  zu  sein. 

Wie  das  im  einzelnen  alles  zu  begründen  ist,  gehört 
nicht  hierher.  Uns  interessiert  allein  die  Tatsache,  daß 
eine  möglichst  ökonomische  Art  der  Kunsttätigkeit  bereits 
in  den  zur  Nachahmung  kommenden  Formen  der  Tier-  und 
Pflanzenwelt  vorgebildet  war.  Das  zeigt  sich  besonders  in 
den  für  die  Ornamentik  in  Betracht  kommenden  Formen, 
so  daß  hier  bei  deren  einfachsten  Elementen,  den  sym- 
metrischen und  rhythmischen  Gebilden,  ein  infolge  der 
Nachahmung  geringer  Aufwand  psychischer  Tätigkeit  der 
größeren  Leichtigkeit  der  Technik  entgegenkam. 

8.   Aber  nicht  nur  in  der  freien  Bildnerei,  auch  in  der 
Ornamentik  spielt,   wie  schon  kurz  berührt,   die  Nach- 
ahmung von  Natur-  speziell  von  Tierformen  die  Hauptrolle. 
Für  die  Frage,  wie  der  Mensch  in  fast  allen  Zonen  und  Zeiten 
dazu  kam,  leere  Flächen  mit  Figuren  und  Ornamenten  zu 
bedecken,  hat  man  zuweüen  eine  Abneigung  gegen  größere, 
leere   Flächen   angenommen.     Neuerdings   sucht  man  auch 
diese  Art   des   „horror  vacui"   lächerlich  zu  machen«     Ich 
meine,  daß  man  zu  weit  damit  geht ;  etwas  Wahres  ist  schon 
daran.    Man  darf  nur  vor  allem  keine  angeborene  Abneigung 
gegen  leere  Flächen  annehmen.    Anders  jedoch  stellt  sich 
die  Angelegenheit,    wenn   man   auch   hier  jeden  Flächen- 
schmuck als   Nachahmung  zu  verstehen  sucht.    In  der 
Tat   sieht  der  primitive  Mensch  in  der  Natur  sehr  wenig 
ganz  leere  Flächen.   Die  meisten  Tiere  haben  eine  Zeichnung 
und  Farben  auf  der  Haut.    Auch  die  Pflanzenblätter  haben 
ihre  Rippen.    In  erster  Linie  kommen  jedoch  die  Tiere  in 
Betracht,   die  fiir  Jägervölker  das  größte  Interesse  hatten. 
Und  es  ist  sehr  wahrscheiidich ,   daß    sich  die  primitiven 
Zeichnungen  meist  auf  Nachahmung  von  Tierfellen,  Schlangen- 
häuten  usw.  zurückfahren  lassen.    Nachahmung  wäre  auch 
die  Anbringung  von  Mustern  auf  solchen  Töpfen,   die  mit 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       227 

freier  Hand  gebildet  sind.  Denn  diese  Muster  sind  angen- 
fölige  Nachah nrnngen  vor  Flechtwerken,  was  sich  daraus 
erklärt,  daß  die  Töpferei  bedeutend  jünger  ist  als  die  Textil- 
arbeit,  und  daß  der  Topf,  der  die  Stelle  des  geflochtenen 
Korbes  einnahm,  auch  in  der  Musterung  dem  Korbe  möglichst 
ähnlich  gemacht  wurde  ^). 

So  ließe  sich  auch  die  Ornamentik  zum 
großen  Teile  als  Nachahmung  und  damit  eben- 
falls als  eine  wenigstens  in  der  Form  durch 
ökonomische  Tatsachen  bedingte  Tätigkeit  auf- 
fassen, da  wie  wir  oben  gezeigt  haben,  die 
Nachahmung  in  psychischer  Hinsicht  die  öko- 
nomiscliste  Form  der  Tätigkeit  ist. 

9.  Es  bleibt  nun  noch  übrig,  auch  für  die  speziellen 
Elementarformen     der    bildenden    Künste,    wie 
Symmetrie  und   rhythmische   Anordnung,   nach- 
zuweisen,  daß   sie   diejenigen  Formen   sind,    die   den   ge- 
ringsten Aufwand  an  geistiger  und  manueller  Tätigkeit  er- 
fordern.    Die  Symmetrie  an  den  künstlerischen  wie  den 
praktischen   Gebilden  braucht  sich  durchaus  nicht  immer 
aus    der   Freude    des   Beschauers    an    dieser  Form  zu  er- 
klären, sie  hatte  vielmehr  ihre  Hauptursache  in  rein  äußeren 
Gründen.     Werkzeuge,   Messer,   Speere,   die  symmetrisch 
gebildet    waren,    erwiesen    sich    als    brauchbarer    als    un- 
symmetrische.    Ein  Hammer   oder   ein  Beil,  die  von  einer 
Mittelache    aus    genau    gleich    schwer    auf   beiden    Seiten 
waren,  mußten  sich  sicherer  handhaben  lassen  als  ungleich- 
mäßig gebildete  Din^  derselben  Art.    Mit  Jeinem  Speer,  der 
nicht  ganz  symmetrisch  war,  ließ  sich  weit  weniger  sicher 
zielen   als   mit  einem  ganz  symmetrischen.    Überhaupt  ist 
das   Gleichgewicht  vielfach   als   die  Ursache  der  Sym- 
metrie, auch  schon  bei  den  Naturformen,  anzusehen.    Zelte, 
Häuser,   Bauwerke  jeder  Art,   bei   denen  Gleichgewicht  in 
Betracht  kam,  die  man  aus  praktischen  Gründen  so  bauen 
mußte,  gaben  dem  Beschauer  einen  synmietrischen  Anblick. 


>)  Gbosse  a.  a.  0.  S.  136  ff. 

15 


228  Bichard  Maller-FreienfeU: 

Symmetriscli  ist  auch  der  Mensch  selber  gebaut  ebenso 
wie  die  meisten  Tiere^  ja  för  den  naiven  Menschen  mußte 
auch  die  Form  der  meisten  Baume,  der  Tannen,  Zypressen^ 
Palmen  usw.  durchaus  symmetrisch  wirken. 

Dazu  kommt,   dafi  wir  infolge    der  Gewohnheit    alles 
nach  dem  Gleichgewichte  beurteilen.    Ein  schief  stehender 
Turm  erregt  uns  ein  Unbehagen,  weU  uns  die  Assozdation  des 
UmfallenwoUens  immer  dabei  erregt  wira.    Ja,  dieses  Gefühl 
des  Gleichgewichtes  übertragen  wir  als   ein  Postulat  auch 
auf  gemahTDiBge.    Auch^  dem  Bude  erregt  ein  schief 
stehender  Turm  unser  Mißbehagen,   obwohl  er  nicht  faUen 
kann.    Überhaupt  verbindet  sich  für  uns  leicht  der  Begriff 
des  Unvollkommenen  mit  dem  des  Unsymmetrischen,  weil 
wir  gewohnt  sind,  daß  die  meisten  Dinge,  die  wir  sehen,  sym- 
metrisch gebüdet  sind,  undUnsymmetrie  in  den  meistenFäUen 
als  ein  Mangel,  eine  Schwäche  wirkt.    Außerdem  beurteilen 
wir  ganz  xmbewußt  alle  Gegenstände   der  Außenwelt  nach 
Analogie  unseres  eigenen  Körpers  und  „leihen **  ihnen  unsere 
eigenen  Empfindungen  und  Gefühle  und  so  auch  in  unserem 
Falle   das  Unlustgefühl  bei  mangelhaftem  Gleichgewicht. 

Nicht  unbedingt  zwingend,  wenigstens  nur  in  einer  ganz 
geringen  Minderzahl  von  Fällen  anwendbar  scheint  mir  das 
aktive  Element  fär  die  Symmetrieerzeugung,  das  Grant 
Allen  ^)  aufstellt.  Dieses  soll  auf  „the  rhythm  and  re- 
currence  of  organic  movements^  beruhen,  womit  er  meinte 
daß  die  symmetrische  Anlage  unserer  Organe  die  Herstellung 
von  symmetrischen  Gegenständen  bedinge.  Die  Beispiele^ 
die  Grant  Allen  nun  anführt,  um  seine  Theorie  zu  illustrieren^ 
sind  teils  mühsam  zusammengesucht,  teils  stimmen  sie  über- 
haupt nicht.  Beim  Gehen,  sagte  er,  lassen  unsere  Füße 
symmetrische  Spuren,  was  nicht  richtig  ist,  denn  wir  machen 
offenbar  mit  dem  einen  Beine  größere  Schritte,  so  daß  wir, 
wenn  wir  inuner  geradeaus  zu  gehen  glauben,  im  Kreise 
herumgehen,    wenn  wir   ohne   sonstige  Orientierung   sind. 


')  Granf  Allen,  The  origin  of  the  Sense  of  Symmetrie.    Mind 
1879.    S.  305  f. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elemestarerscheinungeii.       229 

Anch  das,  was  er  über  den  Bau  der  Hütten  bei  den  Eskimos 
sagt,  dürfte  nicht  zutreffen.  Aus  dem  Bau  unseres  Körpers 
dürfen  wir  nicht  die  symmetrischen  Schöpftmgen  ableiten, 
denn  unser  Körper  ist  doch  nur  fiirs  Auge  symmetrisch, 
motorisch  ist  er  durchaus  unsymmetrisch;  wir  sind  ent- 
weder Rechtshänder  oder  Linkshänder,  und  ebenso  verhält  es 
sich  mit  den  anderen  Organen.  Wollte  man  hieraus  Schlüsse 
ziehen,  so  müßte  man  gerade  auf  die  Asymmetrie  des 
Schaffens  kommen.  Es  ist  also  nichts  mit  dem  „aktiven'' 
Element  Grant  Allens;  das,  was  er  das  „passive"  nennt, 
«due  to  the  constant  Observation  of  Symmetrie  in  extemal 
nature"  ist  dasselbe  wie  das,  was  wir  mit  der  Nachahmung 
erklärten.  Leichtigkeit  der  Herstellung  ist  sicher  vielfach 
ein  Grund  für  die  symmetrische  Form  gewesen,  doch  hat 
man  die  Ersparnis  an  Krafb  hauptsächlich  auf  intellektuellem 
Gebiete,  nicht  auf  motorischem  zu  suchen. 

10.  Neben  der  Symmetrie  tritt  besonders  die  rhyth- 
mische Anordnung  der  Ornamente  bei  den  primitiven 
Völkern  hervor.  Auch  diese  rhythmische  Anordnung  ist 
in  erster  Linie  durch  die  Technik  bedingt  zu  denken, 
dann  aber  auch  vielfach  als  Nachahmung  der  von  der 
Natur  gegebenen  Formen  aufzufassen.  Jedenfalls  ist 
es  nicht  nötig,  ein  angeborenes  ästhetisches  Gefühl  dafür 
anzunehmen.  Auch  sollte  man  die  Analogie  dieses  räum- 
lichen Rhythmus  mit  dem  zeitlichen,  wie  wir  ihn  in  Musik 
und  Poesie  hatten,  nicht  allzu  weit  treiben. 

Für  die  technische  Entstehung  regelmäßig  sich  wieder- 
holender einfachster  Motive,  wie  Linien,  Kreise,  Punkte, 
kommt  vor  allem  die  Flachtechnik  in  Betracht*).  Man 
ahmte  wohl  nur  aus  Gewohnheit  und  rein  mechanisch  diese 
Motive  nach,  und  aus  der  Gewohnheit  bildete  sich  erst  die 
ästhetische  Wertung  heraus,  ein  Vorgang,  der  psychologisch 
durchaus  begreiflich  ist. 

Aber  auch  die  in  der  Natur  gegebenen  Vorbilder  gaben 
Modelle   her  für  rhythmische  Gliederung.     Schlangenhäute 


»)  Vgl.  Grosse  a.  a.  0.  S.  145. 


230  Richard  Müller-Freienfels: 

mit  ihren  Zickzacklinien,  aucli  sonst  die  Häute  von  Eidechsen 
und  vielen  anderen  Tieren  boten  solche  Motive.  Daneben 
fehlten  auch  in  der  pflanzlichen  Welt  derartige  Vorbilder 
nicht,  wenn  auch  die  primitive  Ornamentik  im  sillgemeinen 
mehr  die  tierischen  Vorbilder  bevorzugt.  Doch  mußte  ein 
Bambusstab  mit  seiner  rhjrthmisch-gleichmäßigen  Gliederung 
sehr  leicht  dazu  führen,  ähnliches  an  einem  anderen  Stabe 
anzudeuten,  und  ebenso  können  die  Zeichnungen  auf  den 
Schilden  bei  primitiven  Völkern  oft  an  die  Rippen  von 
Blättern  erümem.  Ich  kann  daher  Grosses  einseitiger  Ab- 
leitung der  rhythmischen  Motive  aus  der  Technik  nicht 
unbedingt  beistimmen. 

Dennoch  ist  es  in   der  Hauptsache  so:    Nicht  nur  die 
Nachahmung  technischer  Motive,  auch  die  Technik  selber 
mußte  dazu  führen.    Es  war  weitaus  das  bequemste  Mittel, 
eine  Fläche  mit  Ornamenten  zu  bedecken,   daß  man  das- 
selbe  Motiv  einfach  wiederholte.     „Päs   Unvermögen,   ein 
einzelnes  Sinnbild  der  Größe  des  zu  dekorierenden  Objektes 
anzupassen  (Mangel  an  Kompositionstalent)   führt   ebenfalls 
zur  Vermehrung   der   Elemente   und   damit  zur   Schaffung 
einer  neuen  Kunstweise"  ^).    Da  nun  diese  so  entstandenen 
Stilformen  gewisse  Vorzüge  fiir   die  Auffassung  durch  den 
Beschauer,  was  später  zu  betrachten  sein  wird,  besaßen,  so 
erhob  man  solche   erst  imbewußt   und   nur   aus   Not   ent- 
standenen   Formen    zum   Prinzip,    ein   Vorgang,    den   die 
psychologische  Ästhetik  ja  oft  konstatieren  kann. 

Alle  Stilisierung  geht  im  letzten  Grunde  auf  Ver- 
einfachung aus.  WüNDT^)  konstatiert  nun  einen  doppelten 
Weg  der  Stilisierung  bei  den  Herstellungsmotiven;  einmal 
kann  die  Stilisierung  dadurch  entstehen,  daß  man  irreguläre 
Formen  durch  freies  Hinzufügen  neuer  Elemente  zu  regel- 
mäßigen ergänzt  und  umgestaltet,  anderseits  kann  die 
Stilisierung  auch  durch  Weglassen  solcher  Elemente  er- 
folgen,  welche    den  Eindruck  der  Regelmäßigkeit   stören. 


^)  HöRNEs  a.  a.  0.  S.  26. 

«)  WüNDT,  Völkerpsychologie,  Bd.  II,  S.  178. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  Elementarerscheinungen.       231 

So  werden  auch  Tiergestalten  und  Pflanzenformen  im  Laufe 
der  Zeit  ganz  umgeformt,  man  bringt  überall  Synmietrie 
und  regelmäßige  Wiederkehr  der  Formen  an.  Die  ethno- 
logischen Werke  führen  dafür  eine  Menge  höchst  illustrativen 
Materiales  heran;  so  ist  z.  B.  das  Alligatormotiv,  das 
WüNDT*)  den  Studien  von  Holmes  über  die  alte  Kunst  der 
Provinz  von  Chiriqui  entnimmt,  ungemein  illustrativ.  Überall 
aber  m.aclit  sich  auch  hier  das  Streben  nach  möglichster 
Vereinfacliung  geltend,  zunächst  der  Herstellung;  es  greift 
aber  natürlich  ungemein  unterstützend  noch  ein,  daß  auch 
für  die  Rezeption  dasselbe  eine  Vereinheitlichung  bedeutet, 
was  es  für  die  Produktion  war. 

11.   Es  ist  unschwer  zu  erkennen,  daß  viele  der  Gründe, 
die  für  die  Herstellung  der  Kunstwerke  eine  Ersparnis  von 
psychischer  Tätigkeit  bedeuteten,  auch  für  die  Auffassung 
als  erleichternde  Umstände  in  Betracht  kommen.    Jede  Art 
von  Gleichmäßigkeit  und  Wiederholung  gehört  hierher.   Wie 
es   eine   geringere   Inanspruchnahme   psychischer   Tätigkeit 
erfordert,   eine  Fläche  mit  gleichmäßigen  Figuren   zu  be- 
decken, so  erfaßt  das  Auge  und  der  Verstand  des  Beschauers 
ebenso    eine    solche    mit  weit  geringerer  Anstrengung  als 
eüie  Fläche,  die  mit  einem  regellosen  Qe  wirre  von  Figuren 
bedeckt  ist.    Auch  ein  beträchtlicher  Teil  der  Lustwirkung, 
die  eine  sjmmietrisohe  Darstellung  erweckt,   läßt  sich  wohl 
hieraus   ableiten,   obwohl  bei  der  Symmetrie  noch  andere, 
im  organischen  Bau  der  betreffenden  Organe  liegende  Ur- 
sachen mitspielen.    Man  hat  in  der  Tätigkeit  der  Augen- 
bewegung den  Grund  för  die  Lustempfindung  gesucht,   die 
gewisse  Linienformen   in  uns   erregen.     Wir  können  auch 
diese  Theorien  heranziehen  und  sie  durch  die  ökonomische 
Erklärung  noch  weiter  fundieren,  obwohl  man  nach  unserer 
Ansicht  doch  nicht   allzu  großen  Wert  auf  diese  Tätigkeit 
der  Muskeln  legen  darf,  sondern  vielmehr  in  der  Erleichterung 
der  Gehirntätigkeit  die  eigentliche  Ursache  der  Lust- 
wirkung sehen  muß,  die  die  Kunst  in  uns  auslöst. 


1)  WuNDT,  ebenda,  S.  187.    Holmes  in  Ethnol.  Report,  Washington, 
VI,  S.  173  ff. 


232  Richard  Müller-Freienfels: 

Daß  das  Lustgefühl  beim  Verfolgen  der  sogenannten 
schönen  Linien  auf  einer  bequemen  Tätigkeit  der  Augen- 
muskeln beruht,  ist  von  vielen  Autoren  vertreten  worden*). 
Aber  abgesehen  davon,  daß  dieses  Verfolgen,  dieses  Nach- 
fahren der  Linien  mit  den  Blicken  gar  nicht  immer  der  Fall 
ist,  sondern  meist  nur  bei  größeren  Objekten,  wäre  das 
dadurch  erzielte  Lustgefühl  doch  zu  schwachen  Grrades,  um 
damit  allein  das  Wohlgefallen  an  den  betreffenden  Linien 
zu  erklären.  Noch  problematischer  erscheint  mir  der  Versuch 
SüLLYs^),  die  Rhythmik  in  der  Augenbewegung  als  Grund 
fiir  das  Wohlgefallen  an  Linien  anzunehmen  und  so  das 
zeitliche  Rhythmusgefühl  in  die  bildende  Kunst  einzuführen. 

Wie  groß  oder  wie  klein  jedoch  man  auch  diese 
motorischen  Elemente  für  den  Kunstgenuß  einschätzen  mag, 
sie  scheinen  mir  doch  in  der  Hauptsache  nur  negativ  in 
Betracht  zu  kommen,  was  besagen  will ,  daß  sie,  wenn  sie 
hemmend  und  störend  wirken,  sie  als  Unlustfaktoren  in 
Betracht  kommen,  während  das  positive  Lustgefühl,  was  sie 
zu  liefern  vermögen,  doch  wohl  ziemlich  gering  ist. 

Das  Lustgefühl  wird  in  der  Hauptsache  durch  eine 
harmonische  und  wohltuende  Betätigung  der  intellek- 
tuellen Zentren  erzeugt  Dieser  Ansicht  ist  auch 
G.  M.  Stratton'),  der  in  „Economy  of  attention**  die 
HauptqueUe  der  Freude  an  schönen  Linien  sieht.  Er 
schreibt:  „This  feeling  of  intellectual  grasp  is  distinctly 
satisfactory  the  more  so  in  these  case  since  there  is  the 
feeling,  that  the  comprehension  is  easy.  For  the  attention 
ist  less  taxed  by  regulär  lines,  including  straight  ones***). 
Noch  deutlicher  wird  diese  Bedeutung  des  intellektuellen 
Faktors,  wenn  man  den  negativen  Fall  sich  vorstellt  und 
sich  die  starke  Unlust  vergegenwärtigt,   die  ein  sinnloses 


')  Unter  anderen  vgl.  G»ant  Allen,  Physiological  Aesthetics, 
S.  168  f.  Saxtyaxa,  The  Sense  of  Beauty,  S.  90.  In  Deutschland  be- 
sonders von  R.  ViscuER,  Über  das  optische  Formgefühl. 

'')  J.  SiTLLY,  Pleasure  of  Visual  Torms,  S.  186  f.    Mind  1880. 

')  G.  M.  Stkatton,  Eye  Movements  and  the  Aesthetics  of  Visual 
Fonns.    Phil.  Studien,  Bd.  20,  S.  336  ff. 

*)  A.  a.  0.  S.  357. 


Zur  Theorie  der  ästhetischen  ElementarerscheinuDgen.       233 

Gewirre  von  Linieii  in  dem  Beschauer  zu  erwecken  pflegt, 
oder  auch  eine  unübersichtliche  Architektur  und  ähnliches. 

Daß  in  einer  möglichsten  Erleichterung  der  Auffassung 
fiir  den  BescKauer  das  Hauptaugenmerk  des  Künstlers  zu 
liegen  hat,  das  läSt  sich  auch  als  einer  der  Grundgedanken 
eines  kleinen  Werkes  ansehen,  das  für  die  Kunsttheorie  wie 
kaum  ein  z'weites  in  unserer  Zeit  epochemachend  gewirkt 
hat,  nämlicli  Adolf  Hildebrand,  „Problem  der  Form  in  der 
bildenden  Kunst".  Alles  was  hier  als  ^Architektonisches" 
dem  „Imitativen"  in  der  Kunst  entgegengesetzt  ist,  dient  ja 
nur  der  Vereinheitlichung  und  möglichsten  Vereinfachung 
zugunsten  der  aufnehmenden  Tätigkeit  des  Beschauers. 
,Die  künstlerische  Darstellung  formt  sich  als  eine  Er- 
scheinung, die  als  lesbarste  erkannt  wurde  und  die  den 
raumliclien  Inhalt  zu  diesem  Zwecke  anordnet"  ^), 

Damit  hätten  wir  in  der  Ersparnis  von  Kraft  auch  eine 
Erklärung  für  jenes  in  der  Ästhetik  so  stark  in  den  Vorder- 
grund gestellte  Prinzip  von  der  Einheit  in  der  Mannig- 
faltigkeit, In  der  Tat  findet  dieses  nur  darin  eine  psycho- 
logische Begründung,  daß  es  nämlich  die  Aufnahme  von 
Eindrücken  ganz  außerordentlich  erleichtert,  daß  durch  die  in 
den  mannigfaltigen  Eindrücken  vorhandene  Einheit  eine  große 
Menge  von  optischen  Erlebnissen  bei  einem  verhältnismäßig 
geringen  Aufwand  von  sonstiger  psychischer  Tätigkeit 
möglich  wird.  Nur  indem  man  es  als  ein  ökonomisches 
Prinzip  auffaßt,  lassen  sich  die  in  ihm  zusammengefaßten 
Tatsachen  psychologisch  erklären.  Es  würde  damit  also  ein 
Licht  fallen  auf  die  vielen  Erscheinungen,  die  man  bisher 
durch  das  recht  vage  Prinzip  von  der  Einheit  in  der  Mannig- 
faltigkeit zu  erklären  gesucht  hat.  Ich  halte  diese  Fassung 
des  Prinzipes  nicht  für  sehr  glücklich,  da  sie  den  Grund 
für  die  ästhetische  Wirkung  im  Objekte  sucht,  während  er 
in  Wirklichkeit  im  subjektiven  Empfinden  und  Wahr- 
nehmen zu  suchen  ist.  Es  ist  durchaus  nicht  nötig,  daß 
die  Einheit  in   der  Mannigfaltigkeit,   wenn  sie  im  Objekte 


')  HiLDBBRANDT,  Problem  der  Form,  3.  Aufl.,  S.  93. 


234  Richard  Müller-Freienfels: 

liegt,  auch  empfunden  wird.  Es  ist  sogar  häufig  nicht  der 
Fall.  Einheit  ist  immer  etwas  Subjektives.  Es  ist  natürlich 
selbstverständlich,  daß  die  Möglichkeit  zu  einer  solchen 
AujBfassung  im  Objekte  dargeboten  sein  muß ;  für  die  Kunst- 
wirkung  aber  kommt  es  allein  darauf  an,  ob  sie  auch 
empfunden  wird.  Man  täte  also  wohl  besser,  ftir  die  Er- 
klärung der  ästhetischen  Lustgefühle  den  Hauptgrund  im 
Subjektiven  zu  suchen,  nicht  am  Objekte. 

12.    Speziell  für  die  Symmetrie   existiert   noch  eine 
Theorie,  die  hier  nicht  unerwähnt  bleiben  mag,  welche  nach 
einer  im  Bau  der  Organe  liegenden  Ursache  für  jene  Emp- 
findungen sucht  und  sich  sehr  wohl  auch  mit  den  hier  ver- 
tretenen Anschauungen  verträgt.    Sie  rührt  von  Mach  *)  her 
und  findet  sich  in  seiner  „Analyse  der  Empfindungen".   Mach 
nimmt,  wie  bei  Gehörseindrücken  Zeit emp findungen,  so 
bei  optischen  Eindrücken  besondere  Raumempfindungen 
an,  worunter  er  die  durch  Lage,  Richtung,   Maße  usw.  er- 
regten spezifischen  Empfindungen  versteht.    Ohne  auch  hier 
uns  über  die  Verwendbarkeit  des  Terminus  „Empfindung" 
für  diese  Dinge   einzulassen,   gehen  wir  zu  dem  über,  was 
er  im  Anschluß   daran  vorbringt.     Er  nimmt  es   als   sehr 
wahrscheinlich  an,   daß  diese  Raumempfindungen  mit  dem 
motorischen    Apparate    der    Augen    irgendwie    zusammen- 
hängen.   Dieser  nun  ist  in  bezug  auf  die  Medianebene  des 
Kopfes   durchaus   senkrecht   eingerichtet.    Es  würden   also 
mit  symmetrischen  Blickbewegungen  gleiche  Raumempfin- 
dungen verbunden  sein.    Da  mm  der  motorische  Apparat 
der  Augen  nur  in  bezug  auf  die  vertikale  Ebene  symmetrisch, 
in  bezug  auf  die  horizontale  jedoch  unsymmetrisch  ist,   so 
ließe   dies  auch  eine  Erklärung  der  Tatsache  zu,   daß  wir 
nur  eine  Symmetrie  von  nebeneinander  geordneten  Dingen 
empfinden,  daß  die  Symmetrie  jedoch  z.  B.  bei  einer  Land- 
schaft und  ihrem  Spiegelbilde  im  Wasser  nicht  empfunden 
wird. 


')  Mach,  Analyse  der  Empfindungen,  S.  83  ff. 


Zur  Theorie  der  Ästhetischen  Elementarerscheinungen.       235 

Auch  hier  wäre  jedoch  außerdem  noch  die  oben  be- 
sprochene Wirkung  auf  den  Gleichgewichtssinn  zu  bedenken. 
Denn  nur  die  lun  eine  vertikale  Mittellinie  symmetrische 
Figur,  wo  eine  solche  Wirkung  auf  den  Gleichgewichtssion 
stattfindet,  wird  als  symmetrisch  oder  unsymmetrisch  emp- 
funden, während  bei  den  nach  oben  und  unten  korrespon- 
dierenden Formen,  wo  die  Gleichgewichtsempfindung  resp. 
-Vorstellung  wegfallt,  auch  das  Symmetriegefiihl  fortfallt. 

Interessant  ist  auch,  was  Soret^)  von  seinen  in  einem 
Blind  enasyle  gemachten  Beobachtungen  berichtet.  Er  fand 
dort,  daß  die  Blinden  eine  besondere  Vorliebe  für  sym- 
metrische Gegenstände  hatten,  und  bei  allen  Dingen,  sei  es 
dreidimensionalen,  sei  es  reliefförmigen ,  fanden  sie  die 
Symmetrie  heraus.  Mach  erklärt  auch  hier  das  Symmetrie- 
gefnhl  aus  der  symmetrischen  Anlage  des  Tastorgans,  wie 
dort  die  optische  Symmetrie  aus  der  Anlage  der  optischen 
Apparate.  Andere  suchen  das  Wohlgefallen  an  symmetrischen 
Formen  durch  gleichmäßige  Betätigung  der  Augenmuskeln 
zu  erklären.  So  meint  Sullt^),  eine  Bewegmig  der  Augen 
nach  links  erzeuge  einen  Drang  zur  Bewegung  nach  rechts 
und  wieder  zurück.  „Any  chain  of  visible  movements  as 
those  of  a  ballet,  and  any  arrangement  of  lines  will  gratify 
the  eye  in  proportion  to  the  number  of  such  balancing 
actions  of  the  ocular  muscles  which  it  includes." 

Alle  diese  Theorien  gehen  darauf  aus,  dies  Lustgefühl, 
welches  durch  das  Beschauen  symmetrischer  Gegenstände 
erzeugt  wird,  durch  möglichst  gleichmäßige  und  adäquate 
Betätigung  der  beteiligten  Organe  zu  erklären.  Vernon  Lee^) 
und  Armstrüther  Thomsen  suchen  die  optischen  Erlebnisse 
noch  auf  das  motorische  Gebiet  hinüberzuleiten,  ähnlich  wie 
beim  Anhören  von  rhythmischen  Tongebilden  die  motorischen 
Organe  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden.    So  beschreiben 


')  SoRET,  Sur  les  conditions  physiques  de  la  perception  du  beau, 
S.  149  f. 

»)  SüLLY,  Pleasure  of  Visual  Fonns.    Mind  1880,  S.  187. 

')  Vebnom  Lee  and  Armstrüther  Thomson,  Beauty  and  Ugliness. 
Contemporary  Review,  p.  548  ff. 


236  Richard  Müller-Freienfels: 

die  beiden  zitierten  Autoren  die  motorischen  Erlebnisse,  die 
durch  das  Anschauen  eines  Lehrstuhles  hervorgerufen 
wurden:  „Die  Zweiteüigkeit  des  Objektes  schien  beide 
Lungen  in  Tätigkeit  zu  setzen.  Es  war  ein  Gefühl,  als  ob 
beide  Teile  der  Brust  jede  besonders  sich  emporzögen. 
Daneben  kommen  noch  „alterations  of  the  equilibrium" 
bei  verschiedenen  Körperteilen  in  Betracht,  der  Augen,  des 
Kopfes,  des  Thorax  usw.  —  Auch  Stratton  tritt  dieser  An- 
schauung bei  und  zieht  auch  seinerseits  die  „organische 
Reaktion^,  die  durch  die  Formen  der  bildenden  Kunst  an- 
geregt wurde,  heran. 

Im  allgemeinen  jedoch  reichen  in  der  bildenden  Kunst 
alle  diese  Erklärungen  der  Elementarphänomene  nicht  so  weit 
wie  in  der  Musik  etwa.     Nicht  in  diesen  elementaren  Er- 
scheinungen ist  die   Hauptwirkung  zu  suchen,    sondern  es 
sind ,    viel    stärker    als    es    in    der    Musik    der   Fall    war, 
assoziative  Faktoren,  welche  die  Wirkung  der  bildenden 
Künste   bedingen.     Dort,   wo    die    direkten  Faktoren   fast 
allein  auftreten  wie  in   der   Ornamentik,   ist  die  Wirkung 
ziemlich  schwach,   viel   schwächer  als  in   der  Musik,   und 
selbst  der  Eindruck   eines  gothischen  Domes  würde,  wenn 
man  alle  assoziativen  Elemente  abtrennen  könnte,  ziemlich 
dürftig  sein.    Daher  werden  auch  alle  Versuche   mancher 
neuerer  KunstschriftsteUer ,   welche  bestrebt  sind,    den  Ge- 
nießenden ganz  allein   auf  solche   direkten  Faktoren   hin- 
zuweisen, seien  es  Baiun-,   seien  es  Farbenprobleme,   nicht 
durchdringen.     Wenn    angeblich    diese    Phänomene    allein 
schon  in  die  höchsten  Sphäre  des  Kunstgenießens  empor- 
ziehen, so  spielt  doch  wohl  immer  ein  gut  Teil  Suggestion 
mit.      Besonders    in    Skulptur    und    Malerei    werden    den 
Haupteindruck  doch  immer   die  assoziativen  Elemente 
bedingen  und  wenigstens  für  den  nicht  mit  Ateliergeschmack 
kokettierenden  Laien  jene  direkten  Faktoren  nur  als  ak- 
zessorisch in  Betracht  konmien. 


Hoiterne  GescMchtsphilosopIüe. 

Von  Franz  Oppenheimer,  Groß-Lichterfelde. 

Inhalt. 

UniversAlismas  und  Speziidismus.  —  Biologie  nnd  Soziologie.  —  LAinpreehte 
embTToloeische  ai^  BreysigR  morphologische  liethode.  —  Schneider,  Kultur  und 
Denkttn  wt  alten  Agjpter.  —  Bedenken  gegen  die  Methode.  —  Breyaige  Qeeohiehte 
der  Men»ohlielt.  —  Das  soziologiticbe  Programm.  —  Die  Staatsauffaseung.  —  Brooks- 
Adanks,  Das  Qeseta  der  Zivilisation  und  des  Verfalls,  Darstellung.  —  Die  Kinderfibel 
▼on  der  pre'vious  aecumulation. 

Jahrzehnte   hindurch  haben    diejenigen,    die   von   der 
Wissenschaft  mehr  forderten  als  nur  die  saubere  Heraus- 
arbeitang    von    lauter    Einzelheiten,     die    ungeheure    Zer- 
splitterung  unserer   Gesamtwissenschaft    in    lauter    isoliert 
voneinander  existierende  Atome,    in   lauter   unverbundene 
Spezialitäten  beklagt.    Noch  kürzlich  hat  Rudolf  Burckhardt 
in  seinem  Schriftchen  „Biologie  und  Humanismus"  (Jena  1907) 
die  geschlossene  Weltanschauungseinheit  der  Griechen,  aus 
der  ein  lebendiges  Begreifen  der  Lebenserscheinungen  wie 
die  Blüte  aus  dem  Stamme  sproß,  mit  bewegUcher  und  be- 
rechtigter Klage  dem  jammervoll  zersplitterten  Betriebe  der 
Biologie  von  heute  enigegengesetzt.    Und  wir  wissen  aUe, 
daß  diese  Klage  mit  sicherUch  nicht  minderer  Berechtigung 
wie  gegen  die  Naturwissenschaften  auch  gegen  die  Geistes- 
wissenschaften erhoben  werden  muß.    Auch  hier  klägliche 
Zersplitterung,    ein  banausisch  selbstbegrenztes  Eremiten- 
tum  jedes  einzelnen  Forschers,  der  selbstgefiiUig  und  ohne 
Kenntnis  von  den  Bemühungen  seiner  näheren  und  weiteren 
Nachbarn  im  Zentrum    des  winzigen  Gebietes   wühlt  und 
bohrt,  das  ihm  allein  gehört,  das  niemand  beherrschen  kann 
und   soll  als  er,  und  dessen  Ghrenzen  er  mit  eifersüchtiger 


238  Franz  Oppenheimer: 

Wut  verteidigt.  So  gleicht  die  "Wissenschaft  von  heute 
mehr  einem  Korallenstock :  Millionen  kleinster  Einzelwesen, 
nur  äußerlich  verbunden  durch  ein  starres  Gerüst,  das  sie 
zwar  alle  zusammen  umschließt,  dessen  Zwischenwände  aber 
auch  jedes  von  ihnen  ebenso  starr  abschließen  —  und  sie 
soUte  doch  gleichen  einem  höheren  Organismus,  in  dem  das 
autonome  Individuum  zur  Zelle  geworden  ist,  die  von  dem 
großen  Organismus  lebt,  ihre  Nahrung  und  ihre  Lebens- 
reize erhält  und  dafür  durch  eine  vorwiegend  dem  großen 
Organleben  selbstlos  gewidmete  Arbeit  dankt. 

Daß  dieser  Zustand  besteht,  kann  gar  nicht  bezweifelt 
werden,  daß  er  Jahrzehnte  hindurch  das  äußere  Bild  der 
Gesamtwissenschaft  schwer  entstellt  hat,  ebensowenig ;  aber 
trotz  alledem  ist  es  völlig  falsch,  diesen  Zustand  pessimistisch 
anzuschauen;  denn  ein  nur  wenig  in  die  Tiefe  dringender 
Blick  zeigt,  daß  er  nichts  anderes  ist  als  ein  Übergangs - 
zustand  zu  einer  neuen,  auf  viel  gesicherterem  wissenschaft- 
lichen Grunde  aufgebauter,  ein  unvergleichlich  weiteres 
Giebiet  von  Tatsachen  umspannender  Universalität.  Wer 
den  Spezialismus  beklagt,  vergißt  das  gewaltige  Weltgesetz, 
nach  dem  eine  verstärkte  Diflferenzierung  in  allem  Wachstum 
notwendig  Hand  in  Hand  geht  mit  ihrem  Korrelations- 
begriff, der  wachsenden  Integrierung.  Heute  schon  ist  es 
auf  allen  Gebieten  des  Wissens  zur  beglückenden  Gewiß- 
heit geworden,  daß  das  banausische  Spezialistentum  eine 
neue  Ära  großzügiger  Wissenschaft  vorbereitet  und  bereits 
eingeleitet  hat ;  daß  aus  dem  von  den  Fröhnem  des  Geistes 
im  Schweiße  ihres  Angesichts  vom  Unkraut  gereinigten  und 
gelockerten  Ackerboden  in  neuer  Pracht  und  auf  starkem 
Stamm  die  Victoria  Regia  des  Menschengeistes  wieder  auf- 
blüht, die  Philosophie,  die  Wissenschaft  von  den  Wissen- 
schaften, das  künstlerisch  ausgestaltete  und  gerundete  Welt- 
bild der  neuen  Zeit. 

Wie  kommt  das?  Durch  welche  Kräfte  erzwingt  die 
Differenzierung  die  Integrierung  auch  hier?  Nichts  ein- 
facher als   das.     Gerade   die  Winzigkeit  der  Gebiete,   die 


Moderne  Geschichtsphilosophie.  239 

sich  je  ein  Spezialist  ausgesucht  hat,  ftihrt  mit  Notwendig- 
keit zu   der  Verschmelzung.     Jahre,   Jahrzehnte  hindurch 
mag  er  seine  Bohr-  und  Wühlarbeit  im  Mittelpunkt  des  von 
ihm  erwählten  Feldes  fortsetzen :  schließlich  führt  um  diese 
Arbeit  selbst    doch  an  die  Grenzen  seines  Gebietes.     Hier 
muß  er  mit   dem   nächsten  Nachbar  zusammenstoßen,   und 
schon  der  Grenzkampf,   der  dann  entbrennt,   zwingt  beide, 
das  Einende,  das  Gemeinsame  zu  erkennen  und  zuletzt  an- 
zuerkennen,   daß   es  des   Treimenden  Herr  ist.     Die  Ver- 
schiedenheit,  die  jedes   Sondergebiet  dauernd  fiir  sich  er- 
härtet, muß   sich  im  Falle  solches  Zusammenstoßes  erweisen 
als  Spezialfall  einer  höheren  Gesetzmäßigkeit,  die  beide  Ge- 
biete überspannt.     Will  man   ein  Bild,   so   stelle  man  sich 
vor,    daß    Tausende    von   isolierten    Bergleuten    in    einem 
erzreichen    Gebirge    ihre     Schachte    niedertreiben.     Wenn 
sie  den  Adern  folgen,  so  werden  sie  irgendwo  auf  der  Mark- 
scheide zusammentreffen,  aus  zwei  StoUen  wird  ein  Doppel- 
stollen, aus  einem  Doppelstollen  ein  vierfacher  und  so  fort, 
bis  der  ganze  Berg  ein  einziges  gewaltiges  Werk  geworden 
ist,   dessen  Bau  und  Ordnung  nun  erst  mit  aller  Klarheit 
erkannt    werden  kann,   wenn  jeder   einzelne   der  Knappen 
seine   genaue   Kenntnis   seines   Stückchens   mit  der  ebenso 
genauen  Kenntnis   aller  übrigen  vereint.     So  wird  wissen- 
schaftliches Eremitentum,  verstockte  Eigenbrödlerei,  banau- 
sische Scheuklappenarbeit  unvermerkt  und  fast  wider  Willen 
zum   -vrissenschafüichen   Universalismus.      Und    wenn    den 
Sitzfleischgelehrten  das  Wagnis  großer  zusammenfassender, 
gedankenmächtiger  Beherrschung  womöglich   des  gesamten 
Tatsachenmaterials  gemeinhin   als  Werk  des  üblen  Teufels 
selbst  gut,  so  gilt  Goethes  lächelndes  Wort  erst  recht  von 
ihnen:    „Den   Teufel  spürt  das  Völkchen  nie,  und  wenn  er 
sie  am  Kragen  hätte." 

Was  in  dem  einen  Hauptteil  der  Gesamtwissenschaft, 
der  Naturwissenschaft,  die  Grenzarbeit  auf  den  Gebieten 
zwischen  Physik  und  Chemie,  zwischen  anorganischer  und 
organischer  Chemie,  zwischen  organischer  Chemie  und 
Zellenlehre,  zwischen  Botanik  und  Zoologie,  zwischen  Palär 


240  Franz  Oppenheimer: 


ontologie  und  Geologie,  zwiscben  Geologie  und  Astro- 
nomie usw.  zum  großen  Teil  bereits  geleistet  hat,  so  daß 
sich  hier  schon  deutlich  erkennbar  nach  strengem  Plane 
und  in  ungeheuren  Mafien  der  werdende  prachtvolle  Biesen- 
tempel  der  Biologie  in  seinen  Fundamenten  aufbaut,  das 
hat  auch  im  zweiten  Hauptteil  der  Oesamtwissenschaft,  in 
den  Geisteswissenschaften,  begonnen.  Die  Forschung  auf 
den  Grenzgebieten  zwischen  Wirtschaftswissenschaft  und 
j  Recht,  zwischen  Becht  und  Staats-,   zwischen  Staats-  und 

Geschichtswissenschaft  im  allerweitesten  Sinne  und  hier  die 
Arbeiten    auf   den    Grenzgebieten    zwischen    Völkerkunde, 
Staatengeschichte ,    Rechts- ,    Kunst- ,    Sprach- ,    Religions-, 
Wirtschaftsgeschichte      haben     überall      angefangen,     die 
Fundamente,  wenn  nicht  zu  legen,  so  doch  auszuheben  fär 
den    ebenso    gewaltigen   Bau   der    Soziologie.      Überall 
schießt   es   auch   hier    zusammen:    von   Nachbargebiet    zu 
Nachbargebiet    drückt   gleichsam   die   elektrische    Schwüle 
neuer  Fragestellungen,  neuer  Probleme,  die  über  der  Grenze 
stehen,   und   sprühen  auch  schon  überall  die  entladenden 
elektrischen  Funken   neuer  Antworten.      Und   wenn    auch 
noch  Jahrhunderte  vergehen  müssen,   bis  die  letzte  Kreuz- 
blume  auf  dem   höchsten  Turme  den  letzten  Meißelschlag 
erhalten   hat;    schon   heute   kann   auch  der  Blindeste  die 
große  Einheit  nicht  mehr  bestreiten:   denn  schon  heute  ist 
es  nicht  mehr  entfernt  möglich,   etwa  Geschichte  im  alten 
Sinne    zu    lehren,    ohne    mindestens    das    völkerkundliche 
Material   und   die   Hauptsätze   der  theoretischen   National- 
ökonomie zu  beherrschen.    Und  ebensowenig  ist  heute  die 
Wirtschaftswissenschaft  lembar  und  lehrbar  ohne  Zuhilfe- 
nahme   der   höchsten   Abstraktionen   und   der   wichtigsten 
Tatsachen  der  großen  Nachbaigebiete. 

In  der  Wirtschaftswissenschaft  regt  denn  auch  der  neue 
Universalismus  mächtig  seine  Flügel.  Immer  entschiedener 
kehren  sich  die  jungen  Forscher  von  dem  einseitigen 
ökonomischen  Historismus  ab,  der  ganze  Berge  toten 
Materials  au%ehäuft  hat,  die  niemand  mehr  übersehen  kami, 
und  in  dem  alle  Wissenschaft,  das  heißt  Beherrschung 


Moderne  Geschiohtsphilosoplue.  241 

der  Tatsachen,  zu  ersticken  droht.  Und  immer  kräftiger 
vollzieht  sich  die  Bückkehr  znr  theoretischen  Besinnung 
und  damit  zu  den  lange  verworfenen  Methoden  der  klassischen 
Nationalökonomie.  *  Werner  Sombarts  in  vieler  Beziehung 
großartiges  Werk  „Der  moderne  Kapitalismus"  hat  zum 
wenigsten  den  —  meines  Erachtens  allerdings  miß- 
glückten —  Versuch  gemacht,  denjenigen  Punkt  zu  er- 
reichen, vio  die  ökonomische  Historik  imd  die  MARXsche 
materialistische  Geschichtsauffassung  sich  schneiden,  den 
Punkt,  an  dem  die  Theorie  der  Zukunft  allein  ihre  Stelle 
finden  kann. 

Nicht  minder  regt  es  sich  auf  dem  Gebiete  der  eigent- 
üchen  Historik.  Auch  hier  die  Flucht  aus  dem  immer  mehr 
anschwellenden  Ozean  unbeherrschter  und  unbeherrschbarer 
Tatsachen  zum  festen  Lande  einer  ordnenden  und  be- 
herrschenden Theorie.  Auch  hier  die  Besinnung  auf  das 
Wort:  non  multa  sed  multum! 

Hier  geht  seit  etwa  einem  Jahrzehnt  die  junge  deutsche 
Wissenschaft  an  der  Spitze.  Zwei  hervorragende  Historiker 
streben  nach  dem  hohen  Siegespreise  einer  Geschichts- 
philosophie,  Karl  Lamprecht  und  Kurt  Breysiq.  Jeder  von 
beiden  beansprucht  für  seine  leitenden  Gedanken,  für  sein 
ordnendes  Prinzip  die  Alleinherrschaft.  Will  man  eine 
kurze,  schlagende,  wenn  auch  nur  einigermaßen  treffende 
Bezeichnung  für  den  Gegensatz  der  Methoden  haben,  so 
kann  man  sagen,  daß  Bretsig  morphologisch  und  Lamprkcht 
embryologisch  vorgeht. 

Lamprechts  grundlegender  Gedanke  ist  eine  Wendung 
des  biogenetischen  Grundgesetzes  der  Entwicklungslehre 
ins  Psychologische :  er  nimmt  an,  daß  die  psychische  Ent- 
wicklung der  Menschheit  dieselben  Stufen  durchlaufen  hat,  die 
die  Entwicklimg  der  Kindesseele  uns  abgekürzt  darstellt.  Wie 
im  Biologischen  die  Entwicklung  des  Embryo  in  ungeheurer 
Geschwindigkeit,  unter  Auslassung  unzähliger  Sprossen,  die 
gleiche  Leiter  emporklettert,  die  die  große  Lebensentwick- 
lung  auf  diesem  Planeten    in    Millionen   von   Jahren    er- 

Viertel>hrs8chriftf.wifl84»n8chuftl.Philo8.  u.Soz.  XXXII.  2.  16 


242  Franz  Oppenheimer: 

klommen  hat,  so  legt  auch  die  Seele  des  Kindes  nach  dieser 
Auffassung  in  kürzester  Zeit  die  Stufen  der  Entwicklung 
zurück,  die  das  Bewußtsein  überhaupt  und  namentlich  das 
Bewußtsein  der  Völker  zurückgelegt  hat.  Die  Stufen  der 
Kindespsychologie  sind  ein  kurz  gefaßter  Abriß  der  Stufen 
der  Völkerpsychologie :  xmd,  da  wir  die  Stufen  der  Kindes- 
psychologie einigermaßen  kennen,  so  ist  uns  damit  auch 
das  genetische  Schema  gegeben,  in  das  wir  die  sozial- 
psychologische Entwicklung  der  Menschheit  einordnen 
können.  Solche  Ordnung  aber,  einmal  leidlich  widerspruchs- 
frei hergestellt,  würde  nichts  weniger  sein  als  eine  geschichts- 
phüosophische  Universalgeschichte. 

Bretsig  schlägt  den  anderen  Weg  ein,  der  zu  dem 
gleichen  Ziele  führen  kann.  Er  will  durch  möglichst  ge- 
naue Beobachtung  und  Beschreibung  der  sozialen  Formen 
des  Menschenlebens  in  Staat,  Q-eseUschaft,  Kunst,  Religion  usw. 
zur  Peststellung  fester  Typen  gelangen,  die  sich  als  zeitlich 
subordinierte  Stufen  der  Entwicklung  begreifen  lassen ;  und 
seine  Absicht  ist  offenbar,  nach  Vollendung  dieser  not- 
wendigen Vorarbeit  die  sozialpsychologischen  Kräfte  auf- 
zuzeigen, die  den  „Fortschritt",  besser:  die  Entwicklung 
von  der  einen  Stufe  zur  anderen  herbeiführten. 

Nachdem  Lämprecht  bereits  das  fast  vollendete  groß- 
artige Werk  seiner  deutschen  Geschichte  nach  diesem 
leitenden  Gedanken  disponiert  hatte,  und  nachdem  Brbtsig 
seinerseits  seine  auf  breitester  Grundlage  aufgebaute  Kultur- 
geschichte der  Neuzeit  weit  gefördert  hat,  treten  jetzt  die 
beiden  konkurrierenden  Schulen  mit  je  dem  ersten  Bande 
einer  Geschichte  der  Menschheit  auf  den  Plan  ^). 

Schneider  ist  selbständiger  Schüler  Lamprechts;  er 
disponiert  die  Weltgeschichte  ganz  nach  derselben  Art  wie 


^  Ki'RT  Breysiq,  Die  Geschichte  der  Menschheit.  Die  Völker 
ewiger  Urzeit.  1.  Band:  Die  Amerikaner  des  Nordwestens  tmd  des 
Nordens.  Georg  Bondi,  Berlin  1907,  XXVII,  56:3  Seiten.  Hbkiunn 
ScHNEiüEB,  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit.  1.  Band:  Kultur 
und  Denken  der  alten  Ägypter.  R.  VoigtlÄhder,  Leipzig  1907,  XXXVI, 
564  Seiten. 


Moderne  G-eschiolitspliiloBophie.  243 

sein  Meister  die  Geschichte  des  deutschen  Volkes  disponiert 
hat:  nach  den  biogenetischen  Stufen  des  psychologischen 
Entwicklungsganges.  Aber  mir  will  scheinen,  als  sei  dieses 
ordnende  Prinzip,  wenn  überhaupt,  nur  mit  äußerster  Vorsicht 
fiir  eine  Weltgeschichte  verwertbar,  und  als  sei  Schneider 
dadurch  recht  weit  von  dem  Ziele  der  "Wahrheit  abgelenkt 
worden. 

Schon  seine  Anwendung  auf  eine  einzelne  Volks- 
geschicllte  darf  nur  mit  äußerster  Behutsamkeit  geschehen 
und  kann  nur  in  den  Händen  eines  Meisters  von  größter 
Besonnenheit  zu  guten  Ergebnissen  führen. 

Ich  habe  schon  einmal  in  einer  Anzeige  des  LAMPhECHT- 
ßchen  Werkchens  „Moderne  Geschichtswissenschaft"  (Frei- 
burg 1905)  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  seine  Auf- 
fassung einer  ziemlich  einschneidenden  Korrektur  bedarf. 
Ihm  stellt  sich  die  Geschichte  eines  Volkes  so  dar,  als  sei 
dies  Volk  eine  einzige  Persönlichkeit,  die  einen  gewissen 
tjrpischen  Entwicklungsgang  ihres  Seelenlebens  durchläuft 
und  dementsprechend  auf  ihre  Umwelt  reagiert.  Das  ist 
aber  nur  in  einem  sehr  übertragenen  Sinne  richtig.  Man 
gelangt  zu  einer,  nach  meiner  Meinung  tieferen  Einsicht  in 
die  geschichtlichen  Dinge,  wenn  man  nie  vergißt,  daß  ein 
Volk  jederzeit  aus  einer  Reihe  verschiedener  sozialer  Klassen 
mit  sehr  verschiedenen  Interessen  und  deswegen  sehr  ver- 
schiedener Psychologie  besteht.  Je  nach  der  politischen  und 
sozialen  Entwicklung,  die  wieder  von  vielen  verschiedenen 
Faktoren  abhängig  ist,  steht  nun  einmal  die  eine,  Und  das 
andere  Mal  die  andere  Klasse  im  Vordergnmd  der  historischen 
Bühne,  und  ihre  spezifische  Psychologie  ist  in  dieser  Periode 
die  „Determinante"  des  Geschehens.  Um  den  Gegensatz 
der  Anschauungen  kurz  an  einein  Beispiel  zu  illustrieren, 
80  sieht  Lamprecht  inmier  nur  einen  Helden  auf  der  Bühne 
der  deutschen  .Geschichte ,  den  „Deutschen"  schlechtweg, 
und  muß  natürlich  von  dieser  Voraussetzung  dahin  ge- 
langen, den  auffillligen  Wechsel  in  der  psychologischen 
Gresamtstimmung ,  in  Weltauffassung,  Kunstübung,  Rechts - 
bildung,  Staatsverfassung  usw.,  durch  die  sich  die  einzelnen 

16* 


244  Franz  Oppenheimer: 

Perioden  unterscheiden,  als  eine  fortlaufende  Entwicklung 
der  Volksseele  zu  betrachten.  In  der  Tat  aber  wechseln 
die  Helden  des  Dramas  fortwährend:  der  freie  Bauer  der 
altgermanischen  Urzeit,  der  Großgrundherr  des  frühen,  der 
Ritter  des  hohen,  der  Bürger  des  späten  Mittelalters,  dann 
der  Landesherr,  der  absolute  Fürst,  der  Bourgeois,  der 
Sozialist,  schließlich  der  Ästhet  der  Neuzeit  sind  nach- 
einander die  Träger  der  fahrenden  Rolle ;  und  was  Lamprechp 
als  die  Fortentwicklung,  als  das  Auseinander  einer  Gesamt- 
Volksseele  erscheint,  ist  vielleicht  nichts  anderes  als  die 
zeitliche  Aufeinanderfolge,  das  Nacheinander  verschiedener 
Klassenseelen,  von  denen  jede  durch  ihre  besondere  Blassen- 
läge  streng  determiniert  ist.  Um  ein  Büd  zu  wiederholen, 
das  ich  damals  gegen  Lampreght  brauchte:  ihm  erscheint 
eine  Volksgeschichte  als  ein  einziges  ungeheures  Drama  mit 
einem  nie  wechselnden  Helden,  während  sie  mir  als  eine 
Kette  verschiedener  Dramen  erscheint,  die,  den  Shakespeare- 
schen  Königsdramen  vergleichbar,  in  ihrer  Gesamtheit  eine 
höhere  Einheit  darstellen. 

Dieser  Einwand  gilt,  wie  mir  scheint,  in  vielfach  ver- 
schärftem Maße  auch  gegen  Schneider.  Auch  ihm  erscheint 
die  nahezu  3000jährige  Entwicklung  des  ägyptischen  Reiches 
als  eine  einzige  Fortentwicklung,  als  ein  Drama  mit  einem 
einzigen  Helden,  während  es  sich  augenscheinlich  auch  hier 
um  eine  Kette  zusammenhängender  Dramen  handelt,  deren 
Held  jedesmal  eine  andere  Klasse  ist,  eine  Kette  übrigens, 
die  der  eben  aufgeführten  Reihenfolge  der  deutschen  Ge- 
schichte in  mancher  Beziehung  parallel  läuft.  Zwar  fehlt 
in  der  ägyptischen  Überlieferung  das  Anfangsglied,  der  ft'eie 
Bauer,  aber  die  Entwicklung  vom  patriarchalischen  Gau- 
könig, der  noch  fast  nur  der  primus  inter  pares  ist,  über 
den  feudalen  GroBgrundherren  zum  städtischen  Bürger,  zum 
Landesfürstentum  und  absoluten  Königtum,  das  dann  hier 
in  eine  starre  Theokratie  einmündet,  ist  doch  auch  hier  ge- 
geben. Schneider  aber  kommt  niemals  zu  der  Frage,  ob 
nicht  vielleicht  die  aufßOligen  Verschiedenheiten  des  sozial- 
psychologischen Charakters  jeder  Epoche,  die  er  mit  feiner 


Moderne  Geschichtsphllosophie.  245 

Spürkraft  aufdeckt^  daraus  zu  erklären  sind,  daß  eben  ganz 
andere  Klassen  im  Vordergrunde  der  historischen  Bühne 
stehen,  das  heißt  hier  der  spärlichen  schriftlichen  Über- 
lieferung das  Gepräge  geben. 

Aber  damit  ist  der  Einwände  noch  nicht  genug.    Das 

LAJfPRECHTsclie  Prinzip  zeigt  seine  ganze  methodische  G-efahr 

so  recht  eigentlich  erst  hier,  wo  es  nicht  auf  eine  Volks-, 

sondern    auf  die  ganze  Weltgeschichte   angewendet   wird. 

Denn   nun    drängt  sich  dem  Gläubigen  des  biogenetischen 

Grundgesetzes  ganz  naturgemäß   die  Vorstellung  auf,   daß 

sozusagen   die  ganze  Weltgeschichte  jenes   einzige  Drama 

mit  nur    einem  Helden  sei,   von  dem  wir  vorhin  sprsichen. 

Der    Begriff   „Mensch"    substituiert    sich    unbewußterweise 

dem  Begriff  „Ägypter"  oder  „Deutscher".    Er  erwartet  mit 

anderen  Worten,   daß   ihm  je  ein  Volk  je  eine  Stufe  der 

a  priori  angenommenen  psychologischen  Entwicklungskette 

repräsentiere,   und   ist   stark  geneigt,   die   ihm   gegebenen 

Daten  der  Theorie  anzupassen.    Daraus  kann,  ja  muß  oft 

eine  Prokrustesarbeit  werden,   und  dieser  größeren  Gefahr 

scheint  mir  Schneider  nicht  überall  entgangen  zu  sein. 

Ihm  repräsentiert  der  „Ägypter"  eine  untere  Stufe  der 
geistigen  Entwicklung.  Vom  anschaulichen  Denken,  das  er 
mit  dem  Kinde  gemein  hat,  hat  er  es  nicht  weiter  gebracht 
als  bis  zu  einer  Vorstufe  des  systematischen  Denkens ;  erst 
die  babylonische  Kultur  hat  die  nächste  Stufe,  die  der 
ausgebildeten  Systematik  mit  der  Bildung  abstrakter  Ober- 
begriffe, erstiegen,  und  wieder  dem  Hellenentum  erst  war 
es  beschieden,  in  der  eigentlichen  Logik  das  gewaltige 
Werkzeug  zur  Beherrschung  der  Welt  zu  schmieden.  Das 
Schema  ist  plausibel  und  hat  namentlich  deswegen  Aussicht, 
zu  allgemeinerer  Geltung  zu  kommen,  weil  es  mit  der  alten 
lieb  gewordenen  Vorstellung  gleichläuft,  wonach  von 
Ägypten  bis  zu  den  Vereinigten  Staaten  eine  einzige  Kausal- 
kette fortschreitender  Entwicklung  besteht.  Und  es  soll 
auch  durchaus  anerkannt  werden,  daß  es  Schneider  gelingt, 
mit  diesem  Schema  zahlreiche  Einzelheiten  glücklich  und 
in  der  Tat  überzeugend  aufzuhellen. 


246  Franz  Oppenheimer: 

Aber  als  einziges  Erklärungsprinzip  auf  eine  ganze,  so 
überaus  lange  und  inhaltlich  reiche  Volksentwicklung  an- 
gewendet, erscheint  mir  das  Prinzip  überaus  gefilhrlich.  Es 
schneidet  die  interessantesten  Probleme  ab  und  kann  so 
leicht  statt  einer  kausalen  Erklärung  zur  Eselsbrücke  der 
Historik  werden. 

Zwei  Beispiele  werden  das  besser  illustrieren  als  alle 
theoretischen  Erörterungen. 

In  Ägypten  wechsebi,  wie  in  jedem  primitiven  Feudal- 
staat höherer  Stufe,  Zeiten  der  Blüte  mit  Zeiten  des  sozialen 
Verfalles.     Wie    überall    zerstört    die    feudale    Großgrund- 
herrschaft den  Bauernstand  und  damit  die  Kraft  des  Reiches, 
das  mm  wehrlos  den  Grenz  Völkern  verfällt,   sie  assimiliert 
oder,   durch  eine  neue  Grundeigentumsverfassung  gestärkt^ 
wieder  ausstößt,  um  nach  neuer  Blüte  schnell  aus  denselben 
Ursachen    wieder   dem   gleichen   Verfallsprozeß    zu    unter- 
liegen.   Nun  wissen  wir  aus   der  Geschichte  aller  Völker, 
daß    Zeiten    relativer    Gleichheit    der   Lebensbedingungen, 
blühenden  Bauernstandes,   dichter  Bevölkerung  und  daher 
starker    politischer    Kraft    regelmäßig    auch    Zeiten    einer 
starken,  stilreinen,  breitspannenden  Kunst  imd  Wissenschaft 
sind,    während   beide    sich    in    den   Zeiten   vordringender 
sozialer  Zersetzung  erst  verniedlichen,  um  dann  immer  mehr 
ins  Flache  und  Grobe,  ins  Sensationelle  imd  Perverse  aus- 
zuarten und  in  der  Zeit  der  vollen  sozialen  Zersetzung  ganz 
zu   verschwinden.     Wer   dies   universale    Gesetz  z.   B.   an 
Athen,  am  Italien   der  Renaissance  und  dem  Deutschland 
des  15.  Jahrhunderts   erkannt  hat,  wird  geneigt  sein,  sehr 
viele  Erscheinungen   der  ägyptischen  Volkspsychologie  auf 
gleiche  Weise  zu  deuten.    Ihm  wird   die  schriftliche  Über- 
lieferung und   die  Kunstübung  viel  eher  als  das  Symptom 
bestimmter  sozialer  Wellengänge  erscheinen,  denn  als  Stufe 
einer  einheitlichen   Skala  der  Seelenentwicklung,   die   sich 
durch    alle    sekundären    Schwankungen    der    sozialen   Ent- 
wicklung  hindurch   behauptet.      Schneider,    der   nur   diese 
Skala  sieht,  hat  vielleicht  recht :  aber  von  einer  wissenschaft- 
lichen Sicherheit  könnte  doch  erst  die  Rede  sein,  wenn  er 


Moderne  Greschichtsphilosophie.  247 

den  Einflnß  der  verschiedenen  Gesellschafbszustände  nnter- 
sncht  und  ausgeschlossen  hätte.  Davon  ist  aber  keine  Rede. 
Er  hat  niclit  gesehen,  daß  hier  ein  Problem  ist.  Er  müht 
sich  sehr  ab,  unleugbare  Rückschritte  in  Kunststil  und 
Lebensauffassung  dennoch  als  Fortschritte  zu  erklären,  in- 
sofern es  unentbehrliche  Entwicklungsstufen  seien,  die  einmal 
zurückgelegt  werden  müßten.  Wenn  man  aber  genauer 
zusieht,  handelt  es  sich  hier  regelmäßig  um  Zeiten  des 
sozialen  Zerfalles ;  und  die  Deutung,  daß  Kunst  und  Wissen- 
schaft entarten,  weil  der  tragende  Stamm  der  Volkskraft 
kränkelt,  scheint  mir  hier  überall  viel  näher  zu  liegen  als 
die  gezwungene  Erklärung,  die  Schneider  vorlegt. 

Ganz  besonders  klar  erscheint  mir  die  Gefährlichkeit 
der  Methode   aus   dem  Schluß  des  letzten  Kapitels  hervor- 
zugehen,    die    die    letzte    Entwicklung    der    ägyptischen 
Religion,  die  Theokratie  des  Ammonkollegs  usw.  behandelt. 
Hier  kombinieren  sich  nach  meiner  Auffassimg  beide  Fehler, 
zu   denen   die  Methode   so  leicht  verlocken  kann,   und  er- 
zeugen  ein  recht  falsches  Bild.     Wir   haben   erstens   das 
Qui-pro-quo,   das  den  zurzeit  im  Vordergrunde   der  Über- 
lieferung stehenden  Klassenvertreter,  diesmal  den  herrschen- 
den Priester,   als   den  Vertreter  der  Volkheit  schlechtweg 
betrachtet;   und   wir   haben  zweitens  den  Irrtum,   der  eine 
Periode  unzweifelhafter  Rückbildung,  schwererund  schließlich 
tödlicher  sozialer  Erkrankung  eines  Volkskörpers,  unter  den- 
selben Gesichtspunkten  bewertet  wie  die  Periode  einer  un- 
zweifelhaften Gesundheit.    Dazu  kommt  augenscheinlich  ein 
Drittes:   die  Überschätzung  des   in   der  schriftlichen  Über- 
heferung  enthaltenen  Materials.    Es  dürfte  unmöglich  sein, 
das   ägyptische  Leben  selbst  dieser  schweren  Verfallszeit 
auch  nur  schattenhaft  aus  den  uns  erhaltenen  Sclu-iftresten 
zu  rekonstruieren:   man   stelle   sich  vor,   welches  Bild  ein 
Geschichtsforscher     des     übernächsten    Jahrtausends     von 
Deutschland  nach  dem  dreißigjährigen  Klriege  erhalten  würde, 
der   kein    andeies    Material    besäße    als    die   theologischen 
Stänkereien,  die  damals  das  Interesse  der  führenden  Klassen 
und  darum  das  Schrifttum  völlig  beherrschten? 


248  Franz  Oppenheimer: 

Das  Ägypten  jener  Zeit  ist  ein  der  durch  ungeheuren 
Ghrundbesitz  allmächtigenPriesterschaft  wehrlos  ausgeliefertes 
Land  und  zeigt,  wie  mir  scheint,  in  seinem  geistigen  Leben  alle 
Charakterzüge  einer  solchen  Theokratie,   wie  wir   sie  etwa 
in  Tibet  und,   bedeutend  abgeschwächt,   noch  im  heutigen 
Spanien  beobachten  können.    Schon  ein  flüchtiger  Vergleich 
zeigt,     daß    auch    in    Spanien,     trotzdem    inzwischen    die 
„Hellenen  die  Logik  entwickelt  haben" ,   sehr  weitgehende 
Ähnlichkeiten  der   psychologischen   Gesamtstimmung,    der 
Denkart  usw.  vorhanden  sind.    Wenn  man  sich  die  Einflüsse 
der  historischen   „Traditions werte"   und  die  Anregung  und 
Stärkung  der  Opposition  durch  die  westeuropäische  Gesamt- 
entwicklung  aus  dem  Leben  des  heutigen  Spanien  wegdenkt, 
so  wird  man  zu  einem  Gesamtergebnis  kommen,   das  dem 
Zustand    der   ägyptischen  Spätzeit  in  vielen  Beziehungen 
sehr  ähnlich  ist.   Daraus  aber  ergibt  sich  die  "Wahrscheinlich- 
keit, daß  die  ScHNEiDERsche  Deutung  nicht  richtig  ist.    Das 
ägyptische  Denken  blieb  nicht  auf  der  unteren  Stufe  stehen, 
weü  es  diesem  V©lke  an  der  Kraft  gefehlt  hätte,   höhere 
Stufen  zu  erreichen,   oder,   was   wohl   der  ScHNEiDERSchen 
Auffassung  näher  kommt,   weil  es   seine  Kraft  völlig  ver- 
braucht hatte,  bis  es  jene  niedere  Stufe  erreichte,  sondern 
es  war  wahrscheinlich  schon  von   einer  bereits   erreichten 
höheren  Stufe  infolge  rein  sozialer  Zersetzung  herabgesunken 
und  verlor  dann  die  Kraft,  weiterzukommen,  weil  es  durch 
eine  allmächtige  Priesterschaft  geistig  völlig  geknebelt  wurde. 

Das  scheint  im  Resultat  auf  die  ScHNEiDERsche  Auf- 
fassung hinauszulaufen;  aber  es  kommt  hier  nicht  auf  die 
Tatsachen  an,  sondern  auf  ihre  geschichtsphilosophische 
Verknüpfung.  Und  da  zeigt  sich  der  Gegensatz:  was  bei 
Schneider  eine  psychologische  Gesetzmäßigkeit  ist,  er- 
scheint der  hier  skizzierten  Auffassung  als  eine  sozial- 
ökonomische Gesetzmäßigkeit.  Das  Problem  stellt  sich 
in  völlig  neuer  Gestalt :  die  soziale  Entwicklung,  die  Standes- 
gUederung,  die  Verteilung  der  von  der  Gesamtvolksarbeit 
geschaffenen  Güter  erscheinen  dann  als  die  primären  Ur- 
sachen des  Geschehens,  von  denen  auch  die  Volkspsycho- 


Moderne  Geschichtspliilosophie.  249 

logie  insofern  streng  abhängig  ist,  als  jene  sozialökonomischen 
Verhältnisse  die  Klassenpsychologie  der  fahrenden,  jeweils 
im  Vordergrunde  der  historischen  Bühne  stehenden  re- 
präsentativen Gruppen  determinieren. 

um  diese  Einwände  noch  einmal  zusammenzufassen,  so 
möchte  ich  folgendes  sagen :  das  LAMFRECHTsche  Prinzip  er- 
scheint mir  grundsätzlich  richtig  imd  wird  namentlich  für 
die  vorstaatliche  Geschichte  sich  als  ein  wertvolles 
heuristisches  Prinzip  erweisen.  Aber  es  darf  för  die  Stadien 
höherer  Entwicklung  des  Staates  und  der  Gesellschaft  nur 
mit  äußerster  Behutsamkeit  angewendet  werden,  wenn  es 
nicht  die  wichtigsten  Problemstellungen  verhindern  soll. 
Insbesondere  bildet  die  durch  die  Methode  sehr  nahegelegte 
Tendenz,  ein  ganzes  Volk  oder  gar  die  ganze  Menschheit 
als  ein  einziges  von  der  Kindheit  an  regelmäßig  sich  ent- 
wickelndes Individuum  anzusehen,  eine  bedeutende  Gefahr. 
Mindestens  als  Vorarbeit  ist  es  nötig,  das  soziale  Auf  und 
Ab  der  Entwicklung,  die  Herrschaft,  den  Abstieg  und  das 
Verschwinden  der  einzelnen  Klassen  eines  Volkes  auf  das 
geuaueste  festzustellen  und  so  weit  wie  möglich  kausal  zu 
erklären  und  dieselbe  soziale  Entwicklung  an  den  einzelnen 
fahrenden  Völkern  zu  erforschen.  Dann  erst,  aus  der  ge- 
nauen Erkenntnis  der  Gruppen-  und  IQassenpsychologie  der 
einzelnen  Schichten,  läßt  sich  so  etwas  wie  eine  Volks- 
psychologie zusammensetzen.  Und  nur  auf  dieser  Grund- 
lage wieder  läßt  sich  der  psychogenetische  Stammbaum  der 
Menschheit  entwerfen. 


Die  zweite  Universalgeschichte,  die  mit  ihrem  ersten 
Bande  auf  den  Plan  tritt,  rührt  von  dem  Haupte  der  zweiten 
geschichtsphilosophischen  Schule  selbst  her,  von  Kurt 
Breysig. 

Bretsig  war  ursprünglich  „exakter  Historiker",  der  der 
ScHMOLLERschen  Schule  sehr  nahe  stand.  Sein  Arbeitsfeld 
war  das  Grenzgebiet  zwischen  eigentlicher  Historik  und 
Ökonomik.    Und  so  erlebte  dieser  feurige  Kopf  das  Schicksal 


250  Franz  Oppenheimer; 

aller  bedeutenden  Grenzer :  die  Eleinarbeit  konnte  ihn  nicht 
befriedigen,   und  er  strebte  ins  Große  und  "Weite.    Um  die 
in  harter,   ehrlicher  Kleinarbeit  gewonnenen  Anschauungen 
einem  größeren  Ziele  dienstbar  zu  machen,   begann  er  vor 
Jahren  mit  der  Herausgabe   eines  mehrbändigen  Werkes: 
„Die  Kulturgeschichte  der  Neuzeit",  das  sich  das  Ziel  steckte, 
den  Wurzeln   unserer   modernen   Institutionen   und   Wert- 
gedanken  rückwärts   zu  folgen  bis  in   die  fernste  Vorzeit 
hinein.    Darum  begann  er,  noch  ganz  im  Banne  der  Ranke- 
schen  Auffassung  von  der  „Weltgeschichte",  mit  dem,  was 
wir  „Altertum"  nennen,  das  heißt  mit  der  hauptsächlich  von 
Hellas  und  Rom  getragenen  mittelländischen  Kultur,   und 
führte  die  Untersuchung  bis  tief  in  unser  sogenanntes  Mittel- 
alter empor.    Aber  er  konnte   dabei  nicht  stehen  bleiben. 
An  den  Grenzen  eines  viel  größeren  Gebietes  hatte  er  ge- 
arbeitet ,  und  wieder  erschlossen  sich  ihm  weitere  Nachbar- 
gebiete ;  die  Schwüle  neuer  Fragestellungen  lastete  auf  ihm,, 
und  schon  waren  wieder  die  erlösenden  Funken  zu  seinem, 
von  seinem  Standpunkt  hinüber-,  herübergesprungen.    Jetzt 
erst  erschloß  sich  ihm  die  ganze   Größe   seiner   Aufgabe: 
Jetzt   soll   die    Untersuchung   die    Geschichte    der   ganzen 
Menschheit  umspannen,   und   sie   soll  gleichzeitig  „Welt"- 
und  „Gesamtgeschichte"  sein.  Auch  das  kleinste  Stämmchen 
erscheint  ihm  jetzt  der  wissenschaftlichen  Betrachtung  so 
wert  wie   das   größte   Reich,   und  jeder  Trieb  am  Stamme 
jeder  Volkheit  soll  mit  gleicher  Liebe  umspannt  werden, 
um  die  Gesetze  der  menschlichen  Gesamtpsyche  zu  finden, 
die  ja  auch  die  Gesetze  der  Geschichte  sind. 

Das  ist  das  soziologische  Programm  einer  Universal- 
geschichte, das  Breysig  hier  mit  vollem  Bewußtsein  und 
hinreißendem  Schwung  in  breitester  Ausführlichkeit  darstellt. 
Und  in  dieser  Darlegung,  die  nicht  weniger  Kampfprogramm 
wie  Arbeitsprogramm  ist,  ist  auch  der  Hauptvorzug  dieses 
ersten  Bandes  zu  erblicken.  Zum  erstenmal  stellt  sich  ein 
Historiker  von  Fach  mit  vollem  Verständnis  die  ungeheure 
Aufgabe,  die  bisher  nur  von  Soziologen  in  weiterem  Sinne 
in  blassen  Umrissen  skizziert  worden  ist. 


\ 


Moderne  Geschichtsphilosophie.  251 

Ob  Bretsig  das  Riesenprograimn  jemals  wird  ausführen 
können,  erscheint  mir  als  äußerst  fraglich ;  mit  gleicher  Aus- 
fahrlichkeit  weiter  geführt,  wird  diese  Universalgeschichte 
eine  ganze  Bibliothek  füllen.  Aber  hier  ist  schon  das  große 
Wollen  eine  Tat  zu  nennen.  Ob  seine  Kraft  und  sein  Leben 
ausreichen  oder  nicht:  das  hier  aufgesteUte  Programm  wird 
fiir  Jahrzehnte  hinaus  das  Ziel  aller  wirklich  universal- 
geschichtlichen, aller  wahrhaft  soziologischen  Geschicht- 
schreibung bleiben  müssen,  und  es  wird,  wenn  auch  viel- 
leicht nur  in  der  Zusammenarbeit  vieler  gleich  gerichteter 
Forscher,  für  jedes  künftige  Geschlecht  einmal  ausgeführt 
werden. 

Der  vorliegende  erste  Band  enthält  von  den  „Völkern 
ewiger  Urzeit"  zunächst  das  erste  und  zweite  Buch  des 
^die  rote  Rasse"  behandelnden  ersten  Hauptteiles:  die 
Kolumbianer  und  die  Nordländer.  Mir  will  scheinen,  als 
habe  Bretsig  die  Versprechungen  seines  Programms  hier 
weit  über  Erwarten  erfüllt.  Er  umfaßt  äußeres  und  inneres 
Leben  dieser  Stämme  mit  gleicher  Vollständigkeit  und 
gleicher  Liebe.  Die  echt  künstlerische ,  im  edelsten  Sinne 
als  fast  weiblich  zu  bezeichnende  seelische  Anpassungskraft, 
die  Fähigkeit,  sich  in  die  Psychologie  primitiver  Menschen- 
gruppen zu  versetzen,  die  Bretsig  bereits  in  seinem  prächtigen 
Werke  über  „den  Gottesgedanken  und  den  Heilbringer" 
bewährt  hat,  zeigt  sich  auch  hier  wieder  auf  das  schönste. 
Bretsig  hat  wie  kaum  ein  anderer  das  Zeug  zum  psycho- 
logisch entwickelnden  Ethnologen,  gerade  durch  diese  Kraft 
des  Nachempfindens:  hoffentlich  bewährt  es  sich  auch 
ebenso,  wenn  es  gilt,  die  höheren  Formen  der  Kultur,  die 
ja  immer  mehr  mechanisiert  werden,  logisch  zu  verstehen. 
Ob  alle  von  ihm  in  diesem  Bande  gegebenen  Erklärungen 
der  genauen  Kritik  der  Fachleute  standhalten  werden,  muß 
abgewartet  werden ;  jedenfalls  werden  sie  der  ethnologisch- 
soziologischen Forschung  mächtige  Anregungen  gewähren. 
Es  ist  bei  diesem  Stande  der  Arbeit,  die  ja  vorläufig  nur 
solches  Material  behandelt,  das  bisher  als  außerhistorisch 
betrachtet   wurde,   fast   unmöglich,    über    die   BKEYSiGsche 


252  Franz  Oppenheimer: 

Methodik  ein  Urteil  abzugeben,  um  so  weniger,  als  er  mit 
der  prächtigsten  Bescheidenheit  sich  selbst  nicht  als 
"Wissenden,  sondern  als  Lernenden  bezeichnet.  Er  erklärt 
ausdrücklich,  Saß  er  die  allgemeinen  Anschauungen,  von 
denen  er  jetzt  geleitet  wird,  lediglich  als  Arbeitshypothesen 
betrachtet,  die  er  \'ielleicht  im  Laufe  seiner  weiteren  Studien 
nicht  nur  bloß  ergänzen,  sondern  sogar  als  unrichtig  fallen 
lassen  wird;  ja  er  behält  sich  sogar  vor,  die  im  Anhang 
definierten  Hilfsbegriffe  der  Historik  später  anders  zu  be- 
grenzen, wenn  sich  die  Notwendigkeit  dazu  herausstellen 
sollte.  Angesichts  solchen  Freimuts  und  zugleich  solcher 
Bescheidenheit  wäre  es  fast  kleinlich,  schon  im  jetzigen 
Stadium  kritische  Bedenken  zu  äußern.  So  möge  denn  das 
folgende  als  der  Rat  eines  Mitstrebenden,  nicht  aber  als 
Kritik  angesehen  werden. 

Vor  allem  erscheint  mir  Breysigs  Definition  vom  Staat 
als  gefährlich.     Er  versteht  darunter   „die  Gesamtheit  aller 
der   Einrichtungen,   die  ein    oder   mehrere   Blutsverbände 
schaffen,   um  sich  zu  innerem,   durch  eine  Verfassung  ge- 
regeltem Zusammenschluß,  zu  äußerer  Abwehr  fremder  Ein- 
griffe und  zur  Aufrechterhaltung  einer  lockeren  Lebens-  und 
einer  lockeren  oder  festen  "Wirtschaftsgemeinschaft  zu  ver- 
einigen".    Diese  Definition  will  die  im  engeren  Sinne  vor- 
staatlichen und  staatlichen  Organisationen  in  einen  Begriff 
zusammenfassen.     Sie  ist  ihrem  Wortlaute   nach  nicht  ge- 
rade falsch  und  muß  doch  jedem,  der  die  Dinge  nicht  genau 
kennt,  einen  völlig  falschen  Eindruck  machen.    Denn  diese 
„Vereinigung  eines  oder  mehrerer  Blutsverbände"  sieht  hier 
aus  wie  ein  friedlicher  contrat  social;  in  der  Tat  aber  ist 
der   Staat  im  engeren  Sinne,  der  Keimling  jeder  höheren 
Kultur,  eine  Schöpfung  des  kriegerischen  Zusammen- 
stoßes, und  die  „Vereinigimg"  ist  eine  zwangsweise  er- 
folgte, mit  einer  wirtschaftlichen  Verteilung  des  nationalen 
Gesamtproduktes  zugunsten  der  Sieger  und  zuungunsten  der 
Besiegten.   Diese  Tatsache  bildet  geradezu  den  Schlüssel  für 
alle  Weltgeschichte ;  ohne  sie  ist  ein  Verständnis  schon  der 
niederen,  geschweige   denn   der  höheren  Kulturformen  un- 


Moderne  Geschichtsphilosophie.  253 

möglich:  und  darum  sollte  man  den  Begriff  „Staat"  völlig 
für  diese  Schöpfung  des  Kriegsrechts  reservieren,  die  Ver- 
bände primitiver  Jäger  und  Fischer  aber  grundsätzlich  als 
unstaatlich  bezeichnen  und  für  ihre  Gesellschaftsorgani- 
sationen einen  ganz  neuen  Ausdruck  einführen, 

Dte  z^weite  Bedenken,   das  ich  äußern  möchte,  richtet 
sich  gegen  die  morphologische  Methode  Breysigs.    Er  nimmt 
bekanntlich  an  (vgl.  seinen  „Stufenbau  und  die  Gesetze  der 
Weltgeschichte"),  daß  alle  Völker  der  Erde,  wenn  die  Ent- 
wicklung  nicht  vorher  abgebrochen  wird,  in  der  gleichen 
Reihenfolge    die   gleichen    Stufen    staatlicher   Entwicklung 
durchlaufen   würden,   die   er  Urzeit,  Altertum,  Mittelalter, 
Neuzeit  und  neueste  Zeit  nennt.    Also  auch  hier  eine  An- 
wendung   des    biogenetischen    Grundgesetzes.      Er    unter- 
scheidet   sich  von  der  LAMPRECHTschen  Schule,  wie   schon 
gesagt,  dadurch,  daß  er  die  äußere  Erscheinungsform  jeder 
dieser  Stufen  zu  bestimmen  versucht,  eine  Art  von  Synopsis 
aufstellt,  die  gestattet,  jedes  neu  entdeckte  oder  neu  genau 
bestinnnte  Exemplar  einer  Gesellschaft  fehllos  in  die  zu- 
gehörige Klasse  und  Ordnung  einzureihen.    Wie  schwierig 
diese  Aufgabe  angesichts  der  Mangelhaftigkeit  unserer  Über- 
lieferung ist,   verkennt  Breysio   selbst  nicht  im  mindesten; 
aber  es  scheint  mir,  als  wenn  er  eines  der  Stufensymptome 
stark  überschätzte,   das  in   seinem  Ausdruck   „knochigste" 
von  €dlen:  die  äußere  Staatsverfassung.    Meine  viel- 
fach gleichlaufenden  Studien  haben  mich  zu  der  vorläufigen 
Überzeugung  geführt,   daß   die  Staatsverfassung  als  „gutes 
Artmerkmal^  nicht  verwendbar  ist.    Soweit  ich  sehen  kann, 
gestattet  die  äußere  Verfassung  der  Staaten  keinen  Bück- 
schluß auf  ihre  innere  Beschaffenheit.    Wir  haben  z.  B.  im 
malajrischen  Archipel   dicht   nebeneinander   kleine   Staats- 
wesen, deren  soziale  und  ständische  Verfassung,  wirtschaft- 
liche Gliederung  usw.  völlig  analog  erscheint:  und  doch  ist 
in  dem  einen  der  Sultan  eine  ohnmächtige  Puppe  in  den 
Händen    der    großen   Feudalherren,    während    er    in    dem 
Nachbarreiche,   wo  das  Ftirstenamt  mit  dem  Oberpriester- 
amt verkuppelt  ist,  eine  fast  unbegrenzte  Macht  zu  genießen 


254  Franz  Oppenheimer: 

scheint.  Ähnliche  Beispiele  lassen  sich  häufen.  Breysig  ist 
durch  die  Überschätzung  der  äußeren  Verfassung  als  des 
wichtigsten  Stufenmerkmals  früher  zu  manchen  handgreif- 
lichen Irrtümern  gelangt:  so  z.  B.  hat  er  Karthago,  einen 
echten  „Seestaat"  auf  der  Höhe  seiner  neuesten  Zeit, 
nämlich  im  Ausgangsstadium  der  durch  die  kapitalistische 
Sklavenwirtschaft  verursachten  Zersetzung,  auf  das  Symptom 
der  Verfassung  hin  der  Altertumsstufe  eingeordnet. 

Vor  solchen  Mißgriffen  wird  man  sich  nur  bewahren 
können,   wenn   man   die  morphologische  mit   der   embryo- 
logischen Betrachtungsweise  kombiniert,  d,  h.  wenn  man  die 
teils  psychologischen,   teils   mechanisch-kausalen  Ursachen 
erforscht,   die  von  einer  Stufe  zur  anderen  emporführen. 
Daß    solche  Untersuchung    eine    zum  Hauptteile   national- 
ökonomische   sein   muß,    d.  h.  eine    solche.,   die    der  Ent- 
wicklung  der   sozialen  Klassen  und   der  gesellschaftlichen 
Produktivkräfte  nachspürt,  ist  meine  Überzeugung,  die  ich 
hier  nicht  näher  begründen  kann.    Meine  soeben  erschienene 
Abhandlung    „Der  Staat"  *)   gibt   den  ersten  ausführlichen 
Versuch    der    Verwirklichung    dieses    universalhistorischen 
Programms.    Ich  glaube,  daß  nur  diese  Methode,  die  Dinge 
zugleich  in  ihrer  Auseinanderentwicklung   auf  Grund    all- 
gemein mcBschlicher  Seelengesetze  und  in  ihren  auf  jeder 
Stufe   entwickelten  Formen  gleichzeitig  zu  betrachten,   die 
Gefahren  vermeiden  kann,  die  als  Skylla  und  Charybdis  die 
Adepten    Lampkechts    und    Breysigs   bedrohen:    die    Über- 
spannung des  psychologischen  Entwicklungsgedankens  bis 
zur  Beugung  widersprechender  Tatsachen,  und  die  falsche 
Bewertung  einzelner  sozialer  Symptome,   für  die  der  Maß- 
Stab  fehlt. 

Diese  kritischen  Bemerkungen  zu  dem  Schnei DERschen 
und  namentlich  zu  dem  BREYSiGschen  Buch  würden  ihren 
Zweck  verfehlt  haben,  wenn  sie  in  dem  Leser  einen  andercli 
Eindruck  erweckten  als  den,  daß  hier  äußerst  wertvolle  und 
im  höchsten  Maße   an  Anregungen  fruchtbare  Werke  vor- 


')  Hütten  &  Loening,  Frankfurt  a.  M.  1907. 


Moderne  Geschichtsphilosopliie.  255 

liegen.  Nichts  liegt  mir  femer  als  Nörgeln  und  Besserwissen- 
wollen :  meine  Kritik  wünscht  nur  Beiträge  zur  methodischen 
Bewältigang  der  ungeheuren  Arbeit  zu  geben,  die  hier  be- 
gonnen ist,  'wimscht  womöglich  die  Verfasser  vor  Irr-  und 
Umwegen  zu  bewahren  oder  selbst  eines  Besseren  belehrt 
zu  werden. 


Einen  dritten,  hochinteressanten  Beitrag  zur  Universal- 
geschichte liefert  Brooks- Adams  :  Das  Gesetz  der  Zivilisation 
und  des  Verfalls  (vollständige  autorisierte  Übersetzung  nach 
der  französischen  und  englischen  Ausgabe  mit  einem  Essay 
von  Theodore  Roosevelt.  Akademischer  Verlag  Wien  und 
Leipzig  1907). 

Brooks-Adams   glaubt   durch   seine    Studien    einen   ge- 
schichtsphüosophischen  Hauptschlüssel  entdeckt  zu  haben. 
Et  knüpft  an  das  bekannte  SPENCERsche  Universalgesetz  an, 
wonsich  die  Entwicklung  geht  vom  gleichartigen  Zerstreuten 
zum  ungleichartigen  Verbundenen,   d.  h.  zu  immer  höherer 
Konsolidation  und  konzentrierter  Bewegung.    Auf  die  Ge- 
schichte   der    Staaten   und  Völker   angewendet,  heißt  das 
Konzentration    in    immer    größeren    Staatsgebilden,     Ent- 
wicklung von  immer  mehr  Energie.    Sobald  die  entwickelte 
Energie   nicht   mehr   voUständig   für   die   Bedürfnisse    des 
Augenblicks  verzehrt  wird,  sobald  ein  Überschuß  vorhanden 
ist,  nämlich  das  Kapital|  wird  dieses  Kapital  zum  Schicksal 
der  Gesellschaft.    Und  zwar  führt  es  mit  fataler  Notwendig- 
keit   zu    einer   verhängnisvollen   Abwärtsentwicklung,    die 
schUeßUch  im  Völkertode  oder  einem  ihm  nicht  mehr  fem 
stehenden  Zustande  endet.    Nur  zwei  Typen  bleiben  allein 
übrig :  als  Herrscher  die  schlimmste  Abart  des  Kapitalisten, 
der   Wucherer,    und    als    Beherrschte    die    niederste,    be- 
dür&isloseste  und  zäheste  Abart  des  Arbeiters,  der  Acker- 
bauer,    dessen    welthistorisches    Paradigma    der    Fellache 
Ägyptens    ist.      Allß    höheren    und    deswegen    anspruchs- 
volleren Abarten   der  species  homo,   namentlich  die  sämt- 
lichen „imaginativen"  Existenzen:  der  Soldat,  der  Künstler, 


256  Franz  Oppenheimer: 

der  Priester,  sind  ausgerottet,  und  nur  jene  beiden  ein- 
ander polar  ergänzenden  „ökonomischen"  Spielarten  übrig- 
geblieben. Diese  Entwicklung  führt  schließlich  niit  Not- 
wendigkeit zur  vollkommenen  politischen  Ohnmacht,  zu  einer 
"Wehrlosigkeit,  die  das  Land  neuen  frischen  Barbaren- 
stämmen überantwortet,  zu  trostloser  Verarmung,  und 
schließlich  mehr  oder  weniger  zum  eigentlichen  Völkertode 
durch  Schwund  der  Bevölkerung,  indem  einerseits  die 
Unterschicht  zermalmt  wird  und  ausstirbt,  anderseits  die 
Oberschicht  sich  selbst  durch  Ehelosigkeit  und  Beschräjikung 
der  Einderzahl  aus  plutokratischen  Gründen  zum  Aussterben 
verurteilt. 

Diese   im  tiefsten  pessimistische  Auffassung    versucht 
Brooks-Adams  zu  erhärten  durch  eine  Übersicht   über    die 
Geschichte  Europas,  die  von  Rom  und  Byzanz  bis  auf  die 
Gegenwart  reicht.    Er  zeigt,  wie  überall  mit  dem  Erwerb 
von  Kapital  in  großen  Mengen,   wie  es  namentlich  durch 
Eroberungs-  und  Raubzüge  entsteht,  jene  verhäng;ni8Volle 
Entwicklung  einsetzt  und  unaufhaltsam  ihrem  Ende  zutreibt. 
Die   Klasse,    die   das    Edelmetall  besitzt,    versteht  überall 
durch  gesetzliche  und  andere  Maßnahmen  den  Preis  ihres 
Eigentums,   des  Metallgeldes,  zu  treiben  und  dadurch  den 
Preis  aller  anderen  Waren  entsprechend  zu  senken.  Dadurch 
gerät  die  Klasse  der  Produzenten  in  Not,  einerseits  weil  sie 
für  ihre  Produkte  weniger  Valuta  enthält,   anderseits  weil 
die  von  ihr  in  Geld  zahlbaren  Sghuldzinsen  und  Steuern 
einen    immer   steigenden    Teil  ihres    Gesamtproduktes    re- 
präsentieren.    So   verfällt  namentlich   der  Ackerbau    und 
damit  diei  Kraft  der  Völker ;  die  imaginative  Klasse  wird  zu 
bloßen    Beamten    und    zum    Ausbeutungsobjekt   der    öko- 
nomischen,   bis    schließlich   außer  "Wucherern  und  Acker- 
sklaven  nichts   mehr   vorhanden    ist.     Für   diese   Theorie 
bemüht  sich  Brooks-Adams  eine  ganze  Kette  von  Beweisen 
zusanunenzubringen ,    namentlich   aus   der   Geschichte    der 
Handelswege  und   des  Handelskapitals,     Und   es  soll   gar 
nicht  bestritten  werden,  daß  viele  der  Tatsachen  richtig  ge- 
deutet sind.    Die  Macht  des  byzantinischen  Reiches  scheint 


Moderne  Geschichtephilosophie.  257 

tatsächlich,  mehr  als  von  anderen  Dingen  davon  abhängig 
gewesen  zu  sein,  wie  sich  durch  die  jeweiligen  politischen 
Verhältnisse  der  Handelsweg  von  Europa  nach  China  ver- 
legte. Jedesmal,  wenn  durch  kriegerische  Ereignisse  usw. 
das  Hinterland  von  Byzanz  abgeschnitten  wird,  verarmt  das 
Reich  nnd  verHert  seine  miHtärische  Kraft,  um  Reichtum 
und  Kraft  sofort  wieder  zu  gewinnen,  wenn  der  abgedeichte 
Strom  des  Handels  wieder  in  Byzanz  einmündet. 

Aber    diese  Tatsachen  scheinen  mir  nicht  entfernt  hin- 
zureichen, um  die  weitgehenden  Schlüsse  zu  gestatten,  die 
Brooks-Adams  aus  der  Geschichte  des  Altertums  zieht,  und 
noch   viel  weniger  die   äußerst  düstere  Prognose   der  Zu- 
kunft, die  er  den  europäisch-amerikanischen  Völkern  stellt. 
Man   müßte   das   im  übrigen  nicht  nur  originelle,   sondern 
auch  außergewöhnlich  interessante  und  fesselnde  Buch  fast 
Seite    für   Seite    verfolgen,    wollte   man   in    wirklich    aus- 
reichender Weise  die  Kritik  zu  Ende  führen.    Dazu  ist  hier 
nicht  der  Baum,  und  so  muß  ich  mich  darauf  beschränken, 
die  falschen  Prämissen  darzustellen,  von  denen  Brooks-Adäms 
ausgeht,   und  nur  einzelne  besonders  schlagende  Beispiele 
von  Konklusionen,  die  ich  für  irrig  halte,  anzuführen.    Die 
falschen  Prämissen  sind   dieselben,   auf  denen   der  sozio- 
logische   Pessimismus    überhaupt    aufbaut.      Sie    sind    im 
wesentlichen  ökonomischer  Art,  angebliche  Gesetze,  die  der 
Historiker  gutgläubig  aus  einer  benachbarten  Wissenschaft 
entnimmt,   die  für  ihn  Hilfswissenschaft  ist,   der  National- 
ökonomie.   Das   erste  dieser  falschen  Gesetze  ist  das,   was 
Karl  Marx  die   „Kinderfibel  von  der  ursprünglichen  Ak- 
kumulation**   genannt   hat.     Seit   Türgot   ist   die  National- 
.  Ökonomie  davon  überzeugt ,   daß   die  Konkmrenz  selbst  in 
dem    Falle    unvermeidlich    und    schnell    zu    einer    außer- 
ordentlich   starken   Verschiedenheit    der    Einkommen    und 
Vermögen   führen   muß,   wenn   sie   zwischen   ursprünglich 
ß;leichvermögenden  und  gleichberechtigten  Individuen  ein- 
setzt.    Diese  Auffassung  ist  zweifellos  falsch,   es  können 
weder  grobe  Verschiedenheiten  des  Grundeigentums  noch 

YierteljahrBsohrift  f.wi8MD8cbaftl.PhiloB.  u.  Soziol.  XXXII.  2.  17 


258  Franz  Oppenheimer: 

des  Kapitaleigentums  entstehen,  wenn  nicht  von  Anfang  an 
durch  eine  „außerökonomisch"  entstandene  Klassengliederung 
Schichten  von  verschiedenem  Besitz  und  verschiedenen 
Rechten  gesetzt  sind.  Solange  nämlich  keine  rechtlich 
arbeitspflichtigen  Menschen  vorhanden  sind,  hat  niemand 
das  geringste  Interesse  daran,  mehr  Boden  zu  okkupieren, 
als  er  für  seine  Nahrungszwecke  braucht,  und  solange  die 
Bevölkerung  zu  freiem  Grund  und  Boden  Zugang  hat,  ist 
einerseits  die  Anhäufung  von  Kapital  in  größerem  Maßstabe 
undenkbar,  und  kann  es  andererseits  mangels  billiger 
Arbeiter  keine  Erträge  von  solcher  Höhe  abwerfen,  daß 
daraus  im  Laufe  der  Zeit  bedeutende  Vermögens-  und  Ein- 
kommensunterschiede resultieren  können.  Diese  theoretische 
Erwägung,  die  wir  hier  nicht  näher  verteidigen  können, 
wird  übrigens  historisch  durch  die  Tatsache  erhärtet,  daß 
ganz  ausnahmslos  alle  Vermögens-  und  Einkommensunter- 
schiede erwachsen  sind  auf  der  Grundlage  eines  Gesellschafts - 
zustandes,  der  mit  groben  Klassenverschiedenheiten  ein- 
setzte. 

Der  zweite  ökonomische  Irrtum,  den  Brooks-Adams  aus 
der  Nachbarwissenschaft  entnommen  hat,  ist  die  Fabel  von 
der  Konkurrenz,  die  auch  in  der  Landwirtschaft  zwischen 
Groß-  und  Kleinbetrieben  bestehen  soll.  Es  ist  dies  der 
Irrtum,  der  namentlich  das  MARXsche  System  völlig  ab- 
gelenkt hat.  Es  kann  zwischen  Groß-  und  Kleinbetrieben 
in  der  Landwirtschaft  eine  Konkurrenz  im  Sinne  derjenigen, 
die  die  kapitalistische  Industrie  beherrscht,  durchaus  nicht 
bestehen.  Die  Konkurrenz  in  der  Industrie  wirkt  dadurch 
zerstörend  auf  die  Kleinbetriebe,  daß  der  billiger  pro- 
duzierende Großbetrieb  seine  Erzeugnisse  zu  einem  Preise 
anbieten  kann,  bei  dem  der  Kleinbetrieb  zugrunde  gehen 
muß.  Davon  ist  in  der  Landwirtschaft  gar  keine  Rede. 
Die  Preisbildung  erfolgt  hier  nicht,  wie  in  der  Industrie, 
durch  Angebot  seitens  der  Produzenten,  sondern  durch 
Nachfrage  seitens  der  Konsumenten;  die  Tendenz  des 
Preises  ist  deshalb  hier  nicht,  wie  in  der  Industrie,  eine 
sinkende,    sondern  eine   regelmäßig   steigende;    der  Groß- 


Moderne  G^eschichtsphilosophie.  259 

betarieb    arbeitet   ferner  gar  nicht  billiger    als    der    Klein- 
betrieb, und  schließlich  ist  der  Beitrag  zur  Weltemte,  den 
selbst  das  gröfite  Latifundium  der  Welt  liefert,   so  gering, 
daß   es    den  Weltmarktpreis   auch  dann   nicht  beeinflussen 
könnte,  wenn  der  Besitzer  töricht  genug  wäre,  das  Produkt 
unter  diesem  Preise  abgeben  zu  wollen.    Es  hat  denn  auch 
noch  niemals  in  der  Weltgeschichte  ein  Großgrundbesitzer 
einen  Bauern  niederkonkurriert.     Wo  der  Kleinwirt  gegen- 
tiber   dem  Latifundium  verschwand,   waren  es  regelmäßig 
juristisch-politische,   niemals   ökonomische   Kräfte,   die  um 
entwurzelten.    Ich  habe  z.  B.  in  meinem  „Grundgesetz  der 
ÜARXschen  Gesellschaftslehre"  (Berlin  1903)  zeigen  können, 
daß    Karl  Marx  auch   nicht  einen   einzigen   Fall   hat   an- 
ftlhren   können,  in   dem  ein  Bauer   durch  die  Konkurrenz 
zugrunde  gegangen  ist.     Alle   von   ihm  angeführten  Fälle 
beziehen  sich  nicht  auf  Bauern,   sondern  auf  Pächter,   und 
diese    wurden  nicht   durch  Unterbietung  ruiniert,   sondern 
im  Gegenteil  gerade  bei  steigenden  Produktenpreisen  höchst 
simpel  auf  Grund  bestehender  Besitz-  und  Machtverhältnisse 
expropriiert,    „gelegt".     Daß    Marx    diesen    himmelweiten 
Gegensatz  verkannte,  beruht  nur  darauf,  daß  er  sowohl  die 
ökonomische  Vernichtung  des  gewerblichen  Kleinbetriebes 
durch  Preisunterbietung  (Handweber)  wie  auch  die  rechtliche 
Vertreibung  der  Pachtbauem  mit  demselben  doppeldeutigen 
Ausdruck  „Expropriation"  bezeichnete. 

Die  dritte  falsche  Prämisse,  von  der  Brooks- Adams  aus- 
geht, ist  nicht  eigentlich  eine  nationalökonomische,  obgleich 
sie  auch  hier  ihre  Rolle  spielt,  namentlich  auch  wieder  bei 
Karl  Marx.  Es  handelt  sich  hier  um  die  Grundlage  des 
von  mir  so  genannten  „Gesetzes  der  zyklischen  Kata- 
strophen". Nahezu  jeder  Geschichtsphilosoph  der  Neuzeit, 
mit  Ausnahme  der  großen  Optimisten  der  klassischen  Periode 
und  der  meisten  Sozialisten,  erblickt  in  der  kapitalistischen 
Gegenwart  ein  genaues  Analogen  der  kapitalistischen  Antike 
und  sagt  ihr  infolgedessen  das  gleiche  Schicksal  voraus. 
Selbst  Karl  Marx  ist  tief  davon  durchdrungen  —  das 
„kommunistische  Manifest"  zeigt  es  nicht  minder  klar  als  das 

17* 


260  Franz  Oppenheimer: 

„Kapital"  —  daß  die  kapitalistisclie  Gesellschaft  der  Gegen- 
wart  zunächst  in  denselben  Abgrund  rollen  muß  wie  die 
antike  Gesellschaft,  und  daß  dann  erst  der  neue  letzte 
Aufstieg  zum  tausendjährigen  Reich  der  Freiheit  und  de» 
Glückes  erfolgen  kann.  Und  in  der  Tat  läßt  sich  nicht 
leugnen,  daß  in  außerordentlich  vielen  und  bedeutungsvollen 
Zügen  unsere  heutige  Gesellschaft  der  antiken  überaus 
ähnlich  ist:  die  kolossale  Zunahme  des  in  wenigen  Händen 
konzentrierten  Reichtums,  die  Zusammenballung  der  armen 
Massen  in  ungefügen,  ungesunden  Riesenstädten,  ihre  Hin- 
neigung zum  Sozialismus  und  Anarchismus  sind  ebenso 
Analoga  der  antiken  Geschichte,  wie  die  tiefe  Demoralisation 
der  Oberklassen,  wie  der  Verfall  der  Kunst,  der  Wissen- 
schaft, der  Sitte,  der  Ehe  usw. 

Aber  diese  äußeren  Ähnlichkeiten  dürfen  uns  doch  nicht 
so  hypnotisieren,  daß  wir  die  noch  viel  stärkeren  Unähnlich- 
keiten  übersehen,  die  dem  unbefangenen  Blick  sogleich 
auffallen  müssen.  Ich  will  nur  eine  nach  meiner  Meinung 
entscheidende  Tatsache  anführen:  die  zivilisierten  Völker 
der  kapitalistischen  Neuzeit  wachsen ,  und  zwar  je  kapita- 
listischer sie  entwickelt  sind,  in  der  Regel  um  so  mehr,  an 
Volkszahl  gerade  so  stark,  wie  die  antiken  Völker  an  Volks- 
zahl zurückgingen.  Einzelne  scheinbare  Ausnahmen  be- 
stätigen nur  die  Regel.  Frankreich  wächst  nicht,  weil  es 
verhältnismäßig  sehr  wenig  Proletariat  besitzt;  es  ist  ein 
sattes  Land  von  Mittelbauern.  Gerade  aber  das  Proletariat, 
die  Unterklasse  war  es,  die  in  der  kapitalistischen  Antike 
mit  so  rasender  Geschwindigkeit  einschmolz.  Und  diesem  un- 
geheuren Wachstum  der  Volkszahl  geht  heute  ganz  zweifellos 
auch  bei  den  Unterklassen  ein  Wachstum  des  Wohlstandes, 
der  Bildung  und  Gesittung  parallel,  während  in  den  antiken 
Staaten  die  Volksmassen  mit  gleicher  Rapidität  sittlich  und 
ökonomisch  verfielen. 

Dieser  Unterschied  ist  von  ungeheuerster  Bedeutung* 
Er  zeigt,  daß  der  Volkskem,  der  Stamm  der  Volkheit,  heute 
ebenso  im  tiefsten  Kern  gesund  sein  muß,  wie  er  in  der 
Antike  im  tiefsten  Kern  markfaul  war,  und  schon  aus  diesem 


Moderne  Gesobichtsphilosophie.  261 

einen  Grunde  muß  die  Prognose  unserer  heutigen  Ent- 
wicklung ganz  anders  ausfallen,  selbst  wenn  man  nicht  in 
der  Lage  ist,  diesen  Unterschied  kausal  zu  begreifen  und 
auf  Grund  dieses  Verständnisses  die  Tendenz  der  kapita- 
listischen Entwicklung  hier  und  dort  mit  annähernder  Ge- 
wißheit zu  bestimmen. 

Wir  sind  aber  durchaus  dazu  in  der  Lage.  Der  große 
Gegensatz  der  beiden  Geschichtsepochen,  aus  dem  alles 
andere  fließt,  besteht  darin,  daß  die  antike  Wirtschaft 
durchaus  auf  Sklavenarbeit,  die  moderne  durchaus  auf  freier 
Arbeit  aufgebaut  ist.  Beide  Gesellschaften  sind  kapitalistisch, 
d.  h.  sie  erstreben  die  „Verwertung"  eines  Stockes  von 
Produktionsmitteln  auf  einem  geldwirtschaftlich  entfalteten 
Markte,  und  das  bedingt  ihre  Ähnlichkeit  in  vielen  Punkten  •, 
aber  die  Antike  hat  die  kapitalistische  Sklaven  Wirtschaft, 
die  Moderne  die  kapitalistische  Vertrags  Wirtschaft,  und 
das  sind  zwei  toto  coelo  verschiedene  Dinge,  die  ganz  ver- 
schiedene Ausgänge  nehmen. 

Um  nun  zu  den  Folgerungen  aus  diesen  falschen 
Prämissen  überzugehen,  so  kann  gar  keine  Rede  davon  sein, 
daß,  wie  Brooks-Adams  annimmt,  der  Abfluß  des  Edelmetalls 
nach  dem  kunstgewerblich  entfalteten  Orient  die  Ursache 
für  den  Niedergang  der  italischen  Bauernschaft  und  die 
Entvölkerung  des  Reiches  gewesen  ist. .  Nicht  als  ob  ich 
bestreiten  wollte,  daß  die  relative  Preissteigerung  des  Edel- 
metalls die  Lage  der  Bauern  sehr  verschlimmert  hat,  da 
sie  gezwungen  waren,  einen  viel  größeren  Teil  ihrer  Ernte 
herzugeben,  um  ihre  Schuldzinsen  respektive  Pachten  und 
Steuern  aufzubringen;  aber  dieser  Abfluß  des  Edelmetalls 
selbst  war  wieder  nichts  anderes  als  eine  Konsequenz  aus 
der  allgemeinen  ökonomischen  Grundlage  der  Gesellschaft, 
der  Sklavenwirtschaft.  Der  Zusammenhang  ist  der  folgende : 
Der  freie  Bauer,  durch  Kriege  im  Interesse  der  Herrenklasse 
und  eine  echte  Klassen-Steuer-Gesetzgebung  ruiniert,  dann 
durch  eine  brutale  Klassenjustiz  expropriiert,  verschwindet 
und  macht  riesigen,   durch  Sklaven  bewirtschafteten  Lati- 


262  Franz  Oppenheimer: 

fundien  Platz.  Diese  Latifundien  werden  in  der  Grossoiken- 
wirtschaft  betrieben,  d.  h.  sie  stellen  so  ziemlich  alles,  was 
der  Betrieb  braucht,  inklusive  der  Kleidung  der  Sklaven 
und  der  Werkzeuge,  im  eigenen  Betriebe  her.  Infolge- 
dessen verlieren  die  Landstädte  völlig  ihren  Markt,  da  der 
Sklave  keine  Kaufkraft  hat,  und  der  Latifimdienbesitzer  in 
der  Hauptstadt  lebt  und  dort  seine  Nachfrage  ausübt.  Die  Folge 
davon  ist,  daß  der  städtische  Handwerker  usw.  dem  bäuer- 
lichen nach  Rom  folgen  muß ;  aber  auch  dort  findet  er  nicht 
die  Möglichkeit,  gegen  die  Sklavenarbeit  aufzukommen,  die 
alles  gewerbliche  Leben  ergriffen  hat.  Er  lebt  also  als 
stimmberechtigter  Lumpenproletarier  von  Almosen,  Be- 
stechtmgsgeldem  und  Gelegenheitsarbeit.  Die  Plutokratie, 
die  ihn  braucht,  muß  ihn  füttern  imd  amüsieren:  panem  et 
circenses!  Zu  dem  Zwecke  importiert  sie  als  den  Tribut 
unterworfener  Länder  Getreidemassen,  die  sie  dem  souveränen 
Pöbel  schenkt,  und  macht  es  auf  diese  Weise  natürlich  dem 
Rest  der  vielleicht  noch  existierenden  selbständigen  Bauern 
unmöglich  zu  existieren.  Man  beachte  wohl,  daß  hier  von 
einer  ökonomischen  Konkurrenz  im  volkswirtschaftlichen 
Sinne  durchaus  nicht  die  Rede  ist;  es  sind  lediglich 
juristisch-politische  Einflüsse,  die  den  Bauernstand  ver- 
nichten. 

Unter  solchen  Umständen  kann  natürlich  von  irgend- 
einer volkswirtschaftlichen  Produktion  in  Rom  selbst  kaum 
die  Rede  sein-,  der  Luxusbedarf  der  Großen  muß  sich  an 
den  Erzeugnissen  derjenigen  Länder  befriedigen,  die  noch 
halbwegs  gesunde  soziale  Verhältnisse  haben  und  darum 
ein  entwickeltes  Gewerbe  besitzen.  In  diese  Länder  strömt 
das  geraubte  und  gestohlene  Gold  immer  wieder  ab:  nach 
Indien,  nach  China  usw.,  und  Rom  muß  an  Gold  verarmen^ 
sobald  es  den  ihm  erreichbaren  Länderkreis  erst  einmal 
wirklich  gründlich  ausgeplündert  hat.  So  ist  also  die  Preis- 
steigerung des  Goldes  und  die  Preissenkung  aller  anderen 
Waren  und  die  daraus  hervorgehende  ungeheure  Be- 
vorzugung aller  Gläubiger  gegenüber  dem  Schuldner  nicht 
die  Ursache,   sondern  eine  und  nicht  einmal  die  wichtigste 


Moderne  Geschichtephilosophie.  263 

Konsequenz  der  Entvölkerung,   die  auf  einer  ganz  anderen 
Ursaclie  beruht. 

£l3enso    falsch    deutet,    um   ein   anderes    Beispiel   an- 
zufahren, meines  Erachtens  Brooks-Adams  die  neuzeitlichen 
Verhältnisse.      Er    sieht    sie    etwa    mit    den   Augen    eines 
bimetallistischen  Agrariers  Deutschlands  an.   Die  Einführung 
der  Goldwährung  stellt  sich  ihm  dar  als  ein  glücklich  ge- 
lungenes Attentat  der  Bankierklasse   auf  die  Produzenten^ 
als  ein  künstliches  Mittel  zur  Hebung  des  Gold-  und  Senkung 
des    "Warenpreises,    ziu*    Bereicherung    der    Gläubiger    auf 
Kosten   der  Schuldner.    Man  müßte  Bände  schreiben,   um 
all  das  ausfuhrlich  zu  diskutieren  und  zu  widerlegen.    Auch 
hier     spielen    wieder    falsche    ökonomische    Vorstellungen 
über  Wesen  und  Entstehung  des  Kapitalismus  hinein,   die 
wieder   mit   den   Ideen    des    Marxismus    sehr    nahe    über- 
einstimmen.   Auch  Marx  läßt  ja  den  Kapitalismus  aus  dem 
Handel,   aus  Wucherkapital  entstehen,  während  heute  kein 
Zweifel    mehr    darüber    entstehen    kann,     daß    die    ersten 
kapitalistischen  Betriebe  der  Neuzeit,  wie  auch  im  Altertum, 
in  der  Landwirtschaft  entstanden  sind,  als  Rittergüter.    Das 
war  namentlich  auch  in  England  der  Fall,  wo  der  steigende 
Wollbedarf  der  flandrischen   Gewebeindustrie  vom  Anfang 
des    13.    Jahrhunderts    an    die    alte    Agrarverfassung    um- 
zuwälzen beginnt;   die  Feudalherren  legen  die  Bauern,  um 
Schafe   weiden  zu   können,   das  Proletariat  strömt  in  die 
Städte   und   bietet   den    dortigen  Meistern  billige  Arbeits- 
kräfte.    Der  Raub    der  Kirchengüter   und  des   Gemeinde- 
landes durch  die  Einhegungen  tut  den  Rest,  um  ein  riesiges 
Proletariat  zu  schaffen,  und  der  Kapitalismus  entfaltet  sich 
allmählich.    Daß  die  ungeheuren  Schätze,  die  von  den  durch 
denselben  Umwälzungsprozeß  existenzlos  gewordenen  Aben- 
teurern aus  Indien  usw.  herbeigeschafft  wurden,  den  jungen 
E^apitalismus  zum  Riesen  haben  erwachsen  lassen,  ist  wieder 
gar  nicht  zu   bestreiten-,    aber   auch   hier  ist    die   primäre 
Ursache  nicht  die  Verschiebung  der  Handelswege  oder  der 
Erwerb  des  Metallschatzes,  sondern  wieder  eine  agrarische 


\ 


264  Franz  Oppenheimer: 

Umwälzung.    Und  ganz   dasselbe  gilt  für  Deutschland  und 
den  Fünf- Milliarden-Segen. 

Noch  ein  Wort:   Brooks-Adams   ist  nicht  Anhäoager  der 
Ra,ssentheorie  im  gewöhnlichen  törichten  Sinne,   wohl  aber 
glaubt   er,   daß   in   der  Menschheitsgeschichte   zwei  Typei;i 
miteinander  ringen,   der  imaginative  und  der  ökonomische 
Mensch,    und    er   macht   der   Rassentheorie   insofern    eine 
Konzession,  als  er  annimmt,   daß  gewisse  Rassen  mehr  In- 
dividuen  der    einen,    andere    mehr   der    anderen   Art    auf- 
weisen.   Der  imaginative  Mensch  ist,  wie  schon  gesagt,  der 
Krieger,  der  Priester,  der  Künstler;  der  ökonomische  Mensch 
ist  der  Kapitalist,  der  Bankier  einerseits,  das  bedürfnislose, 
ackernde  Tier,  der  Bauer,  anderseits.    Ich  halte  diesen  Ge- 
danken, wie  alle  ähnlichen,  für  einen  höchst  unglücklichen. 
Überall  suchen  die  Soziologen  heute  nach  solchen  scheinbar 
alles    ausfüllenden    Gegensatzpaaren ,    und    alle    möglichen 
Varianten  finden  sich.  Nach  Dietzel  bewegt  sich  der  Gegensatz 
zwischen  Individualismus   und    Sozialismus,    nach    Tönnies 
zwischen  Wosenwillen  und  Willkür,  nach  Breysig  zwischen 
Idealismus  und  Realismus ,   wieder  nach  anderen  zwischen 
Freiheit  und  Autorität  usw.  usw.  die  Geschichte.    Ich  halte 
das   alles  für  Worte,   die   sich  zur  rechten  Zeit  einstellen, 
wo  die  Begriffe  fehlen.    Daß  die-  Menschen,  als  Individuen 
genommen,  gewisse  Verschiedenheiten  aufweisen,  unterliegt 
gar  keinem  Zweifel;   aber  als  Klassenangehörige  haben  sie 
gemeinhin  doch  eine  Psychologie  von  überraschender  Ein- 
förmigkeit,  nämlich  Vorstellungen,   Anti-  und  Sympathien, 
die  dem  Fortbestand  und  dem  Vorteil  ihrer  Klasse  dienen. 
Auf  diese  Verschiedenheiten  der  Klassenpsychologie  lassen 
sich,   soweit   ich  bisher  zu  sehen  vermag,  die  historischen 
Erscheinungen  restlos  zurückfuhren.     Mit  anderen  Worten: 
es   sind   nicht   zwei  verschiedene  Typen  der  Species  homo 
sapiens,  die  jeweils  miteinander  im  Kampfe  liegen,  sondern 
es  sind  soziale  Klassen,  die  miteinander  streiten  und  dabei 
eüie  ganz  bestimmte  Klassenpsychologie  zeigen,  die  nun  je 
nachdem  mehr  imaginativ  oder  mehr  ökonomisch  aussieht. 
Es  sind  immer  dieselben  Menschen,   nur  anders  motiviert, 


Moderne  Greschichtsphilosophie.  265 

'weil   in  einem   anderen  Milieu   und    durch  andere  Druck- 
verhältnisse in  die   Strömung  zu  einem  anderen  Ziele  ge- 
drangt.      Genau    derselbe    Mensch,    der    in    einer    reinen 
Kau&nannsaristokratie    den    reinsten    ökonomischen   Typus 
aufweist,  würde,    als  Säugling   in   eine  reine   Kriegerkaste 
angenommen,  alle  Charakterzüge  des  imaginativen  Menschen 
zeigen.    Brooks-Adams  führt  selbst  ein  schlagendes  Beispiel 
dafür  an,  daß  das  Milieu  die  Denkweise  mit  ungeheuerster 
Kraft   bestimmt:   dieselben  französischen  Lehnsherren,   die 
auf  Befehl   des   Papstes   ihren   König  Philipp   trotz   seines 
Flehens  zwangen,   seine  geliebte   Gattin  Agnes  zu  opfern, 
leisteten    demselben   Papste   im  Bündnis    mit   dem  Dogen 
Dandolo,  unbekümmert  um  Bann  und  Interdikt,   den  un- 
verschämtesten Widerstand.     Daraus  geht  wohl   am  deut- 
lichsten hervor,  daß  der  Mensch  imaginativ  oder  ökonomisch 
ist,   je   nachdem   sein  persönlicher  Vorteil   oder   derjenige 
seiner  Klasse  ihn  bestimmt.    Wenn  übrigens  Brooks-Adams 
für  das  fiühe  Mittelalter  ein  Vorherrschen  des  imaginativen 
Geistes  in  dem  Sinne  annimmt,   daß  die  Westeuropäer  die 
entsetzlichste  Angst  vor   der  magischen  Kraft   der  Kirche 
hatten,   so   ist  das  eine  krasse  Übertreibung.     Die  Feudal- 
herren, die  Heinrich  IV.  im  Kampfe  gegen  Gregor  im  Stiche 
ließen  und  dadurch  zwangen,  nach  Kanossa  zu  gehen,  hatten 
sehr  gute  Gründe,  das  Königtum  geschwächt  zu  wünschen, 
und   leisteten   darum  den  päpstlichen   Befehlen  Gehorsam. 
Wo    ihr    Vorteil    ihnen    Ungehorsam    nahelegte,    hat    die 
^magische    Furcht"    selten     einen    Einfluß    auf   ihre    Ent- 
schließungen ausgeübt. 

Auch  diese  Erwägung  ist  geeignet,  den  schwarzen 
Pessimismus  unseres  Autors  zurückzuweisen.  Es  besteht 
keine  Gefahr,  daß  der  imaginative  Typus  ausstirbt.  Sobald 
sich  Verhältnisse  einstellen  werden,  in  denen  nicht  mehr 
Wucher  und  sklavische  Arbeit,  sondern  die  imaginativen 
Fähigkeiten  des  Menschen  das  Mittel  zum  Emporstieg  sein 
werden,  wird  die  imaginative  Begabung,  die  in  jedem 
einzelnen  liegt,  seine  ökonomische  zurückdrängen  und  den 
Baum  der  Menschheit  mit  neuen  Blüten  schmücken.    Eine 


206     Franz  Oppenheimer:  Moderne  Geschichtsphilosophie. 

neue  Wildrasse  brauchen  wir  nicht,  um  uns  dieses  G-eschenk 
des  Himmels  wieder  zu  bringen.  Das  Altertum  brauchte 
frisches  Blut,  weil  Volk  nach  Volk  buchstäblich  starb:  wir 
aber  leben,  und  der  Pessimismus  von  Brooks- Adams  braucht 
uns  nicht  zu  ängstigen. 

Der  dem  Werke  vorausgeschickte  Essay  von  Theodobe 
RoosEVELT  kommt,  zum  Teil  aus  ähnlichen  Erwägungen,  zu 
dem  gleichen  Ergebnis. 


L 

Bespreehungen. 

Kants  gesammelte  Schriften,  herausgegeben  von  der 
Königl.  Preußischen  Akademie  der  Wissenschaften.  Erste 
Abteilung,  Werke,  Bd.  VI  u.  VII.    Berlin  1907,  Reimer. 

Die  Einleitungen,  sachlichen  Erläuterungen  und  Lesarten  zu 
diesen  Twei  Bänden  haben  die  Herausgeber,  Orthographie,  Inter- 
punktion und  Sprache  hat  wiederum  Ewald  Frey  bearbeitet. 

Der  sechste  Band  enthält  die  „Beli^ion  innerhalb  der 
Grenzen  der  bloßen  Vernunft''  und  die  „Metaphysik  der 
Sitten".  Herausgeber  des  religionsphilosophischen  Werkes  ist  Georg 
WoBBBRwiN,  des  ethischen  Werkes  Paul  Natorp.  Dem  Druck  der  ersten 
Schrift  wurde  die  zweite  Auflage  (von  1794)  zugrunde  gelegt,  und  für 
die  Liesarten  das  Manuskript  der  Druck  vorläge ,  das  zwar  von  Kant 
nicht  selbst  geschrieben,  aber  eigenhändig  Oberlängen  wurde,  hinzu- 
gezogen (S.  500/501).  FQr  die  Metaphysik  der  Sitten  wurde  die  erste 
Auflage  als  maßgeblich  angesehen,  und  nur  die  wirklichen  Ver- 
besserungen im  Text  der  zweiten,  um  viele  Druckfehler  vermehrten 
Ausgabe  in  den  Druck  aufgenommen  (S.  527).  Ebenso  ist  der  ver- 
mutuch  durch  ein  Versehen  von  Verleger  und  Drucker  zwischen  die 
zwei  Teile  der  „Eechtslehre"  in  der  zweiten  Auflage  eingefügte  An- 
hang von  Natorp  wieder  Kants  Anordnung  und  dem  Sinne  gemäß  an 
den  Schluß  der  „Rechtslehre''  gerOckt  worden  (S.  519). 

Der   siebente    Band    bringt   den   Streit    der    Fakultäten 
(Herausgeber   Karl   Vorländer)   und    die  Anthropologie   (Heraus- 

feber  Oswald  KOlpk).  Das  zum  Streit  der  Fakultäten  vorhandene 
[anuskript  hat  dem  ersten  Druck  wahrscheinlich  nicht  zugrunde  ge- 
legen (S.  348);  fOr  den  Text  unserer  Ausgabe  hat  die  zweite  Auflage 
das  Original  gebildet.  Das  Gleiche  gilt  von  der  Anthropologie,  an 
deren  Bearbeitung  vor  allem  die  zahlreichen  Randbemerkungen 
an  dem  Kantischen  Druckmanuskript  interessieren,  die  unter  den 
^£rgän2sungen^  (S.  393  ff.)  wiedergegeben  sind  und  Ober  viele  Seiten 
laufen. 


Leipzig. 


Raoul  Richter. 


Sfhniid^  Bastian,  Philosophisches  Lesebuch,  zum 
Gebrauch  an  höheren  Schulen  und  zum  Selbststudium. 
Leipzig  190(3,  B.  G.  Teubner.     Geb.  M.  2,00. 


268  Walther  Eegler: 

Bas  vorliegende  Buch  soll  als  Hilfsmittel  für  den  philosophischen 
Unterricht  dienen.  Der  Verfasser  denkt  es  sich  zunächst  in  c^r  Hand 
des  Lehrers  —  dem  es  freilich  viel  zu  wenis  bietet  — ,  weiter  aber 
auch  in  den  Händen  der  Schüler.  Es  bestent  in  einer  dreiteiligen 
Sammlung  von  Abschnitten  aus  Schriften  verschiedener  Philosophen 
seit  Descartes  bis  auf  die  Gegenwart;  der  erste  Teil  enthält  Ab- 
handlungen einleitenden  und  erkenntnistheoretischen  Inhalts,  der 
zweite  hauptsächlich  solche  naturphilosophischen,  \ind  der  dritte 
Odeinste)  solche  psychologischen,  logischen,  ethischen  und  ästhetischen 
Inhalts.  Die  naturphilosophischen  Probleme  sind  etwas  in  den  Vorder- 
grund gerückt.  Das  ist  insofern  kein  Schade,  als  auf  den  Gyncinasien 
in  der  Lektüre  der  Schriften  Ciceros  und  Platons  eine  idealistische 
Ergänzung  besteht.  Über  die  Auswahl  selbst  kann  man  sehr  ver- 
schiedener Meinung  sein.  Manches  erscheint  zu  ausführlich  behandelt, 
z.  B.  der  Kampf  ums  Dasein  (Darwin).  Schopenhauer,  „der  seltsame 
Denker"  (S.  11*^  wird  nur  mit  einer  kürzeren  Stelle  angezogen,  die 
ihn  lächerlich  machen  muß.  Hegkl  und  andere  fehlen  ganz.  Daß  ein 
Buch,  in  dem  so  verschiedene  Denker  wie  A.  Ribhl,  Hartmann,  Haeckki., 
Paulsen  usw.  zu  Worte  kommen,  nicht  einheitlich  sein  kann,  ist  klar. 
Um  aber  einen  gewissen  Zusammenhang  zu  schaffen,  hat  der  Ver- 
fasser erläuternde  Übergangsstücke  eingefügt,  die  jedoch  dem 
BrCferenten  nicht  immer  sehr  glücklich  abgefaßt  erscheinen.  So  findet 
sich  in  dem  Aufsatz  über  den  Zweckbegriff  folgender  Gedanke  (S.  HO) : 
„Wir  fragen  heute:  waren  die  ersten  Fische,  Frösche,  Vögel  auch 
schon  zweckmäßig  gebaut?  Für  eine  Giftsäfte  führende  Pflanze  ist 
es  zweckmäßig,  wenn  sie  dieselben  in  möglichst  konzentrierter  Lösung 
enthält,  für  die  weidenden  Kühe  dagegen  wird  sie  dadurch  nur  um 
so  schädlicher  Hier  würde  eine  utilitaristische  Betrachtungsweise 
vergeblich  sich  bemühen,  einen  plausiblen  Zweck  herauszuBnden.*" 
Was  ist  das  für  eine  Logik?  Unerträglich  aber  sind  die  in  eii^r  2.  Auf- 
lage zu  verbessernden  zahlreichen  Nachlässigkeiten  der  Stüführung, 
von  denen  nur  zwei  Beispiele  angeführt  seien  (S.  20):  „Selbst  inner- 
halb der  Art  Mensch,  welchem  nicht  nur  das  an  Gewicht  (relativ) 
schwerste,  sondern  auch  kompliziertest  gebaute  Gehirn  mit  dem 
größten  Großhirn  zukommt  (es  repräsentiert  *k  des  gesamten  Hirn- 

fewichts),  zeigen  Schädelmessungen  und  Gewichtsbestimmungen,  daß 
ie  Ausbildung  des  Gehirns  mit  den  geistigen  Fähigkeiten  in  engem 
Zusammenhang  zu  stehen  scheint.*^  S.  21:  „.  .  .,  daß  die  herab- 
gesetzte Geistestätigkeit  im  Greisenalter  auf  Erkrankungen  des  Gehirns 
zurückgehen." 

Schneeberg  i.  S.  Walther  Kegler. 

Salyadori,  Gnglielmo^  Das  Naturrecht  und  der  Ent- 
wicklungsgedanke. Einleitung  zu  einer  positiven 
Begründung  der  Rechtsphilosophie.  Leipzig  1905, 
Dieterichsche    Verlagsbuchhandlung    Theodor   Weicher. 

110  S. 

Der  Verfasser  bezeichnet  die  Gegenwart  als  Übergangszeit.  Die 
historische  Methode  hat  in  den  Geistes-  und  Gesellschaftswissen- 
schaften den  [Rationalismus  des  18.  Jahrhunderts  überwunden,  dafür 
aber  durch  ihre  einseitige  Anwendung  soziale  und  intellektuelle  Un- 
ruhe erzeugt  I  aus  der  als  alles  beherrschender  Mittelpunkt  der  £nt- 


Das  Naturrecht  und  der  Entwicklungsgedanke.  269 

Wicklungsgedanke  emporsteigt.  Durch  Verkennung  der  bleibenden 
Momente  in  den  Bechtsprinzipien  wird  die  Moral  aufgelöst.  Die 
rationalistische  Auffassung  muDte  fallen,  da  sie,  ohne  es  zu  wissen, 
den  Inhalt  aus  der  Erfahrung  nahm.  Durch  Hobbes  und  Hume  kamen 
die  Zweifel.  Kant  verschiebt  die  Grundlage  des  Nationalismus,  vom 
dogmatischen  Objektivismus  kommt  er  zum  kritischen  Subjektivismus. 
So  wird  die  Form  rational,  der  Inhalt  empirisch,  die  Moral  wird  von 
der  Erfahrung  unabhängig.  Der  Dualismus  Kants  w^ird  durch  das 
rein  indxiktive  Verfahren,  wie  es  sich  bei  Coutr,  in  der  Soziologie,  im 
historischen  Materialismus,  in  der  wissenschaftlichen  Psychologie  und 
in  der  Evolutionstheorie  findet,  beseitigt.  Die  Fehler  aller  dieser 
Dichtungen  waren  die  Einseitigkeit,  die  Konfusion  von  Bechts- 
entwicklung  und  Normbestimmung,  die  Vernachlässigung  der  letzteren. 
Die  äußeren  Tatsachen  und  die  idealen  Erfordernisse  des  moralischen 
Bewußtseins  müssen  miteinander  versöhnt  werden.  Der  Historismus 
hat  die  soziale  Seite  der  Menschennatur  aufgezeigt  und  damit  die 
neue  Grundlage  der  Bechtsphilosophie  geschaffen.  Dazu  muß  die 
spezifische  Kraft  der  Seele,  neue  Gerechtigkeitsideale  aufzustellen^ 
hinzugenommen  werden.  In  den  Wirkungen  und  Gegenwirkungen 
der  Perönlichkeit  mit  der  Umgebung  ist  der  letzte  Grund  des  Becnts 
zu  suchen;  das  Naturrecht  ist  der  absolute  Anspruch  der  Persönlich- 
keit, das  vom  Menschen  entdeckte  Gesetz  seiner  eigenen  Natur.  Das 
Naturrecht  besteht  subjektiv  aus  dem  absoluten  Erfordernis  und 
objektiv  aus  der  absoluten  Norm  der  Beziehungen.  Der  positive 
Begriff  des  Naturrechts  wird  definiert  als  die  Summe  der  Be- 
fugnisse und  Pflichten,  die  ein  in  einer  Gemeinschaft 
geltender     übergeordneter    Wille     den     einzelnen     Mit- 

fliedern  zuerkennen  soll,  um  die  Entwicklung  jeder  in- 
ividuellen  Persönlichkeit  und  demnach  der  ganzen  Ge- 
sellschaft möglich  zu  machen.  Also  ist  der  Entwicklungs- 
gedanke der  Kern  des  neuen  Naturrechts. 

Es  erscheint  zweifelhaft,  ob  es  dem  Verfasser  gelungen  ist,  im 
Bechtsbewußtsein  etwas  wirklich  Absolutes,  absolute  Erfordernisse, 
absolute  Normen,  also  eine  absolute  Gerechtigkeit,  als  empirisch  ver- 
wendbare Tatsachen  nachzuweisen.  Absolut  ist  doch  nur  die  sub- 
jektive Form  gewisser  Ideen,  deren  Inhalt  einzig  aus  der  objektiven 
Erfahrung  hervorgeht  Der  EntwicklungsgedanKe  beruht  auf  einer 
objektiven  Beobachtung  der  Natur  und  des  geistigen  Lebens.  Eine 
wissenschaftliche  Aussöhnung  oder  S3nithe8e  von  idealen  Erforder- 
nissen und  konkreten  Tatsachen  wird  wohl  für  immer  unausführbar 
bleiben. 

Leipzig.  G.  Liebster. 

Schiller^  F.  C.  S.,  Studie s  in  Humanism.   London  1907. 

Macmillan. 

In  der  neuen,  in  kurzer  Zeit  zu  so  großer  Bedeutung  gelangten 
antirationalistischen  Bewegung  der  englisch-amerikaniscnen  Philo- 
sophie, die  man  gewöhnlich  mit  dem  mcht  sehr  glücklichen  Namen 
PragmatismusHDezeichnet,  ist  nächst  Williah  James  ^)  der  Oxforder 
Fellow  F.  C.  S.  Schiller  der  stärkste  Vertreter.    Er  hatte  bereits  zu 


^)  ^S^  besonders  W.  James,  P r  a gm  a  t i s m.   A  new  name  f or  some 
cid  wajs  of  thinking.    New  York  1^7.    Auch  Deutsch  von  Jerusalem. 


