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Full text of "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie"

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LIBRARY 
UNIVERSITY  OF  CALIFORNIA. 


Class 


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XXVII.. Jahrgaog.  '.       I.  Haft. 

(Nm*''fiI|i  HO 

Vierteljahrssehrift 

för 

wissenschaftliche 

Philosophie  und  Soziologie 

gegründet  voo 

Richard  Avenarius, 

in  VerbiBiiiuig  mit 

Ernst  Mach  nod  Alois  Riehl 

herBQBgegebän  .-^-.. 

Paul  Barth. 


lullns   Schultz:     Ueber    die    Fumla-  |        PV.JUd&i«3:StachyoIogle.  (M.Naih.) 

mtnle   der   fonnalen   Logik.  i        i,.   Müff'dmann :      Das    Problem    d^r 

(lainrt  Mfillsr :    Ueber  die  leitlicben  [  Willens  frei  heil     in     der     neiiesieQ 

hiQeQBcbaftenderSinneswahrnebmuiiE.  j  deutschen  Philosophie.  (MaiOlliicr.) 

Paul   Barth:    Die  Geschichle   der  Er-  Sichter, BaoulDr.-.Kiai-Aasspibche. 

Jichung  in  soaiologiEch.  Beleuchtung.  1.  (W.  P.  Schiimaim.) 

BetprechaiiKeii  übei  .Schtifien  von:  Fatve,    L  :    La    mt^ihode    dans    les. 

Ädamkieuna  :  Die  Grosshimrinde  als  I  ssicnces  eiipi^rimenlales.    (Giessler.) 

Organ   der  Seele.      (Aug.   Dunges.)  1         Ba/^win  Didioriary  ofHhilosophy  and 

Ä.  miliare:  Die  Lehre   vom  Leben.  !  Psychology.     (Paul  Baiih.) 

(Augusi   Dilngcs.)  !        Groos,  Karl:  Der  äsiheljfche  Gcnus.=. 

l  Kant :  Ein  Lebensbild  nach   Dar-  ;  (Jonas  Cohn.J 

Stellungen  seiner  Zeitgenossen  Jach-  j        Storch.  E.:  MuskeJfmiktion  und  Br- 

tnaon.  Borowski.WaSianski.Herausg.  !  wussisein.     (.August,  Dunges. 

von   A.  Hoffmano.     (L.  Rauseheu-  '"  '      '"  ' 

bach.) 
Mayer:     Die  schuldhafte  Handlung 

(E.  Marcus,) 
Ä.   KnAtmiam :  Ein  Beitrag  lur  Ge- 

schichte   der  Metapby^k   und  der 

ftycholoped(MWUlen9.{\V.Henzcn. ) 


Wagn».  Ä., ' 

piriokrilischeii      Grundlegung      dci 
Biologie.     (August  Dunges.) 

PbUoBOphlgche  Z«ltscbrUtcti. 

Bibliographie. 


Leipzig. 


Atisgegebeii  ftm  20.  März 


„CcWijjIe 


Bei  der  Redaktion  sind  eingegangen: 

Aall,  A.,  bacbt  und  f  Rieht     Leipitlg,  Beialand.    341  8. 

ArUtolellan  Soct«tf,  Froceoditigs  of  the,  II  Oxford,  Williams  &  Norgate. 

240  S. 
Bauch,    B.,    Oliickaeligkeit    und    PerBSnlicbkeit   in    der    kritiadien    Ethik. 

Stnttjjart,  Frommann  (E    Hauff). 
BLbso,  C,  T.a  Fantasia.  Cat&nia.  G^iannotta.    397  S. 

Bon,  F.,  Die  Üogmeu  (l(-r  Krlcenutnistbeori«.     Leij^zif!,  Engelmaun.   349  ti. 
Basse,  L.,  Geist  und  Körper,  Seele  und  Leib.     Leipzig,  Dflrr.     488  S. 
Cesca,  G.,  La  Filosofia  della  Vita.     Messina,  Muglia.     221   S 

—  La  Religione  Morale  de!!'  Umaaitä.    Bologna.  Zanichelli.    684  S. 
Chamberlain,  H.  8t.,  Dilettaatiamue,  Eaase,  HouotbeismuB,  Rom.    München. 

Brookmaon,    80  S. 
BeDSseo,  P.,  Der  kategoriBche  Imperativ,    Kiel  u.  Leipzig,  LipsiuH  &  Tiacber. 

29  S, 
U[e  ErlOann^r,  vom  Dasein.     Leipzig.  Naumann.     287  S. 
Flttgel,    0.,    Die  äeelenfrage    mit  Bücksicbt   auf  die  neueren  Wandlungen 

gewtiiser  nator  wissen  Schaft  lieh  er  Begriffe.     CStben.  Scbulze.     15Ö  S. 
tiejser,   0.,   Oruadlegung  der  empiriechen  PsTcbologie,     Bonn,  Hanat^in. 

240  S. 
(Joldscheid,  K.,  Zur  Etbik  des  Gesamt  willens.  1.    Leipzig,  Ruisland.   552  S. 
Hibben,  i.  G.,  Ueget'a  Logie.    New  York,  Cb.  Scnbner'B  Sods.    313  S. 
JodI,   F.,    Lehrbuch   der  Psychologie.     Stuttgart  u.  Berlin,  Cotta;  2.  Au«. 

2  Bde.     435  u.  448  S. 
Kate,  H.  Ten..  Zur  Psychologie  der  .Tapauer,     Kolff  &  Co.     12  8. 
Kinkel,  W.,    G.  Fl'.  Herbart,  sein  Leben  und  seine  Philosophie,      tiieasen, 

Rlcker.     2Ü4  S 
KlrechmaDD,  A.,  Die  Ditnensionen  des  Itaumes.  Leipzig,  Engelmann.  112  8- 
Kranse's,  K.  Chr.  F.,  BriefuechseL    Herausg.  v.  V.  Uoblteld  a.  A.  Wünsche. 

Leipzig,  Dieterich.    540  S. 
Lobsien,  M.,    Schwankungen   der   psjcbischen  KapazitHt.      Berlin,  Reutber 

&  Iteicliard.     109  S. 
Mach,  E-,  Vorleaungen.     4,  Aufl.     Leipzig,  Barth.     403  S. 
Maanbelmer,    A.,    Geschichte   der    Philosophie.     Frankfurt  a.   M..    Neuer 

Frankfurter  Verlag.     111   S- 
Manthuer,  F.,  Kritik  der  Sprache.  3.  Band    Stuttgart  u.  Berlin,  Cotta.  666  S. 
Medicus,  F.,  Kants  Philosophie  der  Geschichte.  Berlin,  Reutber  &  ßeichard. 

82  S. 
Mellin,  G.  S.  A.,  Marginalien  und  ReKister  zu  Kants  Kritik  der  Erkenntnis- 
vermögen, 11.    Gotha.  E,  F.  ThiAemann.    237  S. 
Meamann,    E.,   Die  Entstehung  der  ersten  Wortbedeutungea  beim  Kinde. 

Leipzig,  Engelmann.     69  S.  • 

—  Die  Sprache  des  Kindes.     Zürich,  Zürcher  &  Furrer,     82  S. 

Mejer's  Grosses  Conversatioot-Lexikon.  6.  Aufl.  I.  Leipzig,  Bibliographisches 

InstitQt.    Ö03  u,  IV  S. 
Mondolfo,  R-,   ÖD  Psicologo  ABSOciazioniata  E.  B.  de  CoudiUac.      Palermo, 

Sandrou.     125  S. 
Natorp,  F.,   I'latos  Idoenlehre,  eine  Einführung  in  den  Idealismus.  Leipzig, 

Dürr,     ili   8. 
Netu^bajeff,  A.,  Üober  Memoiren.     Berlin,  Reutber  n.  Reichard.     39  S. 
Palägjl,  M-,  Kant  und  Boliano.     Halle  a.  8..  »iemeyer.     124  S. 
Perlmntter,  S.,  Karl  Meuger.     Bern,  Sturzenegger.     84  8. 
Pieper,    A.  n.  H.  Simon,    Die    Herabsetzung   der  Arbeitszeit    fOr  Frauen. 

Jena    Fischer.     164  S, 
PShlmann,  H.,  Rudolf  Euckens  Theologie.  Berlin.  Reutber  &  Beichard   93  8. 
Pr«t,  L.,  L'Art  et  la  Beaut^.     Paria,  ilcan,     285  u.  30  S. 
Katzenhofer,  G.,  Die  Kritik  dos  Intellekts.     Leipzig,  Brockhaus.     166  S. 
Richard,  G.,  L'ldö«  d'fivolution  dans  la  Nature  et  IHistoirii.    Paris,  Alcan. 

400  u.  30  8. 
Romnodt,  H.,  Kants  philosophische  Rcligionelebre.  Gotha,  Thienemann.  96  8. 


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Vierteljahrssehrift 

ffir 

wissenschaftliche 

Philosophie  u.  Soziologie 

gegründet  von 

Richard  Avenariaa 

im  Tarbindong  mit 

Brnat  Mach  imd  Alois  Riehl 

heraiugegeben 

Paul  Barth. 

8i«b«iiBHdfWMuig^r  Jahrgang.    N«ne  Folge  IL 


Leipzig. 

O.  B.  Beisland. 

1903. 


,iP<.-jM,Googlc 


'•6  3 


,t,7i.dM,GoOglc 


lohalteveraeichnis 

dm 
37.  Jahrganges. 


o  du  Haft,  dlaanblHAos  dls  S 


Artikel. 


Bftrth,  P.,  Die  Oesohichte  der  Emehnng  in  soäologiaoher  BaleDObtnng. 

I,  57--8a    n,  209—229. 
—  Zd  Herd«r'B  100.  Todestage.    IV,  429—461. 
DOring,  A.,  Endoxoa  von  EnidoB,  SpenBippes  und  der  Dialog  FhileboB. 

n,  113—129. 
Leo,  0.,  Folgerungen  ttOB  Kant'»  Aofi^timg  der  Zeit  in  der  Kritik  der 

rdnan  Vemanft.    H,  189—207. 
Haller,  fteb..  Ober  die  seitliohen  Bigemohaften  der  SiimeBwabmehmnng. 

I,  39-66.    IV,  416-428. 
Oppenheimer,  Fr.,  Btäzze  der  BonalOkonomisolien  Q-eaobichtBaiifraBBang. 

m,  823—362.    IV,  869-413. 
Selieerer,  P.,   A.  Dfiring's  rein  menachliobe  BegrOndoog  des  Sitten- 

gewtaee.    lU,  297—822. 
Schnitz,  Jnl.,  Über  die  Fandamente  der  formalen  Logik.    I,  1—37. 
Svoboda,  Herrn..  Ventehen  und  Begreifen,    ü,  131— 18B.    Ol,  241 

bia  296. 

Be§preehui(ei. 

jfdamiUuiia,  A.,   Die   OroBahirarind«   als  Oi^an   der  Seele.   —  Von  A. 

DflngeH.    I,  81—83. 
MOart,  A.^  Die  Lelire  vom  Leben.  —  Von  August  Dflngei.    I,  88—86. 
Ctuärtr,  E.,   Leibniz'  Sjatem  in  seinen  wiseeneebaAlichen  Ornndlagen. 

—  Von  Augnit  Dfinges.    m,  367. 
DkAmary  of  Pbiloeoph;  and  Fsjoholog;  ed.  b;  Jorneg  Hark  Baldwin.  — 

Ton  Paul  Barth.    I,  100-101. 
-ZV/;  A.,  Ober  den  ExiiteuialbegrUF.  —  Von  Karl  Uarbe.    IV,  471 

bii  472. 


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VI  InliidtarerzeichmB. 

Ehltr^  X.,  W.  Wnndta  Philosophie  und  P^ohologie.  —  Von  W.  P.  Schn- 

manu.    IT,  468. 
I^vre,  L^  LamäÜiode  dans  loa  Bdences  ozp^rimentales.  —  Ton  QiosBler. 

1,96-96. 
—  L'o^aniBatäoa  de  la  Boieoce.  —  Ton  Qieiiler.    IT,  466—467. 
R^tag,   W.,  D«r  BeftUsmiiB  nnd  doa  Transzendenipioblem.  —  Ton  Dr. 

J.  Sohnlts.    IT.  466—167. 
(hmptn,  1%.,   Oriediiidie   Denker,    eine  OeBohiohte   der  antiken  Philo- 

Bopfaia.  —  Ton  Paul  Barth,    m,  863—356. 
GaUitktid,  R.,  Zox   Ethik  de*  QesamtwillenB.     £ine  eoiiolphiloiophjiohe 

Dnterenohnng.  —  Ton  Panl  Barth.    U,  837—238. 
GreM,  K.,  Der  ästhetüche  Qeniua.  —  Ton  Jonas  Cohn.    I,  98—100. 
BtUpatk,  W^  Die  OrHuviHenBchaften  der  Psfohologie.  —  Ton  August 

Dfinges.    IT,  468. 
Jmrh,   y..   De   la  r^alit^   du   monde  eeueible.  —  Ton  Karl  Harbe- 

IT,  471. 
AoHt,  /.,  Ein  Lebensbild  nach  DarBtellungen  leiner  Zeilf^enouen  Jaoh- 

monn,  Borowski,  Wasiaoski.  —  Ton  Leo  Bansohenbaoh.    1,86—87. 
Katiti  GttoBimttta  Stkriftm.    Herauagegeben  von  der  EOnigl.  pieoMiteben 

Akademie  der  Wiesenachaftaa.    Bd.  XIL    2.  Abteil.  —  Ton  Baonl 

Eiokter.    IV,  472-474. 
JÜnthnKum,  A.,  Die  Dimensionen  des  Banmea.    Eine  kn'tüohe  Studie.  — 

Ton  Dr.  Jolias  Bohulti.    UL  866-366. 
kuektmami,  A.,  Haine  de  Biran,    'Ein  Beitrag  zur  Geechiohte  der  Meta- 

pt^sik  und   der  Pafohologie   des  Willaas.  —  Von    W.   Benzen.    I, 

90—91. 
Imirit,  S.  S^   UetapfajBica   Nova   et  Vetust».   —    Ton   Qiassler.    IT, 

466—461. 
LUimemi,  A.,  Die  ^laohBtArnngen  geistig  zartlokg«bliebener  EindAr.  — 

Von  W.  P.  Schumann.    IT,  478. 
I^ft,    3X,   Vom  FOUen,    Wollen   und   Denken.     Eine  pajoholog^sohe 

Skiiae.  —  Ton  Paul  Linke.    II,  238-240. 
Mertinai,    £,,    Psfcbologisohe    ÜntersDchongen    zur  Bedentongelehre.  — 

Ton  Paul  Linke.     IV,  462-463. 
M^tr,  M,,  Die  schnldbafte  Handlang  und   ihre  Arten  im  Strofirecht.  — 

Ton  E.  Marcus.    I,  87-90. 
MOneng,  A.,  Über  Annalunen.  —  Ton  Faul  Linke.    IT,  461-462. 
JAfdäim,  G„  La  qnestione  dei  negri.  —  Ton  Paul  ßarth.    IT,  463—466. 
JMWätf  P.  y.,  Stachjologie.    Weitere  Tennischte  Anfa&tze.  —  Ton  Hai 

Nath,    I,  91-92. 
iiaffibtaiM,  Z.j  Das  Problem  der  Willensfreiheit  in  der  neneeten  deut- 
schen Philosophie.  —  Ton  M.  Offner.    I,  92—96. 


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InhaltiTerzeiofanü.  VQ 

Oä^ier,  y.  V.,   Wm  ist   lUnm.   Zeit,   Bewegimg,   Haue  T    Was   itt   die 

Enoheinimgsweltr  —  Ton  Dr.  J.  Schultz.    IV,  467—468. 
OibamU,   (f.,   TorlMiiag«n   Aber   Hatnrpiiiloaophia.   —    Ton   Oieaalar, 

IT,  474—477. 
I^ldsyi,  Der  Streit  der  Pijchologiaten  und  FannaUKt«n  in  der  modernen 

Logik.  —  Ton  E.  Harbe.    IV,  469—471. 
RitMur,  Xanä,  Dr..  Eant-AtuaprOoIie,  —  Von   W.  F.  Scbumann.  I,  96. 
Rutstt,  B.,  k.  Critioal  Exposition  of  the  Pfailosophy  of  LeibmE.  —  Von 

H.  Schwarz.    IV,  465-466. 
Rrftt,  >.,   The  World   and   the   Indiridnal.  —  Ton   H.  Sohwarc.    IT, 

463—466, 
Sckiffe,   (f..  Der  Znsammenhuig  toq  Leib  nnd  Seele.  —  Ton  Angnst 

Dfinges.    IT,  468. 
Starei,  £,   Haskelfnnktion  nnd  Bewnsitsein.  —  Von  Angait  Dflnges. 

I,  101-102. 
Staitantm   vtUrum  fragmatta,    calUgit   Jahamiu   ai    Armm.  —   Ton    Panl 

Barth.    III,  368. 
Vaiattimtr,    JTt.,    Immanuel  Kant's  Kritik   der   reinen  Vemnnft.   —   Ton 

W.  P.  Schumann.    IV,  466. 
Wagmtr,  A.,  Beitr&ge  za  einer  empiriokritdsch«n  Orondlegong  der  Bio- 
logie.   I.  Heft.  —  Ton  Angnst  Banges.    I,  103. 

BellMtancelge. 
Bnese,  L.,  Qeist  und  KOrper,  Seele  und  Leib.    K,  240. 

PkUoBopUsche  Zeltsckriftea. 

I,  lOe— 108.  —  in.  368-864.  -  IT,  481-488. 

BibUognpUe. 
I,  10»— 112.  —  in,  866-^868.  —  IV,  486—488. 

BerlchtigOBg. 
a,  230—282. 

Entregnang  du  ReiMBeBt«a. 


Dni«fcf«U*rb«iektigug. 
IT,  4S4. 

BrUiriDr. 

IT,  478—460. 


iM,Googlc 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


M»M*M*A*MM*MA**MAAAAAAtAAAA*^^»». 


Abhandlungen. 


üeber  die  Fnniiamente  der  formalen  Logik. 

Von  Jillis  ScbnltE,  Berlin. 


A.  HQBBERI.  TBrwlrft  die  piTcbolaglitliclis 
IDC  nlne  LogUi  ili  denn  ÜMOtMlaebs  Onm 
I.  kein  WihiiwlUkrlteriiim  —  H 


Her  nDnuÜTeD  Logik  nnd 
KlelH  iber  UWe 


li  PoruIUe  keinen  ihearetlKlien  Isbilt  Uefero  — 


b]  Die  UnnolifUll^uiuletm  San  lUIhemuDu 

d)  Kakts  TnuuBsndenuIpMlgaophle  fllr  H.'b  Zwecke 

e)  H.'i  eigene  TonehUge  ebgelelmt  —  VH. 

B,  Inwlefom  mim   die   doftd.  L<j^  übetiiMiipt  fDndl«rt 
piycbolaglHtKlie  nnd  die  eAannnitdirlllKbe, 


I.  Unell  nnd  Wihriielt  rem  piyckologliUi 


Verden?     Z^el  mBg] 


I. 

Gegen  die  nbliohe  p87ohologistiBche  Begründiuig  der  Logik  hat  mau 
neneidingB  Bedenken  ge&oEsart.  Ich  glaube  nicht  an  deren  Triftigkeit, 
denke  vielmehr,  daas  WnmiT,  Siqwast,  Esduakn  and  ihre  Oenosseu  im 
grossen  und  ganzen  den  jüngsten  „  Abaolntisten"  gegenüber  das  Feld  be- 
haupten. —  um  dies  in  zeigen,  nrnsa  ich  ein  paar  SelbBtTorstiUidliohkeitea 
TOiHnfschioken-  denn  wo  Fondamente  wackeln,  heisst  es  naohBohaaen,  was 
nbeilianpt  noch  feststeht. 

1.  Es  giebt  eine  uornative  Logik.  Ihre  Begeln  dienen  dem 
Zwecke,  inittell>are  Urteile  richtig  zn  gewinnen. 

2.  Alle  Sätxe  (von  Fragen,  Bitten  und  dergl.  abgesehen)  lassen  sich 
in  drei  ElaBaen  teilen:  a)  Die  Foetalate  (Forderungen,  Normen,  Begeln) 
gehen  auf  ein  Soll,  auf  einen  Gegenstand  also,  der  noch  nioht  iat;  da 
tä»  ihn  verlangen,  wäre  es  sinnlos  zu  sagen,  sie  stimmten  mit  ihm  iiber- 
ein  oder  anch  nicht,  b)  Definitionen  begrenzen  einen  Begriff;  wenn 
alle  Wörter  der  Sprache  vöJIig  eindeutig  wären,  hatten  eie  keinerlei  Zweck 
—  ausser  etwa  im  Kindemnterriohte;  wer  aber  mit  schillernden  Ansdriioken 
la  arbeiten  hat,  wie  z.  B.  jeder  Philosoph,  bedarf  ihrer,  damit  man  ihn  ge- 

■auduni.  PhlloK  o.  Sodol.    XXViL  1.  1 


iM,Coo<^le 


2  Dr.  JnliaB  SehulU: 

Qftu  veistebe.  laoerhaJb  der  Orenzea  des  allgemeiDan  Spraohgebniaohs 
ann  sind  sie  völlig  nillkürlicti;  nnd  in  Bioh  gageastaadBloB  and  leer,  c]  Be- 
bau ptnngen  oder  Aussagen  gehen  suf  OegenstAnde ;  sie  heben  nämlich, 
eine  Th&tsache  oder  die  EusteDs  eines  Dinges,  ein  Merkmal  oder  eine  Ver- 
änderang  herror,  machen  anrmerksiini  daraaf;  mögen  sie  non  sämtlich 
KPrädikattonen"  im  taohnischen  Sinne  sein  oder  nicht 

3.  'Wahrheit  ist  nnr  im  Satze.  Jenes  wortlose Drteil,  das  manche 
Logikei  in  jedem  Akte  des  Wiedererkennens  ünden  wollen;  das  eines  nach- 
denklichen Taubstummen');  das  „anbewnsste"  gewisser  Sohuleu;  selbstver- 
ständlicb  das  ideale,  das  kein  irdisches  Wesen  je  tbatsAchlich  gedacht  oder 
gar  gesprochen  zu  haben  braucht,  den  „Satz  an  sich"  Bolzanos*];  all  das 
begreife  ich  unter  dem  Tetminns  ,8afa"  hier  mit  —  gleichgiiltig  ob  es  der- 
gleichen giebt*);  denn  hier  zum  Beginne  möchte  ich  allen  möglichen  Stand- 
pnnkten  gerecht  werden.  Ich  denke,  bei  so  weiter  Fassang  des  Begriffs 
wird  z.  B.  auch  Hnsssio.*)  seine  Bedenken  gegen  den  „Oemeinplatz"  fallen 
lassen.  —  Eine  Wahrheit,  die  nicht  im  Satze  steckte,  würde  ich  mir 
jedenfalls  vorbehalten,  mit  einer  neaen  Vokabel  zu  tanfen  und  hätte  dabei 
das  allgemeine  Sprachgefühl  sioherücb  anf  meiner  Seite. 

4.  Wahrheit  im  gewöhnlichen  Wortsino  ist  die  üeber- 
einstimmnng  des  Satzes  mit  seinem  Gegenstände.  Die  Eritikea, 
die  diese  Definition  erlitten,  beruhen  auf  Hissveistandnissen.  Hit  , Gegen- 
stand" ist  kein  metaphysisches  Ding  an  sich  gemeint,  dessen  even- 
tuelle Hichtezisteuz  oder  ünerkennbarkeit  alle  Wahrbeil  vemichten 
könnte,  soodeni  zunächst  die  Tbataachen  der  Wabmehmnng  nnd  des 
innem  Erlebens  im  alle rsch lichtesten,  gänzlich  empirischen  Sinn;  sodann 
jegliches,  was  nach  den  allgemeinen  Denkgesetzen  als  gleioh  real  be- 
trachtet werden  mass.  Qoideckemeyeb')  meint  zwar,  die  über  Fan- 
tasiebilder,  z.  B.  Cehtauren,  ausgesprochenen  Sätze  nnd  diejenigen  Dia- 
jonktionsurteile,  in  denen  das  eine  Glied  zugleich  die  Yemeinong  des  andern 
sei,  könnten  nicht  unter  die  Kategorie  „Wahr -irrig"  fallen,  wenn  üeber- 
eiustimmong  des  Urteils  mit  der  Wahrnehmung  das  Wabrheitskriteriom 
bilde.  Aber  gewiss!  Der  Satz:  „Dies  da  ist  entweder  eine  Florfliege  odsT 
ein  Bohmetterling!"  ist  ja  einfach  die  Sjnthese'J  zweier  (wahrer  oder 
irriger)  Urteile,  nämlich:  „nur  F.  und  S,  kommen  die  nnd  die  Eigenschaften 
zu"  —  und:  „dies  da  hat  die  und  die  Eigenschaften!-  Beide  urteile  aber 
sind  falsch  oder   wahr,    jeuachdem   sie    mit  Wahmehmangea  harmonieren 

oder  nicht,    und  der  Satz:  „Centaaren  haben  Fferdeletber" ist  licbtig 

als  bansthistorisches  urteil,  geprüft  au  antiken  Bildwerken  n.  s.  f.;  also 
letztlich  an  Perzeptionen;  kann  auch  psychologische  Wahrheit  haben, 
sofern  meine  eigne  Fantasie,  also  ein  seelisches  Erlebnis,  sie  garantiert; 
natni^eochiobtlich  wäre  er  gegenstandslos,  hätte  also  im  Grunde  mit  dem 
Wahrheitsbegriff  noch  gar  nicht  einmal  zu  than,  ganz  wie  nach  dtaseo 
üblicher  DeRnitJon  zu  erwarten!  —  Jede  Art  „formaler"  Begriffsbe- 
Btimmnng  aber,  auch  die  G.'s  selbst,  wird  statt  einer  Definition  aioe 
Anweisung,  wie  Wahrheit  zn  suchen  sei.     , Ein  Urteil  ist  wahr,  wenn 

')  Beispiele    s.   Jises,    Prino,    of    Psyoh.    I,  8.   266    ff,;     Ribot, 
L'eTolution  des  idess  generales,  S.  48  ff. 
')  WissenHchaftslehre  I,  a  76  ff. 
■)  Vgl.  X. 

')  Log.  Unters.  I,  8.  1B9. 

')  ZeitBohritt  für  Philos.  u.  phiL  Kritik,  Bd.  120,  Heft  2  (1902). 
•)  Vgl  Sigwart,  I/.gik  I,  S.  Aufl.  S.  301-306. 


iM,Coo<^lc 


TJeber  die  Pundunente  der  fonnalen  Logik.  3 

es  mit  klarer  Einsiofat  gefiütt  ist  und  alle  Irrtumaquelleii  sorgRlltig  vet- 
Btopft  sind*  —  j»,  du  ist  denn  doch  ein  Basept,  beiaa  ümzirfcelung  des 
Begriffs!  Setxt  man  aber  statt  .klarer"  etwa:  „richtige"  Einaioht,  so 
wird  eine  blöde  Tantolo^e  draus')! 

Also  kann  Wahrbeit  nur  einer  Betiaaptnng  zukommen.  Forde- 
rnngen  mOgen  notwendig  odei  willkürlich  sein,  DeBnitioDen  haadliah  oder 
inbequem,  anch  onter  Ums^nden  sprachwidrig;    wahr  oder  irrig  sind  nat 


idingang  aller  Wahrheit  ist  der  Identitfits-  and  der 
WideraprachsdatE.  Denn  ohne  deren  Qeltnng  wäre  „UebereinstimmnDg" 
ein  Wort  ohne  allen  Sinn;  wer  sn  jenen  formalen  üraziomeu  iweifelte, 
mnsata  mit  dem  Auadnutlie  .Wahrheit"  etwas  ganz  anderes  meinen  als 
wir.  Demnach  wird  auch  der  eisigste  Skeptiker,  sofern  er  überhaupt  aileilt, 
das  aA  =  A*  und  „A  nicht  ^  Non-A"  immer  voraussetzen  müssen.  Viel- 
leicht bält  er's  für  eine  blosse  Uebereinknnft,  Heinetwegen!  sei  ihm  die 
Wissenschaft  ein  OSneespiei  nnd  die  Wahrheit  eine  vom  Fabrikanten  in  die 
Mitte  gemalte  Nummer  hundert;  er  habe  auch  gerne  die  Wahl,  ob  er  mit- 
wüTfeln  willl  That  er's  jedoch  und  zählt  die  Augen  nicht,  will  sagen,  miss- 
achtet  das  logische  Orundprinzip,  ho  halwn  die  Würfel  in  seiner  Band  über- 
haupt keinen  Zweok  mehr,  —  Ich  persönlich  bin  überzeugt,  daas  der  Wider- 
spnichssatz,  der  Satz  vom  ausgeschlossenen  Dritten  und  das  Dictum  da 
omni  et  uno  ans  dem  Identit&tspriozip  unmittelbar  abzuleiten  Bind,  meine 
daher  im  Folgenden,  wenn  ich  das  letztere  nenne,  die  orsteren  Immer  mit; 
wer  darüber  anderer  Ansicht  ist,  eigänze  diese  jedesmal  in  Oedauken.  — 
So,  and  bis  hierher  wären  wir  einig  —  oder  nicht?  Nun  aber  setzt 
es  Streit! 

u. 

Auf  welcher  theoretischen  Disziplin  hat  die  norma- 
tive Logik  sich  zu  gründen?  Ethik,  Äesthetik,  alle  speziel- 
leren KuDstlehren  berufen  sich  doch  auf  Tbatsächticbkeiten ; 
sollen  allein  die  Regeln  der  Wahrbeitfiadung  wie  mUssige 
EonTentiooeD  in  der  Luft  schweben  P  Niemand  will  dies. 
Man  pflegte  ihnen  bisher  ein  Fundament  aus  Psychologie  und 
'Wissenschaftsanalyse  zu  bauen;  so  empirische  Grundlagen 
jedoch  werden,  wie  es  scheint,  unmodern.  Mit  seinen 
„Logischen  Untersuchungen"')  glaubt  Edhonb 
HcaseaL  einen  neuen  Weg  zu  weisen;  vielleicht  auch  einen 
sehr  alten,  jedenfalls  war  er  im  letzten  Menschenalter  kaum  be- 
treten. Und  ein  so  eigenartiger  Denker  wie  Goswin 
Ufhdbs  geht  die  gute  erste  Hälfte  der  grasQberwachsenen 
Strasse  mit^.    Jener  wtlnscht  eine  apriorische  und  unbe- 

'I  Nifaeres  Abechnitt  Z. 

')  I,  1900. 

')  „Einfätirung  in  die  moderne  Logik"  I,  1901. 


iM,Googlc 


4  Dr.  Jnlias  Schnitz: 

dingt  apodiktische  Wissenschaft  als  theoretische  Stütze 
für  die  Normen  unseres  Urteilens  und  Stdiliessens.  Aber  vie  - 
soll  nao  diese,  die  „reine  Logik",  beschafTen  sein?  Als 
theoretische  Disziplin  muss  sie  Wahrheit  enthalten,  also 
irgendirie  anf  Gegenstände  gehen,  demnach  in  Behaap- 
tungen  leben.  Hnssssi.  deutet  wohl  an,^)  sie  bestehe  im 
Grunde  aus  Definitionen;  aber  wie  kann  sie  dann  objek- 
tire  Gewissheiten  bergen  P  Begriffsbestimmungen  sind  ja  frei 
wie  die  Lüfte  —  innerhalb  der  Schranken,  die  ansere  Sprache 
zieht;  das  sahen  wir  schon;  wer  soll  a^is  ihnen  Positives 
lernen?  Behauptungen  also  mttssen  schon  heran,  damit  theo- 
retisches Wissen  entspringe:  wie  aber  sind  solche  apriori 
mS^ch? 

Man  sieht,  unser  Gegner  wird  zunächst  die  „Kritik  der 
reinen  Vernunft"  in  den  Grund  stampfen  mUssen,  wenn  er 
den  Unterbau  der  logischen  Regeln  in  seinem  Stile  ausfuhren 
will;  und  ich  sehe  nicht,  wie  man  der  Kantischen  Uoerbitt- 
lichkeit  sich  entwinden  könnte  oder  bestreiten,  dass  Denk- 
formen ohne  Anschauungen  „leer"  sind.  So  zaubert  aber 
doch  aus  leeren  Gelassen  Gegenstände  hervor,  wenn  es  an- 
geht! —  Doch  setzen  wir  einmal,  das  Unerreichliche  wäre 
erreicht,  das  gesuchte  System  nicht  empirischer  Behaup- 
tungen stände  da:  wer  garantiert  uns,  dass  diese  „ideale,n 
Wahrheiten"  auch  im  Ernste  „wahr"  sind?  Die  handsge- 
meinen Wahrheiten  der  „Gh-fahrung"  lassen  sich  durch  das 
Zeugnis  der  Sinne  und  durch's  innere  Erlebnis  bestätigen  oder 
berichtigen;  wie  aber  soll  man  die  Aussagen  der  „reinen 
Logik"  kontrollieren?  Hubsbbl  —  und  auch  Uphubs*)  — 
berufen  sich  als  auf  ein  allerhöchstes  Tribunal  auf  die 
Evidenz,  das  unmittelbare  Einleuchten  jener  funkelnden 
Grunderkenntnisse.  Wie  seböD,  wenn  ein  Zweifel  an  diesem 
Kriterium  nicht  verstattet  wäre! 

Als  Belastungsprobe  für  seine  Tragkraft  taugt  jedoch 
der  Augenschein  des  Identitätsprinzips  und  seiner  KoroUarien 

■)  s.  139.  178. 

*)  S.  22  (f.,  36,  67. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


üeber  die  FoDdamente  dei  foTmalen  Logik.  5 

'  wenig,  und  Husskbl  that  Qbel  daran,  gerade  darauf  be- 
sU^dig  zu  pochen.  Denn  das  Uraxiom  ist  ja  fUr  das,  was 
vir  „Wahrheit"  nenn  en,  die  allgemeinste  Bedingung^);  wollte 
die  Logik  nur  aas  ihr  sich  auferbauen,  so  bedürfte  sie  gar 
keiner  fandierenden  Wissenschaft  weiter;  ein  Hinweis  auf  die 
blosse  DeflnitioD  der  Wahrheit  tbäte  ihr  völlig  genug.  — 
Aber  es  giebt  andere  Deoknormen,  deren  Patente  untersucht 
seio  woUen;  auch  Hüssbbl  steht  solche  Ware  zur  Verfügung. 
So  nennt  er  als  axiomatisch^)  die  Eegel,  von  n  auf  a  +  \ 
KU  schliesseD ;  ich  stelle  den  in  der  Geomebie  Üblichen  Schluss 
aus  einer  vorgezeicLneten  Figur  auf  das  ideale  ADSchauungs- 
gebilde  daneben.  Habe  ich  die  Fermutationen  meinethalben 
bis  1-  2.  3.  4  berechnet  und  das  bis  dahin  waltende  G-esetz 
eingesehen,  so  wende  ich  es  ohne  ZOgem  auf  jede  beliebige 
Zahl  an;  habe  ich  an  einem  willkürlich  gewählten  recht- 
winkligen Dreieck  den  „Fythagoras"  mir  klar  gemacht,  so 
bin  ich  gewiss,  dass  er  allgemein  gilt.  Und  zwar  ist  diese 
Gewissheit  apodiktisch;  ich  fühle,  es  muss  so  sein  —  obwohl 
ich  auf  den  Identität«-  und  den  Widersprucbssatz  mich  nicht 
berufen  dürfte,  denn  um  identische  oder  auch  nur  gleiche 
Grossen  bandelt  sichs  ja  gar  nicht.  —  Warum  also  herrscht 
die  mathematische  Induktion  schrankenlos,  während 
alle  sonstigen  Induktionen  nur  Wahrscheinlichkeiten  liefern? 
Hier  gilt  es,  die  Normen  begründen!  Hier  wäre  eine 
würdige  Aufgabe  für  HnssBBL's  reine  Logik." 

Und  was  hülfe  es  ihm  dabei,  mit  seiner  „Sridenz"  an- 
zurücken? Das  wäre  mir  eine  schöne  Wissenschaft,  die 
auf  jedes  unbequeme  Warum  nur  immer  „evident!  evidentl" 
ausriefe  I  Obendrein  liesse  sich  der  Fall  denken,  dass  ein 
Satz  dem  einen  völlig  evident  erschiene,  dem  andern  nicht 
UpHBtJS  z.  B.  hält  das  Substanz-  und  das  Kausalgesetz  für 


*)  8o  auch  HcBBKRi^  8.  : 
•)  S.  61. 


iM,Googlc 


6  Dr.  JnliQfl  Schnitz: 

evidenf):  ich  sach;  Mach^)  und  andere  weigern  sich.  Aber 
auch  ich  selbst  und  viele  mit  mir  würden  die  Form,  die 
Upheüs  dem  zweiten  dieser  Gesetze  giebt,  beanstanden.  Von 
einer  theoretischen  Wissenschaft  nnn,  welche  die  Denkregeln 
begründen  will,  müsste  man  doch  wohl  verlangen,  dnss  sie 
dergleichen  Streitigkeiten  schlichtete;  wozu  wäre  sie  sonst 
da?  Will  also  Husbbbl  nicht  emfach  alles,  was  ihm  per- 
sSnlich  evident  vorkommt,  ans  selbstherrscherisch  diktieren, 
so  wird  er  schon  ein  Kennzeichen  angeben  mUssen,  das  echte 
and  falsche  Evidenzen  scheidet.  Er  nennt  die  Evidenz  ein 
„Erlebnis  der  Wahrheit"*).  Fast  möchte  man  vermuten,  er 
meine  damit  etwas  wie  einen  Eindruck,  den  die  objektive 
Idee  auf  unsere  Seele  mache;  den  Reizungen  unserer  Sinnes- 
Organe  durch  die  Aussenwelt  vergleichbar:  Platos  Berührung 
derPsychemitdem  ewigem  Reiche  des  Wesentlichen!  Aber  war' 
es  so:  wer  richtet  zwischen  einem  Ideenblindeo,  der  unlogische 
Evidenzen  erlebt,  und  uns  Normalen?  Sollen  wir  alle  Skeptiker, 
auch  die  bedeutendsten,  für  geistig  verkrüppelt  halten,  wie 
gewisse  Kenner  den  Böcklih  eine  Zeit  lang  fUr  farbenblind? 
Das  gesuchte  Kennzeichen  wird  eben  doch  (trotz  S.  180  ff.) 
nur  aus  der  Naturgeschichte  der  Evidenz  zu  gewinnen  sein. 
Und  auf  diesem  Wege  geht  Uphubb  ihm  in  der  That  nach. 
Er  schildert'")  sehr  fein  das  Verhalten  unserer  Seele  bei 
echter  Einsicht  und  bei  blinder  G-ewissheit.  Aber  damit  ver- 
legt er  ja  das  endgültige  Urteil  über  die  logischen  Eegeln 
in  die  Psychologie  —  was  Hüssbbi,  eben  vermeiden  wollte! 
Denn  ein  zweites  Kriterium^')  giebt  hier  nichts  aus:  freilich 
können  unechte  Evidenzen  nachträglich  zerstSrt  werden,  echte 
niemals;  aber  sollen  wir  bis  ans  Ende  aller  Tage  unser 
Urteil  über  die  Geltung  meinetwegen  des  Kausalprinzips  auf- 

>)  8.  82,  53. 

*)  Puaim,  K.  B.  .Die  Mechuiik,  \a  ihrer  Entwiokelung*,  bist  krit. 
dargestellt,  (3.  k.  1S97),  S.  473  ff.,  492 :  „Die  Printipieii  der  W&rmeiebre*' 
<2.  A.  1900),  &  432  ff. 

•)  8.  190. 

"I  8.  96  f. 

")  TjPHiitti,  a  37, 


iM,Googlc 


TTeber  die  Fanduneiite  der  tonuBlen  Logik.  7 

sobieben?  Und  vorher  vOssten  wir  ja  nicht,  oh  ein  uns 
TÖUig  gewiss  erscheinender  Satz  nicht  doch  vielleicht  noch 
omgestossen  wtlrde.  Wo  bekommen  wir  da  jene  absolute 
Sicherheit  her,  die  Hcsbbbl  fUr  alle  Behauptangen  seiner 
reinen  Logik  fordert? 

m. 

Mit  dem  Kriterium  üherempirischer  Wahrheiten  steht 
es  tlbel;  und  um  ihren  Inhalt  wird  dem  HSrer  vollends 
bange.  Jemand  möchte  die  Denkprinzipien  selber  für 
theoretische  Aussagen  ansprechen,  aus  denen  die  „reine 
Lo^"  sich  nähren  konnte.  Da  aber  tritt  nns  der  unbequeme 
Mann  aus  Königsberg  in  den  Weg. 

Apriorisch  und  apodiktisch  nämlich  sind  bloss  solche 
Sätze,  die  subjektive  Methoden  der  Welt«rfassuDg  ausdrucken. 
DasB  ich  alle  nur  irgend  erdenkliche  vergangene,  jetzige 
oder  künftige  Wirklichkeit  in  die  Formen  streichen  werde, 
die  mir,  soweit  ich  Subjekt  bin,  bereit  liegen:  das  allerdings 
kann  ich  sicher  wissen,  und  keine  Erfahrung  ändert  daran 
etwas;  die  Schablone  bleibt  dieselbe,  ob  man  Papier  oder 
Tuch  oder  Holz  darunter  legt!  Dann  aber  steckt  zugleicli 
ein  Anderes.  Apodiktische  und  apriorische  Sätze  sind  nie- 
mals Behauptungen;  denn  das  Subjekt  an  sieb  ist  ja  eben 
kein  Gegenstand  eines  möglichen  Wissens;  sobald  man  es  in 
einen  solchen  verwandeln  will,  das  reine  Ich  also  mit  dem 
empirischen  vertauscht,  steht  man  in  der  Psychologie.  — 
Aussagen  anderseits  wollen  ihr  Objekt;  ihre  Wahrheit  wird 
ja  an  der  Übereinstimmung  mit  diesem  gemessen.  Die  ob- 
jektive Weltseite  aber  ist  in  beständigem  Wechsel  begriffen; 
ihr  nähert  man  sieb  nur  durch  Induktion  und  aposteriori. 

Die  englischen  Empiristen  wollen  auch  die  logischen 
Axiome  auf  Gegenstände  bezieben  and  durch  Erfahrung 
verifizieren  lassen.  Diese  Ansicht  habe  u.  a.  ich  selber 
seiner  Zeit  bekämpft'];  z.  T.  mit  ähnlichen  Qrtlnden  greift 


>)  Psycho),  d.  Axiome  (1899),  Buch  IV. 

n,g,t,7l.dM,GOOglC 


8  Dr.  Julins  SobnltE: 

auch  HüssEBL  sie  an*).  Die  Denkformen  sind  ihm  ideale 
Wahrtieiteo,  weil  sie  aof  Bealitäten  nicht  gehen.  Ganz 
recht;  our  übersieht  er,  dass  sie  damit  den  CharafctOT  von 
Behauptungen  verlieren  und  anter  den  Gegensatz  Wahr 
und  Irrig  Dicht  mehr  fallen.  Alsdann  aber  hilden  sie  auch 
für  eine  theoretische  Wissenschaft  keine  mögliche  Unter- 
lage. 

Definitionen  sind  sie  unter  keineu  Umständen;  auch 
solche  gähen  ja  keine  Wahrheit,  weil  nicht  auf  Gegenstände, 
sondern  anf  blosse  Begriffe  bezogen.  Und  die  fUr  die  Denk- 
prinzipien erheischte  Notwendigkeit  fehlt  ihnen  obendrein; 
sie  behalten  allezeit  «twas  Willkürliches  und  erzeugen  wohl 
Statuten,  aber  niemals  eine  positive  Erkenutoia. 

EIant  hat  es  nicht  deutlich  ausgesprochen,  aber  zwischen 
seinen  Zeilen  muss  es  gelesen  werden:  die  apriorischen  In- 
strumente, mittels  deren  das  Subjekt  alle  Reize  packt  und 
ummodelt,  kOnnen  weder  Definitionen,  noch  Aussagen,  es 
müssen  Forderungen  sein.  Als  solche  sind  sie  ohne  Er- 
fahruDg  gegenstandslos  —  und  geeignet  aller  Erfahrung 
ohne  jede  Ausnahme  sich  anzuschmiegen.  Als  Fordernngeu 
des  Ich  bilden  sie  die  eine  Seite  der  Welt;  ihr  Gegensatz 
gegen  das  „Objekt"  ist  eben  der  von  Hussbbl  so  feierlich 
erklärte,  aber  nicht  herausgearbeitete  Gegensatz  zwischen 
Idealem  und  Bealem.  Die  logische  Richtigkeit  jedes  Urteils 
messen  wir  an  diesen  unverbrüchlichen,  ans  eingewurzelten 
Postulaten,  wie  wir  inhaltliche  Wahrheit  an  den  Gegen- 
ständen kontrollieren.  Als  Forderungen  führen  die  Prin- 
zipien „Notwendigkeit"  mit  sich,  deren  sie  als  Be-" 
hauptungen  ewig  ermangeln  müssten;  denn  die  Welt  um 
uns  und  in  uns  spielt  in  Schillerfarben,  aber  angeborene 
Denkgewohnheiten  dauern  und  —  zwingen.  Als  Forderungen 
sind  sie  schrankenlos;  denn  eine  notwendige  Forderung,  wo 
brauchte  die  ihre  Grenze  anzuerkennen?  Sie  ist  absolut, 
während  alle  Aussagen  von  der  wirklichen  Welt  umzirkelt 

')  S.  78  ff. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Ueber  die  FoDdamente  der  fonnAlen  Logik.  9 

und  boechnitten  werdea.  Han  sieht,  ich  will  dem  Gegner 
an  die  vOUige  Exaktheit  seiner  Axiome  nicht  rühren;  nur 
eben  .wahr*  im  genaneaten  Wortsinne  sind  sie  nicht,  weil 
ae  nicht  unter  die  Kategorien  „Wahr"  und  „Unwahr" 
gehören. 

Der  Webstuhl  ist  nicht  eine  besondere  Art  von  Gewebe; 
und  unser  notwendigstes  "Werkzeug,  Wahrheit  zu  gewinnen, 
der  Identitätssatz,  ist  eben  dadurch,  dass  er  alle  wahren 
Sätze  erst  wahr  macht,  etwas  anderes  als  ein  blosser  „wahrer 
Satz".  Auch  er  hiesse  nur  missbräuchUch  „wahr"  —  denn 
er  hat,  wie  alle  Axibme,  keinen  Gegenstand,  an  dem  er 
sich  messen  und  mit  dem  er  Übereinstimmen  kOnnte. 

DaB  wül  nicht  jeder  zugeben;  ea  kliogt  so  paradoxl  Sogar  dar  Psy- 
chologist  Benno  ElRDiuini'J  sieht  im  1  den  tisch  mitalchaeiD  ein  Merkmal  — 
nod  Etrar  das  allgemeine  Merkmal  jeder  Torstellang  als  soloher;  dadnroh 
ebeo  werde  sie  „VorstelluDg',  dass  ihr  Gegenstand  nicht  zugleich  ein 
anderer  ist.  Uod  damit  wäre  denn  dem  Uraziom  sein  „OegeuBtaud*  gläck- 
iidi  garantiert.  Verbinden  wir  can  aber  auch  mit  allem  Voretellen  ein 
Bewusstaeii]  von  dieser  Identität  des  Objekts  mit  sich  selber?  Ja,  meint 
&.,  unter  der  Voraussctznng  nämlinh,  dasa  „wir  unsere  Aufmerksamkeit 
darauf  richten,  wie  das  Vorgestellte  vorgestellt  wird"*).  Also  wäre  doch 
das  ,A  ^i,"  eine  BeBtimmong,  nicht  des  Vorstellnngsinhalts,  sondern 
dar  vorstellenden  Thätigkeit;  es  bringt  das  Wesen  unseres  Vorstellens 
tarn  Ausdruck');  „bildet  den  Kern  dessen,  was  seit  Kisi  als  Position, 
Setaang  nnd  ....  Bejahung  bezeichnet  worden  ist" ').  Soll  aber  das  Axiom 
die  ESgeuart  sutjektiTen  Thnus  ausdrücken,  so  kann  es  keine  Behauptung 
sein  —  ausser  so  weit  das  psychische  Faktum  hinterher  beschrieben  wird; 
denn  Behauptungen  gehen  nur  auf  Inhalte;  und  B.  fährt  uns  in  die  Irre, 
wenn  er  das  Prinzip')  zugleich  als  Merkmal  jedes  Vorgestellten  he- 
zdchnet.  Thun  und  Wollen,  Willen  nnd  Fordern  geboren  zu  einander. 
und  etn  Postolat  mitbin,  aber  keino  Anssage  und  auch  keine  „Wahrheit" 
ist  das  logische  Omndgesetz. 

Was  sollte  auch  ein  „A.  =^  A"  aussagen?  worauf  hindeuten?  — 
Nehmen  wir  einen  identischen  Satz  sinnvoll  in  den  Mund,  so  heben  wir 
immer  die  thatsSchliche  Identität  zweier  durch  irgendeine  Nebenbestimmang 
getrennten  Inhalte  hervor.  „Dreieck  C  =  Dreieck  D"  —  beisst:  „die 
Dreiecke  sind  in  ihrem  Wesen,  d.  i.  als  Eonstruktionsforderangen,  identisch 
nnd  eines,  obzwar  zufallig  an  verschiedenen  Stellen  meiner  Tafel  symboli- 
siert" Dergleichen  „A  =  A°8  sind  selbstverständlich  Behauptungen  wie 
andere  und  unterliegen  der  Prüfung,  ob  sie  wahr  sinrt  oder  falsch.  Wenn 
ich  dagegen  über  den  von    vornherein    einen   unzertreonten  Inhalt  A 


")  Logik  I  ( 

■■)  8.  1«7. 

')  S.  172. 

•)  8.  174. 

')  a  169. 


Z 


n-.iG00g\c 


10  Dr.  JaliQB  Schultz: 

HUT  aussage,  dass  er  A  ist,  so  sage  ich  eben  nichts  von  ihm  aas.  Sach- 
lich schon  ganiichtsi  denn  welches  Merkmal  höbe  ich  an  ihm  hervor? 
Aber  ich  definiere  Doch  nicht  einmal;  denn  dazu  gehören  wenigstens  zwei 
besondere  Aosdräcke.  Ich  klingle  wie  ein  Narr  mit  Vokabeln  —  und  daa 
Ist  Alles']. 

Sobald  ich  jedoch  das  Axiom  als  Postulat  erfasse,  ^rt  Leben  hin- 
ein. „Du  nilist  Wahrheit?  Erste  Bedingung:  Halte,  was  Da  einmal  geseilt, 
als  solches  fest!"  Da  ist  die  traorige  TriTiaütät  snr  QnindDorm  alles 
Wissens  geworden;  snr  Orunonorro;  und  so  bildet  sie  daa  Eingangsthor  — 
dar  normativen  Logik;  sie  ist  wohl  trefflieb  gemauert;  aber  theoretisch 
kann  auch  die  milchigste  Norm,  allein  gelassen,  nicht  arbeiten.  Da-:  ans 
Behauptungen  zu  bauende  Fundament  der  Lehre  von  den  Denkregelu 
bleibt  nach  wie  vor  zu  suchen. 

IV. 

Aber  die  Mathematik  liefert  doch  apriori  theoretische  Sätze  von 
apodiktischer  Oewissheit  ?    Wanim  sollte  die  reine  Logik  ein  Gleiches  nicht 


Um  diese  Frage  zu  klären,  müssen  wir  uns  zunSohst  an  Eint  orien- 
tieren. Die  Grundgedanken  seiner  Iransszendentalen  Aesthetik  haben  das 
Jahrhundert  überdauert  und  stehen  yieLeicht  für  die  Ewigkeit;  aber  ihre 
Fassung  ist  zum  Teil  stilwidrig  genug.  Eine  noglückliche  Sache  ist  es  z.  B. 
mit  der  Einteilung  der  urteile  in  synthetische  und  analytische;  die  beiden 
Klassen  entsprechen  einigermassen  den  „AuEBagen"  und  „DefiuitioDen";  die 
Fostulate  fehlen  ganz ;  und  doch  tritt  der  Gegensatz  des  apriorischen  zum 
empirischen  Wissen  in  volle  Belenchtung  erst,  wenn  nir  uns  klar  sind,  dass 
nur  Fordemngssätze  die  Tbätigkeit  des  Subjekts  ausdrücken  können :  ich 
snchto  das  schon  zu  zeigen  1  Wenn  der  ßaum  die  Form  unsrer  An- 
schauung ist,  so  kann  er  unmöglich  zugleich  Objekt  dieser  ADsohauiuig 
sein  —  es  wäre  denn  in  der  Psychologie!  — ;  ein  Gebilde,  über  das  man 
Behauptungen  aufstellt,  muss  sich  auch  bereit  Süden  IsÄsen,  dieselben 
mittels  seiner  thatsächlicben  Existenz  dem  Vergleichenden  nachträglich  ed 
garantieren.  Ohne  sotcbe  Realität  bliebe  jede  Aussage  „leer"  --:  Ktm 
selber  hat  es  deutlich  genug  dargelegt 

Uüssen  nun  spnorische  Urteile  des  Oegensfandes  entbehien,  folglich 
auch  der  Uebereinstimmung  mit  ihrem  Gegenstande,  mithin  der,W^rheit" 
im  eigentlichsten  Wortsmne;  und  können  ErfahrungssStze  niemals  apodik- 
tJBohen  Charakter  gewinuen:  so  stehen  apodiktische  Forderungen  und 
empirische  Bebanptungen  einander  reinlich  gegenüber.  Aus  jenen 
erwächst  nur  normatives,  bloss  aus  diesen  theoretisches  Wissen.  —  Und 
die  Hatbematik?    Und  ihre  .synthetischen  Urteile  a  priori"  ? 

Analysieren  wir  ibre  Methode  im  einzelnen. 

leb  soll  z.  B.  den  „PythagOMs"  beweisen  oder  die  Länge  der  Sub- 
normale in  einer  Parabel  angeben.     Was  thue  ich  daV 

1)  Ich  zeichne  eine  Figur  auf  mein  Blatt:  ein  rechtwinkliges  Dreieck, 
die  zugehörigen  Quadrate  und  das  üebrige;  resp.  lob  fordre  eine  Kurve, 
deren  Formel  y'^'px  sein  soll.  In  beiden  Fällen  ist  meine  Konstruktion 
eine  Oandlong  reiner  Willkür:  die  „Welt"  drängt  mir  ja  eben  diese 
Unie,  jenes  Dreieck  nicht  auf;  ich  könnte  just  so  leicht  ein  gleichseitiges 
zeiobnen  oder  eine  Ellipse  heischen. 


')  Vgl.  auch  den  Antipsychologisten  Jcuus  Berdiunh,    Die  Orund- 
probleme  der  Logik  (1882),  S.  61. 


iM,Coo<^le 


üeber  dio  Fondunente  der  formaleo  Logik.  11 

2)  Ich  eotdeobe  in  tneinei)  Gebilden  Fienren  niaderar  Ord- 
nttDK«  die  ich  benutzan  kann;  im  ereteren  z.  B.  Dreiecka  mit  mir  bekannten 
OleichheitamarkaD.  Die  Jetzt  entütehenden  Bebauptangen :  das  nnd  daa 
Dreieck  hat  gemeiDHame  Basis  und  gleiclie  Höhe  mit  dem  und  dem  u.  b.  w. 
—  Bind  reiD  empirisch;  ihr  Oegensiand  ist  einfach  die  eohwarz  auf  weiss 
vor  meinen  Augen  liegende  Zeicbonng!  Sia  fallen  folglich  nnter  den  Oegen- 
B^  Vahr-IrTig,  sind  aber  nicht  apriorischer,  noch  apodiktischer  N&tur. 

3)  Ich  prüfe,  ob  eine  Veränderung  des  BaliebigTariabeln  die  Ba- 
anltata  von  2)  amstoesen  kOnnte,  ob  z.  B.  bei  Verkürzung  einer  Kathete  im 
rechtwinkiigan  Dreieck  eines  der  „Häl&dreiacke"  verachwfinde  od.  dgl. 
Dmss  diese  Arbeit  auf  empIriBcbem  Felde  aich  vollzieht  nnd  die  durch  sie 
ermngrae  Oanisshait  keine  apodiktiscbe  ist,  ersieht  man  besonders  aus  den 
komplizierteren  Fällen.  Bei  der  .Diskussion"  einer  verwiokelten  Kurve  z.  B. 
hat  man  inneriioh  kein  anderes  Oefäht  als  bei  sonstigen  wissenschaft- 
lichen Analysen:  es  werden  eben  alle  Mö^icbkeitan  geprüft  and  aas  voll- 
stZndiger  Induktion  eine  gut  fundierte  Behauptung  gewonnen. 

4)  Nun  wende  iah  das  Ergebnis  auf  alle  möglichen  Figuren 
gleicher  Formel  an;  ioh  sage  mir:  „was  sollte  miob  bindere,  im  ana- 
logen Falle  wieder  genan  so  wie  jetzt  zu  verfahren,  dieselben  Eülfslinien 
sa  ziehen  u.  s.  w.?*  Und  dies  ist  der  Punkt,  wo  die  apodiktische 
Natur  der  Oeoroetrie  sich  zu  äussern  beginnt;  aber  alsbald  gehen  auch  die 
.Aussagen*  ans,  und  es  bleibt  die  Norm  übrig:  „verallgemeinere  eohranken- 
loa,  was  Du  vorhin  an  einem  einzelnen  empirischen  Gebilde  gelernt  hast!" 

5)  Ich  zweifle  vielleicht  an  der  Richtigkeit  der  iu  2)  „vorausgesetzten" 
Teiterkenntnisse.  Alsdann  nntersucha  ich  diese  salber  auf  gleiche  Art,  wie 
den  Lehrsatz,  von  dem  ioh  ausging.  Im  Falle  des  „Pytbageras"  z.  B. 
wurde  ich  die  Kongruenz-  und  Oleichheitssitze  darznthnn  haben  und  dabei 
(üe  Opeiationen  1 — 4)  jedesmal  wiederholen;  durch  unermädlicbe  Er- 
neuerung dieses  Terfabrens  aber  lassen  sich  die  „Axiome"  als  Seegrund 
jedes  Theorems  ertancben. 

6)  Diese  snnd  Forderungen,  apriori  und  apodiktisch,  und  fallen  also 
nicht  nnter  den  genauen  Begriff  der  „Wahrheit".  —  Ich  verlange  eine 
linie,  die  zu^ich  durch  zwei  Punkte  völlig  bestimmt  sei  und  unveränder- 
liche Bichtnng  habe;  ich  verbiete  damit,  dass  zwei  Linien,  die  eine 
Gerade  unter  gleichem  Winkel  schneiden,  einander  je  treffen.  Meine  Or- 
ganisation erzwingt  einen  ebenen  Baum  dreier  Dimensionen  a.  b.  w.  Id 
diesem  „Soll"  liegt  kein  „Ist"  —  es  sei  denn  ein  psychologiBches.  Die 
Behauptungen,  zwei  Parallele  kreuzten  sich  nie,  der  Baum  erlitte  nicht 
die  kleinste  „Krümmung"  u.  s.  f.  müssten  sich  von  einer  künftigen  Er- 
fahrung unter  Umständen  modifizieren  lassen,  könnten  mitbin  niemals  apo- 
diktisch sein.  Wir  aber  behaupten  gar  nichts.  Wir  postulieren. 
Und  zwar  ins  völlig  Schrankenlose.  Wir  wissen:  in  jede  etwaige  Beob- 
achtung auch  spitester  Zeiten  werden  wir  nnsern  Banm,  unsre  Pa- 
rallelen hineindenken;  wir  sind  entschlossen,  die  Empirie  naoh  unsren 
Anschannogaformeln  zu  modellieren,  nicht  diese  durch  jene  verbessern  zu 

7)  Aber  neben  den  ßebilden,  die  wir  in  diamantener  Beinheit  er- 
zeugen, steht  jederzeit  die  empirische  Körperwelt,  für  die  unsre  absolnt 
apodiktischen  Üieoreme  nur  angenähert  gelten.  Neben  unsren  idealen  Ge- 
raden nnd  Ellipsen  li^en  die  Grenzen  der  „wirklichen"  Gegenstände  und 
die  von  nns  gezogenen  Linien  auf  Papier  und  Holz.  Und  da  zersplittert 
skh  daa  Unteilbareine  ins  Zahllose,  Individoelle.  Denn  meine  Konstruktions- 
fordening  existiert,  sobald  sie  eindeutig  bestimmt  ist,  nur  in  einem  einzigen 


iM,Coo<^lc 


12  Dr.  Jalins  Schultz: 

Exemplar  —  wie  jeder  Begriff.  Der  empiriaohon  QaAdraW  von  1  m  Seiten- 
IftDge  dagegen  kana  es  unzÄblige  geben.  Die  best&cdige  Benehnog  nnn  dar 
.reioeD"  Mathematik  aof  dietie  winunelade  Erfahrangswelt  gibt  jeuei  eist 
das  rechte  Lebeosblut  and  schafft  immer  toh  neuem  die  Oewissbeit,  dass 
wir  iu)8  nicht  in  blosBeo  i£onventiODeD  bewegen']. 

Uit  der  Arithmetik  aber  steht  ee  wie  mit  der  Oeometrie.  Will 
ich  meinetwegen  den  binomiacheii  Sati  darstellen,  so  w&hle  ich  mir  i) 
wiliküriioh  die  Aufgabe:  (a+b)».  2)  Nachdem  ich  die  ereten  Potenzen 
naoh  früher  gelernten  Regeln  entwickelt  habe,  durohsahaue  iah  aposteriori 
das  Eoerfizieutengeaetz;  weshalb  bisher  der  erste  Koeffiiient  dem  Qesamt- 
exponenten  gleich  wurde,  aad  so  weiter.  3)  Ich  prüfe,  ebenfalls  dnroh 
Beobachtung,  ob  keine  Grösse  in  der  Becbnang  stecke,  die  geeignet 
wäre,  für  die  Zuknnft  daa  Qesets  abzuändern.  4)  Darüber  beruhigt,  handle 
ich  nach  der  apriorischen  Norm,  von  n  auf  n-{-l  2u  schliessen.  5) 
Wegen  der  Entwicklung  der  einzelnen  Potenzen  u.  s,  w.  rekurriere  ich  im 
Notfälle  anf  frühere  Erkenntnisse,  mit  denen  icb  die  Schritte  1 — 4)  wieder- 
hcje.  6)  Zu  allerletzt  komme  ich  aof  die  allgemeinsten  Axiome  der  Orösseo- 
lehre  und  aof  den  Zahlbegriff  znriiok;  und  stehe  hier  in  apriorischem 
Gebiet:  die  Zahl  als  ZählaiJgabe  und  die  mathematischen  Ausgest^tangen 
des  Identitätssatzes  sind  keine  Behauptungen  mehr,  sondern  Forderangen. 
7)  Alle  Gesetze  der  Algebra  und  Zahlenlehre  Huden  tausendfache  Anwen.- 
dongeo  und  Verdeutlichungen  in  der  Errahining. 

Nun  endlich  ist  uns  klar  geworden,  was  es  mit  Kants  „synthetischen 
urteilen  apriori"  auf  sich  habe.  Apriorisob  sind  die  in  Jedes  mathematische 
Gebilde  eingewickelten  und  immer  neu  kostümierten  Oraodnormen  (6j  and 
für  jeden  Beweis  der  entscheidende  Bohluss  (4),  der  das  Veraligemeinern 
des  theoretischen  Einzelerwerbs  gestattet  and  an  dem  das  eigentliche 
„Verstäadnis"  des  Lebrsatzes  bgagt  Sie  enthalten  aber  auch  keine  that- 
S&chliche  Belehrung,  keine  „Wahrheit"  im  strengeren  Worteinne.  IndoHseo, 
jene  „absolut  exakten'  und  letztlich  notwendigen  Postulate  werden  inner- 
halb willkürlich  gesetzter  Figuren  und  Aufgaben  (1)  durch  Betracbtung, 
also  apostenori,  entdeckt  (2,  3)  und  (7]  mannigfach  anf  Erfahrung  an- 
gewendet; sc  entspringen  „wahre"  Aussagen,  die  an  sich  nicht  notwendig, 
meist  jedoch  eofoit  durch  den  Augenschein  kontrollierbar  sind. 

Ausgangspunkt  rnid  Qangweise  der  Mathematik  sind  mithin  apriori- 
stisch  und  apodiktiscb,  die  Gegenstände  jedocb,  die  sie  auf  ihrem  Wege  an- 
trifft, echte  Gegenstände  und  also  Anlasse  zu  Behauptungen,  deren  Wahr- 
heit sich  konstatieren  läsat;  dadurch  aber  wird  die  „reinste"  Wissenschaft 
zugleich  „theoretiseh". 

V. 
Will  demnach  Hussebl's  reine  Logik  theoretisoh  thao, 
80  mag  sie  una  Objekte  vorweisen,  in  denen  ihre  aprio- 
rischen Normen  versteckt  liegen  und  aus  denen  sie  mittelst 
Behauptungen  hervoi^ezogen  werden  können.  Wohl  öffnet 
sich  da  eine  Möglichkeit,  und  Hdbbbbl  weist  darauf  hin^. 

')  üeber  diesen  Punkt  ist  Lanok  abweichende  Auffassang  interesaant 
zu  vergleioheo:  Oesoh.  des  Mat.  (3.  A..  Iserlohn  77)  11,  S.  16. 
•)  S.  248. 


iM,Coo<^le 


Vebar  die  FandameDte  der  foimalen  Logik.  13 

Wie,  wenn  die  „Mannigfaltigkaitslehre",  also  die  allgemeinste 
Form  der  Mathematik,  die  gesuchte  Wisseoachoft  wäre? 
„Grösse"  und  „Mamiigfaltigkeit"  sind  so  abstrakte  Voretell- 
'  angen,  ihre  konkret  fixierteD  Symbole  so  alldeutig,  dass  die 
auf  letztere  basierte  Disziplin  fast  eber  formale  Logik  als 
Arithmetik  heissen  kOnnte.  Wir  gewinnen  schon  HofTaung, 
die  leere  Flasche  Husbkel's  möchte  schlieBslich  doch  noch 
vollgegossen  werden.  Aber  achl  Kaum  will  der  verdurstende 
Philosoph  sie  an  den  Mond  setzen,  so  kommt  der  Mathe- 
matiker gerannt.  „Mein  ist  das  Qebräu  —  dass  du  dich 
nicht  unterstehst,  einen  einzigen  Schluck  —1"  Denn  leider: 
„Niemand  kann  es  den  Mathematikern  verwehren,  alles,  was 
nach  mathematischer  Form  oder  Methode  zu  behandeln  ist, 
fOr  sich  in  Anspruch  zu  nehmen"  ^).  Traurig  giebt  der  Logiker 
das  Gett^k  aus  den  Händen  und  seufzt  dabei^):  „GehOrt 
die  Bearbeitung  aller  eigentlichen  Theorien  in  die  Domäne 
der  Mathematiker,  was  bleibt  dann  für  den  Philosophen 
Übrig?"  Ja,  das  möchte  man  wissen;  ob  uns  Husbbel's  Ant- 
wort genügen  wird,  wollen  wir  bald  sehen. 

Vorher  aber  noch  geschwind  ein  Ausfluchtsloch  veratopft! 
Unser  Logiker  thut  gelegentlich  dergleichen*),  als  könnte  ein 
normativer  Säte  durch  blosse  Umformung  theoretisch  werden. 
Aus:  „ein  A  soll  B  sein"  macht  er:  „nur  ein  A,  welches  B 
ist,  hat  die  Beschaffenheit  C  und  behauptet  nun,  der  neue 
Satz  sei  rein  theoretisch  und  enthalte  keine  Normierung 
mehr.  Das  heisat  denn  freilich  ein  feines  EunststÜckI  Der 
Taschenspieler  zeigt  uns  einen  leeren  Hut,  schüttelt  ihn  und 
zieht  zu  unserem  Staunen  ein  paar  saubere  Ferkelchen  oder 
ein  BoseDbouquet  draus  hervor.  Bemerkt  das  gläubige  Publi- 
kum denn  aber  nicht,  wie  das  Normative  aus  dem  „Soll" 
des  ersten  in  das  „C"  des  zweiten  Satzes  einfach  hinUber- 
gerutscht  ist?    Sogar  Wilhei-m  Schuppe,  der  doch  alle  ür- 


■)  s.  263. 
<}  S.  48,  166. 


iM,Googlc 


14  Dr.  Julius  Schnitz: 

Sache  hat,  sich  über  HcssBßL'a  Buch  zu  freuen'),  schüttelt 
hier  den  Kopf^).  ^Tein,  das  wäre  eine  etwas  trübselige 
tbeoretifiche  Disziplin,  die  neben  der  regelgebenden  beständig 
als  Schatten  hinliefe  I  Die  letztere  sagt  etwa:  schhesae  hier 
nach  dem  Modus  X;  die  erstere  echot:  der  Modus  X  ist  hier 
richtig.  Von  dergleichen  Nahrung  wird  die  neugeborene 
reine  Logik  nicht  leben  ktinnen!  Die  alte  hatte  es  gut;  die 
wollte  ja  von  vorneherein  nur  Vorsßhriften  geben;  ihr  Stoff 
waren  die  einzelnen  Fälle,  in  denen  ihre  Begeln  Anwendung 
fanden.  Sie  machte  es  den  anderen  normativen  Wissen- 
schaften gleich.  Wie  verfährt  etwa  die  Ethik?  Sie  fängt 
mit  einem  allgemeinen  Eezept  an  und  fragt  nun:  was  ist 
also  deiue  Pflicht  wenn  die  und  wenn  jene  Gelegenheit  ein- 
tritt? Oder  nimm  die  Aesthetik.  „Die  Kunst  soll  .  .  .  ." 
helsst  es  an  der  Schwelle;  und  nachher:  „wie  zimmre  ich 
nach  dieser  Regel  einen  dritten  Akt?  wie  mal'  ich  meinen 
Schinken  herunter?"  So  handelte  auch  die  bisherige  Logik: 
A  soll  als  A  festgehalten  werden  n.  s.  v.;  welche  Schluss- 
formeu  sind  demnach  im  einzelnen  erlaubt,  welche  verboten? 
wie  hab'  ich  die,  wie  jene  Disziplin  zu  fundieren,  damit  den 
idealen  Ansprüchen  genügt  werde?  —  Aber  theoretische 
Exsudate  aus  der  wässrigen  Allgemeinheit  der  Grundprin- 
zipien? Milch  her,  Herr  Hüssebl!  Nur  ein  paar  Tropfen! 
Sonst  verhungert  Ihr  Eind  Ihnen  unter  den  Augen! 

VI. 
In  dieser  Not  erinnern  wir  uns  an  Kamt's  grosses 
Unteruehmen,  die  logischen  Prinzipien  regelrecht  zu  „dedu- 
zieren". Sollte  nicht  die  „Transszendentalwissenschaft" 
eine  echte  Vorläuferin  von  Hüssebl's  „reiner  Logik"  gewesen 
sein?    Natobp^)  meint  es,  und  Hussbkl  selber^)  wäre  nicht 

*)  Dean  bei  Scbcppis  „Bennsstseio  äberhaapt"  (Orundrigs  der  Erkeant- 
niBtbnoKe  a.  Lo^k,  1894,  R.  31;  diese  Ztsoh.  1893,  S.  379,  u.  a.  a.  0.) 
wird  H.  dooh  aohliesslich  landen  inüBseo,  neon  er  nnn  ausfäiiTeti  mächte, 
WM  er  Torünfig  verheiBSt;  vgl.  VI,  Anm.  8. 

•)  Aroh.  f.  ayst  Pnil.  VII,  S.  I8f. 

■)  Kantstudien  VI,  8.  270. 

*)  8.  214. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


üeber  die  FnoduneDte  der  formalen  Logik.  15 

SO  abgeneigt,  es  gelten  zu  lassen;  freilich  steckte  der  arme 
KQnigsbei^er  —  die  Zeilen  waren  eben  abergläubisch!  — 
noch  ein  bischen  tief  in  allerlei  Mythologie!  Doch  das  wäre 
zu  ertragen;  man  kann  ja  renovieren  und  weiterbaaen,  wenn 
man  nur  überhaupt  Bauplan  und  Steine  sieht! 

Leider  wird  der  eigeatliohe  Sinn  von  Kant's  DeduktEoo  der  Ansohau- 
QDgB-  und  Denkformen  verechieden  anfgefasst.  Drei  Dentungeo  sind  mög- 
lich, and  Eaht  bat  wenig  dazu  getlian,  die  Botscheidnog  znischeo  itinen 
ZD  erleiohtem. 

1.  Jeder  onbefaDgene  Leser  der  .Er.  d.  r.  V."  liest  Aestlietik  nnd 
Analytili  trotz  aller  Protwte  des  Verfassers  sanächst  „pejchologistiscli''. 
Haom,  Zeit  und  Deuhformen  Bind  angeborene  Varfabningsneisen  unserer 
Seele,  in  nnsier  Oi^anisation  wurzelnde  Gewohnheiten,  Welt  zn  erfassen'}. 
Und  man  findet  die  Tafel  des  Apriori  durch  psychologische  Zerfasernng 
onsrer  Vorstellangen  und  ürteihiakte.  —  Trotz  der  anaführlionan  Dar- 
legungen Robl'b*)  glaube  ich,  Samt  bätte,  am  ganz  konsequent  zu  sein,  seine 
Lehre  so  ptäzisieren  müssen.  Dass  der  grosse  Denker  allen  ,Anthro> 
pologismos*  schier  ängstlich  ablehnt,  ist  mir  immer  als  eine  Art  Halbheit 
etscfaienen').  Metapbysiker  und  logischer  Abaolutist  aus  Leidenschaft,  Em- 
pirist und  Skeptiker  durch  den  Zwang  übermächtiger  OedankenanstÖsse,  vei- 
snoht  er  immer  aofs  neue,  den  ranachenden  Strom  seiner  eigenen  Philo- 
sophie in  stauen;  beweist  alle  Ontologie  in  Gnmd  und  Boden  —  und 
schleppt  aie  nachträglich  darch  die  praktische  Hinterpforte  wieder  ein; 
arbrätet  thatsäcblich  mit  psychologischen  Argumenten  and  donnert  dann  gegen 
alle  Psycho logistik.  Ein  andres  Motiv  kommt  hinzu:  wie  jeder  originelle 
Kopf  fühlte  Cani  die  Gegensätze  seiner  und  der  früheren  Ansichten  schroffer, 
als  sie  wohl  waren;  wie  er  den  Idealismus  BxHKELEy's  heftiger  ablehnt,  als 
im  Weeen  seines  Idealismus  lag:  sa  möcbte  er  Lkibhizbns  Lehre  von  den 
angeborenen  „Dispositionen*'  der  Seele')  sich  möglichst  weit  rem  Leibe 
halten  —  weiter,  als  unbedingt  nötig!  --  Ist  dieser  mein  Eindruck  richtig, 
so  ftUlt  die  „Transszendental Wissenschaft"  wenigstens  teiLweis  unter  HuasisL'a 
Verdikt  nnd  ist  als  Wiege  einer  „reinen  Logik"  nicht  mehr  zu   brauchen. 

2.  Man  könnte  KÜri's  Erörterungen  aber  auch  so  deuten:  was  Apriori 
ist,  ergiebt  sich  aus  der  Natur  des  Erkennens  an  eich,  ganz  abge- 
sehen von  der  faktischen  Einrichtang  der  menschlichen  Seele''].  Das  wäre 
nno  Hdbsibl's  Fall:  „Subjektive  Bedingungen  der  Höglichkelt"  aller  Iheorio 
aind  „nicht  etwa  reale  Bedingungen,  die  im  einzelnen  Urteil ssut^ekte  oder  in 
der  wechselnden  Spezies  urteilender  Wesen  wurzeln;  sondern  ideale  Be- 
dingungen, die  in  der  Form  der  Subjektivität  überhaupt  and 
in  deren  Beziehung  zur  Erkenntnis  wurzeln" ").  —  Aber  um  diese  Bedio- 
gnogen  aufzufinden,  müsaten  wir  die  „Form  der  Subjektivität   überhaupt" 


')  Vgl.  z.  ß.  Hrluholtz,  Tort^uadReden,4.  Aufl.  (1896)  I.  B.  99. 

*)  „Der  phil.  Kritizismus"  X  (1876). 

■)  Vgl.  LiRoi,  Gesch.  des  Hat.  II,  S.  44  f.;  125  ff. 

')  Vgl.  Nouv.  esB.,  Pref;  I,  1;  IV,4,  woim  „Oegenredneflaatschon 
etwa«  CtüTOOEu  aufblitzt! 

^)  Vgl.  z.  B.  Stöbkino,  Die  Erkenntnistheorie  von  Tetens  (1901), 
8.  164  ff. 

*)  8.  111.  ScHiiFra  würde  sagen:  „im  Bewusstsein  überhaupt",  e. 
T,  Anro.  5. 


iM,Coo<^lc 


doch  erat  vor  aosTe  Lupe  aebmeQ;  and  wie  soUen  wir  dae?  Im  Begriff 
des  „Salijekts"  liegt  offenbar,  dass  es  nie  zogleioh  , Objekt"  sein  kann ;  nie 
Hiogleicli  and  nie  „als  solohes".  Objektivieren  wir  es  dennoch,  so  ge- 
schieht das  immer  nor  miHels  des  apriorisoben  Böstzengs,  das  wie  >a  snohen 
gingen ;  nnr  im  gpiegol  der  .Grfahmng'  sehen  wir  das  Snbjekt  —  and  da 
steht  es  denn  als  .Ich";  und  die  Tr&nsszeadeutalphilosopbie  Ist  abermals 
znr  Psfohologie  geworden.  —  Ja,  wBre  sogar  der  OriS  ins  üngreifbare  an 
sioh  denkbar  —  and  das  Satjekt  lisBBe  sieh  als  „reineB*  irgenvie  fossen: 
so  fassten  doch  wir  MenscheE.  es  ninunermehr.  Denn  am  über  die 
no&tiBchea  Bedingungen  Jeder  möglichen  Theorie  zn  urteilen,  mnsste 
man  ansierhalb  aller  Theorien  stehen;  wie  wird  das  menschliche  Denken 
es  anfangen,  swischen  sich  selber  und  irgend  einer'ibm  vielleicht  nnnah- 
baren  firkenntnismetbode  zu  richten?  Ein  Kind  von  sieben  Jahren,  das 
entscheiden  soll,  ob  Dentuch  oder  Chinesisch  die  [ogischere  Sprache  sei, 
kann  nicht  ratloser  dastehen  als  ein  Philosoph,  der  aaf  Hqssksl's  Fragen 
antworten  müsste,  —  Oder  er  käme  auf  die  alte  Litanei  wieder  zurück: 
nach  nnserer  Definition  der  Wahrheit  sei  der  IdentitAISBatz  die  nnnmging- 
liche  'Wahrheitsbedingung.  Die  eine  Erklarnng  aber  gäbe  noch  lange  keine 
Wissenschaft! 

3.  Han  könnte  annehmen  (und  das  wäre  z.  6.  Eieel'b  Helnong'), 
die  Prinzipien  sollten  ans  den  objektiv  vorliegenden  Produkten  des  menscb- 
liohen  Denkens  heraoegepresst  werden;  dabei  aber  könnte  man  die  be- 
stehende Wissenschaft  oder  das  natürliche  Erkennen  des  .Laien" 
als  Haterial  sich  wählen.  —  Wer  zweifelt,  dass  Kamt  zom  Teil  diesen  Weg 
eingeschlagen  hat?  Zn  apriorischer  and  apodiktischer  Oewissheit  aberfahrt 
der  nicht'°);  wsa  Hussicrl")  selber  zugiebt:  denn  erstens  ist  die  Wissen- 
schaft als  Kultur erzeagnis  schliessüch  ein  empirischer  Gegenstand  wie  jeder 
andere  und  die  jetzige  ebenso  „historisch"  wie  alle  früheren.  Zweitens 
darf  die  „reine  Logik",  die  den  Ansprach  erhebt,  für  alle  Methoden  den 
Kanon  abzugeben,  nicht  ihrerseits  vorhandene  Methoden  als  Leitsterne  an- 
erkennen. Ja,  dürfte  sie  sogar:  so  müsste  drittens  nnsere  erkenntnistbeo- 
retiscbe  Arbeit  doch  immer  indcktiv  bleiben;  und  wer  garantiert  ans  nnn, 
dass  wir  aas  der  Fülle  wiseenscbaftlicber  Normen  gerade  die  grandlegenden 
beim  Suchen  ertappen?  Das  war  «b  ja  eben,  was  Kant  dem  Aristoteles 
vorwarf:  er  habe  seine  Kategorien  aofgeiafft,  wie  sie  ihm  aufstiessen")  I  — 
Die  Zeriasernng  des  natürlichen  Denkens  führt  ohnedies  onweigerlioh 
zum  dritten  Uale  in  die  Psycholngie  hinein  I 

Man  gehe  in  der  Eile  die  Tran sszen dentale  Aestbetik  and  Analytik 
mit  mir  durch  und  überzenge  sich,  dass  ihr  Verfasser  uns  wirklieb  zwischen 
den  drei  Anffassungen  seiner  Transszendentalen  Dednktion  so  ziemlioh  freie 
Wahl  laset.  Warom  sollen  uns  Raum  nnd  Zeit  vor  aller  ErfiJirang  gegeben 
sein?  Weil  man  sich  von  einzelnen  Orten  nnd  ihrem  Beieinander  und  von 
einzelnen  Zeiten  and  ihrer  SuccesBion  nur  dann  eine  Vorstellung  machen 
kann,  wenn  Raum  und  Zeit  als  Auschanungaformeu  der  Seele  bereits  inue- 
wohnen;  während  ich  2.  B.  eine  einzelne  Farbe  sehr  wohl  empfinden  kann, 
ohne  die  ganze  Farbenskala  auch  nnr  zu  kennen.  Scdsnn,  weil  man  sioh 
Raam  and  Zeit  niemals  wegzudenken  vermag,  während  mau  etwa  eine  toii- 
and  geruchlose  Welt  sich  wohl    ausmalen   könnte.    Aber  woher  weiss  ich 

•)  Vgl.  Op.  cit.'l,  167  etc. 

'•)  Vgl.  LaKOB,  Gesch.  der  Hat.  U,  S.  29  f.,  daiu  Äbachn.  VIII. 
")  S   26. 
")  Transsz.  Anal,  l,  I,  3. 


iM,Coo<^lc 


lieber  die  Fand&metite  der  totmalen  Logik.  17 

beides  —  gesetzt  einmal,  daaa  es  bis  aof  den  I-ponkt  riobtig  wOj-e?  wenn 
ein  Zweifler  ee  beatritte,  womit  wollt'  ich  ihn  aeinea  IrrtumB  überfähren? 
Ich  möaste  ihn  ofFenbar  anSordem,  in  sich  hineinzogaoken  uad  anBzopro- 
bieien,  ob  er  fertig  bringt,  was  ans  anderen  miasglückt;  mithin  —  Paycho- 
logie  sn  treiben!  Oder  er  halte  aicb  ans  reine  Sabjekt,  wenn  er  mit  dem 
Bekanntschaft  pflegt.  —  Kani's  drittes  Argument  nun  ist:  ohne  seine  Lehre 
sei  die  apodiktische  Natur  der  Mathematik  undenkbar;  hier  haben  wir  Ana- 
lyse einer  bestehenden  Wissenschaft  als  Grundlage;  und  nebenbei  ist  dieser 
eriienntniatheoietisohe  Beweis  der  schwAchste  der  dreie:  ein  Gegner  wie 
Um,  leugnet  einfach  den  Notwendigkeitsoharakter  der  Geometrie  nnd  Arith' 
metik"}  und  ist  snf  keine  Weise  zu  widerlegen.  Tollende  unklar 
bleibt,  woraus  die  Deduktion  der  Denkprinzipien  ihre  eigentliche  Gewias- 
h^t  schöpfe.  Zwar,  dass  ein  apriorisches  BegriSselement  in  alter  Erfahrung 
stecken  müsse,  wird  breit  genug  dargelegt.  Das  raumzeitliche  Phänomen 
tilgt  als  solches  noch  keine  Gegenständlichkeit  und  keinen  Zusammenhang 
in  sich;  um  also  „erkannt"  zu  werden,  muss  es  der  Formung  dnrch  die 
Grundbegriffe  unseres  Denkens  unterliegen.  Wiederum  eine  Schiasskette, 
die  ich  psychologisch  nenneu  würde,  denn  abermals  müsste  ein  etwaiger 
Zweifler  an  seine  innere  Erfahrung  gewiesen  werden.  Kakt  seltier  freilich 
denkt  wohl  —  wie  anoh  in  den  Psyohologiamen  der  „Aeathetik''  —  mehr 
au  die  Natnr  der  SnbJektiTitSt  an  sich  als  an  die  derempirisohen  Seele; 
nur  giebt  er  nirgends  an  —  und  auch  kein  Gott  vermöchte  das  —  auf 
welche  Weise  wir  über  erstere  je  das  geringste  erfahren  sollten  j  seine  Satze, 
wo  nicht  psycho logisuh,  sind  einfach  metaphysisch  und  sollen  doch  die  dog- 
matische Metaphysik  stürzen!  unleugbar  psychologisch  sind  vollends  die 
langen  Erörterungen  über  die  MÖgticbkeit  der  Anwendung  Ton  Kategorien 
aof  die  sinnliche  Erscheinung.  ^  Mit  alledem  aber  ist  eigentlich  nur  die 
Berechtigung  oder  Notwendigkeit  einer  transszendentalen  Logik  gezeigt;  deren 
eigentlicher  Inhalt  wnrde  die  Deduktion  der  einzelnen  TerstandesbegriHe 
bilden.  Und  diu  —  unterbleibt  wunderlioherweise,  obgleich  ein  langes  Haupt- 
Btäck  nach  ihr  heisst.  Denn,  vergeaaen  wir  es  nicht,  die  Tninaazendental- 
wissenschaft  soll  ja  den  Boden  für  die  normative  Logik  bereiten,  nicht  nur 
in  HrBssBt.'s,  sondern  gaax  ebensogut  auch  in  Kant's Sinne;  die  Denkformen 
deduzieren  muss  also  doch  heissen:  ans  inneren  Gründen  ihre  Vollbürtig- 
fceit  und  damit  indirekt  die  Logik  richten.  Nun  aber  wird  auf  einmal  der 
Pfttantsnchende  zum  Patentamt.  Aus  der  zufälligen  Einteilung  der  urteile 
in  der  scholastischen  Logik  werden  die  Denkprinzipien  geschöpft.  Und  zwar 
auf  etwas  listige  Art,  Es  heisst  nämUcb  zunächst  ganz  unschuldig:  „Ton 
dem  Leitfaden  der  Entdookong  aller  reinen  Vera tandesbe griffe."  Nun,  als 
.Leitfaden*  Hasse  sich  die  ürteilatafel  ja  vielleicht  verwenden,  und  vor- 
läufig  machten  denn  also  die  zwölf  Kat^orien  so  hin  laufen,  nur  mussten 
sie  hinterher  ihre  Echtheit  darthun.  Unser  Anspruch  darauf  wird  aber 
nirgends  befriedigt;  duroh  die  endlosen  Darlegungen  über  die  Notwendigkeit 
reiner  Terstondea begriffe  äberhaept  und  die  Möglichkeit  ihrer  Anwendung 
aofs  Phänomen  wird  unser  Geist  so  ermaltet,  dass  wir  leicht  jene  unbe- 
queme Frage  vergessen ;  wie  wichtig  eine  transszendentale  Deduktion  der  ein- 
Eslnen  Kategorien  wäre,  darüber  haben  wir  so  lange  predigen  hören,  dass 
uns  nun  ist,  als  w&re  jener  Leitfaden  zugleich  die  Ableitung  selber  gewesen, 
und  dass  wir  den  lanfsohein  in  Gottes  Namen  unterzeichnen,  ohne  noch- 
mals ins  Kirchenbuch  zu  gucken. 

Man  sieht,  für  eine  „reine  Logik",  die  weder  psycho- 

")  System  of  Logic  I  (1843),  8.  296  ff. 

TleiutJahnKliiin  r.  «rtneuHlufil.  FIiUbb.  d.  SocioL    ZXYIL  1.  ^ 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


IB  Dt.  JalJQB  SohuItE: 

logiaieren,  noch  von  der  ZergUedenmg  der  aktuellGD  Wissen- 
schaft ausgehen  soli,  finden  sich  bei  Kant  keine  Ansätze; 
wir  mUssen  uns  anderswo  umschauen! 

VIL 

Aber  warum  nicht  gleich  von  Anfang  an  bei  der  rechten 
Schmiede?  Sehen  wir  doch,  wie  HtiBSEBL  selber  sich  die 
Sache  denktl  Er  schreibt  nämlich  seiner  Zukunftswisseo- 
sohaft  eigenhändig  ihre  Aufgaben  Tor<)- 

IiTSteos  sollen  die  aller  Theorie  notwendigen  Kate- 
gorien festgestellt  und  „geklärt",  auch  die  Formen  ihrer 
Verknüpfung  dargethao  werden.    Feststellung  der  Urbegriffe 

—  gewiss,  eine  grosse  Aufgabe!  und  zwar  genau  die  der  — 
„Transszendeotalen  Analytik".  Die  drei  Wege,  zwischen  denen 
Kant  schwankt,  machte  sein  jüngster  Nachfolger  vermeiden 
und  denkt  an  einen  vierten.  Die  Idee  von  „tiieoretieeher 
Sinfaeit"  wird  als  gegeben  biDgenommeii;  und  alle  Begriffe, 
die  eingewickelt  in  ihr  stecken,  sollen  aus  ihr  herausgeschält 
werden.  Das  Ueble  ist  nur:  jene  Idee  ist  weder  ein  Über- 
sinnliches noch  ein  empirisches  „Ding",  sondern  sie  ist  ein- 
fach eine  Forderung;  ob  willkürlich  oder  notwendig,  bliebe 
zu  untersuchen.  Aus  Forderungen  aber  fallen  nur  wiederum 
Forderungen,  niemals  objektive  Ke^täten,  man  schüttle  nun 
so  heftig  als  man  irgend  willl  Qnd  auch  keinerlei  Ver- 
knüpfung von  Forderungen  schafft  Theorien  I  Wir  dr^en 
uns  immerfort  in  der  normativen  Lc^k,  die  von  jeher  mit 
den  hier  gestellten  Aufgaben  sich  herumgeschlagen  bat  Ins 
Theoretische  treten  wir  erst  hinüber,  wenn  wb"  die  Postu- 
late  aus  etwas  Oegenständhohem  ableiten;  und  das  kann  nur 
die  Seele  —  oder  die  thatsächlich  vor  uns  liegende  Wissen- 
sohaft  seini  Damit  aber  ist  zugleich  der  apriorische  und 
^odiktische  Charakter  unserem  Forschen  verloren  gegangen 

—  unwiederbringlich,  da  helfen  keine  Thränen!  —  Termino- 
logische Begriflsbegrenzungen  vollends  konnten  niemals  für 

■)  s,  248  ff. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


TTeber  die  PmdHmente  der  formalea  Ix)gik.  J9 

sich  wißsenschaftlichen  Wert  gewiiiDen.  Es  iHt  ja  praktisch, 
Tor  jeder  Untersuchung  die  etwa  schillernden  Ausdrücke  eu 
definieren:  man  Tenneidet  auf  diese  Weise  Missverständnisse I 
Aber  allen  kOnftig^en  Schriftstellem  eine  solche  Arbeit  im 
voraus  abnehmen  zu  vollen  —  das  geht  kaum  an.  MCchte 
Hdssbbi.  die  Wörter  „Wahrheit",  „Bemehung"  u.  s.  f.  noch 
so  elegant  erOrtem,  noch  so  scharf  amzirkeln:  wen  kann  er 
damit  hindran,  sie  in  neaen  Zusammenhängen  wieder  neu- 
gefärbt zu  verwerten?     Verlorene  Liebesmühe! 

In  den  Urhegriffen  nun  gründen  Gesetze,  denen  alles 
theoretische  Forsehen  gehorchen  muss,  wenn  es  gUltig  sein 
will.  Diese  abzuleiten,  ist  das  zweite  Problem  der  „reinen" 
Lc^k.  Das  Aushängeschild  scheint  eine  Art  von  Wahrheits- 
theorie zu  versprechen  und  man  hofft  endlich  auf  Inhalt. 
Aber  nein  —  die  Untersuchung  nach  den  Kriterien  aller 
Erkennbiis  mUsste  ja  notwendig  ins  Erkenntnistheoretische 
oder  Psychologische  hinüberspringen  —  und  solche  Sprünge 
untersagt  sich  der  „reine"  Logiker  streng.  Jene  gesuchten 
G-esetze  sollen  gar  nicht  im  Wesen  der  Welt  oder  des  Geistes, 
sondern  in  den  schon  vorher  aufgefundenen  Kategorien 
wurzeln!  Aus  Begriffen  aber  kann  nur  Begriffliches  und 
ans  Nonnen  nur  ein  Soll  entspringen.  Wir  kleben,  wir 
kleben,  wir  kleben  —  und  kommen  von  der  regelspendenden 
L(^k  nicht  los;  alles  Theoretische,  was  wir  in  der  Feme 
sahen,  zerrinnt  wie  Luftspiegelungen!  —  Aber  vielleicht  hilft 
uns  Nummer  drei!  Das  Letzte  soll  sein,  apriori  „die  mtlg- 
liehen  Theorien"  su  erkunden^).  Wer  sich  etwa  des  Unter- 
^gens  entsetzt,  wird  belehrt,  dass  die  zu  ersinnende  Dis- 
Eipün  in  Gestalt  der  „Mannigfaltigkeitslehre"  bereits  von  den 
Hathematikem  ersonnen  ist  Da  hätten  wir  denn  endlich 
etwas  Beelles  unter  den  Händen.  Aber  achl  wir  sahen  es 
schon  froher:  auch  diesen  Gang  haben  wir  umsonst  gerochen. 
Der  Mathematiker  isst  uns  den  ganzen  schtkien  Braten  weg 
und  ttberlässt  dem  Logiker  die  Petersiliengamitor  zum  Nagen. 

')  s.  S47. 

2* 


20  Dl*-  JalinB  Sehnlts: 

„Ueber  Sinn  und  Wesen  seiner  Leistungen"  „zor  Einsicht 
zu  kommen" :  das  gestattet  er  dem  hungernden  Freunde.  £ine 
fdne  Aufgabe:  Methoden,  die  andere- erfinden,  hinterher  durch 
logische  Operngläser  zu  bewundem!  Nein,  verehrteste  Herrn: 
venu  die  Philosophie  nichts  weiter  will  oder  kann  als  dies: 
80  besorgt  ihr  ein  anständiges  Begräbnis!  Wie  seine  Theorien 
zur  Idee  aller  Theorien  sich  verhalten,  das  kann  der  Wissen- 
schaftler in  seinen  Musseatunden  sich  zur  Not  noch  selber 
überlegen  I 

vm. 

Mit  Hossebl's  „reiner"  Logik  steht  es  Obel;  eine  Tot- 
geburt, furcht'  i(äi  fast.  Aber  bedarf  denn  die  norma- 
tive Denkiehre  Überhaupt  der  theoretischen  Unter- 
lage? 

Es  ist  kurios,  dass  gerade  ein  Philosoph  diese  so  eiMg 
sucht,  der  sie  wirklieh  kaum  nötig  hätte!  Ihm  sind  ja  die 
Axiome  so  selbstverständlich,  so  in  sich  absolut  evident: 
dass  er  sie  gar  nicht  erst  zu  begründen  braucht!  Die  und 
die  Postulate  tragen  vir  in  uns:  entwickeln  wir,  was  aus 
ihnen  folgt!  So  hat's  die  alte  ScbuIIogik  ganz  unbefangen 
gehalten  und  den  Teufel  nach  der  JiMndierung  des  Aller- 
sichersten  gefragt.  Die  Norm  stand  auf  festen  Beinen  da  — 
und  gut! 

Wenn  die  UnverbrOcblichkeit  und  schrankenlose  Q-el- 
tnng  eines  Gesetzes  von  vornherein  als  unentrinnbarste  Not- 
wendigkeit gefühlt  wird,  sind  theoretische  Basen  überhaupt 
sinnlos.  Die  Ethik  z.  B.  bedurfte  deren  nicht,  solange  sie 
von  der  positiven  Beligion  ausging;  Gottes  Gebot  herrschte 
ohne  Grenzen  —  und  wer  am  Dekalog  zweifelte,  den  hätte 
man  einfach  aufs  Maul  geschlagen.  Die  „Wissenschaft" 
konnte  nur  das  unbedingt  Gegebene  auseinanderfalten,  kasu- 
istisch zerfasern!  --  Und  warum  macht  nun  unser  Logiker 
es  nicht  ebenso?  Er  proklamiere  doch  einfach,  was  ihm 
evident  und  apodiktisch  ist^),  und  zerznpfe  es  in  alle  denk- 


')  Vgl.  SoHUPPB,  8.  11  d«  V,  Anm.  6  lit.  Abh. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


üftber  die  FnodaineDte  der  formalen  Logik.  21 

baren  Anwendbarkeitonl  So  hätte  er  zwar  nicht  seine  theo- 
retisch „reine",  aber  eine  reinliche  regulative  Logik  und 
könnte  sich  manche  Qual  ersparen  1 

Nach  Begründung  schreien  Normen  bloss,  wenn  sie  za 
schwanken  beginnen,  d.  h.  wenn  ich  unsicher  werde,  ob  ich 
ee  mit  absolut  notwendigen  Fostulaten  oder  etwa  nur  mit 
willkfirlich  aufgestellten  Begeln  zu  thun  habe.  Und  da  giebt 
es  denn  zweierlei  Beweisarten.  Will  ich  wissen,  was  mein 
neues  Taschenmesser  taugt,  so  läse'  ich  entweder  die  6Ute 
des  Stahls  and  der  Arbeit  von  einem  Sachverständigen 
prüfen  oder  —  ioh  versuche,  wie  es  schneidet!  Handelt  sioh's 
um  die  schrankenlose  Gültigkeit  eines  Gesetzes,  so  kann  ich 
nach  seiner  Herkunft  oder  nach  seiner  Anwendung 
fragen.  Da  ist  z.  B.  ein  sittlicher  Imperativ;  ich  weiss  nicht, 
ist  er  unweigerliches  Pllichtgebot  oder  eine  Ausgeburt  der 
zufälligen  Laune;  so  untersuche  ich  entweder,  ob  er  tief  in 
der  Natur  des  Menschen  und  der  Qesellschaß.  wurzelt,  oder  ich 
Überlege  mir,  welche  Folgen  seine  Uebertretung  haben  müsste. 

Qanz  ähnlich  steht  es  nun  mit  der  normativen  Logik. 
Der  Identitätssatz  rechtfertigt  sieb  selbst  und  alle  seine 
Kinder  und  Enkel,  das  zeigte  ich  schon.  Mt^Ücb  aber,  dass 
es  Denkregeln  giebt,  die  nicht  wie  er  aus  dem  blossen  Be- 
griflF  der  Wahrheit  hervoi^ehen"'');  solchen  nun  könnte  jemand 
den  apodiktischen  Charakter  und  die  unbedingte  Gültigkeit 
abstreiten;  und  dann  mOssten  sie  ihre  Privilegien  erweisen. 
Damit  hängt  ein  anderes  zusammen.  Die  normative  Logik 
bedarf,  wofern  sie  nicht  vom  Identitätesatze  allein  ausgehen 
will,  einer  möglichst  vollständigen  Tafel  der  Kategorien 
und  Priaxipien;  da  muss  es  denn  ein  Tribunal  geben,  vor 
dem  jeder  apriorl  evident  erscheinende  und  axiomatisch 
sich  geberdende  Satz  sich  zu  legitimieren  hat.  Eben  seine 
Evidenz  soll  er  legitimieren;  sie  nur  zu  behaupten,  geht  für 
ihn  nicht  an.  Mit  dem  blossen  Ausrufe:  „evident!"  gewinnt 
man  hier  keine  Prozesse. 

•)  S.  IL 

n,g,t,7l.dM,GOOglC 


22  Ot.  Julius  Soholts: 

Und  da  kämen  vir  nun  wie  in  der  Moral  auf  zwei 
mSglicbe  Begrtindongea.  Entweder  ich  zeige,  dass  die  an- 
gefochtene Begel  unserer  Otgaoisation  mit  Notwendigkeit 
entfliosst;  eine  solche  Thatsacbe  genügt  allen  TemOnftigen 
Ansprüchen,  denn  mit  anderen  als  menschlichen  Gehirnen 
vermögen  wir  nun  einmal  nicht  zu  denken,  und  ein  psycho- 
logischer Zwajig  —  zwingt  uns  -eben.  Was  auch  Hdssbbl 
sage:  jenes  „eigenartige  Bewussteein,  in  dem  sich  das  ein- 
sichtige Erfassen  eines  Gesetzes  oder  eines  Gesetzmässigeo 
konstituiert"''),  ist  thatsächlich  nichts  anderes  als  das  (Ge- 
fühl, gerade  so  und  so  denken  zu  müssen.  —  Oder  wir 
zerfasern  unser  wirkliches  Wissen  und  zeigen,  dass  es  der 
bestrittenen  Norm  nicht  entbehren  kann.  Hussbbl  —  wie 
sdioa  Eant  und  offenbar  die  meisten  logistisch  gerichteten 
Gleister  —  empfinden  diesen  zweiten  Wog  als  den  „objek- 
tiveren" ;  er  ist  ihnen  von  Natur  sympathischer  als  der  psy- 
chologistische.  Aber  yielleicht  hat  auch  er  seine  holprigen 
Partien. 

Wenn  nämlich  der  Epistemolog  das  Apriori  innerhalb 
des  allgemein  menschtichen,  des  vorwissenschaftlicben  Denkens 
aufsucht:  dann  wird  er  einerseits  öfters  in  den  Qflleisen 
fahren  müssen,  die  sein  Konkurrent,  der  Psycbologist,  ge- 
bahnt hat,  und  aUe  Steine,  die  diesem  an  Aon  Copf  sollen, 
gefährden  auch  ihn.  Anderseits  aber  leugnet  die  Wissen- 
schaft manches,  was  dem  natürlichen  Verstände  richtig,  ja 
notwendig  vorkommt;  setzt  der  Philosoph  nun  dessen  aprio- 
rische Prämissen  als  logische  Grundregeln,  so  kann  der  un- 
sinnige Fall  eintreten,  dass  die  Wissenschaft  gegen  die  Logik 
streitet.  Lässt  dagegen,  um  solchem  Wirrwarr  zu  entgehen, 
der  Erkenntnistheoretiker  die  gemeine  Menschenvemunft  un- 
beachtet laufen  und  analysiert  allein  die  eigentliche  Wissen- 
schaft: so  gerät  er  in  neue  Sümpfe  hinein.  Denn  erstens 
hat  die  Gelehrsamkeit  wenigstens  früherer  Perioden  notorisch 
falsche  Sätze  fllr  denknotwendig  erklärt;   ausgeschlossen  ist 

•)  8.  134. 

n,g,t,7l.dM,GOOglC 


üeber  die  Fnndamenle  der  fonnaIeD  Logik,  23 

es  nicht,  Aasa  denu^iges  auch  heute  vorkommt,  ja  dass  so- 
genaoate  Andorne  einander  widersprecheo!  Nun  soll  doch 
die  Philosophie  in  solchen  Fällen  Bichterin  der  Binzelwissen- 
sohaften  sein;  wie  darf  sie  diesen  ihre  eigenen  Q-rundsätse 
ohne  weiteres  entnehmen?  Zweitens  könnte  es  in  der 
Wissenschaft  Mode  werden,  echte  Denkprinzipien  zu  ent- 
thronen; vielleicht  lässt  sich  mancher  gelehrte  Zweck  mit 
einem  einfacheren  Apparat  erreichen,  als  er  uns  eingeboren 
ist;  soll  z.  B.  über  die  apodiktische  Natur  des  Causalgesetzes 
die  modernste  Physik  entscheiden?  Sie  thut  ja,  als  käme 
sie  mit  dem  Fnnktionsbegriffe  aus;  wird  deswegen  die  Philo- 
Sophie  sofort  ihre  Ansicht  über  die  Katur  jenes  Ahorns  auf- 
geben? Drittens  unterscheidet  die  Wissenschaft  nirgends 
zwischen  dem  denknotwendigen  Apriori  und  den  ihr 
vorläufig  unentbehrlichen  Hypothesen.  Blosse  Elr- 
keantniskritik  wird  also  niemals  herausfinden,  zu  welcher 
der  beiden  Klassen  etwa  das  atomistische  Prinzip  gehOre. 
Es  wird  doch  wieder  an  eine  andere  Instanz  appellieren 
müssen.  Dass  unser  ganzes  Wissen  auf  dem  Regelmässig- 
keitssatze  beruht,  darllber  sind  alle  einig,  nur  halten  ihn  die 
Positiyisten  fQr  eine  durch  Erfahrung  angeregte  Theorie, 
wir  anderen  fOr  ein  absolutes  Postulat.  Die  Entscheidung 
hängt  ausschliesslich  au  der  Frage:  „könnten  wir  den  Satz 
aus  unseren  Q-ehirnen  wegstreichen?"  —  m.  a.  W.,  sie  hängt 
in  Psychologie.  —  Viertens  endlich  verleiht  die  Erkenntnis- 
theorie ihren  Aussagen  nicht  mehr  apriorische  Evidenz,  als 
die  Seelenlehre;  denn  die  Wissenschaft  ist  so  gut  wie  unser 
inneres  Leben  ein  empirisch  dargebotener  Öegenstand,  und 
auch  ihre  Methoden  und  Begeln  wollen  induktiv  gesucht 
werden;  HusssaL  räumt  das  übrigens*)  prinzipiell  ein  und 
macht  auch  von  der  Epistemologie  für  seiue  Zwecke  keinen 
weiteren  Gebrauch;  nur  dass  er  die  erkenntnistheoretiscbe 
Fnndierung  der  Logik  mehr  auf  sich  beruhen  lässt,  die  psy- 
chologiatiache  bekämpft. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


24  Df-  JqIidh  Bohnltz: 

Biese  hat  nun  freilich  ebenfalls  ihre  Schwächen.  Denn 
erstlich  scheint  uns  mancherlei  zu  Zeiten  mit  .Denkzwang" 
zu  bedrängen,  was  hinterher  als  zweifelhaft,  ja  als  irrig  sich 
herausstellt.  Und  zweitens  führen  echte  und  unentrinnbare 
Forderungen  unserer  Organisation,  ganz  folgerichtig  festge- 
halten, in  der  Anwendung  gelegentlich  teils  auf  Zweideutig- 
kfliteu,  teils  sogar  auf  Antinomien,  indem  sie  einander  gegen- 
seitig in  die  Haare  geraten. 

Also  ist  keine  der  beiden  „grundlegenden"  Wissen- 
schaften unfehlbar.  Der  erkenntnistheoretischen  Argumen- 
tation mangelt  es  an  Blut,  der  psychologistischen  an  Knochen ; 
diese  Überzeugt  uns  im  lonersten,  aber  treibt  uns  dafür  leicht 
in  die  Irre;  jene  ist  etwas  vorsichtiger,  aber  langt  auch 
selten  zum  Letzten.  —  Ich  denke,  die  beiden  sollten  einan- 
der ergäozeul  Hätte  ich  eine  logische  Forderung  auf  ihre 
Haltbarkeit  zu  prüfen,  ich  würde  zunächst  nachschauen,  ob 
sie  einem  unabweisbaren  Bedürfnis  unserer  Seele  entstammte; 
sodann,  ob  sie  dem  natürUchen  Denken,  schliesslich,  ob  sie 
der  Wissenschaft  unentbehrliche  Stützen  leihe.  Erst  wenn 
sie  aus  all  diesen  Feuern  ungeschmolzen  hervorgegangen 
wäre,  würde  ich  sie  unter  die  logischen  Edelmetalle  ein- 
reihen. 

IX. 

A.bor  Hdbskbl  widerlegt  ja  doch  die  Möglichkeit,  IjOgik  auf  Psycho- 
logie za  pfropfen,  durch  so  scmageiide  Oründe')!  —  Wir  wollen  sie  oiu 
alle  deT  Beihe  nach  angehen! 

1)  Der  Psychologist  bannt  alle  Wahrheit  ins  Urteil,  um  ihr  Wesen 
dann  aas  der  Zerfaserang  das  Urteilaaktes  besser  zu  verateha.  Nnn  aber 
giebt  es  unbestreitbare  Wahrheiten,  die  mit  lebendigen  Aussagen  gamiohia 
m  Bchaffen  haben     War  Nevtoas  Gesetz  vor  Newton  nicht  wahr*}? 

Wir  antworten :  es  besass  Wahrheit  genau  in  demselben  Sinne,  in 
dem  ein  von  niemandem  («merkter  Gegenstand  ein  Phänomen  bleibt.  Eine 
rote  EKferart  werde  in  Tenezaela  neu  entdeckt.  Nnn  sind  die  Farben  ab 
BmpGndoDgBqaalitäten  subjektiv.  Folgiicb  —  war  der  Käfer  gamicht  rot, 
ehe  man  ihn  fand?  —  .A.ber  Tiere  suien  ihn  dochl'  So  mag  es  denn  am 
die  EiemenbttEchel  oder  aoch  das  BInt  einer  nnterirdisohen  Olmart  gehen, 
die  zwischen  lanter  blinden  Geschöpfen  in  ewiger  Dunkelheit  schwamm; 
Wie  urteilt  HussniL  aber  diesen  Fall?    Wir  anderen  pflegen  zu  ssgoi : 

')  Tgl.  SoHUppc  u,  Natorp  in  den  T  A  6,  TI  A  1  cit  Abbalgen. 
■l  S.  127,  vgl.  üparra,  Einf.  i.  d.  mod.  Log.  I,  S.  5. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


TJeber  die  FoDdaineDte  im  formaleo  Logik.  25 

a  Mensohen,  meinetwegen  za  NioiiodB  Zeiten,  znRUlig  in  diese  Hoble, 
nen  Urwald  geraten  waren,  Bo  hätten  sioh  ihnen  —  gemftsB  unserer 
insamen  Organisation  —  die  nnd  die  optischen  EiBdräcke  geboten; 
0  war  dae  Bot  der  HSgliohkeit  nach  immer  da;  and  in  dem  Urteil: 
,(Üe  Speziea  X  hat  rote  Kiemen  oder  Fingeldecken"  —  unterscheiden  wir 
die  potentiellen  nicht  von  den  aktuellen  SinneBempßndnngen.  Schliesslich 
bneoht  man  nach  BeiHpielen  garoioht  in  Erdlücher  oder  Urwälder  sa 
kriechen;  jedee  aagenblicklich  nicht  beobachtete  Objekt  stellt  eine  Wahr- 
Dshmnagsmöglicbkeit  dar;  das  ist  Öfters  auBführlich  gezeigt  worden. 
—  Gerade  so  nun  denken  wir  über  .verborgene"  Wahrheiten;  ihre  Sinnen- 
seite lag  schon  vor  der  Zeit  der  .Finder"  potentiell  da;  nnd  was  an  ihnen 
gedanklich  'war,  steckte  von  jeher  in  der  möglichen  Konsequenz  unserer 
menschlicheit  Anlagen.  Das  ist  es  eben,  was  iob  mit  dem  Ausdruck  meine; 
.die  Wahrheit  gilt")  —  im  Gegensätze  zo  dem  anderen:  sie  existiert', 
täe  existiert  nnr  im  wirklich  gedachten  oder  ansgesprocheneQ  urteile, 
aber  galt  unter  Umständen  sogar  vor  allem  irdischen  Denken;  sotem  i<^ 
mich  selber  als  Zoschauer  und  Kritiker  bis  in  die  Periode  des  glühenden 
Uraebels  and  immer  weiter  zurück  versetzen  kann. 

Wenn  ich  die  Augen  schliesse,  so  leuchtet  die  bunte  Welt  weiter ; 
und  wenn  ich  den  Qeist  von  ihm  abwende,  .gilt"  ein  wahres  Urteil  immer 
Docli;  auch  galt  es,  ehe  es  ausgesprochen  ward,  wie  die  Sonne  schien,  ehe 
Augen  sie  sahen.  Das  ist  ein  —  wie  auch  immer  fundiertes  —  Postulat, 
ohne  welches  kein  „objektives  Wissen"  bestehen  könnte.  Aber  wohl  ge- 
merkt: die  eine  Oewissheit  hat  Sinn  nur  für  sehende,  die  andere  nur  tAi 
logisch  nns  gleich  gebildete  Oeschöpfe.  Wenn  eins  Wahrheit  gilt,  soweit 
ihre  Erfassang  nach  unserer  Organisation  uns  möglich  ist:  so  gilt  sie  fftr 
Wesen,  denen  ihre  Entdecknng  nnmögliofa,  weil  widematünioh  wäre, 
eben  dämm  nicht.  £3  scheint  ein  schnarriger  Gedanke,  dass  die  Einrieb-, 
toDg  unseres  Qehimes  Sätze  garantieren  soll,  die  noch  in  gar  kein  Gehirn 
aiDg^angen  sind.  Aber  daas  jener  bis  heute  unbekannte  Käfer  gerade  „Tot* 
aussieht,  das  b&ngt  doch  genau  so  gut  wie  die  Röte  des  LäsobblatteH  vor 
mir  von  der  Struktur  meiner  Netzbaut  und  meines  Sebzentrums  ab.  Ganz 
ebenso  ist  das  TerhiUuis  der  „verborgenen"  Wahrheiten  zu  unserer  logischen 
inUge. 

Ein  bisher  nnentdecktes  wahres  Urteil  tSMt  inhaltlich  mit  dem  nun- 
mehr endlich  ansgesprochenen  ganz  und  gar  zusammen.  Begründen  wir 
du  in  diesem  stehende  Apriori  psychologisch,  so  ist  damit  zugleich  auch 
über  jenes  entschieden.  Der  logische  AlÄolutiBt  mag  das  bestreiten,  well 
er  den  psychclogistischen  Relativismus  überhaupt  bestreitet;  aber  dieser 
llast  sich  nicht  umgekehrt  von  der  Thatsache  der  ^verborgenen  Wahr- 
heiten* aus  entwurzeln. 

Wie  ist  es  denn  non  mit  jenen  niathematisohen  Funktionen  der  Sera- 
phim, die  H11SSKBL*)  sich  ausmalt?  sie  sollen  sc  schwierig  sein,  dass  sogar 
ein  Gauss  sie  höohstens  binnen  tausend  Jahren  eriemen  könnte;  nnd  nun, 
so  dichten  wir  weiter,  wäre  das  mathematisierende  Enf^elsgeschleoht  an 
Kopfweh  EU  Grunde  g^augen;  und  es  ^be  im  ganzen  Weltall  kein  Weeen 
■eenr,  das  jene  Lehrsätze  je  zu  begreifen  hoEFen  dürfte.  Hätten  sie  dann 
noch  Wahrheöt?  Wenn  ja,  so  scheint  es  Emssia.  um  den  Psyohclogismu« 
gelhan;  also  nein?  aber  das  wäre  doch  wunderlich I  —  Ich  stelle  eine 
Q^enfr^e:   .Sind  die  ^eoreme  nns  deshalb  unerreichbar,  weit  sie  der  in 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


26  Dr.  Julias  Sohniti: 

unserer  Seele  lebenden  Hathemaüh  widerapreoheD,  meinetwegen  Miuinig- 
fftltigkateD  voraosBetzoD,  zu  denen  sog&r  die  Hetageometrie  den  Sohlüsml 
verweigert?"  Dann  würde  ioh  ruhig  gestetten:  Diese  Wahrheiten  sind  mit 
dem  Tode  ihrer  Erbenner  verloschen,  sie  haben  keine  Geltung  mehr.  Knd 
flie  uns  aber  -—  und  des  muss  natürliob  Hussckl'b  Ifeinung  sein  —  nsr 
darum  fremd,  weil  uns  VorkeontniBse  und  EombinstionskiaCt  eu  ihrer  Er- 
werbung bisher  mangelten;  und  solleu  sie  in  letzter  Linie  auf  anserer 
Mathematik  bervben:  so  würde  ich  etwas  anders  darüber  denken.  Wofür 
der  OauBS  des  aeohsten  Jahrhunderts  v.  Ch.  eine  Hekatombe  opferte,  das 
arbeitet  jettt  in  jedem  Tertianerkopfe;  wer  weiss?  vielleicht  findet  man 
noch  Uethoden,  die  Analfsis  auch  etwas  wegsamer  eu  machen^  und  wenn 
in  fünftigtausend  Jahren  ein  Primaner  diejenigen  Funktionen  erlernt,  an 
denen  heute  berühmte  Professoren  kauen :  so  eiEwingt  am  Ende  das  höchste 
Oenie  jener  Zeit,  was  bis  dahin  nur  die  lieben  Engel  konnten,  unter  aaa 
gesagt,  ioh  glaube  uicbt  tu  solche  Zukunftsbilder;  aber  iuimerhin  —  mit 
HÜcteicht  a^  jene  eventueUen  CsgUoatros  der  Uathematik 

Aber  ich  will  ernsthaft  sprechen.  Laaaen  wir  doch  die  englischen 
Fanktionen  anf  sich  bemheu,  nnd  denken  wir  an  das  höahste,  aber  ewig  un- 
eisteigliohe  Ziel  aller  Wisüensohaft:  die  Weltformel')]  Setzen  wir,  sie  lebte 
im  göttUchen  Geiste:  ist  sie  uns  nun  wahr  oder  faisch?  Ioh  antworte  so: 
wenn  sie  nach  unserer  Logik  mit  Notwendigkeit  aus  der  uns  möglieheD, 
also  für  uns  geltenden  Wahrheit  folgt;  wenn  also  ihre  Prämissen  und  jeder 
einxelne  Schritt  zu  ihr  hin  in  unserem  Sinne  Wahiiieit  ist;  wenn  sie  dem- 
nach ans  lauter  uaserei-  Organisation  angepasster  Wahrheit  besteht:  so 
müssen  wir  sie  auch  ideell  als  Wahrheit  für  ans  anerkennen.  Dass  wir 
nicht  Gedichtnis  und  Aufmerksamkeit  genng  besitzen,  obendrein  eu  kois 
leben,  nm  die  für  ihre  Auffindung  nötjgen  Kombinationen  eu  voUiieben : 
.das  sind  üuBserliche  Fakten,  die  einen  logischen  Begriff  nicht  Ködern  können 
oder  sollen.  Denn  logische  Begriffe  sied  Forderongen;  und  jede  w^ite 
Forderung  geht  ins  Bohrankenlose. 

2]  Der  Psjchologismus  führt  die  ^mdiktisohe  Notwendigkeit  auf  einen 
durch  altvererbte  Gewohnheit  entstandenen  Denkiwang  zurüok.  Nun  aber 
hat  Bpodiktisohe  EvidenE  mit  Denkzwang  gamiehts  eu  thun^.  Denn 
es  giebt  Fälle,  wo  logische  Notwendigkeit  vorbanden  ist  nnd  dennoch  der 
nnd  jener  sich  gegen  sie  zu  sträuben  die  Kraft  behält,  von  allem  subjek- 
tiven Zwange  mitbin  frei  bleibt. 

^enn  ioh  einen  inathemadschen  Bata,  wie  notwendig  er  auch  ans 
seinen  Frftmisaen  folgen  mag,  nii^t  verstehe'):  so  liegt  das  daran,  dass  icä 
diese  Prämissen  nicht  genügend  beherrsche  oder  dass  ioh  nicht  koaientriert 
genug  bin,  um  sie  alle  in  einen  Griff  eu  packen,  oder  endlich  an  der 
Dunkelheit  des  Faohdialekts.  Wären  diese  Hindernisse  nicht  vorbanden, 
eo  wurde  das  logische  Uuss  auch  mein  thatsächliohes  Denken 
zwingen.  —  Auch  im  gewöhnliohen  Fehlschlüsse")  erlahmt  nicht  etwa 
die  Macht  der  Deukgesetze  über  unser  Oehirn;  aondem  Gedächtnis-  oder 
Terständabirrungen  trüben  den  Sinn  der  Vordersätze.  Jemand  tiegehe  z.  B. 
eine  falsche  ümkehmng;  er  sage:  .der  Montblanc,  das  Matterhom,  der 
Pic  d'Anethou  .  .  tragen  ewigen  Schnee';  and  ein  paar  Zeilen  weiter: 
.ich  legte  soeben  dar,  dass  die  Schneebei^  anter  allen  Bergen  die  höchstea 

')  Vgl.  auch  HuBBwiL.  S.  185. 

')  Vgl.  auch  UpHtJKa  '8.  22,  34,  38  ff. 

')  Hdbbkrl,  S.  14Ö. 

«)  Husblrl,  S.  102,  107. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Ueber  die  FaDdameDte  der  formalen  Locik.  27 

Kisd";  er  sohliesee  luithiu:  „alle  sebr  hohen  Berge  smd  beHohaeit,  fol^'Uoh 
sind  alle  beschneiten  Ber^e  sehr  hoch".  Zeigt  er  sich  da  nicht  von  den 
Sduankea  der  logischeo  Axiome  entbanden?  Kaum;  er  meinte  nur,  durch 
ToUstfindise  Induktion  die  Kongruenz  der  Begriffe  Hochgipfel  and  Schnee- 
gipfel gezeigt  la  haben:  and  hatte  z.  B.  die  niedrigen  Sohneekappen  Hord- 
Norwegenfi  beim  Debeischlag  Tergeasen;  hatte  also  liederlich  indnxiert  and 
dadnndi  eine  Verwechselung  zoatande  gebracht  Änoh  der  ZirkelsobloBS 
beniht  nicht  etwa  auf  einem  Verstoss  gegen  die  Prinzipien,  sondern  auf 
einem  Mangel  au  Aufmerksamkeit;  der  Hitzige  merkt  in  seinem  Dispatier- 
eifer  Dicht,  daus  er  die  in  beweisende  Behauptung,  sprachlich  übermalt,  als 
Vordersatz  henntst.  —  Widersprüche  kann  man  als  solche  übersehen,  in- 
dem man  den  Inhalt  der  sich  beetreiteaden  Sätze  nicht  genügend  über- 
schaut oder  auoh  einen  derselben  missdaatet :  aber  einen  erkannten  Wider- 
spruch aafrecht  zu  erhatten,  ist  niemand  imstande. 

Wirklich  nicht?  Aber  wir  können  uns  doch  oftmals  einer  Eineiobt 
gewaltsam  entziehen:  „das  Widerstreben  gegen  die  erkannte  Wahrheit  ist 
eine  leider  nur  zu  hSufig  vorkommende  Thatsaohe;  wir  können  unseren 
Blick  von  dem  Sichaufdrängen  nnd  Einlenohten  der  Zusammengehörigkeit 
ablenken  and  aot  etwas  Andres  richten,  ans  dadurch  die  eintretende  Ein- 
sicht aus  dem  Snn  schlagen,  in  den  Hintergrand  drängen,  verdunkeln  und 
Sar  ganz  beseitigen"*).  Gewiss  —  wenn  wir  ein  schlechtes  oder  sehr 
liges  Oedfichtnis  haben.  Da  schalten  wir  dann  wohl  ganze  Oedanken- 
grappen  ans  und  vergeesea  sie.  —  Ein  Atheist  mag  unter  Umständen 
wünschen,  an  Gott  za  glauben,  weil  er  die  Frommen  glnckltcher  sieht  ^s 
sieh  nnd  nm  ihren  Frieden  beneidet.  Er  möchte  gerne  für  Wahrhrft 
halten,  was  er  noch  für  Intam  bäitj  aber  die  entgegengesetzten  Urteile 
gleichz^tig  zu  Ollen,  miselingt  ihm.  Deshalb  schlägt  er  sieh  seine  bis< 
herigen  Gedanken  gewaltsam  aus  dem  Kopfe  und  veisncht,  sich  in  die 
fremden  hineinzuleben,  hoffend,  dass  jene  allm&hlich  verschwinden,  diese 
überwiegen  werden.  Er  hindert  sich  selber  am  Urteilen,  „er  gibt  seinen 
Intellekt  gefangen*.  Wenn  ihm  aber  sein  Vorhaben  glückt  und  er  später 
in  seinem  Herzen  spricht,  es  sei  dennooh  ein  Oott ;  wenn  er  also  überhaupt 
wieder  urteilt:  so  hat  er  sich  von  seinen  früheren  Ansichten  auch  thatsäohlioh 
losgemacht,  sie  sind  tot,  sie  widerstreben  der  neuen  Aussage  nicht  mehr. 
Dächte  er  in  Wirklichkeit  noch,  Gott  existiere  nicht:  welchen  Wert  könnte 
ihn  «in  entgegen  gesetztes  Urteil  daneben  gewinnen? 

Vielleicht  furchtet  jemand  eine  nahende  Aufklärung  und  bemüht  sich 
knmpfhaft,  im  Zweifel  zu  bleiben;  er  hütet  sich  daram,  den  Dingen  ins 
Geaiolit  za  leuchten,  er  will  kein  Licht!  Henelaos  wirft  die  Korrespondenz 
iwisohen  Paris  nnd  Helena  angelesen  in's  Feuer.  Wozu  die  Höhe,  wenn 
ans  die  Iiogik  keine  Nötigung  anthäte?  Er  könnte  dann  ja  die  Doku- 
mente ruhig  lesen;  er  hübe  einfach  den  Widersprucbssatz  in  sich  auf  und 
hielte  seine  Schöne  weiter  für  Penelope!  Nein,  eben  weif  er  gewiss  ist, 
dass  widerspreahende  Urteile  sioh  gleichzeitig  in  seinem  Schädel  nicht  ver- 
tagen, vermeidet  er  den  gefürchteten  Augenblick  der  Kontradiktion.  Er 
will  lieber  im  Nebel  als  im  Sonne asohein  leben;  er  will  nicht  urteilen. 
So  geht  OB  ireili<^  vielen;  wer  aber  überhaupt  zam  Urteil  schreitet,  der 
kann  gar  keine  audre  Absicht  haben,  als  richtig  zu  urteilen.  Er  braucht 
die  Wahrheit  ja  nioht  auszusprechen;  vor  den  Menschen  lügt  er  vielleicht; 
ab^  in   seiner  Seele   will  er  richtig  urteilen  oder  gar  nicht,  ein  drittes 

•)  ÜPUirca,  3.  43 

n,g,t,7l.dM,GOOglC 


28  Dr.  JnliuB  Bohnlti: 

ist  undenkbar.  —  Dasa  ich  nan,  wofern  ich  richtig  urteileD  will,  an    einen 
Wideiaprnoh  niaht  glauben  kaan,  giebt  HnwERL")  selber  eq. 

Sein  Hinweis  auf  die  Leugnung  des  Widerepraohssatzeti  durch  Bpieur 
und  Hegrl")  ist  natörlicb  mehr  ein  Sehers.  Das  geleugnete  Axiom  bedeutet 
bei  diesen  Denkern  offenbar  etwas  anderes  als  in  der  gemeinen  Logik. 
Aber  was  geht  uns  hier  die  Geschichte  der  Metaphysili  au? 

3)  Umgekehrt:  nicht  aller  Deukzwang  geht  auf  apodiktische  Oewiss- 
heiten")i  es  giebt  z.  B.  Bie  Ideen,  die  uus  beherrsohen  und  verfolgen  köunea, 
ohne  logisohe  Notwendigkeit  mit  sich  zu  führen").  Und  einem  derartigen 
sulqekliven  ZwangageFühle  wird  man  doch  die  allgemeiogflltige  Evidenz  nicht 
an  die  Seite  selten  wollen.'*)! 

Hier  ist  das  dgentliobe  Rhodns  unsres  Logikeis:  hier  mnss  er 
springen!  Er  räumt  ein,  dass  es  „falsche  Evidenzen*  gibt").  Wie  sollen 
wir  sie  von  den  echten  unterscheiden?  —  Znnftchst  ist  ja  die 
apodiktische  Evidenz  nichts  als  ein  indi^idneUes  Oefiihlserlebnis:  .ich  moss 
80  und  so,  kann  nicht  anders  denken  I"  Wäre  nun  aber  ich  das  einaige 
Wesen  in  der  Welt,  das  kausal  dächte,  HnsaKKC  der  einzige  von  n  auf  n  4~  1 
Bohlieesende  Heusch:  dann  müssten  wir  ans  am  Eede  in  „lichten  Aogen- 
blioken"  fragen,  ob  nicht  die  anders  geartete  Hetkrzalil  mit  ihren  Methoden 
weiter  käme  als  wir  iwei  Isolierten?  Deswegen  brauchten  nnsre  Prinzipien 
für  uns  persönlich  an  Ueberzengungskraft  noch  gar  nichts  eingebüsst  za 
haben.  Es  kommt  offenbar  alles  daiauf  an,  daas  unser  subjek- 
tives Einleuchten  AUgemeingältigkeit  gewinne.  Nur  durch  diese 
nuterscheidet  es  sich  von  individuellen,  willkürlichen,  wohl  gar  u&rrischea 
Deoklaunen.  Oder  man  gebe  ein  anderes  Eriteriom!  Ich  ünde  bei  Hdbbbbl 
keines!  Wollen  wir  nnu  prüfen,  ob  eine  private  Denkuot wendigkeit  tugleich 
.absolut",  d.  h.  für  alle  zwingend  ist,  so  müssen  wir  entweder  zusehen, 
ob  sie  in  der  gemeinsamen  Menaohennatur  unausrottbar  wurzelt;  oder  ob 
sie  alles  Wissen  bahemcbt  Diese  Methode  befolge  der  Erkenntniskritiker, 
jene  der  Psycholog, 

4)  Es  ist  ansinnig,  über  apodiktische  Evidenzen  lichten  zu  wollen, 
statt  ihnen  einfiuih  zu  vertrauen;  denn  jeder  Grund  für  oder  gegen  die 
evidente  Notwendigkeit  eines  Satzes  beruht  i^endwie  abermals  auf  einer 
Evidenz^  das  Prozessverfahreu  ist  damit  von  vornherein  auf  die  Unendlich- 
keit angelegt"). 

Ich  antworte:  da  ausser  dem  Identitfitssatz  alle  Prinzipien  sobon  be- 
stritten worden  sind  und  da  mancher  Satz,  der  einst  für  apodiktiach  galt, 
nnn  als  zweifelhaft,  ja  als  irrig  erkannt  ist:  so  wird  jenes  Gericht  über  die 
Evidenzen  einfach  gefordert,  mag  jemand  es  nosinnig  schelten  oder  nicht. 
Der  Bichtei  aber  verlangt  von  den  angefochtenen  Axiomen  nicht  weniger, 
noch  mehr,  als  dass  sie  ihre  allgemeiue  Geltung  erweisen.  ,Der  und  der 
Satz  leuchtet  dir  ein  —  schön!  Das  ist  Dein  persönliohes  Erleben.  Nun 
zeige,  dass  er  allen  einlenchtet  und  warum;  und  zeige  ferner,  dass  die 
Wissenschaft  ihn  nicht  entbehren  kann!"  Wir  rekurrieren  also  nicht  auf 
ewig  neue  apodiktische  Evidenzen,  sondern  auf  einfache  Thatsacben  der 
Psychologie  und  der  Erkenntniskritik. 

")  S.  89. 

")  S.  141. 

"J  HossBW^  8.  107. 

")  Uphuiw,  S.  22. 

")    ElIBHEK^    S.    189. 

")  Vgl.  n. 

")  S.  84  f. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


üebei  die  Fundamenta  dei  formalen  Logik.  29 

6)  Dieser  Bekois  selber  ist  unsianig,  denn  die  Oewissheit  von  apo- 
^ktischen  Prinzipien  darf  sich  Dicht  auf  empirische  ITskten  stützen'''). 

Aber  apodiktische  Evidenzen  müssen  apriori,  also  Forderungen 
seiaj  imd  Aussagen  giebt  es  nnr  aposteriori,  weil  nur  die  Erfabrang  That- 
sacbea  gew&hrt.  Demnach  sind  theore tische  Wissenschaften  zuelpich 
empirisch  (oder  doch  so  eng  mit  der  Empirie  verflochten  wie  die  Mathe- 
matik); und  die  Logik  ist  apodiktisch,  eben  weil  sie  auf  Postniatan  errichtet, 
also  normativ  ist.  Man  nehme  ihr  diesen  Charakter,  so  wird  sie  statt 
.ideell"  angenbtioklich  .reell"")  nud  eine  Tbatsachenwisseasohaft.  Soll  sie 
ftberhaapt  tbeoretisoh  fundiert  werden,  so  muss  auch  die  Erfahrung  die 
Staine  za  ihrer  Basis  liefern. 

Aber  wie  kann  eine  empirische  Wisaenscbafl:,  die  doch  bloss  „vage" 
Gesetae  bietet,  Jene  überempiriscben  und  absolut  eiakten  Gesetze  geben, 
welche  den  Kern  aller  Logik  ansmacben"^? 

Da  steckt  das  MissvetstAndnis").  Kein  Mensch  anf  Erden  hat 
D&mlich  je  behauptet,  die  FsTOhoIogie  solle  die  logischen  Qeeetze  „gebea* 
—  oder  die  logisohen  Axiome  wttren  psycholo^sche  Behauptungen.  Nein. 
Behaoptongen  sind  sie  vielmehr  gar  nicht.  Sie  sind  Postulate,  und 
zwar  DDbediugte,  die  allem  Wissen,  auoh  dem  psychologischen,  seine  Normen 
vorschreiben:  die  lo^sohen  Gesetze  „geben*  nur  sie  selber.  Aber  als 
Postulate  können  sie  bloss  eine  regelnde,  nicht  eine  aussagende  Wissen- 
schaft gebSren 

.Die  Lo^  will  eine  theoretische  Orundlage"  —  das  heisst  eben  etwas 
ganz  Andres,  als  Husskhl  ons  einreden  mächte.  Nicht  der  Inhalt  der 
PrintipieD  bedarf  der  Bgeründung,  sondern  ihre  Allgemeingültigkeit 
soll  nntersacht  werden.  Das  Apodiktische  ao  ihnen  ist  znn&ohst  sab' 
jektiv;  dass  sie  alle  Mensohengeistar  zwingen,  das  ist  ein  empirisches 
Faktum  —  und  dient  ihnen  zugleich  als  Beglaubigung. 

Es  Hessen  sich  am  Ende  recht  mannigfaltige  Logiken  aufstellen,  den 
sahtreicheD  Axiomen  euteprechend,  die  man  bereits  für  denknotwendig  go- 
balten  hat ;  jede  derselben  könnte,  wenn  sie  nur  in  sich  genügend  zusammen- 
hinge, eine  absolut  exakte  normative  Disziplin  sein  —  so  gut  wie  Lonit- 
BCHiwSTTS  Geomatrie  ihre  besondere  Exaktheit  hat  Aber  wir  würden 
zwischen  aUen  diesen  Systemen  doch  wählen  wollen.  Und  da  würden  zwei 
Thataaohen  der  Erfahrung  den  Ausschlag  geben.  Erstens,  dass  die 
.wahre*  Logik  in  der  allgemeinen  Konstitution  der  menschlichen  Spezies 
wurzele;  zweitens,  dass  die  objektiv  vorhandene  Wissenschaft  ihrer  be- 
nötige"}. —  Man  wurde  ans  diesen  Tbatsacben  nicht  die  logiseben  Sätze 
ableiten  (dies  wäre  wirklich  absurd),  sondern  mittelst  ihrer  die  ants 
Geratewohl  entworfene  Tafel  des  Apriori  prüfen.  Nor  in  diesem  Sinne 
bogrnndet  ans  Psychologie  und  Wissenschaftskritik  die  Logik;  und  eine 
B^ründnog  in  diesem  Sinne  führt  zam  mindesten  keinen  inneren  Wider- 
sprach mit  eioh. 

Ziehen  wir  die  Uatbemstik  zur  Yergleiohung  heran,  so  wird  alles 
völlig  klar  werden.  Bekanntlich  Ist  die  Metageometrie  eine  in  sich  ge- 
i  und  logisch  möghohe  Disziplin,    Nnn  wollen  wir  den  Fall  setzen. 


>')  HnssKBL,  S.  64,  vgl.  69  ff.,  99,  119,  123. 
")  Tgl.  IleseiBi,  S.  188  eio. 
")  8.  64. 

*•)  Z.  B.  auch  hei  Euro,  Der  phil.  Kritiaisrnna  II  1  (1879).  8.  7. 
")  Vgl.  auch  BiMHL,  Der  phiL  Krit  H  2  (1887),  S.  64  f.,  der  freilich   ' 
nur  2)  gelten  lässt. 


iM,Googlc 


30  Dr.  Julias  SohnltE: 

«n  I^cholog  oder  Physial<%  Btetlte  empirisch  (est,  wunm  wir  Hansohen 
keinen  anderen  Raum  als  den  enklidiaohea  aaiusohanen  vermOgen.  So 
wfirden  wir  den  Vorrang  aneerer  vor  den  übrigen  Geometrien  als  uns 
notwendig  einsehen.  Mithin  dürften  wir  sagen,  daas  Euklid  und  dasa  also 
der  Par^eleosatz  u  s.  w.  ihre  Beglaabignng  nun  erst  recht  empfangen 
hütten.  Aber  das  hiesse  doch  nioht,  daes  der  FaralleleosatE  ans  jenen  fak- 
tischen Bebaaptnngen  ersohlossen  würde,  wie  etwa  der  AnsBenwinkelsatz 
ans  dem  Winkeleumniensatz  folgt;  and  es  hiesse  ebensoweaig,  dass  die  gso- 
raetrisoben  Tbeoreme  aan  plötzlioh  phTSioIogiacbe  Datea  geworden  seien.  — 
Mein  QebartsacbeiD  ist  aicht  der  innere  Oruod  meines  Daseins  auf  der 
Welt;  Echtbeits-Dokameate  liefert  ans  die  Psychologie  für  die  Denknormen, 
keine  bgischen  Ursprünge! 