270  Richard  Müller-Freienfels: 

der  unter  dem  Titel  „Personal  Idealism^  von  acht  Oxforder  Akademikern 
herausgegebenen  Essavsammlung  seinerseits  den  bedeutenden  Aufsatz 
„Axioms  as  Postulates"  beigesteuert,  der  bereits  die  wichtigsten 
seiner  späteren  Gedanken  im  Seime  enthält.  Im  Jahre  1908  kam 
dann  sein  erstes  Hauptwerk  „Humanism"  heraus,  in  dem  er,  wenn 
auch  nicht  in  zusammenhängender  systematischer  Form,  jene  philo- 
sophische Denkweise  konstituierte,  ciie  seitdem  unter  diesem  Namen 
Humanismus  über  die  Gfxenzen  Englands  hinaus  Aufsehen  erregt  hat, 
vor  allem  aber  in  den  Kreisen  der  englischen  Hegelianer  und 
Bradleyaner  heftigsten,  wenn  auch  durchaus  nicht  sieghaften  Wider- 
spruch erregte.  Der  Humanismus  ist  durchaus  eine  Parallelströmung 
zum  Pragmatismus,  er  geht  wie  dieser  auf  eine  psychologisch  fundierte 
Erkenntnistheorie  aus,  zieht  freilich  seine  Kreise  noch  weiter  als  der 
letztere,  indem  er  sich  nicht  auf  die  Erkenntnistheorie  beschränken, 
sondern  seine  Theorien  auch  auf  Ethik,  Ästhetik  usw.  ausdehnen 
will.  Die  „Studies  in  Humanism"  sind  nun  eine  Essaysammlung, 
die,  obgleich  durchaus  unabhängig  vom  ersten  Buche  lesbar,  eine  Er- 
gänzung und  Ausbildung  der  dort  vorgetragenen  humanistischen  Lehren 
Sehen  will.  Die  essayistische  Form  hat  freilich  neben  der  ^Ößeren 
tebendigkeit  und  AJctualität  doch  den  Nachteil  geringerer  Übersicht- 
lichkeit. 

Humanismus  ist  kurz  gesagt  die  Lehre,  daß  es  keine  von 
menschlichen  Interessen,  Wünschen,  Trieben,  Tendenzen  unabhängige 
Erkenntnis  gibt,  sondern  daß  alles,  was  wir  Wahrheit  nennen, 
durchaus  nur  menschlichen  Zwecken  dient.  Erkenntnis  ist  durchaus 
ein  biologisches  Phänomen,  eine  Anpassung  unseres  Geistes  an  die 
Welt.  Das  einzige  Kriterium  aber,  das  wir  haben,  um  richtige  und 
falsche  Theorien  und  Anschauungen  voneinander  unterscheiden  zu 
können,  ist  die  pragmatische  Methode,  die  darin  besteht,  daß  man 
von  jener  Theorie  die  Konsequenzen  prüft.  Nur  die  praktische  An- 
wenaung  kann  über  Wahrheit  und  Irrtum  entscheiden.  Die  abstrakt« 
absolute  Erkenntnis,  welche  die  Bationalisten  behaupten,  ist  ein 
Unding;  eine  Logik,  die  Erkenntnisakte  ohne  die  damit  verknüpften 
Gefühle,  Tendenzen ,  Zwecke  usw.  behandeln  will ,  führt  sich  selber 
ad  absurdum.  Darum,  weil  sich  allen  unseren  Denkakten  diese 
menschlichen  Phänomen  anheften,  nennt  sich  die  neue  Richtung, 
die  diesen  Punkt  immer  und  immer  wieder  betont:  Humanismus. 

Dieser  an  und  für  sich  einfache  Grundgedanke,  dem  man  im 
wesentlichen  wird  zustimmen  müssen,  gibt  nun  das  Fundament  für 
alle  anderen  Theorien,  die  Schiller  noch  errichtet  hat.  Er  führt  zu 
einer  anderen  Größen  Schätzung  auch  in  der  Geschichte  der  Philosophie: 
Prütagoras,  der  den  Satz,  daß  der  Mensch  das  Maß  aller  Dinge  sei, 
ausgesprochen  hat  und  der  daher  als  der  erste  Humanist  angesehen 
werden  muß,  wird  auf  Kosten  Patos  mächtig  in  den  Vordergrund 

feschoben,  ein  Bestreben,  was  sich  übrigens  la  auch  sonst  in  neuer 
eit  stark  bemerkbar  macht.  Da  nun  aber  auem  Erkennen  sich  so 
starke  menschliche  Bestandteile  beimischen,  so  ist  es  unmöglich,  von 
„Tatsachen''  als  von  unserem  Denken  unabhängigen  Dm^en  zu 
sprechen.  Alles,  was  wir  „Tatsache''  nennen,  schließt  bereits  eine 
subjektive  Interpretation  ein,  es  gibt  durchaus  für  uns  keine  von 
unserem  Denken  unabhängige  objektive  Bealität,  sondern  die  Welt, 
die  an  sich  nur  uXin  ist,  roher  Stoff,  wird  erst  durch  unsere  Erkenntnis, 
die  stets  ein  SeleKtionsprozeß  Ist,  zu  dem,  als  was  sie  uns  er- 
scheint. Die  Welt  ist  plastisch,  ist  durchaus  das,  was  wir  aus  ihr 
machen.  Wenn  man  von  Bealität  sprechen  will,  so  muß  man  unter- 
scheiden zwischen  „primary  reality",  die  aber  für  uns  nicht  in  Betracht 


Studies  in  Humanism.  271 

kommt,  weil  sie  zwar  vorhanden  sein  muß,  aber  nicht  fOr  unsi  denn 
was  w^ir  Healität  nennen,  „real  fact^,  ist  stets  schon  irgendwie  ver- 
arbeitet. Was  für  uns,  das  heißt,  was  in  unserer  Erkenntnis  existiert, 
enthält  stets  auch  unsere  menschliche  Interpretation.  In  diesem  Sinne 
kann  man  also  saeen,  daß  es  für  unsere  Erkenntnis  keine  objektive 
Realität  gibt,  sonoem  nur  diejenige,  die  wir  selbst,  respektive  schon 
unsere  Ahnen  gestaltet  haben,  so  daß  das  Schaffen  von  Erkenntnis 
zugleich  ein  Schaffen  von  BeaHtät  ist,  ohne  daß  man  übrigens 
Schillers  Ansichten  als  Solipsismus  ansehen  darf.  Es  gibt  einen  sinn- 
lichen Kern  der  Wirklichkeit,  aber  wir  besitzen  ihn  nicht,  sondern 
^stoÖen  nur  darauf'',  .encounter  it**,  wie  Bradlsy  einmal  sich  ausdrückt. 
Vielleicht  hat  diese  humanistische  Lehre  auch  eine  gewisse  Ähnlich- 
keit mit  der  KANTschen  Kategorienlehre,  doch  besteht  auch  hier  eine 
gewaltige  Kluft,  da  Schill£b  wohl  alles  eher  als  Apriorist  zu  nennen  ist, 
sondern  rein  empirisch-psychologisch  das  in  aller  Erfahrung  enthaltene 
Subjektive  erklärt.   Vgl.  oesonders  den  Essay  The  Makin^  of  Truth '). 

Da  der  Humanismus  wie  auch  der  Pragmatismus  nicht  eine  ab- 
geschlossene Weltanschauung  sein  will,  sondern  nur  eine  Methode, 
um  zu  einer  gesicherten  Gesamtanschauung  zu  gelangen,  indem  er 
das  Mittel  an  die  Hand  gibt,  Wahres  von  Falschem  zu  unterscheiden, 
so  ist  er  auch  vereinbar  mit  den  verschiedensten  Formen  des  Denkens, 
soweit  sie  nur  auf  empirischem  und  nicht  rationalistischeni  Boden 
stehen.  So  kann  sich  die  humanistische  Denkmethode  sehr  wohl 
auch  mit  den  verschiedensten  religiösen  Überzeugungen  vereinigen 
Is^en,  ja  gerade  für  die  Eeligionsphilosophie')  ist  die  pragmatistische 
Methode  sehr  gut  zu  verwenden  (Essay  Faith,  Beason  and  Eeligion). 
Ja  selbst  zu  den  Bestrebungen,  die  übersinnliche  Welt  zu  erforschen, 
zu  dem,  was  man  in  England  „Psychical  Eesearch''  nennt,  verhält 
sich  der  Humanismus  nicht  feindlich,  obwohl  ich  finde,  daß  dieses 
Kapitel  bei  Schiller  nicht  sonderlich  überzeugend  wirkt.  In  der 
Frage  der  Willensfreiheit  stellt  sich  der  Humanismus  zu  den  In- 
deterministen,  obwohl  er  den  Determinismus  als  notwendiges 
Postulat  für  die  Naturwissenschaften  anerkennt,  jedoch  die 
ethische  Postulierung  der  Freiheit  noch  höher  stellt. 

Es  mögen  diese  Andeutungen  über  das  ausgezeichnet  geschriebene, 
an  neuen,  überraschenden  Geaanken  überreiche  Werk  Schillkbs  hier 
genügen.  Kritik  hat  er  schon  &üher  in  England  reichlich  gefunden; 
man  ersieht  es  auch  an  der  mannigfachen  Polemik  in  diesem  Buche. 
Aber  trotz  aller  rationalistischen  Gegenwehr  haben  die  vereinigten 
Mächte  Pragmatismus  und  Humanismus  ihren  Weg  gemacht.  Auch 
auf  dem  Kontinente  verspürt  man  bereits  die  Wirkung  des  neuen 
Denkens,  was  um  so  eher  geschehen  mußte,  da  er  überall  auf  parallel 

fenchtete  Strömungen  stieß.  So  arbeiten  in  Frankreich  Bergson  und 
^onccjLB£  auf  ähnlichen  Bahnen,  und  in  Deutschland  bestehen  starke 
Beziehungen  zu  Mach,  Ayekarics,  Ostwald  einerseits,  aber  auch  zu 
dem  Philosophieren  von  ganz  anders  gerichteten  Denkern,  wie  Eucken, 
SiMMEL,  auch  Jerusalem.  Besonders  aber  mit  den  erkenntnistheoretischen 
Anschauungen  Nietzsches  in  seiner  letzten  Zeit  ist  die  Verwandtschaft 
eanz  auffallend.  Es  fehlt  bis  jetzt  nur  an  einem  einigenden  Bande, 
aas  diese  verwandten  und  doch  wieder  entgegengesetzten  Richtungen 
verknüpfen  könnte. 

Berlin-Halensee.  Bich.  Müller-Fkeienfels. 


*)  ^g^'  besonders  auch  W.  James,  The  varieties  of  religious  ex- 
perience.    New  York  1898. 


272  0.  Klemm: 

Weidenbach,    Oswald^    Mensch    und    Wirklichkeil. 
Gießen  1907,  Alfred  Töpehnann.    4  M. 

Der  erste  Teil  dieser  Schrift  bespricht  die  „Möglichkeit  der 
Wahrheit",  ein  Zwischen  wort  leitet  zu  dem  früher  als  Habilitations- 
schrift des  Verfassers  erschienenen  zweiten  Teile:  „Die  Welt  als 
Aufgabe''  über.  Nur  nach  Überwindung  des  absoluten  Gegensatzes 
von  Subjekt  und  Objekt  wird  das  absolute  Sein  des  Ideals  erreichbar. 
Mit  diesen  Anschauungen  sei  hier  nicht  gerechtet.  Ich  halte  mich 
an  die  spezielle  Besprechung  einer  empirischen  Einzelwissenschaft, 
die  in  dem  letzten  Kapitel:  Die  Substanz  der  Einzelseele  steht 
(S.  73  ff.)-  Der  Verfasser  bekämpft  die  Meinung,  daß  der  Betriff  als 
Produkt  blofi  individueller  Tätigkeit  zu  gelten  habe  und  fährt  fort: 
Es  kann  nicht  wundernehmen,  daß  diese  Anschauungsrichtung  in 
der  modernen  Zeit  jener  merkwürdigen  Wissenschaft,  der  experi- 
mentellen Psychologie  das  Leben  geschenkt  hat.*'  Auf  diese  historische 
Entdeckim^  stolz  zu  sein,  hat  der  Verfasser  wenig  Gnmd.  Denn  die 
nächsten  historischen  Wurzeln  der  experimentellen  Psychologie  reichen 
offenkundig  in  die  Physiologie;  der  erkenntnistheoretische  Psycho- 
logismus hat  weder  sachlich  noch  durch  die  Persönlichkeit  der  Ver- 
treter etwas  mit  der  Psychologie  gerade  als  experimenteUer  Forschung 
zu  tun. 

„Denn  die  Methoden  dieser  Disziplin  ^hen  alle  darauf  hinaus, 
den  ersten  Moment  der  Erlebnisse  im  Individuum  zu  fixieren.**  Von 
diesem  Satze  muß  ich  gestehen,  daß  nur  die  gänzliche  Unkenntnis 
der  experimentell-psychologischen  Verfahrungsweisen  ihm  erklärlich 
macht.  In  der  Tat  eehört  ein  hoher  Grad  von  Oberflächlichkeit  dazu, 
etwa  aus  den  inneren  Bedingungen  ein  er  kurzdauernden  Reizein  Wirkung, 
dieses  Kennzeichen  der  psychoToeischen  Methodik  zu  erschließen.  „Die 
Unmittelbarkeit,  welche  in  Wahrheit  nur  die  Aufgabe  oder  der 
Anfang  der  Wirklichkeit  ist,  wird  gerade  in  ihrer  größten  Un- 
vollkommenheit  festgehalten.**  Wie  stark  ist  die  Zumutung  an  den 
Psychologen,  den  TJmkreis  der  unmittelbaren  Erfahrung  gegen  ein 
solches  der  Sphäre  spekulativer  Begriffsbildung  entnommenes  Argument 
zu  verteidigen.  Nach  einem  Exkurs  über  die  Aussichtslosigkeit  aUer 
experimenteller  Forschung  folgt :  „Aber  nun  erhebt  die  experimentelle 
Psychologie  den  Anspruch,  Philosophie  oder  gar  die  Voraussetzung 
und  das  Tor  aller  Philosophie  zu  sein.**  Wer  die  Meinung  seines 
Gegners  so  wenig  kennt  oder  sich  so  wenig  um  sie  kümmert,  daß  es 
ihm  keine  Überwindung  kostet,  diesem  auch  die  absurdesten  Be- 
hauptungen zuzumuten ,  der  hat  in  der  Bekämpfung  dieser  Be- 
hauptungen scheinbar  gewonnenes  Spiel.  Der  Kachweis,  daß  ex- 
perimentelle Psychologie  keine  Philosophie  sei,  mag  eine  nützliche 
Denkübung  sein :  im  üorigen  ist  der  Psychologe  darüber  ebensowenig 
erstaunt  wie  etwa  ein  Physiker,  dem  ein  Theologe  beweist,  daß  Physil 
keine  Theologie  sei.  Aber  unser  Autor  hat  auch  eine  richtige  Be- 
obachtung an  der  Psy(üiologie  gemacht,  daß  sie  nämlich  als  Wissen- 
schaft gilt  („sich  geriert**  sagt  er),  und  er  spricht  ihr  diesen  Charakter 
ab,  da  „sie  sich  ja  eingestandenermaßen  nur  mit  dem  Individuellsten 
und  eben  deshalb  Divergentesten  befaßt  Dieser  Satz  ist  zunächst 
eine  Übertreibung.  Wenn  ich  etwa  zwei  Helligkeiten  auf  ihre  Gleich- 
heit hin  prüfen  lasse,  und  die  Präzision  dieses  Helligkeitsvergleiches 
bei  demselben  Beobachter  zu  verschiedenen  Zeiten  oder  bei  ver- 
schiedenen Beobachtern  bestimme,  ist  dann  dieser  Helligkeitsvergleich 
ein  „Individuellstes"?   Aber  zugegeben,  daß  in  der  Psychologie  auch 


Die  kritische  Lehre  von  der  Objektivität.  273 

Dinge  Yorkommen,  von  denen  ich  weiß,  daß  sie  sich  auch  leicht  unter 
dem  Anschein  der  Gleichartigkeit  wieder  ereignen,  ^bt  es  nicht 
immer  zu  ihnen  ähnliche  Erscheinungen,  aus  deren  Komplex  sich 
induktive  Erkenntnisse  ableiten  lassen?  Alle  Induktion  gründet  sich 
nur  auf  ähnliche  Erscheinungen;  je  größer  die  Ähnlichkeit  ist,  imi 
so  mehr  wächst  die  Sicherheit  der  Induktion;  hebt  aber  etwa  eine 
solchegradweise  Abstufung  den  Charakter  als  Wissenschaft  auf? 

"Wie  dankbar  aber  muu  der  experimentelle  Psychologe  dem  Autor 
sein,  daß  dieser  ihm  über  sein  eigenes  Gebahren  wenigstens  noch  die 
Augen  öffnet.  -Wenn  aber  trotzdem  die  experimenteüe  Psychologie 
die  genannten  Ansprüche  erhebt,  so  kann  die  Erklärung  nur  darin 
liegen,  daß  in  ihr  der  Moment  des  unmittelbaren  Affiziertseins  seine 
Verherrlichung  findet.  Und  dies  wiederum  beruht,  wie  wir  gesehen 
haben,  auf  der  Meinung,  von  der  uns  innerlich  absolut  fremden 
,Wirklichkeit*  der  Dinge  an  sich  so  viel  als  möglich  durch  schnelles 
Zugreifen  im  Momente  des  Affiziertseins  zu  erhaschen.^  Diese  an- 
schauliche Schilderung  gibt  mutmaßlich  ziemlich  das  wieder,  was  dem 
Autor  selbst  bei  seiner  Jbeschäftigung  mit  der  Psychologie  widerfuhr. 

Wer  als  Philosoph  sich  das  Kecnt  anmaßt,  über  eine  empirische 
Einzelwissenschaft  ein  Urteil  zu  fällen,  hat  die  Pflicht  sich  mit  dem 
Charakter  dieser  Wissenschaft  vertraut  zu  machen  und  ihn  wieder- 
zugeben. Der  Charakter  dieser  Wissenschaft  bestinmit  sich,  wenn  die 
Polemik  sich  wie  hier  nicht  gegen  einzeln  genannte  Vertreter  richtet, 
nach  ihren  klassischen  Forschem.  Für  Psychologie  wäre  eine  solche 
Apologie  nicht  nötig  gewesen;  denn  bisher  hat  sich  die  lebendige 
Forschung  stets  als  stärker  denn  die  sterile  Spekulation  erwiesen. 
Wohl  aber  können  die  Bemerkungen  des  Verfassers  außerhalb  der 
Fachkreise  ein  wissenschaftliches  Bestreben,  zu  Unrecht  verdächtigen, 
wogegen  das  wissenschaftliche  Gewissen  nicht  scharf  genug  Einspruch 
erheben  kann. 

Leipzig.  0.  Klemm. 

Knntze,  Friedrich,  Dr.,  Die  kritische  Lehre  von  der 
Objektivität.  Versuch  einer  weiterfahrenden  Dar- 
stellung des  Zentralproblems  der  Kantschen  Erkenntnis- 
kritik.   Heidelberg  1906,  Karl  Winter.    315  S. 

Es  ist  immer  erfreulich,  wenn  ein  neues  philosophisches  Buch 
diejenige  Schärfe  und  Strenge  der  Überlegung  hat,  welche,  von  einigen 
Zeitgenossen  zum  ersten  Male  erreicht,  fortan  als  der  Maßstab  zu 
gelten  hat.  Wie  unerfreulich  stechen  so  manche  erkenntnistheore- 
tischen Erörterungen  unserer  Ta^e  in  ihren  laienhaften  Mißvei- 
ständnissen,  vorscnneUen  Entscheidungen  und  unscharfen  Begriffs- 
bestimmungen gegen  die  Leistungen  ab,  die  in  den  Maßstäben  eines 
BicKEBT,  HussEBL  uud  CoH£N  gegeben  sind.  Ich  nenne  gerade  diese 
drei,  weil  sich  an  ihnen  der  Verfasser  orientiert  hat.  Daß  seine  Arbeit 
in  wesentlichen  Punkten  von  Wickerts  Anschauungen  abweicht,  tut 
dem  keinen  Abbruch.  Wenn  zwei  mit  dem  nämlichen  Verständnis  für 
die  Schwierigkeit  des  Problems  verschiedenes  behaupten,  stehen  sie 
sich  gewiß  näher  als  zwei,  die  das  gleiche,  der  eine  aber  aus  um- 
fassender Kenntnis  der  Gegengründe,  der  andere  aus  Naivität,  be- 
haupten. 

Im  Anschluß  an  Kant  bezeichnet  der  Verfasser  sein  Problem  als 
das  der  Objektivität,  obgleich  es  für  ihn  vollkommen  zeitlos  begründet 

VierieljahrsBchrift  f.  i^dssenschaftl.PhiloB.  u.  Soziol.  XXXII.  2.         18 


274  O.  Klemm: 

ist.  Da  die  einander  überkreuzenden  Einteilungsprinzipien  theoretisch 
fundierter  und  anthropologisch  fundierter  Wissenschaften  mit  generali- 
sierender oder  indivioualisierender  Begriffsbildung  TorÜe^en,  'wird  das 
KAirrsche  System  der  universellen  Regeln  zu  einem  allseitig  begrenzten 
Problem.    Denn  einmal  mufi  dieses  System  der  generalisierenden  Be- 

friffsbildung  zugehÖren  und  kann  sicn  nur  snezifizieren,   niemids  in- 
ividualisieren;  sodann  aber  muß  es  auch  tneoretisch  fundiert  sein 
und  kann  auf  keine  Weise  durch  zimehmende  Konkretisierung  seiner 
Regeln  in  anthropologisch  fundierte  Wissenschaften  übergehen.    Das 
System  der  universellen  Regeln  füllte  also  das  Cadre:    theoretisch 
fundierte  Wissenschaften  mit  generalisierender  Begriffsbildung  aus. 
Als  äußeres  Kennzeichen  der  Objektivität  findet  der  Verfasser  die 
Unabhängigkeit  von  allem  Existentialen.   Der  erste  Teil  seines  Buches: 
Das  Problem   der  Objektivität  vor  Kant  setzt  sich  mit  den  in  der 
Geschichte    der    Philosophie    zutage  getretenen  Bestrebungen    aus- 
einander, die  Objektivität  auf  existentiale  Momente  aufzubauen.    Der 
zweite  Teil :  Das  Problem  der  Objektivität  bei  Kaiti*  sucht  die  kritische 
Objektivitätstheorie  bei  Kamt  zu  entwickeln.   Der  letzte  Teil  endlich: 
Das  Problem  der  Objektivität  nach  Kamt  ist  durch  die  Ergänzunes- 
bedürftigkeit  der   KANxschen   Lösung    gefordert.     So  viel   über    Sblb 
Programm  dieses  Buches,  von  dem  ich  nicht  durch  einzelne  dem  Zu- 
sammenhang entnommene  Fragen  den  Eindruck  der  Schwerverständ- 
lichkeit erwecken  will,  der  unvermeidlich  ist,  wenn  ein  Buch,  wie 
dieses  sich  nur  als  Ganzes  dem  aufmerksamen  Leser  erschließt.    Ich 
wünsche  ihm  die  Beachtung  auch  derjenigen  Forscher,  welche  nicht 
dem  durch  die  genannten  Namen  bezeicnneten  Gedankenkreise  an- 

fehören.    Das  Mittelmäßige  nicht  zu  beachten,  ist  ökonomisch.    Aber 
iese  Gedanken  haben  ein  Recht  darauf  anerkannt  —  oder  widerlegt 
zu  werden. 

Leipzig.  O.  Ki.EMir. 

Leyiy    Adolfo,    L'Indeterminismo    nella   filosofia 

francese  comtemporanea.     La  filosofia  della  con- 

tingenza.    Florenz,  Bemardo  Seeber.    300  S. 

Die  Einleitung  des  Buches  behandelt  die  der  zu  schildernden 
unmittelbar  vorangehende  Phase  in  der  Entwicklung  der  französischen 
Philosophie:  die  Philosophie  der  Freiheit,  worunter  diejenigen  Teile 
aus  den  philosonhischen  Systemen  des  S^cretan,  Bemouvier  und 
Bavaibson  verstanden  sind,  welche  sich  auf  den  Lideterminismus  be- 
ziehen (S.  9).  Durch  Emile  Boutrocx  wird  der  Übergang  zu  der 
^Philosophie  des  Zufalls"  vermittelt,  welche  die  kritische  Tendenz 
eines  Indeterminismus  im  Gegensatze  zu  der  metaphysischen  Tendenz 
der  Philosophien  der  Freiheit  bedeutet.  K.  Bergson,  G.  Bemaclb 
J.  Weber  werden  als  Träger  dieser  Denkrichtimg  für  die  Geistes- 
wissenschaften, G.  MiLHAUD,  J.  Tannery,  K.  Poimcar£  als  solche  für  die 
Naturwissenschaften  dargestellt.  Diese  Darstellung  ist  recht  lesbar 
und  um  so  anreg^ender  als  einige  der  genannten,  Bergson  in  Fragen  der 
reinen  Bewußtseinsphänomenologie  und  Poincar£  in  Fragen  der  natur- 
wissenschaftlichen Begriffsbildung  auch  in  Deutschland  an  Einflufi 
fewonnen  haben.  Die  sich  anschließende  Kritik  entbehrt  freilich  der 
iefe. 

Leipzig.  O.  Klemm. 


La  filosofia  di  Giordano  Bruno.  275 

Troilo^  Erminio^  La  filosofia  di  Giordano  Bruno. 
FratelU  Bocca,  Turin  1907.    160  S.    2,40  M. 

Wenn  zu  der  nicht  gerade  geringen  Literatur  Ober  Giordano  Bruno 
•ein  neues,  seine  eanze  Pnüosopme  darstellendes  Buch  tritt,  so  erwartet 
man  entweder  die  Mitteilung  neuer  Gesichtspunkte  oder  eine  sich 
^besonders  auszeichnende  Darstellung  seiner  Lehre.  Troilo  zeichnet 
den  Giordano  Bruno  zunächst  als  Philosophen  der  Renaissance  und 
seine  Weltanschauung  im  Sinne  dieser  ekstatischen  Naturphilosophie 
4d8  eine  antimetaphysische.  Eine  zweite  zu  den  üblichen  Deutungen 
in  Gegensatz  stehende  Meinung  ist  die  von  der  geringen  Bedeutung, 
^welche  der  coincidentia  oppositorum  in  seinem  S3rstem  zukäme.  Die 
•eigentliche  Darstellung  seines  Systems  gruppiert  dieses  um  die  drei 
Begriffe:  Plnfinito,  FUnit^  la  NaturalitÄ,.  Wie  bei  so  vielen  italieni- 
schen Büchern,  unterbrechen  glänzende  Eklogen  oft  den  Gedankengang 
«iner  historischen  Monographie.  Es  scheint  nier  überhaupt  das  Gefühl 
für  Reinheit  eines  wissenschaftlichen  Stils  von  dem  unsern  abzuweichen. 
JBine  ausführliche  BRUNo-Bibliographie  und  reiche  Literaturnachweise 
sind  dem  Buche  beigegeben. 

Leipzig.  0.  Klrmh. 

Adam^  Max^  Dr.,  Schellings  Eunstphilosophie. 
Die  Begründung  des  idealistischen  Prinzips  in  der 
modernen  Ästhetik.  In  Abhandlungen  zur  Philosophie 
und  ihrer  Geschichte,  herausgegeben  von  R.  Falckenberg 
in  Erlangen.    Quelle  &  Meyer,  Leipzig  1907.  88  S.  3,—  M. 

Jnngmann,  Karl^  Dr.,  Die  Weltentstehungslehre 
des  Descartes.  In  Bemer  Studien  zur  Philosophie 
und  ihrer  Geschichte,  herausgegeben  von  Ludwig  Stein 

in  Bern.    1907,    51  S.     1,—  M. 

Monographische  Einzelarbeiten  dürfen,  wenn  sie  in  solchen 
Sammlungen,  zumeist  wohl  aus  Anregung  des  Herausgebers  zustande 
gekommen  sind,  eher  auf  Beachtung  rechnen, als  bei  zerstreutem  Er- 
scheinen. Adams  Schrift  ist  das  zweite  Heft  der  genannten  Sammlung. 
Sie.  gibt  eine  sorgfältige  Analyse  der  Entwicklung  von  Schellinos 
Kunstphilosophie  und  zeigt  zu'^ieich  wie  bei  allen  Umwandlungen 
die  beiden  Prinzipien  des  ästhetischen  Idealismus,  daß  die  Schönheit 
etwas  Höheres  im  Menschen  sei,  und  daß  in  ihr  Stoff  und  Form  oder 
Unendliches  und  Endliches  eines  seien,  erhalten  bleiben.  (Auffallend 
ist  der  hohe  Preis,  der  den  üblichen  weit  übersteigt.) 

JuNosfANNB  Schrift  ist  der  54.  Band  der  Bemer  Studien.  Das 
Material  ist  in  ihm  gut  zusammengestellt.  Als  den  Mittelpunkt  der 
DEscARTEsschen  Kosmosonie  findet  der  Verfasser  das  Lichtproblem. 
Eine  interessante  Parallele  konstatiert  er  auch  als  Mikro-Makrokosmos 
zwischen  der  Phjrsiologie  und  dem  kosmischen  Systeme  Descartes'. 
Die  Darstellung  ist  gelegentlich  etwas  umständlich  und  geht  dann 
nicht  zu  ihrem  Vorteil  über  die  Aufgaben  der  historischen  Analyse 
hinaus  (S.  88,  alle  psychogenetischen  Fragen  sind  unbeantwortbar). 
Ein  textkritischer  Aiihang  oildet  den  Schluß. 

lieipzig.  O.  Klemm. 

18* 


276  0.  Klemm: 

Sehopenliaiier^  Arthur^  S  ein  philosophisches  System 
nach  dem  Hauptwerk:  „Die  Welt  als  Wille  und 
Vorstellung",  vorgeführt  von  Dr.  Otto  Siebert. 
182S.  2,50  M.  (Bücher  der  Weisheit  und  Schön- 
heit; Herausgeber  J.  E.  Freiherr  von  Ghrotthuß,  Verlag 
von  Greiner  &  Pfeiflfer,  Stuttgart.) 

Der  Bearbeiter  hat  den  Text  der  Ausgabe  von  1859  zuerunde  gelegte 
ihn  vielfach  zusammengedrän^  und  umschrieben,  in  allen  charakte- 
ristischen Stellen  aber  wörtlicn  wiederge^ben.  Außerdem  hat  er  der 
Übersichtlichkeit  wegen  eine  Einteilung  in  Kapitel  hergestellt.  Der 
Buchschmuck  von  Franz  Stassen  erfreut  das  Auge  de8jemg;en,  der  vom 
Texte  abschweift.  Die  äußere  Form  des  Buches  ist  artistisch  genug, 
um,  wie  Shopenhauer  einst  in  einer  Vorrede  mit  Ironie  zugestand,  ea 
nun  doch  auf  einen  Boudoirtisch  legen  zu  können. 

Leipzig.  O.  Klemm. 

Böhringer^  Adolfe  Dr.,  Kants  erkenntnistheoretischer 

Monismus.    Eine  Einleitung  in  das  Studium  der  Kritik 

der  reinen  Vernunft.    M.  Rieger,  München  1907.    125  S» 

1,80  M. 

Ein  neues  Buch  üher  Kant  !  und  unter  diesem  Titel  1  Dem  ahnungs- 
vollen Leser  graust;  aher  mit  einem  Rest  Ton  Optimismus  geht  er 
an  seine  Aufgabe.  Kap.  1:  Kants  sogenannter  Apriorismus.  Kant 
hat  die  Erfahrung  nicht  gering  geschätzt »  imd  die  Unterscheidimg 
analytischer  und  s^thetischer  Urteile  besteht  zu  Becht;  Büukinger 
sagt  es  uns,  mit  einer  „beinahe  impertinenten  Deutlichkeit^^  (für  die 
er  sich  entschuldigt,  S.  19).  So  gent  es  weiter  zwei  Kapitel  ttber 
transzendentale  Ästhetik  und  LogiS.  Die  Behauptung  (S.  57),  das  Ding 
an  sich  sei  nicht  etwas  Nichterscheinendes,  sondern  etwas,  was  er- 
scheint, ist  ziemlich  belanglos.  Die  klassischen  Sätze,  mit  denen  Kant 
das  Verhältnis  des  Verstandes  zu  einem  mundus  intelligibilis  gekenn- 
zeichnet hat,  formuliert  das  letzte  Kapitel  zu  einem  erkenntnis- 
theoretischen Monismus.  Ist  dieser  als  Einschränkung  der  Erkenntnis 
auf  die  Ihrfahrung  gemeint,  so  ist  es  trivial,  ist  er  als  metaphysisch 
gemeint,  ist  er  natürlich  falsch.  Dafi  dem  Buche  ein  Ixmalts- 
verzeichnis  fehlt,  ist  eine  literarische  ünhöflichkeit. 

Leipzig.  O.  Klemm. 

Bertling^  0.,  Prof.  Dr.,  Geschichte  der  alten  Philo- 
sophie als  Weg  der  Erforschung  der  Kausalität, 
für  Studenten,  Gymnasiasten  und  Lehrer  dargestellt. 
Dr.  W.  Künkhardt,  Leipzig  1907.    128  S. 

Wenn  jemand  es  unternimmt,  die  alte  Philosophie  für  die  in  dem 
Untertitel  bezeichneten  Kreise  darzustellen,  ist  die  Unterordnung  des 
ganzen  Stoffs  unter  einen  einzigen  Gesichtspunkt  ein  Kunstgriff  und 
ein  Wagnis  zugleich.    Als  das  Eigentümlicne  an  seiner  Darstellung 


Die  Schrift  bei  Geisteskranken.  277 

liebt  der  Verfasser  selbst  heraus,  daß  in  ihr  zum  ersten  Male  das  topo- 
graphische Hilfsmittel  eines  dreifach  dimensionierten  Kausalsystems 
zur  Anwendung  gekommen  sei.  Von  der  Kausalität  hat  sich  der 
Verfasser  eine  merkwürdige  Anschauung  gebildet.  Zunächst  wird  die 
Erkenntnis  des  kausalen  ^sammenhanges  des  Wirklichen  als  Aufgabe 
der  Philosophie  hingestellt.  Dann  lassen  sich  freilich  alle  philosophi- 
schen Probleme  als  spezielle  Formen  des  Kausalproblems  auffassen; 
aber  wer  wird  denn  jene  Formulierung  der  Aufgabe  zugeben?  Des 
weiteren  statuiert  Bertlinq  drei  Arten  oder  Richtungen  von  Kausalität : 
die  zeitlich  ablaufende,  die  zeitlich  verbindende  und  die  sich  ganz  im 
Innern  eines  jedes  Wirklichen  vollziehende  (die  „Daseinskraft*'}.  Ein 
Beispiel  f  Qr  „zeitlich  verbindende"  Kausalität  ist  die  fliegende  Kugel, 
deren  Bewegung  sich  nicht  nur  durch  den  empfangenen  Anstoß,  sondern 
auch  durch  die  zwischen  ihr  und  dem  Erdball  wirkende  Anziehunffs- 
kraft  bestimmt  (S.  3).  Daß  die  Anziehungskraft  durch  das  „spezifische 
irewicht''  ermöglicht  sei  (es  müßte  Masse  heißen),  ist  ein  für  das 
Problem  unwesentlicher  i^bysikalischer  Lapsus.  Die  Mechanik  stellt 
eine  solche  Bewegung  als  Resultante  zweier  Kräfte  dar,  der  momen- 
tanen Stroßkraft  und  der  dauernd  wirkenden  Anziehungskraft.  Jede 
Bewegung  läßt  sich  als  Resultante  beliebig  vieler  Krdte  auffassen; 
man  KLhrt  als  wirkende  Ursachen  so  viel  Komponenten  ein,  als  durch 
-die  Erfahnmg  gefordert  sind.  Der  Betriff  einer  zeitlich  verbindenden 
Kausalität  ist  inhaltsleer.  Die  an  dritter  Stelle  genannte  „Daseins- 
kraft**  ist,  soweit  dabei  an  die  Unzerstörbarkeit  des  Stoffes  gedacht 
w^ird,  eine  den  Gesetzen  der  zeitlichen  Kausalität  sich  fügende  hypo- 
thetische Elementarkraft,  soweit  sie  „Seinsbegründun^  und  Selbst- 
en tfaltung''  ist,  ein  metaphysischer  Begriff,  der  glücklicherweise  mit 
Kausalität  nichts  mehr  zu  tun  hat.  Kants  Analogien  der  Erfahrung, 
die  zu  den  bekannteren  philosophischen  Formulierungen  gerechnet  zu 
werden  pflegen,  enthalten  unter  der  Kategorie  der  Relationen  diese 
drei  Arten :  Es  stiftet  aber  eine  Verwirrung  von  Begriffen,  wenn  man 
sie  alle  als  Richtungen  der  Kausalität  definiert,  und  es  entstellt  die 
Probleme  der  „Substanz"  und  der  „Wechselwirkung**,  wenn  man  sie 
nur  unter  diesem  einzigen  Gesichtspunkte  auffaßt.  So  wird  etwa  die 
wichtigste  Wendung  der  griechischen  Philosophie,  daß  das  Wirkliche 
im  Begriff  gefunden  wird  (Plato),  nur  zu  einer  Richtung  des  Denkens 
auf  eine  andere  Art  von  Kausalität,  auf  die  daseinswirkende. 

Einen  günstigen  Eindruck  erwecken  diejenigen  Teile  des  Buches, 
in  denen  der  Schematismus  des  Verfassers  wenig  oder  nicht  zur 
Geltung  kommt.  Hier  zeigt  sich  eine  umsichtige  Kürze  und  Prägnanz 
der  Darstellung,  die  ein  reiches  Wissen  voraussetzt. 

Leipzig.  0.  Klemm. 

Xöster^ Bndolfy  Dr.,  Die  Schrift  bei  Geisteskranken. 
Ein  Atlas  mit  81  Handschriftproben.  Mit  einem  Vorwort 
von  Prof.  R.  Sommer.  J.  A.  Barth,  Leipzig  1903.  169  S. 
10  M. 

Im  Anschluß  an  die  Versuche  Sommers  hat  der  Verfasser  es  imter- 
nommen,  eine  Übersicht  über  die  Schriftstörungen  bei  Geisteskranken 
auf  dem  Boden  der  streng  analytischen  Betrachtungsweise  zu  geben. 
Von  der  populären  Graphologie  scheidet  Köster  seine  eigene  Be- 
trachtungsweise als  die  „neurologische''  Richtung,  da  sie  auf  allgemein- 


278  O.  Klemm: 

&[rapliolofiiache  Untersuchungen  verzichte  und  ihr  Aueenmerk  wesent- 
lich auf  die  pathologischen  ^Erscheinungen  in  der  Schrift  richte.  Di» 
Untersuchung  der  einzelnen  Schriftproben  geschieht  in  einer  Zer- 
legung in  Komponenten  (Form,  Gröiie,  Lage  zur  Horizontalen  usw.). 
Die  Ver^leichung  vieler  Schriftproben  führt  zu  einigen  brauchbaren 
diagnostischen  Schlüssen ,  in  denen  indessen  der  Verfasser  eine  an- 
erkennenswerte Vorsicht  walten  läßt. 

Leipzig.  O.  Klemm. 

Arnoldt^  Emil^  Gesammelte  Schriften.   Herausgegeben 
von  0.  Schöndörffer.    Berlin  1907,  Bruno  Cassirer. 

Li  chronologischer  Reihenfolge  erscheinen  nach  dem  eigenen 
Wunsche  des  1905  verstorbenen  Autors  seine  Schriften,  in  deren  reicher 
Manni^altigkeit  die  sich  um  die  vierjährige  Dozentur  in  Königsberg- 
gruppierenden  speziell  philosophischen  Lih|dte  sind. 

Band  I:  I.  Li  der  Bahn  freigemeindlicher  Ansichten, 
IL  Kritiken  und  Beierate, 
vereinigt  seine  zerstreuten  Veröffentlichuneen  aus  der  Zeit  seiner 
Lodösung  von  der  evangelischen  Gemeinde  und  eine  Beihe  von 
Besprechungen  zeitgenössischer  Werke,  unter  denen  vor  allem  die 
Polemik  gegen  Otto  Liebmann  sein  glänzendes  kritisches  Talent- 
zeigen. 

Band  11 :  Kleinere  philosophische  und  kritische  Abhandlungen.  Erste 
Abteilung, 
eröffnet  die  Beihe  derjenigen  philosophischen  Schriften,  durch  die 
Arnoldt  allen  bekannt  geworden  ist,  welche  sich  mit  der  K^NTSchen 
Philosophie  eingehender  beschäftigen.  Die  Verteidi&ring  von 
Kants  transzendentaler  Idealität  des  Baumes  und  der  Zeit  gegen 
Trendelen  BÜRO,  und  die  Habilitationsvorlesung  über  Kants  Idee 
vom  höchsten  Gut  zeichnen  sich  hier  besonders  aus. 

Nachlaßband  I:  Zur  Literatur. 

Erste  Abteilung:  Faust-Nathan  gibt  einen  ziemlich  voll* 
ständigen  Faust  -  Kommentar  und  einen  fragmentarischen  zu 
Kathan. 

Zweite  Abteilung :  Kleinere  Abhandlungen,  ästhetische  Essay» 
aber  Shakespeare,  Lessing,  Goethe,  Schiller. 

Es  muß  dem  Herausgeber  und  dem  Verleger  zum  Verdienste  an- 
gerechnet  werden,  daß  sie  die  Gedanken  dieses  ernsten  und  stilvollen 
Mannes  weiteren  Kreisen  zugänglich  gemacht  und  ihm  damit  da» 
schönste  Denkmal  gesetzt  haben. 

Leipzig.  O.  Klemm. 

Sanns ,   Dr.,   Similismus.     Grundriß  einer  neuen  Welt- 
anschauung.   Dresden  1907,  E.  Pierson.     172  S. 

Als  Similismus  bezeichnet  der  Verfasser  seine  Weltauffassung 
aus  dem  Grunde,  weil  sich  ihr  gemäß  die  Welt  als  das  vollkommenste 
Simile  (Gleichnis)  Gottes  herausstellt  (S.  28).  Daß  dem  ,jSelb6twirklichen 
Sein**  ein  „nichtselbstwirkliches  Sein**  entspricht,  ist  sein  „langer 
Spieß**,  um  den  Ausdruck  Luthers  in  der  Polemik  gegen  Keuirich  vin. 
von  dem  Hauptargument  seines  Gegners  zu   gebrauchen.     Die  ge- 


I 
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ii 

l  Die  Ethik  Pasoals.  279 

■■ 
I 

zwungene  scholastisohe  Form  mit  der  naiven  Verwendung  viel  disku- 

'  tierter  Begriffe  wird  ebenso  das  Kopfschütteln  des  Logikers  erregen, 

j  wie  das  rSigiöse  Gemüt  unbefriedigt  lassen. 

I  Leipzig.  0.  Klemm. 

Bomhansen^  K.^  Die  EthikPascals.    Studien  des  neuen 
Protestantismus.   Verlag  von  Töpelmann,  Gießen.   Heft  2. 

1907.     171  S. 

Pascals  Ethik  steht  in  innigster  Beziehung  zu  seiner  Persönlich- 
keit und  zu  seiner  regiliösen  Imtwicklung.  Sstere  neigt  durchaua 
dem  Lidividualismus  zu.  Das  Ziel  aller  Weltentwicklune  besteht  für 
ihn  in  der  Persönlichkeitegestaltung,  welche  dem  Reichtum  indivi- 
duellen Lebens  Ausdruck  schafft.  Doch  erhält  Pascals  Indiyidual- 
bewnßtsein  seine  besondere  Wendung  durch  die  Verbindung  mit  seinem 
starken  religiösen  Empfinden,  womit  auch  seine  eigenartige  persönlich- 
mystisohe  Keligiosität  zusammenhängt.  Das  Neue,  was  ihn  die 
Bahnen  der  katholisch-scholastischen  Keligiosität  und  Apologetik  ver- 
lassen läßt,  ist  die  innere  Glaubenssicherheit,  die  wunderbare  Über- 
zeugung seines  persönlichen  Erlöstseins.  Und  zwar  bildet  nach  ihm 
die  persönliche  Beziehung  des  Menschen  zu  Gott  bei  der  Erlösung 
das  Entscheidende.  Eüerbei  wird  die  Kirche  und  ihr  Vermittlungsamt 
zwischen  Gott  und  Mensch  ganz  vergessen,  der  Individualismus,  der 
im  Mönchs-  und  Keiligenideal  steckt,  ist  überholt.  So  gibt  Pascal 
dem  gläubigen  Menschen  eine  neue  selbständige  Stellung  zu  Gott,  die 
dem  modernen  G^ist  des  Individualismus  entspricht.  Aber  er  bleibt 
trotz  seines  wissenschaftlichen  Denkens  und  seines  religiösen  Indivi- 
dualismus durchaus  strenger  Katholik.  Den  daraus  sicn  ergebenden 
Zwiespalt  seines  Glaubens  sucht  er  durch  irdische  Selbstaufgabe,  durch 
asketisches  Verhalten  zu  heilen. 

LfOider  fehlt  bei  Pascal  das  theoretische  Durchdenken  seiner  sitt- 
lichen Grundsätze.  Nach  ihm  ist  die  aus  der  intuitiven  Beurteilimg 
des  praktischen  Falles  hervorgehende  Moral  der  aus  deduktivem  Ge- 
brauch des  Geistes  festgestellten  Moral  übergeordnet.  Jedoch  behauptet 
er,  daß  der  Mensch  zur  einheitlichen  Sammlung  seiner  sittlichen  Er- 
fahrung unvermögend  sei.  Schon  die  Wahl  eines  Prinzips  zur  Unter- 
ordnung sei  willkürlich ,  die  Unterordnung  selbst  unmöglich.  Dies 
sind  die  grundlegenden  Punkte  für  Pasoals  Ethik.  Bezüglich  der 
Ausführungen  im  einzelnen  muß  auf  das  Buch  selbst  verwiesen 
werden.  Hervorheben  möchte  ich  nur  seine  Behauptung,  daß  das 
Extrem  einer  Tugend  durchaus  schädlich  sei,  wenn  es  nicht  durch  das 
Extrem  einer  anderen  Tugend  kompensiert  werde.  Bezüglich  des 
religiösen  Gefühls  urteilt  er,  daß  dasselbe  seinen  Sitz  im  Herzen,  nicht 
in  der  Vernunft  habe,  ebenso  wie  auch  viele  andere  Grundwahrheiten 
aus  dem  intuitiven  Gefühl  hervorgegangen,  so  Baum,  Zeit  und  Be- 
wegung. 

Erfurt.  C.  M.  Giessler. 

DrewSy   A.,    Das   Lebenswerk    Eduard    von    Hart- 
manns.   Leipzig  1907,  Verlag  von  Thomas.    67  S. 

Die  Schrift  bildet  eine  Würdigung  des  „so  vielfach  verkannten 
und  angefeindeten**  Eduard  von  Hartmann,  dessen  Hauptstärke  Verfasser 
in  folgenden  Punkten  findet: 


280  C.  M.  Gießler: 

Die  Philosophie  vor  Haktmanm  identifizierte  fast  durchweg  Be- 
wußtsein mit  Sein  (Natur).  Hahtmamm  dagegen  faßt  beide  als  an  sich 
verschiedene,  nur  in  ihrer  Wurzel  identische  Ausstrahlungen  oder  Er- 
scheinungen des  einen  Unbewußten,  das  selbst  ebensowohl  jenseits 
der  Natur  wie  jenseits  des  Bewußtseins  substituiert«^  Das  resile  Sein 
ist  nicht  im  Bewußtsein,  d.  h.  im  ideellen  Sein  zu  finden,  kann  also 
nicht  immittelbar  erschlossen  werden,  sondern  nur  mittelbar.  Daher 
gelangt  man  auch  nur  zur  Wahrscheinlichkeit,  aber  nicht  zur  apodik- 
tischen Gewißheit.  Mit  dem  Verzicht  auf  die  Apodiktizität  nun  wird 
aber  die  Bahn  für  die  Induktion  frei.  Nach  Drkws  ist  nicht  Kant, 
sondern  Hartuann  der  Begründer  einer  eigentlichen  kritischen  Philo- 
sophie. Kartmann  hat  durch  den  Hinweis  auf  die  Nichtidentität  von 
Bewußtsein  und  Sein  gezeigt,  wie  es  möglich  sei,  a  posteriori  oder 
auf  induktivem  Wege  zu  metaphysischen  Resultaten  zu  gelangen. 
Er  wies  nach,  wie  alle  Erfahrung  aus  Empfindungen  und  syntheti- 
schen Intellektualfunktionen  aufgebaut  sei,  von  denen  uns  jene  von 
außen  durch  die  Wirkung  transzendenter  Reize  auf  unsere  Seele  ge- 
liefert werden  und  demnach  auf  eine  bewußtseinsjenseitige  Welt  von 
„Dingen  an  sich**  hindeuten,  während  diese  von  innen  her  oder 
a  priori  zu  den  Empfindungen  hinzugefügt  werden.  Wenn  die 
Kategorien  oder  synthetischen  Intellektualfunktionen,  wodurch  die 
Empfmdungen  zur  Einheit  des  Bewußtseins  verknüpft  werden,  keine 
Euxiktionen  des  Bewußtseins  in  dem  angegebenen  Sinne  sind,  so  besteht 
kein  Grund ,  sie  auf  die  Grenzen  des  Bewußtseins  einzuschränken, 
ihnen  transzendenten  Gebrauch  zu  verbieten  und  die  Möglichkeit  eines 
Erkennens  der  Dinge  an  sich  zu  leugnen.  Daher  also  auch  Über- 
einstimmung der  Denkgesetze  mit  den  Seinsgesetzen.  Darin  besteht 
Hartmanns  transzendentaler  Bealismus,  den  er  dem  transzendentalen 
Idealismus  Kants  entgegenstellte.  Das  Bewußtsein  ist  aber  nur 
Empfindungssein,  wohingegen  die  Denkformen  absolut  unbewußt  sind. 
Das  Bewußtsein  als  Einheit  von  Form  und  Inhalt  ist  etwas  Passives. 
Es  ist  kein  wirkliches  Sein.  Das  Reale  ist  das  Unbewußte,  das 
Wirkende,  Tätigkeit  schlechthin. 

Das  Leben  erhebt  sich  über  den  Mechanismus  der  Energieen 
durch  seine  autonome  Gesetzmäßigkeit.  Das  hierbei  tätige  organi- 
sierende Prinzip  ist  eine  Kraft  ohne  Potential,  immateriell,  absolut 
unbewußt  und  überindividuell.  Er  bedient  sich  der  Energien  bloß, 
xun  den  Lebensprozeß  zu  ermöglichen.  Das  Leben  ist  ein  dynamisches 
Prinzip  neben  anderen.  Mit  dieser  Ansicht  stellt  sich  Harthann  auf 
den  Boden  des  Vitalismus. 

Die  Tätigkeit  der  Materie  löst  sich  auf  in  Wille  und  Vorstellung. 
Stauung  der  Kraft,  Einschränkimg  des  Willens  führen  zur  Gefühls- 
intensität. Damit  aber  ist  das  Bewußtsein  unmittelbar  gegeben. 
Überall  wo  Bewegung  ist,  muß  demnach  auch  Bewußtsein  sein  (?). 
Mit  dieser  Psvchologie  setzt  sich  Hartmann  in  Gegensatz  zur  heut- 
zutage herrscnenden  Bewußtseinspsychologie,  welche  sich  innerhalb 
des  Empirischen  hält.  Nach  ihm  vermag  die  letztere  die  wichtigsten 
psychologischen  Probleme  nicht  zu  erklären. 

Hartmann  unterscheidet  drei  Arten  des  Unbewußten:  1.  das 
physiologisch  Unbewußte,  d.  h.  die  ruhenden  molekularen  Dispositionen 
im  Nervensystem,  welche  im  Falle  der  Erregung  durch  Reize  zu  Be- 
wußtseinsvorffäneen  führen.  2)  Das  relativ  Unbewußte,  nämlich  die- 
jenigen psychischen  Phänomen,  welche  für  Individualbewußtseine 
niederer  Ordnung  bewußt,  für  das  obere  Zentralbewußtsein  hingegen 
unbewußt  sind.    3J  Das  absolute  Unbewußte,  jene  unbewußte  und  doch 


Das  Lebenswerk  Eduard  von  Hartmanns.  281 

iHunaterielle  Tätigkeit,  welche  sich  als  Lebensprinzip  bezw.  als  Seele 
darstellt.  Aus  dem  Zusammenwirken  aller  drei  Arten  des  Unbewußten 
erklärt  sich  der  gesamte  Inhalt  unseres  Bewußtseins. 

Bewußtsein  ist  nichts  anderes  als  der  passive  Keflex  gehemmter 
Tätigkeiten  des  Unbewußten.  Durch  Aufeinandertreffen  von  Willens- 
akten entsteht  an  den  Knotenpunkten  Bewußtsein  als  eine  Stauungs- 
erscheinung  der  Willenshemmung.  Bewußtsein  ist  also  Empfindungs- 
sein, d.  h.  der  Zustand,  wo  das  Subjekt  der  Willenstätigkeit  etwas 
in  sich  findet,  was  nicht  unmittelbar  durch  es  selbst  gesetzt,  sondern 
ihm  gegen  seinen  Willen  von  außen  aufgedrängt  ist.  Es  ist  Zu- 
sammenfassung aller  Empfindungen  auf  Grund  unbewußter  In tellektual- 
funktionen.  Bewußtsein  ist  etwas  Passives  imd  Unproduktives.  Es 
erfaßt  etwas  bereits  Zusammengefaßtes,  nämlich  das  synthetische 
Produkt  aus  dem  passiven  Keflex  der  Willenshemmungen  einerseits 
und  der  zu  ihm  hinzukommenden  Intellektualfunktionen  andererseits. 

Nach  Hahtmaxn  vermag  nur  die  unbewußte  Tätigkeit  als  einheit- 
lich doppelseitige  Funktion,  worin  Wille  und  Vorstellung  die  zu 
unterscheidenden  Momente  bilden,  die  Wirklichkeit  restlos  zu  er- 
klären. 

Hartmann  hat  seit  Heqel  zum  ersten  Male  wieder  versucht,  die 
sämtlichen  Kategorien  des  Seins  im  Zusammenhang  zu  entwickeln. 
Er  fügt  den  Kategorien  der  subjektiv-idealen  Sphäre  (des  Bewußtseins) 
und  der  objektiv-realen  Sphäre  (des  Daseins)  diejenigen  der  meta- 
.  physischen  Sphäre  (des  Unoewußten  mit  seinen  Attributen  Wille  und 
Vorstellung)  ninzu. 

Seine  Axiologie  ist  eudämonologisch ,  doch  ist  der  eudämono-' 
logische  Wertmaßstab  für  ihn  nicht  der  höchste,  sondern  nur  der  für 
die  Wertbemessimg  der  Welt  im  ganzen  entscheidende.    Der  Pessi- 
mismus war  für  Hartmann  ein  rein  theoretisches  affektfreies  Wissen 
um  das  überwiegende  Leid  des  Daseins. 

Hartmann  war  nicht  der  Ansicht,  daß  die  Ethik  auf  eigenen  Füßen 
stehen  und  ihre  Begründung  im  Empirischen  durch  die  Rücksicht  auf 
ein  erst  zu  ergreifendes  Ziel  erlangen  könnte.  Vielmehr  trat  er  mit 
aller  Entschiedenheit  für  die  Abhängigkeit  der  Moral  von  der  meta- 
physischen und  religiösen  Weltanschauung  ein. 

Hartmann  war  der  gefährlichste  Gegner,  den  das  Christentum 
jemals  gehabt  hat.  Er  bekämpfte  die  Moral  Jesu  wegen  ihres  trans- 
zendenten Eudämonismus,  ihrer  Begründung  alles  sittBchen  Handelns 
durch  die  Aussicht  auf  Lohn  und  ^rafe,  und  er  wies  die  logische  Un- 
annehmbarkeit  der  Annahme  eines  persönlichen  Gottes  sowie  die  Un- 
haltbarkeit  des  Unsterblichkeits^laubens  nach.  Hartmann  führte  diesen 
Kam{)f  im  Interesse  der  Religion.  Im  Mitteli)unkte  seiner  eigenen 
Beligion  steht  das  Unbewußte  mit  den  Attributen  Allmacht  und 
Allwissenheit. 

Vor  allem  aber  ist  Hartmann  nach  Drews  der  bedeutendste  philo- 
sophische Kritiker. 

Bezüglich  des  Kernpunktes  der  HARTMANNschen  Lehre  möchte  ich 
folgendes  zur  Erwägung  empfehlen: 

Daß  die  Seele  im  unbewußten  Zustande  in  analoger  Weise 
arbeitet  wie  im  bewußten,  erkennt  man  aus  einer  genauen  Beobachtung 
der  Entstehung  der  Träume.  Dieselbe  zeigt,  daß  schon  im  Unbewußten 
ein  Zusammenordnen  von  psychischen  Produkten  mobilwerdender 
Vorstellungsdispositionen  stattfindet.  Also  hier  sind  bereits  die  In- 
tellektualfunktionen wirksam.  Diese  Produkte  werden  beim  Erwachen 
des    Bewußtseins  nach   komplizierteren  Mustern   vom  Tagleben   her 


282  C.  M.  Gießler: 

• 
zusammengefügt,  wobei  diejenigen  Elemente,  welche  sich  nicht  ein- 
ordnen lassen,  vemachläseigt  werden.  Das  psychisch  unbewußte  ist 
aber  nicht  dasselbe  wie  das  Unbewußte  der  Materie  überhaupt,  da  die 
auf  seelische  Tätigkeit  angelegte  Nervenmasse  der  Substanz  der 
übrigen  Materie  bezüglich  ihrer  Eigenschaften  nicht  gleichgesetzt 
werden  kann.  Denmach  darf  man  auch  nicht  ohne  weiteres  daraus 
schließen,  daß  die  Denkgesetze  zugleich  die  Seinsgesetze  seien. 

Erfurt.  C.  M.  Giesslkr. 

Liepmann^  H.^  Über  Störungen  des  Handelns  bei 
Gehirn  kranken.  Berlin  1905,  Verlag  von  Karger. 
161  S. 

Die  vorliegende  Schrift  bietet  eine  ausführliche  Behandlung  der 
Apraxie.  Und  man  kann  wohl  behaupten,  daß  es  für  jeden  Seelen- 
kundigen ein  Genuß  sein  muß ,  dem  Verfasser  bei  semen  meister- 
haften Zergliederungen  zu  folgen! 

Verfasser  hatte  bereits  früher  die  motorische  Apraxie  der 
sensorischen  gegenübergestellt.  Er  versteht  darunter  die  ÜnflQiigkeit 
zu  zweckeemäßer,  d.  h.  dem  subjektiven  Zweck  entsprediender  Be> 
wegung  der  Glieder  bei  erhaltener  Beweglichkeit  Der  Agnostische 
handelt  im  Gegensatz  zum  Apraktischen  zweckeemäß,  wenn  auch 
nicht  zweckmäßig.  Auf  Grund  der  Täuschung,  daß  die  Zahnbürste 
eine  Zigarre  sei,  will  er  rauchen.  Er  macht  die  Bauchbewegung  und 
handelt  demnach  zweckgemäß.  Die  Abgrenzung  der  motorischen 
Apraxie  gegen  Lähmung  oder  Parese  ist  durch  den  Zusatz  „bei  er- 
haltener Beweglichkeit''  gegeben. 

Schon  Pick  hatte  Störungen  des  Handelns  beschrieben:  1.  Das 
einfache  Versagen  der  Zielbewegung.  So  z.  B.,  wenn  ein  Kranker, 
der  eine  Kerze  anzünden  soll,  das  brennende  Zündholz  in  die  Nähe 
der  Kerze  bringt,  es  aber  abbrennen  läßt  und  schließlich  ausbläst. 
2.  Ein  Kranker  legt  eine  ihm  gereichte  Pistole  wie  eine  Flinte  ans- 
Auge.  Hier  nimmt  der  Erregungsstrom  einen  benachbarten  Verlauf. 
8.  Verwechselung  der  einzelnen  Komponenten  eines  komplizierten, 
aber  einheitlichen  Handlungskomplexes.  4.  Verdrängung  einer  Ziel* 
vorstellimg  durch  eine  ästhesiogene,  z.  B.  wenn  ein  Kranker  statt  am 
Stiefel  an  einer  schmerzhaften  Stelle  des  Körpers  wichst. 

Es  gibt  auch  apraktische  Störungen  nach  Gliedmaßen.  Der  ge- 
samte sensomotoriscne  Apparat  einer  oberen  oder  unteren  Extremität 
kann  abgespaltet  sein.  Aber  die  eventuelle  Summe  der  Apraxien 
mehrerer  Gueder  ist  etwas  anderes  als  die  allgemeine  Unfähigkeit 
aller  Glieder  zu  einer  Handlung  infolge  der  ideatorischen  Unfähigkeit 
zum  Entwurf  der  Handlimg. 

Verfasser  geht  nun  zu  einer  Analyse  der  Handlung  über.  Er 
bedient  sich  dabei  der  WERNicKEschen  Schemas.  Im  sensorischen 
Zentrum  s  wird  ein  Sinneseindruck  perzipiert,  auf  der  Strecke  s— A 
(psychosensorische  Bahn)  wird  er  identifiziert,  so  daß  er  in  A  Aus^angs- 
vorstellung  eines  weiteren  Prozesses  werden  kann,  der  in  ZT  (Ziel- 
vorstellung) mündet.  A— Z  stellt  die  intrapsychische  Bahn  dar.  Von 
der  Zielvorstellung  wird  das  Motorium  erregt.  Z — m  ist  die  psycho* 
motorische  Bahn.  Oft  besteht  die  Ziel  Vorstellung  aus  Teil  Vorstellungen: 
Zi,  Zg,  Zs  . . . ,  aus  denen  Teilbewegungen  hervorgehen.  Die  Haupt- 
zielvorstellung kann  nur  erreicht  werden,  wenn  ein  Plan  entworfen 
ist,  betreffend  den  Weg,  das  Neben-  und  Nacheinander,  den  Bhythmus 


über  Störungen  des  Handelns  bei  Gehimkranken.  28ä 

der  EinzMBlakte,  die  Komposition,  Struktur  der  Handlung.  Verfasser 
nennt  diesen  Aufbau  der  Bewegung  die  Formel  der  Bewegung. 
Die  Umsetzung  der  Hauptzielvorstellung  in  Teilzielvorstellungen 
gehört  nach  dem  Verfasser  zam  intrapsychischen  Prozeß.-  Solange 
nun  die  den  einzelnen  Z  entsprechenden  Innervationen  Ji,  J9,  Jg . . . 
mit  jenen  in  normaler  Verknüpfung  bleiben,  hat  man  keinen  Grund 
anzunelunen,  daß  motorische  Apraxie  vorliegt.  Diese  ist  erst  dann 
vorhanden,  -wenn  die  Z  und  J  nicht  mehr  im  Einklang  stehen.  „Hier 
irrt  der  JBeTKregungsapparat  nicht  mit  den  ideatorischen,  sondern 
gegen  ilui.  Also:  Lassen  sich  die  Fehlreaktionen  darauf  zurück- 
fuhren, daß  der  Entwurf  der  Bewegung,  die  Bewegunesf ormel  falsch 
ist,  etwa  infolge  von  Aufmerksaimceits-  oder  Gedächtnisstörungen, 
und  die  ^Bewegung  dann  diese  Irrungen  eetreu  mitmacht,  so  hegt 
ideatorisclie  Apraxie  vor.    Ist  aber  die  Bewegung  als  Ganzes  abn 

fetrennt  von  dem  Vor8tellunfi;sleben  als  Ganzen,  so  liegt  motorische 
.praxie   vor.    Die  ideatorische  Apraxie  steht  der  Agnosie  (Seelen- 
blindheit,    Seelentaubheit,  Seelentastlosigkeit)  näher.    £s  ist  zu  be- 
rücksichtigen, daß  der  Entwurf  der  Bewegung  noch  nicht  vollendet 
zu  sein    braucht,  und  daß  trotzdem  das  Innervieren  bereits  seinen 
Anfang   genommen  hat.    So  braucht  z.  B.  beim  Kämmen  nicht  die 
fertige  Sewegun^;sreihe  sleich  zu  Anfang  vorhanden  zu  sein.  Vielmehr 
zieht   die    Lage  jedes  Moments  den  nächsten  Akt  herbei.    Also  der 
ideatorische  Entwurf  entwickelt  sich  erst  am  Objekt  der  Handlung. 
Es  gehört  also  zum  Können  einer  Handlung:   1.  die  generelle  Be- 
wegongsf ormel ,  2.  die  Entnahme  von  Detaildirektiven  betreffs  des 
Weges  aus  den  interkurrierenden  Sinneseindrücken,  3.  die  Innervation 
gemäß    1.    und   2.     Bei    der    motorischen    Apraxie    nun   kann    der 
ideatorische  Prozeß  richtig  vonstatten  gehen,  jedoch  fehlt  die  kin- 
ästhetische   Vergegenwärtigung   einer  bestimmten   Bewegung.     Das 
Glied  bewegt  sich  nicht  entsprechend  der  vorgesteckten  Wegstrecke. 
Also  die  Antizipation  der  Bewegung  ist  intakt  geblieben.    Aber  die 
hmervation  mit  der  gliedästhetischen  Vorstellung  ist  in  Disharmonie 
damit. 

T)ie  motorische  Apraxie  betrifft  nur  einzelne  Glieder.  Sie  verrät 
sich  schon  bei  einfachen  Akten,  auch  beim  Nachmachen.  Wir  müssen 
bei  ihr  grobe  EEindemisse  in  einem  System  von  Zellen  oder  leitenden 
Fasern  annehmen.  Bei  der  Perseveration  im  strengsten  Sinne,  dem 
Nichtloskommen  von  einmal  angenommenen  Handlungen,  sieht  Ver- 
fasser in  der  Andauer  bestimmter  Innervationen  eine  Keizerscheinung 
im  Motorium. 

Die  ataktische  Bewegung  zeigt  immer  nur  eine  quantitative  Ab- 
weichung von  der  richtjgen  Bewegung.  Die  apraktische  Bewegung 
dagegen  nat  oft  keine  Ähnlichkeit  mit  der  aufgegebenen. 

Erfurt.  C.  M.  Giessleh. 

KraaSy  Oskar^  Dr.,  Zur  Theorie  des  Wertes.  Eine 
Bentham-Studie.  Halle  a.  S.  1901,  Verlag  von  Max 
Niemeyer,  VI  und  147  S. 

Die  Arbeit  geht  weit  über  den  durch  den  Zusatz  „Bentham- 
Studie"*  gezogenen  Kreis  hinaus. 

Die  ersten  Kapitel  sind  die  interessantesten.  Hier  wird  die 
ethische  Prinidpienfrage  bei  Bextham  dargelegt  und  gewürdigt,  werden 
abweichende  Meinungen  mit  erfreulicher  Objektivität  erörtert,  Vor- 


284  ^60  BauBchenbach: 

lauf  er  und  Nachfolger  Bknthams  aufgesucht.  Dann  diskutiert  Ver- 
fasser im  engen  Anschlüsse  an  Bentham  die  Größe  des  Wertes  und 
das  BENTHAMSche  Axiom,  das  mit  den  verwandten  Liehren  Ton 
Beknoüilli,  Eechner,  Gossen  verglichen  wird.  Je  weiter  die  Unter- 
suchung vorrückt  und  eigene  Pfade  einschlägt,  desto  mehr  sch'windet 
der  frische  Zug,  der  die  ersten  Kapitel  zur  angenehmen  Lektüre 
macht;  Selbst-  und  Leichtverständlicnes  wird  mit  ermüdender  Um- 
ständlichkeit dargele^. 

Fraglich  erscheint  der  Nutzen  der  Anwendung  mathematischer 
Formeln  auf  Fragen  von  wirtschaftlichem  Werte.  Die  Verhältnisse, 
unter  denen  uns  etwas  als  mehr  oder  minder  verwertbar  erscheint, 
sind  —  namentlich  in  einer  Verbindung  —  nie  so  einfach,  darum 
auch  nie  so  bestimmt  anzugeben,  wie  das  mathematische  Symbol  er- 
fordert, soll  es  nicht  an  Exaktheit  und  Prägnanz  Einbuße  erleiden. 
Schließlich  projizieren  wir  auch  hier  deis  Einfache  in  die  Welt  der 
Erscheinung  und  yersuchexjL  dann,  die  Tatsachen  mit  den  Resultaten 
unserer  Geistestätigkeit  übereinstimmend  zu  machen. 

Auerbach  (Vogtl.)  Leo  Rauschenbacr. 

Kreibig^  Josef  Clemens^  Dr.,  Psychologische  Grund- 
legung eines  Systems  der  Werttheorie.     Wien 

1902,  Verlag  von  Alfred  Holder,  VH  und  204  S. 

Die  ersten  drei  Abschnitte  sind  die  grundlegenden;  hier  werden 
die  notwendigen  Begriffe  eingeführt  und  die  für  dieses  Gebiet 
wichtigen  psychologischen  Anscnauungen  des  Verfassers  dargelegt. 
Abweichenae  Ansichten  verteidigt  Krkibio  selbst,  darüber  zu  reden 
erübrigt  an  dieser  Stelle.  Die  Folgenden  drei  Abschnitte  behandeln 
die  drei  Wertgebiete,  das  autopathische ,  heteropathische  und  das 
ergopathische.  Der  Wert,  den  wir  einem  Gegenstande  oder  einer 
Erscheinung  beilegen,  ist  ein  subjektiver;  das  Bestehen  objektiver 
Werte  bestreitet  Kreibio. 

Die  Wertung  erfolgt  nach  den  Gegensätzen 

gut  —  schlecht  (=  lust-  oder  unlustauslösend),  bezogen  auf 
das  Subjekt,    den  Wertenden   —  Gebiet   der  Autopathik 
mit  der  Hygienik  als  wichti^ten  Teil; 
gut  —  schlecht,  bezogen   auf  ein  fremdes  Subjekt  —  Gebiet 

der  Heteropathik  mit  Ethik  als  wichtigstem  Teil; 
schön  —  häßlich,  ohne  Beziehung  auf  das  eigene  ojier  ein 
fremdes  Subjekt  —  Gebiet  der  Ergopathik  mit  der  Ästhetik 
als  wichtigstem  Teile. 
In   dieser   Stufenfolge   entwickelt  sich   auch   das  Werturteilen, 
sowohl  das  des  einzelnen  wie  der  Gesamtheit,  aber  wohl  die  größere 
Anzahl  der  Werturteile  gehört  nicht  rein  dem  einen  oder  dem  anderen 
Gebiete  an.    Diese  Tatsache  ist  nicht  erschöpfend  behandelt. 

Höchstes  Gut  ist  die  möglichst  reiche  Entfaltung  und  Betätigung 
der  geistigen  und  leiblichen  Sräfte  sowohl  des  wertenden  Subjektes 
als  auch  des  fremden,  schließlich  des  Menschen  überhaupt  bei  un- 
persönlicher Hingabe  an  den  Inhalt.  —  Letzteres  ist  schwer  zu  ver- 
stehen; das  Symmetriebedürfnis  ist  jedenfalls  hier  von  Einfluß  auf 
die.  Formulierung  der  Sätze  gewesen. 

Da  das  Wollen  auf  Verwirklichung  von  Werten  gerichtet  ist, 
so  muß  der  Wille  durch  Wertgefühle  determiniert  sein;  Indeterminis- 
mus wird  abgelehnt. 


Aristoteleß'  Metaphysik.  285 

Das  vorletzte  Kapitel  bietet  Wertf  ormeln.  Wenn  das  empirische 
Gesetz  nicht  in  kurzem,  möglichst  einfachem  Ausdrucke  erschöpft 
vrerden  kann,  ist  das  mathematische  Symbol  praktisch  wertlos.  Der 
Vereach,  solche  Formeln  aufzustellen  —  für  Autopathik  der  erste  — , 
ist  schon  um  der  Schwierigkeit  willen  anerkennenswert ;  das  Ergebnis 
durfte  verschiedener  Beurteilung  begegnen.  sthetische  Wertformeln 
aiif2n3stellen  hält  E^eibio  selbst  für  unmöglich. 

Der  wenigst  gelungene  Teil  ist  m.  E.  der  letzte,  die  timologische 
Grandlegung  der  Pädagogik.  Hier  wird  schematisiert,  und  dem 
Schema  mangelt  Übersicntlichkeit ;  die  Ethik  ist  hier  fast  vergessen. 
Sch^verfälligkeit  des  Ausdrucks  kennzeichnet  diesen  Abschnitt;  ein 
wirklicher  Gewinn  ist  nicht  zu  ersehen. 

Auerbach  (Vogtl.).  Leo  Raüschenbach 

Philosophlsehe  Bibliothek.  Leipzig,  Dürrsche  Buch- 
handlung. Bd.  2.  3:  Aristoteles'  Metaphysik. 
Übersetzt  und  mit  einer  Einleitung  und  erklärenden  An- 
merkungen versehen  von  Dr,  theol.  Eugen  Rolfe s. 
Erste  Hälfte.  Buch  I— VH.  1904.  216  S.  2,50  M. 
Zweite  Hälfte.    Buch  YHI— XIV.    1904.    200  S.    2,50  M. 

E.  BoLFES,  Pfarrer  in  Bonn-Dottendorf.  hat  die  „Metaphysik  des 
Aristoteles"  neu  übersetzt,  gut  lesbar  und  doch  sehr  wörtUch;   „man 
sollte   aus   der  Übersetzung  das  Griechische  konstruieren  können**. 
Das  Buch  ist  ausgestattet  mit  einer  über  den  Inhalt,  die  Ausgaben 
und  die  Kommentare  orientierenden  Einleitung  (18  S.)?  ausführEchen 
Anmerkungen  (77  S.)  und  einem  Namen-  und  Sachverzeichnis  (4  8.), 
unter  sorgiältiger  Berücksichtigung  älterer  und  neuerer  Kommenta- 
toren,    rmter  diesen  erklärt  der  Bearbeiter  dem  Thomas  von  Aquimo 
das  Beste  zu  verdanken,  während  er  den  protestantischen  Gelehrten 
BoNiTz,  ZsLLER,  ScHWEOLEB  vorwirft,  daß  sie  den  Aristoteles  „aus  Miß- 
verständnis  kritisieren  und   meistern''.    Hegel   darf  bei  seinem  Be- 
streben, das  Wesen  der  Dinge  aus  den  Begriffen  zu  entwickeln,  von 
den  Scholastikern  in  gewissem  Sinne  den  Inri^en  zugezählt  werden; 
aber   nach    der  Bemerkung   Über   den    allerdm^    leidenschaftlichen 
Hegelianer  A.   Bullinger  (Aristoteles'   Metaphysik   klargelegt,    1892) 
ist  auch  er  für  das  Verständnis  des  (heute  noch  aktuellen)  Aristoteles 
ein  Hindernis.   Aristoteles  ist  der  Vater  der  Scholastik,  und  wir  ver- 
stehen am  besten,  was  wir  lieben.    So  ist  denn  gegenüber  der  Über- 
setzung und  besonders  den  Anmerkungen  von  IOrchmann  diese  sorg- 
fältige Arbeit  in  der  Tat  ein  Fortschritt. 

Schneeberg  (Sachsen).  Richabd  Fritzsche. 

Philosophische  Bibliothek.  Leipzig,  Dürrsche  Buch- 
handlung. Bd.  42:  Immannel  Kants  Metaphysik 
der  Sitten»  2.  Aufl.  Herausgegeben  und  mit  Einleitung 
sowie  einem  Personen-  und  Sachregister  versehen  von 
Karl  Vorländer.     1907.     LI   und   378    S.     4,60   M. 


286  Richard  FritzBche: 

Bd.  46:  Immanuel  Kants  Kleinere  Schriften 
zur  Logik  und  Metaphysik.  2.  Aufl.  Heraus- 
gegeben und  mit  Einleitung  sowie  einem  Personen-  und 
Sachregister  versehen  von  Karl  Vorländer.  1905, 
XXXn  und  169  S.,  XL  und  172  S.,  XX  und  175  S., 
XXXI  und  176  S.  [in  einem  Bande].  5,20  M.  Bd.  51 : 
Immanuel  Kants  Physische  Geographie.  2. Aufl. 
Herausgegeben  und  mit  einer  Einleitung,  Anmerkungen 
sowie  einem  Personen-  und  Sachregister  versehen  von 
Paul  öedan.     1905.    XXX  und  386  S.    2,80  M. 

K.  Vorländer,  Professor  in  Solingen,  und  P.  Grdam,   Oberlehrer 
am  Lehrerinnenseminar  zu  Leipzig,  geben  uns  kritisch  festgestellte 
ElANT-Tezte,  während  Kircumakn  nur  den  Text  Härtens ikins,  nicnt  ganz 
fehlerfrei,   abdruckte,   der  öfters   an  sich  schon  Verschlechterungen 
und    Inkorrektheiten    gegenüber    den   (von    Vorländer   verglichenen) 
Originalen  aufwies.     T>em   letzteren  war  dabei  sein  Verhältnis  zur 
Kant- Kommission  von  Vorteil,  da  es  ihm  sowohl  für  die  -Metaphysik 
der  Sitten'^  wie  für  die  „Kleineren  Schriften"  die  noch  in  Vorbereitung 
befindlichen  Stücke  der  Akademieaus^abe  zugänglich  machte,  während 
Gedan  wenigstens  die  Ausgaben  von  Kink,  Schubert,  Hartenstein  sorg- 
fältig verglichen  und  die  Textvarianten  in  den  f\ißnoten  angegeben 
hat.     So   gelangen  wir  denn  durch  die  fortschreitende  Erneuerung 
dieser  Sammlung  in  den  Besitz  einer  Kant- Ausgabe,  nach  der  fortan 
zu  zitieren  sich  dringend  empfiehlt,  da  sie  von  den  zurzeit  im  Buch- 
handel befindlichen  die  einzige  vollständige  und  gegenüber  den  12  M. 
für  den  Band  der  Akademieausgabe  erstaunlich  wohlfeil  ist,  und  der 
Text  an  kritischer  Sorgfalt  nun  mit  dieser  rivalisiert.    Dazu  kommen 
die  ausführlichen  Einleitungen  (Vorländer  Bd.  42:  48  8.,  Bd.  46:  89  S., 
Gedan  20   S.),   Inhaltsverzeichnisse   (18,   35  und   20  S.)  und,  wo  er- 
forderlich, besonders  in  der  phvsischen  Geographie,  knappe,  aber  für 
den  Leserkreis,  auf  den  diese  Schriften  zu  rechnen  haben,  wohl  aus- 
reichende erklärende  Anmerkungen.    Die  16  kleineren  Schriften  zur 
Logik  und  Metaphysik  hat  Vorländer,  während  bei  Kirchmann  kein 
Prinzip  ersichtlich  war,  chronologisch  in  vier  Gruppen  zusammen- 

gestelft:  Schriften  von  1755—65,  1766—86,  1790-93,  1796—98.  Jede 
Gruppe  bildet  mit  besonderem  Titelblatt  (Bd.  64*  usw.)  und  Paginierung, 
Einleitung  und  B>egister  innerhalb  des  Gesamtbandes  (der  wieder  be- 
sonderen Titel  und  Vorwort  hat)  ein  Bändchen  für  sich.  Auf  diese 
Weise,  durch  Trennung  der  Register,  werden  die  Urteile  Kants  aus 
verschiedenen  Zeiten,  insbesondere  aus  der  vorkritischen  Periode,  von 
den  späteren  gesondert  gehalten.  Die  beiden  lateinischen  Disser- 
tationen von  1755  und  1770  gibt  Vorländer  in  Kirchmanns  Über- 
setzung, aber  fast  jeden  Satz  verbessert.  (Die  vier  lateinischen 
Dissertationen  im  Urtext  sind  als  Bd.  52  gesondert  erschienen.)   Aus- 

feschieden  wurde  vorläufig  die  (von  J.  S.  Beck  veränderte)  Ab- 
andlung  „Über  Philosophie  überhaupt",  deren  von  Dilthey  auf- 
gefundene echte  Gestalt  erst  in  der  Nachlaßabteilung  der  Akademie- 
ausgabe erwartet  wird. 

Schneeberg   Sachsen).  Richard  Fritzsche. 


Philosophische  Bibliothek.  287 

Pliilosophische  Bibliothek.  Leipzig,  Dürrsche  Buch- 
handlung. Bd.  (39:  Neue  Abhandlungen  über  den 
menschlichen  Verstand,  von  G.  W.  v.  Leibniz. 
Ins  Deutsche  übersetzt,  mit  Einleitung,  Lebens- 
beschreibung des  Verfassers  und  erläuternden  An- 
merkungen versehen  von  0.  Schaarschmidt,  Uni- 
versitätsprofessor in  Bonn.  2.  Aufl.  1904.  LXVIII  und 
590S.  6  M.  Bd.  107.  108:  Ö.W.  Leibniz^  0  Haupt- 
schriften zur  Grundlegung  der  Philosophie. 
Übersetzt  von  Dr.  A.  Buchenau.  Durchgesehen  und 
mit  Einleitungen  und  Erläuterungen  herausgegeben  von 
Dr.  Ernst  Cassirer.  Bd.  I  1904.  Vm  und  375  S. 
3,60  M.    Bd.  n  1906.    582  S.    5,40  M. 

£.  Cassireb,  Dozent  an  der  Universität  Berlin,  hat  seinem  Werke : 
^Das   Erkenntnisprohlem   in  der  Philosophie  und  Wissenschaft  der 
neueren  Zeit**  (2  Bde.,  1906—8)  eine  Darstellung  seiner  Gesamtauff assun^ 
von   liEiBMizens  Lehre  vorausgeschickt:    ^Leibniz'    System   in   seinen 
wiBsenschaftlichen  Grundlagen''  (1902),   em  Buch,  das   dieselbe  Auf- 
iaasunff  des  Idealismus  vertritt  wie  „Kants  Theorie  der  Erfahrung'^ 
<2.  Aufl.,  1885)  von  K.  Cohen.    In   bezug   auf   Leibniz   wie   auf   Kant 
stehen  sich  nämlich  zwei  Auffassungen  gegenüber,  eine  gemäßigtere 
und   eine  scht-offere.    Die  erstere  sagt:   Kant  unterscheidet  an  den 
(gegenständen  der  Erkenntnis  Stoff  und  Form.   Jenen  erhält  die  Seele 
als  Rohmaterial,  in  Gestalt  der  Empfindungen,  durch  die  Einwirkung 
des  transzendenten  Objekts  oder  „Dm^es  an  sich'' ;  die  Form  gibt  sie 
dazu  aus  eigenem  Vermögen,  indem  sie  das  Rohmaterial  der  Smpfin- 
dnngen    in    den   kategorialen   Denk-   und   Anschauungsformen    zum 
Gegenstände  gestaltet.    Das  ist  ein  kritischer  Idealismus,  der 
den  Weg  zum  transzendentalen  Realismus  offen  läßt,  nämlich  zur 
Anerkennung  einer  vom  Bewußtsein    unabhängigen,    extramentalen 
Wirklichkeit,  bezüglich  deren  die  Frage  zulässig  ist,  ob  und  inwieweit 
zwischen    ihren   Seinsformen    und   unseren   (durch   Anpassung   ent- 
standenen) Denk-   und    Anschauungsformen    eine   gesetzmäßige   Be- 
gehung obwalten  möge.    Nach  der  anderen  Auffassung  lehrt  Ejlnt 
^en  schroffen  Idealismus,  die  subjektive  Idealität  aller  Wirk- 
lichkeit,  bei  der  für  eine  extramentale   Wirklichkeit,  ein  „Ding  an 
sich'',  kein  Platz  ist;  ihre  Anhänger,  zu  denen  H.  Cohen  und  E.  Cassirer 
-  «ehören,  nennen  dies  einen  „klaren  und   konsequenten  Idealismus". 
Leibniz  nimmt  eine  Übergangsstellung  ein  zwischen  Locke  und  Kant; 
seine  Monaden,   deren  inneres    Wesen  nichts  als  passive  (d.  h.  ma- 
teziierende)  und  aktive  (d.  h.  geistige)  Kraft,  und  aeren  Sein  nichts 
als  Tätigkeit,  nämlich  Streben  und  Vorstellen  ist,  diese  Monaden  ent- 
sprechen Kants  „Dinge  an  sich".   Cassirer  nun,  der  von  dem  angeblich 
unmöglichen  „Dinge  an  sich"  die  Auffassung  Cohens  teilt,  möchte  auch 
Leibniz  „von  dem  Unbegriff  der  Monade,  als  etwa  dem  Ding  an  sich 

M  Das  „V.",  auf  das  der  Freiherr  und  Reichshofrat  v,  Leibniz  so 
viel  Wert  legte,  ist,  wohl  dem  unsterblichen  zu  Ehren,  weggelassen. 


288  Richard  Fritzsche: 

gleichwertig,  freisprechen''.  Er  möchte  ihn  zmn  schroffen  Idealisten 
machen  und  möglichst  nahe  an  den  ebenso  aufgefaßten  Kant  heran- 
rücken. In  der  Tat  lassen  sich  wie  für  die  andere,  so  auch  für  diese 
Auffassung  ;,beweisende"  Stellen  aus  Leibmiz  (wie  aus  ELant)  beibringen. 
Für  Leibniz  war  eben  das  Problem  noch  nicht  so  geklärt,  wie  es  jetzt 
für  CouKN  und  Gassirer  ist,  nachdem  Kant  es  behandelt  hat.  Und 
selbst  Kant  muß  es  sich  gefallen  lassen,  weil  er  noch  mit  dem  Stoffe 
ringt,  das  E.  y.  Hartmakn  die  Kr.  d.  r.  V.  als  das  „konfuseste  Buch** 
bezeichnet,  das  je  ein  hervorragender  Denker  geschrieben  hat.  Dazu 
kommt,  daß  Leibniz  auch  „aus  äußeren  Gründen  mit  der  offenen  Aus- 
sprache und  Darlegung  seiner  Anschauunj^  zurückhält**  (Cabsirrr, 
Philos.  Bibl.  Bd.  108,  S.  84).  —  Nun  überna&n  E,  Gassirer  die  Auf- 
gabe, an  Stelle  von  Kirchmannb  Bändchen :  „Die  kleineren  philosophisch 
wichtigeren  Schriften  von  G.  W.  L.**  (1879,  268  S.)  eine  neue  Auswahl 
zu  geben,  durch  die  der  wesentliche  Inhalt  von  LsiBNizens  Philosophie 
und  das  Verhältnis  ihrer  einzelnen  Systemglieder  zur  Anschauung 
kommen  sollte.  Die  früheren  ähnlichen  Sammlungen  beschränkten 
sich  darauf,  einen  Einblick  in  den  Inhalt  dieser  Lehren  zu  geben; 
Gassirer  stellte  sich  die  Aufgabe,  ihr  oi^anisches  Wachstum  zur  An- 
schauung; zu  bringen,  „die  gedankliche  Entwicklung,  die  zu  ihnen  hin- 
geführt nat,  und  die  gemeinsame  logische  Wurzel,  der  sie  entstammen**, 
eben  unter  dem  angegebenen  Gesichtspunkte,  daß  Leibniz  sich  zum 
„klaren  und  konsequenten"  Idealisten  entwickelt  habe  (vgL  Gassirebs 
Einleitung  zur  Monadenlehre,  Philos.  Bibl.  Bd.  108,  S.  81  ff.).  Über 
die  Streittragen,  die  sich  hierauf  beziehen,  unterrichtet  A.  Silberstein, 
LsiBNizens  Apriorismus  im  Verhältnis  zu  seiner  Metaphysik  (1904); 
ein  Urteil  wird  erschwert  durch  den  Umstand,  daß  LEiBNizens  Ge- 
dankengänge eben  nicht  nur  von  der  „logischen  Wurzel '^  abhängen, 
sondern  auch  von  seiner  theologischen  Tendenz.  Denn  Aufgabe  der 
Philosophie  ist  ihm  die  Begründung  der  Moral  und  der  Glückseligkeit, 
und  dazu  meint  er  das  Dasein  Gottes  und  die  Unsterblichkeit  der 
Seele  beweisen  zu  müssen;  Versöhnung  der  Theologie  mit  der  Philo- 
sophie ist  ihm  die  wichtigste  Leistung  seiner  Metaphysik,  und  dadurch 
wird  das  rein  logische  und  erkenntnistheoretische  Interesse  notwendig 
beeinträchtigt.  Aber  wie  auch  diese  Dinge  sich  einst  darstellen 
werden,  wenn  erst  Leibniz'  gesamter  philosophischer  Nachlaß  gedruckt 
vorliegt,  einstweilen  dürfte  davon  die  Anerkennung  unabhängig  sein 
für  die  vorliegende  reichhaltige  und  wohlerwogene  Auswanf,  die 
durch  Anmerkungen  und  ausführliche  Einleitungen  zu  jedem  Ab- 
schnitte (mit  Ausnahme  des  vierten  und  siebenten)  erläutert  und  mit 
den  erwünschten  Registern  ausgestattet  ist.  Band  I  enthält  1.  Schriften 
zur  Logik  und  Methodenlehre,  2.  zur  Mathematik,  zur  Phoronomie 
und  Dynamik,  3.  zur  geschichtlichen  Stellung  des  metaphysischen 
Systems;  Band  II  solche  4.  zur  Metaphysik  (5.  Biologie  imd  Ent- 
wicklungsgeschichte, 6.  Monadenlehre),  7.  zur  Ethik  und  Rechtsphilo- 
sophie una  als  Anhang  die  „Unvorgreiflichen  GManken,  betreffend 
die  Ausübung  und  Verbesserung  der  deutschen  Sprache''.    Bei  dem 

gewaltigen  Umfange  der  Schriftstellerei  und  des  so  inhaltsreichen 
triefwechsels  dieses  schreiblustigsten  aller  Philosophen  (von  dem  in 
Hannover  über  15  (XX)  Briefe  liegen)  bekommen  nur  wemge  seine 
Werke,  soweit  sie  überhaupt  gedruckt  sind,  je  zu  sehen  ((terhardts 
Ausgabe  der  philosophischen  Schriften  kostet  182  Mk.,  die  der  mathe- 
matischen 55  Mk.),  obwohl  doch  gerade  die  modernste  Wissenschaft 
immer  wieder  von  Leibniz  ihre  Fragen  zuerst  aufgeworfen,  ihre 
Lösungen  vorgeahnt    ja  vorweggenommen  sieht  (z.  B.  bezüglich  des 


Philosophische  Bibliothek.  289 

rTnbewußt-Psychischen  und  des  Satzes  von  der  Erhaltung  der  Energie). 
Und  wie  der  Physiker  Dubois-Reymond  (LEiBxizsche  Gedanken  in  der 
neueren  Naturwissenschaft,  1871),  so  sieht  der  Biolog,  der  Ethiker,  der 
Geschichts-,  Rechts-,  Keligionsphilosoph  sich  von  neuem  auf  Leibmiz 
hingewiesen.  Leibniz  ist  eben,  wie  Schelling,  noch  aktuell.  So  sind 
wir  dankbar  für  diese  neue,  von  A.  Büchenau  übersetzte,  von  E.  Oassireb 
bearbeitete  zweibändige  Sammlung  der  „Hauptschriften  zur  Grund- 
legung der  Philosophie",  neben  der  übrigens  die  Sammlung  von 
R.  Habs  (Reclams  Universalbibliothek  Nr.  1898 — 1900)  imd  leider 
auch  das  nun  aus  dem  Buchhandel  ausscheidende  KmcHMANNsche 
Bändchen,  da  sie  zum  Teil  anderes  enthalten,  nicht  überflüssig  sind. 
Als  dritten  Band  dieser  vierbändigen  LEiBifizausgabe  (der  vierte 
ist  XiRCHMANNS  Übersetzung  der  Theodicee)  gibt  (X  Schaasscumidt 
in  zweiter  Auflage  seine  1878  zuerst  erschienene  erste  deutsche  Über- 
setzung des  LKiBNizischen  Hauptwerks  zur  Erkenntnislehre,  der  Nou- 
veaux  essais  sur  l'entendement  humain,  mit  den  beiden  früheren  Ein- 
leitungen 1.  Leibxiz'  Leben  (2'ö  S.,  nur  der  äui^ere  Lebensgangj, 
2.  Inhalt  und  Bedeutung  der  Neuen  Abhandlungen  (39  S.),  leider  nur 
wenig  verändert.  Denn  viele  Fehler  der  1.  Ausgabe  sind  stehen  ge- 
blieben. Wir  können  nur  zur  Charakteristik,  welcher  Art  sie  sind, 
eine  kleine  Auswahl  geben.  1.  Aufl.,  S.  50,  Z.  5ff.  =  l^.  Aufl.,  S.  45, 
Z.  42  ff.  steht  ein  Satz,  der  sinnlos  ist,  weil  ihm  (hinter  der  ersten 
Klammer)  das  Prädikat  „das  Prinzip"  fehlt.  S.  50,  Z.  28  =  S.  46, 
Z.  22  steht:  „wenn  man  sagt,  daß  A  nicht  A  ist".  Es  muß  heißen: 
„daß  A  nicht  Non-A  ist".  Das  ist  für  Leser,  die  das  Ori^nal  nicht 
vergleichen  können,  ein  sehr  anstößiger,  irreführender  Fehler;  aber 
er  ist  stehen  geblieben.  —  Leibniz  formuliert  das  Gesetz,  „das  die 
Quelle  der  [nicnt:  ,aller*]  gesellschaftlichen  Tugenden  ist"  (Buch  I, 
Kap.  II,  §  3)  folgendermaßen,  positiv:  „Tut  dem  andern  nur  das, 
wovon  ihr  wünscht,  daß  es  euch  selbst  geschieht";  der  Übersetzer 

Sbt  dafür  willkürlich  die  negative  Vorschrift  (1.  Aufl.,  S.  60):  ^^Was 
u  nicht  willst,  das  Dir  geschieht,  das  thue  auch  dem  Andern  mcht", 
mid  diesen  Vers  (auf  den  Leibniz  also  keineswegs  angespielt  hat) 
behält  er  auch  in  der  2.  Aufl.  (S.  56)  bei,  nur  mit  der  den  Keim  auf- 
hebenden Änderung  „geschieht*",  obwohl  doch  das  altertümliche  „das 
dir**  statt  „daß  dir"  besser  zu  der  Lesart  „geschieht"  paßt.  —  Aus- 
lassungen einzelner  Wörter  sind  häufig;  selbst  der  betonte  Begriff, 
auf  den  es  gerade  um  des  Gegensatzes  willen  ankommt,  wird  weg- 
gelassen (Bu3i  II,  Kap.  X,  §  1\  wo  es  sich  beim  Festhalten  einer  Vor- 
stellung um  das  aktuelle  Festhalten  (im  Blickpunkte  des  Bewußtseins, 
bei  der  „contemplation")  im  Gegensatze  zum  potentiellen  („en  gardant 
la  puissance"  unter  der  Schwelle  des  Bewußtseins,  im  Gedächtnis) 
handelt.  Da  sagt  Leibniz  nachdrücklich:  „indem  man  die  gegen- 
wärtige Vorstellung  actuellement  behält";  dies  „actuellement" 
läßt  der  Übersetzer  weg  1.  Aufl.,  S.  117,  Z.  9  =  2.  Aufl.,  S.  111,  Z.  38: 
„indem  man  die  gegenwärtige  Vorstellung  behält".  —  Eis  fehlen  audi 
längere  Satzteile,  bisweilen  solche,  durch  deren  Ausfall  eine  Sinn- 
losigkeit entsteht,  wie  1.  Aufl.,  S.  120,  Z.  10  =  2.  Aufl.,  S.  114,  Z.  88: 
„(Wenn  die  Menschen)  sich  der  Zahlwörter  zum  Zählen  bedienen, 
welche  gleich  ohne  Zählen  erkennen  lassen,  ob  etwas  fehlt."  Was 
soll  das  heißen?  Nun,  hinter  „bedienen"  ist  ausgelassen  „oder  ge- 
wisser Anordnungen  in  regelmäßigen  Figuren"  (ou  des  dispositions 
en  figure).  —  Auch  die  Anpassung  des  Satzes  Buch  II,  Kap.  11,  §  18 
(hinter:  das  Urteil,  1.  Aufl.,  S.  121,  Z.  89  =  2.  Aufl.,  S.  116,  Z.  24): 
„Indessen  die  Lebhaftigkeit  seiner  Einbildungskraft  kann  ihn  zu  einem 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaf tl.  Philos.  u.  Soziol.  XXXII.  2.  19 


290  Bichard  Fritzsche: 

ansenehmen  Gresellschafter  machen"  (le  peut  rendre  agröable)  ist 
recnt  sinnstörend ;  es  ist  nämlich  davon  die  Itede,  daß  jemand  schwach- 
sinnig sein  kann  in  bezuff  auf  die  Urteilskraft,  während  die  Phantasie 
lebhc3t  ist,  und  dieser  Nachsatz  fehlt.  —  Buch  II,  Kap.  VII,  §  1 
(1.  Aufl.,  S.  103,  Z.  22  «=  2.  Aufl.,  S.  98,  Z.  26)  ist  statt  „Auch  möchte 
ich  glauben"  zu  lesen  „Daher  möchte  ich  glauben";  ein  Lesefehler 
(Aussi  statt  Ainsi),  der  an  dieser  Stelle  kaum  weniger  störend  ist,  als 
der  Druckfehler  1.  Aufl.,  S.  126,  Z.  10  =  2.  Aufl.,  S.  120,  Z.  23  „die 
Bedeutung  dieser  Namen  .  .  .  berechnen"  (statt:  bewahren).  Aber 
auch  solche  Sinnlosigkeiten,  die  auf  mangelndem  Verständnisse  des 
Originals  beruhen,  sind  buchstäblich,  als  wären  sie  selbstverständlich, 
wieder  abgedruckt  worden.  Wenn  wir  alle  Punkte  z.  B.  eines  Dreiecks 
mit  einem  außerhalb  liegenden  Punkte  auf  dem  kürzesten  Weee  ver- 
binden, so  entsteht  im  aBgemeinen  ein  dreidimensionales  Gebilde  feine 
Pyramide),  ausgenonmien  1.  wenn  Punkt  und  Dreieck  in  derselben 
Ebene  liegen  (wo  die  kürzesten  Verbindungslinien  in  die  Ebene  fallen 
müssen),  und  2,  wenn  Punkt  und  Dreieck  z.  B.  auf  einer  Kugelfläche 
liegen  und  wir  ausdrücklich  aufgefordert  sind,  die  kürzesten  Ver- 
bindungslinien auf  dieser  Fläche  (und  nicht  durch  die  Kugel  hindurch) 
zu  ziehen.  Das  drückt  Leibniz  im  II.  Buche,  Kap.  XIH,  §  3  folgender- 
maßen aus:  „Oet  Intervalle  est  solide;  except6  lorsque  les  deux  choses 
situ^es  sont  dans  une  m4me  surface,  et  ^ue  les  lignes  les  plus  courtes 
entre  les  points  des  choses  situ6es  doivent  aussi  tomber  dans  cette 
surface  ou  y  doivent  §tre  prises  exprfes."  „Dieser  Zwischenraum  ist 
körperlich,  ausgenommen  wenn  die  beiden  in  räumlicher  Lage  be- 
findlichen Gegenstände  in  derselben  Fläche  liegen,  und  wenn  die 
kürzesten  Limen  zwischen  den  Punkten  der  in  räumlicher  Lage  be- 
findlichen Gegenstände  auch  in  diese  Fläche  fallen  müssen  oder  aus- 
drücklich in  dieser  angenommen  werden  sollen."  Wer  das  Original 
nicht  zur  Hand  hat,  kann  der  diesen  Sinn  ahnen,  wenn  er  in  der 
Übersetzung  liest  (1.  Aufl.,  S.  125,  2.  Aufl.,  S.  120):  .Dieser  Zwischen- 
raum ist  erfüllt,  ausgenommen,  wenn  die  beiden  in  räumlicher 
Lage  befindlichen  Gegenstände  in  derselben  Fläche  Uegen,  und  die 
kürzestenLinien  |aas  que  bleibt  unbeachtet]  zwischen  den  Punkten 
der  in  räumlicher  Lage  befindlichen  Gegenstände  müssen  auch  in 
diese  Fläche  fallen,  wo  sie  [ou  yQ  für  sich  genommen 
werden  müssen."  Wer  nur  einise  Kapitel  der  Dbersetzung  mit 
dem  Originale  vergleicht,  der  wira  nicht  wenige  üngenauigkeiten, 
Auslassungen  und  Mißverständnisse  entdecken,  darunter  leider  bis- 
weilen so  starke  Sachen,  daß  wir  Herrn  Geheimen  Begierunefsrat 
Prof.  ScHAABSGHMmT  raten  müssen,  das  noch  ausstehende  Bän^hen 
Anmerkungen  vor  allem  zu  Verbesserungen  und  Nachträgen  zu  be- 
benutzen. £e  sich  ihm  bei  der  unbedingt  nötigen  Revision  dieser  mangel- 
haften Üpersetzung  ergeben  werden.  Über  die  Stellung  l^KiBinzens  zu 
Kant  sagt  Schaarschmiot,  daß  die  Noaveaux  essais  zwischen  dem  Locke- 
schen  Werke  und  der  KANTschen  Kritik,  welche  beide  eine  Reformation 
der  philosophischen  Grundanschauung  anstreben,  eine  mittlere  Stellung 
in  der  Art  einnehmen,  ^daß  sie  den  sensualistischen  Gesichtspunkten 
des  ersteren  die  nötige  idealistische  Ergänzung  geben  und  damit  die 
Versöhnung  der  beiden  einander  widersprechenden  und  einseitigen 
Standpunkte    des   Empirismus    imd    Spiritualismus    durch    eine    un- 

Sarteiische  Vermittlung  anbahnen".    Der  noch  in  Vorbereitung  befind- 
che  Band  Anmerkungen  bringt  hoffentlich  auch  das  dringend  er- 
wünschte Register,  das  der  1.  Auflage  fehlte. 

Schneeberg  (Sachsen).  Richard  FarrzscHE. 


Kirchners  Wörterbuch  der  philosophischen  Grundbegriffe.    291 

Philosophische  Bibliothek.  Leipzig,  Dürrsche  Buch- 
handltmg.  Bd.  67:  Kirchners  Wörterbuch  der 
philosophischen  Grundbegriffe.  5.  Aufl.  Neu- 
bearbeitung von  Dr.  Carl  Michaölis.  1907.  V  und 
708  S.    8  M. 

Von    Kirchners   Wörterbuch    erschien   1886   die   erste,    1890   die 
zweite  Auflage.   So  schnell  folgte  auch  der  1903  erschienenen  vierten 
die  fünfte;  den  G-rund  deutet  das  Blatt  mit  der  Widmung  an:  Den 
deutschen  Studenten.    Es  ist  eine  Neubearbeitung,  für   die  nun  an 
Kirchners  Stelle  der  Herausgeber  C.  Michaeus,  Stadtechulrat  in  Berlin, 
die  Verantwortung  übernimmt.    Die  überkommene  Aufgabe  war,  für 
das  Bedürfnis  von  Anfängern  die  wichtigsten  Begriffe  m  gerundeten 
kritischen  Erörterungen  und  klaren  Definitionen  darzustellen,  daneben 
auch  in  Kürze  ihre  jEhitwicklun^  in  der  Geschichte  der  Philosophie 
aufzuweisen.     Mit  vier  Mitarbeitern  und  zwei  Mitarbeiterinnen  hat 
Michaelis  den  Stoff  so  durchgearbeitet,   daß    der  Umfang    von  den 
587  Seiten  der  4.  Auflage  auf  708  anwuchs  und  der  Fortschritt  auf 
jeder  Seite  unverkennbar  ist  gegenüber  dem  ursprünglichen  Werke 
Kirchners,  dessen  Manier  öfter  an  den  Geist  des  sengen  Traugott  Ejiüo 
(in  seinem  „Allgemeinen  Handwörterbuch  der  philosophischen  Wissen- 
schaften*'   1827—1829)   erinnerte.    Den  Idealismus  bezeichnet  der  Be- 
arbeiter als  seinen  Standpunkt,  den  Empirismus  als  seine  Methode; 
Platon  und  Aristoteles  unter  den  Alten ,  aIant  und  Wundt  unter  den 
Neueren  stehen  ihm  deshalb,  wie  er  sagt,  im  Vordererunde.    Doch  ist 
solchen  Begriffen,  in  denen  die  Probleme  der  Philosophie  sich  mit 
denen    der   Physik  und   Mathematik   berühren ,    seine   Tätigkeit   am 
meisten  zugute  gekommen;  seine  Artikel  ÄÜier,  Atom,  Dimension, 
Djnamismus,  Energie,  Ionen,  Korpuskel  usw.  bieten  Ergänzungen  zu 
Eislers  so  verdiensUichem  „Wörterbuch  der  phüosophisäen  Begriffe^ 
(2.  Aufl.  1904)  und  zeigen,   nach  welcher  Richtung  vor  allem  dieses 
Werk   zu   vervollstän£gen  sein  wird.    Der  Bearbeitung  erkenntnis- 
theoretischer  und  ethischer  Begriffe  (z.  B.  Wahrheit,  Gewißheit,  Sitte) 
wird   in  der  nächsten  Auflage  noch  besondere  Sorgfalt  zu  widmen 
sein.     Wir   erfahren   nicht,   wie   die  logisch-apodiktische    Wahrheit 
(z.  B.  daß  der  Kopf  beim  Spazierengehen   aui^  einer  kugelförmigen 
Erde  einen  längeren  Weg  zurücklegt  als  die  Füße)  sich  unterscheidet 
von  der  faktiscnen  (z.  B.  daß  die  Erde  ein  Ellipsoid  ist)  und  von  der 
assertorischen  Gewißheit  der  Werturteile.   Sehr  mit  Becht  ist  Kirchneb 
bemüht  gewesen,  die  kurzen  Artikel  durch  literarische  Hinweise  zu 
ergänzen.    Die  allerdings  schwierige  systematische  Vervollständigung 
dieser  Nachweise  dürfte  die  wichtigste  Verbesserung  sein,  die  dem 
Buche  noch  zu  wünschen  ist;  denn  bis  jetzt  sind  die  Verweise  noch 
etwas  ungleichmäßig  imd  zufällig,     unter  „Gewißheit^  z.  B.  ist  doch 
auf  J.  Volkelt,  Die  Quellen  der  menschlichen  Gewißheit  (1906)  zu  ver- 
weisen,  und  unter  „Sitte **  auf  B.  v.  Jherino,  Der  Zweck  im  Becht, 
Bd.  II,  S.  239—716,  wo  die  Funktionen  der  Sitte  im  Leben  der  Gesell- 
schaft und  ihre  Beziehungen  zu  Sittlichkeit  und  Becht  eingehend  er- 
örtert sind,  die  der  hier  vorliegende,  etwas  zu  wenig  Information 
bietende  Artikel  gSitte''  nicht  emmal  andeutet.    Das  Nächstliegende 
wären  BEinweise  (die  auch  am  wenigsten  Platz  beanspruchen  würden) 
auf  einschlägige   Stellen   in   den  (bis  jetzt  114)  Bänden   der  „Philo- 
sophischen Bibliothek'',  zu  der  das  „Wörterbuch**  dadurch  in  ein  ganz 

19* 


292  Richard  Fritzsche: 

ueues,  organisches  Verhältnis  treten  würde.  Bei  solchen  Begriffen, 
an  deren  Erörterung  die  Theologie  beteiligt  ist,  z.  B.  Gott  und  Ge- 
wissen, wird  die  Öarstellung  des  Theologen  Kirchner  mehr  oder 
weniger  rektifiziert.  Z.  B.  sagte  Kirchner  von  den  Beweisen  für  das 
Dasein  Gottes :  „Es  ist  richtig,  jeder  einzelne  ist  nicht  stringent,  aber 
zusammen  haben  sie  doch  großes  Gewicht";  bei  Michaelis  haben  sie 
nur  „ein  gewisses  Gewicht"  (während  doch  schon  der  altindische 
Philosoph  KÄpila  eben  mit  Bezug  auf  die  Gottesbeweise  sagte :  Nicht 
zwingende  Beweise  haben  kein  Gewicht).  Ein  Dasein  kann  man  über- 
haupt nicht  im  mathematischen  Sinne  beweisen ,  sondern  nur  nach- 
weisen, aufdecken,  erleben.  Jene  Beweise  lehren  nur,  daß  auch  ein 
scheinbar  noch  so  konsequent  logisches  Denken  sich  von  Gefühl  und 
Willen  leiten  läßt;  sie  zeigen  den  Primat  des  Willens  gegenüber  dem 
Intellekt.  Vom  Gewissen  sagte  Kirchner,  wohl  um  das  Denken  der 
Studenten  anzuregen,  es  sei  dem  Menschen,  „wenigstens  dem  zivili- 
sierten", angeboren;  Michaelis  sagt  schlicht:  „Das  Gewissen  ist  nicht 
angeboren",  (Warum  kann  man  den  Hund  nicht  für  Musik  gewinnen? 
Nur  was  in  dir  ist,  kann  man  dir  offenbaren.)  Ferner  hieß  es  bei 
Kirchnkr:  „Theologen  .  .  .  bezeichnen  es  (das  Gewissen)  als  die  im 
vernünftigen  Selbstbewußtsein  gegebene  Offenbarung  Gottes,  eine 
Definition,  welcher  wir  auch  beipflichten";  Michaelis  korrigiert  den 
Schluß:  „eine  Definition,  die  vor  der  Analyse  nicht  standhält".  In 
solchen  inm  wohl  fem  er  liegenden  Stücken  hat  Michaelis  die  Auf- 
fassung seines  Vorgängers  wohl  modernisiert,  aber  nicht  gerade  ver- 
tieft. Hier,  wo  es  sich  um  Gefühl  und  Willen  handelt,  ist  noch 
Spielraum  geblieben  für  die  Durchführung  der  idealistischen  Grund- 
ansicht, zu  der  sich  der  Herausgeber  bekennt,  sofern  diese  nicht  nur 
logisch-idealistisch  ist.    Anthropologische  Artikel,   in  denen  Kirchner 

fewisso  Typen  und  Charakterzüge  der  Menschen  behandelte,  hat 
[ichaelis  nicht  beseitigen  mögen,  aber  gekürzt,  da  sie  sich  weder  ver- 
tiefen noch  sonst  anregender  machen  ließen.  Doch  wird  das  Be- 
streben, Triviales  zu  heben,  zu  tilgen  oder  zu  kürzen,  sich  noch  weiter 
betätigen  können.  Einer  Revision  bedürfen  schließlich  auch  die  neu 
aufgenommenen  Artikel  über  indische  Philosophie,  die  ersichtlich  mit 
Voroehalt  späterer  sachkundiger  Nachprüfung  angefertigt  sind.  Die 
höchste  Leistung  des  philosophischen  Geistes  der  Inder,  das  Vedänta- 
system,  wird  überhaupt  nicht  erwähnt,  obwohl  die  (allerdings  recht 
verbesserungsbedürftigen)  Erläuterungen  der  Stichworte  Advaita  und 
Tat  tvam  asi  sich  auf  Vedäntagedanken  beziehen.  Über  das  zweite, 
fast  ebenso  wichtige  System  lesen  wir:  „Sänkhyasystem  (ind.) 
heißt  ein  System  der  indischen  Philosophie,  das  um  500  v.  Chr.  von 
Kapila,  Pan9aQikha  [lies:  Panca9ikha]  und  Asari  [lies:  Asuri]  ver- 
treten wurde  und  dessen  Hauptgedanken  die  Entwicklungslehre  und 
der  Atheismus  sind^.  Das  bezieht  sich  auf  folgenden  Tatbestand: 
Das  Sänkhya,  das  wichtigste  und  tiefsinnigste  philosophische  System 
der  Inder  nächst  dem  Vedänta  (dem  monistischen  Systeme  des  "brah- 
manismus)  und  dessen  dualistischer  und  zugleich  atheistischer  Gegen- 
satz, die  philosophische  Grundlage  des  Buddhismus,  wurde  (vor  550 
V.  Chr)  begründet  durch  Kapila  und  dessen  Schüler  Asuri,  dessen, 
^unmittelbarer?)  Schüler  Pantscha^ikha,  die  zweite  Autorität  des 
Sänkhya,  uns  die  ältesten  Fragmente  hinterlassen  hat.  Dies  pessi- 
mistischste aller  indischen  Systeme  (seine  Darstellung  beginnt  mit 
dem  Worte  „Leiden",  während  sonst  indische  Bücher  mit  einem  glück- 
verheißenden Worte  beginnen)  geht  aus  von  dem  Satze :  ^Nirgends 
ist  irgend  jemand  glückUch",  um  dann  Erlösung  vom  Dasein  zu  ver- 


Friedrich  Schleiermachers  Monologen.  293 

heißen  durch  die  Erkenntnis,  daß  der  Geist  nichts  gemein  hat  mit  der 
Materie  und  den  durch  sie  bedingten  niederen  Seelenzuständen  (der 
^Sinnlichkeit*'  im  Sinne  Kants),  zu  denen  er  vielmehr  sagt:  „Das  bin 
ich  nicht,  das  ist  nicht  mein,  das  ist  nicht  mein  Selbst.^  Dem  Nach- 
weise, daß  das  wahre  Selbst  des  Mefischen  nicht  der  Welt  des  Ge- 
schehens angehören  kann,  dient  die  Sänkhyatheorie  der  Weltentfaltung. 
—  Für  den  Zweck  des  entschieden  wesentlich  verbesserten  Buches 
sind  diese  indischen  Artikel  nebensächlich.  Und  wer  möchte  es 
wagen,  sie  ernstlich  zu  tadeln,  falls  sie  gar  (kaum  getrauen  wir  uns, 
es  zu  vermuten)  von  einer  der  beiden  liebenswürdigen  Mitarbeiterinnen 
herrühren?  —  Den  Schluß  bildet  eine  von  K.  Schmij>t  angefertigte 
Zeittafel. 

Schneeberg  (Sachsen).  Bichabd  Fritzsche. 

Philosophlsclie  Bibliothek.  Leipzig,  Dürrsche  Buch- 
handlung. Bd.  84:  Friedrich  Schleiermachers 
Monologen.  Kritische  Ausgabe.  Mit  Einleitung, 
Bibliographie  und  Index  von  Friedrich  Michael 
Schiele.     1902.    XL  VI  und  130  S.     1,40  M. 

Von  den  aus  einer  Kandidatenpredigt  (1792)  entstandenen  Mono- 
logen (1799)  hat  ScHLEiERMACHRR  nach  der  ersten  (1800)  noch  zwei  ver- 
änderte Ausgaben  (1810.  1822)  besorgt,  und  auch  von  der  vierten  noch 
bei  ScHLEiBBMACHERs  Lcbzeiteu  erschienenen  Auflage  (1829;  in  Reclahs 
ÜniveTsalbibliothek  Nr.  502)  ist  es  nicht  zweifelhaft,  daß  wenigstens 
die  eigentlichen  Textänderungen  und  Zusätze  von  Schleiebuachkr  selbst 
herrühren.  Nun  hat  F.  M.  Schiele,  Dozent  in  Tübingen,  sich  ent- 
schlossen, von  der  kleinen  Schrift,  als  wäre  sie  „in  äthiopischer  Sprache 
und  in  einem  dunklen  Winkel  der  Menschheit  geschrieben  ** ,  eine 
»kritische  Ausgabe*^  zu  liefern  mit  einer  phÜologiscnen  Akribie  in  der 
Anfohrung  aller  Lesarten,   die  sich  selbst  auf  rein  Orthographisches, 

S'k  auf  das  Komma  erstreckt  (weil  von  diesem  der  Bhythmus  des 
atzes  beeinflußt  wird,  und  darauf  kommt  in  der  manierierten 
Sprache  dieses  Jugendwerks  der  Bomantik  etwas  an)  Da  aber  die 
Ausgabe  von  1829  nicht  mehr  von  Sculeiermacher  selbst  redigiert  ist, 
haben  deren  Lesarten  wenigstens  in  nebensächlichen  Dingen  nicht 
die  gleiche  Beglaubigung,  wie  die  der  anderen.  Aus  diesem  (zu- 
reichenden?) Grunde  hat  der  Herausgeber  die  Lesarten  von  1829  nur 
im  Vorworte  mitgeteilt,  in  die  kritischen  Anmerkungen  aber,  mit 
denen  er  seinen  Text  (von  1799)  begleitet,  nur  die  von  1810  und  1822 
aiife;enommen.  Trotzdem  stehen  unter  diesen  88  kleinen  Seiten  auf 
je  So  Zeilen  Text  im  Durchschnitte  10  Zeilen  Lesarten,  aus  denen 
wir  uns,  unter  Berücksichtigung  der  Varianten  von  1829  im  Vorworte, 
den  endgültigen  von  Schleiermacher  selbst  festgestellten  WorÜaut 
jederzeit  rekonstruieren  können.  Es  ist  augenscheinlich,  daß  damit 
diese  Ausgabe  aus  dem  Plane  der  Sammluns  heraustritt.  Dazu 
kommt,  daß  Schleiermacher  selbst  (1810)  erklärt  nat,  er  hüte  sich,  in 
den  Neuauflagen  sein  romantisches  Jugendbild  „aufzufrischen   oder 

§ar  zu  verbessern^,  um  nicht  „durch  unvermerkte  Einmischung  von 
Qgen  aus  späterer  Zeit  die  innere  Wahrheit  zu  trüben''.  In  der 
Tat  handelt  es  sich  bei  Schleiermachers  Verbesserungen  und  Zusätzen, 
die  der  Herausgeber  unter  den  Text  verwiesen  hat,  nur  um  eine  mit 


294  Bichard  Fritzsche: 

schonender  Hand  gemachte  Betouche.  Somit  kommt  die  Ausgabe  am 
meisten  den  Wünschen  derer  entseeen,  die  mehr  Interesse  haben  fOr 
den  Verfasser  und  für  die  Geschiente  des  Textes  als  für  den  Text 
letzter  Hand.  Sie  ist  ausgestattet  mit  einer  sehr  schätzenswerten 
Einleitung  (27  S.)  über  die  ±Intstehun^  der  Monologen,  einer  Biblio- 
graphie (10  S.)  zu  ScuLEiERKACH£Rs  philosophischer  Ethik  and  einem 
ausführlichen,  musterhaft  sorgfältigen  Index  (86  S.),  der  weit  über  den 
nächsten  Zweck  eines  solchen  hinausgeht  und,  zumsd  er  auch  auf  die 
wichtigsten  Stellen  der  .Beden''  und  der  „Denkmale*^  Bezug  nimmt, 

f;eradezu  ein  kleines  Lexikon  ScHLEiEBMACHEBSchen  Gedankenreichtums 
ietet.    Wer  sich  für  die  Monologen  interessiert,  dem  ist  also  diese 
Ausgabe  zu  empfehlen. 

Schneeberg  (Sachsen).  Bicha&d  Fkitzscub. 

Philosophlsclie  Bibliothek.  Leipzig,  Dürrsche  Buch- 
handlung. Bd.  109:  Goethes  Philosophie  aus 
seinen  Werken.  Ein  Buch  für  jeden  gebildeten  Deutschen. 
Mit  ausführlicher  Einleitung  herausgegeben  von  Max 
Heynacher.     1905.     VUL  und  428  S.    3,60  M. 

M.  Heykachkb,  Gjrmnasialdirektor  in  Hildesheim,  gibt  nach  einer 
ausführlichen,  sehr  lesenswerten  Einleitung  (S.  1—110)  über  die  Ent- 
wicklung der  Philosophie  Q-oethes  einen  Abdruck  von  „Goethes  philo- 
sophischen Schriften*',  d.  h.  Abhandlungen  und  Auszügen  aus  Dichtung 
und  Wahrheit,  der  Farbenlehre  usw.,  über  Fragen  der  Naturphilosophie, 
Anthropologie ,  Ästhetik  u.  a.,  und  als  Annang :  Sprüche  una  Ge- 
danken; dazu  etwas  knappe  Register  (6  S.).  Goethes  Philosophie  ist 
eine  immer  werdende  und  sich  vertiefende,  also  nie  zum  System 
kristallisierte,  sondern  lebendig  bleibende  Weltweisheit,  in  ihrem  Kerne 
monistische  Naturphilosophie.  Das  Schlüsselwort  seiner  Metaphysik 
ist  der  an  Spinozas  deus  sive  natura  anklingende  Lieblingsausdfuck 
Gott-Natur.  Hieraus  ergibt  sich  seine  Stellung  einerseits  zur  Natur- 
wissenschaft, andererseits  zur  [Religion.  Er  betrachtet  die  Natur  nicht 
einseitig  kausal,  aber  auch  nicht  im  Sinne  christlicher  oder  doch 
dualistischer  Teleologie.  Er  sieht  in  ihr,  wie  in  der  Entwicklung  jedes 
einzelnen  Organismus,  das  Geheinmis  einer  „ ürpolarität",  eines  auf 
ein  Ziel  hinstrebenden  Willens,  der  seinem  Wesen  nach  identisch  ist 
mit  der  Naturnotwendigkeit,  die  alle  nach  menschlicher  Art  vor- 
bedachte Zweckgedanken  ausschließt.  Ebenso,  wie  den  atomistischen, 
chemischen,  würde  er  den  physikalischen,  energetischen  Materialismus 
ablehnen.  Bei  der  Betrachtung  der  organischen  Schöpfung  leitet  ihn 
der  Entwicklungsgedanke,  aber  näher  als  Darwin  steht  ihm  Lamakck, 
ja  K.  E.  V.  Baer,  näher  als  Ostwalds  oder  Machs  Energetik  die 
ScHELi.iNosche  Form  des  Voluntarismus,  näher  als  A.  Paulys  Ansicht 
von  der  physikalisch-energetischen  Natur  des  letzten  Grundes  der 
Lebenserscheinungen  J.  B>eink£  mit  seinen  Dominanten,  H.  Driesch 
mit  der  Lehre  von  den  Entelechien.  ^  Diese  Seite  von  Goethes  Auf- 
fassung kommt  in  den  von  Heynacher  ausgewählten  Texten  hinreichend 
klar  und  eindrucksvoll  zur  Anschauung.  In  der  Keligion  verhielt 
Goethe  sich  ablehnend  zu  allem  Gcschichtsglauben  und  aller  Heilsver- 
mittelung; für  ihn  ist  keine  heilige  Geschichte  (im  dogmatischen  Sinne) 
über  die  Erde  gegangen,  nicht  an  einem  bestimmten  Kalendertag 


SchelliBgs  Vorlesungen.  295 

und  an  einem  Orte,  der  auf  der  Landkarte  zu  finden  ist,  die  Welt 
erlöst  worden.  In  diesem,  wir  dürfen  wohl  sa^en  äußerlichen,  Sinne 
war  Goethe  bis  an  sein  Ende  ^dezidierter  Nichtchrist",  wie  aucsh  gegen- 
über allem  schrofEen  Dualismus,  der  hinter  dem  Gegensatze  des 
Physischen  und  Geistigen  nicht  eine  beiden  gemeinsame  Einheit  des 
Weltgrundes  sucht;  hmgegen  im  innerlichen,  wesentlichen  Sinne 
näherte  er  sich  nach  der  ^Periode  des  römischen  Heidentums  und  der 
ästhetischen  Selbsterlösune  dem  Christentume  immer  mehr  und  stand 
ihm  scliließlich  erstaunlicn  nahe.  Dies  ist  aus  Bütnachers  schönem 
Buche  vielleicht  deshalb  minder  vollständig  zu  ersehen,  weil  hierüber 
nicht  so^wohl  zusammenhängende  Texte  vorliegen,  wie  Heynacher  sie 
unter  dem  neuen,  für  viele  gewiß  befremdenden  Titel :  „Goethes  philo- 
sophische Schriften*'  zusammengestellt  hat,  als  vielmehr  zahlreiche 
verstreute  Aphorismen  und  Gespräche,  die  Th.  Vogel  gesammelt  hat 
in  dem  i^ertvollen  Buche :  Goethes  Selbstzeugnisse  über  seine  Stellimg 
zur  Religion  und  zu  religiös-kirchlichen  Fragen  (3.  Aufl.  1903).  Kurz 
und  s|xit  handelt  hierüber  H.  Brause wetter  :  Goethes  Stellung  zur 
christlichen  Weltanschauung  (Deutsche  Monatsschrift  für  das  gesamte 
Leben  der  Gegenwart.  Bd.  6,  S.  777 — 785).  'In  Heynachers  Buche 
tragen  die  Seiten  112 — 224  fälschlich  die  Überschrift:  ^Die  Entwicklung 
der  Philosophie  Goethes'';  man  streiche  die  Worte  „Entwicklung  der". 

Schneeberg  (Sachsen).  Kichard  Fritzsche. 

Philosophisclie  Bibliothek.  Leipzig,  Dürrsche  Buch- 
handlung. Bd.  104:  Schellings  Münchener  Vor- 
lesungen: Zur  Geschichte  der  neueren  Philo- 
sophie und  Darstellung  des  philosophischen 
Empirismus.  Neu  herausgegeben  und  mit  erläuternden 
Anmerkungen  versehen  von  Dr.  Arthur  Drews,  a.  o. 
Professor  der  Philosophie  an  der  Technischen  Hoch- 
schule in  Karlsruhe.  1902.  XVI  und  354  S.  4,60  M. 
Bd.  114:  G.  W.  F.  Hegels  Phänomenologie  des 
Geistes.  Jubiläumsausgabe.  In  revidiertem  Text  heraus- 
gegeben von  Georg  Lassen,  Pastor  an  S.  Bartholo- 
mäus, Berlin.    1907.    CXIX  und   532  S.    5  M. 

Hegels  Bellgioiisphilosopliie.  In  gekürzter  Form,  mit  Ein- 
führung, Anmerkungen  und  Erläuterungen  herausgegeben 
von  Arthur  Drews.  Verlegt  bei  Eugen  Diederichs. 
Jena  und  Leipzig  1905.    LXXXVHI  und  474  S.    13  M. 

Zur  Wiedergeburt  des  Idealismus.  Philosophische  Studien 
von  Ferdinand  Jakob  Schmidt.    Leipzig,  Dürrsche 

Buchhandlung.     1908.    325  S.     6  M. 

Den  Ruf  „Zurück  zu  Kant!"  haben  wir  befolgt,  aber  es  hat  sich 
herausgestellt,    daß   wir  bei   dem   skeptisch    oder  positivistisch   ge- 


296  Richard  Fritzsche: 

deuteten  Ergebnisse  der  Kr.  d.  r.  V.  nicht  stehen  bleiben  können. 
Auf  £1ant  folgte  als  Ausdruck  des  metaphysischen  Bedürfnisses  der 
FicHTE-ScHET.LiNG-HEGELSohe  IdeaUsmus,  und  so  scheint  sich  auch  jetzt 
„ein  Fortschritt  von  Kjlnt  zu  seinen  großen  Nachfolgern  im  Smne 
eines  Wiederholungskursus  des  einstigen  Entwicklungseanees  zu  voll- 
ziehen*^  (A.  Drews).  Hegels  Hand  (wenigstens  seine  ^inke")  wirkt 
noch  heute  in  der  neueren  Theologie,  deren  Geschichte  mit  D.  F.  SruAuss 
beginnt,  und  in  der  sozialistischen  Theorie,  deren  HEGELSchen  Kern 
F.  J.  Schmidt  als  den  Trieb  bezeichnet,  „die  natürlich-geschichtliche 
Lebensordnung  in  eine  dem  allgemeinen  V'ernunfttriebe  entsprechende 
Form  umzugestalten^.  Der  theologische  und  der  soziale  Kampfplatz, 
das  ist  heißer  Boden,  wo  es  sich  um  große  praktische  und  teilweise 
verbündete  Interessen  handelt,  die  sich  bedroht  sehen.  Da  verteidigen 
wir  uns  nicht  nur  gegen  Irrtümer,  sondern  auch  gegen  die  mit  dem 
Irrtum  verbundenen  Wahrheiten,  die  unter  Umständen  nicht  nur 
aufregender,  sondern  auch  zerstörender  wirken  als  der  Irrtum.  Hin- 
gegen in  der  kühlen  und  klaren  Luft  des  reinen  Denkens  bewegen 
sich  die  Bestrebungen  von  A.  Drews  und  G.  Lasbox,  sowie  die  von 
F.  J.  Schmidt,  der  unter  dem  Titel :  „Zur  Wiedergeburt  des  Idealismus" 
eine  Keihe  feinsinniger  Studien  zusammengestellt  hat,  die,  mit  Aus- 
nahme der  einleitenoen  ersten,  bereits  in  den  Preußischen  Jahrbüchern 
erschienen  sind,  aber  dieser  neuen,  gut  ausgestatteten  Sonderausgabe 
durchaus  würdig  waren.  Die  behandelten  G-egenstände  sind  sehr 
mannigfaltig  (Kapitalismus  und  Protestantismus.  Der  mittelalterliche 
Charakter  des  kirchlichen  Protestantismus.  Offenbarung.  Worte 
Christi.  Der  theologische  Positivismus.  A.  Hamack  und  die  Wieder- 
belebung der  spekulativen  Forschung.  Kunst,  Religion  und  Philo- 
sophie. Das  Enebnis  und  die  Dichtung.  Goethe  una  das  Altertum. 
Kant-Orthodoxie.  Kant  und  die  spekulative  Mathematik.  Die  Philo- 
sophie auf  den  höheren  Schulen.  Frauenbildung);  aber  allen  Auf- 
sätzen gemeinsam  ist  der  mit  sicherer  und  feiner  Dialektik,  mit 
sittlichem  Ernst  und  (mittelalterlichen  wie  modernen  Richtungen 
gegenüber)  mit  Freimut  geführte  Kampf  für  den  HEOEi-schen  Idealis- 
mus, für  die  Wahrheit,  „daß  der  Geist  die  Welt  gemacht  hat  und 
alles,  was  darinnen  ist,  daß  wir  in  ihm  leben,  weben  und  sind".  Wie 
es  eine  niedere  und  eine  höhere  Mathematik  gibt,  so  gibt  es  für  diesen 
Standpunkt  eine  niedere  und  eine  höhere  Philosophie.  In  das  niedere 
Gebiet  gehören  Empirismus,  Psjchologismus,  Rationalismus,  weil  sie 
es  nur  mit  endlicnen  Bestimmungen  zu  tun  haben,  selbst  wenn 
sie  metaphysische  Probleme  behandeln.  Die  höhere  Philosophie  aber 
geht  „auf  die  absolute  Totalität  alles  Möglichen  imd  W^'^^^^^®'^'' ^ 
sie  ist  ein  „Sichselberdenken  Gottes",  „so  daß  es  weder  im  Himmel 
noch  auf  Erden  etwas  geben  kann,  was  von  diesem  Denken  nicht 
beständig  mitbegriffen  wäre".  Und  die  methodische  Begründung 
solchen  Totalitätsdenkens  (durch  Fichte  und  Hegel)  ist  die  geniale 
Leistung  des  deutschen  Idealismus,  die  auch  dann  noch  von  un- 
vergänglicher Wirkung  sein  wird,  „wenn  dereinst  die  Heldentaten 
unserer  Väter  in  dem  Gedächtnis  der  Menschheit  verblaßt  sein  werden, 
und  wenn  es  von  den  großen  Gestalten  unserer  Geschichte  nur  noch 
eine  dunkle  Kunde  geben  wird".  Nun  unterscheiden  wir  aber  zwei 
Richtungen  bei  diesem  „Wiederholunfi;skursus  im  Idealismus"^,  der 
durch  den  Tiefstand  der  deutschen  Philosophie  im  Zeitalter  der  Tat- 
sachen, der  statistischen  und  mechanischen  Naturbetrachtung,  nötig 
feworden  ist:  die  Richtung  auf  Hegel  und  die  auf  Schelling. 
.  J.  Schmidt  hält  es  mit  Fichte  und  vor  allem  mit  Hegel,  also  mit 


Schellings  Vorlesungen.  297 

dem  Panloffismns.    So  ist  er  ein  G-egner  nicht  nur  des  Schopenhaueb- 
schen,   sonaern   auch   des   ScHELLixaschen ,  von  Hartmann  erneuerten 
Voluntarismus,  der  (nach  Hartmanns  Ausdruck)  „eine  Synthese   von 
Hkoel   und   Schopenhauer*'    bildet,   insofern   er   die   äußere,    formale, 
logische  wie  die  innere,  energetische  Seite  des  Seienden  gleichmäßig 
berQcksichtigt.    Am  nachdrücklichsten  äußert  sich  Schmidt  gegen  die 
moderne,  empirische  und  voluntaristische  Psychologie,  die  er  lieber 
Psychologistik,  ja  Psychosophistik  nennt  (umgekehrt  tadelt   Drews 
(3/ XI  an  Hbgels  dialektischer  Methode  in  der  Beligionsphilosophie 
die    „meist  sophistische,   oft   gewaltsame,   künstliche   und   gesuchte 
Art^);  er  bringt  sie  in  Zusammenhang  mit  „geistwidrigem  Materiaiis- 
mas**  und  sozialdemokratischem  „Proletarismus*'.  Denn  dasMARxistische 
Denken,  obwohl  aus  HsaEi^chem  Idealismus  hervorgegangen,   leidet 
in  seiner  Anwendung  auf  praktische  Fragen  an  einem  „barbarischen 
und  unheilvollen"  ^Ußverständnis ;  es  ist  „ungeistig,  sinnlich,  psycho- 
logrisch'*.    Aber   das  Geistige   im  Sinne  Hegei^,   der   für  Natur*^  und 
Xacurwissenschaft  keinen  Sinn  hatte,  ist  ein   einseitiges,  für  einen 
metaphysischen  Weltbegriff  nicht  mehr  ausreichendes  Prinzip,  seitdem 
der  moderne  Energiebegriff  gefunden  ist.     Hegel  dachte  sich  noch 
wie  W.  Hbbschel   die  Sonne   als  einen  dunklen  Körper  mit  immer 
leuchtenden  Wolken.    Man  wußte  nicht,  daß  sie  mit  mrer  Strahlung 
etwas  ausgibt;  man  konnte  also  noch  nicht  in  dem  Sinne  wie  wir 
unterscheiden  zwischen  einer  ideellen,  kraftlosen  und  einer  reellen, 
krafterfüllten  Sonne.   Schiller  dürfte  heute  nicht  mehr  in  der  „Gestalt", 
der  logischen  Idee,  das  Wesen  der  Dinge  sehen.    Eine  Idee  ist,  wie 
die  konstruktive  Idee  einer  Lokomotive,  ein  kraftloser  Traum.    Lasten 
bewegt  nur  ein  energieerfülltes  System  von  Kraftzentren  (z.  B.  Eisen- 
atomen), an  dem  die  logische  und  die  dynamische  Seite  gleichwertig 
sind.     Das  Weltgeschehn  ist  nicht  nur  dialektische  Entwicklung  (ein 
Traum  aus  dem  anderen) ,  sondern  dynamische  (ein  Kraftsystem  aus 
dem  anderen),  organische  feine  Willenseinheit  aus  der  anderen).    Sicht- 
bares Ergebnis  aer  Entwicklung  ist  Bewältigung  des  Chaos,  Logi- 
fizierunj^  oder  Harmonisierung   der  Welt,  die  aber  in  ihrem  Kern 
nicht  Logos,  Idee,  Gedankensache,  sondern  Tatsache,  Realisierung 
eines  Willens  ist.    Auf  die  „Gestalt'',  das  Logische,   die  Idee  bezieht 
sich  die  Frage:  Was  ist  das?   Aber  daß  etwas  ist,  rührt  daher,  daß 
eine  Kraft  sich  betätigt,  ein  Wille  sich  fortgesetzt  realisiert  (denn 
alles  Sein  ist  ein  Geschehen;  die  Welt  geschieht).    So  können  wir 
denn  nicht  einfach  zum  Panlogismus  zurückkehren,  nachdem  Heokl 
selbst  durch  seine  konsequente  Durchführung  ihn   ad  absurdum  ge- 
führt hat,  und  nachdem  Schbllino  den   Weg  gezeigt  hat,  wie  wir 
darüber  hinausgelangen.  Schellino  sagt:  „Es  kann  alles  in  der  logischen 
Idee  sein,  ohne  daß  damit  irgend  etwas  erklärt  wäre,  wie  z.  B.  in 
der  sinnlichen  Welt   alles  in  Zahl   und  Maß   gefaßt  ist,   ohne  daß 
darum  die  Geometrie  oder  Arithmetik   die   sinnliche  Welt  erklärte. 
Die  ganze  Welt  liegt  gleichsam  in  den  Netzen  des  Verstandes  oder 
der  Vernunft,  aber  die  Frage  ist  eben,  wie  sie  in  diese  Netze  ge- 
kommen  sei,   da  in   der  Welt  offenbar  noch   etwas   anderes  und 
etwas  mehr  als  bloße  Vernunft  ist.'^    Dies  Andere,  dies  Mehr  ist  eben 
das  Energetische  oder,  wie  Schellino  es  nennt,  der  Wille  (die  beiden 
Ausdrücke  bezeichnen  die  äußere  und  die  innere  Seite  der  nämlichen 
Sache,  genauer:  des  nämlichen  Geschehens).    In  diesem  Sinne  steht 
der  eben   geschilderten,   durch   F.  J.  Schmidt   so    eindrucksvoll   ver- 
tretenen ßicJitung  gegenüber  A.  Drews,  der  als  abgeklärter,  gereifter 
Denker   die   Lebensarbeit   E.   v.  Hartmanns,  zunäcnst   auf  religions- 


298  Richard  Fritzsche: 

philosophifichem  Gebiete,  fortgesetzt  hat,  die  an  Schellings  „positive^, 
d.  h.  voluntaristiBche  Philosopnie  anknüpft  („negativ*^  nennt  Bchellino 
das  Logische,  die  Gestalt,  als  das  Begrenzende).    Als  Vorläufer  seines 

froßen  reli^onsphilosophischen  Werkes:  »Die  Beligion  als  Selbst- 
ewußtsein  Gottes"  (Jena  1906,  Diederichs.  XIV  und  514  8.  12  M.) 
fab  er  uns  .Hegels  Religionsphilosopbie  in  gekürzter  Form",  eine 
.usgabe  nicht  für  wissenschaitliche  Zwecke  —  dazu  wird  man  sich 
an  die  Originalausgabe  halten  — ,  sondern  zur  Befriedigung  des  wieder 
erwachten  aktuellen  philosophischen  Interesses.  Für  diesen  Zweck 
ist  die  Ausgabe  in  vorzüglicher  Weise  ausgestattet  mit  einer  aus- 
führlichen historischen  Einführung  (74  S.)  und  eingehenden  kritischen 
Anmerkungen  und  Erläuterungen  (78  S.).  Die  „Einführung",  vor- 
bereitet scnon  durch  desselben  Verfassers  Werk:  „Die  deutsche 
Spekulation  seit  Kant,  mit  besonderer  Bücksicht  auf  das  Wesen  des 
Aosoluten  und  die  Persönlichkeit  Gottes"  (2  Bde.,  2.  Ausg.,  1895, 
12  M.),  behandelt  1.  die  Spekulation  vor  Hegel:  die  vorkantische 
Philosophie,  Kant,  Fichte,  Scheluno.  2.  Die  Ebitwicklung  des  Hegel- 
schen  Systems:  Heeel  als  Theologe,  der  Übergang  zur  Philosophie» 
Hegel  als  Philosoph.  Hieran  schließt  Drews  nun  die  vorliegende 
Neuausgabe  von  Schellings  Münchner  Vorlesungen,  in  der  Hoffnung, 
damit  dem  Vorurteile  ^egen  den  Urheber  der  Naturphilosophie  zu 
begegnen,  das  seit  fünfzig  J aliren  von  den  Vertretern  der  mechanischen 
Naturansicht  gepfle^  wurde  und  trotz  Gokthe,  Lamabck,  K.  £.  y.  Baer 
zu  einem  (erst  m  den  letzten  Jahren  seitens  einiger  Naturforscher 
wieder  in  Frage  gestellten)  Bestandteile  des  modernen  Bewußtseins 

feworden  ist.  Die  Münchner  Vorlesungen  sind  die  Einführung  in 
ie  positive  Philosophie,  die  letzte  Phase  von  Schellings  Spekulation, 
an  die  E.  v.  Habtmamms  Prinzipienlehre  unmittelbar  anknüpft,  die  aber 
auch  dem  ganzen  übrigen  modernen  Voluntarismus  den  Anschluß  an 
eine  metaphysische  Grundlage  bietet.  Deurum  rät  Drews  jedem  philo- 
sophisch Interessierten,  für  die  metaphysische  Orientierung  sich  zunächst 
an  ScHELLiMo  zu  wenden,  der  (neben  Kant)  unter  den  klassischen  Meistern 
„aktueller  ist  als- jeder  andere".  Schellings  Zeit,  meint  Dbewb,  kann 
nicht  ferne  sein,  und  in  der  Tat,  zu  ihren  Vorboten  möchten  wir 
unter  den  Biologen  nicht  nur  die  Neovitalisten  rechnen,  sondern  ganz 
besonders  auch  diejenigen  Materialisten,  die  ihre  Gedankenreihen  bis 
an  die  Schwelle  des  Vitalismus  (oder  Psychologismus,  Voluntarismus) 
führen,  um  diesen  selbst  dann  mit  Nachdruck  als  unwissenschaftlich 
abzuweisen.  —  Die  Ausgabe  ist  gedacht  als  erster  Band  einer  Neu- 
aus^abe  der  philosophischen  Hauptschritten  Schellings.  Der  Druck 
ist  jkorrekt;  aber  aimallen  muß  es,  wenn  in  der  Einleitung  eines 
philosophischen  Werkes  der  Name  mit  dem  Begriffe  verwechselt 
wird  (S.  X:  „daß  der  Betriff  der  positiven  Philosophie,  wie  so  viele 
Begriffe,  von  Schellino  m  mehrfachem  Sinne  gebraucht  wird.  Die 
Hauptbedeutung  jenes  Begriffs  .  .  .").  Schmerzlich  ist  auch,  daß  die 
Manen  eines  großen,  aber  in  diesem  Punkte  bis  zum  Jähzorn  emp- 
findlichen Toten  durch  die  Lesart  Scuoppenhauer  (S.  340)  gekränkt 
werden.  Für  den  Mangel  eines  alphabetischen  Inhaltsverzeichnisses 
entschädigt  uns  nur  schwach  ein  dürftiges  Namenregister. 

Zwischen  den  beiden  geschilderten  Richtungen  neutral  steht  die 
Jubiläumsausgabe  von  Hegels  (1807  erschienener)  „Phänomenolofi;ie 
des  Geistes^  von  G.  Lasson.  Die  Imorierung  Hegels  ist  fünfzig  Ja&e 
lang  so  vollständig  gewesen,  daß  die  ignoratio  zur  ignorantia  wurde. 
Wenige  verstehen  überhaupt  noch  seine  Sprache,  um  diese  Gedanken- 
mumie auch  nur  soweit  zu  beleben,  daß  sie  sich  fragen  können:  Ist 


Hegels  Phänomenologie.  299 

das  Tiefsinn  oder  Aberwitz  ?   Wir  müssen  es  uns  neu  sagen  lassen,  daß 
in   diesem  Buche,  „das  dasteht  als  ein  Stein  des  Anstoßes  und  ein 
Zeichen,  dem  widersprochen  wird,  rätselhaft  nicht  bloß  für  das  ge- 
wöhnliche Bewußtsein,  sondern  auch  für  die  hergebrachten  Weisen 
wiflsenschaftlicher  Gedankenbildung",  daß  in  ihm  sich  alle  geistigen 
Bestrebungen  seiner  Zeit  wie  in  einem  Brennpunkte  vereinigt  finden. 
,Die  philosophische  Arbeit  der  vorangegangenen  Jahrzehnte,  die  das 
menschliche  Denken  weiter  gebracht   hatte  als  vorher  lange  Jahr- 
hunderte,  wird  hier  über  aSh.  selbst  verständigt  und  zu  einem  vor- 
läufigen Abschlüsse  gebracht. '^     Da  ist  es  doch  ein  Unglück,  wenn 
nur  wenige  genug  geschult  sind,  um  Hegel  im  Original  lesen  und 
verstehen   zu   können,   so   daß   A.  Dbews  sagen  muß:    „Der   großen 
Anzah>  der  G-ebildeten  mit  tieferen  philosophischen  Interessen  dürften 
die  Werke  dieses  Denkers  in  ihrer  vorliegenden  Form  wohl  für  immer 
unzugänglich  bleiben.*'    Unter  solchen   Umständen  hat  G.  Lasbom  es 
unternommen,  in  einer  ausführlichen,  vorzüglich  geschriebenen  Ein- 
leitung (100  S.)  den  Leser  vorbereitend  auf  den  Standpunkt  und  zu 
dem  Inhalte  der  Phänomenologie  hinzuführen.   Angesichts  der  „grund- 
sätzlichen Fremdartigkeit  der  gesamten  HsoELSchen  Weltanschauung, 
zu   der  uns   die  Verbindungsbrücken   so  gut  als  abgebrochen  sind^ 
(A.  Drews),  soll  uns  verständlich   gemacht  werden,  wie  Hegel   dazu 
kam,    das  zu  schreiben,  und  zwar  aus  den  beiden  Gesichtspunkten: 
1.  seiner  persönlichen  Entwicklung,  die  uns  vorgeführt  wird  unter 
Benutzung  der  neuesten  Vorarbeiten  (W.  Dilthby,  Die  Jugendgeschichte 
Hegels.     1905.    H.  Nohl,  Heeels  theologische  Jugendscnriften.    1907), 
und  2.  seines  wissenschaftlidken   Eingreifens  in   den  vorgefundenen 
Stand  der  philosophischen  Arbeit.    Somit  behandelt  die  Arbeit  1.  den 
Werdegang  Hegels:  Bildungseinflüsse  seiner  Jugend.   Jugendarbeiten. 
Erste   Veröffentlichungen.     2.  Die  Phänomenowgie:  Stellunc  in  der 
philosophischen  Situation  der  Zeit.    Thema  und  Methode.    Innalt  und 
Anlage.    Das  Beferat  bezieht  sich  auf  Hegels  frühere  Arbeiten  nur, 
soweit   sie  auf  dieses  Werk  vorausweisen;  es  wird  aufs  glücklichste 
erginzt  durch  die  oben  erwähnte  Einführung  zu  Hegels  Alterswerke 
(aus  den  Jahren  1821—31),  der  „BeligionsjjhSosophie**  von  A.  Dbews. 
Lassos»  Einleitung  bietet  nicht  nur  durch  ihren  Inhalt,  sondern  auch 
durch  die  edle,  von  HsGELSchem  Geiste  erfüllte  Sprache  eine  geeignete 
Vorbereitung.     S.  XXVI f.  lesen  wir:  „Zwei  Völkern  des  Altertums 
bleiben  wir  immer  für   das  geistige  Erbe  verpflichtet,  das  sie  als 
Grundlage  der  europäischen  Kultur  uns  überliefert  haben,  dem  Volke 
Israel  und  den  Griechen.    Sie  beide  haben,  kann  man  sagen,  die  Ent- 
deckung des  Geistes  gemacht.   Den  Juden  ist  die  Wahrheit  geoffenbart 
worden,  daß  das  Unendliche  Geist  ist  .  .  .    Von  den  Griechen 
darf  es  umgekehrt  gelten,  daß  sie  zu  der  Anschauung  ^langt  sind, 
daß  das  Endliche  Geist  ist."    Man  sieht,  wie  der  Verfasser  in 
HEGELschen  Denkformen  lebt,  wenn  er  uns  in  dieser  Form  daran  er- 
innert,  daß  Ewigkeit  und   Unendlichkeit  (auch    das  Apeiron  Ana- 
ximanders)  orientalische,  nicht  hellenische  Begriffe  sind.  Wir  werden 
aber  auch  darauf  aufmerksam,  daß  er  den  Ausdruck  nuanciert:  den 
Juden  ist  es  offenbart  worden,  die  Hellenen  sind  zu  der  Anschauung 
gelangt.    Ist  das  die  Denkweise  Hegels,  in  die  wir  durch  diese  Ein- 
leitung  eingeführt  werden  sollen?     Auch  den  Indern,  im  Veda,  in 
den    Üpanishad    und   weiterhin    in    der   Vedäntaphilosophie ,  ist   es 
offenbart  worden,  daß  das  Unendliche  Geist  ist.   W  ir  finden  allerdings 
in  der  „Phänomenologie"   die  , offenbare  Religion"  im  Unterschieae 
von   der   natürlichen;   dazu    „Die  Wirklichkeit   der  Menschwerdung 


300  Wilhelm  Koppelmann: 

Gottes".  »Der  Geist  in  sich  seihst,  die  Dreieinigkeit".  «Der  Geist  in 
seiner  Entäußerung,  das  Reich  des  Sohnes".  »Der  Geist  in  seiner  Er- 
füllung, das  Reich  des  Geistes".  „Die  Erlösung  und  Versöhnung". 
Aher  diese  Ausdrücke  können  nur  von  solchen  Lesern,  die  nicht 
wissen,  daß  Hegel  der  Vater  von  D.  F.  Strauss  und  seiner  „Glaubens- 
lehre" war,  im  Sinne  des  religiösen  Materialismus  gewisser  Dogmen 
mißverstanden  werden.  Also  hat  unser  Herauseeber  wohl  ohne  die 
Befürchtung,  dadurch  das  Verständnis  Heoels,  den  er  erklären  will, 
zu  trüben,  am  Ende  der  hierauf  bezüglichen  Einleitung  nach  dena 
Grundsatze,  wie  man  in  katholischen  Gegenden  auf  jedem  Gipfel  ein 
Kruzifix  errichtet,  die  „Realität  eines  Menschen,  der  Gott  ist",  hervor- 
gehoben, um  dann  zu  schließen  mit  dem  Hinweise  auf  „das  Wort, 
das  da  Fleisch  geworden  ist  und  mitten  imter  uns  wohnt".  Gerade 
auch  den  llieologen  hat  Dbews  (S.  XIU)  das  Studium  der  „Reli^iona- 
philosophie"  dringend  empfohlen;  aber  er  sagt  dabei:  „Wenn  sie  in- 
dessen etwa  meinen  sollten,  aus  diesem  Werke  neue  Stützen  für  ver- 
altete dogmatische  Anschauungen  entnehmen  zu  können,  die  an 
Heqel  einen  eifrigen  Fürsprecher  gefunden  haben,  so  wäre  allerdings 
ein  erneutes  Bekanntwerden  dieses  Denkers  nicht  bloß  im  Interesse 
des  philosophischen,  sondern  auch  des  religiösen  Fortschritts  zu  be- 
dauern." Do^ma  und  Wissenschaft,  Bilderschrift  und  Buchstaben- 
schrift, intuitives  und  diskursives,  analytisches  Denken,  das  ist  im 
Grunde  derselbe  Gegensatz,  der  schon  das  Thema  Herodots  war; 
Themistokles  hat  ihn  bei  Salamis,  Alexander  umgekehrt  auf  der  Hochzeit 
von  Susa  behandelt,  und  schließlich  setzte  man  in  Rom,  wie  Lasson 
das  Kruzifix  ans  Ende  der  Phänomenologie,  so  die  Bilder  der  Apostel- 
fürsten auf  die  Säulen  der  großen  Cäsaren.  Sankt  Bartholomäus  hat 
einen  orientalischen  Namen  \  in  den  Hallen,  wo  die  Bildsäule  Piatons 
steht,  herrscht  hellenischer  Geist.  Hegel  hat  seine  Schüler  vom. 
Do^ma,  das  er  bis  zur  Auflösung  vergeistigte,  zur  hellenischen  Denk- 
weise geführt,  und  in  diesem  Sinne  nuldigt  ihm  der  wackere 
F.  J.  Schmidt,  während  der  edle,  vornehme  G.  Lasson  ihm  in  seiner 
Weise  ein  Jubiläum  feiert. 

Schneeberg  (Sachsen).  Ricuard  Fritzschr. 


Epwldepungr. 

Im  Märzheft  dieser  Zeitschrift  hat  Herr  O.  BRAUN-Hamburg  über 
meine  „£lritik  des  sittlichen  Bewußtseins"  eine  Rezension  veröffentlicht, 
welche  ich,  da  sie  völlig  falsche  Vorstellungen  von  dem  Inhalt  und 
Zweck  meines  Buches  erwecken  muß,  nicht  unwidersprochen  lassen 
möchte. 

Sein  Urteil  faßt  Braun  am  Schluß  dahin  zusammen,  das  Buch 
enthalte  „im  ganzen  praktisches,  öfters  feinsinniiges  Räsonnement 
über  geltende  Anschauungen,  aber  keine  Grundlegung 
einer  Ethik,  deren  Wesen  nicht  einmal  richtig  erkannt  wird. 
Demgegenüber  möchte  ich  betonen,  daß  das  Werk,  was  auch  von 
keinem  anderen  Kritiker  übersehen  worden  ist,  eine  ganz  neue  ethische 
Theorie  enthält,  insofern  nämlich  die  Wahrhaftigkeit  als  Grund- 
prinzip der  Ethik  aufgestellt  wird.  An  diesem  Punkte  hatte  die  Kritik 
einzusetzen.  Statt  dessen  bemüht  sich  Braun,  Dinge  zu  widerlegen, 
die  ich  gar  nicht  behauptet  habe,  und  hält  mir  Wahrheiten  vor,  welche 
ich  weit  entfernt  bin  zu  bestreiten. 

So  heißt  es  gleich  im  Anfang:  „In  der  Auffassung  seines  Arbeits- 


Erwiderung.  301 

gebietes  begeht  Koppelmanx  einen  FeHler»  wenn  er  der  wissenschaft- 
Echen  Ethik  die  Aufgabe  stellt .  .  . ,  die  Tatsachen  des  sittlichen  Be- 
wußtseins zu  erkennen  und  zu  erklären.*'  Die  „Yerderblichkeit'^  dieser 
Ansicht  zeigt  sich  nach  Brains  Meinung  in  folgendem  von  mir  auf- 

festellten,  übrigens  von  Braun  durch  Weglassung  der  Worte:  „um 
eren  Erklärung  es  sich  handelt"  seines  eigentlichen  Sinnes  beraubten 
Satze:  ^Ein«  eUiische  Theorie,  welche  zu  Konsequenzen  führt,  die 
mit  den  tatsächlichen  sittlichen  Anschauungen,  um  deren  Er- 
klärung es  sich  handelt,  unvereinbar  smd,  ist  damit  als  un- 
haltbar erwiesen."  Nach  Brauns  Ansicht  unterstellt  sich  ein  auf 
diesem  Standpunkt  stehender  Ethiker  „dem  Urteil  des  flachen 
Durchschnitts  und  der  großen  Menge".  Eine  sonderbare  Be- 
hauptung gerade  mir  gegenüber,  da  ich  die  Ethik  Jesu  für  „die 
reinste,  konsequenteste  und  höchste  Entfaltung  des  in  jedem  Menscnen 
^örksamen  sittlichen  Grundprinzips"  erkläre.  TJnd  hätte  nicht  schon 
die  Tatsache,  daß  ich  mich  mi  Vorwort  als  Anhänger  Kants  bekenne, 
Bbaux  stutzig;  machen  müssen,  als  er  im  Anschluß  an  jenen  Tadel  die 
Belehrung  mederzuschreiben  sich  anschickte:  „Nicht  mit  dem,  was  ist, 
hat  es  im  Grunde  die  Ethik  zu  tun,  sondern  mit  dem,  was  sein  soll.** 
Ebenso  gründlich  hat  Braun  mich  mißverstanden,  wenn  er  weiter 
bemerkt:  „Auch  den  näher  bestimmten  Ausgangspunkt  der  Unter- 
suchung können  wir  nicht  gelten  lassen"  (nämlicn  den  Begriff  der 
unbedingten  Verpflichtung).  „Gerade  dieser  Ausgangspunkt  ist  es 
auch  bei  Kant,  gegen  den  die  von  Koppelmann  bekämpfte  Richtung 
der  Sozialethik  mit  Hecht  ihre  Angriffe  richten  kann:  das  un- 
bedingte Sollen,  das  Koppelmann  ohne  Kritik  anerkennt,  wird 
ja  von  ihr  als  eine  arterhaltende  Illusion  hingestellt  (Spencer  usw.)." 
Also  „ohne  Kritik"  wird .  angeblich  von  mir  das  unbedingte  Sollen 
anerkannt.  Und  doch  enthält  das  erste  Kapitel  meines  Buches,  was 
Braun  ganz  entgangen  zu  sein  scheint,  eine  lange  Ausführung  über 
die  „Unfähigkeit  der  Wohlfahrtstheorie  zur  Erklärung  des  tatsächlich 
vorhandenen  Pflichtbewußtseins" ,  also  des  Bewußtseins  des  un- 
bedingten Sollens,  und  im  zweiten  Kapitel  mache  ich  dann  meiner- 
seits mich  daran,  die  Entstehung  des  Pflichtbewußtseins  besser  zu  er- 
klären und  es  auf  seine  objektive  Begründung  hin  zu  prüfen. 
Dies  ist  gerade  eine  der  grundlegenden  Partien  meines  Werkes. 

Am   wunderlichsten  aber  ist  folgender  Vorwurf,  von  welchem 
nicht  ganz  klar  ist,  ob  Braun  ihn  allem  mir  oder  auch  Kant  machen 
will.     „Vor  allem  aber  ist  einzuwenden,  daß  das  Urphänomen  des 
Sittlichen  gar  nicht  das  Sollen  ist,  sondern  das  Wollen.    Dem  Wollen 
meines    geistigen   Selbst   zu   folgen,    das   ist   sittlich;  'daß    dieses 
eigenste  Wollen  mir  oft  als  ein  Sollen  erscheint,  ist  eine 
sekundäre   Tatsache,    die  mit   der    Doppelnatur   unseres 
Wesens   zusammenhängt."     Ich  bin  weit  entfernt,   das  zu  be- 
streiten.   Wie  man  weiß,  erklärt  Kant  das  Bewußtsein  der  sittlichen 
Verpflichtung  gerade  daraus,  daß  das  sittliche  Sollen  im  Grunde  ein 
Wollen  sei,  welches  nur  der  sinnlichen  Seite  unseres  Wesens  gegen- 
über als  Sollen  sich  darstelle.    Alle  meine   Schriften  über  ethische 
Fragen  beweisen,  daß  ich  genau  auf  demselben  Standpunkt  stehe. 
Auch  hier  hat  mich  Braun  edso  gründlich  mißverstanden. 

Daß  bei  solcher  Verkennung  meines  prinzipiellen  Standpunktes 
die  von  Braun  gegebene  Übersicht  über  den  Inhalt  meines  Buches 
mißraten  mußte,  ist  selbstverständlich.  Ich  brauche  daher  auf  die 
mannigfachen  Unebenheiten  derselben  nicht  einzugehen. 

Münster  i.  W.  Wilh.  Koppelmann. 


302  Notizen. 

Notizen. 

Brittes  Prelsaasschreiben  der  MKantgesellschafl". 

Carl  ßflttler-PrelsaDfgabe. 

Welches  sind  che  mrUichen  Fortschritte  ^  die  die  Metaphysik 
seit  Hegels  und  Serbarts  Zeiten  in  Deutschland  gemacht  hat? 

Das  Thema  ist  der  toh  der  Berliner  Akademie  der  Wissen- 
Schäften  für  1791  gestellten  und  bis  1795  verlängerten  Aufgabe  nach- 
gebildet, zu  deren  Bearbeitung  Kimt  selbst  Entwürfe  gemacht  hatte: 
„Welches  sind  die  wirklichen  Fortschritte,  die  die  Metaphysik  seit 
Leibniz'  und  Wolffs  Zeiten  in  Deutschland  gemacht  hat?**    Das  ietzt 

gestellte  Thema  könnte  auch  lauten:  „Welche  definitiven  Resultate 
at  die  Metaphysik  seit  dem  Zusammenbruch  des  deutschen  Idealismus 
erzielt?*'  Hierbei  ist  „Metaphysik**  wie  in  jener  Akademieaufgabe 
und  wie  bei  Kant,  im  weiteren  Sinne  genommen,  derart,  daß  auch 
erkenntnistheoretische  und  naturphüosophische  Probleme  darunter 
fallen.  Das  Thema  ist  nicht  so  gemeint,  daß  notwendig  „wirkliche 
Fortschritte**  aufgewiesen  werden  sollen ;  auch  eine  zu  einem  negativen 
Ergebnis  kommende  Arbeit  kann,  wenn  sie  nur  wissenschaftlich  gut 
durchgeführt  ist,  preisgekrönt  werden. 

Die  zeitliche  Begrenzung  nach  rückwärts  ist  so  zu  verstehen, 
daß  eine  eingehende  Würdigung  Schopenhauers,  des  letzten  Schrt.lino, 
Bbnekes  und  Kbausbs  außernaiD  des  Themas  Uegen  soll. 

Es  handelt  sich  hierbei  nicht  um  eine  ausführliche  historische 
Darstellimg  aller  in  Betracht  kommenden  Systeme  und  Rich- 
tungen, —  im  Gegenteil,  die  Kenntnis  derselben  wird  in  den  Be- 
antwortungen des  Themas  vorausgesetzt;  Aufgabe  des  Autors 
ist  es  vielmehr,  das  Haltbare,  Gemeinsame,  Dauernde  aus  dem 
historischen  Material  jener  Systeme  und  Bichtungen  herauszuarbeiten, 
das  Veraltete,  Individuelle,  Wandelbeure  abzuscneiden  und,  an  den 
so  gewonnenen  Resultaten,  die  Fortschritte  gegenüber  der  Periode 
BEeoel-Herbart,  eventuell  auch  &;egenüber  der  Kantischen  und  Vor- 
kantischen  Metaphysik  festzustellen.  Am  zweckmäßigsten  würde  dies 
durch  zusammenfassende  Thesen  am  Schlüsse  der  Arbeit  selbst  ge- 
schehen. 

Die  Ausschreibung  dieser  dritten  Preisaufgabe  verdankt  die 
Kantgesellschaft  der  Aüiremng  ihres  Mitgliedes,  des  Herrn  Pro- 
fessor Dr.  Carl  Gtittler  an  der  Universität  München, 
welcher  nicht  nur  das  oben  formulierte  Thema  nebst  Erläuterungen 
uns  selbst  angegeben,  sondern  auch  der  Gesellschaft  für  die  beste 
Beantwortung  der  Aufgabe 

Eintausend  Mark 
und  für  die  zweitbeste  Bearbeitung 

Sechshundert  Mark 

zur  Verfügung  gestellt  hat. 

Für  die  Bewerbung  an  diesem  Preisausschreiben  gelten  folgende 
Bestimmungen : 


Notizen.  303 

1.  Die  Be-werbungsschriften  sind  einzusenden  an  das  „Kuratorium 
der  Universität  Halle". 

2.  Ablief erun^frist :  22.  April  (Kants  Geburtstag)  1910. 

^  Jede  Arbeit  ist  mit  einem  Motto  zu  versehen.  Name  und  Adresse 
des  Verfassers  dürfen  nur  in  geschlossenem  Kouvert  beigefügt 
werden,  das  mit  dem  gleichen  Motto  zu  überschreiben  ist. 

i.  Jeder  Arbeit  ist  ein  genaues  Verzeichnis  der  benützten  Literatur, 
sowie  eine  detaillierte  Inhaltsangabe  beizufügen. 

5.  Nur  gut  lesbar  hergestellte  Bewerbungsschriften 
werden  berücksichtigt.  Undeutlich  geschriebene, 
schwer  lesbare  Manuskripte  werden  unbedingt  von 
vorn  herein  von  der  Konkurrenz  ausgeschlossen. 
Daher  werden  die  eingesendeten  Arbeiten  am  besten 
mittelst  g^ter  Schreibmaschinenschrift  hergestellt. 

6b  Die  Blätter  des  Manuskripts  müssen  paniert  imd  mit  Band  ver- 
sehen sein.  Nur  die  Vorderseite  der  Blätter  sollte  beschrieben 
werden.  Das  Manuskript  kann  aus  losen  Blättern  in  einer  mit 
Bändern  versehenen  Mappe  bestehen. 

7.  Die  Arbeiten  müssen  in  deutscher  Sprache  abgefaßt  sem. 

8.  Als  Preisrichter  fangieren:  Geheimrat  Professor  Dr.  A.  Riehl 
und  Geheimrat  Professor  Dr.  K.  Stumpf  an  der  Universität  Berlin 
sowie  Professor  Dr.  O.  Külpe  an  der  Universität  Würzburg. 

9.  Die  Verkündi^ng  der  Preiserteilung  findet  Ende  1910  in  den 
»Kantstudien    statt. 

10.  Sind  überhaupt  keine  preiswürdigen  Arbeiten  eingelaufen,  so 
können  die  relativ-befnedigendsten  Beantwortungen  nach  dem 
Ermessen  der  Preisrichter  aus  dem  Preisfond  Bemunerationen 
erhalten. 

11.  Die  Itedaktion  der  „Kantstudien"  ist  berechtigt,  aber  nicht  ver- 
pflichtet, preisgekrönte  Arbeiten  in  ihrer  Zeitschrift  (respektive 
m  den  zugehörigen  „  Ergänzungsheften '^j  abzudrucken. 

11  Nichtgekrönte  ^beiten  werden  seitens  des  Geschäftsführers  der 
Kantfi:esellschaft  demjenigen  zurückgegeben,  welcher  sich  durch 
Angabe  des  betreffenden  Mottos  legitimiert.  Nichtreklamierte 
Arbeiten  werden  nach  Verlauf  eines  Jahres,  am  81.  Dezember  1911, 
samt  dem  zugehörigen  uneröffnetea  Kouvert  vernichtet. 

Halle  a.  S.,  im  März  1908. 
(Beichardtstr.  15.) 

Der  Geschäftsführer  der  „Kantgesellschaft^S 

Professor  Dr.  H.  Vaihinger. 


Dritter  internationaler  Kongrefi  für  Pliiiosopliie. 

Heidelberg,  81.  August  bis  5.  September  1908. 

Der  internationale  Kongreß  für  Philosophie,  der  im  Jahre  1900 
in  Paris  bei  Gelegenheit  der  Weltausstellung  begründet  wurde  und 
zum  zweiten  Mal  1904  in  Genf  tt^te,  soll  nach  dem  dort  gefaßten 
Beschlüsse  in  diesem  Jahre  in  Heidelberg  zusammentreten. 

Nach  einem  Begrüßungsabend  am  Montag  den  31.  August  soll 
am  Dienstag  den  1.  September  die  erste  der  vier  allgemeinen 
Sitzungen  und  am  Vormittag  des  Samstag,  5.  September,  die  Schluß- 


304  Notizen. 

Sitzung  abgehalten  werden,  an  die  sich  am  Nachmittag  ein  Ausflug 
anschließen  wird. 

Für  die  besonderen  Arbeiten  wird  sich  der  Kongreß  in  folgende 
sieben  Sektionen  gliedern:  1.  Geschichte  der  Philosophie;  2.  All- 
gemeine Philosophie,  Metaphysik  und  Naturphilosophie;  3.  Psycho- 
logie; 4.  Logik  und.  Erkenntnistheorie;  5.  Ethik;  o.  Ästhetik;  7.  Religions- 
philosophie. 

Die  Verhandlungen  des  Kongresses  werden  in  deutscher,  eng- 
lischer, französischer  und  italienischer  Sprache  geführt. 

Anmeldungen  zu  Vorträgen  für  die  Sektionen  werden  zunächst 
an  den  mitunterzeichneten  Generalsekretär  Dr.  Elsenhans  (Heidelberg, 
Plöck  79)  erbeten,  der  sie  den  noch  zu  bestimmenden  Sektions- 
vorständen  überweisen  wird.  Die  Ausdehnung  der  einzelnen  Mit- 
teilungen sollte  die  Zeit  von  15  Minuten'  nicht  überschreiten;  den 
Zeitraum  für  die  Diskussion  nach  Maßgabe  der  Zahl  der  Anmeldungen 
zu  begrenzen,  bleibt  den  Sektionsvorständen  vorbehalten. 

Der  Preis  der  Mitgliedskarte  beträgt  20  Mk.;  sie  berechtigt  zur 
Teilnahme  an  allen  Veranstaltungen  des  Kongresses  und  zum  un- 
entgeltlichen Bezüge  des  Kongreßberichtes.  Für  Damen,  welche  zur 
Familie  eines  Kongreßmitgliedes  gehören,  werden  besondere  Karten 
zu  10  Mk.  ausgegeben,  welche  dieselben  Berechtigungen  wie  die 
Mitgliedskarten,  mit  Ausnahme  des  Anspruchs  auf  den  Kongreß- 
bericht, gewähren. 

Anmeldungen  zur  Beteiligung  sind  im  Interesse  der  Schätzung 
des  zu  erwartenden  Besuchs  so  früh  als  möglich  erwünscht;  sie  er- 
folgen am  besten  in  der  Form  der  Einzahlung  des  Beitrags  mit  Post- 
anweisung an  die  Rheinische  Kreditbank ,  Depositenkasse  Ludwigs- 
platz,  in  Heidelberg,  mit  möglichst  genauer  Angabe  der  Adresse,  an 
welche  sodann  die  Mitgliedskarte  durch  die  Post  zugestellt  werden  wird. 

Das  Heidelberger  Organisationskomitee : 

Geh.  Regierungsrat  Dr.  J.  Bfxkeh.  Privatdozent  Dr.  Elsenhans,  General- 
sekretär des  Kongresses.  Geh.  Hofrat  Dr.  Gothrin.  Professor  Dr.  BLampb, 
Dekan  der  philosophischen  Fakultät.  Professor  Dr.  Hoops.  Geh. 
Hofrat  Dr.  Jkllinek,  Prorektor  der  Universität.  Geh.  Bat  Dr.  Kokäios- 
BEROER.  Geh.  Hofrat  Dr.  Kossel.  Privatdozent  Dr.  Lask.  Privat- 
dozent Dr.  F.  A.  ScHMiD.  Professor  Dr.  Schnkeoans.  Geh.  Kirchenrat 
Dr.  Trültsch.  Professor  Dr.  Vossler.  Bürgermeister  Professor  Dr.  Walz. 
Frau  Marianne  Weber.  Professor  Dr.  Max  Weber.  Oberbürgermeister 
Dr.  WiLCKENs.    Geh.  ßat  Dr.  Windelband,  Präsident  des  Kongresses. 


Philosophische  und  soziologische  Zeitschriften  and  Bibliographie 

im  nächsten  Hefte. 


Altenborg. 
Pierersche  Hofbuchdruckerei 
Stephan  Geibel  &  Co. 


Eine  Einteilung  der  pliilosopliisclien  Wissenscliaften 

nacli  Aristoteles'  Prinzipien. 

Von  Dr.  K.  F.  Wlze,  Jeiewo. 
Inhalt. 

Di»  Eintailiing  der  philosophischen  Wissenschaften  in  die  theoretischen,  prak- 
tiaeh^n  und  ftsthetischen  wurde  nach  dem  Vorgänge  von  Friedrich  Just. 
Biedel,  Mendelssohn  und  Kant  in  Deutschland  mit  der  Dreiteilung  der  Seelen- 
krftfte  in  Denken,  Wollen  und  h'ühlen  in  Einklang  gebracht.  Eine  anoere  Stellung 
nahm  der  Frage  gegenflber  Sulzer  ein.  Dieser  teilte  dem  Denkeh  die  tiheoretische, 
dem  Fflhlen  aber  aie  praktische  Philosophie  zu,  während  er  fflr  die  Ästhetik  die 
sinnliche  Empfindung  in  Anspruch  nahm.  Die  bei  den  Franzosen  am  meisten 
flbUehe  Einteilung  ist  der  deutschen  verwandt.  Der  theoretisolien  und  praktischen 
Fldlosophie  setzen  sie  das  Denken  und  Wollen  zugrunde,  der  Ästhetik  die  Sensi- 
bilitö,  einen  Begriff,  der  sowohl  mit  dem  sinnlichen  Empfinden,  wie  mit  dem 
Fohlen  als  synonym  erachtet  werden  kann. 

Diese  drei  genannten,  psychologischen  Einteilung^grtinde  fflr  die  philoso-^ 
phiachen  Wissenschaften  sind,  wie  man  sieht,  schon  untereinander  in  teilweiser 
Uneinigkeit.  Und  wenn  auch  aie  Rolle,  die  die  Seelenkrafte  in  den  einzelnen  philo- 
sophischen Gebieten  spielen,  eine  besondere  ist,  so  kann  man  jedenfalls  zu  Diensten 
einer  einzigen  Seelenkraft  die  flbrigen  aus  dem  betreffenden  Gebiete  nicht  weg- 
weisen, wozu  eine  einseitige  Auffassungsart  der  parallelen  Verknflpfung  der  Seelen- 
krftfte  mit  den  betreffenden  philosophischen  Wissenschaften  gef&hrden  konnte. 

Deshalb  dflrfte  sich  empfehlen,  einheitlichere  und  weniger  umstOfiliche  Ge- 
sichtspunkte fflr  die  drei  ]>hilosophi8chen  Gebiete  zu  suchen.  Ich  schlage  in  der 
vorliegenden  Arbeit  dazu  eine  Einteilung  der  geistigen  Tfttigkeit.  Yerhaltuxigs- 
weise,  vor.  Je  nachdem  sie  frei,  untersuchend  oder  zielzustreoend  ist.  Der 
Freiheit,  nicht  in  ihrer  ethischen  Bedeutung,  wie  z.  B.  bei  Kant  und  Herder, 


Die  Aristotelische  Einteilung  der  Philosophie  in  eine 
theoretische,  praktische  und  poetische  ist  anscheinend  von 
einem  psychologischen  Standpunkte  gewonnen.  Sie  läßt 
sich  nämlich  mit  dem  Ausspruche  dieses  Philosophen:  „itacja 
oiavota  7]  icpaxTixT)  y)  ttoii^tixt)  t^  &ea>pr|Tixi^^  in  Einklang  bringen'). 
Diese  Einteilung  blieb  in  der  Folge  teilweise  unberück- 
sichtigt, indem  man  die  philosophischen  Theoreme  und 
Probleme  in  einer  der  Platonischen  nahe  stehenden,  auch 
von  Aristoteles  vertretenen  Weise  als  der  Logik,  Physik 

')  Met.  E,  1.  Vgl.  Übebweg-Heinzk,  Grundriß  der  Geschichte  der 
Philosophie*  I,  8.  242. 

Vierteljahrsschrift  f.  wissenschafÜ. Philoa.  u.  Sozio!.  XXXII.  8.  20 


306  K.  F.  Wize: 

und  Ethik  zugehörend  zusammenfaßte,  teilweise  wurde  die 
Philosophie  in  Deutschland,  vornehmlich  durch  Christian 
WoLFF,  zwar  in  ein  theoretisches  und  praktisches  Gebiet 
eingeteilt,  doch  wurden  die  poetischen  Wissenschaften  un- 
beachtet gelassen').  Dies  ging  so  weit,  daß  Baumgarten 
die  Ästhetik,  nach  seiner  Auffassung  eine  Erkenntnis  niederer 
Art,  ebenso  wie  die  Erkenntnis  höherer  Art  in  eine  prak- 
tische und  theoretische  einteilte^).  Daß  die  ästhetischen 
Erscheinungen  als  eine  niedere  Art  von  Erkenntnis  auf- 
gefaßt wurden,  geschah  unter  dem  Einfluß  der  Alten  und 
der  Kirchenväter^),  weiterhin  durch'  die  Schriften  des 
Descartes*),  der  die  klare  und  distinkte  Erkenntnis  der 
bildlichen  und  imaginativen  entgegensetzte,  und  durch  die 
seiner  Nachfolger:  Spinoza  mit  seinen  ideae  adaequatae  et 
inadaequatae  und  Leibniz  mit  seinen  perceptions,  petites 
perceptions  und  apperceptions  *). 

Diesem  Zustande  der  philosophischen  Auffassung  machte 
in  gewisser  Hinsicht  eine  neue  in  Deutschland  au^ekommene 
Gedankenrichtung  ein  Ende.  Seit  Fr.  J.  Riedel,  J.  G.  H. 
Feder,  J.  Nik.  Tetens,  besonders  aber  seit  Kant  gibt  es 
wiederum   eine   vollständig   koordinierte  Dreiteilung  •)  der 

')  So  konnte  denn  Hermann  Cohen  in  KANid  „Begründung  der 
ÄstLetik"  folgendes  zum  Ausdruck  bringen:  ^Solcher  Gebiete  gab  es 
bis  dahin  zwei,  welche  nach  einer  nicht  unzweideutigen  Aristoteüschen 
Terminolo^e  als  theoretische  und  praktische  Philosophie  unterschieden 
wurde.  Diese  Unterscheidungsweise  selbst  war  geei^et,  ohne  eigene 
Verschuldung  des  Aristoteles,  das  Aufkommen  emer  Ästhetik  zu 
hemmen,  da  dieselbe  entweder  zur  theoretischen  oder  zur  praktischen 
Philosophie  gehören  zu  müssen  schien.^    S.  8. 

*)  ^AUMGABTEN  Aesthetica  §  18  Aesthetica  nostra,  sicuti  logica 
Boror  eius  natu  maior,  est  I  Theoretica  11  Practica. 

^)  Baumgabten,  Meditationes  philosophicae  de  nonnullis  ad  poöma 
pertinentibus  §  CXVI  p.  41.  Bistampa  a  cura  di  B.  Croce  ,  Kapoli 
1900.  Plato,  Phaedon,  p.  79  f.,  worauf  z.  B.  Sr.  Pawlicki  in  „Historya 
filozofii  greckiej^  11,  p.  8o9,  aufmerksam  macht.  M.  Fabiub  Quintiliani-b, 
Instit.  orat.  Vi  8,  6,  IX  4,  114  f.  M.  Straszewski,  Sw  Augustyn  na 
tle  epoki,  p.  196.  Abaelaro  vgl.  Dessoib,  Geschichte  der  neueren  deut- 
schen Psychologie^  I,  13. 

*)  Dksü ABTES  ist  vielleicht  darin  von  dem  heiligen  Auqustincb 
beeinflußt  worden,  da  er  auch  mit  seinem  „cogito,  ergo  sum"  an  die 
Erwägungen  dieses  großen  Philosophen  erinnert. 

^  Vgl.  dazu  H.  y.  Stein,  Die  £ntstehung  der  neueren  Ästhetik, 
S.  44  ff.,  104  und  an  verschiedenen  Orten. 

*)  Dieser  Dreiteilung  entspricht  wohl  die  BAUMGABTSNSche  Lehre 


£iiie  Einteilung  der  philosophischen  Wissenschaften.         307 

philosophischen  Wissenschaften  in  ein  theoretisches,  prak- 
tisches tind  ästhetisch-poetisches  Gebiet.  Diese  neue  Drei- 
teilnng  baut  sich,  ebenso  wie  die  alte,  auf  einem  psycho- 
logischen Prinzip  auf.  Es  ist  ein  anderes  als  bei  Aristoteles 
und  rechnet  mit  drei  anders  als  bei  Aristoteles  bezeichneten 
und  charakterisierten  Seeleneigenschaften,  mit  dem  Denken, 
Fühlen  und  Wollen.  Nicht  immer  geschah  dies  so  klar 
wie  bei  Riedel  und  bei  späteren  Philosophen*).  Kant 
erinnert  mit  seiner  Einteilung  der  philosophischen  Wissen- 
schaften an  Mendelssohn  (Morgenstunden).  Für  Kant  ist 
nämlich  das  Gefühl  der  Lust  und  Unlust,  worauf  sich  die 
Ästhetik  bei  ihm  stützt,  ein  Verbindungsglied  zwischen  dem 


Ton  den  drei  "Vollkommenheiten  des  Wahren,  Guten  und  Schönen 
(vgl.  ScuASLER,  Ästhetik  I,  S.  850);  sie  leitet  sich  aber  von  einer  Zwei- 
teüung  ab,  und  deshalb  sind  nicht  alle  Teilglieder  gleichwertig. 
Ebenso  liegt  wohl  der  scheinbaren  Dreiteilung  der  Seelenkräfte,  oder 
vielme^  der  Aufzählung  der  drei  Fertigkeiten,  das  Wahre,  ^as  Schöne 
und  das  Gate  zu  unterscheiden,  bei  Mknuelssohn  in  seiner  Abhandlung 
„Über  die  Evidenz  in  metaphysischen  Wissenschaften"  eine  Zwei- 
teilung im  Sinne  Baumoabtens  zugrunde.  Trotzdem  mochte  wohl  diese 
bloße  Aufzählung  der  drei  Fertigkeiten  bei  Mendelssohn  direkt  auf 
die  ]BiKDEL8chen  Auseinandersetzungen  gewirkt  haben,  wie  auch  seiner- 
seits Mendelssohn  mit  seiner  späteren  wirklich  koordinierten  Drei- 
teilung der  Seelenkräfte  in  den  „Morgenstunden"  auf  Kant  Einfluß 
feübt  nahen  dürfte  (vgl-  Ludw.  Goldstein,  Moses  Mendelssohn  und  die 
eutsche  Ästhetik,  S.  §29).  —  J.  G.  Sulzer,  der  vielfach  als  Begründer 
der  Dreiteilung  der  Seelenkräfte  in  Deutschland  genannt  wird,  nimmt 
neben  einer  Dreiteilung  eine  Zweiteilung  (vgl.  K..  Wize,  Fr.  J.  Riedel 
und  seine  Ästhetik,, S.  28  u.  a.  m.)  an;  außerdem  ist  seine  Dreiteilung" 
eine  wesentlich  andere  wie  die  der  hier  genannten  Autoren.  Während 
nämlich  diese  die  Ästhetik  dem  Gebiete  des  Gefühls,  die  praktische 
Philosophie  dem  des  WoUens,  die  theoretische  dem  des  Erkennens 
zuerteilen,  nimmt  Sulzee  für  den  Geschmack,  also  auch  für  die 
Ästhetik,  das  Empfinden,  für  das  Gute,  also  für  die  praktische 
Philosophie,  das  Gefühl,  und  nur  für  die  theoretische  Philosophie 
wie  alle  übrigen  Denker  die  Vernunft,  also  wohl  das  Erkennen  in 
Anspruch. 

1)  Überweg,  System  der  Logik  ^  S.  9.  ^In  der  Geistesphilosophie 
flohliedBen  sich  an  die  Psychologie  oder  die  Wissenschaft  von  dem 
Wesen  und  den  Naturgesetzen  der  menschlichen  Seele  zunädast  drei 
normative  Wissenschaften  an:  die  Logik,  Ethik  und  die  Ästhetik, 
oder  die  Wissenschaften  von  den  Gesetzen,  auf  deren  Befolgung  die 
Bealisierung  der  Ideen  des  Wahren,  des  Guten  und  des  Schönen  be- 
ruht. D&s  Wahre  ist  die  der  Wirklichkeit  entsprechende  Erkenntnis ; 
das  Gute  ist  die  ihrer  inneren  Bestimmung  oder  ihrer  Idee  ent- 
sprechende Wirklichkeit  als  Objekt  des  WolTeDs  und  Handelns;  das 
Schöne  ist  die  ihrer  inneren  Bestimmung  oder  ihrer  Idee  entsprechende 
Erscheinung  als  Objekt  des  Gefühls  und  der  Darstellung. '^ 

20* 


308  K.  F.  Wize: 

Erkennen  und  Wollen;  bei  Mendelssohn  heißt  es  vom 
Billignngsvermögen,  daß  es  zwischen  dem  Erkennen  und 
Begehren  liege  (Morgenstunden  IE,  297  f.).  Ja,  es  ließen 
sich  bei  den  verschiedenen  Autoren,  die  Vertreter  verwandter 
Gedanken  sind.  Anklänge  an  alle  früheren  Dreiteilungen 
finden.  Wir  würden  oft  uns  an  Plato^)  erinnern  müssen, 
an  den  heiligen  Augustinus  mit  seinen  drei  psychologischen 
Grundeigenschaften  memoria,  intellectus  und  voluntas  *),  an 
manches  in  der  Deutung  des  Dreieinigkeitsmysteriums*), 
an  Zeno  und  Vico*)  mit  der  Erklärung  der  Natur  Gottes  als 
das  unendliche  posse,  nosse,  volle  und  an  vieles  andere 
mehr. 

Verwandt  mit  der  „deutschen  Dreiteilung  der  Seelen- 
kräfte" und  der  philosophischen  Wissenschaften  ist  die  aus 
ähnlichen  Quellen  entstandene  und  außerdem  von  der 
deutschen  selbst  wohl  beeinflußte  firanzösisch-romanische 
Dreiteilung*^),  wie  sie  z.  B.  R.  de  la.  Grasserie  vornimmt. 

*)  Vgl.  auch  Pawlicki,  Historya  filozofii  greckiej  II,  404.  „Es  ist 
leicht  ersichtlich,  daß  wir  in  den  drei  Teilen  der  Seele  (bei  Plato  in 
Phaedrus)  in  aligemeinen  Umrissen  die  spätere  Lehre  von  den  drei 
Seelenzuständen  (des  Benkens,  Fühlens  und  Wollens)  vorfinden/ 
Plato  eab  nur  immer,  so  auch  hier  im  Phaedrus,  dem  Wissen,  dem 
Logischen,  den  Vorrangvor  allen  anderen  Eigenschaften  der  mensch- 
lichen Seele.  Wer  das  Wissen  besaß,  besaß  afle  übrigen  Vorzüge  der 
Seele,  besaß  auch  die  Tugend.  Das  Wissen  war  Wagenlenker,  der 
Wille,  der  Mut  war  das  edlere  Pferd,  die  in^[x(a  (das  sinnliche  Be- 

g ehren)  —  ein  edleres,  seelisches  Gefühl,  besäße  darnach  die  mensch- 
che  Seele  kaum  —  war  das  unbotmäßige  Pferd  von  geringerer  Rasse. 
Und  doch  feiert  Plato  gerade  im  Phaedrus  das  Gefühl  der  Liebe. 
Anders  als  die  Seele  der  Menschen  war  die  der  Götter  beschaffen. 
Alle  drei  geistigen  Eigenschaften  der  göttlichen  Seele  waren  an- 
nähernd gleichwertig.  Wagenlenker  und  Rosse  waren  mit  gleich 
hohen  Eigenschaften  beschenkt  und  betätigten  sich  in  harmonischer 
Eintracht  (vgl.  Phaedrus  246  A,  247  B).  Der  logischen  Seeleneigen- 
schaft des  Menschen  entsprach  bei  den  Göttern,  nach  der  Alkinous 
zugeschriebenen  e{9aYa>y4  die  gnostische  oder  die  kritische,  der  willens- 
mutigen  (BufioeiSic)  die  normetische  oder  parastatische,  der  sinnlichen 
(iiriBufir^xdv)  die  oikeiotische.  Plato  ed  Teubn  VI,  p.  178,  zit.  von 
St.  Pawlicki,  vgl.  a.  a.  0.  p.  403. 

*)  Vgl.  M.  Straszewski,  Eilozofia  SV.  Augustyna  na  tle  epoki, 
p.  196. 

')  A.  CiEszKowBKi,  Ojcze  Nasz  I,  234.  Krabinsw,  Psalm  Wiary, 
Vers  64  f f . ;  Psahn  Nadziei,  Vers  5  ff. 

*)  Übi£rweo-Hkinze  III»,  214. 

*)  Fbrri,  La  Psychologie  de  Tassociation,  p.  IV  der  Introduction. 
GuYAu,  Les  problömes  de  Testhetique  contemporaine,  p.  77. 


Eine  Einteilung  der  philosophischen  Wissenschaften.        809 

Der  Unterschied  beruht  wohl  auf  der  geschichtiiohen  Ent- 
wicklung der  Philosophie  in  den  romanischen  Ländern, 
nicht  zxun  mindesten  aber  wohl  auch  auf  dem  Einfluß  der 
Sprache  auf  die  Gedanken^).  Das  romanisch-französische 
sentir  und  sentiment  ist  gleichbedeutend  mit  den  lateinischen 
Ausdrucken  sentire  und  sensus  und  kann  wohl  ebenso  durch 
Pühlen  und  Gefühl  wie  durch  Empfinden  und  Empfindimg 
wiedergegeben  werden.  Diese  weite  Bedeutung  des  fran- 
zösisch-lateinischen sentir  bringt  es  mit  sich,  daß  in  ihm 
das  Sinnliche  mehr  als  in  dem  deutschen  „Fühlen"  und 
„Gefühl"  zur  Geltung  kommt,  und  daß  deshalb  der  Fran- 
zose viel  leichter  als  der  Deutsche  der  ehemaligen  Ansicht 
eingedenk  bleibt,  daß  die  ästhetischen  Eindrücke  einer 
niederen  Art  von  Erkenntnis  angehören.  So  wird  uns  denn 
bei  DE  LA  Grassebie  folgender  Ausspruch  nicht  überraschen: 
„Le  sentiment  doit  rester  une  intelligence  sourde  et 
latente*).  Erinnert  das  nicht  vöUig  an  Descartes,  Spinoza, 
Lkibniz  oder  an  ältere  Gewährsmänner,  wie  Plato,  Qüintili- 
ANüs^),  und  an  den  heiligen  Augustinus? 

Mit  einem  Worte,  der  Franzose  konnte  seiner  Sprache 
wegen  den  Fortschritt,  den  der  deutsch  schreibende 
Deutsche  machte,  trotz  einer  besseren  inhaltlichen,  durch 
die  Deutschen  vielleicht  geklärten  Einsicht  nicht  völlig 
mitmachen,  mußte  immer  wiederum  an  dem  Alten  mit  un- 
widerstehlicher, adhäsiver  Erafb  hängenbleiben*).  Das  Ge- 
fühl blieb  für  ihn  immer  sinnlich,  von  seelischen  Gefühlen 


^)  ^gl*  Sulzer,  Anmerkungen  über  den  gegenseitigen  Einfluß  der 
Vernunft  in  die  Sprache  una  der  Sprache  in  die  Vernunft  (1767). 
Fr.  J.  Biedel,  Briefe  über  das  Publikum,  S.  25.  .Die  Sprache,  die 
^ewiß  auf  das  Gerippe  der  Gedanken  mehreren  Einfluß  hat,  als  man 
ins  gemein  glaubet.** 

^)  K.  DB  LA  Grabserie,  De  la  Classification  .  .  .,  p.  80. 

^  M.  Fab.  Quintilianus,  Instit.  orat.  IX.  Bationem  fortasse  non 
reddam,  sentiam  esse  melius.  Ad  sensum  igitur  referenda  sunt 
XI,  8, 177,  saepe  aliud  alios  decere.  Est  enim  latens  quaedam  ratio 
'etinenarraoilis  I,  7,  10  (artes),  quae  etiam,  cum  se  non  ostendunt 
in  dicendo,  nee  proferunt,  vim  tamen  occultam  suggerunt,  et  tacite 
quoque  sentiuntur. 

*)  Bechnet  doch  de  la  Grabsrrie  zu  der  Wissenschaft  vom  Schönen 
die  Lehre  von  der  Gymnastik,  nur  deshalb,  weil  sie  so  wie  das  Schöne 
in  das  Gebiet  des  „Sinnlichen*'  gehöre,  a.  a.  O.  p.  d2. 


310  K.  F.  Wize: 

weiß  er  vielleicht  vieles,  indem  er  dazu  durch  geistige  Arbeit 
gelaugt,  aber  ins  Blut,  in  die  Sprache  ist  ihm  das  wohl 
noch  nicht  übergegangen. 

Anderseits  ist  aber  oft  auch  der  gelehrte  Deutsche  und 
Germane  —  das  Volk  und  vielleicht  der  Dichter  hat  in 
seiner  Sprache  eine  ungetrübte,  wenn  auch  nur  intuitive 
Einsicht;  deshalb  darf  man  hier  das,  was  vom  Gelehrten 
gesagt  wird,  nicht  ohne  weiteres  überhaupt  auf  jeden  Deut- 
schen übertragen  —  anderseits  also  ist  der  gelehrte  Deutsche 
ebensowenig  dazn  gelangt,  sich  gänzUch  von  der  Gedanken- 
arbeit  der  Jahrhunderte  freizumachen.  Wohl  weiß  er,  daß 
es  seelische  Gefühle  gibt,  aber  er  kann  sich  nicht  von 
dem  über  den  sensus  und  über  das  „Sinnliche"  Erlemtert 
loslösen.  Deshalb  spukt  der  Begriff  „Sinnlich"  ^)  als  ein 
für  die  Ästhetik  besonders  wichtiges  Moment  noch  immer 
in  der  deutschen  Philosophie.  Und  wenn  auch  Hekmann  Lotze 
zwar  dem  Angenehmen  hauptsächlich  die  Sinnlichkeit  zu- 
eignet, der  Schönheit  dagegen  die  höheren  Geistesvermögen^ 
daneben  aber  auch  noch  die  zusammengesetzten  sinnUchen 
Eindrücke,  deren  ganzer  Inhalt  freilich  nicht  bloß  sinnlich  *) 
sei,  zuweist,  so  ist  das  noch  kein  selbständiger  Bruch  mit 
dem  Alten.  Ebensowenig  wie  Lotze,  erreicht  das  Kant,  sein 
Lehrer  für  seine  Auffassung  vom  Angenehmen  und  Schönen, 
Denn  dieser  trennt  das  Gute  als  das  „Wohlgefallen  durch 
den  Verstand"  von  dem  Schönen  als  von  dem  „Wohlgefallen 
durch  die  Sinnlichkeit",  wenn  er  auch  das  „Gtjfuhl  fiir  daa 
Angenehme  oder  für  die  sinnliche  Lust  in  der  Empfindung 
eines  Gegenstandes"  von  dem  „Gefühl  für  das  Schöne,  d.  i. 
der  teils  sinnlichen,  teils  intellektuellen  Lust  der  reflektierten 
Anschauung  oder  dem  Geschmack"  unterscheidet®). 

Es  ist  also  noch  immer  eine  für  die  Philosophie  wichtige  Auf- 
gahe,  nachzuweisen,  daß  die  ästhetischen  Eindrücke,  mögen  sie  auch 


^)  Ob  die  Annahme  eines  ,^sech8ten  Sinns"  für  die  ästhetische 
Auffassung  bei  Hutcheson  oder  eines  „inneren  Sinns'^  für  dieselbe 
bei  Gkrard  hierher  gehört,  soll  nicht  entschieden  werden.  Auch  Kant 
spricht  von  einem  „mneren  Sinne",  z.  B.  in  der  „Anthropologie"  §  22. 

')  Grundzüge  der  Ästhetik,  S.  7  f. 

*)  Kants  „Anthropologie  in  pragmatischer  Hinsicht"  §  58,  65. 


Eine  Einteilimg  der  philosophischen  Wissenschaften.         311 

nicht  immer  ausschließlich  'geistiger  Art  sein,  sich  wenigstens  nicht 
vor  allem  durch  das  „Sinnliche"  von  anderen  Erscheinungen  unter- 
scheiden^). Daß  sinnliche  Yorstellimgen  und  Empfindungen  in  der 
Ästhetik  mit  im  Spiele  sind,  ist  zwar  richtig,  jedoch  sind  sie  es  nur 
in  ehen  dem  umfange  wie  hei  anderen  geistigen  Vorgängen.  So 
zum  Beispiel  wie  uns  mi  logischen  Verhalten  die  Außenwelt  nur  ver- 
mittelst der  Sinne  und  in  ihrer  sinnlichen  Erscheinung  erkennbar  ist, 
und  wie  der  Prü&tein  fQr  unsere  praktische  Verhiätungsweise  die 
nur  durch  die  Sinne  uns  zugängliche  Welt  ist.  In  gleicher  Weise 
gehören  wiederum  die  übersinnlichen  Ideen  nicht  nur  dem  praktischen 
und  theoretischen  Gebiete  an,  sondern  auch  der  Ästhetik.  Gott,  Seele, 
Unsterblichkeit  walten  ebenso  in  der  Kunst  wie  in  der  Metaphysik 
und  in  der  Ethik').  Und  dies  nicht  nur  bei  entwickelten  Nationen, 
sondern  auch  bei  den  Naturvölkern.  Jagdgeschichten  und  Jaffdbilder, 
Kriegs-  und  Liebesdarstellungen  in  Wort,  Gebärde  und  Bildj  Toten- 
verehrungen und  Eestverherrlichungen  durch  die  Künste  sind  bei 
ihnen  nicht  das  einzige,  obwohl  auch  sie  nicht  einzig  und  allein 
sinnlicher  Natur  sind.  Götterbilder,  Heligionspoesie  und  mimische 
Andacht  entstehen  zur  gleichen  Zeit.  Der  Kunstkritiker  muß  deshalb 
mit  dem  Geistigen,  das  ein  Maler,  ein  Gottestänzer  bei  den  Natur- 
völkern, ein  Musiker  unserer  Zeiten  ausdrückt,  wohl  rechnen,  nicht 
bloß  mit  dessen  sinnlicher  Gestaltung.  Nicht  das  Anlegen  von  Bein- 
schienen irgendeines  Helden  ist  fürwahr  von  ausschlaggebender 
Wichtigkeit  für  die  ästhetische  Wirkung  der  homerischen  Gesänge, 
sondern  vorzüglich  die  vortreffliche  Zeichnung  von  Charakteren,  oie 
Schilderungen  von  Sitten,  Naturerscheinungen  und  die  reichhaltige 
Fülle  von  Vergleichen.  Nur  dann  werden  auch  die  göttlichen,  fast 
in  lauter  Begrinen  sich  bewegenden  Chöre  von  Sophokles,  die  Psalmen 
der  Heiligen  Schrift,  Faust  und  so  viele  nicht  „sinnlichen'*  Gedichte 
von  Schiller  und  Goethe  zu  ihrem  Rechte  gelangen. 

Wenn  auch  die  deutsche  Dreiteilung  der  Seelenkräfle 
in  Denken,  Fühlen  und  Wollen  der  „Sinnlichkeit"  die  Supre- 
matie  in  der  Ästhetik  zu  nehmen  nicht  vermochte,  so  hat 
sie  doch  der  Ästhetik  ihren  alten,  aristotelischen  Rang  in- 
mitten der  anderen  philosophischen  Wissenschaften  zum 
mindesten  wiedergegeben.  Trotzdem  kann  diese  Dreiteilung 
nicht  ohne  Vorbehalt  als  Grundlage  für  eine  Dreiteilung 
der  philosophischen  Wissenschaften  dienen. 

Wohl  haben  die  drei  Seeleneigenschaften,  das  Denken, 

')  „Aber  schon  längst  hat  man  gemerkt,  daß  eben  die  Beschaffen- 
heit, wodurch  sichtbare  Gegenstände  schön  sind,  noch  unzähligen 
anderen  Dingen  ebensowohl  zukömmt,  die  gar  nicht  für  die  Sinne 
gehören.''  Vffl.  Sulzer,  Philosophische  Schriften,  Leipzig  1776.  Unter- 
suchungen über  d.  Ursprung  der  angen.  und  unang.  £&pf.,  S.  25. 

')  Heobl,  Ästh.  I,  11.  Die  Kunst  soll  uns,  wie  Beligion  und 
Philosophie,  «das  Göttliche,  die  tiefsten  Ideen  des  Menschen,  die  um- 
fassendsten Wahrheiten  des  Geistes  zum  Bewußtsein  bringen  und 
aussprechen*^. 


312  K.  F.  Wize: 

Fühlen  und  Wollen,  ihre  besondere  Rolle  in  den  drei 
geistigen  Verhaltungsweisen,  in  der  praktischen,  theoretischen 
und  ästhetischen,  aber  sie  bilden  doch  mit  ihnen  keine 
äquipolente  Reihe  von  Erscheinungen.  Schon  das  Denken 
an  sich  ist  mit  Grefühls- *)  und  Willenselementen*)  vermischt, 
ebenso  wie  es  kein  geistiges  öefühl  ohne  Denkvorstellungen 
und  Willensregungen  gibt,  kein  Wille  ohne  Denkvorstellung 
und  Gefühlsbewegung®). 

Ahnlich  ist  die  Erkenntnis  und  das  Gebiet  der  theore- 
tischen Philosophie  auch  von  Gefühlen  und  vom  Willen 
abhängig  und  die  Ästhetik  muß  mit  Denkvorstellungen  und 
Willensbekundungen,  das  praktische  Verhalten  mit  Denk- 
vorstellungen und  Gefühlen  rechnen.  Ich  wül  nur  eine  von 
den  eben  berührten  Tatsachen  herausgreifen :  Wohin  kämen 
wir  mit  der  erhabensten,  der  christlichen  Ethik  ohne  das 
Gefühl  der  Liebe,  wenn  das  Gefühl  einzig  und  allein  der 
Ästhetik  als  vorbildlich  und  zu  ihr  zugehörend  erachtet 
werden  sollte! 

Kein  Wunder  also,  daß  die  Dreiteilung  der  philosophi- 
schen Wissensgebiete  nach  den  drei  verschiedenen  Seelen- 
eigenschaften nicht  allgemein  anerkannt  ist,  und  daß  neben 
ihr  andere  Einteilungsweisen  versucht  worden  sind.  Es  liegt 
mir  fem,  alle  diese  Einteilungsweisen  zu  besprechen. 
R.  DE  LA  Grasserie  zählt  deren  in  seinem  hier  genannten 
Werke  (S.  79)  fünf,  Strüve  in  seinem  „Wstrp  Krytyczny" 
sieben  Hauptarten  auf.  Ich  will  nur  diejenigen  berücksichtigen, 
die  mit  der  Aristotelischen  oder  der  deutschen  Dreiteilung 
nicht  nur  in  gewisser  Fühlung  verbleiben,  sonderen  auch 
zur   Klärung   dieser   beiden,    einander   verwandten    Stand- 

^)  Man  beachte  die  Lehren  der  deutschen  Gefühls-  und  Glaubens- 
philosophen. 

■)  „Phantasie-  und  Vorstellungstätigkeit  sind  immer  Willkür- 
handlungen, die,  rein  psychologisch  genommen,  alle  Merkmale  mit 
dem  gewöhnlich  allein  mit  diesem  Namen  ausgezeichneten  äußeren 
Handlungen  gemein  haben."    Wundt,  System  der  Philosophie  II'*,  164. 

')  Struvk,  Wst^p  Krytyczny*,  157.  „Es  gibt  also  keine  geistige 
Erscheinung,  die  ein  reines  oder  au^chließliches  Gefühl,  Denken  oder 
Wollen  wäre;  es  gibt  keine  Erscheinung,  die  nicht  immer  zugleich 
Gefühl,  Denken  und  Wollen  wäre,  die  nicht  ein  Ergebnis  des  Zu- 
sammenwirkens aller  dieser  Betätigungen  wäre." 


Eine  Einteilung  der  philosophisclien  Wissenschaften.        313 

punkte  einen  Beitrag  schaffen  können.  Und  da  wird  wohl 
zunächst  nnser  Interesse  die  HERBARTsche  Einteilung  in  An- 
sprach nehmen  dürfen. 

Für  Herbart  gehört  die  Ethik  zu  einer  Ästhetik  im 
weiteren  Sinne  ^).  Diese  „Ästhetik"  im  HJBRBARTschen  Sinne 
ist  eine  Ergänzung  der  Wissenschaften  von  den  Begriffen, 
der  Logik  und  Metaphysik,  indem  sie  zu  den  Begriffen 
Wertbestimmungen  hinzufügt.  Es  ist  nicht  schwierig,  ein- 
zusehen, daß  der  HERBARTsche  Standpunkt  in  gewisser  Hin- 
sicht eine  Verwandtschaft  mit  Kants  „Kritik  der  Urteils- 
kraft" aufweist  oder  eine  konsequente  Folgeerscheinung 
derselben  bildet*),  indem  auch  diese  eine  Ästhetik  im  weiteren 
Sinne  ist,  eine  Wertästhetik,  insofern  sie  neben  der  Ästhetik 
im  eigentlichen  Sinne  noch  die  Teleologie,  eine  natürliche 
Wertphilosophie  nach  Zweckmäßigkeit  in  der  Natur,  berück- 
sichtigt. Damit  ist  natürlich  nicht  gesagt,  daß  Kant  die 
Ethik,  die  Philosophie  der  Zweckmäßigkeitswerte  im  mensch- 
Hchen  Zusammenleben  zu  seiner  „Kritik  der  Urteilskraft* 
hinzurechnete. 

Eine  solche  Zusammenschweißung  von  anderswo  als 
verschieden  erachteten  Disziplinen,  wie  bei  Herbart  und 
teilweise  bei  Kant,  ist  bei  den  fließenden  Unterschieden 
zwischen  manchen  ihnen  zugrunde  liegenden  Erscheinungen 
immer  möglich,  zumal  bei  der  sondernden  Arbeit  der  Denker 
manchem  von  ihnen  nicht  immer  der  Hauptpunkt,  wodurch 
sich  eine  Disziplin  von  der  anderen  unterscheidet,  vor  Augen 
steht.  So  hat  Kant  ja  eine  Ästhetik,  eine  Kritik  des  Ge- 
schmacks schreiben  wollen,  aber  in  der  voreingenommenen 
Sucht,  auch  für  die  Ästhetik  ein  Prinzip  a  priori  zu  finden, 
kam  er  auf  das  Zweckmäßige  ^),  das  zwar  in  den  ästhetischen 

^)  So  z.  B.  „Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie",  §  5, 
S.  47  (Sämtliche  Werke  her.  Hartenstein  I).    Leipzig  1850. 

^  Die  „Ästhetik''  Hebbarts  erinnert  in  seiner  in  sie  von  Herbabt 
hineinverlegten  Eigenschaft  an  die  vis  aestimativa  der  Scholastiker; 
vgl.  Dbssoib,   Gescmchte  der  neueren  deutschen  Psychologie'  I,  388. 

*)  Walter  Forst,   Die   Begründung   der    Urteilskraft   bei  Kant, 

L132.    „Nun  ffelan^  es  ihm  (Kant),  die  Harmonieerscheinungen  der 
thetik  und  der  Teleologie  mit  den  (^^edanken  einer  systematischen 
Naturordnung  in  Verbindung  zu  bringen.^ 


314  K.  F.  Wize: 

Eindrücken  ohne  Vorstellung,  also  ohne  bewußte  Eineicht 
vorliegen  sollte  ^) ,  aber  doch  die  Ästhetik  nicht  mehr  als 
Wissenschaft  von  dem  Oeschmacke,  sondern  von  der  Urteils- 
kraft, mit  der  Teleologie,  mit  einem  Prinzip,  das  sowohl  für 
das  praktische  Verhalten  als  für  die  logische  Auffassung^) 
der  Welt  nach  irgendeiner  Gesetzmäßigkeit  seine  Wichtig- 
keit hat,  zu  einem  Ganzen  verschmolz.  Dies  geschah,  ob- 
wohl Kant  so  richtig  den  Unterschied  des  Ästhetischen  von 
dem  Theoretischen  und  Praktischen  durch  die  Kategorien 
des  Begriffslosen  und  Interesselosen  gefunden  hat. 

Schon  durch  Kant  in  gewisser  Hinsicht,  durch  Herbart 
entschiedener  wurde  wohl  eine  Art  von  modemer  Kaloka- 
gathie  geschaffen.  Bei  den  Griechen,  diesen  avSpec  xaXol  xd^a- 
ftof,  war  „die  Ästhetik  mit  der  Ethik  in  guten  Zeiten  einander 
verschlungen^).  Hkrbart  könnte  danach  Aristoteles  in  der 
Ansicht,  daß  ti  xaXov  xeXo?  x?^?  dpetr^?*)  ist,  vielleicht  völlig 
beistimmen. 

Der  Ausspruch  des  Aristoteles  tmd  die  Kalokagathie 
bestehen,  wohl  als  nuanciert.e  Wahrheiten,  als  tiefsinnige 
Paradoxa,  als  praktische  Lebensmaximen  zu  Recht.  Der 
HERBART-KANTsche  Standpunkt  darf  wohl  mit  minderer  Be- 
rechtigung verteidigt  werden.  Die  Ästhetik  wird  jedenfalls 
von  der  zu  engen  Verknüpfung  mit  der  Teleologie  und  von 
der  Zugehörigkeit  zu  einer  „Kritik  der  Urteilskraft,"  wenn 
nicht  schon  durch  die  oben  genannten  ästhetischen  Kategorien 
KANTS,  so  doch  aufs  deutlichste  und  wie  mit  einem  Schlage 
durch  folgenden,  unter  dem  Einflüsse  von  Meinonqs  Buch 
„t5ber  Annahmen"  entstandenen  Ausspruch  von  Witasek  be- 


M  „Latente  Werthaltung"  von  Witasek  und  Amesrper.  Witasek, 
Grundzüge  der  allg.  Ästhet^  S.  83.  98,  94,  98  u.  a.  m.,  so  auch  be- 
sonders 8.  239.  Ameseüer,  Über  Wertschönheit,  Zeitschr.  fürÄsth.  u. 
allg.  Kunstw.  I,  207. 

■)  In  der  Tat  gibt  es  logische,  ästhetische  und  praktische  Werte 
und  Bewertungen,  deshalb  kann  dieser  in  allen  Gebieten  anwendbare 
Grundsatz  nicht,  wie  bei  Herbart,  zwei  Gebiete  von  einem  dritten 
trennen. 

")  TuEOR*  ZiEGLKR,  Ethik  der  Griechen  und  Römer,  S.  15. 

*)  Arist.  Eth.  Nicom.  HI,  10  p,  1115  b,  12.    Überwkg-Heisze  I»,  266. 


Eine  Einteilung  der  philoBophiecben  Wissenschaften.         315 

freit:     „Der    Spielende    sowohl    wie    der   Eunstgenießende 
operieren  nicht  mit  Urteilen,  sondern  mit  Annahmen^)." 

Die  HiSRBARTsche  Einteilung  der  Philosophie  ist  eine 
Zusammenschmelznng  der  philosophischen  Dreiteilung  in 
eine  Zweiteilung.  Zwei  moderne  Denker  aus  der  jüngsten 
Zeit  lassen  die  Dreiteilung  bestehen,  doch  legt  ihr  der  eine,, 
es  ist  PadlNatorp,  nicht  die  drei  geistigen  Seeleneigenschaften 
zugrunde,  sondern  lehnt  sich  treuer  an  Aristoteles  an,  der 
andere,  Heinrich  Struvk,  strebt  einer  Versöhnung  der  Aristo- 
telischen mit  der  deutschen  Dreiteiltmg  entgegen^). 

Paul  Natorf  teilt  in  seiner  „Philosophischen  Propädeutik 
(S.  10  §  8)  die  objektiven  philosophischen  Wissenschaften 
in  Erkenntniskritik  oder  Logik  (theoretische  Philosophie),  in 
die  praktische  Philosophie  oder  Ethik  und  in  die  Ästhetik, 
als  das  Gebiet  der  „künstlerisch  schaffenden  Phantasie." 
In  der  NATORPschen  Definition  der  Ästhetik  kommt  die 
ima-n^jiT)  ttoitjtixt^  zu  ihrem  Rechte  und  zu  ihrer  teilweisen 
Berichtigung.  Das  Recht  liegt  in  der  Betonung  des 
Schaffens  und  in  der  Ausschaltung  der  dominierenden 
Stellung  des  Gefühls  für  die  Ästhetik,  Anderen  Orts,  in 
der  „allgemeinen  Psychologie" ,  drückt  letzteres  Natorp  in 
einer  noch  bestimmteren  Weise  aus :  „Das  Gefahl  der  Lust 
und  Unlust  entspricht  dagegen  nicht  einer  dritten  Art  der 
Objektivierung,  etwa  der  ästhetischen.  Denn  der  Kern  des 
Ästhetischen  liegt  im  Gestalten,  wobei  zwar  das  Moment 
des  Geftiihls  immer  vorausgesetzt  wird,  aber  nicht  in  sich 
den  Grund  der  Gesetzlichkeit  der  Gestaltung  enthält."  Die 
Berichtigung  liegt  in  der  Betonung  der  „künstlerischen 
Phantasie".  Damit  sind  aus  der  nunmehr  ästhetischen, 
nicht  allgemeinen  Ilonfjaic  das  Handwerk  und  andere  mensch- 
liche Fertigkeiten  ausgewiesen,  was  bei  Aristoteles  nicht 
der  Fall  war. 

Ahnlich  der  NATORPschen  Einteilimg  der  philosophischen 


mm 

*)  WiTAßKK,  Grundriß  der  allgem.  Asth.,  S.  224. 

*)  Als  vorbildlich  für  Stri-ves  Einteilung  darf  unter  anderem 
wohl  Überwegs  Ausspruch  aus  seinem  „System  der  Logilc**^  S.  9,. 
angenommen  werden;  zit.  a.  a.  0. 


31(5  K.  F.  Wize: 

Wissenschaften  ist  diejenige  von  Heinrich  Struye.  Strüve 
übertrifft  nur  Natorp  durch  eine  gründlichere  Anwendung 
4ind  Verarbeitung  der  Aristotelischen  Lehre.  Durch  diesen 
Umstand  gelingt  es  Struve,  in  einer  allseitigen  "Weise  die 
.Gesamtheit  der  Wissenschaften  in  sein  Klassifikationssystem 
Aufzunehmen.  Auch  die  Psychologie  und  die  Beligions- 
philosophie  finden  bei  ihTn  die  ihnen  zukommende  Unter- 
kunft. Freilich  strebt  die  STRüVKsche  Einteilung,  wie  schon 
gesagt,  einer  Versöhnung  des  Aristotelischen  Standpunktes 
mit  dem  der  Anhänger  der  deutschen  Dreiteilung  der  Philo- 
sophie nach  den  drei  Seeleneigenschaften  zu,  was  nicht  in 
gleichem  Maße  anzuerkennen  ist. 

Wenn  auch  die  S  rnuYKSche  Tabelle  manche  Verbesserung  benötigt 
und  ihrer  fähig  ist,  so  dürfte  sie  nicht  nur  als  eine  der  besten  und 
Rundlichsten  Einteilungen  der  Wissenschaften  anerkannt  werden, 
sondern  wird  wohl  als  Ausgangspunkt  aller  künftigen  Einteilungs- 
versuche dienen  müssen.  Die  Vorzüge  der  Einteilung  Stbuyes  kommen 
besonders  in  ein  helles  Licht,  wenn  man  sie  mit  der  Einteilung  eines 
der  größten  Metaphysiker  unserer  Zeit,  mit  der  Wundts  vergleicht. 
Bei  WuNi>T  gerät  die  Ästhetik,  Ethik  mitsamt  der  Religionsphilosophie 
imd  Rechtsphilosophie  in  das  Gebiet  der  Philosophie  der  Greschichte'). 

„Sittlichkeit''  und  „ästhetische  Anschauung^  werden  damit  von 
WuNDT  formell  der  theoretischen  Wissenschaft  untergeordnet,  als  ein 
Abschnitt  der  Grundzüj^e  der  Philosophie  des  Geistes.  Es  geschieht 
nur  formell,  denn  in  Wirklichkeit  hält  sich  Wündt  nicht  daran.  Die 
Besprechung  der  „ästhetischen  Anschauung'^  beginnt  nämlich  bei  ihm 
mit  folgenden  Worten:  -Mitten  inne  zwiscnen  dem  theoretischen  Er- 
Icennen  und  dem  praktiscnen  Handeln  liegt  die  ästhetische  Anschauung 
als  ein  mit  jenen  beiden  eng  verbundenes  Gebiet  geistigen  Lebens'  . 
Das  ist  keine  Unterordnung  der  Ästhetik  und  der  praktischen  Philo- 
sophie unter  die  theoretische  Philosophie  mehr,  sondern  eine  Bei- 
ordnung, also  ein  Widerspruch  mit  der  „Einteilung  der  wissenschaft- 
lichen Philosophie"  des  ganzen  Buches  (!',  22).  Dieser  Widerspruch 
bei  WuNDT  ist  vielleicht  durch  eine  gewisse,  der  Sache  selbst  zugrunde 
liegende  Antinomie  verursacht.  Eme  allgemeine  theoretische  Philo- 
sophie umfaßt  wirklich  auch  die  Ästhetik  und  Ethik  als  etwas  Unter- 
geordnetes. Doch  ist  trotzdem  das  ästhetische  und  praktische 
Verhalten  dem  theoretischen  nur  beigeordnet.  Die  Anti- 
nomie, die  in  den  letzten  beiden  Sätzen  lie^t,  ist  jedoch  leicht  beizu- 
legen, wenn  man  die  „allgemeine  theoretische  Philosophie **  in  die 
theoretische  Wissenschaft  von  der  theoretischen  Wissenschaft,  in  die 
theoretische  Wissenschaft  von  der  Ästhetik  und  von  den  praktischen 
Wissenschaften  einteilt.  Das  wird  auch  stillschweigend  gemacht, 
indem  man  nur  die  Wiederholung  mit  der  „theoretischen  Wissenschaft" 
von  der  betreffenden  Wissenschaft  vermeidet.    Auch  die  Religions- 


')  System  der  Philosophie»  I,  S.  24. 
*)  System  der  Philosophie'  II,  251. 


Eine  Einteilung  der  philosophischen  Wissenschaften.         317 


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318  K.  F.  Wize: 

Philosophie  findet  bei  Wundt  keine  redite  Stelle  in  seinem  System. 
Keligion  ist,  das  hat  wohl  Stbutk  durch  seine  Tabelle  gezeigt,  eine 
besondere  Kategorie  für  sich,  die  jedenfalls  nicht  den  einzelnen 
nhilosophischen  AVissenschaften,  sondern  nur  etwa  der  allgemeinen 
Fhilosophie  beizuordnen  wäre^.  Gestützt  auf  eine  Annahme  eines 
letzten  persönlichen  Weltgrundes,  umfaßt  sie  ebenso  wie  die  all- 
gemeine Philosophie  auch  eine  ihr  zugehörige  Ästhetik,  sowie  ein 
praktisches  und  theoretisches  Gebiet  in  dem  Beligionskultus ,  der 
Keügionsmoral  und  in  dem  religiösen  Glaubensbekenntnis. 

Trotz  des  Fortschrittes,  den  die  Einteilung  der  philo- 
sophischen Wissenschaften  bei  Natorp  und  Strüve  entgegen 
der  ihnen  zugrunde  liegenden  Aristotelischen  Einteilung 
aufweist,  ist  sie  noch  immer  einer  weiteren  Verbesserung 
bedürftig.  Die  Ästhetik  von  Natorp  und  Struve  ist  zwar 
nicht  mehr  eine  Lehre  etwa  von  Fertigkeiten,  zu  denen 
Kunstdaxstellung  und  auch  das  Handwerk  gehört,  wie  bei 
Aristoteles ,  doch  ist  sie  lange  noch  keine  allgemeine 
Ästhetik,  eondem  höchtens  Kunstwissenschaft  im  Sinne  von 
Max  Dessoir.  Das  Postulat  des  Gestaltens  (bei  Struve 
schöpferische  Gestaltung)  faßt  nur  das  Schöne  der  Kunst, 
nicht  dasjenige  der  Natur  ins  Auge,  weiterhin  die  Ästhetik 
nur  von  der  Seite  des  Künstlers,  weniger  von  der  des 
Kunstgenießenden.  Der  Ästhetik  als  Lehre  von  der  künst- 
lerischen Gestaltung  entspräche  nicht  das  ganze  Ge- 
biet der  theoretischen  und  der  praktischen  Wissenschaften, 
sondern  etwa  die  Lehre  von  der  wissenschaftlich- 
schöpferischen Einsicht  und  die  von  dem  pflicht- 
getreuen sozialen  Wirken.  Denn  eine  schaffende 
Betätigung,  eine  Gestaltung,  gibt  es  für  jedes  Gebiet,  so- 
wohl für  das  ästhetische  wie  für  das  theoretische  und 
praktische.  Die  allgemeine  Ästhetik  ist  ein  weiterer 
Begriff  als  derjenige,  der  einer  Ästhetik  zugrunde  liegen 
kann,  wie  sie  in  der  Einteilung  der  philosophischen  Wissen- 
schaften bei  Natorp  und  Strüve  definiert  wird. 

Diese   Unklarheit   in   der   Unterscheidung   der   Haupt- 

^)  Paul  Natobp,  Philosophische  Propädeutik,  S.  52:  „Im  Yerffleich 
mit  den  drei  fundamentalen  Weisen  objektiver  Gestaltung,  Wissen- 
schaft, Sittlichkeit  und  Kunst,  bedeutet  Religion  nicht  eine  vierte, 
eigene  Gestaltung  —  und  somit  Erkenntnisweise.  Sie  macht  vielmehr 
von  allen  dreien  Gebrauch,  indem  sie  sie  zugleich  zu  überbieten  und 
sich  zu  unterwerfen  strebt.^ 


Eine  Einteilung  der  philosophischen  Wissenschaften.        319 

momente  der  Einteilung  iind  diese  Einengung  eines  an  sich, 
viel  weiteren  Begriffes  ist  der  Anhänglichkeit  an  den  Be- 
griff [lotT^oic  zuzuschreiben.  Sie  wird  auch  dann  nicht  auf- 
gehoben, wenn  man  etwa  meint,  daß  der  Kunstgenießende 
das  ihm  Dargebotene  geistig  reproduzieren  müsse,  was  einer 
umgekehrten  Gestaltung  gleichkäme.  Mit  gleichem  Rechte 
gibt  es  eine  ähnliche  Umkehrung  für  die  wissenschaftliche 
Auffassung  einer  Sache  und  auch  fiir  das  ethische  Einfühlen  ^) 
in  die  Rechte  des  Mitmenschen.  Jedes  Verständnis,  jedes 
„Einfühlen"  in  irgendwelchen  Vorgang  oder  irgendwelche 
Erscheinung  läßt  sich  schließlich  als  eine  Reproduktion 
(qinnere  Nachahmung"  von  Groos)  des  fremden  Wesens  in 
dem  eigenen  Bewußtsein  auffassen. 

Die  Gestaltung  ist  also  nicht  das  lösende  Wort 
ftr  das  Verständnis  der  Ästhetik  und  des  ästhetischen  Ver- 
haltens. 

Ist  es  vielleicht  die  eben  berührte  Einfühlung?  Sagt 
ja  Theodob  Lipps,  daß  ^der  Grundbegriff  der  heutigen  Ästhetik 
der  Begriff  der  Einfühlung"  sei  *).  Wir  sprachen  aber  eben 
von  einer  ethischen  Einfählung.  Eine  solche  erkennt,  wie 
wir  seihen ,  auch  Lipps  an.  Also  ist  nicht  jede  Einfühlung 
eine  ästhetische  Einfühlung®).  So  wird  denn  doch  jeden- 
fedls  das  Merkmal  der  Ästhetik  nicht  die  Einfühlung  sein, 
wenn  sie  auch  wirklich  einen  „Grundbegriff  für  die  Ästhetik** 
bilden  sollte.  Ist  sie  doch  auch  fiir  die  anderen  geistigen 
Gebiete  von  einer  großen  Bedeutung.  Dient  sie  nämlich 
zum  Erlangen  eines  logischen  Verständnisses  der  Erschei- 
nungen, so  haben  wir  es  mit  der  intellektuellen  Einfühlung 
zu  tun;  bedeutet  sie  ein  Erwägen  von  Aufgaben,  die  der 
Mensch  vollbringen  soll,  so  ist  sie  von  ethischer  Art. 

Die  Anerkennung  der  tiefen  Bedeutung  der  logischen 
Einfühlung,   des   Weges,  wie  man  zum  Verständnis   einer 

*)  «Die  Einfühlung  mit   dem  Bewußtsein  der  Wirklichkeit  des 

Ein^eftäüten  ist  ethische  Einfühlung.  Die  Tatsache  dieser  Einfühlung 

ist  die   Tatsache  des  Altruismus/'    JLipps,  Leitfaden  der  Psychologie, 
S.  200.  J^  J5    , 

«)  Zukunft,  Jahrg.  1906,  XII,  S.  100  ff. 
«)  Lipps,  Ästhetik  II,  84. 


320  K.  F.  Wize: 

Sache  gelangt,  liegt  gewissermaßen  schon  der  Philosophie 
der  Griechen  zugrunde.  Der  Begriff  der  logischen  Ein- 
fühlung ist  ja  mit  der  von  Empedokles  ^)  zuerst  klar  hervor- 
gehobenen Tatsache,  daß  Gleiches  nur  durch  Gleiches  er- 
kannt wird ,  verwandt.  Nur  ist  die  EinAihlung  vielleicht 
ein  weiterer  Begriff.  Er  kann  nämlich  wohl  auch  mit 
dem  kontradiktorischen  Satz  von  Anaxagoras,  daß  nur 
Ungleiches  durch  Ungleiches  erkannt  werden  kann  (Kälte 
durch  Wärme,  Gesundheit  durch  Ereuikheit,  Nässe  durch 
Trockenheit  usw.)  in  Einklang  gebracht  werden.  Sieht 
nämlich  der  menschliche  Geist  etwas  Verwandtes,  so  eignet 
er  sich  das  mit  Leichtigkeit  an;  bei  Fremden,  Entgegen- 
gesetzten geht  das  nicht  so  leicht,  aber  er  sucht  es  doch 
in  sich  aufzunehmen,  zu  assimilieren,  und  es  gelingt  ihm 
dies  auch.  Allmählich  wird  auch  das  Fremde  sein  Eigen. 
Dadurch  ist  ja  überhaupt  nur  der  Fortschritt,  die  Entwick- 
lung, Ausweitung  unserer  Erkenntnis  mögUch.  Es  ist  so 
wie  mit  den  Assoziationen;  verbunden  wird  miteinander 
Gleichartiges  sowie  Entgegengesetztes.  Einfühlung  ist  ein 
Stadium  eines  geistigen  Vorganges,  der  neben  ihr  andere 
Momente  umfaßt,  die  Assoziation,  die  Assimilation  und 
Apperzeption.  Einfühlung  ist  gewissermaßen  die  Apper- 
zeption in  statu  nascendi.  Da  die  ästhetische  Einfahlung, 
vermöge  der  Eigenart,  die  im  Ästhetischen,  nicht  in  der 
Einföhlung  an  sich  liegt,  in  gewisser  Hinsicht  in  diesem 
Status  nascendi  verbleibt,  so  ist  der  Standpunkt  der  ex- 
tremen Einfühlungsästhetiker,  wie  z.  B.  Lipps^)  es  ist,  am 
Ende  doch  zu  verstehen.  Jedenfalls  muß  fixr  die  ästhetische 
Einfühlung  auch  dieselbe  Weite  gewahrt  werden  wie  für 
die  logische.  Similis  simili  gaudet  und  die  damit  verwandten 
Sprüche  von'EpiCHARM®)  müssen  ergänzt  werden.    Auch  das 


^)  Überweg,  System  der  Logik  ^,  111.  Aristoteles,  X,  De  anima 
I,  2,  404  b,  13,  17. 

^)  Lipps  meint,  die  ästhetische  Einfühlung  sei  eine  .volle  Ein- 
fahlung".     Asth.  I,  125. 

')  JDiEi.8  Fragni..,der  Vorsokr.,  S.  95,  zit.  von  O.  Kulpe  in  „An- 
fänge der  psycho!.  Ästhetik  bei  den  Griechen"  in  „Philos.  Abh.  cum 
70.  Geburtstage  von  Max  Heinzr'',  S.  109. 


Eine  Einteilung  der  philosophischen  Wissenschaften.        321 

Nene,  Ungewöhnliche  gefallt.  Ästhetische  Einfiihlung  ist 
nicht  blofi  das  „innerliche  Miterleben"  (Lotze),  die  „innere 
Nachahmung"  (öroos)  *)  von  Verwandtem,  Ahnlichem,  sondern 
aach  von  Fremdem. 

Wenn  auch  die  Einseitigkeit  Lippsens  ^)  mit  seiner  „ästhe- 
tischen, vollen  Einfühlung'*  zu  verstehen  ist,  so  ist  das 
eine  sicher,  daß  die  Ästhetik  nicht  in  der  Einfühlung  auf- 
geht. !Eiiie  solche  Annahme  wäre  ebenso  einseitig,  wie  die 
Identifizierung  des  Ästhetischen  mit  der  Gestaltung. 

Nicht  die  Gestaltung,  nicht  die  Einfühlung  erklärt  das 
Wesen  der  Ästhetik,  sondern  die  Ansicht,  daß  das  Kunst- 
genießen ein  —  Spiel®)  sei.  In  der  Tat,  die  Ästhetik  als 
die  Lehre  über  spielendes  Verhalten  des  Geistes  reiht  sich 
in  einer  gleichartigen  Weise  sowohl  den  theoretischen 
Wissenschaften  als  den  Lehren  über  das  lernende  und 
untersuchende  Verhalten  an,  wie  auch  den  praktischen,  als 
den  Lehren  über  das  Verhalten,  das  beobachtet  werden 
muß,  um  gewisse  reale  Ziele  zu  erreichen. 

Der  Spielende  wie  der  Kunstgenießende  überläßt  sich 
einer  Funktionslust,  sei  es  eines  körperlichen  ödes  eines 
geistigen  Vermögens,  ohne  ein  Ziel  vor  Augen  zu  haben, 
der  theoretisch  Tätige  unterrichtet  sich,  untersucht  die  Tat- 
bestande ;  der  praktisch  Tätige  strebt  Zielen  zu.  Der  geistig 
Spielende  ist  nicht  auf  strenge  Begriffsbestimmungen  be- 
dacht, seine  geistige  Tätigkeit  assoziiert  nicht  streng  zu- 
einander gehörende  Gattungsbegriffe,  um  ein  System  zu 
schaffen,   sondern  leistet  sich  die  gewagtesten  Vergleiche, 


^)  Gboob,  Der  ästhetische  Genuß,  S.  179. 

■)  Wie  LippB  oft  einen  Inhalt  dort  sieht,  wo  er  gar  nicht  vor- 
handen ist,  heweisen  manche  Stellen  seiner  sonst  mit  Hecht  sehr  hoch- 
feschätzten  Schriften.  So  gebraucht  Lipps  in  seiner  Ästhetik  mit 
'orliebe  das  Zeitwort  „Darin  liegen",  ja  gar  das  bloße  „Liegen",  das 
sich  doch  nicht  viel  von  einem  fast  inhaltsleeren  Hilfszeitwort  unter- 
scheidet. Dieses  „Darinliegen"  und  „Liegen"  soll  nicht  etwa  eine 
Kleinigkeit,  sondern  etwas  gar  Wichtiges  in  den  grundlegenden 
Fragen  der  Ästhetik  ausdrücken.  Ästhetik  I  an  verschiedenen  Orten. 
■  Vgl.  die  Schriften  von  Scuillbb,  Spencbb,  Grant  ällkh, 
Gboos  u.  a.  m.  K.  Wiik,  Über  den  Zusammenhang  von  Spiel,  Kunst 
und  Sprache.    Zeitschr.  f.  Ästh.  und  all«;.  Kunstw.  von  Max  Dessotii 

n,  174  f.  ^ 

Viertelj»hT»8«hriftf.wi88engoh»fti.Philo8.u.SoMol.  XXXU.  8.       21 


822  K.  r.  Wize: 

ergeht  sich  mit  Lust  in  Paradoxen,  Witz,  Metonymien, 
Metaphern,  Hyperbeln')  usw.;  der  geistig  Spielende  ist  nicht 
wissenschaftlich  tätig.  Sein  Wohlgefallen  ist  femer  „inter* 
esselos  ^ ,  unabhängig  und  frei  von  praktischen  Zwecken. 
Das  sind  Unterschiede,  die  sich  aus  der  Einteilung  jedweder 
Betätigung,  so  auch  der  geistigen  nach  Spielen,  Lernen 
und  Arbeiten,  von  selbst  ergeben.  Die  Ästhetik  ist  die 
Lehre  vom  Spiel,  die  theoretische  Wissenschaft  die  von  der 
Gelehrsamkeit,  die  praktische  die  vom  Wirken,  von  der 
Pflicht. 

Wie  auf  die  eben  angegebene  Einteilung  der  mensch- 
lichen Tätigkeiten  und  der  ihnen  entspreschenden  philo- 
sophischen Wissenschaften  auch  die  erbitterten  Feinde  der 
sogenannten  ästhetischen  Spieltheorie  von  selbst  kommen, 
wenn  sie  nur  das  verpönte  Wort  Spiel  nicht  beängstigt, 
zeigen  an  verschiedenen  Orten  die  Erwägungen  von  einem 
von  ihnen,  von  Theodor  Lipps"),  so  z.  B.: 

^Es  gibt  in  Wahrheit  drei  Arten  des  realen  Tuns. 
Einmal  das  Tun  in  der  Sphäre  der  Phantasie,  das  sich 
Richten  des  Wülens  auf  bloße  Gegenstände  der  Phantasie, 
das  lediglich  ,gedankliche*  Arbeiten,  sich  Bemühen,  Stand- 
halten, Überwinden,  Entscheiden,  strebende  Fortgehen  von 
-einem  zum  anderen.  Anlangen  bei  einem  Punkte,  in  welchem 
das  Streben  sich  befriedigt.  Es  gibt  daneben  das  intellek- 
tuelle Tun,  oder  das  Tun  des  Verstandes,  das  Nachdenken, 
Sichbesinnen,  Urteilen,  Schließen  usw.    Und  es  gibt  endlich 


*)  Empedokles,  Xdptc  OTUY^et  Su^tXt^tov  '^vd-ptjv.  Diei.b  Fragm.  der 
VoTBokr.,  S.  217.  Volkrlt,  System  der  Asih.  1,  180:  „Novalis  sagt, 
dafi  der  Dichter,  während  der  Philosoph  alles  ordne,  alle  Bande  auf- 
löse.^ Novalis,  Ergänzungsband,  herausgeg.  y.  Bruno  Wille,  Leipzig 
1901,  S.  385. 

')  Es  sei  hier  auch  eine  Definition  des  Gefühls  der  Schönheit 
yon  Lipps  angeführt,  die  vollends  mit  einer  Definition  vom  geistigen 
Spielen  in  Einklang  ist:  „Das  G-efühl  der  Schönheit  ist,  allgemein 
gesagt,  Lebensgefühl.  Es  ist  das  Lustgefühl  an  der  Kraft,  an  der 
Fülle,  der  inneren  Einstimmigkeit  oder  Freiheit  der  Lebensmöglich- 
keiten und  Lebensbetätigungen;  oder  es  ist  das  Lustgefühl  am  un- 
gehemmten  Sichausleben.*'  Asth.  I,  S.  156.  Dasselbe  ließe  sich  vom 
allspielenden  Knaben  sagen,  nur  würden  an  Stelle  der  geistigen 
Gefünle  etwa  die  körperlichen  Muskelgefühle  treten. 


Eine  Einteilung  der  philosophisolien  Wissenscliaften.        323 

das  Tun,  das  erst  sich  befriedigt  in  realem  Dasein,  d.  li. 
in  Empfindungen  und  dem  Bewußtsein,  daß  etwas  wirklich 
sei  In  welchen  Sphären  auch  sich  das  Tim  vollzieht,  immer 
ist  es  dasselbe  reale  Tun,  oder  kann  es  sein*'  ^). 

Ahnlich  spricht  sich  Lipps  an  einer  anderen  Stelle  seiner 
Ästhetik')  aus: 

„Das  Tun,  von  dem  ich  hier  rede,  ist  von  mancherlei 
Art.  Es  ist  etwa  mein  intellektuelles  Tun.  Ich  freue  mich 
der  kraftvollen  Tätigkeit  meines  Denkens,  des  Vermögens, 
Vielerlei  geistig  zu  umfassen.  Ich  fühle  mich  befriedigt  in 
der  Konzentriertheit  der  geistigen  Arbeit,  im  Zusammen- 
gefaßtsein derselben  in  einem  Punkte  oder  Ziel. 

Ein  andermal  ist  mein  Tun  auf  praktische  Zwecke  ge- 
richtet. Es  ist  das  Wollen  praktischer  Zwecke,  und  das 
Vollbringen.  Auch  hier  ist  die  Lust  gebunden  an  die  Kraft 
des  inneren  Tuns,  an  den  Reichtum  seiner  Inhalte,  und  die 
Einstimmigkeit  des  Tnns  mit  sich,  und  seine  Znsammen- 
fassung  in  einheitlichen  Zielen. 

Schließlich  ist  mein  Tun  vielleicht  auch  nur  das  Tun, 
das  besteht  im  Erfassen  und  Festhalten  eines  Gegenstandes^ 
die  in  sich  einstimmige,  aber  innerlich  freie  Zuwendung  zu 
einem  Wahrgenommenen  oder  Vorgestellten,  und  die  freie 
Wiederabwendung,  das  aktive  Hin-  und  Hergehen,  das  Zu- 
sammenfassen und  Gliedern,  das  Eindringen,  das  innerliche 
Aneignen  und  Beherrschen." 

Die  Auffassung  des  Seelenlebens,  als  eine  Betätigung, 
so  wie  LiPPS  es  darstellt,  kehrt  überhaupt  öfters  bei  den 
modernen  Denkern  wieder.  Es  sei  an  die  hier  schon  an- 
geführte Stelle  aus  dem  System  von  Wündt  (II®  157)  er- 
innert. Max  Dessoir  spricht  sich  ebenfalls  sehr  interessant 
in  demselben  Sinne  aus :  „Unter  Seele  ist  nicht  ein  Bündel 
von  Vorstellungen,  auch  nicht  ein  Tummelplatz  für  selb- 
ständige Vermögen  zu  verstehen,  sondern  eine  Krafttätig- 
keit ,    genauer    ein    Inbegriff   von    Tätigkeitsrichtungen"  •). 

>)  Lipps,  Ästhetik  I,  129. 

«)  I,  98  f. 

*)  Ästhetik  164. 

21* 


824  JK.  F.  Wize: 

M,  Straszewbki  stellt  geradezu  dem  alten,  ehrwürdigen 
Augustinisch-Cartesianischen  cogito,  eigo  smn  sein  moderne» 
„Ich  fahle  mich  tätig,  also  bin  ich",  entgegen*).  Di& 
ästhetische  Verhaltirngsweise  insbesondere  als  eine  Tätig- 
keit,  der  ästhetische  Genuß  als  eine  „Fnnktionslast"  '),  bildete 
den  Ausgangspunkt  des  Buches  „Beflexions  critiques  sur  la 
pöösie  et  la  peinturc"  des  vortrefflichen  Abö  du  Bos.  Es 
ist  dies  nicht  nur  ein  Buch,  das  eines  der  einflußreichsten 
Ästhetiken  des  18.  Jahrhunderts  war  und  Lessino  als  Vor- 
bild für  seinen  Laokoon  diente,  sondern  auch  das  Werk 
eines  der  ersten  Vertreter  der  ästhetischen  Spieltheorie. 
Zwar  widerspricht  Grant  Allen  der  Auffassung  des  ästheti- 
schen Verhaltens  als  Tätigkeit,  indem  er  den  passiven 
Charakt-er')  des  Kunstgenusses  im  Gegensatz  zu  dem  des 
Spiels  betont,  aber  einer  anderen  Ansicht  ist  Heinbich  von 
Stein.  „Der  (ästhetische)  Eindruck  kommt  zustande  dureh 
innere  Tätigkeit.    Also  ist  bereits  die  Empfänglichkeit 


^)  Przegl^d  filozofiozny,  Jahrgang  1902.  Vgl.  JDie  polnische 
Philos.  der  letzten  10  Jahre"  von  H.  Strlte  im  -Arohiv  für  Gesch. 
der  Philos."  XVIII.  Neue  Folge  XI,  1905,  S.  &7.  Der  Gedanke 
SrRA82EW8Ki8  ist  in  dex  nolnischen  Philosophie  mn  die  Mitte  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  oegründet.  Dieselbe  stützt  sich  voizu^^sweise 
auf  die  Ideen  Sciist.i.ing8  und  Hegels,  beschäftigt  sich  viel  nut  einer 
Vorzugsstellung  des  Willens  in  dem  Geistesleben  und  nennt  sich 
selber  gern  eine  „Philosonhie  der  Tat**  (Adam  ZotTOWSKI,  August 
C1B8ZKOW8KI8  Philosophie  der  Tat),  „Zukunftsphilosophie**,  oft  auch 
-Slavische  Philosophie**.  Bei  Heineich  Koewin  Kamienski,  dwn  Ver- 
jfasser  der  .Philosophie  der  materiellen  Ökonomie  der  menschlichen 
Gesellschaft**  (Posen  1843—1845),  lesen  wir:  „Ich  vollbringe,  also 
bin  ich,  ist  die  Philosophie  der  Zukunft;  ich  denke,  also  bin  ich,  ist 
die  Philosophie  der  Vergangenheit**  (vgl.  Libblt,  Filozofja  i  krytyka* 
I,  142  und  auch  105,  144,  162.  Cieszkow8ki,  Oicze-Nasz  I,  235).  Während 
des  Druckes  dieser  Arbeit  ist  Stbabzbwskib  Buch  «Auf  der  Suche  nach 
einer  Synthesis"  erschienen.  Dort  erfahren  wir,  daß  Straszbwski 
Maine  de  Biran  wohl  kennt  und  hochschätzt.  Für  Maine  de  Biran 
ist  der  Gedanke:  „Toute  notre  connaissaace  derive  de  Tactivite**  ein 
Ausgangspunkt  für  seine  Erkenntnis! ehre  gewesen.  Vgl.  Maine  de 
BiBAN  par  M.  CounAic  p.  53  u.  a.  m.  ungefähr  gleichzeitig  mit  Schelung  in 
Deutschland  wirkte  in  Polen  Andbbas  Sniadeou,  der  in  seiner  im  Jahre 
1804  erschienenen  „Theorie  der  organischen  Wesen**  (§  449)  dem 
Willen  in  dem  Geistesleben,  im  hewußten  Denken  der  „tierischen 
Wesen**,  eine  Vorzuesstellung  einräumt  (Vgl.  auch  Kabol  Libelt 
a.  a.  0.  I,  162,  das  über  Kboukowski  gesagte.) 

*)  Ausdruck  Max  Dessoibs.    üsthetik,  S.  208. 

•)  Überweo-Heinie  IV»,  458. 


Eine  Einteilung  der  philosopliischen  Wissenschaften.        825 

eine  Tätigkeit'),  eine  Lebensäußerung  der  aufnehmenden 
Seele''.  Auf  der  Seite  6  desselben  Buches  von  Stein  finden 
wir:  „Die  ästhetische  Hingenonunenheit  ist  eine  höchste 
Kraftbetätigung  unseres  inneren  Lebens.^  „In  eiaem  groSen 
Eindruck  klingt  die  Unendlichkeit  unseres  inneren  Ver- 
mögens an."  Und  gar  Theodor  Lipps  in  seiner  Ästhetik  11,  7 
meint,  doch  schon  mit  Umrecht  und  im  Widerspruch  mit 
den  oben  angeführten  eigenen  Gedanken:  „Diese  Gefiihls- 
neutralität  des  Urteilens,  Meinens,  Glaubens  der  wirklichen 
oder  vermeintlichen  Erkenntnis,  diese  Kühle,  die  den  Ver- 
standesakten, als  solchen  eignet,  liegt,  wie  gesagt,  daran, 
daß  diese  Akte  keine  Tätigkeit,  oder  kein  sich  Auswirken 
einer  Kraft,  keine  innere  Arbeitsleistung  in  sich  schließen.^ 
Man  beachte  „diese  Akte  keine  Tätigkeit",  dieselben  Worte, 
nur  das  eine  dem  Lateinischen  entnommen;  mit  eben  dem- 
selben Bechte  würde  man  sagen  können,  „diese  Tätigkeiten 
kein  Akt." 

Das  Ergebnis  vorliegender  Arbeit  möge  folgendermaßen 
kurz  zusammengefaßt  werden: 

1.  Die  Aristotelische  Einteilung  der  philosophischen 
Wissenschaften  k8u:m  durch  die  Deutsche  Dreiteilung  der 
Seelenkräfte  nach  Denken,  Fühlen  und  Wollen  nicht  ersetzt 
werden.  Wir  müssen  mit  der  Einteilung  der  philosophischen 
Wissenschaften  zu  Aristoteles  zurück. 

2.  Die  Aristotelische  Einteilung  muß  jedoch  verbessert 
werden.  An  Stelle  der  „poetischen"  Wissenschaften  müssen 
die  modern  angefaßten  „ästhetischen"  Wissenschaften 
treten. 

3.  Den  ästhetischen  Wissenschaften  liegt  nicht  eine  Ge- 
staltung als  solche  zugrunde,  denn  es  gibt  Gestaltungen 
auch  von  anderer  Natur. 

4.  Auch  die  Einfühlung  ist  keine  Erklärung  für  die 
Ästhetik,  da  es  auch  andere  Einfühlungsarten  gibt. 

5.  Das    ästhetische    Verhalten    ist    eine   freie^ 


*)  H.  ▼.  Steik,  Vorlesungen  über  Ästhetik^  S.  3. 


326 


K.  F.  Wize. 


„begriffslose"  und  „interesselose"  Betätigung  des 
menschlichen  Geistes,  ein  geistiges  Spielen« 

Eine  Tabelle  der  Wissenschafken,  die  im  Sinne  von  den 
eben  berührten  Behauptungen  zusammengestellt  ist,  dürfte 
folgendes  Aussehen  haben: 


Wissenschaften 


Ästhetische 


Theorotische 


Praktische 


Betätigung 


Freie  (spontane,        Ijernende  (unter- 
spielende) suchende) 

Spielen  Lernen 


Zielzustrebende 
Arbeiten 


Ideale  (Vollkommenheiten) 


Das  Schone 


Das  Wahre 
Vermögen 


Das  Oute 


Oeschmack 


Wissen 


Gewissen 


s 
8 

Welt 
Allgemeine 
Kosmologie 

Allgemeine 
formale  und  reale 
Ästhetik  der  Natur 

Mathematik 
Natur- 
wissenschaften 

Teleologie 

Technik 

Wirtschaftslehre 

i 
1 

1 

Mensch 

Allgemeine 

Anthropologie 

Allgemeine 

formale  ond  reale 

Ästhetik  des 

Menschlichen 

Logik 
Psychologie  (indi- 
viduelle und 
Volkerpsyoh.) 

AUgem.  Soziologie 
Ethik  (Pfllohten- 
und  Rechtslehre) 

8 

m 

Gott 

Allgemeine 

Theologie 

Kultus 
Religiöse  Kunst 

Glaubenslehre 

Theologische 

Wahrheiten 

Religionsmoral 

Lehren  yon  den 

religiösen  Pflichten 

und  Verheiiungen 

Idee  and  Hypothese  bei  Kant 

Von  Ernst  Lelunann,  Niesky. 
Inhalt* 

Die  auf  naturwissenschaftlichem  Boden  erwachsene  neuere  Er- 
kenntniskritik (Mach,  PoiKCARß,  Hertz)  löst  viele  Probleme,  die  einer 
älteren  Betrachtungsweise  als  gegenständliche,  Tatsachen  betreffende 
erschienen,  in  Probleme  methodischer  Natur  auf,  die  als  gegenständ- 
liche gefaßt  Scheinprobleme  sind.  Kants  Ideenlehre  bietet  ein  Analogon 
zu  diesem  Bestreben.  Seine  kritische  Betrachtung  löst  die  Ideen  in 
regulative,  heuristische  Prinzipien  auf.  Als  solche  enthalten  sie  keinen 
irrationalen  Tatsachenrest;  in  ihnen  schaltet  die  Vernunft  autonom, 
„indem  der  Gegenstand  außer  dem  Begriff  nicht  angetroffen  wird". 
Da  die  Hypothese  auf  Tatsachen  zielt,  sind  somit  Idee  und  Hypothese 
völlig  disparate  Begriffe. 

Die  nähere  Untersuchung  zeigt  indes,  daß  in  den  Ideen  Kants 
Probleme  methodischer  und  solche  gegenständlich-faktischer  Natur 
unklar  verquickt  sind.  Die  Untersuchung  der  Ideen  Kants  ist  daher  von 
folgenden  Fragen  geleitet: 

1.  Inwiefern  sind  die  Ideen  lediglich  „heuristische  Fiktionen"  metho- 
discher Natur?  Inwiefern  sind  sie  vorauseetzungslos?  Inwiefern 
involvieren  sie  bestimmte  Voraussetzungen  tatsächlicher  Natur? 

2.  Sofern  durch  die  Ideen  Probleme  gegenständlicher  Natur  bezeichnet 
werden,  wird  gefragt  nach  der  Abgrenzung  von  Idee  und  Hypothese 
auf  Grund  ihrer  logischen  Kriterien. 

Erörtert  werden:  die  Ideen  des  räumlichen  Weltganzen,  der 
Totalität  der  vergangenen  zeitlichen  Veränderungen,  der  Totalität 
der  Teilung  der  Materie,  der  Kausalität,  Homogeneität,  Spezi- 
fikation, Kontinuität,  Naturzweckmäßigkeit,  die  psychologische 
Idee,  die  Idee  der  Willensfreiheit,  die  Gottesidee. 

Die  Untersuchung  gelangt  zu  folgenden  Gruppen: 
1.  Ideen  bzw.  Momente  an  ihnen,   die  durch  sich  selbst  verifiziert 
sind,  indem  sie  keine  Probleme  gegeliständlich-f aktischer  Natur 
betreffen. 

Hierher  gehören  die  Ideen  des  räimilichen  Weltganzen, 
der   Totalität    der  vergangenen    zeitlichen   Veränderungen,    der 


328  Ernst  Lehmann: 

Totalität  der  Teilung  der  Materie,  sofern  lediglich  der  Begriff 
der  Totalität  in  Frage  kommt,  abgesehen  von  ihrer  Besonderheit 
als  endlicher  oder  unendlicher  Größe,  weiterhin  die  Idee  der 
Kontinuität,  der  Naturzweckmäßigkeit  und  Willensfreiheit. 

Als  methodische  Maximen  enthalten  sie  keinen  Tatsachenrest. 
Werden  sie  zu  Bingen,  Kräften,  Vermögen  hypostasiert ,  so  ent- 
stehen Scheinprobleme. 

Ein  Gleiches  gilt  von  der  Idee  des  Selbstbewußtseins,  die  eine 
einzigartige  Stellung  einnimmf. 

2.  Ideen  als  heuristische  Prinzipien,  die  bestimmte  Voraussetzungen 
faktischer  Natur  involvieren,  deren  Greltung  weder  restlos  verifiziert, 
noch  auch  je  widerlegt  werden  kann,  Voraussetzungen,  die  aber 
gemacht  werden ,  sei  es  als  Postulate ,  sei  es  als  Desiderate  zum 
Zweck  der  Wissenschaft. 

Hierher  gehören  die  Ideen  des  Kausalzusammenhanges,  der 
Homogeneität,  Spezifikation. 

8.   Die  in  den  Ideen  enthaltenen  Restprobleme  faktischer  Natur. 

Hier  sind  Idee  und  Hypothese  gegeneinander  abzugrenzen. 

a)  Empirische  Bestprobleme.  Sie  werden  aufgegeben  durch 
die  Ideen,  die  einem  Beihenprozeß  entspringen.  Hierher  gehört 
die  Frage  nach  der  Begrenztheit  oder  Unbegrenztheit  der  Welt 
nach  Raum  und  Zeit,  sowie  der  Teilung  der  Materie;  ebenso 
die  von  der  Idee  der  Homogeneität  aufgeworfene  Frage  nach 
der  Existenz  eines  Grundstoffes,  einer  Grundkraft  in  der  äußeren 
Natur. 

Hypothetische  Lösungen  sind  hier  müßig  und  wertlos,  da 
die  absolute  Totalität  kein  Gregenstand  der  Erfahrung  ist. 

Gegenstand  der  Hypothese  können  daher  nur  sein:  be- 
grenzte kosmische  Massen,  relative  Anfangszustände  der  Welt, 
relativ  einfache  und  konstante  Elemente  der  Materie,  relativ 
gleichartige  Größen:  relativ  einfache  Kräfte  und  Stoffe. 

b)  Transzendente  Restprobleme.  Sie  werden  aufgegeben 
durch  die  Ideen,  die  durch  einen  Akt  der  Konzeption  gesetzt 
werden.  Hierher  gehören  die  Idee  der  Naturzweckmäßigkeit, 
sofern  sich  ein  faktisches  Problem  überhaupt  aus  ihr  ableiten 
läßt,  auf  psychologischem  Gebiet  die  Frage  nach  dem  Ver- 
hältnis des  Selbstbewußtseins  zu  dem  psychophysischen  Zu- 
sammenhang, die  Frage  nach  dem  Verhältnis  des  Psychischen 
und  Physischen  überhaupt.  —  Die  Gottesidee  scheidet  aus  der 
Reihe  der  theoretisch  formulierbaren  Probleme  aus.  Bei  Kant 
sind  methodische  und  religiöse  Gesichtspunkte  unklar  verquickt. 
Die  Momente  der  absoluten  Spontaneität  und  Nichtanschaulich- 
keit  machen  bei  diesen  Ideen  die  Anwendung  der  Hypothese 
unmöglich. 

Idee  und  Hypothese  bleiben  danach  scharf  getrennte  Be- 
griffe. 

Die  Idee  charakterisieren  die  Momente  der  absoluten 
Totalität,  Spontaneität  und  Nichtanaohaulichkeit.  Die  Hypothese 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  329 

fordert  zur  Erklärung  begrenzter  Tateachenkomplexe  relativ 
letzte,  einfache,  konstante  Elemente ,  die  in  Raum  und  Zeit 
anschaulich  darstellbar  sind.  —  Absolute  Aussagen  sind  ent- 
weder durch  sich  selbst  verifiziert,  oder  sie  sind  es  gar  nicht; 
sie  als  Hypothesen  blofi  wahrscheinlich  zu  machen,  ist  ein 
Widerspruch  in  sich  selbst.  —  Die  scharfe  Trennung  Kants 
bleibt  also  zu  Recht  bestehen. 

Einleitnng. 

Die  auf  dem  Boden  der  neueren  Naturwissensoliaft, 
im  besonderen  der  mathematischen  Physik,  erwachsene  er- 
kenntniskritische  Richtung,  wie  sie  namentlich  von  Hertz, 
Mach  und  Poincarä  vertreten  wird,  ist  charakterisiert  durch 
das  Bestreben,  den  Faktor  der  freien  Selbsttätigkeit  in  der 
Bildung  von  Definitionen,  Handhabung  von  Methoden  und 
Schaffang  von  Bildern  zum  Zweck  der  intellektuellen  Be- 
herrschung der  Naturerscheinungen  immer  mehr  ans  Licht 
zu  stellen.  Hier  wird  ein  Gebiet  unbedingter  logischer 
Herrschaft  anerkannt,  hier  und  nur  hier.  „Nur  über  Be- 
griffe, deren  Inhalt  wir  selbst  bestimmt  haben,  erstreckt 
sich  unsere  logische  Herrschaft."  ^)  —  Im  Zusammenhang 
damit  steht  die  Tendenz,  viele  Probleme,  die  die  ältere  Be- 
trachtungsweise als  Probleme  gegenständlich-tatsächlicher 
Natur  betrachtet,  in  Probleme  der  Definition,  zweckmäßigen 
Darstellung  und  der  Eigenart  von  Methoden  aufzulösen« 
Ja  es  herrscht  zum  Teil  das  Bestreben,  alle  nicht  rein 
empirischen  Probleme,  sofern  sie  letzte  Tatsachen  und 
Tatsachen  Verhältnisse  betreffen  sollen  und  deshalb,  sei  es 
metaphysisch  gelöst,  sei  es  als  absolut  unlösbar  erkannt 
wurden,  in  Scheinprobleme  aufeulösen  und  damit  zu 
beseitigen.  „Die  Probleme  werden  entweder  gelöst  oder 
als  nichtig  erkannt."*)  Scheinprobleme  entstehen,  indem 
begriffliche  Hilfsmittel  hypostasiert  werden. 

So  grundverschieden  nun  auch  Voraussetzungen  und 
Ziele    der   genannten    erkenntniskritischen    Richtung    von 


^)  Mach,  Erkenntnis  und  Irrtum,  S.  379. 

*)  Mach,  Analyse  der  Empfindungen',  S.  278. 


330  Ernst  Lebmann: 

denen  des  transzendentalen  Idealismus  Kants  sind,  so  be- 
stehen doch  gerade  in  den  vorhin  bezeichneten  Gesichts- 
punkten gewisse  verwandte  Beziehungen  beider. 

Auch  Kant  ist  bemüht,  metaphysische  Probleme  teils 
in    Scheinprobleme,    teils    in    methodische    Probleme    auf- 
zulösen.   In  diesem  Sinne  stellt  Kant  den  Satz  in  seiner 
Ideenlehre  auf:  „daß  alle  Fragen,  welche  die  reine  Vernunft 
aufwirfl,  schlechterdings  beantwortlich  sein  müssen  und  daß 
die  Entschuldigung  mit  den  Schranken  unserer  Erkenntnis, 
die   in  vielen  Naturfragen   ebenso  unvermeidlich  als  billig^ 
ist,   hier  nicht  gestattet  werden   könne"*).     Und  warum? 
„Weil  eben  derselbe  Begriff,   der  uns  in  den  Stand  setzt 
zu  fragen,   uns  auch  tüchtig  machen  muß,   auf  diese  Frage 
zu  antworten,    indem  der  Gegenstand  außer  dem  Begriff 
nicht  angetroffen  wird.*'  *).    Danach  gibt  es  einerseits  nur 
empirische    Probleme;     die    sogenannten    metaphysischen 
Probleme  sind  Scheinprobleme ;  sofern  sie  einen  berechtigten 
Kern    enthalten,    ist    dieser    wesentlich    methodischer 
Natur.    Auch  eine  nur  hypothetische  Lösung  solcher  meta- 
physischer Probleme   darf  danach  nicht  verstattet  werden. 
Scheinprobleme  werden  nicht  durch  metaphysische  Hypo- 
thesen gelöst,  sondern  gelöst,  indem  sie  als  nichtig  erkannt 
werden.      So    bezeichnen    die    Ideen    gar    keine 
Gegenstände,    weder    empirische    noch    intelli- 
gible.     Es   schließt  darum  eine  vollständige  Verkennung 
ihrer  methodischen  Stellung  im  System  der  Wissenschaft 
ein,   wenn    sie   zu   transzendentalen   Hypothesen   gemacht 
werden.    Die  Ideen  enthalten  keinen  irrationalen  Tatsachen- 
rest, dem  man  durch  Hypothesen  beikommen  könnte.    Der 
Erkenntniswert  der  Ideen  ist  bezeichnet  durch  ihre  Funktion 
als  „heuristische  Fiktionen*  ®),  die  der  Verstandeserkenntnis 
Richtlinien  geben  in  der  Richttmg  auf  größtmögliche  syste- 
matische Einheit.    Ihr  logisches  Kriterium  ist  das  Moment 
des   Unbedingten   im   Verhältnis   zur  Bedingtheit  der   Er- 

^)  Kritik  der  reinen  Vernunft  (Kehbbaoh),  &^.  537  f. 
«)  Kr.  d.  r.  V.,  S.  392. 
»)  A.  a.  0.  S.  587. 


Idee  und  Hypothese  bei  Elant.  331 

» 

fähningserkeimtnis.  In  der  Hypothese  dagegen  werden 
mögliche  Gegenstände  der  Erfahrung  oder  mögliclie  gegen- 
standliche Beziehungen  an  Gegenständen  der  Erfahrung  an- 
genommen*). Die  „Möglichkeit"  bedeutet  im  Sinne  des 
Kritizismus  die  Darstellbarkeit  in  den  allgemeinen  Formen 
der  Anschauung:  Baum  und  Zeit. 

Ob  die  mögliche  Verifikation  durch  Empfindung  als  der 
Materie  der  Erfahrung  auch  von  Kant  durchgehends  verlangt  wird, 
ist  dabei  fraglich.  In  allgemeiner  Erörterung  verlangt  Kant  eine 
solche:  „Die  Erscheinungen  verlangen  nur  erklärt  zu  werden,  soweit 
ihre  Erklärungsbedingungen  in  der  Wahrnehmung  gegeben  sind^. 
In  der  Anwendung  dagegen  erweist  sich  das  Kriterium  der  mög- 
lichen Empfindung  auch  für  Kant  als  zu  eng.  So  bezeichnet  Kant 
den  Äther  der  Physik  als  eine  zulässige  „Meinung".  Ja  das  elek- 
trische und  das  magnetische  Fluidum  ist  iQr  Kant  nicht  bloß  eine 
Sache  der  Meinune;  Kant  glaubt  vielmehr  wie  seine  Zeitgenossen 
fest  an  deren  WirKlichkeit:  „So  erkennen  wir  das  Dasein  emer  alle 
Köiper  durchdringenden  magnetischen  Materie  aus  der  Wahrnehmung 
des  Eisenfeilichts,  oozwar  eine  unmittelbare  Wahrnehmung  dieses  Stoffes 
uns  nach  der  Beschaffenheit  unserer  Organe  unmöglich  ist."^)  Ja 
eine  Annahme  wie  die  der  leeren  Räume  zum  Zwecl  der  Erklärung 
der  unterschiede  der  Dichte  der  Materie  bezeichnet  Kant  auch  als 
eine  Hypothese^).  Der  Begriff  der  Hypothese  schließt  also  auch 
Annahmen  ein,  die  ihrer  Natur  nach  durch  Empfindung  nicht 
verifiziert  werden  können.  Jene  Annahme  könnte  sogar  als  eine 
notwendige  Voraussetzung  gelten,  falls  die  Verschiedenheit  der 
Dichte  sich  nicht  anders  erklären  ließe*). 

Die  entscheidende  Anforderung,  die  von  Kant  an  eine 
brauchbare  Hypothese  gestellt  wird,  ist,  daß  sich  die  ge- 
machte Annahme  als  fähig  erweise  zur  Erklärung  vorgelegter 
Erscheinungen,  daß  „aus  dem  angenommenen  Grunde  die  ' 
Folgen  richtig  fließen".  Die  Hypothese  wird  desto"  un- 
brauchbarer, je  mehr  Hilfsannahmen  nocb  eingeführt  werden 
müssen.  Das  Muster  einer  Hypothese  sieht  Kant  in  der 
Copemikanischen  Erklärung  der  scheinbaren  Bewegung  der 
Himmelskörper.  Aus  einer  Voraussetzung  haben  sich  bis 
jetzt  alle  Erscheintmgen  dieser  Bewegung  erklären  lassen» 
So  kann  eine  Hypothese  zum   „Analogon  der  Gewißheit*^ 


^)  Logik  (3.  Aufl.    Neue  Ausgabe  von  Kinkel),  S.  94. 

»)  Kr.  d.  r.  V.,  S.  396. 

»)  Logik,  S.  74. 

*)  Kr.  d.  r.  V.,  S.  207. 

»)  Metaph.  Anf.gr.  der  NatWiss.  (2.  Auü.),  S.  84. 

«)  Ebenda  S.  83. 


332  Ernst  Lehmann: 

werden;  absolute  Gewißheit  ist  aber  ausgeschlossen,  sofern 
wir  niemals  wissen  können,  ob  alle  Konsequenzen  aus 
einer  gemacliten  Annahme  objektiv  gültig  sind. 

Sofern  die  Ideen  überhaupt  keine  „öegen- 
etände"  bezeichnen,  erscheinen  Idee  und  Hypo- 
these also  als  völlig  unvergleichbare  Begriffe. 
Kant  läßt  jedoch  neben  der  rein  methodischen  Bedeutung 
äIs  regulativer  Prinzipien  noch  eine  auf  „Dinge"  bezügliche 
zu.  Kant  macht  an  anderen  Stellen  der  Kritik  einen  Unter- 
schied zwischen  den  kosmologischen  Ideen  einerseits  und 
der  psychologischen  und  theologischen  Idee  anderseits. 
Letztere  „dienen  nicht  bloß  zur  Vollendung  des  empirischen 
Vemunftgebrauches ,  sondern  trennen  sich  gänzlich  davon 
ab  und  machen  sich  selbst  Gegenstände,  deren  Stoff 
nicht  aus  Erfahrung  genommen,  deren  objektive  Realität 
such  nicht  auf  der  Vollendung  der  empirischen  Reihe, 
sondern  auf  reinen  Begriffen  a  priori  beruht"  *).  Es  ist  „nicht 
das  mindeste,  was  uns  hindert,  diese  Ideen  auch  als  objektiv 
xmd  hypostatisch  anzunehmen  außer  allein  die  kosmologische, 
wo  die  Vernunft  auf  eine  Antinomie  stößt"  (523).  Die 
kosmologischen  Ideen  allein  sind  also  bloße  Geschöpfe  der 
Vernunft;  hier  nur  kann  die  Verantwortung  nicht  auf  einen 
unbekannten  Gegenstand  geschoben  werden*).  Indem  ge- 
wisse Ideen  als  denkmögliche,  unbekannte,  transzendente 
Dinge  angesehen  werden,  treten  sie  aus  dem  Herrschafts- 
bereich des  rein  methodischen  Idealismus  heraus.  Idee  und 
Hypothese  sind  alsdann  nicht  völlig  disparate  Begriffe; 
indem  sie  auf  „Dinge"  bezogen  werden,  stehen 
sie  auf  gemeinsamem  begrifflichen  Boden.  Sie 
bezeichnen  Probleme  gegenständlich-faktischer  Natur.  Sie 
werden  um  so  mehr  vergleichbar,  wenn  man  beachtet,  daß 
Kant,  wie.bemerkt,  das  Kriterium  der  möglichen  Empfindung 
selbst  nicht  aufrecht  erhält.  Auch  der  Hypothese  der  leeren 
Räume  kann  „kein  kongruierender  Gegenstand  in  den 
Sinnen"  gegeben  werden. 

M  Kr.  d.  r.  V.,  S.  450. 
")  Vgl.  a.  a.  0.  S.  393. 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  333- 

Erscheint  somit  die  Einheitlichkeit  der  KANTSchen  Ideen- 
lehre bereits  in  seiner  eigenen  Reflexion  gesprengt,  so 
zeigt  sich  weiterhia,  daß  unter  dem  Titel  der  Ideen  von 
Eant  Probleme  behandelt  werden,  die  noch  in  anderem 
Sinne  gegenstandUche  Probleme,  nämUch  empirische 
Grenzprobleme  sind.  Im  besonderen  sind  in  den  kosmo- 
logischen  Ideen  methodische  Prinzipien  und  Probleme  gegen- 
standlicher Natur  in  unklarer  Weise  verquickt,  wie  dies  zum 
Teil  bereits  bemerkt  worden  ist^). 

Im  folgenden  wollen  wir  nun  an  die  Erörterung  der 
einzelnen  Ideen  mit  folgenden  Fragen  herantreten: 

1.  Inwiefern  sind  die  Ideen  lediglich  „heuristische 
Fiktionen**,  die  als  solche  keine  Gegenstände  bezeichnen? 
Inwiefern  handelt  es  sich  um  voraussetzungslose 
Forschungsmaximen;  inwiefern  involvieren  sie  empirische 
Voraussetzungen  ? 

2.  Sofern  durch  die  Ideen  Probleme  gegenständlich- 
faktischer  Natur  bezeichnet  sind,  erhebt  sich  die  Frage  nach 
der  Abgrenzung  von  Idee  und  Hypothese  auf  Grund  der 
logischen  Kriterien  beider  Begriffe.  Nicht  die  mögliche 
Verifikation  durch  Empfindung  unterscheidet  beide  letztlich  5 
es  ist  wesentlich  das  Moment  des.  Unbedingten,  das  die 
Idee,  das  Moment  der  erklärenden  Bedingung,  das  die 
Hypothese  charakterisiert. 

Sofern  die  Ideen  lediglich  methodische  Prinzipien  sind, 
ist  ihre  Gleichsetzung  mit  transzendentalen  Hypothesen 
sinnlos;  sofern  sie  gegenständliche  Probleme  bezeichnen, 
erscheint  die  Kategorie  der  metaphysischen  Hypothese  zu- 
lässig. Wir  fragen  mit  Kant,  ob  sie  haltbar  ist,  im  be- 
sonderen: inwiefern  metaphysische  Hypothesen  als  Er- 
klärungshypothesen gelten  können;  inwiefern  sie  als 
Ergänzungshypothesen  anzusehen  sind,  —  eine  Unter- 
scheidung, die  auch  Kant  gelegentlich  macht,  indem  er  sagt. 


')  Vgl.  WüÄDT,  Philosophische  Studien,  Bd.n:  „Kants  Antinomien 
und  das  Problem  der  Unendlichkeit^.  Bibhl,  Philos.  Kritizismus, 
Bd.  II :  »Bas  kosmologische  Problem  des  Unendlichen '^i  S.  281  ff. 


334  Ern&t  Lehmann: 

die  Ideen,  als  Hypothesen  verwendet,  erklärten  nichts, 
dienten  nicht  zur  Beförderung  des  Verstandesgebrauches, 
sondern  „eigentlich  nur  zur  Befriedigung  der  Vernunft"*), 
die  durch  das  Bedürftds  eines  vollendeten  Abschlusses  der 
Erkenntnis  charakterisiert  ist. 