6)  In  den  logischen  Priniipien  wnneU  die  Möglichkeit  aller  Theorie; 
dafaer  können  sie  nicht  ihrerseila  dorch  eine  bestimmte  1%eorie,  i.  B.  die 
psychologiatische,  sich  beglaubigen  lassen.  Denn  setzen  wir  den  'Stil,  diese 
veraagte  die  gewänechte  Be^anbigang,  so  leugnete  sie  ja  damit  als  IHieorie 
ihre  eigene  H&gliohkeit.  I^irf  sie  aber  nicht  versagen,  so  steht  es  auch 
nicht  bei  ihr  lu  gowährea"). 

Wenn  ich,  was  der  Gegner  mir  selbst  einiilnmt"),  mittetet  der 
logischen  Begeln  über  dieselben  and  ihre  Begründong  nachdenken  darf. 
so  wird  auch  die  Fnndierang  der  Möglichkeit  aller  Theorie  mittelst  einer 
Theorie,  kaum  so  absurd  sein,  wie  es  zunächst  9oh«nt  —  Es  geht  nun  ein- 
mal in  der  Philosophie  nicht  so  rn,  dass  ans  wenigen  Priniipien  das  weitere 
mit  mathematischer  Strenge  folgte;  sondern  man  tastet  von  allen  Seiten  über- 
all hin  —  und  tastet  sioh  einander  entgegen.  Der  eine  versucht  sich  mit 
diesen,  der  andere  mit  jeneu  PrSmissen,  und  es  moss  sich  allmählich  heraos- 
stellen,  welche  davon  lÜe  notwendigen  und  allgemeingültigen  sind. 

Darum  brauchen  wir  nun  auch  Hirsam.s  Einwand  nioht  gar  tragisch 
za  nehmen.  Für  jede  Untersuchung,  t.  B.  auch  für  die  nach  der  Nator 
der  logischen  Forderungen,  fassen  wir  die  apriorischen  Werkxeoge,  die  wir 
in  uns  vorfinden,  zauHohst  unwillkürlich  und  naiv  in  die  Hände  and  arbeiten 
fKhIioh  damit  los.  Entdecken  wir  dann  mit  Hilfe  eben  dieser  Werkzeuge, 
dass  eines  derselben  nioht  recht  taugt,  so  werfen  wir's  weg  und  sohaf&n 
mit  den  anderen  weiter.  Wir  müssen  freilich  hinterher  dös  Produkt  dea 
verloren  gegebenen  Instramentes  seinerseits  verniohten  oder  umformen,  viel- 
iwsht  das  ganze  Werk  nen  binnen!  Es  giebt  viele  Hensnhen,  die  den 
Zweckgedanken  für  ein  unbedingtes  Postulat  halten;  nehmen  wir  an, 
ein  solcher  dichte  über  den  Ursprang  aller  Postulate  naoh  and  käme  durch 
ksDsale  wie  teleologische  Schlüsse  zum  Resultat:  es  sei  der  Begriff  des 
„Zwecke«*  ein  mehr  oder  weniger  willkürlich  koostruiertas  und  für  die 
Mehrzahl  der  Menschen  keine»w^s  zwingendes,  daneben  ein  dem  Erkennen 
wertloses  Gebilde:  —  was  hätte  der  Mann  nunmehr  zu  thun?  Er  wftrde 
augenscheinlich  die  Zweckidee  aus  seiner  Axiom entafel  streichen,  seiae 
eigenen  Bchldsse  ans  ihr  aufheben  und  mit  dem  Beste  seines  Gerätes  die 
Arbeit  von  neuem  anfangen.  Erkenntniskritik  und  Psychologie  waohaen 
Bchüeeslich  gemeinsam  empor;  man  winl  eich  darauf  verlassen  dürfen,  dass 
sie  mit  der  Zeit,  einträchtig  worfelnd,  die  togiscbe  Spreu  vom  lo^sohen 
Weilen  sondern  werden;  also  nochmals,  nicht  so  tragisch  thnnl  Das  Denken 
über  das  Denken  bleibt  ja  wohl  immer  eine  problematisobe  Sache,  das  geb' 
ich  zu;  aber  problematisch  ist  eben  manches  in  der  Philosophie! 


*^  Hdsskbl,  S.  110  ff.,  vgl.  t,  B.  aaoh  Fiom,  Logik,  8.  6i3. 
")  S.  67  f. 


iM,Coo<^lc 


Deber  die  Fandunente  der  formalen  Logik,  31 

7)  Der  t^^cbologiBiuDB  führt  auf  den  B^riff  einer  relativen  Wahr- 
heit. Dieser  aber  ist  widemnnig").  Hat  näinlich  „alle  Wahrheit  ihre  aoa- 
BohlieBslicfae  Quelle  in  der  aUgemeio  meDsohliohen  Konstitntion ,  so  gilt, 
daas  wenn  keine  aoloho  EonatitntioD  bestände,  auch  keioo  Wahrheit  be- 
stinde.  Die  IheeiB  dieser  hypothetischen  Beb aaptung  ist  wideraionifc;  denn 
der  Batz  „es  besteht  keine  Wahrheit"  ist  dein  Sinne  nach  gleichwertig  mit 
dem  Satse  „es  besteht  die  Wahrheit,  daas  keine  Wahrheit  beeteht".  Die 
Widerainnigkeit  der  Thesie  verlangt  eine  Widersinnwteit  der  HypothesiB, 
Als  Leognung  aaee  gnltigen  Satzee  von  tbatsttchlichem  Oehalt  kann  sie 
aber  wohl  blaoh,  niemals  aber  widerainnif;  sein"*'). 

-  „Alle  Kreter  lügen"  n.  s.  w.  —  ich  rieche  Scholastik!  Was  meinen 
wir  denn,  wenn  wir  sagen:  in  dem  und  dem  Falle  bestände  keine  Wahr- 
heät?  Doch  wohl  nioht:  „es  bestände  die  Wahrheit,  dass  keine  Wahr- 
heit bestSnde";  sondern:  „ee  besteht  die  Wahrheit,  dass  in  dem  Falle 
keine  Wahrheit  beulände".  Sie  besteht,  jetzt,  für  mioh,  der  die  er- 
forderliche HenschenkonstitntioD  besitzt  nnd  sich  (ör  einen  Augenblick  in 
jeoe  irreale  Möglichkeit  hinein  deokt.  Dia  gegenwärtige  Wahrheit,  dua 
ohne  Uiteilsf&higa  ein  urteil  und  also  eine  Wahrheit  nicht  znstaude  käme, 
wird  vom  Gegner  in  eine  hypothetische  Wahrheit  vom  Nichtznatande- 
konunen  irgend  einer  Wahrheit  nnter  gewissen  Voraossetzongen  verdreht. 
Mao  könnte  nach  Hosebrl's  Rezept  ebensogut  schhessen:  Wenn  kein 
Spreohender  existierte,  existierte  kein  Satz ;  eu  existierte  aber  dann  doch 
der  Satz,  dasa  kein  Satz  existierte  —  n.  a.  t 

Wenn  nneer  Logiker")  den  Begriff  der  Wahrheit  für  den  and  jenen 
wideisiDnig  nennt,  ao  hängt  das  eben  einzig  und  allein  an  seiner  Defi- 
nition von  Wahrheit  Ist  diese  ein  DiDgansicb,  so  ist  der  RelatiTismnB 
abeard;  wenn  nicht,  nicht  I 


Definitionen  sind  frei  wie  die  Vogel.  Wamm  sollte  man  nicht  die 
adiöiutea  Siebensachen  mit  dem  Worte  „Wahrheit"  taafen?  Fragt  man 
aber  den  alten  Pedanten,  den  Sprachgebrauch,  so  wird  er  antworten:  Wahr- 
heit sei  die  üebereiostinunang  einer  Aussage  mit  ihrem  Gegenstände. 
Deiu  „wahr"  nennt  man  nun  einmal  nicht  Dinge,  sondern  Sätze;  und  unter 
dem  sngehSrigen  SubstantiT  „Wahrheit"  kann  ich  nnmöglich  etwas  anderes 
veistehen  als  entweder  die  Bigensohaft  wahr  zu  sein,  oder  ein  einzelnes 
Wahres,  oder  die  Summe  alles  Wahrenj  also  steckt  alle  Wahrheit  trotz 
HuaaxaL')  im  urteil,  wie  auch  bisher  allgemein  angenommen  wurde.  E^ 
die  Anffaasnng  ihres  Weaens  kommt  mithin  unsere  Wahl  unter  den  Urteils- 
theorien  in  Betradit. 

leb  kenne  deren  vier; 

1)  Jedes  urteil  subsumiert  ein  Gegebenes  unter  einen  Begriff*). 
Dieee  Ansicht  muss  mit  den  gewöhnlichsten  Aossagea  die  tollsten  Ver- 
renkong«!  Toinehmen,  am  sie  in  ihr  enges  Bett  zu  quetschen.     .Da  läuft 


*•}  HnsaKBL,  S.  117. 

")  B.  119,  Tgl.  noch  BoLZANo,  Wiasenachaftslehre  f,  8.  145,   197  f.; 

um,  die  Omndprobleme  der  Logik  (1883),   S.  88;    Uphüis,  Eint,  in 
d.  mod.  Logik,  8,  6. 

'*)  a  117. 
*)  8.  182. 

*)  Dies  im  Qnmde  HamLnN's  Doktrin,  vgl.  auch  z.  B.  Natorf  in 
Pha.  Monh.  27. 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


32  Dn  Jalins  Sohults: 

ein  Reh!"  soll  vermutlich  bedeuten:  „dieses  Reh  ist  ein  lanfendes  Wesen"; 
oder:  .„dieeas  Lanfende  ist  ein  Reh"?  Ich  frage  den  eisten  besten  Un- 
befangenen, ob  er  de^leichen  wirklich  mit  einer  solchen  Anssaga  meine,  oihI 
hoffe  zn  Octt,  dass  er  mir  ins  Gesicht  laoht.  Fnr  die  üblichen  BeiBpietositx« 
der  Schiillogik:  ,Gi)ld  ist  gelb"  nnd  Shnüohe  an  bestreitbare  Albernheiten 
mag  die  Theorie  passen'). 

2)  Das  Urteil  ist  eine  durch  Bejahung  ohuakteriaierte  Vorstetlnng 
oder  "WahniehmQng;  der  „Olanben'  zeichnet  es  vor  der  eintirohen  Perzeption  . 
ans*).  Diese  Ueinung  hat  Wilhelm  Jrhcsaliii  so  gründlich  wideri^'}, 
doss  ich  mich  einfach  anf  seine  Aosführungen  berufe. 

3)  Das  erteil  ist  eine  Fonnnng  des  Weltiithalts.  Wir  fassen  unsere 
Empfindangskamplexe  nach  Analogie  unseres  Ich  als  dauernde  und  wirkende 
SnMtanzen ;  ihre  wechselnden  Attribute  and  Thfttigkeiten  sagen  wir  alsdann 
von  ihnen  ans;  and  eben  dieses  unserer  Psyche  naturnotwendigs  Spielen 
mit  dem  Phänomen  ist  die  eigentliche  Urteilsfanktion.  die  sich  aach  ohne 
Sprache  ftoasert,  besonders  deutlich  aber  im  Satze  hcrvoTtritL  —  Wann 
SiQWAttT*),  HSffdino')  u.  a.  im  urteil  eine  Synthese,  WmiDT*)  eine  Ana- 
lyse, Jodl')  KUf^ch  eine  Analyse  und  eine  Synthese  sieht,  so  meinen 
sie  wohl  alle  mehr  oder  weniger  dieses  Selbe;  die  Oegenüberstellung  und 
zugleich  Trennung  und  Zusammenpackung  tou  Subjekt  und  Prädikat  ist 
ihnen  der  Sem  jedes  Satzes!  nur  dass  der  eine  das  Trennen,  der  andere 
das  Vereinigen  schärfer  empSndet  nnd  betont.  Am  sohönaten  und  klarsten 
ei^rtert  Jebuslikn")  die  Sache. 

Bioher  ist,  dass  wir  die  Welt  gamicht  anders  als  subatanzial- kausal 
begreifen  kennen;  sicher  ist  femer,  dass  jede  entwickeltere  Sprache  in  den 
E^egorien  der  Substanz  und  des  Wirkens  lebt;  sicher  endlich,  dass  weit- 
aoB  die  meisten  lebendigen  Behauptungen  als  PiMikationen  von  Subjekten 
auftreten.    Fraglich  ist  nur,  ob  alle  das  thun. 

Wenn  ein  Kind  beim  Anhliok  eines  Schafes  „bäh"  ansraft,  so  fühlt 
es  schwerlich  das  Tier  als  Substanz  und  prädiziert  dessen  Existenz;  sondern 
die  intetessaate  Wahrnehmung  lockt  einfach  durch  Assoiiaticn  das  Wort- 
bild herbei;  so  aber  möchte  es  do<]h  vielleicht  allgemeiner  in  jener  Unwt 
zugegangen  sein,  als  die  Sprachen  noch  aus  Wunela  bestanden.  Ich 
glaube  nicht  recht  an  die  beliebte  These,  dass  schon  im  Ausapreohen  einer 
Wurzel  Sul^ekt  und  Prädikat  psychologisch  gesteckt  haben  müsaten;  die  zu- 
nehmende Substanzialisierung  nnd  Verursächlichung  der  Phänomene  erschuf 
ja  eben  die  Scheidung  von  Verb  und  Hauptwort  und  die  Flexion,  Solita 
nicht  der  primitive  Mensch  einfach  seine  Eindrücke  mit  Lauten  begleitet 
haben  ~  ganz  wie  wir  es  bei  jenem  Kinde  annahmen?  Mindestens  ist  die 
Entstehung  der  Sprache   und  ihre  Entwiokelung  aus  dem  Wurzelzustande 


')  Üebrigens  kann  ich  mich  anf  die  Kritik  Mills  gegenüber  Hamilton 
bemfen:  „An  examinaticn  oF  H's  philosopby"  S.  346  ff. 

')  HiLi,,  Syst  of  Logic  I,  S.  116,  BasHTANO,  Psych,  von  emp.  Stdp. 
I  (1873),  S.  266  ff.,  290.  Lippb,  Qrundthatt.  des  Ssetenl.  (1883).  S.  394  ff. 
etc.  Eine  barocke  Wendung  in  ähnlichem  Sinn  bei  Wahli,  Das  Qanze  der 
Philosophie  u.  ihi  Ende,  (1894),  S.  384-388. 

»)  „Die  Urtailsfunktion-,  (1895),  S.  66  ff,,  183. 

•)  Log.  T,  68ff. 

'•)  Psych,  i.  Umr..  S.  241 

•)  Log.  I,  1.  A.,  S.  136  ff. 

•)  Lehrb.  d.  Psych-,  1.  Aufl   S.  616, 

'•)  S.  76ff. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


üeber  die  Fundamente  der  fonn&leii  Logik.  33 

ZOT  AgglntinatioQ  and  dann  cur  Beogniig  auf  diesem  Wege  am  bequemsten 
EU  I)^raifen.  und  noch  wir  eiieben  Aehnliches.  loh  gehe  dnrch  einen 
dunklan  Oang,  sehe  in  der  Ferne  einen  Schein  und  rnlu:  ,Uoht' I  loh 
eage  aber  diunit  eigeatlioh  niobt,  dasg  ich  Licht  sfibe,  oder  dasa  jene« 
Ucht  existiere;  weniftsteua  blanche  ich  daa  nicht  zn  meinen;  sondern  idi 
hefte  unter  ÜmBt&nden  nur  ein  lAutaymbol  an  eine  Empflndong.  Die 
Dichteteprache  aller  Volker  ist  reioh  au  Fügnngen,  die  dergleichen  nnper- 
Bönliche,  anbetanilose  Oefuhlsschatten  dnioh  unsere  Seelen  ziehen  lassen  — 
,Lnft  im  Laub,  und  Wind  im  Bohrl" 
Oani  allgemein  fallen  blosse  Carstelinngen  psychologiaoheT  Zustände 
unter  diese  Beeohreibnng,  nnd  weiterhin  entschieden  die  Impersonalien. 
Jeffusalem  hat")  die  Ansfübrongen  Martysi*)  Qber  letztere  geschickt  kritisiert, 
soweit  dieaelben  Bhcmtahos  Urteils tbeoiie  stützen  sollte d. 
EzjstsDÖalsItze  sind  sie  in  der  That  nicht,  and  eine  zur  Torstallong  binin- 
trstsnde  Baiabnng  macht  ihr  Wesen  nicht  sus.  Aber  andrerseits  —  zwei 
Glieder  findet  man  im  impersonalen  Satze  wiiklioh  nur,  wenn  man  sie 
ktampthaft  snoht  —  oder  wenn  man  die  grammatiBchQ  Form  auf  Kosten  des 
logischen  Inhalte  nbersohätzt  ^Ea  regnet"  —  das  sollte  ein  Benennungs- 
■  rteil  Bein")?  identisch  mit  dem  Satze:  „das  ist  Hegen?"  Und  es  wäre 
die  Eischeinnng  selber  Sntijekt,  eine  atigemein  bekannte  Votstellnng  Pridi- 
dikat?  Wenn  ich  aber  meiner  Fran  ana  der  Zeitung  vorloser  „es  regnet 
in  Genua?"  wie  dann?  Nein,  in  diesem  Pankte  behält  Hirtt  gegen  Biewisr 
gUntend  recht!  —  Oder  hestünde  dan  Subjekt  gar  in  einem  hinzugedachten 
„Hier"*)?  Ein  noch  seltsamerer  Eäufalll  Fühlt  denn  irgend  jemand  beim 
Impenonale  die  räumliche  Umgebung  stärker  oder  andersartig  mit  als  bei 
einer  beliebigen  Aussage?  Wie  soll  die  adverbiale  Bestimmung  nun  auf 
«nmal  Solijektahinktioneii  ubemehmenT  Ja,  wenn  es  heisst;  „mss  Vogel 
oder  stirb' I"  -~-  sonst  nie  und  nimmer.  Betrachten  wir'e  mhig,  BO  laaseu 
wir  l)ei  den  Urteilen:  .es  ist  kalt"  oder  .es  schneit"  einfach  einen  Empfind- 
ongskomplez  von  assoziierten  Lauten  begleiten  —  weiter  ist  da  nichts  sa 
enhlecken.  —  Ebenso  nun  fasse  ioh  wenigstens  einen  Teil  der  .Existenzial' 
stttse"  auf").  Zwar  eine  Behauptnng  wie:  ,Qott  eristiert"  ist  gewiss  zwei- 
gliedrig; sie  besagt,  daaa  Oott  nicht  ein  blosser  Begriff  sei,  sondern  ichhaften 
Wesens  iteniease");  also  arbeitet  hier  Jemsalems  echte  .Urteilsfunktion", 
Wenn  ich  aber  etwa  im  Frühling  ausrufe:  .da  ist  ja  schon  ein  VeilaheDJ" 
—  so  snbetanzialisiere  ich  nicht  weiter,  sondern  ioh  verbinde  bloss  eine 
Wahrnehmung  mit  den  zugehörigen  Worten. 

Die  dritte  Theorie  mnss  also  erweitert  werden;  und  wir  aoospfieren : 

41  Aussage  ist  die  Begleitung   eines  Wahrgenommenen   oder  Voi^- 

staHten  durch  daran  gebundene  Worte*^.    Da  wir  die  Welt  nur  snbstanzial 

und  kansal  begreifen  kSnnen,  so  mnss  notwendig  der   weitaas   grosate  Teil 

aller  Behauptungen  die  Kategorien  der  Substanz  nnd  Wirkung  zeigen ;  darum 


")  8.  120  ff. 

")  Diese  Ztsdi.  1884,  8.  161  ff. 

**)  Siowun-,  Logik  I,  8.  77—79 ;  UanrY,  in  dieser  Zisch.  1884,  S.  87 ; 
Jemaalem.  8.  I2b  f. 

'*)  Jerusalem,  8.  126. 

'*)  Auf  welche  Bbehiaho  seine  Theorie  gründet,  vgl.  „Ps.  v.  e.  8t." 
I,  8.  276  ff. 

'*)  Vgl.  Jerusalem,  8.  67  f. 

")  Vgl.  fi.  EBDxaHN,  Logik  I  (1892),  8.  198  ff.;  daneben  freilich 
8.  1871 

VMtMqitoMlittt  t  HbMOCduM.  PUlu  n.  SoeloL    ZXVIL  I.  3 

rmn-ii-.-i  Google 


34  ^t-  'nlina  Solmlts: 

paHt  die  ZweigUedrigkeitstheorie  anf  dio  mostan  Urteile  vortreSlioh.  IMa 
MenBohheit  aber  maobte  (wie  die  Kindheit)  Feiioden  intfät,  in  denen  jenaa 
■zioniatiflohe  Sotema  Bioh  erat  entwickelte;  und  jeder  Ton  ans  hat  Augen- 
blieke,  in  denen  es  sohlift  oder  doch  ermattet  Will  man  nun  die  qinah« 
liehen  Produkte  ancti  dieser  Momente  und  Btnfen  prtidikatiT  gUedem,  «r 
veidreht  man  den  psfohologisohen  Thatbeatand  in  Onuaten  einer  Hfpotheaa. 
Die  sohliditere  Bwleitongetbaorie  dagegen  wird  «Uen  möglichen  nUen  ge- 
recht  Vtelleioht  findet  jemand,  ich  wiederholte  eigentUoh  nor  ArgnmMte, 
mit  denen  a.  S.  Bbkntaiio  aohon  operiert  habe;  nnd  wundert  Bi<di,  dass  ioh 
sc^eaalioh  die  Ansitdit  2)  verwerfe,  die  ehedem  bo  geeohickt  aoa  Jonen  B»- 
weiagründen  auferbant  war.  Der  Funkt  aber,  wo  iah  B.  (um  mich  an  diesaa 
SU  halten)  entg^entrete,  ist  folgender:  B.  hält  für  aoagemaohf*),  ,daaB  dec 
CnteiBdiied  iwiaohen  TorateUen  and  Urtnlen  ein  innerer  UnterscJiied  des 
ansn  Denkens  vom  anderen  aein  moss*' ;  und  da  er  nun  die  Meinung  8) 
genau  atu  denaelben  Ornnden  wie  ich  für  schief  erachtet,  ao  bmimt  er  M 
aeiaer  Olanbenstheorie,  deren  Irrwege  dann  ihrerseitB  die  Verfeohtei  der 
>Zweigliediigk«t"  dentlioh  naohzuweiBen  varmoohten.  Daaa  die  AaaonatioD 
eines  Bewnwtselnsinhalts  mit  Worten  (oder  gleinhirertigen  Bymbdaa)  die 
VorBtallung  tarn  Urteil  erheben  kenne:  diesen  Gedanken  streift  B.  gar  luoht; 
nnd  der  aUnn  bereit  uns  nun  von  jeder  Sohwieiigkeit 

Folgende  Ein^bide  liessen  sioti  gegen  die  Begleitungstheorie  erheben: 
IJ  Die  eingliedrigen  Phraaen,  um  derentwillen  die  Theoria  8)  ver- 
lassen wnrde,  sind  Ausrufe  oder  was  sonat,  aber  keine  Urteile.  —  loh  ant- 
worte: Definitionsssohe!  Jedenfalla  haben  sie  aar  Wahrheit  dieselbe  Be- 
ziehung wie  echte  Urteile,  und  ich  nenne  sie  datier  an  meinem  gegsa- 
wirtigen  Zwede  so,  ohne  anderen  Beaeiobnaagen  vorgreifen  eq  wolleo. 

2)  Naoh  una  mttaste  jeder  Wortkomplex,  s.  B.  „grüner  Bohnes*  etc. 
ein  Urteil  sein. 

Antwort:  Dass  Wahmehanngun  oder  Tcrstellangen  vorhanden 
sind,  an  die  aseoiiierte  Wörter  aich  aohlieseen,  war  uns  Bedingung  fftr's 
Znatandekommea  eines  Urteils.  Ein  „ainnloaea"  Hersagen  von  Lauten  er- 
giebt  also  freilich  keine  Behauptung.  .loh  stelle  mir  soeben  grünen  Sohnes 
vor"  —  ist  zweifellos  eine  Aussage;  bedeutet  der  Ruf:  „p^er  Sohneel" 
angenhr  dies  (mit  geriugerer  Hervorhebung  meines  loli),  so  ist  er  ein 
Urteil  im  weiteren  Binne,  ist  er  ein  blosses  Wottgeklingel,  dann  be- 
lieb nicht 

3)  Kann  denn  unter  Umstanden  auch  ein  einzelnes  Hauptwort  eine 
Aussage  sein?  —  Wenn  es  einen  Zustand  unserer  Seele  oder  eine  Wahr- 
nehmang  abbildet,  warum  nicht?  Man  sieht  einen  Bauch  aufsteigen  und 
ruft:  „Feuer!"  Das  kann  richtig  oder  falsch  sein.  Jemand  verzieht  sein 
Gesicht  und  sagt:  „Zahnweh  I"  —  Er  kann  lägen  oder  die  Wahrheit  sprechen. 
Und  lansohe  ich  in  eine  Traumwelt  hinein  und  ftüstere:  »Olookeal*'  oder: 
aOletscherl"  —  ao  beschreibe  ich  allerdings  psychische  Torginge  und  kann 
dabei,  wenn  ich  z.  B.  schauspielere,  unwahr  werden.  Die  logu^n  Kenn- 
zeichsD  des  Batces  sind  also  da. 

4)  Es  giebt  aber  Ueberg&nge  zwiaoben  dergleichen  Eiklamationen 
nnd  sinnentblösstem  Qestammel.  —  Gewiss,  vor  dem  Eingeetftndnisse,  dass 
alles  in  alles  i^endwo  äbe^eht,  scheuen  wir  Fsyuhologisteo  uns  überhaupt 
nicht;  das  ist  nur  den  Absolntisten  fatal. 


)  BnaxTUio,  Op.  cit  (Amn.  4),  S.  270,  295. 

n,g,t,7l.dM,GOOglC 


neber  die  Fnndkmente  der  formalen  I/tgik.  85 

6)  Aach  PoetnUte  and  DeSoitioiieii   siad  8Uz«  nod  als  solohe  den 
■gen  verwandt;  hier  wtre  mitbin  «an  Uebe^aog  erwfloBoht  —  nod 
eeheint  nach  nnserer  Theorie  in  fehlen. 

loh  antworte:  Der  Zweigliedrigkeitstheorie  fehlt  er  ebenso  gvt  Tir 
wSiden  folgendermasBen  erlAntern:  ünaere  Forderangen  nnd  Begiübbe- 
ttiminiuigei)  TerUeidea  rioh  formetl  als  Aussagen  Aber  ein  Wah^eDon- 
menee  oder  Vorgeetelltea.  In  der  DefinitioD  wird  der  Bwrift  ale  Babetu» 
kaetSmiert,  und  was  in  Wirklidikeit  eine  willküiiicbe  BedeDtnngslimitatioa 
iüL  ersobeint  wie  eine  —  grammatiBohe — Behaupttug.  Das Poatnlat tritt 
entweder  als  {«yohologische  Behaoptnng  auf,  oder  man  denkt  es  sich  erfftUt 
nnd  beechreibi  ee  nnn  wie  eise  niataache. 

6)  fib  giebt  aoch  gedachte,  wortloie  ürteUe.  —  A.ber  doch  wohl 
nur  ala  abgebleichte  Nebenformen  der  lasten.  Dasa  .Denken'  ein  ainner' 
ücdiea  Sprechen  *  sei,  ist  gewiss  falsch;  der  MatheinBtiker,  der  in  einer  Pigni 
gMohe  Dreiecke  aotBnoht,  .denkt"  ancb;  das  stUlsohweigende  urteil  aber 
ist  iweifellaa  stamme  Bede.  —  Der  Oeberdenspraohe  passt  uoh  onsare 
Iheorie  besser  an  als  alle  anderen.  Der  .Sata  an  sioh"  Bolumos  kommt 
—  ale  bloeee  HSgliohkait  eines  Urteils  —  hier  nicht  in  Frage. 

7)  Wlre  die  UrteilefonktiDa  mit  nnaarer  sabstaniialiBierenden  IhUg- 
krit  identiBch,  so  qaölle  sie  notwendig  ans  den  Tiefee  anserer  Natar.  Unsere 
Wahmahmangen  and  Vorstellnngen  aber  mit  Worten  zo  beglsiteD ;  was 
bvibt  nns  daza? 

Hier  steigen  wir  in's  Zentrum  aneeree  Problems. 

Wir  wollen,  wenn  wir  aaesagen,  andere  auf  „ansere" 
innere  oder  äussere  Wirklichkeit  aufmerksam  machen.  (Unter 
UmstindeD  nehmen  wir  selber  die  Holle  des  .Anderen'!  wir  spalten  uns; 
MMioioge  Ennd  aoch  Unterredungen). 

Wie  geschieht  das?  Wir  heften  an  den  interessanten  Weltfetzen 
gewisse  lAute;  in  der  Seele  des  Oenosnen  reproduzieren  diese  die  zuge- 
hörigen Bilder  and  ähneln  so  dessen  psychischen  Zustand  dem  unsrigen  an. 
Also  ohne  Qemeinsohaft  kein  tfrteil. 

und  hier  enispritigt  der  natürliche  Begriff  der  Wahrheit  Wenn  die 
durah  meine  Aussage  beim  Terstah enden  EmpfilDgererteagtenToistelluDgen mit 
meiner  Wahrnehmung,  also  dem,  waa  ioh  für  gewOhnlloh  „WirkJiohkait* 
nenne,  soweit  übereinstimmen,  wie  man  dies  von  Voistellangen  überhaapt 
Temfioftigerweise  verlangen  darf,  so  ist  mein  Satz  „wahr".  Und  das  Kn- 
terinm  deseen  ergiebt  siäi  ganz  einfach,  der  Hörer  wird  sein  Bild  mit  d«D 
Augenschein  vergleicben.  Mögticberweise  mnss  er  noch  Denkoperationen 
vornehmen,  am  vom  Aogensobein  zu  seiner  Wahrheit  za  gelangen;  sind 
hierbei  B«ne  von  den  allgemein  mensobliohen  EimfunktioDen  abhängigen 
Bdititte  mit  den  vorgesohrieboDeu  in  Uebereinstimmang  zu  bringen,  so 
wird  abermals  der  Satz  ihn  „fiberzengen*.  Wir  sprechen  dann  von  mittel- 
faanr  Wahrheit.  Sie  mnss  in  ietztar  Linie  auf  unmittelbarer  beruhen. 
Andere  Wahrbeitsproben  giebt  es  nicht  als  zaschanen  and  mitdenken  and 
dabei  beständig  die  in  uns  erweckten  VorBtsllangen  mit  dem  Besaitet  des 
ZoschanenB  und  Hitdenkens  vergleicben. 

E^  absoluter  Einsiedler  würde  nie  Veranlassang  finden,  Wahmehm- 
ongsnrteile  za  Allen,  wohl  aber  könnte  er  im  Selbetgespräcbe  indnzieren 
ond  seine  Induktionen  sjdlter  durch  die  Bealität  beetätigt  oder  widerleg 
sehen;  es  gäbe  daher  fir  ihn  nur  mittelbare  Wahrheiten.  —  Ist  nun  die 
Wahrheit  —  so  gnt  wie  die  Sprache   selber  ~  ein   soziales,    nicht  ein 


iM,Coo<^lc 


36  Df'  Jalius  Sobnlts: 

iDdividoeÜea  Gut"),  so  verliert  Upsdn'  Frage"')  ihren  eigeDtlioheii  Ornnd, 
woiQ  dooh  die  .Wiiiliehkeit"  DoohmalB  abgespiegelt  ta  werden  brsaotia. 
Eine  aHtOssige"  Wiederholung  des  Bsalen  liegt  natürlich  da  nicht  voi,  wo 
ein  Uensoh.irn  anderen  seiueu  eigenen  Eindrücken  ein  Echo  geben  möchte, 
und  ee  bemhen  non  nicht  nnr  die  lebendigen  Urteile  &nf  dem  Verkehre 
der  Henaohen  nnteraintuider,  sondern  anoli  die  „Satee  an  sich*.  Das  Fall- 
gesetz TOT  Oalilei  war  eine  SatzmSgÜohlEeit;  und  zwar  deswegen,  weil 
Bohon  Adam  es  hätte  Terifiiieren  müssen,  wenn  man  es  ihm  Schritt  für 
Schritt  bKtte  vordemonstrieren  k<^nnaD. 

Ist  nun  aber  das  Kenniaichen  ^er  Wahrheit  teils  der  lugensohün, 
teils  die  NöÜgnug,  jeden  der  Schlüsse  nachzudenken,  die  von  der  PerEep- 
tion  auf  ein  Ailgemeinnrteil  geleitet  haben:  so  muss  alle  Wahrheit  ron  d«r 
^nrichtnng  unseret  Sinne  und  unseres  Oebimee  abhängen.  Das  Farben- 
urteil  eines  Rotblinden  und  den  Lehrsatz,  die  Dreieckswinkel  betrügen  über 
zwei  Rechte,  halten  wir  für  falsch,  weil  wir  mehr  Farben  als  jener  sehen 
nad  den  Euklid  im  Leibe  tragen,  und  weil  wir  also  unfähig  sind,  die  beiden 
Behauptungen  nachzuerleben.  Unterschiede  kein  Mensch  ausser  mir  grün 
und  rot  und  wären  sie  alle  Psendospb&riker,  so  würden  meine  abweiobendan 
Aussagen  IntOmer  sein;  denn  das  Xndividnnm  vermag  niohte  wider  di« 
Oattnng.  In  der  ganzen  empirischen  Welt  wenigstens  kann  es  nach 
nnserer  Definition  der  W^rheit  und  ihres  Kriteriums  nur  relative  Wahr- 
heiten geben.  Wenn  Busbsi'L  «die  Rede  von  einer  Wahrheit  für  den  oixi 
jenen"  , widersinnig"  n«int"):  so  scheint  es  fast,  als  dürften  wir  ihm  den 
Sal3  mit  besserem  Iteohte  umdrehen. 

XI. 
Nor  ein  Ausweg  bleibt  dem  „Absolutisten";  nur  ein 
einziger,  letzter;  er  kann  das  Vorbaodensein  einer  nn- 
bedingten  Wahrheit  als  Axiom  postulieren;  und  da- 
mit Überspringt  er  daon  eben  die  Schranken  der  Erfahrungs- 
welt. „Wir  nehmen  an,  dass  wir  die  Wahrheit  erkennen 
können"*)  sagt  Uphobs.  .Die"  Wahrheit,  d.  h.  die  abso- 
lute. Wohin  aber  fQhrt  diese  Annahme?  Entweder  zum 
nalT-unkriÜschen  Einderstandpunkte:  wir  sähen  die  Objekte 
genau,  wie  sie  an  sich  sindl  —  Oder  —  die  Wahrheit 
selber  wird  Objekt  des  Erkennens^);  genauer  gesagt: 
ausser  dem,  was  wir  im  landläufigen  Sinne  „Wahrheit" 
nannten,  der  tJebereinstimmung  nämlich  eines  Satzes  mit  einer 
„Wirklichkeit",  giebt  es  noch  eine  Extrawahrheit  —  Hubbbbl 

")  Tgl.  Bäbl,  Der  phil.  Krit  II  2  (1887),  S.  64. 
")S.  6 
■')  8.  117. 

>)  Einf.  in  d.  med.  Log.  I,  8.  2. 

*)ib. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


üeber  die  FoDdameiite  der  formaleii  Logik.  37 

nennt  sie  die  „ideale"^  —  die  mit  „Wirklichkeiten"  nichts 
ZQ  thnn  hat  und,  indem  sie  ohne  subjektive  TrUbong  dem 
Bewnastaein  sich  aufdrängt,  ein  theoretisches  Wissen  ermög- 
licht, dessen  G^egenstand  sie  selber  ist  —  denn  auf  Gegen- 
st&nde  moss  ja  wohl  alle  Theorie  gehn  I  —  Das  sieht  im 
Grande  Hcbsebl  selber  ein,  aber  er  siebt  nicht,  dass  damit 
die  formale  Logik  notwendig  zur  Ontologie  wird. 
Denn  ist  die  Wahrheit  absolnt,  d.  h.  ftir  jedes  denkbare 
Denkwesen  die  eine  und  gleiche,  so  mnss  sie  ein  von  nnsrer 
Organisation  anabhängiges  Dasein  fuhren,  masB  Sabsfaoz 
sein;  und  sollen  wir  sie  erkennen,  so  muss  sie  zugleich  in- 
teUigibel  werden.  Intelligible  Substanz  aber  ist  „Idee"  in 
Plato's  Sinne*).  Auf  eine  idealistische  Metaphysik  läuft  mit- 
bin Hussbbl's  Erkenntnistheorie  hinaus;  und  ich  halte  es 
für  ein  nicht  geringes  Verdienst  des  feinsinnigen  Denkers 
Uphuss,  das  in  seiner  jüngsten  Schrift  folgerichtig  und  klar 
gezeigt  zu  haben. 

Die  theoretische  Zukunftlogik  Hüssesl's  ist  eine  Seifen- 
blase; die  psychologistische  BegrUndung  der  Denklehre  hält 
sieb  gegen  alle  Einwände:  das  hab'  ich  hoffentlich  bewiesen. 
Aber  der  Relativismus  befriedigt  nicht  jeden;  es  giebt  Na- 
turen, die  es  unheimlich  finden,  im  Subjektiven  zu  schwimmen; 
sie  woUen  irgendwo  den  Bodengrund  des  Unbedingten. 
HOgea  sie  denn  immerhin  mit  unsrem  neaesten  Platoniker 
die  absolute  Wahrheit  fordern;  er  wird  sie  von  seinem  An- 
fangssatze aus  sicher  führen  and  ihnen  schöne  Gefilde  zeigen; 
nor,  dass  sie  diesen  Anfangssatz  aus  ihrem  Bedürfnis  und 
Wollen  heraus,  willkürlich  also,  gesetzt  haben,  dessen  müssen 
sie  während  der  ganzen  Untersuchung  eingedenk  bleiben; 
mit  dem  kritisob-theoreüscben  Unterbau,  den  ihnen  Bvbbkrl 
geliefert,  war  es  nichts. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Ueber  die  zeitlichen  Eigenschaften  der  Sinnes- 
wahrnehmnng. 

Von  Bob«rt  MBUer,  QieHsen. 


WIhnnd  ia  Phjdker  dia  & 


1  betdm  FUltn  denellM  M. 
kU  ,«o<U1t«'  UDd  „nlnUVs'  koftntsii  kian. 

_  _—    .. „ D  dm  ZUrptt  der  maagflndoi  Penon,  und 

an,  gtknnpft.  —  Dia  W*Iini«timnnt*UM>(e  lim  ikb  *l)  „nliw  Er- 
g  maSUHn  —  der  B«(rlff  der  SlmuaftmUloii  wird  ■(-  " — ' — 


Im  Sominer  1698  wurde  im  Institut  für  experimeDtelle  Psyohologie 
za  Leipzig  eine  Untersuohimg  „über  den  ümfaiig  des  Bewoaetaeins"  be- 
pmneD;  ee  eeigte  aiob  im  Verlauf  der  Arbeit,  daäs  der  Oegenetand  dieser 
Frage  ttvh  innigste  verknüpft  sei  mit  deo  zeitlichen  Verhäitnisseii  von 
8iniie8wahmehmnrig  and  Vorstellung  überhaupt,  und  daaa  es  notwendig  sei, 
Eimichat  dieae  zum  Objekt  der  Unterancbnng  zu  maohen.  Von  Winter 
1S8B  bia  Oatem  1901  beschäftigten  wir,  Dr.  Hoebivb  und  Verf.,  ans  gemein- 
Bsm  experimentell  mit  dieser  Aufgabe,  und  ea  ergab  sieb,  dass  die  hierher- 
gehCrigen  Fragen  von  einer  grundlegendeu  Bedeutong  seien,  nicht  nur  für 
die  experimentelle  Psychologie,  sondern  auch  für  die  Würdigung  der  er- 
kenntniatheoretischen  Fragen  der  Binneephysiologie.  Das  folgende  ist  der 
ente  Abaohnitt  aus  einer  jetzt  abgeschlwiaenen  nmfangreiohen  Untersnohang 
über  den  .Zeitsinn"  und  es  soll  hier  versucht  werden,  die  Problemstellung, 
zu  der  wir  soblieeelich  gelangten,  darzulegen. 

I. 

Änsgangspankt  des  folgenden  ist  eine  specielle  Frage 
aaa  der  Physiologie  der  Sinne,  welche  nämlich  die  Vorgänge 
aeien,  wenn  eine  sinnliche  Wahrnehmung  einer  Abfolge  kurz 
daaemder  QehtlrsemdrUcke  statt^ndet  und  wenn  wir  über 
diese  Wahrnehmung  aussagen;  diese  Aufgabe  scheint  eine 
«hr  einfache   zo  sein.     Der  Verlauf  eines  solchen  Wahr- 


iM,Coo<^lc 


40  Bobatt  Müller: 

DehmungSYorganges  ist  uns  gegeben  beim  Hinhören  auf  die 
Schläge  eines  beliebigen  Pendels,  das  entweder  an  einen 
schallenden  Körper  leicht  anschlägt,  oder  durch  irgend  eine 
mechanische  Vorriditung,  mit  der  es  verknüpft  ist,  einen 
Sehall  hervorruft. 

Diese  Schalleindrtlcke  von  kurzer  Dauer  sind  durch 
Zwischenpausen  von  einander  getrennt;  und  über  diese 
Pausen  können  wir  aussagen  ob  sie  gleich  seien  oder  nicht; 
dass  wir  dabei  falsch  oder  richtig  aussagen  können,  mag  zu- 
nächst unerörtert  bleiben,  uns  gentigt  es,  dass  wir  im  gege- 
benen Falle  wohl  dazu  kommen  würden,  eine  Aussage  über 
die  Gleichheit  oder  auch  Ungleichheit  der  Pausen  zu  machen. 
Die  Beobachtung,  auf  der  die  Aussage  beruht,  machen  wir 
im  vorliegenden  Falle  mit  dem  Qehörsapparat,  sie  sind 
SinneswalimehmuQgen  des  Gehörs  und  die  Aussage  ist  ganz 
allgemein  eine  Sinnesaussage.  Die  G-ehÖrswahmehmung  ist 
im  vorliegenden  Falle  die  entscheidende  Instanz  fUr  die  Aus- 
sage über  die  Gleichheit  oder  Ungleichheit  der  Pausen,  also 
der  Zeitteilung,  wie  sie  durch  die  Schwingungen  des  Pendels 
gegeben  ist. 

Für  den  Physiker  dient  die  Bewegung  des  Pendels  als 
Zeitmass;  sie  wird  daher  fOr  Ihn  zu  einem  höchst  wichtigen 
Vorgang,  auf  Grund  dessen  es  ihm  möglich  ist,  die  Vorzüge 
der  Aussenwelt  in  einen  durchgängigen  Zusammenhang  zu 
bringen  und  in  ihren  zahlenmässigen,  qantitativen  Verhält- 
nissen, in  dem  die  Zeit  selbst  als  numerisch  bestimmbares 
Quantum  behandelt  wird,  zu  untersuchen.  Wir  oehmea  zum 
Ausgangspunkt  dieselbe  Erscheinung  der  Zeitdauer  der  Pendel- 
schwingungen, werden  aber  versuchen,  dieselben  von  einem 
anderen  Gesichtspunkte  aus  zu  betrachten. 

Der  Physiker  kommt  durch  seine  Beobachtungen  und 
Ueberlegungen  zu  dem  Ergebnis,  dass  die  Bewegungen  des 
Pendels  durch  die  Constanz  und  leichte  Uebersehbarkeit 
ihrer  zeitlichen  Verhältnisse  in  vollkommener  Weise  geeignet 
sind,  zur  Beobachtung  und  Darstellung  der  zeitlichen  Ver- 
hältnisse der  Vorgänge  unserer  Umgebung  zu  dienen,  und 


iM,Coo<^]c 


Ueber  dia  EeitHohen  Efgeusohoften  der  SiDneswobniehmiiDg.        41 

er  gelangt  so  zu  einem  unirersalen,  in  einena  äusseren  Vor- 
gänge gegebenen  Zeitmasse.  Wir  beobachten  denselben  Vor- 
gang, 'Wir  nehmen  dieselben  äasseren  Erscheinangen,  wie  der 
Physiker,  wahr,  onsere  Ueberlegungen  gehen  aber  nicht  auf 
die  Ermittelang  von  Zusammenhängen  in  unserer  Umgebung, 
sondern  anf  das  aussagende  Individuum,  indem  wir  in  letzter 
Linie  fragen:  woher  kommt  für  uns  die  Möglichkeit,  über 
die  zeitlichen  Verhältnisse  von  Sinneswahmehmungen  aus- 
zusagen,  zeitJiche  Verhältnisse,  wie  sie  etwa  bei  der  Wahr- 
nehmung der  Pendelschwingungen  gegeben  sind?  Wir  beob- 
achten genau  dasselbe,  wir  sehen  oder  hQren  um  nichts  mehr 
oder  weniger  als  der  Physiker;  unsere  Beobachtung  bezieht 
sieb  auf  einen  Vorgang  in  unserer  Umgebung  und  die  Aus- 
sage, der  Zeitabstaod  zweier  gehörter  Schläge  ist  gleich 
gross,  oder  die  Zeitdauer  zweier  aufeinander  folgender  Schwin- 
gungen ist  gleich,  hat  in  allen  ihren  Bestandteilen  die  Wahr- 
nehmung des  Vorganges  zur  Voraussetzung.  Eine  Aussage, 
welche  geknüpft  ist  an  einen  Vorgang  in  unserer  Umgebung 
und  erst  mOglich  ist,  wenn  dieser  Vorgang  uns  in  irgend 
einer  Weise  gegeben  ist,  soll  als  Erfahrung  bezeichnet 
werden.  Im  vorliegenden  Falle  ist  jener  Vorgang  die  Vor- 
aussetzung unserer  Aussage  in  allen  ihren  Teilen  und  so  ist 
nach  unserer  BegrifEsbestimmang  die  Aussage  in  allen  ihren 
Teilen  Erfahrung;  wir  haben  denselben  Ausgangspunkt  wie 
der  Physiker,  indem  der  Vorgang  in  unserer  Umgebung,  an 
den  in  beiden  Fällen  alle  weitere  Analyse  anknüpft,  derselbe 
ist.  Wir  beobachten,  dass  die  Schläge  eines  geeigneten 
Pendels  immer  in  gleichem  Zeitabstande  erfolgen.  Diese 
Aussage  ist  unabhängig  von  Rechnungen  oder  Ueberlegungen 
auf  Grund  irgend  welcher  Voraussetzungen,  sondern  beruht 
unmittelbar  auf  der  sinnlichen  Wahrnehmung  jenes  Vor- 
ganges. Dadurch,  dass  wir  sagen,  die  Wahrnehmung  des 
Voi^anges  in  unserer  Umgebung  ist  Inhalt  des  Ausgesagten 
in  sämtlichen  Componenten  der  Aussage,  ist  es  aus- 
geschlossen, dass  die  Aussage  um  irgend  etwas  mehr  ent- 
luüte   als  der  Vorgang,   der  Gegenstand   der  Aussage  ist. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


42  Robert  Ufi)ler: 

Wir  wollen  diese  als  WahraebmangBaussage  bezeiclinen  und 
könnea  dann  sagen,  dass  dieselbe  inhaltlich  nichts  eothUt, 
was  dazQ  veranlassen  könnte,  den  Vorgang  und  die  Aas- 
sage inhaltlich  gegenüber  zu  stellen.  Der  Vorgang  ist  ans 
gegeben  in  unserer  Wahrnehmung  und  als  aosere  Wahr- 
nehmnng,  und  diese  und  der  Vorgang  sind  inbaltiich  voll- 
ständig congnient.  So  kommen  wir  zu  dem  Ei^bnis,  dass 
die  Analyse  der  Wabmehmung  als  solche  in  keiner  Weise 
zu  dem  Srgebnts  führen  kann,  den  subjektiven  Beflind  des 
aussagenden  Individuums  irgendwie  zu  erweitem  und  zu 
completieren  um  irgend  etwas,  was  nicht  in  der  Wahrneh- 
mung des  Vorganges  schon  enthalten  ist. 

Eine  Wabmehmungsaussage,  welche  so  beschaffen  ist, 
dass  alles  ausgeschlossen  ist,  was  nicht  der  Erfahrung  ange- 
hört und  alles  Ausgesagte  nur  auf  den  Vorgang  sich  bezieht, 
nicht  aber  Irgend  welche  Beziehung  auf  das  aussagende  In- 
dividuum enthält,  soll  als  positive  Form  der  Wahmebmungs- 
aussage  bezeichnet  werden,  eine  solche  dagegen,  welche  so 
formuliert  ist,  dass  die  Beziehung  auf  die  aussagende  Person 
darin  enthalten  ist,  wollen  wir  relative  Form  der  Wahr- 
nebmungsaussage  nennen. 

Wir  verknüpfen  mit  diesen  Bezeichnungen  keinerlei 
theoretische  Hintei^danken,  welche  sieh  etwa  auf  die  Rea- 
lität der  Umgebung  oder  „die  Erkenntoisthättgkeit  des  Sub- 
jekts" beziehen  würden,  denn  wir  haben  zn  solchen  Fragen, 
wenn  wir  die  Schwingungen  des  Pendels  beobachten,  nicht 
den  geringsten  Orund,  wir  unterschieben  auch  mit  dem  Ter- 
minus nWahmehmuDg"  keineswegs  irgend  eine  Theorie,  son- 
dern wollen  mit  demselben  nur  die  Thatsache  bezeichnen, 
dass  die  Person  A  oder  B  eine  Aussage  zn  machen  im 
Stande  ist,  welche  in  alten  ihren  Teilen  nichts  enthält,  was 
nicht  Gegenstand  der  Erfahrung  ist,  indem  es  in  allen  Teilen 
auf  die  Umgebung  sich  bezieht  und  durch  dieselbe  bedingt 
ist.  In  der  Form  der  positiven  Wabmehmungsaussage  ist 
der  Inhalt  derselben  eine  Q-mppe  ausgesagter  aussenwelt- 
licher  Beziehungen,    mit  denen    sich    theoretisch    etwa,  der 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL' 


Ueber  die  zaittichen  Eigenschaften  der  SionesirahnielimnDg.        43 

Physiker  beschäftigt;  dieser  kann  sich  dabei  seinen  Stand- 
punkt n&cHi  Belieben  wählen,  er  kann  etwa  die  Wellenbeve- 
gODg  oder  die  stationäre  Strömung  ganz  allgemein  oder 
andrerseits  die  optischen  Anomalien  eines  Borazitkrystalls 
znm  Gegenstand  seiner  Untersnchung  machen;  durch^ngig 
handelt  es  sich  am  Beziehungen,  bei  denen  die  Person  des 
Untersncbers  nicht  in  die  Formnlierung  der  Ergebnisse  ein- 
gebt. Ca  aber  die  Aassage  notwendig  von  einer  aussagenden 
Person 'berrUhrt,  so  muss  es  jederzeit  mQglich  sein,  den  In- 
halt der  Aussage  auch  in  relativer  Form  aaszudrtlckeo. 
(Hierin  liegt  eine  der  Wurzeln  der  später  als  falsch  zorflck- 
zaweisenden  Annahme,  dass  alles  Gegebene  zunächst  als 
„Inhalt  meines  Bewusstseins"  gegeben  sei.)  Der  Inhalt  der 
einzelnen  Wahrnehmung,  wie  er  in  der  Erfahrung  gegeben 
ist,  kann  dadurch  nicht  geändert  werden,  in  der  Wahrneh- 
mung haben  wir  allen  Inhalt  der  Erfahrung,  welcher  derselbe 
bleibt,  ob  die  Wahrnehmung  in  positiver  oder  relativer  Form 
aasgesagt  werde,  denn  diese  Unterscheidung  bertthrt  nicht 
den  Inhalt,  sondern  die  formale  Beziehung  auf  die  aus- 
sagende Person. 

Bis  jetzt  wurde  durchgängig  von  der  Wahrnehmung 
der  zatlichen  Verhältnisse  eines  schwingenden  Pendels  ge- 
sprochen, es  ist  aber  möglich,  der  Betrachtung  eine  allge- 
meine Form  za  geben,  darch  welche  dieselbe  in  ihrer  Be- 
deutung verständlicher  wird. 

Wir  babeo  die  Ausdrucke  „positive  und  relative  Form 
der  Wahmebmnngsaassage"  nur  zur  Bezeichnung  einer  for- 
malen Bescbaftenheit  derselben  eingeführt,  keineswegs  ent- 
halten dieselben  die  Gegenüberstellung  von  „objektiv  und 
sabjektiv",  deren  Binführung  gerade  vermieden  werden  soll, 
und  die  Termini  erschienen  zweckmässig,  um  die  irrige  An- 
nahme za  vermeiden,  dass  die  aussagende  Person  als  Subjekt 
eingefOhrt  werden  solle;  sie  enthalten  also  keineswegs  irgend- 
welche theoretische  Nötigung,  das  Subjekt  als  primär  gege- 
benes einzufahren,  weil  dies  eine  Ausdehnung  in  der  Anwen- 
dung dieser  Termini  Ober  die  formulierte  Begrenzung  rein  als 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


44  Robert  Hüller: 

formale  Beschaffenheit  der  Aassage  involvieren  wtlrde. 
Weiterhin  decken  sich  diese  Termini  nicht  mit  der  Ünter- 
scheidoDg  eines  GegflDsatzes  von  ^physisch"  und  „psychisch", 
welchen  wir  Überhaupt  ablehnen. 

Wenn  man  den  Inhalt  der  WahmehmDD^en  durch 
logische  Operationen  zerlegt,  bo  kommt  man  zu  Elementea 
derselben,  wie  Tönen,  Farben,  Bäumen,  Zeiten,  Wärmen  u>d 
anderen  derartigen  Bestimmungen;  diese  können  in  mannig- 
facher Waise  zu  Complexen  verknüpft  sein  und  es  lassen  sich 
auf  Gmnd  der  Analyse  der  Wahrnehmung  bestimmte  Kri- 
terien angeben,  unter  denen  wir  diese  Complexe  als  Körper 
bezeichnen.  Diese  sind  aber  keineswegs  beständig,  bald  kann 
das  eine  bald  ein  anderes  Slement  in  wechselnden  Verhält- 
nissen auftreten  oder  fehlen.  Ueber  das  Vorhandensein  nod 
die  Beziehung  dieser  Elemente  entscheidet  die  Elrfahrung  und 
auf  Grund  derselben  werden  die  Bestandteile  des  Complexes 
als  Eigenschaften  desselben  hervorgehoben.  Diese  Elemente 
können  wiederum  Gemeinsames  darbieten,  auf  Grund  dessen 
sie  als  allgemeinere  Eigenschaften  der  Wahrnehmung  zu- 
sammengefasst  werden.  Als  ein  solcher  Elementcomplex, 
in  dem  die  Abgrenzung  positiver  und  relativer  Form  der 
WtüimehmungsausBage  anscheinend  sich  nur  unscharf  von 
einander  trennen  lassen,  tritt  unser  Körper  auf.  Dieser  ist 
ein  durch  gewisse  Besonderheiten  ausgezeichneter  Umgebuugs- 
bestandteil,  von  dem  sich  zeigt,  dass  er  das  Verhältnis  der 
anderen  Umgebungsbestandteile  mitbestimmt;  derselbe  Körper 
wird,  wenn  er  nahe  ist,  durch  mein  Auge  gross  gesehen, 
wenn  er  fem  ist,  klein,  mit  dem  rechten  Auge  gesehen  sieht 
er  anders  aus,  wie  mit  dem  linken,  bei  einer  Abducenslähmung 
wird  er  doppelt  gesehen  und  bei  geschlossenen  Augen  wird 
er  gar  nicht  wahrgenommen.  So  erscheinen  durchgängig  die 
Eigenschaften  eines  und  desselben  aussenweltlicben  Körpers 
durch  die  Wahrnehmung,  welche  an  bestimmte  Organe  des 
Körpers  der  wahrnehmenden  Person  gekntipft  ist,  modificir- 
bar  zu  sein,  sie  erscheinen  durch  dieselben  bedingt.  Wir 
haben   nun  nur  von  diesem  Zusammenhang  der  Elemente 


iM,Coo<^lc 


Deber  die  seätlioheD  ESgaiuohaften  der  SinneswahraehrnDog.        45 

aoszogehea,  tod  welchen  gesagt  wurde,  daes  sie  Tollstäodig 
and  ansschliesslich  Id  der  Wahniebmung  gegeben  seien  und 
dies  bedeutet,  dass  sie  für  unsere  Betracbtang  zunächst  als 
einziger  Erfabmngainhalt  anzusehen  sind.  Die  einzige  Son- 
denmg,  welche  der  Yon  uns  zu  Grunde  gelegte  Begriff  der 
&fahmng  bietet,  ist  zunächst  die  Heraushebung  unseres 
ügenen  KOrpers  als  eines  Umgebungsbestaadteiles,  der  die 
anderen  KOrper  als  Umgebungsbestandtelle  zu  modificiren 
im  Stande  ist.  Insofern  die  Wahrnehmung  reine  Erfabning 
ist,  rerBchaffl  ans  die  Analyse  derselben  nichts,  was  uns 
nicht  schon  gegeben  wäre;  ein  Versuch,  der  diesen  Weg  eio- 
sdilagen  wollte,  rein  ans  dem  Subjekt  ohne  die  Diacussion 
der  Bedingtheit  der  Wahrnehmung  allerlei  Einsichten  zu 
schöpfen,  müsste  sich  das  Material  und  die  Möglichkeit  dazu 
erst  durch  Hypothesen  uud  Theorien  verschaffen,  welche 
ausserhalb  des  von  uns  formulierten  Begriffes  der  I^ahrung 
li^en. 

Wir  gehen  in  der  allgemeinen  Form  unserer  AosamandeTsetEong  von 
der  Annahme  soB'),  dass  ein  beliebiger  Umgebungsbes tandteil  in  einem 
solohen  Verhältnis  zu  menschlichen  Individaen  stehe,  dass,  wenn  jener 
gesetzt  ist,  diese  eine  Ei-fobmng  anssagen. 

In  dieser  Anaahme  tritt  der  TJmgebangsbestandteil  als  Toraas- 
setzQDg  dee  Ausgesagten  auf,  insofern  die  Anssage  anmöglioh  ist,  wenn 
nicht  der  ümgebangsbestandteil  gegeben  ist;  ein  solches  Aosgesagtaa  wird, 
via  oben  aasgesprochen,  als  Erfahrung  bezeichnet.  In  Bezug  hierauf  soll 
Eunächst  der  einfachste  Fall  angenommen  werden,  dass  jener  ümsebungs- 
beatandteil  Toranssetzung  des  Ausgesagten  in  dessen  sSmtlichen  Bestand- 
teilen  sei,  nnd  dass  damit  das  Ausgesagte  aach  in  allen  seinen  Kompo- 
nenten als  Erfahrung  gesetzt  sei.  Diese  Annahme  lässt  sich  in  dem  S^e 
aossprechen '.  „Wenn  Bestandteile  nnaerer  Dragebung  als  Voraussetzong 
einee  aasgesagtea  in  allen  seinen  Komponenten  anznnehmen  ^nd,  so  ist 
daa  Aosgesagt«  in  allen  seinen  Komponenten  ata,  £rfahrang  anzunehmen" 
(K-nnäsiuh). 

Me  von  Atbnabiüs  durchgefQhrte  Untersuchung  über 
den  Begriff  der  reinen  Erfahrung  lässt  sich  zu  gründe  legen, 
um  die  Grenzen  und  die  Art  des  Verfahrens  zu  bestimmen, 
wenn  Tersooht  werden  soll,  die  Wahrnehmung  auf  Grund- 
lage der  reinen  Erfahrung  zu  nnteranchen.  Dass  man  he- 
rechtägt  sei,  diese  Forderung  zu  stellen,  lässt  sich  auf  zwei- 


>)  Bk^abd  AmuBins,  Kritik  der  reinen  Brfahrang  1888  p.  8. 

n,g,t,7l.dM,.COOglC 


46  Robert  MülleT: 

fache  Weise  zeigen,  einerseits  indirekt,  denn  wenn  mao 
Berechtigung  and  Möglichkeit  unserer  Postolieniag  nicht  zu- 
giebt,  so  muss  man  die  entgegengesetzte  Annahme  machen, 
dass  die  Untersuchung  der  WahroebmuDg  in  letzter  Linie 
notwendig  zu  BegrifieD  fahren  müsse,  die  Aber  alle  Erfah- 
rung hinausliegen  Das  bedeutet  aber,  dass  eine  abgeschlossene 
Theorie  der  Wahrnebmung  auf  Grund  des  in  ihr  selbst  ent- 
haltenen Materials  unmöglich  wäre,  dass  also  eine  and«« 
Qaelle  von  Begriffen,  (welchen  nicht  nur  eine  formale  Funk- 
tion, wie  sie  Kant  den  Kategorien  beilegte,  zukäme),  welche 
auf  die  Erfahrung  anwendbar  seien,  existiere,  als  in  der  Er- 
fahrung selbst.  Damit  wäre  die  Berechtigung  metaphy- 
sischer Begriffe  ( —  und  als  solche  lassen  sich  die  Begriffe 
des  Bewusstseins,  des  Subjekts,  des  Psychischen  und  des 
Willens  ganz  oder  in  ihren  Komponenten  nachweisen)  — 
fUr  alle  Zeiten  zugestanden  und  der  Verzicht  ausgesproohMi 
auf  eine  induktive  Theorie  der  Wahrnehmung,  welche  inner- 
halb der  Grenzen  der  Erfahrung  liegt. 

Unter  den  Umgebungsbestandteilen  haben  wir  nun  den 
eigenen  Körper  insofern  als  besonders  bedeutungsvoll  gefunden, 
als  er  die  anderen  Umgebungsbestandteüe  inhaltlich  mit- 
bedingt. Gebe  ich  einem  wachen  Individuum  eine  auf  einem 
Besonanzkasten  befestigte,  schwingende  Stimmgabel  von  be- 
stimmter Bchwingungszahl,  etwa  533,  so  ist  dasselbe  in  der 
Lage,  auszusagen,  dass  es  einen  Ton  von  einer  gewissen 
Höhe  höre.  Diese  Aussage  würde  wegfallen,  wenn  bei 
diesem  Individuum  die  peripherische  Endigung  des  Gehör- 
nerven, oder  der  Kerv  in  seinem  Verlauf,  oder  in  seinem 
zentralen  Verbreitungsgebiet  zerstört  würde;  man  könnte  sich 
auch  nach  dem  Tode  des  Individuums  von  der  morpholo- 
gischen Intaktheit  des  Hörapparates  überzeugen,  und  man 
wird  umgekehrt  bei  einem  Individuum,  welches  diese  Aas- 
sage nicht  zu  machen  im  stände  ist,  annehmen,  dass  jener 
Apparat  in  irgend  welchem  Teile  morphologisch  nicht  intakt 
oder  nicht  normal  funktionsfähig  sei.  Ebenso  wird  das  In- 
dividuum unter  anderen  Umständen  äne  Farbe  aussagen, 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


Deber  die  zeitlichen  EigeoBchaftea  der  ^DneBwahmeliDiiuig.        47 

aber  cor,  solange  seine  Netzhaut  intakt  ist,  bei  Dun^- 
sdkneidnng  des  Sehnerren  wird  diese  Aasaage  unmttglich. 
Bei  einem  anderen  IndlTidnam  felilt  vielleiclit  die  Möglich- 
keit, bestimmte  Farbenpaare,  etwa  grtln-rot  oder  blau-gelb 
zu  erkennen  und  dies  erklären  wir  ebeoTalls  durch  einen 
Ausfall  in  der  Beschaffenheit  des  farfoenempfindenden  Appa- 
rates im  Auge.  In  allen  diesen  Fällen  läast  sich  zeigen, 
dass  die  Aussage  mit  bedingt  ist  durch  den  Umgebuogs- 
bestandteil.  den  wir  als  den  Körper  des  Individuums  be- 
zeichnen. Ebenso  finden  wir,  daas  bei  Störungen  der  Wärme- 
und  Kälteempflndongen,  wie  sie  bei  SyringomyeUe  auftreten, 
gewisse  Fartieen  der  grauen  RUckenmarksubstanz  zustört 
sind.  Auf  diese  Weise  lässt  sich  zeigen,  dass  für  alle  Ele- 
mente der  Wahrnehmung,  Farben  und  Töne,  Wärme,  Druck, 
Baum  und  zeitliche  Bestimmungan,  der  Körper  des  Indivi- 
dnums  als  Bedingung  auftritt. 

Nun  hat  nicht  eine  beliebige  Zerstörung  innerhalb  des 
komplizierten  Ümgebungsbestandteiles  unseres  Körpers  die 
Folge,  dass  alle  oder  bestimmte  Elemente  in  Wegfall  kom- 
men,  es  lässt  sich  vielmehr  zeigen,  dass  der  Wegfall  der 
Elemente  mit  dem  Ausfall  oder  der  Zerstörung  der  Funktion 
bestimmter  Teile  des  Körpers  verknOpft  ist.  So  fallen  die 
Farben  weg  bei  Zerstörung  der  Betina,  des  Sehnerven  oder 
bestimmter  Gehimpartieen,  dasselbe  giit  fUr  die  räumlichen 
Bestimmungen,  soweit  sie  dem  Gesichtssinne  angehören,  so 
tritt  Ageusie  ein  bei  Zerstörung  des  Glossopharyngeus,  dw 
Chorda  und  vielleicbt  des  ramus  lingualis  des  Quintus,  so- 
weit demselben  Gbordafasem  beigemischt  sind.  In  gleicher- 
weise gilt  fUr  alle  anderen  Elemente,  welche  als  Inhalt 
einer  Wahmehmungsaussage  auftreten  können,  dass  sie  in 
Wegfall  kommen ,  wenn  bestimmte  Fartieen  des  Körpers 
zerstört  werden. 

Diejenigen  Bestandteile  des  Körpers,  an  deren  G^eben- 
sein  das  Anflxeten  von  Elementen,  welche  Überhaupt  Inhalt 
von  Wahmehmungsaussagen  sein  können,  gebunden  ist,  sollen 
als  Sinnessubstanzen  bezeichnet  werden. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^le 


48  Bobert  Haller: 

Das  Ergebnis  Torstehender  Betrachtung  lässt  sich  dahin 
aassprechen,  dass  alle  Elemente,  welche  als  Erfahrungsinhalt 
aaf  Grand  der  Wahrnehmung  auRreten  können,  gebunden 
sind  an  das  QegebenBein  der  Sinnessubatanzen  im  KOrper 
des  aussagenden  Individuums. 

So  bezeichnen  wir  als  Sehsinosubstanz  den  gesamten 
morphologischen  Komplex  von  der  Netzhaut  bis  zu  den  Teilen 
der  Orosahirnrinde,  an  deren  morphologische  und  funktionelle 
Intaktheit  die  Wahrnehmung  von  Farben  oder  visuellen  räum- 
lichen Wahrnehmungen  geknüpft  ist,  ala  HOrsinnsubstauz  den 
morphologischen  Komplex  der  nervösen  Teile  des  inneren 
Ohres,  des  Oktavus  nnd  aller  Teile  des  Zentralnervensystems, 
deren  Vorhandensein  Bedingung  ist  für  die  Möglichkeit  der- 
jenigen Elemente,  welche  als  Inhalt  von  Aussagen  von  Qte- 
hOrswahrnehmungen  auftreten.  In  demselben  Sinne  sprechen 
wir  von  Geruchsinnessubstanz ,  Geschmacksinnessubstanz, 
thermischen  und  taktiien  Sionessnbstanzen. 

Nicht  alle  Teile  der  Sinnessubstanzen  brauchen  für  das 
AuRreten  der  Elemente  die  gleiche  Bedeutung  zu  haben,  ein 
vollständig  Erblindeter  kann  farbige  GesichtshaUucioationen 
haben,  ein  Individuum  kann  taktile  Empfindungen  in  eine 
nicht  mehr  vorhandene  amputierte  Extrem!  tätverlegen.  Dagegen 
wird  für  einen  Erblindeten  das  Element  „Farbe"  nicht  ala 
Wahrnehmungsaussage,  bedingt  durch  einen  Umgebungs- 
bestandteil ausserhalb  des  eigenen  Körpers,  auftreten  können. 
Diejenigen  Teile  des  Körpers,  an  deren  Vorhandensein  die 
Möglichkeit  des  Auftretens  eines  Elementes,  das  einem  an- 
deren Umgebungsbestandteil  als  dem  eigenen  Körper  an- 
gehört, geknüpft  ist,  sollen  als  Sinnesorgane  bezeichnet 
werden,  diejenigen  Teile  der  Sinnessubstanzen,  mit  welchen 
diese  Möglichkeit  nicht  unmittelbar  verknüpft  ist,  wegen  ihrer 
morphologischen  Beschaffenheit  als  zentrale  Sinnessub- 
atanzen. 

So  kommen  wir  ausgehend  von  dem  Begriff  der  Erfah- 
rung zu  dem  Ergebnis,  dasa  alle  Wahrnehmung  an  das  Vor- 
handensein der  Sinnessubstanzen  gebunden  ist.    Dies  ist  aber 


iM,Coo<^lc 


üeber  die  leitlioben  EtgonsoIuifteD  d«r  Smneswi^niebmniig.        4d 

von  grundlegender  Wi<^tigkeit.  Denn  wenn  bewiesen  wird, 
dass  ohne  Sinnessubstanzen  keine  Wahrnehmung  müglich 
sei,  so  ist  bewiesen,  dasa  alle  Wahrnehmungeaussagen  und 
alles,  was  auf  solchen  beruht,  nicht  m<}g)ich  sei,  ohne  einen 
zu  Grunde  liegenden  Komplex  unseres  Körpers,  der  uns  in 
den  Sinnessubstanzen  gegeben  ist. 

Der  Begriff  der  Sinnessubstanzen  ist  zunächst  als  Teil 
unseres  Körpers  ein  morphologischer,  d.  h.,  es  ist  fQr  sein 
Gegebensein  in  diesem  Falle  gleichgültig,  ob  wir  ihn  im  Zeit- 
punkte t,  oder  t,  betrachten;  in  dieser  Weise  stehen  wir 
denselben  gegenüber,  wenu  wir  sie  anatomisch  untersuchen, 
wenn  es  gilt,  die  gröberen  Formverhältnisse  oder  den  feineren 
Aufbau  derselben  zu  ermitteln. 

Fttr  die  Analyse  des  Wahrnebmungsvorganges  hat  aber 
der  Begriff  der  Sinnessubstanzen  noch  eine  andere  Bedeu- 
tung. Alle  Wahrnehmung  ist  nämlich  an  das  Fortschreiten 
der  Zeit  gebunden,  sie  ist  ein  Vorgang.  Damit  ist  gesagt, 
dass  die  Sinnessubstanz  während  des  Ablaufes  der  Wahr- 
nehmung geändert  wird,  dass  dieselbe  in  ihrer  Beschaffen- 
heit im  Zeitpunkt  tj  und  t,  verschieden  ist,  wenn  wir  einen 
WahmehmungsTorgang  als  gegeben  annehmen.  Die  Bezie- 
hung zwischen  dem  Wahmehmungsvorgang  und  der  Aenderung 
der  Sinnessubstanz  bezeichnen  wir  als  Sinnesfunktion,  wobei 
wir  gemäss  der  Erfahrung,  dass  die  Sinnessubstanz  in  das 
Auftreten  der  Elemente  der  Umgebungsbestandteile  als  Be- 
dingung eingeht,  diese  Aenderungen  der  Sionessubstanz  unter 
Umständen  dMcb.  als  unabhängige  Variabele  betrachten 
können.  Demnach  verschiebt  sich  fQr  uns  der  Wert  des 
Begriffes  der  Sinnessubstanz,  indem  die  Tragweit«  desselben 
nicht  in  seiner  morphologischen,  sondern  vielmehr  in  seiner 
funktionellen  Bedeutung  liegt.  Tbatsächlich  ist  auch  die 
Betrachtung  des  Zusammenbanges  zwischen  Wahrnehmung 
und  den  besonders  zu  derselben  in  Beziehung  stehenden 
Complexen  unseres  Körpers  für  die  Physiologie  das  Motiv 
zor  Bildung  des  Begriffes  der  Sinne  ssubstanzen  gewesen. 

VlvMUahnKtarlft  t  wbMnKbmRI.  PMlM.  u.  Soilol.    XXVn.  1.  * 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


50  Kobert  H«ller: 

Bsvot  es  aber  uig&iigig  ist,  den  Begriff  der  SJanMfnnktioii  in  oat- 
wivkeln,  ist  es  nötig,  die  ulKemüneD  VerÜltiÜBu  der  Aeudenrngeo,  ontar 
welche  die  SinnesfunktioD  fiUlt,  nach  ihrer  formalea  Seite  xa  nntanndiao- 

Wenn  ia  der  Teineti  Erlabmug  iwei  Verändetliohe  so  lasammen- 
b^ngen,  dass  mit  der  Aenderong  der  ersten  die  der  anderen  gesetzt  iat,  so 
ISsat  sich  die  erste  is  Hinsieht  anf  die  zweite  <da  deren  AeademaKsbedingnng 
bezwohuen,  die  Aenderungen  der  sweiteD  TeründeiUobeD  rind  aana  in  Be- 
ing  anf  die  ente  bedingte  oder  abbängige;  beide  znsammeD  sollen  nntet 
dem  Begriff  des  Systems  Ensammengentsat  weiden*).  Alle  naoh  nnseret 
YoiEOssetning  gegebenen  ümgebnngsbest&ndteile  können  als  veAnderliob, 
und  die  VerSDdernDgen  in  der  angegebenen  Weise  voneiaandei  abb&ngig 
gedacht  werden.  Sie  können  eo  miteinander  die  nuumigfacheten  Systune 
von  der  mannigfaltigsten  Qrösse  bilden,  die  sohliesslioli  in  eioem  nnogan, 
den  geeaniten  Bereioh  der  Eifabning  orobssenden  Sfstam  gedaofat  werden 
können.  Die  Oesamtheit  der  Merkmale  eines  beliebigen  Syatema  von  Dm- 
gebnngebestandteilen,  welches  die  Bedingung  erfüUt,  daas  es  mit  einem 
anderen  Verindertichen  ein  System  höherer  Ordnnng  bildet,  also  selbst  ein 
Veränderliches  ist,  dessen  Aenderongen  ii^ndwie  von  einem  anderen  Ter- 
tloderliohen  abhängen,  durch  welche  die  OrenzbestimmuDg  des  Systems,  »iao 
der  Beeohlossenheitsbegriff  desselben  in  einem  bestimmten  Zeitponbte  t,  logisch 
vollständig  bestimmt  wt,  seil  als  die  fiystembesohaffenheit  des  Zm^nnktes 
t^  beseiohnet  werden. 

Es  ist  nicht  notwendig,  für  unsere  Zwecke  die  allgemeinea  Eigen- 
schaften des  Begrifft  der  Aendening  m  entwickeln*),  da  er  uoh  im  Laufe 
der  [jQtersnohung  noch  näher  nach  den  besonderen  umständen,  mit  denen 
wir  es  ta  thnn  haben,  bestimmen  wird;  ee  genügt  hier,  darauf  hingewieeen 
ZQ  haben,  dssa  der  Begriff  der  Sianesfonktion  dem  formalen  Begriffe  der 
Aandernng  einer  Syatembeschaffenheit  sich  unterordnen  lässt,  und  dua  dem- 
zufolge die  logischen  Bestimmungen  jenes  formalen  Begriffes  mit  Torteil 
anob  bei  der  üntersochong  der  Sinnesfonktionen  anzuwenden  sind. 

Damit  eine  mö^c£e  Systemändemng  zur  wirklichen  werde,  ist  es 
notwendig,  dass  eine  aossetiialb  des  Systeme  selbst  gelegene  Bedingung 
hinzutrete,  welche  als  Komplementärbedinguug  der  zagehürigen  Aendening 
dee  betrachteten  Syatema  bezeichnet  werden  soll,  während  die  im  Syatant 
Beibat  enthaltenen  Bedingungen  als  systfimatisohe  Vorbedingungen  zn  be- 
zeichnen Bind.  Die  Zosammensetzung  der  syatemaÜBohen  Vorbediognngen 
und  der  Eomplementärbedingung  bezeichnen  wir  als  Bedingnngageeamtlieit. 
Demnach  kann  eine  als  raögtich  gedachte  Aendemng  nur  in  dem  Fall  wirk- 
lich eintreten,  daea  nicht  etwa  die  eine  oder  andere  ihrer  Bedingungen, 
sondern  ihre  Bedingongsgeeamtheit  gesetzt  wird.  Daraus  folgt  för  tue  fiid- 
beschaffenheit  eines  Systems,  dass,  wenn  die  Aendening  einer  Antanga- 
beschaffenheit  als  Folge  der  Setzung  einer  Aendernngsbedingung  gedacht 
wird,  die  Endbesohaffenheit  nicht  durch  die  Aenderungsbediugung  sIInd, 
sondern  auch  durch  die  Anfangsbescbaffenheit  des  g^nd orten  Syatoms  be- 
stimmt gedacht  werden  muss. 

')  AvBMAStDS,  Cr.  d.  r.  Erfahrung  1868  p.  26. 

Wenn  man  sich  eme  solche  SystembeschaSenheit  in  einem  folgenden 
Zeitpunkt  t,  geändert  denkt,  so  ist  die  Systembeechaffenheit,  wie  sie  zu  Be- 
^nn  der  Aendemng  gesetzt  wird,  als  Anfangsbescbaffenheit,  und  die  za 
Ende  der  Aenderong  gegebene,  als  Endbesobaffenheit  dea  Systems  zu  b»- 
zeit^eo. 

')  Vgl.  AviKiBirs,  £r.  d.  r.  Erfahrung  p.  25—30,  wo  diese  Ent- 
wicklung gegeben  ist 


iM,Coo<^lc 


ü»bv  die  seitlichen  SSgenschaften  der  SinaeswahinehmaDe.        5X 

Wendet  man  diese  fonnale  Entvicklnng  anf  die  Sinnes- 
fiinktion  au,  so  folgt,  dass  dieselbe  als  wirklich  nicht  ge- 
setEt  Verden  kann,  solange  die  Summe  ihrer  Bedingungen 
nur  anf  die  Sinnessubstanz  beschickt  ist.  Es  ist  vielmehr 
nStig,  dass  eine  Komplementärbedingung  durch  das  öegeben- 
sein  weiterer  Umgebungsbestandteile  hinzutrete.  Die  Qe- 
samtheit  der  EigenschafteD  der  Sinnessubstanzen  repräsen- 
tieren dann  die  systematischen  Vorbedingungen  der  Sinnes- 
wahmehmung  als  funktioneller  Aenderung  in  den  SinnesBub- 
stanzen,  und  in  ihren  Eigenschaften  and  dem  AnfCreten  von 
Umgebungsbestandteilen  ist  uns  die  Bedingungsgesamtheit 
des  WahrnehmungsTorganges  gegeben.  Denkt  man  diesen 
als  eine  Aenderung  der  AnfangsbescbafieDheit  der  Sinnes- 
substanzen,  bedingt  durch  die  Setznng  einer  Komplementär- 
bedingung,  als  welche  das  Gegebensein  eines  DmgebungB- 
bestandteiles  anzusehen  ist,  so  ist  die  Endbeschaffeaheit  nach 
abgelaufenem  WahmehmongsTOrgang  sowohl  durch  die 
AeodernngsbedlDgung  als  auch  durch  die  Anfangsbeschaffen- 
heit  des  Systems,  als  welche  wir  die  Gesamtheit  der  Eigen- 
schaften der  Sinnessubstanzen  aufininehmen  haben,  bedingt. 

DiflHB  ÜDteilegang  führt  iIbo  wieder  lariick  zu  der  Frage  nvüi  dam 
ZasumDenhaDg  der  Klemente  der  Erfebmng.  Es  etgiebt  äab,  dass  die 
SjRteinbeBuheffeiüieit  für  das  Eintreten  des  To^puigeB  der  Wahraelmiaiig 
aüein  ebensowenig  hlureieht,  wie  daa  Gegebenseiii  eines  Cmgebnngibestand- 
tsileij  dass  also  beide  in  gleioher  Weise  prim&r  sind.  Damit  wird  jede  Be- 
rei&tigaDg  hiaGUüg,  nach  Art  tod  SystembegriffeD  gebildete  Begdffe,  wie 
iJofa'  oder  .fiewnsstiein''  als  primäre  den  äusseren  TJmgebungsbestandteilen 
gsguräbamiatBUeii.  Ans  dem  Terhtütnis  der  Bedingougen  in  der  Be- 
dingangi^esamtbeit  ergiebt  aiob,  daas  ein  gesohlossenet  Komplex,  der  als 
,loii*  an  beodohnen  wltie,  für  das  wirkliche  Eäntretan  einer  Aendening 
Aberluuipt  keinen  anreiohenden  Ornnd  enthUt  Das  .loh',  die  teilweise  oder 
ToUstftndige  Identifisiening  desselben  mit  dem  eigenen  Körper,  ist  ein  System- 
bsgriS,  der  für  gewisse  Zwecks  des  praktisohen  Denkens  bmuohbai  sein,  der 
n  einer  voriJln^en  ürientiarmig  fähren  kami,  aber  primär  gegeben  ist  uns 
im  Inhalt  dieses  Bepifles  nicht,  sondern  gegeben  ist  uns  nur  der  Zosammen- 
hing  der  Elemente  in  ihrer  dorohgängigen  gegenseitigen  Bedingtheit  and 
fnr  die  veiadiiedenartige  Bedentnng  der  Elemente  ist  der  Gegensatz  von 
,1A'  und  .Weif  Empfindnng  oder  Ersoheinong  und  Ding,  weloher  im 
UHTan  und  philosophisooen  Denken  einen  so  breiten  Baom  einnimmt,  nnr 
ein  täiweise  sotreRender  TorUnfiger  Aosdniolt.  Wenn  mau  die  Terhäit- 
nisse  der  Wahrnehmung  vom  Standpunkte  der  reinen  Erfahrung  iietrachtet, 
Bo  fallen  die  Oegen^Uze  zwischen  „loh"  nnd  .Anssenwelf,  „piyohisoh* 
Bnd  ^phjsioh",  nErsobeinnng'  und  .Ding"  hinweg,  es  handelt  sieh  nnr  noch 


iM,Coo<^lc 


52  Robert  Uüllen 

um  den  Zaummenh&ag  der  Elemeata,  welche  überluQpt  in  der  WtUu*- 
nebmapg  aaftreten  können.  Die  Wisseiuchaft  h&t  den  ZnB&aimenliaiig  dieser 
Glefflente  einfach  anzaerkenneo,  nnd  sich  in  demselben  zn  orientferen,  und 
kann  nicht  die  Aufgabe  haben,  die  Ebüstanz  derselben  eikltlren  zn  weiten. 
Denn  mit  einem  solchen  Erklärangd versuch  fände  ein  Dorobbrechen  det 
Orenzl)eBtünmnng  der  reinen  Erfahrung  st&tt,  und  es  würde  der  Omnd' 
forderuDg  widersprochen  werden,  die  Analyse  des  Wahmehm  enge  Vorganges 
auf  Grund  der  reinen  Erfahrung  durchzufahren. 

Die  Analyse  des  Wahrnehmungsvorganges  kann  nicht 
eine  Ämplifizierung,  Erweiterung,  Neuentdeckung  im  iahalt- 
lichen  Befunde  der  Wahrnehmung  erreichen,  inhaltlich  arbeiten 
mit  demselben  Material  wie  der  Physiker  oder  der  Vertreter 
einer  anderen  auf  die  E]rmittelung  aussenweltUcher  Zasammen- 
hänge  gerichteten  Disziplin;  es  fragt  sich,  ob  der  Unterschied 
der  positiven  und  der  relativen  Verknüpfung  der  Elemente  in 
der  Formulierung  der  Wahrnehmungsaussage  dahin  fuhrt, 
dass  beide  schliesslich  mit  einem  vollständig  disparaten  Be- 
griffsmaterial  arbeiten  müssten,  wie  dies  gegenwärtig  bei  der 
Psychologie  im  Verhältnis  za  den  Naturwissenschaften  sensu 
strenuo  der  Fall  ist,  oder  ob  die  Identität  des  Inhaltes  mit 
sich  selbst  beide  Arten  der  Formulierung  zu  durehg^gig 
gegenseitig  abhängigen  machen.  Es  ist  daher  weiterhin  auf 
das  Verhältnis  der  Elemente  zum  aussagenden  Individunm 
einzugehen,  und  wir  wollen  an  ein  von  Mach')  gegebenes 
Beispiel  anknüpfen:  „ESne  weisse  Kugel  iällt  auf  eine  G-Iocke; 
es  klingt.  Die  Kugel  wird  gelb  vor  der  Natrium-  —  rot 
vor  der  Lithiumlampe.  Hier  scheinen  die  Elemente  (Farbe, 
Ton,  Raumform)  nur  untereinander  zusammenzuhängen, 
von  unserem  Leib  unabhängig  zu  sein.  Nehmen  wir  aber 
Santonin  ein,  so  wird  die  Kugel  auch  gelb.  Drücken  wir 
ein  Auge  seitwärts,  so  sehen  wir  zwei  Kugeln".  Mach 
bezeichnet  die  Elemente  in  dieser  Beziehung  zum  KCrper, 
zum  auBsenweltlichen  Komplex  der  aussagenden  Person  als 
Empfindungen.  Alle  Elemente,  sowohl  die  Umgebungsbe- 
standteile ausserhalb  des  eigenen  Körpers,  wie  dieser  selbst, 
bilden  einen  kontinuierlichen  Zusammenhang,  welcher  bei 
Äenderung  eines  jeden  Elementes  mehr  oder  minder  weit  sich 


')  Mach,  Analyse  der  EmpGndaogen,  1900,  p.  11. 


lieber  die  zetäicben  Eigensohatten  der  Smneawahraehmiing.        53 

Terändern  kann,  nur  dasa  eine  Aenderucg  des  eigenen  EOrpera 
viel  weiter  and  tiefer  greift,  als  bei  weiteren  Umgebongs- 
bestandteilen.  „Eiin  Magnet  in  unserer  Umgebung  stifrt  die 
benachbarten  Eüsenmassen,  ein  stürzendes  FelsstUck  erschüttert 
den  Boden,  das  Durchschneiden  eines  Nerven  aber  bringt 
das  ganze  System  von  Elementen  in  Bewegung"  (Uaob). 
Nach  dieser  AufFasBungsweise  besteht  also  keine  Kluft  zwischen 
der  »materiellen"  and  „geistigen"  Welt,  zwischen  „KSrpern" 
und  .Empflndongen",  zwischen  „aussen*  and  .innen".  Eine 
Farbe  ist  etwas  physikalisches,  sobald  sie  in  ihrer  Abhängig- 
keit von  TJmgebungsbestandteilen  und  Vorgängen  ausserhalb 
des  KOrpers  der  aussagenden  Person,  etwa  der  leuchtenden 
Flamme,  oder  als  Eigenschaft  einer  wäesrigen  Lösung,  oder 
in  ihrer  Abhängigkeit  von  einer  Oberfläcbenheschatfenheit, 
oder  ähnlichen  mehr,  betrachtet  wird.  In  allen  diesen  Fällen 
haben  wir  es  mit  positiven  Formen  von  Wahmehmungsaus- 
sagen  zu  thun.  Betrachten  wir  die  Farbe  in  ihrer  Abhängig- 
keit von  der  Netzhaut,  so  ist  die  Wahmehmungsaussage 
eine  relative,  die  Farbe  ist  eine  Empfindung  im  Sinne  Maohs. 
Nicht  der  Inhalt,  sondern  die  Untersuchnngsrichtung  schafft 
den  Unterschied  zwischen  physikalischen  und  sinnespbysio- 
If^cher  Forschung,  soweit  letztere  auf  der  relativen  Form 
der  Wahmehmungsaussage  beruht. 

Die  Untersuchung  des  Vorgangs  der  Wahrnehmung 
einer  Abfolge  kurz  daaernder  akustischer  EiadrUcke  gehört 
der  Physiologie  des  Ohres  an,  aber  der  Punkt  der  in  vor- 
liegender Untersuchung  besonders  in  den  Vordergrund  gestellt 
werden  soll,  ist  nicht  ein  solcher,  der  den  Gehörswahr- 
nehmongen  allein  eigen  wäre.  Die  Auffassung  der  zeitlichen 
Verhältnisse  ist  bei  den  GehörseindrUcken  besonders  wesent- 
lich und  prägnant,  sie  ist  aber  eine  Eigenschaft,  die  im  all- 
gemeinen in  jedem  Wahmehmungsvorgange  gegeben  ist,  so* 
dass  wir  von  unserer  spezieUen  Frage  aus  zur  Untersuchung 
einer  allgemeinen  Eigenschaft  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
fortzuschreiten  haben. 

Hier  liegen  nun  die  Verhältnisse,  wie  so  vielfach  in  der 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^le 


64  Bobort  HfiUer: 

Sinnesphysiologie,  so,  dass  uns  eino  rein  physikaltsolie  Ue- 
tbod«,  das  ist  eine  solobQ,  bei  der  jede  Feststellung  in  Fonn 
einer  positiven  Wahraehmungsaussage  auftritt,  nicht  zur 
TerfligUDg  steht.  Der  InhEÜt  der  Wahraehmungsauasage  ist 
uns  TOD  Torne  herein  nur  in  relativer  Fonn  gegeben,  die 
Beziehung  auf  die  aussagende  Person  ist  nicht  nur  eine 
mögliche,  sondern  auf  Glrund  der  in  diesem  FeJle  vorliegen- 
den Verhältnisse  auch  die  einzig  gegebene.  Man  könnte 
eäne  Methode,  fllr  welche  der  Ausgangspunkt  primär  auf 
ärund  der  zu  untM-suchenden  Umstände  notwendig  die  Be- 
ziehung des  Aussageinhaltes  zur  aussagenden  Person  enthält, 
fUs  „subjektive  Methode"  bezeichnen;  bei  dem  (Gebrauche 
dieses  Terminus  bemerken  wir  aber  ausdrDcklich,  dass  wir 
unter  keinen  Umständen  einen  weitergehenden  Sinn,  der  die 
EänfUhruQg  eines  „Subjekts"  involvieren  würde,  damit  zu 
verbinden  gedenken. 

Es  giebt  auch  im  Gebiete  der  Sinnesphysiologie  rein 
physikalische  Methoden,  wenn  diese  auch  nur  vereiozelt  lui- 
wendbar  und  von  einer  im  allgemeinen  zurücktretenden  Be- 
deutung sind,  wie  etwa  die  Beobachtung  der  BetinalstfSme 
oder  der  Pigmentwanderung  in  der  Pigmentepithelschicht  der 
Netzhaut  oder  die  Beobachtung  des  Tensorreflexes;  man 
kann  also  keineswegs  sagen,  dass  die  Anwendung  der  sub- 
jf^ven  Methode  und  das  Gebiet  der  Sinnesphysiologie  in 
ihrer  Ausdehnung  zusammenfielen.  Die  subjektive  Methode 
ist  nur  eine  sinnesphysiologische,  und  ihre  Anwendung  be- 
ruht auf  der  Annahme,  deren  Berechtigung  wir  nachzuweisen 
VOTsncht  hab^,  dass  der  Zusammenhang  zwischen  Sinnes- 
organ und  Wahmehmong  ein  in  den  Grenzen  der  ErftUinmg 
notwendig  gegebener  sei.  Insofern'  der  Gegensatz  zwischen 
positiver  und  relativer  Form  der  Wahmehmungsanssage  kein 
disparater  ist,  sind  auch  die  Grenzen  der  subjektiven  Me- 
thode keine  absoluten,  es  ist  wiederum  die  Art  der  Frage- 
stetlnng,  die  darüber  fflitscheidet.  Wenn  man  von  der  rela- 
tiven Formulierung  eines  Wahmehmangsvorganges  ausgeht, 
dann  kann  man  sagen,  dass  jede  physikalische  Messung  auf 


iM,Coo<^lc 


üeber  die  i«tti<4ien  Eigatsohaneo  dar  Sinneswahi-iiebmung.        55 

relativ  formalierbare  'WahrnehmangsTorgUnge  hinaoBlaufe, 
denn  jede  Längenbestimmuog  ist  ein  Vergleichen  optischer 
Baamwahmehmungen.  Hat  die  Aassage  der  Wahraehmong 
den  Zweck,  zur  Darstellimg  von  Betäehangen  von  Umgebongs- 
bestaodteilen  ausserhalb  des  KOrpers  zu  dienen,  dann  treiben 
vir  etwa  Physik.  Fassen  wir  den  WahrnehmuDgsTorgang  in 
seiner  Bedingungsgesamtbeit  zum  Zweck  der  Uotersuchung 
der  Systembedingang  ins  Auge,  dann  verwenden  wir  die 
subjektive  Methode  im  Gebiete  der  Sinnesphysiologie.  I^e 
Grenzbestimmung  der  Angaben  der  Physiologie  wird  da- 
durch nicht  berührt,  denn  diese  erfolgt  nach  ganz  anderen 
Gesichtspunkten.  Alle  die  Begriffe,  welche  wir  formuliert 
haben,  sind  an  der  Definition  der  Aufgabe  der  Physiologie 
nicht  beteiligt,  denn  diese  liegt  darin,  die  Erscheinm^en, 
welche  «n  in  der  Erfahrung  gegebener  Komplex  lebendiger 
Substanz  zeigt,  zu  untersuchen.  Insofern  die  Wabmebmungs- 
vorgänge  an  die  Komplexe  lebendiger  Substanz,  die  wir  als 
Sinnessubstanzen  bezeichnet  haben,  gebunden  sind,  ist  ihre 
Analyse  eine  Aufgabe  der  Physiologie.  Fttr  deren  Begrifib- 
bestdmmung  ist  es  aber  gleichgültig,  ob  die  Untersuchung 
der  Ivebensvor^ge  mit  der  physikalischeD  oder  mittels  der 
subjektiven  Methode  erfolgt. 

Auf  Grund  unserer  Auseinandersetzungen  wird  jode 
Berechtigung  hfofällig,  m  der  Theorie  der  Wahrnehmung  eifin 
experimentelle  Psychologie  als  eigenes  Forschungsgebiet  ab- 
zugrenzen. Die  Bestimmung  einer  wissenschaftlichen  Disziplin 
soll  stets  nach  inhaltlichen  Gesichtspunkten  erfolgen ;  Mechanik 
nnd  Thermodynamik  haben  ihren  eigenen  Inhalt,  der  im  Zu- 
sammenhang der  Elemente  gegeben  ist,  die  Physiologie  hat  in  der 
Untersuchung  des  vitalen  Geschehens  ihr  in  der  Erfahrung 
bestimmbares  nnd  bestimmtes  Gebiet,  eine  DisTdplin  dagegen, 
welche  das  „Ich"  oder  das  „Bewosstseia"  an  und  fQr  sich 
behandelt,  ist  auf  dem  Boden  der  Erfahrung,  wie  diese  im  voi^ 
hergehenden  zu  bestimmen  versucht  wurde,  nicht  mSglich  und 
beruht  auf  Begriffen,  welche  nicht  innerhalb  der  von  uns  fest- 
gesetEten  Grenzen  der  reinen  Erfahrung  liegen.   Soweit  eine 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


56  Bobsrt  Müller: 

Psychologie  versuchen  'würde,  die  Analyse  der  Wahraehmung 
unabhängig  von  ihrer  in  den  Sinnessubstanzen  liegenden  und 
weiteren  aussenweltlicheo  Bediogtheit  durchzofOhren,  beruht 
sie  auf  der  Verwechslung  einer  Überdies  anmÖgUcben  Methode 
mit  einem  Inhalt,  und  diese  wird  dadurch  nicht  statthafter, 
dass  sie  allerlei  metaphysische  Begriffe  zu  ihrer  Pundlerung 
benutzen  muss.  Was  in  einer  derartigen  Psychologie  empirisch 
sein  könnte,  das  istOberhauptkeinePsychologie,  sondemSinnes- 
pbysiologie,  und  was  in  dieser  angeblichen  Disziplin  ausser- 
halb der  Grenzen  der  Begrifiäbeetimmung  der  Ph^olo^e 
liegt,  das  tiat  überhaupt  kein  Recht,  sich  als  Wissenschaft 
zu  bezeichnen,  weil  es  auf  allerlei  mythischen  erdichtetea 
Begriffen  beruht.  Ein  brauchbares  Ergebnis  der  Analyse  der 
Wahrnehmung  ist  demgemäss  nur  dann  zu  erwarten,  wenn 
dieselbe  auf  der  von  der  Physiologie  geschaffenen  Grundlage 
sich  vollzieht. 

Da  wie  nDsera  Aufgabe  dahin  begrenzt  habea,  die  Ibeorie  der  Wahr- 
nehmuDg  ioneifa^b  der  OreiiEen  der  reioen  Erfahrung  zu  behandeln,  mag 
es  dahingestellt  bleibeo,  in  weloheoi  umfange  eine  psfohologisohe  Üethode 
in  den  Bozialen  and  historischeo  Wisseuschaften  statthaft  sei.  Wir  Ter- 
kennen  nicbt  die  grossen  Fortschritte,  die  nnsere  Einsicht  der  Terwendang 
derselben  aof  jenen  Gebieten  verdankt 


Die  Redaktion  der  yieiteljahtaschrift  erachtet  es  als  ihr« 
t^cht,  daa  empiriokritische  System,  wie  jedes  andere,  das  anf  wisaen- 
fiohi^jchen  Gnindsatsen  bembt,  in  Worte  kommen  eq  lassen,  mächte  aber 
^ade,  weil  Ayenaiuüs,  der  Begründer  desselben,  zugleich  Begründer  dieser 
Zeitschrift  ist,  ansdrücklicb  erklären,  dasa  sie  die  Änschaanngen  der  vor- 
stehenden AbhandlaDgen  nioht  teilt,  insbesondere  nioht  die  Aa&ssnng,  die 
Begriffe  des  Bewosstseins,  des  Sabjekts,  des  Psychisohen  and  des  Willens 
seien  sowohl  gans  als  In  ihren  Componenten  „  metaphysisch *.   — 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Die  Geschichte  der  Eniehimg  in  soziologischet 
BeleoGhtnug. 

I. 

Von  Pftnl  Bartk,  Leipzig. 
Inhalt: 

Die  EndehDAg  bt  Hbhlnglg  von  der  V«rb»ui|[  der  OoMllBdufL  and  wirkt  uf  dleae 
nraok.  Vlor  TsU«  der  Enlebmtg:  Zucbl,  UDlerwelnoig,  ITaWIricht,  BBletmmg.  —  Otfa 
der  EmaBanug  dei  Btoffa  der  OenlUduft  M  dta  Fuallle  —  Die  llieoileii  dar  Enlwlckalang 
der  FantfUenfinmiaii.  —  Dleae  aber  obne  iMmaaAema  ELnfluu  mal  die  Enl^nng.  —  Abwsaen- 
bell  Jeder  ZdcU  bei  daD  PtKbar-  nnd  JUgarrDLkenl.  —  Beginnende  Zncbt  bei  dm  Vleb- 
rflädem  nad  den  n[adtir«n  Arkerti&nftra.  —  BIrenge  Zacht  bei  den  hCberen,  in  patriarctaiedie^ 
Kippe  lebendAi  Aderfaaiiem, 

Die  Erziehung  ist  die  FortpOaazung  der  Qese]lBChaft. 
Man  könnte  meinen,  diese  Definition  sei  zu  weit,  sie  müsse 
dahin  eingeschränkt  werden,  dass  die  Erziehung  die  geisUge 
fortpSanzung  der  Gesellschaft  bedeute.  Aber  die  Gesellschaft 
ist  ja  ein  geistiger  Organismus,  wie  ich  in  einer  früheren 
Abhandlnng  in  dieser  Zeitschrift')  zu  beweisen  versucht 
h&be.  Sie  kann  sich  also  nnr  auf  geistigem  Wege,  d.  h. 
durch  Mnwirkung  auf  den  Willen  und  die  Vorstellungen 
fortpflanzen.  Aus  der  physisehen  Fortpflanzung  der  in  ihr 
vereinigten  Menschen  ergiebt  sich  nicht  die  (Gesellschaft  der 
nenes  Generation,  sondern  nur  das  Material  fUr  dieselbe. 
Die  Gesellschaft  der  Spartaner  pflanzte  sich  nicht  dadurch 
fort,  dass  EJnder  geboren,  sondern  dadurch,  dass  diese 
Kinder  zur  Lebensauffassung  und  Lebensführung  der  Alten 
gelnldet  wurden. 

Freilich  auch  dieses  Material  —  die  Kinder  —  muss 

')  Im  24.  Jahrgang  (1900):  Unrecht  und  Beoht  der  orgacisolieii 
OeselbchBflBtheoTi  e. 


iM,Coo<^le 


58  Fftnl  Barth: 

TOD  der  Oeeellacliaft  hervorgebracht  werden.  Sie  hat  dafOr 
cdn  besonderes  Organ,  die  Familie.  Wie  mannigfach  wkAi 
die  Formen  nnd  Verfassungen  derselben  im  Laafe  der  socialen 
Entwicklung  sein  mOgen,  das  Wesentliche  ist  die  länger  oder 
kürzer  dauernde  Verbindung  zweier  oder  mehrerer  Menschen 
verschiedenen  Geschlechts,  die  bei  keiner  der  mamiigfaltjgen 
Formen  fehlt.  Und  da  Physisches  und  Q-eistiges  in  dOB 
Anfängen  ungetrennt  sind,  so  wird  die  Familie  in  den  An- 
flLngen  der  3eseU8<diait  nicht  bloss  das  Organ  flir  die  Ik- 
nenerung  des  Stoffes  der  Gesellschaft,  sondern  auch  fUr  ihre 
Ftmlpflanzung  als  solcher,  fUr  die  Erziehung  sein.  Und  auf 
allen  Stufen  der  Kultur  wird  die  Familie  Organ  der  ersten 
Schritte  der  Erziehung  bleibe,  da  diese  von  der  physischen 
Aufzucht  untrennbar  sind. 

Im  allgemeinen  aber  werden  tOr  die  GJesellschaft  immer 
mehr  Organe  der  Erziehung  notwendig  werden,  je  um- 
fassender ihre  Aufgabe  wird,  d.  h.  je  mehr  Eulturerwerb 
an  WiDensdispositioDen,  an  Wissen  nnd  an  KRnoen  auf  die 
künftige  Generation  zu  Obertragen  ist.  Das  Prinzip  der 
Arbeitsteilung,  das  im  physischen  Organismus,  zur 
t>ifferenzierung  der  Zellen  nnd  zur  Ikzeugung  mannigfaltigw 
Öewebe  Führt,  wird  sich  auch  an  den  Organen  der  Erziehung 
immer  mehr  geltend  machen,  aus  Organen  werden  sich 
Organsysteme  entwickeln. 

In  dieser  Beziehung  also,  in  der  äusseren  Organisation, 
die  der  Erziehung  dient,  haben  wir  stetige  Veränderungen 
in  der  Erziehnng  zu  erwarten,  die  vielleicht  mit  der  all- 
gemeinen Arbeitsteilong  gleichen  Schritt  halten,  vielleicht 
,  aber,  —  je  nach  besonderem  Interesse  oder  besonderer  Gluch- 
^Itigkeit  der  Oeselischaft  fQr  die  Erziehung  —  schneller 
oder  langsamer,  als  im  sonstigen  sozialen  Leben,  sich  durch- 
setzen werden. 

Aber  nicht  bloss  die  äussere  Organisation,  so  zu  sagen 
die  Form  der  Erziehnng,  wird  von  der  allgemeinen  Gliederung 
der  Gesellschaft  abhängen,  auch  ihr  Inhalt,  d.  h.  alles,  was 
im  weitesten  Sinne  zu  lehren  ist,  wird  der  Wandlung  unter- 


iM,Coo<^lc 


Die  Oeaahiahto  der  ErztriiQDg  in  soEiologisoher  Beleaobtnn)t.        5g 

Torfen  sein,  je  nach  dem,  was  der  jeweiligen  G-raellechaft  an 
Ideen,  Kuintmssen,  Foügkeiten,  Eigenschaften  des  Willens 
wichtig  erscheint.  Und  ausserdem  wird  auch  hier  die 
Arbeitsteilung  ihren  Einfluss  geltend  machen.  Im  Laufe 
der  G(eschichte  wird  der  Unterschied  der  Stände  und  Klassen 
grösser  und  macht  eine  nach  den  verschiedenen  Klassen 
verschiedene  Lebensausrlistang  notwendig. 

In  sweifacher  Hinsicht  also,  in  Bezog  auf  seine  Form 
(d.  b.  seine  äusseren  Einrichtungen)  wie  auch  seinen  bihalt 
(d.  h.  die  Ideen,  die  es  verfolgt)  wird  das  SrziehangBwerk 
UQ  Spiegel  des  Lebens  und  der  Thätigkeit  der  jeweiligen 
Qeeellschaft  sein.  Aber  nicht  bloss  ein  Spiegel,  da  es  den 
gespiegelten  Gegenstand,  die  Gesellschaft,  keineswegs  unver- 
ändert läset.  Da  in  ihr  alles  in  Wechselwirkung  steht,  so 
wird  die  Bktiehung  nicht  bloss  von  dem  Leben  der  Gesell- 
sdiaft  abhängig  sein,  sondern  auch  auf  dieses  surttck- 
wirken.  Sie  wird  möglicherweise  durch  Tradition  oder  durch 
logische  Konsequenz  Ideale  vertreten,  die  dem  gleichseitigen 
Leben  der  Gesellschaft  entgegengesetzt  sind  und  so  diesem 
eine,  wenn  anjjh  nicht  völlig  entgegengesetzte,  doch  von 
der  ursprQngliohen  abgelenkte  Bichtung  geben  können. 

Wenn  wir  so  die  Wechselbeziehungen  zwischen  Gesell- 
sciiaft  und  Eniehung  verfolgen,  so  werden  wir  teils  die 
Geschichte  der  letzten  als  Teilbewegung  einer  allgemeineren 
begreifen,  teils  das  Auftauchen  neaer  Ideale  in  der  Ge- 
sellschaft auf  einen  Teil  seiner  Ursachen  zarUckzufUhren 
vermögen. 

Eine  Darstellong  jener  Wechselbeziehungen  ist  bisher 
nicht  vorhanden.  In  dem  einzigen  Werke,  das  hierfür  zn- 
näcbst  in  Betracht  käme,  Lobeuz  tos  Stbin'b  „Bildnngs- 
wesen"^),  wird  sie  nur  dürftig  gegeben.  Abgesehen  von  den 
äusseren  Unvollkommenheiten,  den  fortwährenden  Wieder- 
holungen, der  grosseia  Flüchtigkeit,  die  mannigfache  Irrtümer 


■>  Drei   BKode,   Btnttgut   18S3  und    1884,   (5.   nnd  6.  Teil  Beioer 
.VenraltnngBleliTe''). 


iM,Coo<^lc 


eO  Panl  Barth: 

venirsacbt  hat,  den  broiten  Abschweifungen,  die  fast  ud- 
vermittelt  in  das  Gebiet  der  Staatswissenschaft  Ubergehea, 
Ton  dem  Fehlen  des  Schlusses,  wodarch  das  19.  Jahrhundert 
ausserhalb  der  Betrachtung  bleibt,  —  tod  alledem  abgesehen 
hat  diese  Arbeit  noch  einen  grossen  Mangel,  nämlich  eine 
durchgehende,  auf  Üngentlgen  des  Quellenstudiums  beruhende 
Unzulänglichkeit  der  Einzelheiten  der  Q^cfaichte  sowohl  der 
Gesellschaft  als  der  Erziehung.  Die  gangbaren  Geschichten 
der  Pädagogik  —  mit  Aosnahme  der  „Geschichte  des  ge- 
lehrten Unterrichts"  Fb.  Paitlsens  >),  die  wenigstens  Illr  den 
höheren  Unterrieht  die  Bedingtheit  durch  geistige  Strömungen 
nachzuweisen  sucht*),  —  zeigen  kein  Bewusstaein  der  Auf- 
gabe den  Zusammenhang  der  Erziehung  mit  der  Gesellechaft 
zu  verfolgen.  Im  allgemeinen  ist  bloss  die  Rede  von  dem 
„kulturhistorischen  Standpunkte",  von  dem  man  die  Geschichte 
der  Pädagogik  treiben  wolle,  eine  Versicherung,  die  ebenso 
wenig  besagt,  als  wenn  man  eine  Geschichte  der  Tiere  vom 
zoologischen  Standpunkte  zu  schreiben  erklärte.  Denn 
Kultur  ist  alles,  was  nicht  Natur  ist,  was  vom  Menschen  — 
oft  gegen  die  unmittelbaren,  natürlichen  Triet)e  —  geschaffen 
wurde. 

Die  Form  nun,  die  äussere  Organisation  lägst  sich 
a  priori  nicht  näher  bestimmen.  Der  Inhalt  aber  lässt 
aus  psychologischen  Gründen  in  4  Teile  zerlegen.  Eh-  muss 
sich  erstens  auf  den  Willen  beziehen  and  in  diesem  a)  gevrisse. 
der  Gesellschaft  wertvolle  Dispositionen  erzeugen,  die  persön- 
lichen und  die  sozialen  Tugenden,  b)  dem  Willen  die  Be- 
handlung der  Objekte  lehren,  die  ohne  Wissen  nicht  mOgtioh 
ist,  d.  h.  gewisse  Fertigkeiten  beibringen.  Er  muss  aber 
zweitens  auf  das  Vorstellungsleben  einwirken  nnd  zwar  a) 

>)  2.  Aufl.,  Leipzig,  1896. 

*)  Dieson  Zwecl  verfolgt  aitcli  die  Irarae,  aber  anregende  Bede,  mit 
der  F.  A.  Lanoe  im  Oktober  1866  seine  Th&tigbeit  ab  Privatdoieut  in  Bonn 
erüffneta:  Ueber  den  ZosammenhaDg  der  GrEieliQogBBjBteme  niit 
den  herrsobeuden  Weltansahaniiiigen  Terschiedeuer  Zeitalter, 
aniMinein  Naohlassa  Teröffentlioht  in  den  Honatsbeften  der  Comenins- 
Qesellschaft,  111.  Band  (1894)  S.  lOSff. 


iM,Coo<^lc 


Die  Oefiohiohte  dar  Erziehang  in  soziologischer  fidsachtnag.         gl 

das  Termeiatliche  oder  wirkliche  erworbene  Eiozelwisseo  der 
neuen  Generation  überliefern,  b)  die  GesamtanscbaauQg  der 
Welt,  die  auf  keiner  Stufe  fehlt,  auf  sie  Übertragen.  Um  die 
vier  Teile  durch  kurze  Bezeichnung  aueeiuander  zu  halten, 
sei  es  gestattet,  sie  in  obiger  Reihenfolge  bezüglich  Zucht, 
Unterweisung,  Unterrieht  und  Belehrung  zu  benennen. 

Unsere  Betrachtung  müssen  wir  bei  den  Naturvölkern 
beginnen,  da  diese  nach  einer  bisher  unerschUtterten  Hypothese 
die  frühesten  Stufen  der  Entwicklung  der  Kulturvölker  dar- 
stellen^). 

Bei  den  Naturvölkern  wird  die  Erziehung  notwendig 
Sache  der  Familie  sein,  oder  eines  grösseren  Verbandes, 
dem  die  Familie  selbst  angehört.  Jedenfalls,  da  keine  Arbeits- 
teilung bei  ihnen  vorhanden  ist,  oder  die  Arbeitsteilung  nur 
innerhalb  der  FamiHc  stattfindet,  dürfen  wir  auch  hierfür 
keine  besondere  Organisation  erwarten. 

Es  wäre  nun  ein  sehr  verlockender  Versuch,  eine  der 
verschiedenen  EntwicklungsgeBChichten  der  Familie 
auszuwählen  und  ihre  Wandlungen  als  ebenso  viele  Änderun- 
gen der  Erziehang  nachzuweisen.  Solcher  Entwicklungs- 
geschichteo  giebt  es  schon  mehrere. 

L.  H.  HoHaiN  bat  eine  sehT  bestimmt«  Abfolge  versobiedener  Ter- 
fassiingen  der  Familie  als  par&Uelgehead  mit  verschiedenen  Stofen  der 
Knlhu-  zn  erweisen  gesucht.  Von  letzteren  nimmt  er  für  die  Ntttorepochen 
der  Gesellschaft  6  an,  nämlich  3  Stnfen  der  „Wildheit"  nnd  3  der  Barbarei, 
jede  deraelben  doroh  einen  teohmsohen  Fortschritt  gekennzeichnet.  Die 
Unterstufe  der  Wildheit,  die  allerdings  von  Mosa.ui  bloss  erschlossen,  nicht 
doroh  sin  lebendiges  Beispiel  belegt  worden  ist,  kennt  nur  wilde  Fniobte 
als  Nahrungsmittel  die  Mittelstufe  bricht  an  durch  den  Fischfang  nnd  den 
Gebrauch  des  Feuere,  die  Obeietufe  be^nt  mit  der  £r&idang  des  Bogens. 
Diese  ganze  Periode  der  Wildheit  zeigt  zagleioh  zwei  Formen  der  Ehe, 
die  ÜoBaAH  als  blutsverwandte  und  ata  Fonaloa-Eihe  bezeichnet*).  Die  erste 
besteht  BUS  leiblichen  Brüdern  und  Schwestern,  die  ehelich  zaaaaimeii 
leben,  die  zweite  entweder  aus  leiblichen  Schwestern,  die  mit  fremden 
Mitnnem,  oder  aus  leiblichen  Brüdern,  die  mit  fremden  Weibern  eine 
onterschiedslos  ehelich  verkehrende  Gruppe  bilden. 

Die   b^innende  Barbarei  kennzeichnet  sich  durch  die  Töpferknnst, 


')  Tsrgl.  S.  B.  SmKMBrz,  Die  Bedeutung  der  Ethnologie  für  die 
Soziologie,  26.  Jahrgang  dieser  Zeitschrift  (1902),  8.  437. 

'}  Vergl.  L.  H.  Moboak,  Anoient  Society,  übersetzt  u.  d.  T.  Dia 
UrgeaellachafI  von  W.  EiCHRon  und  E.  Eautsky,  Stuttgart,  1891,  AnlaDg 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


die  Hittelstnfe  deiselbea  m  der  alien  weit  durch  die  ZUimaiw  von  Em»- 
tiereD,  in  der  neuen  Welt  doioh  den  QartenUn,  die  Obentate  dnreh  dw 
Verubeitang  des  Süsena.  Die  ^Paarangsfamilie",  eine  neae  Ebefoim  eines 
Mannea  mit  einem 'Wwbe,  die  zwar  aassohliesslidi,  a]>er  nioht  lebene- 
länglioh  mit  einander  leben,  eondeni  ihren  Band  öfter  wechseln,  entsteht 
bei  vielen  TSIkem  gleiohieitig  mit  der  Barbarei,  nnd  geht  anf  der  Ober- 
stufe derselben  in  die  monogamiBche  über,  die  bei  andern  Völkern  direkt 
auf  die  Punalna-Familie  folgt')  und  mit  dem  Beginn  der  Civilisatioii,  d.  h. 
der  firfindong  der  Schrift  uJgemein  wird.  Die  AusBchliessiuig  der  Blats- 
verwandten  von  der  Ehe,  die  sahen  in  der  Pnnaloa-Kimilie  dnrohgefiihit 
wurde,  dauert  in  wachsender  Strenge  fort  nnd  ist  eine  der  wesentlichen 
Fonttionen  des  lOeachleohtsverbandes",  der  eine  Einheit  mehrereT  ver- 
wandter oder  sich  für  verwandt  haltender  Paarnngstamilian  oder  mono- 
gamischer Familien  dareteUL 

Die  blutsverwandte,  die  Fnnalaa-  und  die  monogamieohe  Familie  sind 
oaoh  HoBOuf  Hllgenieine,  überall  bei  den  geschichtlichen  Völkern  naiAweis- 
bare  Stufen  der  Shitwioklang  der  Familie,  während  die  Paarungsfamilie  und 
die  patriarchalische  (die  Ehe  eines  Hannes  mit  mehreren  'Weibern)  nur  bei 
einigen  Tülkem  als  Zwischenstufen  vorkommen,  die  erste  bei  den  nord- 
amerikaniuohen  Indianern,  die  zweite  bot  den  Semiten. 

Auch  sind  die  Famüienformen  nicht  gleichmässig  auf  die  verechie- 
denen  Enltnieturea  verteilt.  Die  Pnnatua-Familie  fUlt  sonst  in  die  Periode 
der  Wildheit,  bei  den  alten  Briten  aber  in  die  Uittelstote  der  Barbara*). 

Durch  die  Tenohiedenheit  der  Familientorm  erkUren  sich  naeh 
HoMAH  auch  die  iwei  verschiedenen  VerwandtRohaftsaysteme,  die  in 
der  Ethnologie  und  in  der  Oeeohicbte  auftreten,  das  klassifisiereDda 
and  das  deskriptive.  Das  eiste  unterscheidet  zunächst  die  Qeneiationen : 
Vater  und  Sntter,  SAhne  und  Töchter,  Enkel  nnd  Enkelinnen.  Innerhalb 
der  Oeneiationen  sind  anter  der  Herrschaft  der  blutsverwandten  Famüien- 
form  alle  Uitglieder  derselben  Generation  Brüder  nnd  Schwestern.  Dieses 
von  UoRsi.v  als  das  „malayische"  bezeichnete  Verwandtschaftssystem  flb^- 
dauert  Boesr  die  blutsverwandte  Familie  nnd  gilt  noch  unter  der  Hensohaft 
der  Pun^ua-Familie.  Unter  der  Fnnalua-Familie  aber  bildet  sich  täae  neue 
Unterscheidung  aus.  Es  werden  nicht  mehr  alle  gleichaltrigen  als  Brüder 
nnd  Sohweetem  betrachtet,  sondern  bloss  die  wirklich  innerhalb  der  Pnoalu»- 
Familia  Oeborenen.  Für  den  Mann  heissen  zwar  die  Kinder  seiner  Br6dw 
noch  wie  im  malayischen  Systeme  Söhne  und  Töobter,  die  Kinder  der 
Schwester  aber  nicht  mehr  wie  im  malayischen  Systeme  Söhne  und  Töditer, 
sondern  Neffen  nnd  Nichten,  für  das  Weib  nur  noch  die  Kinder  der 
Sohvester  Söhne  und  Töchter,  die  Kinder  der  Brüder  aber  ebenfalls  Neffen 
und  Niditen*).  Auch  dieses  Verwandtaohaflssystem ,  das  „tntuniBoha*  bei 
UoBeix,  besonders  bei  den  dravidisohen  Völkern  beobachtet,  überdauert 
naoh  ihm  die  Familienform,  der  es  Beinen  Ursprung  verdankt  Es  igt  bü 
vielen  Stämmen  dsr  Indianer  Nordamerikas  in  der  Sprache  noch  im  0»- 
brauche,  obgleich  sie  von  der  Punalna-Ehe  läi^t  cur  Paarnngs-Ehs  fiber- 
gegangen sind*).    Diesen  beiden  Arten  iee  hJassifiiierenden  TerwandtMhafts- 


')  MoROAN,  a.  a.  0.    S.  390(t. 

■)  Hossm,  a.  a.  0.  8.  S91. 

*)  HoBOAH.  S.  368f. 

*)  Das  .ganowanisohe"  System  der  nordametikanischeu  ludianer  ist 
im  Prinup  dem  tnranisehen  gleich  mit  einer  gelingen  Abweichung.  Tergl. 
MoneiN  B.  37a 


iM,Coo<^le 


Die  QaBcbiohte  der  Erdeboiig  in  soüologischer  Beleaohtoiig.        99 

ijiteDiB  steht  das  daskriptive  Kegenflber,  das  «u  der  monoguuUohen  Amilia 
herrorgeht  ■)  and  die  Beiiehnugen  derselben  oaoh  BlatBverwuidtacilutt  und 
TenohwBgeniDg  bezeiclmet,  den  Begriff  dea  Grades  der  Terwandtiohaft 
ttcanget  dnrchgeföhrt  haX,  wie  er  sehr  bewoast  im  rämiBohen  Beohte  ans- 
gdüldet  ist*)  Dod  d&iom  z.  B.  oidit  mehr  eigne  Söhne  und  Söhne  dae 
mdeis  (Neffen)  gleich  beietchaet. 

ESd  onderee  Sohema  hat  HacLxnnah  entworfeii  and  als  dai  wahre  zd 
erwttMD  gwncbt:  Alle  Basun  geben  imter  den  neageborenen  Kindern  de^ 
Knaben  den  Vorzog,  die  als  Erieger  und  Jfiger  dem  Stamme  nfitzlich  werden 
können,  xiefaen  danim  möglichst  viele  Knaben  auf,  wlihrend  sie  brt  alle 
Udchea  aussetzen*).  Dadurch  entsteht  HangBi  an  Frauen  und  aus  dieaem 
wieder  Euerat  die  ganx  allgemelDe  Sitte  des  Franenraabs,  dann  das  Prinzip 
der  Exogamie,  d.  h.  der  Heirat  eines  fremden  Weibes  and  das  Verbot 
der  Endogamie,  der  Heirat  eines  einheimischen.  So  liegt  nach  MacLchhui 
am  ersten  Anfange  der  Oesehiohte  nicht  die  Ehe  der  Blutsverwandten, 
sondern  zna&ohst  die  „Promisonit;",  d.  h.  völlig  regalloser  Gesobleohts- 
reriehr*},  dann  die  .Polyandrie",  d.  h.  die  Ehe  mehrerer  Männer 
mit  einer  oder  mit  mehreren  Fnmeo,  die  itoh  beeonden  oharabtetiatisoh 
noch  jetzt  mit  Verwandtschaft  in  weiblicher  Linie  bei  den  Nairen  (einem 
Dravidaatamme)  und  mit  Verwandtschaft  in  m&nnlioher  Linie  bei  den  Tibe- 
tanern zeigt*).  Ans  ihr  entsteht  allm&hlioh  die  Monogamie.  Die  grosse 
AnsdehoniiK  der  VerwandtsotiaftBbczeiohnungeo,  die  in  Moroin's  blassifika- 
tonehen  Verwandtscliattss^emen  fdch  zeigt,  «ttUrt  MacLenhan  teils  aas 
der  .H9fliobkeit''  der  primitiven  Mensohen*),  teils  am  den  beiden  Formen 
der  PolTandrie'O. 

Ober  den  Ursprung  der  Exogamie  gehen  dieAneicbteD 
sehr  auaeinander.  Maclbnhah  fllhrt  sie.  wie  oben  bemerkt, 
auf  den  Frauenraub  zurQck,  E.  WssTBiofABOs,  wie  wir 
weiter  onten  sehen  werden,  auf  eine  natürliche  Abneigung 
gegen  ehelichen  Verkehr  mit  nahen  Angehörigen,  mit  denen 
man  fortwährend  gemeinsam  gelebt  hat.  Er  erklärt  also 
die  Exogamie  ans  Scheu  vor  der  Blutschande,  wätirend 
E.  DoBKHSiH  (Annäe  sociologique  I,  1898,  S-  1  ff.)  umgekehrt 
diese  Scheu  aus  deo*  Exogamie  herleitet.  Nach  seiner  An- 
sicht gilt  bei  den  NatarvSlkem  das  Mädchen  unmittelbar 
nadi  Emtritt  der  Pubertät,  ebenso  die  menstruierende  Frau 
und  die  Frau,  die  geboren  hat,  als  unrein,  d.  h.  ursprünglich 
als  heilig  und  zwar,  weil  im  weiblichen  Blute  das  Blut  des 

')  MoBGAH  s.  373. 
•)  MoBSAH  ä.  334. 

')  TergL  U ACI^nNAN,  Stadies  in  anoient  history,  (enthaltend  PrimitiTe 
ManiageiuideicdgedieeeeWerkerg&nzendeAbhaiidlQngeD),Londonl886,  S.  90. 
•)  a.  ft.  0.  S.  92. 

■1  a  93,  8.  102r.,  8.  105f.,  zuBammenfassend  a  114. 
^  MacLbinak,  a.  a.  0.  8.  289,  S.  SOO.  f. 
')  a  300  (. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


g4  Paul  Barth: 

gemeiDsamen  Ahnen,  nämlicrti  des  heiligen  Tieres  oder  der 
heiligen  Pflanze  der  Orens,  des  nTotem",  zum  Vorschein  kommt. 
So  wird  das  Weib  der  eigenen  Gens  tabu,  unberührbar,  und 
es  könneo  zur  Ehe  nur  Weiber  einer  fremden  Gens,  deren 
Totem  nicht  tabu  ist,  genommen  werden.  Diese  Sitte,  meint 
BuBKHEiu,  Überlebt  dann,  wie  alle  Sitten  den  Q-Iauben,  der 
sie  erzeugt  hatte.  Ich  glaube,  dass  Dubkhbih  der  Wahr- 
heit näher  kommt  als  die  anderen  Erklärer. 

BeideD,  Mokoan  wie  TAaclehkau,  wirf  von  C.  N.  Starcke')  und  von 
E.  "WMTKBMiKCK ')  wideTsproohen.  Diese  beiden  verwerfen  die  Annahme 
einer  nrspräDgUcben  „PiomislEnitftt*.  Anfänglioh  „Bucht  dor  Mann  eine 
Arbeiterin,  eine  Wirtacbafteiin",  sagt  St&bckk').  Und  da  er  nur  eine  er- 
nähren kann,  so  ciamt  er  nur  eine  als  ständige  Oefthrtin.  Das  Interesse 
für  die  Kinder  liefert  später  einen  Beweggrund  für  die  Poly^unio,  wenn 
die  ökonomischen  Mittel  dafdr  ausreichen,  in  der  aber  eine  Frau  immer 
die  eigentliche  Ehefrau  bleibt  Das  Gegenstück,  die  Folyondrie,  ist  nur  die 
Ehe  des  ältesten  von  mehreren  Brüdern,  der  die  jüngeren  Brüder  als  lieb- 
haber  seiner  Frau  zalässt,  eine  bssondera  in  Tibot  aus  der  Armut  des  lAndeü 
entstandene  nud  herrschende  Bitte*],  und  ,die  Polygamie  mnss  schwinden, 
sobald  aie  fortschreitende  Entwicklung  die  daaerbaften  Motive  nnd  die 
Gmndkrfifte  mehr  zur  Geltung  bringt"'). 

Auch  E.  'Wesirruarck  bestreitet  die  Fromiskuitit  als  Urzustand 
ebenso  wie  jede  Art  der  „Qemeinscii ansehe".  Die  grosse  Aosdehnung  der 
Namen  Vater,  Mutter,  Bruder,  Schwester,  Sohn,  Tochter  erklärt  er  nicht 
wie  Morgan,  aus  einem  auf  Gruppeuehe  beruhendsD  Verwandtschaftasysteme, 
sondern  wio  zum  Teile  MacLei^'an  aus  „Anspracheswecken"'),  d.  h.  als 
HÖflichkeiteform.  Die  Eifersucht  erscheint  nach  'Wf.stermarck  solion  bei  den 
Säugetieren,  erst  recht  also  beim  primitiven  Menschen  ucd  fuhrt  notwendig 
sat  Monogamie').  Die  Exogamie  und  die  Blutsohandeverbote  erklärt 
Westeruauck  nicht  aus  dem  I^uentaube,  sondern  aas  der  seolisohen  TJd- 
mögliohkeit  geschlechtlicher  Liebe  zwischen  den  allernächsten  Verwandten, 
überhaupt  „zwischen  Personen,  die  von  Kindheit  an  beisammen  gewohnt 
haben"*).  Polyandrie  und  Polygamie  sind  nach  Westermasce  keineswegs 
häufige,  dnrch  wirtschaftliche  Umstände  oder  durch  numerisches  Ueber- 
wiegen  des  einen  Geschlechts  verursachte  Ausnahmen  von  der  Regel  der 
Monogamie*),  bis  höhere  Gesittung  diese  zur  ausschliesslichen  Norm  macht 

Alle  diese  Theorien  halten  bei  aller  Abweichung  im  einzelnen  doch 
gemeinsam  daran  fest,  dass  die  Blutsverwandtschaft  die  zaerat  nur  aus  ge- 
meinsamer Abstammung  von  einer  Mutter  hergeleitet  wird,  also  nur  aut 


')  U.  N.  Stahcke,  die  primitive  Familie,  Leipzig  1888. 
')  Geschichte  der  menschlichen  Ehe,  dentsoh  von  B.  Eatschkr  und 
RAZER.  Jena  1893. 
•)  Starcke,  a.  a.  0.  S.  274. 
'i  Stabcee,  a  144ff.  und  S.  283. 
')  B.  283. 

*)  Wesiermarce,  a.  a.  0.    S.  640. 
')  a.  a.  0.    B.  641. 
»)  S.  646  f. 
•)  8.  647  f. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Die  Geschichte  der  Erziehung  in  soziologischer  B«leuchtiiDg.        g5 

ICutterrecht  beruht,  die  Quelle  aller  weiteren  Bilduagen  sei.  Ihnen  gegtia- 
über  hat  nenardiogs  H.  Scvoktz  ')  zu  erweisen  gesnobt,  does  niubt  die  Blata- 
venrandtBohaft,  sondern  der  Oeaelligkeitstrieb  nicht  verwandter  aber 
gloitdialtriger  jauger  KBuner  die  oigontQmlicben  ErBoheinangen  der  OrappeD- 
Ehe  hervorbringe. 

So  herrscht  Ober  die  Entwicklung  der  Familie  und 
Aber  die  treibenden  Paktoren  derselben  keineswegs  Über- 
einstimiunng.  Indessen,  auch  wenn  die  Entwickelungs- 
geschichte  der  Familie  feststünde,  so  wäre  es  fraglich,  ob 
sie  so  Tie!  fUr  unser  Thema  bedeutete,  dass  die  Erziehung 
ihr  parallel  ginge.  Es  scheinen  andere  Momente  des  primi- 
tiren  Lebens  zu  sein,  die  sich  in  der  Erziehung  geltend 
machen. 

Ein  sehr  wichtiger  Bestandteil  der  ersten  Erziehung, 
vielleicht  der  wichtigste  ist  die  Zucht,  d.  h.  die  Erzeugung 
von  WilleDsdispositionen,  die  Einpflanzung  der  persönlichen 
und  der  sozialen  Tugenden.  Das  primitivste  wäre  nun, 
wenn  diese  Zucht  ganz  fehlte,  wenn  ddro  zwar  Fertig- 
keiten. Wissen  und  Weltanaicht  den  Kindern  überlieferte,  — 
was  zum  grossen  Teile  unwillkürlich,  durch  den  blossen 
NachahmongstTieb  der  Kinder  zu  stände  kommt  —  die  ab- 
sichtliche sittliche  Erziehung  aber  insofern  gänzlich  unter- 
bliebe, als  Unterdrückung  der  unerwünschten  Eigenschaften, 
der  persönlichen  und  sozialen  Untugenden  nicht  stattfände. 

Einen  solchen  primitivsten  Zustand  finden  wir  nun 
wirkh'ch  —  nach  den  sorgfältigen  Forschungen  von  S.  R. 
SrKraHBTz^)  —  am  häufigsten  bei  den  von  den  Ethnologen 
sogenannten  „unstäten"  (d.  h.  von  Fischfang  und  Jagd 
lebenden)  VtSlkem,  nämlich  denjenigen  Indianern  Nord- 
amerikas, die  noch  auf  dieser  Stufe  verharren,  den  Pata- 
goniem,  den  Feuerländem,  den  Eskimovölkern,  den  Ainos 
(auf  Yezo),  den  Australiern  und  den  Tasmaniem.  Bei  ihnen 
allen  werden  die  Kinder  ^verwöhnt".    Sie  werden  viel  ge- 


')  AltetflUaaaen  nnd  H&nnerbünde.  Eine  Darstallung  der  Orond- 
roraien  der  OeeellBohaft.    Berlin,  1903,  besonders  B.  TS  ff. 

*)  Das  YeAiltnis  zwiscdien  Eltern  nnd  Kindern  bei  den  NatnrTölkem. 
In  der  Zeitschrift  fnr  Sozialwiseeaeohaft,  heranjig.  von  J.  Volf,  I,  (169S) 
8.  6Uf. 


yioMiUdmishiUk  r.  wlMiucbifU.  PUloi. 


iM,Coo<^lc 


QQ  Paul  BKrthi 

liebkost  und  nie  bestraft,  anch  nicht  ftir  grobe  Unarten, 
hOchatens,  dass  sie  bei  den  Nord-Australiern  „venu  gar  aehr 
lästig  von  der  Mutter  auf  die  Erde  gesetzt  und  auf  einige 
Stunden  allein  gelaaaen  werden"').  Bisweilen  werden  die 
Kinder  auch  tod  beiden  Eltern  vernachlässigt*),  jedenfalls 
aber  niemals  erzogen.  Nur  die  fUr  das  Leben  nötigen  tech- 
nischen Fertigkeiten  werden  gelehrt.  Bei  den  Arawak- 
Indianem  z.  B.  wird  der  Knabe  frQb  an  Rudern,  Eichen 
und  Jagen  gewohnt,  die  Mädchen  helfen  schon  bald  ihrer 
Mutter^).    Ebenso  verhält  es  sich  bei  den  Grönländern*). 

Was  nun  die  Familienverhältnisse  der  von  Fischfang 
und  Jagd  lebenden  VOlker  betrifft,  so  sind  sie  sehr  ver- 
schieden. E.  Gbosse'^)  findet  bei  den  Feuerländem  die 
polygyne  Ehe^,  bei  der  grossen  Mehrzahl  der  niederen 
Jägervölker  die  monogene  Ehe^,  desgleichen  hei  den 
höheren  Jägervölkem^).  Um  die  Exogamie  zn  sichern,  d.  h. 
das  oben  erwähnte  Prinzip,  dass  die  Frau  nie  aus  einer 
blutsverwandten  Gmppe  genommen  werde,  sind  manche 
Stämme  in  Gruppen  geteilt,  die  als  Nachkommen  einer 
Mutter  betrachtet  werden,  deren  Mitglieder  nicht  unter  ein- 
ander heiraten  dürfen.  Von  den  niederen  Jägervölkern  haben 
die  Australier  solche  Gruppen"),  von  den  höheren  (ast  alle 
Indianer,  die  dazu  geböreni").  Bei  den  Indianern  der  nord- 
amerifcanischen  Westküste  fehlt  auch  nicht  die  Rechnung 
der  Verwandtschaft  und  Vererbung  in  männlicher  Folge"), 
Die  meisten    der   niederen  Jägervölker   leben   ohne  :^upt- 


i.  a.  0.    8.  618. 
.  _ )  bei  den  ladianem  Ealifornieiis,  naoh  Steihjcetz,  Ethnologischs 
Stadien  zur  eraten  BotwickloEg  der  Strafe,  II,  Leiden  a.  Leipzig,  1894,  8. 182. 
')  SmKUKTz,  ElhDolog.  Stadien  U,  S.  183. 
')  BTEiNiiEn,  a.  n.  0.    8.  186. 

')  Die  Formen  der  Familie  oud  die  Formen  der  Wirtschaft    Frei- 
bnrg  und  Leipiig,  1896. 
•)  a.  a.  0.    S.  M. 
')  8.  a.  0.    8.  46. 
•)  a.  a.  0.    8.  73. 

^  VergL  OsossB,  a.  a.  0.    8.  60,  anoh  Morgan.  S.  41  ff. 
'•)  Vergl.  Stakcm,  B.  31. 
")  Ghosbe,  8.  «.  0.    8.  83 1    SiiBOJjt,  S.  31. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Die  Geechiohte  der  Erziehnng  In  soiiologisolier  Beteachtnng.       67 

{inge'},  dagegen  hat  fast  jeder  höhere  Jägerstamm  einen 
Häuptling,  der  freilii^  weniger  Macht  ala  Kang  besitzt^). 
Die  Häupter  einer  Hausgemeinschaft,  einer  Sippe,  hahen 
mehr  Autorität. 

Warum  wird  nun  bei  diesen  Jägerstämmen  keine  Willens- 
erziehung  geübt?  Die  Formen  der  Familie  sind  bei  ihnea 
so  mannigfaltig,  dass  sie  nicht  die  Ursache  der  bei  allen 
gleichmässigea  Abwesenheit  jeder  Einderzucht  sein  kOnnen'), 
wir  aJso  eine  andere  Ursache  suchen  müssen.  Wahrscheiu- 
lich  liegt  sie  darin,  dass  fUr  ihr  ganzes  Leben  die  Impulsiven, 
unmittelbaren  Handlungen  genügen.  Die  erste  hObere  Bil- 
dung des  Willens  —  über  das  blos  Impulsive  hinaus  — 
fordert  der  Krieg,  der  beständige  Unterordnung  unter  eine 
Autorität  verlangt  und  die  AutoriUlt  selbst  dadurch  befestigt. 
Die  Jägervölker  aber  führen  sehr  wenig  Krieg.  Sie  haben 
keinen  Besitz,  kein  Vermögen,  das  andere  Völker  zum  An- 
griffe reizen  könnte.  Und  wenn  sie  dennoch  angegriffen 
werden,  so  können  sie  ihr  Territorium  leicht  räumen,  ohne 
wertvolles  Vermögen  zurückzulassen  und  so  dem  Angriffe 
ausweichen.  Im  Sommer  wandern  sie  ohnehin  immer,  erst 
im  Winter  vereinigen  sie  sich  in  festen  Dörfern  *).  Da 
der  Krieg  bei  ihnen  so  selten  ist,  darum  haben  die  niederen 
Jägerstämme,  wie  oben  bemerkt,  keinen  Häuptling,  die 
höheren  einen  Häuptling  ohne  besondere  Autorität  Der 
Krieg  aber  allein  kann  auf  dieser  Stufe  die  Zucht  des 
Willens  bewirken.  Wo  er  fehlt,  haben  die  Alten  ihren 
Willen  nicht  in  Zucht,  finden  darum  auch  keinen  Grund, 
den  Willen  ihrer  Kinder  in  Zucht  zu  halten*). 


>)  Gbobsi,  a.  «.  0.    8.  39. 

•)  GnoMK,  a.  a.  0.    8.  72. 

")  Wie  H.  Spsnceb  und  dar  holUodische  Ethnograph  Wilken  meiiien. 
Te^.  Stbdihetz,  Elho.  Studien  n,  8.  204. 

•)  Qbosbe,  S.  67. 

*)  Eise  einiige  Atunahme  scheinen  die  FenerUnder  za  maohen. 
Obwohl  si«  auf  der  denkbar  niedrigsten  Stnfe  der  Koltni  stehen,  zeigen 
■ie  doch  nii^t  gftnclichen  Hangel  an  Kinderzaoht.  Tgl.  Stkinmetz  Ethn, 
Stnd.  II,  8.  200.     AndeiB  deraelbe  io  der  Zeitsohr.  f.  Sozialw.  I,  S.  611. 


iM,Coo<^lL' 


Aber  es  giebt  auch  Naturvölker,  bei  denen  schon  eine 
gewisse  Erziehung  vorhanden  ist.  Es  werden  den  Kin- 
dern  persönliclie  Tugenden  eingepflanzt,  besonders  die 
Tapferkeit  und  Abhärtung  gegen  Schmerz  und  Wetter,  nad, 
was  die  sozialeo  Tugenden  betrifft,  so  wird  wenigstens  das 
Gegenteil,  die  Untugend,  besonders  Widerspenstigkeit  gegen 
die  Eltern  durch  Strafen  bekämpft.  Die  Fertigkeiten  werden 
vielleicht  sorgßUtiger  gelehrt.  Bei  den  Apaehen  lernen  die 
Knaben  schon  frühe  den  Gebrauch  der  Waffen^.  Bei  den 
QuaycuruB  (am  Paraguay)  werden  die  Enaben  frtlhe  an 
den  Krieg,    die  Mädchen  an  die  Arbeit  gewOhnt'). 

Dies  ist  gegenüber  der  ersten  Gruppe  nichts  prinzipiell 
Neues.  Wohl  aber  ist  neu,  dass  z.  B.  der  Tlinkit-Indianer 
(an  der  Westküste  von  Kanada)  sein  Kind  züchtigt,  wenn 
es  sich  weigert,  im  Winter  ins  kalte  Wasser  zu  gehen'). 
Femer  werden  die  Kinder  gewöhnt,  Schmerzen  zu  ertragen. 
Und  erst  nach  allerlei  peinlichen  Proben ,  nach  der  so- 
genannten Initiation,  die  sehr  verbreitet  ist,  wü-d  der  Knabe 
unter  die  Erwachsenen  des  Stammes  als  Krieger  auf- 
genommen -*). 

Aber  auch  Unbotmässigkeit  wird  bekämpft.  Bei 
den  Aleuten  (auf  den  aleutischen  Inseln,  westlich  von  Alaska) 
werden  Ungehorsam  und  unbedeutende  Vergehen  blos  mit 
einem  Verweise,  gröbere  Verletzungen  der  Sitte  mit  ein- 
oder  mehrtägigem  Fasten  bestraft'),  Ausser  Strafe  haben 
die  Eltern  als  Abschreckungsmittel  noch  den  Zorn  des  bösen 
Geistes.  Die  Tupi  (an  der  Küste  Brasiliens)  kratzen  in  der 
Nacht  ihre  Bänder  mit  einem  Fischzahne,  vorgebend,  dass 
der  böse  Geist  dies  getlian  habe,  um  nachher  mit  ihm  drohen 

')  Stblnheiz  K.  8.  19Ü. 

^  Stknheiz  U,  8.  196. 

')  STEismrz  ir,  8,  194.  Stelnjibtz  unterscheidet  .ufuigetide  Br- 
ziehnng  ohne  oder  fast  ohne  Easteiane  nnd  .Btien^e  Zaoht".  Da  es  sich 
aber  nur  am  einen  gradaellan  Untetschisd  handelt,  so  habe  ich  diese  b«den 
QrappSD  zusammeDgeDoiumeu. 

*)  Vergl.  Stkikhete,  ZeitBchrin  fSr  Sosialw.  I,  Si-  626.  Beispiele  der 
Initiation  bei  Stn^HEn  II,  a  196,  auch  bei  LxTomsEkv,  L'^rolntion  de 
l'Mncation,  Paris  1898.  B.  61,  67,  91, 144, 145, 154  und  bei  ScmniTz,  8.  96ir. 

•)  Simnaiz  II,  S.  201. 


iM,Coo<^lc 


Die  Oeschichta  der  Eniehung  in  Boziologiijcher  Beleuahtuiig.        39 

ta  kODDen').  Also  in  Bezog  auf  die  sozialen  Tugenden 
irird  wenigstens  offene  Widerspenstigkeit  geahndet. 

Die  Mädchen  werden  auf  dieser  Stufe  zur  Keuschheit 
angehalten,  sie  wohnen  oft  getrennt  von  den  Jünglingen 
am  anderen  Ende  des  Dorfs.  Während  Stklhhbtz  bei  den 
33  Völkern,  die  er  als  jeder  Kinderzucht  ermangelnd  an- 
fuhrt, kein  Beispiel  der  Blrzwingung  der  Keuschheit  der 
tnidchen  erw&hnt,  giebt  er  in  der  zweiten  Gruppe  dafOr 
an:  die  Omaha  (nm  den  Winnibagosee  in  Kanada)^).  Die 
Viehzüchter  und  niederen  Ackerbauer  halten  alle  viel  auf 
Keuschheit  der  Mädchen,  da  nur  unberührte  Mädchen  als 
Frauen  verkauft  werden  können^). 

Wie  in  mancher  Hiniicht  —  durch  die  Hilfe  des  „bOsen 
Oeistes"  —  der  religiöse  Glaube  auf  dieser  zweiten  Stufe 
förderlich  für  die  Erziehung  ist,  so  wird  er  doch 
auch  vielfach  ihr  hinderlich.  Bei  einigen  Völkern  ist  noch 
ein  grosses  Hindernis  für  die  Energie  der  Erziehnng 
die  teilweise  aus  religiösen  Vorstellungen  entstandene  so- 
genannte, „Teknonomie",  d.  h.  die  Sitte,  dass  der  Knabe, 
sobald  er  geboren  ist,  als  der  eigentliche  Herr  der  Familie 
betrachtet  wird,  dass  der  Vater  ihn  niemals  straft,  dass  die 
ganze  Erziehung  sich  auf  Unterweisung,  Unterricht  und 
Beiehmng  beschränkt,  in  sitUicber  Beziehung  aber  die  an- 
geborenen wilden  Instinkte  herrschen.  Auf  den  Oesellschafts- 
inseln  folgt  der  erstgeborene  Sohn  eines  Häuptlings  gleich 
im  Augenblit^  seiner  Qeburt  seinem  Vater  nach,  und  zwar 
nicht  bloss  in  bezug  auf  den  Titel,  sondern  auch  in  der  oft 
bis  zur  Anbetung  gesteigerten  Ehrfurcht,  die  man  ihm  fortan 
erweist*).  Der  Vater  wird  so  bloss  des  Sohnes  Stellvertreter. 
Das  iBt  in  der  FanüUe  des  Häuptlings  am  sichtbarsten  und 
aufmiigsten,  verhält  sich  aber  ebenso  auch  in  den  anderen 


>>  SmmBiz  II,  S.  196. 

■)  a.  B.  0.  8.  191. 

■)  Qbobsb,  a  106,  S.  WnnBiuBcx,  6.  5Öff. 

*)  VerRl.  Srnmmz  II,  B.  22S  S.  Ttuat  weist  die  Tetnonomie  von 
IfiD  Völkern,  die  er  onterBnchte,  bei  dreissig  nach.  Vergl.  Steinkiik,  11. 
;.  237. 


iM,Coo<^lc 


70  Panl  BarthT 

Familien.  Bei  anderen  Völkern,  z.  B.  bei  den  Javanen  ist 
von  dieser  Teknonomie  nur  noch  ein  Best  geblieben,  nämlich 
die  Sitte,  dass  die  Eltern  den  Namen  des  Kindes  annehmen. 
Wena  ein  jaTanisches  Kind  den  M'amen  Sariman  empßlngt, 
so  heissen  seine  Eltern  fortan  Faq-Sariman,  Vater  des  Sari- 
man, und  Boq-Sariman,  Mutter  des  Sariman.  Von  gleicher 
Bedeutung,  wie  die  Teknonomie  ist  bei  den  Völkern,  die 
nocti  Mutterrecht  haben,  das  ihr  ganz  analoge  Vasu- Wesen, 
d,  h.  die  Unterordnung  des  mütterlichen  Oheims  unter  seinen 
Neffen,  bei  dem  er  Vaterstelle  vertritt,  wie  dies  auf  den 
Fidschi-Inseln,  auf  Samoa,  den  Palau-Inseln  und  an  anderen 
Orten  beobachtet  worden  ist»). 

lieber  den  DrapnmK  beider  Sitteu  führt  SiUNtUTs'J  vier  teils  wirk- 
lich gegebene,  teils  mögliche  Erkläroiigsweiseii  &□.  Die  oiste  derselben  sieht 
in  der  TetnoDomie  nur  einen  der  hftoligen  ¥Slle  des  NftmenweohüelB  des 
Natnrmen sehen,  der  eich  oft  nach  einem  nen  erworbenen  wertvollen  BesitEe, 
in  diesem  Falle  nach  dem  Kinde,  nenne.  Dagegen  spricht,  daGS  man  nach 
sonstiger  Analogie  eher  die  ümkehrung,  die  Uebertragung  des  Namens  der 
Eltern  an  das  Kind  ta  erwarten  hat").  Die  zweite  sieht  in  der  Annahme 
des  Namens  des  Bohnes  durch  den  Vater  nnd  in  der  ganzen  Unterordnung 
des  Vaters  unter  ihn  nur  den  Ausdruck  der  Lieb6,  dart^  die  sich  der 
Vater  die  vom  Sohne  einst  ihm  darzubringenden  Totenopfer  sichern  vUL 
„Mit  der  strengen  Vaterberrschaft  als  Onincllage  der  Familie  stellt  sich  der 
Ahnenknlt  stets  e!n''*j.  Aber  die  Teknonomie  gilt  auch  häufig  im  Hatri- 
srchate,  muss  also  noob  andere  Ursachen  haben.  Die  dritte  Hypothese  ist 
die,  dass  nach  einem  weit  verbreiteten  Olaubea  bei  der  Geburt  das  ersten 
Kindes  die  Seele  der  Eltern  in  das  Kind  übergeht,  die  Eltern  also  keina 
weitere  Daseinsberechtigung  haben,  womit,  sowie  mit  der  aUgeroeinen 
Oeringsoh&txong  des  Lebens  hei  den  Naturvölkern,  anoh  die  in  Melanesien 
und  anderswo  allgemeine  Tötung  der  Alten  zusammenhänge.  STsramn 
weist  diese  H^rpothese  nicht  ganz  ab  (B.  232,  235,  248),  sondern  glaubt  sie 
vereinbar  mit  einer  vierten  Erklamngs weise.  Diese  von  dem  verdienst- 
vollea  holländischen  Forscher  Wcjckn  and  dem  so  sehr  sorgfältigen  be- 
rähmten  Anthropologen  Ttlob  angenommen,  sieht  in  der  Teknonomie  eine 
ähnliche  Bedeutung  wie  in  der  bekannten  weit  verbreiteten  Convade,  dem 
Minnerkindbette,  durch  das  der  Mann  symbolisch  seine  Hechte  auf  das 
neugeborene  Kind  geltend  machen  will,  das  also  ein  Sjmptom  des  üeber- 
ganges  des  Matriarchats  in  das  Patriarchat  ist.  Wn.KEK  stellt  auch  die 
Teknonomie  in  diesen  Uebergang;  wo  die  Mutter  sich  nach  dem  Kinde 
benennt,  sieht  er  nur  eine  höfiicbe  Nachahmung  des  T&terlichen  Namens. 
Ttlob  hingegen  ündet  sie  dem  Matriarchate  gleichzeitig  und  nur  unter  ihm 
durch  das  Interesse  dee  Mannes  geboten ;  wo  sie  im  Patriarchate  vorkommt, 


')  Verel.  SiEDiMmz  D,  S.  i 
»)  n,  297  ff. 
*)  S/imatttz  H,  228  ff. 
*)  Stkikhetz  II,  S.  229. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Die  Gesohiohte  der  Erriehung  in  soziologischer  Beleuulituug.        71 

scheint  sie  ihm  bloßes  nUeberlebsel".  Di »Ge  Frage  dar  Zeitbestimmong 
ist  sebnnd&r.  Im  gaszen  dünkt  mich,  dass  diese  vier  ErUänmgen  sich 
Dicht  ausaehliesaen,  soedem  ergänzen. 

So  Belir  diese  beiden  Sitten,  TeknGinomie  und  Vaßu- 
Wesen,  der  Zucht  auch  entgegenwirken,  ein  wichtiger  Än- 
Auig  derselben  besteht  doch  bei  den  hier  angeführten  Völkern. 
Und  es  ist  nicht  zufällig,  dass  unter  ihnen  —  der  zweiten 
nnd  dritten  Gruppe  bei  Stbimubtz  —  nach  diesem  nur  sehr 
wenige  als  imstäte  VOIker,  die  meisten  als  Viehzüchter  — 
besonders  in  der  dritten  Gruppe:  Aleuten,  Kurden  (in 
Kleinasien).  Basutos  (in  der  Eapkolonie)  —  Ackerbauer 
oder  Jägerbauer,  d.  h.  solche,  die  Ackerbau  und  Jagd  ver- 
einigen, zu  bezeichnen  sind. 

Die  Familienverhältnisse  sind  hier,  wie  bei  den  un~ 
stfiten  Völkern,  den  Jägern  und  fächern,  auch  sehr  mannig- 
Tach.  Besonders  herrscht  bei  den  Viehzüchtern  als  charakte- 
ristische Form  die  Kauf-  und  Baubehe  vor'). 

So  wird  es  auch  hier  nicht  eine  neue  Verfassung  der 
Familie  sein,  die  den  höheren  Grad  der  Erziehung  hervor- 
bringt, sondern  die  Über  das  Primitivste  schon  erhobene  Art 
der  Lebensflirsorge.  Der  Viehzüchter  und  der  Acker- 
bauer haben  infolge  der  besonderen  BeschafTenheit  üires  Be- 
sitzes eine  regelmässigere  Arbeit  als  der  Jäger,  dem  nur 
darch  sein  eigenes  BedOrMs,  nicht  durch  das  der  Haustiere 
oder  durch  die  Wachstumsbedingungen  der  Kulturpflanzen 
seine  Arbeit  reguliert  wird.  So  müssen  beide  schon  im  Frieden 
ihren  Willen  der  Erfüllung  regelmässiger  Pflichten  unterwerfen. 

Noch  notwendiger  ist  das  im  Kriege,  der  immer  und 
überall  die  Unterordnung  des  Einzelnen  unter  die  Zwecke 
der  Gemeinschaft  fordert.  Die  Kriege  aber  sind  eben  fflr 
die  Viehzüchter  und  Ackerbauer  häufiger.  Unter  den  ersten 
befinden  sich  die  kampflustigsten  und  grausamsten  aller  Natur- 
völker, wie  die  Masai  (in  Ostafrika  um  den  Äquator).  Beide, 
Viehzüi^ter  wie  Ackerbauer,  haben  nicht  bloss  einen  Vorrat 
an  Lebensmitteln  wie  die  Jäger,  sondern  Vermögen  an  Vieh 

')  VergL  Gross».    8.  104  ff. 

n,g,t,7l.dM,GOOglC 


72  Paal  Bmtbi 

und  Äckerboden,  also  viel  begehrenswertere  Besitzobjekte. 
Beide  können  ausserdem  nicht  so  leicht  ihr  Laad  aufgebeD 
und  sofort  ein  gleichwertiges  finden.  Beide  WOTden  also 
bänfiger  aogegriffeu  werde»  und  sich  wehren  müssen.  Nichts 
aber  entwickelt  die  Disziplin  des  "Willens  mehr  als  der  Krieg. 
Und  die  Alten  werden  so  naturgemäss  empfindlicher  gegen 
den  undisziplinierten  Willen  der  £tnder. 

Aber  diese  Völker,  bei  denen  sich  der  Anfang  der  Zadit 
im  c^n  festgestellten  Sinne  findet,  d.  h.  die  ZUchtnog 
persönlicher  Tugend,  der  Tapferkeit,  und  Unter- 
drtlckung  socialer  Untugend,  der  Widerspenstigkeit,  sind 
noch  keineswegs  die  höchsten  der  Naturvölker.  Man  maas 
2U  den  Naturvölkern  alle  diejenigen  rechnen,  deren  geaellschaft- 
licber  Zusammenhang  noch  auf  der  Blatsverwandtschaft,  — 
wenn  Sohubtz  Recht  bat,  verbunden  mit  dem  ursprUnglidien 
Qeselligkeitstriebe,  —  nicht  auf  einer  künstlichen  Gliederung 
der  Volksgenossen  beruht.  Und  dazu  gehören  aach  noch 
diejenigen  Völker,  deren  soziale  Einheit  die  patriarchale  Sippe, 
ein  sehr  fest  gefügtes  G-ebilde,  und  deren  Wirtschaft  schon  «a 
Ackerbau  mit  einer  gewissen  Technik,  nicht  mehr  der  primitive 
Hackbau  ist.  Dieser  letzte  kommt  selten  allein  vor,  m^t 
in  Verbindung  mit  Viehzucht  wie  z.  B.  bei  den  Kaffem '), 
und  begründet  keine  höhere  Kulturstufe.  Ein  entscheidender 
Fortschritt  dagegen  zeigt  sich  entweder  in  Anwendung  von 
Zagtieren  und  Düngung,  dem  speziell  sogenannten  Acker- 
bau, oder  in  Düngung  mit  künstlicher  Bewässerung,  dem 
sogenannten  Gartenbau^).  Als  einziger  Nahrungserwerb, 
(^ne  Städte  und  ohne  Industrie,  ist  beides  jetzt  selten  ge- 
worden. Die  Dorfgemeinden  Indiens  bieten  noch  Beisiuele 
der  Wirtschaft  dieses  Typus,  aber  keine  reinen  Beispide,  da 
Über  ihnen  noch  ein  sozialer  Überbau  aus  Brahmanen,  Krieg«ii, 
Industrie  und  englischen -Beamten  liegt. 

')  Vergl.  Ed.  Habs,  Die  Haastiere  und  ihre  BeEiehimgeii  lox  Wiit- 
Bchalt  der  UenacbeD.  l«tpziK.  1896,  S.  465f.  Auch  J.  Lutdr  Knltnr- 
geechiohte  der  MeoBobheit,  I,  Stattgart,  1886,  8.  U9S. 

')  Bittx,  a.  a.  0.,  S.  388ff. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Die  Geachiohte  dei'  Eraehong  in  soziologischer  Beleachtnng.        73 

Dagegen  sind  eine  Anzahl  geschlclitlicber  Völker 
durch  diese  Stufe  des  Oartenbaus  oder  diejenige  des  reinen 
Ackerbaos  hindm-chgegangea.  Die  Azteken  Mexikos  und 
die  Pemaner  des  Inkareidtes  haben  von  Gartenbau  gelebt. 
Aber  beide  sind  nicht  mehr  den  Katunrölkem  zazarechnen, 
beide  scheinen  bereits  in  einer  künstlich,  nach  Ständen  ge- 
gliederten Gesellscdiaft  gelebt  zu  haben,  zeigen  jedenfalls 
einen  fest  oiganisierten  Priesterstand,  der  dem  Charakter  der 
reinen  M'aturrOIker  widerspricht.  Die  europäischen  Kultur- 
völker leben  vom  Ackerbau,  nach  patriarchalischen  Sippen 
gegliedert,  in  den  letzten  Zeiten  der  sogenannten  Vorgeschitdite, 
die  in  die  geschichtliche  Zeit  durch  Sagen  hinUbet^ngen. 
So  die  Stämme.  dieHomer  schildert,  die  Germanen,  die 
Tacitus  beschreibt. 

Und  eine  Folge  des  Ackerbaues  scheint  es,  dass  diese 
geschichtlichen  Völker  in  der  Periode  der  patriarchalischen 
Sippe  eine  Verschärfung  der  Zucht  zeigen  gegenüber  den 
zuletzt  angeführten  NaturrSlkem. 

Die  Erziehung  bei  Homer  unterscheidet  sich  sehr  deut- 
lich Ton  der  eben  betrachteten  Stufe,  auf  der  bloss  der  Un- 
gehorsam bekämpft  wird. 

Was  die  Zucht  betrifFt,  so  werden  zunächst  die  fUr  das 
kriegerische  Leben  nötigen  persOnUchen  Tagenden  ebenso 
verlangt,  wie  bei  primitiven  Völkern.  Der  alte  Peleus  giebt 
Boinem  unrntlndigen  Sohne  Achilleue  den  alten  Fhoinix  mit, 
damit  er  ihm  die  Thateo  des  Krieges  lehre  9.  Und  es  ist 
selbstverständlich,  dass  die  Feigheit,  Ober  die  so  oft  harter 
Tadel  hervorbricht*),  an  der  heranwachsenden  Jugend  mög- 
lichst bekämpft,  die  Tapferkeit  mÖgUchst  gefördert  wird. 
Hierin  aber  liegt  kein  Hinausgehen  Ober  die  zuletzt  ge- 
nannten Natorrölker. 

Anders  in  bezog  auf  die  sozialen  Tugenden.  Denn 
es  wird  nicht  bloss  Ungehorsam  gegen  alle  Äheren  ver- 

yiliasIX,  T.  488  ff. 

>)  E.  B.  a.  m,  39  ff. 

n,g,t,7l.dM,GOOglC 


74  Panl  Barth: 

pönt,  sondern  auch  positive  Verehrung  verlangt.  Sogar 
einen  Älteren  auszufragen,  gilt  als  unbescheiden  i).  Und  dia 
scheue  Ehrfurcht,  die  der  Jüngling  vor  dem  alten  Maane 
haben  mus8,  wird  mit  demselben  Worte  («M«c),  -wie  die 
fihrfurcht  vor  den  GKSttern  bezeichnet*).  Gegen  die  Mutter 
ist  die  Ehrerbietung  geringer  als  gegen  den  Vater,  da  die 
Frauen  tlberhaupt  den  Männern  gegenüber  eine  dienende 
Stellung  haben.  Daher  die  bekannte,  allerdings  sehr  sach- 
liche Zurechtweisung  Penelopes  durch  ihren  Sohn  Telemach^). 

Die  speziell  weiblichen  Tugenden,  die  Schamhafügkrät 
und  die  Keuschheit,  werden,  wie  wir  oben  sahen,  oft  auf 
der  mreiten  Stufe  der  Erziehung,  bei  Viehzüchtern  und 
niederen  Ackerbauern,  geschätzt.  Auch  bei  Homer  wird 
die  Sittsamkeit  und  die  Keuschheit  der  Jungfrauen  dadurch 
gesichert,  dass  sie  vor  der  Verheiratung  von  fremden,  nicht 
verwandten  Männern  sich  fem  halten  müssen*). 

Von  den  Fertigkeiten  sind  zunächst  die  für  den  Krieg 
notwendigen  G-egenstand  der  Unterweisung.  Phoinix  lehrt 
seinen  ZOgling  Achilleus  Redner  der  "Worte  und  Thäter  der 
Werke  zu  sein*).  Auch  der  zuerst  genannte  Teil,  die  Be- 
redsamkeit ist  ein  Erfordernis  des  Krieges*  Denn  der 
König  darf  bei  Homer  keine  Entscheidung  auf  eigene  Faust 
treffen,  sondern  nur  nach  der  Beratung  mit  der  Versammlung 


')  Od.  m,  14  Q.  24 

*)  Tergl.  die  eb«u  uigeführte  Stelle  der  Odjrssee,  wo  du  Substantir 
oiAJf  steht  mit  dem  formelhaften,  öfter  (z  B.  II.  XXIT,  503)  gebraaoht«n: 
aliüo  dmvs,  and  Od.  XXI,  28:   &aöy  ontv  j/tiaaio. 

■)  Od.  XXI,  360— S&'t:  „Geh  iafi  Haus  nod  besorge  deine  Arbeit, 
den  Webstuhl  and  die  Spindel  uod  gebiete  den  DieneriDnen  an  ihr  Werk 
iD  schreiten.  Der  Bogen  wird  der  Männer  Sorge  sein,  besonders  meine; 
denn  mein  ist  die  Oewalt  im  Haose". 

*)  Vergl.  Od.  VI,  386 — 88.  Eine  Ausnahme  machen  oar  öCtentliobe 
Aofifiee  und  Beigentänze,  an  denen  beide  Geschlechter  teil  nehmen.  VergL 
II.  XVIII,  567ff,,  auch  690ff.  Diesen  Hinweis  auf  die  besondere  weibliiAs 
Erziehung  verdanke  ioh  der  Arbeit  von  R.  F.  J.  Ktöizsu,  die  grietdusoha 
Erziehung  in  Homere  lüas  nnd  Odyssee,  Zwickau,  1891,  die  itn  übrigen  wenigar 
von  der  Erziehung  der  homerisohen  Zeit  ab  von  deren  allgemeiDen  Sitten  handalt, 
aber  anch  für  diese  nor  eine  Zusammenstoppelong  Tcn  Stellen  luingt,  ohos 
sich  von  irgendwelchen  soziologischen  oder  psychologische  □  BegrifTen  leften 
zn  lassen. 

•)  II.  IX,  448. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^le 


Dis  Qeschiohte  der  Erziehung  in  soEiologisober  Beleuchtung.        75 

der  freien  ItJänner,  io  der  jeder,  selbst  ein  Thersites,  aufea- 
treten  und  das  Gewicht  seiner  GrüDde  geltend  zu  machea 
berechtigt  ist.  Wer  also  etwas  erreichen  will,  muss  die 
Künste  der  Rede  verstehen.  Diese  wird  an  Nestor  nicht 
geringer  geschätzt  als  an  anderen  die  Tapferkeit').  Doch 
aacb  fUr  die  Friedenszeiten  ist  die  Beredsamkeit  ntitjalicb. 
Mit  begeisterten  Worten  wird  der  Redner  der  Volksver- 
SEuntnlung  geschildert,  den  alle  wie  einen  Gott  anschauen^). 
Die  gleiche  Schätzung  der  Beredsamkeit  werden  wir  später 
bei  den  Azteken  Mexikos  Snden,  die,  wie  oben  bemerkt, 
über  die  Naturform  der  sozialen  Organisation  schon  hinans 
gewachsen  sind,  aber  doch  noch  vieles  ihr  Verwandtes  zeigen. 
Kein  Wunder  daher,  dass  die  Beredsamkeit  die  Bälfte  der 
homerischen  Unterweisung  ausmacht. 

Dass  Wissen  und  Weltanschauung,  wie  bei  allen  schon 
in  Betracht  gezogenen  Völkern,  auch  in  der  homerischen  Welt 
der  Jugend  Überliefert  werden,  ist  selbstverständlich.  In  der 
That  lernt  Achill  von  Chiron  die  Heilmittel  für  die  Wunden'), 
und  auch  die  Lieder  von  berühmten  Thaten,  die  er  zur  Laute 
singt*),  muss  er  in  seiner  Kindheit  und  Jugend  gelernt  haben. 

In  den  Naturformen  der  Gesellschaft  giebt  es  zwar 
schon  Unterschiede  des  Reichtums  und  der  Vornehmheit,  auch 
den  grossen  Gegensatz  zwischen  fVeiheit  und  Sklaverei.  Bei 
Homer  finden  wir  Vornehme  und  Gemeinfreie  {Aaoi),  unter- 
halb ihrer  die  Klasse  der  Sklaven.  Aber  noch  sind  die 
Stände  nicht  schroff  getrennt,  noch  giebt  es  keinen  auf 
Öffentlichem  Rechte  beruhenden  Unterschied  zwischen  Prlvi- 
l^erten  und  Volk,  noch  ist  der  Verkehr  zwischen  Herren 
und  Sklaven  fast  wie  zwischen  Gleichen.  Odysseus  und 
Telemaeh  verkehren  freundschaftlich  mit  Eumaios    und  mit 


')  II.  U,  SlOff.  wäoacht  Agamemnon,  er  hätte  zehn  Ratgeber  TOn 
glachei  Beredasm^t  wie  Nestor;  dann  würde  Troja  bald  wanken.  Ebenso 
wird  OdjBBeuB'  Klugheit  und  Beredaamkeit  sehr  gepriesen. 

»)  Od.  Vni,  170fl. 

')  IL  XI,  saa. 

')  II.  IX,  186  f. 


iM,Googlc 


76  PaqI  Bai'th: 

Burykleia')-  Nausibaa  spielt  Ball  mit  iUreo  DienerinneiL 
Auch  gilt  Doch  keine  Arbeit  als  gemein,  als  zu  niedrig  Air 
die  Voniehmea.  Andromacbe  füttert  die  Bosse  ihres  Mannes, 
wenn  es  nicht  Hektor  selbst  thut^),  Laertes  lebt  unter  seinen 
Dienern  auf  dem  Lande  und  behackt  selbst  den  Garten  >), 
Nausikaa  hilft  ihren  Dienerinnen  beim  Waschen*). 

Demgemäss  giebt  es  in  der  Erziehung  keinen  Unter- 
schied des  Standes.  Der  Sobn  der  Sklavin  wird  mit  den 
ehelichen  Eindero  zusammen  in  gleicher  Weise  erzogen;  erst 
nach  dem  Tode  seines  Vaters,  bei  der  Erbteilung,  wird  er 
TOD  seiDOD  Halbbrüdern,  mit  eioem  geringeren  Erbe,  als  sie 
sidi  selbst  Euteileo,  abgefunden").  Eumaios,  als  Kind  phönifi- 
schen  Seeräubern  abgekauft,  wird  von  Odysseus'  Matter  mit 
ihrer  Tochter  Ktimene  zusammen  aufgezogen  und  erfreut 
sich  derselben  Rechte,  wie  die  Tochter  des  Hauses,  bis  diese 
eich  verheiratet  6). 

Dass  endlich  die  soziale  Arbeitsteilung  bei  Homer  noch 
nicht  so  weit  vorgeschritten  ist,  dass  es  einen  Stand  der 
Ermeher  geben  kennte,  verrät  sieb  besonders  auch  in  seiner 
Sprache,  in  der  sich  weder  für  „Iiehrer"  oder  nErzieber" 
noch  fUr  Erziehen  ein  spezifischer  Ausdruck  findet,  dieses  letzte 
vielmehr  mit  demselben  Worte  wie  das  physische  „Auf- 
ziehen" (T^i^sty)  bezeichnet  wird,  neben  dem  noch  das  Oberall, 
aach  auf  tieferen  Stufen  vorhandene  Unterrichten,  aladiiätnwtv 
besonders  benannt  wird^),  der  spätere  terminus  tecbnicns  für 
Erziehen  (nraMfevetr)  aber  durchaus  fehlt. 

Mit  der  homerischen  Gesellschaft  steht  auf  gleicher  Stufe 
die  germanische,  die  uns  Taoitds  schildert.    Auch  sie  be- 


■)  Ueber  Tolemsch  und  Eamüoe  verel.  Od.  XVI,  äOff.,  über  OdysMiu, 
EnmaJoB  und  deo  EiDderhinen  Od.  XXT,  2S3ff.,  über  OdyBBeoe  und  Saij- 
Ueia  Od.  SIX,  4T4ff.,  über  Telemaoh  ond  Earjkleia  Od.  II.  363ff.  Vergl. 
KLÖTxm,  B.  a.  0.  8.  6. 

•)  D.  VIU.  18611. 

•)  Od.  iXIV,  226ff.,  anoh  II,  187ff.    Vei^.  Klötirb,  a.  a.  0., 

*)  Od.  VI,  25«.    Vend.  aoob  Od.  VII.  5f. 

')  Od.  XIV,  202ff. 

•)  Od.  XV,  383  ff. 

')  Vergl.  z.  B.  11.  IX,  442. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Dis  Gescbiobte  der  EnJehuog  in  soiiologiscber  Beleuchtung.        77 

ruht  noch  auf  der  Blutsverwandtschaft.  Die  GermaoeD 
kämpfen,  geordnet  nach  „Familien  und  Geschlechtern"  *),  wie 
die  Krieger  Homers  nach  Phratrien  {Bruderschaften),  d,  h. 
Vereinigungen  blutsverwandter  Geschlechter,  und  nach 
Stämmen,  d.  h.  Vereinigungen  mehrerer  Phratrien,  geordnet 
sind').  Ihre  Wirtschaft  wurzelt  in  dem  allerdings  noch  nicht 
sehr  intensiven  Ackerbau  und  in  der  vielleicht  noch  stärker 
als  in  der  homerischen  Welt  betriebenen  Viehzucht.  Beider- 
seits ist  der  Verkehr  Über  den  Tauschhandel  noch  nicht 
hinaosgekommen.  Das  germanische  Königtum  beruht,  m.6 
das  homerische,  nicht  auf  der  Macht,  sondern  auf  dem 
moralischen  Einflüsse  des  Königs '). 

Die  Familie  erzieht  den  Knaben  zur  Tapferkeit.  Wenn 
die  Erziehung  beendet  ist,  wird  er  in  feierlicher  Weise  in 
einer  Versammlung  der  Geschlechtshäupter  vom  Vater  oder 
emem  Verwandten  mit  Schild  und  Speer  geschmückt*).  Die 
Töchter  müssen  mit  den  Frauen  nicht  bloss  alles  für  den 
Haashalt  Nötige  besorgen!^),  sondern,  wie  es  scheint,  sogar 
den  Ackerbau^),  werden  also  durch  die  Mütter  von  Kindheit 
an  in  den  Kreis  ihrer  Pflichten  eingeführt.  Da  die  Bede- 
knnst  zu  den  Erfordernissen  des  Königtums,  und,  da  in  der 
Volkaversammlung  jeder  reden  darf,  wohl  auch  des  freien 
Standes  gehörf),  so  wird  der  junge  Germane  sie  ebenso 
wie  der  junge  Grieche  bei  Homer  von  seinem  Vater  oder 
von  dessen  Stellvertreter  gelernt  haben. 

Sehr  lebreich  wäre  es,  wenn  man  mit  der  ttitesten  griechischen  nad 
der  ftltesten  germanischen  Eraiehnng  diejacige  Tergleichen  könnte,  die  von 
den  alten,  Indien  erobemdea  Ariern  geäbt  wurde.  Aber  die  Teden, 
die  ihre  Religion  enthalten,    —    einen   natDraliatischeD   Foljrtheiitmafl,   der 


')  TAcmw,  Oermania,  E.  7:  „Fnmiliae  et  propiaquitates". 

•)  U.  11,  862  (f. 

*)  Ticmm,  ».  a.:  0.  K.  11. 

*)  TACITC3,  K.  18. 

^  a.  a.  O.  £.  26. 
•)  K.  16. 
')  K.  11. 


iM,Googlc 


dnioliAQS  die  gleiche  geistige  Stnfe  reriU,  wie  die  homensohe  Beligion  nnd 
die  der  alten  Oermaaen,  —  berichten  ans  nichts  fiber  die  Eniehaiu  der 
Jagend'),  ebenso  wenig,  wie  es  scheint,  die  grossen  Epen,  die  den  Eunpf 
nm  die  indische  üetelme  schildern. 

Die  Strenge  nun,  die  wir  bei  den  Acliäern  und  bei 
den  Germanen  in  der  Erziehung  finden,  dOrfen  vir  keines- 
wegs aus  der  AJleinherrschaft  des  Mannes  ableiten.  Stbim- 
MBTZ*)  erweist  ganz  klar,  daas  auch  im  Matriarchate  der 
Mann,  zwar  nicht  der  Vater,  aber  der  mütterliche  Oheim 
regiert,  der  Unterschied  der  FamilienTerfaeauDg  also  dem 
Kinde  gegenüber  nicht  in  Betracht  kommt  Vielmehr  scheinen 
die  drei  Stufen  der  Zucht,  die  wir  als  deatlich  unter- 
Bcheidbar  feststellen  konnten,  1)  Abwesenheit  jeder  Zucht, 
2)  Erzwingung  der  Tapferkeit  (bei  den  Mädchen  der  Keusch- 
heit) und  Bekämpfung  des  Ungehorsams,  3)  Züchtung  posi- 
tiver sozialer  Tugend,  besonders  der  Ehrfurcht  vor  den  Alten 
auf  der  schärferen  Disziplin  des  Willens  der  Erwachsenen 
zu  beruhen,  die  durch  zunehmende  Fianmässigkeit  der  Lebens- 
fUrsorge  erzeugt  wird.  Diese  ist  zuerst  recht  dUrflig,  nicht 
ernster  als  das  Spiel  des  Kindes*).  Da  der  Wilde  selbst 
sein  Leben  lang  ein  spielendes  Kind  bleibt,  so  kann  er  auch 
seine  Kinder  nicht  erziehen,  zumal  das  Kind  der  Naturvölker 
sehr  frühe  selbständig  wird*).  Aber  einmal  hört  das  Spiel 
auf  oder  vielmehr  es  vereint  sich  mit  regelmässiger  Arbeit. 
Es  erhebt  dann  den  Menschen  aus  einem  blossen  Triebleben 
zu  einem  teilweise  wenigstens  wählenden  und  seine  Triebe 
weiteren,  mittelbaren  Zwecken  unterordnenden  Wesen.  EIrst 
ein  solches  kann    erziehen.    Und   nur   die    harte    Not  des 


■)  Te^l.  LnouBHur,  ■.  a.  0.  8.  385  f. 

*)  Ethnologische  Stadien  U,  8.  207  f. 

0  Veritl.  E.  BßcHER,  die  Entatehnng  der  Toi Ils Wirtschaft,  S.  Aofl., 
Tdbingen,  1898,  8.  34:  „Das  Spiel  ist  Utar  ale  die  Arbeit"  BOohu'b  Bach 
.Arbeit  und  Bhfthmas"  sohilderi  den  Proiess  des  üebeiTanges  vom  entea 
cor  zweiten  ond  die  Verbindung  beider. 

*)  Tergl.  Stedhotz,  II,  8.  216:  .Bei  den  Athka-AIenten  wird  der 
Enabe  mit  »hn  Jahren  selbständiger  Jttger  und  heiratet  er."  Daaelbet 
auch  viele  andere  Beispiele  dieser  Frühreife. 


iM,Coo<^lL' 


nie  GeBcbichte  der  Eriieiiang  in  aosiolo^soher  Beleaohtnng.        79 

Daseinskampfes  konnte  wie  Oberhaupt  den  Fortschritt  zu 
einer  neuen  Lebensiuittelerzeud^ng,  auch  die  hfihere  Willens- 
bildung erzwingen  1). 

Neben  dieser  Macht  der  Lebensfürsorge  ist  es  vor  allem 
der  Krieg,  der,  wie  oben  (S.  67  u.  S.  71)  bemerkt,  dem  Er- 
wachsenen Unterordnung  des  Willens  üben  und  schliesslich 
auch  von  seinen  Kindern  fordern  lehrt.  STBrajtiETz^)  Hihrt 
sechszehn  Völker  an,  bei  denen  der  Krieg  die  Macht  des 
Häuptlings  erst  schafiTt  oder  steigert.  FUr  den  Anfang  des 
Kri^ea  beweist  Steinmetz,  für  die  Dauer  desselben  vermutet 
er^),  dass  der  (Gehorsam  durch  Strafen  erzwungen  wird. 
Wer  aber  Gehorsam  leistet,  wird  auch  Gehorsam  fordern. 
So  ist  der  Krieg  die  Schule  für  die  Erziehung  der  Erzieher. 
Ä.uch  ist  es  wohl  kein  Zufall,  dass  im  Lateinischen  modestia 
sowohl  die  militärische  Manneszucht  als  die  allgemeine  Tugend 
der  Bescheidenheit  'bedeutet. 

Der  dritte  Faktor,  der  das  Willensleben  des  primitiven 
Menschen  regelt,  ist  der  religiöse  Gedanke.  Er  besteht 
zuerst  nur  in  der  Erklärung  des  Lebens  als  einer  persSn- 
lichen  Macht,  eines  „Geistes",  der  als  ein  zweites  Ich  nach 
Analogie  des  Schattens,  des  Spiegelbildes  im  Wasser,  des 
Traumbildes  gedacht,  den  Körper  bewohnt,  durch  zeitweiliges 
Verlassen  ihn  krank  macht,  durch  endgiltiges  Auswandern 
den  Tod  herbeiführt.  Die  zweite  Stufe  ist  die  Anerkennung 
nicht  bloss  des  Lebens,  sondern  aller  Erscheinungen  und 
Mächte  der  Natur  als  persönlicher  Wesen,  der  allgemeine 
„Animismus."  Wenn  diese  Mächte,  als  Menschen  gedacht, 
folgerichtiger  Weise  mit  menschlichen  Schicksalen  ausgestattet 


')  Vergl.  ancb  F.  Bateel,  Politisotae  Oeograpbie,  MfiDohen  ond  Leipzig, 
1S97,  S.  65:  „Es  nitre  verfehlt  in  ^aben,  der  AQketban  nnd  die  Viebiooht 
sdea  nnr  ErwerbsEweige.  E^  Bind  Pottnen  des  Lebens,  id  deneD  jede 
BkUigkeit  nnd  jedee  Streben  eine  besondere  Riahtaog  empfingt' 

■)  EthnolDgiache  Stadien  ü,  S.  316  ff. 

■)  Doch  fühlt  ei  fär  die  Daoer  des  Krieges  tiaoh  ein  bestimmtes 
Zeagnis  an,  niUnlidt,  dase  bei  den  Apalachiten  Sohildwachen,  welche  ein- 
schliefen, mit  dem  Tode  bestraft  worden  [a.  &.  0.  S.  3S1). 


.     UN''.. 


80  I*«!!!  Barth: 

werden,  so  enteteht  aas  dem  Animismus  der  DatoniUstisdne 
Poljtbeismus  mit  seiner  bunten  Mythologie,  wie  er  bei  Homer 
zu  finden  ist*)- 

Die  homerischeo  Qötter  sind  mehr  mächtig  als  sittlich, 
wie  man  Überhaupt  den  EinSues  der  religiösen  Vorstellungen 
auf  die  primitive  Sittlichkeit  nicht  überschätzen  darf.  Diese 
ist  zunächst  das  Erzeugnis  der  Terwandtschaftlichen  und  der 
wirtschaftlichen  Verhältnisse^).  Aber  auf  der  homerischen 
Kulturstufe  bedeuten  die  Götter  doch  schon  etwas,  auch  fQr 
den  menschlichen  Willen.  Sie  sind  nicht  spezifisch  sittlicb, 
eine  Göttin,  die  Ate,  ist  sogar  die  Quelle  alles  physischen 
and  moralischen  UnglDcks^),  Hermes  lehrt  den  Menschen 
Meineid  und  Betrug*),  alle  Gatter  sind  bestechlich  durch 
Opfergaben  ^).  Aber  der  Mensch  mass  sich  ihnen  unter- 
ordnen, ihnen  opfern,  ihre  Heiligtümer  unverletzt  halten. 
So  zähmen  sie  seinen  Eigenwillen  und  lehren  ihn  den  Eigen- 
willen seiner  Kinder  zu  zähmen.  Sie  bändigen  seine  Wildheit, 
seine  Sittlichkeit  werden  sie  erst,  selbst  sittlich  gewordes, 
in  den  Kunstformen  der  Gesellschaft  fördern. 


')  Veigl.  über  die  religiöae  EntwioblnDg  P.  Bakth,  die  Philoeophia 
der  OsBohidite  ak  Soziologie,  Leipng  I,  1897,  8.  377  B. 

')  Vergl,  Tylor,  primitive  Caltnre,  deotsoh  a.  d.  T.:  ADßnge  der 
Cnltor,  Leipzig  1873,  I,  S.  421  und  IL  S.  360. 

>)  IL  IS,  606ff. 

•)  Od.  XIX,  895  fE. 

•)  U.  IX,  497  ff. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


llM»tlHlf***"*'.^^**^^' 

I  Berichterstattung. 


I 


I. 

Bespreeknngen. 

AdanUewlei,  A^  Die  G^rosshirnrinde  als  Organ  der 
Seele.  Mit  2  Tafeln  and  1  Abbildaog  im  Text.  Wies- 
baden, J.  F.  Bergmann,  1902.     79  S. 

VeifiMsei  bwbsiohtigt.  hier  allee  was  er  in  Terechiedenen  Sdiriften 
üb«  dl«  Fonktioii  der  Orosshinitinde  and  ihrer  Oimglien  veriffentticbt  bat, 
nbwaiiditlioh  und  in  allgeiueia  faselicher  Form  EOBammeDioBtellen,  In  ana- 
tamiscber  Beziehuig  wird  erw&bnt,  dase  die  Ganglienzellen  der  Binde  gai 
oiobt  Zrilm  im  gawöhnUidieii  Stime  des  Wortes  seiu  können,  eondem  wirk- 
liche O^ane  darateUeo  mfisaen,  daher  auch,  wie  Vf.  gezeigt  bat,  einen 
eigenaD  Aroarat  eq  ihrer  ErnähniDg  besitzen  wie  er  eonat  nur  den  Organen 
siäenimt  (3.  8).  Ihr  phyBiologiacner  Unterachiad  gegenüber  der  anderen 
KSrpei^Df^en  bestehe  darin,  dass  sie  nicht  bloss  wie  diese  sensibel,  mo- 
toriach  oder  tlopbisch  fonktionieren,  aondeio  die  Fähigkeit  des  Empfindens 
nnd  WoUens,  der  scbSpferischen  Oeataltungsgabe  nnd  des  OedfichtniBses, 
dea  BewossUeins  und  des  Denkens,  besitzen  (S.  5).  Das  Qedttohtnis  wird 
ala  eine  phyBisobe  Funktion  bezeichnet  (3.  14),  welafae  eine  allgemeine 
XSgenechaft  aller  Organe  dea  Kürpers  ist  (S.  7).  Das  Kiodergehim  komme 
als  eine  apsychisohe  Masse  auf  die  Welt,  ansgestattet  mit  dem  Vermögen, 
die  Eindrücke  mechanisch  in  binden,  so  daes  es  sich  ihnen  KegenSber  nicht 
andera  verhalte  wie  die  photograpbische  Platte  oder  die  Walze  dea  Phono- 
gr^hen  (3.  9).  Indem  dieses  Eindetgefaim  die  ihm  mit  der  Gebart  auf 
einmal  dnroh  alle  Binne  znströmendeu  Eindrücke  anzieht  nnd  mechauiscb 
abaorbiert,  ohne  Spar  einer  geistigen,  ihm  noch  ganz  fremden  Arbeit, 
sammelt  es  die  Welt  in  Gestüt  von  Bildern,  3chemen  und  Formen  und 
bildet  eich  so  die  ersten  Torstellongen  von  den  Dingen,  die  nach  und  nach 
TOT  Erfahning  anwachsen  und  sc  tai  Grundlage  werden  znerst  der  In- 
telligenz nnd  dann  der  Klngheit  [S.  12).  Drängen  die  in  das  Bewnsatsein 
gelangenden  Bilder  der  realen  Welt  die  Oan^lienzellen  dazu,  sich  zn  tLnssem, 
so  beznohnen  wir  den  auf  diese  Weise  in  ihnen  erregten  Trieb  als  den 
Willen.  —  „Dnd  der  Wille  wird  entweder  zur  That  oder  znr  Handlung" 
IS.  26).  Die  Binde  ist  nicht  nur  ein  Spiegel  nnd  nicht  nnr  eine  liebt-  nnd 
tonenipfindliobe  Platte  —  sie  ist  aach  ein  selbstachQpferiBches  Organ.  Es 
ist  ebenso  die  Sgentttmliohkeit  der  Oanglienzelle  der  EUnde,  geistige  Bilder 
TlenalJahlMbrlft  t.  wiaaeniobaftl.  FliUoioplii«.    XZTU.  1.  ^ 

d„:,ip<.-jm,C00<^Il' 


82  August  Diinges: 

xa  produzieren,  vie  es  eine  Eigentüniliofakeit  des  BeniBteinB  ist,  elektrisdia 
E^fte  zu  erzengeo,  .  .  .  der  Drüse,  zu  seceniiereD,  der  Niere.  Harnstoff, 
-der,  MagendrSsen,  Lab  zp  bereiten  aus  ganz  deoselben  Materien  (S.  36)i 
Die  Oanglien Zelle  siebt'  uod  hürt  im  wahren  Sinne  des  Wortes  and  nicht 
nnr  das  was  Auge  und  Ohr  im  Wachen  ihr  zutragen,  BOndero  anoh  noch 
das,  was  sie,  während  die  Sinne  ruhen,  an  Oesicbls-  ncd  Oehörphaenomen 
in  itiram  eigenen  Eörper  hervorbringt  und  scbliesslich  aaoh  das  was  jede 
andere  Ganglienzelle  der  Rinde  scbaSt  (intra-gangliijae  Nervenvennittelongen 
8.  29).  Wie  der  rahende  Hnskel,  so  ist  auch  die  ruhende  Hirnrinde  noch 
.iuaotiv"  thätig.  und  darauf  ist  der  Traum  zurückzuführen  (S.  38).  Die  Em- 

fifindnng  wird  erzeugt  dnnih  die  intramolekulare  ErBohütternng  der  Osng- 
iensubstani  (S.  40).  Einen  Willen  bat  der  Mensch  nur  im  wachen  Zu- 
stande, die  Ganglienzellen  erzeugen  elektrische  Ströme,  welche  den  Willen 
unzertrennlich  begleiten  nnd  physisch  ansführen,  was  er  seelisch  intendiert 
(S.  44).  Als  psychophysische  Prozesse  werden  die  bei  seelischen  Erregungen 
zu  beobaohträden  Vorginge  an  den  Blutgeßssen,  Speichel-  und  8chweiss< 
drüseu  beieichnet.  Diese  Drüsen  werden  bei  jeder  Erregung  auf  beiden 
Seiten  zu  gleicher  Zeit  in  Thätigkeit  gesetzt  (S.  50).  Während  die  bisher 
erwähnten  Funktionen  allen  Ganglien  der  Grossbimrinde  in  gleicher  Weise 
znkonimen,  giebt  es  noch  spezielle  Funktionen,  zu  deoeo  sich  bestimmte 
Gruppen  von  Ganglien  zusammen  ordnen,  welche  als  Seelenfelder  der  Oross- 
himriude  zu  bezeichnen  sind  (das  SeelenTald  der  Bewegung,,  des  Sehens, 
des  Hörens,  des  Schmeckens  und  des  Hiechens).  (S.  52).  Die  früher  ao- 
genannte  „Sehsphäre"  vermittelt  nicht  nur  das  seelische  Erkennen  des  Netz- 
bautbiidee,  sondern  auch  die  Muskel-  und  Drüsenronktion  und  selbst  die 
Emähmng  des  Auges.  Ebenso  weiden  anch  die  secliaehen  Substrate  der 
andern  Sinnesorgane  nicht  Felder  abstrakter  seelischer  Funktionen,  sondmi 
die  anatomiechen  Seeiensubstrate  dar  einzelnen  konkreten  Organsysteme 
sein  (8.  77).  Aas  der  Leistung  aller  Spezialseeleu  ergiebt  sich  die  seelische 
Oeeamtkraft  des  Individuums,  die  individuelle  Oesamtseele. 

Soviel  des  Interessanten  das  Buch  auch  enthält,  so  leidet  es  doch 
erheblich  unter  einer  fcrtwUrenden  Vermischung  des  Physischen  und  des 
Psychischen,  während  eine  scharfe  Trennung  dieser  beiden  Gebiete,  sowohl 
die  Verständlichkeit  als  auch  den  wissensch^iehen  Wert  der  Arbeil  ge- 
wiss nur  erhöht  hätte.  Ganz  schlecht  ergeht  es  dabei  gleich  im  Anfange 
dem  Gedächtnisse,  welches  Vf.  geradezu  aller  seelischen  Valenz  entkleiden 
möchte.  Der  bereits  zitierte  Vergleich  mit  Phonograph  und  photographisoher 
Platte  ist  im  Orunde  recht  uozutreSend.  Abgesehen  davon,  dass  Vorgänge 
im  Körper,  die  dem  Gedächtnisse  korrespondieren,  nicht  physikalischer, 
sondern  biochemischer  Natur  sein  müssen,  so  ist  das  Gedächtnis  selber  uns 
in  erster  Liole  der  Begriff  für  die  Thatsache,  dass  (innere)  Erfahrungen  siofa 
vriederholen  können.  Man  sollte  daher  sctüiessen,  dass  überall  da,  wo  raan 
Gedächtnis  annimmt,  das  Vorhandensein  von  Erfahrung  und  infolgedessea 
auch  ein  Subjekt  der  Erfahrung  vorausgesetzt  weiden  müsse.  Das  Gedächt- 
nis kann  nur  festhalten  und  reprodazieren,  was  bereits  geistiges  Eigentum 
ist  Es  reproduziert  zudem  nur  eigene  Gedanken  oder  Vorstellunpen,  nicht 
etwas,  was  im  Gehirn  eines  andern  als  Bild  oder  Schall  wiedererscbünt, 
wie  bei  jenen  Apparaten.  Wie  könnten  Eigenschaften,  und  zwar  auch 
geistig,  vererbt,  wie  in  der  Form  von  Instinkten  komplizierte  Verrichtungen 
auf  die  Nachkommen  übertragen  werden,  wenn  das  Gehim  des  Neugeborenen 
«ine  „apsyohisohe  Masse"  wäre?  JedeoMls  unterschiede  es  sich  aber  vom 
Phonoeraphen  dadurch,  dass  es  Eindrücke  reproduzierte,  die  ganz  andere, 
in    vielen  Fällen    schon   nicht  mehr  eiistierende  Gehirne  (nämlich  die  der 


iM,Coo<^lc 


Adamkienicz,  Die  OrasabiniriDde  üa  Organ  der  Seele.  gg 

Torhhren)  aufgenommen  hatten.  Welche  AtifTasBang  sioh  Tf.  äberhanpt 
von  den  geisttgen  Vo^ngen  bildet,  wird  am  besten  belenohtat  darch  die 
Bebanptang,  die  Oanglumzelle  der  Rinde  prodaziere  geistige  Bilder,  wie 
£.  B.  die  SpacheldrüBe  den  Speiohel  secemiert.  Körperliches  und  geiatiges 
wird  also  xneinander  in  dn  VerhAltnia  von  Ürsaolie  und  'Wirkung  gestellt 
Diee  sei  nur  heiroi^ehoben,  darüber  in  diakutieren  ist  hier  nicht  der  Ort. 
Die  Heorie  Nissls,  welche  das  Nenropil  (fibrilläro  Substanz)  als  Trtget  der 
DervöBen  Thätigkeit  ansieht,  htktte  eine  Erwähniing  Terdiant.  Bei  der  Ab- 
handlung der  „psfchophysischen  Prozesse"  durfte  die  EjpeThidrusiH  nni> 
Ateralis  nicht  vergessen  werden. 

Horo  bei  Detmold.  August  Dühqks, 


Bllharx,  AlfoDS,  DieLehre  vom  Leben.    Mit  32  AbbilduD- 
gen  im  Text.     Wieflbaden,  J.  F.  Bergmann,  1902.     502  S. 

Der  erste  Teil  des  reichhaltigen,  fesselnden  BacheB  bringt  eine  za- 
saaunen fassende  Darl^nng  der  von  demselben  Terfosaer  herrührenden 
.JIIetsphjBik  als  Lehre  vom  Tarbewnatitea''.  Den  Ausgangspunkt  bildet  ihm 
das  „oogito  ergo  sum"  des  Cartesiaa,  Nur  im  Sein  des  eigenen  Denkens 
ist  die  absolata  Position  zum  Vergleichen  des  Seins  mit  dem  Gedachten, 
also  xnm  Erkennen  der  Wahrheit  gegeben.  Nur  als  subjeotive  SainsgrösBe 
kann  das  Ding  an  sich  auf  ein  Bewusstsein  bezogen  ('='  erkannt)  werden 
(S-  4).  Das  gesamte  objektive  Erkennen  ist  nur  formales  Erkennen,  zur  Er- 
kenntnis des  Inhalts  branoht  man  aber  nur  das  zeitlich  formale  Denken 
anfzngeben,  also  nnr  das  Denken  (rechtwinkelig)  in  den  Baum  zn  drehen 
[S.  22).  Dabei  wird  die  Gültigkeit  des  von  der  Zeitbedingiing  abhängigen 
Satzes  vom  Widerspruch  anfgehoben  und  es  können  kontradiotorische  Be- 
stimmnugen  wie  im  Banm  gleichzeitig  giltig  sein.  Aus  unserm  eigenen  loh 
können  analytisch  Sein  nnd  Denken,  Inhalt  tind  Ferro  gespalten  and  in 
Gestalt  gleich  grosser  RectangnlordimenBionen,  also  als  Quadrat,  wieder  ver- 
einigt werden.  Sein  steht  auf  Denken,  Inhalt  auf  Form  aenkreoht,  da 
Beoiangularit&C  nur  der  Ausdruck  des  Gegensätzlichen  ist.  Dem  synthetischen 
urteil,  dass  ,,anBer  Sein  begrenzt  ist",  strebt  alle  Erkenntnis  zu,  aus  ihm 
folgt  die  ganze  deduktive  Metaphysik  (S.  30).  Begrenztes  Sein  ist  Setos- 
gröese.  Seinagrösse  wird  Kategorie  der  Grosse.  Begrenzte  Beinsgrösise  hat 
Oegen-Seinsgrässe.  Joder  Begriff  hat  einen  Gegensatz  (S.  36).  Der  icgisohe 
Ideatitfttssatz  A  :^  A  verwandelt  sich  in  den  metalogiscben  Enantialsatz 
(-|-  A)  =  ( —  i).  So  stellt  sich  hier  eine  dednctiv  ans  der  Metaphysik 
hergeleitete  synthesi tische  Logik  der  gewöhnlichen  analytischen  oder  zeiüiohen 
Logik  gegenüber;  ebenso  der  „höheren  Anaysis*'  der  Mathematiker  die 
phUosophisohe  Disziplin  der  „höheren  Syntheais".  Rationalistisch  falsch  ist 
der  Begriff  einer  Grösse  schlechthin,  die  vielmehr  immer  gegensätzliche 
Grösse,  also  mit  einem  Vorzeichen  begabt  ist.  Die  inatbemaiiachen  Axiome 
sind  ans  dem  metalogischen  Enaiitialsatz  abzuleiten. 

Im  Objekt  ist  die  Entgegensetzung  von  Sein  und  Denken  in  dem 
Gegensatz  der  vorbewnssten,  also  dem  Sein  angehangen  EmpBndung  nnd  der 
oacbbewuHSten  Eisoheinung  enthalten.  Tritt  Denken  anf,  so  wird  die  Subjekt- 
Objeküelation  im  Bein  zur  Subjekt-Objektrelation  im  Erkennen;  das  gesamte 
sinDliohe  Erkennen  beruht  auf  einer  Gleichung  zwischen  EmpGndangsgrösse 
nnd  VorsteUnng  vom  allerkleinsten  Lebewesen  an  bis  hinauf  zum  Mensoheo, 
d.  h.  bis  zur  Umdrehung  dieses  synthetischen  Denkvorganges  in  den  analy- 


iM,Coo<^lc 


84  Aagnst  Dtttgas: 

tiMk€it  der  meoMbliahu  8prM)tb^nCBtilldaa|.  Dlrskt  nn  ll«ta|ik]'sisdie& 
ftkit  dia  EmpfiadiiBg,  dio  aaoh  Seiiwfoni  [„Fonn>It)liaIt"]  ist 

Die  Fiolegomena  HoUieaBen  mit  einer  einfceheadea  DsrlegnBg  dw 
Bedantong  Eants,  Schopeuhaneis,  Bdnaid  von  Harbnanoi  and  Vundta  für 
die  Philaaophie. 

Der  2.  Teil  behandelt  die  Lebre  TOm  üarisofaeii  Veisttnde.  Di« 
Natorftnohnng  kommt  ohH  lletftph7<ik  nidit  au;  es  i>t  ein  Irrtum  und 
Ü«bei;pi9  der  Natorfotsobar,  wenn  eia  die  Leben  [„ftotogie"]  ai^wdilieeelliill 
für  ihre  Prinzipien  in  Anspmcli  nehmen.  Leben,  das  an  eine«  bettüuMitaB 
Punkte  softrilt,  kann  nur  eine  bestimmte  Phase  im  Laofa  dnai  nnendlidien 
Entwickelung,  nichts  Nenes,  d.  h.  es  musa  überhaopt  von  Ewigkeit  her  toi^ 
banden  sein.  ChsrakteristiBob  für  den  Beginn  des  Lebens  ist  das  Hetwie- 
treten  der  Seinsform  des  Denkens  ans  der  aUgemainen  Seinsfonn  des  Sohopen- 
baBafScban  Woüena:  Der  reoeptlv-nefiatiTB  Vorgani  dee  EüiwtTkaim<bkH«afl 
wird  durch  BeiiehuDE  auf  einen  gemeinschaftlichen  Mittelpnnkt  Em  p  fi  n  d  an  jb 
bavQSst,  «ml  dnrefi  ümstfilpnng  der  Kettrlnmlich-^oalitafiTan  Empfindnag»- 
dalen.  oder  durch  die  SpontaneitAt,  Aotoalitttt,  foeitivitkt  des  Dwkana  lor 
Yoratallnng  (B.  213).  Wo  das  Prindp  des  Labans  oder  dia  Saala  als 
ganzes,  als  outeilbare  Einheit,  als  pnnktoalla  latansitit  in  Betraeht  kommt, 
da  ist  sie  Oegenatand  der  Ifetsphysik,  metaphysiBotLer  Beinsinhalt,  WeltUUfte. 
Die  Fbjsiologen  kennen  das  Leben  nor  in  seiner  Zereliederiug  and  Zec- 
splitteniDg  in  die  Brsoheinongen  ond  gelangen  auf  mrem  pltj-sikaliscbeo 
Wege  niemals  2am  BegtifTe  das  Qanzua  (8.  22ö).  E^ne  meohanisehe  Biologio 
ist  ein  Widerspruch,  eine  TitaUstische  eine  Tautologie,  die  unnötig  wird,  b»> 
bald  Jena  au/gegeben  ist  (S.  3S6}.  Eraft  gehurt  zu  Uatarie  und  iet  wie 
diese  ein  phräi^isoher  ß^riff.  Uetaphyaik  kennt  nur  Inhalt  nnd  form. 
TircbowB  Satz:  „Omnis  oellola  e  oellala"  ist,  da  ar  den  TJneDdliohkeits- 
b^riS  in  sioh  scbliesst,  ein  metaphysischer  Satz  (6. 236).  Die  philoeopbisohen 
Anscbanangen  Darwins,  Haecketa,  Dnbois  Heymonds  nnd  Jobannaa  HüUers 
werden  in  diesem  Teile  eingehend  erörtert  nnd  kritisiert 

Dar  3.  Teil  bebandelt  die  Lehre  Ton  der  mensohliohen  Temnnft  nnd 
zwar  laerst  von  der  theeretiecben  yemonft,  dem  Ternfinftigen  Denken,  so- 
dann Ton  der  praktiecben  Vemanft,  dem  Terafinftigen  Wollen.  Die  Amoeb» 
ist  als  der  tiergewordene  Protist  im  beeonderea  anzusehen  (8.  24fi).  [Es 
giflbt  doch  auch  amoeboide  Fflanzenzellen  wie  die  Plasmodien  der  Myxomy- 
oeten.  Ref.]  Beim  Zellenstaale,  in  welchem  dorab  Arbeitsteilong  der 
Bewnsstseinsmltlelponkt  in  eine  zentrale  Zelle  gelegt  wurde,  handelt  es  sich 
um  etwBs  dem  wirklioben  Staate  Identisches  nnd  beim  Staate  flberlianpt  ala 
Einheit  dar  Vielheit  am  einen  metaphysisoben  Begriff.  Nur  das  Nervan- 
system  macht  das  tierist^e  Indindonm  ans,  die  Grenze  des  Babjekts  ist  di« 
Empfindongsgrenie:  alle  aooeesoiiechen  Organe  gehören  streng  genommen 
dem  Ob}ekt,  der  Anssenwelt  (8.  247).  [Dieser  Satz  ist  bedenkliob.  Di» 
Vorgänge  an  „acoeBsorisohen  Organen'^  kgnnen,  wenn  daselbst  ätBrnngen 
eingetreten  sind,  ebenso  mm  Bewnsstsein  kommen  wie  Beelntttobttgangeii 
einesTeiles  des  „Nervenetaates".  Btömngen  im  motorischen  und  Qjropatlusohen 
Nervensystem  können  eintreten  ohne  lom  Bewusstsein  zugalaogen.  Stömngan 
von  „aocessorischen  Organen"  können  ohne  Uitwwkung  von  Empfindung 
nerven,  indirekt,  etwa  durch  Intoxioation,  Fieber  u.  der^.  das  BewnsstsaiB 
alterieren.  Kef]  Als  die  das  centrale  oder  höchste  BewossteMn  ttagend« 
Amoebe,  die  als  Sitz  der  Beele  angeaprochen  werden  kann,  wird  eine  Zelltt 
im  rhckwertigen  Teile  der  Hyponbysis  vermutet  (S.  260).  Der  weemtlMli» 
Unterachifld  zwischen  Tier  nnd  Hensoh  liegt  darin,  dass  sich  xu  der  synlha* 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


Bithsrz,  AlfoDB,  Die  Lsbre  vom  Leben.  gg 

tisetan,  tienaoh  nsnlioben,  inteftnloo  EinitUtiRk«it  eine  ftnalytiiohe  Thktig- 
Ut  der  Di&BrwtiBtiiMi,  die  «n  d«a  Beüti  der  Spnobe  geknäpft  irt,  goa^t 
(&86^.  Aar  die  Frag«:  wie  kannen  Seele  uid  LMb  eins  mib?  ecfoQt  dia 
iBtwQit:  hNu  «le  dte  Twbnodeaen  Oegefuilia  Inhalt  nod  Formr  ria 
Xooiniiaa  de«  Qoidnte,  Cnlieit  einer  enantJAlm  Zweiheit,  also  ein  metal»- 
paak  dnalistisobar  MonismiiB,  sehr  TBiBchieden  von  dam  Honisiniu  d«- 
Nitorfinsoher  (B.  268).  Inti^nl-  ond  Differentislbegriffe  Btehen  im  Ter- 
bUtnis  Ton  labalt  und  Piani,  nnd  Abstrakt»,  wenn  aie  richtig  gebildat,  d.  b, 
wann  tie  von  den  Eoakretje  richtig  «bdiffereniiert  worden  sind,  inneean  tat 
diesen  Mokrecbt  atehen  Der  Irrtum  übeHuivpt  entbSlt  ein  Akms,  du  die 
Begiilb  tMB  der  Biobtonf  abcadiiogea  sai^t,  «md  tranaTerauen  Zog,  nnd 
wird  dtbier  im  aUgemeinM  nls  Trxnavetsismna  beaeiobnet  (8.  SlO).  InüQD 
iat  intwüMdiarar  TransTeisiBinna.  Oeanuder  OeJateBEnatand  iat  dann  tot- 
kandan,  wetin  nicht  nur  die  einntnen  Begiifta,  aondein  die  geaamta  Tot- 
^UnngBinaBae  derFOhlapUre  eineisiüts  and  derABSOziatioaa-  [=»  Abatraktitna- 
•t<klrel  «ndereiseits,  ftlü  diem  aelbrt,  mit  eioander  im  Gleidigewifdit  stehen. 
Aiifeineananil)rliahere,BioliiDmTeilaBErae^linaBSiAlieaBeDdeBrMttiiag 
dar  f^cbcsen  kann  hier  nur  hingewieean  «ndeo.  Terf.  behandelt  alsdann 
die  EntTiekelongiKaaohiohte  der  menaobliohea  Verannft  als  Knltnrgaeohidte 
der  MeoMblieit  Die  Orienttden  hatten  alles  ia  Fülle:  Tiabinn,  Phantaaie 
nsd  BagiboBg,  m  fehlte  ibnen  aber  die  logiache  Oeradlinigkeit,  welche  die 
Oriedian  bewoaet,  nnd  die  BaotmngnlaritU,  die  sie  nnbewnsst  tr.eben.  Der 
Ken  de«  ChriatentoDis,  daa  Qebot  der  Nlahstenliebe  ist  der  n  ach  anssao 
gewandte  Aeketismna,  in  wddiem  der  dem  grieohisoben  Oeiate  bemde, 
negativisofa*  AaketiKniiB  der  Orientalen  auf  eine  positive  Formel  gebracht 
wurde.  Seitdem  besteht  inneibalb  dee  Chriatentams  ein  Kampf  awiaohan 
BoBanismna  nnd  Genuaiiismua,  zwisoben  riimieiAem  Formalismus  und  ger- 
maniachar  Inhaltlicbkrit  Dem  dentsoben  Ojmnasiuni  weiat  Vsrf.  die  An(- 
gabe  EU,  dis  idealen  Zirie  der  Menecbiieit  weiter  und  weiter  sca  stecken  (S.  876), 
jedoch  steht  ei  dam  lIAdohengrinuasiani  nnd  der  modernen  Fraaenbewegnng 
äbeibaapt  im  allgomainen  n^t  aympathiach  gegenüber.  Mann  ond  Weib 
Bind  ^eidiwertiga  Oegenafttze  |-|-  a  ^^^  —  a|,  nnr  beide  losammen  bilden  den 
Begiffi  Hensob  (S.  388).  In  der  Aesthetik  (B.  395)  behandelt  Verf.  laerat 
den  Begriff  der  Zweckmässigkeit,  dann  den  des  Sohönen.  üraaohe  nnd 
Wirkong  ist  ein  zeltliches  Verhältnis  zwisoben  Forni  nnd  Form,  die  Zweok- 
beiiebnng  dagegen  ist  ein  zeitliches  TerbSltnis  zwischen  Inhalt  und  Form 
lä.  399).  B«  der  tdeologischan  Betraobtnng  ist  von  einer  Kette  von  &- 
eigniasen  oiobt  die  Bedoj  vielmolir  wird  der  Vo^ang  in  der  Gegenwart  als 
ganz  frm  nnd  unabhängig  von  jedem  vorher  beginnend  gedacht  Teleologie 
seist  also  DnbwHngtfaeit  rorans,  daher  einen  Beinsiobalt  oder  eins  Walt- 
hUfte,  deren  Attribut  die  Fieibeit  ist  Bas  Sohäne  nimmt  eine  vermittelnde 
SteUnng  swiaohen  dem  rein  Sinohcben  and  dem  Erhabenen  ein  <S.  408). 
Die  Miithetitaha  Vontellnng  ist  eine  vollkommene  Einheit  der  integralen 
nnd  diS«teiiti>len  Toratelinng.  Wie  das  bei  solohen  Gegensätzen  müglioh 
ist,  ist  logiaofa  nicht  zn  verstehen,  wohl  aber  metalogtsoh  [8.  415).  Die 
Lsiire  vom  vem&nftigBn  Wollen  beaoh&ftigt  sich  zuerst  mit  der  Ethik.  Daa 
cbHste  Srinqcesetz  ist  daa  Gesetz  der  Erhaltong  der  Einheit  in  der  Vielheit, 
dar  Kooatiuu  in  der  TsriabilitAt,  der  ünbedingtheit  (Freiheit)  in  der  Be- 
dingtheit (8. 4S8}.  Dieses  „etbophysiscbe  Gesetz"  herrscht  dnroh  die  gai^>e 
Natnr.  Dm  «irentliiAe  Problem  der  Ethik  ist  die  Beantwortnng  der  Frage 
wis  ans  dem  fitlicphyalsohen  ein  Etliopathisohee  werden  könne,  also  daa 
PreblNn  des  Urspiai^  des  Bösen  (B.  42&).  Das  Tier  kann  niobt  etho- 
palhiMh  handeln,  wal  aooh  die  BUdang  aller  aeiDor  VorsteUnngen  dem 
ethopbjsiacheii  Gesetz  gehorcht    Erst  beim  Menschen  wird  es  durch  die 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


gg  Leo  Haiiaohenbach: 

Bildaoe  Abstrakter  Begriffe  möglich,  dass  innerhalb  derselben  B^iifisfonn, 
K.  B.  Pferd,  zwei  versohiedene  Inhalte  gedacht  werden,  von  dcDen  nur  der 
eine  dem  ethophyaischen  Gesetz  gehorobt,  der  aadere  also  falsch  sein  mnss. 
Die  falsche  Torateliiing  zwingt  das  Wollen  in  eine  ftdsohe  ßiohtang,  damit 
ist  das  Böse  in  die  Welt  getoinmen  (8.  42?).  [Kannen  nicht  auch  Tier« 
pejchopatbisoh  weiden,  z.  B.  ein  wntkrankei  Hund,  der  anch  seines  Herrn 
nicht  schont,  dem  er  sonst  treu  eigeben  war?  und  ethopathisch,  z.  B.  die 
Katze,  die  erst  aehmeichalt,  dann  kratzt?  .Ref.]  Well  der  Hennoh  ein 
Doppelwesen  aus  Vernunft  und  SionliabVeit  ist,  mit  doppeltiin  Willens- 
inobven.  so  geht  bei  ihm  der  Begriff  der  natädicben,  oniverseLen,  inetB- 
phjsiBchau  Freiheit  in  den  der  sittlichen  Freiheit  (=  gut)  und  den  der 
sittlichen  Unfreiheit  (^  böse)  auseinander.  Das  Böse  müsste  durch  die 
Ternnntt  ans  der  Welt  henmsgebracbt  werden,  wie  es  durch  Vemnnft  hin- 
eingekommen. Eiue  Abhandlung  über  Nietzsche  als  Ethiker  folgt  dem  idU 
gemeinen  leil  der  Ethik. 

Das  Bnch  sohliesst  mit  einer  kurzen  Oeeellsohaftslehre.  Im  Individanni 
ist  daa  oäuze  Träger  des  Bewasstseins,  im  Staat  der  Teil.  Dar  Btaat  ist 
kein  sittliches  Individuum,  sondern  besteht  ans  eolcben.  An  Stalle  des 
Siltengpseties  tritt  das  Recht.  Im  idealen  Sinne  fallen  Becht  nnd  Sittlich- 
keit zusammen,  in  Wirklichkeit  nie.  Daher  fordert  das  irirUicbe  Leben 
obe  Ergänzung,  das  Recht  des  Starkem,  das  sich  im  Konkurrenzkampf  und 
Kriege  zur  ueltung  bringt  Vielleiobt  werden,  wie  sich  deretDst  die 
Menschen  zur  Einheit  des  Staates  vereinigt  haben,  die  Staaten  eich  anter 
der  höheren  Idee  der  Menschlichkeit  zusammenfinden  (8.  602). 

Die  Urteile,  welche  Vt.  über  andere  Philosophen  und  ihre  Systeme 
RUIt,  mögen  bei  vielen  Terwunderuug  nnd  Widerspruch  erregen.  Darwin 
und  Wundt  z.  B.  werden  untentchatit  und  nicht  im  ganzen  CJmfange 
ihrer  Leistungen  gewürdigt.  üeberPlato  Hesse  sich  streiten.  Dodi  spricht 
so  vieles  fnr  die  bereits  von  Schopenhauer  vertretene  Ansicht,  die  ci8i| 
Piatos  bedeuteten  die  einzig  wirklichen,  realen  Urbilder  der  Dinge  and 
nicht  ans  der  Erfahrnng  erst  abgeleitete  Begriffe,  dass  eine  eingehende 
ÜDtenuohnng  dieser  Frage  gerade  im  vorliegenden  Buche  sehr  am  Platze 
gewesen  viire. 

Horn  bei  Detmold.  August  DOmqbs. 

ImnuBnel  Kant  BId  Lebensbild  nach  Darstellaagen 
seiner  Zeitgenossen  Jachmann,  Borowski,  Wa- 
sianski.  Herausgegebeo  von  Alfons  HofimiuiD.  Halle 
a.  S.,  Hago  Peter.    XIV  und  442  S. 

Der  Titel  ist  irreführend.  Das  Buch  bietet  nur  im  Neudrucke  die 
drei  SohrifleD:  Immanuel  Kant  geschildert  in  Briefen  au  einen  Freund  von 
Reinhold  Bernhard  Jachmann-,  Darstellung  des  Lebens  und  Charakters 
Immanuel  Kants  von  Ludwig  Ernst  Borowski;  Immanuel  Kant  in  seinen 
letsten  Leben^ahren,  ein  Beitrag  zur  Kenntnis  seines  Charaktere  und  hins- 
lichen  Lebens  ans  dem  täglichen  Umgänge  mit  ihm  von  C.  A.  Ch.  Wasianski. 
Hinzugefügt  sind  nur  ein  Vorwort,  welches  vornehmlich  Notuen  über  die 
drei  Antoren  entfatUr,  nnd  ein  kurzes  Schlnsswort  Ein  LabensMId  auf 
Orund  der  drei  Berichte  zusammen  zustellen,  bleibt  dem  Laser  überlawen. 

Der  Herausgeber  beroft  sich  auF  Houston  Stewart  Chambarlain,  dasa 
man  „erst  den  Menschen  kennen  and  lieben"  lernen  möge,  ehe  man  an  das 
Studium  seiner  Lehre  geht,  der  auch  tat  die  drei  abgedmokten  Sobriften 


iM,Coo<^lc 


Kult,  iDUDauueL    Ein  Labensbild  nach  DantalliiDgeii  n.  a.  w.         g7 

unter  knner  Wordignsg  ihres  Wertes  hinweist  Dia  nrapröDglioben  Dar- 
stelloDgen  sollen  in  ihrer  Frische  wirken,  daher  Bind  sowohl  kiitiaohe  wie 
erliutemde  Zosätie  unterblieben;  es  fehlt  aber  aaoh  jede  Terwertnng  der 
Ergebniese  der  Eantforsubung.  Ans  dem  nämliohen  Omnde  sind  anoh  die 
ihröm  Inhalte  nach  onweseutUchen,  ihrer  Form  nach  ermüdend  wiikenden 
Toireden  weggelassen.  Ob  WasiansM'a  Schrift  beeondere  geeignet  iet,  mit 
dem  Hensnhen  Jant  vertraat  m  machen  nnd  so  ,.iD  die  Ansohaanngen  des 
Dentere  einen  Blick  m  thun"?  Wer  Eont  kennen  lernen  will,  wünscht 
doch  wohl  den  lehrenden,  schaffenden  Mann,  d^n  überlegenen  Geist  zu 
finden;  Wasianski  eohildert  den  absterbenden  Kant,  der  unser  Mitgefühl 
hennsfordert,  nicht  onsere  Bewnndernng. 

Soll  übrigens  die  „achlichte  Oräese  dieses  einzig  von  der  Idee  ertällteo 
Leben»"  (Treitschke)  die  Aufgabe  erfttUen,  „die  dentsohe  Jugend  den  ihr 
von  ihrem  Kaiser  gewiesenen  Weg  m  führea"  (p.  KII>,  so  dürfte  eine  Gr- 
gänsnng  nach  der  Beite  des  O^hlsmiBsigen  recht  angebracht  sein;  das 
gebt  gerade  ans  dem  Torliegenden  Bnohe  hervor. 

Kleinstnippea.  Leo  RA.n8CHiNBA0B. 

Die  selmldliafte  Handlang  lud  Ihre  Arten  Im  Strafireeht 

von    Max   Ernst   Mayer,     Privatdozent   in    Strassbai^- 
Leipzig  1901  (201  S.). 

Die  Absicht  des  Verfasseis  dieser  Schrift,  welche  den  ganzen  Be 
griff  der  achnldhaften  Handlnng  systematisch  bebandelt,  begreift  sieh  am 
leichtesten,  wenn  man  das  Srgebnisa  seiner  Bemühungen  voranseahickt:  Die 
vor^tzliche  und  die  fahrl^ige  Eandlung  treten  in  den  DefinitioDen  der 
Beohtslehrer  als  heterogene  Scholdarten  auf.  Die  eretere  ist  strafbar,  weil 
der  rechtswidrige  Erfolg  beabsichtigt  war,  die  zweite  obwohl  er  nicht  be- 
abeiohtigt  war. 

Der  Verfasser  sucbt  nach  einem  gemeinsamen  Moment  für  beide 
SohnJdarten,  das  einerseits  die  Verwandtschaft,  andrerseits  vermöge  seiner 
Variabilität  den  ünterachied  beider  gtrafarten  ins  Licht  setzt.  Zngleinh 
aber  aoU  das  Moment  gefunden  werden,  das  wegen  seiner  Variabilität  ge- 
Mgnet  ist,  als  Faktor  für  den  Schnidgrad  nnd  daher  für  die  Höbe  der 
Btrafe  zu  dienen.  Der  Verfasser  hat  damit  das  nene  strafrechts-philo- 
sophiaohe  Problem  einer  einheitlichen  gchnldformel  aoTgevorfen 
nnd  lÖBt  es  ant  folgende  Weiae  (8.  102ff0 

Dasjenige  einheitliche  Moment,  das  einerseits  das  Semeinsame  der 
Scbnldartan  hervortreten  lässt,  andererseits  aber  die  variabele  Basis  für 
eine  Skala  der  Bohuldgrade  (daher  der  Höhe  der  Strafe)  bietet,  ist  das 
Motiv.  Das  Motiv  ist  insofern  ein  Inhaerens  der  Strafgesetze,  als  die 
Beetimmungen  derselben  die  Funktion  haben,  als  Qeganmotive  gegen  die 
Willensbeth&tigung  zu  wirken  (mit  Schopenhauer)  B.  160.  Daher  liegt 
das  gemeinsame  Moment  alles  Bohnldbaften  Verhaltens  (sei  es  Handlung 
oder  Unterlassung)  in  dem  Omstande 

dass  die  Torstellnng  vom  rechtswidrigen  Erfolg  (ab- 
gekürzt: ,V.  V,  r.  E."),  welche  Gegonmotiv  der  WilienB. 
beihätignng  sein  sollte,  nicht  Gegenmotiv  geworden 
ist  (&  151). 

Dies  ist  der  gemeinsame  .Nenner"  aller  Bchuldarten.  Der  Siblei 
ergiebt  sich,  wenn  man  fragt,  warum  die  V.  y.  r.  E.  nicht  Gegenmotiv 
geworden  ist.    Daher  ist: 


iM,Coo<^lc 


TortktilioH  di«  Budlang,  wann  dio  T.  v.  r.  E.  deswagm  niidtt 

QwwmotiT  wnrd«,  w»il  »a  HanptmoUv  dei  lUUin  war. 
FahrlliBig   dia  Haadhu^,   wamn   die  V.    t.    r.  B.  dsaw^^  nicht 
QagflDBwti?  wnida,  wail  rie  ftbarbsnpt  nitAt  vorhanden  war  fso. 
obir^l  aifl  hltta  voriiandea  aatn  wüera  —  denn  du  Oeaalc  ver- 
langt,  daas  jadar  die  Wirknngsn  aeiner  Willengbethllignns  naoh 
dam  Oadchtepnnkt  pHlft,   ob   sie   sich  als  reohtewidrigs  Brfolga 
dantallea  wardeo). 
In   dieeeit  Weise   luBan  sieh  anoh  das  leichte  Versehen  vom  Qroben  und 
der   direk  e   vom   eTantnellfln  Torsati   soheiden    und  svar  dnrdi  die  Eot- 
naetxnog    von    Hanpt-    nud   Nebenmotiven,    poaitiTen    nnd   negativen 


cegenaet: 
MotoieD. 


Incwiaoben  hat  der  Tertuser  ferner  dargelegt,  daas  das  .HotiT*  in 
■wei  Elementfl  xeifillt,  näraliah  in:  das  .differenzierende"  ^=  Toistellnng 
vom  £rfolg  (d.  h.  der  Wirkong  der  Willensbeth&tigniig  in  der  Anesenwalt) 
nnd  das  .integTierende*  =  Oeffthlaton  (i.  e.  Idotiv  im  eigeotliahen 
Simie  ala  Öefühl  der  Bofftanng,  Furcht,  Halber,  Bauhaneht  ete.). 

Das  erstere  Element  wurde  oben  ala  Kriteriam  der  Sohnldarten  ver- 
wandt {hu  integrierende  Qenient  des  Motivs  ist  dasjenige  eiDheitliiAe 
OatttugBrnoment  in  dien  strafbaren  Handlangen,  das  bestimmend  für  den 
SoknUgnid,  daher  fQr  die  Btraffaähe  wird.  &  tdnd  aber  Verhältnisse 
von  Motiven  cn  einander  and  von  Motiven  znin  Charakter,  lum  Milieti  eto., 
welche  den  Schuldgrad  bestimmen.    Diee  wird  in  interewanten  Ansführongen 


K^ba 


EBlegt. 
Hier 


liermit  haben  wir  die  weeantlicban  Mom«ite  riner  noBMi  Theoria 
gebeo,  die  nok  bIü  Motivationstlieorie  baaeiohnen  liease.  um  die  DorA- 
ibrbarkeit  dieser  Theorie  eq  beweiaen,  war  aa  aalbetrarstlndlioh  Hr  den 
Verfasaer  geboten,  die  gauEc  Theorie  daa  Btnfreohta,  aewait  sie  dw  Be- 
griff der  eiAuldhaften  HaadlaDg  betrifft,  la  daroUanfan  (S.  1—101),  woM 
sich  ergiefat,  das»  sich  die  neue  FormalieruDg  an  bereits  besteheada  Stiaf- 
raeUathttorien  entweder  ohne  waitetea  oder  laittelet  oioht  wesentlicher  Mo- 
diUatioiiaii  ^naalben  anpasasD  läset  Hierbai  werden  die  wiohtigatMi  Sttaf- 
reohtsüieorieii  und  KontMvanen  unter  Bengnahma  aaf  die  Literatur  heran- 
gaaogaa  und  der  Kritik  vntarworfoo.  Dieae  Auaaiiwndenetsiuigm  dea  Vw- 
taaaeiB  mit  den  hemokandan  Thecwien  eiadiaiDaa  oiidit  ttberaU  eiBwands- 
frai,  gaben  filnigene  abac  an  diaaer  Stelie  in  einer  Beapiedinng  im  allge- 
nelMB  keinen  Aalaas,  wwl  sie  keine  weaentlioh  aeneo  Oeaohlspuii]|te 
enthalten.  Soviel  darf  man  indesaan  wohl  saften,  das«  die  Anatlada  gegen 
diaae  AnBafnaBdenetEOBgMi  naht  in  einer  Beanstasdong  der  Hotivations- 
tfawria  fShna  dttftea.  Den  Qraod  daHr  Snda  ioh  ^rio,  daaa  tinUofalnh 
daa  SemeDt  der  geaetMridrim  Motivation  sehen  den  biriiengen  Thaotien 
an  Oroode  Hegt,  nur  daas  ee  W^er  pwisaemasaen  sUllaahwei|and  ■nataa- 
geaetzt  ist  daher  nidtt  temÜDOlogisoh  ans  Lieht  tritt.  80  ist  i.  B.  der 
Vorsats  gar  nicht  vorstallbar,  ohne  die  VoiMallang  der  Motivatieo  des 
Villens  (durah  die  TorateUang  vom  Erfolge).  Dies  ist  anoh  der  Omnd, 
warum  ee  dam  Verfasser  gelingt,  mittelat  aeiner  Thaorie  die  beidan  ein- 
aadar  widentreitandeB  Vorsatztheorien  nämlt^  die  .Willenstiieorie' 
«nd  die  .VorstelluDgatheotla"  zu  vereinigen,  3.  IMff.  Denn  der  Vorsatz 
ist  wedar  ab  bleaaet  Wille  oedi  eine  bloaee  VorBtellang,  aendem  ist  der 
durch  die  Voretellaog  vom  Erfolg  geleitete  (also  motiTieite)  Wille.  Sahen 
diaa«  eine  Folge  der  Theorie  des  Vartaaaera,  darah  weidie  d.  E.  eine  theo* 
retnobe  Eentroveiae  aotgultig  entaehiedan  wiid,  giebt  dan  Bewaia  Kr  die 
Bedeutung   dieser  Motivationstheorie.    Unter   allen  Umatftnden  hat  sie  die 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^le 


Vmjoi,  Die  sctmldhafte  HkndlnDg  osd  ihre  Arten  im  Strafreoht.       gQ 

SsdeBtmg  uner  neuen  AnKlyH  der  Btivfreohtsbegriffe,  we(ohatheoretlsoh 
im  hSchsteD  Orade  kUreod  nad  anr^end  irirkea  tnosa. 

Ob  die  HDS  Umtm  praktisch  biauohlMr  bsib  wird,  dfiifta  riier  m 
vacneiiieii  sein.  lUn  kaoo  Dlmlish  auob  in  dar  AnalrBs  wMter  galMo,  als 
SB  du  Badürfnia  i«t  Praxis  fordert  nad  tuliast  Ea  fiedet  »ioli  vielfach, 
itea  rieb  mit  znaammengesetztea  bekannten  Begriffea  Iwohter  operieren 
lisst,  als  mit  ihren  Siementen.  So  haben  die  Begriffe  gTorBati*  und 
,fthTitta»jfkBit'  etfaieohen  and  nicht  bloss  rein  raohtUobaa  Charakter. 
Etfaisohe  Begriffe  Bind  es  aber  grade,  in  denen  sogar  der  gemeine  Verstand 
«ich  aqh  letohteete  orientjert,  me  denn  überfaanpt  der  peyobolagiBohe  Weg 
von  inoeo  naoh  anssen  (vom  Willen  lom  Erftd^)  leichter  faaebar  iat,  als 
der  vom  HoÜt  inm  Willen.  loh  glaube,  man  wird  mir  hierin  Beoht  geben, 
wenn  man  die  Motintionaformeln  des  Verfasaera  la  dorohdringen  sidi  be- 
mtUieD  will.  Anaseidem  könnte  die  Frage  aufgeworfen  werden,  ob  nicht 
hier  anch  die  Verein heittiohnng  in  weit  getrieben  ist,  d.  h.  ob  nicht  Sohold- 
arten,  die  absolut  heterogen  sein  könnten  (Vorsatz  und  Fahrtasaigkeit) 
flUadilich  als  blosse  Stufen  der  Schuld  überhaupt  dareestallt  werden. 
Jedenfalls  aber  bleibt  die  Anregung  die  Stra frech tsbegrif^  vom  Oesiohts* 
punkte  der  Motivation  anii  n  kontroliereD,  sehr  bedeutend  und  verdienstliob 

Atuäi  darin  ist  dem  Tartasssr  beiinstimmeD,  das«  die  Hotivationa 
thaorie  darauf  hinletteo  könnte,  eine  ^^eueine  Theorie  der  Strafinntessnu 
in  Anlehnung  an  die  Ergebnisae  der  Enminologie  eq  ermögtiohen,  obwoh 
«i  sich  hier  selbetveratiUidlloh  nur  darum  handeln  könnte,  den  Btrafriohtei 
zu  belehren,  auf  welche  Motive  und  TJmatände  er  bei  der  Btrafsumesanng 
die  Aufmerksamkeit  lu  Inkan  bitte,  nicht  aber  daröber,  welcher  Bohnld- 
grad  in  oonoreto  voriiegt;  denn  in  dieaer  Hinaieht  ist  eine  BohematJsierong 
naefa  einw  kontinnierlichan  Skala  bei  dar  vielseitigen  Verachiedenheit  der 
FiUe  all  unmöglich  an  enujhten. 

Von  den  grundlegenden  Iheaen  das  VerfaaaeiB  ist  hier  nur  nach 
eine  bervorsuheben,  weil  sie  neu  und  von  allgameinsrem  phüoBophisobain 
Intereaae  ist.  Sie  betrifft  die  Frage  der  Verantwortlichkeit  und  daher  der 
Freiheit.  Der  Ven'aassr  ist  Anhinger  dos  Determinisuas,  sieht  aber  ein, 
4a88  das  Strafreoht  ohne  die  Voraussetzung  des  ladetermtuismus  fiberbanpt 
nitdLt  EU  halten  ist  Daher  hült  er  die  Determiniertheit  des  Willens  feat, 
verwirft  dieBealit&t  der  Freiheit  und  stützt  sich  nur  au/  das  durah  kein 
Mittel  SU  beaeitigende  FreiheitsbawuaatseU.  Diesem  Bawnsstsein 
scbreil^t  er  wnea  eigentüniüofaen  motivierenden  Wert  an.  Ea  ist  ihm 
ein  Faktor,  welcher  verhindert,  dass  die  VorstsUnng  der  Determiniertheit 
daa  Willens  Motiv  des  Willens  wird.  So  gelangt  er  an  einem  Koalition»- 
sjatam  in  der  Formel:  .Die  Meusohbeit  iat  lum  ladeterminismos  deter- 
Duniart." 

Diese  Theorie  ist  geistvoll  and  blendend,  aber  n.  B.  unhaltbar.  Zn- 
■dobst  ist  in  der  Formel  der  Terminus  ,  determiniert"  in  ebiem  anderen 
als  dem  teohnisohon  Sinne  gebraucht  (als  höhere  .Beetiminang"  der  Mensch- 
beil).  W^  er  im  Sinne  der  Katordetermtuation  eebranoht,  so  würde  er 
u  iBesem  Rinne  den  Begriff  ilndeterminlsmuB"  totu  anfheben.  Ferner  iat 
die  originelle  Voianssetzung,  dass  ohne  das  Freiheitsbewasatsein  die 
Voistwnng  der  Determination  motivierend  wirken  wurde  (diese  Vorstellung 
als  Motiv  heiast:  „Fatalismus"},  nicht  zu  begründen,  da  dieee  VorataUni^ 
ala  bewurte  Oberhaupt  »ieht  vorhanden  zu  selubrauohte,  damit 
wb  handeln   köimen.      (ü.    E.   ist  s  überhaupt  nur  dsawagra  iaolierter 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


90  W.  Henien: 

QegeaBtaiid  des  Bewnsstseius,  w^  sie  sam  Freifaeilabevassteein  in  Qegen- 
eatE  tritt>*>. 

Wii  Bchiieseen  unser  Beterat  mit  dem  Bemerken,  dass  die  Aos- 
fütmitigen  des  Vertaasera  überall  lebendig,  Uar,  pTSgnant  nnd  vieiTaoh  geisU 
voll  und  originell  sind  und  bedeatende  AoregiiDgen  geben.  - 

E^sen.  E.  Mabcüs 

Alfred  Knehtmum,  Maine  de  Biran.  Bin  Beitrag  zur 
Geschieht«  der  Metaphysik  und  der  Psychologie  des  Willens. 
Bremen.    Max  KOssler.    1901.    195  S. 

Mit  dieser  Arbeit  wird  uns  in  Deatsobland  die  erste  monographisohe 
Würdigung  eines  Philosophen  geliefert,  der  iu  Frankreich  nicht  aufgehört 
hat,  die  Geister  auKsIegenthch  zu  bescii&ttigen,  seit  Tictor  Cousins  Herans- 
gabe  seiner  Schriflea  und  seit  den  Bem&hangen  eines  Navills,  G£iuj{d  u.  s.  w^ 
um  das  Teratändnia  seines  Sjrstems.  In  der  That  ist  die  Philosophie  Hains 
ni  BiBANs  wohl  berechtigt,  unsere  Aufmerksamkeit  in  eingehenderer  Weise 
EU  beschäftigen,  als  dies  bisher  bei  uns  der  Fall  war.  Er  hat  zum  ereteb 
Male  das  Problem  des  effort  vonla  in  seiner  ganzen  Tiefe  erfgast;  er  hat 
mit  allem  Nachdruck  anf  die  Schwierigkeit  hingewiesen,  die  sich  ergiebt  ans 
der  Beeinflnaanng  des  ESrpers  dnroh  den  menschlichen  Willen,  welche  in 
der  MnskelbeweguDg  zum  Ausdrucke  kommt;  er  hat  den  Beffriff  der  Kraft 
aus  diesem  Verhältnis  des  Willens  zur  Körperbewegung  abgeleitet  und  den 
Versaoh  gemaoht,  auf  diesem  Grunde  das  Gebäude  einer  eigentümlicheo 
Metaphysik  zu  errichten.  Wenn  ihm  diese  Aufgabe  auch  nicht  geinngea 
sein  mag,  so  sind  der  Tergleicbspunkte  unseres  Philosophen  mit  gleich- 
zeitigen und  nachfolgenden  Denkern  doch  so  viele,  dass  schon  aus  diesem 
Orunde  die  nähere  Betrachtung  seiner  Ansohaunngs weise  lohnend  und  lehr- 
reich genannt  werden  muss.  Insbesondere  Ist  es  die  Philosophie  Arthur 
ScuoFENHAUEBB,  auf  die  von  Biran  ans  neues  Lioht  fällt  Beide  setzen  das 
Grondweeen  des  HeDscheo  in  den  Willen,  in  durch  Selbstbeobachtung  er- 
kannt  wird,  Maink  dr  Bibaj«  kommt  aof  diesem  Wege  mittels  Analogift- 
Bohlueses  zur  Erkenntnis  dessen,  was  wir  als  die  in  der  Natur  wirksame  Kraft 
bezeichnen.  Schopenhauer  geht  noch  einenSchritt  weiter,  indem  er  dieser 
Kraft  dasjenige  Prinzip  unterl^,  das  wir  in  ans  als  Witloa  erkannt  haben. 
Die  oben  erwähnte  Schwierigkeit,  den  EÜnfluss  des  Willens  anf  den  Körper 
zD  erkl&ren,  glaubt  Maine  de  BnuN  freilich  selbst  nicht  gelost  zu  ha1>en.  Er 
konnte  dieses  Ziel  aooh  nicht  erreichen,  weil  seine  Anschannng  des  meosoh- 
liehen  Wesens  eine  dnalistiscbe  ist  Der  Einfluss  des  Oeietes  anf  den 
EÖrper  wird  aber  um  so  unerkl&rlicber,  je  tiefer  die  Kluft  ist,  die  beide  von 
einander  trennt.  Wenn  man  hingegen  auf  monistischer  Grundlage  ateht, 
wenn  man  Geist  nnd  Körper  für  Begriffe  hält,  die  nur  emer  einseitigen 
Auffassung  des  eiuheitlioben  Men sehen wesens  ihren  Ursprung  verdanken, 
in  welchem  der  Geist  ebenso  mit  dem  Eorperliohen  verbunden  ist,  wie  der 
Körper  nioht  ohne  geistiges  Leben  gedacht  werden  kann,  so  schwindet  aucb 
die  Schwierigkeit,  die  Kluft  zwischen  beiden  zn  überbrüokon. 

KuEHniANNhatdiePhilosophieMAiKBDEBiRANs  von  den  verschiedensten 
Seiten  aus  beleuchtet,  er  bat  sie  in  Znsammenhang  sebiaoht  mit  dem 
Strome  der   philosophiegesohichtliohen  Bewegung,  ihre   Orundbegriffe  ent- 

*)  Zu  wünschen  wäre,  dass  der  Verfasaer  tiefer  in  die  Aosfährangen 
Kants  eindringe,  namentlich  in  die  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten. 


n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL' 


Enehtmann,  A.,  Ma  Beitrag  zur  Oesohidite  der  Hetaphjaik  d.  s.  w,    9X 

wickelt  and  allee  bis  jetit  vorlie^iende  Hateria!  RSwisienliaFt  verarbeitet. 
Naoh  einer  aUgemein  orientiereiiden  Einleitung  wird  das  erkenntniiitlieoretisohe 
Problem  und  das  Problem  ine  Willens  formuliert.  Das  Verb&ltnis  der 
PhiloBophie  Bnu^s  znm  Sensualismos  Condillac'»  und  zn  LAKOuaDiiit^ 
DcSTUTT  Ds  TiucY  uid  CsAiu.EE  BoKNET  wifd  erörtert,  and  nach  Entwickelang 
der  Theorie  dee  effort  doula  werden  die  AnkaäpfnnffSpankte  berührt,  die 
BmiK  für  diesen  BegTiff  and  für  den  Teisocb,  den  Eaosalbegriff  ans  dem 
Wollen  abznleiten,  bei  den  engUsohen  Philosophen ,  bei  I^ibniz,  Kakt, 
Fichte,  Scheluno,  bei  den  Philosophen  der  Berliner  Akademie  and  bei  den 
Physiologen  gefanden  hst.  Ein  weiterer  Absclmitt  behandelt  Bikans  Psyolio- 
logie,  Erkenntnislehre,  Hetaphysik  and  Ethik  aaf  dem  Ornode  des  effort 
TOuln.  Ee  folgt  eine  Biographie,  ein  Abschnitt  vber  die  Uterator  ober 
Hohe  de  Bisa:«  in  Frankreicl],  über  Beine  Beorteilaog  in  Blngland  und  über 
sein.  VerhAitoia  zo  Sciiofenhaveb  oad  Wunst.  Endlich  wird  Bibans  System 
einer  besonnenen  und  durchaas  parteilosen  Kritik  unterzogen,  und  in  einer 
Sohlaasbetrachtung  ISast  ans  Euebtmann  einen  Bliok  in  dss  Ganze  seiner 
ngsnea  Veitan Behauung  thun,  in  welcher  antOrundlage  der  ScHOFENaiuEBSchea 
Fhiloaophio  der  Pessimismus  zu  überwinden  versucht  wird  dorch  die 
Tendenz,  dasOesetz  der  Kausalität  mit  dem  der  Zweckmässigkeit  zn  vereinen. 
Lieipzig.  W.  Hrhzeh. 

MSblOB,  F.  J.,  Stachyotogie.  Weitere  Termischte  Aufsätze. 
Leipzig,  Job.  Ambrosios  Barth,  1901.  Till  und  2l9  8. 
4,80,  geb.  6,00  M. 

Dem  Andenken  Q.  Tu.  Fiohneeb  ist  das  Buch  gewidmet,  zu  seinem 
hondertsten  Oebortatage  hat  der  Verfasser  diese  .Aehrenless"  veranBtalCet 
Lsn^aam,  aber  siegreich,  meint  er,  werde  Pech.vbr8  BinfiuBS  wschsen  ond 
«chlieasVch  werde  seinem  Oeist  die  Herrschaft  werden,  die  iiun  gebühre.  — 
Die  zwölf  AuMtxe,  die  das  Buch  enthält,  sertallen  wesentlich  in  drei  Gruppen. 
Die  beiden  ersten,  je  drei  Oespräobe  über  Metaphysik  und  über  Religion,  ent- 
wickeln die  Grundgedanken  des  Meisters  in  populärer  Weise.  Darüber  hin- 
BOBgehend  stellen  sie  die  Haltung  fest,  die  der  Verfasser  selbst  einnimmt. 
Ohne  HetaphyBik  kann  man  nicht  leben,  aber  die  echte  Metaphysik  mahnt 
zur  Beaeheidenhejt.  Zart  and  mehr  in  AndeutuDgen  möge  von  dem  geredel 
werden,  das  seiner  Natur  nach  unsei  Verständnis  überateigi  „Das  S:r^tem 
auBEubanen",  seine  W&nde  sozossgen  mit  plumpen  Definitionen  zu  bekleiden, 
scheint  ihm  ein  Verstoss  gegen  die  Sohamh^tigkeit  des  Denkens  zu  sein 
tS.  27.)  Aber  obwohl  sie  nicht  von  Anfsng  and  von  Ende  reden  soll  (S.  36.]. 
ist  sie  doch  eine  rechte  Stütze,  weil  sie  Demut  und  Vertrauen  lehrt  Auf 
Gott  vertrauen  und  nach  bestem  Wissen  und  Gewissen  handeln,  ist  das 
Einzige,  was  ans  ziemt.  (S.  30.)  So  glaubt  er  denn  vom  Ctuisteatume,  dass 
nicht  daa  Dogma  das  eigentlich  Durohschlagende  war,  sondern  die  Erfahrung, 
mn  h^mmee  Leben,  d.  h.  das  Leben  eines  Menschen,  der  von  sich  sagen 
kann,  dass  er  nicht  mehr  sich  selbst  lebe,  mache  glücklich  [ß.  46.).  Die 
Selbetverlengnung  aber  setze  das  Mitgefühl  voraus,  die  Erkenntnis,  dass  wir 
ESns  sind  mit  allen  Wesen,  mit  der  Welt.  Daraus  ergebe  sich,  daas  wir 
uns  in  der  Welt  wiederÜDden  müssen,  dass  Das,  was  unsern  Kern  bildet, 
auch  im  Herzen  der  Welt  wiederzu^deu  sei,  dass  somit  ein  Gott  vom 
rtdigiösen  Gefühl  gefordert  werde.    (8.  fiO.) 

Eine  zweite  Gruppe  von  vier  Aufsätzen  hat  das  Gemeinsame,  dass 
litetaihiatorisohe  und  ütterarisehe  Themata  vom  Gesichtspunkt  des  PsyohiaterE 
anabdiandelt  werden,  JeaN'Ja()ue3  Boüsssac'b  Jugend geechichte,  die  Krankheit 


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92  Dr.Hax  Offner: 

OoeracB  in  seiafli  Ldpiigw  StadentooMit  and  ihre  Baurtailuog  daroh  dw 
Qy^UologSD  W.  &.  Pbeukd,  dJa  Hailoug  dei  Orest.  Den  drai  A.iAUHn 
mrana  Mspridit  ein  vierter  fiber  Pa^hiatrie  und  Litteratargsschicfat«  die 
PrioifplMi  der  nonan  BehandlnngiirMBa.  nünBitrtgtioh  ist  es  iq  reden, 
wie  PlillotogeD  and  andere  Höohwgdehite  aber  Hansoben  ood  Hudlapgen 
aburteilen,  obiw  n  ahnen,  daas  dun  mehr  nötig  ist,  ale  das  Moralisieren 
und  die  laDdilofige  UensobeDkenntnis.  Dem  Ante  moas  sein  Recht  werden 
er  mau  tbarall  gehört  werden  and  er  wird  ea  werden,  lobatd  aein  Drtml 
höieaswMt  ist."    (S.  66.) 

Die  dritte  (imppe  von  diesen  AaMtzen,  aingeleitet  duroh  ejae  Ab- 
handlDns  Aber  das  wödinm  der  Talente,  behandelt  weiter  die  Vererbung 
künati«faalLei  Menta,  ÜnteracJiiede  der  Oeechleohter,  den  phjsiologisahen 
Scbwaeh^n  dea  Weibaa,  die  Bntartang  nnd  wird  beschlossen  durah  einen 
AnlwtE  Aber  Massigkeit  und  enthattaamkeit.  Der  leOte  Aotsati  verteidigt 
mit  OMok  die  Haltung  der  Mttssigen  gegen  die  Usbertraibungen  und  zeloti- 
echen  Angriffe  der  Abstinentler,  der  Aufsatz  über  den  phfiiologisoheu 
Sohwaehainn  daa  Velbee,  seit  Jahren  ein  Stein  de«  AnstoaseB  für  alle 
Fntuenreohtler,  bietet  doch  der  AnlKase  tum  NaohdenkeD  genng,  um  die 
hochtrabende  und  gehissige  Behandlnog  nicht  za  verdienen,  die  ihm  aas 
jenen  Bereisen  lu  teil  geworden  ist  Wer  seinen  Ansfährnegen  sioh  niobt ' 
gmndsitzlich  versohliesst,  wird  in  der  vorangehenden  Btudie  mancherlei 
finden,  was  in  derselben  Rjohlang  sieb  bewegt,  der  JUaogyn  wird  aia  out 
"Vl'ohl behagen  genieaeen,  für  die  nach  Oleichheit  Btrebeude  Frau  dürfte  sie 
Dooh  in  stArkerem  Masse  Orond  xnm  Aergamia  bieten,  alt  der  se  bitter  an- 
gefeindete Aufsatz  aber  den  Sohwaohsinn  des  Weibes. 

Berlin.  Max  NaTh. 

■fiffelflUnii*  I^fo:  Das  Problem  der  Willensfreiheit 
in  der  nenesten  deatscbea  Philosophie.  Leipzig, 
J.  A.  Barth.    1902.    115  S. 

Ba  ist  EWtfelhaft,  ob  ee  eine  Frage  giebt,  an  der  mehr  Köpfe  ihreD 
Soharhinn  vetanoht  haben  nnd  die  zngleiah  weiter  entfernt  iat  von  einer 
a'lgemein  angenommenen  LOanng  als  die  Frage  der  Willenafreiliait  Und 
manche  haben  sioh  resigniert  darein  ergeben,  sie  unter  die  unlöabarfln 
Probleme  aintareihen,  sie  auf  den  philosophischen  Index  xu  setaen.  Aber 
80  schlimm  steht  die  Sache  dooh  niobt.  Die  Wideraprüafae  der  Meinungen 
haben  ihren  Orund  weniger  in  der  Schwierigkeit  der  Frage  sribet,  als  in 
der  Tersohiedenheit  derer,  die  sich  an  ihre  Beantwortnng  herangenaht 
haben.  Denn  die  Freiheit  ist  awar  ein  philosophiaohes,  speiiell  peychologisches 
PiobleDi,  aber  eines,  das  den  Nachteil  hat  —  in  gewisaem  änne  tat  das 
freilich  auch  ein  Torang  —  an  der  Orenie  zu  liegen  nnd  aidi  eng  sn  be- 
rühren mit  der  Theologie,  der  Ethik  and  der  Pikdagogik,  der  Äychiattie 
und  dem  Strafreoht,  so  dass  anob  diese  daranf  Ansprüche  ertiebmi.  und 
wie  et  dann  geht  bei  Omndstüoken,  anf  denen  Servitute  lasten,  sehlieaslMi 
ist  der  Basitaer  gar  nicht  mehr  Herr  auf  seinem  Omnd  and  Boden  nnd  die 

KDze  Kaabbareohaft  redet  darein,  ao  dass  er  selber  kaum  mehr  an  Wwte 
mmt.  Jeder  bringt  seine  Auffasanng,  aeine  Gmndansahaunng  mit,  dar 
Geologe,  besonders  der  Icatholisobe,  gewisaa  raligiaae  ToranaaetEungen,  4sr 
Jurist  und  der  Erzieher  seine  prak&ohen  Fordeningen;  und  der  Cthiltsr 
wie  der  Payehiatar  geht  ebensowenig  Torauasetznnitlos  an  die  Frage  her«n. 
Und  nm  die  üngunat  der  Umstünde  noch  an  arhöheo,  geht  diasM  vialAuA 
die  strenge   philosophisohe  Schalung,   die  starre   peinliche  Konseqaeat  im 


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HöSelmana,  Leo,  Du  PioMw«  dar  Wütensfreiheit  o.  s.  w.  93 

ffWMallfu  und  FMthaltwi  dw  Begriffe  ab.  Ho,  om  nnr  ein  Beiapel  ta 
brngan,  IttBBmuiii  Eraft-Bbinga  Behandlung  dieter  frage  niobt  wsnigeT 
wie  drai  FratkeitsbegiiBe  lieUloh  dnnheinander  Bobviminen  sehen. 

Dordt  dieses  lohn-wa-Bohn  von  Oedankengängen  nnd  -lirglngen  siah 
binduicfa  in  winden  und  aaoh  anderea  eine  Babo  tu  breohen,  rerlaagt  rial 
AMdaaer,  viel  BelMvsrleiigliODg,  ud  wirdfiifen  M.  sehr  dankbar  Min,  daas 
er  die  enteagnngBrelohe  Amit,  danih  die  TetBohiedenen  LÖsdd^q,  welche 
das  ProHem  der  Freiheit  In  der  neaeeten  deatsoben  Pbilosopme  erMren, 
nna  UirfvndiZQfahreii,  anC  sioh  genommen  bat. 

Ais  Onrndlage  für  seinen  bitisohen  Bericht  schickt  M.  einen  gaoE 
ftlkemein  gehaitenen  Üebeiblick  1it«r  das  Problem  voraus,  in  dem  er  die 
indetarn^oistlB^e,  deterministische  und  fataÜBtische  Lösnng  kum  chantk- 
tsridert  sowie  die  mgroode  Uegendea  AnJTassangen  des  Begriffes  Freiheit 
skizziert  Daran  sctüieest  üoh  an  cesdiiclltlicher  Hüokblick.  Im  Ansohlnss 
an  TsEKDELENBCBua  grnndlegende  üotersachtuig  über  diu  .tTotweadigkeit 
und  Freiheit  in  der  grieobiaoDen  l^iilosophie*  (18&6)  referiert  er  Ober  die 
Ansichten  der  Alten  und  meist  im  Ans^oss  an  F.  Hachs  „Dia  Willens- 
fireibeit  des  Mansohea"  (1887)  über  die  frühohristlichen  und  mittelalter- 
lichen Denker.  Daran  scbliesst  sich  eine  chronologieoh  geordnete  üebersiobt 
über  die  Stellang,  welche  die  bedenteadsten  Philosophen  von  DiscABTEa 
Ms  Beiieei  zn  der  Frage  eingenommen  haben. 

Die  neneaten  Philoeophen  dagegen  gruppiert  er  in  lodetermi nieten, 
Fatalisten  nnd  Deterministea.  Als  Vertreter  dee  Indeterminismus 
nennt  H.  LoTZE,  seinen  Schüler  Bvao  Bohuib  und  als  jüngsten  den 
Bthiker  Wentsciok.  Ihnen  weist  er  nach,  das  sie  daes  libemm  arbitriniu 
indifferentiae,  das  sie  als  irrig  ablehnen,  im  Qrunde  doch  festhalten  und 
daas  ihre  Berofong  auf  das  Freiheilsgefühl  nnd  die  sittliche  Wärde  dee 
Hensdien  keineswegs  lur  Annahme  der  Willensfreiheit  zwinge,  sowenig  wie 
Bene  nnd  Verantwortlichkeit,  Bcänld  and  Verdienst,  während  hingegen  die 
Preisgabe  der  Aligemeingültigkeit  dee  Kansaigesetiee,  womit  allein  diese  Frei- 
heit «rettet  ««dem  könnte  zu  den  bedenlliohsten  iConsequenieu  führen  müaste. 
Den  Verttetera  der  iuteliegiblen  Freiheit,  wie  E.  FiecioB,  Fuceen  und 
den  Sobopenhaoerianem  Luaim,  U^inlaensiui  und  Bahnsen  gegenüber  zeigt 
er,  daes  das  Gefühl  der  Verantwortlichkeit  jene  Annahme  nicht 
fndere,  welche  bestenfalls  in  ihrer  Uetiqihysik  eine  Stütze  haben  könne. 
Die  dritteOiuppeven  Vertretern  des  Indeterminismns  bilden  die  katholischen 
Philosophen,  wie  Fblsner,  OnTSEBi-BT,  Schell,  Knub,  welch  letiterer 
seine  Ansicht  , positiven  Indeterminismue*'  getantt  bat,  nnd  F.  Mach, 
dar  seine  an  IÄbmk  sich  anlehnende  Lösung  als  .relativen  Indeter- 
ninismns"  betöobnet.  Gemeinsam  ist  allen  diesen  die  Ablehnung  des 
libenun  arUtrinm  indifforentiae,  der  feste  Olaube  an  die  absolute  Gültig- 
k^  des  Eaosalitätsgesetzes,  die  Annahme  der  Entscheidung  des  Wirkens 
moL  Hotiven,  alles  gut  deterministiaobe  Aosohannngen  —  nnd  die  Behauptung, 
dass  dieser  Wille  doch  gelegentlich  anch  moi  diesen  Motiven  nicht  zn  folgen 
hraodie,  dass  er  Eelegentlioli  dem  Kausalgesetz  entrückt  sei.  Dadurch  ist 
nnn  mit  anderen  Worten  das  verpönte  liberum  arbitiiam  indifferentiae  wieder 
da.  um  dieser  Philosophie,  die  gleich  derjenigen  des  Thomas  toh 
AquiN  ein  traurigea  Bild  bietet,  wie  gesandes  Denken  sich  quält  nnd 
krämmt,  um  der  auf  völ^  unsureiobende  Eikenntnia  sich  gründenden,  aber 
dogmatisoh  festgelegten  Lehre  der  Eirohe  sich  zu  entwinden,  gilt  das 
'    Wort  Goethes  voff-4ar  Chemie:  ^Sie  spottet  ihrer  selbst  und  weiss  nicht,  wie." 

Sne  andere  Gruppe  von  Denaem,  die  Gruppe  der  EoCnnncsIoeen, 
cAVktt  die  Frage  überbaut  für  onlösbar  and  schliesst  ihre  UntarsBOOungsB 


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94  Dr.  Hftx  Oftnar: 

mit '  einem  reflignierten  onn  liqnet,  ao  der  theologjsiarende  DuxnuHN, 
der  von  physlkiliaclien  ^rvägaDgeD  MSf^bende  Hanno,  der  an  der  AUgemeiii- 
göltigkeit  den  Kanaalgeaelzess  zweifelnde  Üklzeli^Ncwin,  wie  auch,  der 
von  M.  nicht  erw&hate  Kboha^n  in  Kopenbageo,  vou  dem  man  sioh 
fragen  kann,  ob  man  ihn  nioht  den  deutaclien  Deoken)  zuzählen  BOll. 

Eodlich  halten  an  Indetermimamus  feet  die  meisten  evaagetiBohen 
Ibeologen  and  die  Hehruhl  der  Strafreobtslehrer,  obwohl  dnroh 
LiszT  eine  'WendaDg  der  Ansichten  angebahnt  ist.  besondere  dsdarob,  dass 
er,  wenngleiob  für  den  Deterqiiniarous  stob  erklärend,  die  Entacheidnng  über 
das  Problem  fär  das  Str&Trecht  für  irrevalent  bezeichnet,  gleichviel,  in 
welchem  Sinne  sie  anaßllt. 

Das  vollkommene  Widerepiel  dea iDdeterminiBmas  ist  derFatalismaB. 
Seine  Torkämpfer  sind  die  MaterialisteD,  so  in  der  jüngsten  Zeit  Eaxceel, 
Bfz,  noter  dessen  Einflass  KiEnscHE,  der  freilich  Wandlungen  dnrch- 
gemacht  und  im  .Zarathustra"  sich  auf  die  Seite  des  Indotorminiamas 
gestellt  hat,  so  dass  sich  Wektscker  auf  ibn  berufen  konnte.  Dieser 
Fatalismus  leidet  an  der  falBohen  Anffassung  des  BegrifCes  Naturgesetz  als 
einer  über  den  Ereignissen  in  Natur  und  Hensobenleben  stehenden  Uaobt, 
während  es  doch  nur  diese  selbst  in  ihrer  Begelmässigksit  aasdrückt.  Die 
irrige  Auffiusncg  dagegen  der  Freiheit  als  ürsachlosigkeit  und  den  Glauben, 
daes  nnBeroMoral  Bi(£  aufdiese  Freiheit  grüade,  teilt  ermit  den  Indeterminismus. 

Die  dritte  Losung  endlich  ist  der  Determinismus.  „Die  einzelnen 
'WUlensvorgäoge  sind  motiviert  und  gehen  ans  zureiohenden  Ornnden 
hervor.  Trotzdem  aber  ist  der  Begriff  der  Freiheit  vollberechtigt  und  wohi- 
begründet.  Freiheit  bedeutet:  Determinierung  der  einzelnen  WUleuBinhalte 
durch  das  lob,  durch  den  Charakter,  durch  das,  was  ich  meine  innerste 
Persönlichkeit  DSnne.  Diese  Freiheit  steht  im  Oegensatz  zur  Unfreiheit  d.  i. 
der  Motivation  durch  fremde,  meinem  Wesen  fernliegende  Momente". 
Allerdings  tritt  dieser  Grundgedanke  in  verschiedener,  nidit  immer  reiner 
Fassung  auf  und  es  Bpielen  bald  indelerminialische,  bald  fatalistische  Uomenta 
herein.  Zu  den  indeterministischen  Deterministen  rechnet  IC. 
SiGWART  und  WuNDT.  SjowiBT  sieht  in  der  Freiheit  das  snbjektiTe 
Postulat  des  bewussten  Willens  und  stellt  ihn  damit  ausserhalb  der  Kausalität, 
bei  allem  sonstigen  Determinismus;  dadurch  entrückt  er  das  Problem  der 
wissensobaftlichen  Erkenntnis.  Wimci  bebandelt  die  Krage  zunächst  streng 
deterministisch,  leugnet  aber  für  das  Psychische  das  Prinzip  der  Aequivalmi 
von  UrBaofae  und  Wirkung  und  stellt  für  dieses  Gebiet  das  Prinzip  der 
wachsenden  Energie  auf.  Dieses  macht  natürlich  eine  Voransberechnung 
der  Wille nshandlongen  unmi3glioh,  selbst  wenn  alle  Motive,  Gründe  und 
Uisacheu  bekannt  wären.  Gegenüber  diesem  „WaobBtum  gebtiger  Energie' 
erhebt  sich  indes  die  Frage:  „Ist  dieses  Plus  der  paychisonen  Energie  dnrdi 
gewisse  üraaobea  bestimmt  oder  nioht?"  Wu^idt  will  dieses  Flos  anf- 
Dtsaen  als  nrsacbloses  Etwas,  aia  ein  Etwas,  das  zu  den  als  Motive 
wirkenden  geistigen  Verengen  noch  irgendwie  hinzutritt..  Dann  aber 
spricht  sich  in  der  Anerkennung  eines  solchen  Wachstums  der  indeter> 
ininistisohe  Gedanke  aus:  UnBere  Willensentscbeidungen  können  nicht 
die  blosse  Folge  gewisser  Motive  und  Ursachen  sein,  es  muBs  noch  ein 
neues  Moment  hinzutreten,  „em  kauaalitätsloser  Anhang."  „Der  Xndetei- 
minismns  nennt  dieses  neue:  die  freie  Wahl;  bei  WromT  heiast  es:  das 
Wachstum  geistiger  Energie."  Solche  indeterministisch  ausklingende  LösuDg 
finden  wir  auch  bei  anderen  so  bei  Elbenhakb,  Achtes,  Michaklis. 
Ihr  O^nsatz  ist  KnsT,  dessen  DeterminiBmus  fataliBtisoh  ausklingt. 

Beine  Deterministen  dagegen  sind:  v.  Hartmans,  FsciinKR, 
Padlser,    Lipps,    SnDCKL,    Edblpe,   Ziehen,   Eshabdt  ;    ferner    die   N  ea- 


iM,Coo<^lc 


Hnffelmaim,  Leo,  Du  Problem  der  Willensfreiheit  o.  r,  «.  9Ö 

kiDtimer,  besonders  Libdmaks,  Windelsakd ,  Natorp,  desBea  Deter- 
mlDisiniis  allerdings  dorcji  die  ^unahitie  eines  EnergieznwKchueB  weaigstens 
in  MürFEUUKKS  DarsteUiiiig  uns  keineswegs  gegen  die  Zweilel  Si&KomoEiut 
Itescbert  erecheiot,  und  Adicxes,  sind  die  Fositivisten,  wie  Lus  nad 
BiEBL,  dann  die  Vertretei  der  IinniaDeD7.pliilaBoptue  Scumn  und  Beehie, 
wenngleich  letzterer  das  niobt  Wort  Laben  will,  weil  er  Determiiiiamus 
nDberecfatigter  Weise  identifiziert  mit  Fatal [smua,  sind  endliob  die  Herbar- 
tianer,  &iten  \oran  t.  Volsmajw,  und  die  Benekeaner  wie  Ditteb, 
Auch  die  HoTalstatistik,  die  am  Sohlnsse  noch  gestreift  wird,  hat  sioh 
TOD  der  fatalistiBchen  Anffasanng  znr  deterniinisti  scheu  bekehrt.  So  er- 
scheint denn  der  reine  l>eterminismns  als  die  einsige  kunseqoent  dnrch- 
fhhrte  Löemig  des  Problems  von  der  Willensfreiheit. 

Es  ist  eine  stattiiche  Reihe  von  Denkern,  deren  Behandlnng  der  viel 
omstrittenen  Frage  U.  uns  roiführt  Aber  es  sind  noch  lange  nicht  alle, 
die  sich  daimn  bemäbt  haben.  Im  Anhang  bringt  er  noch  eine  erstaunliche 
Menge  von  Autoren,  die  sich  seit  18B4  zu  der  Frage  geäusseit  haben. 
und  auch  dann  noch  vemiisst  man  den  einen  oder  den  anderen  nambaften 
Philoeophen,  der  zwar  niolit  in  einer  selbständigen  Schrift,  aber  im  Zn- 
aammenhang  seiner  Werke  Stellung  genommen  hat,  so  den  Ethikor  Zumlib, 
den  Historiker  der  Ethik  Jddl,  die  Psyokologen  Eoeflih,  Meinono  und  Ebben- 
FSLs  und  Hebleb,  den  Verfasser  der  , Elemente  einer  pbilosophisohen 
PreihntBlehre." 

Indes  wer  wird  in  dieser  Frage,  wo  die  Litteratur  mit  tropischer 
Ueppigkeit  wnchert.  ToUständigkeit  Terlangen '.  Seien  wir  dem  Verfasser 
lieber  dankbar  fQr  das  Viele,  das  er  eo  sorgsam  gesichtet  dargeboten  hat. 
Es  war,  weiss  Oott,  keine  kleine  and  auch  keine  angenehme  Arbeit. 

Ingolstadt.  Max  Offneb. 

Klehter,  Baoul,  Dr.,  Eant-AussprUche.     Leipzig,  £ni8t 
WnnderKch  1901.     Preis  M.  1.20. 

Die  Bedentnng  eants  für  das  Oeistesletien  unserer  Nation  ist  so 
gross,  dass  es  Pflicht  jedes  Gebildeten  sein  müsste,  ihn  aus  seinen 
Leistungen  selbst  zu  kennen.  Die  Philosophie  Kants  aber  ist  schwer  zu- 
gin^oh,  und  nur  irenige  wenden  die  dazu  erforderliche  Mühe  auf.  raOttl 
BicHTEB  bat  in  dem  TOTliegenden  Bache  einen  leichteren  Weg  gezeigt,  Eant 
ans  eigenen  Worten  kennen  za  leinea.  Er  hat  aus  seinen  Werken,  den 
Beflezionen,  aus  den  Eollegnachscbriften  zosammeogetragau  und  nach  stoff- 
lichen Gesichtspunkten  geordnet.  Systematischer  Zusammenhang  ist  nicht 
erstrebt,  die  Spruch  Sammlung  soll  nicht  die  Kan-tibche  Philosophie  ersetzen 
oder  auch  nur  in  das  System  einführen.  Aber  sie  ist  wohl  geeignet,  die 
San^ischb  Leben  San  schauung  wiederzuspiegeln  und  zu  zeigen,  wie  viel 
Kapital  der  Fonds  unserer  geistigen  Kultur  Eakt  verdankt,  wie  seine  Ge- 
danken im  höchaten  Grade  zeitgemSss  sind  und  auch  unsere  Generation 
noch  fahren  und  leiten  können.  Für  Fachgelehrte  ist  sie  nicht  bestimmt 
eit  wendet  sich  an  den  grösseren  Leseikreis  der  geistig  Interessierten,  und 
ihr  Zweck  ist  erftUIt,  wenn  sie  ein  Bild  von  der  geistigen  Grösse  Kants  im 
Leser  erzeugt,  wenn  sie  den  oder  jenen  veranlasst,  zu  den  Qnellen  selbst 
m  steigen. 

Die  Answahl  selbst  zeugt  von  einer  guten  Eenntnia  auch  der  ent- 
legeneren Schriften  Kants,  die  litterarische  Behandlung  ist  musterhaft. 

Leipzig.  Wilhelm  Paul  Scbuiunn. 


iM,Cooglc 


Farre,  L.,  L«  mäthode  d*ns  les  aciences  expirimen' 
tales.     Paris,  Reinwald  1898.    470  S. 

Der  Zweck  d«r  vortiegenden  Arbeit  beataht  dkrin,  dam  MaiiDa  der 
WiMentohaft  and  aooh  dem  Kanfinuiii  die  lor  Fotaranng  aotwaniHmn 
Hethodan  an  die  Hisd  zu  gaben.  Der  Anfängar  in  der  Winenschaft  kennt 
nioht  diejwigea  Viaaenagebieta,  welobe  nocdt  wenig  luterBnoht  lind,  et 
kennt  anoh  nicht  die  Methoden,  Mittel  nnd  Inatramente,  welohe  loa  Ir- 
reic^en  dee  jeweiligen  Zieles  dienen  können,  er  Teratsht  ea  noeh  nldit, 
exakte  ScJiläMe  zu  »ehe»,  teine  Sohlfiiee  in  diskutieren,  das  Hypothetieaba 
von  Üewieaanen  an  nnterecheiden.  Ee  »t  daher  dem  Verf.  in  danken, 
daes  et  die  beingiiohen  Metliodeu,  deren  SohlldMnng  ta  einer  groaaen  An- 
Eahl  von  Büoliam  zerstient  sieh  vorfinden,  geaammelt  and  gruppiert  hat 

In  der  Binleitnng  weiden  «nige  allgemeiiw  natutwiaBenaobaRlidia 
BMTiffa  aiöiteit:  Sabetani,  Energie,  Geeett,  Ürsaehe,  Zufall,  Vander, 
Bndens,  Gewieeheit.  Einige  Proben  B«en  hier  erwAfant:  Die  aUgemdne 
Foraal  Hr  piiaiaa  Oeeetie  lantet  fölgandennassea:  Ist  dieaea  odar  jenes 
System  von  Körpern  gegeben,  and  treten  dieae  oder  jene  Snergieen  in 
Aktion,  so  ist  dai  Eodreanltat  in   ^em  cagebeneD  Moment  dieaee  beiw. 

Snsa.  Die  Uraaohe  naai  g^ebenen  nioomens  ist  der  Ztutaod  der 
stur  in  dem  nnendlich  klmnan  AngenliiiDk,  welcher  deiqfanigen  Torher> 
gegangen  ist,  in  welchem  das  Phänomen  sich  vollzogen  bat  Sind  die  Cr- 
saohe  oder  das  Gesetz  eines  PblinoroenB  onbekannt,  so  sprioht  mao  von 
Zofall;  von  Wunder  dann,  wenn  ein  Phftsotnen  im  Gf^enaati  in  den  oalür- 
liehen  Oeeetxan  sich  vollzieht 

Seine  eigentliche  Arb«t  teilt  Verf.  eatapreohend  tainem  praktischen 
Standpunkte  in    zwei  Teile:    ce    qn'on   doit  füre   und   ce  qn'on  doit  ne 

Znnfiohfit  werden  die  Hypothesen  behandelt  Hat  eine  Verifikation 
bei  Hner  gröeseren  Anzahl  von  FKllen  Btattgefunden,  so  hUt  man  ee  fflr 
überfinsBW.  dies  bei  jedem  snaJogen  PhUnomen  von  neuem  zn  thon.  Hier 
tritt  die  Hypothese  in  ihr  HeohL 

.Die  alJgemeinete  Form  des  Problems  der  in  den  experimentellen 
Wissenitobaften  gesuchten  Srkiliraiigen  ist  folgendee:  Wenn  ein  Phinomen 
(Resultat)  gegebüi  Ut,  die  Bedinipiiigen    m  bestimmen,   welche  es  hervor- 

febracht  haben.'  Es  giebt  in  Wirkhohkeit  nor  eine  wabre  ErU&nuig  «nee 
'hänomeos,  aber  mehrere  mögliche.  Etstete  Icunnen  wir  nicht.  MÜ  kann 
immer  nur  sagen :  .Die  Dinge  verlaufen  so,  als  ob  diese  oder  jene  Be> 
dingaug  Ursache  von  diesem  oder  jenem  Phänomen  wäre."  Wir  erbalten 
nur  eine  mehr  oder  weniger  vollstSodige  Erklärung  der  Erscheinungen. 
Es  werden  dabei  mehrere  Stadien  dnrohlaufen:  1)  Die  Gm^piemng  der 
Thatsachen,  welche  in  ihrer  GesamtwiTknng  etwas  Analoges  bieten,  2)  die 
Analyse  einer  jeden  dieser  Thalsachen  und  ihrer  Vorläufer,  3)  die  Berück* 
sichtignng  dessen,  was  sie  beaoadere  als  Vorläufer  gememsam  haben.  Eine 
Erklfirung  muss  vollständig,  fruchtbar  und  wahr  sein.  Man  kann  fibrigeos 
nnr  sagen:  „Die  Dinge  verlanfen  so,  als  ob  die  Befrachtung  ein  Fhknomen 
der  Ernährung  w&re,  als  ob  zwischen  zwei  Hasaeupnnkten  eine  Anziehung 
direkt  proportional  den  Massen  und  umgekehrt  proportional  dem 
Quadrate  der  Entfernungen  stattfände,  als  ob  es  in  der  Mechanik 
eine  Besnltanfe  gäbe,  als  ob  die  Trlgheit  eine  wirkliche  Kimll 
wKre,  als  ob  die  Zentrifugalkraft  existierte,  als  ob  imaginäre  and 
uoendlioh  kleine  Quantitäten,  die  geometrischen  Unien,  fUohan  reale 
Exisfeni  besässen,  als   ob   die  Elektrizität  ein  Flnidum  wäre,   ala   ob  das 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


L.  F&TTe,  La  methode  dans  lee  scJenoes  ezperimeQtales.  97 

Schwarze  eine  wirkliohe  Farbe  wäre,  als  ob  es  3  Fnndamentatfarbeu  gäbe, 
jJs  ob  Atome  existierten."  „Die  Dinge  verlaufen  in  der  Biologie  so,  ata  ob 
die  Fonnen  willküiÜch  gewüilt  wären,  um  die  Funttioneo  zn  erföUen,  als 
ob  die  Kiftfte  und  BpesiGBOhen  Tüchtigkeiten  (vertoa)  in  Wirkliolikeit 
existierten,  ala  ob  die  NerroDzellen  dnrch  ibie  Terläogernng  kommoni- 
zierteiL'',  n.  b.  w. 

Die  Probleme  präsentieren  sich  in  zwei  QmudfomieD :  1)  Wenn  ein 
FUtnomeu  gegeben  ist,  seine  Ursache  zu  bestimmen,  2)  Wenn  ein  Effekt 
hervorgebntcbt  werden  soll,  die  dazu  nötigen  Bedingongen  antngeben. 
Das  erste  dieser  Probleme  kommt  mehr  in  der  eigentlichen  Wtseeneahafl 
vor,  das  letztere  mehr  in  der  Ennst  Im  allgemeinen  mnss  man  sich  da- 
mit begnügen,  die  Draaohen  anzageben,  welche  eine  bestimmte  Sorte  von 
Ersoheinimgen  hervorbringen.  Die  üntersnohong  zerfillt,  falls  sie  voll- 
ständig sein  soll,  in  folgende  Teilantetsiichnngen :  Reelle  Ursache  in  einem 
gegebenen  Falle,  zweitens  in  ähnlioiien  !EWen.  Högliohe  Ursache  in  ähn- 
lichen FUlen  and  in  einem  gegebenen  Falle.  Uögliohe  Optimalorsache  -  in 
einem  gegebenen  Falle.  Entsprechend  die  Erforsohnng  der  mögliohen  und 
besten  Mitte!,  um  einen  Effekt  zu  produzieren.  ~  In  der  Natnr  finden  wir 
nicht  eine  IJisache,  sondern  ein  Zusammenwirken  von  Ursachen,  walobe 
entweder  mit  einander  vennisoht  oder  kombiniert  sind.  Lm  erateren  Falle 
ist  der  allgemeine  Effekt  derselbe,  welchen  Jede  Ursache  allein  hervor- 
bringen  würde,  im  zweiten  Falle  nicht.  Hieraus  sieht  man,  doss,  wenn 
niao  bei  einer  Erstdieinung  alle  Ursachen  eliminieren  würde,  ausser 
der  Bauptsache,  man  zo  Besnltaten  gelangen  würde,  welche  ver- 
schieden sind  von  denen,  welche  die  Natur  giebt.  Der  Effekt  verflndort 
sieh  mit  der  „Qnantit&t  der  Ursache. *  Im  Anschlnss  hieran  besprioht 
Terf.  einige  bezügliche  Fälle,  wobei  er  die  Tei^ndernng  der  Effekte  je  naoh 
den  Uiaaohen  dun^  entsprechende  Kurven  zu  versinnliohen  sucht.  Eine 
groBse  Bolle  spielen  bei  dem  vorliegenden  Oegenstande  die  4  Methoden 
Ton  Stuart  Mill. 

Weiterhin  kommt  Verl  auf  die  Instromente  zu  sprechen.  Er  unter- 
schwdet  luatromente  zur  Produktion  und  Instrnmente  zum  Meesen.  Der 
Mensch  braucht  die  Instrumente  zum  Erzeugen  der  Phänomene  nud  2U  deren 
Btudinra,  er  sucht  mit  ihrer  Hälfe  den  Lauf  der  Natar  zu  verlangsamen, 
HindeniiBSe  zu  eliminieren.  Zur  ersten  Klasse  von  lustnunenten  geboren 
die  Instrumente,  welche  einen  nützlichen  Effekt  erzielen,  so  z.  B.  die  Re- 
gulatoren für  Bewegung,  für  das  Ansfliessen,  die  Automaten,  ferner  die 
Instrumente,  welche  einen  schädlichen  Effekt  verhindern  oder  annullieren, 
die  Kompensatoren.  Zur  zweiten  Klasse  gehören  diejenigen  Inatromente, 
welche  die  Effekte  fühlbar  und  messbar  machen.  Fühlbar  werden  sie  durch 
die  Amplifikatoren  (z.  B.  Hikroskop,  Teleskop,  astronomisches  und  terre- 
strisches Femrobr,  Telephon,  Resonator,  elektrischer  Multiplikator,  Ijnse, 
Spiegel)  und  durch  die  Beduktorea  (z.  B,  Photographie,  Phonograph,  Mano- 
metBituben).  unter  den  eigentlichen  Measinstrumenten  werden  Baroskop, 
Bart^Tsph,  Dynamometer   mit  Feder,  Kathetemeter  und  Polarimeter  zitiert. 

Nachdem  Verf.  noch  über  die  Art  und  Weise,  wie  man  ungewohnte 
Thatsacben  iu  Angriff  zn  nefunen  hat,  über  wissenschaftliche  Definitionen 
and  über  die  Art  der  wissenschaftlichen  Fragmtellung  sich  geäussert  bat, 
geht  er  mm  zweiten,  kleineren  Teile  seines  Werkes  über. 

Die  Oeechichte  jeder  Wissenschaft  zeigt  eine  Anzahl  von  Irrtümern. 