1.  Die  Idee  des  räamlichen  Weltganzen. 

Mit  Recht  macht  Riehl  *)  darauf  aufmerksam,  daß  Kant 
nicht  unterscheidet  zwischen  dem  allgemeinen  Raumschema 
und  der  empirischen  RaumerfüUung.  Die  Idee  des  un- 
endlichen Raumes  als  Form  der  Anschauung  bezeichnet 
keinen  Gegenstand,  sie  erschöpft  sich  in  dem  Gedanken  der 
unbegrenzten  Fortsetzbarkeit  der  Raumanschauung;  sie 
schreibt  einen  Progressus  in  infinitum  vor.  Das  Moment 
der  Idee  hegt  hier  wesentlich  in  der  Erkenntnis  dieser 
unbegrenzten  Fortsetzbarkeit.  Dieser  Sachverhalt  ist  die 
Konsequenz  der  transzendentalen  Ästhetik. 

Anders  verhält  es  sich  mit  der  Idee  der  Totalität  der 
Raumerfüllung.  So  wenig  wie  die  Gesetze  der  empirisch 
bestimmten  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  aus  den 
transzendentalen  Grundsätzen  der  Erfahrung  abgeleitet 
werden  können,  ebensowenig  können  auf  dem  Standpunkt 
der  Kritik  a  priori  Aussagen  gemacht  werden  über  die 
Grenzen  des  empirischen  Progressus  in  der  Anschauung 
empirisch  erfüllter  Räume.  Sofern  die  bestimmte 
koeidstente  Mannigfaltigkeit,  die  sich  uns  in  der  Raumform 
ordnet,  a  posteriori  gegeben  ist,  gilt  dies  auch  von  der 
Bestimmtheit  der  räumlichen  Verteilung.  Kant  selbst  sagt; 
„Die  Ursache  der  empirischen  Bedingungen  dieses  Fort- 
schritts —  nämlich,  auf  welche  Glieder  und  wieweit 
ich  auf  dergleichen  stoßen  könne ,  ist  transzendental  und 
mir  daher  notwendig  unbekannt."  ^).  Wenn  Kant  selbst  die 
Idee  der  räumlichen  Totalität  des  Universums  auf  einen 
progressus  in  indefinitum  zurückführt,  so  scheint  darin  die 

0  Kr.  d.  r.  V.,  S.  581.  588. 

«)  Philo8.  Kritizismus,  1.  Aufl.,  Bd.  II,  S.  297. 

»)  Kr.  d.  r.  V.,  S.  404  f. 


Idee  und  HypotheBei  bei  Kant.  335 

Anerkennuiig  der  Unlösbarkeit  der  Frage  nach  den 
Grenzen  des  Universums  zu  liegen;  denn  beim  progressus 
in  indefinitam  bin  ich  berechtigt  und  zi^leich  verbunden, 
"weitere  GKeder  aufzusuchen,  wenngleich  nicht  voraus- 
zusetzen^); es  ist  ein  höheres  Glied  möglich,  mithin 
die  Nachfrage  nach  einem  solchen  nötigt);  während  es 
beim  progressus  in  infinitum  notwendig  ist,  weitere 
Glieder  a  n  z  u  t  r  e  f  f  e  n.  Es  wird  also  im  letzteren  Fall  mehr 
behauptet.  Bezeichnet  Kxm  die  räumliche  Größe  der  Welt 
durch  einen  progressus  in  indefinitum,  so  bleibt  folgerichtig 
die  Frage  offen,  ob  der  progressus  an  s i c h  begrenzt  oder 
unbegrenzt  ist,  dieses  „an  sich"  bezogen  auf  die  Be- 
stimmtheit der  koexistenten  Mannigfaltigkeit 
äufierer  Empfindungen,  die  als  solche  gegeben, 
nicht  durch  subjektive  Synthesis  erzeugt  wird. 

Die  Frage  nach  der  räumlichen  Ausdehnung  des  Uni- 
versums gehört  also  nicht  zu  den  Fragen,  die  schlechthin 
au%elöst  werden  müssen;  vielmehr  ist  sie  eine  wesentlich 
empirische,  sofern  über  die  gegebene  Bestimmt- 
heit der  räumlichen  Ausdehnung  nichts  a  priori  aus- 
gemacht werden  kann®);  die  Frage  ist  aber  zugleich  eine 
empirisch  unlösbare,  indem  wir  nie  wissen  können,  ob 
die  jeweils  erreichten,  sei  es  durch  Beobachtung,  sei  es 
durch  Rückschlüsse  in  den  Bereich  unserer  Erfahrung  ge- 
rückten äußersten  kosmischen  Massen  die  schlechthin 
äußersten  sind.  Gesetzt  auch  die  Möglichkeit,  daß  die  von 
uns  erreichten  Grenzen  mit  den  räumlichen  Grenzen  des 
Universums  zusammenfielen,  so  hätten  wir  doch  kein 
Kriterium,  dies  zu  entscheiden. 

Durch  sich  selbst  verifiziert  ist  also  lediglich  der 
Begriff  der  absoluten  Totalität  der  koexistenten  Mannig- 
faltigkeit äußerer  Empfiindungen ,  die  sich  uns  räumlich 
ordnen.     Er  entsteht  nicht  in  der  von  Glied  zu  Glied  fort- 


1)  A.  a.  O.  S.  415. 
«)  A.  a.  O.  S.  417. 

*)  Wir  schließen  uns  damit  der  Ansicht  Sohopenhauebs,  Parerga  I 
(Berlin  1862.    S.  114)  an,  der  auch  Birhl  a.  a.  0.  S.  296  beipflichtet. 


336  Ernst  Lehmann: 

schreitenden  empirischen  Synthesis ;  viekaehr  entsteht  er  in 
der  Beflexion  über  die  Eigenart  dieses  Prozesses.    Im  Licht 
dieser    Idee    entsteht   die   methodische   voraussetzungslose 
Maxime:  „Wir  sollen  nie  die  jeweilig  erreichten  ränmlichen 
Grenzen  des  Universums  für  absolute  halten,  vielmehr  die 
Möglichkeit,   weiterhin  erfüllte  Räume   anzutreffen,  un- 
begrenzt offen  halten/     Diese  Maxime  folgt  aus  jener  Idee 
der  Totalität,   die  in  dem  Moment,  wo  sie  konzipiert  ist, 
auch  damit  zugleich  verifiziert  ist,  in  der  Tat  ein  „bloßes 
Geschöpf  der  Vernunft^.    Dagegen  ist  die  Fra^  nach  der 
Begrenztheit    der    räumlichen    Totalität    eine    wesentlich 
empirische ;  jedoch  erkennen  wir  sie  wiederum  im  Licht  der 
Idee    der   Totalität   als   eine   solche,    die    empirisch  nicht 
lösbar  ist.    Jede  hypothetische  Lösung  würde  lediglich  eine 
absolut  unbestimmte  Möglichkeit  bezeichnen  *).   Auch  würde 
eine   hypothetische  Annahme   in    der   einen   oder   anderen 
Richtung  für  die  Erklärung  kosmischer  Erscheinungen  voll- 
ständig bedeutungslos  sein.    Zur  Erklärung  von  Störungen 
in  den  jeweils  bekannt  gewordenen  kosmischen  Systemen 
können   immer  nur  wiederum   begrenzte,  jeweils   noch 
unbekannte  Systeme  bzw.  Himmelskörper  hypothetisch  an- 
genommen werden.    Die  Naturerklärung  kann  mit  der  Idee 
der  Totalität  schlechthin  nicht  in  Kontakt  gebracht  werden. 
Die  wissenschaftliche  Bedeutung  der  letzteren  erschöpft  sich 
in  der  Tat  in  der  Aufstellung  der  oben  bezeichneten  voraus- 
setzungslosen Forschungsmaxime. 

2.  Die  Idee  der  Totalität  der  vergangenen  zeitllehen 

Verändernngeu. 

Kant  behandelt  das  kosmologische  Problem  der  räum- 
lichen Totalität  zusammen  mit  dem  Problem  der  zeitlichen 
Totalität     der     vergangenen     zeitlichen     Vorgänge.      Es 

^)  In  dem  besonderen  Fall,  daß  die  Verteilung  der  Materie  als 
eine  absolut  diskontinuierliche  gedacht  wird,  läßt  sich  in  betreff  der 
Zahl  der  diskreten  Einheiten  auf  Grund  einer  kritischen  ErOrterung 
des  Begriffs  der  unendlich  großen  Zahl  folgern,  daß  dieselbe  eine 
endliche  sein  müsse.  Zu  dem  „Gesetz  der  bestimmten  ZsihV 
(DChri.no)  bekennt  sich  auch  Kant  gelegentlich;  vgl.  Kr.  d.  r.  Y.,  S.  4S5. 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  337 

ist  wiederholt  darauf  hingewiesen  worden,  daß  dies  nicht 
gerechtfertigt  ist.  Dies  zeigt  im  besonderen  der  Begriff  der 
leeren  Zeit,  der  dem  Begriff  des  leeren  Raumes  entsprechen 
soll.  Während  der  letztere  ein  vollziehbarer  Gedanke  ist, 
kann  ersterer  nur  als  eine  unwirkliche  Abstraktion  be- 
zeichnet werden:  Zeit  ohne  Zeiterfällung  ist  ein  bloßes 
Wort.  Heben  wir  in  Gedanken  alles  zeitliche  Geschehen, 
sowohl  äußere  Vorgänge  wie  innere  Erlebnisse,  auf,  so  bleibt 
nichts  zurück.  Sagen  wir,  die  Zeit  fließe  alsdann  dennoch 
weiter,  so  ist  dies  eine  psychologisch  bedingte  Täuschung, 
indem  wir  unvermerkt  unser  Bewußtsein  als  Substrat  der 
Zeitvorstellung  substituieren;  alsdann  aber  haben  wir  eine 
erfüllte  Zeit:  nämlich  den  Ablauf  unserer  Bewußtseins- 
vorgänge. 

Der  Idee  der  Totalität  der  koexistenten  Mannigfaltig- 
keit der  äußeren  Erscheinungen  läßt  nun  KLant  die  Idee  der 
Totalität  der  verflossenen  sukzessiven  Mannigfaltigkeit  ent- 
sprechen. .Kant  gelangt  zu  einem  analogen  Resultat:  Danach 
ist  die  Idee  der  Totalität  vergangener  Veränderungen 
lediglich  der  Ausdruck  für  die  subjektive  Nötigung  zu  einem 
regressus  in  indefinitum.  Dieser  gemäß  sollen  wir  also  über 
jede  vergangene  Zeitstrecke  hinaus  das  Vorhandensein  einer 
dieser  vorangehenden  erfüllten  Zeit  unbegrenzt  offen 
halten,  ohne  gleich  zu  behaupten,  daß  wir  eine  solche  auch 
in  infinitum  antreffen  werden. 

In  der  Tat  ist  dies  eine  durchaus  voraussetzungslose 
Maxime  der  Forschung,  der  gemäß  wir  keinen  hypothetisch 
angenommenen  Anfangszustand  der  Welt  (z.  B.  den  der 
KANT-LAPLACEschen  Theorie)  für  einen  absoluten  halten 
sollen,  vielmehr  uns  „berechtigt"  und  zugleich  „verbunden" 
halten  sollen,  nach  vorangegangenen  Weltveränderungen  zu 
fragen.  Auch  diese  Maxime  bedarf  keiner  Verifikation  durch 
Tatsachen;  sie  trägt,  wie  die  Idee  der  Totalität  selbst,  ihre 
Verifikation  in  sich  selbst. 

Ist  nicht  aber  gerade  damit  die  Möglichkeit  einer 
wirklichen  Begrenztheit  offen  gehalten?  Und  doch 
schließt  Kant  auch  hier  eine  solche  Möglichkeit  aus  auf 

Viertelj«hr8achriftf.wi8sen«chAftl.Philo8.  u.Soz.  XXXII.  3.  22 


338  Ernst  Lehmann: 

Grund  einer  vermeintlichen  Antinomie.  Aber  auch  hier 
gilt,  wie  BiEHL  in  seinem  oben  zitierten  Werk  anfuhrt,  daß 
gerade  die  kritische  Auffassung,  wonach  Baum  und  Zeit 
keine  absolut  realen  substantieUen  Wesenheiten  bezeichnen, 
die  Schwierigkeit,  die  zur  Behauptung  der  Antithesis  fährt, 
die  Begrenzung  durch  den  leeren  Baum,  die  leere  Zeit,  ver- 
schwinden läßt^).  Ebenso  liegt  in  der  Behauptung  des 
regressus  in  infinitum  keine  Schwierigkeit,  wenn  man 
nicht  zugeben  muß,  daß  eine  unendliche  Zeit  bis  zum  gegen- 
wärtigen Augenblick  abgelaufen  sei,  daß  vielmehr  die  Gegen- 
wart stets  nur  einen  Durchgangspunkt  bezeichnet,  in  dem 
die  Zeit  verläuft  wie  durch  jeden  anderen  in  Gedanken 
festgelegten  Punkt*). 

Vielmehr  ist  auch  das  Problem  der  erfüllten  Zeit,  soweit 
wir  lediglich  die  Zeitform  ins  Auge  fassen  und  nicht  die 
Kategorie  der  Kausalität  zur  Anwendung  bringen,  ein 
wesentlich  empirisches  Problem,  das  freilich  wiederum  seiner 
Natur  nach  empirisch  nicht  gelöst  werden  kann.  Sofern 
über  die  erfüllte  Zeit,  also  die  Bestimmtheit  der 
sukzessiven  Mannigfaltigkeit  a  priori  nichts  ausgesagt  werden 
kann  —  denn  die  Materie  der  sukzessiven  Empfindungs- 
mannigfaltigkeit ist  unabhängig  von  unserer  Synthesis  ge- 
geben, also  auch  gegeben  in  bezug  auf  ihre  Begrenzt- 
heit oder  Unbegrenztheit  — ,  liegt  ein  absolut  unlösbares 
empirisches  Grenzproblem  vor.  Beide  Möglichkeiten  —  die 
Begrenztheit  wie  die  Unbegrenztheit  —  bleiben  als  durchaus 
sinnvolle,  jedoch  absolut  unbestimjnte  Möglichkeit  bestehen. 
Im  besonderen  ist  die  Idee  der  Begrenztheit  durchaus  voll- 
ziehbar, sobald  man  sich  klar  macht,  daß  das  Bedürfnis, 
eine  „leere"  Zeit  dem  Beginn  der  Veränderungen  voraus- 
gehen zu  lassen,  lediglich   darauf  beruht,   daß  wir  unser 


*)  BiEUL  a.  a.  0.  S.  290:  „Wir  werden  nicht  länger  sagen  können, 
geschweige  müssen,  dafi  die  Welt  durch  das  Leere  begrenzt  wird; 
wir  weroen  vielmehr  sagen,  daß  die  leere  Vorstellung  des  Raumes, 
das  bloße  Schema  unseres  Vorstellens,  durch  die  Welt  begrenzt  wird/ 
—  Diese  Betrachtung  gilt  auch  für  die  Zeit. 

«)  A.  a.  0.  8.  287. 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant,  339 

Bewußtsein  unvermerkt  zum  Substrat  dieser  „leeren"  Zeit 
machen. 

Erst  die  Anwendtmg  des  Verstandesbegriffes  der 
Kausalität  nötigt  uns,  diese  Möglichkeit  abzulehnen,  so  daß 
wir  hier  das  empirische  Grenzproblem  in  einem  bestimmten 
Sinn  lösen  ^).  Die  Idee  des  durchgängigen  Kausalzusanmielx« 
hanges  bezeichnet  indes  selbst  direkt  kein  hypothetisch  an- 
genommenes Verhältnis  an  Dingen,  ist  vielmehr,  wie  weiter- 
hin noch  zu  erörtern  ist,  ein  heuristisches  Postulat,  das 
allerdings  die  objektive  Geltung  einer  gegenständlichen  Be- 
ziehung zur  stillschweigenden  Voraussetzung  hat.  Fassen 
wir  aber  lediglich  die  formale  Seite  des  Zeitproblems  ins 
Auge,  so  ist  ein  empirisches  Grenzproblem  zu  konstatieren, 
das  als  solches  durch  Hypothesen  irgendwelcher  Art  nicht 
zu  lösen  ist.  Eine  bestimmte  Annahme  in  der  einen  oder 
anderen  Bichtung  wäre  eine  völlig  müßige  Hypothese.  Zur 
Erklärung  vergangener  "Weltveränderungen  können  immer 
nur  wiederum  relative  Anfangszustände  hypothetisch 
vorausgesetzt  werden. 

3.  Die  Ideen  in  betreff  der  Konstitution  der  Materie. 

Im  Licht  der  Idee  der  Totalität  des  erfüllten  Baumes, 
der  erfüllten  Zeit  ergab  sich  die  voraussetzungslose 
methodische  Maxime :  „Wir  sollen  keine  Grenze ,  auf  die 
wir  im  Fortgang  der  Erfahrung  stoßen,  für  eine  absolute 
Grenze  halten."  Die  gleiche  Maxime  in  betreff  der  Kon- 
stitution der  Materie  müßte  nun  lauten :  „Wir  sollen  keinen 
Teil  der  Materie ,  auf  den  wir  im  Fortgang  der  Erfahrung 
durch  unmittelbare  Wahrnehmung  stoßen,  oder  den  wir 
hypothetisch  zur  Erklärung  gegebener  Erscheinungen  voraus- 
setzen, für  ein  absolut  letztes,  konstantes,  nicht  weiter 
zerlegbares  Element  des  äußeren  Geschehens  halten,  sondern 
die  Möglichkeit  weiterer  Zerlegung  unbegrenzt  offen  halten." 
In  diesem  Sum  würde  die  Idee  der  Totalität  der  Teilung 
wiederum   der  Ausdruck  für  einen  regressus  in  indefinitum 


1)  Vgl.  RiEHL  a.  a.  0.  S.  800. 

22 


340  Ernst  Lehmann: 

sein,  womit  aber  eben  gesagt  ist,  daß  es  prinzipiell  un- 
ausgemacht  bleibt,  ob  der  regressus  in  finitum  oder  in  in- 
finitom  verläuft. 

Kant  aber  überträgt  bekanntlich  den  regressus  in  in- 
finitum  in  der  Teilung  des  mathematischen  Raumes  auf  den 
physisch  erfüllten  Baum.    Damit  aber  ist  das  Gebiet  der 
voraussetzungslosen    methodischen    Erörterung    verlassen. 
Daß  die  Kontinuität  der  Raumanschauung  noch  nicht  ohne 
weiteres     die    Kontinuität    der    materiellen    Raumerfollun^ 
involviert,   gibt  zwar  Kant  vorübergehend   sowohl  in  der 
Kritik    wie   in    den    Metaph.   Anfangsgründen    der    Natur- 
wissenschaft zu:  „Durch  den  Beweis  der  unendlichen  Teilbar- 
keit des  Raumes  ist  die  der  Matorie  noch  lange  nicht  be- 
wiesen." *).    In   der   „Kritik"  weist  Kant  gleichwohl  dieses 
Bedenken  wieder  zurück,  indem   er  die  Möglichkeit  einer 
diskontinuierlichen  Beschaffenheit  der  Materie  nur  für  deren 
intelligibles  Substrat  im  Sinne  der  LEiBNizschen  Monadologie 
zuläßt,    sie  jedoch  zurückweist  für  die  Erscheintmgswelt. 
Das  letzte  Element  der  Materie  ist  entweder  räumlich  aus- 
gedehnt oder  unausgedehnt.    Denken  wir  es  ausgedehnt,  so 
schließt  die  endliche  Ausdehnung  ein  Mannigfaltiges   der 
Anschauung  in  sich  —  also,  folgert  Kant,  auch  die  Not- 
wendigkeit weiterer  Teilbarkeit.    Die  Monade  dagegen 
kann  lediglich  als  eine  mögliche  konstitutive  Idee 
gelten  als  mögliche  Realität  der  intelligiblen  Welt.    Für  die 
Erscheinungswelt    ist   von   regulativer  Bedeutung 
lediglich  die  Idee  der  unendlichen  Teilbarkeit. 

In  den  Metaph.  Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft  sucht 
Kant  die  Behauptung  der  unendlichen  Teilbarkeit  noch  auf  anderem 
Wege  zu  begründen.  Sie  erscheint  dort  als  eine  Konsequenz  aus  der 
dynamischen  Auffassung  der  Materie.  Das  methodische  Prinzip, 
das  ihn  dabei  leitet,  ist  das  Prinzip  der  Bedingune  der  Möglichkeit 
der  Materie  als  eines  raumerfüllenden,  widerstenenaen  Mediums.  £s 
kann  hier  nicht  der  Ort  sein,  den  direkt  geführten  Beweis  sowie 
die  Widerlegung  der  -Hypothese"  des  Kraftzentrums  mit  endlicher 
Wirkungssphäre   eingehend   zu  prüfen  ■).     Wir  haben   dies   um   so 

*)  Met.  Anf.  d.  N.  W.,  S.  44.    Vgl.  Kr.  d.  r.  V.,  S.  423  f. 

')  Es  gelingt  Kant  tatsächlich  nicht,  die  Materie  restlos  in  Kräfte 
aufzulösen.  Tefls  operiert  er  inkonsequent  mit  einem  beweglichen 
Substrat,  an  dem  die  Kräfte  angreifen;  teils  substantiaüsiert  er  die 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  341 

weniger  nötig,  als  Kant  selbst  im  weiteren  Verlauf  der  Erörterungen 
daselbst  den  w'ert  seiner  Theorie  lediglich  darin  sieht,  daß  sie  als 
-eine  Mögliohkeit  der  anderen  Möglichkeit:  der  Atomistik 
gegenübergestellt  wird,  wodurch  die  letztere  auf  den  Wert  einer 
Kypothese  zurückgesetzt  wird,  während  sie  zuvor  als  anscheinend 
notwendige  Voraussetzung  den  Titel  eines  „Grundsatzes"  sich  an- 
maßen konnte^).  Methodische  Gesichtspunkte  verschiedener  Art  sind 
«6,  die  die  Kontinuitätsauffassung  empfehlen,  wobei  anderseits  ge- 
wisse Vorzüge  der  atomistischen  Aurfassung  anerkannt  werden,  die 
jener  wiederum  abgehen. 

So  bietet  in  der  Tat  die  Diskussion  Kanfs  über  die  Konstitution 
der  Materie  den  Anblick  eines  „Labyrinths^')  methodisch  ungleich- 
artiger Gesichtspunkte,  was  Kant  selbst  gelegentlich  zugesteht.  Der 
Satz  von  der  unendlichen  physischen  Teilbarkeit  der  Materie  erscheint 
einerseits  als  ein  voraussetzungsloses  regulatives  Vemunftprinzip  und 
gehört  darum  zu  den  Fragen,  die  schlechterdings  beantwortlicn  sein 
müssen;  sodann  erscheint  er  als  Folgerung  aus  der  d3mamischen  Auf- 
fassung der  Materie,  die  ihrerseits  wiederum  a  priori  deduziert  wird 
aus  der  Bedingung  der  Möglichkeit  der  Materie;  schließlich  aber 
erscheint  derselbe  lediglich  als  der  Ausdruck  einer  Kontinuitäts- 
hypothese,  die  gegenüber  der  atomistischen  Hypothese  gewisse  Vor- 
züge, wenngleich  auch  gewisse  Nachteile  aufzuweisen  hat. 

Soll  der  Bereich  voraussetzungsloser  Methode  niclit 
überschritten  werden,  so  können  wir  lediglich  die  bereits 
bezeichnete  Forschnngsmaxime  aufstellen :  „Wir  sollen  kein 
Element  der  Materie,  auf  das  wir  im  Fortgang  der  Erfahrung 
stoßen,  als  ein  absolut  letztes  konstantes  Element  auffassen, 
sondern  die  Möglichkeit  weiterer  Zerlegung  unbegrenzt 
offen  halten,  nicht  aber  ihre  Notwßndigkeit  be- 
haupten." 

Damit  ist  aber  das  Problem  der  Konstitution  der  Materie 
nicht  erschöpft.  Fassen  wir  die  objektiv-gegenständliche 
Seite  des  Problems  ins  Auge  mit  Rücksicht  auf  das  Ver- 
hältnis von  Idee  und  Hypothese.  Kant  selbst  erkennt  diese 
Seite  an,  wenn  er  einerseits  die  Monade  als  mögliche 
konstitutive  Idee  gelten  läßt,  anderseits  seine  Kontinuitäts- 
«ufifassung  als  mögliche  Hypothese  der  Atomistik  (in  der 
Gestalt  der  Theorie  der  Ejraftzentra  wie  in  der  Gestalt  der 


Kraft  seihst  in  unklarer  Weise,  so  z.  B.  wenn  er  davon  redet,  daß 
die  Kraft  wachse,  wenn  sie  auf  einen  kleineren  Baum  zusammen- 

fepreßt  werde,    wohei    offenbar  aus    der   Kraft   ein    elastischer 
lörper  gemacht  wird. 

>)  Metaph.  Anf.  d.  N.  W.,  S.  83. 
«)  Vgl.  a.  a.  0.  S.  48. 


342  Ernst  Lehmann: 

Korpuskulartheorie)  als  einer  ebenfalls  möglichen  Hypothese 
gegenüberstellt. 

Wie  gestaltet  sich  das  Verhältnis  von  Idee  und  Hypothese 
in  der  Atomistik?  Wir  sehen  dabei  von  ihren  besonderen 
Formen:  der  monadologischen  wie  der  korpuskulartheore- 
tischen ab.  Denn  es  wäre  durchaus  nicht  zutreffend,  die 
Frage  nach  dem  Unterschied  von  Idee  und  Hypothese  dahin 
zu  entscheiden,  daß  wir  der  unausgedehnten  und  darum 
anschauUch  nicht  darsteUbaren,  nur  dem  begriffHchen  Denken 
gegebenen  Monade  als  Kraflzentrum  die  Bezeichnung  einer 
Idee,  dem  ausgedehnt  gedachten  Atom  die  Bezeichnung 
einer  Hypothese  verleihen. 

Das  logische  Charakteristikum  der  Idee  ist  hier  wesentlick 
das  Moment  des  Unbedingten  und  nicht  lediglich  das 
des  wesentlich  bloß  Denkbaren,  anschaulich  nicht  Vor- 
stellbaren. Sofern  wir  im  Begriff  des  Atoms  als  wesent- 
liches Moment  den  Begriff  eines  letzten  konstanten,  un- 
zerlegbaren Elementes  der  äußeren  Erscheinungen  setzen, 
ist  das  Atom  eine  mögliche  konstitutive  Idee  nach 
dem  Sprachgebrauch  Kants.  Daß  die  qualitative  Ver- 
schiedenheit der  Materie  und  der  materiellen  Vorgänge  auf 
die  quantitativen  Verhältnisse  in  der  Anordnung  und  Be- 
wegung letzter  konstanter,  einfacher  Elemente  zurückgeftlhrt 
werden  könne,  ist  ein  durchaus  sinnvoller,  vollziehbarer 
Gedanke,  dessen  mögliche  konstitutive,  objektive 
Geltung  a  priori  zu  bestreiten  ebenso  dogmatistisch  ist, 
wie  die  Behauptung  der  absoluten  Gewißheit  der 
Existenz  solcher  letzten  Elemente  es  ist.  "Was  wir  a  priori 
aussagen  können,  ist  nur  dies  eine:  daß  eine  Verifikation 
der  Idee  des  Atoms  absolut  unmöglich  ist.  Begriffe  und 
Aussagen,  die  ein  schlechthin  Unbedingtes, 
Absolutes  aussagen,  sind  entweder  durch  sich 
selbst  verifiziert,  oder  sie  sind  es  gar  nicht.  Jn 
diesem  Sinne  ist  Kant  im  Recht,  wenn  er  es  als  unzulässig 
bezeichnet,  die  Existenz  der  durch  solche  Begriffe  und  Aus- 
sagen gedachten  Dinge  und  gegenständlichen  Beziehungen 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  343 

bloß  wahrscheinlich  zu  machen^).  Die  Idee  des  Atoms 
könnte  als  durch  sich  selbst  verifiziert  gedacht  werden, 
wenn  die  Schlußweise  der  Thesis  aus  dem  Begriff  des  Zu- 
sammengesetzten stichhaltig  wäre.  Diese  Schlußweise  trifft 
aber  derselbe  Vorwurf,  den  Kant  dem  ontologischen  Gottes- 
beweis macht.  Aus  bloßen  Begriffen  kann  niemals  die 
Existenz  von  Dingen  „ausgeklaubt"  werden.  Wir  müssen 
aus  dem  Begriff  herausgehen,  um  uns  von  seiner  objektiven 
Gültigkeit  im  Reich  der  Dinge  und  Tatsachen  zu  über- 
zeugen. Eine  Verifikation  durch  Erfahrung  ist  aber  gleicher- 
maßen unmöglich  infolge  des  Momentes  des  Absoluten  in 
der  Idee  des  Atoms.  Nicht,  weil  im  "Wesen  der  räumlichen 
Anschauung  das  Moment  der  Mannigfaltigkeit  unaustilgbar 
gesetzt  ist,  ist  die  Existenz  letzter  konstanter  Elemente 
unmöglich  •,  sondern :  weil  wir,  wie  es  die  Idee  der  Totalität 
und  die  aus  ihr  entsprungene  Maxime  erheischt,  stets  die 
Möglichkeit  absolut  offen  halten  müssen,  deiß  das,  was  wir 
auf  dem  derzeitigen  Standpunkt  als  einfach  ansehen,  einer 
fortgeschritteneren  Erfahrung  als  zusammengesetzt  sich 
erweist,  ist  eine  Verifikation  der  Idee  des  Atoms  durch 
seinen  Begriff  ausgeschlossen.  Gesetzt  auch,  wir  stießen 
im  Fortgang  der  Naturerkenntnis  auf  die  objektiven  letzten, 
konstanten,  einfachen  Elemente  des  äußeren  Geschehens  — 
eine  Möglichkeit,  die  a  priori  nicht  ausgeschlossen  ist  — , 
80  würden  diese  von  dem  Augenblick  an  die  bleibenden 
Ausgangspunkte  unserer  wissenschaftlichen  Forschung  sein ; 
alle  weitere  Forschung  bestünde  nur  in  der  Erforschung  der 
verschiedenartigen  Anordnung  dieser  Elemente  und  in  der 


')  In  WüNDTs  System  der  Philosophie  ist  diese  scharfe  Trennung 
von  Idee  und  Hypothese  wieder  aufgegeben,  indem  Wundt  ein  Gebiet 
„bleibender  Hypothesen '^  (a.  a.  0.  S.  192)  behauptet,  in  denen  letzte 
Aussagen  in  hypothetischer  Form  versucht  werden.  Die  Philosophie 
habe,  meint  Wcndt,  dasselbe  Becht,  Hypothesen  zu  bilden  wie  die 
empirische  Einzelwissenschaft.  Die  wissenschaftliche  Hypothese  muß 
indes  letztlich  ihre  Existenzberechtigung  daran  erweisen,  daß  sie  zur 
Auffindung  neuer  Tatsachen  dient:  das  aber  ist  bei  metaphysischen 
Hypothesen,  die  letzte  Aussagen  sein  wollen,  eben  durch  ihre  Natur 
ausgeschlossen.  —  Kant  dürfte  mit  seiner  scharfen  Trennung  im  Kecht 
bleiben. 


344  Ernst  LeLmann: 

Auffindung  der  ihre  Bewegung  beherrschenden  mathematisch 

formulierbaren  Gesetze.  Dennoch  hätten  wir  kein  Kriterium, 

um  konstatieren   zu  können,   ob  die  so  gefundenen  letzten 

Elemente  wirklich   dies  im  absoluten  Sinn  seien,  indem 

für  unserBewußtsein  dauernd  die  Möglichkeit  bestehen 

bleibt,  daß  künftig  einmal  neue  Erfahrungen  diese  Elemente 

als  komplexe  Größen  erweisen  werden. 

Operieren  wir  in  der  mathematischen  Physik  mit  atomistischon 
Vorstellungen,  so  ist  allerdings  per  definitionem  das  Moment  des 
absolut  einfachen  Elements,  z.  B.  des  „Massenpunktes^,  gesetzt; 
diese  Einheiten  sind  dann  aber  lediglich  mathematisoh-begriffliche 
Abstraktionen,  deren  Brauchbarkeit  keinen  Hückschluß  gestattet  auf 
die  objektive  Existenz  der  bezeichneten  Elemente;  sie  existieren  nur 
in  der  mathematischen  Analyse  ^). 

„Nehmet  an,"  so  sagt  Kant,  „die  Natur  sei  ganz  vor 
euch  aufgedeckt  .  .  .,  so  werdet  ihr  doch  durch  keine 
einzige  Erfahrung  den  Gegenstand  eurer  Ideen  in  concreto 
erkennen  können;  denn  es  wird  außer  dieser  vollständigen 
Anschauung  noch  eine  vollendete  Synthesis  und  das  Be- 
wußtsein ihrer  absoluten  Totalität  erfordert, 
welches  durch  gar  kein  empirisches  Erkenntnis  möglich  ist."  ^) 
So  wenig  der  Beweis  der  Antithesis  gegen  die  Existenz 
der  Atome  aus  der  Teilbarkeit  des  Raumes,  den  sie  ein- 
nehmen sollen,  befriedigt,  so  ist  doch  der  Beweis,  den 
Kant  für  die  Unmöglichkeit  des  Beweises  ihrer  Existenz 
daselbst  liefert,  absolut  streng  und  in  dem  Wesen  der  Idee 
des  Atoms  als  einer  absolut  letzten  Einheit  begründet.  „Da 
(nun)  von  dem  Nichtbewußtsein  eines  solchen  Mannigfaltigen 
(wir  fügen  interpretierend  hinzu :  auf  dem  jeweiligen  Stand- 
punkt unserer  Naturerkenntnis)  auf  die  gänzliche  Unmöglich- 
keit desselben  in  irgendeiner  Anschauung  eines  Objekts  kein 
Schluß  gilt,  dieses  letztere  aber  zur  absoluten  Simplizität 


*)  Vgl.  PüiNCAnfe,  Wissenschaft  und  Hypothese,  S.  154:  „In  den 
meisten  Fragen  setzt  der  Analytiker  im  Anfang  seiner  Berechnung 
entweder  voraus,  daß  die  Materie  kontinuierlich  ist,  oder  daß  sie  aus 
Atomen  zusammengesetzt  sei.  Er  könnte  das  Umgekehrte  tun,  und 
seine  Resultate  würden  sich  deshalb  nicht  ändern  .  .  .  Wenn  also 
das  Experiment  seine  Schlußfolgerungen  bestätigt,  wird  er  dann 
z.  B.  glauben,  die  wirkliche  Existenz  der  Atome  bewiesen  zu  haben  ?^ 

«)  Kr.  d.  r.  V.,  S.  895  f. 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  345 

durchaus  nötig  ist,  so  folgt:   daß  diese  aus  keiner  Wahr- 
nehmung .  .  .  könne  geschlossen  werden"  *). 

Nicht  in  der  Eigenart  der  Baumanschauung, 
nein  in  der  prinzipiell  erkannten  Unabgeschlossen- 
heit  unserer  Wissens chaftlicJien  Erfahrung  liegt 
die  Unmöglichkeit  —  nicht  der  Existenz  der 
Atome  — ,  sondern  des  Beweises  ihrer  Existenz 
begründet. 

Dagegen  können  wir  der  Idee  des  Atoms  eine  regulative 
Bedeutung  zuerkennen ,  sofern  wir  unter  ihrer  Anleitung 
bestrebt  sind,  alle  qualitative  Verschiedenheit  des  materiellen 
Substrats  und  der  materiellen  Vorgänge  auf  quantitative 
Beziehungen  zwischen  gleichartigen  konstanten  Elementen 
zurückzuführen.  Dabei  fügen  wir  hinzu:  „so  weit  als 
möglich".  Indem  wir  dies  tun,  machen  wir  keine  be- 
stimmte Voraussetzung  über  das  objektive  Vorhandensein 
solcher  letzter  Elemente;  vielmehr  stellen  wir  damit  nur 
eine  heuristische  Maxime  auf,  mit  der  wir  an  das  Studium 
der  Natur  herantreten,  und  deren  Empfehlung  liegt  in  der 
gröfitmöglichen  Ordnung  und  Übersicht  über  die 
Mannigfaltigkeit  der  Naturerscheinungen,  die  unser  Einheits- 
bedürfiiis  —  oder  wenn  man  will:  unser  Streben  nach 
intellektueller  Naturbeherrschung  —  fordert. 

Sofern  es  gelingt,  bestimmte,  uns  bisher  bekannt  ge- 
wordene Verschiedenheiten  der  Materie  durch  die  Annahme 
relativ  letzter  Elemente  —  chemischer  Atome,  Elektronen  — 
zu  erklären,  gewinnt  das  Atom  als  relativ  letzte  Einheit 
die  Bedeutung  einer  Hypothese.  Hier  bleibt  das  Interesse 
lediglich  auf  die  zu  erklärenden  bestimmten  Erscheinungen 
gerichtet.  Die  zur  Erklärung  gemachten  Voraussetzungen 
haben  nur  als  solche,  d.  h.  einen  relativen  Wert,  um  so 
mehr,  wenn  es  sich  zeigt,  daß  andere  Voraussetzungen 
möglich  sind. 

Das  spesdelle  Problem,  dem  die  atomistische  Hypothese  auf  dem 
Standpunkt  der  Naturwissenschaft  Kants  dient,  ist  die  Verschiedenheit 
der  Dichte  der  Materie.   Diese  wird  erklärt  durch  die  verschiedene 


')  Kr.  d.  r.  V.,  S.  368. 


346  Ernst  Lehmann: 

Anordnung  und  Verteilung  absolut  dichter  Korpuskeln  im  absolut- 
leeren  Baum.  Diese  Annahme  genügt ,  wie  Kamt  selbst  zugibt,  dem. 
ersten  Kriterium  einer  brauchbaren  Hypothese,  demgemäß  die  hypo* 
thetischen  Elemente  anschaulich  konstruierbar,  „möglich''  im  syn- 
thetischen Sinn  der  -Kritik"  sein  müssen.  „Die  Möglichkeit  der  Ge- 
stalten sowohl  als  der  leeren  Zwischenräume  läßt  sich  mit  mathe- 
matischer Evidenz  dartun."')  Die  Korpuskularhypothese  gestattet 
die  spezifische  Verschiedenheit  der  Dichte  zu  „konstruieren"  *).  (Es- 
ist  bekannt,  daß  die  atomistische  oder  besser:  die  KorpueJcular- 
hypothese  denselben  Dienst  in  weit  fruchtbarer  Weise  in  der  neueren 
Diszi]}lin  der  Stereo  chemie  leistet.)  Das  von  Ejlnt  allein  gebrauchte 
Beispiel  der  Anwendung  zeigt  indes  auch  schon  deutlich  den  Unter- 
schied von  Idee  und  Hypothese.  Zur  Erklärung  der  Verschiedenheit 
der  Dichte  genügt  es  vollkommen,  das  Moment  des  Absoluten  auf  die 
Dichte  allein  zu  beziehen.  Weder  die  Annahme  der  Gleichartigkeit 
des  materiellen  Substrats  noch  viel  weniger  die  Annahme  der  physischen 
Unteilbarkeit  der  absolut  dichten  Korpuskeln  ist  durch  das  spezielle 
Problem  gefordert.  Der  Naturerklärung  genügt  stets  die  Annahme 
relativ  letzter,  relativ  konstanter  Elemente. 

Das  Atom  wird  wieder  zur  Idee,  sobald  es  gedacht 
wird  als  „Erklärung  einer  ins  Unendliche  möglichen 
spezifischen  Verschiedenheit  der  Materie"*). 

Wie  gestaltet  sich  nun  das  Verhältnis  von  Idee  und  Hypo- 
these in  bezug  auf  die  Kontinuitätsauffassung,  im  be- 
sonderen die  dynamische  Kants  ?  Für  Kant  hat  die  Idee  der 
unendlichen  Teilbarkeit  die  Bedeutung  eines  regulativen 
Prinzips.  "Wir  sahen,  daß  als  Forschungsmaxime  zunächst 
nur  die  Forderung  gelten  kann,  daß  wir  die  Möglichkeit 
weiterer  Teilung  unbegrenzt  offen  halten  sollen.  Damit  ist 
also  die  Möglichkeit  einer  kontinuierlichen  Beschaffen- 
heit der  Materie  ebenfalls  offen  gehalten.  Im  Recht  bleibt 
Kant  aber,  wenn  er  in  der  Kritik  die  Brauchbarkeit  der 
Kontinuitäts i d e e  als  Erklärungshypothese  bestreitet. 
„Ihr  würdet  die  Erscheinungen  eines  Körpers  nicht  im 
mindesten  besser  oder  auch  nur  anders  erklären  können^ 
ob  ihr  annehmt,  er  bestehe  aus  einfachen  oder  durchgehends 
immer  aus  zusammengesetzten  Teilen;  denn  es  kann  auch 
keine  einfache  Erscheinung  und  ebensowenig  auch  eine^un- 
endliche  Zusammensetzung  jemals  vorkommen."  *)  —  Fassen 


M  Met.  Anf.  d.  N.  W.,  S.  84. 
2)  A.  a.  0.  S.  85. 
»)  A.  a.  0.  S.  100. 
*)  Kr.  d.  r.  V.,  S.  396. 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  347 

wir  die  besondere  Gestalt  der  Kontinuitätsauffassung :  die 
dynamische  der  „Metaph.  Anf.gründe  der  Nat. Wissen- 
schaft*" ins  Auge,  so  zeigt  sich,  daß  es  letztlich  gewisse 
methodische  Motive  sind,  die  Kant  zur  Aufstellung  seiner 
dynamischen  Theorie  veranlassen;  nur  sekundär  ist  ihre 
Verwendung  als  Erklärungshypothese.  Die  Ver- 
schiedenheit der  Dichte  der  Materie  läßt  sich  aus  der  Ver- 
schiedenheit der  Intensitätsgrade  der  repulsiven  Kräfte,  die 
das  Wesen  der  Raumerfüllung  ausmachen,  erklären.  Doch 
sieht  auch  Kant,  daß  eine  fruchtbare  Verwendung  dieser 
Ansicht  zur  Erklärung  der  Einzelerscheinungen  nicht  möglich 
ist,  indem  sie  nicht  gestattet,  die  Verschiedenheit  des 
materiellen  Substrats  anschaulich  zu  konstruieren.  Die 
dynamische  Ansicht  genügt  also  letztlich  auch  nicht  dem 
ersten  Kriterium  der  Hypothese:  der  „Möglichkeit"  der 
hjrpothetischen  Elemente.  Die  „Möglichkeit"  der  örund- 
kräfte  kann  nicht  eingesehen  werden;  sie  sind  als  solche 
ia  keiner  möglichen  Wahrnehmung  gegeben  und  lassen  sich 
in  keiner  Anschauung  konstruieren,  während  die  Möglichkeit 
absolut  dichter  Korpuskeln  und  der  absolut  leeren  Zwischen- 
räume sich  mit  „mathematischer  Evidenz"  konstruieren  läßt. 
Wir  hoben  denn  auch  bereits  hervor,  daß  Kant  unvermerkt 
anschauUche  Elemente  einfließen  läßt,  indem  ihm  die  repulsive 
Kraft  unter  der  Hand  zu  eiaem  repulsive  Kraft  ausübenden 
elastischen  Körper  wird,  dessen  Widerstand  durch  Kom- 
pression wächst.  Die  methodischen  Motive,  die  zu 
dem  Versuch  der  dynamischen  Theorie  fuhren,  treten  am 
deutüchsten  in  der  &itik  der  mechanischen  Korpuskular- 
theorie  zutage.  Letztere,  so  fährt  Kant  aus,  gestattet  .der 
Phantasie  in  der  ursprünglichen  Konfiguration  des  Grund- 
stoffs und  der  Einstreuung  leerer  Bäume  mehr  Freiheit  im 
Felde  der  Philosophie,  „als  sich  wohl  mit  der  Behutsamkeit 
der  letzteren  zusammenreimen  läßt^  ^).  Deshalb  ist  einer 
Auffassung,  die  solches  Hypothesenspiel  entbehrlich  macht, 
der  Vorzug  zu  geben.    Damit  hängt  zusammen  das  andere. 


»)  Met.  Anf.  d.  N.  W.,  S.  85. 


348  Ernst  Lehmann: 

methodische  Prinzip,  demgemäß  die  Vemunft  bestrebt  ist, 
nach  Möglichkeit  absolute  und  darum  beziehungslose  Größen 
in  relative  Beziehungen  aufzulösen.  „Das  absolut  Leere 
und  das  absolut  Dichte  sind  in  der  Naturlehre  ohngefakr 
das,  was  der  blinde  Zufall  und  das  blinde  Schicksal  in  der 
metaphysischen  Weltwissenschaft  sind,  nämlich  ein  Schlag- 
baum für  die  herrschende  Vernunft"^).  Die 
absolute  Undurchdringlichkeit  ist  eine  „qualitas  occulta"  *), 
an  deren  Stelle  die  dynamische  Auffassung  relative  Un- 
durchdringlichkeit und  damit  die  Möglichkeit  setzt,  Be- 
ziehungsgesetze aufzustellen,  nach  denen  „der  Widerstand 
in  dem  erfüllten  Baume  (seinen)  Graden  nach  abgeschätzt 
werden  kann**^).  Die  „dynamischen  Erklärungsgründe" 
verdienen  also  den  Vorzug,  „weil  diese  allein  bestimmte 
Gesetze,  folglich  wahren  Vemunftzusammenhang  der  Er- 
klärungen hoffen  lassen"  *). 

Daß  aber  gerade  die  atomistische  Vorstelluiig  in  der  Entwicklung 
der  exakten  Naturwissenschaften  nach  Kant  ein  äußerstes  fruchtbares 
Hilfsmittel  zur  Auffindung  von  Gesetzen  liefern  sollte,  konnte  ELaxt 
auf  dem  damaligen  Standpunkte  der  Naturwissenschaft  nicht  ahnen. 

So  wenie  auch  das  iCANTSche  Prinzip  der  Deduktion  aus  der 
.Möglichkeit  der  Materie''  in  seiner  apriorisch-apodiktischen  Form  als 
Grundlage  einer  Naturphilosophie  heute  von  Bedeutung  sein  kann, 
so  ist  doch  gerade  das  zuletzt  bezeichnete  methodische  Grundmotiy 
ein  eminent  modernes  und  erinnert  an  die  methodische  Auffassung 
Mach8,  der  Beziehungsgesetze  an  die  Stelle  absoluter  Substanzen 
gesetzt  haben  will  und  gleich  Kakt  die  Atomistik  als  phantastisch 
T^erwirft.  Es  ist  hier  indes  nicht  der  Ort,  die  Berechtigung  bzw.  die 
Grenzen  der  Berechtigung  dieses  Prinzips  zu  diskutieren. 

Es  hat  sich  uns  gezeigt,  daß  in  den  Erörterungen  Kants 
über  das  Problem  der  Konstitution  der  Materie  methodisch 
sehr  ungleichartige  Betrachtungsweisen  in  zum  Teil  sehr 
unklarer  Weise  ineinander  verwoben  sind.  Heben  wir  in 
kurzen  Zügen  das  ßesultat  hervor:  Wir  unterscheiden  an 
dem  Problem  wiederum  eine  methodische  und  eine  gegen- 
ständlich-faktische Seite. 

Als  methodische  Prinzipien  ergaben  sich: 


^)  A.  a.  0.  S.  99. 
«)  A.  a.  0.  S.  41. 
»)  A.  a.  0.  S.  42. 
<)  A.  a.  0.  S.  104. 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  34^ 

1.  die  einzig  voraussetzun^slose  Maxime,  die  aus  der 
Idee  der  Totalität  entspringt:  „Wir  sollen  kein  Element  der 
Materie,  auf  das  wir  im  Fortgang  der  Naturerkenntnis, 
stoßen,  für  ein  absolut  letztes,  konstantes,  imzerlegbare& 
halten,  vielmehr  die  Möglichkeit  weiterer  Zerlegung  un- 
begrenzt offenhalten."  —  Dieses  Prinzip  steht  den  be- 
sonderen Anschauungen  über  die  Konstitution  der  Materie^ 
völlig  indifferent  gegenüber. 

2.  Dem  Streben  nach  möglichster  systematischer  Ein* 
heit  entspricht  der  Grundsatz:  „Wir  sollen  die  qualitative 
Verschiedenheit  der  Materie  und  materiellen  Vorgänge  so 
weit  als  möglich  in  quantitative  Verhältnisse  der  Anzahl, 
Gestalt,  Lage  und  Bewegung  einfacher  Elemente  aufzulösen 
suchen."  Insofern  die  Atomistik  diesem  Streben  diente 
ist  sie  das  Symbol  einer  heuristischen  Forschungsmaximer 
die  an  sich  nicht  voraussetzungslos  ist,  weshalb  wir  hinzu- 
setzen: „so  weit  als  möglich",  d.  h.  so  weit  es  die 
empirische  Bestimmtheit  der  Naturerscheinungen 
zuläßt,  wobei  a  priori  wieder  gewiß  ist,  daß  wir  niemals 
solche  absolute  Gh-enzen  der  Möglichkeit  quantitativer 
Auflösung  konstatieren  können;  für  uns  bleibt  diese  Möglich- 
keit unbegrenzt  offen. 

3.  Die  Behauptung  absoluter  Größen  imd  Eigenschaften 
ist  mit  äußerster  Vorsicht  nur  zu  wagen.  Es  bleibt  immer 
zu  erwägen,  ob  sie  nicht  ein  willkürliches  Abbrechen  mög- 
licher Einsicht  „einen  Schlagbaum  für  die  Vernunft"  be- 
deutet. Wo  es  gelingt,  absolute  Größen  in  relative  auf- 
zulösen, ist  einem  solchen  Versuch  der  Vorzug  zu  geben  ^ 
denn  die  Geschichte  der  Wissenschaft  zeigt  genügend  Bei- 
spiele solcher  willkürlicher  „Machtsprüche"  ^),  die  von  einer 
fortschreitenden  Erkenntnis  als  solche  erkannt  wurden. 
Diesem  methodischen  Grundsatz  dient  ICants  Versuch  einer 
dynamischen  Theorie  mit  ihrer  Auflösung  absoluter  Sub- 
stanzen und  deren  absoluten  Eigen  schafben  in  Kräfte  und 
gesetzmäßige  Beziehungen. 


>)  Vgl.  Kr.  d.  r.  V.,  S.  535. 


350  Ernst  Lehmann: 

IL  Das  gegenständliche  Problem  teilt  sich  wieder 
in  zwei  spezielle  Probleme: 

1.  Die  Atomistik  im  besonderen  ist  eine  Hypothese 
und  bezieht  sich  auf  mögliche  Gegenstande  der  Erfahrung, 
sofern  wir  Anlaß  haben,  eine  bestimmte  Erscheirnrngs- 
gruppe  zurückzufahren  auf  die  quantitativen  Verhältnisse 
relativ  einfacher  konstanter  Elemente.  (Als  solche  galten 
die  chemischen  Elemente,  so  lange  bis  die  Überfuhrbarkeit 
derselben  ineinander  und  ihre  komplexe  Beschaffenheit  in 
den  Bereich  der  Erfahrung  trat.) 

2.  Das  Atom  bezeichnet  eine  mögliche  konstitutive 
Idee,  indem  es  die  objektive  Möglichkeit  absolut  letzter, 
konstanter,  unzerlegbarer  Elemente  der  äußeren  Vorgänge 
bezeichnet.  Daß  der  empirische  Begressus  der  Auflösung 
komplexer  Naturerscheinungen  objektiv  begrenzt  ist,  ist  eine 
a  priori  ebenso  zulässige  Annahme  wie  die  Annahme,  daß 
derselbe  unbegrenzt  sei.  Das  absolute  Kontinuum  —  etwa 
nach  Art  der  Theorie  W.  Thomsons  —  wie  die  letztlich 
diskontinuierliche  Beschaffenheit  des  materiellen  Substrats 
bezeichnen  zwei  gleichberechtigte  Möglichkeiten,  die  ihrer 
Natur  nach  aber  dem  Gebiet  mehr  oder  weniger  wahr- 
scheinlicher Hypothesen  absolut  entrückt  sind.  Solche 
Ideen  können  nicht  als  philosophische  Hypothesen  mehr 
oder  weniger  wahrscheinlich  gemacht  werden.  Idee  und 
Hypothese  verhalten  sich  wie  das  Unbedingte  zum  Be- 
dingten. 

4.  Die  Ideen  des  durchgängigen  Kausalzusammenhangs, 
der  Homogeneltät ,  Spezifikation,  Kontinuität  und  Nator- 

zweckmäfslgkelt. 

Die  Ideen,  die  wir  im  folgenden  auf  ihre  methodische 
Bedeutung  und  den  Grad  ihrer  Unabhängigkeit  von 
Voraussetzungen  gegenständlich -faktischer  Natur  prüfen 
wollen,  sind  im  eminenten  Sinne  regulative,  heuristische 
Prinzipien. 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  351 

a)  Die  Idee  des  durchgängigen  Kausalzusammen- 
hanges. 

Die  Idee  des  durchgängigen  Kausalzusammenhanges 
fugt  dem  Gedankengehalt  der  Kategorie  der  Kausalität  nichts 
Neues  hinzu.  In  der  Konzeption  dieser  Idee  findet  lediglich 
ein  Bewußtwerden  der  Eigenart  der  Verstandesfunktion  der 
Kausalität  statt.  Indem  der  Kausalbegriff  nach  Kant  die 
Bedingung  der  Möglichkeit  einer  objektiven  Sukzession  ist 
und  als  solche  erkannt  wird,  ist  die  unbedingte  Geltung 
im  Feld  der  Erscheinungen  in  ihrer  (ganzen)  Totalität 
mitgesetzt.  Die  unbedingte  Allgemeingültigkeit  in 
der  Totalität  aller  zeitlichen  Vorgänge  ist  nur  die  logische 
Folge  der  Notwendigkeit  der  kausalen  Verknüpftmg 
im  einzelnen  Fall.  Die  Idee  des  durchgängigen  Kausal- 
zusammenhangs erscheint  daher  dem  Grundsatz  der  Kant- 
sehen  Ideenlehre  in  eminentem  Sinn  zu  entsprechen,  daß 
die  Vernunft  in  der  Bildung  der  Ideen  lediglich  mit  sich 
selbst  beschäftigt  ist,  indem  der  Gegenstand  außer  dem  Begriff' 
nicht  angetroffen  wird.  Die  Idee  des  Kausalzusammenhangs 
biigt  also  danach  kein  gegenständliches  Problem;  vielmehr 
wird  uns  die  Natur  in  ihrem  Licht  allererst  ein  objektiver 
Gegenstand,  während  sie  ohne  dieselbe  ein  Spiel  von  Vor- 
stellungen ist,  „weniger  als  ein  Traum".  —  Es  kann  hier 
nicht  eine  eingehende  Kritik  der  KANTschen  Kausalitätstheorie 
gegeben  werden.  Doch  erheben  sich  gerade  unter  den 
Gesichtspunkten  unserer  Untersuchung  bestimmte  Fragen. 

Nach  Kants  eigener  Lehre  kann  die  „unermeßliche 
Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  aus  der  reinen  Form 
der  sinnlichen  Anschauung  nicht  begriffen  werden*).  Die 
Bestimmtheit  der  Koexistenz  und  Sukzession  gehört  auf  die 
Seite  der  Materie  der  Erscheinung.  Das  gilt  auch  von 
der  sukzessiven  Mannigfaltigkeit  im  besonderen.  Wenn 
BiEHL  *)  meint,  daß  Kant  selbst  diesen  Unterschied  zwischen 
Materie  und  Form  auch  bezüglich  des  Kausalprinzips  aufrecht- 


M  Kr.  d.  r.  V.,  S.  135. 
«)  A.  a.  0.  S.  417  f. 


252  Ernst  Lehmann: 

erhalte,  so  trifft  dies  nicht  zu.  Riehl  meint,  fär  Kant  bleib» 
die  Möglichkeit  durchaus  bestehen,  daß  allenfalls  Er- 
scheinungen so  beschaffen  seien,  daß  der  Verstand  sie  den. 
Bedingungen  seiner  Einheit  ga<r  nicht  gemäß  fände,  indem 
„alles  so  in  Verwirrung  läge,  daß  z.  B.  in  der  Reihenfolge 
der  Erscheinungen  sich  nichts  darböte,  was  eine  Regel  der 
Synthesis  an  die  Hand  gäbe  und  also  dem  Begriff  der  Ur- 
sache und  Wirkung  entspräche"  *).  Hier  übersieht  Riehl, 
daß  die  Erörterung  dieser  Möglichkeit  der  transzendentalen 
Deduktion  der  KÄtegorien  vorangeht,  welche  alsdann 
jene  Möglichkeit  beseitigt.  Sachlich  aber  müssen  wir 
Riehl  zustimmen,  wenn  er  meint,  damit,  daß  das  Prinzip 
der  Kausalität  sich  als  unentbehrlich  beweisen  lasse  zur 
Herstellung  von  Wissenschaft,  sei  seine  objektive  Gültig- 
keit im  Reich  der  Dinge  und  Tatsachen  noch  nicht  verbürgt. 
Riehl  fragt  mit  Recht:  „Müssen  denn  die  Erscheinungen 
begreiflich  sein?"*)  Jene  von  BIant  als  vorläufig  hin- 
gestellte Möglichkeit  bleibt  bestehen;  sie  kann  auch  durch 
keine  transzendentale  Methode  aus  der  Welt  geschaflfti  werden* 
Denn  die  Sukzession  ist  stets  eine  bestimmte,  und  darum 
auch  die  regelmäßige  Sukzession.  Wäre  die  bestimmte 
Sukzession  völlig  chaotisch,  so  würde  die  kausale  Synthesis 
keine  Gelegenheit  zur  Entfaltung  haben.  Die  Idee  des 
durchgängigen  Kausalzusammenhangs  involviert  also  eine 
Voraussetzung  faktischer  Natur.  Die  Autonomie  der 
Vernunft  als  Inbegriff  der  Methoden  der  Erkenntnis  erschöpft 
sich  also  in  der  Konzeption  der  Idee  des  durchgängigen 
Kausalzusammenhangs  als  eines  Postulates.  A  priori 
läßt  sich  nur  zeigen:  1.  daß  dasselbe  nicht  aus  Erfahrung 
bewiesen  werden  kann;  diese  zeigt  nur  komparative  All- 
gemeinheit, und  sie  wiederum  könnte  zufällig  sein,  2.  daß 
dieses  Postulat  aber  ebensowenig  durch  Erfahrung  je  wider- 
legt werden  kann;  denn  träte  unter  denselben  objektiven 
Bedingungen  eine  bisher  beobachtete  Erscheinung  einmal 


')  Kr.  d.  r.  V.,  S.  107  f. 
•)  RiBHL  a.  a.  0.  S.  258. 


Idee  nnd  Hypothese  bei  Kant.  353 

nicht  ein,  so  hätten  wir  doch  nicht  die  Möglichkeit  zu  ent- 
scheiden, ob  dieses  Ausbleiben  nicht  dnrch  eine  neue  uns 
unbekannte  Bedingung,  die  hier  im  Spiel  ist,  veranlaßt 
sein  könnte,  ob  also  wirklich  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
Bedingungen  erfüllt  sind  als  in  den  früher  beobachteten 
Fällen ;  3.  erkennen  wir  a  priori,  daß,  trotzdem  das  Kausal- 
gesetz weder  streng  verifiziert  noch  auch  je  widerlegt  werden 
kann,  dasselbe  dennoch  die  notwendige  Bedingung  der 
Möglichkeit  wissenschaftlicher  Erfahrung  ist. 

Die  bezeichnete,  an  die  faktische  Regelmäßigkeit  im 
Reich  der  gegebenen  bestimmten  sukzessiven  Mannigfaltig- 
keit geknüpfte  Voraussetzimg  der  Oültigkeit  des  Kausal- 
postnlates  zum  Gegenstand  einer  Hypothese  zu  machen, 
wäre  dabei  offenbar  völlig  sinnlos.  Es  wäre  eine  völlig 
müfiige  Hypothese,  die  als  solche  weder  verifiziert,  noch 
widerlegt  werden  könnte  und  zur  Erklärung  der  beobachteten 
Regelmäßigkeit  nichts  beibringen  würde. 

b)   Die   Ideen  der  Homogeneität,    Spezifikation 

und  Kontinuität, 

Die  Idee  des  Kausalzusammenhanges  war  ftir  Kant  von 
apodiktischer  Gültigkeit.  Sie  bietet  das  Beispiel  eines 
„apodiktischen  Vemunftgebrauchs ,  da  das  Allgemeine  an 
sich  selbst  gewiß  ist  und  das  Besondere  nur  daraus  ab- 
geleitet zu  werden  braucht"  *).  Demgegenüber  sieht  auch 
Kant  in  den  Ideen  der  Homogeneität,  Spezifikation  und 
Kontinuität  regulative  Ideen  von  unbestimmter  Trag- 
weite ihrer  Geltung  im  Reich  der  Tatsachen  •,  sie  sind  Bei- 
spiele eines  „hypothetischen"  Vemunftgebrauches.  Wir 
sollen  an  ihrem  Leitfaden  „so  weit  als  möglich"  in  die  Er- 
scheinungen eindringen.  —  Die  Idee  der  Homogeneität 
fordert  uns  auf,  so  weit  als  möglich  Ungleichartiges  auf 
Gleichartiges  zurückzufuhren.  Das,  was  wir  oben  als 
regulative  Idee  der  Atomistik  bezeichneten,  wäre  also  ein 
Spezialfall'  der  Idee   der  Homogeneität.  —  Die  Forderung 

»)  Kr.  d.  r.  V.,  S.  505. 

ViertelJahrsMhrift  f.  wUsenschuf tl.  PhUo«.  u.  Soziol.  XXXII.  2.  28 


354  Ernst  Lehmann: 

gipfelt  in  der  Idee  eines  GhnindstoflPes  und  einer  Gmndkraft, 
auf  die  wir  die  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen,  so  weit 
als  möglich,  zurückführen  sollen.  In  welchem  Ver- 
hältnis steht  die  Idee  der  Homogeneität  zur  Bestimmtheit 
gegebener  Erscheinungen?  Es  bestünde  die  Möglichkeit, 
in  ihr  lediglich  den  Ausdruck  eines  denkökonomischen 
Grundsatzes*)  zu  erblicken.  Aber,  so  fragt  Kant,  würde 
man  damit  nicht  vielleicht  eine  Idee  an  die  Natur  heran- 
tragen, die  ihrer  Einrichtung  widerspräche*)?  Eine 
wenigstens  relative,  begrenzte  Gleichartigkeit  in  den  Er- 
scheinungen muß  als  Bedingung  der  MögHchkeit  empirischer 
Begriffe  der  Arten  und  Gattungen  vorausgesetzt  werden. 
Das  Faktum  dieser  empirischen  Begriffe  wäre  nicht  möglich, 
wenn  die  Natur  nicht  eine  solche  relative  Vergleichbarkeit 
ihrer  Erscheinungen  aufwiese.  In  diesem  Sinn  kann  eine 
relative  Homogeneität  als  Bedingung  der  Möglichkeit  der 
Erfahrung  angesehen  werden.  Wie  weit  dieselbe  aber 
reicht,  läßt  sich  a  priori  nicht  sagen.  Wir  bilden  die  Idee 
des  Grundstoffs  und  der  Grundkraft,  indem  wir  die  relative 
Gleichartigkeit,  die  wir  in  der  Natur  finden,  in  Gedanken 
zu  einer  absoluten  machen.  Sie  entsteht  also  auf  Ver- 
anlassung der  bestimmten  Beschaffenheit  der  gegebenen 
Mannigfaltigkeit.  Sie  bezeichnet  eine  voraussetzungs- 
lose Forschungsmaxime,  sofern  wir  den  Zusatz 
machen:  „soweit  als  möglich".  Sie  bezeichnet  eine  mög- 
liche konstitutive  Idee,  sofern  wir  den  Gedanken 
vollziehen  können,  daß  die  absolute  Einfachheit  des  Grund- 
stoffs und  der  Grundkrafb  ein  objektives  Gesetz  der  Natur 
ist.  Wiederum  schließt  aber  das  Moment  des  Absoluten 
die  Anwendbarkeit  des  Begriffes  der  Hypothese  aus, 
indem  es  absolut  ungewiß  bleibt,  ob  die  Natur  absolut 
einfach  ist  oder  nicht*).    Die  Naturwissenschaft  operiert  in 


»)  Kr.  d.  r.  V.,  S.  507. 

«)  A.  a.  0.  S.  508. 

^  Die  fortschreiten do  Naturerkenntnis  zeiget  häufig,  daß  früher 
aufe^estellte  Gesetze  nur  sehr  annähernd  gttltig  sind,  dafi  sie  den 
Sachverhalt  zu  einfach  erscheinen  ließen;  ^isätze,  Einschränkungen 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  355 

ihren  Hypothesen,  sofern  sie  wissenschaftHch  brauchbar 
sind,  nur  mit  einer  relativen  Gleichartigkeit 5  so  vereinigt 
sie  gegenwärtig  die  Gebiete  der  Optik  und  Elektrizität  zu 
einem  Gebiet  qualitativ  gleichartiger  Erscheinungen,  deren 
Unterschiede  nur  quantitativer  Natur  sind.  Die  Ideen  eines 
Grundstoffes  und  einer  Grundkraft  dagegen  sind  ihrer 
Natur  nach  unverifizierbar ,  ebenso  freilich  auch  unwider- 
legbar. 

Ergänzt  wird  die  Idee  der  Homogeneität  durch  die  der 
Spezifikation.  Sie  schränkt  die  erstere  ein,  indem  sie 
einer  voreiligen,  imberechtigten  Vereinfachung  entgegentritt 
und  die  Möglichkeit  einer  Differenzierung  in  unbestimmte 
Weite  offenzuhalten  gebietet.  In  dieser  Funktion  bezeichnet 
sie  eine  voraussetzungslose  Forschungsmaxime.  Wie  weit 
dagegen  der  Prozeß  der  Differenzierung  reiche,  ist  wiederum 
ein  seiner  Natur  nach  unauflösbares,  empirisches  Grenz- 
problem. Es  ist  a  priori  nicht  zu  lösen,  weil  der  Gegen- 
stand außerhalb  des  Begriffes  hegt;  es  ist  empirisch  nicht 
zu  lösen,  weil  die  absolute  Totalität  kein  möglicher  Gegen- 
stand der  Erfahrung  ist.  Der  Gegenstand  beider  Ideen  liegt, 
wie  Kant  hier  ausdrücklich  zugibt,  „viel  zu  tief  ver- 
borgen** *). 

Als  eine  Vereinigung  der  beiden  vorigen  Ideen  er- 
scheint die  Idee  der  Kontinuität:  Sie  vereinigt  beide, 
indem  sie  „bei  der  höchsten  Mannigfaltigkeit  dennoch  die 
Gleichartigkeit  durch  den  stufenförmigen  Übergang  von 
einer  Spezies  zur  anderen  vorschreibt"  ^j.  Bei  ihr  ist  es 
besonders  deutUch,  daß  die  Ideen  nicht  aus  der  Natur  direkt 


ergeben  ein  weit  komplizierteres  Gesetz.  Dennoch  ist  eine  relative 
Einfachheit  Voraussetzung  der  Forschung.  Ein  anschauliches  Beispiel 
liefert,  wie  PoiNCARfi  a.  a.  0.  S.  147  f.  ausführt,  das  Verfahren  der 
Interpolation.  „Die  Punkte,  welche  unsere  Beobachtungen  darstellen, 
verbinden  wir  durch  eine  kontinuierliche,  möglichst  regelmäßige 
Linie.  Warum  vermeiden  wir  dabei  scharfe  Ecken  und  zu  plötzliche 
Wendungen?"  Wir  tun  es  in  Verfolguiig  jener  Eorschungsmaxime, 
die  uns  veranlaßt,  so  weit  wie  möglida  Einfachheit  in  der  Natur 
zu  suchen. 

>)  Kr.  d.  r.  V.,  S.  519. 

«;  A.  a.  0.  S.  514. 

23* 


356  ETDst  Lehmann: 

geschöpft  werden  und  auch  nicht  zoxa  Gegenstand  einer 
Hypothese  gemacht  werden  können.  Die  Idee  des  absoluten 
Kontintrams  ist,  wie  schon  bemerkt,  ein  bloßes  Geschö|tf 
der  Vemonft.  Ob  dabei  z.  B.  die  Materie  an  sich  ein 
solches  strenges  KoDtinnom  bildet,  bleibt  eine  dnrchans  zu- 
lässige, ihrer  Natur  nach  aber  absolut  unlösbare  Frage.  Die 
Erfahrung  gibt  uns  nur  diskontinuierliche  Mannigfaltigkeiten* 
Die  „Sprossen"  derselben,  „so  wie  sie  uns  Erfahrung  an- 
geben kann,  stehen  viel  zu  weit  auseinander,  und  unsere 
vermeintlich  kleinen  unterschiede  sind  gemeiniglich  in  der 
Natur  selbst  weite  Klüfte**).  —  GhegenstandderHypothesen- 
büdung  kann  nur  sein  die  Interpolation  einer  immer  nur 
bestimmten,  begrenzten  Zahl  von  Zwischengliedern,  die  wir 
suchen  und  erwarten.  Die  Idee  der  Kontinuität  besagt 
dabei,  daß  wir  die  Möglichkeit  weiterer  Zwischenglieder 
unbegrenzt  offenhalten  sollen.  Sie  schreibt  einen  progressns 
in  indefinitum  vor.  In  diesem  Sinne  ist  sie  eine  voraus- 
setzungslose Forschungsmaxime.  Nur  in  der  An- 
wendung auf  die  Formen  der  Anschauung:  Raum  und 
Zeit  bedeutet  die  Idee  der  Kontinuität  mehr:  sie  bezeichnet 
einen  progressus  in  infinitum.  In  diesen  wie  in  den 
stetigen  Funktionen  der  Mathematik  gebietet  die  Idee  der 
Kontinuität,  ohne  daß  ihr  empirische  Schranken  gesetzt  sind. 

c)   Die  Idee  der  Naturzweckmäßigkeit. 

Eine  besondere  Stellung  in  der  Gruppe  regulativer 
Ideen,  die  wir  gegenwärtig  betrachten,  nimmt  die  Idee  der 
Naturzweckmäßigkeit  ein.  Entsprachen  den  vorgenannten 
Ideen  relative  in  der  Erfahrung  begründete  Begriffe,  an  die 
sie  anknüpften,  indem  sie  den  in  ihnen  begonnenen  Fto- 
gressus  zum  Abschluß  brachten  in  der  Idee  der  Totalität, 
so  entspricht  der  Idee  der  Natnrzweckmäßigkeit  streng  ge- 
nonnnen  kein  empirisches  Ausgangsglied.  Der  Moment  der 
Idee  liegt  nicht  in  dem  Moment  des  „Maximums ** '),  das  als 


n  A.  a.  0.  S.  519  f. 
•)  Kr.  d.  r.  V.,  S.  283. 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  357 

solcLes  in  der  Erfahrung  niemals  dargestellt  werden  kann. 
Yielmehr  liegt  im  Begriff  des  Natnrzwecks  selbst  das 
Moment  der  Idee,  indem  derselbe  als  ein  übersinnlicher 
Bestimmnngsgmnd  gedacht  wird.  Als  solcher  kann  er  in 
keiner  möglichen  Erfahrung  gegeben  werden;  denn  wir 
beobachten  Zwecke  in  der  Natur  aJbs  absichtliche  überhaupt 
nicht.  Kakt  gibt  dieser  SondersteUimg  Ausdruck,  indem  er 
das  Prinzip  der  Naturzweckmäßigkeit  als  ein  Vernunft- 
prinzip  nicht  für  den  Verstand,  sondern  für  die  „Urteilskraft" 
bezeichnet.  Wir  beurteilen  gewisse  Erscheinungen  der 
Natur  so,  als  liege  die  Bedingung  ihrer  Möglichkeit  in  einem 
zwecksetzenden  Prinzip  als  einem  übersinnlichen  Be- 
stimmungsgrund. 

Sehen  wir  aber  näher  zu,  so  zeigt  sich,  daß  das 
Prinaip  der  Naturzweckmäßigkeit  bei  Kant  ein  schwer  faß- 
bares Mittelding  zwischen  einem  methodischen 
Forschungsprinzip  und  einer  metaphysischen 
Hypothese  ist.  Im  Prinzip  scheidet  zwar  Kant  scharf 
zwischen  Beurteilung  und  Erklärung«  Die  Idee  der 
Katnrzrt^eckmäßigkeit  soll  kein  Erklärungsprinzip  sein.  Sie 
kann  es  nicht  sein,  da  die  „Möglichkeit  des  Naturzwecks 
als  eines  realen  Faktors,  als  Naturkraft  nicht  eingesehen 
werden  kann.  „Selbst  zur  gewagtesten  Hypothese  muß 
wenigstens  die  Möglichkeit  dessen,  was  man  als  Grund  an- 
nimmt, gewiß  sein"  *)•  Deshalb  ist  der  „Realismus  der 
Naturzwecke"  und  im  besonderen  der  Hylozoismus  eine 
Annahme,  die  völlig  müßig,  ja  sinnlos  ist.  „Der  Hylozoismus 
ist  der  Tod  aller  Naturphilosophie".  Er  nimmt  als  Er- 
klämngsgrund  etwas,  von  dem  man  gar  nichts  versteht. 
Sofern  die  Aufgabe  der  theoretischen  Naburforsohung  die 
Erklärung  der  Erscheinungen  ist,  ist  der  Begriff  des 
Natttczwecks  eia  „Fremdling  in  der  Naturwissenschaft"  ^). 
Über  die  Entstehung  und  die  innere  Möglichkeit  der 
organisierten  Naturprodukte  gibt  die  Zweckbetrachtung  gar 


^)  Krit.  der  Urteilskraft  (Rkklam),  S.  279. 
«)  A.  a.  0.  S.  274. 


358  Ernst  Lehmann: 

keinen  Aufschluß,  und  darum  ist  es  der  theoretischen  Natur- 
wissenschaft doch  eigentlich  zu  tun*).  Wir  bedürfen  aber 
der  Beurteilung  nach  dem  Prinzip  der  Zwecke,  um  uns 
überhaupt  erst  die  empirische  Eigenart  organisierter  Körper 
gegenständlich  zu  machen.  Wir  bedürfen  derselben  bereits 
zur  Beschreibung  der  organisierten  Produkte.  Wir 
können  die  spezifisch  eigentümliche  Einheit,  zu  der  die 
Teüe  eines  Organismus  verbunden  sind,  nicht  anders 
definieren  als  mittels  der  Einheit  des  Zweckes.  Die 
Stellung  des  Teils  im  Organismus  wird  bestimmt  durch  die 
Punktion,  die  er  zur  Erhaltung  des  Systems  ausübt.  Der 
Begriff  der  Erhaltung  ist  bereits  eine  teleologische 
Kategorie,  Die  Idee  der  Zweckmäßigkeit  wird  infolgedessen 
auch  zu  einer  leitenden  Idee  der  Beobachtung.  Treffen  wir 
ein  neues  Organ  an,  so  wird  es  uns  erst  verständlich,  wenn 
wir  feststellen  können,  welche  Funktion  es  zum  Zweck  der 
Erhaltung  des  Individuums  oder  der  Art  verrichtet. 

Besagt  die  Idee  der  Zweckmäßigkeit  nicht  mehr,  so 
ist  sie  aUerdings  ein  rein  methodisches  Prinzip  ohne  irgend- 
welchen irrationalen  Tatsachenrest.  Sie  ist  als  methodisches 
Regulativ  durch  sich  selbst  verifiziert. 

Ist  dem  aber  so,  so  kann  dieses  Prinzip  mit 
dem  Prinzip  der  mechanischen  Erklärung  nicht 
kollidieren,  da  die  Zweckbetrachtung  keine  Erklärung 
sein  will.  Der  mechanischen  Erklärung  der  Entstehung 
organisierter  Körper  und  der  Vorgänge  in  ihnen  dürfte 
alsdann  schlechterdings  keine  Schranke  gesetzt  werden,  da 
zwei  parallel  gehende  Betrachtungsweisen  nicht  kollidieren. 
In  Wahrheit  aber  führt  Kant  diese  Sonderung  nicht  durch. 
Er  ordnet  die  mechanische  Erklärung  der  teleologischen 
unter,  sofern  er  die  mechanischen  Gesetze,  die  wir  an 
organisierten  Produkten  finden  imd  finden  werden,  ledighch 
als  Mittel  bezeichnet,  in  denen  sich  ein  Naturzweck 
realisiert.  Er  setzt  weiterhin,  was  noch  wichtiger  ist,  der 
mechanischen  Erklärung  Schranken,  die  er  als  Schranken 


*)  A.  a.  0.  S.  306. 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  359 

unseres  Erkenntnisvermögens  bezeiclinet,  während  es  in 
Wirklichkeit  nicht  ausgemacht  ist,  ob  jene  Schranken  nicht 
lediglich  Schranken  der  jeweiligen  Natureinsicht  sind,  die 
im  Fortgang  der  Forschung  überwunden  werden.  Behauptet 
B[ant,  daß  die  Entstehung  des  Grashalmes,  der  spezifischen 
Beschaffenheit  der  Materie  in  oiganisierten  Körpern  nie 
erklärt  werden  könne,  so  macht  er  damit  den  Naturzweck 
wiederum  zu  einem  realen  Faktor,  Kant  selbst  stellt  be- 
kanntlich eine  Entwicklungshypothese  auf,  in  der  er 
mechanischen  Faktoren  Rechnung  trägt;  dabei  macht  er 
aber  Halt  vor  einer  „ursprünglichen  Organisation",  deren 
mechanische  Erklärbarkeit  er  bestreitet*).  Ist  aber  die 
teleologische  Betrachtung  nur  eine  Beurteilungsart  von 
heuristischer  Bedeutung,  so  kann  sie  der  mechanischen  Er- 
klärang  auch  nicht  durch  die  Behauptung  einer  „urprüng- 
hohen  Organisation"  Halt  gebieten.  Tut  sie  dies  bei  Kant 
dennoch,  so  ist  dies  teleologische  Prinzip  unter  der  Hand 
wieder  zu  einer  metaphysischenHypothese  geworden. 
Diese  trifft  allerdings  dann  derselbe  Vorwurf,  den  Kant 
dem  „Realismus  der  Naturzwecke"  macht.  Die  Behauptung 
einer  ursprünglichen,  mechanisch  nicht  erklärbaren  Organi- 
sation ist  eine  ihrer  Natur  nach  unverifizierbare  Hypothese. 
Wenn  Kant  behauptet,  ein  Gewächs  verarbeite  die  Materie, 
die  es  aufnimmt,  zu  spezifisch  eigentümlicher  Beschaffen- 
heit, die  der  Naturmechanismus  nicht  liefere,  so  behauptet 
er  damit  eine  qualitas  occulta,  falls  das  „spezifisch"  in  ab- 
solutem Sinne  gemeint  ist.  Sofern  die  chemische  Natur  der 
organisierten  Materie  in  Frage  kommt,  ist  es  ja  heut  schon 
erwiesen,  daß  von  einer  besonderen  „Bildungskraft"  orga- 
nischer Verbindungen  nicht  geredet  werden  kann,  wie  die 
synthetische  Darstellung  organischer  Verbindungen  in  der 
Chemie  zeigt.  So  ist  das  teleologische  Prinzip  bei  Kant 
teils  zur  vorgefaßten  Meinung,  teils  zur  unverifizierbaren 
Hypothese  geworden.  Es  wird  bei  Kant  zu  einem  „Schlag- 
baum  für  die  Vernunft". 


^)  Kr.  d.  U.,  S.  315  (Rkklam);  vgl.  S.  309. 


360  Ernst  Lehmann: 

Erblicken  wir  in  der  Idee  der  Natnrzweckmafiigkeit 
niclit  mehr  als  eine  provisorische  Forschnngsmaxime  zur 
Auffindung  von  Tatsachen,  die  sodann  der  kausalen  Er- 
klärung harren,  so  ist  sie  in  der  Tat  ein  rein  methodisches 
Prinzip,  in  dem  Aussagen'  über  Dinge  nicht  enthalten  sind. 
Diese  Idee  zu  einer  Erklarungshypothese  machen,  bedeutet 
dagegen  vielmehr  einen  Verzicht  auf  jede  Erklärung.  — 
Sofern  endlich  die  ganze  EIrscheinungswelt  als  Eb^cheinung 
eines  intelligiblen  Grundes  derselben  angesehen  wird,  ist 
es  denkbar,  daß  der  intelligible  Grund  der  mechanischen 
Naturkausalität,  die  die  Naturerscheinungen  beherrscht,  ein 
Prinzip  ist,  das  dem  zwecksetzenden  Willen  analog  ist. 
Doch  bleibt  dies  eine  absolut  unbestimmte  Möglichkeit,  die 
ihrer  Natur  nach  weder  verifiziert  noch  widerlegt  werden 
kann.  Ja  man  kann  fragen,  ob  sich  überhaupt  unter  jener 
„Analogie''  etwas  Sinnvolles  denken  lasse,  da  das  Moment 
der  Übereinstimmung,  das  in  einer  Analogiebeziehung  ge- 
dacht wird,  eben  absolut  imbestimmt  bleibt. 

5.  Die  psychologische  Idee. 

Das  Verhältnis  von  Idee  und  Hypothese  gestaltet  sich 
wieder  in  ganz  anderer  Weise  im  psychologischen  Problem. 
In  dem  Faktum  der  absoluten  Spontaneität,  das 
sich  im  Selbstbewußtsein  und  in  der  Konzeption  der  Ideen 
überhaupt,  wie  wir  noch  ausfuhren  werden,  dokumentiert, 
haben  wir  das  einzige  Beispiel  einer  absolut  ideellen  Existenz, 
nicht  als  eines  ruhenden  Gegenstandes,  sondern  eines  aktu- 
ellen Seins.  Obwohl  diese  Seite  des  psychologischen  Pro- 
blems von  Kant  auch  hervorgehoben  wird,  vermissen  wir 
doch  die  ihr  gebührende  Stellung  im  System  der  Kritik. 
In  der  Systematik  der  Kritik  imterscheidet  Kant  vielmehr 
lediglich  eine  rein  methodische  Seite  und  eine  faktisch- 
gegenständliche Seite  im  Sinne  eines  unauflösbaren  trans- 
zendenten Problems. 

In  der  Kritik  der  Paralogismen  fuhrt  Kant  bekanntlich 
aus,  daß  die  Auffassung  der  Seele  als  eines  absoluten, 
selbständigen,   einfachen,   mit  sich  identischen  Wesens  auf 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  36X 

der  Hypostasierung  logischer  Beziehungen  beruhe.  Jene 
Prädikate  bezeichnen  nichts  anderes  als  die  oberste  Be- 
dingung des  Erkennens  überhaupt,  und  zwar  eine  wesent- 
lich logische,  nicht  reale  Bedingung.  Die  Behauptung  des 
beharrlichen,  identischen  Subjekts  der  Urteile  ist  nichts 
anderes  als  die  Darstellung  der  eigentümlichen  Bezogenheit 
von  Bewußtseinsinhalten  aufeinander,  die  wir  als  logische 
bezeichnen. 

Scheinprobleme  entstehen,  wenn  man  Gedanken  zu 
Sachen  macht.  Die  Idee  der  Seelensubstanz  als  kon- 
stitutive Idee  gefaßt,  bezeichnet  eine  solche  Hyposta- 
sierang. Ist  dies  erkannt,  so  besteht  kein  Problem  faktisch- 
gegenständlicher Natur  mehr.  Es  bleibt  kein  irrationaler 
Rest  zurück.  —  Das  absolute  Subjekt  ist  identisch  mit  der 
transzendentalen  Einheit  der  Apperzeption  und  bezeichnet 
also  lediglich  einen  erkenntnistheoretischen  Grundbegriff.  — 
ELant  sucht  aber,  veranlaßt  durch  das  architektonische  Inter- 
esse der  Systematik,  auch  der  so  auf  einen  erkenntnis- 
theoretischen Wert  reduzierten  Idee  der  Seelensubstanz 
noch  eine  andere  methodisch  bedeutsame  Seite  abzugewinnen, 
nämlich  als  regulatives  Prinzip  der  psychologischen  For- 
schung. Diesem  gemäß  sollen  wir  „alle  Elräfte,  so  viel  als 
möglich,  als  abgeleitet  von  einer  einigen  Grundkrafi;,  allen 
Wechsel  als  gehörig  zu  den  Zustanden  eines  und  desselben 
beharrlichen  Wesens  betrachten^  ^).  Abgesehen  nun  davon^ 
daß  diese  Maxime  lediglich  den  Standpunkt  der  Vermögens- 
psychologie bezeichnet,  muß  auch  gesagt  werden,  daß  der 
Begriff  des  absolut  beharrlichen,  mit  sich  identischen  Sub- 
jekts überhaupt  die  Bedeutung  eines  regulativen  Prinzips 
der  empirischen  Psychologie  nicht  haben  kann.  Es  kommt 
in  diesem  Sachverhalt  die  eigentümliche  Er- 
zeugungsart der  psychologischen  Idee  zum  Aus- 
druck. Kakt  läßt  sie  wie  die  anderen  Ideen  aus  einem 
Beihenprozeß  hervorgehen.  In  Wahrheit  wird  sie  aber 
nicht,   wie   die  Ideen  der  Totalität,  konzipiert  als  End- 


^)  Kr.  d.  r.  V.,  S.  529. 


362  Ernst  Lehmann: 

punkt  eines  gedanklichen  Beihenprozesses ,  sondern  durch 
einen  spontanen  Akt  der  Setzung.  Die  Idee  des  Selbst- 
bewußtseins ist  kein  gedachter  Endpunkt  in  der  Reihe  der 
Synthesis  bedingter  psychischer  Erscheinungen,  sondern 
steht  ganz  außerhalb  der  Kette  derselben.  Ebenso  wie 
iur  die  Erklärung  innerer  Erscheinungen  die  Annahme 
der  Existenz  eines  realen  absoluten  Subjekts  derselben 
völlig  bedeutungslos  ist^),  ist  auch  die  Idee  des  absoluten, 
mit  sich  identischen  Subjekts  als  leitendes  Forschungs- 
prinzip für  die  psychologische  Untersuchung  der  Einzel- 
erscheinungen, z.  B.  der  Assoziationsphänomene,  völlig 
wertlos. 

Die  Idee  des  Selbstbewußtseins  realisiert  sich  vielmehr 
darin,  daß  „wir"  uns  der  Bedingtheit  der  psychischen  Er- 
scheinungen „in  uns"  bewußt  werden  imd  uns  so  „in  der 
Idee"  über  die  bloße  Gegebenheit  der  Mannigfaltigkeit 
innerer  Vorgänge  erheben.  Es  ist  das  Moment  absoluter 
ideeller  Spontaneität,  dem  auch  Kant,  wenngleich  in  anderem 
Zusammenhang,  Ausdruck  gibt :  „Der  Mensch,  der  die  ganze 
Natur  sonst  lediglich  nur  durch  Sinne  kennt,  erkennt  sich 
selbst  auch  durch  bloße  Apperzeption  und  zwar  in  Hand- 
lungen und  inneren  Bestimmungen,  die  er  gar  nicht  zum 
Eindruck  der  Sinne  zählen  kann,  und  ist  sich  selbst  freilich 
einesteils  Phänomen,  andemteils  aber,  nämlich  in  Ansehung 
gewisser  Vermögen,  ein  bloß  intelligibler  Gegen- 
stand .  .  .;  vornehmlich  wird  die  [Vernunft]  .  .  .  von  allen 
empirisch  bedingten  Kräften  unterschieden,  da  sie  ihre 
Gegenstände  bloß  nach  I d e e n  erwägt*)".  Es  ist  damit  zu- 
nächst ein  rein  theoretisches  Erlebnis  beschrieben. 
Hier  haben  wir  den  einzigen  Fall,  wo  eine  Idee  sich  un- 
mittelbar selbst  nicht  nur  verifiziert,  sondern  realisiert.  Die 
Idee  des  Selbstbewußtseins  ist  eiu  ideelles  Faktum  einziger 
und  an  sich  undefinierbarer  Art.  Es  ist  damit  ein  Etwas 
bezeichnet,    das  weder  als  phänomenaler  Einzelinhalt  an- 


»)  Vgl.  Proleg.,  S.  114. 
«}  Kr.  d.  r.   V.,  S.  437  f. 


Idee  und  Hyyothese  bei  Kant.  36S 

getroflPen  wird  noch  auch  bloß  logische  Existenz  hat 
wie  der  oben  besprochene  IQNTsche  erkenntnistheore- 
tische Begriff  der  transzendentalen  Einheit  der  Apper- 
zeption. 

Die  Anwendung  des  Begriffes  der  Hypothese  auf 
das  vorliegende  Faktum  wäre  durchaus  sinnlos.  Die  Idee 
der  Spontaneität  des  Selbstbewußtseins  ist  kein  möglicher 
Gegenstand  der  Erfahrung,  der  in  irgendeiner  Anschauung 
dargestellt  werden  könnte.  Wie  die  apodiktisch-dogma- 
tistische  Behauptung  der  Realität  der  absolut  selb- 
ständigen, einfachen  Seele,  so  beruht  auch  die  Annahme 
derselben  als  einer  Hypothese  auf  einer  anschauliche  Kat- 
egorien der  äußeren  Erfahrung  benutzenden  Hyposta- 
sierung  jenes  Faktums  der  inneren  Spontaneität;  diese 
ist  das  icpÄTov  iJ^eöSoc  in  beiden  Fällen.  Mit  der  Mannig- 
faltigkeit der  inneren  Erscheinungen  als  der  Summe  und 
dem  Zusammenhang  einzelner  psychischer  Inhalte  ist  die 
Idee  der  Spontaneität  in  keiner  Weise  in  Kontakt  zu  bringen, 
weder  als  regulative  Idee,  wie  Kant  meint,  noch  als  letzte 
Elrklärungshypothese.  Bedingtes  kann  auch  hier  nur  durch 
den  Aufweis  von  Bedingungen  erklärt  werden,  nicht  aber 
durch  ein  Unbedingtes  sei  es  der  Totalität,  wie  in 
den  früher  besprochenen  Ideen,  sei  es  der  Spontaneität 
hier.  Für  die  psychologische  Forschung  genügt  der  Be- 
griff des  psychischen  Zusammenhanges^)  und  die  An- 
nahme einer  Beständigkeit  der  Beziehungen,  deren  Gesetze 
die  empirische  Psychologie  sucht.  Btter  ist  ein  Gebiet  der 
Hypothesen bildung  wissenschaftlich  existenzberechtigt;  im 
besonderen  eröffiiet  die  physiologische  Untersuchung  einer- 
seits und  die  entwicklungsgeschichtlich- völkerpsychologische 
Untersuchung  anderseits  ein  weites  Gebiet  möglicher  wissen- 
schaftlich fruchtbarer  Hypothesenbildung.  Von  solcher 
Untersuchung  kann  wiederum  kein  psychischer  Inhalt,  sofern 
er  Phänomen  ist,  ausgenommen  werden.  Ja,  wie  die 
mannigfaltigen    Störungserscheinungen    des    Selbstbewußt- 


»)  Vgl.  WuNDT,  System  der  Pkilosophie,  S.  379. 


304  Ernst  Lehmann: 

Seins  ^)  vermuten  lassen^  ist  auch  das  Auftreten  des  Selbst- 
bewußtseins an  gewisse  physiologische  Bedingungen  ge- 
knüpft; und  insofern  ist  das  Ichproblem  ein  physiolo- 
gisches Problem,  von  dessen  Lösung  wir  freilich  vielleicht 
noch  weit  entfernt  sind.  Sinnlos  aber  wäre  es,  wollte  man 
in  diesem  möglichen  künftigen  Nachweis  der  physiologischen 
Bedingungen  eine  Erklärung  des  Faktums  des  Selbst- 
bewEL  erbUcken.  Dies  wL  sinnlos,  nicht  nur  in  dem 
Sinne,  wie  es  ungereimt  wäre  zu  verlangen,  daß  etwa  die 
Bestimmtheit  der  Farbenempfindung  aus  den  ihr  zugeord- 
neten photochemischen  Prozessen  in  der  Netzhaut  „erklärt" 
werden  solle,  sondern  auch  deshalb,  weil  die  Besonder^ 
heit  dieses  Faktums,  eben  die  absolute  Spontaneität  als 
solche,  einer  zergliedernden  Analyse  und  Erklärung  unzu- 
gänglich ist. 

Für  Eant  existiert  schließlich  noch  seinem  erkenntnis- 
theoretischen Phänomenalismus  gemäß  eiu  transzendentes 
Restproblem.  Das  Substrat  der  inneren  Erscheinungen 
sei  uns  notwendig  unbekannt.  Sofern  das  ideelle  Faktum 
der  Spontaneität  des  Selbstbewußtseins  in  Frage  kommt, 
ist  nun  allerdings  die  Behauptung  eines  absolut  unbekannten 
Substrats  ebenso  sinnlos  und  beruht  ebenso  auf  einer  er- 
schlichenen Hypostasierung  dieser  Aktualität  wie  die 
dogmatische  Behauptung  der  objektiven  Realität  der  ein- 
fachen Seelensubstanz.  Als  ein  irrationales  Restproblem, 
kann  lediglich  das  Verhältnis  dieses  Prinzips  der  Sponta- 
neität zu  dem  psycho-physischen  phänomenalen  Zusammen- 
T^9Xig  gelten.  Es  liegt  im  besonderen  vor  in  der  Tatsache, 
daß  das  Auftreten  und  die  normale  Entfaltung  des  Selbst- 
bewußtseins, das  wir  als  eine  spontane  Aktualität  erleben, 
an  bestimmte,  wenngleich  noch  nicht  au%eklärte  physio- 
logische Bedingungen  geknüpft  ist.  Endlich  auch  bezeichnet 
die  Tatsache  des  psychophysischen  Parallelismus  im  all- 
gemeinen eia  irrationales  Restproblem,  das  damit  nicht 
beseitigt  wird,  daß  man  mit  Mach  das  Psychische  und  das 


')  Vgl.  z.  B.  RiBOT,  Les  maladies  de  la  personalite. 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  365 

Physische  als  zwei  Arten  von  FnnktionalÄUsammenhängen 
ansieht,  in  die  sich  die  Empfindungen  als  Elemente  ein- 
ordnen, wodurch  das  psychophysische  Problem  des  Par- 
allelismos  lediglich  in  ein  methodisches  Verhältnis  zweier 
Betrachtungsweisen  aufgelöst  wird.  Ebensowenig  aber  ist 
dieses  Problem  einer  hypothetischen  Lösung  zu- 
ganglich. Wir  können  lediglich  den  seiner  Natur  nack 
völlig  nnverifizierbaren  Gedanken  vollziehen,  daß  das  Psy- 
chische und  Physische,  da  wo  es  einander  parallel  angetroffen 
wird,  die  Erscheinungsweise  eines  unbekannten  Grundes 
ist.  Das  Äußerste,  was  wir  hier  tun  können,  ist  lediglich 
die  Aufwerfting  dieser  Frage.  Glauben  wir  mit  der  Auf- 
stellung dieser  Lösungsmöglichkeit  eine  wirkliche  Einsicht 
gewonnen  zu  haben,  aus  der  wir  weitere  Konsequenzen, 
z.  B,  in  betreff  der  anorganischen  Natur,  ziehen,  so  machen 
wir  eine  absolut  unverifizierbare  Hypothese;  von 
einer  wissenschaftlich  wertvollen  Hypothese  muß  aber 
wenigstens  eine  relative  Verifizierung  ihrer  hypothetischen 
Elemente  verlangt  werden.  Will  jene  Annahme  nicht  mehr 
sein  als  die  Behauptung  einer  Art,  wie  man  sich  die  Sache 
etwa  denken  könne,  so  kann  sie  als  plausibler  Versuch  eine 
gewisse  inteUektuelle  Befriedigung  gewähren;  will  sie  mehr 
sein,  so  ist  sie  eine  absolut  unverifizierbare,  also  wertlose 
Hjrpothese. 

6.  Die  Idee  der  Willensfreiheit. 

Wir  haben  die  Idee  der  Willensfreiheit  nicht,  wie  Kant, 
im  Anschluß  an  die  Idee  des  Kausalzusammenhanges  be- 
handelt. Die  Erzeugung  dieser  Idee  ist  durchaus  analog 
der  Erzeugung  der  Idee  des  Selbstbewußtseins.  Sie  wird 
in  einem  Akt  der  Setzung  konzipiert  und  entsteht  nicht 
durch  ein  willkürliches  Abbrechen  der  kausalen  Synthesis, 
Sofern  wir  uns  in  der  Reihe  der  kausalen  Verknüpfung  der 
Erscheinungen  bewegen,  kann  nicht  einmal  der  Gedanke 
eines  obersten  Gliedes  der  Kette  auftreten.  Die  Idee  der 
Willensfreiheit  bezeichnet  ein  Etwas,  was  der  Kausalreihe 
der  empirischen  Handlungen  ebenso  gegenübersteht,  wie 


366'  Ernst  Lehmann: 

die  Idee  des  Selbstbewußtseins  der  Gesamtheit  der  psy- 
ohischen  Phänomene  und  deren  Reihe  gegenüberstand.  Sie 
wird  erzeugt,  indem  wir  uns  der  Bedingtheit  unserer 
"Willenshandlungen  bewußt  werden.  Sie  gewinnt  ihre 
besondere  aktuelle  Bedeutung  aber  erst,  sobald  die  Idee 
eines  absolut  Wertvollen  als  Beurteilungsprinzip 
unserer  Handlungen  hinzutritt.  Alsdann  bezeichnet  die  Idee 
der  Willensfreiheit  lediglich  die  Maxime:  Wir  wollen 
uns  so  betrachten,  als  ob  „wir"  und  nicht  die  empirische 
Bestimmtheit  unserer  psychophysischen  Organisation  die 
Ursache  gewisser  Handlungen  wären.  Diese  Idee  ist  alsdann 
durch  sich  selbst  verifiziert,  sofern  sie  nicht  mehr  sein  will 
äIs  eine  rein  ideelle  Beiurteilungsweise,  nicht  aber  als 
ein  intelligibles  „Vermögen".  Kant  selbst  schwankt 
auch  hier  zwischen  beiden  Bestimmungen.  In  der  ersteren 
Auffassung  steckt  kein  irrationaler  Tatsachenrest  mehr.  Das 
intelligible  „Vermögen"  bezeichnet,  sofern  alles  Anschauliche 
streng  ferngehalten  wird,  einen  Grenzbegriff,  bei  dem  sich 
wiederum  die  Frage  erhebt,  ob  sich  dabei  überhaupt  etwas 
denken  lasse;  leicht  aber  schleicht  sich  ein  anschau- 
liches Moment  hinein,  wodurch  der  Begriff  wider- 
spruchsvoll wird,  indem  die  „Freiheit"  zu  einem  kau- 
salen Faktor  neben  anderen  Faktoren  wird,  während  die 
Idee  der  Freiheit  gerade  dies  verbietet,  indem  sie  aus  der 
Reihe  der  Motivationen  heraustritt. 

Aus  allem  aber  geht  hervor,  daß  es  sinnlos  wäre,  der 
Idee  der  Willensfreiheit  den  Rang  einer  Hypothese  zu 
geben.  Sie  läßt  sich  halten  lediglich  als  Beurteilungs- 
prinzip, wird  aber  entweder  zum  völlig  leeren  Ghrenzbegriff 
oder  zu  einem  widerspruchsvollen  Begriff,  falls  man 
jsie  zu  einem  „Vermögen"  macht. 

7.  Die  Gottesidee« 

Auch  die  Erörterung  Kants  über  die  Gottesidee  hat 
etwas  Schwankendes  in  bezug  auf  die  methodische  Stellung 
-der  Momente  dieser  Idee. 

Einerseits   soll  auch  von  ihr  gelten,    daß  sie  als  ein 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  367 

Ideal   der  reinen  Vernunft  keinen  unerforschlichen  Gegen- 
stand  bezeichnen   könne;    das   Ideal   ist   nicht  einmal  als 
denkbarer  Gegenstand  gegeben^).    Es  bedeutet  demnach 
bereits  eine  Verkennung  des  Wesens  dieser  Idee,  wenn  in 
ihr     ein     gegenständliches     Grenzproblem    gesucht    wird. 
Solchen  Aussagen  stehen  andere  gegenüber,  wo  die  Gottes- 
idee  auf  ein  unbekanntes   Wesen  bezogen  wird.    Wir 
seien  genötigt,  ihr  einen  wirklichen  Gegenstand  zu  setzen, 
,&eilich  nur  als  ein  Etwas  überhaupt,  das  ich  an  sich  selbst 
gar   nicht  kenne"*).     Ja,   es  erscheint  als  erlaubte  Hypo- 
these,   „das   Dasein   eines   Wesens  von  der  höchsten  Zu- 
länglichkeit    als    Ursache    zu   allen   möglichen   Wirkungen 
anzunehmen,  um  der  Vernunft  die  Einheit  der  Erklärungs- 
gründe zu  erleichtern"  *).  —  Andrerseits  führt  Kant  wiederum 
aus,   daß   der  Schein  eines   Gegenstandes  auch  hier  durch 
willkürliche  Hypostasierung  der  Idee  der  absoluten  Welt- 
einheit als  eines  von  der  Welt  verschiedenen  Grundes  der- 
selben  entstehe,    daß    die   Kategorien   der   Realität,    Not- 
wendigkeit,  Substanz,  Kausalität  gemäß   dem  Resultat  der 
transzendentalen   Analytik   nur    Sinn   haben   in  bezug  auf 
mögliche  Erfahrung  als   deren  Konstituentien,   daß  im  be- 
sonderen  der  Begriff  der  Ursache  keinen  angebbaren  Sinn 
habe,    wenn  wir  nach  der  Ursache  eines  „Dinges"  fragen, 
anstatt  diesen  Begriff  auf  Zustandsänderungen  in  der  Zeit 
zu    beziehen.     Ist    aber    ein    Problem    als    Schein- 
problem  erkannt,    so   kann   es   auch  nicht  mehr 
einen  irrationalen  Rest  bezeichnen.    Die  Existenz 
einer  Weltursache  ist  kein  Problem,   auch  kein  schlechthin 
transzendentes  Problem,   das  ein  absolut  Unbekanntes  be- 
zeichnet-,  denn  es  beruht  auf  einer  falschen  Fragestellung, 
Dann   aber  ist  ebenso  auch  die  Auffassung  der  Gottesidee 
als  einer  Hypothese  sinnlos. 

Das  theoretische  Erkennen  als  solches  trägt  in  der  Tat 
in  sich  absolut  keine  Nötigung,  die  „innere  Unzulänglichkeit 


»)  Kr.  d.  r.  V.,  S.  483. 
«)  A.  a.  O.  S.  526. 
«)  A.  a.  O.  S.  481  f. 


368  Ernst  Lehmann: 

des  Zufalligen  zn  behaupten,  sofern  das  Pr&dikat  auf  das 
Dasein  der  Dinge  bezogen  wird  und  nicht  auf  die  Be- 
dingtheit innerhalb  der  Reihe  der  Erscheinungen.  Das 
theoretische  Erkennen  geht  aus  von  dem  Faktum  der  be- 
stimmt gegebenen  Mannigfaltigkeit  und  geht  den  in  ihr 
waltenden  Beziehungen  nach;  jenes  Faktum  selbst  abzu- 
leiten hat  das  Erkennen  keine  Veranlassung. 

Wir  sehen  hierbei  ganz  davon  ab,  daß  der  scholastisclie 
Begriff  des  ens  realissimum  eine  widerspruchsvoUe  Ver- 
quickung der  theoretischen  Kategorie  der  Bealit&t  und 
praktischer  Bewertung  ist. 

Kant  gibt  nun  der  Gottesidee  eine  eigentümliche  Mittel- 
stellung zwischen  einem  rein  methodischen  Begriff  wissen- 
schaftlicher Systematik  und  einem  Gegenstandsbegriff, 
indem  er  sie  zu  einem  notwendigen  regulativen  Prinzip 
der  Weltbetrachtung  macht.  Näher  zugesehen,  erweist 
sich  aber  auch  diese  Legitimierung  der  Idee  als  ebenso 
undurchführbar  wie  die  Verwertung  der  psychologischen 
Idee  des  absolut  einfachen,  beharrlichen  Subjekts  als 
regulatives  Prinzip  der  psychologischen  Forschung.  Die 
Idee  eines  von  der  Welt  verschiedenen  Weltgrundes 
bezeichnet  als  solche  nicht  den  ideellen  Endpunkt  eines 
empirisch  begonnenen  Prozesses.  Um  die  „größtmögliche 
Erfahrungseinheit"  innerhalb  der  Welt  anzustreben,  bedarf 
es  nicht  der  Idee  eines  von  ihr  verschiedenen  unbekannten 
Substrates.  Die  Idee  des  durchgängigen  Kausal- 
zusammenhangs in  der  uns  gegebenen  Welt  der  phy- 
sischen und  psychischen  Erscheinungen,  die  Ideen  der 
Homogeneität  und  Kontinuität  sprechen  bereits  das 
wissenschaftliche  Einheitsbedürfnis  hinreichend  aus.  Für 
die  Welt  der  äußeren  Natur  haben  wir  die  Ideen  des 
Grundstoffes  und  der  Grundkraft.  Dem  entspricht  auf 
psychischem  Gebiet  das  Desiderat  möglichst  weniger,  mög- 
lichst umfassender  Grundgesetze.  Einem  weitergehenden 
Einheitsbedürfnis,  das  die  Zweiheit  der  äußeren  und  inneren 
Erscheinungen  zu  überwinden  sucht,  genügt  z.  B.  der 
Phänomenalismus    Kants    selbst,    indem    er    beide   in 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  369 

eine  Welt  der  Vorstellungen  vereinigt  und  den  Ausblick 
auf  die  Möglichkeit  eines  unbekannten  gemeinschaftlichen 
Ghrundes  beider  Erscheinungsweisen  eröffnet.  Dieser  „Grund" 
wäre  aber  auch  dann  nicht  mit  der  Idee  eines  schöpfe- 
rischen Weltgrandes  nach  Art  der  G-ottesidee  zu  identi- 
fizieren. Er  wäre  nur  das  Korrelat  der  Zweiheit  der  Er- 
scheinungsweisen. Wie  aber  ein  denkendes  Wesen  überhaupt 
äußere  Anschauung  haben  kann,  bezeichnet  Kant  mit  Recht 
als  ein  unauflösbares  Problem,  das  also  dem  Einheits- 
bedürfhis  der  Vernunft  absoluten  Wiederstand  entgegensetzt. 
Letztlich  bleibt  allein  noch  als  umfassendster  Ausdruck  des 
Einheitsstrebens  die  Idee  des  Inbegriffs  aller  Mög- 
lichkeiten, sofern  wir  den  rein  logischen  Kern  aus  diesem 
Begriff,  den  Kant  übernimmt,  herausschälen  und  damit  den 
vollziehbaren  Gedanken  bezeichnen  wollen,  daß  es  noch 
Seinsgebiete  geben  kann,  die  ftir  uns  weder  in  der  Form 
der  äußeren  noch  der  der  inneren  Anschauung  zugänglich 
werden  können.  Im  Licht  dieser  Idee  erscheint  die  uns 
gegebene  Welt  als  ein  Ausschnitt  aus  einem  um- 
fassenderen Sein.  Es  wird*  die  Möglichkeit  offen  ge- 
halten, daß  unsere  Welt  nicht  alles  Sein  schlecht- 
hin  bedeutet. 

Von  dem  ontologischen  Begriff  der  Weltursache 
unterscheidet Ejint  den  des  zwecksetzenden  intelligenten 
Urhebers.  Sofern  die  teleologische  Betrachtung,  die 
oben  bereits  besprochen  ist,  nur  eine  besondere,  heuristisch 
wertvolle  Beurteilungsweise  bestimmter  Naturprodukte, 
nämlich  der  „organisierten",  repräsentiert,  liegt  gar  kein 
Anlaß  vor,  auch  nur  die  Analogie  eines  intelligenten 
Urhebers  heranzuziehen.  Will  man  sich  anschaulich  aus- 
drücken, so  genügt  es,  wie  Kant  selbst  gelegentlich  sagt, 
von  der  weisen  Einrichtung  der  Natur  zu  reden.  Völlig 
aber  verliert  die  Idee  des  intelligenten  Urhebers  jede 
regulative  Bedeutung,  falls  sie  auf  alle  physischen  Er- 
scheinungen schlechthin  bezogen  wird.  Sie  ist  dann  kein 
Symbol  einer  Forschungsmaxime  mehr,  sondern  eine 
willkürliche,  weil  ihrer  Natur  nach  unverifizier- 

ViertolJahrsschriftr.wiBsensohaftl.  Philoa.  u.Sosiol.  XXXII.  3.  24 


370  Ernst  Lehmann: 

bare  Hypothese.  Verwirft  Kant  die  Verwertung  der 
Qottesidee  als  Erklärungshypothese  für  einzelne 
besondere  Erscheinungen  mit  Recht  als  Ausgeburt  einer 
ignava  ratio,  als  direkt  schädlich,  so  muß  weiterhin  gesagt 
werden,  daß  die  wissenschaftliche  Forschung  der  Gottesidee 
als  der  „regulativen"  Idee  eines  höchsten  Zwecks  völlig 
indifferent  gegenübersteht.  Diese  Idee  ist,  wissen- 
schaftlich betrachtet,  wertlos. 

Es  ist  schon  oft  hervorgehoben  worden,  daß  gerade 
Kant  es  gewesen  sei,  der  den  prinzipiellen  Unterschied  theo- 
retischer und  praktischer  Erkenntnis  erkannt  habe.  Trotz- 
dem bleibt  bestehen,  daß  in  der  Behandlung  der  „Kritik" 
rein  logisch-methodische  und  spezifisch-religiöse  Momente 
in  unklarer  Weise  verquickt  sind  ^),  Wenn  wir,  um  mit 
Kant  zu  reden,  das  Gefahl  haben,  daß  der  Boden  unter 
uns  sinke,  „wenn  er  nicht  auf  dem  unbeweglichen  Felsen 
des  absolut  Notwendigen  ruhet"  *j,  so  bezeichnet  dies  gar 
keine  Aussage  theoretischer  Art.  Wir  beschreiben  damit 
nur  das  eigentümliche  Gefühl,  das  Plato  als  das  Staunen 
über  die  Welt  bezeichnet;  dasselbe  stellt  sich  ein,  indem 
wir  uns  als  unser  selbstbewußte  Wesen  in  einer  rätselvollen 
Welt  erblicken.  Es  äußert  sich  auch  in  der  Frage  nach 
dem  Zweck  unseres  Daseins  in  dieser  Welt  und  dem 
Zweck  dieser  Welt  selbst.  Diese  Frage  hat  mit  dem 
Bedürfnis  nach  größtmöglicher  systematischer 
Einheit  der  Erfahrungserkenntnis  nichtsizu  tun. 

Weder  als  regulative  Idee  noch  als  Hypothese  der  Er- 
klärung oder  Ergänzung  läßt  sich  der  „Gottesidee"  ein 
theoretisch  wertvolles  und  scharf  definierbares  Moment  ab- 
gewinnen. Wo  aber  die  Möglichkeit  scharfer  Definition 
eines  Problems  durch  die  Natur  desselben  ausgeschlossen 
ist,  da  besteht  überhaupt  kein  theoretisches  Problem.  Und 
dies  ist  der  Fall  bei  dem  Begriff  des  Weltgrundes  und 
zwecksetzenden    Welturhebers.      Dem     theoretischen 


»)  Vgl.  WuNDT  a.  a.  0.  S.  179. 
«)  Kr.  d.  r.  V.,  S.  463. 


Idee  und  Hjrpothese  bei  Kant.  371 

Erkennen  genügt  die  Idee  der  Welteinheit  und 
"Welt  Zusammenhangs^), 


Zusammenfassimg. 

Nach  den  vorangegangenen  einzelnen  Untersuchungen 
sind  wir  nun  imstande,  das  Verhältnis  von  Idee  und  Hypo- 
these allgemein  zu  bestimmen.  Wir  haben  meist  an  einer 
von  Kant  behandelten  Idee  methodisch  verschiedene 
Momente  festgestellt,  so  daß  die  einzelnen  ^^Ideen*'  Kants 
im  folgenden  sowohl  in  der  einen  wie  auch  der  anderen 
Gruppe  vertreten  sind. 

I.  Ideen  bzw.  Momente  an  denselben,  die  durch 
sich  selbst  verifiziert  sind,  indem  sie  keinPro- 
blem  gegenständlich- faktischer  Natur  betreffen 

Auf  diese  Ideen  bzw.  Momente  kommt  der  Satz  Kants 
von  der  absoluten  Auflösbarkeit  der  Fragen,  die  die  Ver- 
nunft stellt,  zu  vollgültiger  Anwendung,  Hier  wird  der 
Gegenstand  nicht  außer  dem  Begriff  bezw.  außerhalb  des 
spontanen  Aktes  der  Konzeption  angetroffen. 

Hierher  gehört  die  Idee  der  Totalität  der  Raum- 
erfüllung, wie  die  der  verflossenen  erfüllten 
Zeit;  desgleichen  gehört  hierher  die  Idee  der 
Totalität  der  Teilung  der  Materie,  Diese  Ideen 
sind  als  solche  durch  sich  selbst  verifiziert.  Sie  enthalten 
als  solche  keinerlei  Annahme  über  die  Begrenztheit  oder 
Unbegrenztheit  des  entsprechenden  Reihenprozesses.  Viel- 
mehr folgt  aus  ihnen  lediglich  die  voraussetzungslose,  heu- 
ristische Maxime;  „Wir  sollen  nie  die  jeweilig  erreichte 
Grenze  bzw.  den  jeweilig  letzten  einfachen  Teil  für  eine 
absolute  Grenze  bzw.  für  ein  absolut  einfaches,  nicht  weiter 
zerlegbares  Element  halten,   vielmehr   sollen  wir  die  Mög- 


'!]  ^)  Inwiefern  jene  theologische  Idee  in  dem  Gebiet  praktischer, 
im  besonderen  sittlicher  Erkenntnis  ihre  Existenzberechtigung  er- 
weisen kann,  bleibt  dabei  eine  durch  die  vorangehende  Ejritik  nicht 
berührte  Frage. 

24* 


372  Ernst  Lehmann: 

lichkeit  weiterer  Q-ebiete  hzw.  weiterer  Unterteile  nnbegrenzt 
offenhalten.  Diese  Ideen  schreiben  eilien  Progtessns  in 
indefinitum  vor.  —  Hierher  gehört  auch  die  Idee  der 
Kontinuität.  Sofern  wir  in  ihrem  Licht  an  die  empirisch 
gegebene  Mannigfaltigkeit,  die  als  solche  eine  diskrete  ist,, 
herantreten,  schreibt  diese  Idee  uns  Vor,  die  Möglichkeit 
weiterer  zu  interpolierender  Zwischenglieder  unbegrenzt 
offenzuhalten.  —  Hierher  gehört  schließlich  auch  die  all- 
gemeinste Idee :  der  Inbegriff  der  Möglichkeiten.  Auch  sie 
ist  Terifiziert  in  dem  Moment,  wo  sie  konzipiert  wird»  und 
besagt,  daß  wir  die  uns  gegebene  Erfahrungswelt  nicht  flLr 
die  absolute  Erschöpfung  der  Möglichkeiten  des  Seins^ 
halten  sollen,  sondern  die  Möglichkeit  völlig  andersgearteter 
Seinsgebiete  offenhalten  sollen.  Der  Natur  dieser  Idee 
entspricht  es  dann  freilich,  daß  wir  eine  ihr  entsprechende 
regulative,  fruchtbare  Maxime  nicht  aufstellen  können. 

Durch  sich  selbst  verifiziert  sind  femer  die  Beurteilungs- 
weisen nach  der  Idee  des  Zweckes  und  nach  der 
Idee  der  Willensfreiheit.  Wir  betrachten  gewisse 
Komplexe  der  äußeren  Natur:  die  organisierten  Körper  als 
Systeme,  die  sich  zu  erhalten  „streben",  als  ob  sie  von 
einem  zwecksetzenden  Prinzip  beherrscht  würden.  Sofern 
diese  Betrachtungsweise  nichts  anderes  ist  als  ein  provi- 
sorisches heuristisches  Prinzip  zur  Auffindung  von  Tat- 
sachen im  Organismus,  bezeichnet  sie  keine  Behauptung 
gegenständlicher  Natur,  also  auch  keine  Hypothese. 

Im  Gebiet  der  menschlichen  Handlungen  fiihrt  die  An- 
erkennung absoluter  sittlicher  Werte  zu  der  Beurteilung 
nach  der  Idee  der  Willensfreiheit,  nicht  als  eines 
kausalen  Vermögens.  Derjenige,  der  solche  Werte  anerkennt, 
beurteilt  sich  so,  als  ob  „er"*  als  spontaner  Faktor  und  nicht 
nicht  die  komplexe  Einheit  seiner  psychischen  Konstitution  die 
Ursache  seiner  Handlungen  sei. — Durch  sich  selbst  ist  endlich 
in  einzigartiger  Weise  verifiziert  die  Idee  des  Selbstbewußt- 
seins; durch  sie  ist  zugleich  ein  ideelles  Faktum  ein- 
ziger Art  konstituiert.  Dieses  Faktum  dokumentiert  sich 
in  dem  Bewußtsein  der  psycho-physischen  Bedingtheit, 


Idee  und  H3^otbe8e  bei  Kant.  373 

wie  in  der  Konzeption  der  Idee  der  Wahrheit.  Wir  ver- 
mögen uns  über  die  Besonderheit  unserer  geistigen  Organi- 
sation Rechenschaft  zu  geben,  indem  wir  sie  als  eine  spe- 
zifisch-bestiininte  denken  und  ihre  Schranken  erkennen. 
Wir  wissen  z.  B.,  daß  all  unser  Denken  sich  in  Bildern 
bewegt;  um  dieses  Faktum  auszusprechen,  bedürfen  wir 
zwar  derselben  bildlichen  Zeichen;  wir  erheben  uns  aber 
damit  in  „der  Idee"  über  diese  Bedingtheit  unserer  geistigen 
Konstitution.  Jenes  Faktum  bekundet  sich  überhaupt  in 
der  Konzeption  der  Idee  der  Wahrheit,  die  sowohl 
einer  Auflösung  im  Sinne  des  psychologistischen  wie  des 
biologistisch  -  denkökonomischen  Relativismus  absoluten 
Widerstand  leistet,  indem  sie  die  Auftnerksamkeit  auf  den 
Urteils inh alt  einer  Aussage  zu  richten  gebietet*).  Wir 
unterscheiden  im  Licht  dieser  Idee  am  Urteil  den  psycho- 
logisch bedingten  ürteilsakt  als  ein  Phänomen  oder 
auch  als  eine  zweckmäßige  intellektuelle  Reaktion  von  dem 
TIrteilsinhalt,  d,  h.  dem,  was  in  dem  Urteil  anerkannt 
oder  verneint  wird.  Das  Bewußtwerden  dieser  Idee 
der  Wahrheit  ist  alsdann  wiederum  eine  spontane  Funktion, 
in  der  sich  das  Selbstbewußtsein  dokumentiert.  — 

In  all  diesen  ideellen  Beziehungen,  Beurteilungsweisen, 
wie  auch  in  der  Idee  des  Selbstbewußtseins  liegt  kein 
gegenständlich-faktischer  irrationaler  Rest. 

Wo  jene  Betrachtungsweisen  und  spontanen  Funktionen 
zu  „Naturkräften",  „Vermögen",  „Substanzen"  hypostasiert 
werden,  da  entstehen  Scheinprobleme.  Das  Prinzip 
des  Naturzwecks,   das   Kausal  vermögen   der   Freiheit,    die 


0  Ein  Gleiches  gilt  auch  von  der  erkenntniskritischen  Richtunp:, 
■die  in  einseitiger  Weise  in  ^Uen  Verallgemeinerungen  der  Wisaenschatt 
willkürliche  Definitionen  und  Festsetzungen  erblickt.  PoiNXABfe,  in 
dessen  Theorie  die  konventionelle  Obereinkunft  eine  große  Bolle 
spielt,  wendet  sich  doch  gegen  eine  einseitige  Überschätsning  ihrer 
Bedeutung.  Die  Tatsache  der  Beobachtung  ist  die  ^universelle 
Invariante"  der  verschiedenen  möglichen  Systeme  ihrer  wissenschaft- 
lichen Abbildung.  In  der  Anerkennung  der  Tatsache  sind  wir  ge* 
bunden,  in  ihre  wissenschaftliche  Darstellung  gehen  subjektive 
Elemente  ein,  über  deren  zweckmäßige  Auswahl  wir  frei  verfügen. 
Ygl  PoiscARfi,  Der  Wert  der  Wissenschaft,  S.  166  fi 


374  Ernst  Lehmann: 

einfache  beharrliche  Seelensubstanz  werden  dann  entweder 
als  dogmatisch-apodiktisch  gewisse  Realitäten  oder  doch 
wenigstens  als  zulässige  Hypothesen  behauptet.  Hier  werden 
die  Probleme  gelöst,  indem  sie  als  Scheinprobleme  erwiesen 
werden.  Das  Verhältnis  von  Idee  und  Hypothese  bestimmt 
sich  hier  dahin,  daß  die  Anwendung  des  Hypothesenbegriffes 
auf  die  vorgelegten  Ideen  schlechterdings  sinnlos  ist,  weil 
sie  Probleme  gegenständlicher  Natur  entweder  nicht  be- 
zeichnen, oder,  wie  im  Fall  der  Idee  des  Selbstbewußtseins,, 
ein  rein  ideelles  Faktum  vorliegt,  das  als  solches  kein 
Gegenstand  einer  Hypothese  sein  kann. 

n.  Ideen  als  heuristische  Prinzipien,  die  be- 
stimmte Voraussetzungen  gegenständlich-fak- 
tischer Natur  involvieren,  derenGeltung  weder 
restlos  verifiziert  noch  aber  auch  widerlegt 
werden  kann,  Voraussetzungen,  die  aber  ge- 
macht werden,  sei  es  als  Postulate,  sei  es  als 
Desiderate  zum  Zweck  der  Wissenschaft. 

Hierher  gehört  die  Idee  des  durchgängigen 
Kausalzusammenhanges  und  die  Idee  der  Homo- 
geneität  in  ihren  besonderen  Gestaltungen.  Als  ein 
Postulat  bezeichnen  wir  die  Idee  des  Kausalzusammen- 
hanges ;  ohne  seine  Geltung  ist  Wissenschaft  und  geordnete 
Erfahrung  überhaupt  immöglich.  Als  ein  Desiderat  be- 
zeichnen wir  die  Idee  der  Homogeneität.  Eine  relative 
Homogeneität  erkannten  wir  gleichfalls  als  notwendige  Be- 
dingung der  Möglichkeit  der  Wissenschaft.  Wissenschaft 
reicht  so  weit,  als  die  Homogeneität  in  der  Natur  der  Dinge 
reicht;  darüber  hinaus  gibt  es  nur  noch  Konstatierung 
unvergleichbarer  Daten.  Jene  Voraussetzungen  gegen- 
ständlicher Art  zum  Gegenstand  metaphysischer  Hypo- 
thesen zu  machen,  wäre  zwar  nicht,  wie  unter  I,  sinnlos, 
wohl  aber  müßig,  da  die  Regelmäßigkeit  der  Sukzession 
und  die  Existenz  eines  Grundstoffes  und  einer  Grundkraft 
Annahmen  wären,  die  absolut  unverifizierbar  sind.  Sofern 
die  genannten  Ideen  aber  als  heuristische  Maximen  ihre 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  375 

Legitimation  in  sich  tragen  und  wir  an  ihrem  Leitfaden 
nur  „so  weit  als  möglich"  in  die  Natur  einzudringen  streben, 
ist  eine  Verifikation  jener  Voraussetzungen  durchaus  un- 
nötig, 

KL   Die    in  den  Ideen   enthaltenen  irrationalen 

Restprobleme. 

In  den  zuvor  besprochenen  Fällen  war  die  Anwendung 
des  Hypothesenbegriffes  teils  sinnlos,  teils  lag  keine  Nötigung 
dazu  vor.  Hier  handelt  es  sich  um  Probleme  gegenständlich- 
faktischer Natur.  Es  fragt  sich:  Wie  gestaltet  sich  hier 
das  Verhältnis  von  Idee  und  Hypothese? 

a)  Empirische  Grenzprobleme.  Denjenigen  Ideen, 
die  aus  einem  Reihenprozeß  hervorgingen,  entsprachen 
empirische  Grenzprobleme.  Als  solche  erkannten 
wir  die  Frage  nach  den  räumlichen  Grenzen  des 
Universums,  den  zeitlichen  Grenzen  der  ver- 
gangenen Weltveränderungen,  den  Grenzen  der 
Teilung  der  Materie.  Nur  in  dem  Zeitproblem 
ergab  sich  eine  bestimmte  Entscheidung  auf  Grund  der 
Anwendung  des  Postulats  der  Kausalität,  welches  einen 
Beginn  der  Weltvorgänge  vor  endlicher  Zeit  anzunehmen 
verbietet.  Die  beiden  anderen  Probleme  erkannten  wir  als 
absolut  unlösbar,  da  die  Totalität  kein  möglicher  Gegen- 
stand der  Erfahrung  ist.  Ein  Gleiches  gilt  von  der  Idee 
der  Homogeneität,  falls  wir  das  gegenständliche  Problem : 
die  objektive  Möglichkeit  des  Vorhandenseins  eines 
Grundstoffes,  einer  Grundkraft  ins  Auge  fassen. 

Gegenstand  der  Hypothesenbildung  können 
nur  relative  Größen  sein,  so:  begrenzte,  noch  un- 
bekannte kosmische  Massen  jenseits  des  Bereiches  unserer 
unmittelbaren  Wahrnehmung  mittelst  der  astronomischen 
Beobachtungsinstrumente,  relative  Anfangszustände  der 
Welt,  relativ  einfache  und  konstante  Elemente  der  Materie, 
relativ  homogene  Größen,  ein  relativ  einfacher  Grundstoff, 
Vereinigung  bestimmterNaturkräfte  in  Äußerungen  einer 
Naturkraft.      Diese   Beziehungen    im   absoluten    Sinne   ge- 


376  Ernst  Lehmann: 

nommen,  würden  absolut  unverifizierbare  Hypothesen  sein, 
weil  die  absolute  Totalitat  kein  Gegenstand  der  Erfahrung 
ist.  Absolute  Begriffe  und  Beziehungen  sind  entweder 
durch  sich  selbst  verifiziert,  oder  sie  sind  es  gar  nicht. 

b)  Transzendente  Restprobleme.  Denjenigen 
Ideen,  die  nicht  als  Endpunkt  eines  empiri- 
schen Reihenprozesses,  sondern  durch  einen 
spontanen  Akt  der  Konzeption  gesetzt  sind, 
entsprechen  bei  Kant  transzendente  Restpro- 
bleme. Das  Moment  der  Idee  liegt  hier  nicht  in  dem 
Moment  der  absoluten  Totalität,  sondern  in  dem  Moment 
der  absoluten  Spontaneität,  oder  negativ  ausgedruckt, 
in  der  absoluten  Unmöglichkeit  einer  Darstellung  in  der 
Anschauung  des  Raumes  und  der  Zeit.  Ob  für  eine  intellek- 
tuelle Anschauung  der  Gegensatz  von  Mechanismus  und 
Teleologie  aufgehoben  sei,  ob  das  unbekannte  Substrat  der 
psychischen  Erscheinungen  ein  absolut  einfaches  Wesen 
sei,  ob  die  physischen  und  psychischen  Erscheinungen 
Erscheinungsweisen  eines  unbekannten  gemeinschaftlichen 
Grundes  seien,  wie  es  komme,  daß  der  Mensch  als  ein 
intelligibles  Wesen  gerade  diesen  bestimmten  empirischen 
Charakter  annehme,  ob  der  intelligible  Grund  dar  Er- 
scheinungswelt koinzidiore  mit  der  Idee  des  intelligenten 
Welturhebers,  —  das  sind  Fragen,  die  ihrer  Natur  nach 
schlechterdings  unbeantworthch  seien.  —  Wir  warfen  oben 
bei  Erörterung  der  psychologischen  Idee  die  Frage 
auf,  ob  es  überhaupt  einen  Sinn  habe,  von  einem  einfachen 
Wesen  als  unbekanntem  Substrat  der  psychischen  Er- 
scheinungen zu  reden.  Jedenfalls  ist  es  sinnlos,  c^uch  das 
Faktum  der  absoluten  Spontaneität  des  Selbstbewußtseins 
als  ein  bloßes  Phänomen  zu  bezeichnen,  dem  ein  un- 
bekannter intelligibler  Grund  entspricht.  Ein  transzendentes 
Restproblem  ist  aber  dagegen  gegeben  in  dem  Parallelismus 
psychischer  imd  physischer  Erscheinungen  und  insonderheit 
in  dem  Faktum  des  Vorhandenseins  physiologischer  Be- 
dingungen des  Auftretens  und  der  normalen  Entfaltimg  des 
Selbstbewußtseins.      Das    theoretische    Erkennen    vermag 


' 


Idee  und  Hypothese  bei  Kant.  377 

lediglich  diese  Grenzprobleme  zu  bezeichnen  und  in  dem 
erstgenannten  Problem  lediglich  eine  völlig  unbestimmte 
Möglichkeit  atifzustellen ,  wie  sich  dieser  Parallelismus 
denken  lasse.  Die  Hypothese  des  metaphysischen  psycho- 
physischen  Parallelismus  bedeutet  eine  ihrer  Natur  nach 
absolut  unverifizierbare  Annahme,  indem  sie  in  keiner  mög- 
lichen Anschauung  dargestellt  werden  kann.  Sie  bezeichnet 
nichts  als  eine  bloße  Denkmöglichkeit,  aus  der  weitere, 
durch  Ebrfahrung  kontrollierbare  Schlüsse  schlechterdings 
nicht  gezogen  werden  können.  —  Sieht  man  weiterhin  in 
der  Idee  des  Naturzweckes  und  der  Idee  der 
Willensfreiheit  lediglich  Beurteilungsweisen,  so  liegt 
zu  der  Aufstellung  eines  transzendenten  Restproblems  keine 
Veranlassung  vor.  Wollte  man  dies  dennoch  versuchen,  so 
würde,  wie  wir  bei  Besprechung  der  teleologischen  Idee 
ausführten,  bereits  die  Formulierung  dieses  Problems 
auf  prinzipielle  Schwierigkeiten  stoßen;  denn  strenggenommen 
laßt  sich  nicht  angeben,  was  es  heißen  solle,  daß  den  als 
zweckmäßig  beurteilten  Naturerscheinungen  ein  reales  Prinzip 
zugrunde  liege,  das  der  menschlichen  Zwecksetzung  analog 
gedacht  werden  müsse.  —  Ebenso  fanden  wir,  daß  das 
durch  die  Gottesidee  aufgegebene  transzendente  Restproblem 
nicht  scharf  definiert  werden  kann,  indem  weder  der  Begriff 
der  Weltursache  noch  der  des  intelligenten  Welturhebers 
sich  eindeutig  und  klar  definieren  läßt.  Läßt  sich  aber  ein 
Problem  schlechterdings  nicht  präzis  definieren,  so  können 
auch  die  S5U  seiner  Lösung  aufgestellten  Hypothesen 
keinen  streng  wissenschaftlichen  Wert  beanspruchen.  Wo 
aber,  wie  im  Fall  des  psychophysischen  Parallelismus,  das 
Problem  selbst  als  Grenzproblem  sich  eindeutig  und  präzis 
definieren  läßt,  folgt  die  Unlösbarkeit  desselben  durch  eine 
Hypothese  aus  der  absoluten  Unmöglichkeit,  deren  Elemente 
ia  irgendeiner  Anschauung  darzustellen,  sowie  der  Un- 
mögUchkeit,  irgendwelche  Konsequenzen  aus  einer  solchen 
Annahme  zu  ziehen,  die  sich  in  irgendeiner  Erfahrung 
prüfen  lassen.  — 


378  Ernst  Lehmann. 

Sehlnß. 

Die  Ideen  bezeicimen  ein  Gebiet  absolut  strenggültiger 
Aussagen.  Sofern  sie  regulative  methodische  Prinzipien 
sind,  sind  sie  durch  sich  selbst  verifiziert;  sofern  sie  Pro- 
bleme faktisch-gegenständlicher  Natur  bezeichnen,  läßt  sich 
völlig  streng  die  Unmöglichkeit  ihrer  Lösung  durch  mehr 
oder  weniger  wahrscheinliche  Hypothesen  dartun.  Es  ist 
das  Moment  der  absoluten  Totalität  einerseits,  die  Momente 
der  absoluten  Spontaneität  und  absoluten  Unanschaulichkeit 
anderseits,  die  die  Anwendung  des  Hypothesenbegriflfes  aus- 
schließen. Denn  ist  auch  das  Kriterium  der  möglichen 
Verifikation  durch  Empfindung  zu  eng,  so  müssen  wir  doch 
von  einer  brauchbaren  Hypothese  die  Möglichkeit  der  Kon- 
struktion ihrer  Elemente  in  einer  Anschauung,  sei  es  des 
Raumes  oder  der  Zeit,  fordern  *).  Aus  jenem  Kriterium  folgt 
denn  auch,  daß  in  die  Hypothese  immer  nur  relativ  letzte^ 
relativ  einfache,  relativ  konstante  Elemente  eingehen  können, 
da  die  absolute  Totalität  in  keiner  Anschauung  als  solcher 
dargestellt  werden  kann. 

Danach  bleiben  also  Idee  und  Hypothese  scharf  ge- 
trennte BegriflFe;  erstere  zu  metaphysischen  Hypothesen  zu 
machen,  widerspricht  sowohl  dem  Wesen  der  Idee  wie  der 
Hypothese.  Von  wissenschaftlicher  Bedeutung  sind  dabei 
die  Ideen  lediglich,  sofern  sie  der  Ausdruck  methodischer 
Prinzipien  sind. 