Zu  diesen  klassischen  Irrtümern  gehört  z.  B.  die  Annahme  einer  spontanen 

Eixeogung  der  Infosorien  und  höherer  l^ere.    Es   ist  daher  dem  Forscher 

Vorsiät  anzuempfehlen,  sobald  er  die  gewohnten  Wege  verlOsst  and  seine 

VlBTtelJahTBialirUt  f.  winenigkaftl.  Philoaopbla-   SXTIL  1. 


iM,Coo<^lc 


eigaDsn  geht,  damit  ei  nicht  ähnlichen  tiefwarzeladen  Selbatmasohnngen 
reriällt.  —  Derselbe  Hensoh  urteilt  andere,  je  nachdem  er  allein  ist  <>dar 
Btoh  in  Mitten  einer  Menge  von  HesBchen  befindet,  da  im  letzteren  Fall« 
die  ladividuea  eine  Art  von  BoggestioD  aof  aioandei  auBüben.  ~  Der 
Forseher  darf  reiner  nicht  im  Affekt  nrteüen.  Aach  dixt  ec  nicht  mit 
Vomrteilen  an  seine  Untersnchnngen  herangehen.  Der  menBohliobe  Odst, 
der  eine  Frage  beurteilt,  pflegt  gewäbnlioh  folgenden  Weg  m  geben: 
ASektivee  Urteilen  a  priori  oder  Vorurteil,  Anfsuchen  der  Gründe,  welche 
dieses  Torarteit  aafrecht  erhalten  konneu.  Finden  sieh  keine,  so  Verwerfen 
der  ganzen  Sache.  Der  Forscher  mnss  den  nmgekehrten  Weg  geheu:  Auf- 
unchen  der  Grunde,  Urteil  a  posteriori  und  Motivitäi  —  Man  kann  ni^t 
a  priori  entscheiden,  ob  eine  Suite  unmöglich  ist,  »ondem  erst  a  posteriori. 
Dia  Unmöglichkeit  kann  eine  dreifache  sein,  eine  logische,  eine  materielle 
oder  augenbliokliche.  —  Der  AnStnger  in  der  Wissenaobaft  mnas  sich  da- 
vor hüten,  in  Worten  wie  Vererbmig,  speiiflache  Energie,  Affinität,  Lebens- 
kraft XI.  B.  w.  wirkliche  Elrklärongen  ta  sehen.  —  Die  Anwendung  mathe- 
inatiBoher  Formeln  kann  gegenwärtig  bei  vielen  Problemen  noch  ni<At 
stattfinden,  so  i.  B,  in  der  Natnr,  Biologie,  Fsjohologie,  Sooiolt^e,  weit 
man  nicht  alles  Gegebene  kennt.  Die  mathematischen  Formeln  lassen  die 
Besnltate  wohl  Toraosaehen,  aber  letztere  müssen  verifiziert  werden.  £uie 
grosse  Rolle  spielt  in  der  Wissena^^aft  das  arithmetische  Mittel.  Die 
Arbeit  fi.vres  zengt  von  omfasaendem  Wissen,  Und  man  muas  anerkennen, 
dass  Verf.  sich  bemüht  hat,  in  jedem  Falle  das  denkbar  Zatreffendste  zn 
geben,  so  dass  das  Bach  nicht  allein  den  Novizen  der  Wisse DBch^ 
empfohlen  werden  kann,  sondern  bereits  manchen  fortgeschrittenen  Ge- 
lehrten znm  Nachaohlagen  and  zor  Informienmg  gate  Dienste  za  leisten 
vermag. 

Erfort.  GusBLER. 

KarlGrOOS:  Der  ästhetische  Qenusa.   Qiesaen  (Ricker) 
1902.     Vm  u.  263  S.  geheftet  M.  4.80.     geb.  M.  6.00. 

Statt  eine  sneite  Auflage  seiner  „Einleitung  in  die  Aeethetik"  za 
veranstalten,  hat  sich  Gboob  zu  einer  Nenbearbeitung  des  ästhetischen 
ProblemB  entsahloasen.  Der  vorliegende  Band  ist  der  Beginn  dieser  Nen- 
bearbeitung. Weitere  Bände  sollen  das  Schone  und  die  ästhetischen  Modi- 
fikationen, das  Wesen  des  Genies  und  das  System  der  Künste  behandeln. 
Damit  ist  das  Thema  des  Buches  umschrieben.  Es  soll  eine  psychologische 
Analyse  des  ästhetischen  Genusses  als  Orundlnge  der  Aeethetik  gegeben 
werden.  Gaoos  bleibt  also  bei  seiner  psychologistisahen  Stelinngnahme  und 
verteidigt  dieselbe  S-  1351.  gegen  die  {Hnwände,  die  ich  in  metnerall- 
gemeinen  Aesthetik  erhoben  habe.  Er  schreibt  der  Psjchologie  eine  gewisse 
Fähigkeit  der  Normbildung  zu,  mässigt  aber  seinen  P^chologismus  durch 
die  Behauptung,  dass  eine  vollständige  Lösung  des  Wertproblems  ohne 
metaphysisohe  Bestimmungen  nioht  möghch  sei  (135).  Da  in  letzter  Zeit 
von  verschiedenen  Seiten  die  psychologische  B^^rändung  der  Aesthetik 
verteidigt  worden  ist  und  sich  dabei  mehrere  wesentlich  vereobiedens 
Gruppen  von  Fsychologisten  ergeben  haben,  scheint  es  notwendig,  disM 
Streitfrage  noch  einmal  gründluAer  zn  behandeln,  als  es  bei  Oelegenheit 
eines  Beferates  geschehen  kann.  Ich  hoffe,  dies  in  abeehbarw  Zeit  thnn 
■n  können,  möchte  daher  an  dieser  Stelle  nur  hervorheben,  daae  Gboos, 
aoEsar  durch  jenen  Hinweis  auf  die  Metaphysik  anoh  noch  durch  die  Ein- 
(Ohmng  des  .natürlicfaro  Gefühls',  das  uns  zwingt,  das  .lithabach  Wwt- 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Kar]  Oroos,  Der  Mhetisebe  Oennss.  99 

volle"  eugor  in  fassen  ais  dw  .ästhetieoh  Wirksame",  dem  oenen  Pajoholo- 
gisniw  mUao  wird  (S.  140),  dabei  aber  ein  wissenactutFtlich  lüoht  fasebarae 
Kriteriam  einführt  üebrigeue  hindert  der  abweichende  Btandpnjiit  nioh 
nJoht,  im  eiuielnan  vieles  ans  Oaoos'  Werke  zu  billigaii  nnd  la  leniea. 
Idi  glaube  daher,  gut  sa  IhuD,  wenn  iob  an  dieser  Stelle  ein  iiarzes 
BefeiBt  dea  weeentiiöhen  Inhalts  gebe')- 

Dia  Eiiileitniig  keniDseiohnet  die  Anfgabe  des  Bnchee  und  giebt  eine 
knne  üebenicht  über  die  Methoden  der  psyohoiogischen  Aesthetib,  die 
Datoi^maae  mit  denen  der  allgemeinen  Tsychologie  nbereinstiminen.  Dar- 
auf hennxeiolinet  Oroos  im  1.  Kap.  den  fisthetisolien  Oennss  als  nSpiel'. 
Diesen  Begriff  definiert  er  ata  eine  Tätigkeit,  die  Selbstzweck  ist.  £r  ^enzt 
aleo  das  Spiel  von  der  Arbeit  durah  seine  Interesselosigkeit  ab.  Die  Ur- 
sachen des  Spieles  sind  angeborene  Triebe,  die  anch  ohne  emstw  Zweok 
ZOT  Bethätignng  drängen.  Bei  allen  Spielen  kommt  die  Frende  ah  an- 
genehmen und  intensiven  in  Beirncht,  uneQnteiBcheidiiDgderaQfSBthstJaahem 
Oebiet  die  Oegenäberatellimg  dee  Schünen  nnd  des  Erhaltenen  entepricht. 
Die  Analogie  von  l^thetisäiem  Genüsse  wird  dann  dnroh  eine  Aualjse 
des  Freiheitsgefühls  nnd  der  lilnsion  an/  beiden  Gebieten  gestützt. 

Nachdem  so  der  ästhetische  Oennse  gewissennassen  seinen  psycho- 
biologischen  Ort  erhidteo  hat,  wird  die  weitere  Analyse  durah  eine  Fest- 
legung der  psjoholo^schen  Termini  eingeleitet,  (B.  26  ff.),  auf  die  als  anf 
einen  Beitrag  zu  den  hierzu  notwendigen  Etärungsbestrebungen  anfmertsam 
£0  machen  ist  Hit  einigen  Bedenken  sohliesst  Oroob  sich  dann  für  die 
waitereBehandlungderherkömraiiülien  Scheidung  in  sinnliche  nnd  reproduk- 
tive Faktoren  des  ästhetischen  Oennsses  an.  Die  Vorzugsstellung  des  6e- 
üdita  und  Oeböis  im  Vergleich  mit  den  äbrigen  Sinnen  findet  Oroos 
weaentlich  darin  begründet,  dass  nur  Oesicht  und  Oebör  „Sprschsiune"  sind 
(36).  Interessant  sind  die  folgenden  Ansfnhrangen  über  die  ainnliohe  Seite 
der  ästhetischen  Form  d.  h.  über  das  Hineinspielen  der  Bewegnngs-Ein- 
stellnngen  nachahmender  Art  und  der  übrigen  Organe mpfindang an  in  die 
isthetiecbe  Anffaaenng  der  räumlichen  Form.  Sehr  gnt  echeinl  mir  die 
Scbilderruig  der  Qefnhie  beim  tiefen  mhigen  Atmen  S.  65  gelungen  zu  sein, 
ebenso  treffen  wenigstens  für  mich  die  Bemerkungen  itn  wesentlichen  zn, 
die  Gboos  tber  den  Anteil  der  Organempfindnngen  am  Eindmoli  der  Lese- 
poeeie  B.  79  ff.  macht.  Ich  iialte  diese  sehr  gut  beobaobteten  Sohildemngen 
für  eine  wesentliche  Bereioberung  unserer  an  solchen  Analysen  armen 
psych ologieehen  Litterator.  Doch  hat  sich  mir,  als  ich  ähnliche  Fragen  im 
Anacblose  an  verwandte  Ausführungen  meiner  Aesthetik  mit  verschiede  neu 
SsthetiBoh  und  philosophisch  gebildeten  Personen  besprach,  die  Ueberzengnng 
anfgedi&ngt,  dass  hier  individuelle  Differenzen  eine  bedeutende  Rolle 
Bpiäeo.  Ob  der  üeberzeugung,  zu  der  sich  Oroos  8.  28  bekennt,  dass 
die  motorische  Versnlagnog  ein  Merkma]  der  ausgesprochen  ästhetischen 
Naturen  ist,  den  Thatsacben  entspricht,  müsste  durch  experimentelle  Coter- 
sndiong  festgeetellt  werden.  Als  Hypothese,  die  die  Forechungen  über  den 
Zosammenbaog  von  Sinnestypos  und  Oeistesart  leiten  kaun,  bat  sie  jeden- 
fallB  ihren  Wert 

Weit  weniger  bedeutend  ist  das  Kapitel  über  die  reproduktiven 
Faktoren  des  ästhetischen  Oeoosses.  In  dem  Abschnitte  über  die  ästhe- 
tieiAefi  Urteile  sudit  Oboos  durch  Berufung  anf  die  Qrundthataachen  dee 
Werteus  das  ästhetiscb  Wertvolle  als  engere«  Uebiet  ans  dem  weiteren  des 


iM,Coo<^lc 


100  Paul  Barth. 

äathetisoh  WirkBamen  heramizusoßdem.  Eine  prinzipielle  Behsodlaog  dieser 
Fragen  ist  ja  nach  Gnooa  nicht  ohae  Hetaph^aik  mählich  —  er  begnügt  sich 
daher  hier  mit  einer  empiriaohen  Anfzäblang  und  Diskassion  der  ODaeren 
Urteilen  zu  Grande  liegenden  'WertmassBtäbe. 

Im  5.  Kapitel  modifiziert  und  verteidigt  Gkoos  seine  ältere  Tbeorie 
von  der  inneren  Nachahmung  als  dem  Wesen  des  ästhetisohen  Ocnnsses. 
Er  analysiert  zanächst  das,  was  beim  ästhetischen  „Miterleben*  vorgeht. 
Er  h&lt  diesen  Ansdruck  für  verwendbar  —  doch  mnss  man  eich  klar 
halten,  dass  er  ein  Bild  ist.  Was  diesen  Zastand  in  Wahrheit  von  der 
blossen  VoTstellung  eines  fremden  Erlebnisses  antarscheidet,  ist  nar  die 
Umwandlung  der  vorgeetelltea  Oefähle  in  reale  and  das  Aoftreten  von 
reprodozierten  OrganempfiD düngen.  Diese  OrganempSndongen  enthalten 
eben  das  imitatorische  Element  Osoos  schränkt  seine  These  nun  ein,  !□' 
dem  er  die  Existenz  schwächerer  SatheLisoher  Genüsse  ohne  , innere  Naoh- 
atunnng"  zngiebt  —  aber  er  hfilt  in  dem  Sinne  an  ihr  fest,  daaa  er  sagt 
(S.  200):  „Die  Erfabrungea,  die  ich  an  mir  seligst  mache,  zwingen  mich 
dazu,  die  hiermit  gekennzeichnete  Art  des  Uiterlebeos,  die  im  vollsten 
Sinne  den  Namen  einer  „inneren  NachahoinDg'  verdient,  überall  da  an- 
zunehmen, wo  das  ästhetische  Objekt  in  .packender-  Weise  durch  Formen 
zu  uns  redet  —  wo  aber  die  form  fehlt,  da  reden  die  Objekte  nicht  viel, 
und  wo  sie  nicht  reden,  da  giebt  es  wenig  zum  Hiterleben."  Hervor- 
zuheben ist  weiter  der  B^mbolische  Charakter  vieler  Nachahmungen  —  sie 
denten  das  Nachzoahmende  nur  an  (204  f.).  Den  irreführenden  Ausdruck 
, Scheingefühle "  für  die  ästhetischen  Gefühle  giebt  Qsoos  auf  (309).  Die 
ästhetischen  lUusioneo  uuteracbeidet  er  von  den  tüaschendcn,  thatsäobliohen 
lUusioneo  als  „aufkeimende"  (215).  Die  Einheitlichkeit  jedes  ästhetisohen 
Verhaltens  wird  bewirkt  durch  die  „monarchische  Einrichtung  des  Bewnsst- 
seins"  —  die  im  Scblussabschnitt  näher  beleuchtet  wird. 

Freiburg  i.  B.  Jonas  Cobn. 

Bletionary  of  PhiloBophy  andPsychology  ed  by  James 
MarkBaldwin, New- York aiidLondoi],Macmilian.  Vol.  1,1901. 
XXIV  und  644  S.     Vol.  II,  1902,  XVI  and  892  S. 

Diese  zwei  Bände  in  Quartformat  suchen  ein  schwieriges  Problem  ro 
lösen,  für  die  englisch  redende  Welt  wohl  überhanpt  zum  ersten  Haie. 
Ausser  dem  Heiaasgeber  haben  noch  ÖO  Mitarbeiter  daran  gewirkt.  Sin 
Wörterbuch  für  Philosophie  und  Psyohologte  ist  mühseliger  als  für  jedo 
andere  Wissenschaft.  Nicht  bloss  das  Schwanken  der  Terminolo^e  und  deran 
lange  Geschichte,  auch  der  Streit  der  Schnlen  und  der  grosse  Dmlang  des 
Gegenstandes  machen  es  sehr  schwierig,  ein  encyklopädisches  Went  in 
schaffen,  das  allen  Anforderongen  gerecht  würde. 

Anch  das  voriiegende  Werlc  bleibt  weit  hinter  dem  Ideale  larüclt. 
Die  Psychologie  ist  vor  der  Philosophie  sehr  bevorzugt  und  innerhalb  der 
ersten  wieder  die  physiologische  Seite  der  Erscheinungen.  Manchmal  geht 
es  zu  sehr  in  die  physiologischen  Einzelheiten,,  z.  B.,  wenn  unter 
.Neurologie"  die  Methoden  der  Färbung  der  Nerveuaubstanz  angegeben 
werden.  In  der  Fhilcacphie  sind  die  Denker  des  Altertums  und  Mittel- 
alters ausdrücklich  ausgeschlossen.  Nur  die  griechische  und  die  lateinische 
Terminologie  wird  berücksichtigt  und  von  den  grossen  Philosophen  des 
Altertoms  eine  kurze  biographische  Notiz  gegeben.  Aber  auch  das  so  ver- 
engerte Gebiet  ist  nicht  immer  eindringend  behandelt.  Ont  ist  t.  B.  der 
Artikel  Eants  termiaology,  ausführlich,   aber  doch  äusseriioh  bleibend  der 


iM,Coo<^le 


Diotionary  of  Pliiloaophj  aüd  Pejcholo^e  eto,  101 

entsprechende  über  Hegel,  kng  nnd  doch  wenig  methodieoh  verfahrend  der 
über  .Tdeologj". 

Der  Grandfehler  des  Vörterbuchs  ist,  daas  as  sich  zd  weit  ooBbieitet. 
Aneser  der  Psfchologie  aad  der  Philosopliie,  deren  Teile  der  Tradition  naoh 
Ethik,  liogik,  Aesthetik,  Beligiousphilosophie,  Sociologie  sind,  werden  dem 
Stel  und  dem  Prognunm  gemäss  noch  berücksichtigt:  Psychopathologie, 
Authiopologie,  Neurologie,  Physiologie,  Oekonomilc,  Philologie,  Physik  und 
Adagogik.  Das  ist  za  viel  für  2  B&nde,  mit  denen  das  eigentliche  Würter- 
bocb  abgeschlossen  ist.  Denn  der  noch  ausstehende  dritte  Band  soll  bloss 
eine  aystematisohe  Bibliographie  bringen. 

Die  biographisuhen  Notizen  sind  dürftig,  sie  wären  am  liesten  weg- 
gebheben.  Im  übrigen  will  ich  den  kfihnen  Wagvmnt  des  flarfiosgebers 
gerne  anerkennen  nnd  dem  Werke  eine  baldige  zweite  Auflage  wllnschen, 
die  zur  Abstellong  der  mannigfachen  Uängel  Gelegenheit  biete. 

Leipzig.  Paul  Bahth. 

Storch,  £.,  Muskelfonktion  und  Bewusetsein.  Mit 
7  Figuren  im  Text  Wiesbaden,  J.  F.Bergmann,  1901.  44  S. 
Das  Sensorinm  wird  in  zwei  Territorien  eingeteilt,  die  bei  der  Wahr- 
nehmong  stets  beide  zusammenklingen,  nAmlioh  die  „Pathopayohe",  als  psy- 
chische Repräsentation  der  eigentlichen  Sinnesqoalitäten  und  die  „Hyopsyche*, 
ab  psychische  Repräsentation  der  Muakelthtttigkeit  (S.  56).  Die  myosen- 
Borische  Bahn  ist  anatomisch  noch  nicbt  genau  festgelegt,  sie  mischt  sich 
in  der  inneren  Kapsel  den  motorischen  Stabkran zfaaem  bei,  ihre  kortikale 
Projektion  ist  dieselbe  wie  die  der  motorischen  Pyramidenbahn.  Nimmt 
man  als  Ausgangspunkt  letiEterer  die  grossen  Pyraniidenzellen  an,  so  Gndet 
die  myosensoriscne  Bahn  ihr  Snde  an  den  kleben  Zellen  der  oberen  Bobichten 
(S,  82).  Brei  myopsychische  Felder  werden  in  der  übrigens  bei  jeder  Er- 
regung als  Einheit  thätigen  Hyopsyche  unterschieden:  1.  Glossopsyche  = 
Brokasche  Windung  (nnd  BcblSf^appen?).  Dir  psychisches  Ecrrdat  ist  die 
Voistellnng  des  Intervalls  nnd  der  absoluten  Tonhöhe;  2,  Eidopsyche  = 
Hinterbauptlappen.  Sie  ist  das  myopsycbische  Feld  der  Augenmuskeln  und 
besteht  nur  aus  Richtongs Vorstellungen ;  3.  Ergopsyche  =  Stimhirn  einaohl. 
der  Centralwindnngen.  Hier  treten  za  den  Richtangsvorstellungen  noch  dio 
der  Hasse  und  der  absoluten  Orössa  hinzu.  (Von  einem  psychisohen  Eorre- 
lat  der  Hyopsyche  zn  sprechen  (S.  81}  ist  unkorrekt,  und  auch  die  Ein- 
teiliuig  der  kortikalen  Projektion  der  motorischen  Peripherie  in  ein  moto- 
riscbes  nnd  ein  myopsychisches  Feld  ist  nicht  scharf  genug,  da  die  Myo- 
psycbe  [=  Uuskelseete]  doch  als  dem  motorischen  Felde  obergeordnet  gelten 
moBB.  Referent.}  Die  Zeitvorstellung  ist  nicht  lokalisiert,  sondern  die  Re< 
pfftsentation  einer  nnunterbrochen  im  ganzen  Hirn  vor  sich  gehenden  eigen- 
artigen Bewegang.  Die  Zeit  wird  (ä.  46)  etwas  kühn  als  „die  -objektivierte, 
von  allen  Beizen  unabhängige  ürth&tigkeit  der  Seele"  bezeichnet.  „Bie  be- 
sitit  infolge  davon  kein  Oegenstüok  in  der  Welt  der  Objekte  .  .  .  Natür- 
lich hat  diese  üithätigkeit  ihr  objektives  Eorralat  in  einer  Bewegnngsfcrm 
der  Grossbirnrinde,  über  deren  Natur,  ob  cbemisub  oder  physikalisch,  heute 
Termutungen  anfzostellen,  massig  erscheint.  Das  aber  können  wir  sagen, 
dass  diese  dem  Zeitbewnsstsein  eutspreohende  Bewegnngsforni  nicht  erst 
dnrch  änssere  Reize  entsteht,  sondern  von  Anfang  an  vorhanden  ist,  und 
daaa  die  Rinden  vorginge,  welohe  durch  Reize  veranlasst  werden,  diese 
Omndbewe^ng  nur  modifizieren,  um  ein  Bild  zn  branchen,  Fartialwellen 
auf  einer  Ornndwelle  sind."    (Tielleicht  soll  die  Zeitvotstellang,   nicht  dio 


iM,Coo<^lc 


102  AQgast  DüDgeiä. 

Zeit,  als  Drth&tigkeit  der  Seele  augeDomnieii  vreTdeo,  wenigstens  wider- 
eprjlche  das  nicht  eo  sehr  dem,  übtigaDB  auch  eigeDtüm liehen  Sitze  [S.  46]: 
,WAS  iob  eubjektiv,  als  Beetsodteil  miliar  Person liobk«t.  OedSobtoiB  oenne, 
ist  objektiv,  unabhängig  von  mir  gedacht  —  die  Zeit*.  Keferent).  In  der 
Breite  dea  Oesnoden  giebt  ea  keine  Wahraebmnng  ohne  Erregung  des 
ganzen  Qehinis  und  ohne  Beteiligung  der  ganzen  Myopejcbe  (S.  82). 
Hern  bei  Detmold.  Aronai  Dünqrs. 

Wagner,  A.,  Beiträge  zu  einer  empiriokriti sehen 
Grundlegung  der  Biologie.  I.  Heft.  Leipzig,  G-ebrllder 
Bornträger,  1901.  91  S. 

.Nicht  bestimmen  was  bei  biologlsober  Vorsehung  herauskommen 
soll,  Houdern  Buchen,  was  bei  derselben  thatsAchlich  heraoskommt,  das 
kann  als  die  mehr  und  mehr  auftauchende  neue  Devise  <^er  Biologie  gelten 
(9.  9)."  Nicht  Dogmatismus,  sondern  logisoh-kritiBche  Verwertung  dordi 
ErtahroDg  gefandener  Thatsachen,  Oleic^telluDg  der  biologiachen  Oeseti- 
mlsaigkeiten  mit  den  p^Bikalischen  und  (AemiBchen;  «elbatändige  Er- 
torsohuug  des  biologischen  ErBcheinnngsgebietee  anabb&n^g  von  Phjsik  and 
Chemie,  wodurcb  der  Gegensatz  des  Vitalismus  und  MechaniBmus  gegen- 
Gtandsloa  wird;  richtige  Problemsteltung  auf  Omnd  der  Erkenntnisstfaeorie: 
mit  dieseu  Forderungen  wird  das  klar  geschriebene  Buch  eingeleitet.  Die 
Frage,  ob  die  Erkennistheoiie  so  weit  vorgeschritten  sei,  um  ein  Fundament 
für  andere  Forsch angsriobtnngen  liefern  zu  köunen,  dürfe  getrost  bejaht 
werden.  Dabei  soll  mäglicbst  der  Standpunkt  vertreten  werden,  dasa  die 
NatoTwissenschoft  Fiktiooen  jeder  Art  nod  Fundieraug  auf  metaphysiaohen 
Begriffen  lermeide,  deshalb  gerade  in  ihren  Fandamenten  peinlich  mit  der 
reinen  Bmpirie  Schritt  halte  and  weder  begrifüicfaeAbetrahta  wie  „Materie" 
und  .Kraft",  noch  willkürliche  Fiktionen  wie  .Atome"  und  .Holebüle', 
noch  auch  willkürliche  dogmatische  Doktrinen,  wie  .meohanisohe  Natu 
aller  Energie rormen"  etc.  zu  fundamentaler  Grundlage  nehme  (3.  64). 
Unmittelbar  gegeben  sind  uns  nur  unsere  Empfindungen  (8.  48).  Sie  ^nd 
die  wafarhafien  Elemente,  dasjenige,  von  dem  wir  als  dem  Elistg^ebenen 
aasgehen  müssen  nnd  für  welchee  es  keine  weitere  Zuriiclifnhning  giebt 
(S.  68).  AoBsenwelt  und  Vo:  stell ongs weit  sind  in  der  Erfahmog  untrenn- 
bar. Im  Denken  trennen  wir  sie  durah  logische  BegriSsbildung  zum  Zwecke 
eines  methodischen  Wechsels  der  Betrachtungsweise  und  vollziehen  bo  eine 
Soheidung  der  empirisch  einheitliahen  ßeihe  in  zwei  geeonderte  FaralLel- 
railien:  die  der  Umgebnogsbeatandteile  und  die  der  Emp&ndnngen,  Vor< 
stetinngen  eto,  (S.  68  u.  69).  Indem  sich  Vf.  in  folgendem  anf  SiohaBD 
AyzNBsa's  Kritik  der  reinen  Btfahrung  stützt,  gelangt  er  schliessliob  zur 
Formnliernng  folgender  drei  S&tze,  welche  er  als  Fundamentals&tze  der  natur- 
wissenscbaftlivhsn  Erfahrongsanalyse  bezeichnet:  (8.89  n.  90}. 

1.  Die  ümgebungsgesamtfaeit  ist  für  die  empiriokrittsche  Betraohtnngs- 
weise  als  eine  Mannigfaltigkeit  von  Wirkangs weisen  anzunehmen. 

2.  Innerhalb  der  Cmgebongsgesamtheit  ist  ein  Wechsel  von  Wirknngs- 
weiseo  anzunehmen. 

3.  Dieser  Wechsel  ist  als  ein  geaetim&esiger  anzunehmen. 

Di«  FoTtsetzuDg  dieser  Btodie  soll  sich  mit  der  Aufgabe  belasseii, 
die  systematischen  Verkettungen  innerhalb  der  UmgebnngsgeBamthwt 
(.des  Systems  B-)  soweit  in  verfolgen  und  zu  entwickeln,  als  es  an  der 
Hand  des  zugänglichen  Erfttbrungsmateriales  möglich  ist. 

Ilorn  bei  Detmold.  AOQust  Dt'.'^OBS. 


iM,Coo<^lc 


PUIosopUsche  SeitsdntttML 

PUIoiopUe,  L  AbteiluDK  (Berlin.  R«injer). 

;,  Heft  1  (N.  F.  Bd.  9,  Heft  1). 
Die  EntiUhnug  dar  PhiloMphls  DMOartw'  ntah  lalnw  KomapoiAu: 
'ODStelD,  Dia  utarphilmapiiiuliBD  Idaan  bai  Cyruo  da  Bai-gone. 
Stsdien  lar  NMnrphlloMpUe  de*  Tb.  Hobbei. 


ArchlT  tVr  FUIoiopUe,  L  AbteiluDs  (Berlin.  Reiner). 

Bd.  IS,  Heft  1  (N.  F.  Bd.  9,  Heft  1). 
W.  Pfertar,  Dia  EntiUhnug  dar  Philoaophls  DMOartaa'  ntah  lalnar KomapoiAaas. 

m'.  KShlar. 

Ja*B  Ptrt«,   Flaton,  Rooub»,  Kuit,  Mletiicha.    (Koraliama   at  Immoraliima). 


Jtl^eibarioht. 


N.  H.  Harihall,    Kut  and  dar  Nankutlnnlnnni  In  Bn>lmnd. 

J.  B.  Craiihton,  KuHu  UtarMare  In  AmatiM  tlnes  llee. 

B.  FatronlaTloi,  WaraiB  ttillan  wir  bbi  dia  Zait  als  aina  RTkda  Linla  Torf 

fi.  TklhinRar.  HoBMon  Blawart  Oh&mbarlalii  —  ain  JOngar  KtnU. 

O.  BrDdnft«,  Bin  b«nzSiiMh«t  Bomsnoier  Bbar  Eftnt. 

-  SalbitaBBaljHn.  —  MlUallnnean.  —  Nana  SdntlltarBtnr.  —  Sonitigai 
-  Ho«hmalt  dw  Oallln'it'--  "—•—"-- 


In'Mha  Kantrallaf. 
Und  (London,  Edinburgh,  Oxford,  Williams  &  Norg&te). 
Sew  Ssries,  No.  44. 
rndlay,  The  DeBnitlon  ot  WUI. 


H.  B.  MBribBll,  The  ünl^  Dt  Proaeai  In  Oonnlsnanem. 

J.  E.  Mb.  Taisart,  Hegers  Treatment  til  tha  CdtoEorlei  or  Oult». 

Oritleal  natioea.  —  Hew  Booka.  —  Pkiloiapbloäl  FsrlodieBli.  —  Note : 


The  Kind  AMo«fMf«D. 
Heft  45. 
A.  E.  TBTlor,  On  the  flnt  part  of  Plato'a  Fumenldaa.  ' 
T.  Whlttekar,  A  Oompandlona  Olaaalfleattan  of  the  SalaDcaa. 
A.  K.  Bogen.  Th«  AbMlUe  m  TJnknowBbl«. 
W.  O.  Snlth,  Anlagonletle  BaaetlODB. 


ZAitsekrift  tte  FUloBopUe  und  phlloiophlBche  Kritik  (Leipzig,  Haacke). 
Bd.  Ml,  Heft  1. 

B.  T.  HartmBnB,  DIspeTchophyilaaba  KaaaatEUt, 
3.  Zabltlaiaab.  Die  CFsttthle  all  Symptome  payohliohar  Abnormlt&t. 
B,  Nanandorlf,  Anmerkimgen  zu  LotEBR  WaltuaDhananK, 
L.  T.  Bortkiawloi,  Wahraohrinllohkeilatheorle  nnd  Srfahrsig. 
Th.  Sleen  ha  na,  Theorie  dea  Oeniuena, 

EsBaniloBan.  —  »albitaniaigeD.  —  MotlzaB.  —  Nen  eingegangene  Sohriftra.  —  Abi 
ZaItMshrifMn. 

Bd.  121,  Heft  S. 
Tb.  BUenhan«,  Theoria  de«  Qawtiaeni.    (Sohlnu). 
H.  OBgeanhaim,  Baltrtga  inr  Biograpliia  Patraa  Bamni'. 
0.  Sehnaldar,  Dia  aehOplarlioha  Kran  dea  Klndea  In  dar  Qeataltnag  aelBer  Ba- 


li. W.  Starn,  Dar  iwalta  BuiptntE  d 

i.  Tolkilt.  Biltrige  aar  Ana^a  dai 

BaaaDilonaii.  —  Notlaan.  —  BarlehtlgSB«.  —  Nan  atngagangena  SehrUteB.  - 


iM,Coo<^lc 


104  Philosophisohe  Zwtsdirifteii. 

Berae  PhUoBopklqae  (Farn,  Alcan). 

91.  Ann^,  No.  10. 
t,  La  Dftntea,  Lm  pluM  da  la  via  dana  laa  phAnomAnaa  nunrali  (1.  aitJoIeJ. 
A.  Blnat,  I>  vooaJialslTg  at  ridtatlon. 
-      »rd-Vi 


la  uTola;  lann  faatann  aoololosfqnai. 


F.  Dk  Ooatk  Oalmaraana.  La  baioin  da  prlar  st  im  oondltEotu  ptysholofflqtiaa. 
P.  FamlhaD,  La  rntthode  uuLrtlqDa  dana  la  dttanninatlan  daa  caiaottrai. 
Analyaa*  at  aomptea  rtadDi.  —  Rema  dea  ptrlodiqaea  AtnoKera.  —  Llrrei  Hgavaaiix. 

21.  Annäe,  ITo.  11. 
H.  Lanba,   Laa  tendaooaa  relljdaiuaa  ehaa  laa  myatiqaaa  otirStlailB  (2-  at  danilar 

■Hdole). 
L.  Danilao,  Daa  imaeaa  angglrtea  par  l'anUUDH  mnalcala. 

F.  La  ßantee,  La  place  da  UtI«  dana  lHphtnoinAiiMnatiu«lt  (2.  et  denlarKTtlela). 
Th.  FlDDfnoy,  Laa  vailttte  da  I'aiparlaBoa  reltgieiue  d'apiSi  K.  William  Jamea. 
—  Analyiea  at  eomptaa  readna  ato. 

S7.  Aanäe,  ITo.  IS. 
F.  Paolhan.  Bur  la  mAmalre  alfMtivc. 
Koiloirakl.  L*  seoiM  da  rttendne. 
Laones,  Phlloaopnea  rnaaea  aontcmporalna:  T.  SoIovIst. 
B.  PUron,  La  qufitlon  da  U  mtmolra  albotiTa.  —  Contributlona  i,  la  paTakoIogl« 

daa  maoiasla. 
Aoalraea  et  Miuptai  readaa  «to, 

98.  AMB«e,  No.  1. 
Dr.  Sanier,  L'antoaoopl«  Intania. 
F.  Panlhan,  Sur  la  mtmolre  affeotlve.    (audt  M  fin). 

Eoslowaki,  La  payohDgaiito-  '-  "——»--     -  - 

H.  Ffacon,  La  npfdlti  d«i  i 
Aaalyaas  et  eomptaa  rsndni  ai 

88.  Annöe,  No.  8. 
BtHb,  Dn  101a  da  la  loRlqna  an  morale. 
Binat  (Alfred),  La  peBaAs  auw  imasw. 
RaBeot.  8ui  la  aenll  de  la  vle  allMtiva. 
Oh.  Bibtr;,  La  phrtnoloKle  an  AmMgae. 
ADBlyaM  et  aomptea  rendna  ete. 


,  The  AinTaid  Boona  et  the  PhUoaophy  of  BeUsTon. 

lath  Bawdan,  The  Fanotlenal  Tlei*  oF  the  Relation  Betwaan  Uia  PcreUeal 
uid  the  Ph;alaü. 
W.  H.  Shaldon,  Tha  Conoept  ol  the  HantlTe. 
Bavlawa  of  Bookl.  —  Sanunailea  af  Artlolea.  —  Notloaa  of  New  BooU.  —  Hotea. 

Tol.  XI,  No.  6. 
A.  LetaTte,  Ep1it«moloi;  and  Ethioal  Hathod, 
J.  A.  Lelchton,  The  Stnd*  of  Indlvidaalitr- 
R.  B.  Peir;,  PoetiT  and  »Iloiaphy. 

K.  Oordon,  >=penoer'a  Theory  oi  Ethioa  in  Ita  ETolntionair  Aapeet. 
Dlaeaaalena.  —  Revlewi  of  Booka.  —  SnmmarlM  of  Artlolea.  —  Notieea  of  Hew 
Booka.  -~  Notea. 

Tol.  XU,  Ko.  1. 
J.  H.  Tafta,  Ob  the  Oanaaia  ot  Aeatbetio  Cateeoriea. 
0.  T.  Tower,  An  iDtalpiatatloD  ol  Same  Aapaot  of  the  Seif, 
J.  D.  StoopB.Tha  Baal  8elf. 
A.  K.  Bogera,  ProfeiBor  B«roe  and  Moniim. 
RaTiawa  ot  Booka.  -~  Snmmariaa  of  Artiolaa  -~  Kotloaa  of  Kew  Booka.  ^  Notea. 

lDt«rB«tlonal  Journal  of  Ethics  (Philadelphia,  London,  Swod,  Sonnen- 
Bchein  &  Comp.). 
Tol.  Xni,  No.  1. 
"W.  L.  Oook.  Oritloiam  ot  FnUis  Man. 
&.  Foalllta,  ThaBUkloa  of  Nietaaohe  and  Omn. 
W.  D.  Hoirlaon,  The  Tnatament  o(  tha  Crlminal  In  England. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


PbiloeophiBobe  Zeitsohriften. 

S.  B.  Parry,  Tba  PnotiMl  ConMloaiDe»  ot  Freelom. 
A.  K.  TftTlor.  MlMd  ud  Nmtsre. 
J.  M.  Hatealf,  Thfl  PMipand  ChUdisu  at  tho  Poor. 
BMkf  B«Ti«w*. 

Toi.  xm,  No.  t. 

L.  0.  Btewardion,  Ttas  Moni  Aipeoti  o(  tba  Rafaro&dnm. 

J.  C.  Ha.  Ta^gKrt,  Borna  oonaldantiir '— —  '-  >• •- 

H.  B-  Koblntoii,  HarrtaK*  aa  an  Eoo 
J.  W.  HDWeith.  Wliat  la  KaUslon) 


Tk«  Pijchological  SM«w  (New-Yoik  and  London,  The  Hoenullan Comp.)' 

Tol^  IX,  Vo.  5. 
O.  ■-  StTatton,  Vlalble  Hotlaii  aod  tlie  Spaoe  Treahold. 
O.  M.  StiattoB,  Tha  Vetbod  ol  SMlal  QTOapa. 
H.  L.  M«l(«a,  Tha  Effect  of  SakdlTtatona  od  tha  Vliaal  Katimata  of  Time;  (Stndlaa 

from  tba  ParobolMEieal  Labont •■■    "  — •-  

b;  FroftMOT  S.  IT  Stratton}. 


ToL  IX,  No.  «. 

tk.  L.  Bolten,  A  BloloBlBal  Tiew  of  Paroaptlon. 

A.  Bobartaon,  Qeoma&le  Opti««l  Slnsloiia   In  Toneb.    (Stadlaa  from  tha  Pnoho- 

lagloal  LaboratoiT  o(  tha  ÜnlTaralty  of  Calltoinlmi  oommanleatad  by  Promaor 

8.  M.  BtnttoD). 
O.  A.  Tawnay,  Faaltsg  aod  Sall-awaraiaM. 
IHfBlaaiona  aod  Bsporta.  —  Payahol<«loal  Lltaratnra,  —  Kaw  Booki.  —  Indsx«». 

Tol.  X,  Ho.  1. 
J    &.  Aneell,  A  FraUmluary  at«dy  ot  tha  SlgnlflowiDa  of  Paitlal  Tonga  In  tha 

LoBallaatlon  of  Soond. 
S.  üae  Donsall,  Tha  AffMÜve   Ooftllty  of  Anditoiy  Bhythm  In  Ita  Relation  to 

Oblaetln  Fonna. 
DiWBailon  and  Appaiatoa.  —  PiyohologloaJ  Lltaratnra.  —  Naw  Booka. 
BiTiiU  niosofica  (Paria,  SnceeBBori  Bizzoni). 

Au»  IT,  Tol.  T,  Ft8C.  4. 
e.  TIdail,  OMtaaoHeBri- 

B.  Tkrtaoo,  Panaiaro  a  T««ltA. 

a.  Bigonl.  L'IntDlalon«  dell'  aataao. 

A.  PasaBO,  La  taorU  dalla  pna,  n«Il'  Btie»  di  QngUtlmo  Wandt. 

X.  Baeehl,  La  Idee  dl  Bnmetltre  anlla  Traftodla. 

A.  rmgtl,  Dn  llbro  di  eatatli«. 

Bawagna  BlbUofniloa.  —  Baaaegna  dl  Bivlrte  Stnniar«.  —  HoUiia  •  pibbllaaaloni- 
—  Somnuri  acDe  Klvlata  Stnnlare.  —  LIbri  iloavatl. 
Aabo  IT,  Tai.  T,  Fase  fi. 
T.  Alomannl,  La  nioaolla  dl  Pletro  OantU. 

B.  Tarlaao,  Panoiaro  e  raaltl  (flne). 

A.  Sroppali,  n  ptoblamadell'  oriKlna  •  dal  fondamanto  IntrlDMOOdel  dliltio  lalla 

opara  dal  Bomunoal. 
e.  Da  la  T*I1«,  Ilproblen»  dall'  aaaolnto  oon  partloolara  licnaido  «IIa  dotlrina 
dl  Oaatan«  HaKri. 

B.  Croee,  QuattloDl  «ttatloba. 

KaaaÖKu  Blbtlocnflaa.  —  BollaUno  BibllocKBao.  -~  SnI  naoTO  Rat,°  dalla  Sanola  df 
lUBiatero.  —  tJotlale  a  Pobbllaazioil;  —  Naarologlo:  L.  PranooMO  Ardy.  — 
Sommari  deUe  BlTlat*  Stntmre.  -  Ubrl  rlosTotl.  -  Indio«  dall'  Annata. 

Zeittekrift  flr   Fsydiolorl*    ud   FhjrBloloffie    d»r    Slnnaioi^ue 
(Leipzig,  Ambr.  Barth). 
B4.  »,  Heft  i  ud  S. 

IL  Sahaternlkott.  Ceboi  den  EinBnaa  der  Adaption  Mf  dla  S 


t  *  I ,  nebtr  d«i  BlaflMi  dar  rüba  anf  dla  Sriia*«  du  ZttUner'aohen  TknaohniK. 


106  FhiloBophiBche  Zaitsohriften. 

B.  Storeh,  ü«b«r  ilia  WshiBshBang  mnilkKUnhar  ToBTerUltalMa,    Antwort  u 

Dr.  A,  SiaQjlotF. 
E.  Orooa,  Biperiin«iit«ll«  Baltrts«  imr  PirobolDglB  dsi  SrkraBam. 
LltaratnrbeilDbt. 

Bd.  29,  Heft  C. 
T.   BanDasI,   Uaber   dan  Blnflnn   dar  Fube  Kif  dit   GrOlM   du  ZSllur'MfaM 

noMhus.    (SoUnwV 
0.  RaianbftOb,  Zur  Lahra  von  dn  UitaUittwahnngan. 
LttmMtnrborioht. 

Bd.  SO,  U«ft  1  nnd  8. 
E.  ReimKnn,  Die  sahalnbaTe  yergtflaMrnaK  dar 8onD«  nnd  dai  HoodM  tm  Horiwnt. 

P.Bar- -'■'--—   " " .-.-..—... —  »-. — ... 

H.  LoL 

UMntotbarlebL 

Bd.  30,  U«n  3. 

E.  Ralmiinn,  Die  aabeinbare  TargrSuarnng  dar  S«B>a  nnd  da*  HondM  Hl  HwiMUt. 
^hlnM). 

B.  Wiarama.  Die  Ebblngbkiu'iahe  Komblnfttloiianiettiode. 
Litarfttnibflrlant. 

Bd.  30,  Heft  i. 

F.  aohDmann,  Baltrdse  inr  Aulyaa  dar  OMlobtawatanahmBagaB.  m. 
H.  Rbblagbani,  Bin  nenar  FallappaiU  snr  EootroUa  dai  Obionoak^i. 
LlterMuberiobt. 

Bd.  30,  Heft  S  snd  «. 
f.  Sobomsmi,  _ ..  .„. 

B.  HBIUi,  Zu  Kritll 

_»ayeboloKiaeha  Vr»gm. 
fi.  aajlDger,  DlapoBltEoDiplTobaloxlachas  Ubar  OanihlikomplaiianaB. 
L.  W.  Stein,  Dar  TonnrUtor. 
V.  T.  Zehendar,  Zar  Abwabr  einer  Kritik  dea  Herrn  Slardi' 


C.  Heger,  Haber  Miakeliaitftnde. 

Tb.  Llppa,  Fortaetinng  der  .Fayehaloslaabea  SttMtpnikU*. 

Iilteratnrbeilcht. 

Frxeflad  Filoioflcinf  (Wureutwa,  ulica  Eracza  Ho.  47.) 

Eok  T,  ZeszTt  IT. 
Wl.  U.  KoElowaki,  L't70lntiOD  oomma  prindpe  glnSnl  da  deraBlr, 
E.  Abramowaki.  L'ftme  et  la  oorpa.    (flu). 
Bsrae  eolentlflqne.  —  LlTra»  lUomta  pai  lenia  aotesra. 
Ceska  Mjsl  (Prag,  Laichter). 

Bocnlk  III,  Sesit  5. 
Em.  Badl,  Sor  la  aoeptlaiama  d'hnmeiU'.    (Saite). 
0.  Kramer,  La  olaaalflMtlan  dea  aenUmenta  et  de  fimaglnatton. 
O.  Joaak,  I«  banallt«  de  l'eaprlt.    (Snlta), 

Th.  ElInebarKer,  Snr  le  aeDtimeBt  de  droit  st  la  droit  da  8«ntlme>t.    (Baita). 
Serne  gtuarale,  —  Correapondanoe  alkTa.  —  Analynaa  et  onaptaa  randna.  —  Bataa 
ptrlodlqae.  —  Palta  diTera, 
Bocnlfc  Ul,  Seslt  6. 
B.  Adamlk,  8«  la  deRtneratlon  et  Ik  rtgintrktleo  dkna  la  aodAtt  hUBalna- 
O.  Eramar,  La  olaaalfloatlan  dea  aentlmecta  et  de  l'imacinMIoB.    (Fln). 
Em.  Badl,  9ar  le  aosptielame  d'biaaiiT.    (Fln). 
BaToa  etBOrale.   —  Doonmenta.  ~  OorreapoudaBoa  alAva.  —  Analraea  at  oomptaa 

randoi,  —  RaToe  ptriodlqne.  —  Falta  diTen. 
B«Tne  N6a-8colastlqiie  (Louvain,  Institut  Snpärienr  de  Philosophie). 

9.  Aontie,  Vo,  3. 
O.  Blmone.  Le  prfBolpa  de  ralion  antflunta  an  Loglqne  et  an  XMapbraiqnL 
A.  WalicrBTa,  L'^moÜDii  poatiqoe. 
J.  Bomans.  La  LAflaae  alfforltmnlqaa. 
Ii.  Nd(1,  La  Pblloiapbie  de  la  oontlngenoe. 
Mtlawtea  et  deanuanta.  —  Oemptea-renda«.  —  OBTrsgaa  aBTejt«  t  la  lUaettan. 


iM,Coo<^le 


PhJlosophiBche  Zettsohritten.  IQj 

9.  Am«^  No.  4. 
0.  Ltirkid,  La  itellma  dau  la  Beww  (Mb^i  m  XIX.  iltola.    (Bnite  •(  fli). 
CI.  Baal«,  LattM  da  Fnnoa. 

R.  Tfti  Boafi  BtöBBtM  aratKiTatMi  de  nonla.    (Sllta  «t  flu). 
N.  Datornrnj,  I>a  ritl«  da  la  Soalotocia  du«  I«  PoalttTlunB. 

wu. M  doMmanti.  —  BaUatfB  dertHtltot  lapirlau  daPhUoMpUa.  — Conptaa- 

BToyti  i  1»  tt'—'''~ 


Bditorlal. 

P.  SardaaT,  Tha  Baj[i  of  Ohriitlan  Doetrlna. 

J.  Boroa,  Tha  CoDisapt  Ol  tba  Inflalta. 


CataatTophaa  aad  tha  Karat  Oidar.  - 

Tol.  I,  No.  t. 
Bir  O.  LodKe,  Tha  BacoiioJllatlon  batwaon  aolcnoa  ind  Faith. 

,  Tha  prcaant  Attituds  af  nhtoUvt  Thongbt  tawanU  Ballglon. 


B.  DOri, „— „— 

Fr.  8.  Wrinoh,  Debw  da*  TarhUtDli  der  ebanmerklloheD  tu  den  flbermaAIlefcan 

UMtanobiadsn  In  Qablat  dea  ZeltalDni. 
0.  KQIiia,  Zir  Fnlg*  oaeh  dar  aailehnng  dar  abenmeiUlehaa  an  den  ttbermark- 

llohen  untanebladan, 
Bd.  18,  Heft  S. 
M.  Oeisar,  Nena  KampllhatianiTgraBahB. 
P.  Badar,  Dai  TaihUtnli  dar  HanMmpflndanfeB  nid  Ihrer  nartSwii  Organe  an 

kalailiehaB,  ueehaolaehen  nod  hradMhan  Baiiea. 
W.  Chnrohlll,  Dia  Orlantlaiong  dar  TasteindrBDha  an  den  varaohiedenen  Btellaa 

der  KOrperobarDkaha. 
B.  Hartnann,  Die  Ftnalltit  In  Ihren  Terhiltnli  aar  KaisaUIU. 

.      Bd.  19. 
Fr.  AnBell,  Dlaarlmlnallon  ot  Shada«  et  Oray  tor  Dlffarsnt  laterrala  oi  Tlma. 
F.  Barth.  Zar  Payehologla  dar  gabandenen  and  der  freien  Wortitellung. 
fi.  BenrdoB,  Contrlbntlon  4  rttnde  da  rindlvldaaUt«  dana  laa  aMOeiatlana  Terbalea. 
J.  Ha.  Eaen  Oattall,  The  tlne  ol  pareeptlon  aa  aMaaanra  ol  diflaremwa  In  Inteaalty. 
J.  Gehn,  Die  Haapttomen  da*  BailonaUanini. 

0.  Dlttrleh,  Die apraahwlHanaahattUabe Deflnitlon  der Begrllte ,9*ti*  nnd  ,8mt>x*. 
0.  Pia  ober,  Debar  die  BadJngnngen  nnd  den  Beginn  der  Abl5(nng  der  Ferten  Ton 

K.  PIflBel,  Beger  BMon>a  SteDuur  in  dar  Saaehlohta  der  Philelogle. 

W.  Hellpaoh,  PajekolnKte  >nd  NuTanbetlkonda. 

Ch.  H.  jQdd,  An  SsMilneatiJ  Stidy  ot  Writins  HoTementa. 

Fr.  Kleaow,  IJebar  Tertailnnc  nnd  BnpBndUeuelt  der  Taitpnnhta. 

A.  Klraohnann,  DU  DlneaclonaB  daa  Banne«. 

E.  Ktalg,  Debar  Natnnweoke. 
R-  Xiaepelln,  Die  Arbaltafcnrva. 

0.  KIlpa,  naher  die  Objektlrlemag  nnd  SnhJektlTiamng  *an  StanaaaindrSskan. 

F.  KDitoabr,  Uebar  blnannle  Sahwebungen- 

E.  W.  aarlptare,  Stndlat  ol  Kelod;  In  Sngllah  Speaeh. 
Bd.  M. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Philosophische  Zeitsohriften. 


B.  KcankiiBj  DI*  Bntotohanc  dw  « 

B.  Ilttiah,  Uabw  dm ZuanunankmiiK 

ml  dw  Mstliod«  dar  richUm  nnd  fklaohw  FUl«. 
E.  A.  Fko«,  FlmataaüOM  of  Attantfon  mod  Aftst-lnugM. 
B.  Blohtar,  IHa  eAadstBlathaoratiaaban  VamtHatmusan  d«a  SkepUitm 
B.  gobmld,  Dar  WUla  In  dar  Natu. 
a.  StSirlBS,  Zw  Labia  von  dan  ADgemaiabagrUhD. 
a.  H.  StrattOB,  Era-HoTaaiaBU  ftnd  tha  Aasthatlot  of  TIbokI  T«m. 
X.  Thlane,  PbUowpbte  dat  Tbaologle. 
B.  B.  Tilabanar,  Bin  Tanoab,  dl«  Hethoda  der  pMnrataan  VartlalehsDC  >nf  die 

m  OÄUHiolitBB '- 


A.  TlaikKudt,  Dia  Grttada  fli  dia  Ertwltwit  der  Eoltnr. 

W.  Waycasdi,  BeltiicB  nr  PayÄolwla  da*  Tnsn««. 

V.  Wlrtk,  Zoi  Thanla  dai  BawnMtiMnmiifugaa  ud  aaliiai  BaaiHsg. 

J.  Zaltlar,  Talsa  ud  dla  KnHwsawAlolita. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Bibliographie. 


I.  Geschichte  der  Philosophie. 

Dw  Ch&lel41u  Eommentar  zu  Plato's  TimaeiiB  von  B.  W.  Switalski. 
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Dowerir,  B.,  Fr.  NietsBobe'B  „Gebcrt  der  IWödie"  in  ihreo  Beiiehungen 

ZOT  Philosophie  SohopeDhaners.    Leipzig.    (97  9.)  M.  2,~. 
DriBiioid,  H.,   a.  C.  B.  CptoD*  Life  and  lettera  of  Jamm  MartiDean. 

II  Tota.    London.    (992  8.)    M.  36,~. 
Helatz«!,  E.,  Hensogeaes,  der  Haoptrertreter  des  philoa.  DaaUsninB  i.  d. 

alten  Kirche.    BeiUn.    (VIII,  83  S.)    H.  2,40. 
Hensfer,  E.,  Vortrage  über  Nietisohe.     Berlin.    (VU,  122  S.)     M.  2,— 
Heinj,  J.  E^  HtUei  als  Philosoph.    Basel.    (IV,  107  3.)  U.  2.— 
KlBkel,  IT.,  J.  Fr.  Herbut,  sein  Leben    n.  seine  Philosophie.     OiesBea. 

(VUI,  204  8.)    M.  3.—. 
Kraase'B,  K.  Ch.  F.,   Bnefweohsel,    zur  'Würdigang  seines  Lebens   nnd 

Wirkens.     Heransg.    t.   P.   Hohlfeld   n.    A.  'WünBohe,      Leipiig.     (IV, 

160  S.)    M.  12,—. 
Natorp,  T.,  Platos  Ideenlehre.    Leipzig.     (VIII,  473  S.)    H.  7,50. 
OreataBO  ^.^  Le  Idee  fondamentau  di  Fedsrico  Niatzsohe  nel  loro  pr«- 

greesiTo  svojgimento.    Palermo.    (3ö9  S.)    M.  5,—. 
Snith,  N.,  Stndies  in  Cartesian  Philosoph;.     London.    (290  S.)    M.  6.—. 
Taln«,    H.,   8a   vie  et  sa  correapondsnce.     Correspondanoe    de    iennesse 

1847-63.    Paris    (378  8.)    M.  8,60. 

n.  Loflk  tutd  Erkenntnistheorie. 

Bob,  f.,  Die  Dogmen  der  Erkenntnistheorie.    Leipzig.  (IX,  349  S.)  1(.  7,—. 
CkrutliuiBen,  B.,  EtkenntniBtheorie  n.  Psychologie  des  £rkennens.    Hanan. 

(IV,  48  8.)    M.  1,60. 
CkriflÜMflen,  B.,  Das  Urteil  bei  Descartes.    Eanan.    (107  3.)    U.  2,—, 
tnjbtg  Tf.y   Der  Realismns   d.  das  Transcendenzproblem.     Halle.     (IV 

164  B.I    M.  4,-. 
Heim,  K.,  Psydiolo^uniis  od.  Antipsycholugisrnnsr   Entwarf  einer  erkennt- 

nistheoret   Fondamentienuig  der  modernen   Energetik.     Berlin.     (VII, 

169  8.)    H.  4,—. 
KirsduuM,  A.jDie  Dimensionen  des  Haomes.    (Ans:  Philosoph.  3tadien 

Festachrift  «r  W.  Wandt.)    Leipog.    (112  8.)    M.  2,—. 


iM,Coo<^lc 


PolncKrt,  H.,  La  Scienoe  et  l'hypotbeBs.     Paris.    M.  3,50. 
Batienkoter,  G.,  Die  Kritik  des  Intellekts.    Leipzig.    (IX,  166  S.)    Hit 

1  Fig.    M.  4,-. 
Alldna,  U.  A.,  The  Prinoiples  oF  Txigio.    London.    H.  7,80. 

III.  Allgemeine  Philosophie  and  Metaphysik. 

Baldwln,  J.  H.,  Devebpineot  and  Evolution.    London.    M.  12,60. 
Baldirin    J.    K.,    FrsgmeDts    in    Philosopby    and    Sdenoe.      EdinborgL 

(402  B .)  M.  12,50. 
Bfreekl,  L.,  Ontotogie  (Hetapbjsik)  auf  Omnd  eingehender  Uoteranohimgen. 

(polnisch).     (169  8.)    M.  ^60. 
Dletlonarj   or  Philosophy  a.  Psychology.    Gdited  by  J.  H.  Baldwio.    U. 

London.    (901  S.J    M.  26,—. 
Duan,  Gh.,   Essue  de  Philosophie  g«n«rale.     Paris.    (838  8 )     H.  9,—. 
HSIIer,  A.,  Orondlehren  der  Li^ik  nnd  Psychologie.    Anhang;  Zehn  Lese- 

stüoke  auH  philosoph.  Klassikern.   Leipzig.    (XII,  400  B.,  40  Fig.)    H.  4.40. 
Kutter,  H.,  Das  Unmittelbare.     Berlin.    (X,  842  8.)    M.  6,—. 
Fodmvre,  F.,  Modem  8pititaaliani.   2  toIs  London.    (320,  386  8.)  M.  2&.— . 
Biehl,  A.,  Znr  Einführung  i.  d.  Philosophie  der  Gegenwart.    Leiptig.   (VI, 

258  S.)    M.  3,-. 
Schmitt,  £.  H.,   Die  Onosis.     I:   Die  Onosis   des   Altertums.     Leipiig. 

(627  u.  VII  a)    M.  12.— 
Sedgwlck,  TT.,  Han's  Position  in  the  Univeise.  London.  (304  S-)  M.  7^. 
8eUeiiberc*r,  J.  B.,  Onmdlinien  idealer  Weltansohauang,  aus  0.  Wül- 

mann's  „Oescbichte  des  IdealismoB"  n.  seiner  , Didaktik"  znsamniengestellt 

Brannschweig.    (VIII,  300  S.)     M.  3,—. 
Seile,  F.,  Die  Philosophie  der  Weltmacht.   Leipzig.    (VII,  74  3.)   U.  2,40. 

IV.  Psychologie  tind  Sprachwissenschaft. 

Anbrosi,  L.,  II  primo  paaso  alla  filosofia.    I:  Psicologia.    Borna.    (276  8.) 

Arbeftes,  psychologische,  heransg.  t.  E.  Eraepelin.  Bd.  IV,  Reft3.  Leipzig. 

(376-022.  m.  2  Fig.  u.  1  Taf.)    M.  6,—. 
Beltrige  znr  Payohologie  u.  Philosophie.    Herausg.  7.  0.  Uartlas.     Bd.  I, 

Heft  3.    Leipzig     (8.  276-410.)    M.  6,—. 
Coldeneyer,  J.,  Versuch  einer  theoretischen  und   ptaktisohen  ErUining 

der  Willensfreiheit    Beidelberg,     (261  8.)    H.  3,—. 
FleliduuBun,  A.,  Oesammelte  säirirtan  üb.  Psyobologia  sexoalis.  Hüneben. 

(16,  16,  15,  15,  16  u.  19  S.)    M.  2,—. 
Frappa,  I.,  Las  Expreeaioos  de  la  {^ysionoinie  bumaina.    Paris.  IL  12,—. 
Oefser,  J.,  Grundlegung  der  empirischen  Psychologie.   Bonn.   (VI,  240  6.) 

Kr«ell|H.,  Die  Seele  im  Liebte  des  Monismus.  Strossburg.  (V.,83B.)  If.2.— . 
Olberg,  0.,  Das  Weib  und  der  InteUektoal'smns.  Berhn.  (118S)M.  2.— . 
Paalhui,  F.,  Analystea  et  eeprita  aynthetiqnee.  Paris.  (SOO  8.)  H.  8,50. 
Keionrler,    Ob.,   Le  Fersonnalisma,   snivi  d'nne  6tude  snr  la  peicqttion 

externa  et  sur  la  forae.     Paris.    M.  7,60. 
Slkersky,   A.   J.,    Die   Seele  des  Kindes   nehet   kunem   Orasdriu   dar 

wetteren  psychischen  Evolution.     Leipzig.    (III,  80  B.)    H.  2,40. 
SpIlUr  0.,  Mind  of  Hon:  Text-book  of  Psyohobgy.    London.    (668  8.) 

SkUj,'j.,  Essay  on  Laugbter.    London.    (4b8  8.)    M.  16,-. 


iM,Coo<^le 


8Blre.  S.,  Du  Doppelweeen  der  raeiigchl.  Btünme.   Bertin.    (XIV,  324  S.) 

M.  3,— . 
Sltterlla,  L.,  Das  Wesen  der   Bprachliohen  Gebilde.     Kritische  Bemet- 

kooeeD  m  W.  'Wundt's  Spracbpsycbologie.  Heidelberg.  (VII,  192  B.)  H.  4,—. 
deViTM, II.,Het  mechtnisme  van  bet  denken.  Amsterdam.  (165S.)  H.3,T5. 

V.  Ethik  und  Rechtsphilosophie. 

F«mrl,  fl.  M.,  11  probifma  etit».    I.   Napoli.    (CLIV,  360  B.)    M.  5,-. 
ti«ldacheid,  B.,  Zur  Ethik  den  Gefiamtwillena.    1.    Leipzig.    (Vi,  662  8.) 

M.  10,—. 
fiiiunoff,  K.  Tb.,  VoUkammeDbeit,  Glück  n.  Ide&le  dea  menscht.  Lebens 

aof    Omnd    allgemeiD    anerkanotei    Wahrheiten,     (rassisch}.    Hoskau,) 

(604  8.)    H.  8.—. 
GvrablU  J.,  The  Horals  of  Suioide.    U.    London.    H.  6,—. 
Juies,  W.,  Oli  ideali  deUa  vita.    Torlno.     (316  ä.)    H.  3,— 
LuseiTBf  F.,  La  morale  de  Nietisobe.     Puis.    H.  3,60. 
Sldpvlek,  H..  Lectnres  an  tba  Ethics  of  T.  H.  Green,  Hr.  Herb.  Spencer 

and  J.  Harüneau.    London.    (418  8.)    H.  10,30. 
Sokolowskl,  F.,   Die  PhUosophie  im  Privatreobt    Halle.     (XV,  616  S.) 

H.  16,—. 
Splelbery.  0..  Der  rechte  Weg  ins  T^^eben  oder  die  neue  Ethik.    Dresden. 

(VUI,  240  8.)    M.  3,-. 
Trecblnowltacb,    W.  Th.,  Schriften  über   Anstand    and  Schamhafiigkeit 

(mssiscb).    8L  Peterabnif.     (174  S.)    H.  6,—. 
Tlaisi  P.,   L'equitft  nella  filosafia,  nella  storia  e  nella  pratica  del  diritto. 

PalOTBia    (320  S.)    M.  6,— 
Tlgrll&rolo  F.,  La  filosofla  del  dliitto  o  i  principl  ideali  de!  diritto. 

VI.  Ästhetik. 
KMSsler,  Cb. 
Labraasie,  L.,  EMhetiqne  aKwninentale.    Paria. 

VII.  Philosophie  der  Geeellachaft  und  der  Geschichte. 

AaU,  A.,  Macht  und  Pflicht.    Leipzig.     (X,  341  S.)    M.  6,— 
Baratta,  C.  M.,  Prindpi  di  Booiologia  criatiana.  Torino.  (304  S.)  M.  2,50. 
BlackweU,  E»  Easays  in  medical  Sooiologf.    2  vola.    London.     M.  S,40. 
CaBierller,   O.,   Les   loia   da   la   popnlatlon    en   France.     Paris.     (XIX, 

1B4  S.)    M.  2,~ 
CaneliBBei,  Gh.,  Thäerie  de  la  valenr.     Befntation  des  thgoriea  de  Rod- 

bertns,  K.  Marx,  Stüilej  Jevons  et  Boebm-Bawerk.    Paris.    H.  4.—. 
BeasBoj,  E.,  Philosophie  de   la  colonisatjon.    Paris.     (249  S.)    H.  3,60. 
narsebeln,    M.,    Cine   to   the   economic   L&bTrinth.    London.    (604   S.) 

M.  9,-. 
FaalllÄe,  A.,  E^qoisse  psychoto^qoe  des  penples  enropäens.   Paria.  (HS., 

664  8.)     M.  10,—. 
QaldfHedrleh,   J.,   Die    hiatorische   Ideenlehre   in  Deutschland.     Berlin. 

(XIII,  644  8)    M.  8,-. 
Ortppall,  A.,  Sodologia  e  psicologia.     Verana-Padna.    {306  8.)    M.  4, — 
«bMk,  J,,  La  FaiUit€  du  sodaUsme.    Paris.    (XXIII,  272  S.)    H.  3,60. 
Kraft,  ■■,  Daa  System  der  tei^nischen  Arbeit.    III.  Ahtlg.:  Die  Beobts- 

gnindlagen  der  teäin.  Arbeit    Leiprig.    (S.  447—664.)    M.  6,—. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


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Berlin.    (III,  82  S)    H.  2,40. 
Pareto,  T.,  Les  ayatemes  sodalistea.    2  vols.    Fuis.    M.  14.—. 
Berlllont,   E.,   Precis  du   droit   egjpÜBn  comparfi  aux  antroa  droits  de 

l'autiqaite.    2  vols.    Paris.    H.  25,~. 
Blchard,  G.,  L'Idee  d'evolnlion  d&nB  la  natura  et  dacs  l'histoire.    Faiis. 

H.  V,BO. 
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Sqnillace,  F,^  Critiea  della  sociologia.    I.    Roma.    (B89  S.)    U.  10^ — 
Ünold,  J..  Die  böchBten  Cultaranfgaben  des  modernen  Staates.    Unndien. 

(vra,  m  s.)   M.  8,^. 

Vm.  Rellgtonsphllusophle  und  Theosophie, 

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Flkrmanii,  J.»  Nach  Nirwaoa  auf  achtfachem  Pfade  oder  der  Weg  zot 

VeTTollkommenbeit.    Leipzig.    (TI,  124  S.)    M.  2,ö0. 
James,   W.,    Tarieb'ea   of  religioos  Eiperence:    Btaij  in  hnman  Natnre. 

London.    H.  14,40. 
Boaedale,  H.  €).,    Orowth  of  religiona  Ideals,    illnatrated  br  the  great 

EngUsh  Foeta.    London.     (128  S.)    M.  4,20. 

IX.  Naturphilosophie. 

Cftnlej,    J.    W.,    Evolntion    and    Man    here    and    hereafter.      London. 

(172  S.)    M.  8,60. 
Ende,  E.,  Eistoire  docnmentaire  de  la  mecanique  fran^aiae.  Paria.  (323  8.) 

M   15,-. 
OUhanaen,  Qeschwindigkeiten  in  der  oTgamsohen  nnd  anorganisohen  Welt. 

Hamburg.     (XX,  488  S.)     M.  9,—. 
4e  Trl«8,  H.,  Bio  Hntationstheorie.    Bd.  U:    Die  Bastardierung.    1.  I^. 

Leipzig.    (8.  1—240.    Mit  Kg.  n.  2  färb.  Taf.)    M.  8,—, 

X.  AUi^emelue  Pädagogik. 

Beform,  die,  des  hoherao  Schutwesena  in  Prensaen.   Heranag.  t.  W.  LaxiB. 

EaUe.     (XIV,  436  S.)    M.  12,—. 
Bain,  W.,  Pädagogik  in  systematiBoher  Datstellong.    2  Bde.    I:  Die  Lehr« 

vom  Bildongs Wesen.    Laagensalza.     (XII,  680  S.)    M.  10, — . 
Saminlnng  zwangloser  Abhandlungen  a.  d    Gebiete  der  Nerven-  n.  Oeistaa- 

kranUieiten.    fieranag.    v.  A.  Hoche.     IV.  Bd.    1.  H.:    Qber  eohwaoh- 

sinnige  Schulkinder.    Von  L.  Uquer.    Halle.    (44  S.)    U.  1,60. 
Tiial,  L.,  Sbbü  d'eduoation  ohretienne.     Paru     (XVI,  365  8.)    H.  7,60. 


1.  Z^in  k  Bumdil,  KlnUuln  N 


iM,Coo<^lc 


Abhandlungen. 


EadoxoB  von  Knidos,  Spensippos  and  der 
Dialog  Phüebos.) 

Tod  A.  Wrim;,  BerÜB. 


n  OetMiüB  iwiMtiso  Enden 


1.  EndoxoB  Ton  Knldos  (e>.  MO). 
Eadozos  von  Enidos  gehört  nicht  selbst  der  alten  Aka- 
demie an.  Er  ist  überhaupt  mehr  fachmUssiger  Xaturforacher 
als  Philosoph.  Er  mass  aber  hier  an  die  Spitze  gestellt 
Verden,  weil  er  offenbar  der  erste  gewesen  ist,  der  mit 
wiasenschaftlicher  Begründung  eine  Bestimmung  des  höchsten 
Gates  vertreten  und  dadurch  die  ganze  neue  Bewegung  ein- 
geleitet, insbesondere  auch  die  Nachfolger  Piatos  zum  gleichen 
BemOhen  um  eine  wissenschaftliche  Grundlage  der  flber- 
kommenen  GOterlehre  angeregt  hat. 

Knido«,  die  Tatsistadt  des  Eudozos,  war  eise  dorisciLs  Eolotu'e  im 
Sfidwesten  von  ElwDaBien.  Eodoxoe  lebte  QogefiÜir  von  400 — 347  (D.  L. 
Tin,  90).  Ei  ist  einer  der  Keiateemlahbesteii  und  einflnssreiohsten  Ter- 
treter  der  antiken  Katorfonichang,   ein  Mann   von   dem  geistigeii  Gepiüge 

*)  Probe  ans  der  demnfiohst  enchdnenden  Schritt  .Gescliialite  der 
irietdiiaehen  Fhiloaophie.  QemeinTeiBtOndlich  nach  den  Quallen."  2  Binde. 
tiNpEig,  R.  Beistand. 

1.  n.  BotiaL    ZZVn.  3.  8 


n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL' 


eines  Thaies.  Er  war  epochemachendar  AstrODam,  Usthematiker,  Arzt 
and  Gesetzgeber  seiner  Tateistadt  (L.  D.  TUI.  86,  88;  Cio.  lEep.  L  o.  16; 
PInt.  Kolot  32),  vielleicht  auch  Geograph  (D.  L,  90;  8.  Emp.  Hyp.  I- 152 ; 
PluL  Non  poase  10).  Plutarch  nennt  ihn  wiederholt  einen  Dinaonbegeisterteii 
Mann  nnd  berichtet,,  er  hätte  sich  gern  wie  Phaeton  von  der  Sonne  ver- 
brennen lassen  wollen,  wenn  er  um  diesen  Preis  ihr  nahekoDimen  nnd 
ihre  Gestalt,  Grösse  und  Schönheit  erkennen  könnte  (Ndq  posse  11).  Ana 
Srmliühen  Yeihttltnissen  hervorgegangen,  ermöglichte  er  es  durch  die  Beihilfe 
verschiedener  Gönner,  einen  umfassenden  Stndiengang  zu  verfolgen.  Mit 
23Jahren,  also  etwa  nm  377,  über  ein  Jahrzehnt  nach  Eröffnung  der  Akademie, 
war  er  in  Athen  zwei  Monate  lang  Hörer  Piatos  (D.  L.  Till.  66  f.).  Er 
nahm  jedoch  keineswegs  die  Lehre  Platos  an  nnd  scheint  später  die  pla- 
tonischen Ideen  im  Sinne  der  körperlichen  üistoSe  des  Anaxogoras  um- 
gedeutet zu  haben  (Zelleb,  II.  1,  1039,  4).  Bald  darauf  nntemahm  er  als 
Begleiter  eines  Arztes  und  mit  Üsteistütznng  von  Freunden  eine  Reise 
nach  Aegypten.  Dieses  Land  erfrente  sieh,  nachdem  ein  seit  387  unter- 
nommener ünteijochungsT ersuch  der  Perser  im  Jahre  380  kläglich  geBoheitert 
war,  bis  362  wieder  ungestörter  Unabhängigkeit  unter  dem  kiftCtigen  Könige 
Nektanobia  ].  (oa.  380—60).  Dieser  stand  in  enger  Beziehung  zom  spar- 
tanisohen  Könige  Agesilaos,  der  ibm  griechische  Söldner  lieferte.  Ein 
Empfehlungsschreiben  des  Agesilaoa  an  Nektanebis  ermöglichte  Budoxos 
den  wissenschaftlioben  Verkehr  mit  den  ägyptischen  Priestern.  Er  verweilte 
dort  16  Monate.  Mit  welcher  Hingabe  er  sich  dem  Studium  der  ägyptischen 
Priesterweieheit  widmete,  beweist  der  Zug,  dass  er  sich  sacb  'Weise  dieser 
Piiester  die  AogenhraueD  und  die  Haare  an  anderen  Eörperstelle»  absohor. 
Von  diesen  erfuhr  er  auch  die  wahre  Ursache  der  Nilüberschwemmungsn 
(Diela  Doxogr.  386,  229,  1).  Auch  die  genaue  JahresUinge  von  365  Tagen, 
6  Stunden  und  19  Minuten,  die  später  dem  julianischen  lUiender  zu  Onmda 
gelegt  wurde,  soll  er  als  der  erste  von  den  ägyptischen  Priestern  über- 
kommen haben,  Ebenso  auch  die  genauen  ümlaiäszeitan  der  übiigen  Pla- 
neten. Auch  soll  er  eine  ägyptische  Schrift,  deren  Titel  vielleicht  „Toteu- 
gespiftche"  war,  ins  Griechische  übersetzt  haben  (D.  L.  VIU.  87,  89).  In 
der  Entwiokiung  der  Geometrie  wird  er  durch  verschiedene  Neuerungen 
epochemachend  (ib.  90).  Zur  Astronomie  verfaseta  er  eine  Anzahl  Schriften. 
Dan  Inhalt  zweier  derselben  hat  Aratos  (um  270  vor  Chr.)  in  Form  eines 
noch  vorhandeoen  astronomischen  Lehrgedichts  wiedergegeben.  Erhalten  ist 
aaob  ein  Kommentar  des  gelehrten  Astronomen  Hipparch  (3.  vorcluistL 
Jahrh.)  zu  seinen  astronomischen  Schriften  und  dem  Gedichte  des  Aratos. 
Seine  Hanptleistnng  in  der  Astronomie  ist,  dass  er  zuerst  die  wirkliche 
Planetenbewegung  unter  genauer  Berücksichtigung  der  Umlaufazeiten  wissen- 
schaftlich zu  erklären  versuchte.  Er  ntdim  behufs  dieser  Erklärung  27  in- 
einandergesohaohtelte  bewegUohe  Sphären  an,  die  er  in  verachiedener  Zahl 
den  verschiedeDen  Planeten  und  dem  Fizsternhimme!  zuteilte  (Aristut. 
1073b.  17,  Simplio.  zn  de  Coelo  n.  10).  Er  wurde  so,  während  er  sioli 
ED  dem  später  herrschend  werdenden  astrologischen  Aberglauben  der  Chal- 
däer,  dem  Glauben  an  das  Horoskop,  noch  völlig  ablehnend  verhielt  (Cio. 
Div.  n.  0.  42),  der  Vater  der  wissenschaftlichen  Astronomie.  Aristoteles 
baute  seine  Theorie  weiter  aus.  Seit  etwa  240  vor  Chr.  wurde  diese  in 
Alexandria  durch  eine  etwas  veränderte  (die  der  Epizyklea)  ersetzt,  die 
sodann  in  ihrer  Ausbildung  durch  Ftolemäns  bis  auf  ^opemikns  herrschend 
blieb.  Eudoxos  soll  bereits  in  seiner  Vaterstadt  Enidos  eine  förmliche 
Stemwarte  errichtet  haben.  Trotz  seines  frühen  Todea  (er  starb  im  Alter 
von  63  Jahren,  D.  L.  90)  genoss  er  nicht  nur  in  seiner  VaterstadL  sondern 
in  ganz  Griechenland  das  höchste  Ansahen  als  gefeierter  Gelehrter  (D.  L.  88), 


iM,Coo<^lc 


Endozos  von  Enidoa,  Spensippoa  und  der  Dialog  Philebos.        115 

Dieser  UDiverselle  Forscher  Dua  hat  auch  in  die  En4> 
Wicklung  der  Philosophie  darch  erstmalige  Aufstellung  einer 
wissenschaftlich  begründeten  Lehre  vom  höchsten  Gut  in 
epochemachender  Weise  eingegriffen.  Aristoteles  berichtet 
ober  diesen  Punkt  seiner  Lehre  (1101b,  27  £f.,  1172  b,  9  ff.) 
in  einer  Weise,  dass  noch  die  von  ihm  angewandte  Argu- 
mentation durchbhckt.  E]r  stellt  zwei  Merkmale  auf,  an 
denen  der  hSchate  Lehenswert  erkennbar  sein  muss.  Das 
letzte  Gute  (nicht  im  sittlichen,  sondern  im  aziologisohen 
Sinne)  ist  nicht  das,  was  gelobt  wird.  Man  lobt  das,  was 
zur  Erlangung  des  Zieles  dienlidi  ist,  nicht  das  Ziel  selbst. 
Wenn  etwas  Gutes  nicht  gelobt  wird,  so  beweist  dies, 
dass  es  besser  ist,  als  was  gelobt  wird,  also  als  letzter 
Zweck  obeoansteht  Das  ist  das  erste  Merkmal.  Es 
verhält  sich  damit  wie  mit  den  Göttern,  die  zu  loben  auch 
niemand  fllr  nötig  hält.  Der  eigentUohe  Beweis  femer,  dass 
etwas  ein  Gutes  ist,  besteht  darin,  dass  es  begehrt  wird. 
Jedes  Wesen  findet  heraus,  was  ihm  gut  ist,  ebenso  wie  die 
ihm  zuträgliche  Nahrung.  Das  höchste  Gut  muss  also  das- 
jenige sein,  das  allgemein  begehrt  wird.  Das  ist  das 
zweite  Merkmal. 

Diese  beiden  Merkmale  des  letzten  Gutes  nun  passen 
auf  die  Lust.  Die  Lust  wird  nicht  gelobt;  man  fragt 
bei  ihr  nicht  nach  einem  ausser  oder  über  ihr  liegenden 
Zweck.  Die  Lnst  wird  femer  tod  allen  fühlenden  Wesen 
begehrt. 

Ein  weniger  zutreffendes  drittes  Argument  ist  folgendes. 
Wenn  die  Lust  zu  einem  anderen  Guten  hinzutritt,  z.  B.  zu 
Handlnngen  der  Gerechtigkeit  oder  Besonnenheit,  so  vermehrt 
sie  dessen  Wert  Hier  liegt  eine  unklare  Yermengung  der 
beiden  Begriffe  Gut  und  Gutes  vor.  Er  gerät  durch  diese 
Verwechslung  auch  in  einen  Widerspruch  mit  seiner  vorherigen 
BeweisfObrung,  nach  der  die  Lnst  das  letzte  und  einzige 


Dasselbe  Resultat  ergiebt  sieb  nach  Eudozos  aber  aach, 
wenn  man  das  Gegenteil    der  Lust  in  Betracht  zieht.    Die 

8* 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


116  A-  Döring: 

Unlust  wird  Yon  allen  Wesen,  und  zwar  am  ihrer  selbst 
willeo,  gemieden.    Sie  ist  also  das  letzte  Übel. 

In  welcher  schriftstellerischen  Form  Eudoxos  diese  Ge- 
danken vorgetragen  hat,  ob  er  bei  der  Lust  wieder  zwischen 
den  verschiedenen  Arten  der  Lust  unterschieden  hat,  sowie 
welche  Hegeln  für  die  Lebensführung  er  aus  diesem  Prinzip 
abgeleitet  hat,  ist  anbekannt.  Dass  er  unter  Lust  nicht  die 
Sinnenlust,  sondern  die  Lust  im  uniTersellen  Sinne  verstanden 
hat,  ergiebt  sich  aber  schon  aus  dem  höchst  ehrenvoUen 
Zeugnis,  das  Aristoteles  (1072  b,  15)  mit  dem  grössten  Nach- 
druck seiner  persönlichen  Lebensführung  ausstellt  «Seine 
Beweisführungen  fanden  Beifall,  mehr  wegen  der  Güte  seines 
Charakters  als  um  ihrer  selbst  willen.  Denn  er  erschien  als 
ein  hervorragend  masshEÜtender  Mann,  so  dass  er  nicht  ^s 
Freund  der  Lust  solches  zu  sagen  schien,  sondem  weil  ea 
sich  in  Wahrheit  so  verhalte.** 

Eb  darf  wohl  Termutat  werdea,  dass  Eadoxos  in  diesem  Lebrponkta 
daroh  dia  Sobnle  oder  darch  die  Schriften  Demokrits  beeinflnsst  worden 
ist.  Ein  so  vielseitigei  Foracher  ist  gewiss  nicht  an  den  natarwissenaobaft- 
liehen  Leistangen  eines  Demokiit  vorbeigegangen,  und  d%  trat  ihm  denn 
aach  die  Lehre  Demokrits  von  der  Lost  als  oberstem  Lebensziel  entgegen. 
Hat  er  aber  von  diesem  den  nicht  auf  die  Sioneslast  eingeachrftnkten,  Bondern 
lu  umfassender  Geltung  erweiterten  Begriff  der  Lust  übernommen,  so  wird 
er  auch  Demokrits  ideale  Folgerungen  aus  dem  Lustprinzip  für  die  Lebens- 
führung gutgebeisseu  haben.  Die  Beweisführung  dagsgeo  für  die  Lost  als 
höchsten  Lebenswert  ist  das  ohBrakteristiBobe  Neue,  das  van  ihm  selbst 
hinzugebracht  worden  ist.  Die  Darlegung  dieser  Theorie  mag  am  300  statt- 
gefunden haben. 

3.   Spenslppos  (vor  400-339). 

Spenuppoe  war  der  Sohn  einer  Schwester  Piatos  (D.  L.  IV.  1).  Er 
war  also  mntmassliofi  vor  400  geboren.  Ans  seinem  Leben  vor  der  Leitung 
der  Akademie  ist  nur  bekannt,  dass  er  während  eines  längeren  Aufenthalts 
Dions  in  Athen  zur  Zeit  seiner  Verbannung  ans  Syrakns  (366 — 3ST}  la 
diesem  in  ein  enges  frenndsohaftllohes  Yerbttltnis  trat.  Er  erheiterte  ihn 
in  diesen  trüben  Zeiten  durch  sein  joTialea  Wesen  und  trat  in  Sytakua, 
wohin  er  Flato  auf  dessen  dritter  Beiae  begleitete,  mit  seinen  AnÜngern 
in  Verbindung  (PIntaich  Dion  17.  22).  Es  werden  auch  Briefe  von  ihm 
so  Dion  erwähnt  (D.  L  IV.  ö).  Den  Angaben,  dass  er  ein  anBBohWHfende« 
Leben  geführt  und  an  erheblichen  CharakI erfehlem  gelitten  habe  (D.  L. 
IV  1  f.,  Athen.  VII.  279,  XII.  646,  Tertoll.  Apol.  46),  liegen  als  tats&chliobea 
Ifateiial  ofFenhar  nur  einige  jugendliche  Lüohtfertigkeiton  tu  Qninde  (Hat. 
adnl.  et  am.  32,  fratr.  am  21). 

Dass  Flato  ihn  zu  seinem  Nachfolger  berief,  scheint  tod  Xeno- 
kiates   und  Aristoteles   als  Zurücksetzung   empfunden  worden  n  awn. 


iM,Coo<^lc 


Badoxos  TOD  EnidoH,  Speosippos  and  der  Dialog  Fhilebos.        Xn 

WeiügsteiiB  variieeaeD  beide  auf  laagere  Zeit  Athen.  Er  wurde  bald  von 
Mner  LUutmiig  beblien,  so  dass  er  sich  ia  eioer  Sänfte  zur  Akademie 
tragen  Usseo  mosute.  Trotz  der  angeblioh  dem  K^iker  Diogenes  gegebenen 
prompten  Antwort,  das  Leben  bsbe  seinen  Bitz  nicbt  in  den  Beinen,  sondern 
in  dOTVemnnft,  soU  er,  sebliesslicb  von  Trübsinn  übermannt,  seinem  Letran 
freiwillig  ein  Ende  gemacht  haben  (D.  L.  IV,  3).  Er  hatte  eine  grosse 
Zakl  TOa  Schriften  verfasst,  von  denen  jedoch  fast  nor  die  Titel  erhalten 
sind  (D.  L,  IV.  4  f.). 

Er  strebte  nach  systematisclier  ToUständigkeit  der  Er- 
keDQtnisse,  veQ  anch  das  einzelne  nur  im  ZuBanunenhaiige 
mit  allem  übrigen  richtig  gewürdigt  werden  kOnue  (D.  L.  2, 
Z.  996,  2).  Über  das  einzelne  seiner  Lehre  ist  wenig  bekannt, 
doch  scheint  er  den  grSssten  Terstiegenheiten  des  Flatonismus 
gegenüber  eine  anageprägt  nüchterne  Haltung  zur  Qettnng 
gebracht  zu  haben.  So  ränmt  er  der  Sinneserkenntnis 
wenigstens  nnter  Leitung  der  Vernunft  einen  gewissen  Banm 
ein  (S.  Emp.  Bogm.  I.  145  f.).  So  liess  er,  wie  es  scheint, 
die  Ideen  ganz  fallen  (Aristot.  1028  b,  21)  und  vertrat  die 
(evolationistische)  Ansiebt,  dass  das  VoUkommene  nicht  am 
Ausgangspunkte  der  Entwicklung  zu  suchen  sei,  sondern  als 
Entwicklnngsresultat  undEndei^ebnis  betrachtet  werden  mUsse 
(Aristot.  1072  b,  31,  1091  b,  16).  Besonders  dieser  letzte 
Funkt  ist  von  weittragender  Bedeutung,  schon  deshalb,  weil 
die  entgegengesetzte  Ansicht,  nach  der  die  Vollkommenheit 
in  den  Urgründen  liegt,  sich  im  weiteren  Verlaufe  des  grie- 
chischen Denkens  folgerichtig  zu  einer  weltfeindücheii  Mystik 
ausgebildet  hat.  Vielleicht  hing  hiermit  auch  die  ihm  zu- 
geschriebene, nicht  besonders  hohe  Vorstellung  vom  GUttlicben 
zusammen  (D.  538),  vermSge  deren  er  nach  Ciceros  vager 
und  phrasenhafter  Ausdrucksweise  (N.  D.  I.  32)  „die  Er- 
kenntnis des  Göttlichen  aus  den  Seelen  herausgerissen"  habe. 

Doch  bleibt  in  seinen  Spekulationen  genug  Fhantastik 
übrig.  'Ec  kennt  eine  ganze  Beihe  übersinnlicher  Prinzipien 
und  gerät,  da  er  die  Ideen  durch  Zahlen  ersetzt,  in  eine  ganz 
pythagoreische  Zahlenmystik  hinein  (Arist.  1028  b,  21;  Jambl. 
Tbeol.  arithm.  62  f.).  So  vertrat  er  auch  die  Unsterblichkeit 
der  Seele  (mutmasslich  im  Zusammenhange  mit  der  Seelen- 
wanderung) und  zwar,  abweichend  von  dem  späteren  Stand- 


iM,Coo<^lc 


118  A.  Döring: 

punkte  Piatos,  auch  für  die  beiden  unvernünftigen  Seelenteile 
(Z.  1008,  4). 

Ausser  erkennbarem  Zusammenhange  mit  diesen  Speku- 
lationen stehen  seine  Bemühungen  am  eine  wisseusohaftlicb 
begrttndete  Güterlehre  für  das  diesseitige  Leben.  Es  trifft  bei 
diesen  ältesten  Vertretern  dieser  Bestrebungen  nodi  nicht  zu, 
dass  das  höchste  Gut  der  alleinige  Endzweck  ihres  Denkens 
ist,  auf  den  sie  (nach  einem  Worte  Kants)  alle  ihre  Er- 
kenntnisse beziehen. 

Dass  er  sich  auch  nach  dieser  Seite  bethätigte,  das  zeigt 
zunächst  seine  SteUungnabme  zur  Lustlebre  des  Eudoxos. 
Dass  er  die  Lustlehre  überhaupt  berücksichtigte,  geht  schon 
daraus  hervor,  dass  er  emen  Dialog  „Aristippos"  verfasst 
hatte  (D.  L.  IV.  4  f.).  Es  wird  aber  auch  ausdrücklich 
seine  Polemik  gegen  Eudoxos  in  diesem  Punkte  bezeugt 
(Arist  1163b,  4;  1172b,  36  fl.).  Über  die  Art  dieser  Polemik 
sind  freilich  an  diesen  Stellen  nur  einige  fragmentarische 
Andeutungen  erhalten.  Danach  suchte  er  die  Bemfang  auf 
die  Allgemeinheit  des  Luststrebens  bei  allen  fühlenden  Wesen 
durch  den  EUnweis  auf  die  Minderwertigkeit  der  tierischen 
Natur  zu  entkräften,  und  dem  Beweise,  dass  die  Lust  ein 
Gut  sein  müsse,  weil  die  Unlust  ein  Übel  sei,  stellte  er  die 
unzweifelhafte,  aber  in  diesem  Falle  nicht  beweisende  Tbat- 
sache  gegenüber,  dass  auch  ein  Übel  einem  anderen  Übel 
entgegengesetzt  werden  könne.  Ja,  es  könnten  sogar  beide 
entgegengesetzte  Übel  einem  dritten  entgegengesetzt  sein,  das 
weder  Gut  noch  Übel  sei.  Im  Anschluss  daran  suchte  er  dann 
zu  beweisen,  dass  die  Lust  als  solche  überhaupt  so  gut  wie 
die  Unlust  ein  Übel  sei,  und  dass  ein  Zustand,  in  dem  weder 
Lust  noch  Unlust  vorhanden,  beiden  vorzuziehen  sei  (Arist- 
1163  b,  6,  1173  b,  6,  1162  b,  8;  Gell.  N.  A.  IX.  6,  4).  Wie 
er  aber  diesen  Beweis  führte,  darüber  wird  an  diesen  Stellen 
nichts  mitgeteilt.  Jedenfalls  zeigt  er  sich  hier  als  Gegner  des 
Lustprinzips,  Aristoteles  erklärt  einmal  das  herrschende 
Vorurteil  gegen  das  Wort  Lust  dadurch,  dass  dasselbe  „durch 
eine  Art  Erbgang"  (im  Sprachgebrauch)  „in  den  Besitz  der 


iM,Coo<^le 


RadoxoB  TOD  Xnidos,  SpenelppoB.  nud  der  Dialog  PbilaboB.        119 

körperlichen  Lu8t  übergegangen"  sei  {1153  b,  33).  Dieses 
Vorurteil  bestand  offenbar  auch  bei  Speosippos,  trotzdem  dass 
zwei  so  hervorragende  Qeister  wie  Bemokrit  und  Eudoxos 
mit  allem  Nachdruck  darauf  hingeviesen  hatten,  dass  Glück- 
seligkeit nur  ein  GefQhlszustand  sein  kann.  Er  wollte  nicht 
anerkennen,  dass  nur  die  mit  einem  Gegenstande  TerkoUpfte 
Lust  die  Ursache  seines  Wertes  sein  kann,  dass  nur  eine 
Lustursacbe  ein  Gut  sein  kann.  Er  war  daher  genötigt,  sich 
nach  einem  anderen  Prinzip  umzusehen,  aus  dem  die  Beschaffen- 
heit, ein  Gut  zu  sein,  abgeleitet  werden  konnte. 

Welchen  Weg  er  einschlug,  das  erfahren  wir  aus  der 
schon  öfters  angefahrten  Tafel  des  Clemens  von  Alexan- 
dria (Strom,  n.  §  133).  Nach  derselben  erklärte  er  die 
Glückseligkeit  für  einen  „vollkommenen  Zustand  in  dem  der 
Natur  Gemässen"  oder  im  Besitz  der  Güter,  einen  Zustandi 
auf  den  .das  Begehren  aller  Menschen  gerichtet  sei".  Er 
erkannte  also  an,  dass  die  im  Begehren  aller  lautwerdende 
Forderung  der  Natar  nach  dem  ihr 'Gemässen  für  die 
GlUckseligkeitsfrage  ausschlaggebend  sei.  Er  wollte  jedoch 
nicht  anerkennen,  dass  das  eigentliche  Merkmal  fUr  das  der 
Natur  Gemässe  die  Lust  sei,  sondern  fand  schon  in  dem 
betreffenden  Zustande  selber,  im  yoUkommenen  Besitze 
der  betreffenden  Güter  die  Gewährleistung  der  Glückseligkeit. 

Wie  er  nun  die  von  der  Natur  geforderten  Güter  im 
einzelnen  bestimmte,  darüber  fehlt  es  fast  ganz  an  direkten 
Naehriditen.  Wir  hören  nur  (Plut.  Not  comm.  c.  13),  dass 
er  ebenso  wie  Xenokrates  Gesundheit  und  Reichtum  nicht 
für  gleichgültige  Dinge,  sondern  für  Güter  hielt.  Es  ist  jedoch 
nach  dem,  was  in  dieser  Beziehung  Über  seine  Nachfolger 
Xenokrates  und  Folemon  berichtet  wird,  im  höchsten 
Grade  wahrscheinlich,  dass  er  sich  in  der  Bestimmung  dieser 
Güter  an  die  in  Piatos  „Gesetzen"  mit  so  grossem  Nachdruck 
hervortretende  Dreiteilung  und  Bangfolge  anschloss,  nach  der 
die  Güter  der  Seele  (die  Plato  ausschliesslich  in  den  Tugenden 
fand),  die  eigentlich  allein  an  sieb  selbst  wertvollen  waren, 
die  Güter  des  Körpers  nur  um  ihrer  Bedeutung  für  die  Seele 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


120  A.  Döring: 

nad  die  äussdren  Güter  nur  um  der  Bedeutung  für  den  ESrper 
willen  Wert  liabea. 

Wenn  dies  aber  der  Fall  wu-,  so  mnssten  auch  diese 
drei  GQterklasseit  und  ihre  Bangfolge  nicht,  wie  bei  Plato, 
einfach  aufgestellt,  sondern  ans  dem  aufgestellten  Prinzip 
des  Tollkommeaen  Zustandes  nach  der  im  allgemeinen  Be- 
gebren zutage  tretenden  ^Forderung  der  Natur  abgeleitet 
werden.  Wie  und  in  welchem  Masse  dies  schon  Speusippos 
gethan  hat,  wird  nicht  berichtet.  Nur  über  das  Verfahren  der 
alten  Akademiker  im  allgemeinen  finden  sieb  Nactuiditen 
bei  Cicero,  die  überdies  teilweise  an  Unklarkeit  leiden.  Am 
ToUstöndigsten  soll  nach  Cicero  diese  Lehre  vom  höchsten 
Gute  als  eines  Lebens  nach  den  Anforderungen  der  Natur 
TonPolemon  ausgebildet  worden  sein  (Iln.  IV.  14,45),  doch 
kann  das  Hauptsächlichste  zur  Erläuterung  dieses  Stand- 
punktes im  allgemeinen  schon  an  dieser  Stelle  angeführt 
werden. 

Die  Natur  hat  das  Streben,  sich  selbst  zu  erhalten.  Sie 
ist  mit  den  dazu  erforderlichen  Hilfsmitteln,  den  Gütern,  aus* 
gestattet.  Diese  zu  erhalten,  auszubilden  und  zu  er^lnzen 
dienen  die  Künste,  deren  oberste  die  Kunst  der  Lebens- 
gestaltung im  allgemeinen  {ars  vivendi)  ist  (Fin.  IV.  16).  Als 
Güter  der  Seele  in  diesem  Sinne  werden  in  diesem  Zusammen- 
hange aufgefülirt:  Kirstens  die  Fähigkeit  zur  Liebe  und  Für- 
sorge für  andere,  die  sich  zunächst  als  Gatten-,  Kindes-  und 
Verwandtenliebe  offenbart,  und  auf  der  die  Mtjglichkeit  des 
menschlichen  Gemeinschaftslebens  und  die  Entwicklung  der 
Tugend  der  Gerechtigkeit  beruhen.  Zweitens  die  Fähigkeit, 
auch  widerwärtigen  Lebensumständen  Trotz  zu  bieten,  die  sich 
zur  Tugend  der  Tapferkeit  entwickelt.  Drittens  die  Fähigkeit 
zur  Erkenntnis  und  Forschung,  aus  der  Wissenschaft  und 
Weisheit  entspringen.  Viertens  eine  Anlage  zu  Scham  und 
Scheu,  aus  der  die  Zügelung  der  Naturtriebe,  die  Sophrosyne, 
entspringt.  So  entwickeln  sich  alle  Tugenden  aus  seelischen 
Naturaniagen  und  sind,  indem  sie  diesen  Genüge  leisten,  selbst 
Güter  (Fin.  IV.  17  f.).    Die  Güter  des  Körpers  werden  in 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


Eudoxos  von  Enidos,  Spensippoe  und  der  Dialog  Phileboe.       121 

diesem  Zuaammenhaiige  nicht  näher  aufgeführt  und  nur  als 
minderwertig  im  Vergleich  mit  denen  der  Seele  bezeiobnet. 

Das  NatnrbedUrftiis  ist  das  Kennzeichen,  aas  dem  das 
Natorgem&flse,  also  alles,  was  ein  Gut  ist,  erkannt  wird. 
Ificbt  durch  die  Last,  sondern  durch  die  Naturgemässheit  wird 
das  Begehren  wachgerufen  (58).  Ist  die  Summe  einmal  fest- 
gesetat,  so  ergiebt  sich  leicht  die  Rangfolge  der  Bedeutung 
fOr  das  Ganze  der  Glückseligkeit  (ib.  32)  Die  geringeren 
QDter  aber  werden  durch  die  höheren  nicht  TSUig  entwertet 
(37).  Der  Mensch  ist  durchaus  nicht  bloas  Seele  (28).  Die 
GlQckseligkeit  besteht  im  Genüsse  entweder  aller  oder  doch 
der  meisten  und  wichtigsten  dieser  Göter  (60).  Dies  wird 
anderweitig  (Fin.  II.  34;  Äcad.  II.  131)  auch  so  formuliert; 
Das  höchste  Gut  besteht  im  Leben  nach  der  Natur,  d.  h.  im 
GteoDss  der  natnrgemässen  GQter,  einschliesslich  der  Tagend. 

Das  Natui^mässe  ist  in  der  Natorausstattung  bereits 
angelegt  nnd  bedarf,  um  zur  Glückseligkeit  zu  führen,  nur 
der  Erhaltung  und  Pflege.  Im  Sinne  dieser  Angelegtheit  zählt 
Cicero  einmal  (Fin.  V.  17)  offenbar  nach  der  Lehre  der  alten 
Akademie  eine  Anzahl  körperlicher  Güter  auf  (Unverletztheit 
allOT  Teile,  Gesundheit,  normale  Sinne,  Freiheit  von  Schmerz, 
Eraft,  Schönheit)  and  fUgt  dann  hinzu,  etwas  Ähnliches  seien 
auch  die  ersten  Funken  und  Samenkörner  der  Tugenden  in 
der  Seele.  Hier  zeigt  sich  deutlich,  weshalb  die  Tugenden 
Güter  sind;  deshalb  nämlich,  weil  sie  die  Ausbildung  einer 
in  der  Seele  vorhandenen  Naturanlage  sind 

An  einer  anderen  Stelle  hei  Cicero  (Akad  L  19—21) 
finden  wir  diese  Lehre  der  alten  Akademie  folgendermassen 
dargestellt.  Das  Lebensziel  oder  höchste  Gut  besteht  darin, 
dass  wir  alles  für  die  Seele,  den  KOrper  and  das  Leben 
Erforderliche  von  der  iN'atur  empfangen.  Die  Güter  des 
KDrpers  betreffen  teils  den  ganzen  KOrper,  wie  Gesundheit, 
Eraft,  Schönheit,  teils  die  Tüchtigkeit  und  Brauchbarkeit  der 
emzelnen  Organe.  Von  den  durch  die  Natur  verliehenen 
Gütern  der  Seele  werden  hier  nur  angeführt :  schnelle  Fassungs- 
kraft und  Gedächtnis.  Es  fehlt  also  ganz  die  Naturausstattung 


iM,Coo<^le 


122  A.Döring: 

ZU  den  sittlichen  Eigenschaften.  In  dieser  Beziehung  steht 
hier  nur  die  offenbar  aoa  fluchtiger  und  verständnisloser  Be- 
nutzung der  griechischen  Vorlage  entsprungene  Wendung,  die 
Tugend  sei  die  Vollendung  der  Natur  und  alles  dessen,  was 
in  der  Seele  angelegt  ist.  In  noch  flüchtigerer  Weise  wird 
dann  üher  die  Güter  „des  Lebens"  nur  gesagt,  dass  sie  zur 
Ausübung  derTugead  erforderUch  seien  (eine  ganz  unbestimmte 
Hindeutung  auf  die  Bangfolge).  Ganz  äusserlich  werden  dann 
noch  angehängt:  Reichtum,  Macht,  Ruhm,  Beliebtheit 

Diese  Angaben  gehen  vielleicht  in  einigem  schon  über 
die  Ausbildung  dieser  Lehre  bei  Speusippos  hinaus.  Anderen- 
teils bleiben  sie  in  ihrer  Lückenhaftigkeit  und  Verständnis- 
losigkeit  -wohl  schon  hinter  der  von  ihm  erreichten  E)nt- 
vicklungsstufe  zurück.  Jedenfalls  dienen  sie  zur  Ejrläutemng, 
was  schon  Speusippos  mit  seinem  „vollkommenen  Zustand  im 
Naturgemässen"  gemeint  hat. 

Clemens  bat  aber  in  seiner  kurzen  Angabe  noch  einen 
sehr  bedeutsamen  Zusatz:  „Die  Guten  streben  nur  nach 
Freiheit  von  Belästigung  (aochlesia)."  Offenbar  kommt  in 
dieser  Formel  seine  positive  SteUnugnahme  zur  Lustlehre  des 
Eudoxus  zum  Aasdruck.  Der  „Gute"  strebt  nicht  nach  Lust, 
sondern  nur  nach  dem  Mittelzustand  zwischen  Lust  und  Unlust, 
nach  der  Unlustlosigkeit,  der  Belästignngsfreibeit.  Vielleicht 
erschien  ihm,  wie  es  nach  den  angeführten  Zügen  aus  seiner 
Polemik  den  Anschein  hat,  nicht  nur  die  Unlust,  sondern  auch 
die  Lust,  wie  er  sie  verstand,  als  eine  „Belästigung".  Das 
System  der  Güter  dagegen,  wie  er  es  aus  den  Anforderungen 
eines  normalen,  der  Natur  gemässen  Zustandes  ableitete, 
wird  durch  diese  Bestimmung,  die  offenbar  nur  gegen  Lust 
und  Unlust  EYont  macht,  nicht  betroffen. 

3.  Der  Dialog  „Fhllebos". 

Der  „Philebos"  steht  unter  den  Schriften  Piatos  und 
wird  auch  heute  noch  meist  für  ein  Werk  Piatos  gehalten. 
Er  bietet  aber  unter  dieser  Voraussetzung  eine  Menge  von 
Schwierigkeiten  und  Unbegreifliohkeiten.  Es  ist  kaum  denkbar, 


iM,Coo<^lc 


EadoxoB  TOD  Enidos,  Spensippos  und  der  Dialog  Fhileboa.       123 

dass  Flato  sich  auch  nur  in  beactiränktem  Masse,  wie  dieser 
Dialog  thut,  zur  AoerkenDUDg  der  Lust  als  Gut  herbeigelassen 
haben  sollte.  Wenn  er  aber  dies  that,  so  wird  er  doch  kaum, 
wie  der  Verfasser  des  .Philebos"  thut,  dies  Resultat  der  ünter- 
sachung  am  Schlüsse  wieder  rückgängig  gemacht  und  wider- 
rufen haben.  Ein  grosser  Teil  der  Schrift  ferner  beschäftigt 
sich  mit  der  Tdllig  unhaltbaren  und  sinnlosen 'Unterscheidung 
von  wahrer  und  falscher  Lust  Eine  seltsame  Eigentümlichkeit 
derselben  ist  sodann,  dass  bei  ganz  unzulänglichen  Gelegen- 
heiten die  grossen  Prinzipienfragen  des  Piatonismus  ganz 
ohne  Not  in  die  Diskussion  gezogen  werden.  So  bei  der  Frage 
nach  den  verschiedenen  Arten  der  Lust  und  Unlust  das 
Problem  der  Ideen  und  ihrer  Zerteilung  in  der  Vielheit  der 
ErscheinuQgsdinge  (14  C  S.).  So  bei  der  Frage,  ob  Erkenntnis 
oder  Lust  den  Vorrang  verdiene,  die  Frage  nach  den  letzten 
Grundelementen  des  Seienden  (23  C  ff.).  Endlich  sind  die 
Gedanken  manchmal  an  sich  selbst  unklar  oder  durch  Un- 
zulänglichkeit des  Ausdrucks  verdunkelt  Der  Gedankengang 
im  ganzen  ist  schwerMlig  und  Übermässig  kompliziert 

Alle  diese  Unbegreiflichkeiten  fallen  weg,  und  das 
Wesentliche  des  Inhalts  wird  vollkommen  verständlich  unter 
einer  doppelten  Voraussetzung.  Einerseits,  dass  der  „Philebos' 
von  ünem  geistvollen  und  scharfsinnigen,  mit  der  platonischen 
Gedankenwelt  und  Darstellungsweise  vertrauten  und  sie  in 
wahrhaft  geistvoller  Weise  nachbildenden,  aber  noch  un- 
geschickten, in  den  Gedanken  noch  nicht  zur  vollen  Klar- 
heit und  im  Ausdruck  noch  nicht  zur  vollen  ßeife  gelangten, 
noch  unausgegorenen  jugendlichen  Mitgliede  der  Akademie 
verfasst  ist.  Anderenteils,  dass  dieser  Autor  gerade  in  den 
Gegensatz  zwischen  Eudoxos  und  Spensippos  einzugreifen 
and  beiden  gegenüber  einen  selbständigen  Standpunkt  geltend 
zu  machen  bemüht  ist. 

Letzterer  Punkt  wird  durch  die  wesentlichen  Züge  des 
Gedankenganges  zur  vollen  Gewissheit  erhoben.  Gleich  zu 
Anfang  wird  der  Gegenstand  der  Diskussion  in  folgender 
Weise  formuliert    Zwei  Ansichten  über  das  wahre   Gut 


iM,Coo<^lc 


124  A.  Döring: 

Stehen  einaDder  gegenüber.  Nacli  der  einen  besteht  ea  fOr 
alle  lebenden  Wesen  in  dem  Sich-freueo,  in  der  Lust  and 
Ergfitztmgim  weitesten  and  umfassendsten  Sinne  (IIB). 
Bies  ist  nicht  die  Lehre  Aristipps,  der  nor  die  Sinnen- 
lust als  Gut  anerkannte,  sondern  entweder  die  Demokrits 
oder,  was  viel  näher  liegt,  die  des  damals  in  ganz  Griechen- 
land hochgefeie'rten  Eudosos.  Nach  der  anderen  besteht  ea 
im  Erkennen,  Denken,  Sich-erinnem,  richtigen  Vorstelleo  nnd 
Schüessen,  kurz  in  der  Gesamtheit  der  intellektuellen 
Funktionen  und  ist  nach  dieser  seiner  Natur  selbst- 
verständlich nicht  allen  lebenden  Wesen  zugänglich,  sondern 
nur  denen,  die  darjtn  Anteil  zu  haben  vermögen  (11  C), 
d.  h.  nur  den  in  hOberem  Masse  mit  den  Yemunftanlagen 
Ausgestatteten.  An  einer  späteren  Stelle  (19  D)  wird  diese 
Ansicht  dahin  formuliert,  dass  nach  ihr  „Vernunft,  Wissen- 
schaft, Einsicht,  Kunst"  (vielleicht  gleichbedeutend  mit  Theorie] 
„und  alles  damit  Verwandte"  fUr  das  wahre  Qui  zu  halten 
seien.  Dies  ist  nicht  die  Lehre  Flatos,  der  das  wahre  Glück 
ausBcbliesslich  in  die  denkende  Erfassung  der  unveränderlichen 
jenseitigen  Wesenheiten  setzte.  Bei  ihm  liegt  der  Wert  ganz 
ausschllessUch  in  der  BescbaSenheit  des  erkannten  Objekts, 
und  demgemäss  hat  bei  ihm  auch  nur  die  zur  Erfassung  des* 
selben  führende  De  nkthätigkeit  im  engsten  Sinne  Wert.  Nach 
dem  hier  bezeichneten  Standpunkte  dagegen  wird  ganz  offenbar 
dieser  Wert  den  erkennenden  Thätigkeiten  im  weitesten  Um- 
fange beigelegt,  sofern  sie  nur  richtig  geübt  werden.  Das 
Objekt  kommt  dabei  nur  insoweit  in  Betracht,  als  es  ja  auch 
der  richtigen  Erkenntnisfunktion  zufallen  muss.  An  sich  acheint 
derWert  aueschliessUch  in  dieBethätigung,  dieFuoktion  gesetzt 
zu  werden.  Das  ist  eine  Ansicht,  die  sich  schon  in  der  letzten 
Lehenszeit  Piatos  im  Kreise  der  Akademie  gebildet  haben 
mochte.  Sie  hat  die  grOsste  Ähnlichkeit  mit  dem,  was  ans  als 
Grundlehre  des  Aristoteles  später  entgegentreten  wird. 
Aof  Grund  dieses  Gegensatzes  werden  nun  drei  Lebens- 
formen, d.h.  drei  Weisen,  nach  der  Glückseligkeit  zu  streben, 
statuiert.  Die  eine  sucht  das  Ziel  aasschliesslich  durch  Lust 


iM,Coo<^le 


Endozoe  von  Enidoa,  Speaeippos  and  der  Dialog  HiilahoB.       125 

ZU  erreichen,  die  andere  ausschliesslich  durch  intellektaelle 
Thätigkeit,  die  dritte  durch  eine  Mischung  von  beiden  {11  S. 
21  Ef.). 

Es  wird  nun  gezeigt,  dass  ein  Leben,  in  dem  alle 
anderen  Bewusst^einsersobeinungen  ausser  dem  Lustgefühl 
aosgemerEt  wären,  also  ein  Leben  ohne  Erinnerung,  ja  ohne 
die  Fähigkeit,  sich  auch  die  gegenwärtige  Lust  im  Vorstellen 
gegenständhch  zu  machen,  etwas  ganz  Absurdes  und  keines- 
falla  das  61IlckseligkeitfibedUrhii&  Befriedigendes  wäre.  Es 
wäre  das  Leben  einer  Auster  oder  Qualle.  Ebenso  femer, 
dasa  ein  Leben,  das  ausschliesslich  in  Erkenntnisfunktionen 
ohne  jedes  begleitende  Lustgefühl  verliefe,  ebenfalls  dem 
GIQc^seligkeitsbedUrlQis  nicht  Genüge  thun  könnte  (21). 

So  kann  also  von  diesen  drei  Lebensformen  nnr  die 
dritte,  die  gemischte,  in  Betracht  konmien,  und  das  Problem 
spitzt  sich  dahin  zu,  welchem  von  den  beiden  Bestandteilen 
der  Mischung  der  überwiegende  Wert  zugeschrieben 
WKtlen  muss  (22  Ü  ff.).  Dies  führt  zu  einer  umfangreichen 
Untersuchung  zunächst  über  Wesen  and  Wert  der  Lust 
(31  B-35  0). 

Hier  treten  nun  wieder  in  einem  besonderen  Sinne, 
nämlich  unter  Einschränkung  auf  das  Vorhandensein  oder 
Nichtvcffhandensein  der  Lust,  drei  mögliche  Lebens- 
formeo  auf,  eine  lustvolle,  eine  anlustvolle  und  eine  mittlere, 
bezeichnet  durch  die  Abwesenheit  der  Unlust,  aber  auch  der 
Lust  (43  D  ff.}. 

FQr  diesen  letzten  Zustand  als  den  begehrenswertesten 
sind  Männer  eingetreten,  „ausgezeichnet  durch  Er^ 
kenntnis  der  Xatur,"  die  geradezu  die  Existenz  der  Lust 
leugnen.  Dieser  letzte  Punkt  wird  jedoch  dahin  näher  erläutert» 
dass  sie  nicht  das  Vorhandensein  der  Lust  als  seelische  Er- 
scheinung  leugnen.  Sie  behaupten  vielmehr  nur  infolge  des 
WidwwiUens  einer  nicht  unedlen  Natur  gegen  das  Wesen  der 
Lost,  diese  sei  lediglich  eine  Art  von  Gaukelei  oder  Tascben- 
spielerei,  also  keine  wirkliche,  sondern  nur  eine  scheinbare 
Lust  (44  O).    Wie  dies  gemeint  ist,  zeigt  die  ausfuhrliche 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^le 


126  A-  Döring: 

Widerlegung  dieses  Staadpanktes,  die  uns  zugleich  die  von 
diesem  Standpunkte  Torgebrachten  Beweisgründe  kennen  lehrt 
(44  D— Ö3  0).  Es  ergiebt  sich  nämlich,  dass  in  der  Ver- 
teidigung dieser  Ansicht  nur  diejenigen  Arten  der  Lust  ins 
Auge  gefafist  worden  sind,  die  mit  einer  Beimischung  von 
Unlust  verbunden  sind.  Dies  ist  der  Fall  bei  den  meisten 
kfirperliehen  Lustarten,  wo  die  Lust  nur  in  der  Stillung  der 
vorangegangenen  heftigen  Unlust  des  BedQrfens  und  Begehrens 
besteht,  also  nur  die  vorgängige  Unlust  aufhebt.  Es  ist  aber 
auch  auf  den  rein  seelischen  Gebieten  der  Fall.  Die  Affekte 
Zorn,  Furcht,  Sehnsucht,  Liebe,  Bifersucht,  Neid  sind 
Mischungen  von  Lust  und  Unlust,  in  denen  die  beiden  Bestand* 
teile  schwer  voneinander  zu  sondern  sind.  In  der  TragOdie 
weinen  die  Zuschauer,  während  sie  zugleich  gemessen  (48  A). 
Sehr  eingehend  wird  der  gemischte  Charakter  lier  durch  die 
KomOdie  wachgerufenen  QefUhle  nachzuweisen  versucht  Diese 
Darlegung  läuft  daraus  hinaus,  dass  der  Genuss  am  Komischen 
auf  einer  besonderen  Art  von  Schadenfreude  beruhe.  Der 
Verfasser  bezeichnet  nur  die  Schadenfreude  irrig  als  Neid, 
d.  h.  als  ihr  gerades  Gegenteil.  Wir  sehen  menschliche  Wesen 
mit  gewissen  absurden  Eigenschaften  behaftet,  die  als  solche 
ein  mitfühlendes  Bedauern,  also  eine  Unlust,  wachrufen  mtlssen, 
während  wir  zugleich  durch  das  Vorhandensein  dieser  Sch&den 
lustvoll  erregt  werden  (48  B  S.).  Unzweifelhaft  ist  hier  das 
Wesen  des  Komischen  richtig,  aber  zu  eng  gefasst. 

Wer  sind  nun  die  so  urteilenden  und  arfpimentierenden 
Männer?  Es  kann  kaum  zweifelhaft  sein,  dass  hier  die 
Stellungnahme  des  Speusippos  zur  Lust  bezeichnet 
wird.  Wenn  er  dem  Luststreben  das  Streben  nach  „Be- 
lästigungsfreiheit"  (aoohlesia)  gegenQberstellt,  so  entspricht 
das  genau  der  „dritten  Lebensweise**,  wie  sie  vorstehend 
bezeichnet  wurde.  Und  zur  Begründung  dieses  Standpunktes 
konnte  er  kaum  treffendere  Argumente  beibringen  als  die 
vorstehend  skizzierten,  die  zum  Teil  bei  Schopenhauer 
wiederkehren.  Wir  lernen  also  aus  dem  „Fhilebos*'  noch  ein 
Stück  seiner  Lehre  kennen,  die  Art  nämlich,  wie  er  seine 


iM,Coo<^lc 


Eadoioa  von  Eoidos,  Speamppos  and  der  Dialog  Philoboa.       127 

Verwerfung  der  Lust  als  Gut  begründete.  Dass  eine  Melir- 
zahl  von  „MännerQ"  als  Vertreter  dieses  Standpunktes  be- 
zeichoet  wird,  kann  dagegen  nicht  ins  Oeiricht  fallen.  Die 
Mehrzahl  war  entweder  wirklich  vorhanden  in  seinen  An- 
hängern oder  sie  dient  nur  der  berkltmoilichen,  absichtlich 
unbestimmten  Bezeichnung.  Dass  letzteres  hier  der  Fall, 
seheint  durch  die  herrorragenden  Leistungen  dieser  aMänner„ 
in  der  Naturerkenntnis  bestätigt  zu  werden.  Diese  scheint 
nun  freilich  auf  Speusippos  durchaus  nicht  zu  passen,  der 
nach  allem,  was  über  ihn  bekannt  ist,  alles  eher  als  ein 
Naturforscher  war  {Z.  1006).  Es  ist  aber  im  Sprachgebrauch 
der  platonischen  Schule  Erkenntnis  der  Natur  keineswegs 
gleichbedeutend  mit  dem,  was  wir  unter  Naturwissenschaft 
verstehen.  Im  Sinne  dieser  Sichtung  gelten  die  teilweise 
recht  abstrusen  Spekulationen  über  das  Wesen  des  Seienden, 
mit  denen  sich  ja  Speusippos,  wie  gezeigt,  eingehend  befasste, 
durchaus  als  Leistungen  in  der  Erkenntnis  der  Natur  der 
Dinge,  zu  denen  unser  Verfasser  als  wesentlich  gleich- 
gestünmte  Seele,  wie  verschiedene  Partien  des  „Philebos" 
zeigen,  anerkennend  und  bewundert  aufschauen  konnte. 

In  sehr  treffender  Weise  nun  lässt  unsere  Schrift  diesem 
Standpunkte  eine  wenigstens  teilweise  Widerlegung  wider- 
fahren. Unser  Verfasser  verhält  sich  zu  Speusippos  fast  wie 
in  diesem  Punkte  von  Hartmann  zu  Schopenhauer.  Es 
giebt  reine,  d.  h.  nicht  durch  das  Opfer  begleitender  Unlust 
zu  erkaufende  Lust.  So  schon  auf  dem  Gebiete  der  Sinne, 
wenn  dem  Gl«nuss  nicht  ein  nnlustvoUes  Begehren  voran- 
g^angen  ist,  wie  bei  der  Wahrnehmung  schöner  Farben,  regel- 
mäflaiger  Figuren,  wohllautender  Töne  und  Wohlgerüche. 
So  vollends  auf  dem  seelischen  Gebiete  in  der  die  intellektuelle 
Bethätigung  begleitenden  Lust  (62  A).  Bemerkenswert  ist 
hierbei  nur,  dass  er  an  dieser  Stelle  den  in  der  ursprünglichen 
IVageatellung  vorausgesetzten  Gegensatz  aufhebt  und  der 
geistigen  Bethätigung  einen  Lustwert  beilegt.  Es  giebt  also 
wenigstens  eine  stattliche  Gruppe  von  Lustgefühlen,  die  von 
den  Angriffen  dea  Lustgegners  nicht  getroffen  werden. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


128  A-  Döring. 

LILdierlicb  aber  wird  er,  wenn  er  dann  plStzlicIi  sme 
eigene  Widerlegung  des  Pessimisten  selbst  wiederum  wider- 
legt Die  Lust  ist  stets  nur  ein  Werden  (d.  b.  ein  sieb  ver- 
änderndes Gescbeben).  Eiu  solcbes  kann  oicbt  ein  Gutes 
sein.  Das  Gute  ist  das  Sein,  um  dessen  willen  das  Werden 
stattfindet.  Hier  schwankt  der  B^;riff  des  Guten  (d.  b. 
Wertvollen)  plötzlich  aus  dem  Fsycholo^scben  ins  Metar 
physische  hinUber.  Aber  auch  in  der  Seele  mOasen  ausser 
der  Lust  auch  die  Tugenden  als  „Gutes"  gelten.  Hi^  schwankt 
der  Begriff  aas  dem  Psychologischen  ins  Ethische  hinfiber. 
Dies  wird  noch  besonders  dadurch  deutlich,  dass  ausgeführt 
wird,  nach  der  entgegengesetzten  Annahme  mOsste  der  beste 
Hensch  bei  vorhandenen  Unlustgeftihlen  sich  fUr  schlecht 
und  der  schlechteste  bei  vorhandenen  Lustgefühlen  sich  für  gut 
halten  (53  CS.).    Hier  herrscht  also  allseitige  Unklarheit 

Kurzer  ßUlt  die  Untersuchung  Über  die  Arten  der 
Erkenntnisthätigkeit  aus.  Obenan  steht  hier  das  auf  das  Un- 
veränderliche gerichtete  Denken  (65  C— 59  D). 

In  sehr  umständlicher,  grossenteils  uuTerständlicber  Weise 
wird  nunmehr  (59  E— 67  A)  die  richtige,  zur  wahren  Glück- 
seligkeit führende  Mischung  hergestellt.  Dies  geschieht  in  so 
schwankender  Weise,  dass  Euo&dist  (64  f.)  die  Lust  als  völlig 
von  der  Mischung  ausgeschlossen  erscheint,  bis  sie  dann 
schliesslich  doch  noch  ein  ganz  bescheidenes  Plätzdien  zu- 
gewiesen erhält  (66  C).  Die  Einzelheiten  sänd  hier  ohne 
Interesse  und  zum  Teil  schon  durch  ihre  Dunkelheit  un- 
fruchtbar. 

Das  Ganze  schliesst  dann  mit  einem  unverkennbaren 
Ausfall  gegen  die  Argumentaüonsweise  des  Eadozos.  Wenn 
die  Lust  nach  allen  ihren  Arten  fUr  em  Gut  ausgegeben 
werden  sollte,  so  hiesse  das  dem  Urteil  der  Ochsen,  Pferde 
und  sonstigen  Tiere  Glauben  schenken  und  die  Liebestriebe 
der  Tiere  für  ein  vollgültigeres  Zeugnis  halten  als  das  Urtül 
der  Denker  (67  B). 

Durch  vorstehende  Einordnung  und  Auffassung  schdnt 
das  „Fhilebosi^tsel"  in  befriedigender  Weise  gelOst  zu  werduL 


iM,Coo<^lc 


Ba'dDxoa  von  Knidoe,  Sponsippoa  und  der  Dialog  FUleboe.       120 

Der  Verfasser  setzt  sich  mit  Eadozos,  mit  einer  eigenartigen, 
in  der  Akademie  vertretenen  Schätzung  der  intellektuellen 
Thfttigkeit  und  mit  der  vtllligen  Verwerfung  der  Lust  seitens 
des  Speusippos  auseinander  und  versucht,  sämtlichen  drei 
Standpunkten  gegeuUber  eine  vermittelade  Stellung,  mit  An- 
erkennnsg  der  Lust  in  beschränktem  Masse,  doch  mit  weit 
überwiegender  Sehätzung  des  InteUektaellen,  einzunehmen. 
Es  ist  ein  Standpunkt,  der  mit  dem  später  von  Aristoteles 
vertretenen  eine  entfernte  Ähnlichkeit  bat.  Ob  die  Abfassung 
dieses  Dialogs  noch  in  die  letzte  Lebenszeit  Piatos  oder  kurz 
nach  dessen  Tode  ßUlt,  lässt  sich  nicht  entscheiden.  Doch 
ist  es  nach  der  Art,  wie  von  Speusippos  geredet  wird, 
wahrscheinlicher,  dass  sie  in  das  hohe  Greisenalter  Piatos, 
also  tun  350,  als  dass  sie  in  die  Zeit  der  Schulleitung  des 
Speusippos  fiUlt 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Verstehen  nnd  Begreifen. 

Eine  psychologische  Untersuchung 

TOn  Hermum  Swoboda,  IVieii  I. 


Inlialt. 

w  VmMu«  von  Aiudrufk.  -   B.  Du  VnMhai  «cb  i 

(Jnod  si  etiam  detor  istelleotQm  esse  renun  dijndicativiim,  uon 
myenjemns,  qnonam  psoto  MCiuidniii  eom  iDdioemos.  Qnom  enim  magna 
eH  ciina  mtetlMtnm  divermtaB :  qnoniara  alins  eet  Oorgiae  iotellectaa,  seonodom 
quem  dicit  nihil  eue,  alias  Eeracliti,  secondom  quem  dioit  omnia  esse,  alins 
eorom  qü  qoaedam  esse  diount,  quaedam  non  esse :  nnllam  dijndicandae 
JDtelleotnnm  diff  erentiae  viam  invauiemaa,  aeo  hniiii  iatelteo- 
tum  seqnendnm  esse,  illiiiH  antem  minime  dicere  nobis  lioobit. 
Seztoi  ElmpiiiciiB,  Pyrrh.  Hypot 
lib.  U.    oap.  YI. 

Etadeitmig. 

„Verstehen"  and  „Begreifen"  sind  keine  wissenschaft- 
lichen tennini.  Sie  dazu  zu  machen,  zu  zeigen,  dasa  sich 
in  ihnen  ein  Tatbestand  birgt,  welcher  der  Begrenzung  ßlbig 
und  dieselbe  wert  ist,  da«  ist  das  eigentliche  Ziel  der  folgenden 
Untersodiung. 

In  anderer  als  rein  wissenschaftlicher  Fassung  gehalten, 
sollte  abra  diese  Untersuchung  ein  noch  viel  höheres  Ziel 
haben  ktinnen.  Das  Verstehen  ist  Ton  der  grössten  sozialen 
Bedeatnng.  £s  ermSgUcht  erst  das  friedliche  Zusammenleben 
der  Menschen.  Wo  Menschen  so  zusammenleben,  kann  man 
getrost  annehmen,  dass  die  Bedingungen  fUr  gegenseitiges 
Verständnis  günstig  sind.  Aber  nirgends  auf  der  Welt  liegen 
Eöe  so  günstig,  dass  einer  den  anderen  ohne  weiteres  Toll- 


iM,Coo<^lc 


132  Heimauii  8wabod&: 

kommeD  Terstände.  So  wenig  zwei  MecBchea  einaader  in 
allen  Ttilen  körperlich  gleichen,  so  wenig  gibt  es  jene  psy- 
ohisdie  Gleichheit  —  wenn  auch  nur  für  einen  einzigen  Zeit- 
punkt —  welche  eben  Voraussetzung  des  Vollrerständnisses, 
der  Idee  des  Verstehens  ist.  An  dieser  Idee  gemessen  ist 
freilich  der  grOsste  Teil  unseres  Geisteslebens  ein  Miss- 
verstehen,  gegen  dessen  Schäden  wir  von  altersher  imman 
sind,  ja  sein  mllssen.  Aber  feineren  Geistern  macht  sich  doch 
bei  jeder  Gelegenheit  und  sozialer  Veranlagten  wenigstens 
in  gröberen  Fällen  die  Kluft  fühlbar,  welche  Mensch  von 
Mensch  trennt. 

Wenn  nicht  das  Leben  selbst  und  das  ZusammenBein 
mit  anderen  Grund  zum  Weiterleben  wäre,  wenn  Leben 
nicht  gleichzeitig  Freude  am  Leben  wäre,  so  mOsste  es 
majicher  wegen  der  beängstigenden  Einsamkeit  inmitten  der 
MiUionen  vorzeitig  bescbliessen. 

Das  Miasverstehen  kann  also  ganz  unbemerkt  bleiben. 
Wird  es  aber  empfunden,  dann  kann  man  regelmässig  folgendes 
beobachten:  Es  wird  immer  unangenehm  empfunden  und 
es  ist  immer  ein  Gegenstand  des  Vorwurfes.  Es  wird  immer 
als  ein  Zeichen  mangelnder  guter  Absicht,  wenn  nicht  gar 
als  ein  solches  böser  Absicht  aufgefasst  Man  beschuldigt 
andere  des  Missverständnisses,  indem  man  nischlich  annimmt, 
sie  könnten  sich  gegen  eines  anderen  Meinungen  oder 
Handlungen  stellen,  wie  sie  wollen.  Es  liegt  nur  ein  spezieller 
Fall  von  Zurechnung  vor.  Aber  eben  so  wie  sich  die  Un- 
barmherzigkeit  im  Zurechnen  von  Handlungen  bedeutend 
gemildert  bat,  seit  man  in  die  Vorbedingungen  des  mensch- 
lichen Handelns  einen  genaueren  Einblick  gewonnen,  seitdem 
man  namentlich  erkannt  bat,  wie  viel  auf  ßechnung  an- 
geborener Organisation  zu  setzen  ist,  ebenso  sollte  man  hoffen 
können,  dass  auch  die  Beurteilung  gegenseitigeo  Miss- 
verstehens  eine  ruhigere  wird  in  dem  Masse,  als  sich  der 
ISnblick  in  die  teilweise  unabänderlichen  Vorbedingungen  des 
Verstehens  erweitert.  Vor  allem  aber  wird  man  wissen  und 
beherzigen  müssen,  dass  das  Verstehen  nicht  so  verständlich 

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Venteben  and  Begreifen.  133 

ist,  wie  man  gemeinbia  annimmt,  wenn  man  sich  mit  gutem 
Willen  ein  klein  venig  Mtlhe  gegeben  hat  Nicht  der  gute 
Wille,  den  jemand  entwickelt,  darf  ihm  Kriterium  des  er- 
reichten Verständnisses  sein,  Bondem  einzig  und  allein  jenes 
Gefühl  der  Zustimmang,  welches  keineriei  Klausel  kennt. 
Wie  oft  hört  man  in  Diskussionen:   „Ich  verstehe  sie  ganz 

gut,  aber "    Das  gibts  nichtl    Wer  einen  andern  ganz 

gut  versteht,  erwidert  nicht  mit  „aber".  Die  Schwierigkeit, 
sich  auf  den  Standpunkt  eines  anderen  zu  versetzen,  wird 
ausserordentlich  unterschätzt.  Aber  gerade  die  fälschliche 
Annahme,  schon  auf  dem  Standpunkt  des  anderen  zu  stehen, 
ist  es,  aus  welcher  man  innerlich  das  Recht  der  Kritik  und 
des  Widerspruches  herieitet.  Wie  viel  von  all  den  im 
SCTentlichen  Leben,  in  Kunst  und  Wissenschaft  geführten 
Diskussionen,  besonders  von  den  leidenschaftlichen  auf  das 
nUscdiliche  Verstehen  —  Meinen  zurllckzufUbren  ist,  erhellt 
beim  ersten  Hinweis.  Natürlich,  je  weniger  man  auf  dem 
Standpunkt  des  liehen  Nächsten  steht,  fUr  desto  dümmer  muss 
man  seine  Ansicht  halten  —  d.  h.  seine  Worte,  denn  um 
seine  Ansicht  zu  kennen,  mtlsste  man  eben  auf  seinem 
Standpunkt  stehen.  Man  erfasst  nur  die  Worte,  nur  das 
ÄusseruDgsntfttel  und  kritisiert  den  Inhalt,  den  man  selbst 
beigesteuert  hat. 

Es  wäre  nun  allerdings  eine  unverzeihliche  Vennessen- 
hdt.  von  einer  psychologischen  Analyse  Abhilfe  zu  erwarten 
gegen  eine  so  verbreitete,  eingewurzelte  Gewohnheit  wie  das 
vermeinüiche  Verstehen.  Handelt  sich's  um  eine  alte  Ge- 
wohnheit, so  wird  dieselbe  wohl  Überhaupt  eine  gewisse  Be- 
rechtigung haben.  Und  so  ist's  in  der  Tat.  Alles  verstehen 
heisst  alles  vergeben  und  —  alles  gehen  lassen  wie's  geht. 
Enei^e  im  Widerspruch  und  in  der  Bekämpfung  anderer 
batMissverständnis  zur  Voraussetzung.  DasMissverständnis 
sorgt  mithin  dafOr,  dass  die  Komponenten  nicht  aufhören, 
welche  die  Welt  weiter  bringen. 

Das  Missverstehen  steht  im  Dienste  der  Gedanken- 
auslese. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


134  Hetmanii  Swobodtt: 

Von  dieser  Erwägung  brauchen  sich  indes  diejemgen 
nicht  beirren  zu  lassen,  deren  Handeln  dem  BinfluBS  der 
Reflexion  zuzüglich  ist  und  welche  die  Mfig^chkeit  anderer 
als  leidenschaftlicher  Q-egnerschaft  in  sich  verspüren.  Sie 
haben  ihr  Becht  anf  Milde  wie  die  andern  auf  Ungestüm. 
Nur  sollte  man  nach  Gegenständen  trennen.  In  der  Politik 
wird  man  nicht  so  bald  ohne  die  Schärfe  der  unüberbrück- 
baren Gegensätze  auskommen.  In  der  Wissenschaft  könnte 
es  doch  vielleicht  anders  sein.  Wer  missversteht,  beimpft 
leidenschaftlich,  wer  versteht,  kann  es  noch  immer  ernsthaft 
tun.  Die  Einsicht  macht  eine  trübe  QueUe  des  Handelns 
versiegen  und  ein  paar  reine  dafür  frisch  hervorsprudeln. 

IL   Allgemeine  Bedingungen  des  Terstehens. 
Di«  „psyehisehe  Sltution". 

Die  Beobachtungen,  welche  mir  den  Anstoss  zur  vor- 
liegenden Arbeit  gaben,  hat  jedermann  gemacht:  wie  ver- 
schieden wir  uns  zum  Beispiel  Büchern  gegenüber  verhalten! 
Das  eine  nehmen  wir  mit  der  grOssten  Leichtigkeit  durch,  da 
ist  uns  bald  dieser  bald  jener  Satz  längst  „auf  der  Zunge 
gelegen",  früher  oder  später  hätten  wir  ihn  sicher  selbst  ge- 
schrieben, wir  werden  beim  Lesen  warm  wie  beim  Selbstr 
produzieren,  der  flüchtige  Blick  auf  ein  Wort  genügt,  um 
uns  den  Inhalt  ganzer  Sätze  erraten  zu  lassen  und  schliessUch 
legen  wir  das  Buch  ebenso  erleichtert  zur  Seite,  als  hätten 
wir  uns  etwas  vom  Herzen  geschrieben  Ein  anderes  kostet 
Mühe;  wir  können  uns  nicht  gleich  in  den  Verfasser  hinein- 
denken, wechseln  in  Gedanken  öfters  den  Standpunkt,  um 
die  Sache  so  zu  sehen  wie  er,  müssen  manche  Stelle  Wort 
für  Wort  und  wiederholt  lesen,  schliesslich  werden  wir  müde 
und  zerstreut  und  raten  uns  eine  Pause  an. 

Ein  Buch  ist  uns  aus  der  Seele  geschriebeo,  ein  anderes 
.sagt  uns  nichts";  das  eine  verzeichnen  wir  als  Labsal,  Herz- 
stärkung, Erlösung,  das  andere  „lässt  uns  kalt".  Diese  beiden 
Verbaltungsweisen  sind  für's  Empfinden  derart  verschieden. 


iM,Coo<^lc 


Yerstehen  nnd  Begrafen.  135 

dasa  man   leicht  dazu   gelangt,    sie  bewusst   zu   uater- 
scheideu. 

Einmal  aufioerkaam  gemacht,  werden  wir  diesen  Uater- 
schied  dann  auch  in  den  weniger  aufdringlichen  Fällen  gewahr, 
das  ist  namentlich  Kunstwerken  gegenüber,  wo  unser  Interesse 
mannigfaltig  ist  nnd  leicht  fUr  das  eine  ein  anderes  eintreten 
kann.  JESn  Gemälde  entzQckt  noch  ehe  wir  uns  sagen,  warum, 
beim  anderen  haben  wir  Mühe,  uns  durch  eifrige  Beflexion 
zu  einem  „kalten  Terständois"  zu  bringen.  Bei  dem  einen 
HusikstUck  lassen  wir  uns  „ausströmen",  ein  anderes  „findet 
nicht  den  Weg  zu  unserem  Herzen".  Aber  auch  bei  ganz 
kurzen  Äusserungen  anderer,  bei  Aphorismen,  Sinnsprüchen, 
Lebensregeln  n.  dgl.  fällt  jenes  zweifache  Verhalten  auf. 

Die  Sprache  ist  —  nunentUob  fttr  das  „wuue"  VeThMtiÜB  —  reich 
an  koaventiODellen  Phrasen,  von  denen  im  vorhergeheDden  einige  unter 
Anfnhi-aiigszeicben  gesetzt  wurden,  nnd  in  welchen  eich  viel  richtige  Be- 
obaohtOD^  objektiviert  hat  Ton  der  nohligea  Einsicht  in  die  Bedingungen 
des  YeTsändnisaes  zengen  aoch  zahlreiche  Steilen  bei  unBern  besten  Schrift- 
steilem (F^cst'h  NachtgespAch  mit  Wagner;  Sciülles:  Willst  du  die  andern 
Teistetu  ....);  man  fbdet  dieselben,  ao  gut  es  mit  den  Mitteln  einer  nn- 
wissenschafUichen  Psychologie  geht,  beschrieben.  Und  auch  die  Bezeichnong 
ist  zienlich  regelmässig,  indem  für  jenes  Terhältnis  zumeist  „verstehen" 
angewendet  wird;  '  daneben  kommt  aber  in  der  nämlichen  Bedentang  auch 
.begreifsn*  vor.  und  nicht  anders  ist  es  bei  den  philosophisaben  Schrift- 
steilem.  Sie  zeichnen  zwar  unser  Verhältnis  bewnssterweise  aus,  beschreiben 
es  eingaliend,  benennen  es  aber  jeweils  verschieden'). 