')  Weil  der  Äther  als  Träger  räumlich  bestimmter  Zustands- 
änderungen  gedacht  wird,  auf  deren  Vorhandensein  wir  aus  be- 
stimmten Wanrnehmungen  (z.  B.  des  Funkenspiels  des  Resonators  in 
den  HERTzschen  Yersucnen  über  die  Ausbreitung  der  elektrischen 
ELraft)  schließen  können,  ist  der  Äther  eine  zulässige  Hypothese, 
obgleich  seine  Existenz  durch  Empfindung  direkt  mcht  ^bewiesen 
werden  kann. 


Die  Leviratsehe. 

Eine  soziologische   Studie. 
Von  G.  Ton  Glasenapp,  Jurjew  (Dorpat). 

Inhalt. 

Die  LeTiratoehe  und  ihr  parallel  gehende  Sitten  bei  den  Israeliten;  Versuch 
sie  aus  religiösen  Motiven  zu  deuten;  Analoges  bei  den  Indern,  Spartuiern,  Athenern. 
Unznlftnglichkeit  dieser  ErklArunar.  Deutung  der  L.  aus  Überzeugungen  Ober 
biologische  VerhUtnisse ,  bei  Israeliten,  Indern,  Chinesen,  ROmem,  Kelten.  Er- 
fahrungstatsachen als  Basis  der  L. ;  Analogien  aus  der  Botanik ;  biologische  Folge- 
rungen in  betreff  der  L. 

§1. 

Auf  die  Sitte  oder  das  Institut  der  Leviratsehe  (Schwager- 
ehe) beruft  sich  die  Bibel  mehrfach;  aber  nur  einmal  wird 
es  als  Gesetz  mit  Angabe  aller  Folgen  der  Übertretung  an- 
geführt; es  heißt  nämlich:  Deuteronomium  25,  5  f.: 
„Wenn  Brüder  beisammen  wohnen  und  einer  von  ihnen 
stirbt  ohne  einen  Sohn  zu  hinterlassen,  so  soll  die  Gattin 
des  Verstorbenen  sich  nicht  auswärts  an  einen  fremden 
Mann  verheiraten;  ihr  Schwager  soll  zu  ihr  eingehen,  daß 
er  sie  zur  Frau  nehme  und  ihr  Schwagerpflicht  leiste.  Der 
erste  Sohn  aber,  den  sie  dann  gebiert,  soll  dem  verstorbenen 
Bruder  zugerechnet  werden,  damit  dessen  Name  nicht  in 
Israel  erlösche;  usw."  Dann  folgt  die  Strafe  des  Un- 
gehorsams: „ins  Gesicht  spucken"  usw. 

Dies  Gesetz  ist  schon  deshalb  bemerkenswert,  weil  die 
Christenheit,  freilich  nicht  in  aUen  Konfessionen,  gerade  eine 
solche  Ehe,  als  Ehe  zwischen  „geistlich  Verwandten",  für 
Incest  erklärt  und  verboten  hat.  Daß  aber  bei  den  Israeliten 
dies  Gesetz  nicht  nur,  wie  manches  andere,  „auf  dem  Papier" 


380  ^'  '^'  Glasenapp: 

stand,   sondern  schon  seit  sehr  alter  Zeit  angewandt  ward, 
sieht  man  ans  zwei  Stellen  des  Alten  Testaments. 

Erstens:  Genesis  38,  8 — 12.  Jnda  befiehlt  seinem 
Sohne  Onan  die  Witwe  seines  verstorbenen  Bruders  Ger 
zn  heiraten,  „damit  er  ihr  Schwagerpfiicht  leiste  nnd  seinem 
Bruder  Nachkommen  verschaffe".  Onan  jedoch  trifift  Maß- 
regeln um  zu  verhindern,  daß  ein  von  ihm  zu  erzeugendes 
Kind  nicht  ihm,  sondern  einem  anderen  zugerechnet  werde. 
Es  verdroß  ihn,  daß  er  wegen  einer  Rechtsauffassung  seiner 
Mitbürger  um  seine  eigene  Nachkommenschafl  kommen 
sollte.  Er  selbst  wollte  Nachkommen  haben.  Was  er  tat, 
tut  jetzt  mancher  aus  dem  entgegengesetzten  Grunde. 

Zweitens:  Ruth,  Kap.  3  und  besonders  Kap.  4,  5  f.: 
„Da  sprach  Boas :  Gleichzeitig  damit,  daß  du  Naemi  das  Feld 
abkauÜBt,  hast  du  auch  die  Moabitin  Ruth,  des  Verstorbenen 
Witwe,  erkauft,  um  des  verstorbenen  Namen  auf  seinem 
Erbbesitz  wieder  erstehen  zu  lassen."  Schließlich  heiratete 
Boas  die  Ruth,  und  nach  Vers  17  war  der  Sohn,  den  sie 
hatten,  Obed  —  der  Großvater  des  Königs  David.  —  Die 
«nge  Beziehung,  in  die  hier  der  Erbbesitz  mit  der  Ehe 
gebracht  wird,  hat  wohl  auch  Eduard  Reuss^)  zu  der 
Meinung  veranlaßt,  die  Schwagerehe  sei  eingeftlhrt  worden 
tun  das  Familieneigentum  zu  sichern.  Zu  diesem  Zwecke 
allein  brauchte  fürwahr  noch  nicht  der  Sohn  des  zweiten 
Gatten  (üi  den  Sohn  des  ersten  Gatten  zu  gelten.  Man  sieht 
aber  auch  aus  der  Rolle,  die  in  dem  Buche  Ruth  der 
„Löser",  d.  h.  der  zur  EheUchung  Verpflichtete,  spielt,  daß 
<lie  Sitte  detailliertere  Bestimmungen  umfaßte,  als  das  im 
Deuteronomium  ausgesprochene  Gesetz:  je  nach  der  Nähe 
der  Verwandtschaft  konnten  offenbar  außer  dem  Schwager 
noch  andere  Personen  die  Witwe  heiraten. 

Abgesehen  von  dem  Nutzen  zur  Erhaltung  des  Namens 
und  zur  Sicherung  des  Familienbesitzes,  mag  zur  Erklärung 
dieser  Sitte  auf  religiöse,  ja  auf  eschatologische  Vorstellungen 


^)  Eduard  Bruss,  „Gesch.  d.  Heil.  Schriften  Alten  TestamentB*, 

1890^  s.  asa 


Die  Leviratsehe.  381 

aas  der  Vorzeit  verschiedener  Völker  hingewiesen  werden, 
denen  zufolge  der  Besitz  von  Kindern,  besonders  von  Söhnen, 
för  die  Eltern  einen  mehr  als  bloß  irdischen,  mit  dem  dies- 
seitigen Leben  schwindenden  Wert  hat.  Man  konnte  versucht 
sein,  das  Schicksal  zu  korrigieren  und  den  Besitz  von  Kindern 
kraft  menschlicher  Satzung  dort  zu  fingieren,  wo  sie  in 
Wirklichkeit  fehlten. 

Eine  solche  Annahme  darf  sich  zu  ihrer  Stütze  auf  ein^ 
zweite  Sitte,  respektive  auf  ein  Rechtsinstitut  aus  dem 
hebräischen  Altertum  berufen,  das  zur  Leviratsehe  eine 
Parallele  bildet  und  in  ähnlicher  Weise,  wie  diese  den 
kinderlosen  Gatten  de  jure  zum  Vater  macht,  fiir  die  kinder- 
lose Gattin,  jedoch  noch  bei  deren  Lebzeiten,  sorgt,  so  daß 
auch  auf  ihr  Konto  Kinder  kommen,  die  sie  nicht  selbst 
hervorgebracht  hat.  Das  bestand  zu  Recht,  obgleich  doch 
in  diesen  Fällen  die  Erhaltung  des  Namens  und  des  Familien- 
besitzes  nicht  in  Betracht  kam.  Natürlich  meinen  wir  die 
in  der  Genesis,  Kap.  30,  3—6  und  9  —  13  und  auch  schon 
früher  Kap.  16,  2  geschilderte  Sitte:  die  kinderlose  Rahel 
sprach  zu  Jakob:  „Hier  ist  meine  Leibmagd  Bilha;  wohne 
ihr  bei,  damit  sie  auf  meinem  Schöße  gebäre  und  auch  ich 
durch  sie  zu  Kindern  komme!"  usw.  Also  eine  lediglich 
fingierte,  s3rmbolische  Mutter  will  sie  werden.  Desgleichen 
tat  dann  mit  weniger  Grund  auch  Lea,  die  doch  eigene 
Kinder  besaß ;  und  Sarah  hatte,  derselben  Sitte  folgend,  sich 
durch  ihre  Magd  Hagar  Bander  verschaffen  wollen.  Die 
hierin  sich  kundgebende  Auffassung  ist  nicht  eine  bloß 
israelitische  Eigentümlichkeit.  Sie  ist  der  Alt-Babylo- 
nischen Kultur  entnommen,  denn  imKodex  des  Königs 
Hammurabi  (nach  Genesis  14,  1  „AmrapheP  oder 
„Amraph")  lesen  wir:  §  144:  „Wenn  jemand  eine  Frau 
nimmt,  und  diese  Frau  (weil  sie  keine  kinder  bekommt), 
ihremManne  eine  Magd  gibt,  und  diese  kinder  hat"  usw.  usw.*). 

Hier  findet  ebenso  wie  bei  der  Leviratsehe  eine  Stell- 


')  ^gl*  dazu  Alfbkd  Jerumias,  Das  Alte  Testament  im  Lichte  des 
Alten  Orients,  1906  ^  S.  855  f. 


382  ^'  ^'  Glasenapp: 

Vertretung  des  unfruchtbaren  parens  statt;  und  in  beiden 
Fällen  wird  man  sich  des  überaus  hohen  Wertes  entsinnen, 
den  viele  Völker  im  Altertum  und  auch  noch  jetzt  auf  den 
Besitz  von  Nachkommen  legen. 

So  liegt  es  denn  am  nächsten  Umschau  zu  halten,   bei 
welchen  Völkern  noch  außer  den  Israeliten  die  Leviratsehe 
oder  etwas  ihr  ähnliches  vorgekommen  ist.   Vor  allem  sind 
da  die  Inder  zu  nennen,  bei  denen  in  sehr  alter  Zeit  die 
Vorschrift  bestand,   es   könne  bei  einer  durch  Schuld  des 
Mannes  kinderlosen  Ehe  sein  naher  Verwandter  ihn  bei  der 
Frau  ersetzen,  oder  auch  mit  der  Witwe  eines  solchen  Kjinder 
erzeugen  (man  vgl.  dazu  Manus  Gesetze:  IX,  69,  121,  146). 
War  die  Frau   schuld,   so  durfte  der  Mann   sich  scheiden 
lassen.    Sodann  ist  Lykürgos'  Gesetzgebung  zu  erwähnen. 
Nach  ihr  war  es,  wie  Plutarch   erzählt,    „einem  bejahrten 
Manne,   der  eine  junge  Frau  hatte,   erlaubt,   einen  jungen 
tüchtigen  Mann,   der  ihm  gefiel  und   den   er   für  tauglich 
hielt,  bei  seiner  Frau   einzuführen  und  das  von  ihnen  aus 
edlem  Samen   erzeugte  Kind  für  das  seinige  zu  erkennen". 
Plutarch   erklärt   das    einerseits    aus    dem    Bestreben    des 
spartanischen   Gesetzgebers,   die  unnütze  Eifersucht  nicht 
zu  begünstigen,  anderseits  insbesondere  aus  der  Pflicht  eines 
jeden    mit   Hintansetzung    seiner    eigenen   Interessen    dem 
Staate  zu  einem  Nachwuchs  tüchtiger  Bürger   zu  verhelfen 
{Plutarch,    „Lykurgos",  Kap.  15;  und  dazu  die  Haupt- 
quelle: Xenophon,    „Der  Lakedämonische  Staat").    Drittens 
muß  das   Athenische   Volk  angeführt   werden;    denn   nach 
demselben  Plütarchos  von  Chäronea  („Selon",  Kap.   20) 
„war  es  dort  einer  reichen  Erbin  gestattet,  wenn  ihr  Mann, 
den    sie   nach   dem   Gesetze   hatte   heiraten    müssen,    un- 
vermögend war,   sich  von  dem  nächsten  Verwandten  des 
Mannes  in  dieser  Hinsicht  Ersatz  leisten  zu  lassen**.  Plutarch 
fuhrt  diese  Einrichtung  auf  die  Absicht  des  Selon  zurück, 
bei  Impotenz  des  Mannes  durch  solche  Nachsicht  zu  großer 
Zügellosigkeit  des  Weibes  vorzubeugen,  „damit  die  Bander 
wenigstens   aus   der  Verwandtschaft  sind  und   zur  Familie 
gehören".  —  So  gewiß   wir  nun   aber  in  diesen  Attischen 


Die  Leviratsehe.  383 

und  Lakedämonisclieii  Bestimmungen  nicht  willkürliche 
Erfindungen  des  Lykurgos  und  Selon  erblicken,  sondern 
gewifi  uralte  Volkssitten,  die  von  den  beiden  Gesetzgebern 
lediglich  sanktioniert  worden  waren,  so  genügt  das  alles 
doch  nicht,  um  die  israelitische  Leviratsehe  zu  verstehen. 
Demi  erstens:  „comparaison  n'est  pas  raison";  das  Ver- 
gleichen allein,  und  wenn  es  uns  bei  noch  so  vielen  Völkern 
Analoges  finden  ließe,  macht  noch  nicht  die  Frage  nach 
dem  „Warum"  verstummen.  Dann  lassen  sich  aber  auch 
wirklich  bei  den  arischen  Völkern  die  Wurzeln  dieses 
uralten  Brauches,  der  zu  Plutarchs  Zeiten  selbstverständ- 
licherweise schon  nicht  mehr  richtig  begriffen  wurde,  in 
sehr  primitiven  religiösen  Überzeugungen  aufdecken;  bei 
den  Israeliten  dagegen  nicht.  Nach  indischer  wie  nach 
griechisch-römischer  Anschauung  führte  jeder  Verstorbene 
seine  Existenz  weiter  fort  im  Jenseit;  er  weilte  unsichtbar 
bei  seinen  Nachkommen  als  deren  guter  Schutzgeist  (daimon, 
lar);  aber  sein  Wohlbefinden  daselbst  und  seine  schützende 
Tätigkeit  hingen  davon  ab,  daß  von  dem,  der  die  Familie 
fortsetzte,  also  von  seinem  Sohne  gewisse  Zeremonien  zu- 
gonsteu  des  verstorbenen  Vaters  (Libationen,  Opfer,  Gebete 
und  andere  Riten)  an  bestimmten  Orten,  auf  seinem  Grabe 
oder  am  Altar  oder  Herdo  des  Hauses,  ausgeführt  wurden. 
So  war  einerseits  die  Erfüllung  dieser  Gebräuche  eine 
heilige  Pflicht  der  Söhne;  anderseits  war  es  eine  heilige 
Pflicht  der  Volksgemeinde,  keine  Familie  je  aussterben  zu 
lassen.  Daher  der  Brauch.  Später  dienten  als  Notbehelf 
juristische  Fiktionen.  Fehlte  der  Ort  des  Ahnenkultus :  das 
Grab,  wo  der  Leichnam  lag,  so  trat  an  die  Stelle  das 
Kenotaphium;  fehlte  der  Mann,  der  den  Kultus  vollziehen 
sollte,  so  wurde  ein  Sohn  adoptiert,  oder  es  konnte  in 
Indien  und  in  Athen  der  älteste  Sohn  einer  Frau  in 
bezug  auf  die  Pflicht  des  Kultus  und  das  Erbrecht  juridisch 
für  den  Sohn,  nicht  seines  Vaters,  sondern  seines  Großvaters 
von  mütterlicher  Seite  erklärt  werden,  falls  dieser  keinen 
Sohn  hatte  (Islus  „de  Cironis  hered." ,  Demosthenes  „in 
Stephanum"  11,  20;   Manüs  Gesetze  IX,   127,  136  usw.), 


384  ^-  V.  Qlasenapp: 

also   ähnlicb  dem,  wie   heute   das  Anssterbeii  der  Adels- 
geschlechter vermieden  wird.    Daher  galt,  wie  zn  MaKus 
Zeiten  in  Indien,  noch  zn  CiCEROS  Zeiten  in  Born  die  Be- 
stimmung, dafi  nur  der,   dem  die  Natur  eigene  Kinder  ver- 
sagt hatte,  solche  adoptieren  durfte.    (Cicero   „pro  domo",. 
Kap.  13,  14;  Manüs  Gesetze  IX,   10).    Diesem  Totenkult 
und  Ahnenkult,   der  bei  den  Chinesen  noch  jetzt  zu  Kraft 
besteht,  ist  ja  von  manchen  sonst  einsichtsvollen  Forschem 
eine  so  übertrieben  grofie  Bedeutung  beigelegt  worden,  daft 
sie  aus  ihm  überhaupt  alle  Keligion  ableiten  wollten,  während 
er  doch  nur  die  Glaubensformen  und  Kultusformen  umfaßt^ 
in  die   ein  gewisser  Teil  der  religiösen  Bestrebungen  sich 
eingekleidet  hatte.     Da  Belege  für  alles   dieses   schon  in 
vielen  Werken  gesammelt  worden  sind*),   sei  es  gestattet 
hier  nur  zwei  Stellen  anzufahren:  in  den  „Choephoren" 
des   ÄscHTLOs   (162)   sagt   Orestes    zu    seinem  gestorbenen 
Vater:  „Solange  ich  noch  lebe,  o  Vater,  wirst  du  glänzende 
Opfer  erhalten,  aber  wenn  ich  tot  bin,  wirst  du  nicht  mehr 
deinen  Anteil   an   den  Darbringungen  bekommen,  welche 
die  Verstorbenen   nähren".  —  In   der  unter   dem  Namen 
Bhagavadgita  bekannten  Episode  des  MahabharaTA  heißt 
es  (Gesang  I  9loka  40): 

^tirbt  ein  Geschlecht,  so  höret  auf  alsbald  der  Hanenopfer  Pflicht, 
Und  ruchlos  wird  der  ganze  Stamm,  wenn  Ahnenkultns  ihm  gebricht*. 

(Ähnliches  noch  in  9loka  42  und  43.) 

-kulakshaye  prana9yanti  kuladharm&h  san&tan&h 

aharme  nashte  kulam  kritsnam  adharmo  'bhibhavaty  ata.'^ 

Sollen  also  derartige  Gebräuche,  wie  derjenige,  der  den 
Gegenstand  dieser  Abhandlung  bildet,  mit  dem  Ahnenkult 
in  Verbindung  gebracht  werden,  so  wird  entweder  Ent- 
lehnung von  einem  Volke,  das  diesem  Kultus  ergeben  ist, 
nachzuweisen  sein,  oder  Ahnenkult  bei  den  Israeliten  selbst 
V7eder  das  eine  noch  das  andere  dürfte  gelingen.  Jahwe 
war  ein  viel  zu  eifersüchtiger  Gott,   als  daß  er  neben  dem 


')  Z<  B.  H.  Orj}fi«BEBG,  Die  BeUgion  des  Veda;  Fubtel  de  Coulanqes» 
La  Cit^  Antique;  Galand,  Über  Totenverehrung |  Altind.  Ahnenkult. 


Die  Leviratsehe.  385 

Knltus    seiner   Person   den    einer  anderen  geduldet  hätte; 
selbst  die  Teraphim,   die  alten  Hausgötter  aus  Labans  und 
.  Rahels    Zeiten    (Genesis    31,    19),    mußten    vor    ihm    ver- 
schwinden. 

So  wollen  wir  diesem  Gedankengange,  der  ja  auch  bei 
den  Ariern  nur  die  eine  Seite,  die  mythologische,  nicht  die 
praktische,  erklärt,  —  nicht  weiter  folgen ;  —  eben  deshalb 
nicht,  weil  für  eine  solche  Provenienz  der  Leviratsehe  die 
heiligen  Schriften  des  hebräischen  Altertums,  also  das  Alte 
Testament,  keine  genügenden  Anhaltspunkte  bieten.  Das 
Alte  Testament  leugnet  zwar  nirgendwo  —  es  sei  denn  im 
Kohelet  —  die  Fortexistenz  nach  dem  Tode;  und  auch 
Jakob  sprach  im  Schmerz  über  den  vermeintlichen  Tod 
seines  Sohnes  Joseph  (Genesis  37,  35):  „Trauernd  werde 
ich  zu  meinem  Sohne  hinabsteigen  in  die  Unterwelt".  Aber 
die  Vorstellungen  von  einem  Jenseit  und  einem  Leben  nach 
dem  Tode  spielten  doch  bei  den  Israeliten,  solange  sie  noch 
nicht  mit  den  Eraniem  bekannt  geworden  waren ,  eine  so 
geringfügige  Rolle  und  werden  nur  so  flüchtig,  selten  und 
beiläufig  erwähnt,  daß  sie  allein  zur  Begründung  jener 
merkwürdigen  Sitte  der  Leviratsehe  nicht  berechtigen. 

§2. 

Man  vergegenwärtige  sich,  welch  seltsame  Dinge,  ja,  — 
für  die  eifersüchtigen  Ehrbegriffe  des  modernen  Europäers  — 
welch  anstößige  Dinge  dem  gläubigen  Jünger  des  Moses  mit 
dieser  weisen  Einrichtung  zugemutet  werden.  Ein  Ehemann 
ist  abwesend  —  gestorben  oder  verschollen  — ,  und  das  Kind, 
das  mit  seinem  Weibe  ein  Anderer  unterdessen  erzeugt,  soll  er 
geduldig  auf  seine  Rechnung  setzen  lassen,  ja  eigentlich  sich 
noch  im  Jenseits  bei  seinem  Bruder  bedanken  für  diesen 
„Liebesdienst"  in  des  Wortes  verwegenster  Bedeutung.  Dem 
abwesenden  Gatten  wird,  wie  Ariosto^)  sagen  würde,  „die 
Helmzier  derer  von  ComwaUis"  (il  cimier  di  Comovaglia") 
aufgesetzt;    es   geht   ihm   wie    dem   verreisten    Gemahl    in 


*)  L.  Ariosto,  Orlando  Furioso,  Ges.  42,  Str.  103. 

yiertelj»hrB£chriftf.wi88en8«haft1.  Philos  u.SozioI.  XXXII.  8.  25 


386  G^.  V.  Glasenappr 

Chamissos  bekanntem  Q-edicht  „Sankt  Vito" ;  er  wird  in 
absentia  gekrönt  nnd  soll  dann  die  Urheberschaft  einer 
solchen  Progenitur  noch  dazu  mit  Erkenntlichkeit  auf  sich 
nehmen.  Heute  würde  man  das  „höflichst"  ablehnen. 
Sollte  daher,  fragen  wir,  diese  Meinung  von  der  Vaterschaft 
bei  einem  so  eminent  praktisch  angelegten  Volke  wirklich 
nur  auf  phantastisch -mythologische  Vorstellungen  und 
"Wünsche  über  das  Verhalten  der  Seelen  zwischen  diesseits 
und  jenseits  zurückzufahren  sein  und  nicht  vielleicht  auf 
uralte  Beobachtungen  wirklicher  Naturvorgänge?  Hat  man 
nicht  möglicherweise  im  Ernste  geglaubt,  daß,  wenn  jemand 
eine  Witwe  freit,  das  erste  Kind  in  einem  gewissen  Sinne 
und  zu  einem  gewissen  Teile  nicht  ihm  allein,  sondern  auch 
seinem  Vorgänger,  dem  ersten  Gatten  zugehöre.  Falls  also 
eine  solche  Überzeugung  bestand,  so  haben  wir  uns  erstens 
nach  Belegen  dafür  umzusehen,  worin  sie  sich  sonst  noch, 
außer  dieser  Sitte  der  Leviratsehe,  äußerte. 

Zweitens  haben  wir  dann  die  Erfahrungstatsachen 
beizubringen,  die  den  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser 
Überzeugung  liefern,  wobei  natürlich  die  alten  Hebräer 
nicht  etwa  schon  ein  deutliches  Bewußtsein  des  Kausal- 
zusammenhanges gehabt  zu  haben  brauchen;  wie  oft  gilt 
nicht  der  Satz,  daß  „was  kein  Verstand  der  Verständigen 
sieht,  das  übet  in  Einfalt  ein  kindlich  Gemüt". 

Für  das  Bestehen  der  Überzeugung,  die  wir  eben 
formuliert  haben,  lassen  sich  aus  dem  Alten  Testament 
manche  Stellen  anführen;  z.  B.  der  den  Israeliten  bei  der 
Bekämpfung  der  autochthonen  Bevölkerung  Kanaans  ge- 
gebene Befehl:  Numeri  81,  17:  „So  tötet  nun  alles,  was 
männlich  ist  unter  den  Kindern  der  Heiden;  ebenso  tötet 
jedes  "Weib,  dem  bereits  ein  Mann  beigelegen  hat.  Dagegen 
alle  Kinder  weiblichen  Geschlechts,  denen  noch 
kein  Mann  beigelegen  hat,  laßt  für  euch  am  Leben".  — 
Bei  dem  schon  früh  erwachten  Bestreben  der  Israeliten, 
ihre  Basse  von  Vermischungen  mit  anderen  Rassen  rein- 
zuhalten, soll  diese  Vorschrift  in  betreff  der  Behandlung 
besiegter  Feinde  doch  den  Gedanken  aussprechen,  daß  ein 


Die  Leviratsehe.  387 

Mann  nur  dann  sicher  sein  darf,  alleiniger  Vater  der  mit 
einem  Weibe  zu  erzeugenden  Kinder  zu  sein,  wenn  dieses 
Weib,  bevor  es  das  seinige  wurde,  noch  niemals  frühei? 
Gelegenheit  gehabt  hatte  zu  konzipieren.  Dieselbe  Auf- 
fassung bezeugen  andere  Stellen,  z.B.  Deuteronomium21, 
10—14. 

Allein,  weshalb  sollen  wir  uns  nur  an  das  Volk  Israel 
halten?  Spricht  nicht  die  Scheu,  die  vielfach  verbreitet  ist, 
Witwen  zu  freien,  besonders  solche  von  fremder  Ab- 
stammung —  spricht  nicht  die  überschwengliche  Hoch- 
schätzung, die  man  der  Jungfräulichkeit  und  der  Treue  der 
Ehegattin  entgegenbringt,  für  dieselbe  Überzeugung!  Und 
hierin  sind  alle  einig,  vom  sogenannten  Naturmenschen 
niedrigster  Rasse,  von  dem  Australneger  bis  zum  Vertreter 
der  höchsten  Kultur,  bis  zum  Hellenen  aus  Perikles  Zeit- 
alter. Nur  solange  es  sich  darum  handelt,  mit  Kantischer 
Strenge  eine  rein  moralische  Bewertung  der  Keuschheit  vor- 
zunehmen, unterliegen  beide  Geschlechter  gleicher  Be- 
urteilung, und  die  gleiche  Vergiftung  der  Phantasie  droht 
jedem  Übertreter  des  sittlichen  Imperativs.  Utilitaristische 
Rücksichten  und  der  Gedanke  an  künftiges  Familienglück 
verschieben  schon  die  Stellung  der  Geschlechter;  denn 
erstens  wird  durch  die  Verletzung  der  Tugend  von  Seiten 
der  Gattin  der  Ehemann  unsicher,  wessen  Nachkommen  er 
in  seinem  Hause  aufzieht  und  nährt,  während  bei  solcherlei 
Verletzung  von  Seiten  des  Mannes  „mater  semper  certa  est"  ; 
und  zweitens  föllt  der  Gedanke  in  die  Wagschale,  daß  eine 
Unverheiratete,  die  zu  der  Zeit,  wo  eine  solche  Verfehlung 
sie  den  schwersten  Gefahren  und  Vervehmungen  aussetzt, 
ihre  Tugend  nicht  bewahrt,  eine  schlechte  Garantie  bietet 
für  später,  für  die  Zeit  der  Ehe,  wo  einerseits  der  Trieb 
geweckt  ist,  anderseits  die  Folgen  des  Fehltritts  sich  leichter 
verhehlen  und  auf  Rechnung  des  eigenen  Gatten  setzen 
lassen.     So  steht's  beim  Manne  nicht. 

Aber  ganz  abgesehen  hiervon  haben  offenbar  zu  allen 
Zeiten,  wo  nicht  verfeinerte  Zivilisation  den  gesunden  Takt 
vernichtet  hatte,   die  Ehemänner  geglaubt,   nur  dann  auch 

25» 


388  G^.  V.  Glasenapp: 

wirklichi  ganz  und  gar  Väter  ihrer  Kinder  zu  sein,  wenn 
ihre  Frauen  früher  noch  nie  empfangen  hatten.  Später 
jEreilich  heißt  es:  „Vernunft  wird  Unsinn,  Wohltat  Plage ; 
weh  dir,  daß  du  ein  Enkel  bist!"  Nämlich  die  zu  einer  Art 
von  Gesetz  erstarrte  Sitte  übt  ihre  Tyrannei  auch  in  solchen 
Fällen,  wo  der  Grund,  der  sie  entstehenließ,  fehlt.  Darum 
leiden  noch  heutzutage  in  Indien  unzählige  junge  Witwen, 
deren  „angetraute  Gatten"  vielleicht  im  Alter  von  drei  oder 
vier  Jahren  gestorben  sind,  unter  der  Sitte,  die  den  Männern 
verbietet,  Witwen  zu  freien;  und  einige  selbstverleugnende 
Aufklärer,  die  zu  unserer  Zeit  durch  ihr  Beispiel  diesem 
harten  Brauch  entgegenwirken  wollten,  haben  sich  die  all- 
gemeine Verachtung  der  Volksmenge  zugezogen ;  denn  man 
hält  ihre  Nachkommen  nicht  fiir  legitim.  Auch  die  indische 
Witwenverbrennung  —  das  Sati- werden  —  scheint  mit  dieser 
Ansicht  zusammenzuhängen :  die  Frau  hat  als  Gattin  eines 
Mannes  ihre  Bestimmung  bereits  erfüllt;  denn  sie  kann 
nach  seinem  Tode  nicht  mehr  Mutter  „wohlgebomer" 
Kinder  werden.  —  Wo,  wie  in  T  i  b  e  t ,  Polyandrie  vorkam, 
waren  es  wenigstens  nur  Brüder,  die  zusammen  eine  Frau 
nahmen.  Über  etwas  dem  Ahnliches  ist  es  interessant, 
Julius  Caesars  Bericht  aus  dem  alten  Britannien  zu  ver- 
nehmen (De  belle  Gallico,  V,  14  §  4)  „Uxores  habent  deni 
duodenique  inter  se  communes  et  maxime  fratres  cum 
fratribus  parentesque  cum  liberis;  sed  qui  sunt  ex  iis  nati, 
eorum  habentur  liberi,  quo  primum  virgo  quaeque  deducta 
est".  —  Also  hier,  bei  den  Kelten,  wurden  dem  Vater  des 
ersten  Kindes  auch  die  übrigen  zugerechnet;  genau  wie  bei 
den  Israeliten.  Und  was  unter  den  Menschen  galt,  hat 
man  auch  in  der  Tierwelt  gelten  lassen:  wenn  z.  B.  die 
Araber  reinblütige  Pferde  züchten  wollen  und  eine  ihrer 
edlen  Stuten  zufölligerweise  von  einem  nicht-reinblütigen 
Hengste  befruchtet  worden  ist,  so  töten  sie  nicht  nur  das 
von  jenem  Hengste  erzeugte  Füllen,  sondern  darauf  noch 
ein  oder  zwei  Füllen  derselben  Stute,  die  von  Rassehengsten 
abstammen;  und  erst  das  dritte  oder  vierte  Füllen  kann 
wieder  für  echt  gelten  und  leben  bleiben. 


Die  Leviratsehe.  389 

Bei  diesen  Betrachtungen  fallt  dem  Juristen  natürlich 
die  frappante  Ähnlichkeit  auf,  die  mit  solchem  summarischen 
Verfahren  der  Wüstenbewohner  gewisse  römisch-recht- 
liche Bestimmungen  haben.  Wenn  nämlich  die  Wieder- 
vereheUchung  einer  Witwe  nicht  gern  gesehen  wurde,  und 
wenn  es  „poenae  secundarum  nuptiarum"  gab,  so  wird 
dafiir  im  Corpus  Juris  kein  ethischer  oder  religiöser, 
sondern  ein  ausschließlich  physiologischer  Grund  angegeben. 
Es  heißt:  „Praetor  enim  ad  id  tempus  se  retulit,  quo  vir 
elugeretur,  qui  solet  elugeri  propter  turbationem 
sanguinis"^).  Es  kommt  darauf  an,  die  „turbatio 
sanguinis"  zu  vermeiden;  die  Durcheinandermischung  des 
Blutes. 

§8. 

Um  nunmehr  die  Ansicht  eines  gelehrten  Biologen  an- 
^ufiahren,    die   auch  gleich  zu  dem  Versuche  hinüberleitet, 
imsere   zweite  Aufgabe   zu  lösen,   nämlich  die  erfahrungs- 
mäßige  Grundlage  der  Leviratsehe  aufzuzeigen,  zitieren  wir 
eine  Stelle  aus:  Dr.  L.  Diemer,  Das  Leben  in  der  Tropen- 
zone*):  „Der  Europäer  (auf  den  malayischen  Inseln,   der 
mit  einer  inländischen  Frau  verheiratet  ist),   nimmt  meist 
inländische  Sitten  an,  .  .  .   seine  Kinder  haben  mehr  den 
Typus  der  Eingeborenen,  mit  einem  Worte,  die  Nationalität 
des  Europäers  geht  verloren;   dagegen  bleibt  der  Chinese 
in    seinen    Handlungen,     Sitten,     seiner    Ernährungsweise 
Chinese,   seine  Kinder  haben  mehr  den  Typus  des  Vaters, 
die  eingebome  Frau  schickt  sich  in  chinesische  Tracht,  Ge- 
wohnheiten und  Gebräuche.    Vielleicht  liegt  die  Erklärung 
hierfiir  in   dem  Umstände,  daß  Europäer  in  der  Regel  ti- 
länderinnen,  welche  bereits  Mutter  eines  Blindes  waren,  zur 
Frau   nehmen,   während   die   Chinesen   sich    möglichst   be- 
mühen,  stets  eine  Jungfrau  heimzuführen.     Es  kommt  hier 
die  bekannte  Erfahrung  in  Betracht,  daß  Kinder  einer  Witwe, 


*)  TJlpun:  2  D.  III,  2,  De  his  qui  notantur  infamia. 
^  Dr.  L.  DiEMER,   Das   Leben   in   der   Tropenzone,   speziell    im 
indischen  Archipel.    Hamburg  1887,  S.  40  f. 


390  ^'  ▼•  Glasen app: 

welche  schon  fiiiher  geboren  hatte,  nicht  selten  dem  ersteit 
Manne  gleichen,  wie  auch  von  Tieren  Ähnliches  behauptet 
wird;  wenn  Verfasser  auch  in  wissenschaftlichen  Werken 
keine  bestimmten  Tatsachen  hierüber  finden  kann,  so  haben 
ihn  doch  Hundezüchter  dahin  berichtet,  daß  die  später  ge- 
bornen  Jungen  einer  Hündin  oftmals  dem  ersten  Begatter 
ähneln;  andere  Viehzüchter  sagen  dasselbe,  imd  sehr  all- 
gemein ist  der  Glaube,  daß  eine  Stute,  die  einmal  von  einem 
Esel  ein  Maultier  geboren  hat,  späterhin  keine  Füllen  mehr 
wirft,  welche  nicht  einige  Ähnlichkeit  mit  einem  Esel  oder 
Maultier  zeigen.  J.  E.  Teysmann  beobachtete  Ahnliches  bei 
Pflanzen ;  pfropft  man  nämlich  ein  Reis  mit  farbigen  Blättern 
auf  einen  Baum  derselben  Art  mit  nur  grünen  Blättern  und 
läßt  dasselbe  sich  vollständig  entwickeln,  so  soll  auch  nach 
Entfernung  des  Zweiges  der  Baum  selbst  farbige  Blätter 
hervorbringen«. 

Wir  nähern  uns  denjenigen  biologischen  Beobachtungen 
und  Betrachtungen,  die  für  unsere  Frage  entscheidend  sind, 
indem  wir  einen  zweiten  namhaften  Biologen  zitieren:  Dr. 
Wilhelm  Haacke  ^)  spricht,  Kapitel  HI,  o,  S.  301  von  „zweifel- 
haften Vererbungserscheinungen "  und  erwähnt  zuerst  die 
sogenannten  „Xenien",  Fälle,  in  denen  der  Blütenstaub 
nicht  nur  auf  die  Eizelle  einwirkt,  sondern  auch  auf  die 
übrigen  Gewebe  der  mütterlichen  Frucht  erbliche  Eigen- 
schaften überträgt.  Wenn  gelbkömiger  Mais  durch  Pollen 
von  blaukömigem  befruchtet  wird,  so  werden  zuweilen  die 
Maiskörner  blau.  Haacke  nimmt  die  Vererbung  erworbener 
Eigenschaften  an  und  setzt  demgemäß  eine  Beeinflussung 
der  Keimzellen  durch  die  des  Körpers  voraus,  weü  die 
Keimzellen  mit  diesem  im  Gleichgewicht  stehen  und  weil 
sich  verändertes  Gleichgewicht  auch  auf  die  Keimzellen 
übertragen  muß.  Der  Unterschied  fiir  die  Tiere  sei  nur, 
daß  bei  ihnen  die  Eizelle  erst  befinchtet  wird,  nachdem  sie 
sich  aus   dem  Verbände   der  übrigen  Zellen  gelöst  hat  (?)^ 


^)  WiLHKLM  Haake,  Gestaltung  und  Vererbung.  Eine  Entwicklungs- 
mechanik der  Organismen.    Leipzig  1893,  Kap.  Ill,  o,  S.  801. 


Die  LeTiratsehe.  391 

während  bei  den  Pflanzen  die  Eizelle  zunächst  in  Zusammen- 
hang mit  den  Geweben  des  mütterlichen  Fruchtknotens 
bleibt.  Femer  erwähnt  auch  Haacke  die  „Infektion  des 
Keimes** ,  der  zufolge  die  Nachkommen  einer  Mutter  ge- 
legentUch  mehr  einem  früheren  Gatten  als  ihrem  eigenen 
Vater  gleichen  sollen.  Sichergestellt  ist  unter  anderem 
der  berühmte  Fall,  in  welchem  eine  Pferdestute  des  Lord 
Morton,  die  einmal  von  einem  Quaggahengst  gedeckt  war, 
später  von  einem  arabischen  Rapphengst  zwei  Füllen  warf, 
die  zum  Teil  graubraun  und  an  den  Beinen  quaggaartig  ge- 
streifl  und  mit  einer  kurzen  aufrechtstehenden  Mähne,  wie 
sie  das  Quagga,  nicht  aber  das  Pferd  besitzt,  versehen  waren. 

§4. 

Damit  die  erklärende  Ausdeutung  dieser  biologischen 
Tatsachen^  die  wir  dem  Urteil  der  Leser  vorzulegen  haben, 
allgemein  verständlich  sei,  gestatten  wir  uns  vorher  ganz 
kurz  an  diejenigen  Vorgänge  aus  dem  Leben  der  Organismen 
zu  erinnern,  die  das  Wesen  der  Fortpflanzung  aus- 
machen und  die,  was  besonders  zu  betonen  ist,  den  Pflanzen 
und  Tieren  durchaus  gemeinsam  sind,  angefangen  von  den 
Algen  (z.  B.  dem  gemeinen  Blasentang,  Fucus  vesiculosus) 
bis  herauf  zu  den  höchstentwickelten  Phanerogamen  und 
den  Säugetieren.  Denn  gerade  das  hierin  übereinstinmiende 
Verhalten  der  Pflanzen  und  Tiere  erlaubt  uns  Analogien 
aus  beiden  Naturreichen  zur  Verdeutlichung  heranzuziehen. 

Die  Zelle,  sei's  daß  sie  als  einzelne  frei  lebend  ein 
ganzes  Individuum  ausmacht  (wie  die  Amöben,  Infusorien 
und  manche  Pflanzen,  oft  sehr  große,  z.  B.  die  vielen  Formen 
der  Caulerpa),  —  sei's  daß  sie  als  Teil  eines  vielzelligen 
Individuums  in  Betracht  kommt,  —  ist  als  die  biologische 
Einheit  anzusehen,  die  sich  nicht  anders  als  durch  Teilung 
vermehrt  und  immer  aus  einer  anderen  Zelle  entstanden  ist 
(omnis  cellula  e  cellula).  Und  dabei  sind  als  Hauptbestand- 
teile der  Zelle  diejenigen  zu  betrachten,  die  diese  Teilung 
mitmachen:  das  Protoplasma,  der  Kern  der  ZeUe  und 
innerhalb  des  Kernes  die  während  der  Teilung,  im  Zustande 


392  Cr-  V.  Glasenapp: 

der  Mitose,  als  Stäbchen  sichtbar  werdenden  Chromo- 
somen. (Was  nur  an  Pflanzen  oder  vielleicht  nur  an 
Tieren  vorkommt,  wie  Chromatophoren  und  Centrosomen, 
bleibt  hier  unberücksichtigt;  es  ist  nicht  allen  gemeinsam.) 

Bei  der  Teilung  nun  entsteht  nur:  Protoplasma  aus 
Protoplasma,  Zellkern  aus  Zellkern ;  und  in  ihm :  Chromosom 
—  durch  Längsteilung  —  aus  Chromosom;  während  das 
übrige :  die  Zellhaut,  Vakuolen,  kristallinische  Eiweißkömer 
usw.  sich  aus  dem  Protoplasma  ausscheiden.  Zu  der  Zeit,  wo 
keine  Teilung  bevorsteht,  also  außerhalb  der  Mitose,  zeigt 
der  Kern  ein  gewebeähnliches  oder  marmoriertes  Aussehen ; 
die  Chromosomen  treten  nicht  hervor,  bleiben  latent. 

Im  allgemeinen  unterscheidet  man  wohl  Keimzellen 
und  vegetative  (metamorphe)  Zellen,  da  durch  die  Teilung 
der  Keimzellen  die  Individuen  sich  vermehren,  durch  die 
der  vegetativen  Zellen  sie  nur  wachsen  und  sich  ausbilden. 
Man  hält  daran  fest,  obgleich  nicht  bloß  bei  einzelligen 
Tieren  und  Pflanzen  natürlich  beides  zusammenßlllt  und 
jede  Teilung  eine  Vermehrung  bedeutet,  und  obgleich  auch 
bei  manchen  vielzelligen  —  z.  B.  bei  Marchantia  —  jede 
vegetative  Zelle  durch  äußere  mechanische  Eingriffe,  durch 
Lösung  aus  dem  Verbände  der  Nachbarzellen  ein  neues  In- 
dividuum von  sich  abgliedern,  also  gewissermaßen  zur 
Keimzelle  werden  kann.  So  gibt  es  allenthalben  Übergänge 
in  den  Funktionen  der  Organismen  und  ihrer  Teile;  und 
die  biologischen  Gesetze  ähneln  darin,  daß  sie  Ausnahmen 
und  Übertretungen  nicht  ausschließen,  mehr  den  von  den 
Menschen  gegebenen,  als  den  unbeugsamen  Gesetzen  in  der 
Physik  und  Chemie. 

Die  sexuelle  Fortpflanzung,  mit  der  wir  es  hier  be- 
sonders zu  tun  haben,  unterscheidet  sich  von  der  nicht 
sexuellen  dadurch,  daß  zunächst  nicht  eine  Vermehrung, 
sondern  eine  Verminderung  der  Zellen  eintritt :  zwei  Keim- 
zellen verschmelzen  zu  einer;  und  diese  Verschmelzung 
des  Spermatozoiden  mit  dem  Ei  bildet  den  Impuls  zu  einem 
weiteren,  oft  lange  fortgesetzten  Teilungsprozeß  innerhalb 
des   dabei  wachsenden  Eies,   durch   den   es  sich  zum  voll- 


Die  Leviratsehe.  393 

standigen  Individuum  entwickelt,   bis   es  selbst  wieder  im- 
stande ist  Keimzellen  zu  bilden  und  von  sich  abzutrennen. 

um  sich  vereinigen  zu  können,  müssen  die,  entweder 
geschlechtlich  unterschiedenen  oder  (bei  den  sogenannten 
„Isogameten")  gleichen  Keimzellen,  reif  sein;  d.  h.  die  im 
Zellkern  enthaltenen,  für  jede  einzelne  Gattung  von  Orga- 
nismen an  Zahl  immer  gleichen  Chromosomen  müssen  sich 
vorher  um  die  Hälfte  ihrer  typischen  Menge  (etwa  von  4 
auf  2,  von  62  auf  31  usw.)  vermindert  haben,  was  man  die 
Reduktionsteilung  nennt.  (Ausführlich  behandelt  von 
Edmund  Wilson  ^).  —  Das  geschieht  bei  den  Tieren  um  zwei 
Zellgenerationen  vor  der  Abtrennung  vom  Organismus,  bei 
den  Pflanzen  noch  früher. 

Der  Hergang  der  Fortpflanzung  ist  nun  bei  Pflanzen 
und  Tieren  der  gleiche:  die  abgelösten  Spermatozoiden, 
die  aus  einem  relativ  großen  Zellkern  mit  den  Chromosomen 
darin  und  einer  dünnen  Hülle  von  Protoplasma  bestehen, 
umschwärmen,  wie  Tänzer,  die  einer  Dame  den  Hof  machen, 
oft  in  großer  Zahl  das  reife  Ei,  bis  es  einem  Spermatozoiden 
gelingt,  sich  in  das  Protoplasma  des  Eies  einzubohren. 
Jetzt  vereinigen  sich  die  beiden  Protoplasmen  und  Kerne 
in  der  Art,  daß  sämtliche  Chromosomen  des  Eies  und  des 
Spermatozoiden  sich  der  Länge  nach  teilen,  —  „etwa  wie 
man  einen  Papierstreifen  mit  der  Schere  der  Länge  nach 
zerschneidet",  —  und  dann  je  eine  Chromosomenhälfte  von 
der  Seite  der  Spermatozoiden  sich  ziemlich  dicht  anlegt  an 
je  eine  Chromosomenhälfle  des  Eies,  ohne  jedoch  mit  ihnen 
jemals  zu  verschmelzen.  Damit  ist  die  Befruchtung  voll- 
zogen ;  und  an  dem  Ei  beginnt  nun  der  Prozeß  des  Wachs- 
tums und  der  Teilung,  der  sich  äußerlich  meist  durch 
Furchung  kundgibt;  die  Zelle  wird  zur  Furchungskugel. 
Klar  ergibt  sich  hieraus  die  finale  Bedeutung  der  voraus- 
gehenden Beduktionsteilung ;  denn  ohne  sie  müßte  die  Zahl 
der  Chromosomen  in  dem  neugebildeten  Organismus  doppelt 


M  Edmuicd  Wilson,   The  Cell   in   development   and  inheritanoe, 
S.  233  f. 


394  Ö".  V.  Glasenapp: 

SO  groß  sein  wie  in  den  Zellen  der  Organismen,  von  denen 
er  abstammt  und  deren  einer  sich  aus  ihm  ausbildet.  — 
Dabei  ist  zu  beachten,  daß  bei  allen  Individuen,  mit  denen 
wir  es  hier  zu  tun  haben,  das  Ei  noch  nicht  völlig  aus  dem 
Verbände  des  Mutterorganismus  gelöst  worden  ist. 

§5. 

Betrachtet  man  im  Lichte  dieser  Grundtatsachen  der 
Fortpflanzung  dasjenige,  was  oben  als  „Infektion  des  Keimes" 
bezeichnet  wurde,  d.  h.  die  nicht  wegzuleugnende  Er- 
scheinung, daß  bei  mehrmaliger  Befruchtung  eines  weib- 
lichen Organismus  die  Nachkommen  des  zweiten  männlichen 
Parens  Eigenschaften  an  sich  tragen,  die  sie  nur  vom  ersten 
Parens  geerbt  haben  können,  —  so  liegt  es  nahe,  eine  Ein- 
wirkung männlicher  Zeugungsstoffe  auf  noch  unentwickelte 
Keimzellen  des  mütterlichen  Organismus  anzunehmen,  also 
vorauszusetzen:  es  könnten  die  noch  unreifen  Eier  einen 
Teil  ihres  Protoplasma  jenen  Spermatozoiden  entnommen 
haben.  Da  es  sich  hierbei  darum  handelt,  nachzuweisen, 
wie  ein  Kind  etwas  ererbt  haben  kann,  weder  von  'der 
Mutter  noch  vom  Vater,  sondern  vom  Vater  seiner  Stief- 
geschwister, so  wird  eine  strikte  Kausalerklärung  auf  diesem 
Wege  schwerlich  gelingen.  Wir  beschränken  uns  also 
darauf,  aus  der  Zoologie  und  Botanik  eine  Reihe  von  Ana- 
logien anzuführen,  die  einen  solchen  Hergang  wenigstens 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  wahrscheinlich  machen.  Denn 
was  'svirklich  ist,  muß  doch  schließlich  auch  möglich  sein. 

Wonach  gesucht  wird,  das  sind,  allgemein  gesprochen^ 
Nebenwirkungen  oder  Nachwirkungen  der  sich 
eben  vollziehenden  eigentlichen  Befruchtung  eines  reifen 
Eies.  —  Man  wird  nun  zunächst  daran  denken,  daß  jede 
Bienenkönigin  nur  einmal  befruchtet  wird  und  dann  etwa 
4  bis  5  Jahre,  also  ihr  ganzes  Leben  lang,  viele  tausend 
Eier  legt.  Hier  ist  es  auch  nicht  möglich,  daß  etwa  in  so 
viele  tausend  (etwa  40  000)  „reife"  Eier  der  Königin  Sper- 
matozoiden eingedrungen  seien;  das  Keimplasma  unterliegt 
aber  doch  einer  Beeinflussung,  die  an  der  Nachkommenschaft 


Die  Leviratsehe.  395 

zutage  tritt.  Ahnliches  gilt  von  vielen  Vögeln  und  Insekten, 
bei  denen  auf  einmalige  Konzeption  mehrmalige  Produktion 
folgt. 

Auch  bei  den  bereits  erwähnten  Xenien  muß  eine  Neben- 
wirkung der  Befruchtung  angenommen  werden.  Das,  waa 
hier  stattfindet  und  längst  an  Zea  Mays  beobachtet  worden 
war  (siehe  Focke,  „Pflanzenmischlinge"),  hat  man  später 
Doppelbefruchtung  genannt  und  an  der  Klasse  der 
Angiospermen  genau  studiert.  Angiospermen  heißen 
diejenigen  Phanerogamen  (Blütenpflanzen),  bei  denen  das 
Endosperm,  das  Nährgewebe  der  Embryonen.,  nicht  vor, 
sondern  erst  nach  der  Befruchtung  entsteht;  die  andere 
Klasse  der  Phanerogamen  bilden  die  Gymnospermen.  Beim 
Mais  erhält  demnach  durch  Bestäubung  mit  Pollen  einer 
fremden  Rasse  nicht  nur  der  Embryo,  sondern,  wie  sich  aus 
dem  Folgenden  ergeben  wird,  auch  das  Endosperm  hybride 
Eigenschaften. 

Der  Hergang  bei  der  Doppelbefruchtung  der  Angio- 
spermen ist,  kurz  zusammengefaßt,  folgender:  Aus  dem 
Pollenschlauche  treten  zwei  Spermatozoiden  den  Weg  in 
den  das  Ei  enthaltenden  Embryosack  an.  Der  Embryosack 
ist  ursprünglich  eine  weibliche  Keimzelle,  die  sich  nocK 
vor  ihrer  Befruchtung  zuerst  in  zwei  Tochterzellen  geteilt 
hat.  Diese  zwei  Zellen  teilen  sich  dann  wiederum  in  je 
zwei;  und  nachdem  die  vier  neuen  Zellen  in  der  Zellen- 
hülle  eine  besondere  Lage  angenommen  haben,  findet  noch- 
malige Teilung  statt.  Von  zwei  bei  dieser  letzten  Teilung 
aus  einem  entstandenen  Kernen  ist  einer  das  Ei;  die  andere 
Hälfte  dieses  Eies  —  also  sein  „Bruderkem"  — ,  genannt 
„oberer  Polkem" ,  vereinigt  sich  mit'  einem  anderen  neuen 
Kerne ,  genannt  „unterer  Polkem" ,  und  wird  dann  nach 
der  Verschmelzung  „sekundärer  Embryosackkem"  genannt»^ 
d.  h.  es  findet  innerhalb  der  weiblichen  Keimzellen  gewisser- 
maßen ein  Geschlechtsakt,  eine  Zellenvereinigung  statt. 
Von  den  beiden  Spermatozoiden,  die  jetzt  in  den  Embryo- 
sack eintreten,  vereinigt  sich  der  eine  mit  dem  Ei,  der 
andere  mit  dem  sekundären  Embryosackkem.     Die  übrigen 


396  ^'  ▼•  Glasenapp: 

fünf  weiblichen  Keimzellen  gehen  frühzeitig  zugrunde.  — 
Das  Ei  wird  dadurch  zur  entwicklungsfähigen  Mutterzelle 
des  Embyro;  der  befruchtete  sekundäre  Embryosackkeru, 
der  somit  nun  im  ganzen  aus  drei  Kernen  besteht,  entwickelt 
sich  zur  Endospermmutterzelle  und  dient  dem  Embryo  zur 
Nahrung.  Dieses  Endosperm  verdankt  demzufolge  sein  Da- 
sein einem  Sexualakt,  der  aber  doch  kein  Fortpflanzungsakt 
ist,  sondern  eine  anderweitige  Bedeutung  hat. 

Das  ist  ein  Verhalten,  das  zur  vorausgesetzten  „Infektion 
des  Keimes"  eine  bemerkenswerte  Parallele  bildet;  denn, 
wie  man  daraus  sieht,  können  beim  Sexualakt  die  männ- 
lichen Zeugungsstoffe  außer  der  eigentlichen  Befruchtiinor 
den  Mutterkörper  anderweitig  sehr  wirkungsvoll  beeinflussen. 

Auch  sonst  noch  sei  an  einige  sogenannte  „Nach- 
wirkungen der  Vererbung"  erinnert;  nämlich  an  die  Er- 
scheinung, daß  durch  die  Befruchtung  nicht  nur  die  Ent- 
wicklung des  Eies,  sondern  auch  Wachstumsvorgänge  in 
Teilen  der  Mutterpflanze  angeregt  werden,  wie  z.  B.  das 
Eruchtfleisch  der  Erdbeere  und  Birne.  Für  die  Quitte  hat 
J.  Reinke*)  gezeigt,  daß  durch  die  Fortleitung  des  Be- 
fruchtungsreizes auch  eine  Verdickung  der  vorjährigen  ver- 
holzten Achsen  hervorgebracht  wird,  die  die  Blüten  tragen ; 
während  die  Verdickung  unterbleibt,  wenn  die  Befruchtung 
fehlschlug. 

Faßt  man  das  uns  beschäftigende  Problem  so,  daß  man 
fragt,  ob  nicht  auch  männliche  Zeugungsstoflfe,  ohne  eine 
regelrechte  Befruchtung  zustande  zu  bringen,  mitunter  an 
den  weiblichen  Keimzellen  einen  Anstoß  zur  "Weiterentwick- 
lung der  Eier  geben  können,  also  einen  Anfang  oder  Ansatz 
dazu  bewirken,  der  vielleicht  bei  Erneuerung  des  Reizes 
zur  Ausbildung  des  Embryo  führt:  so  läßt  sich  auch  hier- 
für einiges  anführen.  Es  hat  z.  B.  H.  Winkler*)  die  Be- 
obachtung gemacht,  daß  durch  Einwirkung  wäßrigen  Ex- 
traktes  von   Sperma  die   Eier  von  Seeigeln  zur  Furchung, 

*)  J.  Reinke  in  den  „Nachr.  der  k.  Gesellsch.  d.  Wissensch.  in 
Oöttingen",  1878. 

*)  H.  WiNKLER  in  den  „Göttinger  Nachrichten",  1900. 


Die  Leviratsehe.  397 

wenn  auch  nicht  zur  vollen  Entwicklung  gebracht  werden 
können.  Noch  manche  als  Analogie  interessante  Tatsache, 
z.  B.  über  die  Pfropfbastarde  (Cytisus  Adami  usw.)  und 
über  sexuelle  Einflüsse  vegetativer  Zellen  verschiedener 
Organismen  lassen  sich  aus  den  Werken  von  J.  Reinke^ 
und  von  Hans  Driesch^  entnehmen-,  doch  möge  das  An- 
gefahrte genügen.  Denn  alle  Analogien  überreden  eher,  als 
daß  sie  gerade  den  bestinmiten  Fall  bewiesen;  sie  besagen 
nur,  daß  so  etwas  Ähnliches  sonst  noch  vorkommt.  Wir 
bedürfen  ihrer  nicht,  sondern  gehen  zu  folgender  Betrachtung 
über. 

§  6. 

Jedesmal  wenn  ein  weiblicher  Organismus,  so  wie  es 
bei  den  Säugetieren  der  Fall  ist,  von  seiner  Befruchtung  an 
bis  zur  Geburt  des  ausgetragenen  Embryo  eine  mehr  oder 
weniger  lange  Schwangerschaft  durchmacht,  hat  das  für  die 
Lebensprozesse  die  Bedeutung,  daß  zwei  Wesen  von  nicht 
gleicher  Abstammung  —  die  Mutter  und  der  Embryo  — 
andauernd,  beim  Menschen  z.  B.  neun  Monate  lang,  mit- 
einander in  vitaler  Wechselwirkimg  stehen.  Man  darf  nichts 
weil  die  Mutter  groß  und  der  Embryo  klein  ist,  meinen, 
die  Mutter  schaffe  den  Embryo  aus  ihren  Kräften  •,  sie  gebe 
nur  und  der  Embryo  empfange  nur.  Nein!  Das,  was  die 
Mutter  dem  Embryo,  nachdem  er  einmal  daist,  einseitig 
mitteilt,  ist  materielle  Substanz;  es  sind  chemische  Moleküle, 
wie  sie  im  Stoffwechsel  alle  Organismen  durchkreisen  und 
nirgends  verweilen.  Die  Substanz,  auch  die  organische, 
gehört  als  solche  dem  ganzen  Weltall  an  und  bedingt  keine 
besondere  Form.  Das  Gesetz  aber,  wonach  der  Embryo 
sich  entwickeln  muß,  das  Gesetz  seiner  Evolution,  die  wohl 
auf  ihrem  Gange  vernichtet,  jedoch  nimmermehr  in  andere 
Bahnen  gelenkt  werden  kann,  hat  der  Embryo  damals,  als 
die  Bejßruchtung  stattfand,   zu  gleichen  Teilen  vom  Vater 


^)  J.  Beinke,  Einleitung  in  die  theoretische  Biologie,  1901. 
■)  Z.   B.   die   „Organischen  Regulationen^    und   seine   früheren 
Studien. 


398  ö'  V.  Glasenapp: 

und  von  der  Mutter  empfangen.  Von  jeder  Seite  stammt 
eine  Keimzelle;  und  genau  so  viele  Chromosomen,  wie  die 
Mutter  hergegeben  hat,  haben  sich  aus  dem  väterlichen 
Zellkern  ihnen  zur  Seite  gelegt-,  und  indem  die  Embryozelle 
sich  bei  ihrer  Entwicklung  fort  und  fort  teilt,  vermehren 
fiich  die  väterlichen  Chromosomen  durch  den  ganzen  Körper 
hindurch  immer  in  demselben  Maße  wie  die  mütterlichen 
und  bleiben  ihnen  an  Zahl  auch  im  erwachsenen  Menschen 
gleich.  Sie  sind  die  Träger  der  komplizierten  Regel,  nach, 
der  das  neue  "Wesen  sich  ausbildet;  mit  ihnen  vererben 
sich  die  feinsten  Einzelheiten  des  körperlichen  und  geistigen 
Habitus,  die  oft  erst  nach  langen  Jahren  in  die  Erscheini^g 
treten,  z.  B.  das  fiühe  oder  späte  Erbleichen  der  Haare. 

Wenn  also  die  Mutter  und  der  Embryo  neun  Monate 
oder  auch  kürzere  Zeit  miteinander  in  Wechselwirkung 
stehen,  so  beeinflußt  nicht  nur  hierbei  die  Mutter  den 
Embryo,  sondern  der  Embryo  beeinflußt  auch  die  Mutter 
kraft  derjenigen  Beschaffenheit,  die  er  nicht  von  mütter- 
licher, sondern  von  väterlicher  Seite  besitzt.  Der  Organismus 
der  Mutter  befindet  sich  in  lebendiger  Verbindung  mit  einem 
Wesen,  das  nur  zur  Hälfte  ihr  angehört,  zur  Hälfte  ihr 
fremd  ist.  Die  Mutter  bildet  in  der  Verbindung  mit  diesem 
Wesen  gewissermaßen  eine  Einheit;  eine  Einheit,  in  der 
ein  Ausgleich  angebahnt  werden  muß,  nämlich  ein  quali- 
tatives Gleichgewicht,  wenn  nicht  völlig  hergestellt,  so  doch 
von  der  Natur  herzustellen  versucht  wird.  Die  Mutter 
wird  also  vom  Embryo  wie  von  einer  äußeren  Macht  in 
ihrem  Organismus  beeinflußt.  Und  an  welchem  Teil,  als 
dem  bildsamsten  von  allen,  wird  dieser  Einfluß  sich  am 
sichersten  ausprägen?  Natürlich  an  den  Keimzellen,  in 
denen,  gewissermaßen  in  einen  engen  Punkt  zusammen- 
gezogen, sich  alle  Anlagen  eines  Individuums,  ererbte  und 
erworbene,  konzentrieren.  Denn  allein  aus  der  Keimzelle 
können  eben  alle  anderen  Zellen  entstehen.  Man  weiß, 
daß  eine  zufallige  Bjrankheit,  von  der  ein  Individuum  er- 
griffen wird,  sich  auf  die  Nachkommen  auch  dann  noch 
überträgt,  wenn  sie  an  diesem  Individuum  bereits  unterdrückt 


Die  Leviratsehe.  399 

worden  Trar ;  sie  hatte  eben  die  Keimzellen  beeinflußt.  (Von 
namhafben  modernen  Biologen  hält  wohl  nur  August  Weis- 
MANK,  "ond  auch  er  nur  mit  manchen  IQauseln,  daran  fest, 
daß  sich  erworbene  Eigenschaften  nicht  vererben.) 

Wenn  also  nach  der  ersten  Konzeption  der  Embryo 
Termittelst  der  Besonderheiten,  die  er  vom  Vater  erhalten 
hat,  dem  mütterlichen  Organismus  und  speziell  dessen 
Keimzellen  sein  Gepräge  hinterläßt,  so  ist  es  völlig  erklärlich, 
wie  diese  Keimzelle,  bei  erneuter  Konzeption  zur  Entwicklung 
gelangend,  Eigenschaften  an  sich  tragen  kann,  die  sie 
durcli  Vermittlung  jenes  ersten  Embryo  von  dessen  Vater 
geerbt  hat. 

Hiermit  scheint  wohl  der  Beweis  geliefert  zu  sein,  daß 
der  Grundgedanke,  der  das  Institut  der  Leviratsehe  ge- 
schaffen hat,  nicht  auf  eschatologi sehen,  metaphysischen 
oder  mythologischen  Voraussetzungen  zu  beruhen  braucht, 
vielmehr  eine  zuverlässige  erfahrungsmäßige  Basis  besitzt 
in  Tatsachen  der  Beobachtung,  die  wahrscheinlich  viele 
tausend  Jahre  hinter  Moses  zurückreichen.  In  mannigfachen 
Anwendungsbeispielen,  gewissermaßen  in  Metamorphosen, 
trat  uns  der  Grundgedanke  allenthalben  entgegen:  bei 
Chinesen,  Indem,  Römern,  Israeliten,  Tibetaniem  und  Kelten 
in  Britannien,  am  allgemeinsten  aber  als  der  consensus 
gentium  in  der  Hochschätzung  der  Virginität,  d.  h.  darin, 
daß  die  sexuelle  Tugend  dem  Weibe  höher  angerechnet 
wird  als  dem  Manne,  weil  sie  allein  dem  Gatten  dafür  Ge- 
währ leistet,  daß  seine  Kinder  auch  wirklich  ganz  seine 
Kinder  seien  und  nicht  Mestizen,  indem  er  etwa  nur  einem 
anderen  Manne  „Samen  erweckt"  habe.  Solche  Hoch- 
schätzung ist  also  nicht,  wie  die  Prauenrechtleriiinen  ver- 
künden, auf  die  Ungerechtigkeit  der  Männer  und  auf  deren 
Manier,  „mit  zweierlei  Maß*  zu  messen,  zurückzuführen, 
sondern  einfach  auf  den  Wunsch  nach  Reinheit  der  Rasse, 
auf  den  Wunsch,  daß  ein  Kind  nur  zwei  Eltern  habe  und 
nicht  drei.  Und  gerade  das  Verhalten  der  Frauenwelt  be- 
zeugt immer  von  neuem,  daß  die  Reinheit  des  genus  femi- 
ninum    von  größerer  sozialer  Wichtigkeit  ist  als  die  des 


400  ^*  '^-  Glasenapp: 

Mannes:  die  Frau  ist  in  bezug  auf  solche  Verfehlung  von. 
Personen  ihres  eigenen  Geschlechts  nicht  nur  härter  in  der 
Verurteilung,  sondern  in  der  Regel  auch  leichter  geneigt^ 
eine  Schuld  anzunehmen.  Daher  sagt  Henri  Rochefort') 
in  seinem  berühmten  Romane  „Les  Depravös"  Seite  208 
bis  209:  „Tandis  qu'un  hemme  pour  un  oui  pour  un  non, 
s'öcrie  en  parlant  de  la  premiere  venue:  ,Je  mettrais  ma. 
main  au  feu  qu'elle  est  pure'.  Une  femme  m^me  honnete, 
m^me  bien  iütentionnöe  hösitera  toujours  ä  repondre  de 
Pinnocence  d'une  autre ;  ce  qui  prouve  que  tout  en  mädisant 
des  femmes,  nous  les  estimons  encore  plus  qu'elles  ne 
s'estiment  elles-mömes." 

Es  gibt  eigentlich  auf  dem  ganzen  Erdenrund  über  die 
Sittsamkeit  nur  eine  Meinung;  und  dort,  wo  der  schon 
zitierte  Bhagavatgita  den  Ahnenkultus  empfiehlt,  gibt  er 
auch  den  Grund  für  die  Notwendigkeit  der  Keuschheit  an 
(Gesang  I,  9I.  41): 

.Bei  eines  Stamms  Ruchlosigkeit  wankt  auch  der  Frauen  Sittsamkeit''; 
Wankt  diese,  dann,  Yarshneya,  ist  der  Rassenmischung  Greul 

[nicht  weit." 

Die  „Varnasamkara",  die  „Durcheinandermischung  der 
Rassen"  oder  des  Blutes,  ist  am  meisten  zu  fürchten,  nicht 
die  Störung  der  häuslichen  Idylle. 

§7. 

Somit  ist  die  Leviratsehe  als  ein  zivilrechtliches  Institut 
anzusehen,  das  sich  auf  Überzeugungen  über  biologische 
Verhältnisse  gründet;  Überzeugungen,  die  —  offenbar  aus 
Naturbeobachtungen  hervorgegangen  —  mit  sicherem  Takte 
das  Richtige  getroffen  haben.  Da  man  dem  Brauch  spater 
gedankenlos  folgte,  mag  man  freilich  vergessen  haben^  da- 
nach zu  fragen,  ob  die  Frau  auch  jemals  überhaupt  vom 
ersten  Gatten  konzipiert  hatte.  —  Als  Institut  bedeutet  die 
Leviratsehe,   daß    das   fragwürdige  Privilegium,   Vater  zu 


1)   Henri   BociuroRT,    „Les   D^prav^s'',    G^növe,   Louis   Hudry 
^diteur,  1875. 


Die  Leviratsehe.  401 

dreien  zu  sein,  das  schon  jenem  illustren,  heutzutage  so 
arg  verkannten  Onan  Mißbehagen  einflößte,  nur  dem  nächsten 
Verwandten  des  ersten  Vaters  zusteht,  diesem  indessen  zu- 
gleich zur  Pflicht  gemacht  werden  soll.  —  Die  zugrunde 
liegende  Überzeugung  biologischer  Natur  findet  man  bloß 
in  der  Genesis  und  dann  im  Neuen  Tastament  deutlich  aus- 
gesprochen: 

Ev.  Matth.  22,  24:    ^dvaaTi^aet   air£p[j.a   Tcp  dSeXcpcp  auTou''. 

Ev.   Mark.  12,  19:    „JSavaöxi^cjTfl  öiripjia  T(p  d8eX<p(p  aöxoü". 

Ev.  Luk.  20,  28:    „eSavaa-n^anQ   aizipiLa   xcj)    dS&X<pq>  auToO". 

Die  drei  Synoptiker  sind  also  in  der  Erzählung  einer 
und  derselben  Begebenheit  darin  einig,  daß  nach  dem 
„Mosaischen''  Gesetze  der  überlebende  Bruder  auf  diese 
Weise  „dem  verstorbenen  Bruder  Samen  auferweckt".  Als 
Zitate  aus  dem  Alten  Testament  sind  die  Stellen  ja  nicht 
ganz  genau;  doch  liegt  in  diesem  Gebrauche  des  Wortes 
„Sperma  erwecken"  oder  „auf erwecken",  der  der  griechischen 
Sprache  durchaus  fremd  ist,  wohl  mehr  als  das,  was  man 
darin  gewöhnlich  zu  finden  meint :  nämlich  ein  bloßer  Hebra- 
ismus  und  Aramaismus,  wie  es  deren  im  Neuen  Testament 
viele  gibt^  mit  der  Bedeutung  „Nachkommen  verschaffen" 
(so  übersetzt  E.  Kautzsch).  Letzteres  könnte,  rein  juristisch 
betrachtet,  auch  durch  Adoption  geschehen.  Nein,  es  ist 
fast  synonym  der  römischen  „turbatio  sanguinis"  und  der 
indischen  „vamasamkara".  Wir  müssen  eben  beachten,  daß 
der  Text  zu  dieser  griechischen  Übersetzung  aus  sehr  früher 
Zeit  stammt,  und  daß  sich  darin  eine  ganz  zutreffende  An- 
sicht der  alten  Israeliten  über  die  physiologischen  Be- 
ziehungen ausspricht,  auf  die  die  Leviratsehe  sich  gründet. 

So  steckt,  wie  Lücretiüs  Carüs  sagt,  ein  Ding  dem 
andern  ein  Licht  an:  Biologie  und  Soziologie  erläutern  sich 
gegenseitig. 


Vierteljahrssohrift  f.  wisseiuebafil.  Philos.  u.  Soz.  XXXn.  8.  26 


„Persönliche"  und  „sachliche"  Polemik. 

Von  Gerhard  HeBsenberg,  Bonn. 
Inhalt. 

I.   Einleitung. 

II.  Der  persönliche  Ch»r»kter  eines  Angriffs  kann  logisohe  Folge  seines 
sachlichen  Inhalts  sein;  er  kann  femer  bei  Erwiderungen  auf  persönliche 
Angriffe  unvermeidlich  oder  wenigstens  zul&ssig  sein.  Eine  radikale 
Verwerfung  alles  personlichen  Tones  überhaupt,  wie  sie  Cassirer  aus- 
spricht, ist  daher  unzul&ssig. 
III.  G  r  e  1 1  i  n  K  und  ich  haben  uns  des  von  Cassirer  getadelten  persönlichen 
Tones  lediglich  in  Erwiderungen  auf  persönliche  Angriffe  Oassirers 
bedient. 
lY.   Cassirer  hat  gegen  Kelson  den  Vorwurf  unzullssiger  Anlehnung  an 

Fries,  ebenso 
V.   den  Vorwurf  nicht  sinngemiAer  Wiedergabe  von  Argumenten  Cohens 
und   Ribhls  erhoben.    Wir  fordern  ihn  auf.  die  bisher  noch  nicht  er- 
brachte sachliche  Begrflndung  dieser  Vorwürfe  nachzuholen. 
VI.   Im   »Streit  um    die   Cohensche   Logik   hat   Cassirer    an   Stelle   des 
Vorwurfs  der  Entstellung  nunmehr  den  milderen  Vorwurf  des  mangelnden 
Verständnisses  gesetzt,  ohne  daS  seine  Argumente  dadurch  haltbarer  ge- 
worden wftren. 
VII.   Schlußbemerkung. 

I. 

1.  Im  vierten  Heft  des  einund dreißigsten  Bandes  dieser 
Zeitschrift  hat  Meyekhof  den  ungemein  dankenswerten  und 
schwierigen  Versuch  unternommen,  als  nicht  direkt  Be- 
teiligter den  Streit  um  die  FKiESsche  Vernunftkritik  in  ein 
sachliches  Fahrwasser  zu  lenken.  So  oiäen  ich  es  an- 
erkenne, daß  Cassirer  dieser  Anregung  gefolgt  ist,  so  sehr 
muß  ich  es  bedauern,  daß  er  durch  erneute  persönliche  An- 
griffe auf  Nelson,  Grelling  und  mich  uns  ein  unmittelbares 
rein  sachliches  Eingehen  auf  seine  neuen  Argumente  gegen 
die  FRiESsche  Lehre  unmöglich  gemacht  hat. 

Um  hier  zunächst  Klarheit  über  den  Umfang  dieser 
Angriffe  zu  schaffen,  mich  selbst  aber  bei  diesem  heiklen 
Thema  zu  äußerster  Sachlichkeit  zu  zwingen  und  dem  Leser 
von  diesem  Bestreben  Rechenschaft  zu  geben,  werde  ich 
meinen  Standpunkt  sogenannten  „persönlichen«  Angriffen 
gegenüber  objektiv  und  ohne  jede  Beziehung  auf  den  vor^ 
liegenden  Fall  festlegen.  So  trivial  dasjenige  klingen  mag, 
was  ich  darüber  zu  sagen  habe:  die  nachfolgende  An- 
wendung auf  den  vorliegenden  Fall  wird  zeigen,  daß  in 
praxi  häufig  genug  dagegen  verstoßen  wird. 


„Persönliche^  und  „sachliche''  Polemik.  403 

n. 

2.  Es  gibt  sachliche  Angriffe,  die  überhaupt  nicht  er- 
hoben -werden  können,  ohne  die  Person  des  Angegriffenen 
zn  treffen.  Der  Nachweis  eines  besonders  schweren  Irrtums, 
einer  Häufung  sachlicher  Fehler,  die  Aufdeckung  entstellter 
Zitate,  unberechtigter  Anlehnungen,  offenkundiger  Plagiate 
stellen  solche  Fälle  dar,  in  denen  es  reine  Formsache  ist, 
ob  der  persönliche  Charakter  des  Vorwurfs  offen  aus- 
gesprochen oder  schonend  verschwiegen  wird.  Keine 
Mäfiigung  des  Tones  entbindet  daher  den  Angreifer  von 
der  Verpflichtung,  den  sachlichen  Teil  einwandfrei  zu  be- 
gründen und  zu  belegen. 

3.  Auch  bei  unbedeutendem  sachlichen  Gehalt  sind 
persönliche  Angriffe  vielfach  unvermeidlich,  beispielsweise 
in  der  Zurückweisung  gleichartiger  Angriffe  oder  bei  der 
Erschütterung  einer  Autorität,  die  in  Ermangelung  von 
Gründen  als  Beweismittel  in  Anspruch  genommen  wurde. 
Jedenfalls  wird  man  es  keinem  Autor  verargen,  wenn  er, 
durch  persönliche  Invektiven  aus  seiner  Buhe  gebracht, 
dem  Gegner  die  Ehre  einer  rein  sachlichen  Behandlung 
verweigert. 

m. 

4.  Die  ÜASSiRERsche  Streitschrift  „Der  kritische  Idealis- 
mus und  die  Philosophie  des  gesunden  Menschenverstandes" 
erhebt  gegen  Nelson  unter  anderem  den  Vorwurf  „großer 
TJnbescheidenheit"  ^),  „dreister  Anmaßung"  *),  „bewunderns- 
werter Fertigkeit  im  Sinnverdrehen"®).  Das  Schlußkapital 
beschäftigt  sich  überhaupt  nur  mit  der  Person  Nelsons, 
der  Ton  der  ganzen  Schrift  ist  ironisch*).  Ich  bedaure, 
daß  ich  diese  Tatsachen  nicht  mit  Stillschweigen  übergehen 
kann  und  beschränke  mich  darum  auf  möglichst  wenige 
Beispiele.    Aber  nach  Cassirers  bedingungsloser  Verwerfung 


»)  8.  17. 

•)  S.  19  (Sperrungen  in  Kantzitaten). 
")  S.  33  (Fußnote). 

*)  Dies  gibt  der  Referent  der  Deutschen  Literaturzeitung  aus- 
drQcklich  zu:  „Vornehm,  nur  etwas  ironisch'*. 

26* 


4Q4  Gerhard  Hessenberg: 

aller  persönlichen  Angriffe  ^)  muß  der  unbefangene  Leser 
den  Eindruck  gewinnen,  als  sei  der  persönliche  Ton  erst 
durch  Grelling  und  mich  in  die  Diskussion  gebracht  worden. 
5.  Zur  Zurückweisung  des  gegen  Grelling  und  mich 
erhobenen  Vorwurfs  ziehe  ich  nunmehr  lediglich  das  anx 
Schlüsse  von  (3)  genannte  Argument  heran:  Wir  waren  in. 
Erwiderung  auf  persönliche  Angriffe  zur  Anwendung  des 
persönlichen  Tones  berechtigt.  Damit  verzichte  ich  auf 
die  Diskussion  folgender  Fragen: 

a)  War  Cassirer  zu  seiner  Tonart  gezwungen  oder  be- 
rechtigt? 

b)  Sind  seine  Vorwürfe  sachlich  gerechtfertigt? 

c)  Waren  wir  zu  unserer  Tonart  gezwungen? 

d)  Sind  unsere  Vorwürfe  sachlich  gerechtfertigt? 

e)  Auf  wessen  Seite  ist  die  schärfere  Tonart  zu  suchen  ? 
Durch  meinen   Verzicht  beantworte   ich   diese  Fragen 

in  keiner  Weise,  ich  erbringe  lediglich  den  Beweis  meines 
guten  Willens  durch  die  Beschränkung  auf  das  Minimum 
der  mir  zu  Gebote  stehenden  Verteidigungsmittel. 

IV. 

6.  Wer  die  Gedanken  eines  Werkes  wiederzugeben 
sucht,  dem  er  Jahre  intensivster  Arbeit,  äußerster  Vertiefung 
und  schärfster  Anspannung  aller  Geisteskraft  gewidmet  hat, 
der  wird  trotz  größter  Aufmerksamkeit  und  Selbständigkeit 
Anklänge  des  Ausdrucks  und  stellenweise  wörtliche  Über- 
einstimmung mit  dem  Original  nicht  vermeiden  können. 
Die  Sprache  ist  zwar  ein  beweglicheres  Ausdrucksmittel  als 
die  mathematische  Begriffsschrift,  aber  unbegrenzt  ist  ihr 
Fließen  auch  nicht,  besonders  für  den  nicht,  der  wie 
Nelson  frei  von  allen  feuilletonistischen  Veranlagungen  und 
Ambitionen,  sich  einer  Terminologie  von  nahezu  mathe- 
matischer Schärfe  und  Eindeutigkeit  des  Ausdrucks  be- 
fleißigt.   Man  wird  in  solchen  Fällen  bei  Anlehnungen  um 

>)  Diese  Zeitschrift,  Bd.  31,  Heft  4,  S.  442:  „Der  Leser  fühlt, 
daß  sie  (die  Mittel  der  persönlichen  Polemik)  sich  nur  dort  einstellen, 
wo  sachliche  Gründe  fehlen". 


„PersöDÜche*'  und  „sachliche^  Polemik.  405 

SO  weniger  Bedenken  haben,  wenn  der  Autor  die  durch- 
gehende sachliche  Übereinstimmung  mit  seinem  Vorbild  aus- 
drücklich hervorhebt  und  betont. 

7.  Ich  kann  daher  aus  Cassirers  "Worten  auf  Seite  447  *) 
nur  den  Vorwurf  unzulässiger  Anlehnung  herauslesen.  Dieser 
Vorwurf  triffl  aber  die  Person  des  Angegrifienen,  und  wenn 
das  Cassirer  nicht  unzweideutig  ausspricht,  so  geschieht  es 
vielleicht  in  der  lobenswerten  Absicht,  jede  Schärfe  des 
Tones  zu  vermeiden.  Die  unbestimmte  Ausdrucksform  ent- 
bindet aber  nicht  von  der  Verpflichtung,  die  au%estellten 
Behauptungen  zu  beweisen.  Ich  fordere  daher  Cassirer  auf, 
die  von  ihm  beanstandeten  Stellen  der  öffentlichen  Beur- 
teilung vorzulegen,  oder  durch  eine  unzweideutige  Erklärung 
seinen  Worten  den  Charakter  der  Verdächtigung  zu  nehmen. 

V. 

8.  Wer  es  unternimmt,  eine  von  den  Fachgenossen  als 
widerlegt  angesehene  Lehre  von  neuem  zur  Diskussion  zu 
stellen,  muß  sich  notwendigerweise  mit  denjenigen  Argu- 
menten auseinandersetzen,  die  man  bisher  von  ernst  zu 
nehmender  Seite  gegen  sie  vorgebracht  hat.  Dies  hat  Nelson 
in  dem  Anhang  zu  seiner  von  Cassirer  angegriffenen  Arbeit 
getan.  Diesen  Anhang  erledigt  Cassirer  in  seiner  oben  ge- 
nannten Streitschrift  mit  der  Behauptung,  die  Argumente 
Cohens  und  Riehls  seien  nicht  einmal  sinngemäß  wieder- 
gegeben *). 

Ich  wiederhole  hiermit  Grellings  Aufforderung  an 
Cassirer,  ftir  diese  Behauptung  den  Beweis  anzutreten. 

VI. 

9.  Zu  meinem  Bedauern  bin  ich  gezwungen,  von  neuem 
den  Namen  Cohens  in  die  Diskussion  zu  ziehen,  da  Cassirer 
in  seinem  erneuten  Rettungsversuch  der  „Logik  der  reinen 
Erkenntnis"  unsere  bona  fides  anzweifelt. 


')„...  daß  bei  ihm  (Nelson)  bisweilen  ganze  Satzfolgen  —  anoh 
solche,  die  nicht  als  Zitate  kenntlich  gemacht  sind  — ,  nahezu  wörtlich 
aus  FiiiEs'  Schriften  übernommen  sind ,  ist  mir  natürlich  nicht  ent- 
gangen.'* 

0  S.  31. 


406  Gerhard  Hessenberg: 

In  seiner  Kritik  der  Logik  der  reinen  Erkenntnis  ^)  hat . 
Nelson  folgende  zwei  Tatsachen  festgestellt :  Eine  einwand- 
freie Begründung  der  höheren  Analysis  mittelst  einer  be- 
sonderen infinitesimalen  Größenart  ist  unmöglich.  Trotzdem 
spricht  Cohen  dieser  Größenart  Realität  zu  und  verlegt  das 
Erzeugungsprinzip  des  Endlichen  in  das  Unendlichkleine. 

Diesen  Tatbestand  zu  bestreiten  hat  Cassirer  in  seinen 
beiden  Besprechungen  der  NELOSNschen  Kritik  vermieden. 
Es  muß  daher  als  zugestanden  gelten.  Da  hiermit  der  für 
uns  allein  wesentliche  Teil  der  Diskussion  erledigt  ist,  folgen 
wir  Cassirer  willig  zu  demjenigen  Tatbestand,  von  dem  er 
die  Aufrnerksamkeit  nicht  abgelenkt  sehen  möchte. 

10.  Zwischen  die  Feststellung  der  beiden  oben  ge- 
nannten widerstreitenden  Ansichten  schiebt  Nelson  folgenden 
Satz*):  „Die  eigene  Ansicht  Cohens  läuft  nun  darauf  hinaus^ 
daß  dem  Unendlichkleinen  nicht  nur  eine  selbständige  Be- 
deutung und  Existenz  zukommen  soll,  sondern  .  .  .** 
Gegenstand  des  Streites  war  ursprünglich  der  Sinn,  der 
hier  dem  Worte  „Existenz"  beizulegen  ist.  Es  kommen 
zwei  Deutimgen  in  Frage.  Erstens  kann  „Existenz" 
den  allgemeinen  Seinsbegriff  bezeichnen,  der  alle  denkbaren 
Seinsformen ,  auch  die  „Realität" ,  umfaßt.  (Allgemeiner^ 
vor  allem  mathematischer  Sprachgebrauch.)  Zweitens 
kann  Existenz  das  „dingliche"  „Dasein" ,  die  „konkrete 
"Wirklichkeit"  meinen.    (CoHENscher  Sprachgebrauch.) 

11.  Cassirer  benutzt  beide  Deutungen.  Die  erste 
Streitschrift  und  einige  Sätze  der  zweiten  Entgegnung") 
legen  den  CoHENschen  Sinn  unter,  und  zwar  ohne  Begrün- 

.  dimg^).    Diese  Deutung  ist  nach  dem  Zusammenhang  des 


»)  Gott.  Gel.  Anz.,  1905,  S.  610—680. 

«)  1.  c.  S.  619. 

")  S.  464:  „.  .  .  indem  er  (Nelson)  .  .  .  den  Begriff  der  Realität 
durch  den  der  Existenz  ersetzte  .  .  .  und  „indem  er  ein  Mittel  der 
Erkenntnis  in  ein  besonderes  mystisches  Sein  verkehrte".  Das 
„mystische  Sein"  fällt  sonach  auch  unter  die  „konkrete  Wirklichkeit**. 

*)  Da  die  Unterschiebung  des  CoHENschen  Sinns  konsequenter- 
weise zu  dem  in  der  Tat  von  Cassirer  erhobenen  Vorwurf  der  Ent- 
stell uns  führt,  berechtigte  dieser  Mangel  der  Begründung  Gbslli  Na 
unzweifelhaft  zu  seiner  Charakterisierung  des  Verfahrens.  —  Wenn 


„Persönliche'^  und  „sachliche^  Polemik".  407 

NELSONsclien  Textes  ausgeschlosBeii;  denn  die  der  strittigen 
Stelle  voraufgehenden  historischen  Belege  enthalten  die 
Bestreitung  jeglicher  Seinsform  des  Infinitesimalen;  die 
unmittelbar  folgenden  Zitate  aus  der  Logik  der  reinen  Er- 
kenntnis stellen  außerdem  über  jeden  Zweifel,  daß  die  um- 
strittene Senisform  die  Realität  ist. 

12.  Der  zweite  Vorwurf  Cassirers,  Nelson  habe  die  dem 
CoHENschen  Sprachgebrauch  zugrunde  liegende  Unter- 
scbeidimg  ignoriert,  schließt  natürlich  die  zweite  Deutung 
im  Sinne  dieses  Sprachgebrauches  aus.  Im  ersten  Sinne 
des  Wortes  „Ezistenz"  ist  aber  der  umstrittene  Satz  in  allen 
seinen  Einzelheiten  sachlich  unangreifbar,  und  so  sucht 
denn  in  der  Tat  Cassirer  das  bloße  Faktum  der  Igno- 
rierung als  Vorwurf  auszulegen. 

13.  Ein  solches  Verfahren  ist  mir  nicht  neu.  Ich  hatte 
einst  einen  Kreisquadrierer  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß 
nach  seinem  Werte  ic  ^=  3,2  das  umschriebene  20-Eck  kleinere 
Fläche  haben  müsse  als  der  Ejreis.  Der  Sinn  der  Antwort, 
die  ich  erhielt^),  war  der  folgende:  „Meine  Untersuchung 
stellt  sich  die  Grundfrage :  Hat  die  Tangente  mit  der  Peri- 
pherie nur  einen  Punkt  gemeinsam?  Sie  hätten  meinen 
Begriflf  der  Tangente  angreifen,  Sie  hätten  den  Versuch 
machen  können,  meine  Verneinung  der  gestellten  Frage  mit 
wissenschaftlichen  Gründen  zu  bestreiten.  Dagegen  konnten 
Sie  sie  nicht  ignorieren,  ohne  meine  Berechnung  von  ic  um 
allen  Sinn  zu  bringen  —  und  sich  dadurch  die  „Kritik", 
wie  Sie  sie  verstehen,  freilich  zu  erleichtern.  Daß  ich  unter 
diesen  Umständen  keinerlei  Veranlassung  habe,  auf  die 
Einzelheiten  Ihrer  Kritik  einzugehen,  wird  mir  jeder  Un- 
parteiische zugestehen;  sie  wurden  von  selbst  hinfällig, 
sobald    erwiesen    war,     daß     die     ersten    Anforderungen 

Cabsirer  nimmehT  Bflcher  heranzieht,  die  Nelson  weder  verfaßt  noch 
besprochen  hat,  so  können  wir  auch  darin  eine  Begründung  seiner 
Deutung  nicht  sehen.  Nicht  darum  handelt  es  sich,  daß  wir  Cohen 
eine  fa£che  Deutung  seiner  Worte  unterschöben,  sondern  darum,  daß 
eine  solche  ünterscmebune  an  Nelsons  Worten  versucht  wurde. 

')  Leider  besitze  ich  das  Original  nicht  mehr.  Ich  überschätzte 
damals  noch  die  Macht  der  Gründe  und  unterschätzte  den  Wert 
solcher  Dokumente. 


408  Gerhard  Hessenberg: 

hier  nicht  erfüllt  sind,  die  man  an  das  bloße  Verständnis 
dessen  stellen  muß,  was  meine  Arbeit  selbst  als  das  Charak- 
teristische ihrer  gesamten  Problemstellung  ausdrücklich  be- 
zeichnet." 

14.  Was  die  Wiedergabe  der  Argumente  dieses  un- 
glücklichen Quadrators  mit  Cassirers  Worten  möglich  macht, 
ist  der  beiden  eigentümliche  Versuch  am  untauglichen 
Objekt;  der  Versuch  nämlich,  aus  einer  objektiven,  von 
der  Problemstellung  unabhängigen  Tatsachenvergleichung 
irgend  etwas  über  das  Verständnis  der  Problemstellung 
herauszulesen.  Während  ich  aber  die  Problemstellung 
meines  Quadrators  wirklich  vöUlig  und  ohne  Angabe  von 
Ghimden  ignoriert  hatte,  ist  Nelson  zur  Tatsachenprüfiing 
erst  nach  einer  ausführlichen  Betrachtung  der  bis  ins  ein- 
zehie  als  verfehlt  nachgewiesenen  Problemstellung  über- 
gegangen, und  er  schickte  diesem  Übergang  den  ausdrück- 
lichen Hinweis  voran ^),  daß  er  sich  nunmehr  jedes  Ein- 
gehens auf  den  Prinzipienstreit  begeben  werde.  Die  Be- 
rechtigung zu  diesem  Verfahren  wies  Nelson  noch  besonders 
nach,  obwohl  sie  allgemein  anerkannt  ist,  obwohl  es  ftir 
jeden  Einsichtigen  klar  ist,  daß  die  Unterscheidung  ver- 
schiedener Seinsformen,  und  sei  sie  noch  so  tiefgründig 
und  ftir  andere  Fragen  wertvoll,  keine  Größenjut  dem 
mathematischen  Todesurteü  entziehen  kann,  wenn  es  ihr 
jedes  Sein,  jede  „Existenzberechtigung"  im  mathe- 
matischen Sinne,  abspricht. 


Zum  Schlüsse  sei  mir  der  Hinweis  gestattet,  daß  die 
über  die  NELSONschen  Arbeiten  entbrannte  Polemik  in  keiner 
Weise  die  Ignorierung  erklärt  oder  gar  rechtfertigt,  deren 
sich  die  „Abhandlungen  der  FRiESSchen  Schule"  bisher  in 
fachphilosophischen  Kreisen  zu  erfreuen  haben. 

^)  ].  c.  S.  616,  die  von  Cassirer  angegriffene  steht  S.  619. 


I. 
Besprechungen. 

Baonl  Richter 5  Der  Skeptizismus  in  der  Philo 
Sophie  (Zusatz  des  11.  Bds. :  und  seine  Über- 
windung). Dürrscher  Verlag ,  Leipzig.  I.  Bd.  3(34  S. 
1904.    n.  Bd.    584  S.    1908. 

Mit  dem  II.  Bande  liegt  dieses  beachtenswerte  Werk  nun  ab- 
geschlossen vor.  Sein  Ertrag  ist  allerdings  schwer  auszumessen,  da 
er  stark  ins  Einzelne  geht  und  drei  Absichten  hier  sich  verschlingen : 
die  historische,  die  kritische,  die  systematische,  eine  Schwierigkeit,  die 
dem  Verfassser  wohl  bewußt  ist.  Es  wiU  mir  scheinen,  daß  er  bei 
der  mittleren  Funktion  am  meisten  in  seinem  Element  ist,  wenn  er, 
wie  einst  Bhuno  Bauer,  oft  als  „die  Kritik''  redet.  Er  brin^  far  die 
kritische  Funktion  in  hohem  Maße  Scharfsinn,  Gründlichkeit,  ana- 
Ivtischen  Sinn  und,  was  Bruno  Bauer  fehlte,  Besonnenheit  mit,  eine 
'fugend,  die  ich  allerdings  nicht  so  absolut  wie  der  Verfasser  preisen 
möchte,  da  sie  wie  die  Wage  zu  sehr  ins  Gleichgewicht  strebt.  Es 
w&re  doch  sonderbar,  wenn  die  Weltordnung  bei  all  den  hier  mehr 
oder  minder  groß  behandelten  Denkern  Licht  und  Schatten  so  gleich- 
mäßig verteilt  hätte,  wie  der  Verfasser  es  tut  (s.  z.  B.  das  Schaukel- 
spiel „Recht  —  Unrecht,  Recht  —  Unrecht  usf."  II  S.  43  und  424  f.)  Der 
wertende  Rhythmus,  in  dem  sich  dieses  Buch  bewegt,  der  Lob  und 
Tadel  immer  abwechselnd  schwellen  läßt,  ist  an  sich  so  subjektiv  wie 

flöhender  Enthusiasmus  und  vernichtende  Kälte,  wenn  auch  meist 
er  Gerechtigkeit   günstiger.     Die  nüchterne  Mäßigung   ist   absolut 
gesetzt  eben  auch  nur  Standpunkt  und  Stimmung. 

Man  glaube  nun  nicht,  daß  dieses  Buch  darum  auch  im  nüchternen 
Ton  geschrieben  sei.  Es  zeigt  geradezu  Begeisterung  für  die  Nüchtern- 
heit und  entfaltet  oft  eine  starke  rhetorische  Bildlichkeit.  Es  spricht 
far  plastisch  von  der  „Wahrscheinlichkeitstreppe"  und  den  „Zangon 
es  Evidenzbewußtseins",  läßt  „blutsverwandte  Wahrscheinlichkeiten 
sich  vermählen"  (II  373),  „verscnwistert"  auch  gern  Abstrakta  (I  303 
II  40,  486),  spricht  von  den  „irdischen  Schwestern"  übernatürlicher  Er- 
kenntnisse (II  512),  zeiet  aber  auch  die  Argumentationen  der  griechischen 
Skeptiker  als  geschickt  geschlagene  Mensuren  und  bringt  in  hundert 
Variationen  Kampf-  und  Fechtvergleiche.  „Bald  mit  derben  Keulen- 
schlägen, bald  mit  feinen,  ins  Herz  dringenden  Nadelstichen  wird 
jeder  Aüspruch  auf  ein  Wissen  um  die  übersinnliche  Welt  langsam 
zu  Tode  gequält"  (II  466).    Ein  Bureaukrat  mag  da  ein  paar  gar  zu 


410  Karl   Jo6l: 

üppiffe  Blüten  besclmeiden ;  tatsächlich  wird  hier  die  Skeptomachie 
durch  die  ag^onistischen  Bilder,  Oberhaupt  durch  ein  oft  auflodernde» 
rhetorisches^euer  in  echter  Beredsamkeit  lebendig  gestaltet.  Häufige 
Wortwiederholunffen  zeigen  teils  eine  Freude  an  gor^ianischer 
Rhythmik  des  Stns  (z.  B.  „Es  ist  die  Ansicht  Momtaioxbs,  die  Ansicht 
Spinozas''),  teils  den  erinnernden  Eifer  des  klaren  Dozenten.  Denn 
HicuTEB  nört  offenbar  alles,  was  er  schreibt,  im  Kathederton.  Daher 
das  Selbstsichere  im  Meistern  der  Denker,  daher  manches  im  Anfang, 
das  nur  für  erste  Semester  bestimmt  ist,  daher  auch  die  vollen  Worte, 
Bilder,  Perioden  und  Abschnittsanfänge  wie  r  „Wir  haben  uns  soeben^ 
(in  der  letzten  Stunde  ?)  „mit  den  geschichtlichen  Vorbedingungen  de» 
griechischen  Skeptizismus  beschäftigt**  (I  21).    „Wir  haben  uns  in  der 

Darstellung all  das  ist  uns  noch  frisch  in  der  Erinnerung** 

(I  95).  „Wir  fahren  in  der  Beurteilung  der  skeptischen  Theorien  fort** 
(I  222).  „Haben  wir  die  Pause  zwischen  diesem  Kapitel  und  demi 
vorigen  dazu  benutzt"  —  (I  121).  „Läßt  sich  noch  nören"  (I  289). 
„Platker,  von  dessen  Anschauungen  wir  im  vorigen  Abschnitt  gehört 
nahen**.  Dieser  ganze  Sprechton,  der  sich  übrigens  im  II.  %ande 
mildert,  dient  natürlich  auch  die  Lebendigkeit  zu  steigern  und  ist  oft 
ein  Labsal  gegen  den  konventionellen  Buchstil. 

Der  Kraft  und  Klarheit  der  Belehrung^  und  der  Kunst  der 
Analyse  dient  femer  ein  wahrer  Furor  der  Zähluns  und  Unter- 
scheidung, wobei  die  Teilung  meist  fruchtbar,  bisweilen  allerdings 
schematisch  ausfällt  und  eher  assoziative  Aufzählung  als  logische 
Gliederung  ist.  Der  Autor  liegt  auch  zum  Teil  im  Kampfe  mit  seiner 
Disposition.  In  den  drei  Abschnitten  des  II.  Bandes  (durcn  die  drei  ver^ 
wandten  Begriffe  der  naturalistischen,  der  empirischen  und  der  bio- 
logischen Skepsis  nicht  gerade  glücklich  gesondert)  fällt  je  das  erste 
Kapitel,  ein  starkes  Drittel  aus  dem  Thema  heraus.  In  der  Skepsis 
der  Renaissance  wird  ausführlich  namentlich  Augubtin  (!\  in  der  Skepsis 
des  18.  Jahrhunderts  werden  ebenso  ausführlich  die  Großen  „von 
Bacon  bis  Leibniz"  behandelt  (nur  Hobbes  fehlt  —  warum?),  die  weder 
ins  18.  Jahrhundert  gehören  noch  Skeptiker  sind.  Und  wenn  man 
mit  Recht  all  diese  als  Bekämpfer  der  Skepsis  lehrreich  findet,  so 
hätten  mit  demselben  Recht  die  antiken  Bekämpfer  der  Skespis  und 
von  den  neueren  namentlich  Kant,  auch  Hegel  behandelt  werden 
müssen.  Zwar  bespricht  das  folgende  Kapitel  unter  dem  Titel  „Auf- 
klärungsskeptiker**, unter  dem  man  gerade  Humk  erwartet  hätte,  viel- 
mehr die  Zeit  nach  „Hitme  bis  Hkori.**,  aber  von  Kant  ist  nur  wenig 
als  kritischem  Objekt,  nicht  als  Kritiker  der  Skepsis,  von  Heoel  gar 
nicht  die  Rede.  Unter  den  Titeln  „Biologischer  Skeptizismus**  und 
„Aufklärungsskeptiker**  erscheint  auch  der  Positivismus,  obgleich  er 
nicht  chronologisch  und  nur  va^e  inhaltlich   „Aufklärung**   ist,  ob- 

Sleich  er  sich  selbst  nicht  als  skeptisch  betrachtet  (was  sonst  für 
Dichter  mit  Recht  maßgebend  ist),  und  obgleich  er  nicht  biologisch 
ist  außer  in  Mach  ,  der  aber  zum  Schluß  nur  genannt  und  nicht  be- 
handelt wird.  Endlich  wird  das  Gesamtprogramm  halb  über  Bord 
geworfen,  da  der  II.  Band  es  nachträglich  nicht  nur  erweitert  durch 
en  Zusatz  zum  Buchtitel  „und  seine  (des  Skeptizismus)  Überwindung", 
sondern  auch  verkürzt  und  nur  das  „erste  Buch**  (die  Behandlung  des 
totalen  Skeptizismus)  abschließt,  wälirend  statt  aes  zweiten  Buches, 
das  dem  partiellen  Skeptizismus  gewidmet  sein  sollte,  nur  ein  »Pro- 
gramm** erscheint,  das  berichtet,  warum  dieses  Buch  ungeschrieben  blieb. 
Ein  Bureaukrat  mag  wieder  über  all  dies  den  Kopf  schütteln; 
ich  sehe  in  dieser  Programmänderung  ein  ehrliches  Bekenntnis  ge- 


Der  Skeptizismus  in  der  Philosophie.  411 

sonder  innerer  Entwicklung  am  Stoff  und  gerade  ein  Scheitern  ge^ 
suchter  Bureaukratie  der  Begriffe.  Die  Einleitung  scheidet  gar  scharf 
den  Skeptizismus  vom  Dogmatismus,  zum  Teil  auch  als  dogmatischer 
Negativismus  vom  negativen  Dogmatismus,  scheidet  Stimmungs- 
skeptizismus und  philosophischen  oder  individuellen  und  generellen 
Skeptizismus,  scheidet  femer  totalen  und  partiellen  und  endlich 
radikalen  und  gemäßigten  Skeptizismus.  Die  letzte  Scheidung  muß 
aber  der  vorletzten  weichen  (S.  XXI}  und  ließ  sich  auch  innerhalb 
ihrer  nicht  ganz  durchfOhren.  Doch  auch  die  Scheidung  zwischen 
totalem  und  partiellem  Skeptizismus  ist  nicht  so  glatt  und  scharf, 
wie  dieses  Werk  sie  verkündet  Bekennt  doch  schließlich  der  Ver- 
fasser selbst,  daß  von  seinem  eigenen  Standpunkte  der  Pvrrhonismus, 
d.  h.  die  Hauptmasse  der  im  I.  Bande  behandelten  „totalen  Skepsis''^ 
in  gewissem  Sinne  nur  eine  partielle  Skepsis  sei  (II  526).  Bei 
CiiABRON  z.  B.  schwankt  er,  ob  er  nicht  besser  unter  die  partiellen 
Skeptiker  aufzunehmen  war  (II  140),  und  ich  kann  nicht  einsehen, 
warum  er  mit  seinem  „blühenden  Dogmatismus**  (II  133,  185)  als 
totaler  Skeptiker  figurieren  soll,  minder  Gläubige  aber,  wie  Sanchez 
oder  manche  bewußten  Erneuerer  der  akademischen  oder  pyrrho- 
nischen  Skepsis,  nur  als  partielle.  Fast  sieht  es  aus ,  als  ob  dieser 
II.  Band ,  der  bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts  nur  die  Skepsis 
Mo5TAioNEs,  Charrons  uud  HuMES  behandelt,  die  unbequeme  Masse  der 
kleineren  Skeptiker  in  die  unbehandelte  partielle  Skepsis  abschiebe. 
Es  geht  nicht  an  (zumal  angesichts  sehr  starker,  von  Richter  nicht 
zitierter  Stellen  gegen  Häresie),  MoNTAioNESund  Guarrons  Glaubensdogma- 
tismus als  „unaufrichtiger'*  (S.  127,  doch  s.  S.  141)  oder  als  „exoterisch'S 
ja  „als  nicht  vorhanden''  (120)  fanatisch  beiseite  zu  schieben  („wir 
hören  auch  nicht  einmal  auf  seine  Stimme"),  weil  er  nicht  begründet 
werde.  Ist  er  nicht  im  Wissensbankerott  negativ  begründet?  Ist  er 
bei  allen  „partiellen  Skeptikern"*  positiv  begründet?  Wäre  er  noch 
Glaubensdogmatismus,  wenn  er  einen  positiven  Erkenntnisgrund  hätte? 
Hat  nicht  Kichter  selber  bei  dem  Oberpriester  Pyrrhon  die  An- 
erkennung der  geltenden  Tradition  aus  dem  Wesen  der  Skepsis  treff- 
lich zu  würdigen  gewußt? 

Überhaupt  —  und  damit  wird  die  Begriffsscheidung  noch  zweifel- 
hafter —  gibt  es  wirklich  eine  totale  Skepsis,  einen  reinen  Zweifel 
ohne  eine  Anerkennung?  Dies  wäre  ein  Problem,  das  in  solchem 
Werk  Beantwortung  verdient  hätte.  Vielleicht  muß  man  bei  jeder 
Skepsis  fragen:  cui  oono?  und  die  Formen  des  Skeptizismi:s  einteilen, 
nicht  negativ  nach  dem,  was  sie  bezweifeln,  sonHern  positiv  nach 
dem,  was  sie  anerkennen.  Instinktiv  ist  B.ichit.r  selbst  darauf  ver- 
fallen, wenn  er  die  neuzeitliche  Skepsis  sondert  in  naturalistische, 
empiristische  und  biologische,  also  in  Anerkennung  der  Natur,  der 
Erfahrung,  des  Lebens.  Dann  aber  sind  sie  insgesamt  auch  nur 
partielle  Skepsis  so  gut  wie  die  mystische,  die  die  Offenbarung  an- 
erkennt. Es  wäre  erkenntnispsychologisch  zu  fragen,  ob  ein  Nein 
ohne  ein  Ja  oder  auch  eine  reine  Isosthenie  geistig  bestehen  kann, 
ob  ein  Bewußtsein  ohne  tiefsten  Akzent,  ein  Zweifel  ohne  inneren 
fiückhalt  leben  kann. 

Aber  Bichtbr  will  von  der  Psychologie  als  Philosophie  nichts 
wissen  (II  508)  und  lehnt  es  öfter  energisch  ab,  eine  „Psycnologie  des 
Skeptizismus''  zu  geben.  Und  doch  fordert  er  jjErkenntnispsycho- 
logie'^  für  die  Erkenntnistheorie  (II  344),  und  es  ist  auch  nicht  ab- 
zusehen, warum  „der  Skeptizismus  in  der  Philosophie"  nur  philo- 
sophisch in  KiCHTERS  Sinn,  d.  h.  erkenntnistheoretisoh  und,  wenn  doch 


412  KarlJofll: 

nun  einmal  schon  nebenbei  noch  historisch -philologiach,  dann  nicht 
auch  kulturpsYchologisch ,  soziologisch  betrachtet  werden  soll.  Hier 
Tersa^  das  werk  am  meisten,  und  zwar  mit  Bewußtsein;  denn  es 
schneidet  in  Wahrheit  den  Kulturuntergrund  des  Skeptizismus  ab, 
indem  es  den  Stimmungsskeptizismus  zu  berücksichtigen  völlig  ab- 
lehnt und  ihn  vom  philosophischen  möglichst  weit  abrückt.  „Dieser 
gesamte  Stimmungsskeptizismus  hat  nun  aber  mit  dem  philo- 
sophischen —  in  der  Art,  wie  und  warum  er  zweifelt,  kaum  einen 
Yerwandtschaftspunkt''.  „So  verschieden  ist  der  philosophische 
Zweifler  vom  Stimmungsskentiker,  daß  die  beiden  Typen  trotz  ihrer 
Übereinstimmung  in  den  Endresultaten  sich  kaum  verstehen  würden** 
<S.  XVII  f.).  Sonderbar,  daß  sie  doch  übereinstimmen,  daß  sie  immer 
zugleich  auftreten,  daß  der  Verfasser,  in  seinen  Taten  tiefer  noch  als 
in  seinen  Worten,  selbst  am  Schluß  der  Einleitung  bekennt,  ohne  den 
modernen  Stimmungsskeptizismus  dieses  Werk  nicht  geschrieben  zu 
haben!  Und  ist  denn  das  Scheideprinzip  zwischen  beiden,  auch  nur 
der  Unterschied  zwischen  individuell  und  j^enerell  so  streng?  Gerade 
der  Stimmungsskeptizismus  zumal  als  Zeitgeist  tritt  mit  überindivi- 
duellem Anspruch  auf,  und  gerade  als  korrekte  These  der  strengsten 
Skepsis,  des  Pyrrhouismus  erscheint  bei  Richter  mit  Recht  nur  die 
individuell  gültige  Skepsis  (I  100,  107,  288).  Er  schildert  doch  nicht 
umsonst  so  feinsinnig  die  Individualitäten  der  großen  Skeptiker, 
besonders  schön  auch  I^yriihoxs  Stimmung  (I  25  unten);  er  weiß,  daß 
dessen  „Skeptizismus  aus  seiner  Adiaphorie,  nicht  diese  aus  jenem 

feboren*'  wurde;  er  erkennt  auch  z.  H.,  daß  Momtaione  zwischen  in- 
ividuellem  Stimmunssskeptizismus  und  philosophischer  Skepsis  „die 
Mitte  hält"  (U  82,  118).  Er  wird  auch  der  so  verwandten  Skepsis 
Nietzsches  (II  501)  den  Stimmungscharakter  nicht  absprechen,  so  gut 
wie  im  Pessimismus  Schopenhauer  die  mögliche  Vereinigung  von 
Stimmung  und  Philosophie  beweist. 

Aber  es  liegt  noch  tiefer.  Die  Ablehnung  des  Stimmungs- 
Skeptizismus  bedeutet  offenbar  eine  Ablehnung  des  Irrationalen, 
Alogischen  im  Skeptizismus.  Tatsächlich  aber  ist  der  Skeptizismus 
in  der  Wurzel  irrational,  ja  geradezu  ein  Sieg  des  Alogiscnen  über 
das  Logische,  die  Ohnmacntserklärung  der  Erkenntnis,  ihr  Rückzug 
vor  einem  Anderen,  Größeren  in  Welt  oder  Seele.  Die  Skepsis  sagt 
nicht  über  das  Denken  aus,  sondern  gerade  über  das  Verhältnis  des 
Denkens  zu  einem  Anderen,  das  nicht  Denken  ist.  Gerade  Richter, 
der  die  Wahrheit  als  Relation  zum  Subjekt  erkennt,  der  sie  im 
Evidenzeefühl  psychologisch  verankert,  der  bei  den  Skeptikern  von 
pYRRHONois  Nietzsche  öfter  praktische,  biologische  und  andere  aloeische 
Momente  nicht  nur  nebenhergehen  sieht,  sondern  sie  als  treibende 
Motive  der  Skepsis  erfaßt,  gerade  er  durfte  die  Erkenntnispsychologie 
nicht  so  beiseite  schieben.  Dabei  sind  bei  ihm  schon  die  praktischen 
Momente  so  zurückgedrängt,  daß  er  von  den  drei  Timonischen  Fragen, 
nach  denen  er  im  I.  Bande  mit  Recht  disponiert,  der  erkenntnis- 
theoretischen Ve,  den  beiden  praktischen  zusammen  Ve  der  Darstellung 
und  Kritik  widmet. 

Die  Abkehr  vom  Alogischen,  Individuellen  der  Stimmung,  die 
Ablehnung  psychologischer  und  kulturhistorischer  Betrachtung,  vom 
Verfasser  zum  Glück  nicht  ganz  durchgeftlhrt,  also  die  Nicht- 
beachtung der  Bedingungen  des  besonderen  Intellekts  müßte  schließ- 
lich zur  Verwischung  aller  Richtungsunterschiede  des  Skeptizismus, 
ja  zur  Verwischung  seines  Unterschiedes  ^gen  den  Dogmatismus 
führen.     Und  wirklich  stürzt  auch  schließlich  diese  letzte  Scheide- 


Der  Skeptizismus  in  der  Philosophie.  413 

wand  ein.    Nicht  nur  zeigt  der  Verfasser  dogmatische  Elemente  bei 
Pyrrhox  (I  24),  Montaigne  und  anderen,  nicht  nur  wird  ihm  Hume  als 
Skeptiker  zweifelhaft  (II  526),  nein,  er  bekennt:  der  Gegensatz  des 
Dogmatismus   und    Skeptizismus    gehört    „einer    Xindheitsstufe    des 
philosophischen  Denkens"   an  (II  427).    „Philosophisch  geredet,  sind 
Dogmatismus    und    Skeptizismus,    nachdem    ihnen    die    feindlichen 
Spitzen    abgebrochen   wurden,    überlebte   Termini,   wie   Empirismus 
und  Realismus  und  Idealismus,  und  so  viele  andere"^  (II  527).    Warum 
nicht  alle?    Die   j,identisch  organisierte  Vernunft",  die  Einheit   des 
Erkennens  wie  die  des  Erkannten  (II  506)  läfit  keine  Mehrheit  der 
Richtungen  zu  —  es  sei  denn  in  den  „Hemmungen"   der  „idealen" 
I^kenntnisweise.    Sind  diese  Hemmungen  aber  logischer  und  nicht 
vielmehr  alogischer,  also  psychologischer  Natur?   Das  Wort,  das  die 
Richtungsbezeichnungen    ablösen    solle,    sei   noch   nicht   geschaffen, 
meint  Richiek.    Aber  kann  dieses  Richtungslose  denn  anders  lauten 
als    —    die    Wahrheit?      Nur    „zur    Bezeichnung    historischer    Er- 
scheinungen"  findet  der  Verfasser   die  Richtungsbezeichnungen   un- 
entbehrlich.   Doch  auch  hier  erklärt  er:     „Im  Lichte  unserer  eigenen 
Begriffe  wäre  das  skeptische  Grau  der  meisten,  vielleicht  gerade  der 
bedeutendsten  Zweifler  erloschen."    Und  schließlich  heißt  es :    „Daher 
ergibt   die   tiefere  Einsicht   in  das  Wesen   des   Skeptizismus   dessen 
Überwindung,  und  die  genauere  Bekanntschaft  mit  ihm  nicht  eine 
verfeinerte  Bestimmung,  sondern  die  Aufhebung  dieses  Begriffs  in 
systematischer  Beziehung"  (II  526  f.)    Und  so  stehen  wir  am  Ende 
des  U.  Bandes   leerer  da  als  am  Anfang  des  I.,    da  uns   ein   „ab- 
schließender Begriff"    des    Skeptizismus   am   Ende    wenigstens   ver- 
heißen ward.     „Historisch  verstanden"  hat  sich  zu  dem  im  Anfang 
gegebenen    vorläufigen  Begriffe,    der    im  Grunde   nur    eine    Wort- 
Übersetzung  als  „ Zweifellehre "  war,   „nichts  hinzugefunden"  (II  525), 
und  selbst   diese    leere  Htüle   des  historischen  Begriffs  kommt  im 
systematischen  Begriffe  zur  „Aufhebung". 

Aber  mußten  wir  so  beim  reinen  Nichts  enden,  und  mußte  dieses 
reiche  Werk  so  recht  eigentlich  nur  Skepsis  an  der  Skepsis  üben? 
Welche  Fülle  dräujgender  Probleme  pocht  nier  vergebens  an :  ob  eine 
reine  Skepsis  möghch  und  nicht  stete  ein  positiver  Hintergrund  nötig 
ist,  ob  und  inwiefern  |die  Skepsis  sich  als  notwendiger  Durchgangs- 
punkt der  Erkenntnis  zeigt,  zumal  bei  allen  großen  Denkern,  welche 
sozialen,  kulturellen,  seelischen  Konstitutionen  zur  Skepsis  drängen 
und  welche  nicht,  und  wenn  diese  Fragen,  deren  Antwort  positive 
Merkmale  der  Skepsis  ergeben  würden,  als  kulturpsychologisch  und 
historisch  hier  ausscheiden  (obgleich  dieses  Werk  doch  nun  einmal 
auch  historisch  ist),  so  ließen  sich  positive  Bestimmungen  auch  ge- 
winnen, wenn  man  nur  Richters  Worte  selbst  beherzigt,  daß  die 
Lehren  der  Skeptiker  „nur  durch  einen  Einblick  in  das  Getriebe  des 
Erkenntnisapparats  selber  ganz  verstanden  und  gerecht  beurteilt 
werden  können".  Da  sich  die  Erkenntnis  in  einer  Relation  von 
Subjekt  und  Objekt  abspielt,  so  wäre  zu  fragen,  ob  nicht  alle  Skepsis 
eine  Zerstörung  des  Erkenntnisobjekte  durch  einen  Subjektivismus 
bedeutet,  der  sich  von  der  Sophistik  bis  Nietzsche  verfolgen  ließe, 
der  die  antike  Skepsis  „wie  nie  zuvor  auf  den  Anteil  des  Subjekte" 
bei  Wahrnehmungen  hinweisen  ließ  (I  218),  der  schon  im  Pyrrhonismus 
Dinge  zu  Erscheinungen  (d.  h.  zu  Dingen  für  das  Subjekt)  herab- 
setzt, Objektives  in  wechselnde  Zustände  des  Subjekte  zersetzt 
und  endet  mit  einem  Verhalten  des  Subjekte  (Epochö)  aus  einem  sub- 
jektiven Motiv  (Glückseligkeit).    Richter  weiß,  daß  noch  Platnrb  das 


414  KarlJoel: 

Wissen  um  die  Welt  zu  „subiektiver  Gewißheit^  herabdrackt,  noch 
Mach  die  Naturgesetze  als  „bloße  subjektive  yorscbriften"  für  den 
Beobachter  faßt.  Es  wäre  femer  zu  fragen,  ob  die  Skepsis  nicht  eine 
Zurackschiebung  des  Objektiven  mehr  aufs  passive  Subjekt  (nach 
Hu^ifES  Gewohnheit,  Machs  Empfindung,  Nietzches  Instinkt)  bedeutet, 
und  ob  nicht  jener  Passivismus,  jene  Unterschätzung  der  aktiven 
Funktionen,  von  Bichtkr  so  gut  beim  Pyrrhonismus  herausgearbeitet, 
sich  zum  allgemeinen  Kennzeichen  des  Skeptizismus  erweitern  ließe. 
Auch  daß  Pvrruon,  Arkesilaos,  Karneades  nicht  schrieben,  Montaigne, 
HuMK,  Platner,  Nietzsche  als  Essayisten  oder  Aphoristiker  auftreten, 
verdient  Beachtung.  Es  wäre  zu  fragen,  ob  nicht  in  der  Erkenntnis, 
die  die  Vielheit  zur  Einheit  zu  bringen  hat,  der  Skeptizismus  das 
Hecht  der  Vielheit  des  Erlebens  wahrt  gegenüber  der  Einheits- 
forderun^  des  Dogmatismus.  Es  wäre  zu  fragen  —  denn  es  soll  hier  nur 
die  Möglichkeit  positiver  Merkmale  des  Skeptizismus  angedeutet  werden. 

Diese  j)rinzipiellen  Einwände  verbieten  nicht  eine  Würdigung 
des  gehaltreichen,  geistig  durchlebten  Werkes,  dessen  Stärke  eben 
nicht  in  der  letzten  Synthese,  auch  nicht  in  den  historisch -philo- 
logischen Spezialitäten,  sondern  in  dem  Mittleren  liegt,  der  kritischen 
Analyse  der  Systeme.  In  der  „Vorgeschichte  der  griechischen  Skepsis*^ 
wird  gut  die  „steigende  Schwängerune  der  geistigen  Atmosphäre  mit 
Zweifelselementen^  gezeigt,  der  allerdings  doch  wohl  eine  Stärkung 
des  Dogmatismus  bis  zum  Siege  in  den  großen  Systemen  parallel 
geht.  Im  einzelnen  ließ  sich  allerlei  anmerken,  z.  B.  bei  dem  „alten'*  (?) 
Pherekydes  (gegenüber  den  loniem),  bei  Pythaooras,  dem  Lehren  der 
Pythagoreer  scnon  zu  sicher  zugeschrieben,  bei  den  Sophisten  und 
Sokrates,  die  noch  zu  gläubig  nach  Platün  und  Xenopiion  charakterisiert 
werden.  Den  Homo-mensura-Satz  des  Protaqorab  fasse  ich  als  Be- 
kenntnis gegen  die  eleatische  Ontologie,  als  Betonung  des  Subjekts 
unbestimmt  noch  zwischen  Gattung  und  Individuum,  genau  wie 
Fkuerbacus  Betonung  des  „Menschen '',  der  erst  durch  Stirner  in 
Gegensatz  zum  Individuum  kam.  Mag  man  selbst  wie  Bichfer  in 
dieser  Streitfrage  sich  auf  die  Seite  der  individualistischen  Deuter 
des  Satzes  stellen,  jedenfalls  darf  man  ihn  nicht  gerade  als  be- 
wußte Ablehnung  des  generellen  Subjekts  (II  442,  vgl.  I  16,  II  474) 
fassen;  sonst  hätte  Protagoras  den  generellen  Ausdruck  „Mensch ^^ 
sicherlich  vermieden.  Das  Motiv  der  Sophistik  ist  nicht  bloß  dia- 
lektisch (1811),  sondern  praktisch,  und  ihre  Geistesart  doch  wohl  der 
Skepsis  noch  etwas  näherstehend,  als  Richter  zeigt.  Die  Vorläufer 
der  Skepsis  verdienten  um  so  mehr  Beachtung,  als  Timon  wie  die 
Akademiker  sich  ausdrücklich  auf  sie  berufen,  und  speziell  eine  Zu- 
sammenstellung über  die  Kritik  der  Sinnen  Zeugnisse  bei  den  Vor- 
sokratikem  wäre  interessant  gewesen. 

Für  die  Darstellung  des  griechischen  Skeptizismus  hat  Bichter 
die  wichtigen  Vorarbeiten  namentlich  Natorps  und  Hirzrls  auch  den 
geistreichen  Brocuard  wohl  beachtet ;  Gokdeckemeters  fast  gleichzeitig 
entstandenes  Buch  war  noch  nicht  erschienen.  Doch  hebt  sich  von 
diaser  mehr  historisch-spezialistisch  gründlichen  Arbeit  und  von  seinen 
Vorläufern  Bichters  Werk  selbständig  ab  durch  die  philosophische 
Geschlossenheit,  in  der  er  den  skeptischen  Lehrstoff  zum  kritischen 
Zweck  präsentiert.  Bisweilen  vom  philosophischen  Katheder  auf  die 
philologische  Methode  herabschauend  (S.  807,  27.  318,  56.  321,  145), 
übt  er  öfter  in  spezialistischen ,  aber  nicht  unwichtigen  Streitfnkgen 
eine  besonnene  Epoche  (über  Änesidems  „Heraklitismus'^,  über  das  Ver- 
hältnis der  Ärzteschulen  zur  skeptischen  Lehre,  über  Pyrrhons  Ein- 
fluß auf  den  Begründer  der  akademischen  Skepsis  usw.).     Demhisto- 


Der  Skeptizismus  in  der  Philosophie.  415 

rischen  Bedürfnis  der  Unterscheidung  hat  Richter  einen  kurzen  treff- 
lichen Überblick  über  den  .Yerlaiu  der  griechischen  Skepsis^  zu- 
e<»tanden,  eine  schöne  Cnarakteristik  der  Hauptskeptiker  als 
länleitung  zum  Gesamtbild  der  skeptischen  Lehre. 

So  ^oßzügig  diese  einheitlich  geschlossene  Darstellung  wirkt, 
so  sehr  sie  durch  Sextus  Empiricus  als  Hauptquelle  schon  äußerlich 
begründet  ist,  es  kann  doch  nicht  ohne  Vergewaltigung  ein  halbes 
Jahrtausend  des  Denkens  auf  ein  Brett  gelegt  werden.  V  on  der  Neu- 
zeit nicht  zu  reden,  würde  ich  auch  bei  anderen  antiken  Bichtungen 
dergleichen  nicht  wagen,  wo  wenigstens  die  Einheit  des  Ursprungs 

fegeben  ist.  Hier  aber,  wo  die  Skepsis  des  Pyrrhonismus  und  die 
er  Akademie  im  äußeren  Ursprung,  im  inneren  Motiv,  im  In- 
tensitätsgrad, in  Form  und  Methode  und  zum  Teil  auch  im  Besultat 
bis  zur  Polemik  verschieden  sind,  wäre  eine  Trennung  in  Darstellung 
und  Kritik  um  so  angebrachter  gewesen,  als  Bichteb  hie  und  da 
(s.  namentlich  S.  41,  lll  ff.,  298  f.)  Unterschiede  dieser  Eichtungen, 
ja  zum  Teil  ihre  Gegensätzlichkeit  für  die  Kritik  gut  hervorhebt. 
Dann  aber  müßte  noch  ein  weiterer  Schnitt  geschehen  zwischen  der 
altpyrrhoneischen  und  der  jüngeren  Skepsis,  zwischen  die  sich  ja  die 
akademische  in  der  Pause  eines  starken  Jahrhunderts  einschiebt. 
Gewiß,  ÄNE8IDKM  bekennt  sich  zu  Pyrrhon  (wie  Hume  schließlich  auch 
zur  Akademie),  und  demokritische,  medizinische  Beziehungen  liegen 
schon  in  der  älteren  Skepsis  vor  wie  no<di  in  der  jüngeren  eudämo- 
nistische  Bekenntnisse;  das  hindert  nicht,  daß  Motiv  und  Ausbau  im 
wesentlichen  verschieden  sind.  Um  es  nach  den  antiken  Gebieten  zu 
pointieren:  die  jüngere  Skepsis  ist  physisch  orientiert,  die  mittlere 
logisch,  die  ältere  ethisch  (was  sich  ja  auch  mit  Demokkit  verträgt). 
Entgegen  dem  persönlichen  Ideal  der  Unbewegtheit  bei  der  älteren 
betont  die  jüngere  Skepsis  die  nicht  von  Dbmokrit,  sondern  von 
Hkraklit  gelernte  Flucht  der  Erscheinungen.  Die  Formen  der  Skepsis 
scheiden  sich  eben  wieder  nach  dem  positiven  ItQckhalt;  die  ältere 
Skepsis  hat  ihn  im  Praktischen,  in  der  Ataraxie,  die  jüngere  in  der 
Medizin,  in  einem  Empirismus,  den  Bichiek  dem  modernen  Positivismus 
vergleichen  darf,  daher  sie  im  Gegensatz  zur  bloß  aporetischen  älteren 
Skepsis  zetetisch  ist  (vgl.  auch  Göueckemeyer  S.  221)]  die  mittlere 
Skepsis  hat  nicht  nur  den  Trost  der  „Wahrscheinlichkeit'",  sondern 
hat  ihren  positiven  Stachel  in  ihrem  Gegensatz,  in  der  Stoa,  von  deren 
Bekämpfung  sie  lebt.  Das  Bekenntnis  des  Karxeades:  „Wenn  Chrysipp 
nicht  wäre,  wäre  ich  nicht",  ist  nicht  so  sehr  als  Bekenntnis  der  Ab- 
häDg^igkeit  (S.  38)  wie  der  fanatischen  Gegnersiüiaft  zu  deuten  (s.  den 
Wortlaut  Dioff.  L.  IV  62j.  Die  einheitliche  Darstellung  BricHTERs 
wird  ermöglicht  dadurch,  daß  in  ihr  die  Besonderheiten  der  Aka- 
demiker und  die  mehr  praktischen  Tendenzen  zurücktreten  gegenüber 
der  Erkenntnistheorie  der  jüngeren  Skeptiker,  die  ihm  schon  in  seiner 
Vorstudie  in  Wundts  philos.  Stud.  XX  das  Thema  abgab.  Ein 
kleines  Beispiel,  wie  die  Vereinheitlichung  der  Skepsis  unrecht 
tun  kann.  „Als  der  große  skeptische  Stil  eines  Pyrrho  in  der 
Tradition  erlosch  — ,  da  wurde  auch  das  skeptische  Ideal  dahin  ab- 

feschwächt,  daß  man  sich  von  der  Leidlosigkeit  auf  das  maßvolle 
leiden,  von  der  dwdOeia  auf  die  firrpoitdöew  zurückzog"  (1 18).  Aber  die 
Betonung  der  futpioicadeta  gehört  eben  den  Akademikern,  ist  bei 
Ahkesilaos^  Lehrer  Krantor,  ja  schon  beipLATOM  (in  der  Hepublik)  gegeben 
und  ist  für  sie  Differenzierung  gegen  die  auch  von  ihren  Uegnern, 
den  Stoikern  (und  schon  den  Kymkem)  betonte  dTcccdeia,  die  übrigens 
nicht  bloß  Leidlosigkeit  bedeutet. 


416  Karl  Joöl; 

Abgesehen  von  den  genannten  Bedenken  ist  aber  Eichtbrs  Dar- 
stellung der  griechischen  Skepsis  als  ein  Muster  an  Klarheit  und 
Lebendigkeit,  an  tiefer  und  gründlicher  Erfassung  anzuerkennen, 
belebt  durch  moderne  Beispiele  und  Parallelen  und  gut  disponiert: 
I.  Das  allgemeine  Prinzip  der  Isosthenie.  —  II.  Die  sensuale  Skepsis. 
—  III.  Die  rationale  Skepsis.  —  IV.  Die  Skepsis  gegen  einzelne 
Wissensinhalte  (Naturzusammenhang — Gott  —  Werte).  —  \.  Negative 
und  positive  Konsequenzen  des  Skeptizismus.  Allerdings  hat  wohl 
die  Straffheit  dieser  Disposition  z.  ä.  die  10  Tropen  in  die  sensuale 
Skepsis  gedrängt,  während  sie  tatsächlich  nicht  nur  nach  Diooene» 
und  Sextus  und  nicht  nur  im  10.  Tropus  über  die  Widersprüche  der 
sinnlichen  Wahrnehmung  hinausgehen.  Gut  wird  die  Anordnung  der 
ersten  4  Tropen  erklärt,  wogegen  die  der  späteren  besser  nach. 
Diogenes  geschehen  wäre.  Der  9.  Tropus  will  mit  dem  «p<Jc  ti  nicht 
nur  die  Quintessenz  der  übrigen  ausdrücken. 

Die  Kritik  der  griechischen  Skepsis  folgt  nun  derselben  Dis- 
position; sie  entwickelt  erst  feinsinnig  die  faktische  und  methodo- 
logische Bedeutung  der  Isosthenie,  das  Kriterium  ihrer  Gültigkeit  und 
Ungültigkeit.  Sie  zeigt  dann  in  einer  scharfsinnig  und  energisch» 
klar  und  beredt  durchgeführten  großen  Argumentation,  daS  die 
griechische  Skepsis  nur  den  extremen  Realismus  geschlsigen,  den  sie 
als  Erkenntnisstandpunkt  voraussetzt,  den  aber  unsere  Wissenschaft 
längst  hinter  sich  gelassen,  daß  dagegen  und  in  welcher  Weise  der 
gemäßigte  Realismus  wie  der  extreme  Idealismus  diesen  skeptischen 
Schlägen  entgehen.  Die  Kritik  am  extremen  Realismus  ist  gewiß  be- 
rechtigt; damit  ist  die  „Wahrheit  an  sich^  noch  nicht  getroffen,  an 
die  ja  auch  der  gemäßigte  Realismus  glaubt.  Doch  auch  mit  dem 
Relationscharakter  der  Wahrheit  mag  Kiciiteb  recht  behalten,  damit 
noch  nicht  mit  der  anthropologischen  Beschränkung,  die  ja  idola 
tribus  rechtfertigen  würde,  sondern,  wie  er  fremde  menschliche  und 
tierische  Erkenntnis  nur  nach  Analogie  verstehen  will,  so  ließe  sich, 
die  Konstitution  der  Erkenntnis  vielleicht  abstrakt  aus  der  bewußten 
Einheit  eines  organischen  Wesens,  ja  eines  Subjektes  überhaupt  im 
Verhältnis  zur  Vielheit  der  Objekte  verstehen.  So  sehr  femer  Richter  im 
Anfang  mit  seiner  Ejritik  der  ^echischen  Skepsis  im  Rechte  ist,  er  tut 
ihr  zum  Teil  unrecht  mit  den  vorwürfen,  daß  sie  Gefühle  des  Subjekts 
auf  die  Dinge  übertrage,  daß  sie  statt  in  Urteilen  in  Wahrnehmungen 
Widersprüone  finde.  Der  Grund  ist,  daß  er  selbst  erst  die  Tropen 
rein  sensualistisch  verstanden  und  statt  auf  Differenz  der  Urteile  nur 
auf  solche  der  Wahmehmungengedeutet  hat.  Daß  den  Tropen  Nicht- 
beachtung der  ungewöhnlichen  Wahmehmungsverbindungen  zugrunde 
liege  (S.  iJ07),  ist  um  so  unwahrscheinlicher,  als  der  b.  Tropus  (in 
RicHTEBs  Zählung)  diesen  Unterschied  gerade  betont. 

Die  Kritik  der  rationalen  Skepsis  entwickelt  zunächst  kräftig 
dieser  zustimmend  die  reale  Ungültigkeit  der  Gattungsbegriffe  als 
.Brillen",  aber  im  kritischen  Gegensatz  zur  Skepsis  die  methodo- 
logische Bedeutung  jener  als  „Futterale''.  Der  von  den  Skeptikern 
angestrebte  Antirealismus  habe  jetzt  endgültig  gesiegt.  Anzumerken 
ist  nur,  daß  dabei  Spinoza  (trotz  des  Kampfes  ge^en  die  notiones  uni- 
versales !)  und  Lbibniz  (trotz  der  Schrift  de  nrincipio  individui !),  nicht 
aber  Heoel  als  Neurealisten  aufgeführt  weraen.  Sodann  zeigt  Richter 
gut,  wie  sowohl  Rationalisten  als  Empiriker  den  skeptischen  Tropen 
gegen  den  Erkenntniswert  der  Schlüsse  entgehen  können,  und  nament- 
Hch  die  Zurückweisung  des  Zirkelcharakters  der  Schlüsse  scheint  mir 
gelungen,  obgleich  ich  den  erkenntnistheoretischen  Boden  des  Ver* 


Der  Skeptizismus  in  der  Philosophie.  417 

fassers  nicht  so  sicher  finde.  Daß  „die  mechanischen  Gesetze  kein 
Mensch  mehr  heute  aus  reiner  Vemiuift  abzuleiten  versucht*',  wider- 
spricht dem  Bekenntnis  von  Heinrich  Heutz  Über  das  I.  Buch  seiner 
„Prinzipien  der  Mechanik.'^  Die  Yerkennung  der  Hypothese  ließ  sich 
nur  der  pyrrhonischen ,  nicht  der  akademischen  Skepsis  vorwerfen. 
Mit  Becht  wird  die  Verachtung  der  Definitionen  auch  als  Protest 
gegen  die  Stoa  verstanden  und  feinsinnig  zum  Schluß  gezeigt,  wie 
eine  Dosis  Skeptizismus  im  modernen  Menschen  ihn  immun  macht 
gegen  die  naive  antike  Skepsis. 