"Was  ZU  einer  Untersuchung  über  das  Verstehen  ver- 
lockt, ist  auf  den  ersten  Blick  klar.  Wer  je  die  Annehmlichkeit 
des  „Anfgehens  im  Verständnis"  genossen,  fUblt  leicht  das 
Bedürfnis  nach,  die  Q-ründe  dieser  Annehmlichkeit  zu  er- 
forschen. Und  em  flüchtiger  Qedanke  an  den  Menschen,  als 
ein  der  Verständigung  bedürftiges  Wesen,  an  die  Probleme 


')  „Nur  sich  selbst  versteht  man  ganz,  andere  narhalb.  Denn  man 
kann  es  höchstens  znr  Oemeinsoboft  der  Begriffe  bringen,  nioht  aber  zu  dei 
diesen  znm  Orande  liegenden  ansahanliohen  Auffassong."  (Suhofsnhauer, 
FiKEROi  nnd  Fabujpomkva  II.  §  6;  ähnlich  g  7  und  §  18.)  Dagegen  Hakt- 
lum,  Phil.  d.  Cnb.  S.  200:  „Oefiihte  kann  überhaupt  nur  begreifen, 
wer  sie  gehabt  hat;  nur  ein  Hypochondriat  versteht  einen  Hypochondriaten, 
nur  wer  schon  geliebt  hat,  einen  Verliebten.'  Bier  wird  in  der  nämlichen 
Stelle  begreifen  nnd  verstehen  für  ganz  dasselbe  Verhältnis  gebraucht.  Doch 
ist  „VerBtflhen"  hieffir  entschieden  häufiger  im  Qebrauoh.  „Begreifen"  und 
„begreiflioh*  gebrancht  die  ümgangsspraohe  gern  bei  Handlangen. 


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136  Heimann  Swobods: 

dea  Unterrichts,  an  alle  Arten  kOnstlerischer  Mitteilung  macht 
vorläufig  eine  hinreichende  Vorstellung  von  der  Wichtigk^t, 
über  das  Wesen  des  Verständnisses  etwas  auszumachen, 
nicht  bloss  zur  Befriedigung  des  Erkenntnistriebes,  sondern 
vielleicht  auch  zur  Bereicherung  und  VerbessGrung  der  Praxis. 

Sucht  man,  um  Über  den  zu  behandelnden  Gegenstand 
einen  Überblick  zu  gewinnen,  für  ajle  Fälle  des  Versteheos 
einen  zusammenfassenden  Ausdruck,  so  findet  man  auf  der 
einen  Seite  immer  ein  menschliches  Individuum  and  auf  der 
anderen  —  kurz  gesagt  —  Äusserungen  eines  solchen.  Der 
Begriff  dieser  wird  natürlich  nicht  auf  die  vom  lebendigen 
Organismas  ausgehenden  zu  beschränken  sein,  sondern  auch 
alles  Sinnfällige  umfassen,  worin  sich  Spuren  menschlichen 
Geistes  erhalten  haben,  also  den  „objectiven  Qeist".  Und 
man  könnte  danach  als  den  Gegenstand  der  folgenden  Unter- 
suchung bezeichnen  das  Verhältnis  eines  Menschengeistes  zu 
anderen,  oder  mit  BUcksicht  darauf,  dass  wir  vom  Geiste 
anderer  nur  durch  das  Kenntnis  erlangen,  worin  er  sich  ab- 
und  ausdrückt,  die  Wirkung  der  Ausdrucksmittel,  wobei 
natürlich  Aasdrucksmittel  nicht  in  dem  engeren  Sinne  zu 
nehmen  ist:  Mittel,  mit  dem  man  ausdrücken  will,  sondern 
allgemeiner,  wodurch  etwas  von  der  Psyche  des  Individuums 
zum  Ausdruck  kommt,  es  mag  ihm  selber  vielleicht  — 
wie  bei  Kunstwerken  —  zeitlebens  zum  Teil  nnbekaant 
bleiben,  was. 

Die  Gliederung  der  Untersuchung  wäre  nun  leicht  durch 
die  folgenden  Fragen  gegeben: 

1.  Was  kann  alles  Gegenstand  einer  Äusserung  werden? 
(Gedanken,  GefUhle  u.  s.  w.)- 

2.  Womit  kSnnen  wir  dies  alles  ausdrücken,  oder  vor- 
sichtiger: Was  fUr  Ausdrucksmittel  stehen  uns  hierfür 
zu  Gebote  (Geberden,  Sprache,  Musik,  Mittel  der 
darstellenden  Künste  u.  s.  w.)? 

3.  Wie  kommt  der  Ausdruck  zustande  (Theorie  des 
Ausdrucks)? 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^le 


Terstehen  and  Begreifen.  137 

4.  In  velchem  VerhBJtnis  kann  ein  zweites  Individunm 
zu  einem  „Ausdrack"  stehen? 

5.  Wie  bewirkt  der  Ausdruck  Eindruck?    (Q^rade  des 
Verständnisses). 

Mit  der  Beantvortung  dieser  Fragen  'wVire  das  Ver- 
hältnis zvischen  den  geisügen  Indiriduen  erschöpfend  be- 
bandelt. 

Ich  babe  jedoch  nicht  die  Absicht,  den  G-ang  der  Unter- 
suchnag  nach  diesen  Fragen  einzurichten.  Zveokentsprechen- 
der  dürfte  es  sein  und  gleich  die  Praxis  zur  eigenen  Theorie, 
wenn  ich  meinen  Gedankengang  mit  „ausschweifender 
Redlichkeit"  wiedergebe.  Kaidi  Schopenhauers  treffendem 
Ausdruck  ist  man  ja  doch  nur  „Q^egenheitsdenker'*.  Will 
man  fUr  seine  Gedanken  Propaganda  machen,  so  ist  es 
darum  gut,  die  Gelegenheiten,  bei  denen  man  auf  etwas 
gekommeu  ist,  nicht  zu  Terbehlen,  und  auf  diese  Weise 
sowohl  Zustimmung  als  Widerspruch  zu  erleichtern. 

Betrachten  wir  nun  zuerst  das  Verhältnis,  welches  wir 
zn  einzelnen  Sätzen  wie  Aphorismen,  Maximen  u.  drgl.  ein- 
nehmen kSnnen.  Die  Selbstbeobachtung  ergibt  hierüber,  wie 
gleich  anfangs  bemerkt,  ein  Zweifaches,  zwei  extreme  Ver- 
baltungsweisen,  zwischen  welchen  man  jedoch  offenbar  einen 
stetigen  Zusammenhang  anzunehmen  genOügt  Ist  Man  konnte 
die  beiden  BezeichnuDgen  der  Laiensprache,  welche  ein 
physiologisches  Begleitmoment  sebrrichtigbetonen,  akzeptieren, 
and  von  einem  „warmen"  nnd  „kühlen"  Verhalten,  von  warmer 
und  kühler  Auftiahme  eines  Satzes,  eines  Ausdruckes  u.  drgl. 
sprechen.  Warm  und  kühl  sind  in  dieser  Bezeichnung  keines- 
wegs bildlich  zn  nebmeo.  Suchen  wir  indessen  nach  anderen 
beschreibenden  Momenten  unseres  „warmen"  Verhaltens,  so 
mOssenwir  der  Erleichterung  gedenken,  die  uns  ein  Dictum 
bereitet,  welches  wir  voll  „verstehen".  Wir  fUhlen  uns  durch 
das  glückliche  Wort  eines  anderen  häufig  befreit,  erlöst. 
Besonders  charakteristisch  aber  ist  oft  fUr  unser  „warmes" 
Verhalten  dessen  plÖUlicber  Eintritt.  Manche  Sätze  haben 
wir  dutzendemale  in  unserem  Leben  gehört,  gelesen,   ohne 


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138  Hermann  Svoboda: 

TOQ  ilmea  besonders  ergriffen  gewesen  zu  sein,  bis  sie  una 
eines  Tages  „bei  guter  Oelegenlieit"  einfallen,  and  nun  erst 
in  „ihrer  vollen  Tragweite  bewnsst  werden",  „die  Wncht 
einer  "Wahrheit"  für  uns  gewinnen.  „Jetzt  erst  versteh'  ich", 
sagen  wir  dann  häufig  in  solchen  Lagen  und  konstatieren 
hiermit,  wie  sich  der  frflhere  Zustand  vom  gegeBwärtigen 
abhebt  ■);  der  QefOhlsimtersctiied  der  "beiden  Verhaltimgs- 
weisen  ist  so  gross,  der  Unterschied  zwischen  dem  Unbehagen 
des  Halb-Yerstehens  und  dem  lebhaften  Lustgefühl  des  vollen 
Verständnisses,  daas  er  zu  jenem  unwillkürlichen  Ausruf 
drängt.  Auch  der  Ausruf  ist  bedeutsam,  wenn  jemand  nach 
längerem  Nachdenken  freudig  ausbricht:  „Jetzt  geht  mir 
ein  Licht  auf!"  und  des  weiteren  zu  beachten,  wie  sich  bei 
diesen  Worten  seine  ZUge  klären,  ja  eiae  strahlende  Freudig- 
keit annehmen  können.  Beispiele  fllr  einen  so  plötzlichen, 
gelegentlichen  Wandel  des  Verhältnisses  zu  Aussprüchen 
u.  drgl.  kennt  jeder  aus  eigener  Erfahrung,  der,  mit  gutem 
Gedächtnisse  begabt,  aus  seiner  Jugendzeit  manches  Tiefe 
behalten  und  unverstanden  mit  sich  getragen  hat,  bis  er  mit 
reifereu  Jahren  und  vielseitiger  Erfahrung  dazn  kam,  dem- 
selben einen  Sinn  zu  unterlegen.  (Horaz-Lekttlre  und  noch 
manche  andere  Q-ymnasiallektürel) 

Allein  nicht  nur  den  Aussprüchen  anderer  gegenüber 
kann  ein  solches  doppeltes  Verbalten  Platz  greifen.  Vielmehr 
kommt  es  sehr  häufig  vor,  dass  wir  beim  Durchlesen  eines 
älteren  Manuskriptes  oder  besonders  erster  Einfälle,  Ski^ea 
auf  Grund  dunkler,  halbreifer  Ideen  sehr  ratlos  sind  und  uns 
manchmal  trotz  grosser  Mühe  nicht  in  die  Lage  hinein- 
versetzen können,  in  der  wir  jenes  geschrieben,  bis  uns  dann 
auf  einmal  beim  Anblick  eines  Gegenstandes,  eines  Boches, 
einer  Person,  einer  Eleinigkeit,  die  uns  auch  damals  ange- 
regt hat,  alles  wieder  klar,  ja  selbstverständlich  wird.  Man 
kann  also  wie  einen  andern,  auch  sich  selbst  zu  Zeiten  nicht 

')  Eine  Beibe  feiner  Deobaohtongen  bei  Eari  lAnge  (Über  A[)per- 
ception.  Eine  psydiologtsob-pädagogisobe  Monographie.  6.  Anfi.  Leipiig 
1899  S.  13  ff.,  S.  30). 


iM,Coo<^lc 


Terateheo  aad  Begreifan,  139 

versteheD,  schlecht  verstehen  und  wieder  ganz  verstehen, 
und  was  aus  diesem  Fall,  in  welchem  wir  Mitmensch  und 
Ich  in  einer  Person  sind,  klar  erhellt,  ist:  Zum  Verstehen 
muss  man  in  der  „gleichen  psychischen  Situation" 
sein,  in  welcher  das  zu  Verstehende  gesprochen, 
geschrieben,  getan  wurde. 

Die  Bezeidmong  .psychieche  Situation"  beabsiobtige  iob  keines - 
we^  als  Tenninoa  einzofahreD:  für  eine  ganze  Reihe  von  fUleo  würde  sieb 
weit  mekr  die  Bezeichnnng  „innerer  StandpanlEt"  eignen.  Oenao  so. 
wie  wir  im  Terrain  nns  so  oder  anders  stellen  mässen,  um  einen  Wald  in 
gewisser  Perspektive  eq  sehen,  in  gewisser  Beliobhing  o.  s.  w.,  so  nehmen 
wir  anch  beim  Denken,  ja  beim  abatratteateQ,  einen  Standpanbt  ein,  was 
nns  beeondeiB  antf&llig  werden  kann,  wenn  wir  denselben  wechseln.  Die 
BazeiohDQDg  Standponkt  von  unserem  Denken  ist  keineswegs  bildlich  zu 
nehmen.  "Wir  stetlen  ans  beim  Denken  tatsächlich  unter  unsere  Tor- 
stellnugen,  gruppieren  sie  um  ans,  ändern  den  Oesiohtswinkel,  stetlen  ncB 
näher,  weiter,  oberhalb,  unterhalb;  wenn  wir  etwas  verstehen  wollen, 
probieren  wir  verwihiedene  Standpunkte  in  Gedanken  ans-,  es  ist  laicht  zu 
beobachten,  wie  sich  den  geistigen  Bemühnngon  um  das  Verständnis  eines 
Satzes,  um  die  ßewinnung  des  richtigen  Standpunktes  körperliche  Gefühle 
asaoEÜeren,  ganz  ähnlich  denen  bei  Verrenkungen  und  Verdrehungen,  dje 
schwierige«  Beobachten  notwendig  macht.  Man  denke  übrigens  an  die 
ADstrengongsgefShle  in  den  Angen  bei  länger  anhaltendem  abstrakten 
Denken.  Freilich  sind  die  individuellen  unterschiede  im  Voistellen  beim 
Denken,  dio  Unterschiede  der  .mental  imagery",  erwiesenermassen  überaus 
gross,  und  eben  deshalb  ihre  Mitteilung  tn  vielen  I^len  sicher  ganz  un- 
mSglich.  Allein  gerade  dieser  Umstand  ist  für  die  Zwecke  unserer  Uuter- 
suidiDttg  von  der  grössten  Bedeutung,  weil  dadurch  in  einer  Reihe  von 
Aassagen,  die  sich  sehr  objektiv  geben,  ein  subjektives  Moment  aufgezeigt 
wird,  welches  das  VeratSndnis  bedentend  erschwert  nnd  zwar  umso  sicherer, 
als  sein  Torbandensein  nicht  vermutet  wird. 

Mit  dem  Erfordernis  der  „gleichen  psychischen 
Situation"  ist  fUr  das  VoUverstehen  eine  rein  formale  Be- 
dingung aufgestellt,  und  es  wird  Aufgabe  des  Folgenden 
sein,  den  Inhalt  derselben  näher  zu  bestimmen.  Vorerst 
mögen  jedoch  einige  Bemerkungen  Platz  finden,  welche  die 
Bedeutung  dieses  Elrfordemisses  ins  rechte  Licht  rücken. 
Die  „gleiche  psychische  Situation"  ist  noch  nicht  das  Ver- 
stehen selbst.  Verstehen  ist  ein  ßelationsbegriff.  Verstehen 
ist  die  Anerkenntnis,  dass  ein  fremder  Ausdruck  unserem 
momentanen  geistigen  Inhalt  gerecht  wird.  Wenn  wir  etwas 
ganz  verstehen,  sagen  wir  gern:  Besser  hätte  ich's  auch 
nicht  ansdrOcken  können.    Man  könnte  danach  auch  formu- 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


140  HarmaiiD  Swoboda: 

lieren:     Yersteben    beisst,    fremden    Ausdrnck    fDr 
eigenes  Auszudrückendes  adäqnat  finden. 

Femer  sei  darauf  hingewiesen,  dass  das  Erfordernis 
der  „gleichen  psychischen  Situation"  zum  Zwecke  des  Voll- 
Terstehens  zwar  immer  besteht,  dass  es  aber  nicht  immer 
schwer  zu  erfüllen  ist  Die  „psychische  Situation",  deren 
Ausdruck  irgend  ein  Diktum  ist,  k&nn  sehr  einfach,  jedermann 
zugänglicb  sein,  wie  zum  Beispiel  bei  Wahmehmungsurteilen. 
Aber  auch  hier  kOnnen  schon  sehr  bezeichnende  Fälle  von 
Nicht-Verstehen  eintreten.  Wenn  wir  mit  jemand  an  einem 
Wasserfall  stehen  und  er  zitiert  plötzlich:  „Des  Menschen 
Seele  gleicht  dem  Wasser  .  .  .  .,  so  werden  wir  das  nicht 
aufß,llig  finden,  uns  gleich  in  ihn  hineindenken,  ihn  verstehen, 
indem  wir  uns  die  Stimmung,  welche  zu  jenem  Ausspruch 
und  zum  ZitJeren  desselben  notwendig  ist,  ohne  Mühe  nach- 
scbafTen.  Gesetzt  jedoch,  es  zitierte  jemand  obige  Stelle 
auch  einmal  während  einer  Tarokpartie,  so  würden  wir  nur 
ganz  herkömmlich  handeln,  wenn  wir  ihn  verwundert  an- 
sehen und  in  die  Worte  ausbrechen:  Was  hast  Du?  leb 
versteh  Dich  gar  nicht.  Hier  wird  es  uns  eben  schwer, 
wenn  nicht  unmöglich,  uns  in  die  psychische  Situation  des 
anderen  ohne  Anleitung  hineinzudenken.  Der  war  vielleicht 
gerade  unaufmerksam,  in  Gedanken  bei  einem  Wasserfall, 
den  er  vor  Jahren  sah,  etwa  angeregt  durch  das  Bild  auf 
einer  Tarokkarte;  allein  in  alle  diese  Voraussetzungen  semes 
sonst  ganz  klaren  Zitates  können  wir  nicht  sofort  —  ebne 
Anleitung  —  nach.  Es  handelt  sich  also  hier  nicht  um  das 
Verstehen  des  Zitates,  sondern  des  Zitierens.  Wir  verstehen 
mithin  etwas  erst  dann  ganz,  wenn  wir  fUr  das  Was  und 
das  Warum  die  zureichenden  Gründe  kennen  und  daraus 
ergibt  sich  als  erste  Definition  der  „psychischen  Situation": 
Die  „psychische  Situation"  ist  der  Inbegriff  aller 
psychischen  Elemente,  welche  wir  für  einen  ge- 
gebenen Ausdruck  nach  Inhalt  und  Akt  als  zu- 
reichenden Grund  anerkennen.  Der  zureichende  Grund 
für  einen  Ausdruck  nach  der  Seite  des  Inhalts  ist  nur  das 


iM,Coo<^le 


Tent«hen  and  B^reifBa.  141 

korrespondierende  fMordemis  zur  Adäqnatheit  des  Auadmcks; 
der  Ansdrack  ist  adäquat,  wenn  das  Auszudrückende  daflir 
zareichender  Grund  ist  und  umgekelui.  Die  Eonstatiening 
dieses  Verhältnisses  ist  freilich  ganz  und  gar  Sache  des 
snbjektiven  Ermessens,  des  Gefühls.  Man  frage  jemand,  der 
an  einer  Stelle  henunfeilt  und  sich  nach  vier-,  fünfmaliger 
Änderung  mit  grttsster  Sicherheit  fOr  eine  plctzlich  einfallende 
sechste  Wendung  entscheidet,  nach  den  Gründen  seiner  Ent- 
scheidung. £r  wird  an  das  „Gefühl"  appellieren.  In  diesem 
Gefülil  der  Leichtigkeit,  gleichsam  der  Behebung  einer  Yer- 
stopfang  im  Gehirn,  erkennt  man  leicht  das  oben  als 
Charakteristikum  des  Voll-Verstehens  angegebene  wieder. 
Es  ist  für  die  Entstehung  dieses  GefUhls  ganz  gleichgültig, 
ob  wir  für  etwas  nach  längerem  Suchen  selber  einen  Ausdruck 
finden  oder  ob  wir  einen  fremden  adäquat  finden.  Auch  der 
diesem  Gefühl  eigentümliche  Kontrast  zum  Toraufgehenden 
Zustand  ist  ganz  der  gleiche.  Daher  unsere  lebhafte  Be- 
friedigung, wenn  wir  die  Lösung  einer  Frage,  eines  Problems 
vernehmen,  über  welches  wir  selbst  schon  nachgedacht 
haben,  wenn  wir  ein  Buch  zur  Hand  nehmen,  in  welchem 
eines  von  unseren  Lieblingsthemen  behandelt  wird,  in  welchem 
Fall  wir  dann  für  jedes  glückliche  Wort  das  feinste  Ver- 
ständnis haben  und  dem  Autor  dafür  desto  dankbarer  sind, 
je  mehr  wir  den  Dank  uns  selber  schulden,  vonwegen  der 
guten  Vorbereitong,  mit  der  wir  an  die  Lektüre  gegangen  sind. 
Das  BrfordemiB  der  gleichen  psychischen  Situation, 
faiess  es  oben,  besteht  zwar  durchgängig,  allein  es  ist  nicht 
immer  schwer  zu  erfüllen.  Je  subjektiver  die  psychische 
Situation,  desto  schwieriger  ihre  absichtliche  Nachschafiiing 
in  einem  anderen  Subjekte.  Wo  unter  die  zureichenden 
Gründe  emes  Ausspruches  z.  B.  eine  gewisse  Stimmung 
gehurt,  wie  hei  vielen  Aphorismen  —  „Gedanken  als 
Stimmung",  wie  sie  Blehl  treffend  nennt  —  da  heisst  es  eben 
dieser  Stimmung  habhaft  werden;  wer  Ober  ein  ziemliches 
Bepertoire  solcher  verfügt,  dem  mag  es  vielleicht  durch 
Herumstifbem  in    denselben  und   versuchsweises  Anpassen 


iM,Coo<^lc 


142  HerinaDii  Swoboda: 

und  Unterlegen  gelingen,  diejenige  zu  finden,  in  welcher  jener 
Aphorismus  für  ihn  einen  Sinn  hat.  Bei  längeren  Schriften 
sorgt  oft  das  Vorausgehende,  dass  mau  in  jene  Stimmung 
kommt,  aus  welcher  das  Folgende  geschrieben  ist  Der 
Verfasser,  der  Redner,  welcher  Gelegenheit  hat,  den  Leser, 
den  Zuhörer  erst  in  einem  gewissen  geistigen  LokaJ  heimisch 
zu  machen,  mit  seinen  eigenen  Vorstellungen  anzufüllen, 
auf  seinen  Standpunkt  hinUherzuleiten,  wird  viel  eher  Ver- 
ständnis erzielen,  als  ein  anderer  mit  etlichen  uneingeleiteten, 
wenn  auch  noch  so  leidenschaftlichen  Sätzen.  Allein,  so 
wenig  derartige  Sätze  geeignet  sind,  Verständnis  zu  erzielen, 
so  machen  sie  doch  einen  umso  klareren  Begriff  vom  Wesen 
des  Verständnisses.  Gerade  diese  schwierigen  Fälle  muss 
man  heranziehen,  um  das  Problem  des  Verstehens  zu  ver- 
stehen. Da  ist  einem  an  einer  Sentenz  „alles  klar",  etwa 
auch  noch  „nichts  Besonderes  daran",  bis  man  bei  anderer 
Gelegenheit  merkt,  man  habe  sie  damals  doch  nicht  ganz 
verstanden;  und  dies  kann  sich  ßfter  wiederholen,  ohne  dass 
wir  mit  absoluter  Sicherheit  anzugeben  vermöchten,  wann 
wir  ganz  „hinter  etwas  gekommen  sind".  So  wertvoll  nun 
auch  offenbar  das  Voll-Verstehen  ist  —  schon  die  dasselbe 
begleitenden  GefUhle  sind  ja  nur  ein  Ausdruck  seines  vitalen 
Wertes  —  liegt  es  doch  sehr  oft  ganz  ausserhalb  unseres 
Beliebens,  bis  zu  demselben  vorzudringen  und  es  fragt  sieh 
daher,  was  uns  alsdaim  für  ein  Surrogat  zur  Verfügung  steht. 
Wenden  wir  uns  indes  der  näheren  Charakterisierung 
der  psychischen  Situation  zu.  Um  etwas  zu  verstehen,  muss 
man  in  der  gleichen  psychischen  Situation  sein,  hiess  es  erst 
Ein  späterer  Satz  hat  diese  Aufstellung  insofern  berichtigt, 
als  er  zum  Verständnis  eines  Ausdruckes  nur  das,  aber  auch 
alles  das  forderte,  was  auf  seite  des  Ausdrückenden  not- 
wendig war,  damit  er  sich  so  ausdrücke  und  nicht  anders, 
also  alle  Teilbedingungen  des  Ausdrucks.  Dass  die  Summe 
dieser  Teilbedingungen  für  den  Ausdruck  zureichender  Grund 
sei,  dafür  haben  wir  kein  anderes  Kriterium  als  unser  Gefühl; 
doch  dürfte  dies  der  Evidenz  des  Verhältnisses  kaum  schaden. 


iM,Coo<^lc 


Tersl^en  und  Begrei&D.  143 

Uater  „psychischer  Situation"  haben  wir  aleo  von  allen 
im  Bewu^teein  gleichzeitig  anwesenden  Elementen  nur  jene 
zu  verstehen,  von  denen  keines  fehlen  konnte,  ohne  den 
Ausdruck  zu  alterieren.  Es  lässt  sich  hier  die  Differenz- 
methode des  Experimentierens  in  einem  Falle  der  Selbst- 
beobachtung mit  so  angenscheinliehem  Nutzen  anwenden, 
dass  es  gar  nicht  verwegen  erscheint,  an  die  Ausbildung  einer 
experimentellen  Selbstbeobachtimg  in  diesem  Sinne  zu  denken. 
Erkläre  ich  z.  B.  ein  lyrisches  Gedicht  erst  zu  verstehen, 
nachdem  ich  bei  Gelegenheit  eine  bestimmte  Erfahrung  ge- 
macht oder  einer  feinen  Stimmung,  einer  seltenen  Gefühls- 
nuance habhaft  geworden  hin,  so  erkläre  ich  hiermit  diese 
Erfahrung,  diese  Stimmung  u.  s.  w.  als  notwendige  Bedingung 
der  Entstehung  des  Gedichtes.  Ich  konzipiere  es  in  dieser 
Stimmung  nach,  ich  fühle,  wie  es  aus  dieser  Stimmung,  aber 
auch  nur  aus  dieser  mfiglich  ist,  ich  kann  die  psychische 
Situation  keinen  Augenblick  in  Gedanken  ändern,  ohne  mich 
zu  überzeugen,  dass  es  in  emer  andern  unmdglich  ist  Etwas 
verstehen  heisst,  es  selbst  sagen  kOnnen,  mit  voller  Über- 
zeugung, aus  tiefstem  Herzen;  solange  wir  das  nicht  können, 
fehlt  uns  eine  der  erwähnten  Teilhedingungen.  Freilich  ist 
auch  der  Fall  denkbar,  dass  solche  Teilbedingungen  nicht 
auf  seit«  des  Lesers,  Hörers,  sondern  des  Autors  fehlen, 
dass  man  also  mehr  „herausholt"  als  hineingelegt  ist. 

Bevor  wir  m  die  Behandlung  der  Teübedingungen  ein- 
gehen, seien  noch  einige  Hlustrations^lle  erwähnt.  Eine 
wissenschaftliche  Erkenntnis,  z.  B.  einen  Satz  der  Mechanik, 
hält  man  gemeiniglich  dann  für  verstanden,  wenn  man  eine 
klare  Vorstellung  von  den  Thatsachen  und  Beziehungen  hat, 
welche  in  demselben  zum  Ausdruck  kommen.  AUein  man 
kann  zu  einem  solchen  Satz  doch  noch  in  ein  anderes  Ver- 
hältnis treten.  Wer  z.  B.  im  Laufe  einer  historischen  Dar- 
Btellung  allmählich  dazu  gelangt,  sich  in  den  geistigen  Inhalt 
seines  Entdeckers  zu  versetzen,  in  die  individuellen  Geistes- 
verhältnisse,  denen  der  Satz  entwachsen,  so  dass  er  ihn 
schliesslich    selber   zu   entdecken   meint,  oder  der  Schüler, 


iM,Coo<^lc 


144  SermkikD  Siroboda: 

■welchem  der  Lehrer  nur  Thatsachen  vorführt,  aus  welchen 
er  ihn  selber  etwas  zu  finden  anleitet,  diese  beiden  werden 
jenen  Satz  doch  noch  anders  verstehen;  sie  haben  ihn  am 
Ende  eines  längeren  Gedankenganges,  sie  haben  ihn  not^ 
wendig,  er  wird  für  sie  ein  Erlebnis,  ein  Ereignis,  und  die 
Erfahrung  lehrt,  dass  solcherart  erworbene  Kenntnisse  im 
Gedächtnisse  wie  eigene  geistige  Errungenschaften  haften'). 
Wer  einen  Gedanken  so  versteht,  ist  dem  Schöpfer  desselben 
gleich;  er  macht  die  Wonne  des  Konzepts  mit,  die  Pein  des 
Problems  und  die  Freude  der  Erlösung. 

Um  also  einen  Gedanken  quasi  erstmalig  zu  haben  und 
voll  zu  verstehen,  ist  mehr  notwendig,  als  sich  ihn  anzu- 
demonstrieren,  begreiflich  machen  zu  lassen.  Worin  dies 
mehr  besteht,  das  klarzulegen,  wäre  Aufgabe  einer  psycho- 
logischen ErkenntnisÜieorie,  oder  wenigstens  einer  Psycho- 
logie des  Erkennens. 

Das  grosse  agens,  dem  wir  alle  Wissenschaften  zu 
danken  haben,  ist  das  intellektuelle  Unbehagen,  welches 
allem  Unklaren,  allem  Problematischen  anhaftet').  Der  Ge- 
danke, der  uns  von  diesem  Unbehagen  befreit,  hat  daher  im 
Verhältnis  zu  uns  eine  vitale  Bedeutung,  er  ist  eine  Art 
Serum,  welches  unsere  Psyche  zu  Selbstheüungszwecken  ab- 
sondert und  er  hat  daher  diese  Bedeutung  nur  für  den, 
welcher  am   entsprechenden  Probleme    krankt.     Wen   man 

*)  Stedthai,  (Uaber  die  Arten  ond  Forme&  der  iDterpretatioB,  Tet- 
bandloDgen  der  32.  Tcraammlong  denfacher  Philologen  und  Sohnlmänner  in 
Wieabaden  1877)  nennt  dies  das  „pliilologisohe  Yeratehen"  im  Gegoostt» 
mm  , gemeinen  Verstehen",  weil  er  lutaptsaohlioh  inf  die  „kftmtliohe 
Herbei^  rung*  der  Bedingungen  desselben  das  Augenmeib  riohtet,  wie  sie 
beim  Terstehen  antiker  Schrißen,  Kunstwerke  allerdings  kaom  za  vermeiden 
sein  wird.  Auch  geniale  Einblicke  müssen  auf  diesem  Gebiete  dnnb  g4- 
flissentliohes  Einleben  mögtiob  gemacht  werden. 

*)  Siehe  Mach,  die  Analyse  der  Empfindongen.  2.  Aofl.  Jena  1900, 
S.  809.  „Alle  Wissenschaft  geht  daranf  ans,  Thatsachen  in  Qedanken  dar- 
zustellen, entweder  zu  praktischen  Zwecken  oder  zur  Beseitigiuig  des  io- 
tallektnellea  Unbehagens.  Die  praktischen  Zweoke  fähren  aber  anoh  auf 
ein  impnlsiTes  Unbehagen  zorflck.'  Hack  berührt  sieh  hier  eng  mit  Are- 
naiins,  der  als  den  Ausgangspunkt  unseres  gesamten  theoretisohen  nad 
praktisohen  Verhaltens  die  „TitaldiSerenz*  annimmt,  ein  Begriff,  waloher 
in  den  meisten  ElUleu  ganz  gatdnroh  .Unbehagen"  wiedergegeban  werdw  kaan. 


iM,Coo<^le 


al^  durch  Vorhalten  der  fraglichen  Thatsachen  mit  dein 
Probleme  infizieren  kann,  dem  kann  man  auch  ein  volleä 
Verständnis  seiner  LöBung,  des  wissenschaftlichen  Satzes 
täcfiera. 

So  iit  snm  Tentändtui  dues  Phltt»opben  die  Eenntnis  Beiner  Vor- 
ginger  Boveit  notwendig,  als  Beina  Philosophie  doroh  die  LeiatnogeD  seiner 
TorgSnger  bedii^  liit.  Oder  *en  nicht  der  aubjektive  Idealismne  znr  Ter- 
nrcänng  gebradit  hat,  den  wird  AvoQEirius'  Tersiioh  (Der  mensohtiohe 
Weltbe^iff,  Lupsg  1891)  mit  demBelben  BarEoiSamenv  mobt  aoBprechen. 
LsDge  (K  a.  0.  S.  804)  kommt  bei  BrÖrtenuiK  der  Frage,  wie  in  der 
Schale  Intereflse  tn  erwecken  Bei,  zu  dem  Sohlossä:  .Es  müssen  Thatsachen 
rar  das  Cind  in  Probleme  verwandelt  werden  .  .  .  Anf  diese  Weise  buui 
anoh  dem  scheinbar  trcwkenaten  Unterriohtsftegenstande  jenes  spannende' 
Oeföhl  der  Tothudune  und  der  Enrertong  gedohert  werden,  das  den  apper- 
lipierenden  YoiBteUangeii  'die  reohte  StSrke  und  I,ebhaftigkeit  verleiht.* 

Im  Gebiet  der  Mathematik  und  Physik  unterliegt  das 
meist  keiner  grossen  Sch^erigkeit.  Denken  wir  an  den 
häufigen  Fall,  däss  ein  neuer  Gedanke  durch  das  plötzliche 
Zusammentreffen  zweier  anderer  im  Bewusstsein  entsteht 
(Newton),  so  ist  die  Genesis  dieses  Gedankens  in  jedem 
aufgeweckten  Individuum  leicht  zu  wiederholen,  Dass  man 
aber;  wie  gut  auch  immer  zum  Verständnis  eines  Gedantens 
präpariert,  doch  noch  nicht  in  den  vollen  Besitz  des  Aktivi- 
tätsgeftlhls  einrUckt,  welches  den  genialen  Erst-Denker  aus- 
zeichnet, ist  ohne  weiteres  klar.  Genau  genommen,  verstehen 
sich  zwei  Individuen  nur  dann  vollkommen,  wenn  sie  un- 
ablÄngig  von  einander,  von  den  nämlichen  Voraussetzungen 
ausgehend,  auf  den  nämlichen  Gedanken  kommen,  was  Sich 
auf  wissenschaftlichem  Gebiete  oft  genug  ereignet.  Allein 
man  hat  das  Gefühl,  dass  das  Voll-Verständnis,  das  quasi- 
schöpferische Verhältnis  zu  einem  wissenschaftlichen  Ge- 
danken ein  nicht  gerade  bedeutsamer  Idealfall  ist.  Und 
nicht  mit  Unrecht.  iMe  Sätze  der  Naturwissenschaften  sollen 
jedes  subjektiven  Einschlages  entbehren;  sie  sollen  Verhält- 
nisse der  Aussenwelt  zum  Abdruck  bringen,  die  jeder  nach- 
prflfen  und  nachkonstatieren  kann,  sobald  er  nur  darauf  auf- 
merksam gemacht  ist.  Eine  gewisse  Stufe  der  geistigen 
Entwiekelimg    ist    hier   natürlich   immer   vorausgesetzt;    es 

a.  Sodol.    xxvn.    i.  10 


iM,Coo<^lc 


146  HermaDD  SvobodS; 

wUrde  den  Gang  der  Untersuchung  zu  sehr  komplizieren, 
wenn  wir  dieses  Moment  näher  in  Betracht  ziehen  wollten. 

Sowie  es  bei  einem  Urteil  in  der  Wissenschaft  einmal 
darauf  ankommt,  wie  man  sich  „zu  der  Sache  stellt",  muss 
jeder  andere,  der  ein  solches  Urteil  verstehen  will,  sich  eben 
so  zur  Sache  stellen  können  und  wollen. 

In  den  Naturwissenschaften  lässt  sich  natürlich  am 
ehesten  Verständnis  erzielen  und  infolgedessen  —  was  von 
grösster  Wichtigkeit  ist  —  Übereinstimmung;  Wissenschaft 
—  wenn  sie  auch  in  dem  intellektuellen  Unbehagen  eines 
Individuums  ihren  Grund  hat  —  ist  doch  nur  das,  was 
mehrere,  viele,  womöglich  alle  zu  befriedigen  imstande  ist. 
Resultate  des  Denkens,  welchen  —  von  zeitweiligem  und 
psychologisch  wohl  begründetem  Widerstände  abgesehen  — 
dauernd  die  Anerkennung  versag  bleibt,  haben  mit  der 
Wissenschaft  nichts  gemein.  Die  Stabilität  der  Verhältnisse, 
denen  wir  uns  mit  unseren  Gedanken  anpassen,  sorgt  schon 
für  die  Ausscheidung  des  Unhaltbaren.  Daher  der  grosse 
Vorteil,  welchen  in  dieser  Beziehung  die  Naturwisseuschaften 
haben:  Sie  gestatten  immer  eine  Benifung  auf  die  allen  ge- 
meinsame Aussenwelt,  ihre  Begriffe  werden  durch  den  steten 
Verkehr  mit  dieser  einer  fortwährenden  Korrektur  und 
Läuterung  unterzogen,  die  nicht  einmal  unser  Zuthun  er- 
fordert: res  nolunt  male  intelligi. 

Wie  wenig  der  Mangel  an  Vollverständnis  in  den  Natur- 
wissenschaften ausmachen  kann,  sei  noch  an  dem  Beispiet 
der  sogenannten  intuitiven  Erkenntnisse  dargethan,  unter 
welchen  wir  eine  „Bereicherung,  Erweiterung,  Erg^Lnzung 
sinnlicher  Vorstellungen  durch  andere  sinnliche  Vorstellungen 
unter  Leitung  der  sinnlichen  Thatsache"  (Mach)  zu  verstehen 
haben,  z.  B.:  „Der  Baum  hat  eine  Wurzel.**  Solche  Urteile 
pflegt  man  gern  als  selbstverständlich  zu  bezeichnen,  was 
immer  so  viel  heisst  als:  Wir  können  uns  gar  nicht  vor- 
stellen, was  für  ein  Problem  durch  sie  zur  Ijösung  kommen, 
was  für  ein  intellektuelles  Unbehagen  durch  sie  behoben 
werden  soUte  oder  anders  und  einfacher:   wir  können   uns 


iM,Coo<^lc 


Teretehen  mid  Begreifen.  147 

nicht  vorstellen,  was  zu  einem  solchen  Urteil  drängt.  Die 
sinnlichen  VorstellungBelemente,  welche  eben  durch  ein  solches 
Urteil  produziert  werden,  genügen  vollständig  zu  seiner 
Verifizierung.  Dadurch,  dass  wir  sie  im  Urteil  schon  bei- 
sammen erhalten,  konunen  wir  nicht  mehr  dazu,  sie  selbst 
zusammenfügen  zu  müssen.  Allein  wir  kommen  in  diesem 
Falle  offenbar  nur  um  die  MUhe  und  nicht  um  den  Qewinn. 
Darin  liegt  die  grosse  ökonomische  Bedeutung  alles  Selbst- 
verständlichen. Darin  liegt  aber  auch  seine  Gefahr.  Im 
obigen  Beispiele  besteht  die  Erkenntnis  m  einem  einzigen 
zusammenfassenden,  Überschauenden  Blick  und  das  Urteil, 
welches  zu  diesem  Bück  anleitet,  verschafft  jedem,  der  mit 
den  nötigen  Beproduktionselementen  versehen  ist,  die  nämliche 
Erkenntnis.  Das  Urteil  schafft  hier  in  jedem,  der  es  hört, 
hest,  die  geistige  Situation,  aus  welcher  es  möglich  ist  und 
zwar  umso  leichter  und  sicherer,  als  es  sich  nur  um  gegen- 
ständliche Vorstellungen  und  nicht  um  Begriffe  handelt,  der 
Reproduktionseffekt  der  gebrauchten  "Worte  also  ein  ziemlich 
eindeutiger  ist  Sowie  jedoch  dies  letztere  nicht  zutrifft  — 
ein  Fall,  von  welchem  noch  ausführlich  die  Rede  sein  wird, 
so  ist  die  Gefahr  ßUschhchen  Verstehens-Meinens  sehr  nahe 
gerückt. 

Obwohl  es  nun  nach  dem  vorausgehenden  ein  geistiger 
Luxus  ist,  etwas  Selbstverständliches  zu  problematisieren,  so 
hat  dasselbe  doch  einen  grossen  Reiz  und  für  die  vorliegende 
Untersuchung  eine  grosse  Bedeutung.  In  keinem  Falle 
niUnlich  ist  man  Über  die  mannigfaltige  Verhaltungsmöglichkeit 
zu  einem  Urteil  so  frappiert,  als  wenn  man  irgend  etwas 
Selbstverständliches  auf  einmal  als  Problemlösung  „empfindet." 
Und  die  Art,  wie  man  dazu  kommt,  ist  ebenfalls  sehr 
charakteristisch. 

Mit  Absicht  ist  nändich  zu  diesem  Behufe  nichts  aus- 
zurichten. „Plötzlich"  sieht  man  die  Sache  so,  „zufällig" 
kommt  man  di^inter.  Die  Situation,  die  neue  geistige  — 
meist  ganz  kurz  und  vorübergehend  —  ist  von  unvergesslicher 
Charakteristik.    Der  Zufall  ist  in  seiner  Bedeutung  für  das 


iM,Coo<^lc 


14Ö  B»T»ilrafr  BHiiiiiil: 

^Isti^e  Finden  nicbt  zn  uBtersehätKeii.  Geiiau  so  yaie  jemand, 
ja  gaJize  Generationen  bei  diesw  oder  jener  Hantierung  einer 
technischen  Erfiadang  auf  ein  Haar  Äahe  ^aren^  bia  sich 
einmal  xnfilllig  die  Bedingungen  gBnstig  gruppierten,  tot  auch 
bei  neuen  Gedanken  oft  alleä  foa  einer  glßckUchen,  nichts 
weniger  als  planvollen  Vorst*llung3-Konsfellätion  abhängig, 
ton  einer  Begegnung  enöegener,  wildfremder  Vorstellung 
kömpleie,  die  durch  eine  Kleinigkeit  veranlasat  *ifd.  Wer 
einmal  in  einem  flolchen  Augenblick  plötslicber  £rleaehtung^ 
nach  einem  adäquaten  Ausdruck  gesucht  und  die  Unzuläng- 
lichkeit der  Tcrrhandenen  Ausdnicksmittel  gefohlt  hat,  der 
wird  Sich  in  Hinsicht  nicht  so  leicht  einbilden,  in  fremd© 
Ansichten  eingedrungen  zu  sein. 

i)ie  Bedeutung  einer  solchen  Vorsicht  wird  erst  das 
folgende  offenbaren,  wo  wir  von  deii  Schfrierigkeiten  des 
VoU-Verständnisses  und  seihein  höchst  mangelhaften  Efsata 
in  den  Geisteswissenschaften  reden.  Da  eö  sich  hierbei  haupt^ 
sächlich  um  die  BegriffsmiSfere  handeln  wird  und  damit  andere 
komplizierte  Fragen  auftauchen,  so  seien  an  dieser  Stelle 
einige  vorläufige  Bemerkungen  Ober  unser  mögliches  Ver- 
hältnis   zu    philosophischen    Ansichten    und    Schriften    ein- 


Es  Inon  aiemaitdeni,  der  di6  äntspracbönde  BftokfäehtsliMl^eit  g^en 
flieh  selbst  bestttt,  tntgeben,  an  welch  unscheinbare  Oelegenheilen  wir  oft 
nnsere  Gedanten  anknöpfen  and,  was  eist  recht  ins  Gewicht  tüli,  wie  innig, 
jft  nnavflisHch  diese  Seziehncg  zvischen  Gelegenheit  tud  GedsubennOSn  ksnn. 
Pas  tngemeib  b&nfiAe,  dem  Faychcdogen  und  Kenner  dar  ntensohljohen 
Seele  freilich  sehr  erklärliche  Verechweigeu  dieser  Gelegenheiten  darf  dar- 
fiber  nicht  t&nsohen.  Ein  hfibsohes  Beispiel  för  dne  derartige  Golegen&ait 
Kefart  Haoh,  dessen  herzerquickende  und  selbstlose  Aufrichtigkeit  überhanpt 
für  die  Psychologie  des  Erlfenneiis,  mehr  erbracht  bat  als  ganze  B&nda  Yär- 
logenr  Abetraktionen. 

Hach  en&hlt  in  der  .Analyse"  (S.  28),  wie  er  su  seinem  Empfindongs- 
tnoniemuB''  gukommen.  „An  einem  heiteren  Sommertege  im  Freien  erschieo- 
mir  einmal  die  Welt  samt  meinem  loh  als  eine  zasammenfaaiigeFide  Haas» 
Ton  Empfindungen,  nur  im  loh  slSrker  lasammenhängend.  Obgleich  die 
eigentliche  Reflexion  sich  erst  später  b inzugesellte,  so  ist  doch  dieser 
Uoment  för  meine  ganze  Anschanang  bestimmend  geworden."  Man  mute- 
onr  daran  denken,  wie  sieh  bob  solchen  Anlässen  schon  Systeme  entwickelt 
baben.  in  welchen  der  TerTasser  nnr  aas  den  Wolken  vernehmbar  wird  und 
Kolonnen  von  Beweisen  inr  Stötznng  des  OebSnde«  herfaaltsn  mfissen,  wo 


4er  Anläss  diein  Beweis  geni^  «are  —  am  diese  .Ich*    nnd  vor  allem 
den  Naobsatz:  .Obgleich  a.  s.  w."  zn  würdigen.    Welche  UShe  bitte  jemand. 


iM,Coo<^le 


IbHidiB  Aogptwuipg  j^  dun  ent  .wUu  hmiakgmiaendeii  BfAexionen"  m, 
Ters^eh^n  nöd  vde  leioht  hat  mau'B  dod  I  Wird  doch  auch  der  Süinkloprer- 
himuM  iD  dfiii  Kran  in  wfh  fflibwn  boi  MRtna  UiÄlioiüüi  Aiiiass  -SnpfijultiDsa- 

Vas  uU  ni»  dieaw  Baüpialt  Ea  aoll  auf  dea  .^n^jektlxau  Eüi' 
f(4ila("  iüowajuBj  dar  '^4'  ^i  jadej  PhUp^fü^  «ngegebeq,  ^bSE  vi«  mir 
scheint,  nicht  gehnbreod  ge würdig  wird.  Ein  eiazemeä^Brlelinis,  eine  EdU 
tBi^nphnng^  BJQ  flüEiur  GbankteTzoXi  eine  gewisse  körperiiiäLB  lFi>nBtitntif>n 
A^aCTijgBpnntt  «inH  ST^omBl  £111  solofaee  System  kaaa  Qagenstud  daw 
vieBeoscnafdicheii'ITDtennohDDg,  einer  eebr  iDtereasaetea  pBycholoeisoheb, 
«vwdaell  (iBfalio-paäioloaisdieD  Cnteranciiaag,  »ioer  hiatoibcihaD  über  die 
l^ntwick^^  des  UeDuiLeDgei^tB^  sein,  aber  selber  Wissenschaft  nie,  da 
es  keiiie  Wiss^üfchaft  ad  nsQtn  propriam  giebt,  eine  ÜeboreinstimmiiDg 
jedoch  nur  daaa  xu  atnartan  ist,  wenn  äossenatiiektise  AnUsse  vad^an, 

£'b  |rir  diae  obait  yon  den  fiatnrwiaaenschaften  bemerk  iiatten.  UiqgebQhrt 
DD  pi^n  dann  natürlich  von  einer  solchen  TTebereinstiminung  auf  einen 
loloheii  AnlasB  lohliessen').  fis  ist  jedoch  nicht  Zweck  der  votUegeadea 
Dnteisaehan^  jBinei  Art  von  Philosophie  den  Ohoraktar  der  VisBODsohafC 
zn  nehmen,  welche  gottlob  iininer  setteiier  wird,  doch  hat  diese  bteiae  Ab' 


sdkweifniig  immerhin  Oalegenheit  ta  folgeudsr  Binsidit  gelben: 

den  Ideal  ewet  Via9eii4oua&  entsDriohi,  ist  fürf  Volf-yenständnis  giinstig. 

Wo  jedoch  der  au^ektlTe  Einschlag ^teginut,  da  beginnen  die  Schwi^ngkeiten 


r  dqppeltftr  Natu:  Es  können  die  Anadnicksmittel  i 
sein,  j^i)  ganz  anfmnebmen  oder  ps  finden  die  AuadnioksBiiUel  nicdit  die 
entsprechende  Eündrock^fahigkeit  vor,  wenn  z.  B.  der  ßubiekti'ye  Kinschlag 
in  aalbiaen  Oeiählen,  Erlebnissen  besteht,  in  welchem  Fa&  ^erdinga  anoit 
ra^miasig  das  An^dmcksmittd  versagen  wird. 

Da  nun  dieser  subjektive  Eiasctilag  auch  aus  der 
Wissenscbaft  nocli  lange  nicht  verbannt  ist  und  bei  den 
ausserwigsenschaftlichen  Äusserungen  oft  geradezu  die  Haupt- 
sacbe,  Gegenstand  des  Ausdrucks  ist,  so  verlohnt  es 
sich  wohl,  denselben  näher  zu  betrachten.  Eine  Art  desselben 
ist  schon  erwähnt  worden,  das  ist  der  subjektive  Anlass. 
IfatUrlich  braucht  derselbe  fUr  eine  Äusserung  nicht  conditio 
sine  qua  qod  zu  sein,  die  Äusserung  braucht  durch  ihn  nicht 
eindeutig  bestimmt  zu  sein.  Allein  in  den  zahlreichen  Fällen, 
wo  uns  etyag  erst  bei  der  Kunde  des  Anlasses  verständlich 
wird,  WQ  uns  etwa  jemandes  Philosophie  erst  verstäntJUch 
wird,  sobald  wir  in  seine  Tagebücher  oder  Frivatbfiefe  Ein- 
blick erhalten,  da  ist  der  Anlass  eben  auch  conditio  sine  qua 


M^ii^ttuiSymiiloa  VorttamerkungeD'  (AQfJfae,  ß.  S6j.  .Der  philosophische 
St^ndpiinf^  des  gemeiaei)  Hannes  bat  Ansprach  anf  die  höchste  Wort- 
achätituig.  Dersäbe  hat  sicJi  ohne  das  absiobtlidie  ZaÜinn  des  Menaohen 
--'^-r  laoger  int  erieb^n;  er  i^t  eio  N»tniproduit"  n.  a.  w. 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


}50  Hermann  Swoboda: 

non,  auf  der  einen  Seite  für  die  konkrete  Äusserung,  auf 
der  andern  Seite  fUr  ihr  volles  Verständnis.  Der  Anlass 
conditio  sine  qua  non,  das  ist  nur  eine  andere  Formulierung 
für  das  vorhin  über  die  biologische  Bedeutung  unserer 
Äusserungen  Vorgebrachte.  Wenn  ein  GJedanke,  wenn  ein 
ganzes  System  nur  Sinn  hat  als  Heilmittel  für  das  Unbehagen 
eines  ganz  individuellen  Intellekts,  was  soll  es  dann  anderen 
sein?  Entweder  Schall  oder  alles,  was  es  seinem  Autor 
war.  Dies  letztere  wird  hinreichend  bezeugt  durch  die  be- 
geisterte Zustinunung,  welche  Dichtem  und  Philosophen  zu- 
teü  wird,  die  eine  „Zeitstimmung  glücklich  erfassen."  Hier 
ist  eben  der  Anlaßs  ein  verbreiteter,  der  Autor  findet  nur 
ein  Auskunftsmittel  für  eine  „allgemeine  Beklemmung",  flir 
ein  „sehr  verbreitetes  GefUhl";  dafOr  heisst  er  denn  auch 
ein  „Kind  seiner  Zeit".  Umso  grössere  Schwierigkeiten 
haben  dann  allerdings  kommende  Zeiten,  um  ihn  „aus  seiner 
Zeit"  zu  verstehen.  Was  von  einer  Zeit,  einer  Landschaft, 
einem  Milieu  in  jemandes  Werke  eingeht,  ist  kaum  anzugeben, 
vom  Wie?  ganz  zu  schweigen.  Man  hat  es  hier  mit  Im- 
ponderabilien zu  thun  und  doch  sind  dieselben  für  ein  voUes 
Verständnis  von  der  grössten  Bedeutung.  „Wer  den  Dichter 
will  verstehen,  rauss  in  Dichters  Lande  gehen."  Gobthk  er- 
zählt in  der  italienischen  Reise,  wie  er  erst  am  Meeres- 
strande die  Odyssee  verstanden.  Das  Verständnis  eines 
physikalischen  Gesetzes  kann  mir  im  Freien  so  gut  wie  im 
Zimmer,  vor  einem  alten  so  gut  wie  vor  einem  neuen  Apparat 
aufgehen,  mit  20  so  gut  wie  mit  60  Jahren,  wie  auch  alle 
diese  Umstände  für  die  Entdeckung  eines  Gesetzes  gleich- 
wertig sind.  Aber  schon  fOr  eine  Philosophie  sind  solche 
Umstände  nicht  gleichwertig.  Hier  sind  sie  mit  dem  Kon- 
zept der  Grundgedanken  —  die  drüber  wuchernde  Reflexion 
kann  das  nicht  verdecken  —  oft  genug  untrennbar  verbunden; 
und  gerade  jenes  System,  welches  sich  schon  seiner  Methode 
nach  ganz  unpersönlich  geben  will,  ist  der  schönst«  Beleg  für 
diese  Thatsache.  Um  wie  viel  mehr  gilt  dies  erst  von  Kunst- 
werken, wo  allerdin^  die  Absicht  auf  Ausdruck  des  Per- 


n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL' 


Varataben  tmd  Begralfen.  151 

sönlichen  gerichtet  ist  und  der  Hinweis  auf  den  subjektiven 
Einschlag  nicht  so  notwendig  wie  bei  wiBsenschaftlichen 
Werken,  wo  derselbe  wohl  gar  abgeleugnet  wird  („geome- 
trico  modol"). 

In  vielen  Fällen  wäre  es  sehr  ungerecht,  dem  Autor 
wegen  der  Vorenthaltung  des  subjektiven  Anlasses  Vorwürfe 
zu  machen;  man  denke  nur  an  die  mannigfaltigen  „Einflüsse", 
die  überhaupt  erst  ein  kommendes  Geschlecht  bei  geänderten 
Verhältnissen  durch  den  Gegensatz  bemerken  kann.  Gelingt 
es  doch  noch  fortwährend  in  den  Werken  der  Griechen  neue 
„Einflüsse"  zu  entdecken,  welche  diesen  verborgen  bleiben 
mussten.  Nicht  unmögliches,  aber  immerhin  eine  fast  un- 
menschliche Peinlichkeit  in  eigener  Sache  würden  wir  z.  B. 
von  Kamt  fordern  mit  dem  Begehren,  uns  ins  Konzept  der 
„Kritik  der  praktischen  Vernunft"  als  Ganzes  einzuweihen, 
i.  e.  seine  Gemütsbedllrfnisse  einzugestehen  und  allem  übrigen 
voranzustellen;  oder  von  Plato  den  „geheimen  Ursprung" 
seiner  Ideenlehre,  von  Sohopbhhaübb  den  seiner  Überschätzung 
des  Willens,  von  Nistzsohb  den  seiner  Agitation  gegen  das 
Mitleid,  also  den  individualpsychologischen  Ursprung  ihrer 
Gedanken.  Sowie  es  sich  mn  die  eigene  Person  handelt,  da 
versagen  die  glänzendsten  Psychologen. 

Diase  NatOtsiobt  der  Pajobologen  gegen  sich  selbst  Ut  sehr  leiobt 
'Teratändliob,  «ena  man  an  den  Sinn  der  psyohisahen  Phänomene  nberhaopt 
denkt  Sie  sollen  naa  fiber  etwas  zur  Ruhe  bringen.  Das  Bemerken  eines 
Anlassee  norde  aber  einen  neuen  Gedanken  foiäern  n,  s.  f.  Schliesalidh 
ranssen  wii  bei  etwas  tax  Buhe  kommen.  Dieses  Bedärfnte  steht  jedem 
faktiBob  höher  ab  das  Urteil  der  Hit-  nnd  Naohwelt  fiber  seine  Weike. 

Auch  die  Schwäche  des  Ausdrucksmittels  ist  oft  in 
Betracht  zu  ziehen.  Allein  in  einer  grossen  Zahl  von  Fällen 
kann  man  nur  von  einer  garstigen  Manier  sprechen,  den 
Anlass  eines  Gedankens  zu  verhehlen,  um  demselben  dadurch 
einen  grösseren  Nimbus  zu  verleihen,  um  ihn  nicht  durch 
Mitteilung  seines  vielleicht  unscheinbaren  Anlasses  billig  er- 
scheinen zu  lassen;  so  namentlich  in  Fällen,  wo  es  sich  um 
allgemein  gehaltene  Erörterungen  handelt,  die  von  einem  ganz 
konkreten  Beispiel  ihren  Ausgang  nehmen.  Wir  streifen  mit 
diesem    Punkt    schon    die   vorhin   erwähnte   Begriffsmis^re. 


iM,Coo<^lc 


15^  Bqrmin«  ^i[ql)944: 

Die  Absiebt  der  vorliegendeo  Uotersuchmig  geht  zwar 
li^upit^chlicb  dahin,  die  Schwiengkeiten  dea  Verstäadnis^ 
zu  b^bandeta,  soweit  dieselben  in  der  Natur  der  beteiligton 
Faktoren  (z.  B.  Autor,  Sprache,  Leser,  Komponist,  Ton- 
kunst, HSrer  u.  s.  w.)  liegen,  doch  kann  es  nicht  schaden, 
auch  auf  einen  besonders  häufigen  Fall  von  schuldbareF 
SchwerrerständUchkeit  einzugehen,  indem  neben  prahlerischer 
Absicht*)  gewiss  auch  mangelnde  Einsicht  oft  aa  der  ba^its 
gerügten  achwindelhaften  Allgemeinh^t  Schuld  ist. 

Siu  konkretes  Boüpiel!  Eb  ist  iwkt  niofat  der  wisBenMh&fÜioheQ 
Iiitetstor  entaommei],  doon  eiintiert  mui  siuh  gleich,  denrtige^  Bohon  in 
Werken  jedes  Genres  angetroffea  za  liaben.  In  Ottilieas  lagebnch  heiaat 
es:  „Allee  VoHkommena  in  seiner  Art  mnss  über  seine  Art  hinansgatiei), 
es  moBs  etWRS  Anderes,  ünvergleiohbores  Verden."  Dosere  BeaktioQ  beim 
Lesen  eines  solchen  Satzes  ist  ephr  bezeichnend:  Wir  snchen  nach  einem 
BasiHfl],  an  velchem  «ix  denselben  allenfalls  TeriBzieren  könnten;  also  die 
EewShnlicha  Beaktion  beim  BCren  eines  Begiiffswortas.  Hören  vir  das 
urteil:  Nicht  alle  Ffianzen  sind  bodeiistfindig,  aber  alle  eotbehren  der  Wahl. 
bevagoDg,  nnd  ist  ans  dasselbe  nicbt  sohon  TOn  froher  her  als  evident  in  Er- 
iimenmg,  so  denken  wir  sofort  an  eine  bestimmte  Pflanie,  wit  dfirfan  aber 
auch  an  jede  beliebige  Pflanze  denken,  voransgesetzt,  dass  das  Urteil 
richtig  gebildet  ist.  Im  fraheren  Beispiel  dagegen  er^ben  sich  bei  nahe- 
liegenden Belegen  gleiah  Schvieiigkeiten.  Nun  ist  in  diesem  Falle  der 
Antur  so  liebenswürdig  nnd  fügt  das  Beispiel  an,  aU^rdings  hintenan,  also 
doch  mit  Verkehrang  dieser  lästigen  Ordnung  im  Intellekt,  der  so  gemein 
ist,  von  der  Wirkliohkeil  anszngehen,  b^m  einzelnen  anzufangen.  .la 
manchen  Tönen  ist  die  Nachtigall  noch  Tegel;  dann  steigt  sie  über  ihre 
Klasse  hinüber  und  scheint  jedem  Gefiederten  andenten  zu  wollen,  vaa 
«igcu^ich  singen  heissß."  Sovie  vir  das  Beispiel  visseo,  hat  dar  Sats 
^oen  S^m;  vir  Tersteben  sofort,  vi«  jemand  dorch  den  Gesang  der  Saoti- 
tig^  auf  einen  solchen  Gedanken  konuneo  kann,  sind  nns  aber  auch  iSUig 
klar,  vie  jemand  ohne  daa  Beispiel  dem  Sslie  gaoi  ratbw  gegentbentelit. 
Beispiele  für  derartige  aUgemeipe  fiUze  findet  man  massanbaft  im  letxtaa 
Bande  jedes  Dichters,  in  Afdionsman-,  UaximansammhiDgen  n.  d^ 

Es  kann  ganz  gleichgiltig  sein,  wie  wir  auf  ein  Be- 
griffswort reagieren  (Beispiel  von  der  Pflanze  oben).  Da 
hat  die  allgemeine  Ausdrucksweise  ihre  eigentliche  und  volle 
Berechtigung.  Es  kann  zwar  nicht  gleichgültig  aber  leicht 
sein,  in  der  gerade  erforderlichen  Weise  zu  reagieren,  durch 


*)  EiNT  f Anthropologe  ed.  Kirchmann,  S.  19)  bemerkt:  .OU  vird 
stndierte  Dunkelheit  mit  gevünsobtem  Erfolg  gebraucht,  um  Tiefsinn  und 
Otöndlichkeit  Torzospiegeln;  vie  etva  in  der  DÜnmeruiig  ödez  dazak  unen 
Nebel  gesehene  QegenstSnde   immei   grosse  gesellen  verdan,  ah  sie  sind. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


TwsMiwi  onii  Begreifen,  158 

den  ganzeD  Znsajnmeiahang  oder  durch  das  Prädikat  darauf 
gleitet;  d$  Snd^t  die  aUgemeine  Ausdrucksveise  ihre  Be- 
recbtigung  in  d^  Fiudigkieit  d:^  Reagierenden,  der  ^dch 
weise,  „was  gemeiat  i^".  Die  Zumutung  an  diese  Findig- 
keit sollte  natOrlich  ihre  Grenzen  haben;  von  jemandem,  der 
verstanden  werden  will  (und  vw  etwas  drucken  lässt,  sollte 
dodi  nichts  anderes  wollen)  ist  es  schon  unschön,  d^  Leser 
in  Bchwimgeren  Fällen  nach  einem  Beispiel,  nach  der  gerade 
passenden  Reaktion  aucJi  nur  suchen  zu  lassen.  Der  Zu- 
sammenhang, die  durchschnittliche  geistige  Beweglichkeit, 
ein  gewisser  Stock  gemeinschaftlicher  Vorstellungen  ver- 
bargen eine  gewisse,  von  Fall  zu  Fall  schwankende  Wahr- 
scheinlichkeit der  richtigen  Reaktion;  dieselbe  auch  in  schwie< 
rigeo  F^en  dem  Leser  ;u  aberlassen,  gereicht  beiden  Teilen 
zum  Schaden. 

Die  vorliegenden  Bemerkungen  richten  sich  nicht  gegen 
falsche  Verallgemeinerungen,  die  ja  im  ausserwissenschaft- 
lieben  Verkehr  bis  zu  einem  gewissen  Grade  unentbehrlich 
sind  und  ausserdem  ganz  wohl  verständlich,  eindeutig  sein 
können,  sondern  gegen  die  Anwendung  von  Begriffen,  wenn 
ihre  gerade  erforderliche  Bedeutung  schwer  zu  treffen  ist 
oder  wenn  überhaupt  nur  eine  einzige  Bedeutung,  für  das  Be- 
griffswort eiogesetat,  passt.  Auch  soll  nicht  ein  durchgängiges 
Erforderais  „platter  Deutlichkeit"  MifgesteUt  werden.  D^s 
Halbverstandene,  das  bloss  Gewähnte,  alles  sous-entendu  hat 
seinen  unbestreitbaren  Reiz  am  richtigen  Ort. 

Hiermit  wären  wir  am  geeigneten  Punkte  angelangt, 
um  über  das  „Verstehen"  in  den  Geisteswissenschaften  einige 
vorläufige  Bemerkungen  zu  machen.  Einen  Satz  der  Natur- 
wissenschaft hat  man  verstanden,  wenn  man  durch  seine 
Anleitung  in  der  Natur  dasselbe  sieht  wie  der  Entdecker 
desselben.  Durch  die  Gemeinsamkeit  der  Aussenwelt  wird 
dies  sehr  erleichtert.  Eben  darin  liegt  nun  die  Schwierigkeit 
des  Verständnisses  in  den  Geisteswissenschaften,  dass  ihr 
^laterial  aus  Be^usstseinsdateD  besteht  und  daher  nur 


iM,Coo<^lc 


154  HermaDD  Swoboda; 

dem  einen  Bewusstsein  unmittelbar  gegeben,  flir  jedes  andere 
aber  nur  durch  Symbole  zu  erschliessen  ist.  Absolute  Überein- 
stimmung über  die  Bedeutung  eines  Begriffes  ist  daher,  genau 
genommen,  in  diesen  Wissenschaften  nicht  zu  erzielen;  es 
giebt  nur  eine  mehr  oder  minder  grosse  Wahrscheinlichkeit, 
dass  zwei  Individuen  —  ohne  vorherige  Übereinkunft  — 
mit  dem  nämlichen  Worte  das  Nämliche  meinen.  Und  diesem 
Übelstand  kQnnen  auch  Definitionen  nicht  immer  allhelfen, 
weil  es  wieder  ganz  individuell  ist,  was  man  in  die  Definition 
aufnimmt.  Der  Begriff  „Eecht!"  Es  giebt  von  diesem  Be- 
griff keine  allgemein  anerkannte  Definition  und  wer  sich 
seiner  bedient,  kann  einer  beliebigen  von  ihnen  huldigen. 
Solche  Begriffe  sollten  daher  nie  ohne  Erläuterung,  wie  man 
sie  meint,  gebraucht  werden.  Eine  Unmasse  von  Streitfragen 
hat  nur  in  dieser  Unterlassung  ihren  Grund.  Ein  nahe- 
liegendes Beispiel  sind  die  Moralbegriffe.    Was  ist  gut? 

Es  ist  daher  nicht  zu  verwundem,  dass  die  Natur- 
wissenschaften von  jeher  als  Ideal  einer  Wissenschaft  galten. 
Am  meisten  entfernt  sich  von  diesem  IdeaJ  wohl  die  Geschichts- 
wissenschaft, wie  in  neuerer  Zeit  des  öfteren  treffend  aus- 
geführt wurde.  Wie  vielerlei  Darstellung  hat  nicht  z.  B.  die 
Geschichte  der  Griechen  gefunden !  Und  immer  wieder 
werden  neue  „Gesichtspunkte"  entdeckt,  die  wider- 
sprechendsten Ansichten,  ohne  das  einer  von  ihnen  aus- 
schliessliche Evidenz  zukäme,  geäussert,  so  dass  man  unter 
Geschichte  am  besten  die  Summe  der  Entstellungen  zu  ver- 
stehen hätte,  welche  der  Parteien  Gunst  und  Hass  vornimmt 

Worin  hat  diese  Mannigfaltigkeit  im  Urteil  über  ge- 
schichtliche Verhältnisse  ihren  Grund?  Offenbar  darin,  dass 
die  Mittel,  mit  denen  wir  uns  Vergangenes  rekonstruieren, 
ganz  individuell  sind;  verschieden  die  Quellen,-  aus  denen 
die  Forscher  schöpfen,  verschieden  die  eigenen  Anschauungen, 
die  Anschauungen  ihrer  Zeit,  ihres  Landes,  ihrer  Milieus, 
mit  welchen  sie  den  Anschauungen  der  Vergangenheit  gegen- 
überstehen  und  dieselben   noiens   volens  individuell   i^per- 


iM,Coo<^lc 


Versteben  und  Begr^en.  155 

zipieren  ■).  Umsoweniger  nun  alle  diese  konstituierenden 
Momente  einer  Beuiteilung  in  der  Darstellung  zum  Ausdruck 
kommen,  umso  schwieriger  das  Verständnis. 

Die  Fauschalbeurteüungen  von  Dichtem,  wie  man  sie 
häufig  in  Literaturgeschichten  findet!  Der  eine  spricht  von 
ScHiLLBB  und  denkt  an  dessen  lyrische  Gedichte,  der  andere 
an  seine  Dramen,  der  dritte  an  seine  ästhetischen  Schriften, 
der  vierte  wohl  gar  an  seine  Eigenschaft  als  Mediziner  oder 
als  Professor  —  das  Urteil  verrät  jedoch  nichts  von  dieser 
„Hinsicht  auf."  Kennt  man  nun  einen  Schriftsteller  sehr 
genau,  so  versteht  man  oft  leicht  das  abstruseste  Urteil  über 
ihn,  weil  man  beim  Durchmustern  des  betreffenden  Erinnerungs- 
komplexes  bald  dahinter  kommt,  was  des  Urteils  Anlass  ge- 
wesen sein  mochte.  Da  hierin  ein  eigentümliches  Vergnügen 
liegt  und  nicht  alle  Verallgemeinerungen  so  bös  gemeint  sind, 
als  es  den  Anschein  hat,  so  ist  gegen  ihre  Anwendung,  wo- 
fern sie  sich  harmlos  giebt,  nichts  einzuwenden.  Von  dieser 
Art  sind  viele  der  knappen  Charakteristika  bei  NiBizsoasi 
„Kart  oder  cant  als  intelligibler  Charakter."  „Johm  Stüabt 
Mnji  oder  die  beleidigende  Klarheit"  u.  a.  Einige  von 
diesen  Beispielen  erwecken  ein  besonderes  Interesse.  Ver- 
sucht man  nämUch,  seinen  Bewusstseinsinhalt  in  dem  Moment, 
da  man  ein  solches  Urteil  versteht,  zu  analysieren  oder  mit 
anderen  Worten,  forscht  man  nach  den  Belegen,  auf  Grund 
deren  miui  dem  Urteil  Evidenz  zuerkennt,  so  gerät  man  in 
einige  Verlegenheit.  Es  ist  uns  nicht  leerer  Schall;  von 
etwas  anderem  als  von  Empfindungen,  Vorstellungen,  Ge- 
fühlen usw.  —  kann  darin  nicht  die  Rede  sein,  und  doch 
können  wir  dergleichen  in  unserem  Bewusstsein  nicht  vor- 
finden, höchstens  „sehr  modifiziert."  In  grösserem  Zusammen- 
hang wird  dieser  bemerkenswerte  Fall  im  nächsten  Abschnitt 
untersucht  werden. 


')  Das  rine  in  et  studio  kann  bsim  beeteo  Willaa  nni  Po8e  sein. 
Der  Feinlütrige  Temimmt  anoh  aus  der  gedlmpftan  B«de  den  TeihalteDsn 
Grimm.    Sine  in  et  Htndio,  i.  e.  eine  feinere  Form  tos  in  et  stadiom. 


iM,Coo<^lc 


168  Berming  Svobod«: 

211.  Bia  BflillBgVDgw  de»  Ter^t^^Mui  im  efi^^alwH. 
BtB«i^BUig  und  AwdmA. 

Im  vorigen  Abschnitt  ist  als  Bedingung  des  VersteheiiB 
sUgeiD.«^  die  „^iehe  psycbisclie  Situation"  ^ugegebafi  forden 
und  aia  Beweis  hierfUr  die  Ergebnisse  uns^^r  in  difis^D 
Fall  sehr  leichten  und  Überaus  klaren  gelbstbeol^acbtung. 
Fragen  wir  uns  dub,  vorin  diese  gitu^on  bestehen  kann 
oder  mit  anderen  Worten,  was  alles  zur  Äusserung  kommen 
k&nn:  offenbar  nichts  anderes,  als  was  jede  Einteilung  unseres 
gesamten  psychischen  Inhaltes  aufzunehmen  bestrebt  ist.  Es 
ist  fllr  den  weiteren  Gang  der  Untersuchung  von  grossem 
Vorteil,  die  Einteilung  zu  acceptieren,  welche  AveBa^ius  ge- 
troffen hat,  in  Elemente  und  Charaktere,  oder  —  mit  Ver- 
meidung der  noch  nicht  eingebürgerten  termiai  —  jn  Vor- 
stellungen und  Gefühle.  Doch  muss  hinzugefiigt  wenien, 
dass  der  Begriff  des  Elements  bei  ATP>f4siüs  weiter  ist  als 
der  der  Vorstellung,  indem  er  auch  die  Empfindungen  mit 
^inbegreift  und  der  des  Charakters  vieiter  als  der  des  Gle- 
fUhls,  indem  er  Bekanntheits-,  Vertravrtheitsr,  Sicherhfijts- 
und  andere  GefUhle  umfasst,  wobei  ihm  übrigens  die  Um- 
gangssprache sehr  entgegenkommt,  die  da  häufig  yon  eineot 
„gan?  eigenen  Gefühl",  „eigentümlichen  Zrnnutesein"  u.  dgl. 
redet*). 

Vorstellungen  und  GefUhle  können  das  Äussere  des 
Menschen  ganz  unalteriert  lassen,  dann  sind  sie  für  den 
Mitmenschen  einfach  nicht  da.  Die  Erregtmg  bleibt  in  diesem 
Falle  entweder  auf  die  ursprünglich  ergriffenen  Neryeapjutien 
beschrfijikt  oder  greift  wenigstens  nicht  auf  motorische  Zentren 
über.  In  frühen  Stadien  des  Menschengeschlechts  waren 
jedoch  —  venn  wir  aus  der  Psychologie  des  Kindes  die 
entsprechenden  Rückschlüsse  auf  die  Phylogenese  ziehen 
dürfen  ~  nicht  nur  GefUhle,    sondern    auch  Vorstellungen 

■)  AvKNABiüs,  Kritik  der  rmoen  Erfahnuig.  I.  Lnpaig  188&  8.  16. 
Jd.,  Dar  mmsoblioh«  Welttwgriff,  S.  1  und  12.  iehnllob  i«t  Brauns 
"  '    -  '    "  Bns^ndlioham   und   siiit4nd[ialiem  3i       -  '    ' 

I  d«n  Öe^nni^  fltwas  nmstiadlitA. 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Tttnnnt  dnd  BifiHlAii.  IST 

imsläÄde,  eine  lebhaftfe  QesamterregöDg  (Irradialioh)  Kervor- 
iarafcn  und  zwar  nicht  nur  dann,  wenn  Bie  mit  dem  'Wohl 
nhd  Wehe  des  IndiTiduums  in  e^em  Znsammenhange  standen. 
Unter  den  sekiradären  Erregimg«!,  welche  von  Vorstellungen 
und  Qeföhlen  ausstrahlten,  wurden  ron  besonderer  Bedeutting 
die  der  Stimmwerkzeuge;  sie  fUhrten  zur  SprachschSpfung. 
Ao^erdem  ist  eine  Anzahl  d6r  sogenannten  Ausdrucks^ 
bewegnngen  auf  solche  sekundäre  Erregungen  zurückzuführen. 
Es  kann  nicht  Aufgabe  der  TorH^enden  Untersuchung  aein^ 
den  weiteren  Verlauf  der  Entwickelung  im  Detail  darzulegen; 
nur  das  Resultat  derselben  ist  fOr  uns  von  Bedeutung.  Das- 
selbe besteht  wesentlich  in  folgendem:.  Ein  grosser  Teil  der 
Empfindungen  (tor  allem  die  sensoriellen)  und  die  denselben 
entsprechenden  Vorstellungen  haben  ihren  Übertragenen 
Wirkung^reis  ganz  Terloren.  Sie  sind  mit  den  sekundären 
Err^nngeH  im  Sprech-  und  Sprachzentrum,  welche  sie  am 
Beginn  der  Entwickelung  verursachten,  verbunden  geblieben 
und  werden  in  dieser  Verbindung  Überliefert.  Zwisdien 
Wort  und  Vorstellung  liegt  heute  nur  mehr  eine  Association 
vor,  keinerlei  kausales  VerbäHnis.  Die  Produkte  jener  ehe- 
maHgeu  sekundären  Erregungen,  mit  den  Modifikationen; 
welche  sie  durch  verschiedene  Einflüsse  erlitten  haben,  dienen 
zur  Bezeichnung;  sie  sind  konventionell.  Neuschöpfungen 
dies^  Art  kommen  nicht  mehr  vor;  jede  sprachliche  Neu- 
schOpfung  ist  gegenwärtig  von  Haus  aus  Bezeichnung.  Allein 
noch  eine  Reihe  von  sekundären  Erregungen  ist  konventionell 
geworden  und  somit  zimi  Teil  Bezeichnung:  Die  Ausdrucks- 
bewegungen (mit  den  gleich  anzuführenden  Einschränkungen). 
Doch  ist  diese  Art  der  Bezeichnung  von  der  durch  die  Sprache 
immerhin  deutlieh  geschieden,  erstens  dadurch,  dass  sie  zum 
grossen  Teil  unserer  Willkür  entzogen  und  im  Zusammen- 
hang damit  zweitens  an  eine  starke  primäre  Erregung  ge- 
knüpft ist,  wie  sie  drittens  nie  Vorstellungen,  sondern  nur 
Gefühlen  eignet.  Man  könnte  derlei  Bezeichnungen  auch 
konventionellen  Ausdruck  nennen,  um  sowohl  auf  ihre  zentrale 
Entstehung  als  auf  ihre  soziale  Bedeutung  hinzuweisen. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


Hermann  Swobodar 


Der  hier  eatwickeite  iJegiiS  dar  ADB(lruoi§Mwegiiiig  mllt  bo  nemueh 
zosammeD  mit  der  3.  Axt  Yon  Anadmobbewegongen  nach  Dabwik  (Prinnp 
der  direkten  ThatiKtaitdeBNerreDsystema)  und  den  xwei  enten  ArteQWDNDis 
(Friosip  der  direliten  iDnerrationBiiidemQK,  Prinzip  der  Aeaodation  uialoger 
EapDndongen).  Job.  lege  das  Esnptgewidit  anf  den  zentralen  üiBpmng 
der  betreltenden  Bewegnu^en,  ciobt  aöf  ihre  soziale,  mitteilende  Bedentong. 
Hiermit  eisohnnen  aber  die  Ansdmoksbewegnngen  als  spezielle  Form  einer 
allgemeineiaa  Form  des  Aoadmoka.  Der  sichtbaren  Bewegung  von  Extre- 
mitäten tmd  Mtukeln  geht  ja  eine  zentnUe  Erregung  vorana.  Es  iat  aber 
kein  Onutd,  diese  Erregtiogen,  wenn  sie  motorische  Zentren  eigreifeD, 
*on  anderen  prinzipiell  zn  scheiden,  t.  B.  von  der  Miterr^iuig  dar  mnsika- 
lischeD  Phantasie.  Was  die  Erregnne  motorischer  Zentren  aoazeidmet,  das 
ist  der  grosse  Enargie-Verbranob,  weuialb  sie  zur  raschen  AUaitnng  starker 
primftrer  Erregnngen  Tortreffljob  ged^et  sind;  daTQr  sind  sie  aber  foimen- 
arm  ond  daher  an  nnd  für  sieh  wenig  geeignet  znm  Charakterisieren.  AJIea 
n&her  CharakterisJerende  geht  auf  andere  Prinsipten  znifick  (Duiwinb 
Prinzip  zweokmissig  assocnierter  Oewohohmten,  Wbotiib  Prindp  der  Be- 
ziehnug  der  Bawegang  zu  SinnesTorst^ongan).  Es  würde  sich  daher  riel- 
leicht  empfehlen,  die  konkreten  Anedmcksbewegungen  nicht  wie  bisher  jode 
anf  ein  Prinzip  zurfickzafähren,  sondern  eTentnelJ  auf  zwei  und  mehrere. 
80  kann  ich  durch  Kopfnickea  nicht  sohleohthin  bejahen,  sondern  nur  ener- 
gisch oder  apathisob  oder  sonst  wie,  kurz  in  einer  Art  nnd  Weise,  die 
für  sioh  schon  wieder  ansdruoksvoll  ist. 

Osnz  in  meinem  Binne  A.  Bus:  „Ich  bebaohta  den  sogenannten 
AuBdmck  sls  Teil  und  Btück  des  Oefühls.  Ich  glaube,  es  ist  ein  aUgemeiaee 
Gesetz  des  Geistes,  dass  in  Verbindong  mit  der  Tbatsache  dea  inneren 
FnhlenB  oder  des  Bewusstseins  eine  diffuse  Thtttigkeit  oder  Erregung 
anf  die  Glieder  des  Körper  ansgeht*.  Daswbi  wendet  dagegen  ein,  das 
Gesetz  der  diffusen  Tätigkeit  der  Empfindungen  snheine  ihm  zd  allgemein 
XU  sein,  nm  ant  spezielle  Ausdmcksfonnen  viel  Licht  zn  werfen.  Allein 
man  musa  nur  nioht  mit  einem  Prindp  alles  erklären  wollen.  Die  Form  der 
Auadruoksbew^ungen  muss  nioht  ans  derselben  Quelle  stammen,  wie  die 
Energie  zu  diesen  Bew^nngen. 

Nachdem  Sprachlaute  einmal  BezeichDungen  geworden 
waren,  konnten  selbstverständlich  auch  Gefühle  mit  ihnen 
bezeichnet  werden;  im  Anfang  der  Entwickelung  war  jedoch 
die  von  Gefühlen  ausgehende  Miteiregung  auf  das  Sprech- 
zentrum sicher  nicht  beschränkt  und  auch  in  der  Folge  gab 
sich  in  der  GefUhlssphäre  das  Bedürfnis  nach  ausgiebigerer 
Entladung  kund,  das  ÄusdrucksbedUrfnis. 

Bezeichnen  wir  sekundäre  Erregungen  jeder  Art,  sofern 
sie  das  Äussere  des  Menschen  ändern,  als  Ausdruck,  so 
waren  also  ursprünglich  alle  seine  Äusserungen  Ausdruck, 
es  mochte  die  primäre  Erregung  der  Vorstellungs-  oder  der 
Gefühlssphäre   angehören').     Ein  Teil  dieser  Äusserungen 


iM,Coo<^lc 


Yetstehen  nnti  Begreifen.  XÖ9 

wurde  dann  konventionell,  wozu  neben  dem  bereits  erwähnten 
Umstand  der  groeaen  Frequenz  der  sensoriellen  Empfindungen 
•wohl  auch  die  generelle  Gleichheit  der  Sprachwerkzeuge  das 
ihrige  beitrug.  Die  sekundären  Erregungen  sind  in  diesem 
Fjdle  za  einfachen  Associationen  von  grosser  Innigkeit  ge- 
worden. Gebiet  und  Ausmass  der  sekundären  Er- 
regung sind  festgelegt.  Welchen  Anteil  hieran  die  Eigen- 
schaft des  Menschen  als  eines  sozialen  Wesens  hat,  kann 
hier  unerörtert  bleiben.  Nur  ganz  im  Anfang  geht  die  Ent- 
wickelung  des  Sprachvermögens  im  Individuum  der  wahr- 
scheinlichen Entwickelung  im  G-enus  parallel.  Von  den  Be- 
zeichnungen, die  der  Erwachsene  gebraucht,  sind  keine  mehr 
als  Resultat  ursprünglichen  Ausdrucks  zu  betrachten;  die 
Verbindung  von  Bezeichnung  und  Gegenstand  ist  von  aussen 
erfolgt  durch  Erziehung  und  Verkehr  mit  den  Sprachgenossen. 

Neben  diesen  sekundären  Erregungen,  welche  den  Cha- 
rakter des  Ausdrucks  bereits  verloren  haben,  daher  auch 
ihre  Bedeutung  fUr  das  Individuum  als  Entladungsmittel, 
wofür  sie  allerdings  an  sozialer  Bedeutung  gewannen  — 
neben  diesen  giebt  es  eine  Beihe  von  sekundren  Erregungen 
—  diejenigen,  welche  die  Ausdrucksbewegungen  einleiten  — 
welche  einerseits  für  das  Individuum  noch  die  Bedeutung 
eines  Entspannungsmittels  haben  vonwegen  ihrer  grosseren 
Ausdehnung,  andererseits  doch  auch  schon  eine  soziale  Be- 
deutung, insofern  sie  konventionell  geworden  sind  und  mit 
der  Sicherheit  einer  Bezeichnung  verstanden  werden. 

Es  ist  nun  sofort  klar,  dass  da  noch  ein  grosser  Teil 
des  Bewusstseinsinhaltes  überbleibt,  für  welchen  es  weder 
eine  Bezeichnung  noch  ein  konventionelles  Ausdrucksmittel 
giebt.  Denn,  was  die  Vorstellungen  anlangt,  so  haben  sich 
Bezeichnungen  für  dieselben  (sowie  späterhin  für  Gefühle) 
nur  soweit  gebildet  oder  erhalten,  als  sie  Verkehrsbedürfnis 
waren,  nur  für  Massenartikel  sozusagen;  das  Seltene,  Indi- 
viduelle blieb  von  der  Bezeichnung  ausgeschlossen.  Um  eine 
Bezeichnung  durchzusetzen,  ist  der  mutuus  conaensus  erforder- 
lich, dieser  setzt  aber  voraus,  da^  jedermann  das  Bezeich- 


iM,Coo<^lc 


ISO  Hftrmiun  EnrǤtfdt: 

Bete  lö  sich  hat.  FBr  »fiesen  Fall  jedoch,  «ife  fllr  den  der 
BeieJfthiHHig  von  Vorstellnngakomplexen,  016  einer  Wort- 
bezeichnnng  entbeliren,  kommf  die  Beschreibung  auf, 
welche  man  eine  BeEeichnung  im  weiteren  Sinn  nennen 
k(}nnte.  Wenn  einzehie  G^egenal^de,  Bflder,  Vorg^ge  nicht 
durcheinelnzehiftsWortvor  mein  geiatigesAuge  gebracht  werden 
können,  flo  leitet  mich  die  Beschreibtmg  an,  den  Gegönstandr 
das  Bild  znssmmenznsefzen,  den  Vorgang  sich  abspielen  zu 
lassen;  emem  Kinematogramm  könnte  man  sie  im  letzteren 
Falle  vergleichen.  Waa  auch  die  Beschreibimg  nicht  be- 
wältigt, dad  ist  dann  „unbeBchrefbUch",  „namenlos".  Im 
Falle  der  Unb^schreibhclikeit  eines  Phänomens,  irgend  einer 
Herrlichkeit  auf  dem  forum  eztemum  oder  intenium  tritt 
wieder  jener  starke  Bäregungszustand  ein,  den  man  allgemein 
^s  Sprachscfaöpfer  annimmt,  noch  erhöht  durch  das  peinliche 
0efQhl,mit  den  vorhandenenBezeichnnngen nicht  auszukommen 
und  die  benommene  Freiheit,  neue  zu  bilden.  Die  „Un- 
beschreibüchkeit"  wird  nicht  nur  als  Hindernis  der  Mitteilung 
unangenehm  bemerkt  (von  dem  der  Bezeichnung  meist  zu- 
grunde liegenden  MitteilnngsbedUrfhia  ist  hier  noch  nicht  die 
Eede),  sondern  auch  abgesehen  von  diesem  Bedürfnis,  ebenso 
wie  es  uns  auf  der  anderen  Seite  eine  Befriedigung  gewahrt, 
für  etwas  —  ganz  in  Gedanken  —  eine  Bezeicimung  oder 
gelungene  Brachreibung  zu  finden').  Das,  was  nicht  be- 
zeichnet, beschrieben  werden  kann,  wird  dfinn  durch  die 
auf  andere  Bahnen  gedrängte  Erregung  ausgedrückt;  der 
Mitteilungserfolg  leidet  darunter  allerdings,  die  subjektive 
Befriedigung  des  Ausdrückenden  nicht.  Dichter,  welche 
keinen  Instinkt  für  die  Grenzen  der  redenden  Kunst  haben, 
Mystiker,  deren  Gesichte  jeder  Beschreibung  spotten,  suchen 
alsdann  durch  einen  Wortschwall  auszudrücken,  was  sie 
mit  Worten  nicht  sehtidern  kühnen.  Da  sie  hierbei  immer- 
hin das  angenehm  täuschende  Gefühl  haben,  in  die  Worte 


')  Did  Spnöha   ist  „nIcM  blu  «In  ioBaerea  Mittel  nir  Hitt^one^ 
Bondant  eine  imrarefonn  derB«et(inintiieit  deeOddADkeDa"  (Lixirts,  l.o.  S.  H. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^le 


Teratehen  und  BegreifoD.  161 

„alles  hineinzulegen"  (indem  sie  ihrer  Erregung  ledig  werden), 
Bo   überschätzen    sie   leicht    den  Mitteilimgswert   derselben. 

Was  nun  die  Gelühle  anlangt,  so  ist  klar,  dass  nur  eine 
kleine  Anzahl  derselben  durch  Ausdrucksbewegungen  zum 
Ausdruck  kommt;  denn  wenn  diese  auch  nicht  gerade  auf 
Affekte  beschränkt  sind,  so  erfordern  sie  doch  eine  gro^e 
Intensität  des  GtefUhls,  und  so  entsteht  die  Frage  nach  den 
sekundären  Erregungen,  die  sich  von  den  feineren  und 
edleren  GefUblen  ausbreiten,  wie  also  diese  Gefühle  zum  Aus- 
druck kommen.  Wie  schon  oben  erwähnt,  können  Gefühle 
auch  bezeichnet  werden;  allein  vom  GefUhl  verlangt  man, 
dass  es  zum  Ausdruck  komme.  Der  Dichter,  der  eine 
Stimmung  schildert,  der  sein  Gefühl  beschreibt,  gilt 
als  schlecht;  es  soll  davon  nicht  die  Eede  sein,  und  es 
soll  doch  liberall  sem.  Die  Forderung  ist  keineswegs  im 
einseitigen  Interesse  der  Geniessen-woUenden,  sondern  in  der 
Katar  der  Sache  begründet.  Während  den  Vorstellungen 
eine  begrenzte  Extensität  eignet,  während  sie  femer  den 
Charakter  von  Erregungen  gänzlich  verloren  haben  und  eine 
fixe  Verbindung  mit  ihren  Bezeichnungen  eingegangen  sind, 
haben  die  Gefühle  keinen  umüriedeten  Wohnbezirk,  was 
weiter  seinen  Grund  hat  in  der  relativ  (im  VerlüUtnis  zu 
den  Vorstellungen)  grossen  Intensität;  da  aber  Gefühle, 
welcher  Art  auch  immer  als  Abweichung  vom  Indifferenz- 
pqnkt  empfanden  und  ihre  Abschwächung  angestrebt  wird, 
so  wird  die  Gefühlserregung  vom  ursprünglichen  Gebiet  auf 
andere  absichtlich  übergeleitet  oder  geht  von  selbst  über,  je 
nach  den  Umständen.  Man  kann  an  die  Flüssigkeit  in 
einem  Gefilsse  denken,  deren  Kiveau  dadurch  sinkt,  dass 
man  das  GefSss  mit  anderen,  kommunizierenden  verbindet. 

Es  tritt  nun  ein  bedeutsamer  Unterschied  zu  Tage 
zwischen  Bezeichnung  und  Ausdruck:  Der  Ausdruck  hat  in 
erster  Linie  eine  Bedeutung  für  uns  selbst,  er  ist  uns  Be- 
dürfnis, die  Bezeichnung  ist  in  erster  Linie  Verkehrs- 
mittel, soziales  Bedürfnis.    In  zweiter  Linie  hat  jedoch 

Tlot^ibrHchitfl  f.  itlaniKliBM.  PbUu.  n.  SodoL    XXVIL    1.  11 


iM,Coo<^lc 


152  Hermknn  Swobodt: 

auch  die  Bezeichnung  für  uns  eine  Bedeutung  und  ebenso 
der  Ausdruck  eine  soziale  Bedeutung,  einen  Marktwert. 

Wir  können  nunmehr  die  eingangs  gestellte  Aufgabe 
näher  präzisiereu  als  UntersuchuDg  über  die  soziale  Be- 
deutung der  Bezeichuungs-  und  Ausdrucksmittel  oder 
—  mit  einiger  Ungenauigkeit  —  Über  unser  Verhältnis  zu  den 
wissenschaftlichen  und  künstlerischen  Leistungen 
anderer.  Die  zwei  menschlichen  Äusserungsweisen  sind  also 
Bezeichnung  und  Ausdruck.  In  den  folgenden  Abschnitten 
wird  es  sich  nun  um  das  Was  von  Bezeichnung  und  Ausdruck 
handeln,  also  um  eine  genaue  Bestimmung  der  „psychischen 
Situation." 


IV.  Ctegenstand  der  Bezelcliniui;. 

Gegenstand  der  Bezeichnung  können  nach  dem  oben 
Gesagten  ganz  allgemein  sein:  Vorstellungen  und  Vorstellungs- 
komplese und  Gefühle.  Wenn  sich  daher  jemand  der  Rede 
bedient,  sollte  man  meinen,  dass  er  auf  das  eine  oder  das 
andere  hinzielt,  dass  ihm  etwas  Bestimmtes  vorschwebt,  wo- 
nach man  ja  auch  jemand  zu  fragen  pflegt,  den  man  nicht 
gleich  vereteht.  „An  was  denkst  Du  dabei  eigentlich?" 
Denken  natürlich  in  der  Bedeutung,  eine  bestimmte  Vorstellung 
haben.  Der  so  Gefragte  kommt  sehr  häufig  in  Verlegenheit 
er  hat  das  Gefühl,  dass  man  ihn  um  mehr  fragt  als  billig; 
er  getraut  sich,  bei  einer  Aussage  zu  beharren,  ohne  sich 
allzu  peinlich  um  eine  B\mdienmg  derselben  durch  deutliche 
Bewusstseinselemeote  zu  bemühen.  Würde  man  ihm  indes 
vorwerfen,  dass  er  spricht  ohne  zu  denken,  dass  er  von 
nichts  spricht,  so  wäre  das  in  den  meisten  Fällen  ein 
ungerechter  Vorwurf.  Offenbar  war  es  diese  Beobachtung, 
dass  man  zum  Denken  und  Reden  nicht  immer  klarer  Vor- 
steUungen  bedürfe,  dass  aber  doch  immer  irgend  ein  Etwas 
im  Bewusstsein  dabei  gegenwärtig  sei,  welche  schon  Akisto- 


iM,Coo<^lc 


TeratdwD  niid  B«gTriten.  Igg 

Tiuts  ZU  dem  Satze  veranlasste:  Ovdinois  dvsv  ^ayrättfunoi 

Eriimeni  wir  uns  an  folgendes:  Wenn  wir  einen  Zeitunga- 
artitel  lesen,  an  dem  uns  alles  „sonnenklar"  ist  und  wir 
fragen  uns  danach,  was  wir  uns  während  des  Lesens  vor- 
gestellt haben,  so  werden  uns  vielleicht  ein  paar  Vor- 
stellungen, Erinnerungsbilder  einfallen,  die  gar  nicht  zum 
Gegenstand  gehören  und  durch  irgend  einen  Anlass  beim 
Lesen  reproduziert  wurden,  allein  keinerlei  klare  gegenständ- 
liche Bewnsstseinselemente,  die  uns  das  Verständnis  erst  ver- 
schafft hätten^).  Solche  Elemente  trage»  wir  Immer  erst 
dann,  mit  Absicht  und  MUhe,  zusammen,  wenn  uns  etwas 
nicht  „ohne  weiteres"  klar  ist.  Genau  in  demselben  Zu- 
stande dämmerlichen  Voretellens  wie  ein  Zettungsleser  be- 
finden wir  uns  sehr  oft  bei  eigenen  Niederschriften.  Wie  ich 
schon  durch  die  Wahl  des  Beispiels  zeigen  wollte,  spielen 
Übungsverhäitnisse  in  diesem  Fall  eine  grosse  Rolle.  Aus 
diesem  Grunde  unterlassen  wir  die  „Fundierung  unserer 
Aussagen",  wie  man  das  gleichzeitige,  entsprechende  Vor- 
stellen nemien  könnt«,  gerade  da,  wo  es  am  leichtesten  wäre 
Tonwegen  der  grossen  Geläufigkeit  der  betreffenden  Vor- 
stellungen. So,  wenn  wir  von  Haus,  Baum,  Strasse,  Licht 
reden,  es  sei  denn,  dass  wir  Über  dieselben  eine  neue  Aus- 
sage machen  wollten.  Ganz  parallel  damit  geht  unser  Be- 
dürfois  nach  Vorstellung,  wenn  wir  über  einen  Gegenstand 
ein  ungeläufigea  Urteil  hören.  Das  Urteil  wird  in 
diesem  Falle   einer  Kontrolle   unterworfen,   wie   eine  Bank- 


')  Ich  bJD  mcht  dei  Aasioht,  daaa  siok  disaer  Satz  „nur  auf  Oattonga- 
be^riffe  betieht  oud  dass  er  anBserdem  uariohtig  iat."  (Siebe  Oomfebz  B., 
Znr  Psychologie  der  logieoheu  Grandthatsachen.  Wien  1897.  S.  91),  weit 
Aristoteles  nicht  sagen  wollte,  dasa  ^naa/iata  immer  notwendig,  BOndern 
nur  dass  sie  öberhaopt  vorhanden  seien. 

*)  So  Btdioo  EtniE  (Trestise,  I.  7)  und  Bebkelet  (Frinoiples  of  human 
kooicl^de,  introd.,  XIX).  Beide  nnterlasaen  indes  anf  den  Einfluas  der 
Übung  hinzuneisen,  wie  auf  den  gewichtigen  ünterHchied  zwischen  originellem 
Danken  und  jenem  .Denken',  womit  wir  für  alltägliche  Oesprjiclie  aus- 
kommen. Endlich  iat  die  abstrakt  idea  bei  ihnen  immer  der  gegenständliche 
Begriff,  Da  mag  es  immerhin  sein,  dass  man  mit  einer  ganz  vagen  Vor- 
eteUnng  auskommt  for  reÖectioD  and  oouversation. 


iM,Coo<^le 


164  Eerinaali  Swoboda: 

Dote,  ob  die  darauf  angegebene  Summe  in  Barem  deponiert 
ist;  es  wird  auf  Eontrebande  visitiert,  ob  es  nichte  mit 
sich  führt,  als  was  die  ^Sinnlichkeit"  gestattet.  So  muss 
der  Vorgang  beim  originellen  Denken  sein;  die  Evidenz,  das 
ist  der  Rekurs  auf  Geschautes.  Worte  können  uns  vertraut 
sein  und  darum  vertrauenswürdig:  die  Eechtfeiügung  dafür 
liegt  nur  in  jenen  unmittelbaren  Erfahrungen,  die  wir  nach 
dem  frequentesten  Sinnesgebiete  als  Geschautes  beseichnen. 
Dies  besagt  auch  die  erste  der  „Vier  Regeln"  im  discours 
de  la  m^thode:  Nichts  mehr  in  unsere  Urteile  aufzunehmen, 
als  was  sich  d^m  Qeist  so  klar  und  deutlich  darstellt-, 
dass  ich  keinerlei  Veranlassung  habe,  es  in  Zweifel 
zu  ziehen.  Die  Warnung,  welche  diese  Regel  gegen  die 
Begriffe  enthält,  ist  vollberechtigt.  Unser  begriffliches  Ver- 
halten der  Fülle  der  Erscheinungen  gegenüber  ist  durch  die 
Ökonomische  Natur  unseres  Zentralorgans  bedingt  und  vor- 
wissenschaftlich.  Die  wissenschaftliche  Begriffsbildung  unter- 
scheidet sich  von  der  kindUchen  nur  durch  die  AbsichtUchkeit, 
nicht  in  dem  Endzweck  einer  leichteren  Zusanunenfassung 
und  Beherrschung  des  gesamten  Erscheinungsgehietes.  Von 
diesem  Teil  der  Wissenschaft,  welcher  also  seinen  Grund  in 
uns  selbst  hat,  in  unserer  Schwäche,  könnte  man  sagen,  ist 
scharf  unterschieden  jener  andere  Teil,  welcher  zur  Aufgabe 
hat  „die  Kachbildung  der  Thatsachen  in  Gedanken"  oder  „die 
bewusste  Reproduktion  der  Wirklicl(keit."  Bei  diesem  Ge- 
schäfte sind  die  Begriffe  geradezu  das  grOsste  Hindernis,  sie 
bringen  um  den  unbefangenen  Blick  oder  was  noch  schlimmer 
ist,  sie  entwöhnen  ganz  vom  Schauen  und  führen  zu  einem 
Zustand,  dem  Dbscabtes  mit  seiner  ersten  Regel  bewusste 
Opposition  macht. 

In  einem  FaJle  jedoch  schemt  mir  seine  Forderung- 
rigoros,  eben  in  dem  Falle,  wo  die  Begriffe  unbedenkliche 
Anwendung  finden  können :  beim  Syllogismus.  Der  heuristische 
Wert  desselben  ist  allerdings  danach.  Der  Syllogismus  ist 
geradezu  das  „aussersinnliche  Denkverfahren",  das  Ver- 
faliren  „mit  Au^chluss  der  Sinnlichkeit",  jenes  Denkverfahren^ 


iM,Coo<^lc 


Veistehen  und  Bsgiaifan.  165 

bei  welchem  mao  —  paradox  ausgedruckt  —  an  nichts  zu 
denken  braucht.  Unser  Verhalten  beim  Schliessen  illustriert 
diesen  Umstand  sehr  schön.  Wenn  jemand  z.  B.  etwas  durch 
Schluss  gewinnt  und  ein  anderer  will  es  nicht  gleich  einsehen, 
sagt  jener  gerne  ungeduldig:  Da  braucht  man  doch  nicht  erst 
nachzudenken  I  Danach  konnte  man  den  Syllogismus  be- 
zeichnen als  einen  sprachlichen  Mechanismus,  um  aus 
dem  Material  zweier  Urteile  ein  drittes  zu  gewinnen; 
sprachlich,  d.  h.  nicht  notwendig  in  der  Art,  wie  Schul- 
beispiele vorgetragen  zu  werden  pflegen,  sondern  lediglich  im 
Sprachzentrum,  nicbt  „im  Hinblick  auf  etwas."  Das 
Schliessen  ist  ein  quasi  mathematisches  Verfahren,  in  dessen 
Verlauf  man  die  Beueimungen  der  Zahlen  auslässt,  um  sie 
ins  Besultat  wieder  einzusetzen.  Schon  seine  Erlernbarkeit 
und  der  Einfluss  der  Übung  weisen  darauf  hin>).  Das  her- 
kömmliche, im  Laufe  der  Entwickelung  erworbene  Vertrauen 
zu  demselben  birgt  nur  dann  keine  G-efahr  in  sich,  wenn  es 
von  der  Einsicht  begleitet  ist,  dass  durch  sprachliche 
Operationen  Über  die  Wirklichkeit  sich  nichts  ausmachen 
lässt.  Qanz  im  Qegensatz  hierzu  erscheint  das  Urteil  kein 
formeller  Prozess  mit  Bewusstseinselementen,  sondern  ein 
bestimmter  Ausschnitt  aus  den  Elementen  selbst,  durch  sprach- 
liche Bezeichnungen  fixiert.  Die  Vorstellungsthätigkeit  ist 
beim  Urteilen  eine  weit  lebhaftere,  es  geht  nicht  mit  so 
spielender  Leichtigkeit  und  taschenspielerischer  TrUglichkeit 
Tor  sich,  seine  Form  besticht  nicht,  man  sucht  nach  einem 
Fundament.  Dieser  Umstand,  dass  ein  richtiges  Urteil  stets 
von  einer  Anschauung  seines  Inhaltes  begleitet  ist,    hat  — 

')  SiewABT  (Logä  I,  2.  Anfl.  8.  483}  fährt  atlerdingB  noch  ebe  tweita 
Alt  das  Schlienens  an,  anl  welche  tuoh  Bradlby  naa  Scsdppk  Gewicht 
legen,  bei  velohar  die  Piämissen  eine  Teräudenmg  heretellen,  «elehe,  naoh- 
dam  ede  enohaat  ist,  „die  Zoa&mmengehörigkeit  der  im  SohluBSBatE  vaiteüpften 
Element«  nnmittdbu  erkennen  läsaf ;  allein,  wenn  man  die  dort  uigefohrten 
Betitele  genauer  besiebt,  findet  matij  dus  nur  die  inAUige  Operation  i 
trois  tenies  dara  veiieltet,  von  einem  „ansc^aoliohen  Sohbessen  eii 
sprediaD.  Man  Teimdue  nur  in  jenen  Beispielen  die  Frftmiasen,  was  man 
«Hine  weiteres  kaiml  Sie  sind  einfadi  Anidtungen,  in  der  AnHobannDg 
etwas  sosammenznsetieD,  was  dei  andere  eohon  beisammen  hat  imd  haben 
moBB,  nm  die  Prtmissen  überhaupt  aosspteoheii  in  können. 


iM,Coo<^le 


166  EermaDD  Bwoboda; 

zufolge  der  unmittelbaren  Evidenz  alles  innerlich  Erfahrenen, 
Geschauten  — ,  in  mehreren  Urteilstheorien  seinen  Ausdruck 
gefunden '). 

Dafi  Vertrauen  in  ein  Urteil  gründet  sich  auf  seinen 
Inhalt,  das  in  einen  Schluss  auf  seine  Form. 

Es  kann  nicht  Aufgabe  der  vorliegenden  Untersuchung 
sein,  diesem  bedeutsamen  Unterschied  genauer  nachzugehen; 
nur  dies  eine  wollen  wir  aus  dem  Vorhergehenden  fiir  unsere 
Zwecke  konstatieren:  Unser  Denken  bewegt  sich  fortwährend 
zwischen  den  beiden  Extremen  des  reinen  Schauens  und 
des  reinen  Sprechens,  es  ist  immer  Sprechen  und  Schauen, 
bald  mehr  von  dem  einen,  bald  von  dem  anderen'). 

Die  Bilderfülle  Tuüert,  Vergleichen  wir  einea  VortragBudeo,  der 
Biah'a  erlanben  kann,  erat  coram  pablico  eq  deoken  mit  eiriem  woUvor- 
bereiteten.  Der  entere  spricht  mit  bäu&geii  kleinen  PauBeo,  wahrend  deren 
er  die  Aogen  toq  den  Hörern  gerne  wegwendet,  am  sich  das  Qeaichtsfeld 
niobt  irritieren  eq  laasen,  man  meikt  ihm  die  Hübe  an,  lortw&brend  Bilder 
EtiaamnenEQtrageD,  am  von  OeBohantem  herabznleaen,  Dagegen  das  sicht- 
lich legere  Benehmen  bei  mechauiaierten  fUnleitmgen,  Debergängenl  Von 
dieaer  letzteren  Art  ist  dnrobgKngig  das  Benehmen  politisoher  Bedner,  welch» 
Jahrzeh ntelaee  über  dasselbe  Progmmn]  spreohen  nnd  ihre  Phrasen  anr  einmal 
and  ein  für  aUemal  im  Leben  fundieren  —  wenn  tlberbaupt  —  im  Beginn 
ihrer  Laufbahn,  am  fürderbin  ganz  aatomatisch  au  funktionieren.  Im  lAofe 
der  Zeit  werden  eben  die  berrliohsten  Sätze  notwendig  Phrasen,  nicht  fnn- 
dierte  Urteile,  wenn  man  es  nnterlässt,  sie  van  Zeit  zu  Zeit  auf  ihren 
Gebalt  zu  prüfen.  Das  Schlimmste  ist,  wenn  aioh  die  Phrase  nngeprüft 
Tererbt,  also  für  den  Erben  von  Hans  ans  nor  eine  tanbe  Nnsa  ist. 

Während  nun  der  politische  Bedner,  wenn  er  nicht  von  der  ärgsten 
Sorte  ist,  doch  immer  auch  einen  eingeübten  Bilderzjklos  zur  Verfügung 
hat,  der  ihn  sicher  vor  dem  „Steckenbleiben"  sohützt,  ist  diese  FataiitSt  fast 
nnvenneidiich  and  ans  dem  ängstlichen  Benehmen  des  Betreffenden  sofort 
eraichtlich,  wenn  jemand  eine  Hede  —  zugegeben  von  Qebalt  and  Tiefe  — 
abfasat,  aber  beim  Memorieren  nicht  hauptsächlich  darauf  achtet,  die  be- 
gleitende Bilderreihe  zu  üben.  Nur  dies  letzere  berdhtgt  ihn,  für  eine  etwa 
entfallene  Wendung  sofort  eine  andere  zu  finden.  Wer  den  .Stoff  be- 
herrscht", dem  ist  nie  um  ein  Wort  bange.  Hierin  hat  die  ßedegabe  der 
Erleuchteten  ihren  Oiund ;  wohl  auch  die  Redseligkeit  der  Mystiker. 

Oanz  Analoges  finden  wir  auf  Seite  dee  Hörers,  Lesers.  So  und  so 
viele  Sätze  lassen  wir  passieren,  auf  Treu  nad  Olauben,  dann  halten  wir 
einen  an  und  suchen  ihm  was  zu  unterlegen.  Man  achte,  wie  ans  in  einem 
VortTage,  dem  wir  von  irgend  einem  Pankte  nicht  mehr  folgen  können, 
plötzlich  allea  Phrase  und  leerer  Schall  wild,  wie  wir  vergeblM^  naofa  ToT' 
Stellungen  haschen.    Ea  tat  oft  angemein  schwer,  anaugeben,  worin  dieses 

')  Vgl.  Lipps  Definition  von  Urteilen:    nVoratellen   mit  dem  B»< 
woBstsein  der  WirkÜohkeit'  (QiandthatMtchen  dea  Seelenlebeoa,  S.  396). 
>)  Siehe  Taink,  l'Intelligenae.    L  Bd.  £ap.  I,  3. 


iM,Coo<^lc 


YoTetehen  und  Begnifei).  167 

.Folgeo'  eöf^tlioh besteht  Die  l)ishergebreiioLtenBezai(^iiDDg«i  .Bilder- 
reihe",  „Oesiohte",  ,QesohaQtes'  sind  tär  die  meisten  FOlle  tIqI  zn  Btuk. 
Allein  da  bewährt  «ch  wieder  die  schon  früher  einmal  praktizierte  DifFereoz- 
methode.  Im  Aogeubliok,  wo  ich  den  Faden  verliere  and  mir  alles  Phrase 
wird,  merke  ich,  dass  etwas  niobt  mehr  da  ist,  was  früher  da  war,  ioh 
mwke  die  Aeoderang,  den  UnterBohiad,  wenn  ioh  anoh  infolge  der 
sohwierigen  Beobaobtangsverhältniase  nicht  angeben  kaan,  am  was  eich  mein 
Bewosstseinszostand  geändert  hat  Iah  verzeiobne  hier  meine  Bab^ektive 
EmpGndnng  in  solchen  F&llen:  Die  schwane  I^einwand  nach  einem  Skio^ 
tikon-BUd;  eine  sehr  beieicshnende  Association.  Und  hiermit  wfirea  vii 
wieder  ca  der  eingangs  dieses  Abschnittes  aalgeworfeaen  Frage  naoh  dem 
Oegenatand  anserer  Aassagen  znröokgekehrb 

Es  hat  sich  bisher  gezeigt,  dass  die  Grundlage  derselben 
oft  derart  ist,  dass  man  Aastand  nimmt,  sie  ohne  weiteres 
als  Zuständliches  oder  G-cgenständliches  zu  bezeichnen;  eher 
aber  noch  als  zuständlich.  Auch  die  Antworten,  die  man 
auf  Umfragen  erhält,  fallen  in  diesem  Sinne  aus.  In  letzter 
Linie  kommt  man  immer  auf  ein  „eigentumliches  Gefühl", 
keine  helle  Vorstellung  und  kein  deutliches  Gefühl,  aber  doch 
ausreichend  beglaubigt  als  Fundament  von  Aussagen^).  Ein 
Beispiel  dürfte  in  dieser  schwierigen  Frage  von  Vorteil  sein. 

Bei  dem  Worte  „Aufsehen",  ob  ich  es  selber  gebrauche 
oder  ob  ich  es  höre,  stelle  ich  mir  keineswegs  Leute  vor, 
die  von  ihrer  Arbeit  aufsehen.  Dem  Wort  entspricht  keine 
sinnliche  Vorstellung  mehr;  und  doch  wäre  dieselbe  so  be- 
zeichnend. Allein  das  Wort  ist  zu  geläufig,  es  ist  deklassiert,. 
zum  Alltagsdienst  erniedrigt.  Diesen  Wandel  machen  viel© 
Bezeichnungen  durch;  sinnlich  sind  sie  nur,  solange  sie  neu 
sind.  Daraus  erklärt  sich  das  Streben  der  Dichter  nach 
neuen,  farbigen  Bezeichnungen.  Je  populärer  sie  jedoch 
werden,  desto  mehr  werden  sie  von  der  Umgangssprache 
geplündert.  Die  nachaugusteische  Prosa  z.  B.  zeigt  dies 
deutlich.  Darum  scheint  uns  Schiller  heutzutage  stellenweise 
banal.     Der  Reiz  der  Sprache  Nietzsches!    Man  schaut  fort- 


>}  OcBBEs  (Die  Sprache  und  das  Erkennen.  Berlin  18S4.  S-  137) 
spricht  davon,  das  „Woitbegriffegefähltwerden".  AuohQoxPHM  (a.  a.  0, 
8.  96)  kommt  kq  dem  Sobloss,  dass  die  .sobeinbar  abstraktesten  Begriffe 
dnrdi  OefBhIs-  ood  H(uidlangsiiaalit&ten  Tertreten  weiden*.  Wjnmr  traut 
der  Selbstbeobaohtong  in  diesem  Falle  sowait,  dass  er  von  eineu,eigeii 
tümlioheD  Begriübgeföhl-  spricht    (Pbys.  Psych.,  11.  S.  477.) 


iM,Coo<^lc 


16g  Hermftria  Swobod«: 

während  beim  Lesen  seiner  Schriften.  Das  Gesichtsfeld  ist 
immer  belebt,  es  ist  einem  nicht  so  grau  dabei  zmnute! 

Kun  veiss  man  aber  trotz  des  Mangels  jeder  sinnlichen 
Vorstellmig  ganz  gut,  was  mit  dem  Worte  „Aufeehen"  ge- 
meint ist.  Ich  weiss  ganz  deutlich,  was  ich  etwa  mit  dem 
Satz:  „Das  Buch  erregte  allgemeines  Aufoehen"  sagen  will 
und  der  Leser,  was  damit  gesagt  sein  soll.  Und  so  in  Yielen 
Fällen.  Ich  weiss,  was  em  Staat,  eine  Versicherungsgesell- 
schaft, was  Transzendental-PMlosophie  ist,  ohne  mir  dabei, 
i.  e.  im  Momente  des  Wissens,  etwas  vorzustellen;  ja,  es 
kostet  mir  vielleicht,  besonders  das  erste  Mal  Mühe,  die  ent- 
sprechenden Vorstellungen  alle  zu  wecken  und  zu  bezeichnen ; 
ich  „weiss  es,  al>er  kann's  nicht  sagen".  Auf  Seite  des 
Hörers,  Lesers,  kSnnte  man  nun  annehmen,  bestehe  die 
Reaktion  auf  eine  solche  Bezeichnung  einfach  in  einem  Ge- 
fühl der  Bekanntheit,  der  VertrauÜieit;  sowie  der  Zollwachter 
jemanden,  der  täglich  Über  die  Grenze  hin-  und  hergeht, 
nicht  anhält,  nicht  visitiert  Allein  dieses  BekanntheitsgefQhl 
wäre  nicht  im  stände,  zu  unterscheiden.  Mir  ist  „Ver- 
sicherungsgesellschaft" bekannt  und  „Transzendental- 
philosophie" bekannt;  sie  smd  mir  aber  auch  als  etwas  ganz 
Verschiedenes  bekannt. 

Es  giebt  also  auf  Bezeichnungen  eine  doppelte  Art  der 
Reaktion:  eine  ausführliche,  vollständige  und,  eine 
summarische,  stellvertretende.  Diesen  zwei  Arten  der 
Reaktion  muss  aber  auf  Seite  des  Bezeichnenden  ein  zwei- 
faches Bezeichnetes  entsprechen.  Teilt  man  nun  alles  Be- 
zeicbenbare  ein. in  Dinge,  Eigenschaften,  Vorige  und  Be- 
ziehungen, so  fragt  sich,  was  kann  für  diese  stellvertretend 
eintreten? 

Es  handelt  sich  vorläufig  aar  um  Wortbezeichnungen. 
Da  ist  nun  zu  bemerken,  dass  ein  einzelnes  Wort  sowohl  ein 
einzelnesDing,eineeinzehieEigenschaftu.  s.  w.  bezeichnenkann 
als  auch  einen  Komplex  von  Dingen,  Eigenschaften,  Vorgängen, 
Beziehimgen,  als  auch  Komplexe  von  Dingen  und  Eigen- 
schaften und  Vorgängen  und  Beziehungen  (Beispiel  von  der 


iM,Coo<^le 


Vantohen  und  B^itifeo.  169 

Versichenm^geaellschaft),  so  dass  die  Beaktion  auf  ein 
solches  Wort  ein  Bild  sein  kann,  besser  gesagt  eine  Ab- 
bildung, oder  auch  ein  lebendes  Bild,  oder  auch  eine 
belebte  Situation  oder  endlich  eine  Reihe  von  solchen 
Situationen.  Was  ich  mit  einem  Wort  zu  bezeichnen  und 
womit  ich  darauf  zu  reagieren  habe,  ist  nur  im  Falle  der 
logischen  Begriffe  festgesetzt;  ausserdem  ist  die  Beaktions- 
freiheit  eine  bedeutende.  Das  giebt  dann  die  psychologischen 
Begriffe,  deren  unglaubliche  Verschiedenheit  durch  die  gleiche 
Wortbezeiehnung  unseligerweise  verschleiert  wird  und  zu  so 
vielem  Übel  im  Verkehr  der  Menschen  führt. 

Es  giebt  also  sehr  einfache  Beactionen  auf  Wortr 
bezeichnungen,  die  nur  einen  Moment  erfordern,  wie  zum 
Erkennen  eines  Gegenstandes,  tmd  sehr  komplizierte,  welche 
eine  länger  dauernde  Vorstellungsthätigkeit  erfordern.  Mit 
diesem  letzteren  Ausdruck  sind  wir  vielleicht  dem  wahren 
Sachverhalt  auf  der  Spur.  Eine  bestimmte  Vorstellungs- 
thätigkeit kann  offenbar  wie  jede  andere  Thätigkeit  mehr  oder 
minder  eingeübt  sein.  Erinnern  wir  uns  nun  der  Aussagen,  die 
wir  von  jemand,  der  in  irgend  einer  Hantierung  sehr  geschickt 
ist,  erhalten  Über  das,  was  ihm  während  derselben  bewusBt 
ist,  „Ein  eigentümliches  GefUhl,"  bekommt  man  immer  zu 
hören,  „ich  weiss,  wie  ich's  mache,  aber  ich  kann's  nicht 
sagen,"  ein  Gefühl  grosser  Sicherheit  bei  aller  Verschwommen- 
heit der  bewussten  Elemente.  Das  gerade  Gegenteil  beim 
Anßnger.  Ich  halte  es  nun  fllr  sehr  wahrscheinlich,  dass 
anch  von  einer  bestimmten  Vorstellungstiiäügkeit  ein 
FmiktionsgefUhl,  wie  man  es  nennen  könnte,  zurückbleibt, 
worin  mich  die  Beobaditung,  dass  verblasste  Vorstellungen 
als  GefUhl  oder  als  etwas  von  eigentumlichem  Charakter  be- 
zeichnet werden,  sehr  bestärkt.  Der  Sprachgebrauch  beweist 
zwar  nichts,  aber  er  ist  doch  symptomatisch.  Diese  ab- 
gekürzte Beaktion  wird  natürlich  besonders  dort  beliebt  sein, 
wo  die  vollständige  Beaktion  umständlich  oder  wenigstens 
nicht  in  einem  Moment  erledigt  ist.  Das  giebt  dann  „un- 
anschauüche  Vorstellungen;"  „ unanschaulich"  bezieht  sich  na- 


iM,Coo<^lc 


X70  Hermann  Swoboda; 

tltrlich  auf  das  Residuum  der  Vorstellungstbätigkeit.  Es 
giebt  keine  Bezeiclinungen,  auf  welche  ich  nicht  mit  einer 
Vorstellungsthätigkeit  reagieren  könnte,  bei  deren  Gebrauch 
ich  mir  nicht  irgend  etwas  vorstellen  kömite'),  nur  darf 
man  nicht  immer  so  einfache  und  momentane  Reaktionen 
verlangen,  wie  „Kasten",  „Bamn"  u.  s.  w.  Der  Satz  „Be- 
griffe sind  immer  imanschaulich"  hat  seinen  Grund  in 
einer  solchen  überspannten  Forderung.  Der  Begriff  i.  e.  das 
Begriffswort,  kann  entweder  eine  vollständige  Reaktion 
auslösen,  also  eine  Reihe  von  Vorstellungen,  oder  auch  eine 
einzige,  —  die  sind  dann  natürlich  anschaulich  -—  oder  eine 
abgekürzte  Reaktion:  da  giebt  es  nichts  Anschauliches, 
aber  auch  keine  Vorstellungen. 

Ea  iüt  ein  grosser  üntsTachisd  zwischen  dem,  was  von  der  ganzen 
Boakdon  auf  einen  gegeoBtändliahen  Begriff  zuräobbleibt  nnd  von  der 
aof  einen  BeziehangGbegriff.  Im  ersten  Falle  reagieren  wir  mit  einer 
konkreten  Voietellung  nnd  „der  Bereitschaft,  beliebige  andere,  wenn  nötig, 
in  reprodazieren"  (Home).  Die  Bereitschaft  ist  bei  allen  gegenständlichen 
Begriffen  dieselbe,  Bie  ist  keiner  nntereobiedlichen  Farbnogen  fähig.  Bei 
den  Beziehangsbegriffen  hraachen  wir  mit  gar  beiner  sinuliohen  Vor- 
slellong  ZQ  reagieren.  Der  Beziehnngsbegriff  kann  zwar  aach  an  einer 
Beihe  von  sinnlichen  Voretellnngen  veranBohanlioht  werden,  allein  sie  sind 
für  seine  Bildang  ganz  irrelevant  Eute  :  Einmal  ist  die  ToUst&ndigs 
Beaotion  eine  Keihe,  das  andere  mal  eine  Sitnation.  Eäoe  längere  Tor- 
Btellnogsthätigkett  kann  nicht  nnr  dorch  eine  einzelne  anschanllche  Vor- 
Btellnng  ereetzt  werden :  das  B^riffswort  kann  einen  Prozees  einleiten  od«r 
sofort  mit  einem  gewisiien  Charakter  verbanden  weiden;  ihm  selber  kommt 
weder  das  Attribut  der  Anschaulichkeit  noch  der  Ünanscbaolichkeit  m. 

Im  weiteren  Verfolg  seiner  Lehre  von  der  GestaJt- 
qualitilt  ist  Ehbehpels  dahin  gekommen,  dieselbe  auch  auf 
Begriffe  und  unanschauliche  Vorstellungen  auszudehnen*),  wie 
Ich  glaube,  mit  vielem  Recht.  Für  den  Ursprung  der  Lehre 
waren  Beispiele  massgebend,  wie  das  von  der  Melodie.    Die 

')  .Es  bt  nicht  möglich,  ein  durch  abstrakte  Wörter  aosgedriioktes 
Urteil  za  finden,  das  nicht  in  ein  genan  gleichbedeatendee  Urteil  mit 
koakreten  Namen  verwandelt  werden  könnte."    (Hill,  Logik.  I.  S.  126). 

')  Ueber  OeataltqaaliUten,  Viertelj.  f.  w.  Ph.  Bd.  XIV.  3.  Heft. 
Er  nennt  sie  (S.  S81)  „Oestallqoaliiäten  höherer  Ordnung."  Als  Beispiel» 
für  welche  fnhit  er  an:  Wohlthat,  Dienst,  klagen,  räohen,  Handwerk  n.  •., 
„bSohst  verschiedenartig  insammengmetzto  Vorsteilongskompleze,  die  wir 
in  „einheitlichen  BegriSen  verbinden,"  womit  wohl  nur  die  Boob- 
achtdog  gemeint  ist,  dasa  wir  beim  Gebrauch  derselben  kein  vielfach  ^* 
gliedertes  Bewnsstseinsdatum  haben,  sondern  etwas  fSnheitliohea,  eme 
chuakteristische  Nuance. 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Ventehen  and  Begreifen.  171 

Melodie  ist  die  Summe  der  einzelnen  Töne  und  doch  noch 
etwas  anderes,  sie  ist  auch  etwas  anderes  als  die  Summe 
der  aufeinanderfolgenden  Tonrelationen.  Sie  ist  etwas  Ein- 
heitliches, welches  oft  gar  nicht  zu  zerlegen  gelingea 
will.  Ich  habe  des  öfteren  die  Beobaehtung  gemacht,  Asiss 
ich  eine  auffallende  Violinpassage  aus  einem  Musikstück 
im  Ohr  zu  haben  glaubte,  ja  mir  dieselbe  auch  in  der  Vor- 
stellimg  zu  Gehör  bringen  konnte,  beim  Versuche  jedoch, 
sie  niederzuschreiben,  um  eine  Anzahl  Noten  in  Verlegenheit 
war.  Ebenso  glauben  wir,  uns  eines  Ornamentes,  einer  Ge- 
bäudefatfade  ganz  genau  zu  erinnern,  als  Ganzes  ist  sie  uns 
gegenwärtig,  übers  Detail  hingegen  trauen  wir  uns  keine 
Wette  einzugehen.  Achten  wir  genau,  was  von  der  Ge- 
samtTorstellung  bleibt  und  was  ausßlllt,  so  können  wir  kon- 
statieren: Es  bleibt  ein  Schema,  ein  Linienschema  und  alles, 
was  dasselbe  verundeutlichen  könnte,  verblasst.  Dass  von 
Ornamenten,  Gebäuden,  Landschaften  ein  Linienschema 
bleibt,  erscheint  naheliegend,  allein  ich  habe  die  Beobachtung 
gemacht  und  durch  Umfrage  bestätigt  erbalten,  dass  auch  von 
Melodien,  von  Eeiationskomplexen  und  Belationsbegriffen 
solche  Linienschemata  übrig  bleiben,  wenngleich  nicht  so 
deutlich').  Ich  halte  nun  dieses  visuelle  Schema  in  allen 
Fällen  fllr  ein  associatives  Element  und  zwar  von  Bewegungs- 
empöndungeu.  Die  Bedeutung  dieser  wird  in  der  neueren 
Psychologie  immer  mehr  anerkannt,  zum  Teil  wohl  auch, 
wie  durch  Steickeb,  entschieden  Übertrieben. 

Bei  dem  focalen  Charakter  imseres  Sehfeldes  sind  wir 
bei  den  meisten  Gegenständen,  wenn  wir  sie  genau  besehen 
wollen,  genötigt,  ihre  Kontur  mit  dem  Blick  abzulaufen; 
dasselbe  thun  wir  aber  auch,  wenn  wir  uns  emes  Gegen- 
standes genau  erinnern  wollen.     Wenn  ich  mir  z.  B.  einen 


')  Intereescnt  iat  dka  Ei^ebnis  einer  kleinen  EnqnSte,  wel<Ae  Ribot 
(Enai  enr  rimagiDstion  oreatrioe.  Paris  1900.  Anhang)  mitteilt,  wonach 
von  16  nnnineiäilieohen  Personen  im  Konzert  zu  aehen  angaben:  8  dsa 
Ügnea  oonrbea,  3  des  imagee,  des  fignres  qoi  s&ntent  en  l'air,  des  deasias 
phantastiqnea,  2  les  vagaes  de  la  mer,  2  rien. 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


172  Hormann  Swobodi: 

Elepbanten  genau  vorstellen  will,  so  ziehe  ich  mit  dem  Auge 
seine  Kontur,  vom  Rüssel  ausgebend  Über  den  Blicken  u.  s.  w. 

Auch  das  E  rinne  rungssehfeld  bat  focalen  Charakter. 
Es  ist  Übrigens  zweierlei  möglich:  Dass  ich  mich  bei  der 
Erinnerung  an  einen  Gegenstand  der  mit  dem  Sehen  ver- 
bundenen  Bewegungsempflndimg  bloss  erinnere,  oder  aber  die 
betreffenden  Bewegungen  zur  Verstärkung  der  Erinnerung 
thatsächlich  ausführe.  Zum  letzteren  Falle  ist  zu  bemerken, 
dass  er  Zeit  erfordert,  ein  Moment,  welches  überhaupt  för 
die  in  zusammenhöngendor  Darstellung  vorkommenden  Vor- 
stellungen sehr  in  Betracht  kommt;  das  jeweihge  Tempo 
einer  Bede  oder  einer  Darstellung  lässt  nur  eine  bestimmte 
Reaktionsdauer  zu  und  soll  natürlich  der  Beaktionsmindest- 
dauer  angemessen  sein. 

Wenn  uns  jedoch  eine  Vorstellung  sehr  geltlaflg  Ist,  so 
wird,  wie  immer  durch  Übung,  eine  Verkürzung  des  Pro- 
zesses eintreten,  die  Bewegungsempfindungen,  welche  beim 
Ausfahren  einer  Kontur  einander  folgen,  werden  so  zusammen- 
rücken, dass  sie  den  Anschein  einer  einzigen  erwecken:  So 
machen  wü-  auch  unsere  Unterschrift  „in  einem  Zug",  eine 
TumUbung,  eine  Figur  beim  Eislaufen  „in  einem  Schwung." 
Die  Erinnerung  an  diese  eine  Bewegungsempfindung  wird 
dann  als  Momentreaktion  sehr  geeignet  sein  und  damit  zur 
Supplierung  der  gegenständlichen  Vorstellung  selber. 

Lazabub  beschäftigt  sioh  sehr  eingehend  mit  den  VerkfinniiRS- 
pTOceeaen,  bleibt  jedooh  bei  einer  detailierten  Beaohreibong  und  etwuobw- 
fiäohliohen  Binteilnng  des  Beob&cbtangsmftterialea  st«hen.  Er  nntersohaidet 
(L  0.  8.  245  ff.)  zwischen  „verdichteten  nnd  vertretenden  Vorstelinngea." 
,In  dar  Bepräsentfttion  etBobeint  der  Denbakt  von  dem  wirkliohen  Inhalt 
ToUkummeD  entleert  nnd  dorch  eine  blosse  B«eiabnng  oder  Hindentang  tat 
denselben  ersetzt"  „Die  Terdtohtnne  des  Denkens  besteht  duin,  data 
Zdt-  nnd  Eraftrerbrauofa  für  den  gleichen  Inhalt  immer  geringer,  oder 
Üinfjug  nnd  Energie  das  Inhalts  immer  gifisser  wird."  Es  nensoht  keine 
reobta  Klarheit  darüber,  wann  wir  es  mit  verdichteten  nnd  wann  mit 
Tertretenden  Vorstellangen  zu  thnn  haben.  Das  Bichliga  dürfte  wohl  sein, 
doBs  laerst  sine  VardichtanK  stattfindet  nnd  das  Verdiohtmigsprodakt  dann 
staUvertretend  ist.  Die  Frage  naoh  dem  Wesea  dieaes  TardnbtaD^ 
jmdnkteB  hat  Laubdb  nicht  gestellt  Auch  EHBanriLs  besobiinkt  anli 
eigentlich  darauf,  fdr  üne  Seihe  anbestreitbarar  Ersdiainnngeii  einen 
passenden  Oattnngsbegriff  an  finden.  Dadnroh  indes,  dass  er  sdnen  Ä.m- 
gingspnnkt  von  klaren  Formgabildsn  nimmt,  fnr  welohe  die  Bedentnng  der 
Bewegnngsemp&udangen   anerkannt  ist,  ist  er  dem  Oedanken  an  eine  all- 


iM,Coo<^le 


TuBtehen  tmd  Begraifen,  173 

Sanvoare  Bedeutung  deiselben  schon  naher,  Aach  webt  er  Dacbdrnoklioh 
axml  hin,  du8  die  Oeetoltqoalität  ein  „poBitiveB  TorBtellnngs- 
•  lemanf'  Bei,  etwas,  was  xa  einem  TontellnngEkompIex  hinEokommt, 
nicht  infolge  von  VertnmiagfiprOEesEeii  von  ihm  übrigbleibt. 

üeber  „Terdiohtong",  soweit  sie  Gathmgsbegrifto  betrifft,  vgl, 
Bibot  (L'eTolotiou  dea  idees  g6n£raies.  Psris  1897).  Derselbe  weist  anch 
auf  den  ESnfloss  der  Uebnng  hin;  On  sppiend  i  oomprendre  an  ooncept 
comme  on  apprend  k  maicher,  i  danser,  i  faire  de  rescrime,  k  joner  d'nn 
inatrament  de  mnaiqae  ,  .  .  Lee  tennes  generanz  ooovrent  nn  savoir 
potentiel,  leB  ideeB  gen^es  Bont  des  htbitadee.  So  Bchon  Htune, 
Inatise  17,  wo  ei  sagt,  ^e  aiiBführiiobe  Reaktion  anf  ein  Begiiffawort 
ad  nns  .only  preeent  in  power,"  Dabei  wird  fibetsehen,  das«  es  aioh  nidit 
darum  bändelt,  ob  man  der  ansffihriiohen  Beaktion  mSohtig  ist,  sondern 
ob  man  für  «e  einen  knnen,  nichtsdestoweniger  aber  vollstilndigen  Er- 
Btti  haL  Wenn  Ribot  (8.  168)  bemerkt:  an  fiiud,  rantagonisme  de 
l'image  et  de  l'idie  o'est  celle  dn  tont  et  de  la  partie  so  veniänt  er  offen- 
bar diese  HögUchkeit.  FieiUoh  steht  damit  wieder  seine  Aeassernng  im 
Wideieprach:  lapeDBÖeaymboliqoe,  Operation  parement  verbale  en  sfiparenoe, 
est  Bontenae,  ooordonäe,  vivift^  par  an  savoir  potentiel  et  an  travail  in- 
oonsdent-" 

Was  die  Beaohreibnng  der  Thstsaoben  anlangt,  so  herrsobt  ober  die 
Frage  dea  TerkürznogsprozeeseB  in  allen  Schriften  seit  Locke  grosse  üeber- 
einstimmong;  die  leiäite  Zngftngtichkeit  der  Beobachtnogen  lätt  indes  mit 
der  Schwierigkeit,  dieselben  eq  erkl&ren,  ^eiehen  Schritt. 

Ich  erwähne  noch,  dass  die  früher  besprochenen  Be- 
wegungsempfindungen  möglicherweise  beim  Sehen  des  GJegen- 
standes  schwächer  sind,  als  beim  erstmaligen  VorBtellea,  wo 
das  Auge  von  nichts  Realem  dirigiert  wird.  Das  Vorstellen 
eines  uns  nicht  geläufigen  Bildes,  etwa  des  Antlitzes  einer 
laug  Terstorbenen  Person  oder  eines  demolierten  Gebäudes 
kostet  bekanntlich  Anstrengung;  wir  müssen  Zug  um  Zug 
zusammentragen;  wir,  d.  h.  alle  diejenigen,  welche  nicht 
ausgesprochen  zum  type  visuel  gehören.  Je  lebhafter  die 
Empfindung,  desto  dauerhafter  die  Vorstellung.  Dieser  Um- 
stand ist  nun  von  grosser  Bedeutung  für  die  VorsteUung  von 
Vorgängen,  Thätigkeiten  und  Beziehungen,  denn  wie  schon 
oben  bemerkt,  sind  diese  Vorstellungen  eigentlich  ein  Vor- 
stellen, sie  erfordern  unsere  Aktivität.  Vorstellen  in  diesem 
Sinne  heisst  ja  nichts  anderes,  als  auf  eine  Vorstellung 
die  Auftnerksamkeit  richten.  Nun  sind  Vorginge  und 
Thätigkeiten  Bewegung.  Die  Vorstellung  von  Bewegung 
kann  aber  nur  Bewegung  von  Vorstellungen  sein'). 

*)  Stont,  vgl.  Apperception  and  the  movement  cf  attention.  MinA  XVt, 
8.  28;  The  idea  of  a  movement  is  the  movement  in  ita  oommsnoement^  and 
all  ideas  are  to  some  eztent  ideaa  of  movement 


iM,Coo<^lc 


.174  '  HarmftDD  Svobods; 

Ich  lasse  es  wieder  dahingestellt,  ob  sich  zu  dieser  Bewegung 
voD  Vorstellungen  die  Bewegungsempfludung  assocüert  oder 
ob  sie  mit  derselben  entsteht  Während  nun  auch  im  Falle 
der  Vorgänge  und  Thätigkeiten  die  Bewegungsempfindungen 
im  Anschluss  an  Bewegungen  in  der  Aussenwelt  entstehen, 
iiaben  wir  es  bei  den  Relationen  mit  der  ruhenden  Aussen- 
welt zu  thuu.  Alle  Beziehungen  sind  in  erster  Linie  ein 
Beziehen,  Bewegung  des  beziehenden  Ich  zwischen  Vor- 
stellungen, Bewegung  von  Vorstellungen.  Beziehung  als 
etwas  Reales  kann  nichts  anderes  sein  als  die  mit  dem  Be- 
ziehen verbundenen  und  von  demselben  zurückbleibende  Be- 
wegungsempfindung'). Diese  —  wie  man  sie  nennen  könnte 
—  Relationsempfindungen,  gelangen  zu  grosser  Selbst- 
Ständigkeit  und  Unabhängigkeit  von  sinnlichen  Vorstellungs- 
elementen, so  dass  sie  ganz  allein  imstande  sind,  Aussagen 
zu  fundieren*), 

Das  beste  Bespiel  za  den  eben  behandelten  Fragen  bieten  wohl  die 

BeEeichDungen  für  Terwondtschofts-,  SchwagerschaflSTerh&ltiiisse,  natürlich 
anoh  andere,  minder  poputftta  Begriffe  der  BeobtswisseDSohatt  wenn  nos 
jemand  von  Beioem  Stierbmdei  oder  Beinern  Schwager  spriobt,  BO  Bind  wir 
angenbUdclich  orientiert.  Wenn  er  ans  hingegen  etwa  folgende  Hittailnug 
nacht:  Eine  Sohwägetin  meiner  Fran  ist  mit  meinem  QrosBneSen  ver- 
heiiatet,  so  mnsaen  wir  uns  das  erat  „inreohttegen".  Solohe  Relationen 
sind  uns  zn  wenig  geläufig,  als  dass  sie  sich  konzentriert  haben  könnten; 
wir  müBBen  sie  .aiiefübren",  mässen  Schritt  für  Schritt  nach  der  bekannten 
Manier  in  Oedanken  einen  Stammbaam  entwerfen.  Das  Terhältnia  ist  das 
nBmb'ohe  wie  beim  Fechten,  Schwimmen,  lanzen,  das  man  zaerat  aof  Tempi 
erlernt,  bis  diese  darch  Hebung  soBammennicken.  Dsb,  was  duroh  di* 
üebnug  wegf&llt,  ist  aber  nur  die  auf  die  einzelnen  Phasen  gerichtete  Auf- 
merksamkeit, während  diese  selbst  hlom  uubewusst  werden.  Beweis 
dessen,  dass  sie  bei  jedem  Widerspruch  sich  sofort  wieder  abheben.  So 
^braucht  der  geübte  Jnrist  Begriffe  wie  Eigentum,  Besitz,  Sohadenusati 
mit  voller  Sicherheit,  ohne  siiÄ  deren  Definition  explicite  zu  vergegen- 
wärtigen. Hört  er  dagegen  über  diese  Begriffe  nnriahtige  ^ussageii,  so 
spüren  dies  sozusagen  die  Begriffe  sofort  an  der  riohtigen  Stelle,  d.  h.  es 
wird  jener  Punkt  der  Definition  bewusst,  gegen  wetcben  die  Aussage  fehlt, 
ein  Beweis,  dass  das  ünbewasste  nicht  unwirksam  war.     Wohl  wird 


')  Mich  wundert,  dasB  SatoaiTS!&,  det  die  Relationen  aasdruokliob 
für  Oestaltqualitilten  erklBrt  (1.  o.  8.  273)  und  vom  Tei^leidien  sogar  sagt, 
es  sei  ein  „Wandern  des  geistigen  BlioksB"  (S.  274).  nicht  diesen  weiteren 
Bchritt  gethan  hat. 

*)  Tgl.  BaSdittg,  Psychologie,  S.  206:  „Wir  behalten  Betiehnngen 
besser  läs  die  einzelnen  am  Beiiabnng  gehörigen  Glieder,  die  Form  besser 
als  den  Inhalt." 


iM,Coo<^le 


Tentoh«!  und  B^ieiliBn.  176 

such  hier  öftera  der  B{Atei  tn  erwähnende  Fall  eintreten,  daaa  Bohon  die 
AoBsage,  die  WortnaunmenBtelliing  doroh  du  Ungewohnte  aoffKllt  —  IndM 
nnr  bei  gröberon  Widerspiflohen.  Das  jniistiBohe  Denken  besteht  gröasten- 
twla  im  Anfetellen  mögUoher  BedebnngeD ;  der  AaBBcblmn  der  nnmöglichen 
wird  in  der  eben  enÄhnten  Art  djmb  die  verwendeten  Begriffe  selbst 
garantiert  —  nstörlioh  in  mannigfachen  Graden,  die  von  der  Ftinfühligkeit 
nnd  Geübtheit  des  lodividanins  abUngen. 

Qanz  analog  li^en  die  Verhältnisse  beim  btlentierten  oder  wettigstens 
geübten  Schachspieler.  IKe  Wirbin^kreise  seiner  und  der  feindlichen 
Figuren  Bind  ihm  geitenwärtig  and  beeinfliiBseii  seine  Hasanalunen,  indem 
sie  ebe  Reihe  von  Zügen  aoBBohlieesen  —  ohne  dass  er  sieb  erst  sagen 
mSsste:  Dorthin  kannst  dn  nioht,  dorthin  anoh  nicht  n.  b.  w.  Und  aa 
braucht  aieh  andi  der  grosse  Feldherr  nicht  eigens  zn  sagen:  dort  hah  ich 
ein  Detachement,  von  der  Seite  hin  ich  gesichert,  sondern  vom  Aogenbliok, 
WD  er  diese  Umstände  znr  Kenntnis  genommen  bat,  datiert  ihre  fortdanernde 
"Wirkaamkeit,  wenn  sie  anoh  nnbewnsst  blähen.  Nur  aof  diese  Weise  ist 
es  möglich,  bei  einer  Entscblnssbusang  alles  la  berüolisiohügen,  was  von 
Belang  ist:  Nnr  wer  nicbta  zu  berücKBichtigeo  braaoht,  kann  alles  be- 
rücksichtigen —  aberücksicbtjgen"  das  erstemal  im  Sinne  von  aofmerkaam 
befrachten  genommen.  Ist  man  genötigt,  einen  Umstand  nach  dem  anderen 
herannehmen  nnd  abEuwSgen,  so  ist  erstens  die  ToUstlndigkeit  dieses  Ver> 
hhreus  wie  die  Erfabmng  zeigt,  sehr  fraglich,  femer  wird  die  simultane. 
Einwirkong  in  eine  snccesBive  verwandelt,  die  ßeihenfolge  >-  so  Euällig 
sie  manchmal  sein  mag  —  wird  dadurch  von  trnglicher  Bedeutung.  In 
dem  einen  Falle  müBBen  wir  uns  aus  den  vielen  Komponenten  die  Besnl- 
tierends  konstruieren,  im  anderen  Fall  bewegen  wir  uns  auf  ihr  wie 
ein  Körper,  der  von  mehrerea  Kräften  angegriffen  wird. 

Sobald  von  den  Gliedern  einer  Relation  abgesehen  wird, 
können  die  Aussagen  über  dieselben  natürlich  wieder  nur 
Eelationen  sein.  Dies  ist  der  Fall  in  der  Arithmetik,  deren 
psychologische  Grundlage  erst  in  neuerer  Zeit  scharfsinnigen 
Untersuchungen  unterzogen  wurde.  Die  Arithmetik  ist  aber 
nicht  nur  aus  dem  Grunde  interessant,  weil  Relations- 
empflndungen  ihre  einzige  —  nicht  etwa  bloss,  subsidiäre 
Grandlage  —  sind,  sondern  besonders  deshalb,  weil  ihr  Aus- 
sageinhalt, das  Besagte,  gar  nicht  zum  Bewusstsein  kommt. 
Die  Evidenz  eines  Satzes  der  Arithmetik  prüfen  wir  an 
keinerlei  Vorstellungselementen;  in  dem  Augenblick  jedoch, 
wo  er  uns  einleuchtet,  wird  unser  Bewusstseinsinhalt  doch 
um  etwas  reicher  gegen  früher,  wo  wir  ihn  nicht  verstanden. 
"Wie  in  vielen  Fällen,  so  wird  indes  auch  hier  infolge  der 
grossen  Übung  und  der  dadurch  ermöglichten  Kompliziert- 
heit der  Operationen  die  gedankliche  Rekonstruktion  dos 
Urspriinglichen  und  Elementaren  an  ihnen   sehr  erschwert. 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


176  HermaiiD  gwobod«: 

Erl&ntemiigeii  über  die  pBjobotogisohea  Orondlageii  dei  Hathemitik 
amd  TOD  fondAinwitftler  Bedeatung  für  die  Betraohtnn^  aller  .A.bkfiTciiiig»> 
prazesse"  anoh  ausserhalb  derselben.  Ich  verwetse  hier  auf  Ziadlera  ^BÜi^ 
faüge  znr  IHieorie  der  mathematiecheii  Brtaiuitiua''  (ffitz.  Borklite  dar  RiiL 
hJ8t  Klasse  d.  kais.  At.  d.  W.  Wien  1889).  wdohe  in  Absoh.  T  (üebar 
die  mstbematisohe  Symbolili)  eine  öber&oa  klare  Behandlung  der  va- 
sobUgigen  Fragen  liefern.  Zindler  nntersoheidet  iwisohen  reprägen- 
tierenden  nnd  BairogatTorBtetloDgen,  von  denen  die  ersteron  in  dar 
aynthetiiohnn  Oeometrie  überwiegen,  die  letzteren  in  der  Arithmetik  (i.  B. 
das  IntegralzeiDhen).  BeprgHeutierende  Tarstellnngea  sind  also  hier 
ansobanliohe  (im  Gegensatz  zn  Lizibdb).  Aber  anch .  dia  Snnofiat- 
Torstallongan  sind  es  and  ihr  Zweck  brätsht  eeiade  darin,  HPinBBS 
Ofientionen,  die  mit  den  Objekten  selbst  nicht  ansäiaiitiob  aosfUirlMr  und, 
mit  den  Embolen  ansohanlicb  Bosznfähren.  Und  ans  dem  Besnitata  der 
Oparationen  mit  den  Symbolen  xieht  man  Sohlüase  ant  die  Besnitata  der 
^Mrationen    mit   den    Objekten    selbst.     Da    ferner  die  Halationen 

zwischen  den  Bnrrogaten  leicht  erkennbar  sind so  wird  es 

anroh  Symbolik  möglich,  fielatjonen  zwischen  matheraatisohen  Olq'ektea  ta 
entdecken,  welche  man  ohne  Symbolik  nnmögliob  hätte  feststellen  köimen.* 
Was  die  Ifatbematik  von  den  übrigen  Wissenschaften  nnd  dieee  wieder  vom 
Alltagadenkan  nnterscheidet,  das  sind  die  Eantelen,  dass  dnrch  die  Operation 
mit  den  Symbolen  nlohts  herauskommt  als  was  man  sich,  wenn  snoh  nm- 
st&ndiiober  durch  die  Operation  mit  den  Objekten  TerschafFen  könnte.  Die 
BeschaSang  solcher  Kaatelen  ist  schon  des  Öfteren  versncht  worden;  ne 
liegt  schon  LBiBj^zeng  Gedanken  einer  cbarakterologia  nnireisalis  zu  Oninde. 
Die  Anabildnng  wissenschaftlicher  Begriffe  leistet  nicht  so  grosse  Dienste, 
als  blofig  gemeint  wird.  Denn  der  wissenschafUJohe,  der  logisohe  Begriff, 
ist,  genau  genommen,  eineBeibe  von  Urteilen,  in  dieser  Fonn  aber  düoh- 
aus  nnhandliab.  Die  E^e  hingegen,  wo  man  das  Begiüfewort  uiweflUir- 
licb  als  Bjmibol  verwenden  imn,  sind  für  das  schöpferische  Danken 
wertlos.  Daranf  kommt  es  aber  hanptsBohlich  an,  ein  Punkt,  den  mdi 
ZiNDLKB  ansser  acht  Ifissi  .Alle  beim  mathematisoben  Denken  anftretendm 
Torsteltnngen  bestehen  ans  Wortvoretellungen,  üesicbtsbildeni  nnd  den  in 
der  Bev^angs7orstellang  vorhandenen  Elementen  (S.  76j.  Allein  man  mnss 
unterscheiden  zwischen  dem  Bachner  und  Mathematiker,  wie  iwisohen  dem 
Oeaetzeekundigen  nnd  dem  Juristen,  dem  Mechaniker  und  Physika.  Hu 
der  Beohner  wird  mit  blossen  Wortvorstellnngen  in  seiner  Art  etwas  leisten. 
Auch  Harti  (Ueber  SprachreSex,  Nativismus  und  absichtliche  Sprach bildung, 
Tierielj.  f.  w.  Fh.  XIV.  B.  78)  ist  der  Unterscheidung  von  reptflsentieTauden 
nnd  Surrogat voTstellnn  gen  nahe,  wenn  er  dem  Wort  nachrühmt,  dass  es 
uns  erleichtert,  „Das  Gewonnene  in  jedem  Angenbhck  sicher  zu  re^egen- 
w&rtigen  und  zum  Behnf  weiterer  Verwendung  in  noch  komplizierteren 
Ge  dankengetügen  im  Bewuestsein  festzuhalten.  Endlich  kann  das  Wort 
geradezu  Btellvertreter  des  Begriffes  sein,  was  uns  beeondais  bei 
sehr  fcomplixierten  Oedankeninhalten  zu  statten  kommt*. 

An  dieser  Stelle  möge  anch  auf  die  vortrefflichen  Ausrührungen  hin- 
gevrieeen  werden,  welobe  Stoui  in  dem  Aufsatz  Thonght  and  langnage 
(Hind  XVI.  S.  186  und  187)  zum  Gegenstände  liefert.  Er  ontersoheldet 
zwischen  suggestive,  expressive  ond  Substitute  signs.  HSnggeslive 
sign  is  merely  a  memory  help"  es  tritt  ganz  zurück,  wenn  ee  seinarflicht 
gman  hat.  Ein  eolobcs  Zeichen  ist  die  Gestalt  des  Springers  im  Schach- 
spiel. Znm  Denken  selbst  Ist  mir  das  Zeichen  und  die  Aufmetksamkeit, 
welche  leb  daranf  richte,  gai   nichts  nütze.     Das  gerade  Gegenteil  beim 


iM,Coo<^le 


Terstohen  und  Bograifsa.  177 

B  tign  in  dar  Arithmetik,  Al^bn,  fonulen  Logik  (I);  it  renden 
naelees  oll  raforance  io  thit  wbitdi  it  repreaentB.  Du  EAup^tenue  «endet 
tödi  den  expreesiTe  signi  so,  dea  Worten.  Zieht  man  in  Betracht,  due 
wü  beim  Seden,  Lesen,  Bolireibea  oft  kdaen  deutlichen  Bewnsstssinainhalt 
haben  als  die  dabei  Kebran<^ten  Worte,  daas  vii  aber  denselben  ^  Intel- 
«Bse  rawenden,  webhee  in  den  die  Worte  koostitaierenden  Oasichta-,  Qe- 
faöre-  nnd  Innerritionaempflndiingen  tmmSgUoh  eetne  Quelle  liaben  kann, 
so  bleibt  noT  fibrig,  daaa  die  Bedentnng  der  Worte  doroh  die  anf  sie 
gerichtete  Anfine^amkeit  waohgerafen  wird.  The  expresslTe  BÜn  is  a 
meaaB  of  attending  to  itssigniflottioD.  l.af  diese  Wdse  ist  das  Wort  an 
instmment  for  thinHng  kbont  the  meaoing  vhioh  itexpresseB;aBabetitate 
mgn  ia  a  means  of  not  thinkjog  abont  the  meacing  wnioh  it  symboliseB. 

Es  kann  nicht  Aufgabe  dieser  ZeÜea  sein,  die  ange- 
regten Fragen  noch  weiter  zu  verfolgen;  es  sei  nur  fUr  unsere 
Zwecke  konstatiert,  dass  es  ein  sehr  unscheinbareB,  jedocli 
äussert  wichtiges  Fundament  unserer  Aussagen  giebt:  die 
Bewegungsempfiudungen,  resp.  ßelationsempändungen,  dass 
dieselheo  ferner  teils  von  subsidiärer  Bedeutung  sind  als 
Ersatz  der  vollständigen  Reaktion,  teils  selbständige  Aussage- 
iahalt«, wie  in  der  Arithmetik.  Bewegungs  (Relations-) 
empflndungen  sind  es  wohl  auch,  welche  vielen  Hyposta- 
sierungeo  zu  Grunde  liegen,  wodurch  der  in  denselben  ein- 
geschlossene Glaube,  dass  wirklich  etwas  da  sei,  eine,  wenn- 
gleich andersartige  Bestätigung  erfährt. 

Da  mit  der  Vorstellung  von  Bewegung  die  von  Richtung 
und  Geschwindigkeit  untrennbar  verbunden  sind,  so  erklären 
sich  leicht  die  den  Relationsempfindungen  (dem  abstrakten 
Benken)  häufig  assoziierten  Linienscbemata,  choreographischen 


Wir  fi-agten  oben:  Was  kann  alles  bezeichnet  werden? 
Und  die  Antwort  ww:  Dinge,  Eigenschaften,  Vorgänge,  Be- 
ziehimgen,  einzeln  oder  in  bunten  Komplexen.  Bisher  war 
nur  von  Wortbezeichnungen  die  Rede.  Was  dieselben  — 
abgesehen  von  den  bei  der  Entstehung  der  Sprache  mass- 
gebenden Momenten  —  veranlasst,  ist  hauptsächlich  das  Be- 
dürfnis, fUr  gewisse,  häufig  wiederkehrende  Komplexe  ein 
einfacheres  Zeichen  zu  haben,  sowie  man  in  der  Algebra  für 
einen  längeren  Ausdruck,  den  man  herausheben  kann,  ein 
emziges  Zeichen  einsetzt.  Die  Wortbezeichnung  trägt  so- 
dann wesentlich  bei,  den  bezeichneten  Komplex  zu  fixieren, 

L  PhUoi.  u.  SoidoL    XXVU.    g.  12 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


ItS  HvTMnm  8w»b«4«t 

wu  freilich  von  grossem  Sehaden  ist,  sobaJd  sich  eine  ander» 
SUementeiikombination  als  braachbar  erweist,  indem  die  alte 
EombiBaüon  ihrem  ZerreiBsen  grossen  Widerstand  eotgegen- 
eetzt,  worin  sie  von  dem  aasoziierten  Worte  unterstützt  wird- 
Dadurch  wird  der  Wert  der  Sprache  fllr  das  originelle  Deakm 
sehr  herabgesetzt.  Die  Yereinfacliuug  des  Denkens,  welche 
man  ihr  häufig  nachrühmt,  leisten  in  erster  Linie  die 
im  Vorhergehenden  behandelten  Bewegungsempfindungen, 
oder  wenn  man  eine  weniger  verpflichtende  BeEeidinung  vor- 
sieht, die  GeBtaltqualitäten,  so  dass  es  ausser  dem  DenkeK 
in  Bildern  noch  eine  Art  sprachlosen  Denkens  giebt 

Die  Anwesenheit  von  Wortroratellmigen  ist  ebensoTMÖg- 
präjudiziell  fOr  ein  unanscbauliches  Denken  als  es  die  An- 
wesenheit von  VorsteUnngen  für  ein  anachaoUches  Denkw^ 
ist.  Dass  man  sich  verleiten  lassen  kann,  in  den  beim  Denken 
gegenwürtigen  Vorstellungen  die  Hauptsache  zu  erblickM^ 
daran  ist  die  Natur  der  Bewegungsempöndungen  Schuld,  der 
Umstand,  dass  sie  sich  infolge  der  grossen  G-eübtheit  nicht 
mehr  als  solche  abheben.  So  befähigen  sie  uns  ja  aueh  suBi 
präzisesten  Auffassen  der  Eaumverhältniase,  ohne  dasa  vir 
ihre  Beihilfe  ahnen.  Ferner  haben  die  Wortvorstellungeo, 
ob  Oesiehts-  oder  Lautbilder  als  Vorstellungen  der  sensorieUen 
Sinne  eine  bedeutendere  Lebhaftigkeit,  sie  sind  von  den  flinf 
Qebilden,  die  sich  bei  jeder  Vorstellung  zur  WcnDr'scbeiL 
Komplikation  vereinigen,  die  hellsten.  Allein  nicht  sie  sind 
es,  welche  Wortzusammenstellungen  von  wenigstens  an- 
scheinender Berechtigung  ermöglichen,  wofern  uns  nicht  diese 
Zusammenstellungen  selbst  schon  geläufig  sind.  „So  weseofe- 
lich  sind  die  Worte,  dass  es  für  ein  völlig  klares  Denken 
genügen  kann,  wenn  nur  die  Worte  dem  Bewusstsein  sich 
darstellen",  meint  Lopps.  Nach  dem  Gesagten  ist  es  flb"  die 
Wesentlichkeit  der  Worte  kein  Beweis,  wenn  sie  im  Bewusst- 
sein dominieren.  Mit  blossen  Worten  kann  man  nicht  ein- 
mal einen  Unsinn  sagen,  von  der  Art  etwa  wie  die 
HezenchQre  in  der  Walpurgisnacht,  diese  „meisterhafte 
Mischung  von  Sinn  und  Unsinn". 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Tmtebra  und  BagralfcB.  ^79 

Soirie  das  einzelne  Wort  kOnnen  unser-e  sämtiicbm 
AuSBagen,  irie  kompiliert  sie  auch  sein  mOgen,  nicht«  anderes 
sein,  als  Bezeiclinangen  Ton  Dingen,  Eigenschaften,  Vot- 
gfingra,  Beziehungen  und  deren  Komplexen.  Allmli&gB 
Qotn'Beheidet  sicii  das  durch  Wcnle  Bezeichneta  Ton  ^dera 
^orch  umfangreichere  Aussagen  Bezeichneten.  Das  Bezdicb- 
nete  muss  einmal  bemerkt  werden;  dazu  Bind  die  Verhält- 
nisse  nicht  immer  so  gOnstig  vie  bei  Gegenständen ').  Wort- 
bezeichnnngan  haben  m.ch  nur  iUr  das  gebildet,  was  dem 
Durchschnittsmenschen  auffällt;  vqp  eine  neue  Erscheinung 
entdeckt,  wem  eine  neue  Beziehung  einßUlt,  der  muss  sie  zuerst 
beschreiben,  dann  kann  er  sie  auch  benennen.  Von  da  aus 
erfohren  die  Wortbezeichnungen  eine  fortwährende  Be- 
rdchenmg.  Allein  der  ungeheueren  Mannigfalti^eit  der  Er^ 
seheinungswelt  gegenllber  sind  sie  doch  gering  an  Ziüil.  Da 
die  Sprache  wi  Teil  des  sozialen  Organismus  ist,  vedSüt 
alles  minder  brauehbare  d&  Auslese;  fUr  das  indiTiduell 
Gtescbaute,  was  nicht  einer  dem  anderen  nachschauen  kann, 
eine  WcHtbezeichnung  einzufUfaren,  besteht  kein  Bedürfnis. 

Da  sich  die  Wissenschaft  nur  mit  dem  Allgemein- 
gültigen befasst,  so  ist  sie  offenbar  in  der  Lage,  ihre  Ke- 
Bulti^  am  bündigsten  zu  fassen;  vorderhand  gilt  dies  jedoch 
nur  von  den  NaturwiBsenschaften,  von  deren  mehr  oder 
woiiger  formelhafte  DaxstelluDgen  die  uferloseaDarsteUungea 
der  anderen  Wissenschaften  sehr  unvorteilhaft  abstechen. 
Der  Wunsch,  für  alles  Bezeichenbare  eine  bündige  Be- 
zeichnung wenigstenB  in  den  Wissenschaften  einznfUliren, 
ist  schon  des  öfteren  gehegt  worden. 

Davon,  dass  alle  unsere  Aussagen  nur  Bezeichnungen 
von  den  mehrfach  erwähnten  Komplexen  sind,  kann  man  si<^ 
leicht  Überzeugen,  wenn  man  z.  B.  die  Beschreibung  einer 
nicht  gewöhiüicben  Erschemtmg,  eines  Vorganges,  die  Er- 
klärung eines  Verhältnisses  liest,  von  welchem  man  schon 

')  Treffend  bemerkt  Bibot  (L  c.  8.  148):  Soavent  lee  esprits  joüb 
■'etozment  de  comprendie  ohaqne  mot  «t  de  ne  psB  BaToIi  oe  qne  l'eii- 
Bemble  vent  dire. 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


ISO  HermitDn  Svrobod«! 

Kenntnis  hat.  Man  kommt  die  ganze  Zeit  mit  einem  Bild 
BUS.  Es  geht  wie  bei  einer  SkioptikoQTorstellung  zu.  Der 
Erklärer  hat  eine  Zeit  lang  über  das  Bild  gesprochen,  jetzt 
spricht  er  weiter,  das  Bild  wechselt.  Wenn  man  sich  da- 
raufliin  beobachtet,  findet  man,  dass  mao  fllr  eine  Darstellung 
von  grtlBserem  Umfang  mit  ein  paar  inneren  Situationen, 
„Platten"  auskommt'). 

Nach  dem  Vorhergehenden  liegt  die  Frage  nahe,  was 
denn  das  Denken  sei,  und  was  Gedanken?  In  der  Umgangs- 
sprache wird  denken  häufig  gleichbedeutend  mit  Vorstellen 
gebraucht  In  einer  ganz  ähnlichen  Bedeutung  wird  Denken 
aneh  in  der  Wissenschaft  verwendet.  Die  Komplexe,  nament- 
lich aber  die  Kelationen,  welche  wir  beschreiben,  finden  wir 
häufig  nicht  vor,  wir  nehmen  sie  erst  vor;  und  diese  Phan- 
tasieüiätigkeit  heisst  auch  Denken.  Dieses  Denken  ist  also 
nichts  anderes  als  ein  Vorstellen  von  dem,  wofür  es  keine 
Einzelbezeichnung  giebt;  was  nicht  bezeichnet  werden  kann, 
sondern  beschrieben  werden  muss.  Die  dritte  und  an- 
gemessenste Bedeutung  von  Denken  ist  aber  die:  Von  einem 
Aussageinhalt  zum  andern  Übergehen.  Das  Denken  ist  in 
dieser  letzten  Bedeutung  ein  imaginärer  Prozess,  es  ist  — 
in  Ausführung  des  obigen  Vergleiches  —  der  MechanismuB, 
der  die  Platten  wechselt.  Das  Denken  wird  irgendwie  an- 
geregt und  kommt  nach  wechselnden  Situationen  zum  Ab- 
schluss.  Diese  Zwischensituationen  nennt  man  auch  Gedanken. 
Es  ist  darnach  klar,  dass  alle  G«danken  Splitter  sind,  nur 
nicht  die  Gedankensplitter.  Diese  letzteren  sind  nämlich 
meist  nichts  als  Beschreibimgen  von  geschickt  gruppierten 
Relationen  —  vom  Anteil  der  Sprache,  Wortspielen  abgesehen 
—  immer  einheitliche  Phantasieprodukte,  ausser  allem  Zu- 
sammenhang verständlich,  etwas  für  sich.  Die  Gedanken 
hingegen  sind  meist  nur  „im  Zusammenhang  verständlich". 


')  Vgl.  QokPEBz'  „AnBch&aliohe  QeBamtTOTBtollung"  (&.  a.  0.  B.  99), 

eine  Bezeicbniuig,  die  dqi  ioBorern  nicht  reclit  pasBt,  als  ed  dieser  Oesamt- 
vOTStellong  sebi  hünfiK  OefuHle  geboren,  wie  auch  gerade  in  dem  von  ilun 
uisl;fiierteD  Baiepiela  {„Tagend  iat  Qläckseliglfeit"). 


n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL' 


Vsntdieit  wid  Bc^nUeD.  181 

sie  kommen  niir  als  Qlieder  einer  Reihe  in  Betracht  Natttr- 
lich  kann  ein  G^edanke,  der  Glied  einer  Reihe  ist,  auch  fUi* 
sich  allein  iü  Betracht  kommen,  verständlich  sein,  packend 
sein;  wenn  er's  aber  ausser  der  Reihe  nicht  ist,  so  bildet 
das  noch  keinen  Vorwurf  fttr  ihn'). 

„Gedanke"  ist  also  wesentlich  nicht  verschieden  von 
anderem,  wofOr  wir  Einzelbezeichnimgen  haben,  Beweis  dessen, 
dasa  vieles,  was  zuerst  ein  guter  Gedanke  war,  späterhin 
mit  einem  Begiiffbwort  fixiert  wurde.  Potential,  Auslese 
dnd  solche  Phantasieprodukte,  welche  durch  die  Einzel- 
bezeichnnng  Yerkehrsßlhigkeit  erhielten.  Wenn  wir  nun  ein 
einzelnes  Wort  oder  grossere  syntaktische  Gebilde  vor  uns 
haben,  so  mOssen  wir  uns  erstens  fragen,  ob  dieselbe  eine 
vollständige  Bezeichnung  sind.  Ein  einzelnes  Wort  kann 
es  sein,  ein  Satz,  ja  eine  Reihe  von  Sätzen  braucht  es  noch 
nicht  zu  sein.  Haben  wir  dann  die  Bezeichnungseinheit,  so 
fragt  flieh,  oh  das  Bezeichnete,  der  Gedanke,  in  einen  Zu- 
sanunenhang  gehört  oder  nicht. 

Fragen  wir  nocti,  was  eine  Beschreibung  ist.  Antwort: 
Wesentlich  das  Nämliche  wie  eine  Bezeichnung;  nur  dasa 
eben  das  Beschriebene  aus  den  schon  angeführten  Grtlnden 
keine  Mnzelbezeichnung  erhalten  hat.  Anderen  gegentlber 
bat  die  Beschreibung  den  Zweck,  die  längere  Reaktion,  welche 
eine  Wortbezelchnung  auslUst,  stückweise  erfolgen  zu  lassen, 
unter  Brachreibtmgeu  verstehe  ich  hier  natOrlicb  nicht  nur 
Darstellungen,  die,  schon  am  Stil  als  solche  kenntlich,  darauf 
ausgehen  zu  beschreiben,  sondern  welche  dies  faktisch  thun. 
Versteht  jemand  ein  Wort  nicht,  d.  h.  ist  er  in  der  Reaktion 
auf  dasselbe  nicht  geübt,  so  ^kläre  ich  ihm  dasselbe,  d.  h. 
ich  leite  ihn  schrittweise  zur  richtigen  Reaktion  an.  Be- 
schreibungen haben  jedoch  nicht  nur  Wert  aia  Mittel  der 
Uitteilung,  sondern  auch  fOr  uns,  indem  wfr  mittels  derselben 

*)  Das  Niherg  bierfibor  aoten  bei  hespndmag  von  AyiNABiDB'  Vltal- 
nOkoiaiwrie.  V^  Wumn,  IiOglk.  S-  Aoflage.  L  B.  74,  über  .Oedanken- 
Tcrianf  als  Qodlfl  d&r  BegiiflibüdQiig.''  VoratoUen  und  li-enken  stehen  nach 
TmniT  ra  rinander  im  VerUUtnis  dea  weiteren  B^tilb  so  dem  encenn. 


iM,Coo<^le 


1S3  H«tm»tiik  ftiTobodk: 


I  ElmnUl«  gleichfiam  in  potentiell«  Ebiergie  rerwaDdeln. 
S^  ist  DUQ  einmal  so,  dass  wir  fHr  viele  gate  EinüUle  mctits 
dafür  können,  vie  schon  ihr  Narae  sagt;  dasB  sie  nur  pl(fts- 
Ucbft  Konstellatioben  dnd,  am  die  vir  fOr  immer  kommen 
ktfaaen,  wenn  wir  mis  nicht  gleldi  die  MSglichkeit  sichwn, 
sie  ftMtan  Bolb«'  herfoeiznfllhren.  Diese  „EiafiUle"  sind  Ar 
uoswe  Untersuchung  von  grosser  Bedeutung,  Wir  Tergl«oh«i 
sie  gern  mit  ein«n  plßtzlich  aofleuchteaden  Licht,  einein 
BUtz  u.  s.  Vf.,  offenbar  lauter  „Analogien  Aet  Bmi^dung", 
die  sich  ganz  unabweislich  aufdrängen,  ohne  dass  man  reoht 
tuzugeben  vermöchte,  was  ihnen  auf  Seite  k.  B.  des  ab- 
strakten Denkens  entspricht;  dass  wir  Übrigens  eu  solchen 
Analogien  unsere  Zuflucht  nehmen,  ist  schon  ein  Bew^  dieser 
Schwierigkeit.  Ganz  im  G}eg«isatz  nun  zur  blitzartigen 
Aufklärung,  die  uns  dmxjh  gute  EinßUle  zuteil  wird,  steht 
die  Umständlichkeit,  die  ihr«  Beschredbong  erfordwt,  und 
die  Schwierigkeit  der  Beschreibung,  trotzdem  uns  lUles 
„sonnenklar"  ist;  so  klar,  dass  wir  ohne  das  Bedürfids,  üe 
uns  zu  sichern  oder  andere  mitzuteilen,  auch  kein  Bedürfnis 
Mtten,  sie  zu  beschreiben.  Da  solche  BinMle  gewöhnlich 
durch  vorhergegangene  YerkUrzungsprozesse  erst  ermöglicht 
werden,  so  ist  —  bei  der  bestrittenen  Natur  dieser  —  schwer 
anzugeben,  worin  ihr  Fundament  besteht.  Man  kann  da  nur 
Ton  geschicktem  Arrangement,  Übersichtlicher  Au&teUung, 
Gruppierung  reden;  denn  es  ist  sehr  auffällig,  dass  wir  Be- 
schreibungen, wenn  sie  auch  nicht  sonderlloh  gelungen  und, 
verstehen,  sobald  wir  durch  sie  in  welcher  Keihenfolge  immer 
in  den  Besitz  der  einzelnen  TeüfeaktioDen  gelangt  sind  und 
nun  mit  ihnen  selber  zu  wirtschaften  an&ngen.  Da  komnaen 
wir  dann  plötzlich  dahintw  und  finden  beim  nochmaligen 
Lesen  der  Beschreibung  alles  in  Ordnung.  Die  Erkenntnis, 
die  Einsiclür  oder  wie  man  es  immer  nennen  mag,  hat  ebaa 
im  Gegensatz  zu  ihrer  sprachlichen  Fixierung  einen  momen- 
tanen Charakter;  beim  Wiedo-lesea  (Ohlt  man  deuUidt,  wie 
man  zum  Ersten  das  Letzte  und  zum  Letzten  das  Erste  brancht 
Dieser,  sohes  obw  erwäbatt  UmsUnd,  dass  wir  gl«icfaaam 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^le 


Tsniefcw  aiMl  Begreitai.  |83 

mit  ein«  Platte  ftlr  ein  gröBaeres  Ot&axa  von  BeK^cfanung^ 
ankommen,  ist  wohl  der  tigere  Orond  der  PeriodeQbildung. 
SiAß  Periode,  eine  BeieicbntmgBeiahMt.  Die  mod«7ie  Dar- 
ste^QUg  hat  den  V(Hrt«l,  dass  tia,  durdi  keinwiei  syntak^ha 
BOekriohtep  beengt,  die  nötigen  Teilreaktionen  in  belieblgw 
Ordnung  und  mit  Muse  besorgen  luuin.  Dagegen  wird  in 
der  Palode  die  Ziuammenfassung  derselben  durch  die  rftum- 
liebe  Eingrenzofig  gefordert  und  dureb  die  zeitliche  Ztuammea- 
rQektmg  erleichtert. 

sind  schon  die  Schm«igkeiten  groas,  welche  das  „klare" 
Denken  einer  Analyse  seinem  Bewusstseinselemeate  entgegen- 
setzt, 80  ist  dies  natürlich  in  erhöhtem  Grade  der  Fail  beim 
„onUaren"  Denken,  wie  es  einer  Lösung  so  oft  voraufgeht. 
All^n,  was  ist  eine  Lösung?  ZiebMi  sioh  nicht  manche 
Ahnongen  durch  ganxe  Generationen  hindurch,  Ms  es  einem 
Genius  gelingt,  darüber  hinaus  cn  einem  Abschlosa  zu  ge- 
langen, der  sich  vielleicht  aach  wieder  bloss  Torlttu&g,  als 
efate  Ahnung  entpuppt,  u.  s.  w.?  Es  ist  daher  beim  besten 
Willen  nicht  mö^ch,  seine  Aussagen  auf  sichere  Besultate 
xa  beschränken;  indes  kann  man  in  dw  Wissenschaft  wohl 
das  Krfbrdemis  eines  subjektiven  Abschlusses,  su  Ende^ 
Denkens  aufstellen.  In  den  redenden  Künsten  ist  das 
and««.  Zu  Ende-Denken  Mi'ordert  Anstrengung  und  Geduld. 
Das  HalbbewtuHte,  Halbgeahnte  ist  biologisch  sehr  bedeutsam. 
IHe  Ahnungen,  alles  Unklare  hat  reichere  Beziehungen  cur 
QefUhlsspMre;  solang  man  auf  eine  Lttsung  hingespEuant  ist, 
hat  man  die  Dlosion  eines  Lebenszweckes.  Auch  die  Tor- 
Btadi«!  einer  wissenschaftlichen  Entdeckung  entbehren  nicht 
der  Gefühlscharakteristik. 

Die  Äusserung  unklarer  Gedanken  kämpft  mit  den 
n&nlif^eu  S<Avierigkeiten,  wie  die  Beschreibung  undeutiiehM' 
Gegenstände;  es  ist  aber  zu  bemerken,  dass  sowohl  ein 
unklarer  Gedanke  als  auch  ein  undeutlicher  Gegenstand 
knoeswegs  dw  Bestimmtheit  entbehrt.  Beweis  dessen, 
dass  man  sloh  einer  Ahnung  mit  derselben  Zuversicht 
zukehrt,    wie   nur  irgend   einem   „klaren  Ergebnis."     Die 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


184  Hcrinaiiit  frwoliodi: 

Schvieiigkeit  liegt  nur  in  der  Bezeichnimg.  Aimnngen  kann 
man  nur  alinen  lassen;  Unklarheit  kann  man  nur  durch 
Unklarheit  ausdrücken,  aber  nicht  beschreiben.  Allft 
Bezeichnung  dient  nur  dazu,  wertvolle  Komplexe,  Beziehungen 
festzuhalten.  Das  unklare  Denken  ist  nur  ein  ZTiscben-r 
Btadimn;  die  Anwendung  der  Bezeichnung  dafür  ist  eig«ttlioh 
Missbrauch.  Die  Sprache  ist  dafUr  zu  deutlich  und  befitimmL 
Man  reagiert  auf  sie  zu  stark,  zu  sinnUch.  Will  man  daher 
die  Sprache,  in  Verwendung  für  unklare  Gedanken,  verstehen« 
so  muss  man  sich  eine  Art  halber  Reaktion  angewObnen, 
halbes  Hinhttren,  Lesen  mit  balbgescblossenen  Lidern,  um 
sich  nur  Schatten  erregen  zu  lassen.  Die  Sprache  wird  aus 
eiuer^Anleitung  fUr  bestimmte  Reaktionen  zu  einer  An- 
regung für  unbestimmte.  Je  verschwommener,  gefOhls-. 
xmtennischter  und  persönlicher  das  Bezeichnete  wird,  umso-, 
mehr  verliert  die  Bezeichnung  an  MittoiluDgswert 

Neben  dem  unklaren  Denken  ist  ein  passender  Platx 
für  das  „abstrakte  Denken".  Die  Marken  werden  oft.  yer- 
tausoht  Was  versteht  man  unter  abstraktem  Denken?  Ist 
das  begriftlicbe  Denken  ein  abstraktes  Denken?  Es  ist  ein 
grosser  Unterschied  zu  machen  zwischen  originellem  Denken, 
i.  e.  einem  Denken,  welches  für  mich  etwas  Neues  zutage 
fBrdert  und  allem  Übrigen  „Denken",  einer  je  nach  dem  Falle 
sehr  geübten,  automatischen  oder  nachlässigen  Funktion. 
Das  originelle  Denken  ist  unter  allen  Umständen 
intuitiv,  d.  h.  nicht  abstrakt,  es  muss  etwas  Bezeichnetes 
da  sein,  wenn  das  auch  nicht  eine  LJchtgestalt  im  Sehfeld 
ist.  Eine  originelle  Aussage  muss  fundiert  sein.  Inwiew^ 
bei  allen  anderen  Aussagen,  den  abstrakten  inbegriffen,  infolge 
grosser  Übung  eine  Fundierung  häufig  unterbleibt,  ist  bereits 
erwähnt  worden;  desgleichen,  dass  das  Schliessen  kein  ori- 
ginelles Denken  ist»). 

')  üeberainBtimmeiid  Ooupisz  {>.  a.  O.S.  lOlff.)  ,Daa  uadimlidi« 
Denken  Erzeuger  allet  nhrbalt  neuen  nnii  sdiSpferitdien  OedankHi.' 
.Das  dieknisive  Denken  dient  nni  tor  Abkänonp  dea  anadianlieben.  Ea 
enpOnct  seinen  Wert  ftberall  erst  von  dem  Wnt  der  vartzetendeii  La- 
Bchanliuikeit." 


iM,Coo<^lc 


Venteh«n  and  Bagröfen.  186 

Alle  tmeere  AuBsagen  sollten  tod  unserer  Intuition 
einmal  accreditiert  worden  sein;  leider  vertrauen  wir  aus 
Bequemlichkeit  und  anderen  Qründen  häufig  der  Rekomman- 
dation  durch  andere  oder  verzichten  auf  jede  Legitimation. 

Der  Qrund,  warum  man  mehrfach  doch  ein  originelles 
Denken  ohne  Intuition  annimmt,  liegt  offenbar  in  dem  eigen- 
tümlich schattenhaften  Wesen  derselben.  Nehmen  wir 
NnrrzscHxs  Apper^n:  Kaitt  oder  Cant  als  intelligibler 
Chanücter.  In  dem  Augenblick,  wo  mir  das  YerständniB 
desselben  aufblitzt,  habe  ich  gar  kerne  deutliche  Vorstellung, 
und  doch  ist  mir  der  Witz  klar.  Worin  besteht  aber  hier 
der  Witz?  In  einer  (»Iginellen  Zusammenstellung,  in  einer 
Beziehung.  Dass  dem  so  ist,  wttrde  der  Fall  jemandes  be- 
zeugen, der  nicht  weiss,  was  Cant  heisst  oder  was  man  unter 
dem  intelligiblen  Charakter  versteht  und  dem  man  därOber 
erst  Aufklärung  vn'schaffen  muss.  Er  wird  nämlich  ti^tz 
derselben  von  dem  Witz  nicht  so  gepackt  sein,  wie  jemand, 
dem  jene  Bezeichnungen  geläufig  sind  und  zwar  deshalb,  weil 
die  ßlieder  der  Beziehung,  damit  dieselbe  einleuchtend  sei, 
annähernd  gleichzeitdg  im  Bewusstsein  anwesend  sein  mtlssen, 
was  nicht  möglich  ist,  wenn  die  Reproduktion  eines  Gliedes 
nicht  geübt  vor  sich  geht*)-  Der  Gedanke  ist  ein  Tableau, 
bei  welchem  alle  mtlglichen  Elemente  beteiligt  sein  können. 
Da  aber  der  'Fassungaraum  des  Tableaus  beschränkt  ist,  so 
müssen  sich  die  Elemente  bescfar^lnken,  eventuell  vertreten 
lassen.  Als  direkten  Anlass  des  Yerkürzungsprozeeses  möchte 
ich  indes  die  Enge  des  Bewusstseins  nicht  aufTassen,  die 
beiden  scheinen  mir  Überhaupt  in  keinem  ursächlichen  Zu- 
sanunenhang  zu  stehen.  Bei  der  Enge  des  Bewusstseins  ist 
es  natürlich  sehr  vorteilhait,  dass  solche  Verkürzungsprozesse 


■)  Tie  kuujmuiid  die  SohÖnheit  eineilioDieriBolieii  Stelle  u^ehen, 
der  in  jedem  Ten  ein  halbes  Dotsend  Tokebel  naohwihhgen  mn»! 

Sehe  fibei  den  Snflins  der  Uebnog  im  ugedentoten  Sinne  »oli 
Muh,  .inalfse,  B.  817:  .Du  iN^iifOioli«  Denken  eine  Beektionsth&ti^eit, 
die  «oU  geübt  tein  vül  ....  Bi  wird  in  keinem  OeUet  mCglidi  sein, 
sich  xa  den  tiöberen  Abetraktkoen  m  ertieben,  ohne  sich  mit  den  ESniel- 
heiten  beiohiftigt  an  haben.* 


iM,Coo<^lc 


IM  .  H«rBftna  Swobo44: 

antreten.  Von  einer  Been^^g  kaim  niclit  die  Bede  sein, 
denn  mehr  als  driimen  Platz  bat,  geht  eben  nicht  hiauo*). 
E]s  ist  natürlich  eine  wichtige  Frage  nach  dem  Wut« 
des  Denkma,  wenn  ra  sich  von  dar  sinnlichen  AosohMtoag 
mehr  und  mehr  entfernt  Sb&  i<^  hierüber  einiges  bemerke, 
sei  nodi  aof  folgendes  hiogeviesen.  Obiges  Apper^ 
Nibtzsohs'b  wäre  es  ebensogut  mttglich  gewesen,  in  doen 
lungeren  Satz  auszuspinoen.  Das  Beieidmete  desselben 
hätte  aber  immer  nichta  anderes  Hain  könnui,  als  jenes  gesobiokte 
Arrangement.  Es  finden  sich  bei  Nktzsohi  eine  Meogd 
solcher  Beispiele,  wo  er  die  ränzelnen  BeäehungsgUeder 
einfach  nebeneinander  hinsetzt  und  binmit  im  Lesen  den 
Gedanken  ebenso  wweckt,  wie  er  in  ihm  selbst  ent^tandMüst 
UndnundieFrage  nach  dem  Werte  des  atAtrakten  Denkens,  ge- 
naoer:  nach  dem  wissenschaftlieheu  Wart  des  abstrakten 
Denkens.  BennfUrmichhatmeinDenkenimmerW«rt;e8tst«n 
Eomplement  zu  meinem  Übrigen  Gesamtzustand,  es  ist  ein 
Stflck  von  mir,  von  meinem  Leben.  Bezeichnen  wir  es  kurz 
als  Aufgabe  jedw  Wissenschaft,  allgemeingültige  Be- 
ziehungen aufzusteUen,  so  liegt  sehr  müie,  vorin  es  das 
abstrakte  Denken  häufig  fehlen  Itlsat  Es  verleitet  nämlich 
— beim  Mangel  der  Bimüichen  Kontrolle  —  leicht  zu  einem  Spiel 
lait  Beziehungen,  zu  Kombinationsexperimenten,  zu  einem 
anmutigen  Ballett  ausBelationen,  dem  Ulnigens  ein  ftsthetiacher 
Wert  zukommen  mag.  Solch»  Art  sind  viele  der  B]>st»- 
matischen  Arbeiten  aus  der  nachkantisohen  Periode*).  Solche 
Produkte  sind  hauptsächlich  daran  erkenntlich,  dass  man  cu 
ihnen  nicht  Stellung  nehmen  kann;  man  kann  nirgends  kräftig 
ja  oder  killftig  nein  sagen,  sie  lassen  sich  nii^:ends  packan. 
Das  kommt  davon,  dass  das  Bezeichnete  jeder  intersobjektivaa 
Grundlage  entbehrt.  Es  ist  zwar  nicht  immer  notwraidig, 
dass  wir  uns  behub  Zustimmtmg  oder  Ablehnung  das  Be- 

>)  TgL  iMg9gen  Uustrs,  L  o.  6.  ua 

*f  .La  philüotAie  n'Mt  qs'niw  poisit  aojthiitiqaM La 

phünapU«  Doai  pnMnta,  bob  pas  oo  qni  «t  an  m  qs'all«  MOlt,  Mria  M 

Ja'ilia  taim  ajant  plm  a'Bppttano»  «t  i«  gtatillMi»."  ll«ntalgMia 
er  Apolda  de  Baimond  Sebond, 


iM,Coo<^lc 


TvnMiM  <m4  BtgctSha.  187 

sdehnete  klar  Torstellen;  das  tet  Folg«  der  Übung.  Aus- 
laachen  ISsst  sich  jedoch  mit  blosser  Übung  Aber  die  Dinge 
Bii^ta,  Übong  kann  die  Anschaunng  nicht  ersetzen,  Ble 
kum  nur  schwierigere  Anschauungen  ermöglichen. 

Bdion  Huu  steffite  iie  IVsge,  wie  es  kommt,  dase  wir  fiber  Se^arang, 
KirohA  snd  dwglttehM)  ksinaa  Unsinn  radui,  obwohl  wir  boim  Spradisn 
keine  klaren  Toratellnngen  von  jenen  Subjekten  liaben,  und  wieso  ein  anderer 
■ofoit  merkt,  wenn  wir  vAm  neeelbeii  einen  Dusidb  ttaatfm-  {Treat^ 
Fut  L  Seot.  vn.)  Dei  letztere  IUI  gieU  uhoii  die  Antwort.  Es  sind 
uns  nimlicli  niaht  nni  eiuelne  Worte,  soudein  wiDb  ganze  Sitze  bloss  dem 
King  nach  TertnnL  INeee  VertnaUieit  erleiebtert  einersrits  ihre  ge- 
daakenloie  B«prodnktiaB  lut  mthi  »der  miader  grossen  AeBdenngen, 
aoderaeita  Uue  gedankenlose  Hinnahme,  ,Tenttlndiiia*,  ebne  R&oksioht 
Mf  Bolobe  AfindenttRen.  Vf^.  Lifk.  Onmdthateaahen,  8.  M6:  .Torte,  die 
nsfat  ans  njnalns.  Trnrtrniiiiiniwiilnllimfiii.  die  ni<A[tj(aau  ohne  in  Onindg 
liegenden  yoisteUongsiwan^  sind,  werden  acoeptiert  and  weitergegeben  in 
dem  gnten  Olanbon,  doss  ne  das  rwiftsetitienB,  was  sie  zu  lepitsentiereu 
fstgoMa,  wenn  sie  n«r  ia  der  gewobniUohen  Fenn  und  mit  dem  nötigen 
Oeviobt  aoftreten." 

IIb  ist  aber  omlditig,  wenn  Erna  meint,  das  ans  das  ünBinnige 
finar  Ansaage  sofort  eüdeaditot,  Bondera  das  Ungewohnte  des  PiUikats 
lieht  unsere  Anftnerksamkeit  an  oad  diese  veiiiilft  eot  Eonstatierung  des 
Unsinns. 

Es  ist  übrigens  weiter  zo  bemerken,  dass  wir  nnr  im  Zasammen- 
hang  einer  gröBseren  Darstellnng  mil  emem  Teite,  emem  Batae  keine 
distinot  idea  Terbinden,  was  darin  begründet  ist,  dass  wir  jeweils  nur  ein 
tbeorotiBdMe  edn  sraklleohes  Interesse  haben  können,  welches  den  Be- 
wnsstsemsgad  der  dasselbe  be&iedigenden  HiUBoperaUonen  bestimmt  Wer 
a.  B.  «n  Wüd  ansehleioht,  der  macht  der  Beiha  nach  eäm  Anzahl  von 
Bewegungen,  von  denen  müxdie  ganz  unbewnsst  bleiben,  manohe  wenigstens 
nachüghdk  erinnert  werden  können,  manche  im  ICttelpnnkt  der  Anf- 
meiksamkeit  stehen,  je  nach  dem  Orade  der  OeSbtheit  and  ihrer  Bedentang 
fBi  den  FaE  Je  grösser  die  üebnng,  desto  anseohlieesUcher  kommt  dar 
zweite  Oesiohtspankt  inr  Oeltang.  Und  wie  beim  Handeln  so  iafs  auch 
beim  Denken.  „Ihinking  is  aotion  direoted,  towards  intellectaal  ends. 
Intdleetnal  ends  aie  attained  b;  an  appK^riate  combination  of  movement 
«f  attentitm  Jost  as  parcUcal  ends  are  attained  bj  an  i^propriate  oombinatian 
«f  movemeota  of  the  bodjr."  Stont,  Apperception  and  the  movement  of 
attention,  Mind  XTL  S.  23.  Wie  viel  iob  mir  bei  einem  Satz  denke,  das 
ist  immer  davon  abh&ngig,  in  welchem  Terii&ltnis  dieser  Satz  zam  Hanpt- 
gedankea  steht,  wie  viel  Anfmerkumkeit  also  anf  ihn  entOlU.  Die  intelleotnal 
«ids  doA  Bosns^en  central  belichtet,  von  ihnen  weg  vrird  es  immer  dnnkler, 
verblassen  ^e  Gedanken  za  Schatten. 

Endlich  moss  bemerkt  werden,  dass  die  Frage  nicht  die  ist,  wanuu 
wir  ohne  deatlicbe  Torstellnng  keinen  Unsinn  reden,  soudsm  ob  wir 
ohne  dieselben  etwas  Gesoneites  reden,  neue  Aussagen  matdien 
kSnnen.  Der  Srgste  Hohlkopf  braucht,  wenn  er  sich  nnr  vomohtig  in  ein- 
lud angeleinten  SAtzaa  bewegt,  keinen  Unsinn  zu  reden, 

Anschauung  ist  also  fUr  unser  Denken  unerlässlich. 
Bomaosätze  wie:  „NervOs   an  seinem  Barte  zupfend,   ging 


iM,Coo<^lc 


18g  Hermann  Swoboda: 

er,  mit  auf  dem  Rücken  gekreuzten  binden,  hastig  hin  und 
her",  haben  auf  allen  Gebieten  des  Denkens  ihre  Analogien.- 
Wo  die  Anschauung'  das  Denken  faktisch  nicht  begleitet,  soU 
sie  es  doch  immer  begleiten  kSnnen.  Das  Denken  soll  die 
Kontrolle  der  Anschauung  nie  zu  scheuen  brauchrai,  „An- 
schauung" nattirlich  indem  weiteren  Sinn,  welchen  wir  ihr 
frOherzugebengendtigt  waren,  welchen  ilir  auch  Wuitot  giebt*). 

Die  Psychologie  der  Intuition  ist  ein  sriir  vemadi- 
lässigtes  Kapitels,  was  damit  zusammenhängt,  dass  die  Br- 
keuDtnistheorie  bisher  zu  wenig  psychologisch  behandelt 
wurde;  wohl  auch  damit,  dass,  wie  Lazabcs  treffend  be-j 
mOTkt,  „die  intellektuale  Ajischauung  für  eine  lehrweise 
Mitteilung  eine  Sisyphusarbeit  ist" 

Hiennit  dürfte  über  den  Gegenstand  von  Bezeichnungen 
vielleicht  schon  mehr  gesE^  sein,  als  fUr  den  Endzweck 
dieser  Untersuchung  von  nöten,  sicher  aber  weniger  als  den 
in  diesem  Absclmitt  berührten  Fragen  gemäss  ist 

')  hoffk,  L  2.  Anfl.  8.  SS  ond  U. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Folgernngea  ans  Kants  Anifaflflnng  der  Zeit 
!■  der  Kritik  der  reinen  Tennnft. 

'    Ton  0.  Leo,  Eaasel. 


IMb  Zdl  In  d«r  ti 

BtniOaaDtaaalt  tk  TUBD^uU  t 

—  DWZdt  bus  nkU  utf  den  Sbm  bCHbrifakt  wtidMi.  Miiil«m  enOMkt  dA  auf  dm  Vtr- 
-  Dar  loglHhi  Vanumfinbnaih  iiililliil  idlllehsn  Toriaaf  In  deh,  —  Di*  Utuib- 
_^   ._  „ . —  ^^^ v„ — ,  ...  „...  ...  ...  -u .,   ^  g^^  ^,^ 

iBflndmiUl«' B^ 

nKnft,  TTM^  WiUa. 


-  Dl«  Z«lt  «k  loilMh*  F 

DBI  mit  I   '  -      - 


hb|l>iB  ZaU.  —  O.  U 

BsiÜättdaT  Zdt  uf  ot^jekttm  WliUlohkdt. 

Ist  mein  eigenes  sich  seiner  selbst  bewusstes  Sein  eine 
zeitlos  beharrende  Wirkliclikeit,  oder  als  ein  zeitlich  be- 
grenztes Sein  nur  ein  vergängliches  Glied  einer  unbe- 
kannten Wirklichkeit?  Diese  Frage,  deren  Beantwortung 
der  religiöse  Glanbe  entspringt,  auf  deren  Lösung 
im  letzten  Grunde  auch  alle  Sittlichkeit  beruht,  sie 
lautet  fUr  das  philosophische  Denken:  ist  die  Zeit  in  meinem 
eigenen  Sein  eingeschlossen,  lediglich  in  diesem  gegeben 
und  möglich,  oder  ist  sie  Ausdruck  oder  Form  einer  Wirk- 
lichkeit, welche  auch  mein  Sein  umfasst?  Ist  die  Zeit  nur 
in  mir,  oder  bin  ich  in  der  Zeit? 

Wir  sehen  in  Kant  den  Philosophen,  dessen  Kritik  der 
reinen  Vernunft  in  die  Bedingungen  möglicher  Erkenntnis 
am  tiefsten  eingedrungen  ist  und  deren  Grenzen  am  hellsten 
beleuchtet  hat;  Welchen  Anhalt  bietet  nun  die  Kritik  der 
reinen  Vernunft  für  die  Beantwortung  jener  Fr^e? 

Kamt  behauptet  und  erweist  in  seiner  Lehre  von  der 
Zeit  in    der   transzendentalen  Ästhetik:    einerseits    die   em- 


190  0.  Leo. 

pirische  Realität  der  Zeit,  wouach  uns  in  der  Erfahrung 
niemals  ein  Gegenstand  gegeben  werden  kann,  der  nicht 
unter  die  Bedingung  der  Zeit  gehörte  >),  aadererseite:  Die 
traoezendentale  Idealität  der  Zeit,  nach  welcher  sie,  wenn 
man  von  den  subjektiren  Bedingungen  der  sinnlichen  An- 
schauung abstrahiert,  gar  nichts  ist*).  Die  Zeit  wird  hier*), 
ebenso  wie  der  Baum,  als  bloss  sabjektiTe  Bedingung  aller 
unserer  Anschauung  erklärt,  welche  niemals  das  Mindeste 
Ton  dem  Dinge  an  sich  selbst  aassagt,  das  den  ErBcheinungra 
der  Gegenstände  zu  Grunde  liegen  mag. 

Das  heisst;  Die  Zeit  ist  nichts  ausser  uns,  sie  ist 
lediglich  in  uns. 

IndesB  in  der  transzendentalen  Ästhetik  kommt  die 
Zeit  allein  als  Form  der  Sinnlichkeit  in  Betracht,  d.  h.  als 
Form  der  ^Fähigkeit  (Bezeptivität),  Vorstellungen  durch  die 
Art,  wie  wir  von  Gegenständen  af&ziert  werden,  ku  be- 
kommen"*). 

Kamt  sondert  in  seiner  Untersuchung  die  Bedingungen 
mOgUchOT  Erkenntnis  in  reseptive  und  spontane,  erstere  fasst 
er  zusammen  als  Anschauung,  ietstwe  aia  Denken;  den 
spontanen  Faktor  der  Erkenntnis  nennt  Emr  Synthesis;  er 
kennzeichnet  denselben  unzweideutig  als  eine  Handlung,  durch 
welche  das  Mannigfaltige  der  reinen  Anschauung  durch- 
gegangen, aufgenommen  und  verbunden  wird').  Denmäcbst 
erklärt  Kamt  ausdrücklich"),  dass  der  Synopsis  der  An- 
schauung jederzeit  eine  Synthesis  korrespondiert,  und  daas 
die  Bezeptivität  nur  mit  Spontaneität  verbunden  Erkenntnisse 
möglich  macht.  Dass  aber 'Kant  die  Handlung  der  Syntheas 
als  eine  Funktion  in  der  Zeit  begreift,  beweisen  die  Aufl- 
Ahrungen  von  der  Syntbesis  der  Apprehension  in  der  An- 
schauung auf  Seite  98  n.  99  d.  K.  d.  r.  V.: 

■)  K.  d.  T.  T.  S.  36.     AUea  AnfSlmiiMii  der  Kritik    der    rcüMB 
VeiDDiift  liegt  die  Ansrnbe  tod  17&1  eo  Omnde. 
')  H.  86.  a.  0.  0. 
')  S.  48/49  &.  0.  0. 
•)  S.  19  ft.  0.  0. 
•)  B.  77  «.  0.  0. 
•)  8.  97  «.  0.  0. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Folgernngen  na  Eauts  AnfMüing  der  Zeit  id  der  Kritik  eto.    191 

.ItiiMre  VeafllBlliiHgKi  mjjgm  entq^lngen,  w<A«t  na  woll»,  «fc  ri» 
dnrdi  den  Em&nn  Bnsserar  Singe  oder  dofoh  iuiara  ünxdt«  gawitkt 
seieD,  üfl  nS«D  a^  priori  oder  emi^TiB«^  tia  Enthfäamigen  entsfauden  sein, 
w  tAaw  na  Anh  alt  MwffllfciWniiaii  d«  Ocnttta  nn  inMm  Sfam,  <ma 
als  aoloh«  aiad  alls  nofien  Erkenn  tniaw  Hktrt  docdi  d«r  fonutw  B*- 
dmgnug  des  ioneieii  Sinnes,  nämliob  der  Zeit,  nnterwarfen,  äle  in  welobar 
lim  inagieanit  g— riwt,  vertaflpH  nnd  in  Tetfajltnlwe  gebnolit  weid^ 
mfisaen." 

Wenn  dann  weiter')  darauf  hingewiesen  wird,  dass 
ohne  diese  Syntheais  der  Apprehenaion  wir  weder  die  Vor- 
stelhmgen  des  Raumes,  noeh  die  der  Zeit  a  priori  haben 
konnten,  da  diese  nur  durch  die  Sjnthesis  des  MannigfaltigeQ, 
weiches  die  Sinnüctikeit  in  ihrer  nrsprHnglichen  Bezeptivität 
darbietet,  „erzeugt"  werden  können,  so  wird  ersichtlich,  dass 
Kamt  in  der  Anschauung  eine  spontane,  hervorlMingende 
Thäägkeit  Toraussetst. 

Die  Form  als  solche  erzeugt  nichts ;  alle  Hervorbringung 
fordert  Thäügheit;  aber  nur  diejenige  kann  Inhalt  des  Be- 
wusstseins  werden,  welche  an  eine  Form  gebunden  ist,  die 
wir  Zeit  nennen. 

Wir  mOssen  also  unterscheiden:  Die  zeitliche  Bestimmt- 
heit aller  im  Bewusateein  möglichen  Vorstellungen  als  die 
notwend^  Form  aller  Anschauung  und  die  Zeit  als  Form 
des  Wirkens  derjenigen  Thätigkeit,  welche  als  ihre  Wirkung 
die  Vorstellungen  und  somit  die  Anschauung  zustandebringt, 
also  die  Zeit  als  Form  alles  Bewusstseinsinhaltes  von  der 
Zeit  als  Bedingung  des  BewuBstwerdens;  d.  h.  die  Anschauung 
als  Wirkung  und  die  Anschauung  als  Ursache.  Die  Zeit 
ist  ebensowohl  in  der  Thätigkeit  des  Anschauens  wie  im 
Angeschauten  enthalten. 

Der  anschauenden  Thätigkeit  als  solcher  werden  wir 
uns  selten  bewusst,  meist  nur  ihres  Ergebnisses, 
des  Angeschauten.  Kant  fasst  in  dem  Satze :  „Die 
Zeit  ist  nichts  anderes  als  die  Form  des  inneren 
Sinnes,    d.  i.    des  Anschauens   unserer   selbst   und  unseres 


■)  S.  89^00  a.  0.  0. 

n,g,t,7l.dM,GOOglC 


193  0.  Leo! 

InnweD  ZuBtaades"')  nur  den  rezeptireii  nicht  den 
spontaneo  Faktor  der  Anscliauang  ins  Auge. 

So  wie  Baum  und  Zeit  die  Bedingungen  der  Anschauung 
zu  einer  möglichen  Erfahrung,  so  bedeuten  fBr  Kamt  die 
Kategorien  oder  die  reinen  Verstandesbegriffe  die  Be- 
dingungen eines  Benkens  in  ebenderselben^). 

In  der  „Deduktion  der  reinen  Yerstandesbegriffe"  vird 
die  Notwendigkeit  einer  dreifachen  Sjuthesis  nachgewie&w: 
ein  thätiges  Vermögen  der  STuthesis  des  Mannigfaltigen  in 
der  "Wahrnehmung,  weiches  Einbildungskraft  ist,  das  re- 
produktive Vermögen  dieser  Exaft,  die  Wahrnehmungen  zu 
ganzen  Beihen  zu  Terbindm,  endlich  der  Beproduktion  nach 
Begeln  a  priori,  durch  welches  die  Wahrnehmungen  zu  einem 
Bewussteein  verbunden  werden  und  somit  die  Einheit  dw 
Apperzeption  in  Ansehung  aller  Erkenntnisse  hergestellt 
wird*). 

Diese  dreifache  Synthesis  gehört  allerdings  dem 
empirischen  Bewusstsein  an  und  wird  durch  den  inneren  Sinn 
vermittelt,  die  Zeit,  welche  in  derselben  steckt,  bleibt  somit 
lediglich  Funktion  dieses  Sinnes.  Das  aber  ist  ersichtlich, 
dass  wir  es  hier  mit  einer  Thäügkeit,  dem  Wirken  einer 
Kraft  zu  thun  haben,  deren  Wirkung  eben  jene  Synthesis  ist. 

Kaut  legt  jedoch  dem  empirischen  Bewusstsein  ein 
transzendentales,  durch  die  Zeit,  als  Form  des  inneren 
Sinnes,  nicht  bedingtes  Ich  zu  Grunde  und,  zu  diesem  ge- 
hörig, eine  transzendentale,  von  der  Sinnesthätigkeitunabhängige 
Einbildungskraft,  d.  h.  das  Vermögen  der  Verbindung  von 
Sinnlichkeit  und  Verstand,  welches  als  Grundvermögen  der 
menschlichen  Seele  aller  Erkenntnis  a  priori  zu  Grunde  liegt*). 

Hiernach  besteht  für  Kamt  die  Gewissheit  des  Zusammen- 
hanges des  vom  Zeitsinn  unabhängigen  transzendentalen 
Ichs  mit  dem  der  Bestämung  durch  die  Zeit  unterworfenen 
empirischen  Bewusstsein  durch  das  in  der  reinen  Einbildungs- 

■)  8.  33  a.  0.  0, 

»l  a  111  a.  0.  0. 

»)  S.  118—128  a.  0.  0. 

*)  S.  123  Q.  124  &.  0.  0. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Folgenugen  wu  Kants  Aof^BBiuig  der  Zeit  in  der  EriUk  ate,    193 

kraft  gegebene  Vermögen  der  Synthese.  Ist  das  verbindende 
Glied  dieses  Zusammenhanges  selbst  als  zeitlos  zu  denken, 
30  gehört  die  Zeit  allein  der  Sinnlichkeit  als  der  Form  des 
inneren  Sinnes  an.  Das  ist  der  Standpunkt  der  transzenden- 
talen Ästhetik. 

Indem  jedoch  in  der  Deduktion  der  reinen  Verstandes- 
begrUTe  jenes  verbindende  Glied  als  eine  Kraft,  als  Thätigkeit, 
als  spontanes  Geschehen,  gekennzeichnet  wird,  kann  von 
demselben  die  Zeit  als  zeitlicher  Verlauf  nicht  ausgeschlossen 
■werden. 

H.  Lom  behuptet*)  und  beeUtigt  es  [n  dar  Uet^hj^  v.  J.  1679, 
du8  ee  gans  nnmöglioh  sei,  Zeitv«rl&iir  ile  eine  BedinpmK  für  das  Znstaod^ 


Erugnisses  gegebai  oei.  Aber  anoli  der  augeubtiokUobe  eintritt  eines 
EreigiiiBBes  Uldet  mit  dem  Zustande  vor  demselben  ein  Oesohehen,  einen 
Terianf.  Wirken  bt  das,  was  Ursache  ond  Wiikang  verbindet,  (üe  TbStigkeit 
des  Teiindema.  Das  Wort  Eieignia  bedeutet  nii£ts  anders  als  das8  etwas 
ist,  was  Torher  nicht  war;  das  aber  ist  —  sobald  wir  absehen  ron  aller 
'Wabrnehmnngabeetiinmtheit  dessen,  was  ist  und  nicht  war  —  sntliohei 
Verlanf. 

Man  darf  aacb  nii^t  einwenden,  die  Zeit  sei  nni  in  der  emptiisoheo, 
niolit  in  der  transzendentalen  Binbildungskiaft  notwendig  mite^eben ;  denn 
es  bandelt  moh  tüoht  nm  zwei  tüi  sich  seiende  veisobiedene  KÜwte,  sondern 
um  ^nnddieaelbe  Eiaft.  Der  zeitliche  Verlaof  kann  aoob  in  das  "WiAen 
oder  Sein  dieser  Kraft  nioht  erst  daduruh  htneinlioniniei),  daas  es  angesohant 
wild,  also  dnroh  den  Binn;  denn  der  Sinn  ohne  Einbildungskraft  ^ebt  ttber< 
lianpi  keine  Eikenntnls,  was  naohzaweisen  hier  ^rsde  die  Absieht  Kuns  ist. 
Wir  finden  yielmehr  in  der  Dednktion  der  reinen  Veratandesbepifle  die 
logische  Begründung  der  Behauptung,  daas  in  der  Reihe  der  Bedhigun^n, 
auf  deren  ErfttUting  die  Möglichkeit  der  Erkenntnis  beroht,  die  Zeit  nioht 
auf  den  Sinn,  das  eine  Ende  dieser  Beihe  t)eeohräiitt  ist,  sondern  mittels 
der  ^e  ganze  Beibe  verbindenden  Einbüdnogskraft  sich  weiter  gegen  das 
andere  Ende,  den  Verstand,  erstreckt;  wie  weit?  das  wird  die  Beträchtang 
des  Denkens  zeigen. 

Kant  teilt  die  oberen  Erkenntnisvermögen  ein')  in 
Verstand,  Urteilskraft  und  Vernunft.  Wie  der  Verstand  das 
Vermögen  der  Regeln,  so  ist  die  Urteilskraft  das  Vermögen 
zu  unterscheiden,  ob  etwas  unter  einer  gegebenen  Regel  stehe 
oder  nicht*).  In  der  transzendentalen  Doktrin  der  Urteils- 
kraft*) wird  zunächst  die  Möglichkeit  gezeigt,  wie  reine  Ver- 

')  Grundlage  der  Metaphysik  v.  J.  1867,  8  49,  8.  63. 

*)  S.  180  a.  0.  0. 

»)  a  132  a.  0.  0. 

*)  S.  137  n,  flgd.  a.  o.  0. 

TkrMJdnMtuin  t  wliMtiKlwlU.  FbUo».  o.  SodoL    ZIVIL    2.  13 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


291  0.  Lao: 

staDdesbegriffe  auf  ErsoheinungeD  Überhaupt  angewendet 
werden  kOnnen,  dass  es  hierza  ein  Drittes  geben  mtksse,  das 
einerseita  mit  dem  reinen  Yeretandesbegriff,  andererseits  mit 
der  firscbeinong  in  Gleichartigkeit  stehen  muss.  Diese  ver- 
mittelnde Vorstellung  miiss  rein  (ohne  alles  Elmpirische)  nnd 
doch  einerseits  intellektuell  (dem  Denken  angehörig),  anderer- 
seits sinnlich  sein.  Diese  Bedingungen  werden  erfüllt  in  der 
Subsumtion  der  Verstandesbegriffe  unter  die  transzendentale 
Zeitbestimmung.  Kakt  nennt  dies  das  transzendentid« 
Schema. 

.Die  Sohsmata  Bind  nüdita  als  ZeitbeBtimmangw  a  priori  nach  Begflia, 
tmd  diaae  gahea  nach  der  Ordiiniig  der  Kategonea  auf  die  Zsitieilu,  das 
Zsiünhalt.  die  Z^tordnong,  endlich  den  Zeitiob^riS  in  Aautaag  aller  nög- 
lioheD  O^graetindei)."  .Die  Kategorien  Bind,  ohne  Bohamata,  nni  Tank- 
tionen  des  Verataudee  lu  Begriffen,  «teilen  aber  keinan  Oegenetand  vor. 
Die«  Bedeutung  kommt  ihnen  von  der  Sinnliohkwt,  die  den  Teratand 
realinart,  indem  sie  ihn  Eogleieh  reatringiert  *).* 

Die  Bedingung  des  Wirkens  der  Urteilskraft  wird  hier- 
bei wiederum  als  eine  Synthesis  gekennzeichnet  und  zwar 
als  eine  Synthesis,  welche  die  vom  Verstände  als  rein 
intellektuelle  Gebilde  erzeugten  Kategorien  mit  der  Zeit,  als 
dem  in  der  Einbildungskraft  enthaltenen  —  nach  Kaut  — 
sinnlichen  Faktor  verbindet  und  hierdurch  in  die  Einheit  des 
Bewusstseins  überfuhrt. 

Vorher*}  sagt  Eakc  erl&ntemd:  .Das  rnne  Schema  dei  Örössa  aber 
aU  unes  Begnffea  des  Terstandes  ist  die  Zahl,  welche  eine  VorBteUnng 
Ist,  die  die  anoeeasive  Addition  von  Einem  lu  Einem  (gleiobartigeD)  msammen- 
*'    '     AIbo  iat  die  Zahl  niohta  anders,  als  die  Sinheit  der  Synthons  dea 

liner  gleichaitigon  Anschaanng  überhaupt,  dadoi  '     '  "  ''' 

a  der  Apprehemiion  der  Auaohanang  enenge.' 

Die  Zeit  wird  vom  Ich  erzeugt.  Dieses  Ich  kann  nicht 
das  empirische  sein,  denn  als  solches  wäre  es  der  Zeit  unter- 
worfen; es  ist  das  transzendentale  Ich  gemeint,  das  Subjekt 
der  reinen,  transzendentalen  ElnbildungskrafL  Hierbei  aber 
erheben  sich  die  Bedenken;  Kann  dieses  Ich  etwas  hervor- 
bringen, was  nicht  in  ihm  enthalten  ist?  Ist  diese  Hervor- 
bringung nicht  selbst  schon  etwas  Zeitliches,  ein  Zeitverlauf? 

')  a  146. 

•)  8.  147. 

•)  S.  142/143  a.  0.  0. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Folgeningen  wu  Euits  AnfflnsTing:  dar  Zeit  in  der  Eritik  oto.    105 

Aach  die  Einbildungskraft  ist  uns  nur  miUels  des  inneren 
Sinnes  gegeben,  dessen  Form  die  Zeit  ist;  die  Zeit  ist  also 
«rkenntnistlieoretisch  notwendige  Bedingung  der  EUnbildungs- 
kraft  ond  doch  soll  diese  jene  hervorbringen?  Diese  Be- 
denken zeigen,  dass  in  der  Verstandestl^tigkeit  Sinn  und 
Denken  gar  nicht  zu  trennen  sind. 

Eadt  sdbct  sagt:  .Denlen  ist  die  Handlnng,  gegebene  AjisdunmoE 
anf  räen  Qegsutand  la  b«(ieh«ii" 'J.  Ferner:  .Wenn  wir  sie  (Teistuiii 
ond  SiimlioUeit)  trennen,  so  lutben  wir  Ansohaniingen  ohne  Begriffe,  oder 
Begriffe  ohne  Ansdianiuigen,  in  beiden  fUlen  Toistellnngao,  die  wir  auf 
keinen  Gegenettnd  beliehen  können"). 

Mit  anderen  Worten:  es  ist  oline  logische  Widersprüche 
nicht  möglich,  in  der  Verstandesthätigkeit  die  Spontaneität 
(des  Denkens)  von  der  Rezeptivität  (des  Sinnes)  scharf  zu 
trennen,  und,  wenn  Kaitf  in  der  transzendentalen  Analytik 
diese  Sonderung  nichts  destoweniger  aufrecht  erhält,  so  ge- 
schieht dies,  um  die  Elemente  klar  herauszustellen,  welche 
in  der  Verstandesthätigkeit  zusammenwirken,  und  so  den 
festen  Grund  zu  gewinnen  fOr  die  Grenzen,  innerhalb  deren 
der  Verstand  nur  Erkenntnis  schaffen  kann.  — 

,Ajle  Tuuere  Grkentnia  hebt  von  den  Sinnen  an,  geht  Ton  da  znm 
Terstande  ond  endigt  bei  der  Temnnft,  über  welches  niohls  EÖheree  in 
uns  anMtrotFen  wird,  den  Stofi  der  Anachannog  zu  bearbeiten  and  anter 
<lie  hSotaete  ISnheit  dee  Denkens  za  bringen,"  heisst  es  in  der  tnuissenden- 
talen  Dialektik*).  Die  Vernunft  aber  ist  da«  Vermdgen  der  Prinzipien  oder 
sjnfiietischeT  Erkenntnisse  bub  B^riffen*).  Den  logischen  Teiuoiiftgebranoh 
kennzsichnet  Kurt:  ,In  jedem  veraanftsohlusBe  danke  ich  zuerst  eine 
fiegel  dnroh  den  Verstand ;  zweitens  subsamiera  ich  ein  Erkenntnis  noter 
die  Bedingnng  der  Regel,  endlich  bestimme  ich  mein  Erkenntnis  domh  das 
Fridikat  der  K^^,  mithin  a  priori  doroh  die  Vernunft'),  „Als  eigeottim- 
lidiat  Grundsatz  der  Vemnnft  äberhaupt  wird  sodann  nachgewie§en :  zu  der 
bedingten  EttenDtnis  des  Verstandes  das  Unbedingte  zn  finden,  womit  die 
&Bheiit  denelben  vollendet  wird"").  —  .Der  transzendontala  Vemnnft- 
begriff  aber  gebt  jedmrieit  aul  die  absolute  Totalität  in  der  Synthesis  der 
Bediiwin^en  und  endigt  niemals  als  hä  dem  sahlecbthin,  d.  h.  in  jeder 
BezieDnng  Unbedingten"^). 


■Ja 


301  a.  o.  0. 
■^  8.  304  a.  0.  0. 


iM,Googlc 


196  0.  Leo: 

Aus  diesen  Sätzen  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  ist 
ersichtlich: 

Die  Vernunft  ist  ein  Wirken,  Thätigkeit,  Spontaneität. 
Obgleich  an  dijesem  Wirken  der  Sinn  in  keiner  Weise  be- 
teiligt ist,  wird  dies  doch  in  der  Darstellung  des  logischen 
Vernunftgebrauches  unzweideutig  als  zeitlicher  Verlauf  ge- 
kennzeichnet. Hier  wird  also  die  Zeit  vorausgesetzt,  unab- 
hängig vom  inneren  Sinn.  Würde  man  einwenden,  dass  uns 
die  Vemunftthätigkeit  im  Vemunftschlusa  nur  deshalb  als 
zeitlicher  Verlauf  erscheine,  weü  wir  uns  derselben  nur 
mittelst  des  inneren  Sinnes  bewusst  werden  können,  so  würde 
damit  auch  die  Vernunft  dieser  Form  des  inneren  Sinnes 
unterworfen  und  anerkannt,  dass  die  Zeit  Bedingung  des 
Denkens  als  einer  Bewusstseinserscheinung  ist. 

Auch  das  Wesen  der  Vernunft  ist  Synthese,  Vermögen 
der  ZusammenfQgung  der  Mannigfaltigkeit  der  Bedingungen 
zur  Einheit  des  Unbedingten,  zur  Totalität  der  Synthesis. 

Die  absolute  Totalität  der  Syntbesis  schliesst  allerdings 
jede  zeitliche  „Bestimmtheit"  aus,  fordert  viekuehr  unend- 
liche Zeit;  denn  eine  unendliche  Reihe  kann  nicht  in  End- 
lichkeit erfasst  werden. 

.Die  Synthesig  des  UedioKleii  mit  seiner  Üedingnng  und  die  ganu 
Beihe  der  letzteren  fährt  gar  nitmta  von  ISiis<Jkrttuknne  diüoh  die  Zeit  und 
keinen  Begriff  der  SuccesBion  bei  sich,"  heisst  es  auf  8.  500  der  Kritik  d.  r.  V. 

Während  der  VemunftschlnsB  eine  vollaudete  Wirkung  der  VeninnR 
bedeutet,  kann  die  abiolate  Totalität  der  Synthese  niemals  voUendet  werden. 
Die  tTsnuendeiitalen  Ideen  sind  lediglich  Prinzipien  zn  dem  oneDtbelulieh 
notnendigen  Gebrauch,  den  Terstand  auf  ein  gewisses  Ziel  in  richten,  ia 
Aussiebt  auf  welches  die  Kiohtnngslinien  aller  seiner  Begeln  in  «nem  Punkt 
EOsamnieulBnfen,  der,  ob  er  zwar  nnr  eine  Idee,  d.  i.  ein  Punkt  ist,  ans 
welchem  die  VerBtaiidesbegriSe  nicht  ausgehen,  dennoch  dazu  dient,  ihnen 
die  gröBste  Einheit  neben  der  grossten  AnsbreitaDo;  zu  t erschaffen ').  Dieses 
Ziel  kann  nie  erreicht  werden,  denn  absolate  Totalitfit  der  Bedingungen  kann 
im  meoschliobea  Denken  nicht  gegeben  sein;  sie  bleibt  stets  unTollendet 

Wird  nun  die  Vemunftthätigkeit  selbst  zum  zeitlosen 
Wirken,  weil  sie  nach  einem  Ziele  gerichtet  wird,  welches 
jenseits  aller  zeitlichen  Bestimmtheit,  sowohl  der  zeitlichen 
Beschränktheit  wie  der  zeitlichen  Ordnung,  liegt,  weil  diese» 

■)  s.  6M  a.  0.  0. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Folganugen  ans  Kants  Aoffawiing  der  Zeit  io  der  Kritik  etc.    197 

Wirken  niemals  vollendet  werden  kann?  Muss  dieses  Wirken, 
weil  es  immer  ein  Werden  bleibt,  nicht  ein  zeitlicher  Verlauf 
sein? 

Kants  Behauptung,  dass  die  Vernunft  selbst  keine  Er- 
scheinung und  gar  keiner  Bedingung  der  Sinnlichkeit  unter- 
worfen ist')  und  dass  die  reine  Vernunft  als  ein  bloss  intelli- 
^beles  Vermögen  der  Zeitfonn  und  mithin  auch  den  Be- 
dingungen der  Zeitfolge  nicht  unterworfen  ist>),  ist  mit  der 
Forderung  eines  zeitlichen  Verlaufes  auch  im  Wirken  der 
Vernunft  wohl  rereinbar,  sobald  wir  unter  dem  zeiüichen 
Verlauf  nicht  die  Zeit  als  Form  des  inneren  Sinnes,  nicht 
Zeitdauer  und  Zeitordnong,  sondern  die  transzendentale  Zeit 
verstehen,  wie  sie  dem  inneren  Sinn  als  Bedingung  seiner 
Möglichkeit  im  transzendentalen  Ich  zu  Grunde  liegt.  Dieses, 
weil  es  das  a  priori  des  empirischen,  durch  den  inneren  Sinn 
Vermittelten  Bewusstseins  ist,  kann  nnr  als  dessen  trans- 
zendentale Idee,  als  die  Totalität  aller  Bedingungen  des 
empirischen  Bewusstseins,  als  die  psychologische  Idee  im  Be- 
wusstsein  bestehen.    Das  ist  die  Idee  der  Seele. 

Kant  behandelt  dieaelbe  in  den  PatalogMineu  der  reinen  Temnnft') 
and  gelangt  ea  dem  ErRebnia,  dass  die  Begriffe  der  Snbntanc,  der  Einfaoh- 
heit  nnd  der  PersanUohkrit  dar  Seele,  aU  des  Sabjektes  des  Bewnsetaeios, 
nun  praktisohen  Oebnmdt  als  nStig  nnd  Unreiooend  beibelialten  Terden 
kSmieii,  aber  moht  als  eine  Erweitening  noeerer  SelbateAanntnia  gelten 
dfiifen.  In  der  Begrfindnng  wird  anigflffihrt:  IHe  IdentitU  des  Bewnsst- 
seina  ist  not  eine  Anmale  Bedingong;  in  der  niunerisohen  IdentitU  dea 
Sabjefrtee  des  Denkens  kann  doch,  ohneraohtet  der  logischen  IdentiHt  dea 
Ichs,  «ne  ümwandlong,  rin  Wediael  Torgwasgen  lon,  der  die  aabstaotielle 
IdenüHLt  ansKhlieast  Der  Sati,  daia  Alles  Messend  nnd  nlohts  In  der 
Tett  bebarrlioli  ood  bleibend  sri,  whd  doroli  die  Etoheit  des  Selbstbevnsst- 
ttÜBB  nicht  «idwiegt  TVir  können  niemale  ansmaohsn,  ob  das  loh  (ein  blosser 
Gedanke)  lüaht  ebMsovohl  flieast  als  die  übrigen  Gedanken,  die  dadnroh 
aneinander  gekettet  werden.  Die  Sabetanidalitit  der  Seele  kann  aaoh  nicht 
anf  die  Identitit  der  Person  gegrandet  werden,  weil  diese  ans  der  Idgntitit 
des  loh  in  dem  Bewnsstsein  aller  Zeit,  darin  ich  mich  erkenne,  k^nee- 
W«s  folgt 

Hieraus  mOssen  wir  entnehmen:  Das  zeitlose  Beharren 
des  transzendentalen  Ichs  ist  keine  notwendige  Behauptung 

')  8.  fi58  a.  0.  0. 
■1  a  661  a.  c.  0. 
*)  6.  841—366  d.  K.  d.  r.  T. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


108  0-  I-ao: 

dea  empiriBchea  Bevuestsems;  auch  wenn  jenes  als  ^- 
fliessendes,  als  zeitlicher  Verlauf,  gedacht  wird,  enthält  es 
doch  alle  Bedingungen  des  empinBchen  Bewusstseim. 

Wir  gelangen  somit  tu  der  Schlussfolge,  Kaots  Aus- 
flihnmgen  zur  psychologischen  Idee  schliessen  keinesw^ps 
aus,  dass  die  im  empirischen  Bewusstsein  als  Zeitform  (Zeit- 
dauer und  Zeitordnung)  gegebene  Zeit  nicht  auch  im  trans- 
zendentalen Subjekt  desselben  als  unbegrenEte,  unaufhörlich 
fliessende  Zeit  vorauszusetzen  sei  und  dass  demzufolge  di» 
Zeit  nicht  lediglich  den  rezeptiven,  sondern  auch  den  spon- 
tanen Bedingungen  aller  Erkenntnis  angehöre.  — 

Die  Kritik  der  reinen  Vernunft  lehrt  empirische  Bealit&t 
der  Zeit,  d.  i.  deren  objektive  OUltigkeit  in  Ansehung  allw 
Gegenstände,  die  jemals  unseren  Sinnen  gegeben  werden 
können,  streitet  aber  der  Zeit  allen  Anspruch  auf  absolute 
und  transzendentale  Realität  ab  i).  Das  gilt  zweifellos  fUr  die 
Zeit  lediglich  als  Anschauungsform  des  inneren  Sinnes,  also  fllr 
die  zeiüiche  Bestimmtheit  in  Bezug  auf  Dauer  und  Folge. 
Indem  wir  jedoch  aus  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  nicht 
nur  die  MögUchkeit,  sondern  die  Notwendi^eit  entnehmen, 
der  Zeit  eine  umfassendere  Bedeutung,  nämlich  die  der 
Wirkungsfonn  alles  spontanen  Wirkens,  einschliesslich  der 
von  aller  Bestimmtheit  durch  den  inneren  Sinn  freien  Ver- 
nunft, und  in  dw  Zeit  als  fliessender  Zeit  oder  zeiüichem 
Verlauf  eine  Bedingung  aJles  bewussten  Seins  Oberhaupt  zu 
sehen,  werdw  wir  der  Zeit  auch  die  tra^iszendentale  Bealltät 
nicht  versagen  dürfen,  gleichgültig  ob  wir  der  Zeit  auch  in 
dieser  Bedeutung   empirische  Bealität   beilegen   oder   nicht. 

In  der  Bespreohong  der  Antiiipationeo  dw  "VobniehinnDg  lieiMt  m, 
DMhdem  Banm  and  Zeit  als  koDtuinierliche  OrÖBsen  daigesteUt  vnidan: 
„Dergläohen  OriMsen  kann  tum  anoh  testende  ueDnen,  weil  die  Bynthesis 
(d«r  pröduktiTBii  BiiibildiuigBknfi)  in  ihnr  Xniea|iu>g  ain  fartcuc  in  dor 
Zeit  iB^  dweo  KontinoitU  man  beaondeiB  doroh  den  AnadiBOk  daa  FUmmu 
(Terfliws«!»)  la  beselchDen  pflegt**). 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Folgmugen  na  Kants  AnftMDQC  der  Zeit  in  der  Eiitik  eto.    J00 

Hioioit  wird  nicht  nur  die  KontinuitAt  des  Baumw 
auf  die  Kontinuität  der  Zeit  zurÜckgefOhrt,  es  vird  aucti  die 
Kontinuität  der  Zeitanachauung  auf  diejenige  Etgentttnüich- 
keit  der  Zeit,  als  Form  des  inneren  Sinnes,  begründet,  iFelche 
man  als  das  Fllessen  zu  bezeichnen  pflegt.  Also  Ist  die 
fliessende  Zeit  in  der  von  Kamt  allein  ins  Auge  gefassten 
Zeit  als  Bedingung  jeder  mSglicben  Erfahrung,  in  der  empi- 
rischen Re^tät  der  Zeit  mit  enthalten. 

.BealiUt  ist  im  reinen  TentsndeBbegrflie  das,  was  eiuer  fimpSndnog 
üWhaiipi  kam^dDähtt;  Jaijwiigi  alio.  dämm  BmUI  an  ädi  aalbat  ein 


Sap  (in  der  Z»ä)  anseifL    SitfiHöM,  tefissn  Begrw  m  NioUaep  j(ia  4^ 
ZeiQ  ^otataBl'  —  sagt  EAm*). 

Die  Zeit  ist  hlenuu^  Voraussetzung  (Bedingung)  so- 
vobl  der  EealitÄt  wie  der  Negatioo.  Der  B^piff  d«s  Seins 
ist  eben  nur  möglich  in  der  Zeit  Die  Zeit  Ist  das  Umfassende, 
welches  nicht  nur  -das  Sein,  sondern  audi  das  Kichtsein  in 
sich  achlieasL  Von  einer  empirisdien  Realität  der  Zeit  kaos 
daher  nur  die  Bede  sein,  äß  kann  nur  gedacht  werden,  wenn 
unter  Zeit  etwas  verstanden  wird,  was  sein  oder  auch  nicht 
sein  kann,  nämlich  eine  ganz  besümnd»  Sinschränkuiig  der 
Zeit,  in  welcher  im  remen  Verstandesfoe^iffe  die  Realität 
allein  mJÜ^icb  ist 

Unter  der  Zeät  im  Sinne  des  reinen  VerstandeHbegiifCe& 
ist  somit  etwas  anderes  zu  denken  als  nnt^  der  Zeit,,  von 
deren  empirischer  Beahtät  gesprochen  werden  kann;  letztere 
kann  nur  eine  durch  das  Denken  bedingte  Bestimmtheit 
ersterer  sein.  Das  bedeutet:  ök  en^tirische  Realit&t  der 
Zeit  ist  nur  mOgUeh  unter  der  VortoisBetzuag  einer  alles 
Sein  und  alles  Nichtsein  mn^issenden  Zeit;  die  empirische 
Beahtät  der  Zeit  ist  nur  möglich  auf  der  Grundlage  der 
transzendentalen  Zeit,  als  der  Bedingung  aller  BealitAt. 

Wir  bgfinilan  uns  hier  im  BieUAng  jmit  det  ^"»^■"i-p  H.  I«™, 
■wenn  dsndbe  in  B^nei  Metaphystt')  danraf  liinweist,  wie  cTer  nedanle, 
wdt  di»  Seit  mi  not  Xom  sdei  ftwaignis  die  TonteUens,  dooh  -dem  Vor- 
sUUea  aelbst  den  O  !"■■»"■  eüMr  Tfrtttig^Jt  oder  aündestana  «oea  &t- 
«dudwna  nicht  nduneo  kSnne,  dessen  Begriff  tianlos  enoliüiien  würde  ohne 
die  yonniBsetiniw  «dm  Zritrerlanb,  der  arinam  Kade  gaaütet,  akdi  wm 

')  a  148  a.  o.  0. 

*)  Zweiter  Teü  dea  Systems  der  Philosophie.    IS29.    S.  S80. 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


300  0.  Leo: 

Aüfcag  in  nntenoheiden.  Wie  wmit  die  Z^  lüdit  Uoas  ein  Enoognis 
nSfchiBober  ThStii^eit,  nndflni  mgldoh  dia  Be^ngimg  fSi  die  AnsOImiig 
der  CkitiKkeit  sei,  dnroh  welche  sie  als  fitzan^nlB  gewonneii  werden  soll, 
nnd  wie  die  ToTstellnug  jadee  Weohmls  munOglioli  scJieiDe  ohne  wirtliidien 
WeohMl  im  Tontellen. 

Nun  ist  ja  die  Zeit  an  sich,  das  reine  Yerfliessen,  nichts, 
was  Empfindung  sein  kann,  vielmehr  bloss  Form  das  O«- 
scheliens  Überhaupt;  die  Realität  der  Zeit  setzt  daher  einen 
Empfindung  erregenden  Faktor  voraus,  em  Wirken,  dessen 
formale  Bestimmtheit  die  Zeit  ist 

Dieser  Gedanke  findet  mittelbare  Bestätigung  im  Schloss- 
satz  des  Kapitels  von  der  Antizipatioa  der  Walimehmung*}: 

,Bb  ist  merkwfirdig,  daw  wir  an  OrOswn  liberiianiit  a  priori  ntn  ein« 
änäp  QnaÜtSt,  nämliob  Üie  EontiniutS^  an  aller  Qoaliat  aber  (dem  Gealen 
der  InoheinnDgen)  niolitB  wntei  a  priori  ala  die  intanBive  Qoantittt,  nimlioh, 
dam  sie  einen  Ond  bab«,  erkaoiieo  können,  allee  nbrige  bleibt  der  Er- 
MunDg  fiberiasaen'. 

Die  Kontinuität  als  einzige  Qualität  a  priori  aller 
Grössen  wird  von  Kjjtt,  vrie  oben  gezeigt,  als  das  Fliessende, 
6.  i.  als  die  Zeit  bezeichnet  Der  Grad  oder  die  intensive 
Grösse  alles  Bealen  in  den  Erscheinungen  kann  weder  aus 
der  Anschauung  noch  aus  dem  Denken  hergeleitet  werden, 
sondern  nur  aus  einem  in  aller  Empfindung  wirkend  ent- 
haltenen Factor,  auf  den  auch  Eösr  hinweist,  indem  er,  wie 
nachgewiesen  wurde,  die  Funktionen  des  Verstandes  und  der 
Vernunft  als  dwidlungen  kennzeichnet,  alle  Spontaneität  an 
wirkende  Kräfte  (Eüibildungskraft,  Urteilskraft,  Ei^enntnis- 
kraft)  knüpft  und  bei  allen  Bedingungen  der  Möglichkeit  der 
Erkenntnis  ein  VermOgen  zu  wirken,  d.  i.  Energie,  voraussetzt 

Unser  Bewusstsein  enthält  indes  nicht  nur  das  Erkennt- 
nisvermögen, sondern  auch  das  eines  hiervon  deutlich  unter- 
schiedenen Wirkens,  dessen  mannigfache  Gestaltung  als  Kraft, 
Trieb,  Wille,  sich  zugleich  als  ein  spontanes  und  einheitliches 
WirkungsvermSgen,  d.  i.  als  Energie  darstellt,  sowie  nicht 
minder  Intensität,  Verschiedenheit  des  Grades,  in  sich  schliessti 
wie  „in  allen  Erscheinungen  die  Empfindung  und  das  Beale, 
welches  ihr  an  den  Gegenständen  entspricht"  >). 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Folganngaii  am  Kaats  AnSusiiiig  der  Zeit  in  der  Eritik  et«.    201 

Fiof.  BngL'}  bahanptrt  um  im  AnsohloH  u  Htnn,  dass  «ii  in 
keinsm  VUla  «in«  Entft  «ahnehmeit,  Kmdwn  In  Jedem  FiUe  auf  Knft 
oder  ViAMmkett  inhHwitn  Das  kann  aber  nin  mr  die  otöfl^^tire  Kraft: 
Tontellimg  gtitea.  ünsaies  mUekäTan  'WiAnngarennSgeDB  (Eneifpe)  sind 
wir  nna  onmtttelliar  bewMst  Suhl  nennt  et  Innerratiinsgerahl;  aber  der 
Name  thst  niohts  rar  Saidie.  Antmedaamkelt,  Anipannnng,  Anstrengung 
^nd  BewoHtarinserregangen,  die  wir,  ebenso  wie  an  negativen  ^^rto, 
ZeabmdLeit,  AbBpannnng,  Ermfidong,  dem  GMde  naoli  dentUob  nnteiwbelden. 

Trieb,  Kraft,  Wille  sind  ErscheinuQgeD;  das  Beale, 
irelches  Umea  in  der  Empfindung  entepricht,  ist  die  Energie, 
ebenso  wie  Sinnlichkeit,  Verstand,  Yemonft,  Erscheinungen 
sind,  denen  als  Eeales  die  Energie  der  Sinnesthätigkeit  und 
des  Denkras  enstpricht.  Ziehen  wir  von  diesen  Erscheinungen 
alles  ab,  was  lediglich  der  anschauenden  und  denkenden  Er- 
kem^nis  angehSrt,  so  bleibt  nichts  übrig  als  der  verschiedene 
Orad  der  Energie. 

Die  Quelle  dieser  Energie  liegt  ausserhalb  aller  mög- 
lichen Erkenntnis,  denn  alle  Erkenntnis  aetzt  deren  Wirken 
Toraus.  Welches  Wort  wir  zu  ihrer  Bezeichnung  wählen, 
ist  nebensSchlich;  K4KT  nennt  das  Gemüt  die  geheimnisTolle 
Qnelle  des  inneren  Sinnes;  er  setzt  das  Gemüt  als  Ausdruck 
für  das  einheitliche  Beale  aller  Empflndungsgestaltung.  In 
diesem  Sinne  können  wir  sagen:  Alle  auf  das  OemQt  zurück- 
zufahrenden  Erscheinungen  finden  ihre  synthetische  Einheit  in 
einem  VennOgen  des  Wirkens,  d.  i.  in  der  Energie  des  Ge- 
mütes, und  sie  smd  bedingt  durch  die  Zeit  als  die  Form  des 
inneren  Sinnes.  Einheit  der  Energie  in  der  Zeit  wird  somit 
zmn  Grunde  aller  empirischen  Erkenntnis  und  alles  empirischen 
Seins  und  Wirkens. 

Wollen  wir  diesen  empirischen  Grund  als  einen  trans- 
zendentalen begreifen,  so  müssen  wir  das  abstreifen,  was  ledig- 
lich dem  Selbstbewusstsein  augehßrt:  die  Einheit  und  die 
zeitliche  und  räumliche  BestünmUieit  der  Sinnlichkeit;  es 
bleibt  sodann  als  transzendentale  Bedingung  alles  Seins  und 
Wirkens  das,  auch  von  aller  zeitlichen  Bestimmtheit  (Zeit- 
dauer und  Zeitordnung)  losgelöste,  reine  Wirkungsvermögen, 
die  in  unaufhörlichem  Flusse,,  ohne  Anfang  und  ohne  Ende, 

■)  Im  1.  Band  des  plüloBopliiaeken  KrltiaiamDB.    a  109. 

n,g,t,7l.dM,GOOglC 


202  0.  L.o: 

ohne  jede  zeitliche  oder  t^omliche  Begrenztheit  vi]^«id& 
Enei^e;  in  dieser  aber  ist  die  Zeit  als  transzendentale 
BealitHt  eingeschlfwseu. 

Indem  wü  »o  dar  Zeit  dM  Pikdikst  der  BmUHU  orUHaa,  niobt  ab 
einer  fax  iöeb  eeienden  TirkBohkeit,  aondem  all  daijanicaB  Vig^w^T  B^ 
BümmHieit,  mit  welobet  to  tmuendentale  Wiiktidikitt  in  nnanram  Bawvaet- 
Min  wiiküm  wiid,  gelangeo  wir  wieder  snr  PebereinatimmBiur  mit  der 
AnaflUmmg  Lome*),  woiiäeli  die  Zrit  nicht  die  Bedingrnif  des  wiriteos  iat^ 
Bcadam  «•  IVlikeB  «wogt,  aber  nicht  ale  «in  bUlbendee  italm  Piodokt^ 
daa  irgendwie  flSeae  oder  die  Dinge  beeinflnsae,  sondern  all  die  nib]e1rt)*e 
fliilfiiiiiiiifiiiiii.  wlbreDd  die  BoBBaaalnn  dea  wbkeu  aalM,  walclie  die- 
■alba  mfi^ioli  maeh^  die  eigeiuta  Natu  des  TViridiDiun  aaL 

Aue  dem  Bewusstwerden  der  Energie  entspringt  der 
Grundsatz  von  dem  Orade  alles  Kealen  in  der  Erscheinung; 
ans  dem  Bewusstwerden  des  Verfliessens  der  Zeit  der  Grund- 
satz von  der  Kontinuität  aller  GrOssen,  d.  h.  von  der  Eon- 
tinuität  der  Zeit  als  Bedingung  der  Kontinmtftt  jeder  Grtisse. 
Auch  der  Kontinuität  der  Zeit  ist  transzendentale  Realität 
beizulegen.  Das  bedeutet:  aller  zeitlichen  Bestimmtheit, 
sei  es  Zeitdauer  oder  Zeitordnnng,  liegt  die  kontinuierlich 
fUessende  Zeit  zu  Gnmde,  von  der  jene  die  durch  An- 
schauung und  Denken  bedingten  Erscheinungsformen  sind. 

Soll  jedoch  die  transzendentale  Realität  der  Zeit  nicht 
ausschUesslich  logische  Wirklichkeit  bleiben,  so  muss  sie  im 
bewussten  Sein  und  Wirken  irgendwie  gegeben  sein,  unal>- 
hängig  Tom  Denken  und  vom  inneren  Sinn;  wir  müssen  una 
derZeitbewuBst  sein  als  eines  kontinuierlichen  Bandes,  welches 
alles  das,  was  der  innere  Sinn  als  Empfindungen,  GefUhle, 
Vorstellungen,  Gedanken  und  Handlungen  zusanunenhängend 
oder  auch  nicht  zusammenhängend,  entstehend  und  wieder 
verschwindend,  dem  Bewusstsein  liefert,  umfassend  verbindet. 
Denn  aus  der  Kontinuität  der  Zeit  innerhalb  der  einzelnen 
Bewusstseinszustände  folgt  noch  nicht  deren  kontinuierUcber 
Zusammenhang.  Dieser  wird  erst  dadmx:h  mOglich,  dass  er 
im  Bewusstsein  a  priori  als  zeiüiche  Kontinuität  gegeben 
ist,  als  die  Gewissheit  der,  unabhängig  von  dem  besonderen 


■)  Hetopbydk  S.  300. 

n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Folgerungen  au  Kants  AnJtumuig  der  Zeit  in  der  Kritik  etc.    208 

Inhalt  an  Empfindungeii,  TerfliesseBdeo  Zeit,    welche  alle 
LQcken   des  bewussten  SeiuB   ^eictiBaiu  erfüllend  schliesst. 

'Wenn  wir  tau  tnamlowni  S«düafi  erwiohui,  wenn  nadi  bewontkaoBi 
Znatude  du  BewoMtMiK  sutekketut,  lo  wieMO  wii  eeltr  woU,  Aue  wir 
geachlafm  lubeo,  diM  Ki  nneer  BemiMüein  laere,  inhihlcee  Z«t  den 
UMBUickliekaa  tddi  leMen  Bmvmimaamtboi  treut  Vir  uitmduidM 
bei  glaiaker  ZeitdMMr  tat  m/batOmta  ud  ImgMMBwan  Teilwf  dw  Zeit, 
woU  tie  dert  mit  n^r  oder  sannigUtigenr  Ecregmic  des  iunerai 
Sitam  erfBUt  ist,  liitr  weniger  BewemeTiaefiegungeB  •nthilt  Dee  neiet, 
d>M  die  Zeit,  soweit  äe  Mir  dem  iniMCMa  BioM  eatapnoU,  einer  hiarvon 
onahhhifigen  nmliwndBii  deiobaitigea  Kontinnilit  angelüfrt,  welcbe  durch 
den  inneren  Biaa  nicht  ancMpft  wird. 

Badliek  fordert  udi  £e  TbatauBka,  da«  wuer  deokendee  bkennea 
ihr  die  (hensea  der  emeiriiäen  Zeit  eowoU  in  der  HidrtBag  auf  nv- 
floaaeae  wie  auf  kommeMe  WiAlichknt  wüt,  ja  nabegrenst  weit,  Unaa^ 
(Dgaben  venug,  notwendig  alt  BwUnnog  ikier  USglitdikeit,  die  Qegebe». 
uBt  üner  KuntmeiHtt  der  Zrit,  wetcoe  dia  Kontinniat  In  inneieB  Sian 
ine  ünenneteüche  binein  forttfilut 

Die  Zeit,  wrfcber  wir  tmnsieBdentale  Beaütlt  bnlegen,  ist  die  B»< 
dingnng  aller  Anachanmig  and  kann  dalwr  dnich  Ansidiaanng  lüobt  gegeben 
Min  oder  «rkanat  weiden.  Das  nimmt  denjenigen  Bedenken  die  Bewele- 
kraft,  wdehe  gegm  die  traneiendantale  BealitU  der  Zeit  ans  der  doroh  den 
innei^  Sinn  venafttelten  Ansehannog  «itBommen  werden. 

'Wenn  i.  B.  0.  LixBHura*)  usfBhit,  dass  Svooeaefon,  alsoZeit,  nur  dann 
maglidi  8«;  wenn  etwsa  dnander  Guccedlert,  und  dass,  wenn  jedes 
Sulgekt  der  AuMsanderfolge  fdile,  die  Anfeinanderlolge  f^iUoh  wegMo; 
Mhlieaetiob  unter  Berufung  auf  Ixibritz,  Bikulby  mtd  Austotbus  feet- 
steUt,  den  die  Zrii  jätbi»  iet,  sobald  wir  aberiMB  tos  der  Ideenfolge  in 
useeaBi  Oetst;  —  eo  gilt  dies  wohl  fBt  die  Zdt  als  ITonn  dee  inneren 
Kons,  licht  afcn-  fir  die  Zeit,  welobe  ebensowohl  Bedingung  des  inneren 
Sinn  wie  notwend^  iet,  nia  jene  Otse  n  denken.  Soll  je^xdi  der  Sats 
gellen,  daas  fb  ana  ^ehta  sein  kann,  was  nicht  durah  den  inneren  Binn 
Dneenn  Bewnestamo  v^nittelt  wird,  dann  iet  eben  allea,  was  fflr  das  Be- 
waastarin  abpumpt  ist,  in  der  Zdt  oder  bedtogt  durch  die  Zeit  Dann 
gtebt  es  entweder  gar  kelue  BealitiU  oder  nnr  Bo^tlt  in  der  Zeit  und  die 
Zät  wird  Bedingung  a  priori  aller  Bealitit 

LnsKAinr  et&tct  seine  AUehnu^  der  transisndntalsn  Beali&t  in 
Zeit  auob  auf  die  Annahme  eiaei  volüomineneo  (lll-)InteUigent,  welche 
'  nach  Analogie  und  als  voUendeta  Hyparbel  der  mensohuohen  IntalHgens  n 
denken  Ist  nnd  TemSge  ihrer  ttamlich.seitUdien  Allgege&wart  oder 
Befannkenloslgh^,  wegen  Ihrer  ■bsdoten  Besidijeni  und  Proepiaeoi  den 
gesamten  Wmptoum  mit  einem  einsigen  Bliue  Bbetschane*).  Diese  Yw- 
auasetsaeg,  ebenso  wie  die  weiterhin^)  als  denkbar  beieiehnete  entlase 
Weltlegtk,  steht  jedeeh  im  'Widenjjünoh  mit  der  Kritik  der  rnnen  Twnnnf^ 
weiche  d«  keostttnttTM  Oehnmih  transsendentaler  Ideen  (daan  g^Bit 
auob  £e  abednle  IntdUgeu  und  die  teitkee  Weltkgik)  nidit  loUesi«). 


*)  AnalTBia  der  Wlrkliahkelt,  Ao&g.  v.  I90a    8.  107/108. 

Ö  8.  109  a.  0.  0. 

^  S.  306  a.  o.  0. 

')  S.  619  u.  644  der  K.  d.  r.  V. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


204  0-  I-«o: 

Du  ünbodingta  kann  im  meaidilicheii  Bevustsein  nieinda  aU 
aolohss  erbast  Verden;  aller  BewnsetsdnaiDhalt  ist  bedingt.  Das  ünbedingto 
oder  Abaolate  ist  ein  aegatirer  Erketutniswert,  der  Angdmck  fQr  das, 
waa  unsere  Intdügeni  Dioht  ist  nnd  nicht  sein  bann. 

Allintelligenz  naoh  Analoge  und  als  Tollendete  HTpertMl  der  nwasob- 
liehen  Intelligani  bedeatat:  siob  das  Bedingte  unbedingt  denken.  Dw 
schrankenlose  Baum  ist  k«n  Baum  mehr,  nnd  der  Weltprozeaa  hört  auf 
läa  Proiees  sn  sein,  wenn  er  mit  der  «bsolaten  Seepiiieni  imd  Persi^«i< 
^ea  Angenbliokes  verknfiptt  wird,  ha^  ist  Form  des  Denkens  and  ohne 
die  TUUi^eit  des  Denkens  ntchs;  l%&taRkeit  aber  bedeatat  ein  Oesohehen 
in  der  Z«t;  leitloea  Weltlog^  ist  ein  Widerspmch  in  sich. 

Nicht  einmal  der  Gedanke  T*=&px,  mittelst  dessen  der  Blick  den 
UathematikerB  den  nnendliohen  verlauf  einer  Fatabet  ebenso  tusammen* 
fBBst,  wie  eine  aohrankenloee  Intelligenz  den  gesamten  Wel^mseas  mit 
tinem  einmaligen,  aber  ewigen  Anbliu  nnd  Oedüken*},  ist  <dme  EsHÜahen 
Teilanf  m  dräken,  ebensowenig  wie  das  Ange  eine  E^or  ohne  Bewegung 
anfanfassen  Tennag.  und  wenn  ee  an  der  bezniAneten  Stelle  wd(M  bdast: 
j,wie  der  ungeübte  oder  langsam  denkende  Kopf  nnr  m&hsam  nnd  aUmihlidi 
jene  logische  BohlnEarnbe  denkt^  die  der  geniale  Ueometer  fast  simultan 
dunjiBchanI,  so  entwickelt  rieh  die  reale  Kanaalreihe,  welohe  von  der  ab* 
aolntsn  InteWgeni  ^mal  für  alle  Mal  snb  spede  aetemitatis  überblickt 
wird,  (Bf  eine  endlielie  Intelligenz,  wie  die  des  Hensohen,  in  zeitlioher 
UnKsnansdehnnngaOmUilioli  ab"  —  iowerdenhior  einmal  zwei  Tersofaiedene 
Oraae  der  Intelligeni,  die  aber  beide  einen  zeitlichen  Verlauf  bedeuten 
(denn  fint  simultan  ist  eben  nicht  simultan),  das  andere  mal  zeitlicher  Ter- 
Imf  nnd  zeitlose  Ansobanung  auf  einander  bezogen,  also  zwei  ganz  ver- 
sobiedene  Terhlltnisse,  deren  vergletohende  Verkn&pfong  eine  beweisende 
Erkenntnis  nioht  zu  geben  reimag. 

Wenn  femer  die  psjchalaAsahe  Tlnteisnohnng  zu  dem  Ergsbnis  kommt, 
dsSB  nnaer  Zeitbewusstsein  niäits  uisprün^oh  Oegebenee,  vielmehr  tm 
dnroh  ansohanende  Erfahrung  vermitteltes  Denkprodut  sei,  so  gilt  dies 
doch  nnr  für  das  empirisohe  Zeitbewnsstsein,  nioht  abw  fOr  die  timos- 
zendentale  Wirklichkeit  als  die  Bedingung  der  Höglichkwt  jeder  Erhhrong. 
Der  Umstand,  daas  die  wisseosahaftliche  Forschnnc  diese  Wirklidtkeit 
nirgends  nadiznweisen  vermag,  hebt  die  Notwendigkeit  nicht  aaf,  das  Tor* 
Jmndensein  eber  aolohen  voranaznaetzen.  Daran  indem  anoh  die  I^b- 
lüsae  der  emgehenden  Untrasnohnngen  Enout  Posca's*)  nidtts;  diese  setzan 
ein  Tanüditetwerden  nnd  Nealnldiuig  von  BewnsstseioBdementen  v<n»H^ 
sowie  das  Fortbestehen  eines  Beiizostandea  des  Nerrensystema  ohne  den 
SDgehÖiigen  insseren  ESodmok;  Vemiohtetwerden,  NeubQdnng,  FortbeaUhen  • 
aSoA  aber  doch  nnr  sprachliche  Bilder  tfir  die  Orandthateahe  des  Ge- 
bcbehena,  der  wir  jedenMa  die  rabjektive  Wirkticbkeit  des  Wechsels  oder 
dar  Verindernng  im  Substrat  der  Bewusstarinsetregung  zuerkennen  müssen, 
ganz  unatÜngig  davon,  wie  dies  sonst  za  denken  sei. 

Wird  jedoch  dieser  Wechsel  —  wie  es  bei  Fobch  der  Fidl  ist  — 
ledif^ioh  als  Qnale  einer  Eigensohaft  des  Subjektee,  nimlioh  des  Eiiiinenin<a> 
Vermögens  aufgefosst  nnd  disses  Subjekt  als  ein  zeitloses,  d.  h.  in  Un- 
veifnderliohkeit  bebamndes  begriffen,  so  wiid  damit  allerdings  der  zeit- 
liche Terlaat  ansgescbaltet,  aber  dem  in  TJnverftnderlii^eit  neharrenden 


>)  Analysis  d.  W.  S.  868. 

^  Ausgangspunkte   zn  einer  Theorie  der  Zeitvorstallang,    6  Artikel 
im  23.  nnd  24.  Jah^ang  dieser  Zeitschrift 


iM,Coo<^le 


Fotgennigm  ■ 


>  Kants  Anfhamog  dar  Zdt  in  der  Kritik  eto. 


^nlgekt  der  Weaheti  aIb  BJgeBKhaft  beigelegt,  wts  doch  woU  «n  tHnder- 
■prncit  ist 

Anoii  Prof.  Bühl  erkennt  der  Zeit  BeelitU  za,  ib«r  olnektire  nioht 
BDbjektive  Wirklichkeit.  Er  eagt  im  bewnssten  Oegeneatz  m  Eaki*]  .TJns 
vielmehr  eiaolieint  das  Bewnastiein  als  das  beliarrliohe,  als  des  sioli  im 
Wechsel  identieoli  Setcende  nad  Wissende,  der  Weahsel  dagegen  als  das 
iDukokst  Aenaserlii:^  nnd  doroh  die  Brfalimng  AafgedmngoDe.  Dnroh 
die  vereinigte  Ttntsllniig  der  BimnltaneiiSt  lud  der  SnooessioD  Wgiebt 
■icli  erat  die  Zoitwahniebmaiif^*  Femer'):  .DerBegnff  der  Saoceasiou  aber 
ist  {ebenso  wie  der  der  Eoexisteni)  von  realer  Bedentong,  weil  er  ans  der 
beetimmtan  Hanni^altigk^t  iw  Empfindungen  abetrshiert  wird  und  nicht 
ans  iif end  öner  form  des  Bewusetseins  entspringt" 

Hier  wird  die  ESnheit  aut  das  tiehancliehe,  sich  im  Weoluel  identisoh 
wisMnde  Bewnsstsein  bezogen,  und  es  weiden  zwei  Wirklichkeiten  als  Be- 
diagnnem  dee  bewnsaten  Seins  und  Wirkens  voransgesetzt:  das  als  be* 
hauend  ersoheütende  Bewnsstsein  und  der  Wechsel  der  äusseren  Dinge. 

Beharrung  und  Wechsel  sohliessen  önander  ab  Wirkliclikeit  ans; 
ist  die  Wliklichkat  Beharmng,  dann  ist  aller  Wechsel  äohein  nnd  ebenso 
nmgekehit  unsere  Erfaluong  enthUt  freilich  beidee,  aber  das  Beharren 
immei  nur  in  zeitlicher  Begrräztk^;  sobald  wir  deren  Mass  gross  genug 
grrafen,  stellt  sich  tbetall  die  VeAnderiichkeit  dee  Bebaireudeu  heraus; 
unser  eigenes  S«n,  selbst  in  seiner  Erweiterung  mm  meneohli^en  Sein 
nberhaiutt,  ist  liiervon  nicht  anegeeoUoeseu.  Die  Wirkliclikeit  des  Wechsels 
kann  als  Beharmng  erscheinen,  die  Beluumng  als  Wirklichkeit  jedoob 
sohlieest  den  Weiäisel  auch  als  Ersdieinung  ans.  Dataos  folgt,  dass  die 
Einhwt  dee  BewnsstseinB  auf  dessen  Wirken,  auf  die  bewuiste  UiItiKkeit 
zu  beJsieheo  ist,  nicht  jedoch  anf  das  beharrende    ruhende  Bein  deesefben. 

Die  EcBoheiniingen  als  Inhalt  unseres  Bewusstseins  hftngen  such 
nicht  ab  mdeioh  von  der  Besoliaffenheit  der  Sinnesthätigkelt  und  von  der 
Form  der  Beize,  welche  diese  SinnesthUigkeit  zur  Analösnng  bringen*), 
tondem  von  der  F&higkeit  der  Sinne,  auf  Reize  gestaltend  zu  reagieren. 
Beize,  welche  die  Grenzen  der  Fähigkeit  der  Sinne,  Beize  gestaltend  auf- 
lofaseen,  übersäireiten,  werden  gar  nicht  oder  undeutlich  aofgefasst,  oder 
sie  seratdien  zeitweise  oder  dauernd  das  bewusste  Sein.  Wohl  mag  sich 
unsere  Sinnesentfaltnng  und  Thätigkeit  im  Laufe  langer  Oenerationsfolge 
gewissen  dauernden  Beizen  und  deren  Wirkungsfonnen  angepasat  haben, 
das  araehßttert  aber  die  Thatssche  nicht,  dass  die  äussere  Wirklichkeit  nur 
in  den  Fonnen  und  in  der  Gestalt  in  das  Bewnsstsein  treten  kann, 
welche  ihr  die  gegenwärtige  Organisation  nnd  IbStigkeit  der  Binne  ver- 
leiht. Kamt  hat  i.  d.  E.  d.  r.  T.  zur  Widerlegung  des  Skeptiiismns  daranl 
hingewiesen,  da^  notwendig  eine  transzendentale  Msterie  aller  Oegenstflude 
als  Dinge  an  sich  vorausgesetzt  werden  müsse,  w^che  an  den  Er- 
scheinungen als  etwas  Beharrliches  nnd  als  ein  von  allen  unseren  Vor- 
stellungen nnterschiedeces  äusseres  Ding  der  Empfindung  entspricht  Hier- 
aas folgert  Bicai.*),  dass  die  Dinge  selbst  wirklich  mit  ihren  Erscheinungen 
simnltuD  sind  und  weiter:  .wenn  nun  aber  die  Simultaneität  reale  Be- 
deutung ausser  dem  Bewnsstsein  hat,  warum  sollte  nicht  auoh  die 
Sncceesion  diese  Bedeutung  haben  können?    Warum  sollen  die  Dinge  selbst 

')  PhiioB.  Kritizismus,  ü.  Bd.,  1.  Teil.  B.  ISl. 
*J  8.  73  ebendaselbst 
■)  BiEHL  a.  a.  0.  n.  Bd.  2.  leU  8.  30. 
*)  a.  0.  0.  n.  Bd.  1.  T.  S.  30, 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


BMkmttr  nod  nnr  ihre  baohdnnngen  im  Bewimtsehi  in  eiliem  ZeUcaf  «m- 
einander  ^otogen  seio?" 

KuD  babauptet  &b«r  Kaki  kemoswaoB,  ima  jader  EnobaiiuiBg  «mea 
Dfngea  Koob  in  dei:  tnumendenUlan  Wirkliahkait  ain  Ding  antmaohsa 
mftas^  soodern  aUcm  em«  tmuMndKitBlB  Wiikliohkeit  fii  die  Hatrak, 
welohe  jedooli  nioht  OlyeU  dw  Erkanntnia  aäa  and  wod«  dnnh  (iniifiidM 
Anaobaunng  Botäi  doroh  So^Iusfolga  betttglich  da  Art  Uum  {Wob  tot- 
gwtallt  werdan  kSnne-  SiKnltaneiQlt  und  SnooMsioD  bab«n  abor  nur  dum 
«inan  Bion,  wann  üb  auf  Beatüiunbaie  Dinge,  auf  Objakte  dar  SükMutais 
basogim  werden. 

Simoltan  ist  eina  Hahilieit  tod  Tahruduntugnt,  tSr  wMb.e  eine 
DHtenidLeidQng  naoh  Quer  niÜidien  BeaämmäMÖt  nit^t  bestellt;  Simnl- 
taaeitit  eaädtt  auch  keine  Folga  odar  saitUobe  Oidnimg,  fibertianpt  Wn 
.._.     _.  __,...-_u__  ™. ___!._.     ^.    n.     ..      ....    .   fiaga  iioija der  Z  " 


aug,  w« 

iiuiMwi  Snoes  in  Betiadit  kam.  Fir  die  Zeit  ah  VocBtaUaag  bedeutet 
ledooh  die  SimnltaaeitU  eine  zweite  Dimension,  also  eine  Konteneu  mit 
dam  Baambegrifl. 

Der  Umstand,  dess  in  der  menaohliohen  Ansohsanog  TielTache,  oft 
dnnbgftngl^  TJebereinstimmnng  bestellt,  findet  seine  ErkUltnng  in  der 
üebenttistunmiing  der  Oqiuilsstion  nnd  der  Sinnesfnnktlonea;  sie  besteht 
aber  sndi  nur  soweit,  als  diese  Kleben  Ist.  Ei  kann  danms  nmsowen^er 
die  Behanptnn^  begröndet  Werden,  dass  uns  die  EmpGndnngen  nach  Bmr 
Tonnellen  BestunmUidt  dnroh  die  SnsBereD  Dinge  aoaedrangen  würden,  als 
die  n&bere  Pröfnng  eine  ToHe  üeberansfa'mmnng  der  Menaitten  in  der  ainn- 
L'ohen  AnSsBsnng  der  Dinge  nnd  To^Uige  irähl  niemala  beelStigt. 

Nach  alledem  erscheint  die  objekÜTe  Wirkliohkeit  doch  weniger  go- 
eignet,  die  trsnsiendentale  Sealität  der  Z«t  zu  begrijnden  als  die  ButtJektiTe. 

Die  Kritik  der  reinen  Vernunft  beantwortet  die  Frage, 
wie  ist  Überhaupt  Erfahrung  möglich?  Sie  sucht  die  im  Be- 
wusstsein  auffindbaren  Bedingungen  der  Möglichkeit  der  an- 
■  schauenden  wie  der  denkenden  Erfahrung  zu  erfassen  und 
klarzulegen;  das  Vermögen  der  Anschauung  und  des 
Denkens  setzt  sie  als  gegeben  voraus.  Von  diesem  zugleich 
rezeptiven  oder  formgebendcn  und  spontanen  oder  hervor- 
bringenden Vermögen  ausgehend,  wird  die  Möglichkeit  ob- 
jektiver Erkenntnis  begründet  und  zugleich  deren  Grenze 
gezogen. 

Wenn  hierbei  die  Zeit  lediglich  dem  rezeptiven,  nicht 
aber  auch  dem  spontanen  Vermögen  zugerechnet  wird,  so 
ist  dies  erklärlich,  weU  das  letztere  ebenso  wie  ersteres  nur 
bezUgUch  der  Art  seines  Wirkens  untersucht,  im  übrigen 
aber  als  gegeben  behandelt  wird.    Die  Spontaneität  und  die 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Folgemngea  ani  Kante  Anffixumiig  dar  Zeit  in  dw  Kritik  etc.    207 

traoBzendeatale  Realität  der  Zeit  sind  indes  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft  nicht  fremde  Eilemente;  sie  liegen  als  un- 
aufgescblossene  Fächer  in  ihr,  auf  welche  die  Untersuchung 
notwendig  stösst,  sobald  sie  die  dort  zu  Grunde  gelegten 
wirkenden  Faktoren  nicht  mehr  als  gegeben,  sondern  als 
solche  begreift,  die  zu  ergründen  bleiben. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Di«  Geschichte  der  Erziehung  In  sozlolcgischer 
Beleachtung. 

n. 

Von  FftKl  Butk,  Laipzig. 
Inhalt: 

Dbt  fibogang  loa  der  g«ntfl«D  mr  lUIacUKliro  GtaxLlHluift  b«l  ttr  HeUanen.  daa 
MndkMieni  nnd  Penumeni,  Indflni,  Patem.  äBmiUu,  A^pton,  ChlufiHD,  Iipaaem.  Dia 
eoIipnchaidcBi  ßrtcbslnaiigeti  In  dar  Bnl«birag,  mll  Aiumtbm«  der  bAUaaiKboii  Enlahiuki:. 

Alle  sozialen  Zustände,  die  wir  bisher  betrachtet  haben, 
sind  als  Naturforroen  der  Gesellschaft  zu  bezeichnen.  Was 
die  Familie  und  die  Sippe  (Gens)  zusanunenhält,  ist,  neben  dem 
Geschlechtstriebe  und  dem  Geselligkeitstriebe  die  wirkliche 
oder  vermeintliche  Blutsverwandtschaft  ihrer  Mitglieder.  Aus 
Sippen  (Geschlechtern)  setzt  sich  der  Stamm,  aus  Stänamen 
das  Volk  zusammen.  Alle  Angehörigen  eines  Volkes  glauben 
sieh  blutsverwandt,  meist  von  einem  oder  wenigen  gemein- 
samen Ahnen  herstammend.  So  die  Germanen  von  den  drei 
Söhnen  des  Mannus*),  die  Hellenen  von  den  drei  Söhnen 
des  Hellen:  Aiolos,  Doros  und  Xuthos.  Es  ist  also  ein 
durchaus  spontanes,  natürliches  Band,  das  die  Gesellschaft 
auf  dieser  Stufe  bindet. 

Ebenso  ist  die  gleichzeitige  Weltanschauung  eine  Summe 
durchaus  spontaner  Vorstellungen,  die  aus  der  "Wahrnehmung 
der  umgebenden  Natur  sich  unwillkürlich  der  Seele  des  pri- 
mitiven Menschen  aufdrängen.  Die  animistische  Deutung  der 
Naturvor^nge,  die  Hineinlegung  eines  dem  eignen  ähnlichea 
Ichs  In  dieselbe  ist  so  unausweichlich,  dass  sie  auch  heute 
noch  bei  den  in  Unterscheidung  und  Abstraktion  erzogenen 

')  Vargl.  Tacitus,  Oennsai«  K.  2. 

TlaUUilnelirlft  f.  ifimtailam.  PUloi.  n.  Sodol.    XXVn.  2.  14 


iM,Googlc 


210  Psnl  B«rtli: 

Kultunnenschen,  sich  mit  psychologischem  Zwange  vollzieht, 
der  Wind,  die  Blume,  sogar  das  Schiff  oft  in  Gedanken  und 
darum  auch  in  der  Sprache  als  lebende  Wesen  behandelt 
werden.  Der  Animismus  ist  durchaus  kunstlos,  vom  psycho- 
logischen Hechanismus  erzeugt.  Aus  dem  Spiele  der  Phantasie, 
ohne  bewusste  Absiebt,  erwächst  auch  die  Bereicherung  des 
Animismus  mit  menschlichen  Schicksalen  der  Qötter,  durch 
die  er  zum  naturalistischen  Polytheismus  wird.  Diesen 
fanden  wir  oben  bei  den  Indem  der  Zeit  der  Veden,  bei  den 
homerischen  Griechen  und  bei  den  Germanen.  Er  ist  aber 
ähnlich,  wenn  auch  nicht  so  überaus  reich,  wie  bei  den 
Griechen,  bei  den  Indianern  Nordamerikas  entwickelt«),  Ober- 
haupt bei  jedem  der  geschichtlichen  Völker  auf  derjenigen 
Kulturstufe,  die  Moboah  die  Oberstufe  der  Barbarei  nennt. 

Indessen  das  Band  der  blossen  Katurtriebe  genUgt  bei 
einer  gewissen  Höhe  der  B!ntwicklung  nicht  mehr.  Wabr- 
Bcheinlich  ist  es  das  Streben  nach  unbeschränktem  Frivatbesitz 
an  Grund  und  Boden,  was  den  Oeschlechtsverband  auflöst 
Die  Ehe  ist  allmählich  streng  monogamisch  und  lebenslängUcb 
geworden.  Jedenfalls  hat  nur  eine  Frau  die  Rechte  der 
Ehefrau,  Sklavinnen,  die  der  Mann  haben  kann,  sind  ihr 
nicht  ebenbürtig.  Die  eheliche  Zuneigung  ist  individueller, 
damit  fester  geworden,  zugleich  notwendigerweise  die  Liebe 
zu  den  Kindern  gewachsen.  Daraus  entsteht  der  Wunsch, 
ihnen  mögUchst  reichen  Besitz  zu  hinterlassen,  zunächst  an 
beweglichen  Gütern,  dann  aber  auch  an  einem  AckerstOcke, 
welches  grösser  sein  soll  als  das,  welches  das  Geschlecht 
nach  gleichem  Eechte  jedem  Genossen  zuteilt,  und  zwar  nach 
einem  solchen  Besitze,  der  nicht  mit  dem  Tode  der  Besitzer, 
wie  bisher  an  das  Geschlecht  zurückfiele,  sondern  den 
Kindern  erhalten  bliebe. 

Einen  solchen  Übergangszustand  finden  wir  bei  den 
homerischen  Griechen.   Noch  besteht  der  Geschlechtsverband, 


*)  VergL  Chantepi«  d«  la  Ssnssaye,  Lehrbadi  der  BeligiNis- 
gesohiobte,  I*,  Fieibnig  i.  B.  nod  Lrapzig,  ISffl,  B.  Sl.  LoNonLuiwB  G«- 
dioht  Hiavatha  ist  die  Datstelliuig  der  indiuuscben  Hythologis. 


n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL' 


Die  Oeeobiolitfl  d«r  Eraiehang  in  soiIoIo|isalLer  Bflleaohtuig.     211 

der,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  die  Männer  auch  im 
Kampfe  yereinigt,  immer  noch  ist  er  die  Grundform  des 
sozialen  Lebens.  Ein  ungeselliger  Mensch  wird  ätp^^rcf^^)  ge- 
nannt, d.  b.  ein  solcher,  der  Mitglied  einer  „Fhratrie",  die 
ursprOnglich  auch  „Geschlecht"^)  bedeutet,  nicht  ist,  oder 
zu  sein  nicht  verdient.  Noch  lebt  zwar  nicht  das  ganze 
Geschlecht  in  einem  Hause,  wohl  aber  mehrere  verwandte 
Familien'),  genau  wie  in  der  noch  jetzt  bestehenden  „Brüder- 
schaft" (Zadruga)  der  Südslaven.  Koch  pflügen  —  ein 
Zeichen  der  Flurgemeinschaft  —  die  Mftnner  zugleich  das 
Ackerfeld*). 

Aber  schon  hat  der  König  ein  großes  Landgut,  das 
er  mit  Lohnarbeitern  oder  Sklaven  bearbeitet'),  selbst  noch 
aller  landwirtschaftlichen  Arbeit  kundig  und  sie  ausübend^), 
aber  doch  ausserhalb  des  Geschlechtsverbands  stehend,  nur 
andere  Könige  als  seines  Gleichen  betrachtend. 

So  entstehen  allmählich  verschiedene  Klassen  grosseren 
oder  kleineren  Besitzes  im  Volke,  die  an  Besitz  Gleichen 
fühlen  sich  unter  einander  näher,  als  ihren  Geschlechts- 
genossen, da  sie  die  gleichen  Anschauungen  und  Ziele  des 
Lebens  haben,  sie  werden  endlich  zu  besonderen  Ständen, 
indem  die  Gesetzgebung,   die  Verschiedenheit  der  Klassen 


M  n.  IX,  63. 

*J  0.  ScröuDXR,  Spnohvergleiolmng  und  üi^esoliiahte,  2.  Aofl. 
J«nK  IEm),  S.  675:  „^r^Ja"  kann  nTspran^oh  kaum  etwas  anders  als 
xäerou  (F&milie)  in  seiner  erweiterten  Bedeutung  n&mlioh  das  Oe- 
aelileaht  bedeutet  haben, 

*}  So  die  SQhne  nnd  likihter  des  Pbiamos  mit  ihien  Gattinnen  and 
Oatteo.    n.  TL  848  ff. 

•)  IL  XVni,  641  ff. 

•)  Vewl.  die  Emtesiene  auf  dem  SoliUde  Achill'b,  li.  XVIII,  560  ff. 
und  darfiber  handelnd:  R.  Föhlkanh,  Geschichte  des  antiken  RommnnismaB 
und  StttialiBmna,  1  Uänohen  1893,  S.  27  9.  Der  hier  erwfthute  fitwJuif, 
dem  das  t^irot  genSrt,  rnnse,  wie  Pöhlkisn  8.  30  bemerkt  nicht  grade  der 
Sdoig  des  Tolkee,  es  kann  aaoh  ein  Häaptling  eines  Qeschlechts  sein.  In  dem 
kleinen  Sdteria  giebt  ee  (Od.  VIII,  890  f.)  ausser  Alkinoos  noch  12  jJmiJI^k, 
'-  "  -   "  "       ^'  "TS  ebenfalls  „viele-  (Od.  I,  394t),  aber  das  Krongnt  des 

war  das  T(i 

Landbe 

•)  Od.  XIIV.  219  ff. 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


213  Pinl  Bartki 

anerkennend,  Omen  verscbiedene  Bechte  und  Pflichten  dem 
Staate  gegenüber  zuweist 

Der  Staat  selbst  erweitert  sich,  indem  er  mannigfachere 
Aufgaben  übernimmt.  In  der  Geschlechterzeit  hat  er  nur 
eine  Aufgabe,  die  Abwehr  der  Gewaltthat,  die  von  aussen 
dem  Ganzen  droht,  den  Krieg;  die  Gewaltthat  im  Innern, 
die  ein  Volksgenosse  gegen  den  andern  ausübt,  rächt  das 
Geschlecht.  Nun  aber  übernimmt  der  Staat  diese  Rache,  da 
das  Geschlecht  sich  auflöst,  er  wird  Verfolger  der  Verbrecher 
und  ausserdem  stellt  er  sich  noch  andere  Aufgaben,  wie  wir 
sehen  werden.  So  wird  die  Gesellschaft  aus  einem  natür^ 
liehen,  spontanen  ein  künstliches,  vom  bewussten  zielsetzen- 
den Willen  geformtes  Gebilde.  So  hatten  in  Attika  sich 
längst  verschiedene  Besitzklassen  ausgebildet:  die  Eupatriden, 
die  Geomoren  und  die  Demiurgen'),  während  dem  Namen 
nach  der  alte  Geschlechtsverband  noch  bestand  und  wohl 
Familien  aus  den  verschiedensten  Vennögensklassen  ver- 
einigte. SoLON  erst  hob  die  alte,  auf  dem  Sippenverbande 
ruhende  Gliederung  der  Gesellschaft  ganz  auf,  indem  er 
neue  Phylen  einführte,  die,  den  alten  geographisch  zusammen- 
hängenden gegenüber,  Bewohner  der  verschiedensten  Land- 
schaften vereinigten,  also  durchaus  künstliche  Gebilde  waren. 
Ausserdem  ordnete  er  das  attische  Volk  in  vier  Klassen,  die 
dem  Staate  im  Kriegsdienst  wie  in  Leistungen  des  Friedens 
je  nach  dem  Vermögen  verschieden  hohe  Opfer  zu  bringen, 
demgemftss  auch  verschieden  bemessene  Rechte  auszuüben 
hatten. 

Aber  es  giebt  noch  einen  zweiten  Weg,  der  über  das 
bloss  Naturwüchsige  hinausführt.  So  mächtig  die  Götter 
shid,  wenn  die  gewaltigen  Naturmächte  göttlich  gedacht 
werden,  so  sind  sie  doch  zunächst  nur  in  privaten  Dingen 
wichtig.    Bei  Homer  sind  sie  mi  Begriffe,  auch   auf  Volks- 


')  Te^l.  Boui,  OeBchichte  OrieohenUnda  I,  Berlin  1886,  8.  4fi7. 
.Deaiatgen"  sind  hiar  lüoht  Uoas  HaiKlworker,  Bondern  besttsloee  Lohn- 
arbeiter tberhaapt,  GeomoreD  =  Aokerbaaer,  Eapatriden  =  Adlige,  d.  li. 
grosse  Oroudlierren. 


n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL' 


Die  Oeeohiohte  der  Eraiehaog  In  Miiologisoher  Belenohtang.     3X3 

Sachen  Einfluss  zn  nehmen;  Sie  ergreifen  Partei  fttr  die 
Troer  oder  fllr  die  Achäer.  Aber  es  giebt  keinen  Staud, 
der  von  VoUiswegen  den  Kult  der  GWtter  pflegte.  Wo  im 
allgemeinen  Interesse  der  Beistand  der  Götter  nötig  iat, 
wendet  ^cli  der  König  durcli  Gebet  und  Opfer  an  aie,  sonst 
werden  die  religiösen  Pflichten  erfüllt  durch  einzelne  Priester 
oder  iartii  die  Ai^hörigen  einer  Familie,  der  die  Pflege 
eines  vom  Vollie  anerltannten  Heiligtums  anvertraut  ist'), 
ohne  dass  jedoch  diese  Priester  in  irgendwie  erkennbarer 
Veitindung  mit  ekander  ständen.  Da  aber  Gemeiosamkeit 
der  Pflicht  die  Menschen  ein^der  näher  bringt,  so  Ist  es 
natürlich,  dass  allmählich  die  Priester  mit  einander  in  Ver- 
bindung treten  und  wie  die  Besitzer  gleichen  Vermögens 
einen  besonderen  Stand  bilden.  Bei  den  Hellenen  und  den 
Römern  ist  dies  nicht  geschehen,  die  priesterlichen  Funktionen 
werdMi  bei  ihnen  als  Leistungen  für  den  Staat  betrachtet, 
und  wie  alle  anderen,  jährlich  wechselnden  oder  lebenriHng' 
liehen,  jedenfalls  aber  gewählten  Beamten  aufgetragen,  so 
dass  ein  priesterUches  Beamtentum  sich  nicht  aussondern 
kann.  Dagegen  grachieht  dies  frtihe  auf  zwei  anderen 
Schai^)lätzen  der  Kultur,  in  Asien  und  in  Amerika. 

Die  rote  Rasse  hat  in  Amerika  an  zwei  Stellen  eine 
lange  Entwickelung  gehallt,  und  in  gewissem  Sinne  die  blosse 
Naturform  der  Gesellschaft  überschritten,  in  Mexiko  und  in 
Peru.  In  Mexiko  war  ein  Volk  von  Norden  emgewandert 
and  hatte  die  eingeborenen  Stämme  tributpflichtig  gemacht. 
£s  nahm  auf  der  Hochebene  von  Anahuac  seinen  Sitz,  von 
dem  aus  es  die  umhegenden  Stämme  beherrschte. 