Vortrefflich  wird  dann  mi  IV.  Abschnitt  die  naive  Verdinglichung 
der  Kausalität  bei  den  Skeptikern,  aber  zugleich  ihr  Verdienst  in  der 
Fragestellung  Ober  KausalitAt  betont,  femer  in  der  allgemeinen 
Itebgionsverffleichung  und  in  der  Widerlegung  des  extremen  Wert- 
realismus.  vortrefflich  zeigt  endlich  der  letzte  Abschnitt  die  Kon- 
sequenz der  Skeptiker  im  negativen,  ihre  Inkonsequenz  im  positiven 
Verhalten,  das  eben  doch  der  von  ihnen  unterschätzten  aktiven 
Funktionen  bedarf,  und  in  der  Empfehlung  eines  eudämonistischen 
Allheilmittels.  Auffallend  ist,  daß  Kichter  das  skeptische  Sichfügen 
imter  Sitten  und  Gebräuche  an  sich  als  Werterscheinungen  ober- 
flächlich und  irrig  findet,  da  man  sich  diesen  Erscheinungen  ent- 
ziehen könne,  dagegen  die  Motivierung  dieses  Sichfügens  durch  die 
Lust  daran  als  tief  und  wahrer  schätzt.  Ich  finde  ^enau  umgekehrt 
die  hedonisch-utilitarische  Motivierung  oberflächlich  (vgl.  Kichtsr 
selbst  II  S.  245)  und  kann  auch  nicht  sehen,  welche  „ Großartigkeit '^ 
in  solchem  Vernalten  liegt,  zumal  hier  die  Skeptiker  mit  der  großen 
Zahl  der  Gebildeten  verglichen  werden,  die  in  der  Landessitte, 
Kirche  usw.  verharren  aus  .Mattigkeit",  aus  Unlust  „gegen  den 
Strom  zu  schwimmen".  Der  Skeptiker  aber  will  sich  den  gegebenen 
Werterscheinimgen  nicht  entzienen  gemäß  jenem  Passivismus,  der 
MoMTAiGNE,  Charron,  Hume  60  konscrvativ  Gesetz,  Tradition  und  Ge- 
wohnheit preisen  läßt. 

Der  IL  Band  behandelt  im  ersten  Kapitel  („Von  der  Antike  bis 
zur  Renaissance")  namentlich  Augustins  Verhältnis  zur  Skepsis  in 
feiner  Charakteristik,  richtiger  Quellenbeziehung,  scharf  eindringender 
Kritik  mit  anregenden,  modern  erkenntnistiiieoretischen  Ausblicken, 
denen  ich  allerding|8,  auch  abgesehen  von  einigen  raschen  Schlafen 
gegen  Kant,  nicht  immer  folgen  möchte.  Vor  allem  der  Begriff  der 
Wahrheit  (auch  im  Verhältnis  zur  Wahrscheinlichkeit,  zum  Glauben, 
der  ja  auch  Wahrheit  beansprucht  und  fühlt,  und  zu  der  zwiefachen 
Wahrheit  der  Spätscholastiker,  die  nicht  nur  negativ  zur  Skepsis  steht) 
scheint  mir  durch  Hichter  nicht  so  fest  stabilisiert,  wie  er  verkündet, 
wenn  er  sie  auch  mit  Recht  von  der  Forderung  einer  Übereinstimmung 
mit  dem  Gegenstand  befreit  hat.  Selbst  die  Identität  der  Wahrheit 
mit  Wissen  und  Erkenntnis  ist  nicht  so  selbstverständlich.  Daß  der 
Begriff  der  Wahrheit  durchaus  nicht  „in  mystische  Höhen"  erhoben 
werden  darf  (S.  16,  doch  s.  S.  34  den  erlaubten,  durch  freies  Phantasie- 

f spiel  konstruierten  „Idealbegriff"  der  Wahrheit);  daß  nur  „kühle, 
leichmäßige  Temperatur"  für  diese  Erkenntnisfragen  befähig^,  daß 
ijLTonSf  Plotinb,  Spinozas,  Schelungs  und  anderer  intuitive  Erkenntnis 
keine  ist,  ist  schließlich  selber  nur  Glaube.  Die  Möglichkeit,  daß 
das  Genie  eerade  in  heißer,  ekstatischer  Spannung  mehr  sieht  als  die 
Kühlen  und  Gleichmäßigen,  ist  doch  nicht  abzuweisen.  Wenn  RicHTBit 
für  die  Wahrheit  ein  Evidenzgefübl  fordert,  so  machen  die  Spekulativen 
mit  ihrer  Intuition  eben  darauf  Anspruch,  und  wenn  er  die  Intuition 

Yierteljahrsschriftf.-vnsseDflchaftl.Philos.  u.  Sosiol.  XXXII.  2.         27 


418  [Karl   Jo6l: 

nur  psyohologisch ,  nicht  logisch  einstellen  will,  so  g^ilt  dies  nicht 
minder  von  seinem  Kriterium  des  Evidenz^efühls.  Wenn  er  von  der 
Wahrheit  Harmonie  mit  Denken  und  Erfanrun^  fordert,  so  werden 
sich  die  Spekulativen  als  Denker  xon^  Hoy-ti^y  die  ihre  Intuition  erlebten, 
innerlich  erfuhren,  nicht  betroffen  fühlen.  Wenn  er  aber  fttr  die 
Wahrheit  Harmonie  mit  allen  gegebenen  Erfahrungen  unter  normali- 
sierenden Bedingungen  fordert,  so  ist  Gefahr,  daß  die  Wahrheit  durch 
NiveUierune  vergewaltigt,  daß  sie,  grob  heraus  zu  sagen,  unter  Fan- 
faren der  Knetorik  ans  Philisterium  aus^liefert  wird,  daß  ein  Seltenes 
für  die  Seltenen,  ein  Neues  für  die  I^uen  nicht  wahr  sein  dürfte. 
Die  Harmonie  mit  den  Denkeesetzen  und  Erfahrungen  mitsamt  jenen 
Bedin^neen  ^ibt  höchstens  die  Möglichkeit  der  Wärheit.  Es  könnte 
jenen  im  Bestimmten  Falle  mehrerßi  entsprechen,  während  eins  nur 
wahr  sein  kann;  es  könnte  etwas  (z.  B.  em  Urteil  über  Zukünftiges) 
mit  ihnen  harmonieren  und  doch  nicht  wahr  sein;  es  könnte  etwas 
wahr  sein  und  doch  früheren  Erfahrungen  widersprechen.  Ich  nehme 
hier  nicht  Partei,  sondern  sehe  nur  Fragen  offen,  die  Bichtbr  er- 
ledigt findet. 

Vortrefflich  ist  das  Montaione  gewidmete  2.  Kapitel  in  der 
Charakterschilderung,  in  der  Analyse  seiner  Quellen,  seiner  Tendenzen, 
seiner  Widersprüche,  und  auch  die  ausführliche  Rettung  der  ethischen 
Erkenntnis  vor  dem  extremen  skeptischen  Relativismus  ist  in  der 
Hauptsache  gelungen.  Bedenken  habe  ich  nur  gegen  die  einseitise 
Voranstellung  des  Naturprinzips  und  die  entsprechende  völlige  ZurücK- 
schiebung  des  religiösen  Konservativismus  bei  Montaionk,  während 
sein  Wesen  vielmehr  ein  Schülern  ist  zwischen  diesen  Gegensätzen 
und  noch  andern,  wie  KANTischem  Rigorismus  (vgl  S.  88)  und  Epiku- 
reismus  (S.  67),  kurz  ein  Koistiger  Don  Juanismus,  der  sich  vielleicht 
als  romanischer  Typus  der  Skepsis  hätte  herausarbeiten  lassen  im 
Gegensatz  zum  Faust-  und  Hamlettypus  germanischer  Skepsis.  Die 
zeitweilig  naturalistische  Betrachtung  der  menschlichen  Vergänglich- 
keit und  darin  des  Wechsels  der  Ansichten  ist  kein  Spezifikum 
MoKTAianEs ,  sondern  klingt  in  der  Skepsis  durch  von  Pybrhon  (vgl.  I 
S.  25)  und  dem  Herakliteer  Anesideu  bis  zum  biologisch  vergleichenden 
Nietzsche.  Den  allgemeinen  Grundton  MoNrAiuNEs  wie  der  Renaissance 
möchte  ich  in  der  Betonung  nicht  so  sehr  der  Natur  als  des  Indivi- 
duellen und  Persönlichen  sehen,  das  Richter  selber  oft  genug  bei 
Montaigne  hervorstellen  mufi  (S.  70,  78,  82,  86  f.,  90).  Hinter  dem 
Kultus  der  „Natur*"  steckt  die  des  Lebendigen  (vgl.  II  S.  501)  als  des 
Freien.  Die  Herabsetzung  des  Menschen  widerspricht  geradezu  den 
Renaissancedenkem  und  zeigt  den  späten  Montaigne  schon  als  negative 
Vorbereitung  für  den  Absomtismus  des  17.  Jahrhunderts.  Auä  die 
Antithese  zu  Protagoras  (S.  90)  ist  nicht  glücklich;  dafi  ihm  der 
Mensch  fOr  die  Wahrheit  zu  groß  gewesen  sei,  wird  schon  durch 
das  Götterfragment  widerlegt.  —  Sehr  fein  seziert  dann  Richter  die 
Doppelnatur  Charrons  und  erkennt  richtig  durch  Rationalismus  imd 
Schematismus  hindurch  den  Anhänger  moktaignes,  den  Vorläufer 
Pabcals.  Ein  kulturpsychologischer  Blick  hätte  hier  die  Skepsis  als 
natürliches  Schwanken  im  Übergang  zwischen  entgegensetzten  Zeit- 
altem verständlich  gemacht.  Das  Prinzip  der  Selbsterkenntnis  und  der 
anthropologische  Charakter  dieser  Skepsis  sind  maßgebender  als  der 
„  Natural ismus**,  zumal  Richter  hier  Charron,  Stoa,  Spinosa,  ja  zum  Teil 
auch  Kant  und  Schiller  unter  diesen  großen  Hut  Jbringt  (S.  134,  140). 
Es  kommt  doch  nicht  nur  darauf  an,  daß  Cuarron  auf  die  Natur  hin- 
blickt, sondern  darauf,  was  er  aus  ihr  herausliest,  und  das  ist  gerade 


Der  Skeptizismus  in  der  Philosophie.  419 

schwankender  Wechsel  (vgl.  S.  132),  d.  h.  aber :  er  sieht  nicht  so  sehr 
die  Skepsis  naturalistisch  als  die  Natur  skeptisch. 

Nach  einer  euten  Charakteristik  von  Rationalismus  und  Em- 
pirismus und  der  rVerbraderun^"  des  Dogmatismus  mit  jenem,  des 
Skeptizismus  mit  oiesem  (die  nur  darin  begründet  scheint,  daß  die 
ersten  beiden  auf  die  begrifflich  faßbare  Gleichheit,  die  letzten  beiden 
auf  die  schwerer  faßbare  Mannigfaltigkeit  des  Erlebten  tendieren) 
folgt  eine  mehr  negative  Kritik  der  großen  Rationalisten  als  Kämpfer 

f)gen  die  Skepsis,  von  denen  Descarfes  und  Spinoza,  so  plausibel  der 
achweis  ihres  „Zirkels"   erscheint,   etwas  zu  hart,    Lkxbniz  wegen 
einiger  Annäherung  an  den  skeptischen  Positivismus  etwas  günstiger 
beurteilt  wird.    Wieder  wird  zu  rasch  (unbewußt  npragmatisch")  der  zu- 
zugebende Relationscharakter  der  Wahrheit  auf  den  Menschen  statt  auf 
ein  Subjekt  überhaupt  bezogen  und  eine  ^sonderbare  Antinomie  im  Be- 
griff einer    außermenschlicnen  Wahrheit''   behauptet.  —   Nach  dem 
„naiven  Dogmatiker"  Bacon,  der  der  Skepsis  „vöUie  fremd"  gegenüber- 
stand (doch  eine  Einwirkung  Montaignes  ist  unleugbar!)  wird  bei  Locke 
nähere  Klärung  der  skeptischen  Hauptprobleme  gefunden.  Es  folgt  hier 
eine  sehr  lesenswerte  Rettung  des  „epochemachenden'^  Theoretikers  der 
objektiven  Erfahrungserkenntnis  gegenüber  Kant;  seine  Originalität 
gegenüber  Hcme   und  Leibniz    wird  nicht   immer  schlagend  hervor- 
gezogen, sein  Zuviel  und  Zuwenig  an  Skepsis  fein  abgewogen,  dabei 
alleroings  einiges   Unbequeme  als  fremder  Einfluß  oder  Konzession 
zurückgedrängt  und    z.   d.    über   das   Ich    als   Substanz    bei    Locke 
mindestens    Mißverständliches   berichtet.     Tatsächlich    hat    sein    ge- 
mäßigter Realismus  rationalistische  und  mechanistische,  kurz  über- 
empirische Unterlagen  (s.  jetzt  Bäumkebs  Nachweis  über  die  Qualitäten- 
lehre).   Ohne  Lockes  unklares  Verhältnis  zur  Metaphysik  wäre  diese  be- 
redte Rettung  nicht  möglich  gewesen.  —  Mit  größerem  Recht  kommt 
nun  der  konsequentere  Srrkeley  zu  Ehren  als  erster,  der  den  totalen 
Skeptizismus  niederzwingen  lehrte  im  Nachweis  der  Möglichkeit  einer 
reinphänomenalistischenErkenntnis.  Vortreff  lieh  ist  hier^die  Ohari^te- 
ristik  seiner  Stellung  zur  Skepsis  und  die  Kritik  seiner  Ar^mente. 
Nur  S.  226  blieb  unbeachtet,  daß  nach  ihm  das  Reale  an  sich  ent- 
weder einen  Widerspruch  oder  Nichts  bedeute,  und  daß  Bebkblky 
den  Gedanken  an  den  eigenen  Tod  ebenso  retten  kann  wie  S.  222  die  Erd- 
bewegung.    Wichtig  ist  Richters  Erkenntnis,  daß  alle  positiven  er- 
kenntnistneoretischen  Standpunkte  metaphysisch  sind.    In  dem  Satze : 
„daß  wir  immer  nur  Bewußtseinserleonisse  —  Erfahren  — , 
hat  Berkelbv  in  endgültiger  Weise  dargetan" ,  möchte  ich  das  „wir" 
unterstreichen.    Wenn  wir  uns  primär  nehmen,  gilt  allerdings  der 
erkenntnistheoretische  Idealismus,   ja   der  Solipsismus.     Doch   eben, 
daß  jenes  notwendig  sei,  ist  seine  petitio  principii. 

An  2(X)  Seiten  sind  dann  verdienterweise  Hume  gewidmet,  zur 
Hälfte  der  Darstellung,  zur  Hälfte  der  Kritik  seiner  Skepsis.  Beide 
folgen  (nach  Vorausschickung  einer  ausgezeichneten  Charakter- 
schilderung) derselben  gut  gewählten  Disposition:  I.  Allgemeine 
Grundbegriffe;  II.  die  subjektive  Erkenntnis  (d.  h.  die  „denkend 
von  uns  erzeugten  Vorstellungen")  —  darin  am  wichtigsten  das  Re- 
sultat, daß  Hume  im  treatise  nur  die  arithmetischen,  in  der  enquirv 
auch  die  geometrischen  Erkenntnisse  apriorisch  nahm  und  dabei  nicht, 
wie  meist  angenommen  wird,  den  rem  analytischen  Charakter  der 
Mathematik  oehauptete;  HI.  die  objektive  Erkenntnis;  a)  die 
Gegenstände  der  empirischen  Objektivität  (negierender  D(^matismus 
in  der  Substanzfrage,  dämmernder  Positivismus),  b)  der  zusammen- 

27* 


420  KarlJoßl: 

hang"  der  empirischen  ObjektivitAt  (die  ^^oßartige  Vereinfachung*^ 
der  taktischen  Erkenntnisse  auf  das  Kausalprinzip,  das  hier  besonder» 
erörtert  wird,  hat  übrigens  schon  Leibniz  vorweggenommen),  c)  die 
Erkenntnis  der  Werte,  m  der  auch  ein  Wechsel  seiner  Anschauungen 
nachgewiesen  wird,  d)  die  metaphysische  Erkenntnis  (Agnostizismus, 
dabei  sein  Verhalten  zur  Religion  etwas  zu  „diplomatisch",  statt  nach 
Pterhons  Muster   bedeutet);  iV.  seine  Stellune  zur   Skepsis  (totaler, 
aber  gemäßigter  Skeptizismus).     Es  geht   nicmt  an,    den   Reichtum 
scharfsinniger  Erörterungen  Richters  im  einzelnen  zu  würdigen;  ich 
hebe  nnr   einiges  aus  der  Kritik  hervor.    Im  Streit  der  Kantianer 
und    Psychologisten    plädiert   Richter   für    ein    Nebeneinander   von 
Psychologie  und  Erkenntnistheorie  (die  er  mit  der  Logik  eins  setzt  ÜV 
bekennt  aber,  daß  Hume  die  (Frenzen  nicht  immer  gewahrt  (so  daß^ 
doch  wohl  Kas£  gegen  ihn  [S.  389]  als  Begründer  der  Erkenntnis- 
theorie zu  Ehren  kommt).    Gut  ist  namentlich  die  Kritik  seiner  etwas 
stärker  als  sonst  betonten  und  doch  noch  ungenügenden  anrioristischen 
Seite  (dabei  öfter  von  Richter  die  faktische,   assertoriscne  Gewißheit 
von   der  apodiktischen  nicht  scharf  gesondert),  auch  seiner  Kausal- 
erklärun^,  femer  seiner  zum  Teil  inkonsequenten  Unterschätzune:  der 
aktiven  Funktionen  und  seines  metaphysischen  Agnostizismus.    Doch 
setzt  Richter  selbst  noch  die  Metaphysik,  der  er  die  Tore  öffnet,  auf 
ein  Wissen  dritter  Ordnung  herab,  das  nur  diene,  die  Wirklichkeit 
verständlich  zu  machen,    fann  nicht  wie  das  theoretische  auch  das 
praktische  Denken  (es  gibt  mit  Verlaub    auch   normative   Wissen- 
schaften!) Ergänzungen  fordern?    Dann  würde  Kant  nicht  so  rasch 
von  Richter  neimgeschickt  werden.     Richter   gibt  keinen   positiven 
Ansatz  zur  Metaphysik ;  nur  formale  Kriterien  werden  lose  aufgezählt, 
das  ökonomische  der  Vereinfachung  angehängt,  obgleich  es  als  syste- 
matisches  ins  Wesen  der  Wissenschaft  des  Absoluten  greift.   Richters 
Stärke  ist  wie  die  seines  Helden  Hume  die  Analyse,  aber  er  urteilt 
vielleicht  zu  sehr  auch  nach  sich,  wenn  er  dessen  Lehre  ,,rein  theo- 
retische Wurzeln"  zuweist  im  Gegensatz  zur  Antike  (aucti  zur  aka* 
demischen  Skepsis?).    Vielmehr  hat  Hume  als  den  „großen  Überwinder 
des  Pyrrhonismus"   die  Praxis   verkündet  und  oft   genug  den  Sieg 
des  Lebens  über  das  Denken  gepriesen.    Ja,  wenn  Richter  über  seiner 
feinsinnigen  Analyse  ein  Gesamtbild  Humes  erfaßt  hätte,  so  würde 
sich  eben  dieser  antirationalistische  Lebenssinn  bei  jenem  Freunde 
R0U88EAU8  ge^igt  haben,  der  Staat,  Religion,  Moral  aus  praktischem 
Bedürfnis,  Gewohnheit,   Gefühl  usw.  erklärt,   der   auch   in   der  Er- 
kenntnis die  Impression  über  die  Idee,  den  Naturinstinkt  über  die 
Vernunft  erhebt,    und   all   die   bei  Richter  zerstreuten  Einzelzü^: 
biologischer   -Naturalismus^,    Passivismus,    Subjektivismus,    Irratio- 
nalismus würaen  sich  bei  allen  Skeptikern  wiederfinden  und  zu  einem 
Gesamtbild  der  Skepsis  zusammenschUeSen. 

Daß  „die  ganze  Aufklärung  mehr  oder  minder  von  Zweifeln 
durchsetzt"  war,  ist  schon  für  die  französische  Aufklärung  viel  be- 
behauptet; die  deutsche  strotzte  meist  von  Vertrauen  auf  die  mensch- 
liche Vernunft  (der  Vergleich  mit  dem  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  statt 
mit  dem  5.  ist  wohl  ein  Druckfehler),  und  so  kann  Richter  ala 
„Aufklärun^sskeptiker"  erst  an  der  Wende  des  Jahrhundert» 
die  Kantkntiker  Schulze  und  Platner  in  guter  kritischer  Cha- 
rakteristik vorführen.  —  Dann  folgt  eine  Knappe,  doch  reiche 
Skizze  über  den  Positivismus,  der  aber  in  seinem  JBegründer  Comtk 
gar  nicht,  im  reinsten  Empiriker  Mill  nur  dann  in  den  totalen 
Skeptizismus  gehört,  wenn  man  (assertorische)  Gewißheit  mit  Apo- 


Der  Skeptizismus  in  der  Philosophie.  421 

diktizität  gleichsetzt.  Der  richtige  Kern  und  wohl  auch  der  Grund 
der  Behandlung  des  Positivismus  hier  ist  sein  Verhältnis  zu  Huuk. 
£b  ist  eine  kritische  Orientierungsskizze  über  die  moderne  Streitfrage 
der  Apriorität  der  Mathematik,  über  die  Möglichkeiten,  das  Kausal- 
prinzip  durch  das  Okonomieprinzip  zu  ersetzen,  und  über  den 
Agnostizismus. 

Schon  durch  den  frühen  Einfluß  Fr.  Alu.  Langes  berührt  sich 
mit  dem  Positivismus  der  Autor  des  „Menschlichen,  Allzumensch- 
lichen". Mit  tiefem  Recht  hat  hier  Hichtkr,  durch  eine  Monographie 
als  Kenner  Nietzsches  gut  ausgewiesen,  dessen  Erkenntnistheorie  aus 
dem  Nachlaß  hervorgezogen,  die  über  der  Moralkritik  vergessen 
wurde;  mit  vollem  Recht  auch  hat  er  das  schon  früh  auftretende 
biologische  Moment  darin  betont  und  das  Verhältnis  von  Leben 
und  &kennen  als  Grundproblem  Nietzsches  herausgearbeitet,  es  auch 
im  V^echsel  seiner  Entwicklung  klar  aufgezeigt  (die  Wahnmetaphysik 
allerdings  wohl  ebenso  wagnerisch  wie  antiwagnerisch!),  alles 
in  scharfsinniger,  mehr  aufs  Positive  als  auf  Vvidersprüche  aus- 
gehender Analyse,  die  nur  bisweilen  die  Deutungsmöefichkeiten  so 
spaltet,  daß  Nietzsche  die  Antwort  versagen  muß.  Trenend  sind  die 
Ver^leichungen  mit  Pyrrhon,  Hume,  Mach,  ja  selbst  mit  Kant,  auch 
der^linweis  auf  die  schon  von  Otehbeck  gesehene  Verwandtschaft 
mit  Pascal  und  namentlich  richtungweisend  der  als  „Motto'^  heraus- 
gegriffene Satz:  „Wo  Skepsis  und  Sehnsucht  sich  begatten,  entsteht 
die  Mystik.^  Ich  sehe  in  Nietzsches  „Skepsis'^  allerdings  vielmehr 
einen  Pessimismus  der  Erkenntnis,  der  gerade  „L-rtum"  und  nicht 
Zweifel  proklamiert;  so  wäre  zu  zeigen  gewesen,  wie  ihm  Schopen- 
HAL^R  sozusagen  auf  die  Erkenntnis  überschlug,  wie  dabei  gerade 
durch  den  Pessimismus  der  Erkenntnis  das  Leben  für  den  Optimismus 
frei  wurde,  wie  nun  bei  Nietzsche  das  siegreiche  Leben  bald  noch 

fegen  die  Erkenntnis  streitet,  bald  sie  schon  anerkennend  in  seinen 
ieg  hineinzieht  —  diese  Erklärung  schwankender  Äußerungen  scheint 
mir  plausibler  als  die  S.  498  gegebene.  In  der  Kritik  fordert 
Richter  namentlich  „reinliche  Trennung  zwischen  den  Tatsachen  und 
Gültigkeitsfragen  der  Erkenntnis^;  er  zei^,  daß  Nietzsche  deren 
objektive  Kriterien  arg  vernachlässigt  und  sie  doch  durch  biologische 
Merkmale  nicht  zu  ersetzen  vermag,  und  daß  auch  die  biologische 
Ableitung  der  Erkenntnisprinzipien  ihre  logische  Gültigkeit  voraus- 
setzt. Der  behauptete  ^irkel^  dabei  fordert  wohl  noä  eine  prin- 
zipiellere Erörterung.  Und  überhaupt  ruft  dieses  Buch  nach  einer 
geschlossenen,  vom  historischen  Stoff  freien  Erkenntnistheorie.  Es 
ruft  den  dafür  begabten  Verfasser  dazu,  der  sich  ja  hier  schon  kräftig 
erkenntnistheoretisch  herausarbeitet,  aber  auch  jeden,  der  erkennt, 
daß  es  heute  eine  Generalrevision  unserer  Erkenntnistheorie  gilt,  und 
daß  jetzt  an  der  Wende  der  Zeiten  ein  immer  drohender  aufsteigender 
skeptischer  Geist  sich  wieder  regt,  in  dessen  Bekämpfung  dieses  Buch 
eine  wertvolle  Rolle  spielen  dürfte. 

BaseL  Karl  JofiL. 

Misch^  Georg,  Geschichte  der  Autobiographie.  I.  Bd. 
Das  Altertum.  B.  G.  Teubner,  Leipzig  und  Berlin,  1907. 
Vm  und  472  S.  8  M. 

Omne  individuum  est   ineffabile.     Begriffe  fassen   das  Überein- 
stimmende zusammen;    daher  ist  für  das   letzte  Geheimnis   des  In- 


422  Richard  Fritzsche: 

dividuums,  für  das  £inzig:arti^  seines  Ich,  kein  Wort  vorhanden» 
Die  Seele  entwickelt  sich  im  Austausche  mit  der  Umwelt,  Mitteilunf^ 
ist  ihr  ein  Lebensbedürfnis,  und  doch  ist  sie  im  letzten  Grunde  ein- 
sam, mit  Gott  allein.  Spricht  die  Seele,  so  spricht  ach  schon  die 
Seele  nicht  mehr.  Nicht  in  Autobioerraphien  ereießt  sich  das  Un- 
aussprechliche, sondern  in  Gebeten  und  Liedern  ohne  Worte.  Diesen 
zunächst  steht  das  dichterische  Kunstwerk,  denn  auch  dem  Dichter 
gab  ein  Gott,  zu  sagen,  was  er  leidet,  und  bis  zur  Höhe  eines  Kunst- 
werkes, von  Dichtung  und  Wahrheit,  kann  sich  die  Autobio^aphie 
erheben.  Daneben  tritt  er^eifend,  wie  uns  die  Naivität  ergreift,  zur 
Kunst  die  Natur,  das  schlichte  aufrichtige  Bekenntnis,  sei  es  im 
Sinne  Augustinischer  Konfessionen,  sei  es  als  wahrhaftige  Lebens- 
beschreibung in  der  Art  Götzens  ton  Berlichinokn.  Unserem  Zeitalter 
der  historischen  und  vergleichenden  Beligions-  imd  Kulturwissen- 
schaft und  der  empirischen  Psychologie  erscheint  jedes  Document 
humain  im  Lichte  eines  neuen  und  vertieften  Interesses.  Der  Ge- 
danke einer  „Bibliothek  der  Schriftsteller  über  sich  selbst*',  den  Herder 
begrüßte,  und  Goethes  Idee  einer  „Vergleichung  der  sogenannten  Kon- 
fessionen aller  Zeiten",  die  den  großen  Vorgang  der  Befreiung  der 
menschlichen  Persönlichkeit  erleuchten  sollte,  sind  noch  nicht  ver» 
wirklicht  worden.  Die  Preußische  Akademie  gab  eine  Anregung  in 
dieser  Richtung,  indem  sie  die  Aufgabe  einer  „Geschichte  der  SelDst- 
biographie"  stellte  (1900).  Von  dem  großen  und  inhaltreichen  Werke 
in  drei  Bänden,  das  die  Frucht  dieser  Anregung  war,  erschien  als 
erster  Band  der  vorliegende,  der  nicht  nur  auf  gründlichen  histo- 
rischen Studien  beruht,  sondern  auch  von  philosophischem  Geiste  er- 
füllt ist.  Der  Verfasser  stellt  sich  die  Aufgabe,  die  „Bedingungen 
und  Zusammenhänge,  die  in  der  Geistesgeschichte  wirken**,  auf  diesem 
Gebiete  des  Lebens  zu  erfassen,  und  „zu  historischen  Begriffen  für 
das  Verständnis  der  menschlichen  Individuation  vorzudringen*'.  „Diese 
Denkhaltung,  die  von  der  Kontinuität  der  deutschen  Geistesphilosophie 
getragen  wird,  ist  an  den  Namen  Wilhelm  Dilthkvs  eeknüpft.  Auf 
seinen  Arbeiten  zur  Grundlegung  der  GeisteswissenschfiSten  fußt  diese 
Geschichte,  die  ihm  in  Dankbaäeit  und  Verehrung  zugeeignet  ist.^ 
Der  vorliegende  Band  gibt  nach  einer  „Einleitung  und  Vorgeschichte*^ 
(S.  3—88)  die  Entwicklung  der  Autobiographie  I.  in  der  hellenischen 
und  attischen  (S.  40 — 96),  II.  in  der  heUen istischen  und  hellenistisch- 
römischen  Epoche  (S.  98—840)  und  III.  die  Blütezeit  der  Autobiographie 
im  Ausgang  des  Altertums  (S.  848 — 466);  den  Schluß  bilden  Sach- 
und  Namenregister  (6  S.)-  Die  Ichberichte,  die  den  Gegenstand  des 
Werkes  bilden,  schreiten  fort  von  Selbstgetanem  zu  Selbsterlebtem 
und  schließlich  zu  Darstellungen  des  eigenen  Lebens,  Ringens,  Irrens^ 
Suchens,  Findens,  zu  einer  Geschichte  und  einem  Porträt  der  eigenen 
Seele.  Ihre  Keihe  beginnt  mit  den  biographischen  Fixierungen  des 
Selbstgefühls,  den  Selbstverherrlichungen  ägyptischer  und  babylonisch- 
assyrischer  Könige.  Der  stolze  keilschriftliche  Tatenbericht  in  der 
Ichform  (seit  dem  Ende  des  zweiten  Jahrtausends),  die  „sozusagen 
animaliscne"  Verherrlichung  des  eigenen  Daseins,  deren  Charakter 
es  geradezu  widerspricht,  nach  der  Äußerung  persönlichen  Innen- 
lebens zu  suchen,  erscheint  zuerst  zur  Selbstaarstellun^  einer  Per- 
sönlichkeit vertieft  in  der  großen  dreisprachigen  Felsmschrift  dea 
Darius.  „Hier  lie^  die  große  Wendung  vor  Augen ,  in  der  daa 
Machtbewußtsein  sich  versittlicht:  das  Ethos  der  persischen  Keligion 
^bt  dem  Hoheitsgefühl,  das  auf  ^oße  Worte  gestimmt  ist,  auch  die 
innere  Festigkeit,  und  die  überlieferte  Form  kann   dem  Menschea 


Geschichte  der  Autobiographie.  423 

dienen,  sich  lapidar  und  doch  persönlich  darzustellen/  Diese  Form 
des  Tatenberichte  wurde  von  Nachfolgern  Alexanders,  den  Ptolemäem 
und  anderen  hellenistischen  Fttrsten,  aufgenommen  und  weiter* 
gebildet,  bis  er  in  der  „Königin  der  römischen  Insclu'iften'',  den  Res 
gestae  des  Augustus  (auf  dem  Marmor  Ancyranum),  seine  Vollendung 
fand.  Auf  Selbstgetanes  folgte  Selbsterlebtes ,  beides  natürlich  un- 
geschieden  und  zunächst  nocn  mit  naiver  Selbstverherrlichung,  wie 
in  den  Erzählungen  des  Odysseus,  so  in  denen  Xbnophoms.  „Erst 
unter  Bedin^ngen,  welche  eben  die  Auflösung  des  antiken  Greistes- 
lebttis  hisrbeiftthrten,  hat  sich  noch  bei  den  alten  Yölkem  die  Selbst- 
biographie zu  der  vollen  Selbständigkeit  erhoben,  wo  sie  .  .  .  das 
Ganze  eines  individuellen  Lebens  in  seinem  inneren  Verlaufe  dar- 
zustellen unternimmt.''  Wir  könnten  uns  eine  Geschichte  der  Selbst- 
biographie vorstellen,  die  auf  diese  Bedingungen,  ihren  Ursprung  und 
na<£ weisbaren  Einfluß  das  Hauptgewicht  legte.  Dann  würde  die 
Dariusinschxift  nicht  als  Vorstufe  und  das  Monumentum  Ancyranum 
(das  S.  158 — 171  vortrefflich  analysiert  wird)  nicht  als  ein  Hauptstück 
aus  der  (beschichte  dieser  Literaturgattung  erscheinen,  sondern  viel- 
mehr im  Gegensätze  dazu.  Denn  nicht  jede  Bechenschaft,  die  jemand 
von  sich  und  seinem  Werke,  wenn  auch  mit  ernstestem  Sinne,  selbst 
vor  dem  Angesichte  Gottes  gibt,  ist  Eeflexion  auf  sich  selbst  im 
Sinne  der  Selbstbesinnung,  durch  die  z.  B.  Mark  Aurbl  sich  von 
Adgustus  unterscheidet.  Pur  diese  engere  Begriffsfassung  würden 
OviD  und  HoBAs,  deren  verstreute  Erwäinungen  man  sich  aus  dem 
Namenregister  zusammenstellen  muß,  mehr  in  den  Vordersrund 
treten,  ids  Aitgustus,  dessen  (für  sein  Mausoleum  bestimmter)  Taten- 
bericht sich  prinzipiell,  unter  dem  hier  maßgebenden  Gesichtspunkte, 
nicht  unterscheidet  z.  B.  von  der  selbstverfaßten  stolzen  Grabschrift 
des  Plebejers  Nabvius  (Gell.  I  24,  2).  Das  vorliegende  Werk  be- 
schränkt sich  (S.  VII)  .wesentlich  auf  den  Verlauf  der  europäischen 
Selbstbesinnung  und  Individualisierung".  Es  wäre  unbillig,  dies 
tadeln  zu  wollen,  aber  eine  prinzipielle  Aufklärung  wäre  doch  am 
Platze  darüber,  daß  und  warum  sich  außerhalb  nicht  sowohl  der 
europäischen  als  der  christlichen  Literatur  so  wenige  Selbstbiographien 
finden.  „Es  ist  sonderbar,*'  sagt  der  amerikanische  Psjy^cholog  W.  J ambs, 
„daß  eine  literarische  Gattung,  die  bei  uns  so  reichlich  vorhanden  ist, 
sich  sonst  so  selten  findet,"  und  er  sieht  in  dem  Fehlen  rein  perbön- 
lieber  Bekenntnisse  eine  Hauptschwierigkeit  beim  Studium  des  inneren 
Lebens  fremder  Religionen.  Wie  das  Christentum,  so  hat  auch  der 
mohammedanische  Sufismus  verinnerlichend  gewirkt  und  jenes  Be- 
wußtsein der  Subjektivität  geschaffen,  durch  das  die  Selbstbiographie 
des  persischen  Philosophen  und  Theologen  Aloazbl  (Muhamea  al- 
Ghazäli,  1059—1111  n.  (jnr.,  Geiger  und  Kuhn,  Grundriß  der  iranischen 
Philologie  II.  1904.  S.  364,  365)  trotz  ihres  Alters  uns  so  modern  an- 
mutet (Mitteilungen  daraus  gibt  A.  Schmöldbrs,  Essai  sur  les  doctrines 
philosophiques  cnez  les  Arabes.  Paris  1842.  S.  54 — 68,  und  W.  James, 
Die  religiöse  Erfahrung,  Kap.  10,  S.  374  der  Übersetzung,  1907). 
Augenscheinlich  ist  es  ein  Unterschied  wie  der,  den  Schiller  statuiert 
zwischen  sentimentaler  und  naiver  Dichtung,  um  den  es  sich  hier 
handelt.  Dem  Aloazbl  wenigstens  hoffen  wir,  trotz  der  angegebenen 
Beschränkung,  in  der  Geschichte  der  Autobiographie  seit  dem  Aus- 

fange  des  Altertums  zu  begegnen  (die  indische  Literatur  hat  ienem 
'erser  nichts  an  die  Seite  zu  setzen).  Der  vorliegende  Band  schließt 
mit  einer  eindrucksvollen  Darstellung  der  Consolatio  philosophiae 
des  Boethius,  S.  463-466:    ;,In  einer  solchen  Lage  (von  einem  Bar- 


424  Hermann  Schneider: 

baren,  Theodericb,  ohne  Verhör  zum  Tode  verurteilt),  die  nicht  selten 
zum  Anlaß  von  Apologien  wurde,  warf  er  sich  nicht  auf  eine  politische 
Eechtferti^ungsscnrift  und  wandte  sich  auch  nicht  zu  den  Heilsgaben 
der  christlichen  Kirche,  der  er  angehörte.  Wie  die  römischen  Aristo- 
kraten der  alten  Zeit  sich  in  IJnglOck  und  Tod  bei  ihren  Philosophen 
Rats  erholten,  sich  an  deren  Keden  und  Trostschriften  erbauten, 
suchte  er  sich  durch  die  Kraft  der  Philosophie  über  sein  Schicksal 
zu  erheben  .  .  .  Die  Philosophie  erschien  ihm  in  Person.  Sie  sieht 
uralt  aus,  ihr  selbstgewobenes  Gewand  ist  verschossen,  verstaubt  und 
zerrissen,  aber  eine  unerschöpfliche  Jugendkraft  imd  strahlende  Augen 
leuchten  aus  ihrem  ehrfurchtgebietenden  Antlitz.  Sie  hatte  einst  in 
ihrer  Freiheit  den  Griechen  den  Weg  gewiesen,  den  Menschen  in  der 
Persönlichkeit  zu  entdecken;  sie  vermochte  auch  noch,  als  sie  Magd 

geworden  war,  den  Besten  ein  Bewußtsein  von  sich  selbst  zu  geben, 
^ie  Selbstbiographie  verdankt  ihr  so  viel  als  der  Religion,  die  den 
göttlichen  Kern  im  Menschen  als  *Leben'  fand.  Und  die  Consolatio 
philosophiae  steht  neben  Auoustins  Konfessionen  bei  Dante  unter  den 
Gründen  der  Vita  nuova." 

Schneeberg  (Sachsen).  Richard  Fritzsche. 


Erklärung*. 

An 
die  Schriftleitung  der  „Vierteljahrsschrift  für  wissen- 
schaftliche Philosophie  und  Soziologie." 

G-estatten  Sie  mir,  einen  Irrtum  zu  berichtigen,  den  ich  in  der 
letzten  Nummer  Ihrer  geschätzten  Zeitschrift  finde.  In  einem  Auf- 
satz über  „moderne  Geschichtsphilosophie",  der  halb  Sammelreferat  imd 
halb  Selbstanzeige  ist,  bespricht  Herr  F.  Oppenheimer  mein  Buch, 
„Kultur  und  Denken  der  alten  Ägypter",  als  das  Werk  eines  „selb- 
ständigen Schülers"  oder  „Adepten"  Lamprechts.  Ich  kann  auf  diese 
Bezeichnung  keinen  Anspruch  machen. 

Als  Naturwissenschaftler  und  ansehender  Philosoph  bin  ich  aus 
logischen  Erwägungen  vor  Jahren  schon  zunächst  zu  der  Einsicht  in 
die  Notwendigkeit  emer  genetischen  Psychologie  gekommen.  Nach  dem 
ich  erkannt ,  daß  diese  sich  nur  in '  parallelen  Untersuchungen  im 
Gebiet  der  Kinder-  und  Völkerpsychologie  schaffen  ließe,  ergab  sich 
mir  selbstverständlich  der  Anschluß  an  das  biogenetische  Grundgesetz. 
Lamprechf  und  BRErsia  waren  mir  damals  gleichmäßig  unbeKannt. 
Lamphechts  Name  und  ein  Teil  seiner  „Methode"  begegnete  mir  zuerst 
in  einem  Kolleg  Rickekts  in  Freiburg.  Als  Historiker,  der  Geschichte 
schreiben  wollte,  blieb  er  für  mich  vollkommen  seitab  von  meinem 
Wege ;  eine  geschichtsphilosophische  Durcharbeit  historischen  Stoffes 
sollte  für^mich,  etwa  m  Hegels  Spuren,  nur  die  erste  mühselige  Vor- 
arbeit auf  dem  Wege  zu  einer  Logik  und  Ethik  sein. 

Ein  Zufall  führte  mich  nach  Leipzig,  als  ich  Gelegenheit  zur 
Habilitation  für  Philosophie  suchte.  Dabei  bin  ich  wieder  rein  zu- 
fällig mit  Herrn  Geheimrat  Lamprecht  in  persönliche  Berührung  ge- 
kommen und  habe  nun  erst  im  Kolleg  und  in  gelegentlichen  Ge- 
sprächen  seine   Anschauungen    und    einige   Bände   seiner   deutschen 


Erklärung.  425 

€[eechichte  kennen  gelernt.  Zu  dieser  Zeit  war  ich  aber  mit  meinen 
eigenen  gesohichtspnilosoDhischen  Ansichten  bereits  so  weit  fertig, 
dafi  Ton  einem  Schülervernältnis  keine  Rede  sein  konnte. 

Die  gemeinsamen  Züee  in  Lauprechts  Geschichtsschreibung  und 
meiner  Geschichtsphilosopnie  sind  unabhängig  und  von  ganz  ver- 
schiedenen Gebieten  und  JQrwägungen  aus  gewonnen,  Kinder  gleicher 
Leitgedanken  desselben  Zeitalters.  Als  Phnosonh  dem  Fachhistoriker 
gegenüber,  wie  als  Psycholog,  bin  ich  methodisch,  wie  in  den  Er- 
geoniasen  der  Yerarbeituns  historischen  Materials,  von  Anfang  an 
eher  ein  Gegner  als  ein  Vertreter  namentlich  der  LAMPBECHxschen 
„Stufen^  gewesen. 

Herrn  Oppe^iheimer  hätte  das  vielleicht  klar  werden  kOnnen, 
wenn  er  unbefangen  an  mein  Buch  herangetreten  wäre,  statt  von 
einer  anfechtbaren  Konstruktion  zweier  „konkurrierender**  Schulen 
auszugehen,  die  er  beide,  gegen  seine  eigene  Geschichtsphilosophie 
gewogen,  in  aller  Bescheidenheit  zu  leicht  befinden  muß. 

Leipzig-Gohlis,  Juni  1908.  Hermann  Schneider. 


n. 

PUIosopUsche  und  soziologische  ZeitscIirifteiL 


Archlr  ffir  Philosophie,  I.  Abteilung  (Berlin,  Beimer). 
Bd.  21,  Heft  IT  (N.  F.  XIY,  2). 

Bloch,  R.,  Liber  secundos  yoonomieorum  Aristotilis. 

Kun  tr.e,  Fr^  Pasoals  letztes  Problem. 

B&umker,  ul^Zor  Vorgeechichte  sweier  Lockescher  Begn^ffe. 

Stillin  g,  J.^Über  das  rroblem  der  Freiheit  auf  Or  und  von  Kants  Kategorienlehre. 

Bickel,  E.,  Platonisches  Oebetsleben. 

Ja^esbericht. 

Zeitschrift  fOr   Philosophie   und   philosophische   Kritik  (Leipzig, 
£ckardt.) 

Bd.  181,  Heft  2. 

Braun.  O^,  Die  Entwicklung  des  GottesbegrilTes  bei  Sohelling. 

Kinkel,  W.,  Sohellings  KedTe:   Über  das  Verhältnis  der  bildenden  Künste  zur  Natur. 

Kor w an,  A.,  Sohelling  und  die  Philosophie  der  Gegenwart. 

Schwarz,  H.,  Ein  markantes  Buch  in  der  neuidealistischen  Bewegung. 

Falckenberg  und  Walter,  J.,    Nachtrag  zu  dem  Nekrolog  auf  L.  Busse. 

Bezensionen.  —  Notizen.  —  Neu  eingegangene  Schriften.  —  Aus  Zeitschriften. 

Bd.  182,  Heft  1. 

Eucken,  R.,  Alter  und  neuer  Idealismus. 

Frischeisen-KOhler,  M.,  Die  historische  Anarchie  der  philosophischen  Systeme 

und  das  Problem  der  Philosophie  als  Wissenschaft.   III.  Teil. 
Manne,  B.,  Zur  Verteidigung  der  Möglichkeit  des  freien  Willens.    Zweiter  Artikel. 
Buge,  A.,  Die  transzendentale  Freiheit  bei  Kant.    I.  Teil. 
Ferber.  J.,  Über  die  wissenschaftliche  Bedeutung  der  Ethik  Demokrlta. 
Haus,  A.  B.,  Materie  und  Energie. 
LosskiJ,  N.,  Der  erkenntnistheoretisohe  IndiTidualismus  in  der  neueren  Philosophie 

und  seine  Überwindung  in  der  neuesten  Philosophie. 
Übele,  Zum  hundertjährigen  Todestase  Ton  Job.  Nicol.  Tetens. 
Schwarz,  H.,  Die  Terschiedenen  Funktionen  des  Worts. 
Rezensionen.  —  Notizen.  —  Neu  eingegangene  Schriften.  —  Aus  Zeitschriften. 

Zeitschrift    fttr  Psychologie    und   Physiologie  der   Sinnesorgue* 

(Leipzig,  J.  Ambr.  Barth.)     (I.  Abt.:  Zeitschrift  fOr  Psychologie« 
Bd.  46,  Heft  4. 

Mflller-Freienfels,  Rieh.,  Zur  Theorie  der  OefahlstOne  der  Farbenempftndungen. 
Herbertz,  R.,  Die  angeblich  falsche  Wissenstheorie  der  Psychologie. 
Literaturberioht. 

Bd.  46,  Heft  5. 

Heymans,    O.,  u.   Wiersma,  £.,  Beiträge  zur  speziellen  Psychologie  auf  Orund 
einer  Massenuntersuchung. 


PhilpsophiBche  und  soadologische  Zeitschrifteii.  427 

Friaehelsen-KOhler.  M.,  Über  die  ptyohologi sehen  und  die  logischen  Grund« 

lagen  dea  BewegunffSDegrures. 
Xarbe,    K.    W.,   Wnnats   Stellting  zn   meiner  Theorie  der  ttroboskopisoben  Er- 

■cheinonsen  und  xar  systematischen  Selbstwahrnehmong. 
Uteratorberiohi. 

Bd.  46,  Heft  6. 

Basinger,  B.,  Gefllhlssnggestion  und  Phantasiegefflhl. 
Wirth.  w.,  Erwiderung  gegen  K.  Marbe. 
Literaturbericht. 

B4L  47,  Heft  1  und  3. 

Aall,   A.,   Zar  Frage  der  Hemmung  bei  der  Auffassung  gleicher  Reize. 
Mtlller,  A.,  Über  psychologische  Wechselwirkung  und  das  Energieprinzip. 
Literatarbexieht. 

Bd.  47,  Heft  8. 

Sidney,  A.,  Untersuchungen  Ober  Temperaturainn. 

Linke,  P.,  Meine  Theorie  der  stroboskopischen  T&uschungen  und  Karl  Marbe. 

Litermtarberiohl 

Bd.  47,  Heft  4. 

Bidney,  A.,  Untersuchungen  Aber  Temperatursinn  (Schlui). 

Jlttller,  A..  Zur  Frage  der  BeferenzflAchen. 

Xarbe,  K.,  Bemerkungen  zu  Herrn  Professor  W.  Wirths  „Ewiderung*. 

Literaturbericht. 

Bd.  47,  Heft  5  nnd  6. 

Xarbe,  K.,  Bemerkung  zu  dem  Aufsatz  des  Herrn  P«  Linke, 
literaturbericht. 

Bd.  48,  Heft  1  nnd  3. 

Xenzerath,  P.,   Die  Bedeutung  der  sprachlichen  GelAufigkeit  oder  der  formalen 

sprachlichen  Beziehunff  für  die  Proauktion. 
Dflrr,  £.,  Dritter  Kongrel  fQr  experimentelle  Psychologie. 
Litermturberieht. 

Bd.  48,  Heft  8  nnd  4. 

Wiegend.  C.  F.,  Untersuchungen  aber  die  Bedeutung  der  Oestaltqualitftt  fQr  die 

ErkennunR  yon  Wörtern. 
Hellpaeh,  w.,  Unbewußtes  oder  Wechselwirkung. 
Liebermann,  P.  Ton  und  B^tösz  Oöza,  Über  Orthosymphonie. 
Literaturbericht. 

Arehir  fttr  die  g^gamte  Psychologrie  (Leipzig,  Engelmann). 

XI.  Bd.,  Heft  8  nnd  4. 

Lueka,  E.,  Das  Problem  einer  Oharakterologie. 

OheorgoT,  I.  A.,  Ein  Beitrag  zur  grammatischen  Entwicklung  der  Kindersprache. 

Ernst,  Chr.,  Hielt  Desoartes  die  fiere  fflr  bewußtlos? 

Wandt,  W.,  Kritische  Nachlese  zur  Aiisfragemethode. 

Ylsie  Congris  intern,  de  Psychologie  Genöve  1<J09. 

Literaturbericht.  —  Einzelbesprechungen.  —  Referate. 

XII.  Bd.,  Heft  1-8. 

Bflhler.   K.,   Tatsachen  und   Probleme  zu   einer  Psychologie  der  Denkvorginge. 

—  II.  Über  GedankenzusammenhAnge.  —  III.  Oedankenerinneninffen. 
Btthler.K.,  Nachtrag.   Antwort  auf  die  yon  W.  Wundt  erhobenen  Binwilnde  gegen 

die  Methode  der  Selbstbeobachtung  an  experimentell  erzeugten  Erlebnissen. 
Segal,  I.,  Über  den  Beproduktionstypus  una  das  J^produzieren  von  Vorstellungen. 
Legowski.  L.  W.,  Beitrftge  zur  experimentellen  Ästhetik. 
Laub.  I.,  Über  das  Verhältnis  der  ebenmerklichen  zu  den  tlbermerkliohen  Unter- 

schieden  auf  dem  Oebiete  der  optischen  Raumwahrnehmung. 
Orflnbaum,  A.  A.,  Über  die  Abstraktion  der  Gleichheit. 
Programm  fQr  den  III.  Kongrei  fflr  experimentelle  Psychologie. 


428  Philosophische  und  soziologische  Zeitschriften. 

XU«  M.,  Heft  4. 

B«inhardt,  E.,  Der  Ausdmck  Ton  Lact  und  Unlust  in  der  Lyrik. 

Klemm,   O.«  Berieht  Aber  den  HL  Kongrei  der  Geeellschaft  fOr  experimentelle 

Psychologie  in  Frankfurt  a.  M.  Tom  22.  -25.  April  1900. 
Dritte«  PreUsossehreiben  der  JKAntgeeellsehaft"  (C.  Oattlers  Preisaufgabe). 
Literatorberieht. 

Phflosophisches  Jahrbuch  (Fulda,  Fuldaer  Aktiendruckerei). 
XXI.  Bd.,  Heft  3. 

Wunderle.  O..  Die  Lehre  des  Aristoteles  Ton  der  Zeit. 
Ziesche,  K.,  Die  Natnrlehre  Bonayenturas. 
Esch,  L..  Die  Sinnesorgane  der  Pflanzen. 

Bezensionen  und  Referate.  —   Zeitschriftenschau.   —  Novitftten.  —  Miszellen  und 
Nachrichten.  —  Philosophischer  Sprechsaal. 

XXI.  Bd.,  Heft  8. 

Baenmker,  Gl.,  Über  die  Lookesche  Lehre  von  den  primären  und   sekundftren 

Qualitäten. 
Budde,  F.,  LlAt  sich  die  scholastische  Lehre  von  Materie  und  Form  noch  in  der 

neueren  Naturwissenschaft  verwenden,  und  in  welchem  Sinne? 
Schneider,  A.,  Der  moderne  deutsche  Spiritualismus. 
Out  beriet,  C,  Zur  Psychologie  des  Kindes. 

Gevser,  J.,  Experimentelle  Untersuchung  des  syllogistischen  SchlieAens. 
Rolf  es,  E.,    Zur  neuesten  Übersetzung  der  Metaphysik  des  Aristoteles. 
Rezensionen  und  Referate.  —  Zeitschrifienschau.  -  Misiellen  und  Nachrichten. 

JOnd  (London,  Williams  and  Norgate). 
New  Serles,  Nr.  67. 

Walker,  L.  J.,  Martineau  and  the  Humanists. 

Russell,  L,  J.,  Space  and  Mathematical  Reasoning. 

Crespi,  A.,  The  Prineiple  of  Gausality  in  Italian  Scientific  Philosophy. 

Wodehouse,  H..  Judgement  and  Apprehension. 

Discuasions.  —  Oritlcal  Notices.  —  New  books.  —  Philosophical  Periodicals.  —  Notes. 

The  PhilOBOphical  BeTiew  (Macmillan  Comp.,  Lancaster  P.  A.). 

Toi.  xyn,  Nr.  1. 

James,  W.,  The  pragmatist  aocount  of  truth  and  its  misunderstanders. 

Overstreet.  H.  A.,  The  gpround  of  the  time-illusion. 

-Keary,  Matter  in  ancient  and  modern  philosophy. 

TTrban,  W.,  What  ist  the  function  of  a  general  theory  of  valuef     Discuasions  etc. 

Tel.  xyn,  Nr.  2. 

Oardiner,  H.  N.,  The  Problem  of  Truth. 
Smith,  N.,  Subjectivism  and  Realism  in  Modern  Philosophy. 
Barbour,  C.  F.,  Green  and  Sid^wiok  on  the  Community  of  the  Good. 
Proceeding  of  the  Seyenth  Meeting    of  the  American  Pnilosophical  Association.  — 
Reviews  of  Books.  —  Notices  of  New  Books.  ~  Summaries  of  Articles.  —  Notes. 

Tol.  XTII,  Nr.  8. 

Sharp,  F.  G.,  The  Objeotivity  of  the  Moral  Judgment. 
Galkins,  M.  W.,  Seif  and  Soul. 
Martin,  W.  T.,  The  Factual. 

lJ  B?y,%^fe.. }  PWlosophy  in  France  (1907). 

Review  of  Books.  —  Notices  of  New  Books.  —  Summaries  of  Articles.  —  Notes. 

Tol.  XTII,  Nr.  4. 

Hibben,  J.  G.,  The  Test  of  Pragmatism. 

Leighton,  J.  A.,  The  I^lnal  Ground  of  Knowledge. 

Ewald,  O.,  German  Philosophv  in  1907. 

Reviews  of  Books.  —  Notices  of  New  Books.  —  Summaries  of  Artides.  —  Notes. 


Philosophische  und  soziologische  Zeitschriften.  429 

The  Psjchologrlcal  Beyiew  (Baltimore,  Review  Publishing  Co.). 
Toi.  XT,  Nr.  2. 

Stevens,  H.  C,  Pecaliarities  of  Peripheral  Vision. 

Whipple,  G   M.,  Voeabalarv  and  Word-building  Test. 

Situs,  B.,  The  Doctrine  of  Primary  and  Seoondary  Sensory  Elements  (II). 

Thorndike,  £.  L.,  Memory  of  Paired  Associates. 

Tol.  XT,  Nr.  8. 

Carr,  H.,   Volnntary  Control  of  the  Difltanee  of  the  Visual  Field. 

Pillsbury,  W.  B.,  Bfeaning  and  Image. 

Colyin,  S.  S.,  The  Natnre  of  the  Mental  Image. 

Bolton,  T.  L.,  Meaning  as  Adjustment. 

Boodin,  J.  £.,  Truth  and  Meaning. 

Baldwin,  J.  M.,  Knowledge  and  Imagination. 

Discnssion. 

Tol.  XT,  Nr.  4. 

Meyer,  I.  M.,  The  Nervous  Correlate  of  Pleasantness  and  Unpleasantness. 

Bawden,  H.  H.,  Studies  in  Aesthetio  Value.    I.  The  Nature  of  Aesthetic  Value. 

Seilars,  B.  W.,  An  Important  Antinomy. 

Nagel,  O.,  On  Seeing  in  the  Dark:  Bemarks  on  the  Evolution  of  the  Eye. 

Discussion. 

The  Hibbert  Journal  (London,  Williams  and  Norgate). 
Tol.  TI,  Nr.  4. 

James.  W..  Plural ism  and  Keligion. 

66rard,  Benö-L.,  Civilisation  in  Danger. 

Nansen,  Fr.,  Science  and  the  Purpose  of  Life. 

Boss,  Johnston  6.  A.,  The  Beligionist  and  the  Soientist. 

Bussel.  E.,  „An  Appeal  to  Those  at  the  Top"  —  and  Something  More. 

Petrie,  The  ^ght  to  Oonstrain  men  for  their  own  Oood. 

Lloyd,  A.  H.,  Knlightened  Aotion  the  true  Basis  of  Morality. 

Dünn,  Stanley  Gerald,  The  romantio  element  in  the  EtMcs  of  Christ. 

Eueken,  B.,  The  Problem  of  Immortality. 

Jordan,  D.  St.,  The  Beligion  of  the  sensible  American. 

Campbell ,  A.  J.,  The  Churoh  of  Scotland  and  its  Formula. 

Williams,  W.  J.,  The  Bürden  of  langnage  in  Beligion. 

Diseusaions.  —  Beviews.  —  Bibliography  of  Becent  Llterature. 

The  Psychologrlcal  Bulletin  (Baltimore,  Review  Publishing  Co.). 
Tol.  T,  Nr.  6. 

Bocking,  W.  £.    Theory  of  Value  and  Consoience  in  their  Biologioal  Contezt. 
Literature.  —  Books  Beceived. 


Notes  and  News. 


Tol.  T,  Nr.  6. 


Watson,  J.  B.,  Imitation  in  Monkeys. 
pByeholog^cal  Literature.  —  Beports. 

Tol.  T,  Nr.  7. 

Franz,  S.  I.,  A  Physiologioal  Introduotion  to  the  Study  of  Philoiophy. 
Psychological  Literature.  —  Books  Beoeived.  —  Notes  and  News. 

The   Jonmal   of  Philosophy,  Psychology  and  Scientific  Methods» 

(New  York,  Scientific  Press.) 
Tol.  T,  Nr.  9. 

Boodin,  J.  E..  Consoiousness  and  Beality. 

Seilars,  B.  W.,  Consoiousness  and  Conservation. 

Boggs,  L.  P.,  The  Ouestion  in  the  Leaming  Prooess. 

Beview  and  Abstracto  of  Literature.  —  Journals  and  New  Books.  ~  Notes  and  News* 


430  Philosophische  und  sosiologische  Zeitschiiftem. 

Toi.  T,  Nr.  18. 

Win  oh,  W.  H.,  The  Function  of  ImAgos. 

Britftn,  H.  H.,  The  Power  of  Music. 

Aeview  and  Abatraots  of  Literfttare.  —  Journals  etc. 

Yol.  T,  Nr.  15. 

Boodin,  J.  E.,  Energy  and  Beality. 

Bailey,  Th.  P.,  Organio  Sensation  and  Organismic  Feeling. 

Booieties.  —  BoTiews  and  Abstraota  of  Literature  etc. 

Tol.  T,  Nr.  16. 

Kirlcpatrick,  E.  A.,  The  Part  Played  by  ConscionsnoM  in  Mental  Operation«. 
Moore,  A.  W..  Truth  Valne. 
BeTJew  etc. 

Tol.  T,  Nr.  17. 

SaWadori,  G.,  PosiUTism  in  Italy. 

Dodson,  G.  E.,  The  Function  of  PMlosophy  as  an  Aoademic  Disoipline. 

Discussion.  —  Beyiew  etc. 

Tol.  T,  Nr.  18. 

Mars  hall,  H.  B.,  Subattentiye  Oonciousness  and  Suggestion. 
Beviews  and  Abs'^aots  of  Literature,  etc. 

The  Sociologrical  Berlew  (London,  Sherratt  and  Hughes). 
Tol.  I,  Nr.  2. 

JoYons,  P.,  The  Definition  of  Magic. 

Macke nzie,  W.  L.,  The  Family  and  the  City. 

€arlyle,  A.  J.,  The  History  of  Freedom. 

Slanghter.  J.  W.,  Psychological  Factors  in  social  Transmission. 

Bobertson,  John  M.,  The  Tutelage  of  Baces. 

Disoussions.  —  Beviews  of  Books.  —  Periodical  Literature.  —  Noticea. 

Tol.  I,  Nr.  8. 

Tupper,  G.  L.,  Sociology  and  Comparatiye  Politios. 

Trott  er,  W.,  Herd  Instinct  and  its  Bearing  on  the  Psychology  of  Oiylliaed  Man. 

Igbal,  S.  M.,  Political  Thought  in  Islam. 

Hobhouse,  L.  T.,  The  Law  of  the  Three  Stages. 

Swinn^,  S.  H.,  A  Sociological  View  of  the  History  of  Ireland. 

Discussions.  —  Reviews  of  books.  —  Periodical  Literature.  —  Noticea. 

BoTue  PhUoBophlqne  (Paris,  Alcan). 
88.  ann^e,  Nr.  6. 

SoHier.  Dr.  P.,  et  Danyille,  G.,  Passion  du  Jeu  et  manie  du  Jeu. 
Lalo,  Chr.,  Les  sens  esthötiques  (£•  et  demier  artide). 
Xanpts,  Dr.,  Besponsabilitö  ou  röactiyitö? 
Sageret,  J.,  La  curiositö  scientiflque. 
Goblot,  L'aphasie  de  Brooa. 

Analyses  et  comptes  rendus.  —  Beyue  des  pöriodiques  ötrangers,  —  Liyrea  nou- 
veauz.  —  Table  matiöres. 


.  ann^9  Nr.  7. 

Weber,  L.,  La  finaliU  en  biolosie  et  aon  fondement  möoanique. 
Bageot,  G.,  Le  problöme  expörimental  du  temps. 
MausH,  M.,  L'art  et  le  mythe  d^aprös  Wundt. 

Du  gas.    Obseryations  sur  des  erreurs  „formelles"  de  la  mömoire. 
Analyses  et  comptes  rendus  etc. 

38.  ann^e,  Nr.  8. 

Fouillöe,  A.,  La  yolont^  de  consoience  oomme  base  philosophique  de  la  moralew 
Millioud,  La  formation  de  l'id^al. 


Pbilosophisohe  und  sosiologisclie  Zeitschriften.  431 

Biehet,  Gh.,  La  gnerre  »t  la  pauc  au  point  de  yne  philosophique. 
Probst-Biraben,  Mystiqno,  Scieno«  et  Magie. 
Analyaea  et  oomptes  rendus  eto. 

88.  aim^e,  Nr.  9. 

Sehins,  A.,  Anti-praKmatisme.  I.  Pragmatisme  et  Modernisme. 
Jankeleyitch,  I^.,  Du  r6le  des  idöes  dans  l'öYolution  des  sociötös. 
Couslnet,  B.,  La  solidaritö  enfantine:  Etüde  de  psvohologie  sociale. 
Ohaslin,  Dr.,  Sur  Li  «responsabilit^"  des  foas  et  oriminels. 
Analyaes  et  comptes  rendus  eto. 

Berme  de  PhQoBophle  (Paris,  Chevalier  et  Riviöre). 
8.  ftui^e,  Nr.  4. 

Oardair,  Fogazzaro  et  Rosmini. 
Billia,  L.  M.,  L*object  de  la  PsTohologie. 

Peillaube,  £.,  L'organisation  ae  la  memoire  —  III  L*övooation  des  souTenirs. 
Duhem,  P.,  Le  mouTement  abeoln  et  le  mouTement  relatij. 

üotre  Enquöte.  —  Analyses  et  oomptes  rendus.  —  Pöriodiques.  —  L*enseignement 
philosophique. 

8.  ann^e,  Nr.  6. 

La  Direotion,  Programme  d'ötndes  ponr  le  problöme  de  la  oonnaissanoe. 

Martin,  J.,  Un  poöte  philosophe. 

Marie,  A.  6t  Meunier,  R.,  Les  eourbes  respiratoires  dans  l'euphorie  des  paraly- 

tiques  gönörauz. 
Duhem,  F.,  Le  mouTement  absolu  et  le  mouyement  relatif. 
Dumesnil,  G.,  L'oenvre  oritique  de  H.  Pierre  Lasserre. 
Analyaes  et  oomptes  rendus.  —  Pöriodiques.  —  L*enseignement  philosophique. 

8.  aim^e,  Nr.  6. 

Ouehe,  P.  I.,  Le  proo^s  de  T Absolu. 
Aimel,  O.,  Individualisme  et  Philosophie  Bergsonienne. 
Turro,  B.,  Psychologie  de  rEquilibre  du  Oorps  humain. 
Duhem,  P.,  Le  mouTement  absolu  et  le  mouvement  relatif. 
B4ponae«.  —  Etüde  eritique.  —  Ajialyse  et  oomptes  rendus. 

8.  ann^,  Nr.  7. 

Oayraud,  A.,  Les  ▼ieilles  preuves  de  Tezistenoe  de  Dieu. 
€nche,  P.  L,  Le  prooös  de  1* Absolu. 
Valens  in,  A.,  La  th^orie  de  l'expörienoe  d'apröa  Kant. 
Turro,  B.,  Psychologie  de  l'^quilibre  du  oorps  humain  (ffn.) 
Analyses  ec  comptes  rendus.        Pöriodiques. 

8.  ann^e,  Nr.  8. 

Bouyssonie,  A.,  De  la  röduotion  k  Tunitö  des  prinoipes  de  la  raison. 
Oayraud,  A^  Les  Tieilles  prtuves  de  rezistenoe  de  Dieu  (fin). 
Duhem,  P.,  ]je  mouyement  absolu  et  le  mouyement  relatif. 

B^ponses.  —   Etüde  eritique.  —  Analyses  et  oomptes  rendus.  —  L*enseignement 
phUoBophi  que. 

Beviie  N^o-Scolastlqne  (Louvain,  Institut  supärieur  de  philosophie). 
15.  ann^,  Nr.  1. 

Un  Discours  du  Oardinal  Meroier. 
Sentronl,  0.,  La  yörit«  dans  Part. 
Lottin,  J.,  La  statlstique  morale  et  le  döterminisme. 
Balthasar,  N.,  Le  problöme  de  Dieu  d'aprös  la  Philosophie  nouyelle. 
M^langes  et  Doouments.  —  Bulletin  de  l'Institut  de  Philosophie.  —  Comptes  rendus. 
—  Chronique  philosophique  (L.  N.).  —  Ouyrages  enyoyös  k  la  Bödaction. 

15.  ann^e,  Nr.  2. 

Clodius  Piat.,  De  Tintuition  en  Th«odioöe. 
Sentroul,  0.,  La  vörit«  dans  l'art  (suite  «t  ftn). 
Vj»t  D.,  A  propos  du  oompos4  chimique. 


432  Philosophische  and  soziologische  Zeitschriften. 

Gemelli,  A.,  Le  fondement  biolo^qne  de  la  psyehologie. 

Notes  critiqnea.  —  Bulletins  bibliogjaphiques.  —  Bulletin  de  Tlnstitut   de  Philo« 

Sophie.   —   Gomptes   rendus.   —   Chronique  philosophique  (L.  K.).   —  OuTrages 

enYoyös  k  la  Ködaotion. 

BiTista  Filosoflca  (Pavia,  Bizzoni). 
Anno  X,  Toi.  XI,  Fase.  I. 

Fornelli,  N.,  II  naovo  indiyidualismo  religiöse. 
Faggi,  A.,  La  cosoienza  negli  animali. 

Levi,  A.,  La  psicologia  della  esperienza  indifferensiata  dl  Jamee  Ward. 
Suali,  L^,  Un  trattato  element.  di  fUosofia  Indiana. 
Morselli,  £.,  Yita  morale  e  vita  sociale. 
Mondolfo.  JEL,  La  dottrina  della  propriet4  nel  Montesquieu. 

Articoli  di  tUyiste  Straniere.  —  Notizie  e  Publicazioni  Per  Rob.  Ardigö.  —  Sommari 
delle  Riviste  Straniere.  —  Libri  Ricconti. 

Anno  X9  Toi.  XI,  Fase.  II. 

Yarisoo,  B.,  La  Creazione. 

Fornelli,  N.,  II  nuovo  individualismo  religioso. 

Levi,  A.,  La  psicologia  della  esperienza  inoifferenziata  di  James  Ward. 

Tilgher,  A^  Bramanesimo,  Buddismo  e  Oristianesimo. 

Nico  11,  P.  F..  Psicologia  e  Lin^uistioa. 

Rassegna  Bibllograflca.  —  Notizie  etc. 

Anno  X,  Toi.  XI,  Fase.  III. 

Tedesohi,  S«,  Un  equivalente  aprioristico  della  metafisioa. 
Levi,  A.,  La  psiohologia  della  eaperenza  indilTerenziata  di  James  Ward. 
Tilgher.  A.,  Bramanesimo,  Buddismo  e  Oristianesimo. 
Faff^i ,  A.,  Blduardo  Zeller  e  la  sua  concezione  storioa. 
Biliia,  L.  M.,  Le  idee  morali  nelle  dottrine  di  un  psioologo  soandinavo. 
N  i  c  o  1  i ,  P.  F.,  II  metodo  delle  matematiohe  e  l'insegnamento  elementare  della  logiea . 
Miranda,  L..  Mach  o  Hegel? 

Rassegna  Bibliografica.   —  Bollettino  Bibliografico.  —  Notizie    e   Pnblicasioiii.    — > 
Sommari  delle  Riviste  Straniere. 

Rassegna  Contemporanea  (Eoma). 
Anno  I,  Fase.  2. 

V.enturi,  A.,    Classioismo  nella  Soultura  italiana  primitiva. 

Bertracchi,  6.,  Pallide  Mani  .  .  .  (versi). 

Pirandello,  L.,  Guardaroba  del  Eloquenza. 

Frenzi,  G.  de,  II  Lucignolo  dell  Ideale. 

Baldani,  R.,  La  Mostra  dell'  Ornamento  feminile. 

Carafa,  Duoa  d'A.,  II  Tradimento  di  Leybaoh. 

Bissolati,  La  Istruzione  religiosa  nella  scuola  elementare. 

Soderini,  £.,  L'insegnamento  religioso  nelle  scuole  primarie. 

Sonnino,  O.,  La  Sctnavitu  nel  Benadir. 

D  avanzati,  R.  F.,  II  Vecohio  e  il  Nuovo  nel  Partito  Socialista  Italiano. 

Zuccoli,  L.,  Note  et  Vita. 

Letterature.  —  Cronaca.  —  Notiziario.  —  Bibliografla. 

Anno  I,  Fase.  8. 

Lopez,  P.  8.,  La  Rifonna  universitaria. 

Chiesa,  F.,  II  Fiume. 

Sfinge,  I.,  Cinoue  Fratelli. 

Beohi.  G.,  Dal  Tramonto  della  Gasta  all* Alba  della  Nazione  armata. 

Frenzi,  G.  de.  II  Luoienolo  delPIdeale. 

Gaggese.R.,  Etnografla,  storia  e  Politioa. 

Carafa,  A.,  d'.  II  Tradimento  di  Leybaoh. 

Argoleo,  G..  Organizziamo  Lo  stato. 

Sonnino,  G..  L'alta  Corte. 

Chimientt,  r.,  L'IndennitA  Parlamentare. 

Zerboglio,  A.,  Per  la  Riforma  della  legge  suUa  Diffamadone. 

Zuccoli,  L.,  Note  di  Yita. 

Cronache  eto. 


Philosophische  und  soziologische  Zeitschriften.  433 

Anno  I9  Fa8C.  5. 

Pitre,  6.,  La  Caltura  olMsica  negli  »ntioKi  medici  siciliani. 

Giusti,  P.  E.,  Yersi. 

Contri,  C.  6.,  La  Razza. 

Oropallo,  L.,  La  ^Madre**  di  Masgimo  Oorki. 

Frenzi,  Q.  de.  H  Lnoignolo  dell' ideale. 

Valli,  L.,  Apologhi. 

Beneaetti,  A.,  Federioo  Zuocari. 

Civia  Romanns,  II  Blooco  di  Koma. 

Sereia.  G.,  n  ModernJsmo  religioso  contemporaneo. 

Stook  Broker,  La  Orisi. 

Zaeooli,  L.,  Note  di  vita. 

Cronaohe. 

Kftnt-Stiidieii  (Berlin,  Beuter  &  Beichard). 
Bd.  S,  Heft  3. 

Ewald,  O..  Die  dentaehe  Philosophie  im  Jahre  1907. 

Stadler,  A.,  Die  Frage  als  Prinzip  des  Erkennens  und  die  «Einleitung"  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft. 

Schubert-Holdem,  R.  ▼..Die  Grundfragen  der  Ästhetik  unter  kritischer  Zu- 
grundelegung von  Kants  Kritik  der  Urteilskraft. 

Messer,  A.,  H.  Gomperz*  Weltanschauungslehre. 

Menzer,  P.,  Die  neuaufgefundenen  Kj^ntbriefe. 

Eomnndt  H.,  Vorschlag  zu  einer  Änderung  des  Textes  von  Kants  Kritik  der 
praktischen  Vernunft. 

Rezensionen.  —  Selbstanzeigen. 

Bl&tter  fftr  die  gesamten  Sozlalwlssenschaften  (Dresden,  Böhmert) 
(Neue  Folge  der  kritischen  Blätter  für  die  gesamten  Sozialwissen- 
schaften; hrsg.  von  Beck,  Berlin.) 
Heft  1. 

Beck,  H.,  Der  internationale  Stand  der  juristischen  Bibliographie  I. 
Harms,  Berichtigung. 
Chronik.  —  Neue  Zeitschriften. 

Heft  2. 

Beck.  H.,  Der  internationale  Stand  der  juristischen  Bibliographie  II. 
Chronik.  —  Zeitschriften. 

Heft  4. 

Beck.  H.,  Der  internationale  Stand  der  jurististischen  Bibliographie  III. 
Chronik.  —  Neue  Zeitschriften. 

Hefts. 

Beck.  H.,  Zur  Geschichte  des  Zeltungs-  und  Zeitschriften wesens. 
Chronik.  —  Neue  Zeitschriften. 

Heft  6. 

Beck,  H.,  Der  internationale  Stand  der  juristischen  Bibliographie. 
Chronik.  —  Neue  Zeitschriften. 

Heft  7. 

Hanauer,  J.,  Eine  internationale  bibliographische  Konferenz. 
Chronik.  —  Neue  Zeitschriften. 

Heft  8. 

Warnotte,    D.,     Die     yierte    internationale    Konferenz    fQr    Bibliographie    und 

Dokumentation. 
Chronik.  —  Neue  Zeitschriften, 

Notiz.    Bibliographie  folgt  im  nächsten  Hefte. 


Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaf tl.  Philos.  u.  Soziol.  XXXII.  8.         28 


Altenbu^ 

Pierarsohe  Hof  buohdruoker«] 

Stephan  Oeibel  &  Co. 


f99*¥m99***9***9*9'9¥*^9*999¥9*99***9*9*99¥* 


Die  Bedeatung  des  istbetischen  fttr  die  EtlülL 

Von  Dr.  Rieh.  MUller-Freienfels,  Berlin-Halensee. 

Inhalt. 

1.  Die  landlAufiffen  Anschauungen  Über  dat  Verhilitnia  von  Ästhetischem  und 
Ethischem.  2.  Inhaltliche  und  formale  A^'irkungen.  9.  Die  formalen  Faktoren 
(Rhythmus,  Harmonie  usw.)  in  der  Musik.  Die  auflockernde  Wirkung.  4.  Die 
mhaltlichen  W^irkungen  der  Musik.  5  Formale  Wirkungen  der  Dichtkunst,  ti.  Inhalt- 
liche Wirkungen  der  Dichtkunst.  Die  auswihlenae  Wirkung  (Naturalismus 
und  Idealismus).  7.  Architektur,  Malerei  und  Bildnerei  und  ihre  Bedeutung  ftlr  die 
Ethik  (die  Darstellung  des  Nackten).    8.  Die  befreiende  Wirkung  der  Kunst. 

i. 

Die  Frage,  ob  das  Ästhetische  für  <äie  Ethik  Bedeutung 
habe,  ist  sehr  verschiedenartig  beantwortet  worden. 

Wir  haben  die  Meinung  vernommen,  Ästhetik  und  Ethik 
berührten  sich  gar  nicht,  sie  seien  so  verschiedene  Dinge 
wie  Töne  und  Farben,  die  sich  niemals  vereinigen  oder 
kreuzen  könnten  der  wahre,  ästhetische  Genuß  sei  ethisch 
vollkommen  indifferent.  Die  Kunst  sei  weder  moralisch 
noch  unmoralisch,  sie  sei  amoralisch.  Wir  haben  be- 
sonders in  jüngster  Zeit  diese  Ansicht  oft,  besonders  von 
ästhetischen  Snobs,  verkünden  hören. 

Eine  andere  Meinung  ist  die,  daß  die  Kunst  der  Ethik 
in  den  meisten  Fällen  entgegenarbeite,  daß  vom  ethischen 
Standpunkt  fast  alles  Ästhetische  zu  verdammen  sei.  Zu 
allen  Zeiten  haben  Asketen  und  Fanatiker  verschiedenster 
Sinnesrichtung  diesen  Standpunkt  vertreten,  und  erst  in 
unseren  Tagen  wieder  tönte  die  Stinune  eines  ehemals  sehr 
großen  Künstlers  durch  Europa,  der  diese  Ansicht  ver- 
kündete *). 

Die  dritte  Anschauung,  und  sie  dürfte  wohl  die  ver- 
breitetste    sein,    sieht  in   der  Kunst  im  wesentlichen  eine 

')  li.  N.  Tolstoi,  Was  ist  Kunst?    Jena  1899. 

Vierteljahrsschrift  f.  wissensohaftl.Philos.u.Souol.  XXXII.  4.  28 


4-i(>  Rieh;  Mtiller-Freienf  eis: 

Helferin  und  Förderin  der  Ethik.  Ja  die  extremsten  Ver- 
treter dieser  Richtung  haben  das  wahre  Schöne  und  das 
wahre  Gute  als  eins  gepriesen. 

Von  diesen  drei  Ansichten  läßt  sich  die  erste,  daß  das 
Ästhetische  die  Ethik  nichts  anginge,  leicht  als  falsch  zurück- 
weisen ,  da  sie  auf  einer  vollkommenen  Verkennung  ein- 
fachster psychologischer  Tatsachen  beruht.  Niemals  nämlich 
läßt  sich  ein  Teil  der  Seele  absondern  von  den  anderen, 
sondern  stets  wird  die  ganze  Seele  in  Mitleidenschaft  ge- 
zogen. Wohl  lassen  sich  für  unser  Bewußtsein  moralische 
-Urteile  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zurückdrängen,  aber 
wenn  die  ästhetischen  Erregungen  überhaupt  die  Seele  be- 
einflussen, so  wird  sich  dieser  Einfluß  auch  irgendwie  atif 
das  ethische  Gebiet,  das  des  Handelns  hinüber  erstrecken. 
Im  Grunde  handelt  es  sich  bei  der  Behauptimg  der 
Amoralität  der  Kunst  mehr  um  ein  Postulat  als  um  eine 
Theorie.  Es  ist  erwachsen  aus  dem  Bestreben,  die  moralischen 
Urteile  von  den  ästhetischen  Urteilen  zu  sondern,  was 
natürlich  ein  begründetes  Bestreben  ist,  aber  es  ist  natürlich 
eine  Torheit  zu  glauben,  daß  auch  eine  ethische  Wirkung 
unterbunden  sei,  wenn  man  das  ethische  Urteil  zurück- 
gedrängt habe.  Der  Begriff  der  Amoralität  ist  überhaupt 
ein  psychologisches  Unding.  Irgendeiner  Moral  folgt  jeder, 
wenn  er  sich  auch  dessen  nicht  klar  ist,  und  wenn  auch 
nicht  gerade  die  landläufige  zu  sein  braucht. 

Die  beiden  anderen,  oben  skizzierten  Anschauungen, 
von  denen  die  eine  die  Kunst  für  im  wesentlichen  un- 
moralisch, die  andere  für  moralisch  höchst  bedeutsam  er- 
klärte, stimmen  dagegen  in  einem  wesentlichen  Punkte 
überein,  nämlich  dem,  daß  das  Ästhetische  von  Einfluß  auf 
unser  Handeln  und  damit  auf  unser  moralisches  Ich  sei. 
Die  starke  Divergenz  kommt  nur  dadurch  heraus,  daß  es 
ganz  verschiedene  moralische  Ideale  sind,  die  ihnen  vor- 
schweben. 

Ich  betrachte  die  Frage  hier  im  wesentlichen  vom 
Standpunkte  des  Psychologen.  Nur  das  eine  interessiert 
mich:    wie    und    wieweit    kann    das    Ästhetische 


Die  Bedeutung  des  Ästhetischen  für  die  Ethik.  437 

unser  Handeln  beeinflussen.  Dabei  werde  ich  nicht 
den  Staudpunkt  der  verschiedenen  ethischen  Systeine 
diskutieren ,  sondern  nur  auf  jene  prinzipielle  Frage  mein 
Augenmerk  richten.  Denn  alles,  was  unser  Handeln  be- 
einflussen kann,  besonders  aber,  wenn  es  in  der  Welt  einen 
so  gewaltig  breiten  Baum  einninunt,  wie  es  die  ästhetischen 
Phänomene  tun,  darf  vom  Ethiker  nicht  unbeachtet  bleiben. 
Da  nun  aber  die  Kunst  eine  der  intensivsten  Bildnerinnen 
unseres  Gefühlslebens  ist  und  unsere  Handlungen  meist  aus 
Gef&hlen  entspringen,  so  ist  es  von  größter  Wichtigkeit  fiir 
den  Ethiker,  die  psychologischen  Wirkungen  der  Kunst  in 
unserer  Seele  zu  kennen,  soweit  sie  auf  das  Gebiet  des 
Handelns  hinübergreifen. 

Die  Hauptarten  der  Wirkung  nun,  die  die  Kunst  auf 
unser  Gefühlsleben  auszuüben  vermag,  des  genaueren  zu 
studieren,  ist  das  Ziel  dieser  Untersuchung. 

n. 

Man  pflegt  nun  gewöhnlich  die  von  einem  Kunstwerk 
ausgehenden  Wirkungen  einzuteilen  einmal  in  solche,  die 
an  das  „Wie"  geknüpft  sind,  anderseits  in  solche,  die  von 
dem  „Was"  ausgehen;  mit  anderen  Worten  man  unter- 
scheidet formale  und  inhaltliche  Wirkungen. 

Von  diesen  beiden  Arten  wird  in  der  Regel,  und  nicht 
nur  von  den  extremsten  Herolden  des  „art  pour  Tart",  bloß 
die  erste  als  legal  angesehen.  Die  inhaltlichen  Wirkungen 
werden  nach  Möglichkeit  auszuscheiden  gesucht,  sie  gelten 
als  unkünstlerisch.  Betrachtet  man  jedoch  die  von  der 
Kunst  ausgehenden  Wirkungen  vom  Standpunkt  des  Psycho- 
logen oder  Ethikers,  so  fallen  doch  auch  die  inhaltlichen 
Wirkungen  recht  schwer  ins  Gewicht,  zumal  die  Trennung 
zwischen  Form  und  Inhalt  nirgends  ganz  scharf  zu  ziehen 
ist.  Wir  sind  eben  lebendige  Menschen,  und  wenn  wir 
nicht  durch  jahrelange,  einseitig  ästhetische  Dressur  zu  von 
allem  Menschlichen  fremden  Ästheten  geworden  sind,  so 
wird  uns  das  Porträt  eines  bedeutenden,  schönen  Kopfes 
auf  die  Dauer  doch  mehr  zusagen  als  ein  ästhetisch  gleich- 

28* 


438  Rieh.  Maller-Freienfels: 

wertiges  Bildnis  eines  Trottels.  Es  ist  hier  nicht  darüber 
zu  streiten,  ob  der  Nur- Ästhet,  der  im  letzten  Grunde  doch 
eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  einem  Kastraten  hat,  von 
irgendeinem  Gesichtspunkt  aus  ein  Ideal  bedeutet,  vom 
ethischen  Standpunkt  aus  jedenfalls  ist  er  es  nicht.  Für 
den  Ethiker  aber  kommen  nicht  Postulate,  sondern  die 
tatsächlichen  psychologischen  Erfahrungen  in  Betracht. 
Diese  aber  gehen  dahin,  daß  bei  weitem  die  Mehrzahl  der 
kunstaufnehmenden  Menschen  von  formalen  und  inhaltlichen 
Werten  zugleich  ergriffen  wird.  Ich  widerspreche  dabei 
der  Ansicht,  die  zuweilen  auftaucht,  die  große  Masse  ge- 
nieße nur  inhaltlich.  Das  ist  falsch,  sie  kann  sich  über 
die  formalen  Wirkungen  nur  nicht  Rechenschaft  geben,  ist 
sich  ihrer  nicht  bewußt.  Tatsächlich  aber  wirken  die 
formalen  Elemente,  ob  als  Rhythmus  oder  Farbe  oder  ähn- 
liches auch  auf  den  Unkritischen.  Die  Trennung  ist  ja 
überhaupt  eine  willkürliche,  der  Asthetenstandpunkt ,  der 
die  inhaltlichen  Werte  ausscheiden  will,  ein  künstlicher, 
widernatürlicher.  Ich  werde  also  für  meine  Untersuchungen 
den  formalen  und  inhaltlichen  Wirkungen  Rechenschaft 
tragen. 

Ich  nehme  dabei  die  Begriffe  „formal"  und  „inhalt- 
lich" nicht  im  Sinne  einer  haarscharf  definierenden  speziellen 
ästhetischen  Theorie,  sondern  in  dem  weiten  Sinne,  wie  es 
der  gewöhnliche  Sprachgebrauch  tut,  wobei  ich  die  lose, 
verschwimmende  Umgrenzung  der  Begriffe  eher  als  Vorzug 
denn  als  Nachteil  anzusehen  geneigt  bin.  Denn  in  der 
Psychologie  noch  weniger  als  in  der  übrigen  Natur  lassen 
sich  solche  haarscharfen  sauberen  Trennungen  vornehmen. 
Fataler  scheint  mir  ein  anderer  Umstand  zu  sein  bei  diesen 
Begriffen,  daß  nämlich  hierbei  die  Assoziation  an  ein  Gefäß 
und  einen  heterogenen  hineingegossenen  Inhalt  sich  regen 
könnte,  obwohl  von  einer  solchen  Trennung  natürlich  keine 
Rede  sein  kann.  Tatsächlich  besteht  kein  Unterschied 
zwischen  Inhalt  und  Form,  das  Kunstwerk  ist  ein  Organismus, 
das  so  wenig  wie  sonst  die  Natur  Kern  oder  Schale  hat, 
und  jene  Sonderung  ist  nur  eine  von  außen  herangetragene 


Die  Bedeutung  des  Ästhetischen  für  die  Ethik.  439 

praktisclie  Einteilung.  Die  sonst  seit  Fechnkr  weit  ver- 
breitete Sonderung,  die  in  vieler  Beziehung  so  wertvoll  ist, 
in  direkte  und  indirekte  Faktoren  scheint  niu*  für  meinen 
Zweck  nicht  sehr  brauchbar,  da  ich  gezwungen  sein  werde, 
Als  „formale"  Faktoren  auch  solche  gelten  zu  lassen,  die 
Fechner  vielleicht  eher  als  indirekt  assoziiert  bezeichnen 
möchte,  zumal,  wie  Groos*)  bereits  hervorgehoben  hat,  der 
B^riff  des  assoziativen  Faktors  sehr  verschiedenartige 
Elemiente  xmifaßt.  In  der  Poesie  zum  Beispiel  können  auch 
assoziative  Elemente,  Bilder,  Vorstellungen  usw.  formal, 
bloß  durch  Anordnung  und  Komposition  uns  ergreifen,  so 
daß  man  „assoziativ"  durchaus  nicht  ohne  weiteres  mit 
g inhaltlich"  identifizieren  darf,  wozu  manche  Theoretiker^) 
geneigt  sind. 

Außer  diesen  Einzelwirkungen  aber  kommt  noch  ge- 
sondert in  Betracht,  ob  die  Kunst  in  ihrer  Gesamtheit, 
ohne  daß  wir  dabei  die  Einzelheiten  analysieren,  ethisch 
wirkt  oder  nicht,  ob  die  Kunst  überhaupt  als  ein  ethischer 
Wertfaktor  anzusehen  ist,  oder  als  das  Gegenteil.  —  Das 
wird  in  einem  letzten  Abschnitt,  nachdem  die  Einzelkünste 
in  ihren  Einzelwirkungen  behandelt  sind,  zusammenfassend 
zu  betrachten  sein.  — 

m. 

Die  Musik  ist  von  allen  Künsten  diejenige,  bei  der 
die  formcJen  Wirkungen  am  stärksten,  die  inhaltlichen  am 
geringsten  sind,  beziehungsweise  bei  der  reinen  Instrumental- 
musik fast  ganz  verschwinden.  Denn  wenn  man  zuweilen 
hier  von  Inhalt,  Gehalt  usw.  spricht,  so  ist  das  nur  eine 
Redeweise,  um  in  übertragenem  Sinne  den  Wert  jener 
formalen  Wirkungen  zu  kennzeichnen.  Eben  ob  dieser  rein 
formalen  Wirkung  ist  die  Musik  das  Ideal  aller  Anhänger 
des  „Tart  pour  l'art" ,  und  ihr  Bestreben  geht  darauf  hin, 
die  anderen  Künste  der  Musik  möglichst  ähnlich  zu  machen, 


»)  Gboos,  Der  ästhetische  Genuß,  S.  88 ff.  ..Gießen  1907. 
*)  KOlpe,  Der  assoziative  Faktor  in  der  Ästhetik.    Vierteljahrs- 
schrift für  wissenschaftliche  Philosophie.     1899.    S.  149. 


440  Rieh.  Mttller-Freienfels: 

in  der  Malerei  durch  Farben  Harmonien  erzielte  „Musik 
fürs  Auge" ,  in  der  Poesie  „de  la  musique  avant  tont 
chose"  ^)  zu  fordern.  Ob  man  dabei  nicht  daws  "Wesen  dieser 
Künste  verkennt,  soll  hier  nicht  erörtert  werden. 

Die  formalen  Wirkungen  der  Musik  sondern  sich  leicht 
in  rhythmische  und  harmonisch-melodische.  Von 
diesen  beiden  Arten  ist  die  erste  die  primäre.  Alle  primi- 
tive Musik  ist  in  erster  Linie  rhythmisch,  wie  das  am 
stärksten  von  Wallasohek*)  nachgewiesen  ist.  Eine  feste 
Melodie,  die  Verwendung  fester  Tonstufen,  speziell  der 
diatonischen  Skalen,  ist  durchaus  nicht  überall  zu  finden 
und  ist  erst  ein  sich  allmählich  entwickelndes  Kunstprodukt, 
während  der  Rhythmus  mit  elementarer  Gewalt  ergreift. 

Dabei  ist  zu  betonen,  daß  der  Rhythmus  durchaus  nicht 
in  erster  Linie  ein  akustisches  Phänomen  zu  sein  braucht. 
Im  Tanze   (und   bei  primitiven  Völkern  kommt  Musik  fast 
nur   in  Verbindung   mit   Tanz   vor)   ist   er   vielmehr  ganz 
vorwiegend  motorisch,  und  auch  bei  der  bloß  gehörten 
Musik  leitet  er  sehr  stark  auf  das   motorische   Gebiet 
hinüber,  was  man  bei  sehr  vielen  Leuten  beobachten  kann, 
die  den  Rhythmus  der  Musik  durch  Körperbewegungen  zu 
begleiten  pflegen.     Werden  diese  ausgeführt,  so  verstärken 
sie  die  Rhythmuswirkung  ganz  erheblich  (ein  Zeichen  für 
die  vorwiegend  motorische  Natur  des  Rhythmus),  aber  auch 
wo  die  sichtbaren  Äußerungen  unterdrückt  werden,  machen 
sie  sich  doch   in   den  zentralen  Teilen  geltend,   sei  es  als 
Beeinflussung    der    respiratorischen    oder   vasomotorischen 
Tätigkeit,   sei  es  als  bewußte  Bewegungs  vor  Stellungen. 
Wir   haben   eine   ganze  Anzahl  von   dahingehenden  Unter- 
suchungen,   die   die   vorwiegend   motorische  Wirkung  des 
Rhythmus  belegen^;. 

Die   durch   den  Rhythmus,   d.  h.   speziell   durch   diese 
inneren  motorischen  Begleiterscheinungen  erzeugte  Wirkung 


')  Worte  Veiu.ainks  in  seinem  Gedicht:  Art  poetique. 
*)  Vgl.  sein  interessantes  Werk:  Primitive  Musik.    London  189'3. 
')  Mkntz  in  Phil.  Stud.,  1895,  S.  305;  Bolton  in  American  Journal 
of  Psycho!.,  189"),  S.  163  ff. 


Die  Bedeutung  des  ÄsthetiBchen  für  die  Ethik.  44  [ 

ist  ja  allbekannt.  Jeder  hat  sie  erfahren,  wenn  er  Musik 
hörte,  sei'd,  daß  ihn  als  Soldaten,  wenn  er  müde  und  ab- 
gespannt war,  die  Rhythmen  eines  Marsches  neu  belebten, 
sei's,  daß  ihm  die  Takte  eines  Walzers  „in  die  Beine  fuhren", 
sei's,  daß  ihn  sonst  die  Musik  einmal  aus  dem  engen  Dasein 
des  Alltags  hinan  gleichsam  in  ein  Zauberland  versetzte. 

Das  ist  die  Wirkung  des  Rhythmus  —  die  melodisch- 
harmonischen Wirkungen  sind  daneben  nur  sekundär  — , 
und  diese  Wirkung  ist  eine  Anregung  des  ganzen  Organismus, 
eine  Wirkung,  die  sich  am  besten  als  eine  Art  Rausch 
bezeichnen  läßt.  Diese  Ansicht,  die  ich  an  anderer  Stelle ' ) 
ausfuhrlich  dargelegt  und  physiologisch  zu  begründen  ge- 
sucht habe,  ist  auch  von  vielen  namhaften  Psychologen  und 
Ästhetikern*)  in  ähnlicher  Weise  ausgesprochen  worden, 
und  die  Tatsache  kami  ja  von  jedem  Einzelnen  an  sich 
selber  beobachtet  werden.  Die  Rhythmuswirkung  hat  eine 
gewisse  Ähnlichkeit  mit  den  von  Alkohol,  Äther  und  ver- 
wandten Mitteln  erzeugten  Zuständen.  Man  kann  sich  an 
Rhythmen  berauschen  wie  an  geistigen  Getränken.  Er 
verleiht  uns  durch  die  oben  angedeutete  Wirkung  auf  den 
Organismus  die  Fähigkeit  mit  einer  weit  über  das  all- 
täghche  Maß  hinausgehenden  Lebhafligkeit  und  Stärke  zu 
empfinden  und  zu  fühlen. 

Darin  nun,  daß  der  Rhvthmus  so  unsere  seelischen 
Kräfte  belebt  —  ohne  zunächst  die  schädlichen  Neben- 
wirkungen der  anderen,  obengenannten  Stimulantien  zu 
zeitigen  — ,  liegt  seine  Bedeutung  auch  für  die  Ethik.  Ich 
möchte  sagen,  die  Musik  hat  etwas  Auflockerndes  für 
unser  ganzes  Seelenleben.  Dadurch,  daß  sie  das  ganze 
Gemütsleben  anfeuert,  die  Phantasie  anregt  und  alle  Affekte 
entzündet,  beugt  sie  einer  Vertrocknung  und  Verhärtung 
vor,  die  allzu  leicht  im  Alltagsleben,  wo  einseitig  Verstand- 


>)  Vgl.  meine  Abhandlung:  Zur  Theorie  der  ästhetischen 
Llementarerscheinungen.  Vierteljahrsschr.  fttr  wissenach. 
Philos.  u.  Soziol.    XXXII.    Besonders  S.  130 ff. 

')  Ich  nenne  nur  Karl  Groos,  Spiele  der  Menschen,  Kap.  Hör- 
spiele, S.  23 f.;  SouRiAi;,  La  Suggestion  dans  Part.    Paris  1893. 


4  2  Rieh.  Maller-Preienfels: 

und  Willenstätigkeit  geübt  werden,  eintreten  kann.  Und 
wenn  man  auch  nicht  soweit  gehen  wird  wie  Shakespeare, 
der  in  der  bekannten  Stelle  des  Kaufmanns  von  Venedig 
dem  Manne,  der  nicht  Musik  hat  in  sich  selbst,  den  nicht 
die  Eintracht  süßer  Töne  lührt,  gleich  Tauglichkeit  zu 
Verrat,  zu  Untaten  und  Tücken  nachsagt  und  die  Regung 
seines  Sinnes  dumpf  wie  Nacht,  sein  Trachten  düster  wie 
der  Erebus  nennt,  so  ist  doch  sicher,  daß  ein  Mensch,  der 
viel  Musik  genießt,  leichter  von  Gefühlen  ergriffen  wird  als 
andere.  Nicht  auf  das  Qualitative  der  Gefühle  hat  die 
Musik  Einfluß,  nur  auf  die  Intensität.  Nur  belebend, 
nicht  im  Sinne  eines  ethischen  Kodex  bessernd,  wirkt 
die  Musik.  Sie  lockert  nur,  wie  ich  oben  sagte,  die  Ge- 
fühle auf.  Sie  erweckt  edle  Gefiihle  oder  unedle,  je  nach- 
dem der  Mensch  ist,  dessen  Ohr  und  Sinn  sie  berührt.  So 
ist  es  ja  eine  Tatsache,  daß  sie  oft  zur  Erregung  niederer 
sexualer  Lüste  verwandt  wird;  doch  ist  das  nicht  etwa 
darum  möglich,  weil  sie  eine  besondere  Verwandtschaft  ge- 
rade mit  dem  Sexualtrieb  etwa  im  Sinne  der  bekannten, 
oft  widerlegten  DARWiNschen  Theorie  über  die  Entstehung 
der  Kunst  aus  sexuellen  Momenten  hätte,  sondern  sie 
erweckt  niedere  oder  edle  Triebe,  je  nachdem  das  Individuum 
oder  dessen  momentane  Disposition  beschaffen  ist.  Die 
Musik  ist  nicht  mehr  „der  Liebe  Nahrung",  um  noch  ein- 
mal Shakespeare,  diesmal  aus  „Was  ihr  wollt",  zu  zitieren, 
als  sie  irgendeines  anderen  Gefühles  spezielle  Nahrung  ist. 
Sie  wird  alle  Gefühle  und  Affekte  stärken  und  erregen,  je- 
nachdem  der  einzelne  dafür  disponiert  ist.  Darum  wird  sie 
wohl  auch  besonders  bei  Kultus  und  Gottesdienst  verwandt, 
weil  sie,  wie  jedes  andere  Gefühl,  auch  das  religiöse  anregt 
und  belebt.  Eigentlich  möchte  ich  sogar  eher  annehmen, 
im  Gegensatz  zu  den  Anhängern  jener  DARWiNschen  Theorie, 
daß  die  Musik,  gerade  weil  sie  wenig  Beziehungen  zum 
alltäglichen  Leben,  sondern  eher  etwas  Weltfremdes  hat, 
mehr  auf  die  feineren,  subtileren  Seelenregungen  wirkt  als 
auf  die  niederen.  Aber  auch  hier  spielt  eben  die  In- 
dividualität mid  die  besondere  Situation  eine  Rolle,  und  auch 


Die  Bedeutung  des  Ästhetischen  für  die  Ethik.  443 

ich  möchte  nicht  gerade  annehmen,  daß  eine  Gesellschaft 
Lebemänner,  die  sich  beim  Diner  mit  Musik  überschütten 
lassen,  dadurch  zu  seelenvollen  Schwärmereien  und  Träumen 
geführt  werden. 

In  der  dynamischen  Verstäjjkung  und  An- 
regung des  Grefühlslebens  beruht  die  "Wirkung 
der  Musik.  Man  mag  das  für  schädlich  halten,  für  ent- 
nervend und  entmännlichend,  und  diejenigen,  deren  Mensch- 
heitsideal der  robuste  Feldwebel  oder  räcksichtslose  Money- 
maker  ist,  werden  so  urteilen.     Gewiß  kann  die  Musik,   im 

mm  

Übermaß  genossen,  zu  einer  Verweichlichung  des 
Geistes  führen,  und  wenn  man  diese  Übertreibung  im  Auge 
hat,  kann  man  die  Ägypter  verstehen,  von  denen  Diodor 
von  Sizilien  berichtet,  daß  sie  Musik  nicht  nur  für  unnütz, 
sondern  sogar  für  schädlich  hielten,  weil  sie  die  Seelen  der 
Männer  weibisch  mache.  Aber  niemals  darf  man  etwas, 
weil  es  falsch  oder  übertrieben  angewandt  worden  ist  oder 
angewendet  werden  kann,  darum  in  Grund  und  Boden  ver- 
dammen. Es  kommt  darauf  an,  daß  ein  Nahrungsmittel  oder 
eine  Medizin  an  der  rechten  Stelle  und  bei  rechter  Ge- 
legenheit verwandt  wird.  Als  ein  geistiges  Nahrungsmittel, 
unter  Umständen  auch  eine  geistige  Medizin,  aber  möchte 
ich  hier  die  Musik  betrachten.  Und  nun  scheint  mir,  daß 
im  allgemeinen  wir,  das  heißt  die  Deutschen  des  neuen 
Kaiserreiches,  eher  an  einer  zu  kleinen  als  einer  zu  großen 
Ausbildung  des  Gefühlslebens  leiden.  Unsere  ganze  Er- 
ziehung, unser  ganzes  Leben  drängt  zu  einer  möglichst 
starken  Ausbildung  des  Verstandes  und  Willenslebens  hin. 
Die  meisten  Leute  werden  sich  sehr  geschmeichelt  fühlen, 
wenn  man  ihren  Verstand  oder  ihre  Tatkraft  lobt,  aber  der 
Gefühlsmensch  ist  ein  Ideal,  das  bei  uns  heutzutage  niedrig 
im  Kurs  steht.  Selbst  das  weibliche  Geschlecht,  früher  ganz 
auf  das  Gefählsleben  dressiert,  schlägt  jetzt  nach  der  anderen 
Seite  aus,  sucht  —  zum  Teil  unter  dem  Druck  wirtschaft- 
licher Verhältnisse  —  dem  Manne  möglichst  ähnlich  zu 
werden,  erstrebt  denselben  Bildungsgang  und  dieselben 
Bildungsmittel    wie    der    Mann    und    nimmt    teil   an    der 


444  Rieh.  MtUler-Freienfels: 

allgemeinen   Überschätzung   des   Verstandes   und    Willens- 
lebens. 

Darin  nun  liegt  die  Bedeutung  der  Musik,  und  es  wird 
sich  zeigen,  die  der  anderen  Künste  ebenfalls,   daß  sie  der 
allgemeinen  Logisierung  des  Lebens  entgegen  arbeitet.  Unter 
dem  Einfluß  der  Musik  werden  die  meisten  Menschen,   sie 
mögen  noch  so  kühl  und  verstandesüberlegen  tun,  weicher 
und  allen  möglichen  Gefühlsregungen  zugänglich.   Die  Musik 
übt   diese    Seiten  des   Seelenlebens,    sie  bewirkt,   daß   sie 
nicht  verkümmern  aus  Mangel  an  Anwendung,  wie  es  eben 
das  Schicksal  niemals  geübter  Organe  zu  sein  pflegt.    Man 
vergleiche  einmal,  wieviel  Wert  die  Griechen  der  Musik  ftir 
die  Menschenbildung  zuschrieben  und  wie  wir   heute    sie 
treiben.    In  unseren  Schulen  sind  wöchentlich  zwei  Stunden 
ftlr  ein  meist  dazu  herzlich  unkünstlerisches  Singen  aus- 
gesetzt, während  wir  dreißig  und  mehr  Stunden  der  Aus- 
bildung des  Verstandes,  das  heißt  meistens  des  Gedächtnisses^ 
opfern.    Daneben  wird  freilich  privatim  von  unserer  Jugend 
noch  ziemlich  viel  Zeit  auf  Musikbetrieb  verwandt,  aber  e» 
ist   dieses  Musiktreiben  mehr  ein  Drillen  auf  eine  oft  sehr 
zweifelhafte     ausübende     Fähigkeit,     auf    ein     öffentliches 
Produzieren,  von  dem  man  gesellschaftliche  Vorteile  erhoflftv 
als   ein   wirkliches   Erziehen  zum  seelischen  Erfassen   und 
Aufnehmen  der  Musik.     Man  sollte  mehr  auf  ein  Genießen 
als   auf  ein  Sichproduzieren  hin  erziehen.     Ästhetisch  und 
ethisch  hat  ein  großer  Teil  unseres  privaten  Musikbetriebs 
nicht  mehr  Wert  als   das   Fußballspielen   oder  Seiltanzen^ 
ohne    dabei    deren    gymnastischen    Wert    zu    haben.      So- 
lange  das  Musiktreiben  mechanische  Dressur  bleibt,    und 
viele    „Künstler*"    kommen  nie  darüber  hinaus,   solange  die 
Musik  nicht    Gefühlsregungen    auslöst,    also    im    oben    be- 
schriebenen Sinne  auflockernd  wirkt,   hat  sie  mit  Ästhetik 
nichts  und  Ethik   nur  negativ   zu  tun.     Es  ist  bedauerlich, 
daß  als  musikalisch  nur  derjenige  gilt,  der  selber  ein  Piano 
in  Bewegung  zu  setzen  vermag. 

Es  ist  in  der  obigen  Betrachtung  der  Rhythmuswirkungen 
schon  mancherlei  zur  Sprache  gekommen,  was  für  die  Musik 


Die  Bedeutung  des  Ästhetisclien  für  die  Ethik.  445 

überhaupt  gilt.  Aber,  wie  bereits  gesagt,  ist  der  Rhythmus 
das  eigentliche  "Wesen  der  Musik.  Musikalische  "Wirkungen 
können  sehr  wohl  durch  Rhythmus  allein,  ohne  Melodie 
und  Harmonie  erzielt  werden,  durch  Tronmieln,  Tamburine, 
Kastagnetten  usw.  Es  lag  also  eine  gewisse  Berechtigung 
in  jener  Vorwegnahme. 

Während  der  Rhythmus  unmittelbar,  ohne  jeden  Unter- 
schied des  Bildungsgrades  alle  Menschen,  ja  auch  Tiere 
ergreift,  ist  die  Harmonie  imd  die  Melodie  ein  Kunst- 
produkt. Sie  sind  es  nicht  ganz,  insofern  Harmonie  und 
damit  auch  Melodie,  die  fast  immer  nur  eine  auseinander- 
gezogene Harmonie  ist,  in  den  Instrumenten  vorgebildet 
waren.  Aber  in  ihrer  jeweiligen  Ausbildung  ist  sie  Produkt 
der  Tradition  und  Erziehung.  Das  Ohr  muß  ein- 
gestellt sein  für  den  jeweiligen  Genuß.  Für  uns  ist  die 
Musik  der  Chinesen  ein  sinnloser  Lärm,  und  umgekehrt 
werden  unsere  meist  gepriesenen  Tondichtungen  von  den 
Asiaten  nicht  höher  bewertet.  Die  Schätzung  der  Kon- 
sonanzen hat  ihre  deutlich  abzusteckende  Geschieht«.  Erst 
allmählich  werden  die  Ohren  erzogen,  dissonierendere  Ton- 
verbindungen mit  Lustgefühlen  zu  begleiten.  Die  Terz  galt 
im  Altertum  als  Dissonanz,  während  anderseits  die  Oktave, 
für  Griechenohren  von  höchstem  Reiz,  uns  für  sich  allein 
keine  sonderlichen  Lustgefühle  mehr  auslöst,  und  wer  die 
Musikgeschichte  der  beiden  letzten  Jahrhunderte  verfolgt, 
wird  bemerken,  wie  immer  mehr  früher  verpönte  Ton- 
verbindungen hoffähig  werden. 

Man  darf  daher  nicht  von  Konsonanz  imd  Melodie 
schlechthin  sprechen,  sondern  nur  ganz  allgemein  von  dem, 
was  wir  Europäer  im  Beginn  des  zwanzigsten  Jahrhunderts 
etwa  so  empfinden,  obwohl  auch  hier  die  Unterschiede  noch 
groß  genug  sind. 

Die  Hauptwirkung  von  Harmonie  und  Melodie  nun 
scheint  mir  mit  der  des  Rhj^thmus  zusammenzufallen,  wozu 
noch  die  Dynamik  in  ihrem  Wechsel  als  drittes  Element 
hinzukommt.  Sie  alle  verstärken  nur  die  spezifischen  vom 
Rhythmus  erzeugten  seelischen  Erregungen,  sie  bringen  Ab- 


446  Rieh.  Müller-Freienfels: 

wechslung  und  Farbe,  in  den  an  sich,  leicht  eintönig  wirkenden 
Kanevas  der  rein  rhythmischen  Eindrücke,  bringen  erst  die 
Mannigfaltigkeit  in  die  Einheit  der  regelmäßigen  Gliederung. 

Dazu  kommt,  daß  die  Töne  und  Tonverbindungen  das- 
jenige akustische  Material  sind,  das  dem  Ohre,  respektive 
den  zentralen  Organen  bei  lebhafter  Erregung  doch  am 
wenigsten  Überanspannung  einzelner  Teile  zumutet,  wie  das 
bei  den  meisten  Geräuschen  der  Fall  ist,  welche  darum 
von  Unlustgefühlen  begleitet  sind.  Sie  waren  daher  am 
besten  geeignet,  die  rhythmischen  Abschnitte  zu  füllen, 
wobei  dann  noch  die  speziellen  Lustwirkungen  der  festen 
Melodie  kamen,  die  Freude  am  Wiedererkennen  usw.  Immer 
aber  müssen  dabei  die  Intervalle  durch  ihre  Neuheit  und 
ReizflLhigkeit  eine  bestimmte  Lustschwelle  überschreiten, 
unterhalb  deren  eine  Melodie  als  fade,  langweilig  usw.  be- 
wertet wird,  müssen  sich  aber  auch  unterhalb  einer  ge- 
wissen Höhengrenze  halten ,  oberhalb  deren  die  Melodie 
oder  der  Akkord  als  zu  neu,  zu  ungewohnt,  zu  disharmonisch, 
zu  grell  abgeleimt  wird.  Neu  auftauchende  Genies  ver- 
schieben stets  diese  Grenzen,  haben  aber  zunächst  aller- 
dings mit  der  Trägheit  des  Publikums  zu  kämpfen. 

Im  wesentlichen  aber  wird,  was  die  Wirkungen  der 
Konsonanzen  betrifft,  nicht  viel  mehr  hinzugefügt  zu  dem, 
was  wir  schon  beim  Rhythmus  beschrieben  haben.  Melodie 
und  Harmonie  wirken  ganz  außerordentlich  verstärkend  auf 
die  Rhythmuseindrücke,  geben  diesen  für  unser  Gefühl 
überhaupt  erst  Seele,  bewegen  sich  jedoch  im  wesentlichen 
auf  derselben  Linie. 

IV. 

Außerdem  aber^ kommen  zu  den  .Wirkungen  von  Rhyth- 
mus, Konsonanz  und  Dynamik  noch  mancherlei  assoziative 
Wirkungen,  die  schwer  festzustellen  sind,  die  jedoch  immer 
vorhanden  sind.  Wir  beschreiben  sie  als  ein  Steigen  und 
Fallen  der  Töne,  als  ein  Ringen,  Streiten  und  Sich- 
versölxnen,  Ruhe  nach  Sturm  und  Leidenschaft  und  was 
ähnlicher  Ausdrücke  mehr   sind.     Dm'cli  diese  assoziativen 


Die  Bedeutung  des  Ästhetischen  fOr  die  Ethik.  447 

Elemente  kommt  zu  der  ersten  Wirkung  der  Musik,  wie 
sie  oben  als  ein  Auflockern  und  Verstärken  bereits  vor- 
handener Gefühle  geschildert  wurde,  etwas  Neues,  etwas 
Qualitatives  hinzu.  Ihre  Gefühlswirkung  ist  nicht  mehr 
allgemein,  sie  fügt  ein  Spezielles  hinzu,  regt  nicht  nur  mehr 
die  Seele  im  allgemeinen  an,  sondern  beeinflußt  sie  in  ganz 
bestimmter  Richtung.  Solche  speziellen  Einflüsse  sjnd  es, 
wenn  uns  ein  Trauermarsch  ernst,  eine  Tanzmusik  heiter 
stimmt,  wenn  uns  ein  Rondo  von  Mozart  in  eine  Stimmung 
sonniger  Heiterkeit  versetzt,  während  ein  Adagio  von 
Beethoven  uns  Stimmungen  von  herber  Andacht  und  Majestät 
erweckt.  Diese  Gefühle  sind  durchaus  nicht  willkürlich 
assoziiert,  sondern  nach  ihrem  Stimmungsgehalt  ziemlich 
eindeutig  durch  die  gemeinsame  Wirkung  von  Rh;^iJunu8, 
Harmonie,  Melodie  und  Dynamik  bestimmt.  Erst  wenn  sie 
bestimmte,  konkrete  Vors tellungs demente  enthalten, 
hört  diese  Bestimmtheit  auf.  Diese  konkreten  Vorstellungen 
sind  immer  subjektiv,  sie  können  nie  und  nimmer  als 
eindeutige  Wirkung  der  Musik  begriffen  werden,  obgleich 
das  durch  Musik  angeregte  starke  Gefühl  sie  gleichsam  aus 
sich  heraus  erzeugt,  ihnen  erst  den  Boden  bereitet. 

Für  den  puristischen  Ästhetiker  nun  mögen  solche 
assoziativen  Nebenwirkungen  gleichgültig,  ja  verwerf üch 
sein,  der  Ethiker  und  Psychologe  darf  sie  nicht  außer  acht 
lassen.  Während  die  Auslösung  der  oben  geschilderten 
allgemeineren  Stimmungen,  die  mit  einiger  Eindeutigkeit 
aus  dem  rein  akustischen  Material  erzeugt  werden,  durchaus 
noch  vom  Ästhetiker,  wenn  er  kein  Überpurist  ist,  gelten 
gelassen  werden  können,  wird  der  Ästhetiker  unbedingt  sich 
ablehnend  verhalten,  so  wie  bestimmte  Vorstellungen,  die 
stets  subjektiv  sein  müssen,  dazutreten.  Stimmungen  und 
Grefahle,  die  sich  an  bestimmte  Vorstellungen  anknüpfen, 
sind  bereits  Affekte ,  die  etwas  von  den  rein  musikalischen 
Wirkungen  ganz  Abliegendes  sind.  Für  viele  Leute  beruht 
tatsächlich  der  ganze  Musikgenuß  in  einer  Anregung  des 
Phantasielebens,  die  auf  jene  oben  beschriebene  Rausch- 
wirkung   des    Rhythmus    zurückzuführen    wäre.      Letztere 


448  Rieh.  MüUor-Freienfels: 

braucht  nicht  zu  solchen  intellektuellen  Abschweifungen 
und  Träumereien  zu  fiihren,  sie  kann  rein  musikalische 
Wirkungen  erzeugen,  aber  bei  den  meisten  Menschen  bleibt 
doch  meist  nichts  als  eine  Anregung  zu  subjektiven 
Träumereien. 

Doch  sind  die  bis  jetzt  beschriebenen  assoziativen 
Wirkungen  noch  nichts  eigentlich  Neues.  Im  Grunde  hängen 
sie  sehr  nahe  mit  der  oben  beschriebenen  Auflockerung 
zusammen.  Sowie  es  jedoch  der  Musik  gelänge,  ganz  be- 
stimmte Gefühle  und  Affekte  im  Hörer  auszulösen,  würde 
damit  eine  von  jener  ganz  verschiedene  Wirkung  zu  kon- 
statieren sein,  die  ich  die  auswählende  nennen  will,  weil 
sie  unter  den  Gefühlen  des  Hörers  nur  eine  ganz  bestimmte 
Auswahl  erregte.  Doch  ist  hier  gleich  zu  konstatieren,  daß 
die  auswählende  Wirkung,  die  von  der  Musik  ausgeht,  nur 
sehr  gering  ist.  In  größerem  Maße  findet  sie  sich  nur  bei 
der  Vokalmusik,  wo  durch  den  Text  eine  bestimmte  Richtung 
der  Vorstellungs-  und  Gefühlserregung  im  Hörer  bedingt, 
wird.  Doch  sieht  natürlich  jeder,  daß  es  sich  hier  um  eine 
Wirkung  der  Poesie  und  nicht  um  eine  Wirkung  der  Musik 
handelt.  Es  wird  daher  ausführHch  über  die  auswählende 
Wirkung  der  Kunst  erst  gesprochen  werden,  wenn  die 
Dichtkunst  behandelt  wird,  in  der  jene  vor  allem  zur  Geltung 
kommt. 

Da  nun,  wo  mit  rein  musikalischen  Mitteln  eine  be- 
stimmte inhaltliche  Wirkung  auf  den  Hörer  erstrebt  wird, 
wie  in  aller  Art  von  Programmusik,  ist  die  ethische  Be- 
deutung ganz  gering.  Wer  sollte  wohl  durch  die  Musik 
von  RicH.  Straussens  „Also  sprach Zarathustra"  demNiEXZscHE- 
schen  Immoralismus  auch  nur  um  einen  Schritt  näher  ge- 
kommen sein?  Zudem  wirkt  ja  alle  Programmusik  leidlich 
eindeutig  doch  nur  mit  Hilfe  des  Begleittextes,  als  doch  der 
Worte,  das  heißt  von  etwas  Nichtmusikalischem. 

Nun  könnte  man  jedoch  die  Frage  aufwerfen,  ob  die 
Musik  die  Wirkung  des  Textes  nicht  verstärkte.  Das  ist 
sicherlich  oft  der  Fall,  aber  dann  wäre  die  durch  die  Musik 
erzielte   Wirkung   doch   nur   eine   im   oben   beschriebenen 


Die  Bedeutung  des  Ästhetischen  für  die  Ethik.  440 

Sinne  auflockernde,   die  Auswahl  würde  allein  durch 
den  Text  bewirkt.   Zudem  aber  wird  sicherlich  in  mindestens 
ebenso  vielen  Fällen  die  Wirkung  des  Textes  geschwächt 
als    8ie   gestärkt  wird.     Sehr  viele  Hörer  achten  allein  auf 
die  Melodie  und   empfangen  von  den  "Worten  selten  mehi' 
als  einen  ganz  vagen  Eindruck.    Bei  den  Griechen  war  das 
anders.    Da  war  stets  die  Poesie  die  Hauptsache,  die  Musik 
diente    niu*    zur    Unterstreichung    und    Hervorhebung    des 
poetischen  Inhalts.    Es  handelt  sich  hier  also  in  erster  Linie 
um  poetische  und  nur  nebenbei  um  musikalische  Wirkungen. 
Das  ist  auch  zu  erwägen,  wenn  man  von  der  starken,  uns 
sonst  fast  unverständlichen  Bedeutung  liest,  die  in  Griechen- 
land in  der  Pädagogik  der  Musik  zuerteilt  wurde.    Die  reine 
Instrumentalmusik  war  ja  überhaupt  nicht  sonderlich  stark 
ausgebildet  bei  den  Alten.     Heutzutage  hat  sich   das  ge- 
ändert.   Bei  unserer  Lied-   und  Opernkunst  ist  die  Musik 
für   die  meisten  Leute  die  Hauptsache,   und  es  zeigt  sich 
das   schon  darin,   daß   das   Orchester  mehr  und  mehr  die 
menschliche  Stimme  in  unseren  Opernhäusern  zu  erdrücken 
droht  und    im   Liede   die   Begleitung  immer  selbständiger 
anf):.ritt.     Zwar  ist  Wagner  theoretisch  scharf  gegen  diese 
Überwucherung  des  Textlichen  durch  die  Begleitmusik  vor- 
gegangen,  praktisch  hat  gerade  er  diese  Entwicklung  be- 
fördern helfen.    Es  gibt  sehr  viele  Menschen,  die  die  Motive 
und  Melodien  aus  dem  Ring  der  Nibelungen  aufs  genauste 
im  Kopf  hüben  und  doch  nur  einen  sehr  verschwommenen 
Begriff  von  der  Handlung  dieser  „Dramen"  besitzen.     Man 
genießt    eben    diese    Opern   —   der   Unterschied    zwischen 
Oper  und  Musikdrama  ist  kein  prinzipieller  —  im  wesent- 
lichen auch  genau  wie  die  absolute  Musik.  Auch  hier  werden 
inhaltliche  Wirkungen  durch  die  Töne  kaum  überliefert, 
und  jedenfalls  sind  sie  zu  gering,  um  den  Ethiker  zu  inter- 
essieren.   Richard  Wagner  meinte  zwar  von    „Tristan  und 
Isolde"  *) ,    nur   eine    mittelmäßige   Aufführung    könne    ihn 
retten,  eine  vollendete  müsse  alle  Hörer  aus  Rand  und  Band 


')  In  den  Briefen  an  Mathii.dk  Wkbexdonck.  Herausg.  v.  Goltkr  1905. 


450  Rieh.  Müller-Freienfels: 

bringen  —  er  überschätzte  die  Wirkung  der  Musik  — ;  wir 
haben  viele  vollendete  Aufführungen  jenes  Werkes  gehabt, 
ohne  daß  die  befürchteten  Wirkungen  eingetreten  sind. 
Ehebruch  mit  Orchesterbegleitung  wird  nicht  als  Ehebruch 
empfunden.  In  der  Regel  hemmt  die  Musik  eher  die  Wirkung 
des  Textes,  als  daß  sie  sie  fördert.  Ihre  Wirkung  ist  — 
auch  als  Liedmusik  —  in  erster  Linie  die  oben  beschriebene 
auflockernde.  Sie  regt  das  Seelenleben  als  Ganzes  aufs 
stärkste  an,  fordert  das  Gefühls-  und  Stimmungsleben,  je 
nach  der  Disposition  des  einzelnen,  und  wenn  sie  in  be- 
stimmter Richtung  fördernd  wirkt,  so  erzeugt  sie  einen 
vagen  Zustand  der  Träumerei. 

V. 

An  der  Musik,  derjenigen  Kunst,  die  hauptsächlich  aufs 
Formale  gestellt  ist,  mußten  die  formalen  Wirkungen  am 
klarsten  hervortreten.  Um  die  inhaltlichen  Wirkungen  der 
Kunst  möglichst  scharf  zu  beleuchten,  nehme  ich  darum 
zunächst  nun  diejenige  Kunstart  vor,  bei  der  das  Inhaltliche 
überwiegt,  die  Dichtung.  Zuletzt  von  allen  mögen  die 
bildenden  Künste,  wie  man  die  sichtbaren,  die  Augenkünste, 
nicht  sehr  geschickt  bezeichnet,  betrachtet  werden.  Hier 
halten  sich  Form  und  Inhalt  etwa  die  Wage,  so  sehr  auch 
bald  die  eine,  bald  die  andere  Seite  gewichtiger  schien  im 
Laufe  der  Zeiten. 

Auch  in  der  Dichtung  haben  die  Meinungen  um  die 
Wichtigkeit  des  Inhaltlichen  und  Formalen  geschwankt. 
Da  jedoch  die  Mehrzahl  der  Menschen  an  und  fiir  sich 
mehr  der  inhaltlichen  Aufnahme  von  Dichtungen  zuneigt 
und  die  Formwerte  nur  als  Beigabe  oder  als  Mittel  zum 
Zweck  anzusehen  pflegt,  so  haben  zuweilen  die  Verehrer 
der  Formwerte  heftige  Vorstöße  gegen  jene  Mehrheit  unter- 
nommen, wobei  sie,  was  bei  solchen  Reaktionen  gegen 
herrschende  Meinungen  oft  der  Fall  ist,  in  der  Hitze  des 
Kampfes,  wohl  auch  aus  taktischen  Gründen  über  das  Ziel 
hinaus  schössen.  Man  sucht  dann  rein  musikalische 
Wirkungen   zu   erzielen   —    „De   la   musique    avant   toute 


Die  Bedeutung  des  Ästhetischen  für  die  Ethik.  451 

chose !" ,    wie  Verlaine  in  seiner  „Art  poötique"   verlangt. 
Wiederholt  sind  Forderungen  angetreten,  die  Wirkung  der 
Dichtung  ganz  auf  Rhythmus,  Beim  und  Lautschönheit  zu 
stellen,  so  bei  Novalis,  bei  den  Symbolisten  in  Frankreich, 
bei  neueren  Ästheten  in  Deutschland.     Daß  auch  auf  diese 
Weise  starke  Wirkungen  erzielt  werden  können,  darf  nicht 
bezweifelt  werden.    Ich  selber  erinnere  mich,  daß  ich  während 
meiner   Studentenzeit  öfters  einen  angesehenen  serbischen 
Dichter  Verse  in  seiner  Sprache,   von  der  ich  gar  nichts 
verstand,  vortragen  hörte  und  immer  stark  ergriffen  wurde 
von  den  rein  formalen  Werten,  da  andere  nicht  zur  Wirkung 
kommen   konnten.     Trotzdem  wird  niemand  leugnen,   daß 
natürlicher  und  intensiver  derartige  Effekte  durch  die  Musik 
erzielt  werden,  da£  es  meist  eine  Vergewaltigung  der  Sprach- 
kunst ist,  wenn  man  sie  nur  als  angenehmes  Geräusch,  nicht 
als  das,  was  sie  ihrem  Wesen  nach  ist,  nehmen  wollte :  als 
Trägerin  und  Vermittlerin  von  Vorstellungen  und  Begriffen. 
Die  Dichtung  ist  wie  jede  andere  Kunst  Einheit  von 
Form   und  Gehalt.    Eins  muß  das  andere  fördern  und 
unterstützen  für  die  gemeinsame  einheitliche  Wirkung. 
Diese  ist  auch  durchaus  nicht  etwa  eine  Addition,  eine  äußere 
Zusammenwirkung  jener  Einzelwirkungen,    sondern   etwas 
durchaus    neues,    wie   Fechner   und   andere   zur   Genüge 
nachgewiesen  haben.    Immerhin  jedoch  sind  in  der  Dichtung 
die  formalen  Elemente  von  geringerer  Bedeutung  und  der 
gegenteiligen   Ansicht   klebt   immer   etwas    Paradoxes    an. 
Rhythmus,  Lautklang,  Reim  usw.  können  zwar  bei  manchen 
kleinen  Lyricis  der  Hauptfaktor  der  Wirkung  sein,  bei  „  Wallen- 
stein** oder  gar  in  „Werthers  Leiden"  sind  sie  es  gewiß  nicht. 
Jedenfalls  werden  sie  bei  der  überwiegenden  Mehrzahl  der 
Leser  nicht  so  empfunden,  und  da  es  uns  als  Psychologen 
nur  interessiert,  was  tatsächlich  ist,    mcht  was  nach  der 
Meinung  dieses   oder  jenes  Theoretikers  sein   sollte,   so 
müssen  wir  mit  der  Tatsache  rechnen,  daß  in  der  Dichtung 
inhaltliche  Momente  die  Hauptwirkung  machen,  nicht 
formale.    Diese  letzteren  werden  also   ähnhch  wirken  wie 
die   Musik,    dort   wo    sie   allein  genommen  werden;   sonst 

Vierteljahrssohriftf.wissensehaftl.  Philoii.u.So£iol.  XXXII.  4.         29 


452  Bich.  Müller-Preienfels: 

aber  werden  sie  als  Steigerungsmittel  der  einheitlichen 
Wirkung,  die  vor  allem  durch  die  Bedeutung  der  Worte 
erreicht  wird,  anzusehen  sein. 

Wenn  ich  nun  von  der  ethischen  Wirkung  der 
Dichtkunst  spreche,  so  meine  ich  natürlich  nur  diejenige, 
die  zugleich  ästhetische  Wirkung  ist.  Alles  was  zum 
Beispiel  bloß  belehrend  wirkt,  hat  mit  Kunst  nichts  zu  tun. 
Ein  Drama,  dessen  Hauptwert  darin  beruhen  würde,  uns 
ein  historisch  treues  Zeitbild  aus  dem  sechzehnten  Jahr- 
hundert zu  liefern,  hat,  wenn  es  nicht  daneben  andere 
künstlerische  Werte  bringt,  mit  Kunst  nicht  mehr  zu  schaffen 
als  die  unvergleichHch  humoristischen  Verse,  in  die  Zümpt 
die  lateinische  Grammatik  gebracht  hat.  Wenn  es  einer  als 
den  Gewinn,  den  ihm  das  Lesen  von  Shakespeares  Königs- 
dramen  eingetragen  hat,  bezeichnet,  daß  er  seine  historischen 
Kenntnisse  erweitert  hat,  so  interessiert  er  uns  hier  nicht 
Desgleichen  geht  es  uns  nichts  an,  wenn  irgendein  „fabula 
docet"  dem  Leser  kategorisch  einen  Satz  der  Moral  ein- 
gepaukt hat.  Das  ist  keine  ästhetische  Wirkung.  Die 
Kunst  hat  andere  ethische  WirkungsmögHchkeiten,  die  zu- 
gleich ästhetische  sind ;  sie  zielt  nicht  auf  den  Intellekt,  auf 
„Bildung**  ab,  sondern  nur  dort  wird  sie  wirklich  als  Kunst 
genossen,  wo  sie  den  ganzen  Menschen  erfaßt  und  durch- 
dringt, was  sich  uns  kundgibt  in  der  Erregung  unserer  Ge- 
fühle. Nicht  derjenige  Nutzen  der  Poesie,  den  Gellkrt  in 
folgenden  zwerchfellerschütternden  Versen  definiert,  ist  der 

rechte : 

„Dem,  der  nicht  viel  Verstand  besitzt, 

Die  Wahrheit  durch  ein  Bild  zu  sagen"  — 

sondern  die  Kunst  wirkt  unmittelbar  wie  das  Leben  selbst: 
sie  will  keine  Wahrheit  beibringen,  sondern  sie  will  uns 
suggestiv  neue  Erlebnisse  vermitteln,  wobei  ich 
unter  Erlebnis  Eindrücke  und  Geschehnisse  verstehe,  die  in 
unser  Gefühlsleben  eingreifen. 

Darin,  daß  die  Dichtkunst  in  uns  gefühlsbetonte  Emp- 
findungen und  Vorstellungen  auslöst,  besteht  ihr  ästhetischer 
Wert.     Wenn    ich    also    hier    vom    ethischen   Werte    der 


Die  Bedeutung  des  Ästhetischen  für  die  Ethik.  453 

Dichtung  zu  sprechen  imtemehme,  so  meine  ich  nur  einen 
solchen,  der  zugleich  auch  einen  derartigen  ästhetischen 
Wert  repräsentiert.  Wenn  man  also  aus  Shakespeare  lernt, 
daß  Heinrich  V.  der  Nachfolger  Heinrichs  IV.  war  oder  aus 
der  Bestrafung  Falstaffs  eine  gute  Lehre  abstrahiert,  so  ist 
das  kein  ästhetisches  Erlebnis,  weil  durch  dieses  Wissen 
allein  das  Gefiihl  nicht  im  geringsten  erregt  wörde.  Wenn 
ich  dagegen  die  seelischen  Regungen  des  jungen  Königs 
nach  dem  Tode  seines  Vaters  innerlich  miterlebe,  wenn  in 
mir  ähnliche  Gefühle  und  Stimmungen  anklingen,  so  hat 
das  ästhetischen  Wert  und  kann  auch,  indem  es  mein 
Gefühlsleben  bereichert  und  erweitert,  dadurch  ethischen 
Wert  haben. 

Diejenigen   nun,    die    in    diesen    Erregungen    unseres 
Gefähls-  und  Stimmungslebens   einen  ethischen  Wert  der 
Poesie  erkennen,  gehen  nun  wieder  in  zwei  sich  schroflF 
gegenüber  stehende  Parteien  auseinander.    Auf  der  einen 
Seite    erklärt   man,   jenes   Erregen   imseres    Gefühls-    und 
Affektlebens    hätte    an    sich    einen  ethischen  Wert,    ohne 
Bücksicht  darauf,  welcher  Art  diese  Gefühle  und  Affekte 
seien;  die  andere  Partei  ist  der  Ansicht,  daß  es  vom  ethischen 
Standpunkt^icht  gleichgültig  sei,  welcher  Art  die  erregten 
Gefühle  seien.    Manche   Gefühle  und   Stimmungen  dürfben 
möglichst  wenig  angerührt  werden,   während   andere    aus 
Gründen  der  ethischen  Bildung  nicht  oft  genug  angeschlagen 
werden    könnten.      Über    die    Auswahl    dieser    nützlichen 
und  schädlichen  Gefähle  sind  die  Ansichten  wiederum  ge- 
trennt.     Ungefähr    etwa    könnte    man    versuchen,     jene 
beiden  Parteien  mit  den  Schlagworten    „Naturalisten^ 
und  „Idealisten"  zu  kennzeichnen.    Denn  der  Naturalis- 
mus, der  gern  unter  der  Flagge  der  Wahrheit  fahrt,  be- 
hauptet: da  möglichst  getreue  Darstellung  des  Lebens  Auf- 
gabe  des  Künstlers   sei,   so  wäre  es  falsch,  irgendwelche 
Seite   der  Wirklichkeit  zu  unterschlagen.    Dagegen  erklärt 
der  Idealismus,  der  eben  in  der  Richtung  nach  irgendeinem 
Ideale   hin   eine   Auswahl   in   den   zur  Verwendung    ge- 
langenden künstlerischen  Motiven  vornimmt:  gerade  dieses 

29  • 


454  Rieh.  Müller-Freienfela: 

Auswählen,  Stilisieren,  Idealisieren  sei  das  Wesen  der 
Kunst.  Jede  der  beiden  Richtungen  aber  wirft  der  anderen 
Unmoral  vor :  der  Naturalismus  nennt  das  IdeaUsieren  Ver- 
logenheit und  behauptet,  der  idealisierende  Künstler  wirke 
verwirrend  und  schädigend  auf  die  Köpfe  seiner  Mit- 
menschen, weil  er  ihnen  ganz  verzerrte  und  verschrobene 
Bilder  vorspiegle  —  der  Idealismus  nennt  den  Naturalismus 
darum  unmoralisch,  weil  er  im  Leser  auch  die  schlechten 
Gefühle  wachrufe  und  damit  verstärke  und  so  verderblich 
auf  die  Moral  einwirke. 