DifHB  Volk  iebto  noob  gras  nnd  gat  in  dar  QeBobleoliterTMbMong, 
Dia  8})anier,  die  diese  nidit  veretandeD,  htben  in  ihren  Berichten  daraus 
(enaa  nach  dem  Votbilde  ibree  Taterlandee,  via  ee  zur  Zelt  der  Entdeokong 
MexikoB  war,  eine  stindiBohe  Qeeellschftft  mit  raonuohisoher  Spitce  ge- 
madit*).    HoBSui  aber  hat  naohgewiesen,  dase  die  Asteken  einer  der  drei 

*)  So  WKT  das  Priestarhun  der  Athene  io  Eleuis  erblich  im  Ge- 
£cUea)ite  der  Etunolpiden,  die  Athene  der  AkropoUs  von  Athen  war  den 
Bntadan  anvertrant  Vergl.  rtTBim.  dr  ooülahois,  la  citd  antiqae,  13.  ed., 
Pui§,  1890,  B.  140. 

■)  Vei^L  MoROAN,  die  ürgeaellaohaft,  dentacAe  Ueban.  8.  157. 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


214  Psnl  Barth: 

stStkBtea  Stknine  des  HocbUuds  tod  Analiaao  waren,  der  die  beiden 
uideren,  die  lezoDcanen  und  die  TUaoalanan,  mit  Boh  eo  einem  dw  Itud 
TOD  Ucndko  bevohnendeii  Volke  verbanden  hatte.  Beeonden  beifi^oh 
der  Asteken  Ist  aus  den  spanischen  Qnellen  offenkondig  sn  enreiseii,  dan 
ihr  „Pneblo"  in  4  Quartiere,  jedes  Quartier  wiedenim  m  üatenbt^DnMn 
geteüt  war.  Wiewohl  nni  von  den  QDartieren  beieogt  ist,  dass  ilire  B»- 
wohner  dorch  Blntaverwandtschan  Terbonden  waren,  ao  sohlieeat  doch 
HoBGiH  mit  Bedit  dasselbe  inbezug  anl  ihte  üntaräbtailongen  and  UUt 
diese  für  OeBchlenbter  (Sippen),  die  Quartiere  für  Pliiatrien').  Da  die 
andern  beiden  Stämme  fthnliohe  Quartiere  hatten,  so  vermntet  HoBOut  anch 
fär  sie  das  Geschlecht  als  die  soiiale  Einheit  jedes  Oeachlecht  hatte  ge- 
meinsamen onveränsserlichen  Orandbeeits*).  Wenn  die  spanisohen  Beni»t' 
erstatter  Ton  einem  feudalen  Onmdherm  sprechen,  so  ist  es  thatsfohlieh 
der  ffiaptling  des  QesoUecbts,  den  sie  meiaen').  Der  Bat  von  .vier 
Priuien",  a<u  dem  und  von  dem  nach  den  spanistdien  Berichten  bei  den 
Aeteken  der  , König"  zu  wählen  war,  war  der  Bat  der  Häuptlinge  derO«- 
sohleohter,  und  da  er  bei  den  Tezkukanen  14,  beim  dritten  Stamme  nodi 
mehr  Mitglieder  zählt,  so  verrnntet  Hobban,  dass  er  anoh  bei  den  Azteken 
gidsser  war,  die  .vier*  von  den  Spaniern  erwähnten  Uitgtieder  nnr  einen 
AuBBtdinaa  bildeten*).  Ifoimzinu,  der  gewählte  Häuptling  des  gansen 
Stammes  der  Azteken  and  darnm  auch  der  verbündeten  Stimme  erscheint 
Tondiesem  Batedorohans  abhängig'),  eristalso  keineswegs  einabsolntArHonaroh 
wie  PmLiPP  II.  von  Spanien,  sondern  wird  von  den  Azteken  seibat  Txukbi, 
d.  h.  Eriegshäuptling  oder  TutOAin,  S|>reoher,  ^annt,  er  Reicht  vielm^ 
AemmHOK,  dem  vom  Bäte  der  Krieger  abhängigen  Heerfdhrer  der  Adiiv. 
Die  Aufhssnng  Hontezuiub  als  einea  enrOfAisohen  ESnige  wurde  bea<uiden 
dadurch  begünstigt,  dass  das  heilige  Tier  seiner  Oena,  stin  ,Totem*  der 
Adler  war*). 

.Caiaer"  HoNnzmu  regierte,  war  Be> 


Aber  die  Unterwerfung  war  wohl  besonders  durch  die 
Hilfe  des  obersten  Qottes  der  Azteken  gelungen,  des 
HüiTziLOFocHTLi,  dem  zum  Danke  nun  die  Gefangenen  ge- 
schlachtet, Überhaupt  beständig  Menschenopfer  dargebracht 
wurden.  Die  verschiedenen  Familien,  die  früher  den  Kult 
besoi^  hatten,  wurden  dadurch  besonders  wichtig,  sie 
schlössen  sich  zu  einer  Priesterkaate  zusammen,  die  von 
den   zu  jedem  Tempel  gehörigen  Äckern  und  vom  Tribute 

')  a.  a.  0.  8.  167  f. 

')  HoROAH,  a.  a.  0.  S.  169. 

1  a.  a.  O.  a  170. 

*)  a  173  u.  176 

*)  HoBQin  6.  173  fl. 

*>  HoBOAH  S.  178. 

')  HoROAN  B.  164. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


IKe  QeMtäahto  d«T  Erdehnog  In  sonologisiätei  Belsaohtang,    215 

der  Unterworfenen  erhalten  wurde'),  und  wegen  ihrer  Macht 
nun  auch  auf  alle  Entschliessungen  des  Volkes  einwirkte. 

Und  hierin  liegt  ein  Hinausgehen  über  das  Unmittel- 
bare, Natürliche.  Bei  den  primitiven  Indianerstämmen  haben 
die  wichtigsten  GStter,  die  Ahnen  des  Qeschlechts,  keinen 
anderen  Priester  als  das  Haupt  des  QescMechtes  selbst.  Die 
Priester  der  anderen  Götter  haben  als  solche  keine  Bedeutung, 
sondern  nur  durch  den  Nebenberuf  des  Medizinmannes,  des 
Regenmachers,  des  Wahrsagers,  des  Zauberers  überhaupt, 
den  sie  mit  Hilfe  ihres  Gottes  oder  Geistes  ausüben.  Jeder 
treibt  sein  Geschäft  fUr  sich,  nur  bei  den  Kariben  bilden  sie 
eine  Art  Zunft»).  Überall  aber  leben  sie  von  freiwilligen 
Gaben,  nicht  von  einem  ein  für  alle  Male  fixierten  Ein- 
kommen"); auch  haben  sie  keinen  Einfluss  auf  Öffentliche 
Angelegenheiten*)  und  erfreuen  sie  sich  keiner  andern 
Aotorität  als  der  des  Erfolges.  Nach  Misserfolgen  werden 
sie  durchgeprügelt,  oft  getutet'').  In  Mexiko  ist  es  schon 
anders.  Die  Priester  der  obersten  Götter  bilden  eine  sich 
als  Ganzes  fühlende  Klasse,  sie  geben  in  öffentlichen  An- 
gelegenheiten ihren  Willen  kund,  ihre  Zustimmung  zu  einem 
Erobenmgezuge  oder  ihren  Widerspruch  dagegen«).  So  roh 
und  barbarisch  uns  auch  ihre  Vorstellungen  von  der  Gott- 
heit-erscheinen,  es  ist  in  ihnen  doch  ein  geistiges  Element, 
vfclches  so  sichtbarer  und  konkreter  als  vorher  verkörpert 
wird  und  auf  das  Gesamtlehen  des  Volkes,  nicht  bloss  des 
einzelnen  Geschlechtes  Macht  gewinnt,  —  wie  jedes  geistige 


*)  Vwf\.  W.  Fbesoott,  OeBchiohte  der  Eroberai^  toh  Mexiko,  dentaoh« 
Ueben.  I,  Leipzig  1845,  S.  67.  Chantefib  de  lä.  Sitrasin,  Lehrbodi  der 
Beligionsgasohiohte  I,  S.  36.  J.  Ltpusr,  Allgemeine  Oesohichte  desPrieetor- 
tnuu,  I,  Bertin  1883.  8.  306  ff. 

')  LippERi  a.  «.  0.,  I,  S.  48  r.,  8.  63. 

*)  Lama  &.  &.  0.  8.  62.  Lifpxrt  ontencheidet  «udräokliob  nach 
dem  Mangel  oder  dem  VorhuideiiBeiii  einer  fortdanernden  FnisoTge  „Zaaber- 
prieetertam"  und  „BtEflsprieaterhim!'' 

*)  JjFnai  8.  68. 

*)  UrFBBS  S.  72. 

rrersl.  IjFpiBT  a.  a.  0.  8.  806:  .Was  kann  dei  grosse  MoHnzmu 
e   den   Aosepmoh   der  Götter   durch    die  Priester    eingehtJt  lu 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


216  P»ttl  Barth: 

Element,  ausBerordentlicli  eat^ckelimgsföJüg.  Damm  muss 
maa  daran  festhalten,  -  dass  mit  der  Bildmig  einer  vom 
übrigen  Volke  abgesonderten  Priesterklasse  die  blosse 
Naturfonn  der  G-esellsehaft  Oberachritten  ist. 

Ähnlich  wie  in  Mexiko  verhält  es  sich  im  zweiteu 
Kultm'-Zentrum  der  roten  Basse,  in  Peru.  Hier  ist  ein  Volk 
eingewandert,  an  dessen  Spitze  ein  bevorzugtes  Geschlecht 
steht,  das  der  Inkaa^).  Diese  nennen  sich  Kinder  des  obersten 
Gottes,  der  Sonne^),  ähnlich  wie  bei  Hombr  die  Könige  sich 
„von  Zeus  abstammend"  nennen.  Die  Angehörigen  dieses 
Geschlechts  bilden  zugleich  die  Priesterschaft  des  Sonnen- 
gottes'), sie  vereinigen  in  sich  die  weltliche  und  geistliche 
Herrschaft  über  die  unterworfenen  Völker. 

Diese  laben  noch  in  der  unräebeigdo  konunnnisHBchaD  VufaaHung. 
Die  spanischen  Quellen  und  im.tik  ihnen  anoh  Passoon  nnteilicgeii  hier 
datselWi  llUuohiuig  wie  in  Beeng  anf  die  TerfaUtnisee  HexikoB.  ^o  halte 
den  Kniska,  das  Hai^it  eines  Oest^eoh^  föi  einen  weatemoptieohw  Faadal- 
herm*J.  Seinen  gans  Tereohiedenen,  dnrchans  demokratiBohen  Charaktet 
aber  offenbart  die  in  demselben  Atom  Aberiieferte  Thatsaoh«,  dass  der 
Kuraka  oft  gewühlt  wurde,  ganz  wie  der  OesohleohtstüUiptUng  eines  anderaa 
IndiaDeiBtammea').  Venn  wir  ferner  hören,  da&s  die  BGemeisde'  dem 
neu  verbeitateten  Paare  das  Haas  bante  tud  daa  der  .Oameinde"  cn- 
gewieeene  Land  jedes  Jahr  nach  der  wechselnden  Zahl  der  ffamilian' 
mttgtieder  nnter  die  FamüieQ  neu  umgeteilt  worde'),  ao  haben  wir  aus 
weeeotüohen  Eenuräahen  der  OentÜTerfsasnng  vor  nna.  üebar  ihr  eihebt 
sich,  ohne  den  TOrgefnndenen  Bau  aufgelöat  sn  haben,  die  Aristokratie  dei 
GsBohleohtH  der  Inkas.  Ihnen  ist  ein  leil  des  Bodens  eigen,  ein  anderer 
!Feil  der  ^nne*,  d.  h.  der  Priestersoban;  nnd  alles  dieses  laka-  nnd 
Friestarland  mnss  vom  Volke  ebenso  wie  sein  eigenes  bebavt  woden'). 
So  war  das  Leben  des  Feroaners  arbeitsvoll,  aber  von  einer  „zermalmendrä 
Tyrannd",  wie  H.  S?EiieEn  die  Verfassung  des  alten  Fem  nenntf),  kann 
hier  ebenso  wenig  wie  auF  sonatigen  frühen  Stnfen  der  Oesellsahaft  die 
Bede  sein.  Es  gab  zwar  keinen  Beiehtnm  im  Volke,  aber  anoh  keine  Arniat 
nnd  Not*j.  Die  ganze  Lebensweise  war,  wie  Pbisoott  sagt,  dem  Gmate  des 
Trikes  dorehaas  awemesMc'^,  wnrde  also  nit&t  als  drnekend  gefühlt 
sondwn  war  mit  Zomedenheit  retbimden. 

')  Pbksoott,  histur;  of  the  oonqnest  of  Peru,  Paria  1847,  S.'6I[. 
■)  ParaooTT,  S.  4  f.,  8.  48. 
*)  Preboott,  8.  61. 
•)  Pkesoott,  8.  98, 
')  PRBacoTT,  a.  a.  0. 
•)  Pksscott,  8.  28. 
T  PiMscorT,  8.  29. 

^  The  ram  verans  the  state,  9.  ed.  London  1886,  6.  4S. 
■)  PHsoon,  B.  BS,  8.  l(Hff. 

■^  8.  37;  anoh  8.  100:  ,the  goveniment  of  the  laoas,  homrer 
arbiträrer  in  form,  was  in  its  spirit  tral;  patriarohaL* 


iM,Coo<^lc 


Dis  Oeachiohta  der  Erdrirnng  in  Miiologiaoher  Belanohtiuig.     217 

Wenn  so  bei  den  klassischen  Völkern  die  Entstehung 
der  YermOgensklassen,  also  eine  tikonomische  Umwälzung, 
bei  den  amerikanischen  Völkern  die  Entstehung  des  Priester- 
Standes,  die  wohl  auf  politische  Elreignisse,  auf  Eroberungs- 
kriege zmückgeht,  Über  die  blossen  Naturgebilde  der  Qesell- 
schaft  hinausgeführt  hat,  so  ist  auf  andern  geschichtlichen  Ge- 
bieten auch  beides  zugleich,  eine  ökonomische  und  eine 
religittee  VerBnderung  zu  beobachten,  nämlich  bei  den  Kultur- 
Tölkem  Asiens,  wenngleich  deren  Ursachen  und  Ergebnisse 
anders  als  in  Amerika  und  im  klassischen  Altertum  sich 
darstellen. 

Was  zunächst  die  ökonomischen  Verhältnisse  betrifft, 
so  muss  man  wohl  das  Geschlecht,  das  letzte  und  dauer- 
hafteste der  TOn  der  Natur  geschaffenen  sozialen  Gebilde 
in  ganz  Asien  sich  vorstellen  nach  Analogie  der  indischen 
Dorfgemeinde,  die  noch  jetzt  besteht,  jeder  Familie  ihren 
Anteil  an  der  Dorfmark  zuweist,  fUr  gemeinsame  Bebauung 
sorgt,  jeder  Familie  auch  das  ihr  zukommende  Wasser  zu- 
teilt und  noch  von  dem  aus  fünf  Ältesten  bestehenden  Dorf- 
rate, seltener  von  einem  Häuptling  regiert  wird*).  Für 
die  Zeiten,  in  denen  die  Veden  und  die  grossen  Epen  ent- 
standen, bilden  die  Dorfgemeinden  das  ganze  Volk.  Es  giebt 
nur  einen  einzigen  Stajid,  den  der  Äckerbauer.  Aber  durch  die 
Kämpfe  um  das  Land  bildet  sich  ein  neuer  Stand,  die 
Krieger,  auch  eine  neue  Art  der  Niederlassung,  die  Stadt, 
das  befestigte  Lager  des  Fürsten^).  Gleichzeitig')  vollzieht 
sich  in  dem  zu  religiösem  Denken  und  Träume  geneigten 
Volke  eine  Umwandlung  seines  Glaubens.  An  die  Stelle 
Indras,  des  mächtigsten  Gottes  der  Veden,  tritt  Brahma,  der 
Schöpfer  des  Weltalls,  die  erhaltenden  Götter  vereinigen 
iHidi  in  Via(^u,  die  zerstörenden  Naturmächte  in  Qiwa,.    Das 

')  TvgL  H.  8.  Mjjnz,  TilligB  Comnunitiw  io  tfae  KMt  snd  Weat, 
6.«d.  London  1887,  8.  10et,183f.,aii(l  LiTXLnx,  lUa  Vreigmtara,  dentstdi 
TOB  K.  BücEBL  B.  Uff. 

■}  Madb,  ft.  a.  0.  B.  llSf. 

t  TahnohdBfldi  am  800  t.  Chr.  be|^imt  dia  DreigHteriehra  d« 
EiaduBmiu  allmkiiliali toM  nhiMB.   Chanta^do  la  Swuuftt  11,8.119. 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


218  Piiiil  Barth: 

WiMen  von  den  Göttern  wird  kompUziert«r,  desgleichen  die 
Ordnung  ihres  Dienstes,  das  Ritual  der  Gebete,  der  Opfer^ 
BOssungen  etc.  Während  im  altvedischen  Zeitalter  der  König 
nicht  bloss  Führer  des  Volkes  im  Streite,  sondern  auch 
Sänger  und  Priester  beim  Opfer  war'),  bedarf  es  dazu  nun 
einer  besonderen  Vorbildung  und  schliesshch  der  Lebens- 
thätigkeit  eines  ganzen  Menschen,  es  befestigt  sich  der  schon 
in  den  letzten  Zeiten  der  Veden  entstandene*)  priesterliche 
Beruf  imd  damit  ein  besonderer  Priesterstand.  Neben  den 
drei  so  abgegrenzten  Ständen  der  Ackerbauer,  der  Krieger, 
der  Priester  bilden  den  vierten,  falls  sie  nicht  als  ausserhalb 
aller  Stände  befindlich  betrachtet  werden,  die  unterworfenen 
Ureinwohner  des  Landes,  die  Sudras,  die  Sklaven  der  drei 
anderen  Stände.  In  den  Gesetzbüchern  der  Inder,  z.  B.  dem 
des  Manu,  erscheinen  die  drei  Stände  als  lebenslänglich,  ver- 
erbt, unüberbrückbar  von  einander  getrennt,  kurz  in  dem 
Sinne,  in  dem  wir  von  Kasten  sprechen. 

Einen  ähnlichen  Gang  wie  bei  den  Indem  hat  die  Ge- 
sellschaft bei  allen  asiatischen  Völkern  genommen.  Ihre 
Gesetzgebung  bezeichnet  Überall  den  Übergang  von  der 
Geschlechtsverfassung  zu  emer  ständischen  Gliederung, 
gleichzeitig  die  Erhebung  ihrer  Götter  von  blossen  Natur- 
wesen zu  sittlichen  Mächten,     Wie    die  indischen,    so    sind 

')  8.  LEFMAmr,  Oesohichte   des  alten  Indiens,  Berlin  1890,  S.   194. 

*)  ChaDtepie  de  la  Baussaye  II,  8.  42f.  Aooh  L.  tok  Sohbokobb, 
Indiens  Dtentnr  und  Koltor  in  hiBtoriHoher  Entwiokelaag,  Lnpog  1887, 
8.  1&3:  „ta  war  natürlich,  wenn  die  alten  Priester-  und  Singerflunilien, 
unter  denea  Tomehmlioh  die  Ennda  der  lieder  oad  Opfer  gepQegt  wurde, 
s.  B.  die  Tanisfathas,  En^ikaa,  Atris,  Qäotaraas  s.  dgl.  m.  siäi  ala  ein  geiat- 
lioher  Adel  dem'fibrigen  Yol^e  gegenüber  mehr  ond  mehr  bewnsst  wärdea 
nnd  sieh  von  demselben  absonderten.  Sb  war  ebenso  natärUoh,  wenn  die 
aahlieiolien  kleinen  Füisteufamilion  mit  ihrem  ritterliohen  Anhwig  ndi  ata 
ein  bsBoaderer  Stand,  als  ein  ritterlioher  Adel  zuBarameusohlossen.  Die 
übrigen  siiaohen  Inder  Messen  wie  früher  „das  ToEk*  (vi;),  und  der 
dnaeine  daza  gehörige  ein  .Volksgenosse"  oder  YU^ya.  Dass  man  endlioh 
die  dunkle,  ni<ätaiisohe  Bevölkening,  soweit  sie  sieh  dem  arisoh  -  indisohen 
Staatsverbande  eingefügt,  reep.  nnte^eordnet  hatte,  als  eine  beaondere 
UenaohenklaBae  von  den  Ariern  nnteisohied,  mnss  ans  fast  als  selbet- 
YarsOndlieh  eiaoheinen.  Von  den  nnnbeiateigliohen  Schranken  iwisohen 
diesen  Ständen,  sowie  inabeeondere  Ton  der  Terworfanheit  der  nnteratan 
Sohiohten  der  BeTölkerong  ist  im  Yqjorreda  niigends  die  Rede.' 


iM,Coo<^le 


Di«  Qeeobiehte  der  Erdebtuig  in  sotiologisdhet  BelenottuDg.     219 

die  persischen  Arier  ebenfalls  in  SÜLnde  gegliedert,  jn  Priester, 
Krieger  und  Bauern'), 

Von  den  Bemitischen  Yßlkem  erleben  die  Israeliten 
diese  soziale  Fortbildung  zur  Zeit  ihrer  Gesetzgebungen,  Über 
die  wir  freilich  nur,  soweit  sie  das  judäische  Königreich  be- 
treffen, Näheres  wissen.  Das  Deuteronomium,  das  um 
621  vor  Chr.  entstand,  schafft  einen  Priesterstand.  Jehovah, 
vorher  der  Gott  des  Gewitters,  eine  Naturmacht  von  nicht 
rein  sittlicher  Bedeutung,  wird  nun  der  HQter  der  sittlichen 
G«bote,  der  Belohner  der  Guten,  der  Verfolger  der  Schlechten. 
Neben  dem  Priesterstande,  der  sich  nach  Analogie  eines 
Geschlechtes  organisiert  und  sich  zum  Ahnherrn  Lewi,  einem 
Sohn  Jakobs  giebt,  muss  noch  ein  Stand  der  „Obersten"  an- 
genommen werden,  den  der  babylonische  Eroberer  ebenso 
wie  die  Priester  hinwegfilhrt,  um  das  Volk  der  führenden 
Mämier  zu  berauben*).  Nach  der  RUckkehr  werden  die 
Priester,  an  deren  Spitze  der  Hohepriester  steht,  und  die 
Ältesten  (wohl  dieselben,  wie  die  hinweggefUhrten  „Obersten") 
die  regierende  Gewalt  der  Juden  und  bleiben  es  in  allen 
inneren  Angelegenheiten  auch  unter  derrÖmischenHerrachaft'). 
Ähnliches  finden  wir  bei  den  Südsemiten  Asiens,  den  Arabern. 
Vor  Huhfunmed  leben  sie,  nach  Sippen  geordnet,  ohne 
Priesterstand*},  nach  seiner  Gesetzgebung  erheben  sich  über 
den  bestehenbleibenden  Sippen  ein  Stand  der  Priester  der 
TJIemas')  und  ein  Stand  der  Kriege'r). 

Die  reine  Gentilverfassung  des  einzigen  hamitischen 
Volkes,  das  geschichtliche  Bedeutung  hat,  der  Ägypter,  ist 
in  das  Dunkel  der  Vorgeschichte  gehüllt.  "Wo  sie  uns  in 
geschichtlicher  Zeit  entgegentreten,  sind  sie  schon  in  Stände 
geteilt:    Priester,    Vornehme,   Volk.      Den    triumphierenden 

■)  Tergl.  W.  Geeseb,  OstüaiUBaha  Koltar  im  Alteitum,  SclaDgen  18^, 
8.  477. 

*)  2.  Bnoh  der  KSnue  XXIV,  14. 

■)  LiFPEEE,  a.  ft.  0.  U,  191. 

*)  VergL  LatBa,  a.  a.  0.  II.  3.  296. 

■Ö  lOFiBT,  a.  ft.  0.  8.  298. 

^  TergL  A.  ton  Ebbmcb,  Knltaigesohiohte  dsBOrieiito,  II,  Wien  1877, 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


•ßO     -  P"l  Btrth: 

KOnig  Sethosis  I.  empfangen  laut  des  Textes  einer  Dar- 
stellimg  „die  Priester  und  die  Grossen,  die  Yorstelier  des 
Doppellandes  Ägypten')." 

Endlich  finden  vnr  bei  den  mongolischen  KulturrOlkeni 
ebenfalls  eine  ständelose  Zeit  der  blossen  natürlichen  Orgaiii- 
satioD  der  Gesellschaft,  nach  ihrer  Gesetzgebung  aber  Rang- 
unterschiede. Bei  den  Chinesen  beharren  wie  Überall  im 
Orient  die  Sippen,  doch  tritt  innerhalb  derselben  ein  aller- 
dings nicht  erblicher,  sondern  immer  neu  zu  erwerbender 
Kriegs-  und  ein  fViedensadel  hervor,  der  sogar  eine  besondere 
Sprache,  die  Mandarineni^rache  (z.  B.  ohne  r)  sprechen  muss*). 

Der  alte  Kommunismus  löst  sich  auf,  die  Götter  er- 
langen eine  ethische  Bedeutung,  wenngleich  sich  kein  be- 
sonderes Priestertum  herausbildet.  Derselbe  Prozess  voll- 
zieht sich  in  der  Geschichte  der  JiqKiner*). 

Dieser  Übergang  von  der  gentilen  zur  ständischen  Ge- 
sellschaft ist  der  wahre  Anfang  der  Kultur.  Man  hat  andere 
Fortschritte  für  wichtiger  erachtet.  Die  deutsche  Geschichts- 
schreibung machte  früher  mit  der  Erfindung  der  Schrift  den 
tiefsten  Einschnitt  in  die  Gliederung  der  Geschicke  der 
Menschheit,  mit  ihr  Hess  man  die  eigentliche  Geschichte 
beginnen,  die  eben  nur  durch  schriftliche  Überlieferung  möglich 
sei,  während  man  die  voraufgehende  Zeit  der  mündlichen 
Überlieferung  als  blosse  „Vorgeschichte"  betrachtete.  Mobgam 
hat  den  Gebrauch  der  Schrift  ebenfalls  als  Merkmal  der  be- 
ginnenden Zivilisation  bezeichnet,  doch  schemt  er  di&  gleich- 
zeitige Entstehung  des  Staates,  der  die  Menschen  nach  anderen 
Prinzipien  als  nach  der  Blutsverwandtschaft  gruppiere,  für 
noch  wichtiger  zu  haJten. 

In  der  That  ist  ja  die  Gesellschaft  eme  Gesamtheit 
von  WlUenseinheiten.  Ihr  Zusammenhang  ist  zunächst  ein 
mehr  unbewusster,  auf  den  Instinkten  beruhend^-.    Das  be- 


■)  Ntch  Ijtmr,  a.  a.  0.  I,  B.  509. 

■)  EIuTRB. Oescihidite tod  Ostasien, Lwpf ig  1669, S.  118.  E.  J.Snoox, 
Printin  aTÜiwttou,  Ltmdm  1897,  U,  8.  m. 

■)  F.  0.  Asuu,  historr  of  ]apu,  London  1874,  I,  S.  12,  8.  16. 


n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL' 


Die  Oeeohichte  der  Entshuit  in  ■niologiBohef  Belenohtiug.     221 

I  logische  Denken  wendet  sich  zuerst  nur  auf  äusaere 
Objekte,  auf  die  Beherrschung  der  Natur  durch  technische 
Erfindungen,  erst  spät  auf  die  Art  und  Weise  des  Zusanunen- 
hanges  der  GeseUschaft  selbst.  Dieser  wird  öegenstand  des 
bewusstea  Denkens  in  der  G-esetzgebung.  Der  Gesetzgeber 
ist  der  erste,  wenn  auch  nicht  theoretische,  doch  praktische 
Soziologe.  Dianit  ist  eine  ganz  neue  Bahn  eröffnet.  Denn 
das  Wesentliche  der  Gesellschaft,  eben  der  soziale  Zusammen- 
hang, ist  nicht  mehr  dem  natürlichen,  naiven  Denken  Über- 
lassen, sondern  dem  bewussten,  logischen,  wissenschaftlichen 
Nachdenken,  das  so  viel  reicher  und  schöpferischer  als  das 
natürliche  ist,  wie  die  Wissenschaft  an  Fruchtbarkeit  für 
das  Leben  das  zufällige  „Finden"  übertrifft.  Jedes  Gebiet 
des  sozialen  Lebens  wird  fortan  die  „Hebung"  verspüren, 
die  der  Geist  bewirkt.  Es  wird  gedeihen  und  fortschreiten 
in  demselben  Masse,  als  es  ihn  walten  lässt,  und  in  demselben 
Masse  sinken  und  verfallen,  als  es  sich  seinem  Walten  entzieht. 

Mit  der  Umwandlung  der  gentilen  Gesellschaft  in  eine 
ständische  muss  die  Erziehung  ebenfalls  eine  Umwandlung 
erleiden.  Wie  alle  sozialen  Beziehungen  und  Verrichtungen 
wird  auch  sie  von  nun  an  mit  grösserer  Bewusstheit  ihres 
Zweckes  und  ihrer  Mittel  betrieben  werden.  Was  ihre  Form, 
ihre  äussere  Organisation  betrifft,  so  kann  man  jetzt,  da  es 
eine  Arbeitsteilung  giebt,  besondere  gesellschaftliche  Organe 
der  Erziehung  zu  änden  erwarten,  in  Bezug  auf  ihren  Inhalt 
aber  ist  es  möglich,  dass  nicht  alle  Stände  die  gleichen  Ziele 
zu  erreichen  streben,  sondern  in  Zucht,  Unterweisung,  Unter- 
richt und  Belehrung  jeder  sich  eme  andere  Aufgabe  stellt. 

Wenn  wir  mit  den  von  den  Naturformen  der  Gesell- 
schaft am  wenigsten  entfernten  Rassen  beginnen,  so  müssen 
wir  zunächst  die  Mexikaner  und  die  Peruaner  ins  Auge 
fassen. 

Was  die  Mexikaner  betrifft,  so  wird  ihre  Erziehung 
von  Lbtottbnbaü ')  —  ohne  Angabe  der  soziologischen  Ur- 


iM,Googlc 


222  Ptnl  BKrth: 

Sachen,  deren  er  sich  nicht  bewusst  ist  —  folgendenoassen 
richtig  gekennzeichnet:  „die  physische  und  moralische  Auf- 
zucht der  Kinder  war  nicht  mehr  dem  Zufalle  der  Spiele, 
der  spontanen  Nachahmung  und  der  sozialen  Umgebui^ 
Überlassen."  Dass  damit  eben  m  der  E^iehung  der  Oeist, 
das  bewufiste  Wollen  an  Stelle  des  unbewussten  Q^schehens 
tritt,  sieht  Lbtocbhbau  nicht. 

Die  Kinder  des  herrschenden  Volkes,  der  drei  SUunme, 
wurden  von  den  Priestern  erzogen.  Unterweisimg  empfingen 
sie  zunächst  in  der  Familie,  mit  zehn  Jahren  wurden  sie 
auch  der  Zucht  unterworfen  und  für  Ungehorsam  bestraft^. 
Die  EJiaben  mussten  vom  dreizehnten  Jahre  an  Holz  holen 
und  fischen,  die  Mädchen  mahlen,  kochen,  weben.  Nach 
vollendetem  fünfzehnten  Leben^ahre  wurden  alle  Knaben 
und  Mädchen  den  Priestern  Übergeben.  Die  Kinder  der 
Häuptlinge  wurden  dabei  von  denen  des  Volkes  getrennt, 
die  auch  Mher  in  die  Priesterschule  eintraten.  Die  Lehr- 
fUcher  dieser  Priesterschulen  scheinen  für  die  Kinder  des 
Volkes  nur  religitfse  gewesen  zu  sein,  religiöse  Tänze,  Ge- 
sänge und  Heldenlieder*).  Ausserdem  wurden  alle  Zöglinge 
zu  produktiver  Arbeit,  zum  Ziegelmachen,  Bauen,  zur  Aus- 
schachtung von  Gräben  und  Kanälen  angehalten.  Die  Kinder 
des  Adels  hingegen  lernten  die  Bilderschrift,  die  bei  den 
Mexikanern  im  Gebrauch  war,  die  Astronomie,  reUgiöse, 
heroische  und  geschichtliche  Hymnen  und  die  Gesetze  ihres 
Landes.  Wie  bei  Homer,  müssen  sie  auch  die  Kunst  der 
Bede  pflegen,  die  für  den  regierenden  TeU  des  Volkes  sehr 
wichtig  ist.  Neben  diesem  wissenschaftlichen  Unterrichte 
der  rehgiösen  Belehrung,  der  Unterweisung  im  Reden  er- 
werben sie  gleichzeitig  alle  kriegerischen  Fertigkeiten.  Fasten 
und  erhöhte  Anstrengung  waren  die  Mittel  der  sehr  strengen 
Zucht,  der  sie  unterworfen  waren.  Nach  dem  zwanzigsten 
Jahre  etwa  widmete  sich  ein  Teil  dieser  Jugend  den  welthchen 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Die  Qflwdüohte  der  Eiziebiuig  in  sosiologiBober  Bdevohtiing.     2fi3 

Oeschäften,  dem  Kriege  und  dem  Äckerbau,  ein  Teil  dem 
Friesterstande.  Dieser  Teil  blieb  unTerheiratet  und  lebte  in 
besonderen,  die  Tempel  umgebenden  Oebtluden. 

Was  die  Mädchen  betrifft,  so  erhielten  die  Töchter  des 
Volkes  ihre  Erziehung  nur  in  der  Familie.  Die  Töchter  des 
Adels  aber  wurden  von  den  Priesterinnen,  die  neben  den 
Priestern,  wie  diese,  unTerheiratet,  in  der  Nähe  der  Tempel 
lebten,  erzogen  imd  lernten  dort  Übung  der  weiblichen 
Tugenden,  besonders  der  Keuschheit,  Ehrertietung  gegen 
Ältere  und  Geschicklichkeit  in  den  besonderen  weiblichen 
Handwerken  und  Kunstgewerben.  Wenn  diese  Erziehung  be- 
endet war,  so  verheirateten  sie  sich  oder  wurden  Priesterinnen. 
Die  Zucht  war  auch  hier,  wie  bei  den  Kiiaben,  strenge.  In 
Oegenwart  Älterer  wagten    die  Kinder  kaum    zu  sprechen. 

Während  in  Mexiko  ein  ganzes  Volk,  das  der  drei  Stänuue, 
«ich  zum  Herren  tributpflichtiger  Stämme  gemacht  hatte,  ist 
es  in  Peru  nur  ein  Geschlecht,  das  Ober  eine  ganze  Anzahl 
der  Quichaa-Stämme  die  Herrschaft  ausübte.  Dieses  Ge- 
schlecht der  Inkas  oder  Sonnensöhne  war  aber  reich  genug 
an  MitgUedem,  um  den  Unterthanen  gegenüber  die  ßoUe 
eines  regierenden  Standes  zu  spielen.  Die  Erziehung  bleibt 
darum  bei  den  Unterworfenen  im  Naturzustande,  d.  h.  der 
Familie  überlassen,  nur  für  die  Inhasöhne  ist  sie  öffentlich 
organisiert  1).  Die  Inkas  waren  allein  Priester,  ein  Teil  von 
ihnen  auch  Lehrer,  „Amautas",  ein  Amt,  das,  wie  es  scheint, 
vom  priesterlichen  getrennt  war*).  Sie  lehrten  den  jungen 
Inka  die  Thaten  der  Vorfahren,  die  Quipu  -  Schrift,  die 
Dichtungen,  die  die  Lehrer  selbst  verfasst  hatten,  den  Kriegs- 
dienst und  die  priesterlichen  Zeremonien,  da  ja  einige  der 
Inkas  Priester  werden  mussten.  Mit  einer  sehr  langen  und 
strengen  Initiation,  die  trotz  aller  Härte  festUchen  Charakter 
hatte,  schloss  im  16.  Lebensjahre  die  Erziehung  ab^). 

'■)  LnovBnKii?  S.  200. 
^  LnonBuiAü  B.  200. 
*)  lATOiiBnai.li  S.  207. 


.C,SK>gle. 


224  Panlfiuth: 

E^Tie  gewieae  Ähnlichlait  mit  dar  Koltai  Hexiki»  und  Fwna  hU  dk 
des  Jesnitanslaates  von  ParaguAy.  Eier  bat  aioh  im  hallen  Liebte  der  ffi- 
Bohiohtliaben  Zeit  der  Torpuii;  «ioderholt,  des  in  Mexiko  ond  Pen  m 
Bildung  eines  re^erendsn  Stäüdea  geführt  hntts.    Wu  den  £iiwebonw& 

gegenütier  in  Hexibo  der  Stamm  der  Azteken,  in  Pem  das  Oesoblecbt  dar 
Inkas,  das  varen  in  Paraguay  den  eingebomon  Gaarani-St&mmen  ngenSber 
die  eingewanderten  Jesuiten.  Diese  ßinden  das  Volk  in  deraMben  Vor- 
fassnng,  die  die  Aiteken  in  Mexiko,  die  Inkas  la  Peni  aatnteL  Die  feste 
Boiiale  Einheit  war  die  Qens,  an  deren  Spitze  der  Blnptliog,  von  den 
Spanieni  ^Kazik*  genannt,  etand ').  Mehrere  Gentes  bildeten  einen  Btamm. 
Das  ganze  Volk  wnrde  tiiiti  von  den  Jesuiten,  als  einem  legterenden  Prieetei- 
staade,  beherrscht  Die  Eazikeo,  die  ßssohleditahanptlinge,  waren  ihre 
„Corregidores",  ünterbeamten*).  Der  Omnd  nnd  Boden,  desgleichen  die 
Herdes  waren  Oemeineigentam  der  Oens,  Oebranahaelgentnm  an  beweg- 
lichen Oiitern  tmd  Arbeit  wurde  einem  jeden  sogewieeen  ■).  Wer  seine  kb- 
geteilte  Arbeit  nicht  verrichtete,  erlitt  Prfigelstrafe.  So  wurde  das  ganze 
Volk  ala  nneraogea  betraobtet,  einer  im  eigentliobsten  Sinne  patriorohaliaohen 
Behandlung  unterworfen.  Erat  recht  ward  die  Eniehong  der  Jngend  vom 
regierenden  Stande  organisiert.  Da  aber  dieser  der  Eoltnr  des  alten  Europa 
entsprungen  war,  so  mnsste  der  Inhalt  dieser  Eniehnng  reicher  sein  als 
derjenige,  der,  bei  den  Azteken  und  Penianem,  dem  amerikauisohen  Boden 
allein  entsprossen  war.  Alle  wurden  im  £ateohismus  nnternchfet,  der  in 
die  Sprache  der  Ouarani  übersetzt  worden  war  nnd  im  geistlichen  Orange, 
die  Begabteren  lernten  leeen  und  aohreiben,  beides  nach  dem  lateiniscben 
Alphabet.  Die  tächtigHten  der  Rinder  wurden  spttter  neben  den  OescdileohiK 
hSuptem  zu  Eorregidoren  gemacht*).  Aber  diese  ganze  Kultur  war  eben 
von  aussen  den  Indianern  herangebracht  worden,  und,  da  die  Jesuiten  den 
ersten  Grundsatz  jeder  Erziehung,  die  Seitetthätigkeit  zu  wecken,  mcht  be- 
folgt hatten,  so  schwand  alle  diese  äusserlich  angeklebte  Bildung,  als  sie, 
infolge  der  Aufl5aung  des  Ordens,  genötigt  wurden,  ihre  Hand  ron  ihren 
Zöglingen  zurückzuziehen').  Nor  der  euro^dische  kunstmäs^ge  Oeean 
geistlicher  Hymnen,  den  die  Kiugebornen  Paraguays  noch  heute  veiatehen*), 
wie  er  dae  erate  war,  das  sie  lernten,  ist  ein  letzter  Nachklang  ihres  Be- 
mfiheos  in  dee  Worts  eigentlichster  Bedeutung. 

Bei  den  Indem  entsprang,  wie  wir  oben  saben,  die 
ständische  Gliederung  des  Volkes  einem  zweifachen  Grunde, 
sowohl  der  sozialen  Arbeitsteilung,  wie  der  Entstehung  eines 
Priesterstandes.  Die  Erziehung  wird  hier  eine  verschiedene 
je  nach  dem  Stande,  dem  das  Kind  zugehört.  Eine  Öffent- 
liche Organisation   der  Erziehung   giebt  es  nicht,  in   ihrer 


C")  Ve^l,  OoTHsm,  der  < 
y,  Leipzig   1888,  S.  84. 
nmaa;  doch  iet  dies  nach  i 


[,  der  christliob-soziale  Staat  der  Jesuiten   in  Para- 
OoTEsni   nennt  Kaxtk   den  Httuptling  eines 
s  nach  seinen  eigenen  Ausführongeu  imgenau. 
-;  a.  a.  0.  S.  46. 
')  a.  a.  0.  8.  B3— 36. 
')  a.  a.  0.  S.  44. 
•)  ■.  t.  0.  S.  61. 
■)  a.  a.  0.  S.  31. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Die  OMchiolite  der  Erziehnnj;  in  Boeiologisoher  Beleachtnng.     gg5 

Form  also  ändert  sich  nichts  gegenüber  der  Vergangenheit'). 
"Wohl  aber  ändert  sich  ihr  Inhalt.  Während  in  der  Periode 
der  Vedea  wohl  für  alle  Kinder  des  Volks  Unterweisung  in 
den  Fertigkeiten  des  Krieges  und  des  Friedens  die  Haupt- 
sache ist,  werden  die  kriegerischen  Fertigkeiten  jetüt  spezifisches 
Vorrecht  der  Kinder  des  Kriegerstandes.  Die  Söhne  der 
Brahmanen  lernen  den  Inhalt  der  religiösen  Bücher,  besonders 
der  Puranas  und  was  sonst  an  Kenntnissen,  besonders 
astronomischen  und  medizinischen,  vorhanden  ist,  teils  von  ihrem 
Vater,  teils  vom  „Guru",  einem  ganz  besonders  gelehrten  Brah- 
manen,meist  einem  im  Walde  lebenden  Einsiedler.  Er  schliesst 
seinen  Unterricht undseineBelehrungmit  der  Mitteilungder  „hei- 
ligen Worte",  die  man  nicht  zu' oft  wiederholen,  jedenfalls  aber 
keinem  Mitgliede  einer  anderen  Kaste  verraten  darf*).  Zur  Er- 
ziehungderpriesterliehenKasteistauch  zurechnen,  dass  die  Baja- 
deren der  Tempel  lesen,  singen  und  tanzen  lernen,  während 
die  Fi-auen  der  anderen  Kasten  sich  dieser  Künste  schämen, 
nur  der  häuslichen  Verrichtungen  kundig  sind*).  Die  Brah- 
manen üben  ihre  Lehrihätigkeit  teils  umsonst,  unterhalten 
sogar,  wenn  die  Geschenke  der  Fürsten  reichlich  fliessen, 
noch  ihre  Schüler,  teils  nehmen  sie  Lohn  von  ihren  Schülern. 
Die  Kasten  der  Ackerbauer  und  der  Unterworfenen  (der 
Sudra)  haben  keinft  Erziehung,  die  sich  über  diejenige  der 
Naturformen  der  Gesellschaft  erhöbe. 

Bei  den  Juden  ist,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  seit 
der  Gesetzgebung  des  Esra  der  Priesterstand  der  herrschende. 
Bin  Unterricht  der  Erwachsenen  im  „Gesetz"  fand  bald  nach 
Esra  mehrmals  in  der  Woche  statt*).  Gleichzeitig  bestanden 
auch  Schulen  für  Knaben,  in  denen  wohl  das  Lesen  der 
Thorah  geübt  wurde.  Und  zwar  gilt  dies  sowohl  von 
Jerusalem    als    auch  von    der  jüdischen    Diaspora   in    den 

')  Die  heutigen  von  Letoobnead  B.  S94  erw&htiteii  Eüamentarsahaleii, 
die  ■llerdings  nur  inaofera  öffeutlich  sind,  als  sie  jedes  Kind  gegen  Scbol- 
geld  anfnetuneD,  sind  Nachahmangen  der  earopüschen  Entlar. 

*)  LnoüBKEiir  S.  891. 

*)  LnouifiEin  3.  394. 

*)  Letoübnud  8.  360/61. 

Tleit«IJ*liiMlirln  t  wlMUtlMlU.  FUlw  o.  SodoL    XXVIL    2.  I& 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


hellenischen  Städten,  von  dieser  wohl  noch  mehr,  da  bei  den 
in  der  Zerstreuung  lebenden  Juden  die  Religion  das  feste 
einigende  Band  bildete.  Diese  Knabenschule  (Beth  Hassepher) 
war  allgemein ;  seit  Josua  Ben  Gamla,  der  62—66  n.  Chr.  Hoher- 
priester  war,  war  ihr  Besuch  für  alle  Kinder  Zwangspflicht'), 
Die  besondere  ständische  Bildung  des  Priesterstandes,  der 
Rabbiner,  wurde  in  einemhöheren  Kursus  (Beth  Hammidrasch), 
der  erst  das  Schreiben  einschloss,  überliefert*).  So  finden 
wir  hier  durch  den  herrschenden  Stand  Form  und  Inhalt 
der  Erziehung  bestimmt.  Sie  ist  allgemein  für  alle  Kinder 
des  Volkes  und  sie  ist  ausschliesslich  religiös. 

Dies  wiederholt  sich  genau  bei  den  Arabern,  seitdem 
sie  einen  herrschenden  Priesterstand  haben.  Überall  in  der 
islamitischen  Welt  ist  seitdem  die  niedere  Schule,  der  Kuttäb, 
eingerichtet,  in  der  ein  Fiki,  ein  Laienniönch,  unterrichtet, 
durch  die  Gaben  der  Schüler  oder  aus  den  Einkünften  einer 
Moschee  unterhalten,  oft  selbst  des  Lesens  und  Schreibens 
unkundig,  bloss  mündlich,  nach  dem  Gedächtnis  den  Koran 
lehrend,  oft  auch  Lesen  und  Schreiben  und  einiges  Rechnen 
damit  verbindend^).  Die  Zucht  ist  streng,  durch  körperliche 
Strafen  aufrecht  erhalten*).  In  grösseren  Städten  giebt  es, 
den  höheren  theologischen  Schulen  der  Juden  entsprechend, 
theologische  Hochschulen,  die  „medresseh",  deren  Ort  immer 
eine  Moschee  ist.  Da  der  Koran  nicht  bloss  für  das  religiöse, 
sondern  auch  für  das  weltliche  Recht  die  einzige  Quelle  ist, 
so  sind  diese  „arabischen  Universitäten"  zugleich  Rechts- 
schulen. Der  Stand  der  Geistlichen  bildet  zugleich  den 
Stand  der  Richter.  Und  da  er  von  griechischer  Astronomie 
und  Medizin  einiges  aufnahm,  so  wurden  auch  diese  Frag- 
mente der  griechischen  Wissenschaft   in  einigen   der  Hoch- 

')  0.  B&oi,  Jüdische  uad  mahammedamBche  Erziehung  in  K.  A. 
ScHum,  Geschiohte  der  Erziehung  I[,  I,  Btnltgart  1893,  S.  6&9. 

*]  'Wenn  LETonR.Nxiu  [8.  864r.]  als  die  drei  Elassen  des  Beih 
Bammidrasb  a&giebt:  Uikra  UishD&h  und  Qem&rab,  und  die  erste  sls  das 
griechisclie  liwfä.,  die  kleine,  tnSssst,  so  ist  dies  ein  Intnin.  Der  Name 
lommt  her  vom  hebiäischen  Esra  lesen  nnd  bedeutet  .iieeatohDle*. 

■)  Lbtoukkuu  S.  333  f. 

*)  836/36. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Die  GeBohiohte  der  Ernehnng  in  sosiologiacher  Belenohtang.      227 

schulen  gelehrt.  Die  Zucht  bleibt  auch  auf  dieser  Stufe 
streng.  Die  von  der  Sitte  gebotenen  äusseren  Zeichen  der 
Ehrerbietung  gegen  den  Lehrer  sind  sehr  lebhaft  und  häufig. 

Der  Kultur  der  Semiten  sehr  ähnlieh  ist  diejenige  der 
Hamiten.  Zu  der  Zeit,  wo  die  alten  Ägypter  in  die  Ge- 
schichte eintreten,  sind  sie,  wie  wir  oben  gesehen  haben, 
über  die  natürliche  Verfassung  der  Gesellschaft  schon  hin- 
aus, haben  sie  schon  eine  Priesterkaste,  neben  anderen 
ständischen  GUederungen.  Auch  bei  ihnen  finden  wir  durch 
den  Priesterstand  eine  allgemeine,  öffentliche  Erziehung 
organisiert,  die  freilich  nicht  der  Religion,  sondern  dem 
praktischen  Leben  insofern  diente,  als  sie  die  wegen  der 
jährlichen  Überschwemmungen  sehr  nötige  Vermessungs- 
kunde zum  Gegenstande  hatte  •)■  Neben  dieser  allgemeinen 
Erziehung  giebt  es  innerhalb  der  verschiedenen  Stände  eine 
Vorbereitung  auf  den  väterlichen,  auf  das  Kind  zu  ver- 
erbenden Stand,  die  aber  wohl  der  Familie  anheimlallt.  Was 
von  wissenschaftlicher  Erkenntnis  in  Astronomie,  Medizin 
und  anderen  Wissenschaften  erreicht  war,  desgleichen  die  Kunst 
des  Lesens  und  Schreibens,  blieb  wohl  Monopol  der  Priester- 
kaste*), bis  in  den  letzten  Zeiten  der  politischen  Selbständig- 
keit die  „Vornehmen"  Anteil  daran  zu  nehmen  begannen. 

Von  der  mongolischen  Welt  Asiens  sind  wesentlich  nur 
die  Chinesen  und  Japaner  hier  zu  betrachten,  weil  alle 
andern  mongohschen  Völker  —  von  einigen  Ausstrahlungen 
der  europäischen  Kultur  abgesehen  —  von  jenen  beiden  alles 
angenommen   haben,    was   sie  über  die  Barbarei  emporhob. 

Die  Religion  der  Chinesen  hat  zwar  den  blossen  Na- 
turalismus Überschritten,  aber,  wie  bei  den  klassischen 
Völkern,  doch  zu  keinem  Priesterstande  geführt.  Doch  haben 
sich,  wie  wir  oben  sahen,  zwei  Mandarinenkasten  gebildet, 
die  Mandarinen  des  Krieges  und  des  Friedens.  Eine  vom 
Staate  organisierte  Erziehung  giebt  es  nur  fUr  die  Kinder 
der  Mandarinen.     Sie  hat  zwei  Stufen:  Die  Mittelschule,  die 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


228  Paul  Barth: 

sich  im  Haoptorte  eines  Distrikts  befindet,  und  die  klassißchen 
Schriften,  besonders  drei  des  Kootuotds  und  eine  des  Itaroros 
lehrt.  Die  in  diesen  Schulen  vorgebildeten  Jünglinge  unter- 
werfen sich  verschiedenen  Prüfungen,  um  die  drei  Grade 
zu  erreichen,  von  denen  der  höchste  die  Mandarinenwürde 
verleiht,  d.  h.  zu  einem  staatlichen  Amte  berechtigt.  Man- 
darin des  Krieges  wird  man  ebenso  erst  nach  drei  PrtlfimgeD. 
die  sich  auf  physische  Geschicklichkeit  und  Kenntnis  des 
Kriegswesens  beziehen*). 

Das  elementare  Schulwesen  ist  Privatsache,  es  wird 
eine  Anzahl  Schriftzeichen,  Rechnen  und  Gesang  gelehrt. 
Der  Lehrer  wird  von  den  Schillern  bezahlt. 

Die  japanische  Gesellschaft  hat  nicht  eine  Aristokratie 
der  Bildung,  sondern  eine  Aristokratie  des  Besitzes.  Trotz- 
dem war  das  Erziehungswesen  dem  chinesischen  ganz  gleich, 
wie  Überhaupt  die  japanischeKultureineKolonie  der  chinesischen 
war,  bis  europäischeldeen  nach  Japan  eindrangen').  Die  elemen- 
tare Bildung  war  ganz  den  Familien  überlassen,  die  mehrere  zu- 
sammen einen  Lehrer  annahmen;  ^  nur  die  Erziehung  der 
—  wie  in  China  —  weltlichen  Aristokratie  war  vom  Staate 
organisiert.  Der  ganze  Kursus  bestand  aus  drei  Stufen:  Die 
erste  lehrt  die  oben  erwähnten  vier  Bücher  der  Chinesen,  und 
nach  ihnen  erst  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen.  Die  zweite 
Stufe  umfasst  Geschichte,  Rhetorik,  weitere  Ausbildung  in 
chinesischer  Schrift,  Arithmetik  und  Geographie,  ausserdem 
körperliche  Übungen.  Die  oberste  Stufe,  nur  durch  je  eine 
Hochschule  in  Kioto  und  Yedo  und  durch  mehrere  in  der 
Provinzhaupfstadt  vertreten,  lehrte  Theologie  und  Moral,  be- 
sonders nach  den  chinesischen  Klassikern,  ausserdem  die 
chinesische  Sprache  und  Schrift  in  systematischer  Weise, 
desgleichen  die  Sprache  und  Schrift  der  Japaner.  Die  Frauen 
wurden  in  Japan  besser  gebildet  als  in  China.  Während 
die  Chinesinnen  nur  hSusliche  Geschäfte  lernten,  lernten  die 
Japanerinnen  fast  alle  wenigstens  ein  wenig  lesen  undschreiben. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


JKe  Geschichte  der  Gniehong  in  Bosialogisohec  Belenohtnng.      229 

Wie  diese  alte  Erziehung  eine  Nachahmung  der 
chinesischen  ist,  so  ist  die  neue,  die  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten teils  organisiert  wurde,  teils  noch  organisiert  wird, 
eine  Nachahmung  derjenigen  des  modernen  Europa,  von  der 
später  zu  sprechen  sein  wird. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Berichtigung. 

In  seinem  ßeferat  über  Mellins  Marginaiien  und 
Register  zur  Kr.  d.  r.  V.  (diese  Zeitsclirift  XXVI  4,  S.  456) 
spricht  E.  Mabcü8  einen  allgemeinen  Zweifel  aus,  „ob  nicht 
auch  Mrllin  hie  und  da  die  subtile  Schärfe  Kamts  verfehlf 
habe.  Er  führt  zur  Begründung  an,  dass  ihm  „allerdings 
nur  eine  einzige  Stelle"  aufgefallen  sei,  und  beanstandet  das 
Marginale  943.  Dort  heisst  es:  „In  der  Transzendental- 
philosophie  ist  diese  Subreption  gewöhnlich  und  unvermeidlich, 
daher  kann  hier  der  apagogische  Beweis  nicht  erlaubt  sein." 
Kant  habe  hier  nur  von  „transzendentalen  Versuchen"  der 
spekulativen  Dogmatiker  gesprochen  und  habe  mit  seiner 
Methodenlehre  die  „von  ihm  neubegründete  Transzendental- 
philosophie gar  nicht  treffen  wollen." 

KiST  bestimmt  durch  die  Kritik  die  Idee  der  Trans- 
zendentalphilosophie zum  ersten  Male,  aber  er  selbst  spricht 
von  einer  „Transzendentalphilosophie  der  Alten"  und  sagt 
auch  in  den  Prolegomenen,  dass  was  seiner  Zeit  diesen  Namen 
führe,  eigentlich  ein  Teil  der  Metaphysik  sei;  der  Einwurf 
würde  also  Mblijhs  Ausdrucksweise  im  Vergleich  zu  Kabt 
gar  nicht  treffen.  —  Es  könnte  nur  die  Frage  sein,  ob  Käst 
sein  Verbot  der  apagogischen  Beweise  auf  Fragen  der  trans- 
zendentalen Dialektik  einschränken,  oder  auch  auf  die  trans- 
zendentale Ästhetik  und  Analystik  erstrecken  wollte.  „Wie  sich 
von  selbst  versteht,  will  Kakt  in  seiner  „transzendentalen 
Methodenlehre"  die  Anforderungen  an  die  Transzendental- 
philosophie feststellen.  Der  Hinweis  von  Mabcus  auf  eine 
andere  Stelle  (766,  2.  Aufl.)  Übersieht  vollständig,  dass  sie 
einen  Abschnitt  abschliesst  und   sich  nui*   auf  ihn  bezieht. 


Berichtigung.  231 

.  „Von  der  eigcntUmlicben  Methode  einer  Transzendental- 
philosophie läsat  sich  aber  hier  nichts  sagen  .  .,"  wo  Kaht 
nur  die  Frage  nach  dem  dogmatischen  Gebrauch  der 
spekulativen  Vernunft  aufwirft  und  erledigt.  Der  4.  Ab- 
schnitt, um  den  es  sich  bei  Mbllin  handelt,  beginnt  aber  mit 
den  Worten:  „Die  Beweise  transzendentaler  und  synthetischer 

Sätze  haben   das  EigentUmliche "     Kaht   fragt 

dort,  ob  wir  überhaupt  und  wie  hoch  wir  bauen 
können,  im  4.  Abschnitt,  wie  wir  bauen  müssen,  wenn 
wir  es  auf  einen  beständigen  Bau  abgesehen  haben.  Hier 
sind  wir  also  bei  der  Methode  der  Transzendentalphilosophie, 
in  der  die  Subreption  herrschend  ist,  „das  Subjektive  imserer 
Vorstellungen  dem  Objektiven,  nämlich  der  Erkenntnis  des- 
jenigen, was  am  Gegenstande  ist  unterzuschieben." 
Kaht  giebt  nun  drei  Regeln  für  „transzendent^e  Beweise," 
bei  denen  er  (z.  B.  S.  816)  auf  die  von  ihm  gegebenen  Be- 
weise exemplifiziert.  „Die  dritte  eigentümliche  Eegel  der 
reinen  Vernunft,  wenn  sie  in  Ansehung  transzendentaler  Be- 
weise einer  Disziplin  unterworfen  wird,  ist:  dass  ihre  Beweise 
niemals  apagogisch  und  jederzeit  o  s  t  e  n  s  i  v  sein  müssen. 
Der  direkte  oder  ostensive  Beweis  ist  in  aller  Art  der  Er- 
kenntnis derjenige,  welcher  mit  der  Überzeugung  von  der 
Wahrheit,  zugleich  Einsicht  in  die  Quellen  derselben  ver- 
bindet; der  apagogische  dagegen  kann  zwar  Gewissheit,  aber 
nicht  Begreiflichkeit  der  Wahrheit  in  Ansehung  des  Zu- 
sammenhangs mit  den  Gründen  der  Möglichkeit  hervor- 
bringen." Dass  Kant  hinsichtlich  der  Deduktionen  und  Be- 
weise der  Analytik  diesem  Anspruch  genügen  wollte,  d.  h. 
dass  er  sich  den  Anforderungen,  die  er  andern  gegenüber 
stellt,  selbst  zu  unterwerfen  „verbindlich"  fühlte,  bedarf 
keines  Wortes.  Der  4.  Abschnitt  zeigt  im  Beginn  die 
Methode  der  Analytik  und  verlangt,  dass  man  in  Fragen 
der  Dialektik  umsomehr  die  dort  befolgten  Prinzipien  an- 
erkennen müsse.  „Ein  jeder  muss  seine  Sache  vermittelst 
eines  durch  transzendentale  Deduktion  der  Beweisgründe  ge- 
führten rechtlichen  Beweises,  d.  i.  direkt  führen,  damit  man 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


232  Ludwig  OoldBohmldt: 

sehe,  was  seine  VernunftansprUche  für  sich  selbst  anzuführen 
haben."  Hat  nun  wirklich  Kant  in  seiner  Transzendental- 
philosophie das  geleistet  oder  hat  er  sich  damit  begnügt, 
das  Gegenteil  seiner  Behauptungen  zu  widerlegen?  Diese 
Fra^e  wird  sich  Herr  JIascds  ernst  selbst  beantworten. 

Nur  den  letzten  Punkt  seines  Einwurfs  gegen  Mellih 
will  ich  noch  widerlegen.  Kamt  soll  nach  Mabcüs  seine 
ganze  Transzendentalphilosophie  auf  einen  apagogischen 
Beweis  („das  Blendwerk,  womit  die  Bewimderer  der  Gründ- 
lichkeit imaerer  dogmatischen  Vernünfter"  nach  demselben 
Kant  „jederzeit  hingehalten  worden  sind"), -gründen.  Mabocs 
weist  auf  das  „Experiment  einer  Gegenprobe  der  Wahrheit" 
hin,  das  den  kantischen  Gedankengang  sehr  klar  in  der  Vor- 
rede zur  zweiten  Auflage  giebt.  Die  Probe  auf  das  Exempel 
giebt  einen  neuen  Grund,  es  für  richtig  zu  halten,  aber  sie 
begründet  das  Exempel  nicht.  Kant  hätte  nicht  Kaht 
sein  müssen,  wenn  er  nicht  eine  solche  Missdeutung  hätt« 
befürchten  sollen  und  in  der  That  versieht  er  den  betreffen- 
den Passus  in  einer  Anmerkung  noch  mit  folgender  Warnung: 
„Ich  stelle  in  dieser  Vorrede  die  in  der  Kritik  vorgetragene, 
jener  Hypothese  analogische,  Umänderung  der  Denkart,  auch 
nur  als  Hypothese  auf,  oh  sie  gleich  in  der  Abhandlung  selbst 
aus  der  Beschaffenheit  unserer  Vorstellungen  von  Raum  und 
Zeit  und  den  Elementarbegriffen  des  Verstandes,  nicht 
'  hypothetisch,  sondern  apodiktisch  bewiesen  wird,  um  nur  die 
ersten  Versuche  einer  solchen  Umänderung,  welche  allemal 
hypothetisch  sind,  bemerklich  zumachen."  Will  man  zeigen, 
dass  Kant  apagogisch  beweist,  so  sind  also  hier  die  Hebel 
anzusetzen.  Als  unbegründeter,  missverstHndlicher  Vorwurf 
ist  ea  schon  längst  ausgesprochen  worden. 
Gotha,  Dez.  1902. 

Ludwig  Goldschhidt. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Entgegsnng  des  ReieisenteB. 

MsLUJi  setzt  im  Marg.  943  an  stelle  des  Textausdrucks 
-tr.  Versuche"  (11.  Aufl.  S.  280)  den  Ausdruck  „Trscdtl- 
Philosophie",  während  doch  grade  an  der  von  Goldsohmidt 
zitierten  Stelle  (S.  766)  die  Tr.-phüosophie  in  scharfen 
Gegensatz  gebracht  wird,  zu  den  vorher  (s.  S.  763)  be- 
handelten „tr.  Versuchen".  Mit  dieser  Identifikation  giebt 
Mellin  eine  Auslegung,  die  in  einem  Auszug  unstatt- 
h&it  ist. 

GoLDBCHMiDTS  Ausführung  ist  daher  keine  „Berich- 
tigung" (die  Thatsachen  treffen  müsste),  sondern  der 
Versuch  einer  Eechtfertigung  der  MBDuu'schen  Aus- 
legung.    Ich  halte  diese  Auslegung  für  falsch. 

Aus  dem  ganzen  Zusammenhange  ist  es  für  mich  selbst- 
verständlich, dass  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  nur  die 
reine  Vernunft  selbst,  nicht  aber  die  an  ihr  geübte  Kritik 
imd  dass  die  Methodenlehre  nur  die  Methoden  der  reinen 
Vernunft,  nicht  die  Methode  der  an  ihr  geübten  Kritik, 
zu  kritisieren  beabsichtigt.  Diese  Scheidimg  ist  überaus 
wichtig;  ohne  sie  entdeckt  man  scheinbare  Widersprüche, 
me  weiter  unten  gezeigt  wird. 

Allerdings  greift  der  Abschnitt  über  Beweisdisziplin 
auf  kritische  (transcdtl-philosophische)  Beweise  zurück 
(S.  810fr.),  aber  er  bespricht  auch  mathematische  und 
naturwissenschaftliche  Beweise.  Folgt  etwa  daraus, 
dass  die  Metboden  der  beiden  letzteren  zum  Thema 
gehören?  —  Weder  diese  noch  die  Methoden  der  kri- 
tischen Beweise  werden  an  dieser  Stelle  kritisiert,  vielmehr 
wird  ihr  Charakter  nur  zur  Erläuterung  und  Begründung 


iM,Coo<^lc 


234  B.  Uarcnsi 

des  eigentlichen  Themas  exponiert ').  Demgemäss  werden 
die  kritischen  Beweise  (weil  sie  sich  gleichfalls  „eines 
ausserhalb  des  Begiiffes  liegenden  Leitfadens  bedienen") 
denen  der  Mathematik  gleichgestellt  und  in  graden 
Gegensatz  gebracht  zu  den  Beweisen  der  „tr.  Versuche", 
welche  „noch  viel  mehr"  (als  jene)  der  „Rechtfertigung  be- 
dürfen". (S.  812),  d.  h.  bei  denen  man  weit  vorsichtiger  in 
der  Beweismethode  sein  muss. 

Speziell  in  Frage  steht  hier  der  apagogische  Beweis. 
Zunächst  (S.  817)  wird  der  allgemeine  Charakter  desselben 
überhaupt  im  Vergleich  mit  dem  direkten  beleuchtet  luid 
zwar  sowohl  die  Nachteile  wie  die  Vorzüge  (vgl.  besondere 
bzgl.  des  Modus  tollens  S.  819).  Nirgend  v-ird  hier  be- 
hauptet, dasser  beweis un kr ä  ftig  d.  b.  ein  blosser  Schei  n- 
beweis  sei.  Nun  erst  kommt  das  eigentliche  Thema,  näm- 
lich der  Beweis  „tr.  Versuche"  und  hier  aber  auch  nur 
und  ausschliesslich  für  diese  wird  dei"  indirekte  Beweis  für  a  b  - 
solut  unzulässig  imd  untauglich  erklärt.  Die  Beispiele 
ergeben  hier  klar,  dass  es  sich  nur  um  spekulative 
Versuche  handelt.  Aber  das  strikte  Verbot  ist  auch  be- 
gründet, es  ist  gegeben,  weil  diese  Versuche  „insgesamt 
innerhalb  des  eigentlichen  Mediums  des  dialektischen  Scheins" 
angestellt  werden. 

Auf  die  Traasc. -Philosophie  Karts  kann  sich 
dieses  Verbot  nicht  beziehen.  Deim  sie  ist  weder  ein  tr. 
Versuch,  noch  bewegt  sie  sich  ,.innerhalb  des  dialek- 
tischen Scheins",  deckt  vielmehr  diesen  als  Täuschimg  auf 
und  kann  sich  (wie  die  Mathematik)  im  Gegensatz  zur  Spe- 
kulation eines  „ausserhalb  des  zu  beweisenden  Begriffs  be.- 

*)  Anoh  in  dem  IhscbDitt  betr.  die  Disäpl.  des  dofiniat  Oebtwioha 
weiden  die  Mathematik  and  die  Irscdtl. Philosophie  (3.  747fF.)  in  glucher 
WaiBfl  zur  Erliuterunfr  and  Begründung  herangezogen.  Es  war  gut, 
dass  Eakt  hier  {S.  766)  den  von  mir  betonten  Vorbehalt  (ÄosschliessuDg 
der  Traodt] Philosophie)  machte.  Sonst  hätte  man  zweifellos  aach  diesen 
Absoboitt  anf  sie  ausgedehnt.  Dieser  allgemeine  Yorbehalt  sagt,  dasa  nur 
die  der  Kritik  uaterliegenden  „ Vermöge DBumatäude',  nioht  aber  das 
VennBgea  tat  Eiricbtung  des  kritischen  Oebäudea  nnteimudit  wenlen 
eoU.    (Vgl.  Kr.  8.  739). 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Entgegntug  des  BeseBsenteii.  235 

liiidlicheii  Leitfadens  bedienen",  hat  auch  eine  apriorische 
Übersicht  über  die  Gesamtheit  ihres  Materials  (der  Organi- 
sation der  reinen  Vernunft)'),  ist  daher  jener  „Subreption" 
(S.  820),  welche  die  Anwendung  des  indirekten  Beweises 
absolut  ausschliesst,  nicht  unterworfen.  Soviel  ist  sicher, 
dass  selbst,  wenn  man  diesen  ganzen  Abschnitt  auch  auf  die 
Methode  kritischer  Beweise  ausdehnen  .will,  man 
dennoch  aufs  schärfst«  scheiden  muss,  zwischen  Vor- 
schriften, die  sich  auf  die  kritischen  Beweise  und 
Vorschriften,  die  sich  ausschliesslich  auf  die  „tr.  V  e  r- 
suche"  beziehen  sollen  und  das  eben  ist  es,  worauf  es 
hier  ankommt. 

Ich  kann  meine  Auslegung  auf  eine  Thatsache 
stutzen.  Kant  selbst  beruft  sich  in  seiner  Trscdtl-Philosophie 
expressis  verbis  auf  einen  „indirekten"  Beweis  (in  der 
Antinoraienlehre  S.  534).  Er  durfte  das,  weil  sein  Verbot 
sieh  nicht  auf  seine  Tr-philosophie,  sondern  ausschliess- 
lich auf  tr.  Versuche  bezog.  Er  durfte  es,  weil  er  hier 
nicht  „innerhalb"  sondern  oberhalb  „des  dialektischen  Scheins"' 
stand.  Er  hätte  es  nicht  gedurft,  wenn  er  die  Verwendung 
des  indir.  Beweises  für  absolut  unzulässig  gehalten  hätte; 
denn  in  diesem  Falle  hätte  er  sich  auf  einen  Schein  beweis 
gestützt.  Eine  eigentümliche  Fügung  ist  es  übrigens,  dass 
ÜELLiK  auch  an  dieser  Stelle  ungenau  ist,  indem  er 
(Marg.  614)  das  nach  obiger  Darlegung  sehr  erhebliche 
Textwort  „indirekt"  weglässt. 

Aufrecht  halte  ich  femer,  dass  Kants  Fundamental- 
beweis neben  dem  direkten  ein  apagogisches  Moment  ent- 
hält (und  zwar  im  modus  ponens).  Um  nicht  weitläufig  zu 
werden,  beziehe  ich  mich  auf  meine  Abhandlung:  „Kakts 
Revolutionsprinzip  (Kopemikan.  Pr.)  Herford  1902"  und  be- 

')  Daher  ist  hier  aogar  der  apagogisohe  Beweis  im  modus  poneue 
üoht  gniDdsätilich  anageHcbloaseu,  da  EJuh  die  „Gesamtheit  der  möglichen 
Fcdgenrngen"  hier  apriori  übersehen  lässt  (S.  818).  SoUte  Q.  das  letstere 
bestreiteD,  bo  würde  er  eich  mit  Ea.nt  in  Wideispraoh  setzen.  Es  ist  hier 
aber  auch  der  eineige  Fall,  wo  ein  apag.  Beweis  ohne  Vorbehalt  zngelassen 
»erden  könnte  und  Kaki  macht  Gebraach  davon.    S.  unten. 


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236  E.  Marcas: 

merke  liier  nur,  dass  das  apagogjsche  Moment  in  der  Ad- 
vendung  eines  „Erscheinungs'' -Begriffes  üegt,  dem  die  logische 
Idee  TOD  einem  zu  Grunde  liegenden  „Ding  an  sich"  not- 
wendig inhäriert,  so  dass  jener  Begriff  nur  gemeinsam  mit 
«liesem  inhärierenden  Element  auf  das  Reale  anwendbar  ist. 

Dass  die  Realität  eines  Erscheinungsbegrifles,  in- 
sofern als  er  ein  solches  unerkennbares  Inhärens  (oder 
Subsistens)  hat,  nicht  direkt  beweisbar  ist,  bedarf  keiner 
Ausführung.  Von  der  anderen  Seite  ist  aber  der  Beweis 
durch  und  durch  direkt  (ostensiv)  geftihrt,  sofern  man  vom 
„Dmg  an  sich"  absieht.  Denn  da  folgt  apriori,  dass,  was 
in  Raum  und  Zeit  auftritt,  notwendig  nach  seiner  Beschaffen- 
heit (und  bezüglich  des  Daseins  dieser  Beschaffenheit)  vom 
Dasein  jener  Anschauungsformen  abhängt.  Ein  solchergestalt 
bedingtes  iässt  sich  aber  logisch  richtig  erst  denken,  nach- 
dem man  von  der  entgegengesetzten  Seite  das  apago- 
g  i  s  c  h  e  Moment  des  „Dinges  an  sich"  herangebracht  hat. 
Kurz,  dieses  apagogische  Moment  ist  die  Vorau^etzung  der 
logischeaMOglichkeitdesOedankens,dass„begrifrsunabhängige 
Gegenstände   sich   nach  dem  Erkemitnisvermögen  richten." 

Man  brauclit  zu  der  von  mir  zitierten  Anmerkung  (11. 
Vorr.  S.  XXn)  nur  den  Schlusssatz  der  Anmerkung  S.  XIX 
hinzuzuziehen,  um  einzusehen,  dass  auch  Kaut  in  seiner 
„Hypothese"  ein  apagogisches  Moment  erkannt«,  weshalb 
er  sie  eben  vorläufig  als  Hypothese  vorstellig  jnachte. 

In  Kants  Beweis  stehen  also  ein  direktes  und  ein 
apagogisches  Moment  in  eigentümlicher  Wechselwirkung. 
Keins  von  beiden  darf  für  unweseatHch  gehalten  werden. 
Hier  ist  die  letale  Stelle  des  Systems. 

£ssen>Kahr.  E.  Marcus. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Berichterstattung. 


WfW¥W9¥W¥W¥9V¥9SW¥^WW¥¥W¥W¥¥¥^9¥¥¥¥¥W99W99 


I. 

Besprechungen. 

fNlldseheld,    Bndolf,    Zur    Ethik    des    Gesa mt willens. 

Eine    sozialphilosophisctie   Untersuchung,  Leipzig,    0.    R. 

Eeisland  1902,  I.  Band  VI  u.  552  S. 

Der  Yerfuser  will  eine  Ethik  konstruieren  und  zwar  als  Werttheorie 
im  Qeiste  Benekee  und  der  Eatwickelungstheoria  (S.  80).  Zu  ihrer  Qrnnd- 
legang  bedarf  er  äoer  pBTohologischen  Theorie.  Er  lehnt  Wvmii'b  ps^oho- 
physohen  Parallelismna  ab,  desgleichen  die  „beschreibende  und  zeigliedernde 
njchologie"  DiLTBEYs,  nod  entscheidet  sieh  für  eine  psyohophTSiaahe  Aol- 
(asBimg  im  Sbne  der  „reinen  Erfahrang"  von  Atknikub.  Seine  Gründe 
«nd  niolit  immer  stichhaltig,  bo,  wenn  er  behauptet:  „Rein  Psjobisohee 
kommt  in  meinem  Bewosstsein  niemals  Yor/' 

Im  übrigen  ^bt  OoLDecHBii)  in  diesem  ersten  Bande  nooh  nicht  den 
positiven  Aafban  seiner  Ethik,  sondern  die  Etitik  dee  bestehenden  Oesamt- 
willens,  des  Staates.  Er  findet  die  Wurzel  alles  Uebels  darin,  dass  dieser 
.Oesamtwille  in  Wirklichkeit  kein  Oeeamtwille  ist",  worin  es  auch  be- 
gründet liege,  warum  „anser  durch  die  Erziehung  modißzierter  sozialer  Trieb 
«na  immer  wieder  in  unseren  Eguismua  zurückwirft".  Der  bestehende 
Staat  ist  nur  der  Wille  einer  6mppe,  nämlich  einer  Nation,  kein  Qe- 
meinscbartswille ;  darum  moss  er  nach  aussen  egoistisch  sein,  wie  sehr  er 
nach  ionen  anch  Altruismus  predigt.  Seine  Verbindung  mit  dem  Fiotestan- 
tiamus  hat  ihm  nichts  genützt.  Der  Protestantismus  hat  die  Antorittit  des 
Staates  nur  befestigt,  aber  nioht  veredalt,  weil  er  selbst,  nachdem  er  die 
Temniift  im  Kampfe  g%en  den  Katholizismus  zu  Hilfe  gerufen  hatte,  sie 
nachher  prei^;egeben  hat  und  bei  Luther  stehen  geblieben  ist,  anstatt  seine 
Lehre  in  der  lUohtong  der  Wissenschaft  fortzabilden.  Der  Katholizismus 
aber  ist  der  schärfste  Gegensatz  gegen  Vernunft  und  Wissenschaft  und 
kehrt  ^oh  in  der  Praxis  nioht  an  seine  sittliche  Theorie  (Seite  179).  So 
ist  in  nnaerem  Zeitalter  dee  „RentabiliUrismus"  (S.  496)  „eine  Verwilderang 
alles  Wertem  nn^enssen"  (S.  100).  „Die  Vervollkommnung  der  Maschine 
enchunt  vielen  wichtiger  als  die  Eöherbildung  des  Typus  Mensoh'-  (9.  364). 
Jede  Emmgensobaft  der  Technik  wird  mit  Jnbel  begrfisst,  und  jedevölker- 
veibittdende  Idee  mit  Verachtung  zurückgewieaen  (8.  494).  „Trotz  aller 
maagdhaftmt  Einrichtungen  sohreitet  auch  innerhalb  des  Beatmenden  die 


iM,Coo<^lc 


Mensclibeit  entsohiedeD  fort,  ihre  Zahl  wächst  an,  das  Elend  TeiringeTt  Biuh, 
aber  ongesichtG  der  grossen  Samme  element&rei  Kraft,  die  wir  in  nnsern 
Dienst  ^zogen  bsbeo,  ist  dieeei'  Fortsohritt  minim"  (8.  61ö).  Solche  Ge- 
dauken  werden  nicht  immer  mit  tiefster  B^ränduog,  aber  snoh  nie  in 
trivialer  Weise  entwickelt,  sodass  mau  dem  zweiten  Bande  mit  Interesse 
entgegensehen  mnss.  —  Für  diesen  möchte  der  Hef.  dem  Verf.  raten, 
genauer,  mit  Angabe  der  Seite,  ^  zitiaren,  als  es  im  1.  Bande  geeohieht 
Leipzig,  Paul  Babth. 

Th.  Lipps,  Vom  Fühlen,  Wollen  und  Denken.  Eine 
psychologiscbe  Skizze.  Leipzig,  J.  Ä.  Barth,  1902.  Vni 
und  196  S.     6,40  Mk. 

Die  Anzahl  der  Oefühle  ist  nnendlioh  gross,  und  dooh  sUid  sie  alle 
nur  HodifikaÜonen  eines  einzigen  Omndgefähls,  des  Icbgelühls:  sie  sied 
die  anmittelbaren  Bewusstseiiiss;mptome  davon,  wie  sich  psychische  Tor- 

fKoge  in  diesem  Ichgefuhle  spiegeln.  Solche  TcrgSnge  sind  aber  ihrem 
Irspnuig  nach  bald  etwas  uns  fremdes,  ee  sind  Wahmehmnngen,  bald 
•twBB  una  selbst  Angehöriges,  als  ErinneinngS'  und  Phantaaievoratelliuigen', 
und  auch  die  gegensULndlichen  Inhalte,  die  diesen  Vorgfingen  eatspTechen, 
sind  dos  eine  Mal  einem  uns  Fremden  suinteilen,  der  Welt  der  Objekte, 
d.  h.  sie  sind  Wahmehmongs-  oder  Erinnerungsgegenstlnde,  ein  anderes 
Hai  aber  aind  sie  Gegenstände  der  Phantasie  —  frei  von  uns  gewoben. 
und  wir  haben  ein  unmittelbares  Bewnsstsein  Ton  solober 
Freiheit  und  solcher  Fremdheit  oder  Oebandenheit.  Dieses  Be- 
wuBBtsein  ist  dorchaas  zu  trennen  von  dem  der  EmpündungeD  und  Vor- 
etellangen  selbst;  es  müsste  sieh  ja  sonst  als  eiu  ihnen  allen  gemeinsames 
Emp&ndongs-  oder  Torstellungselement  nachweisen  lassen!  Thalsächlich 
handelt  es  sich  um  Gefühle.  Und  Gefühle  begleiten  auch  die  Wirkonga* 
weise  psychisoher  TorgBjige.  Psychische  Vorgänge  wirken  gegen  einander 
oder  jedes  psychische  Geschehen  wirkt  gegen  ^e  Hemmung.  Hier  sprechen 
wir  Tom  Strebnngsgefäbl.  Und  das  Strebongsgefohl  ist  am  so  st&rker, 
je  intensiver  einerseits  das  Geschehen  nnd  je  grösser  andererseits  die 
HemmoDg  ist.  Es  ist  aber  in  irgend  einem  Grade  bei  jedem  psychischen 
Geschehen  Torhonden.  Dieses  Streben  ist  nun  an  sich  noch  kein  Wollen, 
oder  braucht  ea  nicht  zu  sein  —  es  ist  noch  nicht  einmal  ein  Wünschen. 
Wollen  und  Wünschen  ist  aktives  Streben.  Daneben  aber  giebt  es  passivt 
Strebungen:  etwas  strebt  mir  entgegen  oder  strebt  in  mir,  ein  Oeduike 
etwa  .strebt  in  mir  auf."  Was  aber  macht  die  Aktivität  eines  Strebens 
aas?  £s  mnss  darin  mein  Ich,  die  Nator  meiner  Seele  in  besonderer 
Weise  lur  Geltung  kommen,  oder  (was  dasselbe  sagt)  es  moss  von  einem 
positiven  Wertinteresse  in  mir  getragen  werden:  dos  Streben  ist  mir  wert- 
voll :  ich  erlebe  Lust,  wenn  ich  es  mir  als  vollendet  voisteile.  Daa  ist  der 
Fall  z.  B.  beim  Streben  nach  Keichtum.  Es  kann  aber  zunächst  noch  ein 
Wünschen  Bein;  zum  Wollen  im  eigentlichen  Sinne  vrird  es  eist,  wenn  ich 
nicht  abziele  anf  ßeichtnm,  insofern  er  mir  etwa  duroh  ZoÜl  ia  den 
8oh<»s  fiUlt,  sondern  auf  meine  eigene  Reichtum  schaffende  Thätigkeit. 
Wollen  ist  stets  Stieben  nach  einem  Ziel,  dass  duroh  eigene  Thätigkeit  er- 
reicht werden  kann,  in  diesem  Sinne  reden  wir  auch  von  äusseren  Willens- 
handlungen,  d.  i.  von  gewollten  Bewegungen.  —  Damit  ich  ein  Bewegnogs- 
etrebm  erleben  kann,  muss  ioh  zuvor  die  Bewegung  erlebt  haben  —  das 
ist  für  LipiM  eine  selbstverständliche  Toraussetzung.  Diese  Bewegung  nun 
kann  natünioh  nicht  selbst  wieder   eine   erstrebte  sein,   ebensowenig  aber 


iM,Coo<^le 


OoldsQheid,  Badolf,  Zur  Etbik  des  Oesamtwillena.  239 

datf  eis  den  ßeflexbewcgiiDgen  zngerKhoet  weiden  —  sie  stände  ja  dann 
aiuserhalb  des  psjohiBohen  Lebens,  es  bleibt  also  nur  übrig,  sie  als 
antomatisohe  Bewegung  aufiofassen,  d.  h.  sie  ist  eine  mir  wohl  zum 
BewoBstieia  gekommene  Folge  von  Bewegangsempfindungen,  die  durch 
eines  zentralen,  aber  nicht  bewussten  Impuls  eingeleitet  wnrden,  über 
dessen  eretmaligeB  Znstandekommen  allerdings  gar  niohts  gesagt  werden 
kann.  Hierin  liegt  indessen  noch  ein  Problem,  Salt  die  gewollte  Be~ 
wegang  eintieten,  so  iqubs  —  sollte  man  meinen  —  zunSobst  der  Impuls 
erstrebt  werden:  wie  aber  kann  er  das,  da  er  doch  unbewusst  ist?  Die 
Antwort  giebt  das  auch  aonat  so  wiobtigo  Gesetz  der  psychischen  Stauung. 
Erstrebt  wird  zunächst  nicht  der  Impnle,  sendern  die  Bewegung;  da  diese 
aber  nicht  ohne  weiteres  erreicht  werden  kann,  entsteht  eine  Hemmang, 
das  psychische  Cleschehen  staut  sich  und  konzentriert  sich  eben  dadurch 
auf  die  Bemmong,  und  alles,  was  mit  ihr  in  unmittelbarem  payohisohen 
Zusammenhaage  steht,  wird  überflutet;  dabei  wird  mithin  auch  der  Impuls 
getroffen  nnd  nnnmebr  kann  sich  die  erstrebte  Bewegung  ohne  weiteres 
verwirklichen.  Man  sieht,  das  zweckmässige  Mittel  ~  der  Impuls  —  wird 
durch  die  Staunng  nur  herbeigeführt,  nicht  aufgefunden,  nnd  so 
verhält  es  sich  allgemein:  Zwecke  und  Mittel  giebt  es  stets  erst  auf  Omnd 
einer  dnioh  zweckTcse  Erfahrung  geschaffenen  Regel.  Alle  Zwecktbätig- 
keit  beruht  auf  einer  zweckmässigen  Organisation  der  Psyche 
und  despS7ohophyst5chenOrgBnismus;und  nicht  etwa  umgekehrt 

Eine  Art  des  Strebens  mnss  noch  besonders  hervorgehoben  werden: 
Das  Erkenntnisstreben.  Hier  heisst  die  Hemmung  Widersprach. 
Jeder  Widerspruch  drängt  von  selbst  nach  seiner  Anfhebang:  Sehen  wir 
unter  (scheinbar]  gleichen  Umständen  Terachiedenes  eintreten,  so  entsteht 
auch  hier  eine  Stauung,  dnrch  die  ebenfalls  Mittel  zur  Beaeitigung  der 
Benunung  anfgefnnden  werden,  nur  heissen  diese  Mittel  hier  Bedingungen 
nnd  je  nachdem  Gründe  oder  Uisachen.  So  gelangen  wir  zum  kausalen 
Denken.  — 

Wie  verkehrt  es  ist,  die  Gefühle  auf  Lust  und  Unlust  einzu- 
schränken, zeigt  das  Dargelegte  deutlich;  in  der  That  gehören  diese  ,Wert> 
gefnhle"  als  I^rbungen,  die  alle  Gefühle  annehmen  ki3nnec,  an  das  Ende 
einer  Gefnhlslehre.  Genauer  ergeben  sich  die  Wertgefnble  als  „unmittel- 
bare Bewussts  eins  Symptome  dafür,  dass  ein  psyohisoher  Vorgang 
in  der  Natur  der  Seele  günstige  oder  ungünstige  Bedingungen 
zur  Appereption  voründet".  Ton  den  Wertgefühlen  fuhrt  der  Weg  leicht 
in  das  ethische  Gebiet  hinüber,  und  so  bilden  namentlich  die  beiden  letzten 
Kapitel  wertvolle  psychologische  Ergänzungen  zu  des  Verfassers  ethischen 
GmndfrsgeD. 

Damit  habe  ich  versucht,  nicht  die  Hauptgedanken,  aber  doch  die 
vielleicbt  wesentlichsten  Grundgedanken  des  trotz  seines  geringen  ümfanges 
so  rnchhaltigen  Werkes  wiederzugeben  und  denke,  es  sind  zugleich  auch 
die  Hauptpunkte  hervorgetreten,  die  die  Stellung  des  Verfassers  gegenüber 
seinen  Fachgenossen  kennzeichnen.  Inbetreff  der  Lust-TJnlust-Theorie  be- 
darf es  keiner  weiteren  Bemerkungen ;  vielleicht  ist  es  aber  nicht  über- 
ftuBBig  auf  den  fost  diametralen  Gegensatz,  in  dem  die  iJFFSsche 
Willenetbeorie  zu  derjenigen  Wunnis  Stent,  noch  besonders  hinzuweisen: 
insbesondere  haben  die  Lippssohen  Anschauungen  mit  dem,  was  man  Volun- 
tarismuB  nennt,  nichts  zu  tbun  —  trotz  der  grossen  RolJe,  die  das  Streben 
in  ihnen  spielt  Aber  dieses  Streben  hat  mit  dem  WcNDTschen  Wollen  an 
sich  gar  nichts  gemein.  WmmTS  Wollen  in  LtPFsscbe  Terminologie  über- 
setzt heisst  Aktivität  im  Streben  und  diese  gilt  Ltpps  als  eine  ablut- 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


240  P>n>  Linke: 

We  Tbalsaohe.  Am  meisten  dfirfte  abar  wohl  der  Boheinbar  aelbatrer- 
stiudliohe  Satz,  daas  jades  Ziel  eine«  WolleiiB  voriier  ungewollt  erlebt  snn 
mü8M,  vom  Gegner  mit  Recht  angefochten  werden. 

Im  übrigen  hat  die  Arbeit  die  bekannten  Vonäge  IiFPiacheT  Stduwb- 
weise;  Kfirze,  Prignanz,  Elariieit  der  Sprache;  grossen  RMohtam  in  den 
AnednickBmitteln:  L.  venteht  es,  an«  mm  wirklichen  Erieben  dea  be- 
twhriebenen  Thatboetandea  in  iwjngen,  et  giebt  veränderte  nnd  matmigfaidi 
«bgestofte  Bedingangen  an  nnd  nötigt  uns,  du  eigene  Erieben  sodann  xa  be- 
fragen, wie  ee  sich  den  Denen  Bedingengen  gegenüber  verhllt  —  er  pebt 
«in  pejohologisohes  Experiment  auoh  ohne  Apparate. 

Leipsiig.  PitTL  Ijske. 

Selbstanzeige. 

Xudwlg  Bubb«,    Oeist    und    Kßrper,    Seele   und    Leib. 

Leipzig  1903,  Dürrsche  Buchhandlung.     8».     Xu.  488  S. 

8,50  Mk. 

Das  Bach  hat  sich  die  Aafgabe  gestellt  die  neaardings  so  vieUach 
erörterte  Frage  über  das  Verhältnis  des  Psychischen  jtom  PhyaisoheD  in 
nmfassender,  mögliohst  alte  dabei  in  Batracht  kommenden  Qeeiohtspnnkte 
beräoksichtigender  Weise  zn  behaedelD.  Ee  lerfUlt  in  drei  Eanptabeohnitte. 
Der  erste  giebt  eine  Charakteristik  nnd  Widerlegnng  des  MateiialismnB, 
dessen  verschiedene  Typen  scharf  nnteisohieden  werden.  Der  aweite, 
qmfangrmohfite  leii  erörtert  die  Streitfrage :  Psychopbjeisoher  Paralle- 
liemuB  oder  psychophysisohe  Weehselwirtnog?  Die Tereohiedenen 
Formnltemngen  des  parallelistischeD  Gedankens  werden  dargelegt,  die 
-echten  von  den  unechten  unter-  and  die  letzteren  aosgeeofaieden.  Sodann 
werden  die  Schwiengkeiten,  welohe  den  Parallelismns  nnmöglioh  ersoheioen 
lassen,  eingehend  erörtert:  die  ünznläoglicbkeiten  der  metaphysischen  Be- 
gründung, das  Künstliche  und  Gezwungne  des  ganzen  Standpunktes,  die 
Unmöglichkeit,  allee  Psychische  in  physischer  Form  wiedenngeben,  andlioh 
die  Eonuequenzen,  zn  welchen  die  Theorie  sowohl  in  physischer  (Antomateo- 
theorie)  als  in  paychisoher  Hinsieht  (Hechanisiemng  dea  gesamten  psychiscdien 
Lebens  nnd  Zerstörung  des  Wesens  des  logisehen  Denkens)  führt  Bodano 
Yersnoht  der  Verf.  zn  leigen,  dsss  die  von  ihm  Toi^^ezogene  Weehed* 
Wirkungslehre  durch  das  Prinzip  der  Qeechloesenbeit  der  NatarkMutBOt, 
welohes  lediglich  eine  petitio  principii  darstellt,  nicht  unmöglioh  gwnacht 
wird,  mit  dem  Prinzip  der  Erhaltung  der  Buergie  (dasselbe  als  Aeqninlau- 
prinzip  gefasst)  aber  sehr  wohl  vereinbar  ist.  —  Der  dritte  (Sohloss-) 
Teil  endlich  giebt  eine  kurze  Skizze  des  metaphysischen  Weltbildes,  wie  es 
sich  nach  ide^istisch-spiritualis tischen  Prinzipien  bei  gleichzeitigem  Fest- 
halten an  dem  Prinzip  psychophysisoher  Wechsel wirkong  geetaltet. 


k  vDD  Hu  Scbmenoir  rorin.  Ziüm  k  Bändel.  Klrehb^B  N.^ 


n,g,t,7i.-JM,'COO<^IC 


mit ftiHtif  t  i>#itt  tia  ttttiktß  I 

Abhandlungen. 


Teratehen  und  Begnifea. 

Eine  ps;chologische  Untersuchung 
von  Hermuiii  Swobote,  Vi«D. 

n. 


Inhalt. 

I .  ElnlaltiuiK.  —  a.  AJlcnnsbie  Badlngnncni  dn  Ventaheu.  „Dls  pijclilKhe  SHuttoB". 
r^  S-  IHa  BadlDgiuigfln  dm  Ventaheni  Im  duelnai.  Braelctinimff  und  Aiudmek.  —  4.  GfigAD- 
fBuid  dv  DmJiliiiiiiiB,  -  -  1.  a«|cuBiid  und  Prinilp  du  Aiudnck«.  —  I.  Du  VenMiea 

TlinlnrfbenllieoriB,  —  fl.  IH«  Ond«  du  VanMbnu  and  du  BtfnUeo. 

T.  Cf^nututd  nai  Filnzlp  des  IntdraokeB. 

~Wir  baben  in  Kap.  3  alle  menschlichen  Äusserungen 
in  Bezeichnungen  und  Ausdruck  eingeteilt  und  gefunden, 
da98  erstere  dem  wenig  aufregenden  Vorstellungsleben  eignen 
und  MittäUungszweckeu  dienen,  während  letzterer  dem  sub- 
jektiven BedUrfois  der  Befreiung  vom  QeftlhlsUbermass  dient. 
Dieses  Übermass  ist  natürlich  ganz  individuell;  je  feiner 
organisiert  ein  Mensch  ist,  desto  eher  wird  er  sich  2um 
Ausdrucke  gedrängt  flihlen.  —  Ob  es  aber  überhaupt  zu 
einem  Ausdrucke  kommt  und  wie,  darüber  folgendes. 

Unter  Ausdruck,  wurde  früher  ausgeführt,  ist  im  all- 
gemeinen eine  sekundäre  Erregung  zu  YCretehen;  von 
diesen  !Eh-regungen  ist  eine  AnzaM  konventioneU  geworden, 
d.  h.  es  ist  das  initergriffene  Erregungsgebiet  und  die  Art 
der  Erregung  von  Individium  zu  Individium  nicht  verschieden. 
Von  dieser  Art  sind  die  Oeberden.    Sie  nähern  Sich  schon 

TkiM)]ahndirUI  t  wtecnMluiM.  PbfliM.  o.  BodoL    ZZTIL    3.  16 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


342  Herraann  Bwoboda; 

vermSge  ihrer  fixen  Yerbindimg  mit  bestimmten  GeßUil«! 
den  Bezeichnungen,  sind  aber  von  dieBen  doch  noch  dadurch 
getrennt,  dass  sie  jedesmal,  so  oft  sie  verwendet  werden, 
neu  entstehen,  wtlhrend  bei  den  reinen  Bezeichnungen 
der  Gebrauch  nur  auf  Assoziationen  mit  den  zugehörigen 
Vorstellungen  zurUckzuflihren  ist,  Assoziationen,  die  giuiz 
unabhängig  von  dem  erstmaligen  VerknUpfungsgrunde  wirk- 
sam sind. 

Die  Auedrucksbewegungen  sind,  wie  schon  der  Name 
sagt,  sekun(^re  Erregungen  in  motorischen  Zentren.  Nun 
kdnnen  aber  solche  Miterregungen  offenbar  auch  in  irgend 
welchen  anderen  Teilen  des  Nervensystems  auftreten,  da  ja 
in  demselben  bekanntlich  alles  mit  allem  zusammenbängt, 
etwa  im  Musikzentrum.  Namentlich  feinere  Geitlhle  werden 
solcherart  durch  eine  vorläufig  ganz  auf  das  Innere  des 
Menschen  beschränkte  Ausstrahlung  zum  Abschwellen  ge* 
langen.  Auf  welchem  Gebiet  die  Miterregung  stattfinden 
wird,  ist  sehr  naheüegend:  wo  wir  geübt  sind,  wo  wir  in- 
folge Veranlagung  innere  potentielle  Energie  aufgespeichert 
haben,  also  beim  Maler  die  Farben-  oder  Gestaltenphantasie, 
beim  Tondichter  die  Klang-  oder  Formenphantasie  u.  s.  w. '). 

AoBdraok  ist  keineawega  auf  Kniutwerke  besohrftnlti  allein  da  dis 
EtuBtler  entenG  starker  primllrer  Erregniigan  fiUüg  Bind  and  zweitens  täo 
ansgeEaiohnetoB  Gebiet  Mr  Hiterregungen  haben,  so  Iftsst  äoh  an  densalben 
daa  Wesen  des  Ausdrackes  am  leiohteBten  erkennen.  Jeder  Kflnstlar  ist 
dadurch  bemerkenBirert,  dass  er  irgend  ein  weit  ober  den  Dnrohsohnttt 
entwickeltes  Specialsystem  hat  von  groBsem  FnuktionsbedürfDiB;  das  giebt 
die  spezifische  Pharvtaaie  jedes  EünsBers  nnd  den  eisten  ESotulaiigBgniDd 
lür  dieselben;  die  Einteilung  uaoh  den  „Aosdnioksmitteln"  Sprache,  TtSne  usw. 
verleitet  sehr,  jenes  ursprüngliohe  Uoment  zn  nbeisehen  .nnd  namenäioh 
anter  der  Bezeiohnnng  „Diohter"  EünstleT  von  den  reiBohiedensten  Fbaa- 
tasieanlatjen  zn  enbenmiereo. 

Mit  der  spezifischen  Phantasie  ist  jemand  nur  KUnsÜer 
für  sich.  Für  andere  wird  er  es  erst  dadurch,  dass  er  die 
Produkte  seiner  Phantasie  objektiviert  Beherrschung  der 
„Ausdrucksmittel"  rechnet  man  ebenfalls  zu  den  Erforder- 


Ton  Nerruikraft  sohlBft  offenbar  die  gewoEnheitamissigea  Wege  ein." 
(Steideb,  AbhaadloDg  über  die  Physiologie  des  lAohens),  was  bmm  Kfiiutlar 
soviel  heisst,  als  der  Übeisobass  erregt  sone  spsii&ohe  Phantasie. 


iM,Coo<^le 


TeiBtehen  und  BegreUeo.  243 

nissen  des  Künstlers.  Ich  setze  das  ganz  gebi^uchliche 
Wort  „Ausdrucksmittel"  unter  Anführungszeichen,  weil  wir 
es  da  mit  Ausdruck  im  vorhin  entwickelten  Sinne  gar  nicht 
zu  thun  haben.  Auch  muss  noch  obendrein  zwischen  den 
einzelnen  Künsten  wohl  unterschieden  werden.  Die  dar- 
stellenden Künste  stellen  das  Phantasieprodukt  gleichsam 
aus  dem  inneren  heraus,  womSgUch  nur  mit  den  Modifi- 
kationen, welche  das  Konzept  am  Material  erleidet;  hier 
geoiesst  man  das  Kunstwerk  unmittelbar.  Die  darstellenden 
Künste  erfordern  eine  Technik.  Anders  bei  den  redenden. 
Die  Objektivierung  derselben  gewährt  nur  teilweise  einen 
unmittelbaren  Q-enuss:  den  am  Klang  und  Formelementen 
der  Eede.  Im  übrigen  ist  die  Bede  nur  eine  Anleitung, 
jene  Gestalten,  Handlungen  U.8.W.  in  der  Phantasie  zusammen- 
zusetzen, welche  das  künstlerische  Konzept  ausmachen.  Und 
insofern  ist  die  Hede  zum  grCsaten  Teil  Bezeichnung.  Die 
Mitteilungskraft,  die  ihr  der  Künstler  zu  geben  versteht,  ist 
ein  gfmz  besonderes  Können,  desgleichen  die  Handhabung 
der  Sprache  als  Kunst,  was  zahlreiche  Kombinationen  und 
Individualitäten  ermöglicht. 

Die  Objektivierung  der  Tonphantasie  ist  ähnlich  der 
in  den  redenden  Künsten;  nur  ist  es  eben  nicht  jedermanns 
Sache,  aus  einem  Notenblatt  Musik  zu  hören,  weshalb  eine 
oder  bei  Orchesterwerken  eine  grosse  Zahl  von  interpretieren- 
den Mittelspersonen  notwendig  ist.  Von  einer  Technik  als 
etwas,  was  nicht  schon  mit  dem  Fhantasieprodukt  gegeben 
wäre,  wie  in  der  Malerei,  ist  in  der  Tonkunst  nicht  die  Rede. 

Nim  kommt  aber  zu  den  bisherigen  Bestimmungs- 
momenten  des  Künstlers,  der  spezifischen  Phantasie  und 
seinem  Darstellungsvermögen  noch  eines  hinzu.  Wir  ver- 
langen vom  Künstler  Individualität,  wir  wollen  ihn  in  seinen 
Werken,  „er  soll  etwas  zu  sagen  haben",  oder  wie  immer 
man  diese  Forderung  formuliert  hört  Was  heisst  nun  dasP 
Das  beste  Beispiel  bietet  die  Musik.  Es  giebt  musikalische 
Naturen  (Mozabt,  DvoftAi),  deren  Phantasie  sich  in  reinen 
Fonnkombinationen  nach  den  Gesetzen  des. Wohllautes  zu 

16* 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


844  Harmann  SwabvdB: 

ergehen  scheint  und  ajidere  {Beethoven,  Wagner),  deren 
Konzeptionen  immer  von  der  Q^fUhls-  oder  Verstandessphäre 
beeinflusst  sind,  in  denen  etwas  drinnen  liegt,  was  durch  die 
musikalischen  Elemente  nicht  mitgegeben  ist  und  doch  aus 
diesen  spricht.  Und  so  gieht  ea  auch  Haler,  welche  nur 
in  Farben  und  Linien  schwelgen  und  andere,  die  man  aus 
jedem  Bilde  klagen  oder  jubeln  hOrt  Erinnern  wir  uns  nun 
an  das  über  die  sekundäre  Erregung  Gesaf^.  Es  ist  bei 
der  allgemein  erhöhten  Empfänglichkeit  der  KQnstJematur 
ganz  selbstverständlich,  dass  sich  alle  Erregungen  auf  dem 
Gebiete  der  Lieblingsbethätigung  äussern  werden;  die  Er- 
regung fliesst  nur  im  ausgewaschensten  Bett  ab.  Auf  diese 
Weise  wird  aber  die  spezifische  Phantasie  beeinflusst. 
Ohne  einen  eigenen  Ausdruckswillen  wird  die  sekundfire 
ihregung  die  spezillscbe  Phantasie  doch  modifizieren.  Allein, 
wenn  auch  kein  Ausdruckswille  da  ist,  so  kann  doch  ein 
starkes  AusdrucksbedUrfnis  da  sein,  d.  h.  Bedtlrfhia  nach 
Verteilung  der  Erregung  und  damit  verbundene  Abschwächung 
derselben.  Und  das  AusdrucksbedUrfnis,  in  seiner  besonderen 
Art  und  besonderen  Stärke,  wird  die  ganee  Person  des 
Künstlers  charakterisieren. 

Dieses  dritte  Erfordernis  in  seinen  vielfachen  Mischungs- 
verhältnissen mit  dem  ersten,  giebt  wieder  eine  Beihe 
Künstlerindividualitäten.  Bei  denen  mit  lebhafter  spezifischer 
Phantasie  tritt  das  AusdrucksbedUrfiiis  häufig  ganz  in  den 
Hintergrund;  das  sind  die  heiteren  „olympischen"  Naturen, 
mit  der  Lust  am  Fabulieren.  Bei  den  titanischen  Natoion 
steht  die  spezifische  Phantasie  ganz  im  Dienste  des  Aus- 
druckes, sie  wird  zum  Spiegel  des  reichen  Innenlebens,  ihr 
Funktionieren  ist  nicht  mehr  Selbstzweck.  Schlieselich  kann 
die  spezifische  Pbuitasie  im  Verhältnis  zum  Ausdm«^- 
bedürfnis  sehr  kümmerlich  sein,  so  dass  sie  überhaupt  nur 
auf  „Anregungen"  thätig  ist,  dass  sie  iofolgedessra  ganz 
in  Abhängigkeit  gerät  und  ihre  eigentümlichen  Gesetze  ver- 
nachlässigt: ein  in  der  neueren  Entwickelung  auf  allen  Ge- 
bieten sehr  häufiger  KUnstlertypiu.    Beim  echten  Künstler 

n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


VeTBtsbtn  niid  BegreiletL  245 

fliesst  das  GefUbl,  das  ihn  gerade  beseelt  oder  zum  Schaffen 
drängt,  nur  ins  Konzept  ein,  es  giebt  der  spezifisclien  Phan- 
tasie nur  eine  gewisse  Richtung,  ohne  die  Selbsttbätigkeit 
deraelben  aufzubeben,  es  liefert  für  das  sctüiessliche  Besultat 
eine  scbv&ohere  Komponente.  Die  Künstler  von  Gnaden 
der  Leidenschaft  hingegen  entbehren  der  spontanen  Phantasie; 
der  Hochdruck  des  Gefühls  macht  sie  nur  geschickt  in  der 
Verwendung  ihrer  geringen  Anlagen,  ihre  Gleniahtät  besteht 
nur  in  der  Art  wie  sie  sich  im  Leben  behaupten;  sie  brauchen 
daher  schwierige  Verhältnisse,  um  etwas  zu  sein,  suchen 
»uch  wohl  solche  Verbältnisse  geflissentlich;  sie  brauchen 
einen  Lenz,  der  für  sie  singt.  LebenskUnstler  sollte  man 
diese  Art  von  Künstlern  eher  nennen.  Ihre  Kunst  ist  ihnen 
ein  Mittet  zur  Selbsterhaltung.  Jeder  Mensch  hat  eine 
Zeit  erhöhter  Empfänglichkeit  und  dräuender  Gefühle;  da 
wird  auch  jeder  zum  Künstler. 

Ausdruck,  können  wir  nunmehr  definieren,  ist  die  cha- 
rakteristische Modifikation  eines  Vorstellungsge- 
gebietes  durch  sekundäre  Erregungen.  Die  primären 
Erregungen  sind  Gefühle.  Gefühle  sind  der  Gegenstand  des 
Ausdruckes.  Unter  diesen  Gefühlen  wird  man  aber  nicht 
nur  solche  zu  verstehen  haben  wie  Sehnsucht,  lebhafte 
Freude,  die  zum  Ausdruck  drängen,  sondern  auch  Gemeiu- 
gofllhle,  alles  was  das  Bouquet  einer  Persönlichkeit  ausmacht, 
was  bei  ihrem  Schaffen  wirksam  ist,  ohne  zum  Bewusstsein 
zu  kommen.  Die  Frage  ist  nur  die,  wie  diese  Gefühle  ihren 
Einfluss  geltend  machen  und  insbesondere,  inwieweit  sie  die 
spezifische  Phantasie  eindeutig  bestimmen.  Dies  soll  an 
dem  Beispiel  der  Musik  erörtert  werden,  —  le  langage 
^motjonnel  nennt  sie  Ribot  —  welches  einmal  sehr  aktuell 
ist,  dann  aber  auch  die  Gegensätze  zwischen  ireier  und 
dienstbarer  Phantasie  am  schärfsten  aufweist. 

Man  hat  der  Musik  das  Kecht  abgesprochen,  etwas 
auszudrücken,  einen  Inhalt  zu  haben;  ihr  ganzer  Inhalt 
soll  in  ihrer  Form  bestehen').    Und  sie  solle  das  Ausdrücken 


iM,Coo<^lc 


246  HarmaDD  Bwoboda: 

bleiben  lassen,  weil  sie  dazu  ungeeigoet  sei.  Ganz  im  Gegen- 
satz zu  dieser  Forderung  gewiegter  Theoretiker  stehen 
einerseits  die  Zeugnisse  sctu^ender  Künstler,  welche  sich' 
„jedes  Leid  von  der  Seele"  sangen,  andererseits  so  vieler 
Geniessender,  denen  die  Musik  alles  Unaussprechliche  sagt, 
das  Höchste,  wovor  die  Kraft  der  Sprache  erlahmt,  denen 
Musik  die  Sprache  der  Engel  ist,  eme  Offenbarung  ohne 
gleichen.  Prüfen  wir  nun  diese  drei  Standpunkte,  gebühi^ 
licherweise  zuerst  den  des  Künstlers.  Das  subjektive  Ge- 
fühl, sich  von  etwas  befi^it  zu  haben,  kann  ihm  niemand 
bestreiten.  Desgleichen  kann  man  niemand  das  Vergnügen 
ausreden  wollen,  aus  der  Musik  das  heraus  zu  hören,  was 
in  sie  hineingelegt  ist,  sich  durch  die  Musik  die  Bedrängnisse 
der  KUnatlerseele  mitteilen  zu  lassen  und  gleichzeitig  die 
Erlösung  von  denselben  zu  geniessen.  Der  Kritiker  erhält 
erst  das  Wort,  wenn  der  Komponist  etwas  ausdrucken  will 
und  verlangt,  dass  man  sein  Produkt  in  gewissem  Sinne 
auslege,  verstehe,  und  wenn  der  begeisterte  Zuhörer  aus 
dem  subjektiven  Gefühl  seiner  Befriedigung  heraus  Kunst- 
normen  aufzustellen  beginnt  Die  obige  kritische  These  ist 
auch  nur  per  oppositionem  entstanden;  zum  mindesten  er- 
klärt  sich  so  ihre  Überspannung. 

Das  Gefühl  des  Künstlers  ist  für  die  Ausdrucksfähig- 
keit der  Musik  kein  Beweis;  allein  auch  ihre  Eindrucks- 
föhigkeit  ist  noch  keiner.  Der  Kllnstler  ist  in  einer  leicht 
begreiflichen  Täuschung  befangen;  er  unterschätzt  den  innigen 
Zusammenhang  seines  Werkes  mit  seiner  ganzen  Individu- 
alität und  schreibt  den  Dienst,  welchen  es  ihm  geleistet  hat, 
dessen  objektiver  Qualität  zu.  Die  Befriedigung,  welche 
das  Schaffen  gewährt,  ist  beim  Dilettanten  nicht  geringer 
wie  beim  gottbegnadeten  Künstler.  Dilettanten  findet  mim 
ganz  bestürzt  über  die  Wirkungslosigkeit  eines  Liedes,  in 
welches  sie  ihr  ganzes  Selbst  hineingelegt  haben.  Die  Ein- 
drucksfShigkeit  der  Musik  ist  kein  Beweis  für  ihre  Ausdrucks- 
fähigkeit, weil  der  Eindruck  offenbar  von  einer  Eeihe  von 
Umständen  abhängt,  deren  HerbeiMunng  nicht  in  der  Macht 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


T«n(«hen  nnd  Begrrifan.  247 

der  Musik  liegt.  Der  Eindruck  lässt  sich  mit  einem  Wort 
nicht  erzwingen,  es  gehört  guter  Wille  dazu.  Und  wenn  der 
Eindruck  BcÜiesslich  da  ist,  so  ist  er  oft  ganz  TerscMedeo. 
Sehen  wir  daher  von  den  Aussagen  des  Künstlers  und  des 
Hörers  einstweilen  ab  und  suchen  wir  das  Thatsächliche  an 
den  zugrundeliegenden  Verhältnissen  zu  ermitteln.  Zuvor 
jedoch  sei  ein  sehr  häufiges  Missverständnls  beseitigt,  welches 
durch  die  Zwitterbedeutung  des  Wortes  „ausdrücken"  ver- 
schuldet ist.  „Ausdrücken"  wird  vielfach  in  der  Bedeutung 
von  „Bezeichnen"  verwendet;  so  spricht  man  von  einem 
„guten  Ausdruck"  von  „Ausdrucksmitteln"  nnd  meint  damit 
das,  was  wir  früher  als  „Bßzeichnung"  eingeführt  und 
gegen  „Ausdruck"  scharf  abgegrenzt  haben').  Als  nun  die 
Musik  sich  vermasB,  die  Deutlichkeit  einer  Bezeichnung  zu 
erlangen,  womit  sie  allerdings  ihre  Grenzen  verkannte,  ver- 
wehrte man  ihr  nicht  das  Bezeichnen,  sondern  das  Aus- 
drücken. Man  warf  Bezeichnen  und  Ausdrücken  zusammen, 
und  weil  sie  nichts  bezeichnen  kSnne,  so  könne  sie  auch 
nichts  ausdrücken.  Weil  sie  nicht  imstande  sei,  in  mir  die 
Vorstellung  eines  Schwertes,  eines  Wurmes,  eines  Ringes 
mit  der  Sicherheit  einer  Wortbezeichnung  zu  erwecken,  so 
sei  sie  auch  ohnmächtig,  eine  Gemütsbewegung  mitzuteilen. 
Nimmt  man  noch  hinzu,  dass  es  Musik  und  gute  Musik  giebt, 
die  gar  nichts  ausdrückt,  die  reines  Spiel  der  Phantasie  ist, 
so  hat  man  alles,  was  zum  Verständnis  obiger  Theorie  oder 
viehnehr  ihrer  Vertreter  notwendig  ist. 

Lassen  wir  es  nun  vorderhand  dahingestellt,  ob  Musik 
nicht  doch  auch  bezeichnen  könne  und  sehen  wir,  wie  es  mit 
ihrer  Ausdrucksfähigkeit  steht,  worunter  wir  gar  nichts  be- 

')  (Hubio  is  «n  expreasiou  ot  emotioD,  speeoli  the  expresnon  o( 
thon^t-  Willasohek,  On  the  ondn  of  mosio.  Hind  XVI  B.  383.  DebriKens 
anoh  WvNDT,  Fhysiol.  FByob.,  II  S-  599:  „Erst  die  höhere  fintwiabemng 
dee  Bewosstseins,  welche  der  HeiiEoh  erreicht,  m&oht  zum  Anadmok 
Duumigfaoher  Toretellangen  und  Begriffe  ßhig".  .A.nBdraok*'  ist 
zwar  bei  Wdnim  k^n  terminns,  aber  immerhin  eine  bedenkliche  BqniTo  oatio. 
Eb  wire  zweckmässig,  Ansdmok  uuä  BexeiohnuDg  anter  dem  BagriS  der 
Ajnssemng  ra  veieiiugan,  wie  es  ja  Wcnst  einiga  Zeilen  später  thnt, 
innarbalb  deeselbeu  jedoch  streng  za  natersoheideii. 


iM,Coo<^lc 


848  Hfrmann  8w«bo4it: 

greifen,  als  dass  sie  durch  G-efUhle  stark  uiid  bestimmt  be- 
eiafluast  werde.  Kann  sie  füberbaupt  beeinflusst  werden, 
dann  drückt  sie  auf  jeden  Fall  etwas  aus,  ob  man  mit  ihr 
etwas  ausdrücken  will  oder  nicht;  die  ausdruckslose  Musik 
drückt  einfach  aus,  dass  ihr  Schöpfer  nichts  auszudrücken 
hat,  also  sich  im  Zustande  ruhiger,  glelchmässiger  G-lilck- 
BeHgkelt  befindet,  mid  sie  macht  auch  diesen  „Eindruck".  Es 
ist  früher  bemerkt  worden,  Erregungen  modifizieren 
die  Thätigkeit  der  spezifischen  Phantasie;  in  jenen  Eüllen 
aber,  wo  die  Erregungskomponente  gross  Ist,  wo  es  zu 
einem  beabsichtigten  Ausdrücken  kommt,  da  wird  man 
eher  sagen  können,  die  primSre  Erregung  hat  sich  den 
Verhältnissen  des  sekundären  Erregungsgebietes  angepasst, 
sie  hat  Ihre  Formen  mit  anderem  Inhalt  erftUlt.  Dies 
scheint  der  springende  Punkt  zu  sein;  Die  charakte- 
ristischen Formelemente  des  Gefühls  werden  auf  ein 
bestimmtes  Vorstellungsgebiet  übertragen.  G-ehen 
wir  dem  Sachverhalt  an  der  Hand  eines  Beispieles  nach. 
Der  Tondichter  will  ein  Stück  komponieren,  dessen  Inhalt 
Liebesleid  und  LiebesluBt  ist.  In  einem  Vorspiel  dazu  soll 
die  ganze  G«fühlsskala  der  Liebenden,  namentlich  das  Sehnen 
zum  Ausdruck  kommen.  Nun  ist  Sehnsucht  nichts  sozusagen 
I^mktuelles;  es  ist  ein  Komplex  von  zeitlicher  Ausdehnmig, 
durch  eine  Reihe  von  Forraelementen  charakterisiert:  durch 
die  periodische  Wiederkehr  des  Bildes  der  Geliebten,  durch 
das  angestrengte  Sich  —  ausstrecken  nach  der  Entfernten, 
das  gewaltsam  gesteigerte  vergebliche  Hinlangen,  Yer- 
zweiflungskrisen  mit  jähem  Schwinden  alles  BewusstseinS' 
Inhaltes,  tiefer  Niedergeschlagenheit,  wieder  aufkeimendem 
Verlangen  u.  s.  w.  Man  könnte  danach  eine  Kurve  der 
Sehnsucht  konstruieren,  erst  langsam,  dann  jäh  ansteigend 
und  sofort  jäh  abfallend;  doch  diene  dies  alles  nur  dazu,  um 
festzustellen,  dass  der  Verlauf  des  Komplexes  „Sehnsucht" 
charakteristische  Formelemente  enthält  und  da  nun  die 
Musik  „nichts  als  Form  ist",  so  fällt  es  ihr  nicht  schwer, 
dieselbe  aufzunehmen.    So  erhalten  wir  langgezogene,  aU- 


iM,Coo<^lc 


249 

miOtiich  aufsteigende  Themen  der  Streicher,  Äüschweliea  und 
Abschwelien  der  Orchestennassen,  jäh  emporeausende  Violin- 
passagen, jähes  Herabstürzen  und  Verklingen  zum  Pianissimo 
u.  8.  w.').  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  diese  Gleichheit  der 
Formelemente  ins  Detail  zu  verfolgen,  soviel  scheint  sich 
jedoch  aus  dem  Vorhergehenden  schon  zu  ergeben,  dass  in 
ütr  das  Wesen  des  Ausdruckes  besteht*).  Der  Gleichheit 
geht  natürlich  eine  Gleichrichtung  vorher,  dies  ist  aber  nur 
eine  notwendige  Folge  der  gleichzeitigen  Thfttigkeit  zweier 
Partialsysteme,  deren  Natur  wie  die  des  gesamten  Nerven- 
systems die  Ökonomie  ist.  So  erklärt  -sich  auch  die  Er- 
leichterung, welche  der  Ausdruck  gewährt:  erst  die  Gleich- 
heit irgend  welcher  Formelemente  ermöglicht  das  Über- 
greifen einer  Erregung,  ihren  teilweisen  Ablauf  auf  zwei 
Gebieten  und  die  Abschwächung  ihrer  Intensität. 

lob  rersteha  3aher  niobt,  wie  man  beim  Ausdruck  voa  einer  Yer- 
■  tärkQBg  darcb  Empiadnogen  Anderer  Gebiete  iwlen  kann,  iris  ee  z.  B. 
WuNDT  that,  Phre.  Fayeb.  It  8.  603:  ,Du  Frioiip  der  A»ooiatii]ii  uiaioger 
EropfindaiiKen  (2.  Prinzip  dar  AuHdrucksbewegimgen)  Btätzt  siob  ftuf  die 
mehrfitoh  Darroi^ehobeue  Thatsaobe,  dasa  SlmpflnduDgen  von  fthnlioben 
OefäblatöneTt  leidit  siob  Terbinden  and  gegenseitig  Tere^ken;*  ferner 
B.  612  und  613,  wo  er  von  der  Eluiggeberde  Mgt,  sie  .biete  der  ftnsBeren 
TontellDiw  nne  doppelte  enbjektive  Vetstttrknng  dar".  Will  der. 
jonige,  welober  im  Zom  vom  Sitze  anfspriiigt  oder  Olässr  nod  Teller  zar- 
tr^BUDBit,  Minen  Zorn  Teratirketi?  Oder  wenn  jemand  Tor  Freude  zu 
ni^en  und  jubeln  beginnt,  will  er  seine  Freude  eibölien?  Ja,  sie  wird 
erhötit,  indem  man  siob  durob  ibre  Aensserung  von  der  tTnlust  be&eit, 
welcba  die  Sbermissige  Spannung  mit  sieb  bringt.  Das  plus  stammt  also 
aoa  einer  Tarmiaderung  von  Uolnst;  es  ist  kein  positiver  Zuwaoba. 
Warum  können  siob  wilde  Völker,  die  noob  voll  ungezügelter  Erregung 
siwl,  im  Ausdruck  niobt  genug  thun,  so  dass  sie  gloiobzeitig  singen,  tanzen, 


*)  Das  Elangelement  kommt  für  den  Auedmok  in  unserem  Sinne 
tm  wenigsten  in  Betrtuht  —  inne  Wirkung  beruht  zum  grösseren  T«l 
auf  den  Anali^eu  der  EmpfinduDg  — ,  weit  mebt  die  Rythmik  im  weiteren 
Sinn  und  die  Djnamik.  Orosse  Unklarheit  hierüber  bei  Wünot.  Ygl.  Phys. 
P^  a.&13:  .Wie  in  der  Musik  der  Klang  benütat  wird,  um  das  Wecbseln 
und  Wogen  der  Beföhle  zu  sobildem,  so  wird  er  in  dem  Sprachlaat  zum 
Symbol  dar  VoiBtallnng*.  In  dieser  Form  ist  die  Parallele  gane  nnyeisttnd- 
liöb.  Doch  iKitt  sie  das  im  Text  Ausgefübrte  durohblicken :  Gefühle  und 
Torstellangen  mit  bestimmten  Formelementen  können  diese  durch  die  ent- 
spreehenden  Ilaanita  der  Hoeiti  oder  Sprache  snsdrüoken. 


iM,Coo<^lc 


250  Harmann  Bwoboda; 

Durah  die  ünlaet  des  Nichanssernbönnens  vird  dio  Treado  oft 
g&ns  pualyueit,  wie  umgekelirt  ein  Leiden  daroh  die  Wonne  einer  ge- 
hSrigen  EntUdang  fOi  den  Aogenbliok  gani  rerdrängt  werden  kun.  Huit 
Stout  ukch  der  Szene  mit  E^atbetbl  Diese  Wonne  verleitet  aooh  wohl 
(degentlioh  zu  einer  abüohtliohen  Teriingerang  des  BnlJadnnp  proaocfliH 
xmi  Featbaltnng  der  eiregenden  VorateUongen ;  so  , redet  min  ddi  in  deo 
Zorn  hinein."  Dsza  ttigt  übrigens  auol)  der  Umatud  bd,  daas  die  Tor- 
etelliingen  wtthreod  der  Aeussenmg  klarer  werden,  dass  endlieh  (Ue  «ne- 

filösten  Bewegungen  wieder  anderweitige  VeiSndenin^  herbeiffilmn,  der 
irkolatioii,  Bespiration  n.  s.  w.  Es  erhellt  also  ans  diesem  Beispiel  kemta- 
wegs,  daes  der  Ansdmok  eine  Teistärkong  der  ßefähle  nnd  Affekte  mit 
Biöh  bringt  Warom  werden  ferner  not  La9tgeftUile  veretkrkt,  ünlost- 
gefdhle  herabgemindert?  Ein  deotUoher  Beweis,  dass  Aasdraoksbewegnngen 
nnd  Ausdruck  im  allgemeinen  eine  selbständige  Quelle  Ton  lÄst 
sind,  oder  Ton  Unlust  bei  Behinderung  am  Anedmok. 

Je  Stärker  die  Erregung,  je  anhaltender,  desto  grösser 
ihr  uniformierender  Eintluss.  Daher  das  Zeugnis  grosser 
Komponisten,  dass  sie  zur  Produktion  eines  beBtinunten 
Opus  nichts  nötig  hatten  als  eine  Stimmung,  ein  Geflihl 
klar  und  deutlich  festzuhalten,  wodurch  sich  die  Formimg 
der  musikalischen  Elemente  von  selbst  ergab.  Dieses  Zeugnis 
scheint  mir  am  meisten  für  das  dargelegte  Ausdrucksprinzip 
zu  sprechen.  Es  dürfte  ein  spezieller  Fall  von  „Bahnung" 
vorliegen. 

G-evisB  wird  man  oft  mit  Ähnlichkeitsassoziationen  sein 
Auslangen  finden,  allein  das  setzt  voraus,  dass  schon  eine 
ähnliche  Vorstellung  i.  e.  eine  Vorstellung  eines  anderen 
Sinnesgebietes  mit  identischen  Formelementen  vorhanden  ist, 
während  es  sich  in  raner  Reihe  von  Fällen  augenscheinlich 
um  ein  Ähnlichmachen  handelt.  Die  psychologische  For- 
mulierung  dieses  Prinzips  tSMt  allerdings  etwas  schwer,  da 
wir  es  nur  mit  dem  Produkt  des  „Anähnelns"  zu  thua  haben, 
was  zur  Annahme  einer  successiven  Assoziation  leicht  ver- 
leitet Der  Prozess,  der  dazu  führt,  ist  ein  rein  physiologischer, 
den  man  sich  höchstens  mehr  oder  minder  zutreffend  ver- 
sinnlichen  kann. 

Wir  werden  nicht  fehlgehen,  wenn  wir  nunmehr  der  auf 
einem  ganz  bestimmten  Eunstgebiet  gewonnenen  Definition 
des  Ausdruckes  eine  allgemeine  Formulierung  geben  und 
sagen:  Ausdruck  ist  der  durch  die  gleichzeitige  Er- 


iM,Coo<^lc 


VerttBhen  nnd  BegrtiftD.  261 

reguDg  zweier  Nervengebiete  infolge  des  durch- 
gängigea  ZusammenhangeB  des  Nervensystems  und 
dessen  ökonomischer  Natur  bewirkte  ani- 
formierende  Einfluss  auf  das  beweglichere  der  be- 
treffenden Gebiete.  Die  ausserordentliche  Beweglichkeit 
der  musikalischen  Phantasie  und  ihr  Formenreichtum  machen, 
dass  sich  das  Wesen  des  Ausdruckes  an  ihr  besonders  klar 
erkennen  lässt'). 

Nach  dieser  Definition  des  Ausdruckes  ist  nun  z.  B. 
auch  die  Grundlage  der  Graphologie  klar. 

Die  mimische  Kunst  besteht  in  nichts  anderem  als 
im  Übergreifen  einer  Erregung  auf  eine  Beihe  von  motorischen 
Zentren,  die  infolge  hoher  Entwickelung  und  Ausbildung 
zu  grosser  Empfindlichkeit  gelangt  sind.  Allein  auch  alles, 
was  mfm  gemeinschaftlich  als  „Einfluss"  bezeichnet  — -  wo- 


')  Bmoi  (£sni  bot  Timag.  creati.)  befasut  Bieb  ziemlioh  Biogehend 
mit  der  Jfrago  der  tnnsposttion  naturelle  qoi  s'opere  ohez  les  mosiateus, 
kmniut  abw  nur  m  dem  onbestiiDiutan  Besnltat;  uns  expreesion  exterieure 
üo  interieoTe,  an  eT^ement  qneloonqae,  möme  ans  idee  metuhyBiqna 
Bobineot  nne  metamorpboee  d'nDe  natnre  determinee  (S.  179).  Dagegen 
giebt  WiusBE  (PeyfAuAoffseta  Analyse  der  fisthetiaiiheD  EiDfühlnng,  Zeitsohr, 
f.  PBydi.  nnd  RiymoL  der  Binnesorg.,  XX7.  Heft  1  und  2,  3.  40ff.j  eine 
sehr  Entreffende  fiesohieibuug  das  Thatsichliohen  mit  Eilte  des  Begriffs 
der  Oeetaltqnalität  Dia  mostkaliBohen  Gebilde  nehmen  die  OeBtaltqniuilftt 
der  dannstellendan  Oeföhle  an,  waa  dadurch  mö^ich  ist,  daas  .die  Oe- 
Btaltqaalitaten  anch  bw  Tersahiedeabeit  der  Blemente  gleiob  sein  kännen". 
Eb  findet  ein  Transponieren  im  weiteren  Btnne  statt.  Natürlich  kenn  dies 
nnr  bei  jenen  Gefühlen  statthaben,  die  einen  Tielgliedrigen  Komplex  dar- 
stellenj  nicht  beim  blossen  „Gefühlston"  nach  LEmuNys  Beieichnong,  bei 
der  Stunmnng,  Diese  letzteren  kommen  daroli  die  Analogien  der  Einpfindnng 
zom  Anadmok;  wie  mir  indes  scheinen  will,  dnich  Farben  bwser  als 
durch  Töne. 

Hadbiqseb  a.  a.  0.,  S.  IST,  sprioht  von  der  .UebereinBtimmnng  der 
Tongebilde  mit  den  in  den  Anadracksapporaten  hermhenden  Bewegungen ". 
Er  betrachtet  also,  wie  besonden  ans  S.  141  erhellt,  als  das  anssoliliesslioli 
Formgebende  die  mit  «ner  Oemtitsbewegong  verbundenen  Organbewegnng«), 
Aenderongen  dar  Baspintion,  Zlrknlatian.  Hieimit  wflrde  die  Ansdnioks- 
fUiigk«t  der  Mnsik  auf  Affekte  eingesohr&nkt  HiatBacbe  ist,  dass  die 
AffiSte  inlbl^  der  dentUdiea  Organbewegnngen  die  Uebertragong  der- 
selben  auf  die  mosikalisoheQ  Elemente  sehr  erläcbtem. 

VnsiunK  (Gedanken  übet  Mnsik  bei  lieren  und  Menschen  in  den 
Anfs.  Qbw  Tererbnng.  Jena  1692.  B.  596j  spricht  aach  von  der  „vandei- 
baren  Feinheit,  mit  welcher  nnsere  Hnsik  die  ganse  lonlnter  mensohlioher 
Stimmungen  dJKstallt,  wie  eine  Zeiohnnng  Formen  darstellt".  Oestalt- 
qnalilfttl 


iM,Coo<^lc 


252  EsrmaBm  Swobod«: 

durch  das  Moment  der  Unifonmerung  treffend  hervorgehoben 
irlrd  ~-  ist  nichts  anderes  als  Ausdruck  im  obigen  Sinn; 
der  Unterschied  ist  nur  graduell.  Es  ist  ganz  gleichgUtig, 
ob  der  Einfluss  ein  äusserer  oder  innerer  ist;  das  Sdiritt- 
halten,  das  Takthalten  konunt  nur  auf  ein  {(konomischea 
Zusammensein  der  Empfindungen  verschiedener  Sinnesgebiete 
hinaus').  Alle  Nachahmung  hat  hierin  ihren  Grund,  soweit 
dabei  die  Uniformierung  in  Frage  kommt,  daher  auch  die  Ono- 
matopöie.  Die  Einflüsse,  denen  wir  bei  unserem  theoretischen 
und  praktischen.  Verhalten  ausgesetzt  sind,  sind  zahllos,  un< 
kontrollierbar.  Ich  habe  ge^den,  dass  das  Papierformat, 
dessen  ich  mich  beim  Schreiben  bediene,  einen  Eiufluss  auf 
meine  Satzbildung  ausübt;  desgleichen  der  Umstfuid,  ob  ich 
kuixent  schreibe  oder  stenographiere. 

Vorstellungen  werden  bezeichnet,  Gefühle  aus- 
gedrückt, habe  ich  früher  gesagt;  dies  erfordert  eine  teil- 
weise Berichtigung.  Da  nänülch  den  Vorstellungen  meuich- 
mal  sehr  charakteristische  Formelemente  eignen,  so  ist  es 
von  vornherein  klar,  dass  dieselben  einen  uniformierenden 
EinfluBs  werden  ausüben  können.  Die  Vorstellung  eines 
Wunnes  z.  B.  (Wunnmotiv).  AUeüi  dieser  Ausdruck  einer 
Vorstellung  ist  von  dem  des  Gefühls  doch  sehr  verschieden. 
Für  Künstler  und  Hörer  einmal  dadurch,  dass  mangels  einer 
starken  Erregung  die  Musik  des  Chtu-akters  einer  Befreierin 
entbehrt;  für  den  Httrer  aber  ausserdem  noch  dadurch,  dass 
ihr  Beneichnungswert  sehr  gering  ist.  Wie  vielen  Gegen- 
ständen kommt  das  nämliche  Formelement  zu!  Gegenständ- 
liche Vorstellungen  sind  durch  das,  was  die  Musik  aus- 
drücken kann,  nicht  eindeutig  genug  bestimmt;  das  Vor- 
stellungsgebiet  ist  zu  gross  und  unübersichtlich,  als  dass 
man  mit  der  richtigen  Vorstellung  leicht  reagieren  könnte. 
Allerdings  wird  von  Programmmusikem  vielfach  nur  verlangt, 
dass  man  Vorstellungen  ausgedrückt  finde,  nachdem  einem 
dieselben  durch  die  Schrift  betgebracht  worden  sind;  es  wird 

>)  Bin  udeiM  Beinpiel:  Dar  ZiuBmBMBbux  iwisohflii  Buktompc 
und  KörperllDge.    Tgl.  Lotzk,  Mikrokosmos,  II.  5.  253. 


iM,Coo<^lc 


VentohM  ODd  BdfTrifkD.  258 

Dur  an  das  VergleicbeTermCgen,  nicht  an  das  Beaktions- 
vermögen  appelliert. 

Unsere  GefUblaskala  ist  nicht  so  reich;  da  ist  es 
schon  eher  möglich,  dass  man  das  Gefllhl  unterlegt,  welches 
am  Konzept  mitformte.  Davon  wird  übrigens  erst  später 
die  Rede  sein,  wenn  es  sich  um  das  Verstehen  von  Aus- 
gedrücktem handelt.  Hier  sei  nur  ausdrücklich  darauf  hin- 
gewiesen, dass  es  fUr  die  Ausdrucksfähigkeit  der  Musik 
ganz  ^eichgiltig  ist,  ob  sie  Eindruck  macht.  M^i  bat  hier 
nicht  immer  genügend  geschieden;  man  bat  die  Musik  zu 
einseitig  vom  Standpunkt  des  Hörers  betracbt«L 

Es  ist  des  Öfteren  eine  mittelbare  Ausdruckbarkeit  von 
Vorstellungen  behauptet  worden.  So  soll  die  Vorstellung 
eines  blanken  Schwertes  dadurch  auszudrücken  sein,  dass 
man  das  freudige  Oeflihl  ausdrückt,  welches  durch  den  An- 
blick des  Schwertes  in  einem  kühnen  Jüngling  geweckt  wird. 
Die  Sicherheit  der  zutreffenden  Reaktion  wird  nun  auf  diese 
Weise  gewiss  nicht  erhöht.  Aber  ein  richtiges  Moment  wird 
durch  jene  Behauptung  hervorgehoben.  Blosse  Vorstellungen 
haben  wir  nicht;  besonders  die  bedeutungsvollen  Vorstellungen 
des  Künstlers  werden  stets  von  lebhaften  Gefühlen  begleitet 
sein  und  diese  werden,  wenn  er  es  auch  nicht  beabsichtigte, 
seia  Konzept  beeinflussen. 

Wenn  vom  Ausdrucksvermögen  der  Musik  die  Rede 
ist,  nennt  man  meist  in  erster  Linie  die  Analogien  der 
Empfindung;  auf  ihnen  „beruhe  die  MögUchkeit,  mit  Ttinen 
zu  mtüeu"  (Wdhdt).  Die  Sicherheit,  mit  der  die  „analogen 
Empfindungen"  einander  reproduzieren,  ist  in  der  That  sehr 
gross;  ein  geschickter  Instrumentator  kann  daraus  bedeutenden 
Nutzen  ziehen.  Infolge  der  mnigen  assoziativen  Verbindung 
iddiem  sie  sich  indes  schon  Bezeichnungen;  sie  sind  kon- 
ventionelle Ausdrucksmittel.  Da  diesen  Analogien  der 
^pflndungen  „fast  immer  eine  Beziehung  in  den  Verhält- 
lÜBsen  der  objektiven  Sinnesreize  zu  Grunde  liegt"  {Wuhdt) 
and  solche  BeziefauDgen  schlirasUch  luich  zwischen  den  Ton- 
konqilexen  und  den  Gefühlen  besteben,  deren  Ausdruck  jene 

n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


254  EermsiiD  Swobod»; 

sind,  so  entstellt  die  Frage,  ob  es  nicht  auch  hier  zu  einer 
assoziativen  Verbindung  und  zu  konventioneUem  Ausdruck 
kommen  könne. 