Es  gilt  nun  hier,  vom  psychologischen  Standpunkte  aus 
diese  beiden  sich  entgegen  stehenden  Behauptungen  zu 
prüfen. 

Was  zunächst  also  die  naturalistische  Anschauung 
betrifil,  wie  ich  der  Einfachheit  halber  die  oben  kurz  um- 
rissene  erstere  Ansicht  bezeichnen  will,  so  tut  sie  zwar  gern 
mit  ihrer  sogenannten  Amoral  groß.  Doch  ist  das,  wie 
bereits  oben  besprochen,  ein  unsinniger  BegriflF,  denn  wenn 
wir  auch  bewußt  und  unserer  Ansicht  nach  den  ästhetischen 
Erlebnissen  keine  Eingriffe  in  unseren  moralischen  Bestand 
(wie  ich  einmal  mit  einem  praktischen  Ausdruck  Petzoldts  *) 
die  jeweilige  Gesamtbeschaffenheit  unserer  moralischen  Vor- 
stellungen und  Gefühle  nennen  will)  gestatten  mögen,  ohne 
unser  Wissen  und  Wollen  werden  sie  unseren  moralischen 
Bestand  dennoch  beeinflussen.  Es  wird  von  diesen  „Amora- 
listen"  gern  behauptet,  das  künstlerische  Erleben  sei  etwas 
ganz  Verschiedenes  vom  wirklichen  Erleben,  habe  nichts 
mit  der  Ethik  zu  tun; 'doch  beweist  das  nur  ihre  mangelnde 
psychologische  Erkenntnis.  Mag  ein  Beeinflussen  bei  ihnen 
in  geringem  Maße  nur  stattfinden,  bei  der  Mehrzahl  der 
Menschen  ist  jener  „l'art  pour  Tart" -Standpunkt  nicht  möglich, 
sie  lassen  sich  diu*ch  eine  stark  laszive  Erzählung  sehr  wohl 
grobsinnlich  erregen,  und  damit  hört  alle  Amoral  auf  — 
damit  beginnt  die  echte,  unverfälschte  Unmoral. 


*)  Einführung  in  die  Philosophie  der  reinen  Erfahrung,  Bd.  I, 
Kap.:  Die  ethische  Charakteristik.    Leipzig  1899. 


Die  Bedeutung  dee  Ästhetifichen  für  die  Ethik.  455 

^enn  wir  dagegen  den  Naturalisten  eine  Berechtigung 
ihrer  Anschauung  zuerkennen  wollen,  so  können  wir  das, 
indem  wir  sagen,  jenes  Erregen  ganz  beliebiger  GefOhle 
hat  doch  einen  ethischen  Wert,  dadurch,  daß  es  unser 
-Gefühlsleben  als  Ganzes  lebendig  erhält.  Es  wäre 
•das  in  gewissem  Sinne  etwas  Ahnliches,  was  wir  oben  bei 
Besprechung  der  formalen  Wirkung  der  Kunst  als  eine 
Anflockerong  bezeichneten.  Diese  Art  Kunst  würde  also, 
-Aa  sie  alle  G^fOhle  des  Lebens  anzuschlagen  beabsichtigt, 
genau  wie  dieses  wirken,  würde  unsere  Erfahrung  bereichern; 
unsere  Fähigkeit,  alle  möglichen  Gefilhle  in  uns  anklingen 
zu  lassen,  in  uns  steigern,  unsere  Möglichkeit  also,  uns  in 
das  Gefühlsleben  anderer  hineinzuversetzen,  fördern  und 
•damit  also  sehr  wohl  ethische  Werte  liefern.  Ohne  jeden 
Zweifel  ist  dieser  Standpunkt  begründet  und  für  ethisch 
mündige  Menschen,  die  ein  urteil  über  den  ethischen  Wert 
oder  Unwert  eines  Gefühls  haben,  auch  berechtigt.  Ihnen 
wird  er  nicht  schaden,  zum  mindesten  würden  die  positiven 
Werte  die  negativen  Werte  überwiegen,  denn  ganz  wird 
sich  auch  der  „amoralistischste^  Leser  gewisser  Novellen 
Maupassants  nicht  erwehren  können,  daß  Gefühle  in  ihm 
rege  werden,  die  er  im  Leben  wohl  nicht  billigen  würde. 
Aber  der  ethisch  Mündige  kann  das  durch  Reflexion 
korrigieren,  indem  er  derartige  Regungen  unterdrückt.  Da- 
gegen fiir  unreife  Köpfe,  und  leider  sind  wohl  bei  weitem 
die  meisten  Leser  solcher  Novellen  ethisch  ziemlich  urteils- 
los, kann  ohne  jede  Frage  eine  große  moralische  Gefahr  in 
solchem  Lesestoff  liegen. 

Wir  haben  bisher  angenommen,  daß  die  Naturalisten 
recht  hätten,  wenn  sie  glaubten,  in  ihren  Werken  eine  Er- 
weiterung der  objektiven  Wirklichkeit,  das,  was  sie  Wahr- 
heit nennen,  geben  zu  können.  Wären  sie  nur  ein  wenig 
psychologisch  geschult,  so  würden  sie  freilich  wissen,  daß 
das  ein  Ding  der  Unmöglichkeit  ist,  daß  sie  immer,  wo  und 
wie  sie  das  Leben  auch  wiederzugeben  suchen,  auswählen, 
miterdrücken,  hervorheben,  kurz  stilisieren.  Nur  daß  sie 
sich  dessen  nicht  bewußt  sind,  unterscheidet  sie  von  den 


456  Rieh.  Moller-Freienfels: 

Idealisten.  Überhaupt  ist  historisch  der  Natnralisiiinff  (dss 
heißt  was  sich  so  nannte)  stets  als  Beaktionserscheinnng^ 
gegen  stilisierende  und  ideaHsierende  Ennstbestrebimgen 
aufzufassen,  obwohl  er  natürlich  selbst  nichts  anderes  ist 
und  nichts  anderes  sein  kann,  nur  daß  er  nach  einer  anderen. 
Richtung  hin  stilisiert,  daß  er  statt  verschönert  yerhäßlicht^ 
statt  ins  Moralische  idealisiert  oft  ins  ünmoralisch& 
idealisiert. 

Dasjenige,  was  für  die  Richtung  des  Idealisierens  ent* 
scheidet,  ist  das  Temperament,  wozu  dann  allerdings  noch 
theoretische  Einflüsse  kommen,  die  jedoch  auch  immer  im 
letzten   Grunde   mit   dem  Temperament  zusammenhängen. 

Beim  bewußten  Stilisieren  nun  gibt  es  vor  aUem 
ein  Stilisieren  aufs  Ästhetische  hin  und  ein  Stilisieren 
aufs  Ethische  hin.  Jenes  will  nur  die  Schönheit  geben, 
das  Häßliche  möglichst  unterdrücken,  dieses  will  möglichst 
alles  unsittliche  fernhalten  und  nur  moralisch  wert- 
volle Taten  und  Charaktere  zeichnen.  In  Wirklichkeit  ist, 
wie  überall  in  Psychologicis,  auch  hier  eine  scharfe  Scheidung 
nicht  zu  machen.  Die  ästhetischen  und  ethischen  Urteile 
hängen,  wenigstens  soweit  es  sich  um  Motive  aus  dem 
Menschenleben  handelt,  ganz  untrennbar  zusammen.  Bei 
einfachen  Sinneseindrücken,  bei  einer  Farbenkombination, 
einem  Akkord  kann  man  rein  ästhetische  Werturteile  fällen. 
Bei  der  Beurteilung  von  Menschen  und  ihren  Handlungen 
kommen  stets  ethische  Urteile,  wenn  auch  unbewußt,  hinzu. 
Auch  gehen  ja  im  Leben,  in  der  lebendigen  Sprache  die 
Epitheta  ethica  und  die  Epitheta  aesthetica  beständig  durch- 
einander. Statt  zu  sagen,  einer  hat  unmoralisch  gehandelt, 
sagt  man  auch,  das  war  „häßlich"  von  ihm,  und  eine  edle 
und  gute  Tat  nennt  man  auch  eine  „schöne".  Auch  wenn 
ein  Nietzscheaner  einen  brutalen  Mörder,  eine  blonde  Bestie 
ästhetisch  zu  bewundem  glaubt,  so  beruhen  diese  ästhe- 
tischen Urteile  doch  zum  guten  Teil  mit  auf  moralischen, 
wenn  auch  auf  der  Privatmoral  des  Betreffenden  angehörigen 
Urteilen. 

Indem    nun    der    Dichter    aber    bewußt   seine   Helden 


Die  Bedeutung  des  Ästhetischen  für  die  Ethik.  457 

idealisiert^  so  stellt  er  damit  Vorbilder  hin;  denn  das  ist 
im  letzten  Grande  die  Absicht  alles  Idealisierens.  Die 
ethische  Wirkung  dieser  Art  von  Kunst  wird  also  in  erster 
Linie  in  der  Anregung  zur  Nachahmung  auf  den  Zuschauer 
zu  suchen  sein.  Natürlich  wird  der  große  idealisierende 
Dichter  dieses  Idealisieren  nie  soweit  treiben,  daß  er  lauter 
weiß  in  weiß  gemalte  Engel  vorfuhrt.  Solche  Puppen  ver- 
Heren die  Blusionsf&higkeit  und  damit  auch  die  Anregungs- 
krait  zur  Nachahmung.  Auch  ein  so  entschieden  ethisch 
wie  ästhetisch  idealisierender  Dichter  wie  Schiller  ist  nur 
ganz  selten  in  diesen  Fehler  verfallen.  Zudem  aber  kommt 
auch  der  idealisierende  Dichter  niemals  ganz  ohne  un- 
moralische Motive  und  Charaktere  aus.  Ein  Gemälde  mit 
lauter  Liohteffekten  ohne  Schatten  gibt's  eben  nicht.  Dafür 
nun,  daß  solche  Darstellungen  unmoralischer  Charaktere 
nicht  verschlechternd  auf  das  Publikum  wirken,  hat  man 
das  erfunden,  was  man  poetische  Gerechtigkeit 
nannte,  daß  nämlich  am  Ende  des  Dramas  die  schlechten 
Charaktere  alle  ihren  Weg  aufs  Schafott  oder  in  Elend  ge- 
fanden haben,  die  guten  dagegen  durch  eine  reiche  Heirat 
oder  einen  Königsthron  belohnt  worden.  Dadurch  suchte 
man  jene  unmoralischen  Einflüsse  zu  verhindern.  Das  naive 
Publikum,  das,  wie  bereits  gesagt,  an  alles  in  erster  Linie 
einen  ethischen  Maßstab  legt  —  schon  weil  es  meist  gar 
keinen  ästhetischen  besitzt  — ,  verlangt  darum  auch  stets 
mit  Entschiedenheit  die  Belohnung  der  Tugend  und  Be- 
strafung der  Bösewichter.  Darum  lassen  auch  solche  Autoren, 
die  auf  die  Instinkte  der  Masse  rechnen,  wie  Kolportage- 
romanschreiber, stets  die  Tugend  zuletzt  siegen.  Aber  auch 
von  Leuten,  die  sich  ihres  ästhetisch  gebildeten  Urteils 
rühmten,  ist  es  seinerzeit  mit  aller  Energie  getadelt  worden, 
daß  in  einem  Stücke  wie  Gerhart  Häuptmanns  „Biberpelz" 
die  Übeltäterin  nicht  die  nötige  Strafe  empfangt.  Für  den 
wirklich  ästhetisch  durchgebildeten  Menschen  mit  weitem 
Blick  wird  das  wenig  ausmachen  —  er  wird  sich  sicherlich 
nicht  zum  Stehlen  durch  jenes  Lustspiel  verleiten  lassen  — 
er  weiß,  daß  es  im  Leben  nicht  immer  eine  solche  immanente 


458  Rieh.  Müller-Freienfela: 

Gerechtigkeit  gibt.  Ihm  kommt  es  auf  die  Qltifiionskraft 
und  psychologische  Sicherheit  der  Zeichnung  an,  und  er 
nimmt  für  derartige  Werte  gern  das  moralische  Unbehagen 
über  den  Triumph  des  Bösen  in  Kauf,  freut  sich  vielleicht 
auch  des  angeführten  Dummstolzes.  Aber  die  Wirkung  auf 
den  unklaren  und  urteilslosen  Kopf  ist  eben  eine  andere  — 
das  mag  vom  ästhetischen  Standpunkt  aus  bedauerlich  sein, 
der  Psychologe  und  Ethiker  kann  davor  die  Augen  nicht 
verhüllen.  Das  Wertherfieber  oder  die  Verwirrung,  die 
Schillers  „Räuber"*  anrichteten,  sind  Zeugen  für  derartige 
bedauerliche  moralische  Wirkungen  ästhetisch  guter  Stücke 
auf  unreife  Hirne.  Es  wird  daher  immer  bei  manchem 
Vorwurf  und  manchem  Dichtwerk  der  ästhetische  Wert  mit 
der  ethischen  Wirkung  —  wenigstens  auf  urteilsloses  Volk  — 
scharf  divergieren. 

Man  mag  vielleicht  leugnen,  daß  eine  derartig  intensive 
Wirkung  überhaupt  mit  Kunst  noch  etwas  zu  tun  habe ; 
man  kann  sagen,  sie  laufe  jener  Interesselosigkeit,  jener 
Objektivität  des  Zuschauers  zuwider,  die  das  Wesen  des 
künstlerischen  Genießens  ausmacht.  In  Wirklichkeit  sind 
wir  alle,  soweit  wir  uns  der  Wirkung  von  Dichtwerken  aus- 
setzen, diesen  Einflüssen  unterworfen.  Besonders  wenn  wir 
uns  längere  Zeit  und  vertiefend  in  eine  Dichtung  versenken, 
so  daß  aus  dem  einmaligen  Anklingen  des  Gef&hls  eine 
Gewöhnung  wird,  kann  die  ethische  Wirkung  einer 
Dichtimg  ganz  bedeutend  sein,  besonders  in  jüngeYen  Jahren, 
wo  Charakter  und  Willen  noch  biegsam  sind. 

In  der  Tat  lassen  sich  auch  historisch  solche  Einflüsse 
der  Dichtung  aufzeichnen,  daß  in  ganzen  Völkern  durch  die 
Poesie  Umformungen  des  Gefühlslebens  vorgekommen  sind. 
Es  ist  das  natürlich  so  zu  denken,  daß  einzelne  Individuen 
geboren  werden  und  sich  herausentwickeln,  die  mit  be- 
sonderen Anlagen,  verfeinerten  und  intensiveren,  ausgestattet 
sind,  und  die  nun  in  der  Dichtkunst  ein  Mittel  haben,  diese 
Gefühle  anderen  zu  suggerieren.  Eine  Geschichte  der  Ent- 
wicklung des  ethischen  Gefühls  würde  das  wohl  am  deut- 
lichsten erhellen.    Gewiß  setzen  die  Dichtungen,  um  wirken 


Die  Bedeutung  des  Ästhetischen  für  die  Ethik.  459 

zu  können,  bereits  einen  vorbereiteten  Boden  voraus,  aber 
sie  gestalten  ihn  dann  wieder  weiter  um.  Manche 
Ethnologen  sind  überhaupt  geneigt,  der  Poesie  die  größte 
Bolle  in  der  Verfeinerung  des  erotischen  Lebens  zu- 
zuerteilen  *). 

mm 

Ahnlich  ist  es  mit  allen  anderen  Gefühlen.  Ich  nenne 
noch  das  Naturgeftihl,  das  so,  wie  es  heute  bei  uns  ist,  in 
früheren  Jahrhunderten  gar  nicht  bekannt  war.  Erst  Rousseau 
hat  hier  auslösend  gewirkt,  und  wie  eine  Epidemie  breitete 
sich  dann  auf  einmal  die  Naturschwärmerei  über  ganz  Europa 
aus.  In  neuerer  Zeit  kommt  dann  noch  die  Landschafts- 
malerei verstärkend  hinzu,  und  ganze  Q-egenden  sind  in 
ihrer  Schönheit  durch  einzelne  Künstler  erst  ftLr  das 
ästhetische  Gefiihl  des  Publikums  entdeckt  worden. 

Die  Richtungen  nun,  nach  denen  auf  diese  Weise  von 
den  Poeten  aufs  Gefühl  ihres  Publikums  einzuwirken  versucht 
wurde,  die  Ideale,  nach  denen  hin  man  idealisierte,  liegen 
oft  weit  auseinander.  Wir  halten  es  im  allgemeinen  für 
imkünstlerisch,  wenn  man  eine  Absicht  in  Dichtungen  merkt, 
wenn  die  Moral  allzu  dick  aufgetragen  ist,  und  wir  urteilen 
über  solche  Tendenzstücke  sehr  hart,  mögen  sie  nun  die 
christliche  Moral  predigen  oder  die  Emanzipation  des 
Fleisches  oder  das  NiETZSCHEsche  Übermenschentum.  Trotz- 
dem stecken  in  fast  allen  Dichtungen,  wenn  auch  nicht 
ezplicite,  sondern  nur  implicite,  moralische  Werte-,  mögen 
sie  nun  bewußt  oder  unbewußt  hineingetan  sein.  Das 
„rart  pour  l'art"  ist  eine  unmögliche  Forderung.  Wie  jeder 
Mensch,  er  mag  wollen  oder  nicht,  in  seinem  Handeln 
irgendeine  Moral  offenbart,  die  sich  ebenso  gut  impera- 
tivisch  wie  indikativisch  aussprechen  läßt,  so  gehen  auch 
von  jedem  Kunstwerk,  hauptsächlich  durch  die  oben  be- 
schriebene Nachahmung,  moralische  Wirkungen,  das  heißt 
Wirkungen,  die  unser  Gefühl  und  damit  unseren  Willen 
und  unser  Handeln  beeinflussen,  aus.    und  wir  werden  Jean 


^)  So  wagt  Gbosse  (in  „Anfänge  der  Kunst*')  das  Paradoxon,  nicht 
die  Liebe  habe  die  Kunst  erzeugt,  sondern  die  Kunst  die  Liebe,  wenn 
man  dabei  an  das  verfeinerte  SexualgefOhl  denkt. 


460  Rieh.  Mnller-Freienfels: 

Paul  beipflichten  müssen,  der  einmal  sich  geäußert  hat: 
„Wenn  auch  Bücher  nicht  gut  oder  schlecht  machen,  besser 
oder  schlechter  machen  sie  doch." 

vn. 

Wir  haben  am  Beispiel  der  Musik  möglichst  scharf  die 
formalen  Wirkungen,  am  Beispiel  der  Poesie  möglichst  klar 
die  inhaltlichen  Wirkungen  der  Künste  deutlich  zu  machen 
gedacht.  In  den  noch  übrig  bleibenden  Künsten:  Archi- 
tektur, Skulptur  und  Malerei  überwiegt  nicht  so  sehr 
das  eine  oder  andere,  sollte  wenigstens  es  nicht  tun.  Tat- 
sächlich nämlich  liegt  die  Sache  wohl  anders,  denn  auch 
hier  überwiegt  in  seiner  Wirkung  das  Inhaltliche.  Seit 
einem  halben  Jahrhundert  bereits  wird  von  Künstlern  und 
ihren  literarischen  Freunden  mit  aUer  Energie  jene  Ge- 
wohnheit des  Publikums,  in  den  Kunstwerken  nur  den  Inhalt 
zu  sehen,  bekämpft,  aber  der  Erfolg  ist  gering.  Zwar  unter 
den  Künstlern  selber  hat  man  sich  darauf  besonnen,  daß 
Malen  nicht  nur  ein  ungefähres  Umreißen  von  allerlei 
poetischen  Vorstellungen  ist,  sondern  daß  Malen  in  erster 
Linie  Wirkung  durch  Farben  und  Linien  als  solche 
und  nur  daneben  auch  Wirkung  durch  deren  Bedeutung 
ist.  Der  Erfolg  ist  nicht  groß.  Einer  der  feurigsten  Vor- 
kämpfer dieser  Anschauxmg,  Meier-öräfe,  bringt  am  Schlüsse 
seines  letzten  und  reifsten  Werkes  *)  eine  Art  Vision,  worin 
er  mit  wenig  Worten  darzustellen  sucht,  wie  wohl  Menzels 
Begräbnis  ausgesehen  hätte,  wenn  er  niu:  der  Maler  delikater 
Interieurs  und  koloristisch  ausgezeichneter  Werke  in  der 
Art  seines  „Theatre  Gymnase"  geworden  wäre,  also  nur 
Farben-  und  Formkünstler,  ohne  den  patriotischen,  histo- 
rischen und  genrehafben  Inhalt  der  Spätwerke.  Kein  Be- 
gräbnis erster  Klasse  wäre  ihm  geworden,  meint  Meier- 
Gräfe,,  keine  Fräcke,  keine  Talare  und  keine  Pickelhauben 
hätten  ihn  zur  letzten  Ruhe  geleitet,  nur  ein  paar  junge 
Menschen  ohne  Zylinder  wären  mitgekommen  —  Künstler. 

')  J.  Mkier-GhXfe,  Der  junge  Menzel.    Leipzig  1907.    S.  271. 


Die  Bedeutung  des  Ästhetiflohen  für  die  Ethik.  461 

So  sieht  einer  der  begeistertsten  Vorkämpfer  der  formalen 
Werte   in   der  bildenden  Kunst  ihren  Einfltrßbereich.    Nur 
ein  par  Künstler  verstünden  sie  zu  würdigen.    Man  mag  das 
mit  Meier- Gräfe  sehr  bedauern,  daß  so  das  Verständnis  für 
das  Feinste   der  Kunst  der  Menge  verschlossen  bleibt,    der 
Psychologe  mufi  es  als  eine  Tatsache  hinnehmen,  und  wenn 
er  nach  den^  ethischen  Werten ,   die  die  Kunst  zu  bringen 
vermag,  seine  Frage  stellt,  wird  er  über  die  formalen  Werte 
schnell  hinweg  gehen   müssen.    Nicht,  weil    die  formalen 
Werte  nicht  wirken  könnten,   sondern  nur  weil  sie  eben 
tatsächlich  nur  einen  beschränkten  Wirkungsbereich  finden. 
In   der  Art  ihrer  Wirkung  stehen  die  formalen  Werte 
in  der  Malerei  den  musikalischen  Wirkungen  nahe,  nur  daß 
diese   „Musik  färs  Auge"   für   die  meisten   Menschen  viel 
weniger  intensiv  wirkt  als  die  „Musik  färs  Ohr",   dafi  also 
ihr  ethischer  Wert  auch  im  selben  Verhältnis  geringer  ist. 
Anders    dagegen    steht    es    mit    der    inhaltlichen 
Wirkung  der  bildenden  Künste,   die  in  ähnlicher  Weise  in 
Erscheinxmg  tritt  wie  die  der  Dichtkunst,  nur  daß  sie  unter 
Umständen  infolge  der   sinnlichen  Stärke  noch  intensiver 
einschlägt.     Wie  bei  der  Dichtkunst  handelt  es  sich  auch 
hierum  ein  Nacherleben  des  Dargestellten  und  der  darin 
zum  Aasdruck  kommenden  Gefiihle,  und  hier  wie  dort  wirkt 
die  Kunst  einmal  auflockernd,  indem  sie  unser  Gefühls- 
leben durch  Übung  und  Einspielen  beweglich  und  lebendig 
erhält,    anderseits    aber   kommt   auch   der  Anreiz    auf  die 
Nachahmung  als  solcher  für  den  Ethiker  in  Betracht.   Indem 
ich  eine  Anzahl  Kimstblätter   durch  meine  Hände  gleiten 
lasse  und  mich  in  ihren  AnbHck  versenke,  werden   eine 
Menge  Stimmungen  in  mir  erregt,  mein  Gefühlsleben  wird 
erweitert,   vertieft  und   bereichert,   wird   aufgelockert, 
wie  ich   sagte,  und   dieser  Erweiterung  und  Bereicherung 
des  Gefühlslebens  kommt  ein  ethischer  Wert  zu,  weil  es 
nicht  gleichgültig  für  mein  Handeln  ist,  wie  es  um  mein 
Gefühlsleben   steht,   ob   dies  stumpf  oder  leichter  erregbar 
ist.     Aber  auch   die  Art  der  Gefühle,   die   erregt  werden, 
kommt  ethisch  in  Betracht.     Da  die  überwiegende  Anzahl 


462  Eich.  Müller-Freienfels: 

der  großen  Kunstwerke  schöne  und  edle  Gestalten  darstellt, 
und  ich,  indem  ich  diese  „innerlich  nachahme''^),  auch 
qualitativ  Einflüsse  auf  mein  Geföhlsleben  erfahre,  so 
fallt  auch  diese  Nachahmung  in  den  Bereich  der  Ethik. 

Es  bleibt  nun  noch  eine  Frage  zu  erörtern,  die  in  allen 
Zeiten  viel  Staub  au%ewirbelt  hat  und  auch  in  neuester 
Zeit  bei  Gelegenheit  der  „lex  Heinze"  viel  Druckerschwärze 
hat  fließen  lassen.  Neben  jenen  oben  beschriebenen  Gefühls- 
wirkungen der  Kunstwerke,  die  rein  ästhetisch,  das  heißt 
„interesselos"  sind,  gehen  besonders  von  Malereien  und 
Plastiken  auch  noch  Wirkungen  aus,  die  die  niederen  Sinne 
bei  ästhetisch  nicht  gebildeten  Individuen  in  nicht  wünschens- 
werter Weise  afifizieren.  Es  ist  da  besonders  die  Dar- 
stellung des  Nackten,  die  ja  ästhetisch  gar  nicht  zu 
streichen  ist,  deren  ethische  Wirkungen  jedoch  zu  Bedenken 
stimmen.  Denn  ohne  jede  Frage  wird  in  vielen  nicht 
hervorragend  gebildeten  Individuen  der  Sexualinstinkt  heftig 
durch  solche  Bilder  erregt. 

Der  Ethiker  und  Psychologe  muß  diese  Tatsache  unter 
besonderer  Beachtung  des  ümstandes  ansehen,  daß  die 
Sexualgefähle  in  unserer  Kultur  vielfach  eine  Sonderstellung 
einnehmen.  Sie  sind  nicht  an  sich  verwerflich  —  obwohl 
die  christliche  Ethik  jahrhundertelang  zu  dieser  Anschauung 
neigte  — ,  sie  sind  aber  auch  nicht  der  Art,  daß  man  im 
allgemeinen  ihre  Reizung  und  Steigerung  fiir  wünschenswert 
halten  dürfte.  Denn  wie  die  Sachen  in  imseren  Kultur- 
zuständen nun  einmal  liegen,  ist  die  Befriedigung  solcher 
Triebe  und  ihre  Folgen  fiir  viele  Menschen  sowohl  för  sich 
selbst  als  auch  für  andere  von  gi'oßen  Mißständen  begleitet. 
An  Künstlern  ganz  verschiedener  Art  hat  man  die  „heid- 
nische Sinnlichkeit"  gerühmt.  Klingt  diese  jedoch  in 
ästhetisch  unentwickelten  Menschen  an,  beeinflußt  sie  tiefer 
deren  Geftlhlsleben  und  damit  ihr  Wollen  und  Handeln,  so 
können  daraus  schwere  moralische  Schäden  entstehen.  An 
und  für  sich  betrachtet,  wenn   diese  Folgen  nicht  wären, 

^)  Ausdruck  nach  Gboos,  Der  ästhetiache  Genuß.    Gießen  1904. 
Ä  179  ff. 


Die  Bedeutung  des  Ästhetischen  für  die  Ethik.  463 

brauchte  man  sich  über  die  Erregung  sexueller  Triebe  nicht 
mehr  zu  grämen,  als  darüber,  daß  etwa  jemandes  Appetit 
durch  ein  wacker  gemaltes  Stilleben  angeregt  wird.  Aber 
es  sind  eben  die  Folgen,  die  die  Sonderstellung  der  sexuellen 
Triebe  und  Handlungen  bedingen.  Vom  ethischen  Stand- 
punkte aus  mufi  man  sagen,  daß  im  allgemeinen  eine  Er- 
regang  der  Sexnalinstinkfce  mögUohst  zu  vermeiden  wäre, 
aber  es  wird  das  wohl  stets  ein  Eonfliktspimkt  zwischen 
Ästhetik  und  Ethik  bleiben.  Denn  wenn  wir  auch  sicherHch 
nicht,  wie  manche  sich  radikal  dünkende  Theoretiker  wollen, 
den  Sitz  alles  Eunsttriebes  im  Unterleib  suchen,  daß  tiefe 
Zusammenhänge  des  erotischen  Lebens  und  künstlerischen 
Schaffens  bestehen,  ist  nicht  zu  leugnen.  Daher  ist  denn 
auch  fast  der  überwiegende  Teil  der  bildenden  Kunst  wie 
der  Poesie  irgendwie  mit  erotischen  Gefühlen  durchtränkt, 
löst  also  auch  solche  im  Genießenden  aus,  und  dem  wird 
immer  so  sein.  Was  viele  Künstler  von  einer  möglichst 
unbefangenen  Behandlung  des  Nackten  in  ethischer  Beziehung 
erhoffen  —  größere  Unbefangenheit  auch  im  Zuschauer  zu 
erziehen,  wird  praktisch  für  die  Mehrzahl  nur  ein  schöner 
Wunsch  bleiben.  Wir  leben  eben  nicht  in  paradiesischen 
Zuständen,  xmd  schon  die  Hygiene  macht  es  uns  unmöglich, 
daß  das  Nackte  unbedingt  als  das  Natürliche  erscheint.  Für 
die  große  Masse  wird  stets  das  Nackte  erotische  Gefühle 
auslösen. 

Das  alles  sind  Tatsachen,  die  der  Psychologe  aufzeigen 
und  etwas  erklären  kann,  für  deren  Abänderung  aber  auch 
er  kein  Kräutlein  wachsen  lassen  kann. 

vm.  ^ 

Zwei  psychologische  Wirkungen  der  Kunst  waren  es 
besonders,  die  uns  überall  entgegen  traten  und  auf  welche 
der  Ethiker  zu  achten  hat:  einmal  die  rein  dynamische 
Auflockerung  des  ganzen  Gefühlslebens,  wobei  die 
Qualität  der  erregten  Gefühle  ziemlich  gleichgültig  ist, 
anderseits  aber  die  besondere  Einübung  und  Ein- 
spielung ganz  bestimmter  Seiten  des  Gefühls- 


464  Rieh.  Maller-Freienfels: 

lebens,  was  ich  als  die  auswählende  Wirkung  der 
Kunst  bezeichnen  wilL  Während  die  dynamisoh-auf  lockernde 
Wirkung  mehr,  wenn  auch  nicht  ausschliefllich  von  der 
formalen  Seite  des  Kunstwerks  ausgeht,  ist  es  mehr  der 
Inhalt,  der  jene  bevorzugte  Einübung  einzelner  Gefähle 
zuwege  bringt. 

Aber  es  bleibt  noch  eine  dritte  Wirkung  der  Kunst  zu 
beachten,  die  für  den  Ethiker  von  Wichtigkeit  ist,  eine 
Wirkung,  die  zwar  zum  Teü  auf  den  beschriebenen  Einzel- 
wirkungen beruht,  als  Ganzes  jedoch  selbständige  Be- 
deutung hat. 

Ich  meine  damit,  daß  es  von  großem  ethischen  Werte 
für  den  Menschen  ist,  daß  ihm  ein  Gebiet  offen  steht,  auf 
dem  er  sozusagen  eine  Freistatt  findet  vor  den  Aufregungen 
und  Mühen  des  praktischen  Lebens,  einen  Tempel  gleichsam, 
wohin  er  sich  flüchten  kann  aus  dem  Lärm  und  Staub  des 
Alltags  zur  Klärung,  Sammlung  und  Erhebung.  Ich  will 
diese  Wirkung  einmal  die  erhebende  und  befreiende 
nennen.  Sie  ist  zwar  mitbedingt  durch  die  auflockernde, 
dadurch,  daß  leicht  und  rasch  überhaupt  in  uns  Gefühle 
zum  Erklingen  gebracht  werden,  sie  ist  auch  bedingt  durch 
die  auswählende  Wirkung  der  Kunst,  daß  eben  bestimmte 
Gefiihle  zum  Anklingen,  andere  zum  Schweigen  gebracht 
werden  — ,  als  Ganzes  ist  sie  jedoch  etwas  Neues.  Diese 
erhebende  Wirkung  ist  es,  welche  die  Kunst  der  Religion 
so  nahe  bringt.  Dadurch,  daß  sie  in  uns  Gefühle  erregt, 
an  die  sich  keine  Scheu  und  keine  Unruhe  tar  die  Zukunft 
knüpfen,  Gefühle,  die  losgelöst  sind  vom  alltäglichen 
Interessenkreis,  befreit  sie  uns.  „Es  ist  die  Schönheit, 
durch  die  man  zur  Freiheit  wandelt^ ,  um  mit  Schiller  zu 
reden.  Indem  sie  so  unsere  Interessen  loslöst  vom  Klein- 
lichen und  Materiellen,  wirkt  sie  zugleich  ethisch  erhebend 
und  bessernd. 

Zwei  verschiedene  Gottheiten  jedoch  sind  es,  je  nachdem, 
die  in  dem  Reiche,  in  das  uns  die  Kunst  geleitet,  gebieten 
werden,  Apollo  oder  Dionysos.  Es  ist  entweder  das  Land 
des  Traumes  oder  das  Land  des  Rausches.    Friedrich 


Die  Bedeutung  des  Ästhetischen  für  die  Ethik.  4G5' 

!NiETZSCH£^)  hat  zuerst  diese  ünterscheidang  gemacht  in 
seiner  halb  dichterisohen  Weise,  aber  seine  poetische  Vision 
ist  psychologisch  sehr  wohl  zu  fiindieren.  Ins  Land  des 
Traomes  fahlen  wir  uns  versetzt,  wenn  mehr  die  aus- 
wählende Wirkung  der  Kunst  zur  Geltung  kommt,  wenn 
gewisse  häßliche  und  trabe  Erscheinungen  des  Daseins 
zurückgedrängt  oder  doch  nur  als  notwendige  Schatten  im 
Dienst  eines  ästhetischen  Ganzen  verwandt  werden;  ins  Land 
des  Bausches  Aihrt  uns  mehr  die  auflockernde  dyna- 
mische Wirkung  der  Kunst,  die  die  Intensität  aller  unserer 
Geföhle  steigert,  wie  das  oben  besonders  am  Beispiel  der 
Musik  nachgewiesen  wurde.  Doch  müssen  stets  beidQ 
Wirkungen  zusammen  kommen,  die  dynamisch- verstärkende 
und  die  qualitativ  auswählende,  um  ein  ganz  großes  Kunst- 
erlebnis in  uns  zu  wirken.  Naturgemäß  knüpft  sich  die 
apollinische  Wirkung  mehr  an  die  bildende  Kunst,  während 
die  Musik  vor  allem  die  dionysische  Kunstart  ist.  Die 
Dichtung  bewirkt,  je  nachdem,  die  eine  oder  andere 
Stimmung. 

Für  die  Ethik  nun  ist  auch  diese  erhebende  Gesamt- 
wirkung der  Kunst  von  hoher  Bedeutung.  Dieses  Heraus- 
treten aus  dem  engen  Gedanken-  und  Gefühlskreise  des 
Alltags  bewirkt  im  Einzehien  eine  Erweiterung  des  Gefühls- 
lebens, sie  bewahrt  ihn  vor  Kleinlichkeit  und  fuhrt  ihn  nahe 
heran  an  die  Sphären  der  religiösen  Gefiihle. 

Freilich  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  gerade  diese  Wirkung 
der  Kunst  auch  vom  ethischen  Standpunkte  aus  zuweilen 
negativ  bewertet  werden  muß.  Gerade  weil  die  Kunst  uns 
herausAihrt  aus  dem  Leben  des  Alltags,  kann  sie,  wenn  es 
im  Übermaß  geschieht,  diesem  Leben  entfremden.  Dem- 
jenigen, der  allzuviel  in  dionysischen  Räuschen  zu  leben 
gewohnt  ist,  erscheint  das  alltägliche  Leben  blaß  und  matt ; 
demjenigen,  der  sich  zu  viel  in  apollinischen  Träumen  ge- 
wiegt, dünkt  der  Alltag  häßlich  und  gemein.  Beides  muß 
natürlich  untüchtig  zum  Leben  machen.    Psychologisch  aus- 


*)  NiBTzscHE,  Geburt  der  Tragödie,  Kap.  1  ff. 


466  Rieh.  Mflller-Freienfela. 

gedrückt  würde  es  heifien,  daß  die  Kirnst  in  uns  Greföhle 
auslöst,  die  sich  niclit  oder  nnr  auf  ganz  weiten  ümw^;eii 
in  Handlungen  umsetzen,  daß  also  der  natürliche  Reflex- 
bogen,  der  von  Eindruck  zur  Reaktion  und  Aktion  föhrt, 
auf  die  Dauer  gestört  würde,  daß  die  Gewolinlieit  des  Nicht- 
reagierens  zur  Schwäche  und  Energielosigkeit  föhrt  Daß 
derartiges  oft  im  Leben  geschieht,  ist  nicht  zu  leugnen. 
Jene  Dame,  die  im  Konzert  in  den  höchsten,  ätherischsten 
Gefühlen  schwelgt,  während  drunten  ihr  Kutscher  im  Schnee 
erfiiert;  jene  andere  Romanleserin,  die  über  das  Schicksal 
von  Hans  und  Grete,  die  sich  nicht  heiraten  können,  bittere 
Tränen  vergießt,  während  sie  selber  kein  Gtefithl  für  das 
wirkliche  Leiden  in  ihrer  nächsten  Nachbarschaft  hat,  sind 
solche  Beispiele.  Aber  der  Mißbrauch  eines  Gutes  braucht 
nichts  gegen  dieses  an  sich  auszusagen. 

Auf  der  befreienden  Wirkung  beruht  auch  die  thera- 
peutische Macht  der  Kunst,  im  besonderen  der  Musik  als 
der  intensivsten  der  Künste.  Schon  Saul  empfand  Davids 
Harfenspiel  so,  die  griechischen  Ärzte  verwandten  die  Ton- 
kunst zu  medizinischen  Zwecken,  und  bis  in  die  neueste 
Zeit  wird  das  von  Medizinern  empfohlen^). 

Jedenfalls  aber  darf  der  Ethiker  auch  diese  Einwirkung 
der  Kunst,  die  unser  Geföhlsleben  aus  der  engen  Alltags- 
atmosphäre emporhebt,  nicht  außer  acht  lassen,  wie  sich 
die  Priester  fast  aller  Religionen  und  Kulte,  die  immer  gute 
praktische  Psychologen  waren,  sich  stets  diese  Wirkung  ge- 
sichert haben,  um  auf  das  Geföhlsleben  ihrer  Gemeinde  ein- 
zuwirken. 

Diese  drei  Wirkungen,  die  auflockernde,  auswählende 
und  befreiende,  siud  die  drei  Hauptarten  der  Ein- 
Wirkungen  des  Ästhetischen  auf  das  Gefühlsleben  und  damit 
auf  den  ethischen  Bestand  des  Menschen.  Wie  sich  diese 
drei  Wirkungen  im  einzelnen  Falle  gezeigt  haben  oder  sich 
zeigen  sollen,  das  au&mweisen  ist  Sache  der  historischen 
respektive  der  normativen  Ethik. 

')  VgL  RiBOT,  Psychologie  des  sentiments,  S.  107. 


Ber  m.  internattonale  PlillosophenkongreS. 

Von  Kimo  Mlttenxwey,  Weimar. 

Wenn  im  folgenden  über  denlU.  internationalen  Kongreö 
för  Philosophie  zu  Heidelberg  berichtet  werden  soll,  so 
kann  meine  Aufgabe  nicht  sein,  von  jedem  gesprochenen 
Wort  gleichmäßig  Notiz  zu  nehmen.  Abgesehen  davon,  dafi 
schon  die  Gleichzeitigkeit  vieler  Veranstaltungen  mir  dies 
unmöglich  gemacht  hätte,  wird  solch  objektives  Bild  des 
Kongresses  zu  geben  die  Aufgabe  des  großen  ofGiziellen 
Kongreßberichtes  sein,  während  in  einer  gedrängten  Dar- 
stellung mitunter  ein  charakterisierendes  Wort  die  bessere 
Anschaulichkeit  verbreiten  wird.  Aber  noch  weniger  kann 
es  auf  der  anderen  Seite  meine  Aufgabe  sein,  den  Bericht 
etwa  in  die  subjektive  Sphäre  eines  Stimmungsbildes  zu 
verflüchtigen,  und  geu:  von  Ausflügen  und  Tischreden^ 
Schlofibeleuchtung  und  Sonderzug  L  EQasse  zu  erzählen. 
Der  unvermeidliche  subjektive  Faktor  dieses  Berichtes  wird 
sich  im  wesentlichen  beschränken  auf  die  Auswahl  der  Vor- 
träge, die  von  den  über  150  gehaltenen  hier  genannt  werden, 
und  da  soll  gleich  jetzt  betont  werden,  daß  diese  Auswahl 
nicht  sowohl  durch  Wertung  als  durch  äußere  Verhältnisse 
bestimmt  ist.  Da  die  Sektionen  gleichzeitig  verhandelten,, 
galt  es  in  jedem  Augenblick  zu  wählen  und  zu  suchen,  und 
oft  mußte  man  die  Wahl  seinem  Instinkt  oder  dem  Zufall 
anvertrauen.  Darum,  wenn  manch  einer  in  diesem  Bericht 
vielleicht  gerade  das  Bedeutendste  vermissen  wird,  was  er 
auf  dem  ganzen  Kongreß,  sei  es  aus  fremdem  oder  aus 
eigenem  Mimde,  vernommen  hat,  so  mag  er  versichert  sein, 
daß  der  Berichterstatter  am  meisten  bedauert,  wenn  ihm 
Wertvolles  entgangen  ist. 

ViertolJAhrsMhrift  f. wiiMnschAftl.  PhUos.  n.  Sozfol.  XXXII.  4.         80 


44j8  K.  Mittenzwey: 

L 

Schon  bei  der  ofißziellen  Eröffirang  des  Kongresses  am 
1.  September  (am  Abend  vorher  war  ein  Begrofinngsabend 
vorangegangen)  konnte  man  bemerken,  daß  der  Kongreß 
tatsächlich  ein  internationaler  war.  und  zwar  waren  auf- 
fallend zahh-eich  vertreten  die  Franzosen,  deren  Initiative 
ja  die  Kongresse  hauptsachlich  zu  verdanken  sind.  BYeilich 
hatte  Henri  Bergson  leider  wegen  Krankheit  abgesagt,  aber 
in  der  vornehmen  und  liebenswürdigen  Gestalt  Emile 
BoüTBOUx'  fand  der  französische  Geist  eine  würdige  Ver- 
tretung. Den  Franzosen  gegenüber  waren  die  Wirte  des 
Kongresses,  die  Deutschen,  verhältnismäßig  ungenügend  ver- 
treten. Aus  Berlin  fehlten  Riehl  und  Stumpf,  Leipzig  fehlte 
vollkommen,  die  Marbuiger  Neukantianer  suchte  man  ebenso 
vergeblich  kennen  zu  lernen  wie  die  Greifswalder  Immanenzler, 
und  die  schlimmste  Einbuße  fiir  die  Repräsentanz  deutscher 
Philosophie  war,  daß  Theodor  Lipps  den  deutschen  Haupt- 
vortrag („Über  den  Begriff  der  Philosophie**)  wegen  Krank- 
heit absagte.  So  wäre,  wer  die  Pflege  philosophischer  Arbeit 
nach  der  Beteiligung  am  Kongreß  hätte  bemessen  woUen, 
kaum  dazu  gekommen,  Deutschland  das  klassische  Land  der 
Philosophie  zu  nennen.  Von  den  übrigen  germanischen 
Ländern  war  England  nicht  so  stark  vertreten  wie  Nord- 
amerika, das  sich  ja  um  alle  geistigen  Ereignisse  in  dem 
alten  Europa  geschäftig  bemüht.  Hu(K)  MOnsterberg  pflegen 
wir  noch  zu  den  unseren  zu  zählen,  dagegen  traten 
F.  C.  J.  Schiller  (Oxford),  Josiah  Royce  (Harvard),  Mark 
Baldwin  (Baltimore)  und  andere  als  die  Bringer  einer  neuen, 
fremdgewachsenen  Lehre  auf.  Von  den  übrigen  Ländern 
fiel  wieder  das  romanische  Italien  durch  stärkere  Beteiligung 
auf.  Zahlreiche  Kongreßmitglieder  waren  auch  aus  den 
östlichen  Staaten  Europas  erschienen,  deren  manche  freilich 
den  Eindruck  verbreiteten,  daß  sich  dort  die  Ungeklärtheit 
nicht  bloß  auf  die  politischen  Verhältnisse  beschränkt. 

Zum  ersten  Male  hörte  man  die  Probleme,  die  den 
Kongreß  beschäftigen  sollten,  anklingen  in  der  Ansprache 
des  Geh.  Kirchenrats  Professor  Tröltzsch  (Heidelberg),  der 


Der  m.  internationale  Philosophenkongrefi.  469 

im  Namen  des  Prorektors  den  Kongreß  begrüßte.  (Voraus- 
gegangen waren  Begrüßungsansprachen  Sr.  Exzellenz  des 
Ministers  von  Mabschall  und  des  Oberbürgermeisters 
Dr.  WiLCKBNS.)  Tröltzsch  hat  auf  dem  Kongreß  selbst  zu 
einem  Vortrag  leider  das  Wort  nicht  genommen,  um  so  be- 
deutsamer waren  die  Gedanken,  die  er  in  dieser  Begrüßungs- 
ansprache ausdrückte  und  wie  ein  würdiges  Motto  vor  die 
Kongreßverhandlungen  setzte.  Wenn  es  wahr  ist,  daß  aller 
zusammenfassende  Abschluß  und  Zusammenhang  unseres 
£rkennens  irgendein  Element  der  Philosophie  enthält,  dann 
strebt  xmsere  ganze  Hochschule  bewußt  oder  unbewußt  nach 
Philosophie.  Aber  es  gibt  zwei  Arten  von  Philosophie.  Es 
gibt  eine  Philosophie,  die  nichts  ist  als  der  Selbstgenuß  der 
Macht  des  Denkens,  und  die  von  dem  Reiche  des  Denkbaren 
and  Möglichen  aus  alles  Tatsächliche  entwertet.  Es  gibt 
aber  auch  eine  Philosophie,  die  gerade  umgekehrt  bemüht 
ist,  die  allgemeinen  Gültigkeiten  und  Grundlagen  zu  ver- 
stehen, aus  denen  jene  positiven  Bildungen  erwachsen,  und 
diese  Grundlagen  zu  vertiefen  und  fortzubilden.  Die  erste 
zerfrißt  wie  die  alles  zerleckende  Flut  die  Dämme,  die  in 
sie  hineingebaut  sind.  Die  andere  erkennt  die  Kräfte,  die 
diese  Dämme  gebaut  haben  und  hilft  zu  ihrem  Ausbau  und 
ihrer  Regulierung.  Wir  müßten  nicht  auf  literarische  Kultur 
bedachte  Männer  der  Reflexion  seiu,  wenn  wir  völlig  un- 
empfindlich wären  für  den  Reiz  der  ersteren,  abgesehen  von 
dem  Ruhme  und  der  Sensation,  die  sie  unter  Umständen 
gewährt.  Aber  mit  vollem  Herzen  willkommen  heißen  können 
wir  nur  die  zweite.  Denn  nur  in  ihr  ist  eine  fruchtbare, 
positive  Tätigkeit  möglich,  und  gerade  ein  Kongreß  in  seiner 
Intemationalität  hat  alles  'Interesse  an  einem  Verständnis 
der  Vernunft,  das  das  Positiv- Tatsächliche  begreift  xmd  aus 
der  Vernunft  es  befruchtet,  es  aber  nicht  zersetzt  oder  ersetzt 
durch  Erzeugnisse  der  Studierstube.  So  wünschen  wir 
Ihnen  eine  fruchtbare  Tätigkeit,  die  den  Gedanken  stärkt, 
ohne  das  Leben  zu  vergewaltigen.  Das  Leben  ist  größer 
als  das  Denken,  möge  Ihr  Denken  dem  Leben  dienen. 

Nachdem    sprachen    Professor   Hoops    (Heidelberg)    im 

30* 


470  K*  Mittenswey: 

Naomen  der  philoeophisckeii  FaktQtftt,  welcher  die  2ieicheii 
kündete,  dafi  die  Hegemonie  der  Natnrwissensohafiben  ^on 
einem  Zeitalter  der  Philosophie  abgelöst  werden  soU,  darauf 
der  Abgesandte  des  norwegischen  Ministerinms  Dr.  Aars, 
der  als  Beauftragter  sämtlicher  Delegierter  der  wissenschaft- 
lichen Korporationen  den  KongreSverhandlnngen  gutes  Ge- 
deihen wtinschte. 

Großer  Beifall  erhob  sich,  als  darauf  der  Präsident  des 
I.  Kongresses,  Emile  Boutroux  (Paris),  den  Kongreß  in 
deutscher  Sprache  begrüfite.  Als  der  erste  Kongreß  in 
Paris  stattfand,  konnte  es  fraglich  werden,  ob  fiir  den  Fest- 
tag ein  morgiger  Tag  zu  ho£Pen  wäre.  In  Gtenf  blühte  die 
Institution  weiter.  Wenn  ein  Ding  sich  selbst  zu  erhalten 
und  fortzusetzen  strebt,  so  braucht  man  nach  dem  Worte 
von  Leonardo  da  Vinci  keinen  weiteren  Beweis  seiner 
Existenz  zu  verlangen.  Jetzt  ist  der  Kongreß  eine  ge- 
wonnene Sache,  und  wenn  die  Zeit  kommen  wird,  wo  wir 
aus  Alt-Heidelberg  werden  scheiden  müssen,  dann  wird 
niemand  fragen,  ob  es  sich  gezieme,  auf  diesen  dritten 
Kongreß  einen  vierten  folgen  zu  lassen,  man  wird  nur  den 
Ort  des  nächsten  Kongresses  zu  bestimmen  haben. 

Den  Dank  auf  alle  diese  Begrüßungen  faßte  der  Präsident 
des  Kongresses,  Geh.  Rat  Prof.  Windelband  (Heidelberg),  in 
Worte.  So  verschieden  auch  der  Begriff  der  Philosophie 
bestimmt  wird,  so  sind  doch  in  einem  alle  einig,  die  sich 
ernsthaft  um  philosophische  Erkenntnis  bemühen:  in  dem 
Bewußtsein,  mit  der  begrifflichen  Arbeit,  die  das  formale 
Wesen  der  Philosophie  ausmacht,  mitzuwirken  an  der  ein- 
heitlichen Selbstveilassung  und  Selbstgestaltung  des  mensch- 
lichen Kulturbewußtseins.  Diese  geistige  Einheit  des  Kultur- 
lebens der  Menschheit  ist  ja  nirgends  als  abgeschlossener 
Besitz,  am  wenigsten  in  einem  einzelnen  Bewußtsein  ge- 
geben, sondern  immer  nnr  als  ein  Ideal,  eine  regulative 
Idee  im  Fortschritt  der  geschichtlichen  Menschheit  auf- 
gegeben. Auf  diese  Idee  aber  sich  zu  besinnen,  hat  die 
Menschheit  niemals  mehr  Anlaß  gehabt  als  in  unseren  Tagen. 
Denn  je  mehr  die  Portschritte  der  Naturwissenschaften  und 


Der  IIL  intematiomd«  Philoiaophenkongreß.  471 

Technik  die  Glieder  der  Menschbedt  zu  einer  Gemeinschaft 
einander  n&her  Irnngen,  mn  so  notwendiger  wird  die  Be- 
sinnung, was  denn  nun  den  letzten  Inhalt  all  dieses  welt- 
lunspannenden  Wissens  und  den  letzten  Sinn  all  dieser 
weltomgestaltenden  Tätigkeit  ausmacht.  Für  jeden  einzelnen 
ist  gerade  diese  au%eregte  Hast  der  gemeinsamen  Kultur- 
arbeit der  gebieterische  Anlaß,  darüber  das  Bewußtsein  der 
geistägen  Einheit  nicht  zu  verlieren.  Je  stäj^er  die  Ent- 
wicklung der  mächtig  entfesselten  Kräfte  die  Leidenschaften 
erregt,  um  so  mehr  ist  die  bändigende  Macht  des  Gedankens 
zu  einem  unabweisbaren  Bedürfnisse  geworden.  Wenn  wir 
an  dieser  Aufgabe  der  Selbstverständigung  einer  wahrhaft 
humanen  Gesamtkultur  mitarbeiten,  so  geschieht  es  freilich 
in  dem  Bewußtsein,  wie  wenig  die  Theorie  in  dem  Getriebe 
der  Leidenschaften  vermag:  aber  wir  dürfen  doch  im  Auge 
haben,  daß  das  Herausarbeiten  einheitlicher  Überzeugungen 
aus  dem  Gewoge  der  Ansichten  zuletzt  doch  an  die  Tiefen 
des  menschlichen  Gefühls  greift  und  sich  in  lebendige 
Wirksamkeit  umzusetzen  drängt.  Das  Zwischenglied  zwischen 
der  Philosophie  und  dem  Leben  bilden  die  einzelnen  Wissen- 
schaften, um  so  vielspältiger  diese  im  Laufe  der  Ent- 
wicklung geworden  sind,  um  so  mehr  hat  auch  hier  die 
Philosophie  die  Au%abe  der  Ausgleichung  und  Wert- 
abgrenzung. Damit  hängt  die  Vorherrschaft  des  erkeimtnis- 
theoretischen  Gepräges  zusammen,  das  die  Philosophie  seit 
Kant  trägt.  So  verschiedene  Bewegungen  aus  diesen 
wissensohaftstheoretischen  und  wahrheitstheoretischen  Be- 
strebungen entsprungen  sind,  so  stimmen  sie  doch  in  einem 
Grundzug  überein,  der  darin  den  Ausschlag  geben  wird, 
der  Beziehung  aller  theoretischen  Fähigkeit  auf  das  System 
der  Werte.  —  Zum  Schluß  gedachte  der  Redner  der  Toten 
^eit  dem  letzten  Kongresse  (Paul  Tannery,  Augusto  Conti, 
C!arlo  Antoui,  E.  v.  Hartmann,  Ed.  Zeller,  Kuno  Fischer, 
Fr.  Paulsen). 

n. 

Die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Wahrheit,  die  schon  in 
der  Windelbandschen  Bede  angeklungen  war,  wurde  dann 


472  K>  Mittenzwey: 

zur  wissenschaftlichen  Diskussion  gestellt  in  dem  ersten 
Hauptvortrag  von  Professor  J.  Rotce  (Harvard) :  The  problem 
of  truth  in  the  light  of  recent  research.  Den  Theorien  über 
den  Begriff  der  Wahrheit  liegen  drei  verschiedene  Motive 
zugrunde.  Das  erste  wird  ausgedrückt  in  der  Theorie  des 
Instrumentalismus.  Danach  eimiet  unseren  Begriffen 
und  Urteüen  Wahrheit  insofern,  ^^sie  eine  orgaSsche 
Funktion  der  Anpassung  an  unsere  Umgebung,  der  StabUierung 
unseres  Lebens  darstellen.  Ein  urteil  ist  wahr,  soweit  es 
unserer  Anpassung  an  die  Lebensbedürfiiisse  dient.  Da 
somit  das  Kriterium  in  die  Erfahrung  verlegt  wird,  kann  es 
absolute  Wahrheit  nicht  haben,  und  die  Logik  erscheint  als 
empirische  Wissenschafb.  Das  zweite  Motiv  kommt  zum 
Ausdruck  im  Individualismus.  Danach  ist  die  Wahrheit, 
weil  sie  für  den  Menschen  gemacht  ist  und  nicht  der  Mensch 
für  die  Wahrheit,  stets  nur  gültig  in  bezug  auf  ein  be- 
stimmtes Subjekt  mit  dessen  ganzer  Determiniertheit^ 
Organisation  usw.  Das  dritte  Motiv  tritt  zutage  in  den 
modernen  Untersuchungen  über  die  ExcJdlieit  der  Methoden 
der  mathematischen  Wissenschaften  (Eontinuum,  Irrational- 
zahlen, Grundlagen  der  Geometrie)  und  exakten  Logik 
(Relationen-  und  Gruppentheorie).  Wer  an  der  Existenz 
einer  absoluten  Wahrheit  zweifelt,  der  sei  zum  Studium  der 
modernen  reinen  Mathematik  und  exakten  Logik  aufgefordert. 
Royce  versucht  nun  alle  drei  Theorien  dahin  zu  vereinigen^ 
dafi  er  in  ihnen  verschiedene  Ausdrucksformen  des  Volun- 
tarismus erblickt.  Für  die  ersten  beiden  Theorien  ist  das 
augenscheinlich.  Absolute  Wahrheit  aber  ist  dem  Menschen 
soweit  zugänglich,  als  er  erkennt,  was  der  Wille  notwendig 
tun  muß.  Diese  notwendigen  Formen  des  Willens  werden 
durch  das  Prinzip  des  Widerspruchs  erkannt.  So  erhebt 
sich  Royce  über  manche  platte  Verallgemeinerung  seiner 
Landsleute,  indem  er  eine  doppelte  Art  der  Wahrheit,  eine 
empirisch  bedingte  (vom  Instrumentalismus  und  Individualis- 
mus beschriebene)  und  eine  formale  absolute  (der  Mathematik 
und  Logik)  anerkennt;  er  steht  aber  den  Theorien  der 
amerikanischen    Philosophie    insofern    nahe,    als     er    die 


Der  in.  intematioiiale  Philosophenkongreß.  473 

absolute  formale  Wahrheit  in  eine  Formalität  des  Willens 
zurückschiebt. 

An  den  Vortrag  schloß  sich  eine  Diskussion,  die  sich 
teilweise  vom  Thema  entfernte  und  in  der  schon  die  Probleme 
des  Pragmatismus  anklangen,  die  dann  in  der  Sektionssitzung 
so  heftig  diskutiert  werden  sollten.  Wir  wollen  aber  die 
Sektionsverhandlungen  nachher  im  Zusammenhang  be- 
sprechen und  wenden  uns  jetzt  zur  zweiten  allgemeinen 
Sitzung. 

m. 

An  diesem  zweiten  Tage  (2.  September)  überreichte 
zimachst  Heir  Geh.  Rat  Deussen  (Kiel)  dem  Kongreß  seine 
neue  Geschichte  der  indischen  Philosophie  mit  einer  An- 
sprache, in  der  er  die  Perioden  der  indischen  Philosophie- 
entwicklung charakterisierte. 

Darauf  nahm  Kavier  L^on  (Paris)  das  Wort  zu  einer 
schwungvollen  Rede  über  J.  G.  Fichte.  Anknüpfend  an  die 
bevorstehende  Zentenarfeier  der  Berliner  Universität  und 
die  Enthüllung  des  Berliner  Fichtedenkmals  feierte  Kavier 
Läon  den  Philosophen  als  Freiheitskämpfer,  der  nicht 
Deutschland  allein,  sondern  der  ganzen  Menschheit  an- 
gehöre. „Das  ist  sicher  der  einzige  Satz,""  bemerkt  dazu 
S.  Saenger  in  der  ,Neuen  Rundschau',  „durch  den  der 
Philosophenkongreß  jnit  der  Welt  draußen  in  Berührung 
gebracht  wird,  der  einzige  auf  dem  Philosophenkongreß  ge- 
sprochene Satz,  den  die  Zeitungsagenturen  zweifellos  für 
mitteilungswert  halten,  aber  —  der  Satz  ist  grundfalsch. 
Fichte  war  Nationalist ;  fabelte  vom  deutschen  Urvolk ;  hielt 
die  Deutsehen  für  das  einzige  Volk  von  originaler  Be- 
gabung, fiir  die  einzig  möglichen  Kulturemeurer,  Kultur- 
erretter; schwärmte  für  den  geschlossenen  Handelsstaat  — 
selbst  ein  PhUosophieprofessor  darf  wissen,  daß  der  das 
Gregenteil  von  Universalität  bezweckt  —  und  betrachtete 
das  Welschtum  als  ansteckende  Seuche.  Goethes  Humanität 
empfand  Fichtes  Deutschtum  als  lästig,  seinen  Franzosen- 
haß als  blind.  Ich  nehme  an ,  daß  man  aus  Höflichkeit 
L^ons  Unsinn  stürmischen  Beifall  klatschte. "" 


474  ^  Mittenzwej: 

Danach  hielt  B.  Crckx  (Neapel)  den  italienischen  Haiq>t- 
Tortrag  über  „Uintoizione  pora  e  il  carattere  lirico  deli'  arte*. 
Croce  unterschied  verschiedene  Typen  der  Ästhetik:  die 
empirische  Ästhetik  (induktives  Verfahren,  Ablehnung  eines 
einheitlichen  Prinzips);  die  praktisistische  (einheitliches 
Prinzip  in  praktischer  Betatagong  des  LostvoUen^  Nützlichen 
und  dergleichen) ;  die  intellektnalisehe  -,  die  agnostische ;  die 
mystische  Ästhetik  (nach  letzterer  ist  die  Kunst  eine  der 
philosophischen  überlegene  Erkenntnisfanktion).  Die  letzte 
große  Manifestation  der  mystischen  Ästhetik  war  die 
romantische  Ästhetik.  Aber  es  gibt  eine  logische  Stufe,  die 
ihr  überlegen  ist,  das  ist  die  , Ästhetik  der  reinen  Intuition''. 
Diese  sieht  in  der  Kunst  anstatt  der  höchsten  Funktion  des 
Erkenntnisgeistes  dessen  primitivste,  denn  die  Kunst  ist  frei 
von  jeder  Abstraktion  und  Begrifflichkeit,  und  in  dieser 
Elementaritat  der  firkenntmsart  liegt  die  Krafl  der  Kunst. 
In  seinen  weiteren  Ausfährungen  verwahrte  sich  Croce  gegen 
eine  za  enge  Fassung  des  Begriffes  der  Intuition  durch  Be- 
schränkung auf  Sinnendinge.  Es  gibt  auch  eine  Intuition 
des  Seelischen,  und  so  gefaßt  wird  die  Ästhetik  der  Intuition 
auch  denen  gerecht,  die  eine  Darstellung  der  Persönlichkeit 
des  Künstlers  im  Kunstwerk  suchen.  Freilich  kam  der 
Bedner  damit  nicht  auf  eine  nähere  psychologische  Analyse 
der  Intuition,  sondern  wendete  sich  am  Ende  seines  Vortrags 
wieder  der  metaphysischen  Bedeutung  der  Kunst  zu. 

IV. 

lu  der  dritten  allgemeinen  Sitzung  (3.  September)  hielt 
Emile  BotrROUX  (Paris)  den  französischen  Hauptvortrag  über 
„la  Philosophie  en  France  depuis  18(>7''.  Die  Wahl  des 
Ausgangsdatums  begründete  er  damit,  daß  18ti7  gelegentlich 
der  Weltausstellung  Felix  Ravaisson  seinen  klassisch  zu 
nennenden  Bericht  über  die  französische  Philosophie  in  den 
ersten  beiden  Dritteln  des  19.  Jahrhunderts  veröffentlichte. 
Dieses  Jahr  1867  ist  kein  äußerliches  Datum  geblieben. 
Man  kann  es  als  das  Ende  des  Eklektizismus  ansetzen. 
Zugleich    nahm    unter    dem    Einfluß    von    Lachelier    und 


Der  III.  internationale  Philosopbenkongrefi.  475 

Savaisson  auf  der  einen,  von  Taine,  Spencer  und  Bibot  auf 
der  anderen  Seite  eine  doppelte  Bewegung  der  Philosophie 
in  spekulativ  «metaphysischer  Richtung  einerseits,  poei- 
tivistisch-experimentaler  anderseits  ihren  Anfang.  In  dieser 
neaen  Entwicklung  unterscheidet  Boutroux  eine  Reihe  von 
Einzelbewegungen«  Voran  die  metaphysische  Bewegung, 
welche  sich  wieder  in  drei  Strömungen  spaltet:  einen  neuen 
Rationalismus  (Lachelier,  Ravaisson,  Renouvier,  der  erst 
damals  Einfluß  gewann,  Fouillöe,  Hamelin  usw.),  eine  auf 
Wissenschaflskritik  gegründete  Metaphysik  (Boutroux, 
Evellin,  Hannequin,  Milhaud  usw.)  und  eine  Metaphysik,  die 
aus  der  Vertiefung  der  unmittelbaren  Erfahrung  des  Be- 
wußtseinslebens erwächst  (Bergson).  Femer  eine  psycho- 
logische, eine  soziologische,  eine  ethisch-positivistische,  eine 
wissenschafbstheoretische,  eine  religionsphilosophische  Be- 
wegung, daneben  die  historischen  Arbeiten.  Der  Reiz  des 
VoSa^;  lag  in  kleinen  charakterisierenden  Bemerkungen,  mit 
denen  die  zahlreichen  im  Laufe  des  Vortrags  genannten 
Autoren  und  Werke,  die  Boutroux  als  Mitlebender  hat  kennen 
lernen,  bezeichnet  wurden,  Bemerkungen,  die  in  dem  ge- 
drängten Bericht  leider  verloren  gehen.  —  Die  allgemeinen 
Zuge  dieser  Entwicklung  sind:  zunächst  eine  scharfe 
Scheidung  zwischen  der  Phüosophie  als  Einheit  und  den 
philosophischen  Spezialgebieten  (Psychologie,  Soziologie, 
Methodenlehre  usw.).  Diese  Spezialforschungen  anerkennen 
nur  die  positiven  Wissenschaften  als  Grundlage  und  kehren 
der  Metaphysik  endgültig  den  Rücken.  Indessen  werden 
diese  philosophischen  Spezialuntersuchungen  alle  über  sich 
selbst  hinaus  zu  allgemeineren  erkenntnistheoretischen  usw. 
Fragen  getrieben,  so  daß  sich  die  Bemühung  um  die  philo- 
sophische Einheit  wieder  einstellt.  Anderseits  nähert  sich 
die  Metaphysik  immer  mehr  den  Methoden  der  Einzel- 
wissenschafben, die  sie  früher  im  Überschwang  ablehnte. 
So  ist  ein  Zusammenarbeiten  und  Verständnis  der  Spezialisten 
und  Metaphysiker  zu  erhoffen. 

An  zweiter  Stelle  hielt  an  Stelle  des  verhinderten  Henri 
Bergson   (Paris)    Geh.   Rat   Prof.  Windelband   (Heidelberg) 


476  ^  Mittenzwej: 

seinen  ursprünglich  fnr  die  Sekdonssitzong  angekündigten 
Vortrag  „Znm  Begriff  des  Gesetzes*.  Am  Himmel 
znerst  fand  das  Denken  der  Grriechen  die  gesetzmäßige 
Ordnung,  nnd  ebenso  ist  in  der  Nensseit  das  Motiv  fbr  die 
maihematisclie  Theorie  der  Natnr  in  dem  Bedürfiiis  be- 
gründet, die  Welt  als  Ordnung  zu  verstehen.  Scheint  es 
so,  als  sei  die  Deutung  der  Welt  als  Ordnung  am  Eindruck 
der  Umwelt  erwachsen,  so  ist  doch  der  psychologische  Weg 
der  umgekehrte.  Der  Wert  der  Ordnung  mufite  im  Innern 
empfunden  sein,  wenn  er  ein  Prinzip  der  Welterklärung 
werden  sollte,  und  die  ElrfiBLhrung  der  Hybris  ist  der  ge- 
waltige Stachel  des  griechischen  Denkens  gewesen.  Auf 
der  Analogie  zu  den  sittlichen  Erfahrungen  beruht  die  Aus- 
bildung des  stoischen  Begriffes  der  lex  naturae.  Die  wissen- 
schaftliche firkenntnis  lehrt  dann  die  beiden  lange  un- 
geschiedenen Bedeutungen  des  Gesetzes  des  SoUens  und 
des  Gesetzes  des  Seins  trennen.  Als  Gemeinsames  bleibt 
in  dem  Begriffe  des  Gesetzes  übrig  die  Bestimmung  des 
Besonderen  durch  ein  Allgemeines.  Dies  Verhältnis  ist 
zunächst  nur  ein  logisches.  Sofort  aber  erheben  sich  die 
Schwierigkeiten  des  mittelalterlichen  Bealismusproblems, 
wenn  man  nach  der  Seinsbedeutung  dieses  Veriiältnisses 
fragt.  Eine  besondere  Bedeutung  gewinnt  diese  Frage  nach 
der  Realität  der  Gesetze  durch  ihren  Zusammenhang  mit 
dem  Kausalproblem,  seitdem  Kant  den  Kausalbegriff  auf 
den  Regelbegriff  zurückgeführt  hat.  Einen  Ausweg  aus  den 
Schwierigkeiten  sieht  Windelband  gegeben,  wenn  man  das 
Moment  des  Wirkens  bei  jedem  einzelnen  Kausalverhältnis 
in  den  einmaligen,  unwiederholbaren  Akt  des  Zusammen- 
hanges von  Ursache  und  Wirkung  verlegt,  dagegen  die 
allgemeine  Gesetzmäßigkeit  als  ein  Ei^ebnis  ftir  den  be- 
obachtenden Verstand  ansieht.  Letzteres  gilt  zweifellos  ftir 
die  loseren  Abhängigkeitsverhältnisse  statistischer  usw.  Art, 
die  niemand  ernsthaft  als  ursächliche  Momente  für  den 
einzelnen  Vorgang  betrachtet.  Anderseits  wollen  wir  aber 
mit  den  elementaren  Regelmäßigkeiten,  den  Naturgesetzen 
im  primären  Sinne,   die  substantieUen  Momente  des  Wirk- 


Der  III.  internationale  Philosophenkongreß.  477 

liehen,  die  reale  Ursache  der  Q-estaltimg  des  Besonderen  er- 
fassen. Die  „glückliche  Tatsache "* ,  dafi  wir  Ordnung  in 
unsere  Wahrnehmungen  schaffen,  kann  doch  nur  dadurch 
möglich  sein,  dafi  diese  Orclnung  im  Wesen  der  Dinge  selbst, 
im  realen  einmaligen  Akt  des  Wirkens  enthalten  ist.  In 
welcher  Weise  nun  das  Denken  die  Verknüpfung  zu  gesetz- 
mäßigen Zusammenhängen  vornimmt,  bestimmt  sich  nach 
Zweckmotiven  verschiedener  Art.  Wesentlich  ist,  dafi  damit 
jede  fhrkenntnisart  den  Charakter  einer  Auswahl  bekommt. 
Wie  schon  jede  Wahrnehmung  eine  Auswahl  aus  den  Möglich- 
keiten der  Empfindung  und  jeder  Begriff  eine  Auswahl  aus 
den  Wahrnehmungen  darstellt,  so  auch  jede  Theorie  eine 
Auswahl  aus  dem  unerschöpflichen  Reichtum  individueller 
Geschehnisse.  So  stellt  jede  wissenschafüiche  Erkenntnis- 
art nur  eine  Seite  der  Wirklichkeit  dar,  die  an  sich  selbst 
unerkennbar  ist. 

Auf  eine  Diskussion  zu  diesem  Vortrag  sollte  der  vor- 
gerückten Zeit  wegen  verzichtet  werden,  als  Prof.  Ebbing- 
HAUS  beantragte,  eine  Diskussion  anzubahnen,  die  dann  auf 
den  Schluß  der  letzten  allgemeinen  Sitzung  am  Sonnabend 
angesetzt  wurde. 

Der  Freitag  (4.  September)  war  mit  Sektionssitzungen 
angefallt,  und  erst  der  Abend  versammelte  die  Mitglieder 
wieder  zu  der  gemeinsamen  Tätigkeit  des  von  der  badischen 
Regierung  gebotenen  Festmahls  in  der  Stadthalle.  Bei  dieser 
Gelegenheit  bracht«  Prof.  Münstebberg,  der  in  der  Republik 
der  Vereinigten  Staaten  seine  weitere  Heimat  gefunden  hat, 
den  Kaisertoast  aus,  und  es  war  von  großem  Reiz,  die  welt- 
bürgerlichen Betrachtungen,  wie  sie  der  Anlaß  nahe  legte, 
über  die  universale  Aufgabe  der  Wissenschaft  und  den 
nationalen  Rahmen,  innerhalb  dessen  sie  gepflegt  wird,  zu 
hören. 

V. 

Die  letzte  allgemeine  Sitzung  am  Sonnabend  (5.  Sep- 
tember) war  ftir  den  deutschen  Hauptvortrag  reserviert,  hatte 
aber  durch  die  Absage  von  Prof.  Th.  Lipps  viel  an  An- 
ziehungskraft eingebüßt.     Statt  seiner  sprach  Prof.  Maier 


478  K.  ICittenswej: 

(Tübingen)  über  „David  Friedrich  Staranfi*'.  Die  Schiteong^ 
Straufi'  ist  ja  jeist  eine  eigentümlich  geteilte.  Seine  auf- 
klarenden Schriften  haben  ihren  Weg  ins  Volk  genommen, 
nnd  dort  wird  StranS  aoch  hente  gelesen  und  gesch&tat. 
•Dag^en  findet  man  die  Gebildeten  namentlich  der  jüngeren 
Generation  häufig  von  Nietzsches  unzeitgemäßer  Betrachtung 
znongonsten  beeinflnfit.  In  diesem  Zwiespalt  der  Schätzung 
wird  mancher  Prof.  Maier  lat  seinen  dorch  bedachte  Sach- 
lichkeit ausgezeichneten,  sich  streng  auf  die  biographische 
Darstellung  beschränkenden  Vortrag  dankbar  gewesen  sein. 
Vielleicht  wird  er  auch  die  Überzeugung  mit  davon  genommen 
haben,  dafi  das  wissenschaftliche  Urteil  über  Straufi  im  wesent- 
lichen feststeht,  denn  die  Probleme,  die  ihn  bewegten,  sind 
zum  größten  Teil  durch  neuere  Fragestellungen  überholt. 
Eine  Schwierigkeit  für  jede  StrauSbiographie  sind  die  späten 
materialistischen  Schriften.  Hier  betonte  Maieb  nachdrück- 
lich, daß  Strauß  auch  als  Materialist  Hegelianer  geblieben 
«ei;  das  Motiv  seines  Materialismus  sei  die  Bemühung  um 
einen  Monismus. 

Darauf  wurde  die  Diskussion  zum  Windelbandschen 
Vortrag  eröffiiet.  Prof.  Ebbikghaüs  (Halle)  machte  zunächst 
einige  Bemeikungen  über  die  Psychogenese  der  BegrifiTs- 
bildung  und  apperzeptiven  Auswahl,  sprach  aber  so  weit- 
läufig, daß  man,  als  er  nach  wiederholter  Überschreitung 
der  Diskussionszeit  unerbittlich  zum  Schluß  veranlaßt  wurde, 
leider  noch  nicht  absehen  konnte,  wie  er  seinen  Gedanken 
würde  weiter  geführt  haben.  Auch  die  übrigen  Diskussions- 
redner trafen  nur  Nebenpunkte  des  Vortrages,  und  Prof. 
WiNBELBAND  konnte  in  seinem  Schlußworte  mit  Recht  sagen, 
daß  von  seinem  Vortrage  fremden  Gesichtspunkten  aus  zum 
GesetzesbegrüF  gesprochen  worden  sei.  Angemerkt  werden 
^oll  aber  die  Bemerkung  des  Präsidenten  des  Kongresses, 
daß  so  allgemeine  Themata  wie  das  seines  Vortrages  zur 
Kongreßbehandlung  weniger  geeignet  seien. 

VI. 
Hatte  in   der  TVahl  der  Vorträge  für  die  allgemeinen 
Sitzungen  die  vorbereitende  Hand  des  Ausschusses  sichtlich 


Der  m.  internationale  Philosophenkongrefi.  479 

gewaltet,  so  fanden  sich  dagegen  in  den  Sektionen  manche 
&6t  ssa  liberal  zugelassene  Vorträge  zusammen. 

Ans  der  I.  Sektion  ftbr  Geschichte  der  Philosophie 
(Vorsitzende  Xatusr  L^on,  Prof.  Pbtsch)  verdient  zunächst 
ein  Vortrag  von  Prof.  Tönnies  (Kiel)  „Zur  Biographie  Hobbes" 
hervorgehoben  zu  werden,  in  dem  Tönnies  ungedrucktes 
Material  zur  Kenntnis  von  Hobbes'  Leben,  unter  anderen 
fOr  seine  Beziehungen  zu  Descartes,  beibrachte. und  seinen 
Ruhm  als  bester  Hobbeskenner  von  neuem  befestigte.  Prof. 
Lasson  (Berlin)  sprach  über  „die  Nikomachische  Ethik^, 
wobei  er  unter  fiümiweis  auf  seine  demnächst  erscheinende 
Überseteung  des  Werkes  das  Verhältnis  der  Nikomachischen 
Ethik  zu  den  anderen  Fassungen  der  aristotelischen  Ethik 
erörterte.  Mit  Energie  werde  die  Nikomachische  Ethik  als 
einheitliche  und  endgültige  Fassung  der  aristotelischen  Ethik 
in  Anspruch  genommen.  Xayiek  L^n  (Paris)  sprach  über 
^Fichte  et  la  löge  Royale  a  Berlin" .  Der  Wert  des  Vortrags  lag 
in  dem  biographischen  Einzelmaterial  über  Fichtes  frei- 
maurerische  Beziehungen  namentlich  zu  Fefiler,  was  in  dem 
kurzen  Berichte  um  so  weniger  reproduziert  werden  kann, 
als  der  Vortrag  schon  nach  seinem  zeitlichen  umfange  den 
Rahmen  der  Sektionsvorträge  überschritt.  —  Bemerkt  seien 
noch  die  Vorträge  von  Eleütheropülos  (Zürich)  „Die  Vor- 
sokratiker  Physiker",  von  van  Bi^a  (Tours),  „Le  germe 
de  Tantinomie  Kantienne  chez  Leibniz",  von  Mme.  Coionet 
(Paris)  über  Bergsons  Philosophie. 

vn. 

In  der  II.  Sektion  (Metaphysik;  Vorsitzende  Prof. 
KOlpe  und  Prof.  Drews)  entwickelte  Prof.  Dbews  (Karls- 
ruhe) in  seinem  Vortrag  über  „die  Realität  des  Bewußtseins " 
seine  bekannte  Lehre  von  der  Irrealität  des  Bewufitseins. 
Es  ist  eine  kopemikanische  Tat,  den  subjektiven,  bewufit- 
seinszentrischen  Standpunkt  zu  vertauschen  mit  dem  ob- 
jektiven, der  das  Zentrum  des  Seins  im  ünbewufitsein  er- 
blickt, während  er  das  erlebte  Bewußtsein  nur  als  die 
Peripherie  des  Seins  betrachtet.  —  Femer  verdient  Hervor- 


480  ^-  Mittenzwey: 

hebung  ein  Vortrag  von  Driesch  (Heidelberg),  „Über  den 
Begriff  der  Natur".  Der  Vortragende  hypostasierte  zunächst 
die  Beweise  für  die  Autonomie  der  Lebensvorg&nge  als  zu- 
gestanden. Alsdann  ergibt  sich  die  Notwendigkeit,  zur 
Naturerkläxung  den  Begriff  der  Entelechie  einzufahren« 
Entelechie  ist  ein  neben  den  mechanischen  Faktoren  wirk- 
samer Naturfaktor,  ist  nicht  ausgedehnt,  nicht  räumlich 
lokalisiert,  ist  intensiv  mannigfaltig,  ist  nur  denkbar,  nicht 
vorstellbar,  ist  keine  Energieart.  Positiv  läßt  sich  zeigen, 
daß  der  Entelechie  eine  Relationskategorie  „Individualität" 
entspricht,  welche  den  Kategorien  Snbstanz-Inhärenz  und 
Kausalität  gleichgeordnet  ist  und  konstitutiv  ist  wie  diese. 
Die  Individualitätskategorie  umfaßt  Wirklichkeitsfaktoren 
wie  die  Kausahtät,  doch  können  diese  nie  anschaulich  sein. 
Dies  fordert  eine  Erweiterung  des  Naturbegriffs.  Oegenüber 
der  Cart^esianischen  Lehre,  daß  die  Natur  die  Oesamtheit 
der  Faktoren  sei,  die  im  Baume  sind,  ist  die  Erweiterung 
zu  fordern,  daß  Natur  die  Gesamtheit  aller  Faktoren  sei, 
die  sich  auf  den  Baum  und  räumliches  Geschehen  be- 
ziehen. —  An  den  sehr  anregenden  Vortrag  schloß  sich 
eine  längere  Diskussion, 'in  der  aber  hauptsächlich  die  vor- 
geschlagene Ergänzung  der  Kategorientafel  und  die  er- 
kenntnistheoretische Berechtigung  des  Vitalismus  behandelt 
wurde,  und  Driesch  konnte  in  seinem  Schlußwort  mit  Becht 
sagen,  daß  die  eigentliche  These  seines  Vortrages,  die  Er- 
weiterung des  Naturbegriffes,  von  den  Diskussionsrednern 
nicht  aufgenommen  worden  sei. 

Femer  waren  in  die  11.  Sektion  die  Vorträge  der 
französischen  Logiker  verwiesen  worden,  die  sich  sprachlich 
bemühen:  Coutürat  (Paris),  „Des  rapports  de  la  logique  et 
de  la  linguistique  dans  le  probleme  de  la  langue  inter- 
nationale", und  Lalande,  „Etat  du  travail  ayant  pour  Tobjet 
la  Constitution  d'un  vocabulaire  philosophique"  (verlesen 
von  Coutürat).  Man  gewann  den  Eindruck,  daß  in  beiden 
Oebieten  kräftig  gearbeitet  worden  sei.  Es  ist  jedenfalls 
nicht  mehr  zulässig,  die  Bemühungen  um  eine  internationale 
Hilfssprache   sowie   um   eine    philosophische    Terminologie 


Der  m.  internationale  Philosophenkongreß.  481 

ohne  weiteres  durch  Eünweis  auf  frühere  fehlgeschlagene 
Versuche  abzutan,  denn  soweit  sind  derartige  Bestrebungen 
noch  nicht  durchgearbeitet  worden. 

Erwähnt  seien  noch  die  Vorträge  von  Kuntze  (Nord- 
hausen), „Die  Bedeutung  der  Ausdehnungslehre  Hermann 
GraSmanns  för  die  Transzendentalphilosophie'' ,  der  der 
Ausdehnungslehre  eine  erkenntnistheoretische  Mittelstellung 
zwischen  Transzendentalphilosophie  und  mathematischer 
Naturwissenschafb  anweisen  woUte,  und  von  Goldsgheid 
(Wien)  über  „das  Problem  der  Richtung"  (vgL  des  Redners 
Aufsatz  in  Ostwalds  Annalen  der  Naturphilosophie). 

vm. 

In  der  III.  Sektion,  für  Psychologie  (Vorsitzende  Prof. 
Monsterberg,  Dr.  Hellpach)  hielt  zunächst  Prof.  Eülpe 
(Würzburg)  einen  Vortrag  „Ein  Beitrag  zur  Q-efühlslehre". 
Er  berichtet  über  Versuche,  die  er  über  die  Frage  der 
jjVorstellbarkeit"  der  Gefühle  hat  anstellen  lassen.  Die 
Feststellung  des  Befundes  erfolgte  durch  unmittelbare  Selbst- 
analyse. Die  Hauptergebnisse  waren:  1.  Lust  und  Unlust 
konnten  nicht  vorgestellt  werden.  2.  Spannung  und  Er- 
regung ließen  sich  von  allen  Versuchspersonen  vorstellen. 
3.  Alle  Versuchspersonen  konnten  sich  körperliche  Schmerzen 
vorstellen  und  sie  von  Unlustgefiihlen  unterscheiden.  4.  Die 
Veigegenwärtigung  eines  Gefühls  der  Lust  oder  Unlust 
geschah  entweder  durch  Reaktivierung  oder  unanschauliches 
"Wissen.  Aus  diesen  Ergebnissen  folgert  Eülpe,  daß,  da  die 
Unvorstellbarkeit,  die  „ Aktualität '',  ein  Kriterium  der  Ge- 
fühle sei,  demnach  Lust  und  Unlust  als  Gefiihle,  Spannung 
und  Erregung  aber  als  Empj&ndungen  zu  bezeichnen  seien. 
Die  Unterscheidung  führte  Külpe  dann  noch  weiter  als  die 
Grundlage  des  Unterschiedes  zwischen  dem  Realismus  des 
Erkennens  und  dem  Idealismus  des  Wollens.  —  In  der 
Diskussion  zu  dem  sehr  anregenden  Vortrage  wies  Geijer 
(Upsala)  darauf  hin ,  daß  die  Frage  der  Vorstellbarkeit  auf 
den  noch  ungeklärten  Unterschied  zwischen  Empfindung 
und  Vorstellung  zurückführe.    Prof.  Ebbinghaus  (Halle)  be- 


482  ^*  Mittenzwey: 

toz^e  für  die  Feststelltmg  der  Beendtate  die  Bedeutung  der 
LdteBsitätsgrade.  Geicsr  (Münohen)  wies  auf  das  „Sehen'* 
von  Gbfählen  bei '  ästhetischen  Objekten  hin  nnd  folgerte 
daraus,  daß  neben  dem  aktuellen  Haben  und  dem  un- 
«nschaulichen  Meinen  von  GteftÜilen  noch  ein  Drittes  an- 
zunehmen sei.  Hellpagh  (Karlsruhe)  betonte  den  Einfluß 
individueller  Gbfuhlstypen  auf  die  Feststellung  der  Resultate, 
ScHULTZE  (Frankftirt)  den  der  Q-edächtnisspuren.  Linke  (Jena) 
vertiefte  den  Sinn  der  Aussage  „Vorgestellte  GefCLhle  be- 
stehen nicht **.  In  seinem  Schlußwort  betonte  Külpe,  daß 
er  den  unterschied  nur  habe  feststellen,  nicht  ausarbeiten 
wollen. 

Hellpach  (Karlsruhe)  sprach  über  „Klima,  "Wetter  und 
Landschaft  in  ihren  Einflüssen  auf  das  Seelenleben"  und 
brachte  manch  interessante  Beobachtung  dazu  bei.  Schultze 
(Frankfurt)  teilte  vorläufige  experimentelle  Ergebnisse  zu 
einer  Psychologie  des  Denkens  mit,  wobei  er  vor  einer  zu 
häufigen  Verwendung  der  „Bewußtheiten**  warnte.  Linke 
(Jena)  wies  in  seinem  Vortrag  über  „das  Gegenstands- 
bewußtsein bei  einigen  optischen  Täuschungen"  daraufhin, 
daß  bereits  in  dem  Bewußtsein  der  Einheit  der  zeitlich 
dauernden  Vorstellung  eine  Überschreitung  des  reinen 
Empfindungsbestandes  liege.  Ob  er  diese  Tatsache  freilich 
mit  dem  schlauen  Worte  „Empfindungsgegenstand ^  dem 
Verständnis  näher  gebracht  hat,  mag  dahingestellt  bleiben; 
manche  dürften  das  Qeftihl  gehabt  haben,  daß  ihnen  ein 
„hölzernes  Eisen**  gereicht  werde,  ürban  (Philadelphia) 
plädierte  in  seinem  Vortrag  über  die  „psychophysischen  Maß- 
methoden*' fbr  eine  formale  Auffassung  des  Weberschen  Ge- 
setzes, wodurch  der  Schwellenbegriff  auf  den  Wahrscheinlich- 
keitsbegriff zurückgeführt  werde.  —  Der  Vortrag  von  KiiAGES 
(München)  „Über  die  psychodiagnostische  Bedeutung  der 
Handschrift**  ist  das  Besonnenste,  was  wir  je  über  den 
(S^genstand  der  Graphologie  gehört  haben.  Klages  stellte 
zwei  Gesetze  auf,  nämlich  das  Grundgesetz  des  Bewegungs- 
ausdrucks ,   daß  zu  jeder  inneren  Tätigkeit  die  ihr  analoge 


Der  HL  internationale  Philosoplienkongreß.  483 

BewegoBg  gehöre,  und  zweitens,  daß  jede  Bewegung  einer 
unbewußten  Kritik  durch  die  Wahrnehmung  unterliegt. 

IX. 

Während  in  allen  bisher  genannten  Sektionen  die 
einzelnen  Vorträge  abgeschlossen  gegeneinander  standen, 
gruppierten  sich  in  der  IV.  Sektion  (Logik  und  Erkenntnis- 
theorie; Vorsitzende  Prof.  Maier,  Dr.  Lask)  eine  größere 
Zahl  um  ein  einheitliches  Problem,  Jdas  soviel  Interesse  ia 
Anspruch  nahm,  daß  noch  besondere  Diskussionsstunden 
angesetzt  wurden,  nämlich  das  Problem  des  Pragmatismus. 
Es  sprachen  auf  Seite  der  Pragmatisten  Schiller,  der  dem 
rationalistischen  Wahrheitsbegriff  jede  Berechtigung  ab- 
sprach, Armstrong,  der  die  Entwicklung  des  Pragmatismus 
durch  Integration  und  Differentiation  darstellte,  Jerusalem 
(Wien),  der  seitdem  die  Diskussion  noch  in  der  „Zukunft" 
fortgesetzt  hat.  Im  idealistisch-kritischen  Sinne  sprachen 
dagegen:  Dr.  Nelson  (Göttingen),  Prof.  DCrr  (Bern),  Prof. 
Elsenhans  (Heidelberg),  Dr.  Rüge  (Heidelberg),  Prof.  Mally 
(Graz),  Prof.  Störring  (Zürich),  Itelson  (Berlin)  und  andere. 
Freilich  entsprach  das  Ergebnis  der  Diskussion  nicht  im 
geringsten  dem  Aufwand  an  Zeit  und  Eifer.  Man  be- 
nutzte mit  Fleiß  alle  die  naheliegenden  Äquivokationen 
unkritisch  übernommener  Begriffe  wie  „Leben",  „Tat",^ 
„Handlung",  um  sich  erfolgreich  mißzuverstehen ,  und  ich 
glaube,  daß  alle  die  Kämpfer  [nur  in  ihren  Ansichten  be- 
kräftigt und  subjektiv  bestätigt  das  Schlachtfeld  verlassen 
haben.  Was  aber  nicht  hätte  sein  dürfen,  daß  der  Ton  so 
stark  ins  Leidenschaftliche  und  Persönliche  verfiel.  Herr 
Itelson  prätendierte  ausdrücklich  „cum  ira  und  cum  studio* 
zu  sprechen;  er  stellte  regelmäßig  „Pragmatist"  und  „Denker" 
als  Gegensätze  einander  gegenüber  und  mußte  sich  dafür 
gefallen  lassen,  als  Zerrbild  eines  deutschen  Gelehrten  hin- 
gestellt zu  werden.  So  war  der  Wahrheit  Würde  mit  der 
Diskussion  noch  weniger  gedient  als  ihrer  Erkenntnis. 

Von  sonstigen  Vorträgen  der  Sektion,  die  dem  Pragma- 
tismusproblem  fem   standen,    sei  zunächst   hervorgehoben 

Vierteljahrssohrift  f.  wisaeiiBohaftL  Philo«,  u.  Soziol.  XXXII.  4.         81 


4>*4  K.  Mittenzwer: 

ein  Vortrag  von  Störring  (ZadchK  Beitrag  zur  Lehre  vom 
Bewußtsein  der  Gültigkeit'' ,  worin  StOrriko  psychopatho- 
logi:>ches  nnd  experimentelles  Material  beibraclke.  —  FRA^'ZE 
sprach  über  ,das  Evidenzbedürfiiis  des  Menschen  als  ent- 
wicklongstheoretischer  MaSstab'.  Er  bemühte  sich  darin, 
einen  Maßstab  for  die  Entwicklnngshöhe  zn  finden,  was  von 
der  Argomentation  mancher  Entwicklnngstheoretiker .  die 
die  Wertkategorien  nnbesorgt  verwenden,  vorteilhaft  abstach« 
Wenn  er  freilich  diesen  Maßstab  im  Evidenzbedürfiiis  finden 
will,  so  scheint  darin  doch  eine  einseitige  Intellektoalisiernng 
gegeben  zn  sein.  —  Hösigswald  (Breslau)  unterschied  in 
seinem  Vortrag  -Über  den  Unterschied  nnd  die  Beziehungen 
der  logischen  xmd  der  erkenntnistheoretischen  Elemente  im 
kritischen  Probleme  der  Geometrie*"  zwei  Bedeutungen  von 
^synthetisch*.  Synthetisch  bedeutet  einmal  den  Grund  einer 
nicht  aus  Begriffen  geföhrten  Demonstaration  und  den  Grund 
der  Geltung  der  Demonstration  für  die  Erfahrung.  Synthetisch 
im  ersten  Sinne  sind  aUe  Geometrien,  svnthetisch  im  zweiten 
nur  die  euklidische.  —  Hellpach  (Karlsruhe)  gab  aBe- 
merkungen zur  Logik  der  Pathologie**.  Die  einfachste  patho- 
logische Begriffsbildung  liegt  in  der  Diagnose  vor.  Deren 
Hauptt\'pen,  die  symptomatische,  die  anatomische  und  die 
ätiologische,  führte  Hellpach  auf  verschiedenartige  logische 
Methoden  der  Verallgemeinerung  und  der  Konkretisierung 
zurück.  Die  letzten  logischen  Probleme  der  psychopatho- 
logischen  Logik  gruppieren  sich  um  die  Probleme  „Krank- 
heit und  Werden"  und  „Krankheit  und  Werte".  —  Lask 
(Heidelberg)"  stellte  die  Frage:  „Gibt  es  einen  ,Primat  der 
praktischen  Vernunft'  in  der  Logik?*"  —  Lask  nahm  eine 
scharfe  Scheidung  vor  zwischen  den  Gebieten  des  Logischen 
und  des  Praktischen,  deren  Grenzen  durch  eine  Identifikation 
von  Wert  und  Norm  oft  in  Gefahr  der  Verwirrung  geraten 
sind,  hat  man  ja  doch  die  logische  Notwendigkeit  dem 
Begriff  des  Gewissens  unterstellen  wollen.  Lask  zeigte  den 
Fehler  der  Lehre  vom  Primat  der  praktischen  Vernunft,  daß 
sie  die  im  Erkennen  vorhandene  Berührung  des  Sukjektiven 
mit   dem  Wert   ohne  weiteres  in  ein  praktisches  Verhalten 


Der  III.  internationale  PhilosophenkongreB.  485 

xundeatet,  und  forderte  Scheidung  des  Normgedankens  vom 
Wertbegriff;  denn  der  Normbegriff  wird  erst  aktueU,  wenn 
man  an  die  "Wirklichkeit  denkt,  die  den  Wert  realisieren 
soll.  Das  Erkennen  ist  lediglich  ein  mögliches  Pflichtobjekt 
und  kann  zum  G-egenstand  des  sittlichen  Verhaltens  gemacht 
werden.  Dagegen  ist  das  Erkennen  in  sich  selbst  un- 
abhängig  von  der  sittlichen  VerwirkHchung ,  es  hat  nur 
Wertcharakter,  keinen  ethischen  Charakter. 

X. 

Aus  der  V.  Sektion,  „Ethik  und  Soziologie"  (Vorsitzende 
Prof.  Lasson,  Dr.  Bauch)  ist  zunächst  ein  Vortrag  von  Prof. 
Staüdinger  „Zur  Methode  der  Ethik"  hervorzuheben. 
Staudinger  ging  die  verschiedenen  Methoden  der  Ethik 
durch  und  bereicherte  sie  dann  um  eine  neue,  die  „technische", 
mit  deren  Ausarbeitung  er  gegenwärtig  beschäftigt  ist.  Er 
wies  hin  auf  die  gegenseitigen  menschUchen  Beziehungen, 
die  im  technischen  Wirtschaftsleben  auftreten;  sie  zeigen  in 
deutlichster  Gestalt  das  „Sollen",  „Wollen"  und  „Müssen", 
das  fiir  die  ethischen  Beziehungen  charakteristisch  ist. 
Wieweit  freilich  für  die  spezifisch  ethischen  Verhältnisse 
aus  der  Betrachtung  analoger,  aber  moraUsch  indifferenter  Ab- 
hängigkeitsbeziehungen  neue  Erkenntnisse  gewonnen  werden 
können,  wieweit  m.  a.  W.  die  Fruchtbarkeit  der  „technischen" 
Methode  reicht,  wurde  nicht  recht  ersichtlich. 

Femer  sprach  Tönnies  „Über  eine  Methode  moral- 
statistischer Forschung".  Er  versuchte  für  die  Vergleichung 
statistischer  Reihen,  die  verschiedene  Daten  in  bezug  auf  die- 
selben Gegenstände  enthalten,  ein  festes  Prinzip  anzugeben, 
gewissermaßen  sie  auf  denselben  Nenner  zu  reduzieren.  Er 
ging  davon  aus,  daß  alle  denkbaren  Korrelationen  zwischen 
zwei  Reihen  sich  zwischen  den  beiden  extremen  Möglich- 
keiten der  direkten  oder  indirekten  Proportionalität  bewegen, 
und  versuchte  alle  anderen  Abhängigkeitsverhältnisse  zu 
diesen  Möglichkeiten  in  quantitative  Beziehung  zu  setzen. 
Aufweiche  Weise  dann  im  einzelnen  das  Maß  der  Korrelation 
herausgerechnet  wird,   wolle  man  aus  der  Autopublikation 

31* 


486  K*  Mittenzwey: 

dieses  sehr  bedeutsamen  Vortrags  ersehen,  die  hoffentlich 
ausfiihrKcher  erfolgt,  als  die  Redezeit  den  mündlichen  Dar- 
legungen gestattete. 

Goldscheid  (Wien)  gab  in  seinem  Vortrage,  „Ent- 
wicklungswert und  Menschenökonomie"  im  wesentlichen 
eine  Selbstanzeige  seines  gleichnamigen  Buches.  Prof. 
Weber  (Heidelberg)  warnte  in  der  Diskussion  vor  einer 
Verwechselung  von  philosophischem  (ethischem)  und  wirt- 
schaftlichem Wert.  Ein  wirtschaftlicher  Wert  wird  durch 
eine  Vermehrung  des  betreffenden  Gutes  verringert,  während 
ethische  Werte  gar  nicht  genug  kultiviert  werden  können. 

Zahlreiche  soziologische  Vorträge  von  Franzosen  und 
Italienern  bewiesen,  daß  die  soziologische  Wissenschaft 
noch  immer  in  romanischen  Ländern  mehr  kultiviert  wird 
als  in  Deutschland,  auch  daß  die  Soziologen  noch  immer 
die  methodischen  Vorfragen  mit  großer  Liebe  behandeln» 

Aus  der  VI.  Sektion  (Ästhetik ;  Vorsitzende  Prof.  Cohn, 
Prof.  Vossler)  sei  nur  ein  Vortrag  von  Prof.  Cohn  (Freiburg) 
über  „das  Problem  der  Kunstgeschichte"  hervorgehoben, 
Cohn  entwickelte  geschickt  eine  Antinomie  der  Kunst- 
geschichte, daß  sie  nämlich  als  Geschichte  die  Werke  zu 
einer  Entwicklungsreihe  verbindet,  während  doch  jedes 
Kunstwerk  als  abgeschlossene  Individualität  auftritt. 

Die  Vn.  Sektion  (Beligionsphilosophie ;  Vorsitzende 
Geh.  Barchenrat  Troeltzsch,  Prof.  Schwarz)  brachte  es  nur 
auf  drei  weniger  bemerkenswerte  Vorträge. 


Wenn  man  rückblickend  den  Ertrag  des  Kongresses 
übersieht,  so  muß  man  wohl  sagen,  daß  die  Weizenkömer 
unter  sehr  viel  Spreu  versteckt  waren.  Und  in  der  Tat 
b'egt  in  dem  Breitmachen  des  Dilettantismus,  der  auf  solchem 
Kongreß  die  langersehnte  Lehrkanzel  findet,  eine  Lebens- 
gefahr gerade  für  einen  PhUosophenkongreß.  Denn  in  den 
empirischen  Einzelwissenschaften  kann  die  Unzulänglichkeit 
viel  leichter  durch  Hinweis  auf  die  Inkongruenz  mit  dem 
Erfahrungsmaterial   demonstriert  werden.    Der  permanente 


X.  Mittenzwey:  Der III. intemationale  Philosophenkongreß.    487 

AusschuS  wird  die  genannte  Gefahr  in  Erwägung  ziehen 
müssen.  Verschärßie  Znlassungsbedingungen  wären  freilich 
ein  zweischneidiges  Mittel,  geeignet,  den  Kongreß  zum 
exklusiven  Rendezvous  derer  zu  machen,  die  die  Philosophie 
als  Karriere  erwählt  haben.  Aber  vielleicht  ließe  sich  noch 
mehr  als  bisher  im  voraus  eine  Zahl  bedeutender  Gelehrter 
zu  Vorträgen,  auch  zu  Sektionsvorträgen  eventuell  mit  be- 
vorzugter Redezeit,  gewinnen,  auf  daß  dem  Kongreß  von 
vornherein  ein  Mindestwert  gesichert  werde. 


Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer 

Beleuchtung.  Yn. 

Von  Paul  Barth,  Leipzig. 
Inhalt« 

Die  Schichtung  der  StAnde  im  Zeitalter  der  Renaissance  und  der  Keformation^ 
Geistip^er  Gehalt  des  Humanismus  in  Italien.  Sein  Einflufs  auf  die  Gestaltung  der- 
Theorie  und  der  Praxis  der  Erziehung. 

Im  15.  und  16.  Jahrhundert  ist  in  Westeuropa  keine 
Veränderung  in  dem  gegenseitigen  Verhältnis  der  Stände 
zueinander  eingetreten.  Ihr  Machtbereich,  ihre  gegenseitige 
Eifersucht,  die  öfter  in  offene  Feindschaft  ausbrach,  blieben 
im  ganzen  dieselben.  Nur  die  staatliche  Gewalt,  die  wir 
schon  im  späteren  Mittelalter  aufsteigend  sahen,  wird  nun 
noch  mächtiger  durch  die  Reformation,  die  ihr  die  Güter 
der  Kirche  zum  Teile  ausliefert,  und  durch  die  von  allen 
gefühlte  Notwendigkeit  einer  starken  Hand,  die  den  inneren 
Frieden  aufrechterhält. 

Dagegen  hat  die  Weltanschauung  in  den  beiden  Jahr- 
hunderten der  Renaissance  und  der  Reformation  eine  große 
Umwälzmig  erfahren. 

Die  Renaissance  gab  in  den  romanischen  Ländern  vielen 
einen  Ersatz  fiir  die  Religion,  die  nicht  mehr  in  ihrer  wirk- 
Hchen  Gesinnung,  in  ihrem  Herzen  und  in  ihren  Gedanken 
wurzelte.  Die  antike  Literatur,  zuerst  die  römische,  dann 
die  griechische,  erwachte  nun  wirklich  aus  ihren  „Gräbern" 
in  den  Klöstern,  und  zwar  viel  mehr  von  ihr,  als  um  das 
Jahr  1100  in  Frankreich  erwacht  war*).  Seit  Petrarca 
(1304—1374)  wurden  die  antiken  Autoren  wieder  jgelesen. 


J)  Vgl.  P.  Barth  im  31.  Bande  der  Vierteljahrsschrift  (1907),  S.  95  f. 


Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  Beleuchtung.     4S9 

mit  Inbrunst  und  Eifer  gelesen.  Mit  dem  den  Italienern 
eigenen  Formgeföhle  entdeckte  man  die  äußere  Schönheit 
des  klassischen  Lateins,  später  auch  des  Griechischen,  den 
Klang  und  den  schönen  Rhythmus  in  Poesie  und  Prosa, 
nicht  minder  aber  auch  die  innere  Schönheit  beider  Sprachen, 
den  hohen  Grad  der  Differenzierung  der  sprachlichen  Formen, 
die  den  gleichen  Grad  der  Ausdrucksfahigkeit  für  die  Unter» 
schiede  des  Gedankens  bedeutet  und  die  Sprache  befähigt, 
der  "Wandelung  des  Gedankens  folgend,  sich  gewissermaßen 
als  beseelten  Organismus  zu  zeigen.  Alles  Altklassische 
wurde  Gegenstand  der  Liebe:  Schriften,  Münzen,  Ruinen, 
sogar  eine  altrömische  Leiche,  die  man  1485  fand  und  an* 
betete,  so  daß  der  Papst,  imi  diesem  Kultus  ein  Ende  zu 
machen,  sie  heimlich  beerdigen  lassen  mußte  ^). 

Und  wie  man  die  Sprache  der  alten  Römer  nachahmte, 
so  nahm  man  auch  ihre  Gedanken  an,  selbst  da,  wo  sie  nicht 
besonders  tief  waren.  Petkarca  z.  B.  will  an  einen  ihm  be- 
freundeten Veronesen  schreiben,  Luchius  Vermius  (Luca 
Vermio?),  der  als  Kondottiere  im  Dienste  Venedigs  steht. 
Er  weiß  nichts  besseres  als  das  Bild  des  Feldherm  zu 
wiederholen,  das  Cicero  in  der  Rede  de  lege  Manilia,  um 
Pompejus  zu  schmeicheln,  bloß  nach  dessen  zufälligen  Ver- 
hältnissen gezeichnet  hat.  Er  findet  an  Pompejus  vier  wesent- 
liche Eigenschaften  eines  Feldherm:  Kenntnis  des  Kriegs- 
wesens, Tapferkeit,  Autorität  und  —  Glück,  welches  letzte 
doch  nur  ein  zufälliges  Schicksal,  aber  nicht,  wie  die  andern 
drei  Momente,  eine  innere  Eigenschaft  des  Pompejus  war. 
Und  Petrarca  wiederholt  Ciceros  Unlogik,  weil  sie  eben  von 
Cicero  stammt  ^ 

Bei  dieser  Hingebung  an  das  Altertum  mußte  notwendig 
auch   die  Weltanschauung  des  Altertums  wirksam  werden 


*)  Vgl.  Jakob  Bubckhardt,  Die  Kultur  der  Renaissance  in  Italien, 
9.  Auflage,  von  Ludwio  Geiger.    Leipzig  1904,  I,  S.  198  f. 

*)  Vgl.  Petrarcas  Liber  de  officiis  et  virtutibus  imperatoriis,  ge- 
widmet dem  oben  genannten  Luchius  Vermius.  Diese  kleine  Schrift 
bildet  den  Schluß  des  2.  Bandes  der  Opera  Francisci  Petrarcae,  ed. 
bei  Le  Preux  in  Genf.     1610. 


490  Paul  Barth: 

und,  soweit  sie  der  christlichen  widersprach,  diese  aus  den 
Gemtitem  verdrängen. 

Der  christliche  Glaube  wurde  in  der  Tat  von  vielen 
Humanisten  entweder  verlassen  oder  mit  philosophischen 
Theoremen  des  Altertums  verschmolzen  und  auf  diese  Weise 
umgewandelt.  Nur  wenige,  wie  Vittorino  da  Feltre,  Ambrogio 
Traversari,  Antonio  da  Eho  und  Gregorio  Corraro  *)  vereinigten 
ohne  Widerspruch  christliche  Frömmigkeit  und  antikes 
Denken  oder  suchten  wenigstens  beides  zu  vereinigen,  wie 
Marsiuo  Ficino,  der  erste  Vorsteher  der  platonischen 
Akademie  zu  Florenz*).  Manche,  wie  Giholamo  Alliotti, 
Travesaris  Anhänger,  waren  Heuchler*). 

Die  meisten  der  Humanisten  entfernten  sich  mehr  oder 
weniger  vom  Christentum.  Am  weitesten  diejenigen,  die 
durch  den  aus  Cicero  bekannten  Epicur  oder  durch  Lucrez 
an  der  göttlichen  Weltregierung  zweifeln  gelernt  hatten 
und  nur  noch  an  ein  blind  waltendes  Schicksal  glaubten. 
Die  in  diesem  Sinne  geschriebenen  Bücher  „vom  Schicksal" 
sind  sehr  zahlreich*).  Aber  die  meisten  gingen  wohl  nicht 
so  weit,  sie  begnügten  sich,  den  christlichen  Glauben 
allegorisch  zu  deuten  und  so  weit  umzugestalten,  daß  er 
mit  der  Philosophie  Platos  und  der  Stoa  übereinstimmte*^). 
Alle  auch  trieben  eine  nicht  gefilhrliche  Spielerei,  indem 
sie  in  bezug  auf  die  antiken  Götter  und  Göttinnen  die 
Sprache  der  Alten  führten,  als  ob  sie  noch  denselben  Glauben 
wie  die  Alten  an  sie  hegten.  So  segelte  Ciriaco  von  Ancona 
stets  mit  seinem  „allerheiligsten  Schutzgotte  Mercurius". 
Und  FiTELFO  redete  in  einem  Gedichte  den  Papst  Nicolaus  V. 
als  denjenigen  an,  der  „den  Thron  des  olympischen  Jupiter 


0  Vgl.  Georg  Vüi<;t,  Die  Wiederbelebung  des  klassischen  Alter- 
tums oder  das  erste  Jahrhundert  des  Humanismus.  8.  Aufl.,  besorg 
von  Max  Lkhxebdt,  Berlin  1893,  I,  S.  319  ff.,  479,  508  f. ;  II,  82,  40  ff , 
212,  371. 

*)  Vgl.  BrRCKHARDT  a.  a.  O.,  II,  S.  225. 

0  Vgl.  Voigt,  U,  S.  222—228. 

*)  Vgl.  BrRCKHARDT,  a.  a.  O.,  II,  S.  230. 

^)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  173;  II,  S.  367  f.,  470,  und  Bitjckhardt  a.  a.  O., 
U,  S.  278  f. 


Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  Beleuchtung.    491 

hüte"  ^).  Mehr  Spielerei  als  Ausfluß  innerster  Gesinnung 
war  auch  die  Laszivität  vieler  Gedichte  und  Schriften  der 
Humanisten ').  und  wie  die  sprachliche  Maskerade  mit  der 
antiken  Mythologie,  waren  auch  die  friedlichen  Umzüge,  die 
bei  jeder  Gelegenheit  in  antiken  Kostümen  stattfanden,  eine 
harmlose  Zerstreuung,  kein  Abfall  vom  Christentum,  wenn 
auch  noch  so  viel  antike  Gottheiten  im  Zuge  marschierten 
oder  gefahren  wurden*). 

Direkte  Angriffe  gegen  die  Kirchenlehre,  Verhöhnung 
der  Mönche,  ketzerische  Ansichten  wurden  oft  ausgesprochen, 
aber  von  der  Kirche  nicht  verfolgt*).  Die  Kirche  war  nur 
da  besonders  empfindlich,  wo  man  ihr  soziales  Gefüge,  ihren 
Besitz  angriff.  Deshalb  schien  ihr  der  den  Humanisten 
feindliche  Savonärola  gefährlicher  als  alle  Humanisten. 
Laürentiüs  Valla  hatte  die  kirchliche  Lehre  wahrlich  nicht 
geschont.  Er  hatte  die  berümte  Schenkung  Konstantins  an 
die  Kurie  als  Fälschung  erwiesen,  die  weltliche  Herrschaft 
der  Päpste  überhaupt  für  unberechtigt  erklärt,  er  hatte  femer 
den  Mönchsorden  die  Existenzberechtigung  abgesprochen, 
die  Abfassung  des  apostolischen  Symbolums  durch  alle 
Apostel  geleugnet,  die  Echtheit  des  Briefes  des  Abgar  von 
Edessa  an  Christus  bestritten  und  die  kirchlich  anerkannte 
Lehre  des  Boethius  von  der  Willensfreiheit  bekämpft*). 
Die  Dominikaner  forderten  im  Jahre  1444  dafür  Rechen- 
schaft von  ihm.  Aber  sein  Landesherr  und  Schützer,  König 
Alfonso  von  Neapel,  wies  sie  zur  Ruhe.  Bei  dem  damaligen 
Papste  Eugen  IV.  blieb  Valla  in  Ungnade,  unter  dessen 
Nachfolger  jedoch,  Nikolaus  V.,  wurde  er  nach  Rom  be- 
rufen, zum  apostolischen  Skriptor  ernannt,  geehrt  und 
reichlich  beschenkt.    Er  lebte   am   Hofe   des  humanistisch 


»)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  285 ;  II,  S.  473  f. 

«)  VgL  Voigt,  I,  S.  476«.,  483,  491;  II,  411—414.  Bubckharüt,  I, 
S  289 

»j  Vgl.  Voigt,  II,  S.  243.  Bürckhardt,  II,  S.  134  ff.,  S.  141  ff. 

*)  Vgl.  BüRCKHAKDT  a.  a.  O.,  II,  S.  228  f.  Voigt,  1,  8.  173 ;  II,  S.  16, 
212 222. 

»)  Vgl.  BuRCKHABDT,  II,  S.  228 f.,  auch  Voigt,  I,  S.  466,  469 ff.; 
n,  S.  475, 


492  FahI  Barth: 

gesinnten  Papstes,  wie  viele  andere,  als  Übersetzer  griechisclier 
Werke »). 

Und  wie  der  christliche  Glaube,  so  wnrde  auch  das 
christliche  Lebensideal  bei  den  Humanisten  durch  einen 
starken  antiken  Einschlag  abgeändert.  Wir  sahen  oben^), 
wie  im  christlichen  Altertum  und  im  Mittelalter  die  Demut, 
die  wesentliche  Tugend,  die  Askese  eine  Pflicht  des  voll- 
kommenen Christen  war. 

Die  Humanisten  sind  von  Askese  weit  entfernt.  Wie 
Petrarca,  der  Zeit  nach  der  erste  der  Humanisten,  zwar 
geistlichen  Standes  war,  aber  Konkubinen  und  uneheliche 
Binder  hatte,  so  sehr  viele  seiner  Nachfolger®).  Wie 
Petrarca  einer  der  ersten  ist,  der  den  Reiz  der  Landschaft 
intim  genießt,  so  ist  ihm  alles  Natürliche  überhaupt  wert- 
voller als  dem  Christentum*).  Der  Demut  ist  im  mittel- 
alterlichen Bewußtsein  entgegengesetzt  die  Ruhmsucht,  wie 
Hrabanus  Maurus  festgestellt  hat^).  Aber  gerade  diese  war 
bei  allen  Humanisten  eine  beständige  Triebfeder  ihres 
Schaifens  und  Handelns. 

Petrarca  sagt  noch  als  Greis,  der  mächtigste  Sporn  für 
hochherzige  Geister  sei  die  Liebe  zum  Ruhme.  Insbesondere 
berauschte  ihn  seine  Dichterkrönung  vom  Jahre  1341  •).  Er 
gesteht,  daß  die  Ruhmsucht  ihn  von  Kindheit  an  beherrscht 
habe,  und  fiirchtet,  daß  sie  ihn  bis  zum  Grabe  beherrschen 
werde.  Er  weiß,  daß  diese  Leidenschaft  unchristlich  ist, 
daß  Augustinus  sie  verwirft.  Aber  er  kann  sich  davon  nicht 
befreien^).  Und  hierin  ist  er  typisch  für  alle  Humanisten, 
auch  den  Papst  Nikolaus  V.®).  Sie  arbeiteten  jedoch  nicht 
bloß  für  die  eigene  Unsterblichkeit,   sondern  nicht  minder 


*)  Vgl.  Voigt  a.  a.  0.,  I,  S.  460,  473  ff.  und  II,  S.  90. 

')  Im  80.  Jahrgänge  (1906)  der  Viertel jahrsschrift,  S.  438  und 
S.  460  f. 

»)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  84,  179;  II,  S.  84,  463  ff. 

*)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  106  ff.     Bürckhardt,  II,  S.  18  ff. 

**)  Vierteljahrsschrift  a.  a.  0.  S.  460. 

«)  Voigt,  I,  S.  127  f. 

')  Vgl.  Voigt,  I,  S.  96,  106  f.,  111,  124  f.,  130  f.,  141.  Bürckhardt, 
I,  S.  154  0. 

")  Vgl.  Voigt,  II,  S.  61. 


Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  Beleuchtung.     493 

far  den  unvergänglichen  Buhm  anderer,  aller  Fürsten  nämlichr 
die  ihre  Lobgedichte  bezahlten.  Besonders  Filelfo  hat 
diesen  „Handel  mit  Verewigung"  zum  förmlichen  System 
ausgebildet^).  In  seinem  über  alles  Maß  erhöhten  Selbst- 
bewußtsein ist  er  keine  Ausnahme,  sondern  der  Typus  der 
Humanisten^).  Auch  sehr  unbedeutende  Taten  der  Fürsten 
wurden  im  Stile  des  Livius  wie  weltgeschichtliche  Ereignisse 
beschrieben;  so  von  Porcello  die  Händel  des  Francesco 
Sforza  und  gleichzeitig  auch  die  seines  Gegners  Giacomo 
PiCcmiNO*).  Bei  vielen  Jünglingen  führte  die  von  den 
Humanisten  genährte  Ruhmsucht  zu  opfervollen  Taten*), 
bei  anderen  mischte  sie  sich  mit  dem  mittelalterlichen  Be- 
griffe der  ritterlichen  Ehre  und  wurde  dadurch  veredelt '^). 
Einer  der  berühmtesten  Humanisten,  Francesco  Filelfo, 
wurde  sogar,  allerdings  unverdienterweise,  vom  Könige 
Alfons  von  Neapel  zum  Ritter  geschlagen.  Verdienter  war 
jedenfalls  die  gleichzeitige  (1453)  Dichterkrönung  durch 
denselben  König  •). 

Mit  dieser  Verneinung  der  Demut,  der  Befreiung  von 
der  Askese  und  der  Hochschätzung  des  Ruhmes  ist  not- 
wendig jener  Individualismus  gegeben,  den  Jakob  Burckhardt 
immer  als  das  Lebensprinzip  der  Renaissance  hervorhebt). 

Trotz  diesem  Individualismus®)  aber  haben  die  Huma- 
nisten ein  lebhaftes  Gefühl  für  ihr  Volk  und  für  ihr  Land. 
Beides  haben  sie  als  neuen  Wert  wieder  entdeckt,  nachdem 
im  Mittelalter  das  Volkstum  vor  dem  Christentum,  das  viele 
Völker  umfaßte,  sehr  zurückgetreten  war.  Petrarca  legte 
zwar  in  seiner  einseitigen  Verehrung  des  klassischen  Lateins 


')  VgL  Voigt,  I,  S.  446  f.,  527-30. 
«)  Vgl.  Voigt,  II,  S.  363  f. 
'»)  VgL  Voigt,  I,  493  f. ;  Blrokhaedt,  I,  S.  105. 
^)  So  bei  den  Mördern  des  Galeazzo  Sforza  von  Mailand,  die  der 
Humanist  Cola  Montaxo  angefeuert  hatte.    Vgl.  Burckhardt,  I,  S.  61. 

•*)   BlTRCKHADT,    II,    S.    164  f. 

«)  Voigt,  I,  S.  496. 

^)  A.  a.  0.  besonders  I,  S.  141—151,  299 f.;  II,  S.  48,  1551,  163. 

^)  Diesen  Individualismus  der  Renaissance  wollen  manche  nicht 

feiten  lassen,  aber  auch  Voigt  (II,  S.  395)  betont  das  Heraustreten 
er  Persönlichkeit  bei  den  Humanisten. 


494  'PsLul  Barth: 

gar  keinen  Wert  auf  das,  was  er  in  der  Volkssprache  ge- 
dichtet hatte ;  desgleichen  die  anderen  Humanisten  ^).    Aber 
das   staatliche   Gedeihen,  besonders   die   staatliche  Einheit 
und  die  Unabhängigkeit  seines  Volkes  von  Fremden  und  wohl 
auch  von   der  Kirche  lagen  ihm  am  Herzen,  waren   sein 
Leben  lang  seine  Sorge,  und  seine  Nachfolger  hegten  diese 
Sorge  nicht  weniger*).    Alle   auch  fühlten  sich  als  Nach- 
kommen  der   alten   Römer,    allen    anderen    Völkern,    den 
„Barbaren",  weit  überlegen^).    Und  wie  Cola  di  Rienzo,  der 
römische   „  Volkstribun" ,   wahrscheinlich   von   Petrarca   er- 
muntert wurde,  so  durch  andere  Humanisten  mehrere  nach 
ihm.      Die     Einheit    Italiens,     zuerst    ohne,     später    mit 
Säkularisierung  des  Kirchenstaates,  war  von  Rienzo  bis  zu 
Machiavelli  eine  Idee,  die  der  Humanismus  angeregt  hatte  ^). 
Mit   der  neuen  Lebensrichtung   und   mit  dem  groöen 
Zuwachs  geistigen  Stoffes,  der  in  der  neu  erwachten  antiken 
Literatur  lag,    mußte  auch  eine  neue  Wertung  der  alten 
Wissenschaften  verbunden   sein.     Die   älteren  Humanisten 
sind   alle   nicht   aus    den  Universitäten  hervorgegangen*^); 
nur  sehr  vorübergehend  und  in  steter  Zwietracht  mit  den 
Magistern    der    alten    Fächer    haben    sie    an   Hochschulen 
gelehrt;  ihre  Wiege  war  die  Republik  Florenz,  in  der  der 
Adel  Handel  und  Politik  trieb,  die  Bildung  also  weltlicher 
war  als   in  jeder  anderen  Stadt  Italiens®).    Ihr  Aufenthalt 
war  fast  immer  ein  Fürstenhof  oder  die  päpstliche  Kurie, 
an  der  sie  nominell -ein  Amt  bekleideten,   oder  sie  fiihrten 
als  freie  Schriftsteller  ein  reines  Privatleben^).    Das  an  den 
Universitäten  gelehrte  unreine  Latein  mußten  die  Humanisten 
als  „barbarisch"  verabscheuen.    Petrarca  vergleicht  es  mit 
einem  verkrüppelten  Baume,  der  weder  grünt  noch  Früchte 
trägt®).      Die   Grammatik   war    ihnen   eine   untergeordnete 

')  Vgl.  Voigt,  I,  S.  166;  II,  S.  159,  396.    Birckhardt,  I,  S.  220. 

»)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  64  f.,  198  f. 

')  Vgl.  Voigt,  II,  S.  360. 

*)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  51  ff.,  61 ;  Burckhardt,  I,  S.  112,  123. 

»)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  190. 


•)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  158  f.,  211,  292,  329,  391  f. 
«)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  35. 


'')  Vgl.  Voigt,  I,  S.  100 ff.;  II,  S.  2  ff .,  78,  371  f. 


•  

Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  Beleuchtung.    495 

Wissenschafb ;  sie  lernten  das  klassische  Latein  aus  den 
Schriftstellern.  Dennoch  haben  sie  allmählich  an  Stelle  der 
alten  grammatischen  Lehrbücher  neue  gesetzt,  zuerst  die 
Schulgrammatik  des  älteren  Guakino,  dann  die  Budimenta 
grammatices  des  Niccolo  Perotti^). 

Die  scholastische  Philosophie  verachtet  der  Humanismus. 
Sie  besteht  für  Petrarca  in  „dialektischen  Klopffechtereien 
und  Sophistereien",  er  verhöhnt  die  Magister  als  Syllogismen- 
krämer „und  die  Doktorwürde,  die  bloß  durch  pomphafte 
Insignien  aus  einem  Dummkopfe  plötzlich  einen  aufgeblasenen 
Weisen  mache** ;  die  Universitäten  sind  ihm  Nester  der 
dünkelhaften  Unwissenheit*).  Und  alle  seine  Nachfolger 
spotten  über  die  Autorität  des  Aristoteles  oder  erklären, 
wie  LioNARDO  Brüni,  die  gangbaren  Übersetzungen  für  so 
schlecht,  daß  Aristoteles  seine  Werke  darin  nicht  mehr  er- 
kennen würde®).  Der  dürren  Logik  stellen  sie  Platos 
Schriflen  oder  die  von  ihnen  selbst  verfaßten  populären 
Traktate  über  Lebensfragen  entgegen.  So  schreibt  Petrarca 
über  die  Einsamkeit  (de  vita  solitaria),  über  die  Mittel 
gegen  Leiden  und  Freuden  (de  remedio  utriusque  fortunae), 
über  die  Muße  der  Mönche  (de  otio  religiosorum),  wo  aber 
nur  die  Kontemplation,  nicht  Buße  und  Kasteiung  empfohlen 
wird*),  PoGGio  über  die  Pflicht  des  Fürsten,  über  den  wahren 
Adel  u.  a,,  Manetti  vier  Bücher  über  die  Würde  und  Hoheit 
des  Menschen,  und  viele  andere  schrieben  über  ähnliche 
Themata  »). 

Aber  nicht  bloß  die  Philosophie,  sondern  alle  Fakultäten 
der  Universität  wurden,  wie  von  Petrarca,  so  auch  von 
seinen  Nachfolgern  gering  geschätzt.  Petrarca  hatte  zwar 
ein  nahes  Verhältnis  zu  Augustinus,  Ambrosius,  Hieronymüs 
und    zu    anderen    Kirchenvätern*),    aber    gar    keines    zur 


')  Vgl.  Voigt,  H,  S.  373,  376  f. 

»)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  70,  78,  und  II,  S.  452  f. 

»)  Vgl.  Voigt,  II,  S.  168. 

*)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  204. 

»)  Vgl.  Voigt,  I,  8.  81 ;  II,  S.  454  f. 

•)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  85  f. 


4(16  Paul  Barth: 

scholastischen  Theologie ').  Seine  Nachfolger  rechneten  die 
Theologie  znm  scholastischen  E[rame  ').  Das  Rechtsstadimn 
hatte  Petrabca  sieben  Jahre  lang  gezwungen  betrieben; 
dennoch  scheint  er  das  Corpos  jnris  Jcstinians  nie  gesehen 
zn  haben.  Und  dem  Kirchenrechte  stand  er  nicht  naher. 
Mit  dem  größten  der  gleichzeitigen  Ejrchenrechtslehrer,  mit 
Giovanni  di  Andrea,  hatte  er  eine  heftige  Fehde,  er  be- 
mangelte  seine  allgemeine  Bildung').  Boccaccio  haßt  die 
Juristen,  ihr  prunkvolles  Aufb-eten,  ihre  Geldgier.  Lionardo 
Bkcni  (Leonardus  Aretinus)  betrachtet  die  Jurisprudenz  als 
gleichgültig  für  die  menschliche  Bildung.  Poggio  richtete 
seinen  Spott  gegen  die  Juristen.  Valla  sagte:  ^Yon  den 
Rechtsgelehrten  ist  kaum  einer,  der  nicht  als  völlig  ver- 
ächtlich und  lächerlich  erscheint  .  .  .  Sie  sind  so  arm- 
seligen Geistes,  so  gedankenlosen  und  törichten  Sinnes,  daß 
ich  das  Mißgeschick  des  bürgerlichen  Rechts  beklage.'' 
Aeneas  Stlvius  fand  den  berühmten  Juristen  Giovanni  da 
Imola  als  ein  Männchen,  dem  alles  in  der  Welt  fremd  war, 
außer  was  er  in  seine  Bücher  geschrieben  hatte.  Für 
M\FF£0  Vegio  verhielt  sich  die  Poesie,  d.  h.  die  humanistische 
Wissenschaft,  zur  Rechtswissenschaft  wie  Licht  zur  Finster- 
nis^). Nicht  höher  als  die  Jurisprudenz  stand  den  Huma- 
nisten die  Medizin  der  Universitäten.  Petrarca  schrieb  vier 
Bücher  Invektiven  gegen  einen  päpstlichen  Leibarzt,  in 
denen  er,  wie  in  seinen  Briefen,  nicht  bloß  diesen,  sondern 
das  ganze  herkömmliche  System  der  HeilkünsÜer  bekämpfte. 
Er  warf  ihnen  vor,  daß  sie  den  Hippokrates  zitieren,  ohne 
ihn  zu  verstehen,  daß  sie  die  kauderwelschen  Namen  ihrer 
Gifte  als  griechische  Weisheit  verehren,  daß  sie  den 
arabischen  Ärzten  folgen,  die  nur  Verachtung  verdienen, 
daß  ihr  ganzes  Gewerbe  betrügerisch  sei  wie  das  der  Astro- 
logen   und    außerdem    schmutzig^).      Poggio    und     andere 


')  Vgl.  Voigt,  I,  S.  86 f.;  H,  S.  468. 
«)  Vgl.  V<»i«T,  11,  S.  466. 


')  Vgl.  Vüior,  I,  S.  76  ff. 
*)  Die  Nach  weise  aller  dieser  Äußerungen  von  Boccaccio  bis  Vecju» 
bei  Voigt,  II.  S.  455,  477—485. 
»)  Vgl.  Voior.  I,  S.  74—76. 


Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  Beleuchtung.    497 

Humanisten  des  florentinischen  B^reises  ergossen  ihren  Spott 
über  die  Ärzte  ^). 

Was  die  Humanisten  Neues  brachten,  war  —  nach  ihrer 
eigenen  Benennung  —  „Poesie  und  Eloquenz"  (poesis  et 
eloquentia),  wie  auch  Vergil  und  Cicero  Petrarcas  erste 
Liebe  waren  ^).  Die  Humanisten  selbst  hießen  in  ihrem 
eigenen  und  in  anderer  Munde  „Dichter  und  Redner" 
(poeta  et  orator)  *).  Sie  verstanden  unter  ihrem  Fache  aber 
noch  mehr,  als  diese  Namen  besagen,  nämlich  Kenntnis  der 
ganzen  antiken  Literatur,  nicht  bloß  der  Dichter  und  der 
Redner,  sondern  auch  der  Philosophen  und  der  Historiker, 
tind  Nachahmung  aller  dieser  Schriftsteller,  insbesondere 
freilich  der  Dichter  und  Redner,  weil  zum  Dichten  und 
zum  feierlichen  Reden  das  Leben  am  Fürstenhofe  oder  an 
der  Kurie  oder  überhaupt  der  Wettbewerb  um  die  Gunst 
der  Mächtigen  sehr  häufigen  Anlaß  bot*).  Sehr  bald  ge- 
hörte aber  zur  Poesie  und  Eloquenz  auch  die  Kenntnis  der 
Realien  des  Altertums^). 

Diese  ganze  geistige  Bewegung,  die  Entdeckung  neuer 
geistiger  Werte,  die  geringere  Achtung  der  vorhandenen 
maßte  auf  alle  Lebensgebiete  umwälzend  wirken.  Die 
sichtbarsten,  noch  heute  anschaulichen  Folgen  ergaben  sich 
tur  die  Kunst,,  die  sich  nun  von  der  byzantinischen  Starrheit 
befreite  und  zu  menschlich  freier  Beweglichkeit  und  Schön- 
heit entfaltete.  Eine  solche  Kunst  war  nur  möglich,  nach- 
dem die  Humanisten  die  geistige  Gebundenheit  des  Mittel- 


*j  Vgl.  Voigt,  II,  S.  487  f.  Wie  wenig  die  Medizin  der  mittel- 
alterlichen Universität  leistete,  wie  sehr  sie,  gleich  dem  übrigen 
Wissenschaftsbetrieb  derselben,  bloßes  Nachbeten  der  Autoritäten  war, 
lehrt  ein  kennzeichnender  Fall  aus  Heidelberg  bei  O.  Kx^muel,  Die 
Universitäten  im  Mittelalter  in  K.  A.  Schmid,  Geschichte  der  Erziehung, 
Stuttgart  1892,  H,  1  (S.  334—548),  S.  459  f. 

2)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  26  ff. 

«)  Vgl.  Voigt,  II,  S.  894  f. 

♦)   Vgl.    BURCKHARDT,    I,    S.    261  ff. 

*)  Vgl.  Voigt,  I,  S  174 f.  Sie  wurde  durch  Sammeln  von  allen 
unterstützt,  besonders  begründet  aber  durch  Cola  di  Rigxzo,  Cibiaco 
VON  Anco^ia,  Mabsüppini,  Vegio,  Flavio  Bioxdo.  Vgl.  Voigt,  I,  S.  58  f., 
269-286,  8181,  881,  459,  568;  H,  14,  34  ff.,  48,  393  f.,  502  ff.  Burck- 
HARDT,  I,  S.  198,  195  f. 


408  Paul  BartL: 

alters  gelöst  hatten.  Ihre  Ideen  wirkten  teils  mittelbar 
durch  die  allgemeine  geistige  Lebenslnft  anf  die  Künstler, 
teils  unmittelbfiur  durch  persönlichen  Verkehr,  wie  z.  B. 
Fabio  Calvi  mit  Raffael  in  engem  Verkehr  stand  und  viel- 
leicht ihm  die  Ideen  mancher  Komposition,  z.  B.  der  Schule 
von  Athen,  eingegeben  hat^). 

Und  wie  auf  alle  sozialen  Lebens&nktionen.  mußte  der 
neue  Geist  auch  auf  die  Pädagogik,  auf  ihre  Theorie  wie 
auf  ihre  Praxis,  umgestaltend  einwirken. 

Was  zunächst  die  Theorie  betriflft,  so  bemerken  wir 
bei  den  zwei  ersten  pädagogischen  Theoretikern  des  Humanis- 
mus sofort  den  Kampf  gegen  die  bisherige  Organisation 
der  Erziehung  sowie  gegen  den  bisherigen  Stoff  des 
Unterrichts  und  für  die  neu  entdeckten  geistigen  Werte. 

Pier  Paolo  Vergemo  (Petrus  Paulus  Vergerius)  war  der 
erste,  der  als  Humanist  über  die  Erziehung  schrieb  *).  Sein 
Buch  de  ingenuis  moribus  et  liberalibus  studiis  ist  um  das 
Jahr  1400  abgefaßt  worden").  Er  erwähnt  nirgends  die 
klösterliche  Erziehung,  nur  die  häusliche  hat  er  im  Auge, 
und  gibt  darum  Vorschriften  für  den  freien,  geselligen 
Verkehr*).  Neben  dem  Eltemhause  ist  nur  der  Staat 
Organisator  der  Erziehung.  „Einiges  pflegt  der  Staat  durch 
G-esetze  zu  bestimmen.  Er  sollte  aber,  sozusagen,  alles  be- 
stimmen. Denn  es  liegt  im  Interesse  des  Staates,  daß  die 
Jugend  gesittet  sei,  und  wenn  sie  methodisch  unterrichtet 
ist,  so  wird  dies  ihr  gut  und  dem  Staate  nützlich  sein"*). 
Es  ist  dies  ein  Gedanke,  der  durchaus  der  mittelalterlichen 


»)   VgL   BüRCKHARDT,    I,    S.   803. 

«)  VgL  Voigt,  II,  S.  459.  Vkugeriüs  ist  1349  zu  Capo  d'Istria  ge- 
boren; er  studierte  in  Padua,  lehrte  daselbst  auch,  lernte  später  bei 
Makubl  Chrysoloras  in  Florenz  Griechisch  (vgl.  Voigt,  I,  S.  229),  war 
dann  Erzieher  im  Hause  des  Francesco  von  Carrara,  des  Herrn  von 
Padua,  und  lebte  zuletzt  am  Hofe  des  Kaisers  Sigismund,  wo  er  auch 
gestorben  ist.  VgL  auch  K.  Hartfelder,  Erziehung  und  Unterricht 
im  Zeitalter  des  Humanismus  in  K.  A.  Schmid,  Geschichte  der  Er- 
ziehung, II,  2,  Stuttgart  1889  (S.  1—156),  S.  15  ff. 

*)  Ich  zitiere  nach  einem  Drucke  in  einem  Sammelbande  päda- 
gogischer Schriften,  Basel  1541,  S.  621—676. 

*)  A.  a.  0.  8.  635. 

»)  A.  a.  O.  8.  682. 


Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  Beleuchtung.     499 

Aiiffassung  widerspricht,  der  im  Alterbum,  besonders  in  der 
Blütezeit,  in  bezug  auf  die  Gjonnastik  herrschend  war*) 
und  vom  Humanismus  wiedererweckt  wurde. 

Die  eigentliche  Erziehung,  die  Willensbildung,  soll  nun 
durch  Vorbüd,  Warnung  (besonders  vor  der  Lüge)  und  Be- 
hütung (besonders  vor  der  Sinnlichkeit)  bewirkt  werden. 
Gegen  die  klösterliche  Härte  richtet  sich  offenbar  der  Satz: 
„Wie  allzu  große  Freiheit  die  guten  Anlagen  zersetzt,  so 
zerstört  andauernde  und  strenge  Bestrafung  die  Kräfte  des 
Geistes." «) 

Als  Gegenstände  des  Unterrichts  empfiehlt  er  die  sieben 
freien  Wissenschaften,  außerdem  aber  Poetik,  Zeichenkunst, 
Perspektive,  Physik,  Medizin  und  Jurisprudenz,  Doch  soll 
nicht  jeder  alles  lernen,  sondern  jeder  seiner  Begabung  ent- 
sprechende Wissenschafben  sich  aussuchen®). 

Das  Ideal  ist  für  alle  nicht  ein  klösterliches,  nicht  ein- 
seitige geistige,  sondern  beiderseitige,  körperliche  und 
geistige  Tüchtigkeit.  Besonders  aber,  noch  mehr  als  andere, 
sollen  die  Fürstensöhne  zur  Vorbereitung  auf  den  Krieg 
ihren  Körper  ausbilden  und  an  Mühen  gewöhnen*).  Die 
studia  liberaha  überhaupt  sind  diejenigen,  „durch  welche 
der  Körper  oder  der  Geist  zu  allem  Guten  befähigt 
wird"  *).  Nächst  der  Tugend  sind  Ehre  und  Ruhm  der 
Lohn  für  den  Gebildeten®). 

Dies  alles,  besonders  die  letzten,  sind  durchaus  antike 
Gedanken.  Sein  Hauptgewährsmann  ist  wohl  Akistoteles, 
den  er  öfter  zitiert,  von  dem  er  die  Forderung  des  Zeichen- 
unterrichts ausdrücklich  entlehnt'),  doch  nennt  er  neben 
ihm  auch  Plato,  Cicero,  Horaz  und  andere. 

LiONARDO  Bruni  (Leonardus  Aretinus),  der  Staats- 
kanzler von  Florenz,  der  Historiker  seiner  Vaterstadt,  der 

')  Vgl.  P.  Barth  in  Vierteljahrsschrift,  28.  Jahrgang  (1904X  S.  321  f. 

«)  A.  a.  O.  S.  689. 

«)  S.  649—655. 

*)  S.  661  f. 

»)  S.  637. 

«)  A.  a.  0. 

')  A.  a.  0.  S.  650: 

Viertel JAbrsaohrift  f.  wisaeDSchaftl.Philos.  a.Soz.  XXXII.  4.  82 


500  Paul  Barth: 

sie  in  elegantem  Latein  feierte,  während  die  beiden  älteren 
ViLLANi  italienisch  schrieben,  der  erste  der  Italiener,  der 
gründlich  Griechisch  lernte,  der  berühmte  Übersetzer 
griechischer  Werke*),  der  Freund  Poisoiosi  des  eifrigen 
Handschriftensammlers,  und  des  hxmianistischen  Staatsmannes 
Salutato,  hat  sich  vor  allem  für  die  heidnischen  Autoren 
und  ftr  ihre  Verwendung  im  Unterrichte  ausgesprochen. 
Seine  Schrift  De  studiis  et  literis  tractatulus,  an  Isabella 
•{oder  Baptista)  von  Malatesta  gerichtet*),  ist  gewiß  nicht 
viel  jünger  als  die  Verqerios.  Ehr  verachtet  die  gewöhnliche 
verworrene  Bildung,  die  jetzt  die  Theologen  geniefien.  „Es 
ist  eine  Schande ,  wie  wenig  die  Gelehrten  jetzt  von  (der 
alten)  Literatur  verstehen" ,  im  Gegensatz  zu  Lactantiüs, 
Hieron YMüS  und  Augustinus,  die  in  der  Theologie  und  in 
der  Kenntnis  der  (heidnischen)  Literatur  gleich  grofi  waren*). 
Nur  die  besten  lateinischen  Autoren  von  anerkannter 
Schreibweise  sollen  gelesen  werden,  „alles  unkundig  und 
unkorrekt  Geschriebene  ist  ein  Unglück  und  ein  Flecken 
für  unsem  Geist"  (S.  4).  Am  höchsten  preist  er  Cicero  : 
„Was  für  ein  Mann,  unsterblicher  Gott!  "Welche  Bered- 
samkeit, welche  Fülle!  "Wie  vollkommen  ist  er  in  der 
(Kenntnis  der)  Literatur!"  (S.  5).  Von  den  Christen  ist 
Lactantiüs  der  beredteste.  Nach  Cicero  kommt  „die  Zierde 
und  "Wonne  unserer*)  Literatur,  Liviüs",  dann  Sallustius 
und  andere  Dichter  und  Prosaiker.  „Mit  diesen  soll  man 
sich  erfüllen  und  nähren  und,  so  oft  man  etwas  zu  sagen 
oder  zu  schreiben  hat,  kein  "Wort  gebrauchen,  das  man 
nicht  vorher  bei  einem  von  ihnen  geftinden  hat*  (S.  5.) 
Auch  ist  lautes  Lesen  der  Prosaiker  nötig,  damit  man  des 
Rhythmus,  der  auch  in  der  Prosa  nicht  fehlt,  gewahr  werde. 
"Von  den  Stoffen,   die  mit  der  Sprache  immer  zugleich  zu 


M  Vgl.  Voigt,  I,  S.  226,  894 f.:  II,  S.  163. 

^)  Icn  zitiere  sie  nach  der  Ausgabe,  die  A.  Israkl  (Sammlung 
selten  gewordener  pädagogischer  Schriften  des  16.  und  17.  Jahr- 
hunderts, VI,  Zschopau  1880)  nach  dem  Drucke  von  Leipzig  1496  ver- 
anstaltet hat. 

0  A.  a.  0.  S.  3  f. 

*)  Man  beachte  immer,  daß  den  italienischen  Humanisten  die 
i'ömische  Literatur  eine  vaterländische  istl 


Die  Geechichte  der  Erziehung  in  soziologischer  Beleuchtung.    501 

lernen  sind,  stellt  er  neben  die  christliche  Theologie,  die 
&ber  nnr  aus  den  alten  Autoren,  besonders  aus  Augustinus, 
zu,  schöpfen  ist,  die  heidnische  Philosophie,  die  Geschichte, 
besonders,  aus  nationalem  Interesse,  die  römische  (S.  9  f.). 
Alle  antiken  Dichter  und  Prosaiker  verteidigt  er  endlich 
gegen  den  Vorwurf,  daß  sie  viel  Schlechtes,  besonders 
Buhlschafben  und  Verbrechen  enthalten.  Er  meint,  solches 
sei  in  der  Minderzahl  gegenüber  den  Beispielen  guter  Ge- 
sinnung, wie  sie  etwa  Homer  in  Penelopes  Treue  gegen 
Odysseus  biete.  Zudem  seien  die  Liebeshandel  bei  den 
Alten  erdichtet  und  oft  allegorisch  zu  deuten;  die  vielen 
Verbrechen  aber  und  Buhlschafben,  die  in  der  Bibel  vor- 
kommen, seien  wahr.  Wenn  man  trotz  diesen  die  Bibel 
lese,  so  müsse  man  erst  recht  die  heidnischen  Dichter  lesen 
(S.  14  f.)  Zu  ihrer  Verteidigung  übersetzte  Brüni  auch  die 
Bede  des  heiligen  Basilius  über  den  Nutzen  des  Studiums 
der  heidnischen  Schriftsteller  ins  Lateinische^).  Dieselbe 
Verteidigung  der  alten  Autoren  finden  wir  später  bei  Aeneas 
Sylvius  in  seiner  Schrift  de  liberorum  educatione^);  er  be- 
ruft sich  außerdem  auf  den  Vorgang  des  Apostels  Paulus, 
der  heidnische  Dichter  gelesen  haben  müsse,  da  er  im 
Briefe  an  Titus  einen  Vers  des  Epimenides  ,  anderswo  einen 
Vers  des  Menander  zitiere  •). 

Solche  Schätzung  der  Alten,  wie  sie  Lionabdo  Bruni, 
und  solche  Tendenz  zur  Weltlichkeit  der  Erziehung,  wie 
sie  Vergerio  zeigt,  waren  die  natürliche  Haltung  der  Huma- 
nisten, die  durch  die  neue  Kenntnis  der  Alten  und  durch 
die  neue  Lebensanschauung  gegeben  war.  Aber  sie  wurden 
in  dieser  Haltung  auch  noch  bestärkt  durch  zwei  pädagogische 
Theoretiker  des  Altertums,  die  damals  entdeckt  wurden. 
Im  Jahre  1415  oder  1416  fand  Poggio  das  ganze  Werk 
QüiNTiUANS  de  institutione  oratoria*),  das  ja  zur  Beredsam- 

')  Vgl.  Voigt,  II,  S.  164. 

^)  Er  war  unter  dem  Namen  Plus  II.  Papst  von  1458  bis  1464. 
Seine  pädagogische  Schrift  ist  vorher  geschrieben. 

')  Vgl.  Aeneae  Sylvii,  Pii  Pontificis,  De  liberorum  educatione 
(Opera  Basileae  1571,  S.  966—992),  S.  982  f. 

♦)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  238  f. ;  H,  S.  354. 

:32* 


502  Paul  Barth: 

keit,  also  zu  einer  humanistischen  Knnst  zu  fiihren  ver- 
sprach und  darum  begeistertv  au%enommen  wurde.  Es  gibt 
bekanntlich  vielfach,  besonders  im  ersten  Buche,  allgemeine, 
nicht  bloß  auf  den  Redner  bezügliche  Vorschriften  über 
Erziehung.  Nicht  lange  darauf  wurde  auch  die  dem  Plutarch 
zugeschriebene  Schrift  „über  die  Erziehung  der  Kinder** 
bekannt.  Denn  Plutarchs  Bücher  gehören  zu  den  frühesten, 
die  durch  Übersetzung  dem  Abendlande  vertraut  wurden  ^). 
Beide  Autoren,  Plutarch  und  Quintilian,  befinden  sich 
in  einer  ähnlichen  Orientierung  wie  die  Humanisten.  Beide 
wünschten  in  der  eigentlichen  Erziehung,  in  der  Bildung 
des  Willens,  einen  anderen  Weg  eingeschlagen  als  den  bis- 
her befolgten.  Sie  verwarfen  ganz  und  gar  die  Methode 
des  Prügeins,  die  in  der  Blütezeit  der  antiken  Republiken 
die  wesentliche  war^).  Auch  die  Humanisten  mußten  ja^ 
im  allgemeinen  gegen  die  klösterliche  Erziehung  gerichtet^ 
die  !in  dieser  übliche  Prügelstrafe,  die,  wenn  nicht  die 
Seele,  doch  der  Mechanismus  der  klösterlichen  Zucht  war, 
folgerichtig  verwerfen.  Während  aber  Vergerio  bloß  einen 
zu  hohen  Grad  der  Strenge  verbietet,  äußert  sich  Maffeo 
Vegio  (Maffeus  Vegius),  obgleich  religiös  und  kirchlich 
gesinnt,  unter  dem  Einflüsse  Quintiiians  viel  bestimmter: 
„(die  Knaben)  sollen  nicht  mit  Schlägen  gezüchtigt  werden"  •), 
und  begründet  dies,  wie  Quintilian,  damit,  daß  es  „Sklaven, 
nicht  freien  Menschen  zukomme"  (geschlagen  zu  werden)  *). 
Wie  Quintilian,  will  er  an  Stelle  der  Schläge  die  Erweckung 
des  Ehrgeizes  setzen^).  Daß  im  Alten  Testament  so  sehr 
das  Schlagen  empfohlen  wird ,  erklärt  er  aus  der  in  der 
Bibel  bezeugten  Hartnäckigkeit  der  Juden,  hält  es  aber  auch 


^)  Vgl.  Voigt,  II,  S.  177  f. 

-)  Vgl.  P.  Barth  in  der  Vierteljahrsschrift  28.  Jahrgang  (1904), 
S.  829,  414,  420. 

•)  Vgl.  Makpeus  Vk(3iu8,  De  educatione  liberorum  et  eorum  daris 
moribus  libri  sex,  Paris  1511,  I,  Kap.  16.  Entstanden  ist  diese  Schrift 
wohl  um  1450. 

*)  Qnxiii.iAN,  inst.  or.  1, 3, 13:  quia deforme  atque  servile  est  (caedi); 
Maffei:h  Veoiu8:  „Servis  enim  ea,  non  liberis  hominibus  conveniunt.'^ 

^)  Vgl.  QriN.ii.iAx  a.  a.  O.,  I,  2,  §  22—26;  Maffeus  Vkoiüb  a.  a.  O. 
und  II,  Kap   ö— 10. 


Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  Beleuchtung.    503 

dagegen  fiir  unwirksam  und  ermahnt,  lieber  des  heiligen 
Panlns  Weisungen  zur  Milde  zu  befolgen  ^).  Diese  Anleihe 
bei  QuiNTiLiAN  kehrt  nun  bei  allen  humanistischen  Pädagogen 
wieder,  bei  Francesco  Filelfo*),  bei  Aeneas  Sylvius')  und 
bei  Battcsta  Guarino  dem  jüngeren,  dem  Sohne  des  großen 
praktischen  Pädagogen  gleichen  Namens^). 

"Was  aber  nicht  die  eigentUche  Erziehung,  sondern  den 
Unterricht  betrifft,  und  zwar  zunächst  den  Stoff  des  Unter- 
richts, so  waren  auch  hierin  die  Humanisten  in  einer  ähn- 
lichen Lage  wie  die  hellenistischen  Pädagogen.  Beiderseits 
blickte  man  auf  eine  reiche  Literatur  der  Vergangenheit 
zurück.  Plütarch  betrachtet  die  griechischen  Dichter, 
Historiker  und  Redner,  Quintilian  außer  diesen  auch  die 
römischen  als  die  Nahrungsquellen  für  den  jugendlichen 
Geist,  die  das  erste  und  wichtigste  Unterrichtsfach,  die 
„Grammatik"',  dem  Zögling  eröffnen  sollte.  Und  zum  großen 
Teile  dieselben  "Werke  sind  auch  für  die  Humanisten  Gegen- 
stand der  Verehrung,  in  der  sie  nun  durch  Plütarch  und 
QuiimLiAN  bestärkt  wurden. 

Das  zweite  Fach  der  hellenistischen  Erziehung  war  die 
Rhetorik.  Plütarch  gibt  die  Vorschrift,  daß  junge  Leute 
nie  aus  dem  Stegreif  reden  sollen,  eine  Vorschrift,  die  sich 
dem  Zusammenhange  nach  nicht  bloß  auf  politische  oder 
gerichtliche  Reden,  sondern  auch  auf  den  privaten,  geselligen 


1)  A.  a.  0.  I,  Kap.  17. 

*)  In  seinem  über  Kindererziehung  handelnden  Briefe  an  Matthias 
Triyianus,  den  Erzieher  des  Giangaleazzo  Sforza  in  Mailand.  Tgl. 
Hartfelder  a.  a.  0.  S.  80. 

•)  A.  a.  0.  S.  967.  Er  benift  sich  auf  Quintiman  mit  wörtlicher 
Anlehnung  und  auf  Plütarch.  Übrigens  schreibt  Aeneas  an  Ladislaus 
Postmnus,  Herzos;  von  Österreich,  ^önig  von  Ungarn  und  Böhmen, 
der,  zehn  Jahre  alt,  selbst  erzogen  wird,  so  daß  es  sehr  seltsam  klingt, 
wenn  er  z.  B.  sa^  (S.  969):  „In  bezug  auf  den  Liebesgenuß  muß  man 
mehr  einen  Janghng  als  einen  Knaben  (eben  diesen  Ladislaus)  warnen**, 
und  dann  doch  vor  diesem  Knaben  über  die  Pflichten  der  Lehrer 
sich  verbreitet. 

*)  De  ordine  docendi  et  studendi ,  S.  67  f.  Ich  zitiere  nach  der 
Ausgabe  Jena  1704  mit  Vorrede  von  B.  G.  Stru>'e.  Guarino  fOgt  noch 
hinzu,  daß  die  Furcht  vor  Schlägen  zu  Täuschungen  verleitet,  indem 
die  Schüler  ihre  schriftlichen  Arbeiten  von  anderen  machen  lassen. 


504  Paul  Barth: 

Verkehr  bezieht*).  Und  bei  Qüintiuan  ist  ja  die  Beredsam- 
keit das  Ziel  der  ganzen  Erziehung.  Auch  diesem  Ziele 
kam  die  Tendenz  der  Humanisten  entgegen,  die  ja  seit 
Petrarca  nicht  bloß  „Dichter **,  sondern  auch  „Redner"  von 
Beruf  sein  wollt-en.  Seit  Vegio  wird  darum  die  Vorschrift 
Plutarchs  wiederholt.  Er  sagt*):  „die  Knaben  sollen  in 
Mafi  gehalten  werden,  damit  sie  sich  gewöhnen,  weder  aus 
dem  Stegreif  noch  nach  allzulanger  Vorbereitung  zu  reden. 
Denn  im  zweiten  Falle  droht  abergläubische  Selbstüber- 
schätzung, im  ersten  leichtsinnige  und  eitle  Geschwätzigkeit, 
sowie  lächerliche  und  unbescheidene  Verwegenheit  zu  ent- 
stehen." Aeneab  Sylvius  schreibt  an  den  König  Ladislaus 
dasselbe'):  „Wenn  ein  Lehrer  den  Schüler  aus  dem  Steg- 
reife reden  läfit,  so  schafil  er  die  Gefahr  äufierster  Schwatz- 
hafbigkeit.  Ich  will  nicht,  daß  dir  als  einem  Knaben  zu 
grofie  Freiheit  des  Redens  gewährt  werde." 

Das  dritte  Fach  der  hellenistischen,  enzyklopädischen 
Bildung  war  die  Philosophie.  Plütarch  verlangt,  daß  ihr 
Studium  zur  Hauptsache  des  Unterrichts  gemacht  werde. 
Er  vergleicht  sie  mit  dem  Kyniker  BiON  der  Königin  Penelope, 
der  Gattin  des  Odysseus,  alle  anderen  Zweige  der  Wissen- 
schaft bloß  den  Dienerinnen  derselben^).  Und  QuiNnuAN 
hält  die  Moralphilosophie  für  einen  notwendigen  Teil  der 
Rhetorik,  da  der  Redner  ein  sittlich  guter  Mann  sein  müsse'). 
Darum  wird  die  Philosophie  auch  für  den  humanistischen 
Unterricht  gefordert.  Vegio  •)  findet  in  ihr  die  ,Lehrmeisterin 
unseres  Lebens'',  indem  er  sich  mit  Quinulian  auf  die  Moral- 
philosophie  beschränkt.    Dasselbe  tut  am  Schlüsse  seiner 


^)  Vgl.  seine  Schrift  ,,über  die  Erziehung  der  Kinder^,  Kap.  9. 
Das  vorangehende  Zitat  aus  Ecbipwes  spricht  vom  „engen,  trauten 
Freundeskreise'*. 

»)  A.  a.  O.  II,  Kap.  18. 

•)  A.  a.  O.  S.  974. 

^)  A.  a.  O.  Kap.  10.  Von  diesem  Vergleiche  stammt  wohl  die 
bekannte  Bezeichnung  der  Philosophie  als  „der  Königin  der  Wissen- 
schalten 

»)  Vgl.  P.  Barth   im. 28.  Jahrgang  (1904)  der  Vierteljahrsachrift, 
•)  A.  a.  O.  III,  Kap.  8.     ' 


Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  Beleuchtung.    505 

Schrift  Aeneas  Stlviüs.  Guarino*)  wünscht  ebenfalls  mit 
Bemfiing  auf  Qüintilian  philosophischen  Unterricht.  Zuerst 
sollen  die  Zöglinge  Ciceros  moralphilosophische  Schriften 
fleißig  lesen,  dann  nicht  bloß  Aristoteles'  Ethik,  sondern 
auch  die  „bewährtesten  Dialektiker^ ,  also  die  Logiker, 
„auswendig  lernen **,  zuletzt  Plato,  die  Quelle  Ciceros,  gründ* 
lieh  kennen  lernen. 

Mit  dieser  Betonung  der  Ethik  hängt  zusammen,  daß 
überall  von  den  Humanisten  die  Erlernung  von  Sentenzen 
der  Dichter,  Historiker  und  Philosophen  als  Erziehungs- 
mittel gerühmt  wird^).  Denn  solche  Sentenzen  enthalten 
ja  immer  einen  Beitrag  zur  Lebensweisheit.  Aeneas  Sylvius 
rät,  daß  der  Zögling  täglich  Verse  oder  bedeutungsvolle 
Sentenzen  aus  berühmten  Autoren  dem  Gedächtnis  ein- 
präge*»).  GüARiNO  wünscht,  daß  die  Schüler  aus  den  Autoren 
über  jeden  der  verschiedenen  Gegenstände  sich  Sentenzen 
sammeln^).  Besonders  Terenz  und  Juvenal  sind  seiner 
Meinung  nach  dafür  sehr  ausgiebig.  Wer  diese  beiden  be- 
reit hat,  besitzt  die  Fähigkeit,  über  alles  schmuckvoll  zu 
reden  iind  eine  Sentenz  beizubringen*). 

"Was  aber  die  Methode  des  Unterrichts  betriffii,  so  ist 
besonders  Qüintilian  bemüht  um  ein  Verfahren,  das  den 
Kindern  die  Studien  angenehm  macht.  Die  gleiche  Tendenz 
bekennt  Filelfo*).  Schon  das  Lesenlemen  will  Qüintilian 
ja  vom  Spiele  unterstützt  wissen,  indem  er  den  Kindern 
elfenbeinerne  Buchstaben  in  die  Hand  gibt*).  Diese  Maß- 
regel findet  sich  bei  Filelfo  wieder"')-  Für  die  spätere 
Zeit  wünscht  Qüintilian,  daß  der  Unterricht,  um  durch  Ab- 
wechslung angenehm  zu  wirken,  verschiedene  Fächer  gleich- 
zeitig umfasse.     Dieselbe  Fordenmg  erheben  Vegio®)  und 


')  A.  a.  O.  S.  84f. 

<)  Vgl.'VKoioII,  kap.  19.  «»)  A.  a.  O.  S.  975. 

«)  A.  a.  0.  S.  87. 

*)  A.  a.  0.  S.  82. 

')  Vgl.  Hartfelder,  S.  31. 

•)  Inst.  OT.  I,  1,  §  26. 

')  Vgl.  Hartfelder,  S.  30. 

»)  A.  a.  O.  II,  Kap.  20. 


506  Paul  Barth. 

Aeneas  Sylvius^).  Für  den  Erfolg  des  Unterrichts  hält 
QüiNTiLiAN  wie  Ptütabch  das  Gedächtnis  för  wesentlich. 
Aber  während  Plutaroh  nur  die  Mnemotechnik  empfiehlt, 
also  künstliche  Gedächtnishilfe,  weiß  Qüintilian  außer  dieser 
auch  die  natürlichen  Erleichterungen  des  mechanischen 
Lernens  und  die  Vorteile  des  judiziösen  Gedächtnisses  an- 
zugeben. Die  humanistischen  Pädagogen  wiederholen  die 
Empfehlung  der  Übung  des  Gedächtnisses,  sowohl  Vkgio*) 
als  Aeneas  Sylvius®)  und  Guarino*),  ohne  freilich  so  weit 
wie  ihr  Meister  in  Einzelvorschriften  einzugehen. 

Aus  der  großen  Wichtigkeit,  die  Qüintiuan  dem  Ge- 
dächtnis beimißt,  folgt  die  Beflirwortung  des  frühen  Anfangs 
des  Unterrichts.  Er  sagt:  „Verlieren  wir  also  nicht  gleich 
die  erste  Zeit!  Um  so  weniger,  weil  die  Elemente  der 
Bildung  nur  dxu*ch  das  Gedächtnis  zustande  kommen,  das 
bei  den  Kleinen  nicht  bloß  vorhanden,  sondern  sogar  in 
diesem  Alter  sehr  treu  ist  und  alles  sehr  festhält.^  Er 
verwirft  die  Ansicht,  die  erst  mit  dem  siebenten  Lebens- 
jahre den  Unterricht  beginnen  will.  Vielmehr  soll  schon 
die  Amme  nicht  bloß  nach  pädagogischen,  sondern  auch 
nach  didaktischen  Bücksichten  gewählt  werden.  Sie  soll 
nicht  bloß  sittlich  gut  sein,  sondern  auch  richtig  sprechen*). 
Vegio  folgt  hierin  seinem  klassischen  Gewährsmann  nicht, 
sondern  hält  mit  den  anderen  antiken  Pädagogen  am  be- 
ginnenden siebenten  Lebensjahre  ftir  den  Anfang  des  Unter- 
richts fest  *).  Aeneas  Sylviüs  ')  hingegen  wiederholt  Quintilians 
Forderung,  der  sich,  wie  wir  noch  sehen  werden,  auch 
spätere  Humanisten  anschließen. 

Durch  die  große  Autorität,  die  Plütarch  und  Qüintilian 
wegen  der  Ähnlichkeit  ihrer  Tendenzen  mit  den  huma- 
nistischen erlangten,  erklärt  es  sich  auch,  daß  in  dem  neuen 


»)  A.  a.  O.  S.  991. 

*)  A.  a.  0.  II,  Kap.  12. 

»)  A.  a.  O.  S.  975  f. 

*)  A.  a.  0.  S.  69. 

*)  Vgl.  QriMiLiAx,  Inst,  or,  I,  1,  §  4 f.  und  §  15—20. 

•)  A.  a.  0.  II,  2. 

•)  A.  a.  O.  S.  972. 


Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  Beleuchtung.    507 

Erziehnngsplane  der  Humanisten  die  antike  Gymnastik 
zurücktritt.  Denn  diese  war  ja  zu  Plütärchs  und  Quintilians^ 
Zeit  längst  nicht  mehr  lebendig.  Bei  Plütarch  ist  noch 
ein  dürftiger  Rest  von  ihr  als  freiwiUige  Übung  übrig,  das 
Speerwerfen  ^) ;  Qüintilian  erwähnt  sie  gar  nicht.  Die  huma- 
nistischen Pädagogen  sprechen  darum  von  Gymnastik  nur, 
wo  es  sich  um  die  Erziehung  eines  Fürsten  handelt.  So 
Aeneas  Sylviüs,  da  er  an  einen  König  schreibt.  Er  will 
aber  keineswegs  die  antiken  Leibesübungen  erneuert  wissen, 
sondern  vielmehr  aus  dem  königlichen  Knaben  einen  Be- 
kämpfer  der  Türken  machen  und  schreibt  die  Vorbereitung 
zu  einem  solchen  Kriege  vor,  besonders  das  Bogenschießen  •), 
Die  Gymnastik  des  klassischen  Hellenentums  fand  erst  Be- 
achtung, als  die  humanistische  Bewegung  in  Italien  ihren 
Höhepunkt  längst  überschritten  hatte.  Der  venetianische 
Arzt  HiERONTMUs  Mercurialis  war  es,  der  in  seinen  de  arte 
gymnastica  libri  sex  1569  eine  aus  den  Quellen  geschöpfte 
Darstellung  des  hellenischen  Fünfkampfes  gab  und  seine 
Wiedereinführung  für  die  Erwachsenen  nicht  minder  als 
für  die  Kinder  empfahl*).  .  Für  die  Praxis  trug  sein  Buch 
in  Italien  keine  Früchte  mehr. 

Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  daß  die  hier  entwickelten 
pädagogischen  und  didaktischen  Theorien  auch  bald  auf 
die  pädagogische  Praxis  einwirkten.  Die  älteren  Genera- 
tionen der  Humanisten  verachteten,  wie.  wir  gesehen  haben, 
den  Betrieb  der  Wissenschaften,  den  die  Universitäten 
pflegten  und,  nahmen  nur  selten  und  vorübergehend  ein 
Lehramt  an  einer  Hochschule  an  *).  Viel  weniger  hören  wir 
in  Italien  von  der  Erwiderung  dieser  Verachtung,  da  alle 
Italiener,  auch  die  Magister  der  Scholastik,  an  der  antiken 
Literatur  ein  patriotisches  Interesse  hatten.    Darum  drang 


1)  Vgl.  a.  a.  O.  Kap.  11. 

*)  A.  a.  O.  S.  968. 

•)  Vgl.  W.  Krampe,  Die  italienischen  Humanisten  und  ihre  Wirksam- 
keit für  die  Wiederbelebung  irymnastischer  Pädagogik,  Breslau  1895, 
S.  109  f.,  112  f. 

*)  Vgl.  Voior,  I,  S.  340;  II,  S.  49—52. 


508  Paul  Barth: 

4 

diese  gegen  Ende  des  15.  und  Anfang  des  16.  Jahrhunderts 
in  aUe  Universitäten  ein»)  und  herrschte  in  ihnen  un- 
beschränkt,  bis  die  Jesuiten  zur  Durchsetzung  ihres  Pro- 
gramms eine  Beschränkung  bewirkten. 

Nicht  geringer  war  die  Umwandlung,  welche  die  Mittel- 
schulen erfuhren.  Viele  derselben  waren,  wie  im  übrigen 
Europa,  klösterlich,  viele  zu  einem  Dome  gehörig,  viele 
aber,  verhältnismäßig  mehr  als  in  anderen  Ländern,  unter 
der  Leitung  der  Stadtgemeinden.  Diese  letzten  waren  wohl 
weniger  vom  klösterlichen  Geiste  beherrscht  als  die  anderen 
beiden  Arten.  Und  es  erhoben  sich  nun  praktische  Päda- 
gogen, die  diesen  Geist  überhaupt  verbannten.  So  Vittobixo 
Rambaldoni  von  Feltre  (1378 — 1446),  der  in  Mantua  die 
Söhne  des  Markgrafen  zusammen  mit  anderen  Knaben  zu 
erziehen  hatte,  auf  einer  Medaille,  die  ihm  zu  Ehren  ge- 
prägt wurde,  „omnis  humanitatis  pater**  genannt').  Der 
Name,  den  seine  Schule  bei  den  Bürgern  hatte,  „Casa 
Giocosa,  Haus  des  Frohsinnes",  bezeugt  den  neuen  Q^ist, 
der  hier  herrschte').  Der  Körper,  an  den  das  Kloster  nie 
dachte,  wurde  zwar  nicht  durch-  antike  Gymnastik,  aber 
durch  Tumspiele  ausgebildet*).  Die  Zucht  wurde  nicht 
durch  Schläge,  sondern  durch  freundliche  Mahnung  gehand  - 
habt. Von  den  römischen  Prosaikern  ließ  er  Cicero  am 
meisten  lesen,  aber  auch  Livius  und  Quintilian,  von  den 
römischen  Dichtem  Vergil,  die  Elegiker  dagegen  nicht 
wegen  der  Bedenklichkeit  ihrer  Stoffe,  von  den  Griechen 
Homer  und  Hesiod,  aber  auch  schon  die  tragischen  Dichter. 
Das  echt  humanistische  Auswendiglernen  von  Sentenzen 
oder  schönen  Stellen  der  Dichter  pflegte  er  eifrig*).  Ognibene 
DA  LoNiGO  wurde  sein  Nachfolger  in  der  Giocosa  •). 

ViTTORiNOS  Zeit-  und  Berufsgenosse  war  Battista  Güarixo 
aus  Verona  (1370 — 1460),  gleich  ihm  Schüler  des  Humanisten 

')  Z.  B.  in  die  Universität  zu  Rom.    Vgl.  Bcbckhahdt,  I,  S.  228. 

'')  Vgl  YoiQT,  I,  S.  543. 

»)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  535  ff.  und  Burckhardt,  I,  S.  229  ff. 

*)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  539. 

*)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  541. 

•)  Vgl.  Voior,  I,  S.  543. 


Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  Beleuchtung.    509 

Giovanni  da  Ravenna  *) ,  aber  des  Griechischen  kundiger  als 
ViTTORiNO.  Er  hatte  es  —  seiner  Armut  wegen  als  Diener  — 
bei  Manuel  Chrysoloras  in  Byzanz  gelernt,  den  er  tief  ver- 
ehrte und  laut  rühmte  •).  Wie  Vittorino  in  Mantua,  hielt 
er  in  Ferrara  eine  berühmte  Schule  nach  denselben  Grund- 
sätzen •).  Wie  sehr  er  von  der  mittelalterlichen  Methode 
abwich,  geht  daraus  hervor,  dafi  er  nach  eigenen  Kom- 
pendien lehrte,  in  denen  alles  Überflüssige  und  Verwirrende 
der  alten  Grammatiken  we^elassen  war^),  auch  Chrysoloras' 
griechische  Grammatik  zu  einem  Schulbuche  umarbeitete  ^). 

Den  Schulen  Bambaldonis  und  Guarinos  näherten  sich 
alle  städtischen  Lateinschulen  in  Italien  in  ihrem  Lehrplane 
und  in  der  Art  der  Erziehung,  bis  auch  in  ihnen  die  durch 
die  Jesuiten  bewirkte  Reaktion  sich  geltend  machte. 

Diese  ganze  humanistische  Umwandlung  der  Erziehung 
aber  war  sozialer  Natur.  Sie  war  die  Folge  einer  geistigen 
Umwandlung  in  der  Gesellschaft.  Denn  nicht  jede  soziale 
Veränderung  ist  ökonomischen  oder  politischen  Ursprungs. 
Freilich  trug  nun  ihrerseits  wieder  die  neue  Erziehung  viel 
bei,  um  die  neue  Weltanschauung,  aus  der  sie  hervor- 
gegangen war,  in  den  Gemütern  zu  befestigen.  Die  Er- 
ziehung ist  selten  die  Mutter,  immer  aber  die  unentbehr- 
liche Amme  eines  neuen  geistigen  Lebens. 


»)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  218. 

^  Vgl.  Voigt,  I,  S.  281f.,  344 f.;  II,  S.  114. 

*)  Vgl.  Voigt,  I,  S.  440  f.,  Bürckhakdt,  I,  S.  232  ff. 

*)  VgL  Voigt,  I,  S.  551  ff.;  II,  S.  376. 

»)  Vgl.  Voigt,  II,  S.  381. 


9^^¥^^99^^^¥^9^¥^9¥^^9¥^^^^*^99^W^^^^^^^^^\ 


I. 

Besprechnngen. 

Max    Sehinz^   Die   Moralphilosophie    von    Tetens. 
Leipzig  1906,  Teubner.     152  S. 

Die  Moralphilosophie  von  Tbtexb,  eine  Svntheee  von  Hume  und 
Leibhiz,  hatte  zur  Zeit  ihres  Erscheinens  nicnt  die  ihr  gebührende 
Beachtung  gefunden,  weil  bald  darauf  die  Hauptwerke  Kants  er- 
schienen waren.  Verf.  will  sie  daher  noch  nachträglich  zu  Ehren 
bringen. 

Ein  großes  Verdienst  des  Teteks  besteht  darin,  daß  er  bei  der 
Ausgeetaltung  seiner  Moralphilosophie  die  Empfindungen  als  eine 
selbständige  Klasse  elementarer  iBewußtseinsvorKänge  unterschied, 
während  die  Engländer  bis  dahin  mit  komplexen  GFröden,  wie  Leiden- 
schaften und  ASekten,  operiert  hatten.  Die  Gefühle  im  heutigen 
Sinne  nennt  er  Empfindnisse. 

Verf.  verbreitet  sich  in  eingehender  und  zugleich  kritischer 
Weise  zunächst  über  die  Psychologie  des  Tetkns.  Er  behandelt:  Die 
Beproduzibilität  der  Empfindnisse.  Ursprüngliche  und  abgeleitete 
Empfindnisse.  Über  die  rührende  Kraft  aer  jfcSnpfindungen  und  Vor- 
stellungen. Wesen  und  Beetandteile  der  Aktion.  Die  Beproduzibilität 
der  Aktion.  Die  Sympathie.  Da  die  hier  niedergelegten  Gedanken 
zur  Begründung  der  nachfolgenden  Moralphilosophie  von  Bedeutung 
sind,  so  sei  ihre  Lektüre  dem  Leser  empfohlen.  Wir  beschränken 
ims  auf  den  letzten  Absdmitt:  Die  Erfordernisse  der  freien  Handlung. 
Zwei  Merkmale  führt  Tetenb  als  hierzu  erforderlich  an:  erstens  die 
erößere  Unabhängigkeit  des  tätigen  Wesens  von  äußeren  Dingen, 
die  Selbstbestimmung,  Selbstmacht  der  Seele  über  sich,  zweitens  die 
Verbindung  mit  der  Vernunft  und  höheren  Denkkraft,  wodurch  die 
Seele  befud^  wird,  Handlungen  zu  unterlassen  oder  auf  andere 
Weise  zu  vollbrinffen.  Bezüglich  des  ersten  Merkmals  werden  mehrere 
Stufen  unterschieden.  Tbiünb  beschreibt  zunächst  eine  Anzahl  Vor- 
gänge, welche  zur  Freiheit  nur  indirekt  in  Beziehung  stehen,  indem 
sie  oie  Seele  in  den  Zustand  reger  Wirksamkeit  versetzen.  Die  nächst 
höhere  Stufe  bildet  die  erweckte  Selbsttätigkeit.  Mit  der  VorsteUung 
des  Objekts  einer  Handlimg  verbindet  sich  ein  reproduziertes  Lust- 
gefühl und  erzeugt  gewisse  Spannungsgefühle.  Hierzu  tritt  dann  der 
Entschluß  als  eine  aus  dem  Innern  kommende  Selbsttätigkeit.  Verf. 
zeigt,  daß  Tetens  mit  dem,  was  er  hier  unter  Freiheit  versteht,  nicht 
das  Bichtiffe  getroffen  hat.  Die  dritte  Stafe  ist  die  völlige  Selbst- 
tätigkeit.   AnSi  was  Tetens  bei  der  Behandlung  des  zweiten  Merk- 


512  C.  M.  Gießler: 

mala  sagt,  enthält  manches  Unzutreffende.  Die  Größe  der  Freiheit 
und  damit  auch  die  Moralität  entspricht  nach  ihm  der  Summe  der 
tfttieen  Kraft  und  des  Vermögens  zum  Gegenteil.  Diese  Summe  von 
beiden  macht  die  ganze  reeue  physische  Größe  der  freien  Kraft  in 
dem  handelnden  Wesen  aus.  Dies  ist  die  absolute  Größe  der  Freiheit. 
Man  kann  aber  auch  die  relative  Größe  messen.  Diese  besteht  in  dem 
Verhältnis  der  beiden  entgegensesetzten  Vermögen  zueinander.  Sie 
ist  „um  so  erößer,  je  ji^ßer  das  Vermögen  zum  Gegenteil  in  Be- 
ziehung auf  das  Vermögen  ist,  welches  sicn  wirklich  äußert.** 

Wenden  wir  uns  mm  dem  eigentlichen  Kern  des  Buches  zu! 
Tktbnb  unterscheidet  absolute  und  relative  Werte.  Mit  Bücksicht  auf 
alle  Kräfte  und  Vermögen  des  Leibes  und  der  Seele  besitzt  der 
Mensch  einen  inneren  absoluten  physischen  Wert.  Soweit  diese 
Realitäten  zu  Gegenständen  des  Gefühls  werden,  also  Güter  und 
Übel  bedeuten,  haben  sie  auch  inneren  respektiven  Wert.  Sofern 
aber  die  Bealitäten  des  Menschen  auch  für  andere  Menschen  Be- 
deutung haben,  besitzt  der  Mensch  auch  äußeren  oder  relativen  Wert. 
Der  absolute  Wert  entspricht  dem  Selbstzweck  der  sittlichen  Per- 
sönlichkeit. Das  andere  Moralprinzip  ist  die  individuelle  und  all- 
gemeine Glückseligkeit.  Tetens  hat  also  zwei  moralische  Wert- 
schätzungen nebeneinander.  Die  körperlichen  Vollkommenheiten  sind 
keine  absoluten  Werte  für  den  Menschen,  weil  sie  etwas  Zusammen- 
gesetztes sind,  wohl  aber  die  seelischen  Bealitäten:  umfassender  ent- 
wickeltes Gefühls-,  Vorstellungs-  und  Willensleben,  von  denen  das 
letztere  das  bedeutendste  ist.  Daher  das  erste  Prinzip  der  Moral: 
-Mensch,  erhöhe  deine  Selbstätigkeit!**  Darin  liegt  die  Erhöhung  der 
Menschheit.  £s  gibt  eine  niedere  and  eine  höhere  Stufe  der  Tugend : 
1.  Die  Gutartigkeit  der  Triebe  und  Begierden,  die  Bechtschaffenheit 
der  Gesinnunjg.  2.  Die  Herrschaft  der  Seele  über  sich,  das  selbständige 
Vermögen,  die  Kräfte,  Triebe  und  Bestrebungen  mit  innerer  Freiheit 
zum  Ziele  zu  lenken.  Es  ist  dies  das  Handeln  aus  Pflicht.  Die  erste 
Stufe  hat  einen  relativen,  die  zweite  einen  absoluten  Wert  Sofern 
auch  die  erste  Stufe  erworben,  also  erkämpft  wird,  besitzt  sie  höheren 
Wert.  Die  natürliche  Gutmütigkeit  ist  nur  der  Körper,  nur  das 
Vehikulum  der  Tugend.  Bosheit  ist  Schwäche  an  Selbsttätigkeit. 
Die  relativen  Vollkommenheiten  beziehen  sich  auf  einen  nachfolgenden 
Glückseligkeitszustand.  Dies  ist  bei  den  absoluten  Vollkommenheiten 
nicht  der  Fall.    Die  Glückseligkeit  besteht  im  Überwiegen  der  Lust- 

fefühle  über  die  Unlustgefünle.  Zur  passiven  Lust  muß  aktive 
ommen ,  welche  aus  der  Tätigkeit  erwäcnst.  Für  Tbtbms  lautet  die 
Frage:  Wie  wird  die  Tätigkeit  lustvoll?  Vom  Naturtrieb  kann  man 
nur  mit  einer  Einschränkung  sagen,  er  gehe  auf  Glückseligkeit.  Denn 
er  zeigt  uns  an  und  für  sich  noch  nicht  die  richtigen  Objekte,  weldie 
unserer  Natur  die  angenehmsten  sind.  Tbtens  ist  der  Ansicht,  daß, 
je  mehr  der  Mensch  vervollkommnet  ist,  er  einer  desto  größeren 
Glückseligkeit  fähig  werde.  Tugend  entsteht  nach  ihm  in  der  Weise, 
daß  die  Vorstellungen  von  dem  Effekt  der  einzelnen  sittlichen  Hand- 
lungen verbunden  mit  den  entsprechenden  Lustgefühlen  sich  nach 
rückwärts  alle  mit  derselben  Vorstellung  assoziieren,  nämlich  der  Vor- 
stellung der  sittlichen  Handlung  selbst.  An  diese  Vorstellung  als 
einen  gemeinsamen  Mittelpunkt  legen  sich  reproduzierte  Lustgefühle 
an,  indem  die  Effektvorstellungen  wegfallen. 

Erfurt.  C.  M.  Giksslui. 


Lebenszweck  und  Weltzweck..  513 

0«  Werner,  Lebenszweck  undWeltzweck  oder  die 
zwei  Seinszustände.  Leipzig  1907,  Haberland.  274S. 

Die  von  uns  wahrgenommenen  Dinge  täuschen  uns  nicht,  sondern 
sie  offenbaren  den  Sinnesorganen  ihr  wirkliches  Wesen  in  einer  der 
materiellen  Beschaffenheit  derselben  entsprechenden  Weise.  Für  das, 
was  ein  Din^  ist,  kommen  jedoch  nur  seine  inneren  Beziehungen  in 
Betracht.  Die  Körper  nun  werden  in  ihrer  Natur  und  Erscheinung 
stets  mitbedingt  von  einem  urkörperlichen  Etwas,  das  als  Kraft  be- 
zeichnet werden  kann,  und  das  senr  häufig  als  Wärme  sich  entpuppt. 
Schon  Hblmholtz  führt  den  Stoff  auf  Materien  mit  unveränderten 
Kräften  (unvertilgbaren  Qualitäten]  zurück.  Es  sind  einfache  Wesen- 
heiten, Dinge  für  sich.  Kräfte  also  bilden  die  inneren  Beziehungen 
des  Körpernchen.  Im  Grunde  genommen  gibt  es  nur  eine  Kraft, 
welche  in  verschiedener  Form  auftritt.  Das  Gesetz  von  der  Erhaltung 
der  Kraft  aber  gilt  nach  Verf.  nur  für  tote  Körper,  woil  es  sich  auf 
äufiere  Beziehungen  erstreckt.  Er  bemüht  sich,  dieses  Gesetz  für 
lebende  Körper  zu  entkräften,  indem  er  zu  beweisen  sucht,  daß  die 
kalorimetrischen  Versuche,  welche  die  Frage  nach  diesem  Verlust 
zum  Gegenstände  haben,  gar  nicht  nötig  gewesen  seien.  Nie  erhalten 
wir  völlig  und  rein  die  Wärme  aus  dem,  was  der  Körper  empfangen 
hat.  Verf.  spricht  daher  von  einem  „Verschwinden  der  Kraft  aus 
der  Erscheinung'^.  Und  diese  Annahme  bildet  den  Kernpunkt,  auf 
welchen  die  nun  folgenden  philosophischen  Auseinandersetzungen  ge- 
gründet werden. 

Nichts  kann  wirklich  verschwinden,  sondern  sich  höchstens  um- 
wandeln. Für  den  vorliegenden  Fall  ist  anzunehmen,  daß  das  Sein 
aus  dem  diesseitigen  Zustand  in  den  jenseitigen  übergeht,  daß  nämlich 
ein  Teil  dieser  Körperwärme  zur  Basis  für  bewuste  seelische  Vor- 
gänge wird.  Aus  der  im  Diesseits  uns  anhaftenden  Stofflichkeit  er- 
steht uns  ein  Hindernis  des  Schauens,  des  Verfol^ens  der  Fäden 
unserer  Beziehungen  ins  Üngemessene.  Den  jenseitigen  seelischen 
Inhalt  erwerben  wir  uns  durch  diesseitige  Denkarbeit.  Im  Jenseits 
gibt  es  nur  fertige  Tatsachen.  Wir  haben  dabei  nur  die  Bolle  des 
Schauens.  Wohl  aber  wächst  der  Überblick  über  das  Ganze  und  die 
Vertiefung  in  das  Einzelne.  Auch  das  tierische  und  pflanzliche  Sein 
haben  Anspruch  auf  die  jenseitige  Welt.  Jedes  Geschöpf  schaut  dort 
nach  seiner  eigenen  „kreatürlichen**  Art. 

Leben  entsteht  nicht  aus  Totem,  sondern  umgekehrt  läßt  das 
Lebendige  Totes  zurück.  Das  Leben  bildet  eine  Kette,  deren  erster 
Ursprung  sich  dem  Blick  entzieht.  Der  Stoff  verdichtet,  verstofflicht 
sich  immer  mehr  und  mehr.  Das  Leben  kann  also  nichts  Stoffliches 
gewesen  sein.  Das  Kennzeichen  des  Lebens  ist  die  Bewußtheit.  Als 
zum  ersten  Male  Bewußtsein  auftrat,  trat  das  Sein  aus  sich  heraus, 
ohne  seine  Einheit  aufzugeben.  Aber  das  Ziel,  welchem  das  Sein  zu- 
strebte ,  war  damit  noch  nicht  erreicht.  Zur  vollen  Bewußtheit  ge- 
hörte nicht  bloß  das  Bewußtsein,  daß  es  sei ,  sondern  auch ,  was  es 
sei.    Es  mußte  also  der  ersten  Heraussetzung  noch  eine  zweite  folgen. 

Von  dem  eiiisti^en  bewußten  Sein  ist  dem  stofflichen  Sein  nur 
noch  ein  Trieb  übng  geblieben:  der  Trieb  nach  absoluter  Un- 
beschränktheit,  der  Drang,  sich  selber  alles  zu  sein.  Mit  fort- 
schreitender Verstofflich  ung  versiegt  die  Daseinskraft  mehr  und 
mehr.  •— 

Obwohl  Werner  große   Belesenheit  auf  naturwissenschaftlichem 
Gebiete  zeigt,  müssen  doch  seine  Spekulationen  mit  großer  Vorsicht 


514  C.  M.  Gießler: 

aufgenommen  werden.  Der  größere  Teil  des  Buches  wendet  sich 
überhaupt  an  ^das  Ahnen  eines  gläubigen  Gemüts".  Immerhin  dürften 
seine  PhantasiestQcke  über  das  Jenseits  für  viele  interessant  sein. 

Erfurt.  C.  M.  Giessi.bitw 

Wolfgang  SehulZy  Studien  zur  antiken  Kultur. 
Heft  n  und  HI.  Erste  Hälfte.  Altjonische  Mystik. 
"Wien  und  Leipzig  1907,  Akademischer  Verlag.    355  S. 

Ein  von  wissenschaftlichem  Greiste  getragenes  Werk,  welches 
sich  einem  der  interessantesten  Teile  der  Philosophie  widmet! 

Bevor  Verf.  zur  eigentlichen  Behandlung  seines  Gegenstandes 
übergeht,  macht  er  sich  die  Schwierigkeiten  klar,  welche  dem  Forscher 
hier  entgegenstehen.  £r  findet  sie  zunächst  im  fragmentarischen 
Zustande  des  Überlieferten,  sodann  in  der  Schwierigkeit,  die  Lehren 
der  Philosophie  einheitlich  zu  verbinden,  sie  aus  der  Persönlichkeit 
des  Systembegründers  zu  entwickeln  und  auf  die  Kultur  ihrer  Zeit 
zu  beziehen,  wobei  es  auch  unerläßlich  ist,  aus  einzelnen  überlieferten 
Sätzen  dominierende  Gedanken  zu  entwickeln.  Verf.  weist  darauf  hin, 
daß  für  den  Philosophen  Methodenlehre  und  Logik  eine  nebensäch- 
liche Eolle  spielen,  und  daß  das  Wegefinden  die  Hauptsache  ist.  Der 
Philosoph  muß  danach  streben,  „mit  möglichst  gemeinverständlichen» 
möglichst  erweisbaren  Sätzen  letzte  Erlebnisse  auszusprechen". 
„Philosophie  ist  der  Ausdruck  eines  Innenlebens  von  Sätzen,  welche 
wahr,  d.  h.  erweisbar  und  deshalb  gemeinverständlich  sem  sollen.*^ 
Hierin  liegt  zugleich  der  Grund,  weshalb  Philosophie  aus  sich  heraus 
Wissenschaft  zeitigt:  Die  Philosophen  -schaffen  Wissen,  um  ver- 
standen zu  werden".  Umgekehrt  iindet  die  Wissenschaft  durch  ihre 
Methoden  keine  „großen  Einsichten^,  sondern  durch  Bemerkungen, 
welche  „im  Kopfe  des  Begnadeten  plötzlich  ein  ganz  neues  System 
auslösten^. 

Was  nun  das  vorliegende  Thema  betrifft,  so  stimmen  nach  Yerf . 
die  Mystiker  immer  mehr  miteinander  überein,  „je  mehr  sie  sich  in 
die  Abrunde  ihrer  Gedanken  versenken"*.  Und  es  ist  die  Aufgabe 
des  Philosophiehistorikers,  „in  der  Einheit,  welche  die  Mystik  in  sich 
schließt,  ein  orientierendes  Prinzip  für  die  Geschichte  der  antiken 
Philosophie  wie  der  Philosophen  überhaupt  nachzuweisen".  „Die 
Gesamtneit  des  von  Leben,  Lehre  und  Wirken  eines  Philosophen 
Überlieferten  ist  noch  nicht  dessen  System".  Letzteres  ergibt  sich 
dadurch,  „daß  die  erhaltenen  Lehren  miteinander  organisch  verbunden 
und  als  Einheit  gegliedert  werden". 

Nach  solchen  und  anderen  wichtigen  Vorbemerkungen  behandelt 
Verf.  der  Reihe  nach  die  Philosophie  von  Thales,  Axaxulandkr, 
Amaximemes,  Xenophanes,  Alkmaion  von  £botom  und  Paemenides.  Den 
Schluß  des  Buches  bilden  Abschnitte  über  Biographisches,  über 
Pythagorische  Traditionen  und  über  philosophische  Systematik. 

Erfurt.  C.  M.  GiEasusR. 

P.  Beck^  Die  Ekstase.  Ein  Beitrag  zur  Psychologie  und 
Völkerkunde.  Bad  Sachsa  im  Harz  1906,  Hermann 
Haacke.    255  S.    6  M. 


Die  Ekstase.  515 

Die  heutige  experimentelle  Psychologie  ist  in  der  Hauptsache 
Seelenchemie;  sie  faßt  das  Seelenleben  als  Verbindungen  von  Emp- 
findungen und  Elemexrtargef Uhlen  auf,  vermag  es  aber  so  wenig  ver- 
ständlich zu  machen,  so  wenig  die  Biologie  den  Bau  eines  Organismus 
lediglich  durch  chemische  und  physikalische  Begriffe  würde  ver- 
ständlich machen  können.  Diese  berücksichtigt  vielmehr  die  gesamten 
Lebensverhältnisse  und  die  Entwicklung,  erflärt  den  Bau  eines  Wal- 
fisches aus  seinem  Leben  im  Meere  bzw.  aus  einem  früheren  terre- 
strischen Dasein.  Das  Obiekt  der  Psychologie  hat  nun  mit  der 
Biologie  weit  mehr  Yerwanatschaft  als  mit  der  Chemie.  So  kann  der 
Versuch  aussichtsreich  erscheinen,  die  Grundbegriffe  der  Biologie  für 
die  Psychologie  fruchtbar  zu  machen.  Insbesondere  muß  dem  bio- 
logischen Begriffe  der  Lebensverhältnisse  der  psychologische  Begriff 
der  Gesamtlage  des  Bewußtseins  nachgebildet  und  der  Entwicklungs- 

fedanke  in  umfassendem  Maße  herangezogen  werden.  G^samtlage 
es  Bewußtseins :  beim  ästhetischen  und  beim  normalen  Sehen  z.  S. 
befinden  wir  uns  in  verschiedenen  Bewußtseinslagen.  In  der 
Konsequenz  des  Entwicklungsgedankens  liegt  es,  daß  die  psychische 
Gesamtlage  verschiedene  Stufen  durchwandelte.  Solcher  Stufen  sind 
drei  festzustellen:  1.  Unvermögen  Ich  und  Außenwelt  zu  unter- 
scheiden; Instinkthandlungen,  deren  Subjekt  die  Art  ist;  Stufe  der 
niederen  Tiere.  2.  Innere  Nachahmung;  Nachahmungshandlungen, 
deren  Subjekt  die  Gemeinschaft  ist;  gesellige  Tiere,  Mensch.  3.  Gegen- 
überstellung von  Ich  und  Außenwelt;  Vernunfthandlungen,  deren 
Subjekt  das  Ich;  der  heutige  Mensch.  Wie  die  psychische  Situation 
der  Nachahmung  uns  noch  am  deutlichsten  erkennbar  ist  aus  der 
Sprache  (Metapher,  S.  9,  17)  und  der  Mythologie  (sogenannte  Per- 
Honifikation,  S.  6  ff.,  17),  so  ist  die  Crform  des  Bewußtseins,  die  sich 
also  von  der  nachahmenden  und  vernünftigen  Seele  durch  Abwesen- 
l^eit  aller  Vorstellungen  unterscheidet,  uns  bekannt  in  dem  seelischen 
Verhalten  des  Menschen  in  den  Momenten,  in  denen  sein  Handeln 
dem  instinktiven  Tun  des  Tieres  gleicht  oder  doch  nahekommt  (S.  11). 
Solche  Zustände  sind  der  Heißhunger,  die  Wut,  die  Panik  u.  a.  (S.  19); 
in  solchen  Momenten  nehmen  wir  ein  Objekt  nicht  in  gewöhnlicher 
Weise  als  einen  zur  Außenwelt  gehörigen  Ge^enstana  wahr.  Die 
Affekte  sind  nun  freilich  wohl  immer,  auch  m  den  höchsten  Zu- 
ständen der  Erregtheit,  von  Vorstellungen  begleitet,  sie  bieten  also- 
kein  reines  Bild  des  ürbewußtseins,  sondern  nur  ein  verwandtes,  von 
den  späteren  Bewußtseinslagen  affiziertes;  ein  wirklicher  Büokfall 
in  das  Urbewußtsein  hingegen  ist  der  ekstatische  Zustand.  Vergleicht 
man  die  Ekstase  mit  einem  alten  meerbedeckten  Kontinent,  so  sind 
die  Affekte  die  aus  dem  Meere  der  Sitte  und  Vernunft  hervorragenden, 
an  die  Urzeit  erinnernden  Inseln,  die  nicht  mehr  die  alten  Berg- 
spitzen selbst  sind,  sondern  durch  das  umgebende  Meer  vielfach  ver- 
ändert (S.  50). 

Auf  Grund  einer  kritischen  Betrachtung  der  Selbstzeugnisse 
RiBOTS,  Ekkbharts,  Anu.  Silesius,  der  Hi..  Thekese  u.  a.  werden  folgende 
Merkmale  der  Ekstase  festgestellt:  1.  Das  Ichbewußtsein  verschwindet; 
2.  das  Bewußtsein  von  Baum  und  Zeit  geht  verloren;  3.  es  fehlen 
alle  Vorstellungen  und  Begriffe.  Letzterer  Umstand  hat  zur  Folge, 
daß  eine  adäquate  Beschreioun^  der  Ekstase  ausgeschlossen  ist;  nur 
der  philosophisch  Gebildete  wird  sie  als  Identität  von  Objekt  und 
Subjekt  bestimmen;  andere  benutzen  je  nach  Zeitanschauung  und 
Bildungs^ad  die  weitverbreitete  Unterscheidung  einer  sinnlichen  und 
übersinnlichen   Welt,    bezeichnen    sie    etwa    als  Besessenheit  durch 

Vierteljahrsschrift  f.  wiseecschaftl.  Philo«.  u.Souol.  XXXII.  4.       33 


516  Walther  Regler: 

ein  fremdes  Ich  statt  als  einen  ichlosen  Zustand.  Unter  den  physio- 
logischen Begleiterscheinungen  weisen  besonders  die  Empfindungen 
des  Gleichgewichts,  des  Lichtes  und  der  Hautmuskulatur  auf  einen 
Zusammenhang  mit  tierischen  (marinen)  Ahnen  hin.  —  Diese  ent- 
wicklungsgeschichtliche  Erklärung  der  Ekstase  erscheint  mir  als  das 
prinzipiell  \Vichtieste  an  Becks  Buch.    Wenn  der  menschliche  Körper 

far  nicht  verstanden  werden  kann  ohne  beständige  Bezugnahme  auf 
ie  früheren  Stadien  der  Entwicklung ,  so  wird  das  bei  der  mensch- 
lichen Seele  nicht  anders  sein.  „Nicht  nur  Knochen  und  Muskeln, 
sondern  auch  die  Beschaffenheit  des  Blutes  und  der  Nerven  ändern 
sich  im  Laufe  der  Entwicklung.  Damit  ist  es  aber  auch  höchst 
wahrscheinlich  gemacht,  daß  die  Form  des  Bewußtseins  sich  ändert" 
(S.  22).  Vielleicht  geht  Bkck  dabei  zu  weit;  so  wenn  er  z.  B.  (S.  258 ff.) 
den  jüdischen  Propheten  und  Jesus  ein  Persönlichkeitsbewußtsein 
einfach  abstreitet.  Ob  sich  die  menschliche  Seele  in  ihren  elementaren 
Fähigkeiten  so  sehr  und  so  schnell  verändert  habe,  ist  doch  wohl 
fraglich  (vgl.  P.  Barth,  Elemente  der  Ei^iehun^s-  und  Unterrichts- 
lehre, 2.  A.,  1908,  S.  7).  Aber  vielleicht  ergibt  sich  das  aus  weiteren 
Untersuchungen  zur  Stammesgeschichte  der  menschlichen  Seele,  die 
in  der  Bichtung  des  BECKSchen  Gedankens  unternommen  werden 
müßten  (Becks  Buch  über  die  Nachahmung  ist  mir  leider  nicht  bekannt). 
Hinsichtlich  der  BECKSchen  Ekstasentheorie  selber  scheint  freilich 
noch  nicht  alles  spioichreif.  Einmal  stehen  den  vorzüglichen  Aus- 
führungen Beck»  über  das  Fehlen  der  Voratellungen  bzw.  der  Außen- 
welt im  Bewußtsein  der  Pflanzen  und  niederen  Tiere  (S.  12  ff.)  die 
fegen  teiligen  Ansichten  anderer  Forscher,  insbesondere  Franc  £d  in 
essen  sämtlichen  Werken  und  in  verschiedenen  Aufsätzen  in  der 
Zeitschrift  für  den  Ausbau  der  Entwicklungslehre  gegenüber;  den 
höheren  Tieren  schreibt  auch  Beck  Vorstellungen,  wenn  auch  nicht 
Erinnerungen  zu  (S.  201).  Aber  auch  angenommen,  der  Zustand  der 
Ekstase  und  der  des  Bewußtseins  eines  niederen  Organismus  sei 
faktisch  der  gleiche,  so  ist  damit  der  Rückfallcharakter  der  Ekstase 
2war  wahrscheinlich,  aber  nicht  unbedingt  erwiesen.  Klarer  wäre 
-die  Sache  vielleicht  geworden,  wenn  Beck  der  Kontinuität  des  Ur- 
bewußtseins  oder,  was  dasselbe  ist,  des  ekstatischen  Bewußtseins  vom 
niederen  Organismus  bis  auf  den  Menschen  mehr  Aufmerksamkeit 
geschenkt  hätte. 

Aber  auch  wer  aus  diesen  oder  anderen  Gründen  den  prinzipiellen 
Erörterungen  Beokh  seine  Zustimmung  hat  etwa  versagen  müssen, 
wird  in  den  folgenden  Kapiteln  reiche  Belehrung  und  vielseitige  An- 
regung finden.  Im  dritten  und  vierten  Kapitel  wird  das  Verhältnis 
der  Ekstase  zur  Religion  behandelt  und  nachzuweisen  versucht,  daß 
das  Neue  und  Wesentliche  der  höheren  Beligionen  (Christentum, 
Islam,  Buddhismus),  wodurch  sie  sich  von  den  bloßen  Mytholo^en 
und  Kultusreligionen  unterscheiden,  ekstatische  Moment«  sind. 
Religion  ist  der  seelische  Zustand,  der  sich  vom  gewöhnlichen  mensch- 
lichen Bewußtsein,  das  auf  dem  princi^ium  individuationis  beruht, 
fenerell  unterscheidet,  indem  er  Atman  ist,  die  Einheit  von  Ich  und 
richtich  oder  das  Gefühl  der  Abhängigkeit,  d.  h.  der  Zustand,  in 
dem  das  Ich  sich  dem  Unendlichen  ningibt ,  als  Einzeldasein  ver- 
schwindet, um  am  Leben  des  Universums  teilzunehmen.  Je  stärker 
also  das  ekstatische  Moment,  um  so  reiner  die  Religion.  Im  Christen- 
tum ist  die  Religion  mit  der  Moral  eng  verwachsen,  obwohl  die 
Moral  als  soziale  Erscheinung  mit  der  Tendenz  auf  Vervollkommnung 
also  Selbstbehauptung  geradezu  in  einem  gewissen  Antagonismus  zur 


Die  Ekstase.  517 

Heligion  steht.  Die  geschichtliche  Entwicklung  des  ekstatischen  Er- 
lebens verläuft  nach  Beck  folgendermaßen.  In  der  altjüdischen 
BreUeion  ist  die  Ekstase  nur  ein  Mittel,  die  göttliche  Hilfe  herbei- 
zuführen, im  Prophetismus  dient  sie  der  AuswtOil  der  Individuen,  die 
den  Willen  der  Gottheit  verkündigen  sollen.  Der  Inhalt  der  Religion 
wird  erst  in  den  letzten  Jahrhunderten  vor  Christus  durch  sie  be- 
einflußt, was  sich  am  deutlichsten  kundgibt  in  der  Aufnahme  der 
Idee  der  Unsterblichkeit,  in  der  die  Tatsache  Ausdruck  findet,  daß 
der  Fromme  Erlebnisse  gehabt  hat,  für  die  Zeit,  Baum,  Welt  nicht 
vorhanden  waren;  in  diese  Beihe  gehört  Jesus,  mehr  noch  Paulus, 
„Johannes"  und  der  Gnostizismus,  während  die  in  der  Welt  sich  ein- 
richtende Kirche  das  ekstatische  Moment  auf  Dogma  und  Mönchtum 
beschränkte.  Der  Protestantismus  schob  in  seiner  Diesseitigkeit  und 
Lebensfreude  auch  dies  ab,  wie  alles ^  was  zur  Aufhebung  des  Ich 
führt.  „Die  Kemlieder  des  Protestantismus  könnten  auch  bei  einem 
Höhenfest  um  900  v.  Chr.  gesungen  worden  sein"  (S.  188).  Für  Paulus 
war  der  Glaube:  vom  Geist  erfüllt  sein,  Erlösung;  für  Luther:  persön- 
liches Vertrauen  auf  den  gnädigen  Gott,  der  die  Sünden  vergibt  und 
so  die  „Sicherung  des  Selbstgefühls  vor  der  Welt"  bewirkt.  Das 
stärkere  Hervortreten  des  ekstatischen  bzw.  religiösen  Erlebens  sieht 
Beck  begründet  in  dem  Zerfall  der  festgefügten  Volksverbände  und 
im  Erstarken  des  Individualismus  (S.  181,  221).  Die  religiöse  Anlage 
ist  ja  als  rudimentärer  Überrest  einer  uralten  Zeit  allen  Menschen 

femeinsam  und  also  nur  durch  Vererbung  übertragbar,  nicht  durch 
Tachahmung,  also  in  ihrer  Entwicklung  von  äußeren  Verhältnissen 
abhängig.  ^Eine  Geschichte  der  Beligion  —  Beligion  als  inneres  Er- 
lebnis gefaiit  —  gibt  es  nicht,  ebensowenig  wie  es  eine  Geschichte 
des  Hungers  gibt/  sondern  nur  eine  Geschichte  der  wirtschaftlichen 
Verhältmsse  und  eine  Geschichte  der  begrifflichen  Deutungen  des 
religiösen  Erlebnisses  (S.  180). 

Wichtig  wurde  das  ekstatische  Erlebnis  für  die  Entwicklung  des 
Bealitätsgedankens.  Das  primitive  Denken  kennt  nicht  die  Begriffe 
^subjektiv  objektiv** ;  es  stent  vielmehr  ^anz  unter  der  Herrschaft  des 
Kealitätsbegnffs  und  unterscheidet  so  eine  greifbare  und  ungreifbare 
(sinnliche  und  übersinnliche)  Welt.  Je  mehr  nun  das  Innenleben 
ekstatisch  bestimmt  ist.  um  so  mehr  nimmt  jene  übersinnliche  Welt 
die  charakteristischen  Eigentümlichkeiten  des  ekstatischen  Seins  an, 
absolute  Einheit  und  „Ewigkeit*^  (die  Eleaten !).  In  den  Ideen  des  einen, 
ewieen  Seins  liegt  auch  eine  Wurzel  des  Substanzbe^if f s ,  der  be- 
zeicnnenderweise  von  Xexuphanes  bis  auf  Lkibmiz  „religiös''  bestimmt 
war.  Die  neuere  Philosophie  verzichtete  auf  den  Bealitätsgedanken 
und  suchte  die  Welt  durch  den  (Gegensatz  Ich — ^Nicht-ich  zu  erklären. 
Durch  die  hohe  Wertung  des  Ichbewußtseins  kam  es  zur  Bildung  des 
Bewußtseins  der  „Persönlichkeit"  (S.  228,  284 ff).  Darunter  wird  der 
einheitliche  Zusammenschluß  von  sj>ielenden  Erneuerungen  der  psy- 
chischen Elemente  der  Vergangenheit  verstanden,  von  ästhetiscnen, 
moralischen,  religiösen,  poetischen  Gefühlen,  die  sämtlich  ihre  Wurzeln 
in  der  psychischen  Situation  der  Vorfahren  haben,  jetzt  im  Kampf  ums 
Dasein  keine  ernsthafte  praktische  Bedeutung  mehr  haben,  und  im 
Spiele  (in  der  Poesie)  ertragen  werden,  die  aber  mindestens  nicht 
fenlen  dürfen,  wenn  nicht  das  („wirtschaftliche'^)  Ich  als  gemein, 
niedrig  und  roh  gelten  soll.  In  der  Ekstase  kann  sich  nun  (so  bei 
FrcHTE,  S.  224)  die  Persönlichkeit  vollständig  zum  „reinen  Ich"  er- 
weitem, d.  h.  auflösen,  indem  das  Ich  das  Nicht-ich  ai^immt.  Eine 
enge  Verbindung  zwischen  den  Ideen    Persönlichkeit  und   Ewigkeit 

33* 


518  A.  Fouillee: 

hat  dagegen  Schleiebuacheb  hergestellt.  „Jyas  Erleben  des  Ewigen,  in 
dem  die  l^ersönlichkeit  .aus  sicn  selbst  herauswächst  und  ihres  Zu- 
sammenliangs  mit  dem  Universum  sich  bewußt  wird,  ist  der  Höhe- 

Sunkt  des  persönlichen  Lebens"  (S-  250).  Diese  Persönlichkeitsreligiou 
er  Gegenwart  übertragen  die  Theologen  „mit  staunenswerter  Naivität" 
in  die  Vergangenheit,  ohne  Berücksichtigung  der  Tatsache,  daß  das 
Seelenleben  der  Menschen  sich  in  alter  Zeit  in  ganz  anderer  Form 
vollzogen  hat. 

Es  würde  sich  wohl  lohnen,  über  verschiedene  Punkte  in  diesen 
Kapiteln,  etwa  über  den  Beligionsbegriff  und  über  den  bedeutsamen 
Versuch ,  das  religiöse  Gefühl  aus  der  psychischen  Beschaffenheit  der 
menschlichen  Ahnen  herzuleiten,  sich  mit  dem  Verfasser  auseinander- 
zusetzen. Doch  müßte  das  in  breiterer  Weise,  als  hier  angängig,  ge- 
schehen. Den  methodologischen  Wunsch  jedoch  will  ich  nicht  unter- 
drücken, der  Verfasser  möchte  seine  Erörterungen  mehr  gruppieren, 
so  daß  das,  worauf  es  eigentlich  ankommt,  stärker  hervortrete.  Sein 
sonst  sehr  anschaulich  geschriebenes,  interessantes  und  wertvolles 
Buch  würde  dadurch  noch  klarer  werden. 

Schneeberg  i.  Erzgeb.  Walther  Eeolkr. 

A.  F011III669  Tempörament  etCaractere,  3.  ed.   Paris 
1901,  F.  Alcan.     XX  und  378  S. 

—  Les    elements    sociologiques     de    la    morale, 
2.  ed.    Paris  1905,  F.  Alcan.    XU  und  379  S. 

—  Critique   des   systemes   de  morale  contempo- 
rains,   5.  ed.    Paris   1907,   F.  Alcan.     XV  und  411  S. 

Die  Bücher  A.  Pouill^es  verdienen  eine  besondere  Beachtung;  in 
Deutschland,  da  er  sich  in  vielen  Beziehungen  den  deutschen  Denkern 
der  Vergangenheit  und  der  Gegenwart,  besonders  Kant  und  Wukdt, 
annähert.  8ie  zeichnen  sich  außerdem  alle  aus  durch  lebendige,  an- 
schauliche Darstellung,  der  es  inmier  selingt,  die  allgemeine  Theorie 
durch  kennzeichnende  Tatsachen  der  allgemeinen  Erfahrung  und  der 
Wissenschaft  zu  stützen  und  zu  illustrieren. 

Das  erste  der  oben  genan^ten  Werke  ist  älteren  Datums,  aber 
gewissermaßen  eine  psychologische  Einleitung  zu  Fouill^es  ethischen 
Schriften. 

Über  die  Klassifikation  der  Charaktere  wird  in  Frankreich  eine 
lebhafte  Diskussion  geführt.  Ferez  wollte  die  Charaktere  einteilen 
nach  der  Energie  der  Bewegungen  imd  unterschied  sie  darum  nach 
Schnelligkeit,  Langsamkeit  und.  Eifer  (ardeur).  Mit  Kecht  wendet 
FouiLLißE  ein,  daß  die  Bewegungen  nur  äußere  Zeichen,  nicht  Wesen 
des  Charakters  sind  und  em  und  derselbe  IVpus  der  Bewegungen 
sehr  verschiedenen  Ursprunges  sein  kann,  „inlann  man  nicht  eifrig 
und  energisch  sein  in  den  edelmütigen  Leidenschaften  wie  in  denen, 
die  das  abscheuliche  Ich  zum  Zentrum  haben?  .  .  .  Sind  deine  Be- 
wegungen oder  Handlungen  rasch,  so  wirst  du  unter  die  Lebhaften 
ferechnet,  die  nach  Pkrbz  „leichtsinnig^'  sind.  Aber  deine  Baschheit 
ann  zwei  sehr  verschiedene  Ursachen  nahen:  entweder  hast  du  nicht 
nachgedacht,  und  dann  verdienst  du  den  Vorwurf  des  Leichtsinns; 
oder  deine  Denkfähigkeit  ist  rasch,  du  hast  geistigen  Scharfblick  und 


Temperament  et  Caractere.  519 

bist  darum  doch  nicht  leichtsinnig"  (Foüilläe,  Temperament  usw., 
S.  18  f.).  Ähnlich,  wie  Pkrez,  klassifiziert  Paulhak  aie  Charaktere 
nicht  nach  den  seelischen  Elementen  (Trieben,  Vorstellungen  usw.), 
sondern  nach  ihrem  Verhältnisse  zueinander.  Fouill^e  unterscheidet 
scharf  zwischen  Temperament  und  Charakter.  Das  Temperament 
ist  eine  biologische  Tatsache.  Seine  Unterschiede  beruhen  auf  dem 
Vorwiegen  der  aufbauenden  oder  der  zersetzenden  Prozesse  im 
Nervensystem.  Dem  ersten  entspricht  das  sensitive,  dem  zweiten  das 
aktive  Temperament.  Indem  er  im  ersten  Typus  wiederum  das 
sanguinische  und  das  nervöse  (melancholische),  im.  zweiten  das  phleg- 
matische oder  cholerische  Temperament  unterscheidet,  erneuert  er 
die  altgriechische  Lehre,   die  er  durch  seine  biologische  Hypothese 

festtUzt  zu  haben  glaubt.  —  Die  Charaktere  hingegen  klassifiziert 
oDiLL^R  nach  den  drei  seelischen  Elementarphänomenen  als  Gefühls-, 
Gedankens-  und  Willensmenschen  (sen.sitifs,  intellectuels  et  volontaires). 
Diese  Methode  scheint  mir  berechtigter  als  jede  andere.  Denn  wie 
"\V.  WiNDT  richtig  feststellt,  das  Temperament  ist  Af f ektanla^e ,  der 
Charakter  Willensanlage,  und  der  Wille  ist  sehr  abhängig  vom 
Fahlen  und  vom  Denken.  Auch  zeigt  die  europäische  Literatur  drei 
einseitige  Tjrpen,  die  ForiLLfeK  zur  Iliustrierung  seiner  Klassifikation 
hätte  heranziehen  können,  als  reinen  Gefühlsmenschen  Werthek,  als 
reinen  Gedankenmenschen  Hamlet,  als  reinen  Willensmenschen,  aller- 
dings mit  sehr  schwachem  Denken,  Dox  QrixorK.  Nach  der  all- 
femeinen  Beleuchtung  des  Charakters  geht  Fouill^:e  über  zur  speziellen 
ehandlung  der  Modifikation  des  Charakters,  die  durch  Geschlecht 
und  Basse  bewirkt  wird.  Hier  findet  er  überall  die  starken,  mäch- 
tigen Züge  der  Natur,  die  so  oft  das  Interesse  oder  das  Vorurteil  zu 
verhüllen  sucht.  Das  Wesen  des  weiblichen  und  des  männlichen 
Turnus  findet  er  schon  im  Eie  und  im  Samenfaden  vorgebildet,  indem 
sich  das  Ei  ruhig,  konservativ,  wohlgenährt,  der  Samenfaden  beweg- 
lich, strebend,  hungrig  zeigt. 

Für  die  Zukunft  der  höheren  Rassen  betrachtet  er  ihren  sittlichen 
Charakter  als  wesentlichen  Faktor. 

Der  Titel  des  zweiten  Buches,  Les  elements  sociologiques  de  la 
morale,  könnte  die  Erwartung  wecken,  daß  es  eine  Begründung  der 
Moral  auf  die  sozialen  Beziehungen  sein  solle.  Es  handelt  aber  viel- 
mehr von  den  Schranken  der  biologischen  und  der  soziologischen 
Moral.  Die  erste,  vertreten  besonders  durch  Nietzsche  und  einige  An- 
hänger Darwins,  sieht  in  der  Moral  eine  Feindin  des  Lebens  (S.  101), 
eine  schädliche  Milderung  des  tierischen  Daseinskampfes,  der  allein 
zu  wohltätiger  Auslese  und  zum  Fortschritte  führe.  Solche  Über- 
tragung naturgeschichtlicher  Prinzipien  auf  die  Menschenwelt  ist 
nacli  ForiLLtE  „Simplismus"  (simplisme),  „das  Verderben  der  wahren 
Wissenschaft  und  der  wahren  Philosophie"  (S.  52).  „Wenn  die  Natur- 
forscher sich  lieber  mit  Naturgeschichte  beschäftigen  wollten,  anstatt 
abenteuerliche  und  törichte  Ausflüge  in  das  Gebiet  der  Moral  zu 
machen,  würde  jedermann  dabei  gewinnen*^  (S.  82).  Ja  sogar  in  bezug 
auf  die  Tiere  ist  die  Moral  der  Pseudo-Darwinianer  und  Nietzsches 
falsch.  Schon  bei  den  Tieren  „verbindet  sich  mit  der  elementaren 
Gerechtigkeit  eine  Art  instinktiver  Wohltätigkeit,  die  ...  bis  zur 
Hingebung  gehen  kann.  Die  Moral  der  Tiere  ist,  wie  die  unsere, 
der  Aampf  gegen  den  Daseinskampf'  (S.  141).  Nietszchk  ist  ein  „ent- 

fleister  Ethifcer"  (moraliste  devoye).  —  Zur  soziologischen  Ethik  ge- 
ören   die  Utilitarier  und  die  Fositivisten  (Comte  und   seine  Nach- 
folger).   „Die  Utilitarier  sind  im  Unrecht,  da  sie  nur  eine  einzige  der 


520  Paul  Barth: 

austauschenden  Beziehungen  der  Menschen  sehen:  die  des  persön- 
lichen, wechselseitig  gewordenen  Interesses,  oft  auch  die  gegenseitige 
Furcht.  Es  bestehen,  wie  wir  sezeigt  haben,  verschiedene  und  ur- 
sprünglichere Beziehungen,  die  die  wahrhaft  sozialen  sind:  Sympathie 
und  Anziehung  des  CrleiGhen  ffir  das  Gleiche,  Zusammenwirken, 
Nachahmung  usw."  Hier  mag  Bentham,  mag  auch  mancher  An- 
hänger Benthaus  richtig  gezeichnet  sein,  von  J.  St.  Mill  aber  kann 
man  nicht  behaupten,  San  er  die  Sympathie  und  die  sozialen  Triebe 
überhaupt  als  Grundlage  der  Moral  nicht  würdige.  Sie  sind  für  ihn 
gerade  die  Brücke,  die  vom  Egoismus  zum  Altruismus  führt.  Sehr 
richtig  dagegen  und  —  mit  Ausnahme  Mills  vielleicht  —  vom  ganzen 
englischen  Utilitarismus  (auch  von  Huu^  gültig  ist  das,  was  Foi:iLL£e 
in  dem  dritten  oben  genannten  Buche  (S.  25)  gegen  Spkkcek  bemerkt : 
„Spencer  läfit  die  (wissenschaftlich  begründete)  Idee  hinter  dem  Glauben 
marschieren,  den  Glauben  hinter  dem  Gefühl,  das  Gefühl  hinter  dem 
Triebe,  den  Trieb  hinter  der  Tatsache  der  sozialen  Anpassung.  Die 
Idee  ist  für  ihn  nur  die  letzte  und  abstrakteste  Formel  der  Anpassung 
selbst,  ihre  algebraische  Gleichunj^.  Mag  dies  die  geschichtliche 
Ordnung  unserer  geistigen  und  sittlichen  Entwicklung  sein,  wir 
leugnen  es  nicht.  Aber  Spencers  Betrachtung  schließt  die  unsere 
keineswegs  aus.  Durch  den  Tatbestand  einmal  hervorgebracht, 
modifiziert  die  Idee  den  Tatbestand  selbst  und  wird  eine  wesentliche 
Triebfeder,  auf  ihn  zu  wirken."  Was  die  positive  Ethik  betrifft,  so 
gesteht  ihr  Fouillee  zu,  daß  jede  Moral  .zum  großen  Teile  eine  an- 
gewandte Soziologie  ist"  (S.  1  ^6).  „Aber  die  Gesellschaft  ist  nur  eine 
notwendige  Bedin^ng,  nicht  die  (schöpferische)  Ursache  der  Moral" 
(S.  249).  Es  gibt  eine  selbständige  Fortbildung  der  Reli^on,  die  auf 
die  Moral  neben  anderen  Faktoren  gestaltend  wirkt.  Die  Soziologen 
beschränken  ihren  Blick  zu  sehr  auf  die  primitiven  Stufen  aer 
Beligion  (S.  260).  Und  der  normative  Charakter  jeder  Ethik  wird 
von  den  Soziologen  übersehen  (S.  261).  „Außerdem  sind  es  die 
Individuen  und  Genies,  durch  deren  Tätigkeit  die  Menschheit  fort- 
schreitet" (S.  250).  ,.Wenn  die  Moral  Funktion  der  Gesellschaft  ist^ 
so  ist  sie  auch  Funktion  der  Persönlichkeit.  Das  Individuum  kann 
sich,  im  Namen  der  Moral,  gegen  die  bestehende  soziale  Ordnung 
erheben"  (S.  279).  Nicht  bloß  die  Soziologie,  sondern  auch  die 
Psychologie  und  die  Kosmologie  sind  für  die  Grundlegung  der  Moral 
notwendig.  Sie  muß  „aDen  Erwerb  dieser  Wissenschaften  in  einer 
Lehre  vom  inneren,  äußeren  und  höheren  Leben  vereinigen"  (S.  285). 
Dies  alles  ist  zweifellos  richtig.  Das  Individuum  strebt  immer  höher 
als  die  Gesellschaft,  und  es  ist  nicht  bloß  von  ihr  bestimmt,  sondern 
auch  von  der  Natur,  vom  Weltall.  Aber  zugleich  darf  man  nicht 
vergessen,  daß  jeder  sittliche  Gedanke  erst  Erfolg  hat,  wenn  er  nicht 
individuell  bleibt,  sondern  eine  Gemeinschaft  zu  oeherrschen  und  da- 
durch fest  zusammenzuhalten  imstande  ist. 

Das  schon  erwähnte  dritte  der  oben  genannten  Bücher  Fouill£cs 
ist  zuerst  ähnlichen  Inhalts  wie  das  zweite.  Es  gibt  —  aber  wiederum 
von  neuen  Gesichtspunkten  —  eine  Kritik  der  Ethik  des  Evolutio- 
nismus (Spencer)  und  des  Positivismus  (LtTTRft,  Taine),  von  denen  beiden 
auch  schon  im  zweiten  Buche  die  Rede  war.  Er  wirft  der  ersten  mit 
Recht  vor,  daß  sie  zu  sehr  im  Gefühle  stecken  bleibe,  daß  sie  den 
Wert  der  bewußten,  gestaltenden  Idee  unterschätze.  Dem  Posi- 
tivismus hält  Folill£e  vor,  daß  er  den  Altruismus  nicht  anders  zu 
f  «bieten  vermag,  als  weil  der  Altruismus  der  „spätere  (ulterieur)  und 
er  komplexere  (plus  complexe)"  sei,   während   der   englische   Evo- 


I 


Der  Evolutionismus  der  Kraft-Ideen.  521 

lutionismus  sich  mit  Erfolg  bemüht,  den  Altruismus  aus  dem  Evo- 
lutionismus abzuleiten.  Auch  die  „logische  Wahrheit",  auf  die  sich 
die  Positivisten  berufen,  obgleich  dem  bewußten  Denken  einiger- 
maßen zu  seinem  Hechte  verhelfend,  ffenügt  doch  nicht,  die  sitthche 
Handlung  zu  erklären  und  zu  begründen  (S.  53  f.).  Außer  dem  Evo- 
lutionismus aber  und  dem  Positivismus  behandelt  Fouillke  sehr  ein- 
gehend auch  den  Kritizismus  (Kant,  RENomaER,  Pillon)  und  weist  be- 
sonders nach,  daß  die  „Materie«  des  Wollens,  die  Kant  und  seine 
Anhänger  ausschließen,  für  das  Wollen  unentbehrlich  ist.  Femer 
kritisiert  er  noch  die  Moral  des  Pessimismus  (Schopbnhauee),  des 
Spiritualismus  (Pail  Jaket,  Yachebot),  des  ästhetischen  Mystizismus 
(Pascal,  Maine  de  Biran,  Schelling,  Ravaisson),  endlich  die  Moral,  die 
sich  auf  Theologie  gründet  (SECRfiTAN  u.  a.).  Seine  eigene  Moral 
deutet  FouiLLfiE  am  iSide  seines  zweiten  Buches  an  und  stellt  ein 
System  derselben  in  Aussicht,  das  auf  der  „idee-force''  beruhen  wird. 

Alle  drei  Bücher  Fouill^es  verdienen  dem  deutschen  Leser  auf 
das  wärmste  empfohlen  zu  werden.  Niemand  wird  sie  ohne  reichen 
Grewinn  aus  der  Hand  legen.  Was  man  vermißt,  ist  nur  die  Orts- 
angabe der  Zitate  aus  den  Autoren,  die  Foijill£e  anführt.  Diese 
Zitate  erscheinen  bei  ihm  fast  immer  heimatslos. 

Leipzig.  Paul  Barth. 

Foaill^e,  A«,  DerEvolutionismus  der  Kr  af  t  -Ideen, 
Deutsch  von  Rudolf  Eisler  (Philosophisch-soziologische 
Bücherei,  Band  III).  Leipzig  1908,  Dr.  W.  Klinkhardt. 
IX  und  394  S. 

In  diesem  Werke  faßt  Forn.Li^iE  seine  psychologische  Theorie 
kürzer  zusammen,  die  er  bereit«  in  einem  größeren  Werke,  „Die 
Psychologie  der  Kraft-Ideen '^i  dargestellt  hat.  Es  ist  dies  eine  sehr 
voluntaristische  Theorie,  die  derjenigen  Wundts  sehr  ähnlich  ist.  Das 
Urphänomen  ist  das  Streben  (französisch:  tendance).  Es  enthält  in 
sicn  drei  Elemente:  Empfindung,  Gefühl,  motorische  Reaktion.  Die 
Empfindung  kann  nie  isoliert  auftreten,  sondern  ist  immer  mit  den 
anderen  beiden  Elementen  verbunden;  ebensowenig  erscheinen  die 
anderen  beiden  Elemente  jemals  isoliert.  Die  Beflexbeweeun^en  sind, 
wie  auch  Wundt  im  Gegensatz  zu  Spencer  lehrt,  durch  mechanisierende 
und  automatisierende  Wiederholung  von  Triebbewegungen  entstanden. 
Aber  wenn  die  Heflexbewegung  „unbewußt"  genannt  wird,  so  ist 
dies  ein  ungeeigneter  Ausdruck,  der  besser  „minimal  bewußt"  hieße. 
Aus  der  Empfindung  wird  eine  Vorstellung  (Idee);  da  sie  selbst  Be- 
wegung ist,  muß  sie  auch  Bewegung  erzeugen,  sie  ist  also  eine 
Kraft.  Ein  Denken  ohne  Gefühl  und  Streben  ist  eine  logische 
Fiktion.  „Selbst  in  der  einfachsten  Vorstellung  eines  Dreieckes  oder 
Kreises  findet  sich  eine  ideelle  Bewegung  des  Auges  oder  der  Hand, 
eine  ideelle  Zeichnung ,  eine  Reihe  von  willenserfüllten  Tätigkeiten" 
(S.  153).  Diese  Eigenschaft  der  Idee,  eine  Kraft  zu  sein,  gibt  uns  das 
Bewußtsein  der  Freiheit,  verbunden  mit  „der  Idee  unseres  möglichen 
Anteils  an  der  universalen  Determination"  (S.  46).  „Die  Idee  be- 
zeichnet also  den  Punkt,  wo  der  Determinismus  sich  gegen  sich  selbst 
kehrt ,  wie  die  sich  in  den  Schwanz  beißende  Schlange"  (a.  a.  0.). 
„Die  Idee  ist  das  klare  Bewußtsein  der  Kraft  und   deren  Verhältni 


522  Paul  Barth: 

zu  den  anderen  Kräften,  sie  ist  die   zugleich  intellektuelle  und  im- 
pulsive, höhere  Kraft.    Sie  ist  in  Wahrheit  Kraft-Idee"  (S.  394). 

Solche  Gedanken  werden  mit  allen  Vorzügen  der  SchreibweiBe 
FoüiixÄEs  des  weiteren  ausgeführt.  Die  Übersetzung  ist  terminologisch 
korrekt  und  fließend.  Eisler  hat  sich  durch  Einführung  dieses  zu- 
sammenfassenden Werkes  von  Focili^e  ein  Verdienst  erworben. 

Leipzig.  Paul  Barth. 

Baron  Cay  von  Broiikdorff,  Dr.,  Dozent  der  Philosophie, 
Die  Geschichte  der  Philosophie  und  das 
Problem  ihrer  Begreiflichkeit.  Mit  einer  Tafel 
und  vielen  Figuren  im  Text  sowie  einem  Schopenhauer- 
schen  Faksimile.  Zweite,  stark  vermehrte  Auflage. 
Osterwieck  a.  Harz  und  Leipzig,  A.  W.  Zickfeldt.  XI  und 
154  S. 

Der  Verfasser  will  eine  Gesetzmäßigkeit  in  der  Geschichte  der 
Philosophie  nachweisen.  Sie  soll  nicht  eine  blofie  Folge  von  Selbst- 
erkenntnissen sein,  die  schließlich  bloß  Selbstbekenntnisse 
werden,  sondern  eine  Folge  von  Annäherungen  an  vollständige  Er- 
kenntnis der  Welt  und  des  Menschen  (S.  13  f.).  Freilich  ist  die  Ent- 
wicklung nicht  gradlinig,  sie  verläuft  in  ^Richtungsgegensätzen*',  die 
aber  so  notwendig  sind,  wie  Analyse  und  Synthese,  wie  Deduktion 
und  Induktion.  Aoer  auch  die  Individualität  des  einzelnen  Philo- 
sophen spielt  hinein  (S.  19},  freilich  nicht  willkürlich,  sondern  nur  in- 
dem sie  eine  Seite  des  Wirklichen  mehr  hervorhebt.  Eine  Probe  ist 
die  Philosophie  der  Griechen  bis  zur  Sophistik.  Die  Widersprüche 
(besser  wohl :  Gegensätze)  in  der  ersten  Entwicklung  der  griechischen 
Philosophie  entstanden  ,, nicht  durch  die  Differenzierung  des  philo- 
sophischen Gedankens,  sondern  durch  die  Umdeutung,  die  man  (je 
nach  Individualität)  den  (empirisch  vorgefundenen)  Differenzen  gab" 
(S.  24).  Der  Begriff  der  Monade  erlebt  von  Plato  bis  zu  Leibxiz  eine 
beständige  Umwandlung,  je  nach  dem  Zusammenhange,  in  den  der 
Denker  ihn  zu  anderen  Begriffen  rückt  (S.  72  f.).  Besonders  gelungen 
ist  im  4,  Kapitel  („Das  Denken  des  Mittelalters**)  eine  Übersicht  tJber 
die  Motive  des  Fortgangs  vom  Realismus  zum  Nominalismus.  In 
der  Betrachtung  der  Philosophie  der  Neuzeit  wird  wiederholt  Hitoens 
als  Philosoph  gewürdigt. 

Zu  wünschen  wäre  vielleicht,  daß  der  Herr  Verf.  seine  Gedanken 
straffer,  ohne  Abschweifungen,  fortführte.  Doch  ist  nicht  zu  ver- 
kennen, daß  die  Abschweifungen  vielfach  gute  Gedanken  enthalten. 
Bezüglich  des  Gegensatzes:  konträr-kontradiktorisch  meint  der  Verf., 
es  lasse  sich  zu  jedem  Begriffe  ein  konträrer  Gegensatz  finden.  Die 
bestimmten  Quantitäten,  für  die  Aistotkles  kein  Konträres  Gegenteil 
finden  konnte,  und  die  geometrischen  Begriffe  seien  nicht  auszu- 
nehmen. Der  Verf.  sagt  (S.  133):  „Denke  ich  also  bei  der  Zahl  an 
eine  Beziehung,  eine  Operation  (5  ist  entweder  +  5  oder  —  5),  so  kann 
ich  dem  Gedanken  an  Entgegensetzungen  gar  nicht  ausweichen.** 
Das  ist  gewiß  richtig,  aber  der  Gegensatz  Hegt  dann  eben  in  der 
Operation,  die  der  Herr  Verf.  hinzugedacht  hat,  nicht  in  der  Zahl  an 
sich,  während  rot— gelb  auch  ohne  geistige  Operation  uns  sofort  als 


Die  Q-eschichte  der  Philosophie  und  das  Problepi  ußvr.       523 

Gegensätze  erscheinen,  dagegen  etwa  rot — Flötenklang  nicht  konträr, 
wie  der  Herr  Verf.  zu  meinen  scheint,  sondern  disparat  sind. 

Das  Buch  ist  gut  ausgestattet.  Es  hat  außerdem  jgeschmack- 
Tolle  Kopfleisten  und  Schlußyignetten  und  ist  mit  emem  Bilde 
Galileis  geziert. 

Es  ist  nicht  für  Anfänger  geeignet.  Wer  aber  philosophisch 
denken  kann,  wird  darin  manchen  neuen  Gesichtspunkt,  mannigfache 
Belehnmg  und  Anregung  finden. 

Leipzig.  Faul  Barth. 

Blermann^  W«  Ed.,  Dr.,  Privatdozent  au  der  Universität 
Leipzig,  Die  Weltanschauung  des  Marxismus. 
An  der  materialistischen  Geschichtsauffassung  und  an 
der  Wertlehre  erörtert.  Leipzig  1908.  Roth  &  Schunke. 
83  S. 

Dieses  Buch  ist  hervoreeganeen  aus  Vorträgen,  die  Biermann  vor 
der  „Sächsischen  Evangelisch-sozialen  Vereini^ng''  gehalten  hat.  Es 
behandelt,  wie  schon  auf  dem  Titel  bemerkt  ist,  die  materialistische 
Geschichtsauffassung  und  Marx'  Wertlehre.  Was  die  erste  betrifft, 
80  wird  sie  von  Bibbmann  sehr  sorjgfältig,  mit  strenser  Anlehnung  an 
die  Aussprüche  von  Marx  und  seme  Anhänger  und  an  die  Erläute- 
rungen, die  Engels  gegeben  hat,  gewissermaßen  aktenmäßig  dar- 
gestellt. Bezüglich  der  Kritik  ^ibt  Bierxann  die  prinzipiellen  Grund- 
züge  an,  in  denen  sich  die  Kritik  bisher  beweet  hat  und  weiter  be- 
wegen wird.  Das  zweite  Thema,  die  Wertiehre,  wird  ebenfalls 
eenau  dargestellt.  Dann  wird  besonders  der  Widerspruch  behandelt, 
der  bei  Marx  obwaltet,  indem  nach  der  Theorie  des  1.  Bandes  des 
„Kapitals**  der  Profit  der  Höhe  des  variablen  Kapitals  des  Unter- 
nehmers proportional  sein  muß,  im  3.  Bande  aber  zubegeben  wird, 
daß  eine  durchschnittliche  Profitrate  in  jeder  kapitalistischen  Gesell- 
schaft besteht,  die  sich  aus  dem  gesamten  Kapital  ergibt,  dem  kon- 
stanten und  dem  variablen  zusammen,  und  von  der  wechselnden 
Höhe  des  variablen  Kapitals  unabhängig  ist.  Es  ist  hier  eben  die 
Konkurrenz  der  Kapitalisten  von  Marx  nicht  berücksichtigt,  wie  er 
bei  seiner  Wertlehre  nur  den  einen  Faktor,  die  in  der  Ware  ge- 
wissermaßen geronnene  Arbeitsmenge,  nicht  aber  Angebot  und  Nach- 
frage in  Betracht  gezogen  hat.  So  bleibt  der  Wert  bei  Marx  ein 
idealer  Maßstab,  an  dem  man  den  Preis  der  Ware  mißt,  aber  er  dient 
nicht  den  Preis  zu  erklären. 

Das  Buch  bietet  keine  neuen  Forschungen,  aber  es  ist  sehr  ver- 
dienstlich. Es  dient  vortrefflich  zur  ersten  Einführung  in  die  Fragen 
der  Geschichtsauffassung  und  der  Wertlehre ,  besonders  auch  durch 
die  sehr  reichhaltigen  Xiteraturnachweise.  Nirgends  sonst  in  der 
weitschichtigen  nationalökonomischen  Literatur  wird  der  Leser  auf 
engem  Baume  so  viel  „Aktenmaterial''  zu  den  oben  genannten  Pro- 
blemen und  so  viel  Wegweisung  zu  weiterer  Belehrung  und  zu- 
weiterem Denken  vereinigt  finden  wie  in  diesem  Büchlein. 

Leipzig.  Paul  Barth. 


Phllosophisehe  niii  soziologische  Zeitselffiften. 


ArcliiT  für  Philosophie,  I.  Abteilung  (Berlin,  Beimer). 
Bd.  32,  Heft  I  (N.  F.  XT,  1). 

Stilling.  J.,  Über  das  Problem  der  Freiheit  auf  Grund  Ton  Kanta  Kategorienlehre. 

Gilbert,  O.,  Aristoteles'  Urteile  Über  die  pythagoreiaehe  Lehre. 

Sohleainger,.M.,  Die  Geschichte  des  SymbolbegrifliB  in  der  Philosophie. 

Haas,  A.  £.,  Ästhetische  und  teleolonsohe  Gesichtn>unkte  in  der  antiken  Physik. 

Br^hier,  La  th6orie  des  incorporels  dans  Tancien  stoleisme. 

Jahresbericht. 

Zeitschrift    für  Psychologie    vBd   Physiologie  der  SinnesoinraBe. 

(Leipzig,  J.  Ambr.  Barth.)    (I.  Abt.:  Zeitschrift  fOr  Psychologie.) 
Bd.  48,  Heft  5  und  6. 

Hellpach,  W.,  UubewnStes  oder  Wechselwirkung  (SchlnS). 

Alrutz,  S^  Die  Funktion  der  Temperatursinne  in  warmen  BAdem. 

de  Beer,  T.  J.,  Zur  gegenseitigen  Wortassoziation. 

Becher,  £..  Energieerhaltnng  und  psychologische  Wechselwirkung. 

Lipmann,  O.,  Eine  Methode  zur  Vergleichung  von  zwei  KoUektiTgegensiAnden. 

Literaturbericht. 


Bd.  48,  Heft  1  und  2. 


Hennig.  R.,  Beitrtge  zur  Psychologie  des  Doppel-Ichs. 
Aster,   E.  ▼.,  Die  psychologische  Beobachtung  und  ez 


Ton  De||kTorsftngen 

cfei 


»zperimentelle  Untersuchung 


Aall,  A.,  Über  den  MaAstab  beim  Tiefensehen  in  Doppelbildern. 
Literaturbericht. 

Bd.  49,  Heft  8  nnd  4. 

Aall.  A.,  Über  den  MaSstab  usw.    (S.  Heft  1  und  2.) 

Marbe,  K.,  Über  die  Verwendung  rußender  Flammen  in  der  Psychologie  und  deren 

Grenzgebieten. 
Eggert.  B.,  Untersuchungen  Aber  Sprachmelodie. 
Sailing,  G  ,  Assoziative  Massenversuche. 
PlaAmann,  H.,  Astronomie  und  Psychologie. 
Lipmann,   O.,    Ein   neuer   Ezpositionsapparat  mit  ruckweiser  Botation  fflr  Ge- 

dftchtnis-  und  Lemversuche. 
Literaturbericht. 

Bd.  49,  Heft  5. 

Dftrr,  E.,  Über  die  experimentelle  Untersuchung  der  Denkvorgftnge. 
Becher,  E..  Über  die  Sensibilität  der  inneren  (^gane. 
Literaturbericht. 


Philosophische  und  soziologische  Zeitschriften.  525 

Bd.  49,  Heft  6. 

Oroos,  K.,  Untersuchungen  Aber  den  Aufbau  der  Systeme. 

Heymane,  G.,  und  Wiertma,  E.,  Beltrftge  zur  speziellen  Psychologie  Auf  Grund 

einer  Massennntersuchung. 
Müller,  A.,  Zur  Geschichte  und  Theorie  des  Telegrammargumentes  in  der  Lehre 

Ton  der  psyohophysisohen  Wechselwirkung. 
Liters  turbenoht. 

ArchlT  ffir  die  gesamte  Psychologie  (Leipzig,  Engelmann). 
Xin.  Bd.,  Heft  1  und  2. 

Warstat,  W.,  Das  Tragische.    Eine  psvchologisch-kritlsche  Untersuchung. 
Benussi,  V.,  Zur  experimentellen  Analyse  des  Zeitvergleichs.    II.  Erwanungszeit 

und  subjektive  ZeitgrOAe.    (Mit  12  Fig.) 
Sammelreferate.   -  Einzelbesprechung.  —  Referate. 

Xm.  Bd.,  Heft  8. 

Scheinert,  M.,  Wilhelm  Ton  Humboldts  Spraohphilösophie. 
Koch,   E.,   Über  die  Geschwindigkeit  der  Augenbewegungen. 
W  e  1  c  k  e ,  Einheit  und  Einheitlichkeit. 
Berichtigung.  —  Referate. 

The  PhUosophlcal  Review  (Macmillan  Comp.,  Lancaster  P.  A.)- 
Toi.  XTII,  Kr.  5. 

Seth,  H.,  The  alleged  fallaoles  in  Hill's  ^Utilitarianism". 

Fite,  W.,  The  agent  and  the  observer. 

Hollands,  E.  H.,  Neo-realism  and  idealism. 

Wright,  W.  R.,  Happiness  as  an  ethical  postulate. 

Reviews  of  books.  —  Notioes  of  new  books.  —  Summaries  of  artioles.  —  Notes. 

Toi.  xyn.  Kr.  6. 

Bake  well,  Oh.  M.,  On  the  meaning  of  truth. 
Oreighton,  J.  E.,  The  nature  and  criterion  of  truth. 
Wright,  H.  W.,  Self-realization  and  the  criterion  of  goodness. 
Gunningham,  G.  W.,  The  Hegelian  conception  of  absolute  knowledge. 
Reviews  of  books.  —  Notices  of  new  books.  —  Summaries  of  articles.  —  Notes. 

The  Psychological  Review  (Baltimore,  Eeview  Publishing  Co.). 
Toi.  XT,  Kr.  5. 

Bawden,  H.,  Studies  in  aesthetio  value,  II.    The  nature  of  aesthetic  emotion. 
Meyer,  H.,  The  nervous  correlate  of  pleasantness  and  unpleasantness,  II. 
Petersen,  A.,  Correlation  of  certain  tracts  in  normal  school  students. 

Tol.  XT,  Nr.  6. 

Booley,  0.  H.,  A  study  of  the  early  use  of  self-words  by  a  child. 

Meyer,  M.,  The  nervous  correlate  of  attention.    I. 

Stevens,  H.  0.,  Peouliarities  ofperipheral  vision. 
V       Sidis,  Boris,  and  Kalmus,  H.  T.,  A  study  of  galvanometric  defleotions  due  to 
\  psycho-physiologioal  processes.    I. 

Disoussion. 

Mind  (London,  Williams  and  Norgate). 
New  Seriesy  Kr.  68. 


Taggart,  H.  B.  M.  C,  The  unreality  of  time. 
Bailiie,  Professor  Laurie*s  natural  vealism. 


Loveday.  T.,  Studies  in  the  histories  of  British  Psychology:  I.  An  early  critieism 

of  Hoboes. 
Temple,  W.,  Plato's  vision  of  the  ideas. 
Piscussions.  —  Oritical  notioes.  —  New  books.  —  Philosophical  periodicals. 


526  Philosophische  und  soziologische  Zeitschriften. 

The  Socioloirical  Reriew  (London,  Sherratt  and  Hnghee). 
Toi.  I,  Nr.  4. 

Sorley,  W.  S.,  The  problem  of  decadence. 
Frelre-Marreoo,  B.,  Aathoritj^  in  unciTilised  ■oeietj. 
Haokenzie,  J.  S.,  B«Mcent  eontribution«  to  tbe  ttody  of  socialism. 
6edd«s,  Ghelte«,  past  and  possible. 

Ratoliffe,  S.  K.,  Aapecta  of  tbe  social  movement  in  India. 
Disenssions.  —  Beyiews  of  books.  —  Offioial  publications.  —  Periodical  literatur«» 
Books  received.  —  Notes  and  notices. 

The  Psychologlcal  Bnlletin  (Baltimore,  fteview  Publishing  Co.). 
Vol.  V,  Nr.  8. 

Meyer,  A.,  The  problem  of  mental  reaction  typee,  mental  causes  and  ditease«». 
Psyohological  Ht^rature.  —  Notes  and  news. 

Tol.  y,  Nr.  0. 

Kahlmann,  F^^,  The  present  statns  of  memory  InTestigation. 
Baird,  J.  w..  The  problems  of  color-blindness. 
Piychologioal  literatnre.  —  Books  recelyed.  —  Notes  and  news. 


Warren,  H.  C,  Hedonic  experienoe  and  Sensation. 

>.  —  Di8< 


Tol.  T,  Nr.  10. 

. in,  H.  C,  Hedonic  c     

Psyohological  literatnre.  —  Discnssion. 

Tol.  T,  Nr.  11. 

Na  sei,  O.,  The  evolution  of  the  senses. 

Baidwin,  J.  H.,  Oenetic  logic  and  theory  of  reality  ('*Real  logic''). 

Psyohological  literatnre.  —  Keports  and  discussion  etc. 

The   Jonmal  of  Philosoph/,   Psychology  and  »Sclentlllc  Methods. 

(New  York,  Scientific  Press.) 
Tol.  T,  Nr.  19. 

Thilly,  Fr.,  Friedrich  Paulsen. 

Farley,  J.  H.,  Tyi>es  of  unity. 

Tufts,  J.  H.,  Ethical  yalue. 

Reviews  and  abstracts  of  literatnre^ — Journals  and  new  book».  —Notes  and  now4. 

Tol.  T,  Nr.  20. 

Bawden,  H.  H.,  A  new  scientific  arffument  for  immortality. 
S(»llars,  R.  W.,  Critical  reallsm  ana  the  time  problem. 
Reviews  and  abstracts  of  literatnre  etc. 

Tol.  T,  Nr.  21. 

Leighton,  J.  A.,  Time,  change  and  time-transcendence. 

Nakashima,  T.,  The  time  or  perception  as  a  measure  of  diiferenoes  in  sensationn. 

Hocieties.  —  Beyiews  etc. 

Tol.  T,  Nr.  22. 

(TiWary,  R.  B.  Mc,  The  Chicago  "Idea*-  and  idealism. 
Hollars.  R.  W.,  Critical  realism  and  the  time  problem.    II. 
ReTiew  etc. 

Beme  Phllosophiqae  (Paris,  Alcan). 
88«  ann^e,  Nr.  10. 

Pieron,  H.,  Les  problemes  actuels  de  l'instinct. 
Kozlowski,  L'önergie  potentielle  est-elle  une  reality? 
.Sr^hinz,  A.,  Anti-pragmatisme.    II.  Pragmatisme  et  Vörit<^. 
Ravuc  cntique.  —  Anaiyses  et  comptes  rendus. 


/ 

/ 


Philosophische  und  soziologische  Zeitschriften.  527 

88.  ann^,  Nr«  11. 

Lalo,  Gh..  Le  nouveau  sentimentalisme  esth^tique. 
Segond.  J.,  La  philosophie  des  valeurs. 
Ribot,  Th.,  L'antipathle :  ötude  psyohologique. 
Delaoroix,  H.,  Le  III.  congrös  international  de  Philosophie. 
Analyses  et  compte«  renaus. 

88.  ann^e,  Nr.  12. 

Bergson,  H.,  La  Souvenir  du  prösent  et  la  faasse  reconnaissance. 
Belot,  La  triple  origine  de  ria<^e  de  Dieu. 
Chi  de«  La  logique  de  Tanalo^ie. 


Pioavet,  F.«  Thomisme  et  philosophie  mödiöTalefl. 
ftlyses  et  comptes  rendus.  —  Notices  bibliograpli 
etrangers.  —  Lirres  nouveaus.  —  Table  des  matferes. 


Analyses  et  comptes  rendus.  —  Notices  bibliographiques.  —  Revue  des  p6riodiques 
ers.  —  Lirres  nouveaus.  —  Table  des  matte 


Reyne  de  PhUosophie  (Paris,  Chevalier  et  Rivi^re). 
8.  annöe,  Nr.  9. 

Le  Roy,  Chez  les  primiüfs  afrioains  (I). 

Beimond,  S.,  L'existence  de  Dieu  d'aprös  Dnns  Soot.    1. 

ChoTet,  F.f  Les  principes  de  la  raison  sont-ils  röductibles  h  l'unitö? 

Duhem,  F.,  Le  mouvement  absolu  et  le  mouToment  relatif  (X). 

Cache,  P.  J.,  Les  deuz  aspects  de  rimmanenoe  et  le  probieme  religieuz. 

Analyses  et  comptes  rendus.  —  Fdriodiques.  —  L'enseignement  philosophique. 

8.  anii^e,  Nr.  10. 

Fonsegrive,  G.,  Certitude  et  v^rite.    I. 

Beimond,  S.,  L'ezistence  de  Dieu  d'aprös  Duns  Soot  (An.). 

Peillaube,  £.,  L'organisation  de  la  mömoire.    IV.    La  reproduction  des  Souvenirs. 

Le  Boy,  Ohez  les  prmiitifs  africains  (fln.). 

Analyses  etc. 

8.  anii^e,  Nr.  11. 

Geny,  P.,  Sur  la  position  du  probieme  de  la  connaissance. 
Dornet  de  Norges,  C..  Comment  avons-nous  Tid^e  d'objet? 
Fonsegrive,  G.,  Certitude  et  v^rite.    II. 

Duhem,  P-,  Le  mouvement  absolu  et  le  mouvement  relatif.    XI. 
Trouche,  H.,  „L'övolution  crt^'atrice"  de  M.  Bergson. 
Analyses  etc. 

Reme  N^o-Scolastique  (Louvain,  Institut  superieur  de  philosophie). 
15.  annöe,  Nr.  8. 

Piat,  Cl.,  L'ezpörienoe  du  divin. 

Wulf.JI.  de,  Le  mouvement  philosophique  en  Belgique. 
<:emelli,  A.,«Le  fondement  biologique  de  la  psychologie  (suite  et  flu.). 
M^langea  et  doouments.  —  Bulletin  de  l'Institut  de  Philosophie.  —  Comptes  rendus. 
—  Chronique  philosophique.  —  Ouvrages  envoy^s  ä  la  Rödaction. 

15.  ann^e,  Nr.  4« 

Mansion,  P.,  Gauss  contre  Kant  sur  la  göomötrie  non-euclidienne. 
Wulf,  M.  d€,  Le  mouvement  philosophique  en  Belgique  (suite  et  fin.). 
Hoffmanns,  P.  Hadelin,  La  genese  des  sensations  d*aprös  Roger  Baoon. 
Deploige,  S.,  Le  conflit  de  la  morale  et  de  la  sociologie  (suite). 
Möfanges  et  doouments  etc. 

Rirista  FUo8oflca  (Pavia,  Bizzoni). 
Anno  X,  Toi.  XI,  Fase.  IT. 

^«entile,  G.,  U  concetto  della  storia  della  filosofia. 

Lugaro,  Evi  La  base  anatomica  deir  Intuizione. 

Suali,  L.,  Ün  trattato  elementare  di  fllosofla  indiana  (oontin.  e  fine). 

Carlo,  £.  di,  II  ooncetto  della  natura  ed  il  principio  del  diritto. 

Xicoli,  P.  F^  La  riforma  deUa  scuola  media. 

Vidari,  G..  Terzo  oongresso  filosofico  intemazionale. 

Rassegna  bibliograflca.  —  Discussioni.       Libri  ricevuti. 


528  Philosophische  und  soziologische  Zeitschriften. 

Bl&tter  für  die  gesamten  Sozlalwissenschaften  (Dresden,  Böhmert). 
Heft  9. 

Betrachtungen  eines  in  Deutschland  reisenden  Amerikaners  Ober  die  Bibliothekei». 
Chronik. 

Heft  10. 

Hofmann,  W.,  Zur  Reform  des  Yolksbibliothekwesens. 
Chronik.  —  Neue  Zeitschriften. 

Przeglad  Filozoflczny  (Warschau). 
Rock  yi,  Zeszjt  IT. 

Zensteller.  L.,  Les  idöes  de  J.  Sluart  Hill  sur  la  eausalitö  (fin.). 
Kodis,  J.,  Pnilosophie  de  Bergson. 

Silberstein,  A.,  L'esthötique  ezperimentale  oontemporaine  (fin). 
Revue  critique.  —  Pöriodiques. 

Geska  Mysl  (Prag,  Laichter). 
Roenik  IX,  Seslt  6. 

Franke,  £.,  Sur  Testh^tique  de  B.  Crooe. 

Simerka,  V\,  Sur  le  rapport  du  suicide  et  des  maladies  mentales. 

Svoboda,  W^.,  Sur  les  argumenta  de  Zönon  d'Elöe. 

Blaha,  J.  A.,  L'indiridu  et  la  sociötö. 

Revue  gönörale.  —  Analyses  et  comptes  rendus.  >~  Faits  divers. 

Proceedingrs   of  the  Arlstotelian  Society.    New  Serieg.    Toi.  Till 

(London,  Williams  Norgate). 

Haidane,  B.  B.,  The  methods  of  modern  iogic  and  the  conception  of  inflnity. 

Latta,  R.,  Purpose. 

Moore,  O.  E.,  Professor  James*  ''Pragmatism*. 

Oaldeoott,  A.,  The  religious  senttment :  An  inductive  enquiry. 

Hodgson,  Sh.  H.,  The  fdea  of  totalitv. 

Carr,  H.  Wildon,  Impressions  and  ideas.  —  The  problem  of  idealism. 

Nunn,  T.  Peroy,  On  the  ooncept  of  epistemoloffical  levels. 

Hioks,  G.  Dawes,  The  relation  of  subject  and  object  from  the  point  of  view  of 

psychologloal  development. 
Alexander,  J.,  Ward,  J.,  Read,  C,   Stout,  O.  F.,   a  Symposium.    The  natnre 

of  mental  activity. 
Abstracts  of  minutes  of  the  Prooeedings  for  the  XXIX.  Session. 


in. 

BMographie. 


I.    Geschichte  der  Philosophie. 

ClomperZ)  Tli.,  Griechische  Denker.  Eine  Geschichte  der  antiken 
Philosophie.  14.  Lfg.  (ni.  Bd.  2.  Lfg.)  p.  97—192.  —  15.  Lfg. 
(III.  Bd.  3.  Lfg.  p.  198—288.    Leipzig  1908.    8^    2  M. 

Kohut.  A«,  David  Friedrich  Strauß  als  Denker  und  £rzieher.  Leipzig 
1908.    80.    240  pp.    8  M.    Mit  7  Grav. 

Ziegler,  Th.,  David  Friedrich  Strauß.  L  Tl.  1808—1889.  Straßhurg 
1908.    8».    XIX,  324  pp.    6  M.    Mit  Jugendhildnis  von  Strauß. 

Ott,  A«,  Thomas  von  Aquin  und  das  Mendikantentura.  Freiburg  i  B. 
1908.    8«.    VIII,  100  pp.    2,50  M. 

ROey,  J.  W.«  American  Philosophy;  early  Schools.  New  York  1907 
8«.     10,  595  pp.    15  M. 

Mannheimer 9  A.,  Geschichichte  der  Philosophie  in  übersichtlicher 
Darstellung.  Von  Kant  bis  zur  Gegenwart.  I.  Zeit  des  Idealismus. 
Von  A.  Mannheimer.  II.  Zeit  des  Positivismus.  Von  Fr.  Mann- 
heimer.   Frankfurt  a.  M.  1908.    8^    VIII,  287  pp.    8,50  M. 

Pellissier,  G.,  Voltaire  philosophe.    Paris  1908.    18».    3,50  M. 

Dnncan,  D.,  The  Life  and  Letters  of  Herbert  Spencer.  London  1908. 
8<>.    638  pp.     18  M. 

Kowalewsi.  A«,  Arthur  Schopenhauer  und  seine  Weltanschauung. 
Halle  a.  S.  1908.    8«.    VII,  237  pp.    4,50  M. 

Richter,  R«,  Der  Skeptizismus  in  der  Philosophie  und  seine  Über- 
windung.   II.  Bd.    Leipzig  1908.    S^.    584  pp.    8,50  M. 

Rsewnski,  S«,  L'optimisme  de  Schopenhauer.  Etüde  sur  Schopenhauer. 
Paris  1908.    16  ^    2,50  M. 

Abhandlungen  zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte.  Herausgegeben 
von  B.  Erdmann.    28.— 80.  Heft.    Halle  a.  S.  1908.    5,40  M. 

Inhalt:  28.  Die  philosophischen  Lehren  in  Leibnizens  Thöodio4e.  YIII,  79  pp. 
2  M.  —  29.  Über  Christian  Gabriel  Fischers  yemanftige  Gedanken  von  der  Natur. 
Von  A.  Kurz.  VII ,  55  pp,  1  60  M.  —  30.  Materie  und  Organismen  bei  Leibniz. 
Von  Hs.  L.  Roch.    VII,  &>  pp.    1,80  M. 

Beiträge  zur  Geschichte  der  Philosophie  des  Mittelalters.  Texte  und 
Untersuchungen.  Herausgegeben  von  Clem.  Baeumker,  G.  v.  Hert- 
ling  und  M.  Baumgartner.  VII.  Bd.  1.  Heft.  Der  angebliche  ex- 
zessive Bealismus  des  Duns  Scotus.  Von  P.  Minges  IX,  108  pp. 
3,75  M.  —  VI.  Bd.  6.  Heft.    Pour  l'histoire  du  probl^me  de  Ta- 


530  Bibliographie. 

moiir  au  moyen-äge.    Von  P.  Kousselet.    Monster  1908.    8^    VII^ 

104  pp.    8,50  M. 
Bnrckbiurdt,  0«  Ed.^    Die  Anfänge  einer  geschichtlichen  Fundamen- 

tierung  der  Beligionsphüosophie^    Grundlegende  Voruntersuchung 

zu    einer   Darstellung   von   Merders   historischer   Auffassung   der 

ReUgion.    Berlin  19C8.    8«.    VI,  90  pp.    2,40  M. 
Denssen,  P«,  Allgemeine  Geschichte  der  Philosophie  mit  besonderer 

Berücksichtigung   der   Religionen.     I.   Bd.    3.   Abteil.    Die   nach- 

vedische  Philosophie  der  Inder.    Nebst  einem   Anhang  über  die 

Philosophie  der  Chinesen  und  Japaner.    Leipzig  1908.    8®.    XVI, 

728  pp.    16  M. 
Erbardt.   Fr»,   Die  Philosophie  des  Spinoza  im  Lichte   der  Kritik. 

Leipzig  1908.    8«.    Vm,  502  pp.    9  M. 
Kinkel,  n«,  Geschichte  der  Philosophie  als  Einleitung  in  das  System 

der   Philosophie.    2.  Tl.    Von   Sokrates   bis   Plato.    Gießen ''  1908. 

VII,  133  u.  is  pn.    3,50  M. 
PurpvSy  W«9  Die  Dialektik  der  Wahrnehmung  bei  Hegel.    Ein  Bei- 
trag  zur   Würdigung   der   Phänomenologie   des   Geistes.    I.    Tl. 

Schweinfurt  1908.    8^.    41  pp.    1  M. 
Ronsgelot,  P.,  Llntellectualisme  de  St.  Thomas.   Paris  1908.  8^.  2  M. 
^vnttmann,  J«,  Kant  und  das  Judentum.    Leipzig  1908.    8^    61  pp. 

1,50  M. 
Studien,  Berner,3zur  Philosophie  und  ihrer  G-eschichte.  Herausgegeben 

von   L.    Stein.     LXI   Bd.    Die   Logik   Salomon   Maimons.     Von 

L.  Gottselig.    Bern  1908.    8».    11,  41  pp.    1  M. 
Adamson.  B.,  The  Development  of  modern  Philosophy.    Edited  by 

W.  R.  Sorley.    London  1908.    8«.    372  pp.    12,50  M. 
Y.  Hnmboldts,  W«,  gesammelte  Schriften.    Herausgegeben  von  der 

königl.    preußischen    Akademie    der    Wissenschaften.     VII.    Bd. 

2.  Hälfte.    Werke.   Herausgegeben  von  Alb.  Leitzmann.   VII.  Bd. 

2.  Hälfte.    Paralipomena.    Berlin  1908.    8®.    p.  353-678.    7  M. 
Schmidt,  F.  A.^  Friedrich  Heinrich  Jacobi.    Eine  Darstellung  seiner 

Persönlichkeit  und  seiner  Philosophie   als  Beitrag  zu   emer  Gre- 

schichte    des   modernen    Wertproblems.     Heidelberg    1908.     VIII, 

366  pp.    8  M. 
Brett,  G.  S,,  The  Philosophy  of  Gassendi.   London  1908.    8®.   358  pp. 

13,50  M. 
Herranz  y  Establ^s.    A.,    Compendio    de   historia   de   la    filosofia. 

Barcelona  1908.    8<>.    366  pp.    5  M. 
Sehneider  9  F.  J.^  Die  Freimauerei  und  ihr  Einfluß  auf  die  geistige 

Kultur  in  Deutschland   am  Ende   des  XVIII.  Jahrb.    Prag  19^. 

80.    X,  234  pp.    6  M. 
Watsoiiy  J«,  Tne  Philosophy  of  Kant  explained.    Glasgow  1908.    8^ 

528  pp.    13,50  M. 

II.    Logik  und  Erkenntnistheorie. 

Minsse,  A..  Erscheinung  und  Wirklichkeit.  Eine  Kritik  der  reinen 
Empfindung.    Leipzig  1907.    8^    464  pp.    6  M. 

LeTj,  A.,  Die  dritte  Dimension.  Eine  philosophische  Erörterung.  III, 
149  pp.  2  M.  (Berner  Studien  zur  Philosophie  und  ihrer  Ge- 
schichte.   Herausgegeben  von  L.  Stein.    LX.  Bd.    Bern  1908.    8^.) 

Baldwill,  J«  M.,  Thoughts  and  Things.  Study  of  the  Development 
and  Meaning  of  Thought.  Vol.  fl.  London  1908.  8^  462  pp. 
14,20  M. 


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Orenzfragen  des  Nerven-  und  Seelenlebens.   Begründet  von  L.  Loewen- 

feld  und  H.  Kurella.    Herausgegeben  von  L.  Loewenfeld.    58.  Heft. 

Landläufige  Irrtümer  in  der  Beurteilung  von  Geisteskranken.    Von 

Osw.  Bu^e.    Wiesbaden  1908.    8*».    WJ  pp.    s.  Kr.  915.    2  M. 
Kronthal,  P.,  Nerven  und  Seele.    Jena  1908.    8®.    III,  431  pp.    Mit 

13  Fig.    10  M. 
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8.  Heft.  '  Neue  Folge  der  philosophischen  Studien.  ^Ceipzig  1908. 
8«.    4  M. 

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Walter    t.   Walthoffen  ^    H«,   Lebensphilosophie    und   Lebeuskuust. 

Populärwissenschaftliche  Betrachtungen  und  praktische  Anleitungen 

für  die  gebildete  Lesewelt.    Wien  1907.    8^  VlII,  256  pp.    8,50  M. 
Grenzfragen  des  Nerven-  und  Seelenlebens.   Begründet  von  L.  Loewen- 

feld  und  H   Kurella.    Herausgegeben  von  L.  Loewenfeld.    54.  und 

56.  Heft.    Wiesbaden  1908.    8«.    5,20  M. 

Inhalt:  M.  Der  Lärm.  Em«  Kampfschrift  gegen  die  Qeräusohe  unsere» 
Lebens.  Von  Thdr.  Leasing.  V,  94  pp.  2,40  M.  —  56.  Sexiialethik.  Ton  Ch.  von 
Ehrenfels.    IV,  99  i)p.    2,80  M. 

Lacassagne.  A.,  Peine  de  mort  et  criminalitä.   Paris  1908.   18 ^    190  pp. 

Avec  4  illustr.  et  5graph.    2,50  M. 
Kallmeyer,    £•,   In  Harmonie  mit  den   Naturgesetzen.     Die   echte 

Geistes-  und  Körperpflege.    Erdsegen  1908.    8^.    XI,  274  pp.    Mit 

Abbüdgn.  u.  1  Taf.    5  M. 
Oaede,    U«9   Schiller  und   Nietzsche    als    Verkünder   der   tragischen 

Kultur.    Berlin  1908.    8«.    186  pp.    3,50  M. 
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14,20  M. 

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Studien,  Bemer,  zur  Philosophie  \md  ihrer  Geschichte.  Heraus- 
gegeben von  L.  Stein.    LIX  u.  LX.  Bd.    Bern  1908.    8«.    3  M. 

Inhalt:  LIX.    Über  den  Ursprung  der  Zadniga.    Eine  soziologische  Unter- 
suchung.   Von  A.  Stanisohitsch.    77  pp.    1  M. 

Adaiii9P«.Leslmperiali3niesetlamoralede8peuples.  Paris  1908.  3,50 M. 
Dowd.  J.«  The  Negro  Races.    A  sociological  Study.    Vol.  I.    New 

York  1907.    8^    13,  493  pp.    15  M. 
Jacobj.  Wth.,  Der  Streit  um  den  Kapitalsbegriff.    Jena  1908.    8^ 

V,  117  pp.    3  M. 
Mallock.  W*  H«9  A  critical  Examination  of  Socialism.    London  1908. 

8».    326  pp.    7,20  M. 
Kidd)  D«9  Kafir  Socialism  and  the  Dawn  of  Individualism :  an  Intro- 

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2,50  M. 
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its  Nature  and  of  its  Influence  upon  the  Progress  of  Civilization. 

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distinguish    religions   from   scientific    Truth    and    to    harmonize 

Chrifltianity   with   modern   Thought.     New   York   1908.     8®.     19, 

840  pp.    8,40  M. 
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1908.    8^    XI,  150pp.    2,40  M. 

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8  •    8  M. 


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Erkenntnis  und  pädagogische  Behandlung.    Paoerbom  1907.    8^. 

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KynnersleT)  £•  M.  S*^  H.  M.  I.:  Some  Passages  in  the  Life  of  one 

of  H.  M.  Inspectors  of  Schools.    London  1908.   8^   366  pp.    10,50  M. 
Yaudewalker.    N.   €••  The  Kindergarten   in   American   Education. 

New  York  1908.    S«.    18,  274  pp.    7,50  M. 
JFaqnez-Dalcroze«  Methode.   I.  Teil.   Rhythmische  Gymnastik.   I.  Bd. 

Neuch&tel  1908.    8^    XHI,  298  pp.    Mit  Fig.    10  M. 
IVefff  K««   Das  pädagogische  Seminar.    Einführung  der  Kandidaten 

der  Pnilologie  in   die  pädagogische   Praxis.    Mflnchen   1908.    8^ 

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JFÖrgeg,  Bdf«9  Psychologische  Erörterungen  zur  Begründung   eines 

wissenschaftlichen  Unterrichtsverfahrens.    Leipzig  1908.    ö".    XI, 

144  pp.    3,80  M. 
Kohlransch.  Oh«  G«,  Deutsches  Turnen.    Vorträge  und  Lehrpläne. 

I.   Bd.     Magdeburg   1908.     8^     XI,   582   pp.     Mit   Abbildungen. 

12  M. 
Tleshman,  A.  O«^  The  educational  Process.    Philadelphia  1908.    8^ 

7,  386  pp.    6,25  M. 
Pfttsold.  W.,  Geschichte  des  Volksschulwesens  im  Königreich  Sachsen. 

Frankfurt  a.  M.  1908.    8  <>.    VI,  232  pp.    2,80  M. 
Radier  •  M«  £•  •  Moral  Instruction   and  Training  in  Schools.    2  vols. 

London  1908.    8».    596,  406  pp.    13,50  M. 


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Friedrich  Jod!  und  Alois  Rieh! 

herausgegeben 
von 

Paul  Barth. 


Inhalt: 


Rieh.  IIQIIer-Frelenf6l8 :  Die  Be- 
deutung des  Ästhetischen  für  die 
Ethik. 

KunO  MittenZWey :  Der  in.  inter- 
nationale Philosophenkongreß. 

Paul  Barth:  Die  Geschichte  der 
Erziehung  in  soziologischer  Be- 
leuchtung.    VII. 

Besprechungen  über «Sühriftenvon: 

]\lax  Schiti::,  Die  Moralphilosophie 
von  Tetens   (C.  M.  Gießler). 

O.  Werner,  Lebenszweck  und  Welt- 
aweck  oder  die  zwei  Seinszustande 
(C.  M.  Gießler). 

Wolfgancf  Schulz,  Studien  zur  an- 
tiken Kultur  (C.  M.  Gießler). 

P.  Beck,  Die  Ekstase  (Walther 
Regler), 


A.  FouÜlee,  Temperament  et  Carac- 
tire  (Paul  Barth). 

—  Les  eiiments  sociologiques  de 
la  rao'rale  (Paul  Barth). 

—  Critique  des  syst^mes  de  morale 
contemporains  (Paul  Barth). 

—  Der  Evolutionismus  der  Kraft- 
Ideen  (Paul  Barth). 

Baron  Gay  von  Brockdorff,  Die 
Geschichte  der  Philosophie  und 
das  Problem  ihrer  Begreiflichkeit 
(Paul  Barth). 

W,  Ed.  Biermann f  Die  Weltauf- 
fassung des  Marxismus  (Paul 
Barth). 

Philosophische  u.  soziologische 
Zeitschriften. 

Bibliographie. 


Leipzig. 

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1909. 


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der  Erkenntnis  und  der  Methode] 
wissenschaftlicher  Forschung.    Drei  Bände.    PI,  Band..     ItOgik 

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PQfffQlllAfOl^       S^'  ^^'     1908.     geh.  M.   12, — ;   in  Leinwanl 
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Soeben  erschienen: 


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Dritte  Auflage    ♦    Zwei  Bände 
Geheftet  M.  16.-,  in  2  Halbfranzb&nden  M.  20.— 

Die  dritte  Auflasre  dieses  bew&hrten  Lehrbuchs  ist  unter 
Vorwertung  des  in  den  letzten  Jahren  tllierreieh  zugewachsenen 
Materials  vom  Verfasser  vermehrt  und  verbessert  worden. 

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Soeben   erschien: 


Von  Dr.  Eduard  Zeller. 

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22':8  Bogen  gr.  8^.     M.  5.40,   geb.  M.  6  20. 

Hierzu   je   eine  B«*ilage  von  Ferdinand  Enke  in   Stuttgart    "'"^ 
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