Die  Antwort  kann  nur  in  bejahendem  Sinne  ausfallen. 
Jeder,  der  durch  Musik  etwas  ausdrücken  will,  hat  zuvor 
schon  Musik  gehtJrt.  Wir  greifen  der  folgenden  Untersuchung 
bereita  etwas  vor,  wenn  wir  bemerken,  dass  sich  zuerst  an 
gehörte  Musik  und  deren  Vorstellung  GemiltszuBtände  mit 
gleichen  Formelementen  assoziieren,  also  etwa  an  bewegt« 
Rhythmen  G-emUtszustände  mit  erhöhter  Pulsfrequenz.  Die 
Folge  davon  wird  sein,  dass  jemandem,  der  freudige  G«fBhle 
durch  Musik  ausdrücken  will,  einige  Elemente  derselben 
durch  blosse  Assoziationen  zuiliessen  werden,  dass  also  nicht 
der  oben  geschilderte  Uniformierungsprozess  vor  sich  geht, 
sondern  das  bewShrte,  traditionelle  Resultat  desselben  einfach 
Ubemonunen  wird.  Allein  der  Vorrat  an  konTentionellen 
Ausdruckselementen  reicht  nur  für  die  gröbste  Charakt«ristik. 
Wollte  der  Ausdruck  für  individuelle  Feinheiten  konven- 
tionell werden,  dann  dürften  diese  Feinheiten  nicht  indi- 
viduell sein.  So  bleibt  neben  allem  konventionellen  Aus- 
druck noch  ein  weit  grösseres  Gebiet  für  den,  wie  maa  sagen 
könnte,  originellen  oder  freien  Ausdruck,  wo  thatsÄchhch 
noch  ein  Anpassen  von  Formelementen  stattfindet,  nicht  ein 
blosses  ßeproduzieren  assoziierter.  So  kann  die  Musik  zum 
Ausdrucke  von  NationaleigentUmlichkeit«n,  zum  Ausdruck 
des  Zeitgeistes,  individuellster  GefUhlserregungen  dienen, 
sie  kann  vermöge  des  oben  entwickelten  Ausdrucksprinzipes 
aus  der  Sphäre  des  Unbewussten  reichlich  beeinflusst  werden 
und  solcherart,  was  keinem  Smne  zugänglich  ist,  zu  G«hQr 
bringen:  Kein  Wunder,  wenn  man  sie  als  die  eigentliche 
Vermittlerin  zwischen  diesseits  und  jenseits  hingestellt,  wenn 
sie  in  der  Mystik  von  jeher  eine  grosse  Bolle  gespielt  hat 
Die  musikalische  Phantasie  als  feinstes  Beagens  auf  alle 
innerpolitischen  Angelegenheiten  des  Nervensystems,  steht 
in  der  That  mit  den  geheimnisvollsten  Tiefen  der  Menschen- 
Seele  in  Fühlung;  wenn  man  von  ihrer  metaphysischen  Natur 


iM,Coo<^lc 


Veratehen  and  Begreifen.  255 

spricht,  hat  man  nicht  ganz  Unrecht,  Sie  ist  ein  fanios 
unterrichtetes  Korrespondenzbureau,  dessen  Meldungen  aller- 
dings chiffiiert  ausgegeben  werden  und  daher  zu  sehr 
mannigfachen  Deutungen  Anlasa  geben. 

Alle  menschlichen  Äusserungen  sind  Bezeichnung  oder 
Ausdruck.  Wir  haben  als  besonders  geeignet  zum  Ausdruck 
die  Musik  erkannt.  Im  folgenden  soll  nun  die  Ausdrucks- 
fähigkeit der  Sprache  betrachtet  werden,  wieder  vorläufig 
ohne  BUcksicbt  auf  ihre  EindrucksfUhigkeit.  Es  wird  die 
Frage  sein  nach  jenen  Elementen  der  Sprache,  welche  zum 
Ausdrucke  in  Folge  ihrer  Beweglichkeit,  des  möglichen 
Formenwechsels  geeignet  sind.  Da  hat  nun  die  Lautsprache 
vor  dem  geschriebenen  Symbol  einen  grossen  Vorspnmg. 
Die  grosse  Modulationsßlhigkeit  der  Stimme  giebt  dem  ge- 
schickten Rezitator  mehr  Ausdrucksbehelfe  als  der  raffi- 
nierteste Instrumentator  mit  allen  Kombinationen  sich  an- 
eignen kann.  Vom  Oesang  bat  Übrigens  alle  Musik  sowie 
der  lautliche  Teil  der  Sprache  den  Ausgang  genonunen:  die 
gleiche  Abstammung  erklärt  die  gleiche  Ausdrucksf&higkeit»)- 
Wieder  wird  man  auch  bei  der  Sprache  unterscheiden  können 
zwischen  konventionellem  und  originellem  Ausdruck:  der 
erstere  durch  den  Verkehr  herausgebildet  und  fUr  generelle 
Anlässe,  der  zweite  von  den  Seltenen  für  Seltenes  geschaffen. 
Der  Unterschied  zwischen  dem  routinierten  Schauspieler  und 
dem  mit  persönlicher  Kotel 

Die  gesprochene  Sprache  hat  gegen  früher  an  Bedeutung 
sehr  verloren.    Die  Hörer  sind  viel  seltener  geworden  als 


')  Tel.  SmcER,  EssttTS  II,  S.  421;  All  Bpeeoh  is  aompoonded  of  two 
elementB,  tbe  words  and  the  tonee  in  wbioh  the;  are  nttered  —  the 
aigM  of  ideaa  and  the  Bigna  of  feeUaga  (Bezeiohniuig  und  Anadniok). 
^nüle  certuu  artioalatioDa  ezpreaa  the  thoaglit,  oartaiti  modnlatioiiB 
■xpress  the  more  or  lese  of  pain  or  pleaBare  wniah  the  thougbt  givse. 
Üaiiig  the  void  oadenoe  in  an  unnsnallf  extonded  badbo,  aa  oomprehendiug 
all  vaiUtJona  of  voice,  we  ina;  eajthat  oadence  ia  the  oommeiLtarf  of 
tbe  emotions  npon  the  ptopoeitiOD  of  thS  iDtellect."  Daa  aind 
Thotaachen,  an  denen  aioh  nichts  ändert,  wenn  man  auch  über  das  Tei- 
hUtnia  von  Hnaib  oud  Sprache  anderer  Ansohaanng  ist  wie  z.  B.  WnmiT, 
der  tine  „geBanj^hnliohe  Form  der  Bede*  als  Ansgangsponkt  der  Eot- 
iriekelnog   von  Ooeang  nnd  Bede   Bonimmt    (PhTs.  Psych.   II   8.  630). 


iM,Coo<^lc 


256  Earmaiin  Svobods: 

die  Leser;  die  Dichter  sind  voll  Rtickaicht  gegen  diese,  selbst 
in  BUbDenwerken.  Es  fragt  sich  mm,  welche  Ausdrucks- 
mittel  gewährt  der  tote  Buchstabe?  Oder  welchen  Einflüssen 
ist  die  Wortphantasie,  ist  der  Stil  zu^nglich?  Hier  wird 
man  nun  finden,  dass  die  Verhältnisse  für  den  Ausdruck  sehr 
ungünstig  sind;  die  Klagen  über  die  Ohnmacht  der  Sprache 
haben  hauptsächlich  darin  ihren  Grund,  dass  sie  nicht  un- 
mittelbar im  Stande  ist,  uns  zu  befreien.  Das  sekundäre 
Erregungsgebiet,  welches  sie  repräsentiert,  ist  zu  starr,  es 
nimmt  nichts  an.  StUeigentUmlichkeiten  wie  breit,  knapp, 
üppig,  karg,  haben  schon  nur  eine  Bedeutung  als  Ausdrucks- 
mfttel,  wenn  man  an  das  entsprechende  Bedetempo  denkt, 
wenn  Dichter  und  Leser  in  Q«danken  reden.  Die  Freiheiten, 
welche  die  Syntax  gewährt,  sind  allerdings  ebenso  viele 
AusdmcksmSglichkeiten,  aber  verhältnismässig  gering  an 
Zahl  und  zumeist  in  Erbpacht  der  Konvention.  Für  den 
Künstler,  als  Ableitungsmittel  hat  das  blosse  Sprachaymbol 
eine  sehr  geringe  Bedeutung.  Allerdings  ist  zu  erwähnen, 
dass  gerade  der  Dichter  mit  seiner  gesteigerten  Erregungs- 
fähigkeit  meist  ein  innerlich  sprechender  sein  wird.  Er 
braucht  indessen  hierin  keineswegs  sonderliche  Öaben  zo 
entfalten;  er  kann  ein  guter  Dichter  sein,  ohne  Ahnung,  was 
der  geschickte  Rezitator  aus  ihm  herausholt.  Das  Phantasie- 
gebiet, welches  dem  Dichter  zur  Äusserung  dient,  ist  weit 
weniger  als  die  Musik  geeignet,  eine  Ebnung  der  GefUhls- 
wogen  herbeizufuhren.  Daher  die  weit  grössere  Selbst- 
befriedigung der  Tondichter,  wie  sie  durch  zahlreiche  Zeugnisse 
beglaubigt  ist;  dagegen  die  G-unstbuhlerei,  die  BeifallslUstern- 
heit  der  redenden  Künste.  Die  Poesie  kommt  nicht  so  sehr 
als  Ausdrucksmittel  in  Betracht  denn  als  Eindrucksmittel. 
Ein  Gedicht  bereitet  seinem  Schöpfer  Freude,  wenn  er  den 
Eindruck,  welchen  er  auf  andere  erhofft,  an  sich  erprobt; 
dabei  Übersieht  er  freilich  leicht,  dass  die  Reaktionsverhättnisse 
bei  ihm  überaus  günstig  liegen. 

Die  Eindrucksfähigkeit  der  Sprache  ist  eine  mittelbare 
Folge  ihrer  Bezeichnungskraft,    Mit  dieser  ist  sie  nämlich 


iM,Coo<^lc 


Tetatohan  nnd  BflgreUen.  257 

Imstande,  die  Voraussetzungen  eines  Gefühles,  einer  Stimmung 
an2ugeben,  die  Umstände,  unter  weichen  sich  diese  eingestellt 
haben.  Es  ist  schon  erwähnt  worden,  dass  auch  Gefllhle 
einfach  bezeichnet  werden  können;  wenn  man  „Hoffnung", 
„Liebe",  „Verzweiflung''  sagt,  so  wird  jedennann  imstfutde 
sein,  das  hierdurch  Bezeichnete  in  sich  zu  wecken,  wenn 
aach  mit  Hilfe  erinnerter  oder  gebildeter  Fälle.  Allein  die 
feineren  Nütmcen,  alle  an  seltene  Situationen  geknUpften 
Oefdble,  wird  man  am  besten  durch  die  Einftthrung  in  diese 
Situation  hervorrufen. 

loh  verweiBe  hier  aat  die  neaere  deataohe  Lyrik,  □amentlj<^  Abho 
Holz,  Stimmiuigalyiik,  die  auf  TalistütidiKeii  Salzban  guiE  venidlitet  and 
mit  MngeworfeneD  losen  Worten  im  Leaei  Situationen  EnsammensetEt,  velehe 
der  'Entstabnng  gewisser  Stimmnngen  gänetig  und. 

Diese  Situationen  mOssen  nicht  äusserliche  sein;  sie 
kOnnen  aus  dem  Zusammentreffen  mehrerer  Q^danken  ent- 
springen; dann  wird  man  diese  Gedanken  vorbringen  und 
sich  von  ihrem  Zusammenwirken  ein  ähuhches  Ergebnis  wie 
im  eigenen  G*müte  versprechen.  Je  mehr  Findigkeit  der 
lyrische  Dichter  —  dem  es  ja  namentlich  um  GefUhlsausdruck 
zu  thun  ist  —  in  dem  Aufspüren  der  konstituierenden  Momente 
einer  OemUtsrerfassung  bekundet;  je  sicherer  er  hierbei  das 
Charakteristische  hervorzuheben  weiss,  desto  eher  kami  er 
beim  Leser  auf  den  entsprechenden  Integrationsprozess 
rechnen.  Der  Vorgang  ist  ein  gimz  ähnlicher  wie  beim 
Verstehen  der  Rede  überhaupt,  nur  dass  Gefühle  nicht  wie 
(uidere  Bewusstseinsinhalte  in  Teile  zerlegt,  differenziert, 
sondern  auf  Teilbedingungeo  zurückgeführt  werden  müssen. 
Damit  aber  dieser  integrationsprozess  im  anderen  zu  meinem 
Gefühle  führe,  wird  für  diese  Teübedinguagen  gerade  in  den 
Schwierigeren  P^en  eine  Vollständigkeit  erfordert,  welche 
der  ganzen  Natur  der  Geftlhle  nach  schwer  erreichbar  ist. 
Die  Quelle  derselben  liegt  sehr  oft  im  Unbewuasten,  in  so- 
matischen Verhältnissen,  die  jeder  Selbstbeobachtung  spotten; 
aus  diesem  Grunde  wird  dann  die  Bedeutung  der  bewussten 
Elemente  für  ein  Gefühl  überschätzt.  Ausser  somatischen 
Veriiältziissen  hebt  sich  uns  auch  alles  das  schwer  ab,  was 

TlatMlIitanHhittt  t  hImsbmIuM.  PbUw.  n.  SodoL    XIVIL    X  i"^ 


iM,Coo<^le 


258  Hermanii  Swoboda: 

vir  gewohnt  sind,  z.  B.  das  Milieu  —  MilieuBchildeningra 
stammen  immer  tod  Individuen  eines  anderen  Milieus  — ,  die 
Landschaft,  das  Klima. 

Der  Umstand,  dass  das  Unbewusste  nicht  unwirk- 
sam ist,  kommt  nun  der  Musik  zugute.  Die  Musik  kann 
vollständig  ausdrücken,  was  die  Sprache  nur  unvoll- 
ständig bezeichnet;  dafilr  bezeichnet  diese  deutlich, 
was  jene  undeutlich  ausdrückt. 

Wie  sehr  es  auch  der  eingestandene  oder  stillschweigende 
Zweck  der  Poeten  sein  mag,  ihre  ästhetisch  ausst^erte 
Innerlichkeit  anderen  um  jeden  Preis  mitzuteilen,  so  kQmien 
sie  sich  dabei  doch  nicht  dem  Druck  der  vitalen  BedUrfDlsse 
entziehen  und  man  wird  von  vornherein  annehmen  dürfen, 
dass  die  Art,  auf  andere  Eindruck  zu  machen,  gleichzeitig 
geeignet  ist,  sie  von  dem  lästigen  Druck  einer  Erregung  zu 
befreien.  Diesen  Dienst  leistet  nun  thatsächlich  die  Änaljee 
der  Bedingungen  eines  Gefühles;  wie  man  sie  aufspürt,  vot- 
Ueren  sie  ihre  Wirkung,  lichtscheues  Pack,  das  vor  der 
Laterne  des  Bewusstseins  ausreisst  Die  iä'klärung  dies^ 
zerstörenden  Kraft  der  Keflexion  ist  wohl  in  der  Ablenkung 
der  Aufmerksamkeit  ün  Zusammenhang  mit  der  Enge  des 
Bewusstseins  zu  suchen.  Ein  Gefühl,  das  mich  „ganz  be- 
herrscht", muss  sich  sozusagen  im  Eaum  einschränken,  wenn 
ich  auf  eine  seiner  Bedingungen  meine  gespannte  Aufmerk- 
samkeit richte. 

Nun  können  Gefühle  noch  auf  andere  Weise  abgetliaD 
werden.  Sie  können  einen  Gedankengajig  einleiten,  bei  dessen 
befriedigendem  Ergebnis  sie  Tcrschwindeo.  Dieser  Gedanken- 
gang —  wie  verständlich  er  auch  erscheinen  möge  —  hat 
doch  nur  für  deiyenigen  einen  Sinn,  welcher  am  gleit^en 
Gefühle  laboriert  oder  durch  den  Gedankengang  darauf  ge- 
bracht wird,  an  was  er  zu  laborieren  habe,  damit  ihm  der- 
selbe etwas  sei.  Hier  werden  mir  also  nicht  die  konstitu- 
ierenden Momente  geboten,  sondern  die  Konsequenzen,  zu 
welchen  ich  alsdann  die  passenden  Voraussetzungen  zu  finden 
habe.    Als  Beispiel  diene  folgende  Stelle  aus  „Faust" 


iM,Coo<^lc 


TeiBtabeii  und  Begrafen.  269 

EntBchlafeD  sind  doh  wilde  Triebe 

Mit  jedem  ungestümen  Thun, 

Es  reget  sich  die  Menschenliebe, 

Die  Liebe  Q«ttes  regt  sich  nun. 
[Faust,  rom  Spaziergang  heimkehrend,  im  Studierzimmer). 
Mui  musB  selbst  mtlhselig  und  beladen  zur  Mutter  Natur 
einmal  hinausgepilgert  sein  und,  von  der  Ruhe  des  Abends 
angesteckt,  den  stillen  Einzug  milder  und  liebevoller  Ge- 
danken erlebt  haben,  imi  diese  Sätze  zu  verstehen,  was 
hier  nicht  heisst:  verstehen,  was  jemand  sagt,  sondern  wieso 
er  das  sagt.  Obige  Sätze  als  Ausdruck  eines  Gefühles 
zu  bezeichnen,  hätte  nichts  UngewShnliches  an  sich.  Allein 
nach  der  bisher  von  mis  festgehaltenen  Begriffsbestimmung 
bandelt  es  sich  hier  weder  um  Bezeichnung  noch  Ausdruck. 
Man  könnte  in  diesem  Falle  populär  von  einem  GefUhls- 
hintergnmd  sprechen,  von  einem  Gefühl,  das  —  unausge- 
sprochen —  doch  zum  psychischen  Ganzen  gehört,  das  eine 
Komplementärbedingung  zum  Geäusserten  bildet.  Im  Falle 
des  eigentlichen  Ausdrucks  (durch  Musik)  haben  wir  es  mit 
dem  harmonischen  Zusammensein  zweier  erregter  Ge- 
biete zu  tiiun;  hier  dagegen  können  wir  weiter  keine  Be- 
ziehung herausfinden,  als  dass  die  Stimmung  und  die  in  ihr 
gethiuien  Äusserongen  ganz  gut  zusammenpassen,  dass  es 
„ganz  begreiäich"  ist,  wenn  jemand  in  solcher  Stimmung 
derartigeB  sagt. 

Mn  anderes  Beispiel,  welches  zur  Aufhellung  des  in 
Rede  stehenden  Verhältnisses  beitragen  dUrfte.  Unter  Gk>BTHE's 
Uaximum  findet  sich  der  Satz:  „Geschichte  schreiben  ist  eine 
Art,  sich  das  Vergangene  vom  Halse  zu  schaffen".  Gobthb, 
der  fleissige  Beobachter  und  gewissenhafte  Historiograph 
aeiner  Seele,  bezog  sich  hiermit  sicher  auf  jene  Art  von 
Geschichtaschreibung,  wie  sie  in  Tagebüchern,  Memoiren, 
Selbstbiographien  vorliegt  Und  man  muss,  um  jenen  Satz 
zu  verstehen,  nur  beobachtet  haben,  wie  es  möglich  ist,  durch 
geschickte  Behandlung  des  wirren  Seeleninhaltes  Ruhe  und 
Ordnung  herzustellen,  wie  sich  alles  im  Urteil  gefasste  wie 

17' 


iM,Coo<^le 


260  Hftrmann  Swoboda: 

im  Kampf  bezwungen  dackt  und  friedlich  zurückzieht,  wie 
man  die  sekantesten  Vorstellungen,  Gedanken  durch  pragma- 
tische Behandlung,  durch  organische  Eingliederung  in  den 
übrigen  Inhalt  abtbut.  Ohne  das  blennit  verbundene  Lust- 
gefühl der  Befreiung  ist  ein  vollkonunenes  Verständnis  jenes 
Satzes  ausgeschlossen;  ja  noch  mehr.  Dieses  Lustgefühl 
musB  sich  uns  einmal  abgehoben  haben,  aufgefallen  sein,  oder 
es  muss  wenigstens  der  Ausspruch  dazu  führen,  dass  es  uns 
auffällt  Wem  nämlich  die  angenehme  Wirkung  der  Oeschicht- 
fichreibung  durch  diese  Abhebung  nicht  zum  Problem  vfird, 
für  den  entbehrt  auch  die  Problemlösung  ihres  ursprünglichen 
Wertes.  Um  aber  ins  Problem  einzuführen,  dazu  ist  jener 
Satz  durchaus  unzureichend;  er  ist  nicht  imstuide,  im  Leser 
alle  seine  Voraussetzungen  zu  schaffen,  es  liegt  aber  auch 
gar  nicht  in  seiner  Absicht  Er  dient  nur  einem  vitalen 
Bedürfnis  seines  Verfassers.  Die  Antriebe,  welche  zu  ihm 
geführt  haben,  kommen  in  ihm  gar  nicht  zum  Ausdruck. 
hSchstens  durch  ihn,  indem  er  sie  eben  nicht  zum  Ausdruck 
bringt  und  dadurch  den  bruchstUckartigen  Eindruck  macht, 
der  zur  Er^nzung  anregt.  luspirations-  oder  Eonzeptions- 
gefUhle  könnte  man  sie  nennen,  die  in  emem  Urteil  nur  in- 
sofern zum  Ausdruck  kommen,  als  es  ohne  dieselben  über- 
haupt nicht  da  wSre.  Sie  stellen  die  subjeküve  Seite  unserer 
sprachlichen  Äusserungen  dar,  sie  sind  der  biologische  Wert- 
messer derselben.  Sie  haben  Übrigens  keine  selbständige 
Bedeutung,  sondern  nur  als  Begleitsymptome  der  sachlichen 
Vorbereitung.     Ihr  Charakter  ist  ganz  formal*)- 

loh  habe  hier  mit  den  Begriffen  der  UndUnfigen  Psychologie  eis 
Veriaitnia  darznstellsD  vennoht,  welches  diese  bisher  nicht  beachtet  hat 
Die  Gewandeiiheit  der  Darstellong  mag  teilweise  auf  diesea  ümatand  loräok- 
■nfährea  sein.  Unten  bei  Erw&bnuDg  der  Ti talreih entheorie  Atenarics' 
wild  sich  uwen,  welch  einhohw  Darstellnngsbehelf  die  von  diesem  PhUo- 
sophen  eingeffihrten  —  besser  gesagt  verwendeten  —  Begriffe  bieten.    Qnd 


')  Nach  den  m^ten,  so  anoh  nach  Wdhdt  (Phys.  Psych.  S.  5SI} 
faitta  man  sie  nnter  die  logischen  CMnhle  za  dUilen.  Allan  sie  ohank- 
tetisieran,  wie  weiter  nnten  getagt  werden  wird,  gana  im  allgwneinea  itie 
3  Abeohnitte  jeder  Titalieihe  nnd  fallen  bei  Denkproieaaen  nor  deshalb 
leichter  anf,  weil  sie  liier  nickt  mit  anderen  Oeföhlen  in  KoDknmni  b 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Ventehea  imd  VegnifMi.  S61 

wann  die  Högliohkeit  ökoDOmiBoherer  DmteUaog  in  der  WjwsiiBdiAft  cinea 
Forticliritt  bödeatet,  m  wird  man  aineii  eolohen  in  der  erwftlmten  Theorie 
wohl  erUit^en  ddAbsod. 

Bei  Betrachtung  des  Ausdrucksvermögens  der  Sprache 
haben  wir  bisher  von  jenen  unaufiUligeren  Formen  des  Aus- 
druckes abgesehen,  die  vorhin  als  Einfluss  bezeichnet  wurden, 
und  die  sich  als  eine  Fonnabertragung  auf  andere  Gebiete 
charakterisieren.  Solche  Einflösse  kann  man  zalüreich  in 
Qranunatik  und  Syntax  nachweisen*).  So  ist  die  Trennung 
in  Subjekt  und  Prädikat  in  vielen  Fällen  nichts  anderes  als 
eine  Obertragene  Anwendung  des  Verhältnisses  zwischen 
Wollen  und  Handeln,  welches  infolge  seiner  grossen  Geläufig- 
keit einen  uniformierenden  Einfiuss  ausübt,  sozusagen  einen 
übertragenen  Wirkungskreis  gewinnt^).  Hält  man  dies  fest, 
80  erscheinen  selbst  Urteile  wie:  Der  Wind  bewegt  die 
Bäume,  nicht  mehr  als  reine  Beschreibung,  sondern  gleich- 
zeitig als  Ausdruck  gewisser  anderer  Verhältnisse  der  Seele, 
des  sich  äussernden  Ich.  Von  diesen  Verhältnissen  haben 
durch  die  Grammatik  offenbar  jene  Ausdruck  gefunden,  denen 
ein  genereller  Charakter  zukommt,  so  dass  man  sagen  kann, 
die  Grammatik  stelle  den  ständigen  Anteil  des  Ich  an 
unseren  Urteilen  dar.  Die  erwähnten  Einflüsse  reichen  aber 
noch  weiter  und  namentlich  in  jenen  Fällen,  wo  man  von 
den  psychologischen  Entstehungsgrilnden  eines  Gedankens, 
emes  Lehrgebäudes  u.  s.  w.  spricht,  handelt  es  sich  oft  um 
den  uniformierenden  Einfluss  einer  mächtig  eingeprägten 
Form.  So,  wenn  man  den  Ursprung  von  Plato's  Ideenlehre 
auf  den  jedem  Griechen  geläufigen  Gegensatz  von  vi-^  imd 
i^fuoäffyoc  zurückführt.  Oder  wenn  man  von  der  HBöBL'schen 
Dialektik  sagt,  es  ist  etwas  Wahres  dran.  Die  Form  des 
diaJektiachen    Entwicklungsprozesses    ist    nämlich    in    einer 


TOT  lUen  Dingen  psychologisch  nnd  nicht  logisch  sind,  hai  das  Stodinm 
der  Spnohe  einen  so  hoben  Wert  für  die  psychologische  Unter- 
enehong  des  Denkens"  (Wonrt,  Efisays.  Leipzig  I880.  8.  278],  ein« 
AnaAeuDUng  des  Thataftohliahen. 

*)  Siehe  Jibiiulzk,  die  ürteüsfonktion.     Wien  1696. 


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262  Hsrmann  SwobadK: 

Reihe  von  Fällen  faktisch  zu  konstatieren  und  insofern  ist 
sie  wahr;  „anwahr"  wird  sie  nur  dadurch,  daes  sie  über  die 
Grenzen  ihres  EntstehungBgebietes  hinaus  Einfluss  erlangt, 
dass  sie  ein  Fachwerk  wird,  in  das  sich  alles  zwängen  lassen 
muss.  Schliesslich  sei  noch  eines  wichtigen  Umstandes  Er- 
wähnung gethan.  Wir  haben  nie  bloss  CrefUhle  oder  bloss 
Yorstellungen.  Dementsprechend  wird  es  auch  keine  reine 
Bezeichnung  und  keinen  reinen  Ausdruck  geben,  sondern  nur 
Mischformen.  Die  Unterscheidung  dieser  beiden  Elemente 
in  den  mensciihchen  Äusserungen  ist  aber  von  Bedeutui^, 
weil  ihr  Verständnis  nicht  in  gleicher  Weise  vor  sich  geht, 
wie  der  nächste  Abschnitt  erweisen  wird. 

TL  D«s  Terateken  Ton  Atusagen. 

Wenn  Verstehen  soviel  heisst  als  in  der  gleichen  psy* 
chischen  Situation  sein,  so  ist  die  Frage,  wie  man  durch 
Bezeichnung  und  Ausdruck  in  dieselbe  kommt,  mit  anderen 
Worten  nach  dem  Mitteilungswert  von  Bezeichnung  und 
Ausdruck.  Derselbe  ist  bei  Bezeichnungen  natui^mSss 
grösser  als  beim  Ausdruck,  da  ja  erstere,  wie  oben  er^lfant, 
ihre  Ausbildung  durch  und  für  den  menschlichen  Verkehr 
erfahren  haben,  während  letzterer  eine  Arznei  ad  usum 
proprium  ist.  ÄUein  auch  die  Bezeichnungen,  die  Sprache, 
wie  wir  ktirzer  sagen  wollen,  bleibt  hinter  der  idealen 
Leistung,  im  Hörer  die  Gedanken  des  Sprechenden  getreu 
zu  erwecken,  weit  zurück.  Der  Grund  hierfür  ist  ein  zwei- 
facher. Erstens  muss  die  Reaktion  auf  Bezeichntmgen  bei 
dem  einen  durchaus  nicht  zu  denselben  Vorstellungen  führen, 
wie  beim  andern.  „Verstehen  heisst  nichts  anderes  als: 
ich  verbinde  mit  einem  Laut,  den  ich  höre,  denselben  Ge- 
danken, welchen  ich  mit  dem  gleichen  Laut  verbinde,  wenn 
ich  ihn  spreche",  meint  Lazabüs*).  Die  individuellen  Unter- 
schiede in  Begriffen  jeder  Art  sind  aber  bekiumtlich  ungemein 
gross.    Den  FaU  zufölliger  Übereinstimmung  der  individuellen 

')  k.  a.  0.  8.  810  nnd  Siawui,  Logik  I,  S.  36. 

n,g,t,7l.dM,.COOglC 


Tamdiait  und  Begteifeo.  263 

Begriffe  abgerechnet,  wird  also  dut  daim  von  einem  voll- 
stilQdigen  Verständnia  die  Bede  sein  kOnnea,  wenn  ihre  Ver- 
schiedenheit irrelevant  ist  Davon  war  Bchon  in  Kap.  n  die 
Bede.  Dieser  Punkt,  die  Insuffizienz  der  Sprache,  ist  hisher 
zu  einseitig  in  Betracht  gezogen  worden.  Man  hat  darauf 
hingewiesen,  dass  die  Sprache  das,  was  sie  bezeichnet, 
mangelhaft  mitteilt;  sie  bezeichnet  aber  vieles  gar  nicht, 
und  das  ist  der  zweite  Grund,  weshalb  es  ihr  so  schlecht 
gelingt,  Gedanken  von  einem  Individuum  auf  andere  zu  über- 
tragen!). Sie  kann  auch  gar  nicht  alles  bezeichnen;  denn 
von  den  zahlreichen  Voraussetzungen,  die  eine  Aussage  im 
Leben  des  Aussagenden  oder  in  den  Gredanken  von  Vor- 
gängen! hat,  kommen  gerade  vielleicht  die  wichtigsten  gar 
nicht  zam  Bewusstsein.  Im  Zusammenhang  grosserer  Dar- 
stellungen gestalten  sich  die  Verhältnisse  allerdings  günstiger; 
denselben  Einfluss  übt  das  Gespräch').  Allein  der  Schwierig- 
keiten bleiben  doch  genug,  wie  man  aus  Kritiken  und  Dis- 
kussionen täglich  ersehen  kann  3). 

Gesetzt  also,  es  hätte  uns  die  Sprache  in  einem  Falle 
den  denkbar  besten  Dienst  geleistet,  wir  hätten  auf  die  Be- 
zeichnung mit  dem  Bezeichneten  reagiert,  so  bliebe  uns  doch 
noch  die  Vervollständigung  dieses  Bezeichneten  durch  das 
unbezeichnet  gebliebene  übrig,  mit  anderen  Worten:  Man 
muss    unterscheiden    zwischen    dem    Verstehen    der 


')  .Der  Sinn  liegt  in  der  That  nur  nim  Teil  im  Wort  aa  eiab. 
Wir  Tinäiweigen  beim  Beden  sehr  viel,  und  zwar  sehr  WeBeotliohes,  wu 
dooli  hinzugedacht  werden  mosa,  wenn  es  verstKaden  werden  soll.  Wii 
epteoheo  immer  ans  bestimmten  Lteen  and  VerhftltBiuen,  ttoBsaren  und 
ünenn,  heiaaa,  nnd  erst  doroh  die  Beiiebung  des  Oeeagten  auf  diese  realen 
TnfailtniBse  erhUt  die  Bede  ihien  konkreten  Binn".  Simmau,  Ueber  (Ua 
Arten  und  Fonnen  der  Interpretation,  B.  80. 

*)  Vgl.  LAZum,  a.  a.  0.  B.  392. 

'i  Treffend  bemerkt  Luuub  (a.  a.  0.  8.  S98):  ,Qlei<Meit  der  Oe- 
Binnnng,  der  OeeobmackBiiohtnng,  der  poliüschen  oder  jeder  Art  Meinniig 
*ind  ebenso  wie  die  Oleiohheit  der  wieseosohaftliahen  STStematib  ürBaobe 
snd  BAi|Mihaft  des  gegenseitigen  VeisOodmesea.  Han  eiOhrt  O^lioh,  dau 
die  Streitenden  Klage  erheben  über  wedwelieitigea  ICssrenOndnis  .  .  .  .* 
Qtdnnnng,  OeeohmaoksriohtanK  n.  s.  w.  das  ist  daa  mitklinBende  ün- 
bewnaste,  welohee  täok  nna  selbatTerBtftndlich  nicht  mehr  abhebt,  so  mass- 
Sebend  es  aiudi  Kr  anaen  Eonaepte  sein  mag. 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


264  BermaDn  Swabodt: 

Bezeichnung  und  dem  Verstehen  des  Bezeichneten. 
Lazabdb  und  Stbutthal,  welche  die  Apperzeption  immer  in 
Öemeioscliaft  mit  dem  Sprachproblem  behandeln,  haben  sehr 
viel  zur  Verdeckung  dieBes  Unterschiedes  beigetragen.  Der 
Umstand,  da£S  wir,  wie  in  Abschnitt  IV  ausgeführt  wurde, 
bei  unserem  Denken  thatsächlich  oft  keines  Bezeichneten 
gewahr  wm'den  und  die  hierauf  gegründete  Behauptung  eines 
sprachlosen  Denkens  hScgen  natürlich  damit  innig  zusammen. 
Das  Verstehen  einer  Aussage  geht  also  streng  genommen 
in  zwei  Phasen  vor  sich:  in  der  ersten  geht  nur  die  Bedeutung 
der  Worte,  in  der  zw^eiten  der  Sinn  des  Ganzen  auf.  Der 
Vorgang  bei  der  ersten  ist  klar:  Die  Bahn  zwischen  der 
Bedeutung  und  dem  Wort  wird  vom  Mideren  Ende  erregt. 
Wie  ich  jedoch  dem  Ganzen  einen  Sinn  gebe,  wie  ich  es 
anstelle,  die  Bruchstücke  der  „psychischen  Situation"  zum 
Gtmzen  zu  kompletieren,  dies  bedarf  noch  eingehender 
Betrachtung  1).  Zuvor  sei  jedoch  bemerkt,  dass  die  zwei 
Phasen  des  Verständnisses  nicht  emfach  aufeinanderfolgen, 
sondern  dass  sie  sich  mannigfach  kreuzen.  Bald  verhilft 
mir  die  Bedeutung  der  Worte  zum- Sinne  des  Satzes,  bald 
der  Sinn  des  Satzes  zur  Bedeutung  der  Worte.  Manchmal 
verstehe  ich,  was  jemand  meint,  aus  dem,  was  er  sagt, 
manchmal  aber  auch  verstehe  ich  das,  was  er  sagt,  weil 
ich  weiss,  was  er  meint  So  verstehen  wir  auch  einen  in 
fremder  Sprache  verfassten  Aufsatz,  der  Über  ein  uns  sehr 
geläufiges  Thema  handelt,  vollkommen,  selbst  wenn  wir  aus 
Unkenntnis    einiger  Vokabel   und    Satakonstruktionen   nicht 


*)  "Wann  BixmHu.  (Üb«r  Interpretetion,  8.  38}  die  Fonnel  fQr  das 
VeiBteben  einfach  eo  ansettt:  „Ein  GedankenicWt  F  veianlasst  im  Bedenden 
eine  L&utreihe  L,  und  diese  I«Qtreihe  L  erregt  im  Hörenden  wiederom 
jetien  OedankeciDhalt  F.  Also  F  ^  L  und  L  =^  F*,  bo  sind  damit  Jens 
Fllle,  wo  ea  Bioh  um  einen  Oed«nkeninh&lt  handelt,  un  wenigsten  ge- 
troffen, wofern  man  nicht  an  ganE  geUofige  Inhalte  denkt,  deren  WkI- 
loagkeit  fnr  die  Betraohtoog  schon  ini  Genüge  betont  worden  ist.  AUec- 
diiigi  bezieht  SisraraAi.  aeine  Formel  anf  das  , gemeine  Veretahen'  (tsL 
Anm.  zu  S.  32],  bei  weichem  .die  Bedingnngen  des  VeistftudnineB  nuiU 
eist  künstlich  herbeigeführt  za  werden  brauchen*,  welches  also  veitifittiii»- 
mUeeig  rasch  vor  sich  geht  Dieser  ümetand  verUlft  aber  seiner  Fismal 
nnr  zn  einer  scheinbaren  Bereohtigni^ 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Tenteben  und  BegrefTn.  266 

imstande  wären,  ihn  zu  übersetzen.  Der  Fall  ist  selir  in- 
struktiv. Hau  siebt,  das  Verstetiea  der  Worte  igt  flir  das 
des  Sinnes  gar  nicht  präjudiziell.  leb  kann  den  Sinn  haben, 
bevor  ich  die  Worte  habe,  während  ich  sonst  den  Worten 
erst  einen  Sinn  unterlegen  ntuss.  Wenn  ich  dem  Sinne  nahe 
bin,  hat  das  Wort  leichte  MUhe:  Sapienti  pauca.  In  diesem 
Falle  merkt  man  gar  nicht,  was  man  dem  Worte  schuldet. 
Ctanz  anders,  wenn  wir  uns  in  die  Vorraussetzungen  einer 
AuBSf^e  erst  hineinarbeiten  müssen,  dann  suchen  wir  in  den 
Worten  auf  und  ah  naxii  jedem  kleinsten  Anhaltspunkte,  den 
8ie  zum  Verständnis  bieten  könnten,  mit  anderen  Worten: 
Wir  suchen  nach  der  entsprechenden  Vorbereitung  zn  der 
Aussage.  Eine  Aussage  hat  einen  Sinn,  das  heisst  soviel 
als:  wir  können  sie  in  unseren  Bewusstseinsinhalt  eingliedern, 
wir  können  von  demselben  mühelos  zu  ihr  fortschreiten. 
Allerdings  muss  nicht  jede'Aussage,  jedes  urteil  so  deutlich 
den  Charakter  der  Unselbständigkeit  an  sieb  tragen;  bei 
jenen  Aussagen  indes,  auf  welch©  es,  wie  schon  öfter  er- 
wähnt, hauptsächlich  ankommt,  bei  den  originellen,  die  eine 
längere  Gedaukenreihe  zum  befriedigenden  Ahschluss  bringen, 
heiest  „Sinn  haben",  nichts  anders,  als  sie  in  der  Reihe  und 
am  rechten  Platz  haben.  Der  Grad  der  Vorbereitung  ist 
von  grösster  Bedeutung  sowohl  für  den  Grad  des  Verständ- 
nisses, als  auch  für  den  Vorgang  beim  Verstehen').  Bin  ich 
einer  geistigen  Entdeckung  sehr  nahe,  so  haben  die  Worte, 
in  welchen  ich  dieselbe  formuliert  äode,  die  grOsste  Mit- 
teilongskraft  and  das  Verständnis  erfolgt  sozusagen  momentan. 
Nur  dies  ist  der  Fall,  wo  man  sagen  kann,  dass  der  Hörer 
integriert,   wo  der  Vorgang  in  beiden  gleich,  nur  entgegen- 


')  Unter  den  Begriff  der  Totbereitong  fällt  anoh  Eöflkbs  ,Urtwl8- 
äkpoBttJOD"  (vgl.  deaaen  PB;<jiologie  B.  280),  dis  ,alle  p&ychisohen  nnd 
phjsiKheD  Tejlbedingnnesn  des  Urteilens  nmiasst,  insoweit  sie  nur  ebeo 
oiaiit  selbst  schon  aktnelle  Torgängo,  z.  B.  VDistelloiiKeo  und".  Das  .mit- 
Uu^ende  TJnbewosste',  das  aidi  natärlioli  der  BeieichnoDg  und  Httteiinng 
eotäelit. 

An  detselbeo  Stelle  findet  siob  auch  ebe  Definition  von  Tarstriken, 
dis  guiz  in  meinem  Sinne  ist:  .Vetsteheii  heiset  wesentlich,  diejenigen  Ur- 
tols  mit  XJeberaeagtuig  und  Emsicht  bei  sieh  wieder  fällen,  welBhe  die 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


266  HarmanD  Swoboda: 

gesetzt  ist  Bei  minderer  Vorbereitung,  wenn  mich  die  Aus- 
sage noch  nicht  in  ihren  Voraussetzungen  antrifft,  muss  ich 
auf  irgend  eine  Weise  in  dieselben  einzurücken  trachten. 
Verstehen  heisst  also,  etwas  als  Folge  haben,  als  Fortsetzung., 

Dies  ist  nun  der  Punkt,  wo  sich  meine  Ausführungen 
wesentlich  von  der  bisherigen  Behandlung  der  Frage  unter- 
scheiden. Was  ich  im  Vorhergehenden  immer  als  Verstehen 
bezeichnet  habe,  das  fällt  nach  der  herrschenden  Terminologie 
unter  den  Begriff  der  Apperzeption.  Allein,  indem  man  bei 
der  Aufstellung  und  Ausbildung  dieses  Begriffes  immer  von 
der  Apperzeption  von  Sinneswahmehmungen  ausging  und  die 
so  gewonnenen  Gesetze  auf  Ferzeptionen  jeder  Art  aus- 
dehnte, Übersah  man,  welcher  gewaltige  Unterschied  zwischen 
der  Apperzeption  von  Gegenständen  und  Äusserungen 
besteht.  So  behandelt  Stbinthai.  (Abriss  der  Sprachwissen- 
schaft I  S.  196ff.)  beides  promiscue,  was  ihn  natürlich  hindert, 
im  Verstehen  ein  eigenartiges  Problem  zu  erblicken.  In 
dem  mehrfach  zitierten  Vortrag  über  Interpretation  rUckt 
er  demselben  zwar  näher,  betrachtet  aber  das  Verstehen  zu 
ausschliesslich  Tom  Stuidpimkt  des  Philologen  und  erweckt 
dadurch  den  Anschein,  als  ob  das  philologische  Verstehen 
etwas  ganz  Apartes  wäre,  indessen  es  nur  durch  seine 
schwerfällige  Technik  vom  sonstigen  Verstehen  verschieden 
ist.  Auch  nimmt  er  hierbei  merkwürdigerweise  auf  seine 
Apperzeptionstheorie  keine  Rücksicht,  scheint  es  also  gar 
nicht  als  eine  Art  der  Apperzeption  aufzufassen,  giebt  ihm 
aber  auch  keine  anderweitige  psychologische  Charakteristik. 


OadankeD  des  VortrageB,  die  VoiKussetmugen  der  MasBi^el  aDamudifln'. 
Mit  dem  Bsgriff  dar  Dispoeition  und  dem  UDbewositen  operiart  andi 
B,  Ekdmanr  (Zur  Tbaoiie  der  AppeneptiDn,  Tiettelj.  f.  w.  Ph.  X  8.  343S.i. 
Die  ApperzeptionsiiiaBBe  beieiobjiet  ei  direkt  als  „erregte  Di  BpoHition'; 
was  mit  aeiiier  ünterecheidnDg  ebe«  .erregten  und  einee  onerregtaD*'  Un- 
bewiUBten  inummanliAngt  Obwobl  ee  sioh  ihm  nni  um  die  eintedutas 
EUle  daa  Wiedererkennens  von  Wahrnehmoiigeii  handelt  (316),  so  haban 
seine  i.iiRßhrangen  doob  vioh  dort  eine  analoge  Aawendimg,  wo  ee  sitdi 
tun  dos  YerBtindniH  eines  Oedankens  handelt,  den  wir  selber  soboa  g^ 
habt  haben. 


iM,Coo<^le 


VeiBteheo  und  B«grwf«i.  267 

Beaooders  fühlbar  macht  sich  der  Mangel  dieser  Unter- 
Bcheidimg  bei  Lahgb  (Über  Apperzeption),  dessen  Darstellung 
sonst  an  vielen  Punkten  trefOiche  Bemerkungen  enthält,  deren 
pädagogischer  Wert  durch  den  unsicheren  psychologischen 
Standpunkt  übrigens  nicht  beeinträchtigt  wird.  So  de&oiert 
Lakob  die  Apperzeption  als  „diejenige  seelische  Thätigkeit, 
durch  welche  wir  einen  Bewusstseinsinhalt  mittelst  ver- 
wandter Yorstellungen  iu  den  Zusanuuenhang  unseres  geistigen 
Lebens  und  Besitzes  aufoehmen".  Es  ist  mit  ihr  stets  „eine 
Verschmelzung  von  Vorstellungen ,  die  Einfügung  neuer 
vereinzelter  Elemente  in  ältere,  verwandte,  reichere  Ge- 
dankenkreise gegeben",  S.  836.  Gedanken  als  etwas 
dem  Empfindungselement  in  der  Wahrnehmung  Ana- 
loges giebt  es  nicht.  Ebenso  wenig  Gedanken,  die  als 
Perzeptionen  Gegenstand  einer  Apperzeption  wären. 

Der  Gegenstand  ist  etwas  fUr  sich;  die  Äusserung 
ist  Teil  eines  grösseren  Ganzen,  Teil  des  sich  äussernden 
Individuums,  sie  ist  femer  Lebensäusserung,  sie  hat  ausser 
dem,  was  sie  ist,  noch  eine  Bedeutung,  und  sie  hat  diese 
Bedeutung  nur  im  Zusammenhang.  Die  Äusserungen  sind 
abgelegte  Kleider,  und  ob  mir  dieselben  passen  hängt  davon 
ab,  ob  ich  gleich  gewachsen  bin. 

Den  intimen  Zusammenhang  von  Gedanken  mit  unserem 
ganzen  Ich  illustriert  das  Ge^chtnis.  Gedanken,  die  wir 
nicht  aus  Eigenen  organisch  entwickeüi,  nach  entwickeln,  die 
tragen  wir  wie  ein  lockeres  Anhängsel  herum,  sie  sind  mis 
vom  mechanischen  Gedächtnis  nur  angespendelt,  es  ist  ein 
Zufall,  wenn  sie  uns  bleiben.  Wie  dagegen  Gedanken  haften, 
die  wir  erlebt  haben!  Ich  habe,  wenn  es  mir  gelingt,  einen 
fremden  Gtedanken  nachzudenken,  immer  das  begleitende 
Bild,  das  sich  an  einen  Stengel  eine  Blüte  ansetzt.  Xur 
wenn  wir  etwas  selbst  gedacht  haben,  haben  wir  wirkUch 
den  Gedanken,  Beweiss  dessen,  dass  wir  seine  Formulierung 
vergessen  können,  wir  finden  immer  leicht  eine  neue,  während 
uns  ein  fremder  Gedanke  oft  nur  durch  das  Wort  erinnerlich 
ist  und  uns  mit  diesem  entfällt.     Dementsprechend  die  Be- 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


268  Btrmana  Svöbod«: 

deutung,  welche  ein  Kaitt,  Schopbnha.üeb  dem  Selbstdenken 
beimessen  1).  Halten  wir  uns  mm  alle  die  erwähnten  Qegen- 
Bätze  zwischen  Dingen  mid  Äusserungen  vor  Äugen,  so  ist 
klar,  dass  es  sich  bei  der  Untersuchung  über  das  Wesen 
des  VerStehens  in  erster  Linie  nicht  um  das  VeryUtms 
zwischen  der  Äusserung  und  dem,  der  sie  vernimmt,  handelt, 
sondern  zwischen  der  Äusserung  und  dem,  der  sie  macht 
Dieses  nämliche  Verhältnis  in  anderen  herzustellen,  muss 
Ziel  dessen  sein,  der  verstanden  sein  will,  dieses  Verbältois 
in  sich  herzustellen  Bestreben  dessen,  der  verstehen  will. 
Von  der  Apperzeption  der  Sinneswahmehmungen  aus- 
gehend, kommt  man  nicht  leicht  zu  diesem  Gesichtspunkt 
Ein  tieferer  Grund  hierfür  liegt  in  der  „Mosaikpsychologie" 
Oberhaupt,  welche  die  einzelnen  psychischen  Phänomen  ausser 
allen  Zusammnnhang  zu  betrachten  gestattet  und  schlie^ch 
durch  die  immer  währende  Einzelbetrachtnng  dazu  kommt, 
die  Gedanken  wie  Dinge  zu  behandeln^).  So  leiden  die 
Äpperzeptionslehren  —  von  Hkebabt  bis  Wosbt  —  in  ihrer 
Anwendung  auf  Äusserungen  an  dem  Ubelstande,  dass  sie 
sich  vergeblich  bemühen,  für  die  Apperzeption  fremdw 
Äusserungen,  für  ihre  Aufnahme  in  den  Zusammenhang  des 
Äpperzipierenden  eine  zutreffende  Darstellung  zu  geben,  nach- 
dem sie  dieselben  eben  aus  dem  Zusainmenhang  mit  dem 
Sprechenden  herausgerissen  haben.  Die  Mosaikpsychologie 
hat  auch  gar  nicht  die  Begriffe  zu  entwickeln  vermocht,  mit 
denen  sich  diese  Darstellung  einzig  geben  lässt,  wenngleich 
es  an  Ansätzen  dazu  nicht  fehlt.  Solche  haben  wir  zu  er- 
blicken Hbbbast's  Apperzeptionen  der  inneren  Wahrnehmung 


')  Siehe  Sant,  Anthropologia,  B.  101,  wo  er  tod  dar  Weiihtft  a^t: 
.anoh  Beibat  dam  mindeaten  Qrada  naoli  kum  de  dem  Manioheii  oin  andenr 
nicht  eingieasen,  Bondem  er  mmas  sie  aiu  dcb  aelbat  heransbiingan*  und 
nntei  dan  Vonohriften,  dun  sn  gelangen,  ob  acste  anfahrt:  Salbetdankes. 
Siebe  feiner  ScBDPnHa&DK^  Paierga  and  Panüi^mena. 

*}  .Hoatäp^oholocie"  strilt  Atcnjühus  seiner  „Vuiatianapsyäudogie' 
gegenüber.  Diea«  baat  das  phjsiBoha  Leben  anf  ala  anTeinanderft^gaula 
„Aendernngen  eines  DisprSogltchen,  verttnderliohen  Beetandes*,  jene  ab 
eine  .ZnaammoiMtnmg  tob  onprQngliohen,  onTerfindeiüaheii  Beatsnd- 
atftckeu*.    Siebe  bierSber  .Der  mensdilJohe  WeltlM«iifr-,  S.  M. 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Ventehan  tmd  BegraUan.  2Ö9 

und  deren  Ausbildung  durch  Stedtfhal,  den  Apperzeptions- 
fonnen  des  Erkennensi).  In  ihnen  liegt  erstens  ein  Hinweis 
auf  das  Fortschreiten  unseres  Denkens  auf  Grund  des  bis- 
herigen Bewusstseinszustandea  und  zweitens  der  Versuch  einer 
Klaaeifikation  der  Arten  des  Fortschreitens.  Allein  hiermit 
sind  die  Voraussetzungen  eines  bestimmten  Denkresultates 
nur  fllr  ein  paar  markante  Fälle  angegeben,  wo  —  wie  bei 
der  identifizierenden  oder  subsummierenden  Apperzeption  — 
durch  die  Ähnlichkeit  der  zwei  aufeinanderfolgenden  Stadien 
auf  ihren  Zusammenhang  die  Au^erksamkeit  gelenkt  wird; 
ein  fluchtiger  Blick  auf  die  Unzahl  menschlicher  Äusserungen 
zeigt,  dass  es  nur  selten  gelingt,  sich  die  Voraussetzungen 
einer  Aussage  so  klar  zum  Bewuastsein  zu  bringen.  Wie 
will  man  aber  über  den  Aneignungsprozess  im  HOrer  etwas 
anamachen,  wenn  man  den  Elntstehungsprozess  im  Sprechen- 
den nicht  beschreiben  kann? 

Bei  der  Aneignung  von  Sinneswahrnehmungen  ist  der 
Prozess  mit  Zuhilfenahme  der  Assoziation  und  Verschmelzung 
noch  leidlich  zu  erklären,  wiewohl  eingewendet  werden  muss, 
dass  der  Hergang,  so  wie  ihnHEBSABT  und  Stbinthal  schildern, 
an  der  Selbstbeobachtung  ebensowenig  ßUckhalt  hat,  wie 
Hxbbabt's  Abatraktionsprozess.  Ich  finde  es  daher  sehr 
treftend,  dass  Lazabxjb  die  Apperzeption  einfach  als  die 
Keaktion  der  mit  Inhalt  gefüllten  Seele  gegen  äussere  \md 
innere  Ferzeptionen  bezeichnet  und  auf  eine  ausfuhrliche 
Schilderung  derselben  verzichtet.  Sie  lässt  sich  thatsächlich 
nicht  bieten,  wie  weiter  unten  bei  Besprechung  der  psychischen 
Kausalität  gezeigt  werden  wird.  Bei  der  Apperzeption  von 
Äusserungen  indes  findet  man  mit  obigen  Behelfen  nur  schwer 
sein  Auslangen.  Ist  mir  der  Inhalt  einer  Äusserung  be- 
kannt, wird  mir  also  irgend  ein  Lehrsatz  der  Physik  zitiert, 
wenn  auch  in  ungewohnter  Fassung,  so  hat  der  Fall  mit  dem 

')  BewÜB  datOr,  dass  knaksnitt'  „ProlegDmena"  (Philosophie  als 
Denken  der  Welt,  nMb  dem  FriiiEip  des  UainsteD  Ecaftmasaes,  Lehiiig 
187(n  noch  ganz  in  jibhingigkeit  von  HERBABi'soben,  speziell  SnniTBiL'soben 
ABsohmnigeD  abgefaast  sind.  Siehe  Eon»,  Zur  Analyse  des  Apperzeptions- 
begrifiee.    Berlin  1898,  8.  146ff.,  S,  167fr. 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


270  HermaBii  Bwobod«: 

der  Apperzeption  von  SinneswahmehmungeD  allerdings  noch 
einige  Ähnlichkeit:  die  neue  Fassiumg  vird,  wofern  sie  in 
etwas  an  die  alte  erinnert,  diese  reproduzieren,  ja,  wenn  die 
Abweichungen  gering  sind,  werden  wir  sie  ganz  überhören, 
nod  mit  der  alten  Fassung  wird  uns  der  Inhalt  des  Lehr> 
Satzes  gegenwärtig.  Wie  aber,  wenn  uns  der  Lehrsatz  selbst 
nicht  bekannt  ist,  wir  aber  —  einen  gUnsügen  Fall  genonunen 
—  auf  dem  betreffenden  Gebiet  bewandert  sind?  Eine  Re- 
produktion des  Bezeichneten  in  toto  ist  naUlrlich  in  diesen 
Falle  ausgeschlossen;  eine  blosse  Zusamm^assung  der  ein- 
zelnen Bestandteile  der  Mitteilung  wohl  nur  bei  Beschreibungen 
genügend.  Es  bleibt  uns  noch  ein  Drittes  übrig:  dass  wir 
nSinlieh  die  Worte  zum  Aulaas  nehmen,  uns  em  Bezeichnetes 
selbst  zu  suchen,  für  welches  wir  die  mitgeteilte  Bezeichnong 
angemessen  erachten;  dass  wir  mit  den  gebotenen  Elementen 
selber  wirtschaften,  dass  wir  sie  hin  und  her  kombinieren, 
bis  die  mitgeteilte  Aussage  so  auf  sie  passt,  wie  unsere 
eigenen  Aussagen  auf  unsere  eigenen  Einfälle;  wo- 
von wir  ein  sehr  deutliches  QefUhl  haben.  Bieses  Gefühl 
ist  der  Massstab  des  Verständnisses.  Ehe  sich  dieses 
GefUhl  nicht  einstellt,  dürfen  wir  nicht  ruhen,  dürfen  wir 
nicht  annehmen,  in  jemandes  Ansichten  eingedrungen  zu  sein '). 
Das  Verstehen  ist  in  diesem  Falle  zum  Teile  Selbst- 
schaffen. Steimthal  kommt  diesem  Sachverhalt  mit  der 
4.  seiner  Apperzeptionsformen,  der  schöpferischen,  nahe, 
welcher  „der  Umstand  eigentUnüich  ist,  dass  in  den  be- 
treffenden  HUlen  das  apperzipierende  Moment  selbst  erst 
geschaffen  wird  ..."  Er  rechnet  hierzu  das  Erraten,  Ver- 
muten, Ahnen.     „Gegeben  .  .  .  sind  Vorstellungen,   die  an 


')  Vgl  LoFB,  Gnmdthatsaaheii.  S.  466f.  über  die  .endgOltig  geafigan- 
dSD  BMingängen  der  BeDeonong*. 

FsuTL,  der  in  einer  FeetBohiift  (TetHtshen  nnd  Bonitailen,  M ftsdian 
1877)  ein«)  Behi  verwoirenen  Begriff  von  „Vetatehea*  ^twiokel^  nwdit 
doch  tiiügt  traffende  BeobuhtaugeiL,  (o  B.  9:  D»  Yentaheii  ist  «in  no- 
mittelbues  denkendes Erhtsen,  welobe«  mit  einem  gewiieen  InttinktiTen 
Oefflhl  der  Biohtigkeit  breitet  ist,  gleiohnd  ob  lotsten«  wiiklidt  ein 
bwoobtigtes  iat  oder  niobt 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Tarctehra  und  Begreitai.  271 

sich  uaTersländlich,  weil  zuBammeahaagslos  oder  einander 
widersprechend  Bind.  Hierzu  werden  YorBtellungen 
von  innen  her  gefügt,  durch  welche  das  Gegebene  er- 
^nzt,  vennittelt,  verständlich  gemacht  wird:  dieses  wird 
Ton  jenen  apperzipiert".  {AbriaB  I  S.  216).  Die  Umgebung, 
in  welcher  sich  diese  Sätze  finden,  zeigt  jedoch,  dass  sich 
STKniTHAi,ilirer  allgemeinen  Bedeutung  keineswegs  bewusst  war. 

Wie  viel  der  Phantasie  bei  diesem  Selbstechaffen  zu 
leisten  bleibt,  ist  abhängig  teils  von  dem  Grade  der  Vor- 
bereitung, teils  TOD  der  Anleitung,  die  mir  eine  Aussage  zu 
ihrer  Verifizierung  bietet,  flberdles  von  Anlage  und  Übung. 
Das  Verstehen  wird  zur  Kunst,  es  erfordert  Kongenialität, 
wenn  Teilbedingungen  beizustellen  sind,  für  welche  in  der 
Aussage  selbst  keine  Anhaltspunkte  vorHegen.  Da  in  diesem 
Falle  das  erwähnte  Gefühl  der  Adäqnatheit  der  Bezeichnung 
oder  vielmehr  der  Inadäquatheit  des  Bezeichneten  der  ein- 
zige Antrieb  zum  Aufsuchen  von  Teilbedingungen  ist,  so 
kommt  natürlich  auf  die  Ausbildung  dieses  Gefühles  auch 
sehr  viel  an.  Wer  dasselbe  durch  flüchtige  Schreiberei 
korrumpiert,  der  sacht  es  anch  bei  der  Lektüre  nicht  zu 
erreichen.  Wie  man  schreibt,  so  liest  man,  modifizierende 
Umstände  abgerechnet:  hinter  einem  neuen  Autor  z.  B. 
sucht  mann  nicht  so  viel  wie  hinter  einem  Altmeister. 

Zu  erwähnen  ist  auch  die  Zeit,  welche  hiernach  das 
Verstehen  erfordert.  Sie  kann  sehr  grossen  Schwankungen 
unterliegen;  sie  kann  unter  anderem  durch  Übung  so  ab- 
gekürzt werden,  die  zwischen  Lesen  eines  Satzes  und  seinem 
Verstehen  mitten  inneliegende  Phantasiethätigkeit  kann  so 
zusammengedrängt  werden,  dass  wir  sie  ohne  besonderen 
Anlass  nicht  gewahren.  Bei  ^gerer  Dauer  kommt  uns 
wohl  durch  die  Anstrengung  und  Ermüdung  unsere  Aktivität 
zum  BewuBBtein. 

£e  könnte  leioht  die  Ansiaht  entstahen,  dus  .Tentehen"  tberbaopt 
niobti  s«  ila  die  „ütiTs  Appenoption''.  Alldn  der  dem  Veistehon  eigen- 
tttmtiBhe  MaohuiamQs  wiid  dnrch  Anfmerksunkeit  und  Wille  Diaht  toII- 
tttiHiig  cliarakterisiflit,  &bgaaehen  daron,  diBS  d»  Fnueas  das  Tentehana 
MnaawegB  immBi  mit  den  MerkmalBn  dot  „aktiven  Appeneption"  mns- 
gWittet  zn    iwn    bnaobt.     Dann   ist   die    «aktiTa    AppeneptioD"    aodi 


iM,Coo<^lc 


Hecmann  Swobod»; 


AensMTTiiigeD  bew^ir&iikt.  Wir  radea  iwar  tnioh  vom  VerrtelieD  Ton 
BiogeD,  die  nraprüngliche  Badeatang  wmr  dies  aber  entschieden  night. 
Siehe  m  diesrnn  Pnnfcte  Luabus.  Leben,  S.  ISO  Anmerhing.  Bei  Lunn 
fa.  a.  0.  8.  IH]  kann  man  Ton  einem  Begriff  der  aktiven  Appeneptm 
niobt  reden;  aber  eben  dadurch^  daaa  er  keinen  lilaraa  Begriff  entwinkalt, 
wahrt  er  aioh  die  Freüieit  cn  euer  Beihe  treffander  Bamchtongn.  8e 
weist  er  uamentlioh  anf  den  Anteil  des  OefOlita  an  den  AppeneptionB- 
proiessen  bin.  ,Im  OefdhI  wird  der  Wert  der  Feixeption  lux  <us  Ich,  ihn 
Bedeatang  Kr  das  übrige  Tontellnngs-  und  Oernfttäleben  erkannt".  T^. 
hiermit  das  melirboh  fibei  die  vitale  Bedeutung  nnserer  Ansaageo 
Bemerkte. 

Worin  diese  Aktivität  besteht,  davon  ist  in  Abschnitt 
rv  ausfUhrUch  die  Rede  gewesen.  Es  ist  übrigens  fUr  das 
Wesen  des  Verstehens  ganz  gleichgiltig,  zu  welchen  SchlUseen 
man  Über  die  Natur  des  Denkens  kommt  Die  psychologischen 
Deokgesetze  allein  vermittehi  niemandem  Verständnis;  die 
Hauptsache  bleibt  das  „CrefUhl  der  angemessenen  Be- 
zeichnung"; man  kann  sich  bei  der  Lektüre  eines  Autors 
sehr  viel  denken,  ohne  ihn  zu  verstehen,  indem  man  sich 
von  seinen  Worten  zu  eigenen  Gedanken  anregen  l&sst. 
Dies  begründet  aber  einen  tiefgehenden  Unterschied  zwischen 
meinem  Verstehen  und  der  Apperzeption,  sei  es  dieser  oder 
jener  Schule.  Die  Apperzeption  ist  die  Aufnahme  imd  Ver- 
änderung einer  Perzeption  durch  meinen  eigentümhcfaen 
Seeleninhalt,  ein  Ich-isieren  alles  Neuen  und  Fremden,  was 
bei  fremden  Äusserungen  nichts  anderes  beissen  kann,  als 
dieselben  missverstehen.  Apperzeption  und  Missverständ* 
nis  ist  dasselbe  1).  Wir  brauchen  uns  nur  an  Denker  ver- 
schiedener ausgesprochener  Richtungen  zu  erinnern,  um  diese 
Gleichung  zu  bestätigen.  Wer  in  ein  bestimmtes  System, 
Begriffsgebäude  verrammt  ist,  der  hOrt  und  sieht  nur  mit 
diesem  System,  seine  Begriffe  stehen  gleichsam  an  den  Ein- 
gangspforten zu  seinem  Innern  und  weisen  ganz  Verschiedenes 
a  limine  ab,  während  sie  minder  Verschiedenes  verspeisen 

')  Dies  sohwebt  anoh  Lmas  klar  vor  und  veranlasst  ihn,  .un- 
richtige, subjektive  Apperieptionen"  in  unterscheiden  (8.  S9 und 40). 
Dar  B^riff  d«  AppeneptiDn  Usst  indes  eine  sololie  Untersoheidong  nieU 
■o;  die  AppeneptioD  ist  ein  Vorgang,  der  sich  im  Hörer  abstielt  nn]  nm 
Standpunkte  dieses  sind  alle  Heine  Appwiaptionen  richtig. 


iM,Coo<^lc 


I  lad  B«pWfly. 


B^HM.  ,.      37» 

Qod  asriiniliereni)^  Baber  dje  beltaiitite  Erscheuang,  daafi 
grosse  selbatändige  Denkor  so  leicht  dazu  hiimejgda,  andere 
HÜBazaTerstehen,  ja  leideaschaMcb  nüBBZuTerBtehen.  Bei 
ihnea  ist  die  Stärke  der  appempierendea  Begriffe  Bofanld 
in  vieleo  aoderea  Fällen  jedoob  die  Schvficfae  und  Beqaeib- 
lictdteit  der  Äpperziplerenden,  w^ehe  die  Mühe  des  Sitii- 
hineindenkeiui  scbeaeii  und  lieber  Unrecbt  thon  ala  für  die 
riehtige  SSnsicht  ein  bisBchen  Abbruch  leiden.  „Was  man 
aia  Mängel  der  Intelligenn  anBiebt,  sind  d^er  nicht  selt^ 
F^er  des  Willens.  Seinen  Neigungen  und  Wünschen  zuta 
TrotB  unbefangen  und  gründlich  zu  appermpibreh,  ist  darum« 
vuiig8t«n3  auf  wisseoBobafUichem  und  eäüscbem  Q«biete  im 
Qninde  eine  sittliche  That  Und  das  Vorrecht  starker  0ha- 
raktere"  =). 

Wir  apperzipieren  aläo  mit  dem  eigeben  tch  und  ver- 
sMiMi  mit  dem  fremden  Ich.  Das  beisst,  ein  zu  verstehen, 
müssen  vir  am  unserem  geistigen  Yorrat  das  fremde  Iota 
za  konstruira^n  attchen.  Das  Exitetium  des  CteÜngeas  iM 
das  „Gefahl  der  angemessenen  Bezeiehnung''i  Dae 
„G^fHhl  der  nn  angemessenen  BeHeichnung"  ist  dann  das 
UnlustgefUhl,  welches  zu  seiner  Aufhebung  durch  das  Votl" 
versUbidnis  drängt.  Es  u-heitet  der  Apperzeption  entgegeni 
Unser  Verhalten  fremden  Äusserangen  gegenüber  wird  melflt 
ein  Eompromiss  sein  z¥ris(dien  nnsereo  Apperzeptionszentrea 
nnd  dem  „tJnlnstgefabI  der  nnangMaeesenen  BezeichnBi^''i 
wobei  nach  der  Li^e  des  Falles  der  Vorteil  sich  jeweäs 
der  einen  oder  anderen  Seite  zuwenden  wird.  Die  Appw- 
zeptionen,  da  sie  die  Änwraidung  des  «kleltist^  EraftmaMSs" 
gestatten,  werden,  der  fikonomischen  Natur  omeres  EUitnd- 
systems  entprechend,  immer  den  grosseren  Teil  hiatschen;  eis 
schützen  uns  vor  der  Störung  durch  fremde  Meinungen,  vor 
der  Peifa  des  Uölemenfl,  sie  sind  eine  sehr  wohMhätige  Ein- 
riohtong  für  den  Organiamas,  eine  SchutsTtHTiehtuag  gegen 


■)  Lu(9x,  ft.  «.  0.  a  48. 

■uKtu«.  FUlM.  B.  Sodok    XXVO.     t.  iS 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


274  Hermann  Svoboda: 

ÜberaofitreBgung  durch  allzu  riet  Neues.  Unser  erstes  Inter- 
esse ist  daher  das  KissTersteheo.  Das  Missverstehen 
ist  uns  ein  LebensbeddrfDis.  Zum  VerstSndiiiB  aber 
drängt  eine  Beihe  von  Interessen,  deren  Nichtbefriedigung 
schwerer  empfunden  würde,  als  die  Störung  der  geistigen 
Ruhe.  Beim  Gelehrten,  der  berufsmässig  in  fremde  Gedanken 
eindringt,  mt^  das  „UnlustgefUhl  der  unangemessenen  Be- 
zeichnung" das  einzige  Agens  sein;  sonst  wird  häufig  in 
Betracht  kommen,  die  Besorgnis,  jemandem  Unrecht  zu  thun, 
die  löbliche  Absicht,  den  Gegner  vom  gegnerischen  Stand- 
punkt zu  kritisieren,  und  vor  allem  die  Anssicht,  unsere 
Kenntnisse  zu  vermehren,  auf  verheissende  Pfade  gelenkt 
zu  werden.  Beim  Vorhandensein  so  kräftiger  Anbiehe  wird 
dann  jenes  GefUhl  zum  blossen  Messinstrument  für  den  er- 
reichten Grad  des  Verständnisses. 

Der  erwähnte  wichtige  Unterschied  zwischen  Apper- 
zeption und  Verstehen  schUesst  noch  einen  anderen  ein. 
Apperzipieren  können  wir  jederzeit,  apperzipieren  müssen 
wir.  Jede  Perzeption  ist  eine  Apperzeption,  wenn  man  unter 
Apperzeption  nicht  besonders  aufigezeichnete  Fälle  yerstebt'). 
Dagegen  ist  es  offenbar,  dass  wir  nicht  inmier  verstehen 
können;  wir  müssen  ja  das  fremde  Ich  aus  eigenem  Material 
zusammensetzen  und  was  wir  hierzu  nicht  haben,  das  können 
wir  uns  durch  die  grösste  Beweglichkeit  des  Geistes  nicht 
beschaffen.  Das  sind  die  Fälle,  von  denen  gleich  im  Anfang 
die  Rede  war,  wo  wir  geduldig  zuwarten  müssen,  bis  uns 
das  Lehen  im  weiteren  Verlaufe  die  Bedingungen  des  Ver- 
ständnisses von  selbst  beistellt.  „Sowie  dem  Verstehen  ein 
untilgbarer  Rest  der  Subjektivität  einwohnt,  so  kann  es 
nicht  erzwungen  werden,  denn  der  eine  Faktor  desselben 


')  loh  stimme  in  diesem  Punkte  vollkommen  Lkuxua  bei  (Lebw  d. 
8.,  B.  41—43),  der  mii  in  dieser  Fntge  der  einiig  konseqnente  und  natfir- 
liebe  scheint,  namantlioh  im  Qegensatc  n  SnümuL,  waldier  die  F>r- 
leption  der  ipperseption  folgen  Usst  und  duoit  ihren  BegilS  roUiUndil 
Ändert,  indem  ar  sie  tu  einem  selbstlDdigen  payahisoheB  FUnomeo  maolit, 
wlhiend  aie  ^Igamein  als  ein  abatrahieiter  Beatandtaü  eines  BoMwn  gilt 
Siehe  SramKU.,  Abriaa  der  Bpntohwiuensohaft  I  S.  ISOff. 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


Tentalien  und  B^idfen.  275 

liegt  steta  in  einem  iadlTiduellen  selbsteigenen  Er- 
lebnis, 80  dass  der  Spruch  des  Dichters  „Wenn  ihrs  nicht 
fllhlt,  ihr  werdet's  nicht  erjagen"  auch  fUr  die  Wissenschafts- 
lehre Beine  G-eltung  haf^). 

Apperzipieren  und  verstehen  wird  nur  dann  zusanunen- 
fjdlen,  wenn  zwei  Individuen  ganz  im  allgemeinen  oder  fUr 
einen  bestimmten  Fall  annähernd  gleiche  Vorbereitung  haben. 
Sonst  muss  auf  die  erst«  Apperzeption,  die  ich  mit  meinem 
Bewussteeinsinhalt,  wie  er  eben  ist,  vornehme,  noch  eine 
zweite  folgen,  fUr  welche  ich  meinen  Inhalt  erst  adaptira^n 
muss.  Der  Prozess  beim  Verstehen  ist  dann  nicht  der  ent- 
gegengesetzte wie  im  Sprechenden,  sondern  ganz  der  nSm- 
liche.  Entgegengesetzt  ist  nur  der  Hergang  beim  Verstehen 
der  Bezeichnung,  schon  physikalisch  betrachtet.  Das  Ver- 
stehen des  Bezeichneten,  das  Auffassen  des  Sinnes  hin- 
gegen, kann  nur  in  einer  Bichtung  erfolgen,  da  der  Sinn 
in  gar  nichts  anderen  besteht  als  in  der  Aufeinander- 
folge von  Gedanken  in  dieser  Richtung*).  Man  muss 
nm-  immer  an  Beispiele  denken,  wo  das  Verständnis  Schwierig- 
keiten bereitet  Wo  einmal  Übung  und  aadere  günstige  Um- 
stände im  Spiel  sind,  wird  die  Unterscheidung  der  einzelnen 
Phasen  und  ihrer  Succession  sehr  erschwert. 

Es  war  schon  des  öfteren  von  Graden  des  Verständ- 
nisses die  Rede  und  es  fragt  sich,  wie  dieselben  im  Verhält- 
nis zum  Vollverständnis  zu  charakterisieren  seien.  Mindere 
Grade  des  Verständnisses  werden  vorliegen,  wenn  von  den 
geforderten  Teilbedingungen  einige   fehlen.      Welche  fehlen 


')  Fkuitl,  a.  a.  0.  B.  20. 

*)  Völlige  YerkenDODg  dieses  Verb&Itmsses  bei  HaBBUt  e.  B.  (Werke, 
Bd.  TI,  S.  IM)).  £r  spriobt  dort  von  g&tuliohen  Aufgehen  in  eioem 
Dioliter  and  sBKt  von  der  sioh  hierbei  vollziahendea  Appeneption:  .Ohne 
Zwaitel  mnae  sie  bei  dem  Dichter  früher  eine  innere  sein,  ehe  sie  fOr 
den  Leser  eine  kusseie  werden  konnte.*  Haß,  was  der  Lesei  ftoseerlJoh 
^ipoiipieit,  iat  gmt  etwas  anderes,  ab  was  der  Dichter  innerliob  appor- 
Bpiert  (vgl  S.  im  Text).  Gerade  Holche  IMohter  wie  der  toq  Hkbubt 
angefahrte  Walter  Soott  sorgen  doroh  die  detaillierte  Einführung,  dass  ihnsn 
der  Leset  jeden  inneren  Schritt  leioht  naohmaobrai  känne,  also  gleioti 
ihnen  apperdpiere,  natörliiji  Termittela  und naoh  der  änsaeren  Apperseption 
dar  Worte. 

18' 


iM,Coo<^lc 


379  HMnudD  BwsboiK 

dOi^n,  iwoM  tHwrbanpt  nooh  Tom  VeraMiäi  (fie  Rede  8^ 
kaon,  fa&ngt  von  den  Umständen  des  Falles  ab.  Eriunnt 
rastt  Bi(di  fibrigens  des  ITiiterseMedee,  w^eber  Bwiscben  dsm 
Tollen  Yersteben  und  nur  dem  nächsten  tiefereR  Grad  beat^ 
—  BMft  kann  ihn  konetatiereii,  vqbb  man  dareh  mimi  kldn- 
lichea  Umstand  plOtxlicli  Lieht  ttoer  einen  Satz  «npSi^ 
doD  man  völlig  zo  verstriiMi  meiste  —  bo  wM  man  es  für 
angesägt  oraobten,  die  BeKeichnimg  „Tersteheoi*'  anr  flir  das 
yoUrer^t^eiL  aäznvenden.  In  den  Fällen  mindereR  Ver- 
stehenB  bandelt  ea  aich  doch  meist  nur  ran  ein  Wissen,  ein 
Wortwifisen;  vieirohl  aueli  der  Fall  verkoramty  dass  wir 
den  Worten  einen  Inhalt  ontM-legen,  den  vir  näi  unserem 
übrigen  BewoBstseinstnhalt  in  organische  yerbindong  zu  setzen 
vermögen,  für  den  aber  d8e  Worte  nidit  die  (mgemeeBene 
Bezeidmong  sind.  Damk  ist  zwar  der  andere  nicht  ver- 
standen,  aber  man  hat  sich  wenigstens  keiner  ÄusserliohlEdt 
schiddig  gemacht 

Scbliestdich  sei  noch  eines  häuägeü  FäCes  Srwähnimg 
gethan,  dessen  Erklärong  sieh  aus  dem  Vorigen  leichi  ergiebt. 
Wenn  wir  nämlich  tlber  eine  Frage  zu  grosser  fiJarheit  ge- 
kommen sind,  So  finden  wir  „richtige  BemeriCungen"  hier- 
über oder  „Ahnungen",  „migenaue  Formulierongen"  auch 
bei  anderen').  Wir  verstehen  andere  dann  besser  als  diese 
sieh  selbst;  eigentUeh  sind  aber  doch  wir  selbst  die  Yor- 
standenen  (Siehe  Anm.  1).  Daraus  ergiebt  sich  der  Nutzen 
der  (Gepflogenheit,  ein  Bu«h  erst  dann  zu  lesen,  nachdem 
man  sich  im  Anschluss  an  Titel  und  Inhaltsverzeichnis  eigene 
Gedanken  gemacht').     Die  Worte  haben  nur  dann  Kraft, 


')  So  Mgt  Kim  TOD  yWBBWt  PiioiipiMt:  «IW  mnA  dnnb  ägeam 
NKhdmkoiL  twnr  ulbst  damf  |ahoiinB«B  am,  bsranb  Sidat  mM  Ü 
mtb  andtUKtiis,  wo  inaii  tnt  gemN  nlalit  ntfat  wQuIb  kngstFoSan  UbM, 
weil  di«  Veifaner  soHnt  miA  maak  wnetten,  d«W  ikWi  »igMin  B>- 
makmigeit  eiiia  sriehe  liw  cn  QniMs  UegB.'    tPnltgtmuM,  (  3  in  In.) 

*i  Tgl.  Lura«  K.  K  0.  19B.  IKo  mriMe  KMkait  fibn-  to  W<hb 
dn  TonMmiB  habe  ioh  bot  Jaraaalem  gvAmdMt  (a.  «.  0.  S.  Vt9tt.  H^Atf 
sdbatnxfl^te  md  fibsriiafarta  Uitoll«.")  So  ngt  w  i.  B.:  „Wv^  «■ 
Mgnflnrtail  nött  odtv  liMt,  dor  n^nto,  uii  tu  kbu  tn  mBiMUBf 
aaoh  jene  Urteile  bereits  selbst  eizeogt  oder  noh  angeeignet  haben,  die  mr 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


YtakAaa  nnd  Btgni&n.  277 

sreBD  sie  iLein«  b«n0tigea.  IXe  wirksamBten  Redner  Bud 
die,  wedche  iiiren  ZvAörem  eigentlich  nidtits  sagra,  soiuUvn 
nur  dem  .eiaen  Namoi  geben,  was  jeder  schon  i  n  üdi  trSgt. 
Die  Lust  der  Übemufitimmuiig,  das  B^iagoi,  seine  Anaicliteii 
in  trefilichea'  FormtiUifinmg  zu  flDden,  ist  häufig  weit  grfiaser 
ala  d«a  am  Erwwb  neuer  Q«sehtepunb:te  um  den  Preis  alter, 
£umal  jede  neue  AJoäfM,  felis  sie  oicht  aus  ms  selbst  Tor- 
gdit,  im  Beginn  nir  ein  Wort  ist  Dana^  bestimmt  sieb 
der  Wert  tob  Di^nssionen,  beantwortet  sich  die  frage, 
eviseb^Q  welchen  Individuum  ttberhai^t  Temlbifiiger  Weise 
eine  Di^nssicm  statt  haben  könne,  eine  Diskussion,  bei 
veidier  die  Teilnehme  nidd:  ihre  Panz«'  aneinander  reiben, 
«fflidem  sich  emer  am  andern  modifixieren,  ilire  Seelen  ge- 
wiasermassen  komaumizier«)  lassen  und  aufs  gleiche  Niveau 
t»ingeB. 

Es  möge  nun  docA  Erwähnung  finden,  in  welchem 
Zusammenhang  Verstehen  und  Wiedererkennen  steht. 
Bas  Verstehen  kann  ein  Wied»«rkennen  sein,  u.  z.  des 
Inhalts  cönn-  Aussage.  Die  Formulinimg  des  Inhalts  braucht 
kemeewegs  an  «ne  IrUher  einmal  von  uns  getroffene  an- 
ziddiDgeQ.  Ja,  es  kann  die  gleiche  Form  cfiner  Aussage  zu 
einem  vermeintUchenWiedererkenn«i  undVerstehen  ftlliren. 
£m  venneintliches  WiedeiM-kennen,  eine  scheinbare  Bekannt- 
schaft liegt  auch  im  Ftüle  der  eigentlichen  At^rzeption  vor, 
wie  oben  ausgeführt  Vermögen  wir  in  einer  Aussage  nichts 
Bekanntes  wiederzufindwi,  so  mtlssen  wir  uns  auf  die  voriiiü 
geschilderte  Art  ndt  ihr  bekannt  machen.  Wir  mUssen 
trachten,  ihr  gegenüber  in  jenes  V«-hältms  zu  treten,  als 
wenn  sie  uns  schon  bekannt  gewesen  wäre;  es  handelt  Kch 
darum,  one  Gleichung  zu  erfüllen.  Im  Augenblicke,  wo  ich 
eräe  bis  dato  unbekannte  Aussage  vernehme,  ist  die  Gleichung 
auf  beiden  S«ten  unvollständig.    Ich  weiss,  was  der  andere 


KUoiig  der  darin  Torkommanden  Begriffe  eef&hit  haben."  Und  b 
„Zu  nnserem  geistigen  Bigentatn  werden  Beeri&nrteile  ent  dann,  wtam 
irir  den  aÜgaUiltsn  Inlialt  in  unaarer  Vontt^nng  rekonatmieren  imd 
dmoh  aelbstindige  Urteile  gestalten." 


iM,Coo<^le 


278  Heimaan  Swoboda; 

sagt,  aber  noch  nicht,  was  er  meint;  und  das,  was  ich  meine, 
was  ich  mir  „beim  ersten  Hören  vorstelle",  giebt  eine  von 
der  vernonmienen  verschiedene  Aussage.  Ich  muss  nun 
meine  Meinmig  so  ändern,  dass  sie  eine  der  vemonmieiien 
gleiche  oder  wenigstens  ähnliche  Aussage  giebt,  alsdann 
kann  ich  der  mitgeteilten  Aussage  die  selbstgefundeue 
Meinung  koordinieren.  Das  Verfahren  bei  der  Auflösung 
dieser  Gleichung  ist  ein  reines  Probieren,  ein  Sueben.  Man 
hat  daher  auch  von  „Probeapperzeptionen''  gesprochen.  Der 
Bezirk  des  Sucheus  kann  durch  mannigfache  Umstände  ab- 
gegrenzt und  das  Finden  hierdurch  erleichtert  werden. 

Endlich  sei  noch  mit  einigen  Worten  von  der  Beziehung 
des  Verstehens  zu  dem  in  der  neueren  Psychologie  ge- 
schaffenen Begriff  der  Einfühlung  gedacht.  Von  Ein* 
fiihlung  wird  zwar  in  der  Begel  Emotionen  gegenüber  ge- 
sprochen, doch  fehlt  es,  wie  die  Vertreter  dieses  Begriffes 
bemerken,  nicht  an  Analogien  auf  intellektuellem  (Jebiete. 
Einfühlung  ist  die  Vereinigung  des  fUhlenden  Subjekts  mit 
dem  Objekt,  die  Durchdringung  des  Q«genstandeB  mit  unserem 
Ich').  Personen  gegenüber  heisst  Einfühlung  nichts  anderes 
als  „sich  hineinversetzen".  Bezüglich  dieses  Sich-hinein- 
versetzens"  stehen  sich  nun  zwei  Ansichten  gegenüber.  Die 
„Aktualitätsausicht"  und  die  „Vorstellungsansictit'', 
wie  sie  Witasbk  in  dem  oben  zitierten  Aufsatze  nennt. 
Nach  der  ersten  Ansicht  ist  der  Zustand  des  Einfühlenden 
ganz  der  nämliche  wie  dessen,  in  den  eingefühlt  wird,  nach 
der  zweiten  besteht  das  Einfühlen  im  Vorstellen  von 
fremden  Emotionen.  Die  zweite  Ansicht  nCtigt  natürlich  zur 
Annahme,  dass  es  ein  Vorstellen  von  Psychischem  gebe; 
und  diese  Annahme  wird  in  der  That  gemacht^).  Dem  Ein- 
fühlen entspricht  auf  intellektuellem  Gebiet  daa  Sich-hinein- 
denken,  das  „Eindenken".  Bringen  wir  auch  hier  die  beides 
obigen  Ansichten  zur  Anwendung,  so  besteht  nach  der 
Aktualitätsansicht   das  Eindenken  darin,  dass  ich  ganz  das 

')  Tgl.  VisomtB,  das  Symbol.    Anfstttia  m  ZalleiB  JabiUnm. 
»)  Vgl.  TiTiant,  a.  a.  0. 


iM,Coo<^lc 


Vantehen  and  Bigreifen.  379 

nämliche  denke  vie  der  andere,  nach  der  Yoratellun^Bausieht, 
dass  ich  nur  vorstelle,  was  der  andere  denkt  Erinnert 
man  sieb  des  häufigen  Diktums:  „Ich  kaim  mir  schon  tot- 
Btellen,  was  du  meinst,"  so  mOchte  oberflächliche  Betrachtung 
darin  wohl  eine  Bestätigung  der  zweiten  Ansicht  finden. 
Allein  nach  allem  Vorhergehenden  kann  kein  Zweifel  sein, 
daSB  wir  uns  zur  Aktualitätsansicht  bekennen,  dass  also  nurder 
mit  Fug  behaupten  kann,  sich  in  einen  anderen  hineingedacht 
zu  haben,  der  seine  Psyche  ad  hoc  der  des  anderen  gleich- 
gestaltet hat.  Dieses  Eindenken  ist  natürlich  mit  Verstehen 
gleichbedeutend. 

Unter  der  „Vorstellung  von  Psychischem"  —  miBS 
ich  gestehen  —  kann  ich  mir  nichts  Eechtes  vorstellen. 
Allerdings,  in  den  Pällen,  wo  wir  jemand  nicht  ganz  ver- 
stehen, uns  nicht  ganz  einiühlen  oder  eindenken,  herrscht  in 
unserem  Bewusstsein  eine  gewisse  Unklarheit,  Blässe,  un- 
behagliche Kebelhaltigkeit,  die  von  der  Vorstellungsfrische 
beim  Vollverstehen  sehr  absticht.  Bei  der  Seltenheit  des 
Yollverstehens  ist  es  nun  nicht  verwunderlich,  dass  man 
mindere  Orade  des  Verstehens  zur  Norm  gemacht  und  sie 
wegen  ihrer  charakteristiscben  Vagheit  zum  Zustand  des 
Verstandenen  in  einen  analogen  Gegensatz  gebracht  hat  wie 
die  Vorstellungen  zu  den  Empfindungen. 

Die  Vorstellungsansicht  ist  psychologisch  erklärlich, 
aber  nicht  haltbar;  die  Aktualitätsansicht  ist  leicht  zu 
halten,  ihretwegen  war  es  aber  nicht  notwendig,  einen  neural 
Begriff  einzuführen.  Sie  betont  kein  irgendwo  neues  psycho- 
logiBches  Moment. 

Tu.  Dm  Verstehen  ron  Ansdntek. 

Zunächst  heisst  natürlich  auch  hier  Verstehen  nichts 
anderes  als  in  der  Situation  dessen  sein,  der  etwas  ausdrückt. 
Allein,  entsprechend  dem  Unterschied  zwischen  Bezeichnung 
und  Ausdruck  ergeben  sich  einige  Modifikationen. 

Der  Ausdruck  dient  in  erster  Linie  einem  subjektiven 
Bedürfiiis,  er  befreit  uns  von   einem  peioigenden  GefUhls- 


iM,Coo<^lc 


abermaw.  Bern  antapredieod  wJM  dae  Lustgefühl  deasen, 
der  fremden  Ausdruck  Tersteht,  noch  weit  grösser  sein  als 
dessen,  der  fremde  Aussagen  rerstebt.  DafOr  ond  aber  die 
ßc&wietigli^iten  des  Verständnisses  SMck  grosser  als  bei  den 
Aussagen,  weil  der  Mitteüungswert  des  Ausdnu^es  weit 
geringer  ist  als  bei  diesen.  Als  Beispiel  diene  wie  oben  die 
Husik.  Bs  ist  ja  vielleicht  von  keinem  anderen  Verst&adniB 
deraeit  so  viel  die  Rede.  Was  beisst  also  Uusik  v^'Stehen 
und  welcher  Art  ist  der  physische  MecbaaismuB  dieses  Vet- 
«tehensF  Dabei  sehen  wir  von  der  Form  der  Musik,  also 
dem,  was  ihren  ästhetischen  Wert  ausmacht,  ganz  ab  und 
denken  nur  an  den  Inhalt,  an  die  emotionellen  Elemente, 
weldie  in  ihr  zum  Ausdruck  gebracht  und. 

Ww  zuföllig  mit  jenem  QefQhl  in  den  KcHizertsaai 
kommt,  aus  welchem  heraus  das  vorgetragene  Stack  kom- 
poniert ist,  der  wird  es  verstebeu  und  er  wird  sich  keines 
Augenblick  im  Zweifel  seio,  dass  er  es  versteht.  Die 
OfaarakterisCik  des  V^steh^s  ist  aiu^  hier  ungemein  Uar, 
es  ist  die  Charakteristik  des  Selbstsdiaffens  wie  <^}mi  des 
ßelbstdenkena.  Zum  volien  musikalischen  Verständnis  wird 
daher  nur  derjenige  be^%higt  sein,  dessen  mu^kafiscäe 
Phantasie  so  entwickelt  ist,  dass  er  an  eigene  Gefflble  ii^eod 
welche  musikalische  Elemente,  wenn  au^  vagw  Natur  uwl 
g»iz  dilettantenhaft,  anzuknüpfen  beßUiigt  ist,  mOgen  dieselben 
aiichmitgeringenAbweichungennidits  anderes  als  musikalisdie 
Erinnerungen  wiedergebe.  Ebenso  wie  jemand,  der  «e 
einen  eigenen  Gedankwi  gehabt,  auch  nie  einen  fremden  ver- 
stehen wird,  weil  ihm  jeder  Massstab  für  den  Grad  seines 
Eindringens  fehlt  und  jeder  Ansporn  hierzu,  so  wird  auch 
nur  der  in  der  Musik  volle  Befriedigung  suchen  und  finden, 
welcher  wenigstens  in  guten  AugenUicken  geahnt  hat, 
weldien  Genuss  er  sic^  selbst  bei  höhw  entwickelten  Fähig- 
keiten verschaffen  konnte.  Es  genügt  also  nicht,  dass  jemand 
gerade  vom  entsprechenden  Gefühle  beseeät  ist,  sondern  er 
muss  auch  dieses  GefUhl  der  gehörten  Musik  vom  anzu- 
stellen wissen,  er  muss  in  sich  das  ur^Udiliche  VeriiUtois 


iM,Coo<^le 


ud  BflgnitKi.  Sil 

«wischeo  Qatä^  und  Musik  faeratellen  köimen,  wozu  unter 
aadezem  auch  Übun^  ron  nOten  ist.  Das  Versteh«!  tihl  Mjiaik 
üt  iaher  mdd:  der  mo^ekehrte  Prozess  wie  im  Koii4>ooiiten 
nach  dem  Schema:  das  G^efUhl  gestaltet  die  Mu^  und  die 
beBtimmte  Gestalt  der  Musik  erregt  das  ÖetUM,  sondern  ich 
JDUSB  dieses  so  erregte  Geflühl  erat  in  dieselbe  OrdiMing  wie 
baan  Kompitmisten  bringwi.  Nicht  dass  ich  es  habe,  maelit 
das  Vwrtüiiijniti  aus,  sondern  dass  ich  mich  davon  befreien 
iasse,  durch  des  anderen  Musik,  eb«iso  wie  er,  not  eduem 
ff'ort:  dass  ich  die  Musik  als  adäquaten  Ausdruck 
empfinde.  Diese  Empfindung  ist  auch  das  beste  EütwiiHU, 
dasa  icfa  ein  ToastUck  verstanden  habe. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  mich  ein  TonsMck  in  die 
Stimmung,  das  Geföhl  bringt,  welches  es  ausdrückt  Hier 
kommen  nun  hauptsächlich  zwei  Momente  in  Betracht. 
Stimmungen,  GefUhtstöne,  also  ungegliederte  Eontinua 
werden  durch  analoge  Empfindungen  erweckt.  (Klangfarbe, 
Tonart.)  Gefühle,  oder  vielmehr  die  komplizierten  Geflöils- 
TOraussetzungen,  das  bewegliche  Element  am  Gefühls- 
ganzen,  werden  durch  die  Bewegungen  der  musikalischen 
Elemente  reproduziert.  Fr^  sich  nur,  mit  welcher  Sicherheit 
und  Genaui^eit!  Die  Erörterungen  hierüber  sind  noch 
immer  aaf  der  Tagesordnung.  Das  Wichtigste  wurde  schon 
in  einem  früheren  Abschnitte  besprochen. 

MnigM  wird  konieqnent  überselieu.  Man  naimt  die  Mnsik  eine 
fiptuhe.  Aber  man  bildet  Bioh  ein,  sie  nitdit  lernen  m  mtisaeii.  Man  klagt 
äW  die  HitteüoiiKeBobvache  der  Mosik  —  als  wenn  die  Sprache  waies 
Oott  iras  tat  ein  Ideal  in  dieeer  Beziehung  wärel  Die  Venchiedenbmten 
der  Individnalbegriffe  mag  oft  nicht  Tiel  geringer  sein,  als  die  von  QetöMen, 
valohe  oina  nnd  dieselbe  Unsik  b«  TersoluBdenen  Hörern  erregt  Der  üm- 
Btaad,  dass  sich  die  Hensohen  der  gleichen  Worte  bedienen,  tfinsdit  sie  über 
die  Bdiwierigkrit  and  Boltettheit  voUkonunenen  Ventebens  hinweg.  Dann 
iit  die  Mnaü  Ür  MittoiliuigSKwecto  nkdit  gaeofaaffen,  nicbt  aas  BUtteilooge- 
bedöifnia  entständen  und  nicht  dnrcb  dasselbe  entwickelt  Wenn  sie  andeien 
iiidtts  sagt,  so  adhadat  das  ihrem  Sdiöpfer,  dessen  Interesse  sie  in  erster 
lim  vx  bebie^gan  hat,  gar  nidit 

Die  Ausdrucksföhi^eit  der  Musik  steht  ausser  Zweifel, 
so  bald  nur  eiiimal  ein  paar  kongeniale  Geister  einander 
verstehen.    Ich  erioDere  an  Beethovens  IX.  Symphonie,  der 


rmn-ii-.-i  Google 


282  Hermann  Swoboda: 

bis  auf  Wagner  niemand  das  zutreffende  Programm  zu  unter- 
legen Termocbte;  jetzt  finden  freilich  auch  andere  den  Aus- 
druck der  Faustischen  Gefühlswelt  bis  ins  kleinste  DetuI 
von  genialer  Wahrheit. 

Freihch  bedarf  ein  kongeniales  Individuum,  um  der 
Kompositiou  eines  anderen  den  richtigen  Q^flihlsanlass  zu 
unterlegen,  nicht  der  Ifmgweiligen  Beihilfe  von  Assoziationen, 
sondern  es  taucht  aus  dem  reichhaltigen  Repertoire  seines 
Gemütes  von  selber  jenes  Gefühl  auf,  welches  man  in  die 
gehörte  Musik  ausströmen  lassen  kann  oder  es  findet  m 
Vorgang  statt  aDalogden vorerwähnten „Frobeapperzeptlonen'', 
man  versucht  es  mit  verschiedenen  Programmen,  bis  man  das 
richtige  trifR^  Dies,  glaube  ich,  ist  der  Grund  imseres  Vei^ 
gnUgens  am  Öfteren  Hören  der  Musik,  dass  wir  schon 
wissen,  wie  wir  einem  Musikstück  entgegenzukommen  haben, 
dass  wir  uns  schon  zu  ganz  bestimmten  Gemütsbewegungen 
parat  halten  und  durch  den  Wegfall  der  Arbeit  des  Suchens 
ganz  unbehindert  die  Übereinstimmung  zwischen  G«fUhl  und 
Musik  gemessen  können. 

Bas  Verstehen  der  Musik  ist  also  in  weit  höherem 
Masse  ein  Verstehen  quoad  actum  als  das  von  Gedanken- 
äusserungen.  Ihre  Verbindung  mit  den  voraufgehenden  und 
künstlich  festgehaltenen  Gemütszuständen  ist  viel  inniger  als 
die  zwischen  Gedanken  und  deren  Voraussetzungen  im  Be- 
wusstsein.  Daher  der  vitale  Wert  der  Musik.  Die  zahl- 
reichen Anekdoten  über  Heilungen  durch  Musik  —  mag  ancb 
vieles  im  ihnen  übertrieben  sein  —  bleiben  immerhin  sehr 
bezeichnend. 

Das  Verstehen  von  Musik  fällt  mit  den  Wirkungen 
derselben  keineswegs  zusammen,  weder  faktisch  noch  im  Ideal- 
fall. Es  ist  daher  auch  gar  nicht  Absicht  dieser  Zeilen, 
Über  die  Wirkungen  der  Musik,  wie  sie  zum  Teil  in  dieser 
selbst,  zum  Teil  im  HOrer  ihren  Grund  haben,  etwas  aus- 
zumachen. Es  sollte  vielmehr  nur  auf  den  einen  Umstand 
nachdrücklich  hingewiesen  werden,  dass  die  Musik  weit 
weniger  als  andere  Kunstprodukte  losgelöst  vom  Künstler 


n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL' 


Veratehen  nnd  Begreifen.  2g3 

betrachtet  werden  kann,  dass  es  in  ihr  von  subjekäven  Ein- 
mischungen wimmelt,  dass  sie  also  in  jenen  Fällen,  wo  und 
soweit  sie  Ausdruck  ist,  nur  einen  Teil  eines  grösseren 
Ganzen  vorstellt  —  wie  oben  von  Gedanken  gesagt  wurde 
—  dass  sie  nur  im  Zusammenhang  mit  dem  Schaffenden 
Sinn  hat  imd  dass  sie  infolgedessen  für  den  Hörer  nur  Sinn 
hat,  wenn  er  sie  annähernd  in  denselben  Zusammenbang  zu 
stellen  vermag.  Für  das  Auffassen  der  formalen  Elemente, 
des  „Arabeskenartigen"  der  Tonkunst,  besteht  diese  Forderung 
natürlich  nicht.  Daher  der  Genuss  von  sogenannter  „leichter 
Musik"  jedem  Alter,  jedem  Glescblecbt,  zu  jeder  Stunde,  in 
jeder  Umgebung,  bei  jeder  Witterung,  in  jeder  Gemüts- 
disposition freisteht;  während  die  „schwere  Musik"  immer 
Anforderungen  stellt,  Voraussetzungen  heischt  und  deshalb 
von  den  jeweils  Indisponierten  verdammt  wird.  Die  leichte 
Musik  ist  eben^nichts  als  die  Ausgeburt  üppiger  Phantasie, 
ohne  Beziehung  zum  Ich,  das  Ich  weiss  gar  nichts  von  dieser 
Phantasiethätigkeit.  Künstler  dieser  Art  bezeugen,  dass  sie 
beim  Schaffen  sich  ihrer  selbst  gar  nicht  bewusst,  entrückt 
waren.  Die  schwere  Musik  kommt  dem  bedrängten  Ich  zu 
Hilfe,  die  Details  ihrer  Form  kommen  nur  durch  hartnäckiges 
Dasein  des  Gefühls  zustande,  der  Künstler  ist  sich  nicht 
nur  seiner  selbst  bewusst,  sondern  muss  sich  bewusst  sein'). 

TIIL  Du  Terstehen  nach  ATEHAbics'  VlUlnUientheorle. 

Durch  zweierlei  Beobachtungen  ist  Avbnabius  auf  seine 
Vitab-eiheotheorie  gekommen:  durch  physiologische  (im  Än- 
schluss  an  die  GoLTZ'schen  Froschversuche)  und  durch  psy- 

*)  Ans  der  groBBen  Zahl  der  —  meUt  sehi  populär  geh&Iteiieii  — 
Sobriften,  velohe  sich  mit  dem  Tent&DdiiiB  nnd  den  Wiiknngen  det  Hosib 
befuem,  hebe  ich  nnr  hervor  Luabub,  Leben  der  Seele,  S.  Aufl.  III, 
8.  69—201,  wo  man  neben  einer  Beihe  teioater  BeobacbhmKen  (siehe 
namentlioh  8.  139,  140,  149,  IM)  groBse  Ünklartieit  in  den  Prinzipien  vor- 
findei  So  meint  er,  ,Die  wahre  Genialität  des  Komponisten  wird  mch 
nicht  darin  Beigen,  daw  er  seiner  eigenen  Oemütaloge  volUtomtnen  chank- 
teriBtiBchen  Ansdraek  geben,  eondeni  dass  er  mit  Sicherheit  im  Hörer  die- 
jenige Qemfitslage  eizengen  wird,  welche  er  beabsichtigt"  (a.  a.  0.  S.  166). 
Sohirfer  kann  man  den  im  Text  Terworfenen  Standpunkt  nicht  foimnlieien. 


iM,Coo<^lc 


96d  BMtuna  fivohed«: 

«bologjaobe.  Das  Ergeboia  dieser  BeobaehtungeB  -wv  die 
fi!jBjtdeckuDg,  dass  unaer  psychiscliee  Lebea  ia  R^beo  itr- 
läuft.  Diese  Beibea  sind  aatUrlich  in  erster  Lioie  physio- 
}ogjl^he;  daas  diesea  pliyuologiscbeo  Beibeo  immw  p^cbo- 
logifiche  parallel  lavfw,  ist  nidd  notwendig.  So  kommt 
^vmnAXtoe  —  ganz  im  Einklang  mit  der  zweifacheo  Natur 
«eioer  ßeobachtuagedL  —  zur  Uoterscheiduiig  der  unablüuigigMi 
(pbysiologifichen)  uod  der  abbängtgeo  (ps;cbologi8cb«i)  Beiheo. 
Die  abbtüigige  Beihe  setzt  sicfa  zasammen  aus  den  psyctüschoi 
Werten,  den  E- Weiten,  wie  sie  ATrarAKius  neasii.  Sie  braucht 
keioesv^gB  TOllatjUidig  zu  san.  äjib  unseren  AuSBagen  allräa 
ist  daber  kein  zuverlässiger  Scbluss  auf  den  Ablauf  udsmw 
36elenvi»'^lnge  zu  zleben;  deshalb  setzt  Ayb^abiits  an  die 
Spitze  seJAes  Hauptwerkes  die  Erörterungen  Über  die  un- 
abhängige Vitalreihe,  ein  höchst  mqiädagogjsclier  Vorgang, 
da  uns  ja  doeh  nur  die  abb^Ji^ge  Reihe  zum  Bewusstsm 
koHunt  und  die  unabhängige  nur  im  verachwiegenw  HiiüiUck 
auf  die  abhäfi^ge  kooslruiert  werden  kann. 

Wie  hat  man  sich  nun  Beginn  und  Verlauf  einer  un- 
abhängigen Vitalreihe  zu  denken? 

Unser  Zeiüralnervensystem,  das  Sj^»m  0,  haben  wir 
uns  offenbar  mit  der  Fähigkeit  ausgestattet  zu  denken,  aicb 
in  seiner  Umgebung  unter  mancherlei  Störungen  „Schwan- 
kungen" zu  behaupten.  Diese  SchwaDkuBgeo  meder  auB- 
zugleicheu,  ist  die  Aufgabe  des  Systems  C.  Das  System  0 
hat  nicht  nur  Arbeit  zu  leisten,  sondern  es  wird  auch  er- 
nährt, und  es  befindet  sich  im  Grleichgewicht,  wenn  seine 
Arbeit  durch  eine  entsprechende  Ernährung  ausgeglichen 
wird.  Zu  der  Formel,  welche  AvaHAEtus  fttr  den  Gleich- 
gewichtszustand aufstellt:  P(R)  -|-  P(S)  =  O  ist  bemertens- 
werter  Weise  u.  zw.  ganz  unabhängig  auch  EsBara  ge- 
kommen. Ich  führe  sie  nur  an,  um  den  Terminus  „Vital- 
düferenz",  welch«-  bei  Atbkabius  eine  grosse  Bolle  spielt, 
zu  beleuchten.  Schwankungen  jeder  Art  werden  nämhch 
uach  obiger  Formel  bewirken,  dase  die  ^ebraisebe  Summe 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


dor  beiden  Wert«  eine  von  O  verBohiedene  QfOsB^,  «ben  dM* 
Vitaldifferenz  ergiebt. 

Eb  «ntsteht  mm  die  Fragey  wie  VM  «ine  soichfl  ■nf'-' 
gehoben?  Ein  eiafacher  Fail  ist  der,  -wenn  eü>e  ArhtHa^ 
Yetmvltnnig  dutcb  eine  Eä7t)tliruüg8Tennefanrag  aos^glicfien 
wird.  Aber  die  VitaldiffereDK  kann  noeh  auf  andere  Artefi 
zur  Aufhebung  kommen,  wie  eine  rein  mstbematisehe  Dis' 
knssioB  obigOT  Formel  ergiebt;  nEDttentitob  gilt  dies  tod  ded 
VitfüdiffM«nHen  bOber^  Ordnong,  Bber  die  nur  fioviel  be^ 
merkt  Werden  mOge^  d88B  eie  alle  Arten  pfayaiäGbeD  md  in^ 
tellektuellen  Unbehagens  nmfaseen  mid  gewOtaolich  erst  liao& 
einer  Beibe  von  Yermittelosgen,  d6n  MedialttndenmgeD) 
darcb  die  Finaländenmgen  zur  Aufbebong  gelangen.  BS 
ist  bier  ni^t  der  Ort,  den  Verlauf  der  Titaireibe  im  Detafi 
darzrfegen  —  es  bliebe  Bchwerlioh  was  anderes  flbrigf  als 
den  eratea  Band  der  „Kritik  der  reinen  firfabneig''  eijxa- 
scbreiben  -^  es  soll  nur  aof  das  ^y>Me  Ergebnis  UngewieBetf 
werden,  dass  nneer  gesamtes,  praktisches  mid  theoretiBähes 
VerhaHMi  von  Vitaldifferenzen  seinen  Aasgang  nlmmtf  ob 
diese  Bnn  von  innen  oder  von  aussen  „gesetzt"  werden,  and 
TOA  dem  Sestfeben  geleitet  ist,  diese  Vitaldifferenzen  aof- 
zubeben.  Die  Form  der  Vitalreihe  ist  bei  unserem  prak- 
tischen Verhalten  dieselbe  wie  beim  tbeoretjschen;  nur  unserd 
AdBsagen,  die  E-Werte,  sind  in  den  beiden  B^en  Tersebieden. 
Bbi  wahrhaft  erquickender  Monismus,  der  die  simpelsten 
Verrlßhtnngen  mit  den  ktibnsten  Spekulationen  in  einer  Formet 
Eosammenzufassen  ermHgllchtl 

Der  Sinn  aller  unserer  Handlungen  und  Ge- 
danken liegt  also  in  der  Stellung,  welche  sie  inner- 
halb einer  Vitalreihe  elQnehmen,  und  die  WUrdignng 
von  Aussagen  wird  ganz  davon  abhängen,  auf  welchen  der 
drei  Abschnitte  der  Vitalreihe  sie  sich  beziehen.  Ein  sehr 
sidieres  Kriterium,  mit  welchem  Abschnitte  man  es  zu  thun 
habe,  liefern  die  Gefühle,  mit  welchem  dieselben  verknüpft 
sind.  Die  Vitaldifferenz  ist  von  UnlustgefUhlen  begleitete — 
es  wurde  schon  erwähnt,  dass  man  in  vielen  f^en  aa  illrer 

rmn-ii-.-i  Google 


286  Harraftnn  Swobada: 

Statt  „inteUektoelles  Unbehagen"  setzen  kann.  Der  Medial- 
abschnitt,  in  welchem  wir  nach  Vennitteluagen  hin  und  her- 
suchen, ist  durch  QefQhle  der  Unsicherheit,  Unklarheit,  Ver- 
legenheit charakterisiert,  der  Abschluea  der  Vitalreihe 
endlich  durch  das  LustgefQhl  behobener  Beklemmung,  ge* 
löster  Spannung.  Diese  „Abschnittscharakteristiken"  sind 
von  ÄrsMASEüs  keineswegs  zuerst  bemerkt  worden,  vielmehr 
findet  man  unter  allen  möglichen  N'amen  Über  sie  gehandelt, 
sie  gewinnen  nur  im  Zusammenhang  mit  der  Vitalreihe  erBt 
ihre  rechte  Bedeutung^).  Sie  sind  der  Zeiger,  welcher  den 
Grad  der  Schwankung  anzeigt,  der  biologische  Wertmesser 
unserer  Äusserungen.  Aus  dieser  Vitalreihentheorie  erwUcbst 
fUr  unsere  Äusserungen,  wie  schon  bemerkt,  ein  ganz  neuer 
Einteilungsgnmd,  der  von  besonderer  "Wichtigkeit  für  das 
Verstehen  derselben  ist.  Ein  Urteil,  welches  wir  im 
Initialabschnitt,  wo  uns  die  Vitaldifferenz  gesetzt  wird, 
ffiilen,  braucht,  um  verstanden  zu  werden,  nur  eine  Be- 
zeichnung der  Umstände  zu  enthalten,  welche  die  Vital- 
differenz herbeigeführt  haben.  Von  Schwierigkeiten,  die  auch 
hier  schon  infolge  verschiedener  Vorbereitung  sich  ergeben 
können,  sehe  ich  der  Einfachheit  halber  ab.  Das  Verständnis 
des  Medialabschnittes  erfordert  schon  mehr  als  ein  blosses 
Auffassen  der  Worte:  es  erfordert  die  zugehörige  Vitfd- 
differenz  und  vollends  gilt  dies  von  der  Finaländerung- 
Gerade  die  wertvollsten  von  unseren  Aussagen  sind  aber 
abhängige  von  Finaländerungen.  Dies  spürt  schon  PuM 
(Sophist.  262D),  wenn  er  vom  Urteil  sagt:  Tie^vet  »,  es 
bringt  etwas  zum  Abschluss;  dieses  etwas  ist  die  Vital- 
reihe. Und  das  sind  die  schwerverständlichen  Urteile,  welche 
nur  als  Aufhebung  einer  Vitaldifferenz  Sinn  haben. 

Mit  der  Vitalreihe  ist  eine  ganz  neue  psychische  Ein- 
heit geschaffen.  Die  einzelnen  Glieder  der  Reihe  haben  eine 
selbständige  Bedeutung.     Wem  daher  nur  Teile  Übermittelt 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


Tontahou  und  Begr^en.  287 

■werden,  der  kann  nichts  tuideres  als  blosse  Worte  haben; 
die  lebendige  Einheit  beginnt  erst  mit  der  ßeihe.  Etwas 
verstehen  heisst  daher,  es  in  einer  Reihe  haben, 
etwas  missTeretehen,  ea  ausser  jeder  Reihe  haben'). 
Eine  andere  Frage  ist,  wie  man  zum  Verständnis,  also 
ZOT  Bildung  einer  Reihe  kommL  Verhältnismässig  einfach 
ist  der  Fali,  wenn  man  z.  B.  einen  Autor  im  Zusammenhang 
liest,  wenn  man  also  die  Vitalreihe  m  i  t  dem  Autor  durch- 
ULnft.  Schwierig  ist  die  Sache  dort,  wo  wir  uns  zu  einer 
Aussage,  die  eine  Vitaländerung  vorstellt,  die  entsprechende 
VitfUdifferenz  er^nzen  müssen.  Unter  anderen  termims  ist 
darüber  schon  gesprochen  worden.  Die  Aussage  wird  oft 
Anhaltspunkte  bieten,  damit  wir  uns  an  den  Beginn  der 
Reibe  denken  können;  geht's  nicht  mit  einer,  so  vielleicht  mit 
einer  anderen  Vitaldifferenz,  es  werden  „Probereihen"  vor- 
genommen. Es  ist  indes  bei  Beantwortung  der  Frage  nach 
dem  Mechanismus  des  Verstehens  aui  den  schon  erwähnten 
umstand  nachdrücklichst  hinzuweisen,  dass  nur  die  unab- 
hängige Vitalreihe  vollsULndig  sein  muss,  dass  daher  jedes 
Bemühen,  unsere  Aussagen  bloss  aus  dem  herzuleiten,  was 
uns  bewusst  wird,  notgedrungen  zu  Fehlschüssen  führt. 
Vom  Standpunkt  des  Funktionalismus,  wie  Um  Atbitabids 
vertritt,  giebt  es  keine  psychische  Kausalität  Was  uns  von 
einem  psychischen  Hergang  anfallt  oder  was  wir  uns  davon 
zum  BewuBstsein  bringen,  das  ist  schon  ein  neuer  psychischer 
Hergang,  Abhängige  einer  neuen  Reihe.  Das  beste  Beispiel 
für  einen  Fall,  wo  sich  die  Schwäche  der  landläufigen 
Psychologie  offenbart,  scheint  mir  das  Verhältnis  zwischen 
einem  Gedanken  und  dessen  dämmerigen  Vorstadien  zu  sein. 
Wer  hier  versucht,  zwischen  Bewusstseinsdaten  ein  Gesetz 
a\i£sufinden,  wird  mit  Verlegenheit  beginnen  und  enden.  Bei 
Lazasus  findet  sich  folgendes  Bekenntnis:  „die  psychologische 


*)  Dieser  üiiistud  hat  oCenbai;  SmuTEAL  mi  AnMellimg  seiner 
en  Interpretetioitsart,  der  pmholof^sdiei],  veranksat  Hit  Uüer  Hufe 
soll  der  Fhilolog  .das  erkennende  VSTatehan  zom  bereifenden  (?)  vertiefen", 
and  mi  dTirali  die  „kaaaale  Betrachtnng  dee  Bedeverkes" . 


iM,Coo<^lc 


36B  HflrnaBii  SwoVoda: 

Cba^akteristiK  tob  OedanheiAeiineB  i&  dem  StaAlum^  da* 
ibror  Tollen  lättwiekhing  zur  Sprachlorm  Enweilen  ToraDgehV 
iBt  bis  jetet  noch  niobt  versoclit  wordeo.  Sie  bildet  einer 
ausseid  sobvieiige  Aufgabe  der  Spraobpsycbolf^e"  (Lelvea 
d.  S.  m.  8.  149).  lä-  hätte  getrost  sagen  könneii,  unlösbare 
Au^abe  flk  die  Spraehpsychologie.  Üad  wie  'klar  emih^k 
jenes  Verhältnis  bei  Anwendong  dm  Begriffs  der  Vitalreihe. 
Unser  Vermitnis  zu  denjenigen  Aussagen  aaderw, 
welehe  Finaländerungen  zugehtfren,  welche  Beihen  eb- 
schliess«!,  bwin  also  von  folgender  Art  sein:  Entweder  be^ 
finden  wir  uns  sebon  im  Initialabscbnitt,  wir  laborieren  am 
Problem,  oder  wir  haben  sogar  schon  eine  Lösung  deesHben 
Tersuebt,  befinden  uns  also  im  Medialabsohnitt;  in  beiden 
FSUen  — ^  praktisoh  Tielleicht  nicht  die  häufigsten  —  bria^ 
die  fremde  Aussage  die  eigene  Beibe  zum  sofortigen  Ab- 
sohlusa,  zum  befriedigenden,  befreienden  AbsohlnsB. 
Trifft  uns  eine  firemde  Aussage  nicht  schon  mitten  in  einer 
ßeihe  an,  so  ist  die  Folge  davon,  dass  sie  uns  eine  Vital- 
differenz setzt,  weil  nämlich  durch  eine  solche  Aussa^  das 
gewohnte  Verhältnis  zwischen  Aussage  und  Ausst^f^nhalt 
abgeändert  wird  (Schwankungsvariation);  Mther  war  vom 
„UnlustgefUhl  der  unangemessenen  Bezeichnung"  die  Bed«. 
Wie  kann  nun  diese  Vitaldifferenz  aufgehoben  wer^o? 
Offenbar  dadurch,  dass  sidi  das  gewohnte  VerbfiltDia 
wiederherstellt,  dass  sich  zu  den  Worten  ein  (bedanke  ein- 
findet. Da  aber  dieser  Qedanke  selbst  Entghed  einer  Reihe 
sein  muss,  so  kann  die  durch  eine  unverstandene  oder  halb- 
verstasdene  Aussage  eingeleitete  Reihe  nur  dadurch  zum  Ab- 
sehluBS  gelangen,  dass  in  ihrem  Medialabsehnitt  eine 
andere  Reibe  abläuft,  eben  jene,  welche  zum  be- 
nötigten Gedanken  führt,  eine  Hilfsreihe.  Die  Ku- 
sammenhaltung  dieses  Gtedankens  nüt  der  fremden  Aussage, 
das  Wiederfinden  des  gewohnten  Verhältnisses  schliesst 
dam>  die  Hauptreihe  ab.  Die  Zeit,  welche  zum  Ablauf  dieser 
komplizierten  Reihe  erfordert  wird,  kann  des  angeachtet  Beta- 
kurz  sein;  instruktiTW  sind  natürlich  die  Fälle,  wo  siiäa  £e 


iM,Coo<^lc 


VsTBMiflD  und  Begreifen.  289 

£eihe  über  grSssere  ZeitläuftFO  aufidehnt,  wo  uns  ein  Dittum 
„immer  vieder  keine  Buhe  l&sst"  (Vitaldifferenz)  und 
zum  Nachdenken  treibt,  bis  durch  eigeoes  Bemühen  oder 
durch  äussere  UmsUüide  die  Hilfsreihe  zum  Abschluss  und 
die  ursprüngliche  Vitaldifferenz  zur  Aufhebung  kommt  Mehr 
lässt  sich  über  den  Mechanismus  des  Versteheos  nicht  sagen, 
die  sehr  naheliegenden  Fragen  nach  dem  genaueren  Hergang 
Im  Medialabschnitt  haben  Tom  Standpunkte  der  biomechamscheB 
Erkenntnistheorie  gar  keinen  Sinn.  Die  psychologische 
Charakteristik  desselben  ist  (siehe  Lazabdb'  vorhin  zitierte 
Bemerkung)  sehr  dürftig  und  verschvommen.  Die  Sprache 
ist  fOr  ihn  nicht  geschaffen  und  nicht  ausgebildet.  Daher 
das  vergebliche  BemUhen,  mit  der  Sprache  über  ilm  etwas 
auszumachen.  Die  Worte  stellen  sich  immer  erst  ein,  wenn 
wir  über  etwas  „zur  Klarheit  gekommen",  d.  h.  im  Final* 
abschnitt  angelangt  sind.  Der  Medialabschnitt  stellt  nur  ein 
Übergangsstadium  dar,  er  lohnt  das  Aufhalten  nicht.  Die 
Unklarheit  seiner  abhängigen  psychischen  Worte  entspricht 
ganz  seiner  zwitterhaften  GefUhlschan^lenstik,  die  zwischen 
dem  deutlichen  Unlustgeföhl  der  Vitaldiffwenz  und  dem  aus- 
gesprochenen LostgefOhl  ihrer  Aufhebung  mitten  inne  steht, 
also  seinem  biologischen  Wert.  Es  sind  aber  nicht  um*  die 
Voratadien  unserer  (bedanken,  sondern  auch  unserer  Hand- 
langen und  nach  allbekannten  Zeugnissen,  die  von  Kunst- 
leistongen  dem  Bewi^staein  grossenteils  entzogen.  Dieser 
Umstajid  im  Vereine  mit  der  Bedeutung,  welche  man  den 
unklaren  Vorstadien  im  Verhältnis  zu  den  klaren  Besultaten 
offenbar  zu  geben  genötigt  ist,  hätte  schon  dazu  fOhren 
müssen,  die  (Geltung  anderer  als  rein  psychischer  Elemente 
für  unser  Denken  und  Thun  anzuerkennen. 

Für  das  Problem  des  Verstehens  bietet  die  Vitalreihe 
noch  einen  Vorteil.  Wenn  die  Voraussetzimg  des  Verständ- 
nisses einer  Aussage  die  ist,  dass  uns  die  zugehörige  Vital- 
differenz gesetzt  wird,  so  werden  uns  offenbar  auch  Hand- 
lungen und  Unterlassungen  unserer  Mitmenschen  verständlich 
sein  beim  Vorhandensein  der  entsprechenden  Vitaldiffu'enzen. 
lSmiol  zzva  «.  19 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


290  H«imasn  Bwobods: 

Sowie  Bich  unser  gesamtes  Verhalten  mit  Hilfe  der  Vital- 
reihentheorie  erklärt,  so  ancb  das  Verstehen  des  ge- 
samten VerhalteoB  unserer  Mitmenschen.  Ob  ich  einen 
Selbstmörder  Terstehe  oder  deo  Auseprucb  eines  Philosophen: 
es  lassen  sich  beidemale  die  Yoraussetzmigen  des  Verständ- 
nisses unter  dem  Begriff  der  Vitaldifferenz  subsomieren. 
Der  Begriff  der  Vorbereitung  leistet  keineswegs  dasselbe; 
in  ihm  ist  keinerlei  notwendige  Beziehung  auf  die  nach- 
folgenden Stadien  enthalten. 

Hat  man  einmal  das  Verstehen  von  Ctedanken  and 
Handlungen  formal  identisch  gefunden,  so  hat  es  manchen 
Vorteil,  Ton  den  Handlungen  auszugehen.  Erstens  sind  die 
Vitaldifferenzeo,  welche  zu  Handlungen  fUhren,  weit  fühlbarer 
als  solche.  Dann  kann  man  sich  über  das  Nichtveratehen 
TOS  Handlungen  nicht  so  leicht  hinvegtäuBcheo  wie  über  da& 
von  GJedankeu.  Gewöhnlich  hört  man  nur  von  Handlungen, 
dass  sie  jemand  „absolut  unverständlich"  sind.  Endlich  er- 
hellt bei  Handlungen  am  klarsten  die  Bedeutung  der  indi- 
vidnellenVoraussetzungen.  „Dasmuss  man  mitgemacht  haben", 
„in  der  Situation  muss  man  selber  gewesen  sran",  ist  der 
vollauf  berechtigte  Einwurf,  welchen  die  N'ichtverstandenen 
den  Nichtversteheoden  machen. 

Ein  ganz  neues  Licht  wirft  die  Vitalreihentheorie  end- 
lich auf  einige  Wirkungen  der  Musik,  die  zwar  schon  öfters 
bemerkt  worden  sind,  aber  erst  jetzt  recht  verstäadlicti 
werden.  Denken  wir  an  ein  grösseres  Musikstück,  den  Satx 
ein»'  Symphonie  oder  eine  ganze  Symphonie;  während 
derselben  mag  es  oft  sein,  dass  wir  im  Wohlgefallen  an 
melodiösen  Schönheiten,  an  ausdrucksvollOT  Formgebung  und 
stimmungsvoller  Instrumentierung  aufgehen,  all^  tun  Schlüsse 
kommt  doch  häufig  noch  etwas  anderes  hinzu.  Woher 
stammt  die  Wirkung,  wenn  plötzlich  daa  HauptUiema  in 
glänzender  Qestalt  wiederkehrt,  namentlich,  wenn  es  in  Dur 
wiederkehrt,  lehrend  es  die  Symphonie  in  Moll  einleitete, 
woher  stammt  die  ungeheure  Wirkung  langhinhaltender 
Orgelpunkte  auf  der  DoBoinante  und  des  erlösenden  fäntrittes 


iM,Coo<^lc 


Veistoluii  nsd  BegreUni.  291 

dar  Tonika?  Ich  glaube  nicht  fehlzagehen,  wenn  ich  diese 
Wirkung  darauf  zurückführe,  dass  in  allen  diesen  Fällen  der 
allgemdoe  Verlauf  der  Yitalreihe  durch  Tongestalton  sym- 
bolisiert vird.  Ja,  es  ist  mir  sehr  vahrscheinlich,  dass  die 
Dreiteilung  der  Satzform  nichts  anderes  als  ein  Ausdruck 
der  Vitalreihe  ist,  Ausdruck  in  dem  früher  entwickelten 
Sinne  eines  uniformierenden  Einflusses.  Es  ist  jedenfalls 
Behr  bezeichnend,  dass  der  Inhalt,  welcher  den  besten  sym- 
phonischen WOTken  teils  von  ihren  Schöpfern  selbst,  teils 
Ton  ihren  Eritikem  unterlegt  wurde,  sehr  einfCrmig  ist: 
Immer  handelt  es  sich  um  die  Bedrängung  des  Genius  durch 
äussere  oder  innere  Gewalten  (Vitaldifferenz),  um  Auswege, 
die  er  versucht,  das  Schwanken  zwischen  ernsten  und  heiterMi 
Auswegen  (Adagio,  Scherzo,  Mendialab&chnitt)  und  um  die 
endliche  befriedigende  Lösung  im  jubelnden  Finale.  Es  ist 
weiter  sehr  bezeichnend,  dass  man  diese  Vitalreihenform  am 
ansgesprochendsten  bei  Komponisten  findet,  welche  im  Leben 
viel  gelitten  haben,  welchen  also  diese  Form  leider  sehr  ge- 
läufig war:  bei  BeeUioren  und  bei  Brückner.  Die  ungeheuren 
GtefQhlswirkungen,  welche  namentlich  der  letztere  stellenweise 
zu  erzielen  vermag,  fUhre  ich  nur  auf  die  klare  Vitalreihen- 
form seiner  Symphonien  zurQck.  Die  auch  von  anderen 
Seiten  an  ihm  gerUhmte  Macht  der  Steigerung  und  spannenden 
Vorbereitung  derselben  besagt  im  Grunde  nichts  anderes, 
nur  dass  damit  fUr  den  psychologischen  Ursprung  jener  Form 
nichts  gewonnen  ist 

Man  kennte  auch  sagen,  das  Musikstück  nimmt  die 
Gestaltqualität  der  Vitalreihe  an;  am  einfachsten  ge- 
schieht dies  dadurch,  dass  die  Gefühle,  welche  die  ranzeinen 
Ai>schnitte  der  Vitalreihe  charakterisieren,  in  der  nämlichen 
Beihenfolge  durch  die  Musik  ausgedruckt  werden.  Allein 
die  Hypostasierung  der  Themen  und  die  mannigfachen  Ver- 
änderungen, Verarbeitungen  und  Kombinationen,  welche  mit 
ihnen  vorgenommen  werden,  gestatten  eine  Symbolisierung 
auch  des  Gedankeninhalts  unserer  Vitalreihrai.  Manver- 
^eiche  densograiannten  Vorbereitungsteil,  wo  sich  kein  Thema 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


392  Hermann  Bwobod&: 

deutlich  heraushebt,  keines  Halt  gewinnt,  mit  dea  Yorstadien 
einer  klaren  Einsicht  und  mit  dieser  dea  Eintritt  des  Haupt- 
themas I  Das  ganze  bunte  Theater,  welches  Vorstellungen, 
GefOhle,  Wille,  auf  dem  forum  internum  auffahren,  wird  von 
den  Themen  nachgespielt.  Die  absolute  Musik  wird  so  zum 
Spiegel  des  bewegten  Seelenlebens  und  ihre  kOnstlerische 
Aufgabe  ist,  den  Typus  der  Ereignisreihe  in  der  Seele 
wiederzugeben,  stilisiertes  Seelenleben.  Dieser  Typus  ist  aba* 
eben  die  Vitalreihe.  Zur  Bildung  der  gleichen  Qestalt- 
qualitftt  werden  nicht  —  wie  in  fixeren  Beispielen  —  die 
Töne  in  ihrer  Gesamtheit,  sondern  die  Themen  in  ihrer 
(Gesamtheit  verwendet 

Ich  bemerke  zum  Schlüsse  dieses  Abschnittes,  dass  der 
Begriff  des  Yerstehens  bei  Avenfuiua  sich  ganz  mit  dem  des 
Appendpierem  deckt,  dass  er  denselben  also  im  Steinttaal- 
Bchen  Sinne  auffasst  und  zu  den  vorstehenden  Erörterungen 
nur  die  Begriffe  der  Vitalreihe  Ärenarius  entlehnt  sind. 

IX.  Sie  Clnde  des  Tersteheiu  and  das  Belnif». 

Das  Vollverstehen  ist  ein  verhältnismässig  seltener  Fall 
Die  Welt  ist  faktisch  nicht  so  öde  als  sie  sein  müsste,  wenn 
es  ausser  dem  Vollverstehen  kein  Verhältnis  zwischen 
Menschen  ^be.  Noch  vor  jedem  Eingehen  in  eine  Unter- 
suchung hat  man  das  sichere  Geltlhl,  es  mtl^e  Grade  des 
VerStehens  geben.  Zwischen  dem  Fall,  wo  uns  eine 
fremde  Äusserung  vertraut  ist  wie  ein  eigener  Gedanke, 
und  dem  Fall,  wo  wir  einer  fremden  Äusserung  völlig  rat- 
los gegenüberstellen,  muss  es  Vermittlungen  geben.  Wie  ist 
nnn  bei  minderen  Graden  des  Verstehens  die  psychis<^e 
Situation  des  Perzipierenden  im  Verhältnis  zu  der  im  Sich- 
Äussernden  charakterisiert?  Dadurch,  dass  erst^em  einige 
Teilbedingungen  des  Vollverstehens  ermangeln?  Offenbar 
nicht  Denn  der  Mangel  des  kleinsten  Details  fllhrt  häufig 
schon  zu  völligem  Missverständnis.  Die  Möglichkeit  von 
Graden  des  VerständoiBses  beruht  viekaehr  auf  einer  anderen 
fundamentalen  Thatsache. 


iM,Coo<^lc 


THstshen  und  Begi^en.  293 

Alle  nnBffl^  Gedanken,  alleB,  was  Überhaupt  auf  die 
Bezeichnung  Gedanke  berechtigterweise  Anspruch  erhebt, 
ist  das  reife  Produkt  einer  Genesis,  ist  ein  durch  den  Hin- 
zntiitt  der  Sprache  psychologisch  ausgezeichneter  Punkt 
einer  Entwickinngsreibe.  Uan  kann  einen  Gedanken  in  ganz 
verschiedenen  Stadien  haben;  in  einem  Dänunerstadium, 
welches  von  der  gegliederten  sprachlichen  Bezeichnung  noch 
so  weit  entfernt  ist,  wie  der  fertige  Organismus  vom  gleich- 
massigen  Ovidam,  und  in  jenem  Stadiiun  leuchtender  Klar- 
heit, wo  neben  der  Erkenntnis  schon  das  Wort  steht.  Das 
Wort,  die  Artikulation,  gesellt  sich  der  Erkenntnis  eben  erst 
in  einem  gewissen  Entwicklungsstadium  bei,  man  kann  aber 
deswegen  nicht  sagen,  daas  die  Erkenntnis  früher  nicht  da 
war.  Dies  wird  durch  die  Aussage  derer  bezengt,  welche 
mit  einer  ausgereiften  and  daher  trefOich  formulierten  Er- 
kenntnis bekannt  gemacht,  ausrufen:  „Das  habe  ich  mir 
schon  längst  gedacht,"  obwohl  es  ihnen  sehr  schwer  fiele, 
auf  Ehre  und  Gewissen  zu  versichern,  dass  sie  wirklich 
emen  mitteilbaren  Gedanken  vordem  gehabt 

Man  kann  nun  die  Bedingungen  des  Verstebens  er- 
weitem und  sagen:  Es  ist  hierzu  nicht  Bewusstseinsgleich- 
heit  erforderlich,  sondern  die  beiden  Bewusstseinsinhalte 
mQssen  nur  auf  einer  Entwicklungslinie  liegen.  Der  Keim 
im  Leser,  HOrer  muss  sich  zum  Bewusstseinsinhalt  des 
Schopfers  entwickehi  kOnnen;  womit  nicht  gesagt  sein  soll, 
dass  sich  dieser  Keim  im  Laufe  der  Zeit  faktisch  so  weit 
entwickeln  würde. 

Diese  Art  von  Halbverständnis  bat  eine  grosse  kultu- 
relle Bedeutung.  Der  entwickelte  Gedanke  wirkt  entwickelnd 
auf  den  noch  unentwickelten.  Die  Sprache  zieht  die  Ge- 
danken auf.  Die  Sprache  macht  die  Kultnmehmer  erst 
mOndig.  Sprache  war  von  Anbeginn  nur  den  Kulturschöpfem 
und  -gebem  zu  eigen,  denjenigen,  in  welchen  etwas  zur  Helfe 
kommt 

Daher  der  Genuss  der  Lektüre  gedankenreicher  Schriften. 


294  Hermann  Bvoboda: 

Sie  bringen  Ansätze  zur  Weiterbildung.  Ein  lustiges  Werden 
hebt  an.     Leben  ist  Entwicklung,  Entwicklung  ist  Lust 

Wiederholen  wir  es  also  kurz:  Die  Möglichkeit  von 
Oraden  des  VerstSndnisses  beruht  auf  der  ThatBache,  dass 
G^edanken  eine  Ontogenese  haben. 

Zum  Begreifen  sind  die  Begriffe  notwendig  und  zwar 
die  alles  Persönlichen  entkleideten  logischen  Begriffe; 
während  zum  Verstehen  die  psychischen  oder  wie  man 
sagen  könnte,  persönlichen  Begriffe  vonnöten  sind. 

Das  Verstehen  ist  inmier  ein  persönliches  Verhältnis, 
ein  spirituelles  Verwandtfichaftsverhältnis.  Das  Begreifen 
setzt  keinen  näheren  Grad  von  Verwandtachaft  voraus  als 
er  zwischen  zwei  beliebigen  Menschen  besteht  Begriffen 
wird  der  Mitmensch,  soweit  in  seinen  Aussagen  die  ewige, 
alleinige  Wahrheit  enthalten  ist.  Das  Verstehen  geht  auf 
den  beweghchen  Schein,  welchen  die  Thatsachen  in  den  ver- 
schiedenen  Köpfen  annehmen,  das  Begreifen  auf  das  ruhende 
Sein.  Daher  in  der  Wissenschaft  überall  mit  dem  Begreifen 
das  Auslangen  gefunden  werden  muss.  Die  Wissenschaft 
ist  tmpersönlicb. 

Verstehen  gebt  aof  die  Mitmenschen,  Begreifen  auf  die 
Welt;  Verstehen  auf  die  Welt,  insofern  sie  sieh  in  Individuen 
spiegelt.  Begreifen  auf  Individuen,  insofern  es  ohne  Individuen 
keine  Welt  giebt 

Verstehen  ist  Erkennen  als  Thätigkeit,  indem  wir 
damit  den  Denkprozess  eines  anderen  von  frischem  durch- 
machen. Begreifen  ist  Erkennen  als  Abschluss  der  erkennen- 
den Thätigkeit,  als  Anschauung  des  Denkergebnisses. 

Während  die  wissenschaftliche  Thätigkeit  zum  Endziel 
hat,  alles  täuschende  Beiwerk,  alle  persönliche  Zuthat  zu 
eliminieren,  besteht  die  künstlerische  gerade  darin,  der  Reali- 
tät das  Zeichen  einer  Individualität  aufzudrücken.  Selbst 
die  realistische  Kunst  thut,  wenn  sie  sich  auch  theoretiscli 
zu  einer  phantasievoUen  Schwester  der  Wissenschaft  heraus- 
putzt, nie  anders.  Daher  ist  das  Verstehen  der  Kunst  gegen- 
über am  Platze,  Begreifen  der  Wissenschaft  gegenüber.    Aber 

n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Tetstehen  mid  Begnifen.  295 

sowie  sich  Innen-  und  Aussenwelt,  Ich  nnd  Natur  durch- 
diingen,  schliesst  das  Verstehen  das  Begreifen  nicht  aus, 
sondern  ein. 

Zum  Scfaluss  möchte  ich  auf  eine  gleich  anfangs  dieser 
Schrift  erwähnte  Chtu-akteristik  des  Verstehena  und  Be- 
greifens  zurückkommen.  Das  Verstehen  ist  warm,  das  Be- 
greifen kOhl.  Im  Verstehenden  flammt  es  von  Leben.  Der 
TerständnisTolle  Kultumehmer  wird  vom  Knlturspender  zu 
Bewegung  mitgerissen.  Er  hat  die  Illusion  der  Fortbewegung 
dnrch  eigene  Kraft  und  die  Wonne,  welche  mit  dieser  niosion 
verbunden  isL 

Das  Begreifen  ist  wie  das  Ausruhen  von  einem  starren 
Qötterbildnia.  Der  Anblick  der  ewig  gleichbleibenden  GJesetz- 
mässigkeit,  des  ruhenden  Seins  wirkt  beruhigend  auf  den  Geist. 

Verstehend  bemächtigen  wir  uns  fremden  Geeistes,  be- 
greifend der  Welt  Die  alten  Inder  haben  die  Wi^enschaft 
über  die  Kunst  gestellt.  Die  Wiasenschaft  führt  zum  Be- 
greifen und  zur  Buhe. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


A.  DÖRING's  rein  menschliche  Begrflndnng  des 


Eine  Erwiderung  auf  J.  Pstzoldt's  Kritik  derselben 
TOD  P.  Soheerer,  Naoen. 

I.  Snlritong.  1.  Eons  Ch&nkteTiBieniDg  von  Däsnis'B  rain  mensch- 
licher HotiTiemDg  dM  sitUioheD  HandehiB.  2.  Die  beiden  Angelpunkte 
diesee  BegrändncgaTerBaohee,  die  P.  mtrelfoud  hecanshebt  und  gegen  die 
a  Beine  Kritik  nehtet. 

n.  F.'s  Kritik  der  eadimonistiBoheti  Onndansohaaimg  D.'a  vom  Zn- 
Btandekommen  Alles  menBohEDhen  Handelns  nnd  Erwiderung  darauf.  1.  P. 
erkennt  das  aendAmonistiBohe  Prinsip'  an,  dass  „alles  Handeln  auf  die  grösste 
Lost  oder  geringnte  Unlust  geht",  verwirft  aber  als  , egoistische  Wendang' 
dicBM  Prinzips  D.'B  Sati  toq  der  Entstehong  oller  Lnst,  dass  n&mlioh  Jede 
Lost  ein  persönliches  Bedürfnis  oder  Interesse  dee  Individaoms  mi 
ToiBossetznng  h&be,  dnrch  dessen  Befriadigong  sie  entstehe.  2.  Die  von 
P.  dafür  angefahrten  Beispiele,  dasa  Lost  auch  entstehe,  ohne  dass  ein 
personlichea  Interesse  dea  IndiTidonniB  vorhanden  wftra,  das  befriedigt 
«erde,  beweisen  nnr  P.'s  unvollständige  Kenntnis  fom  Urninge  der  per- 
>5iüieheD  Bedftrinisse  der  Hensohennatur.  3,  P.'s  Ablehniuig  der  psyoho- 
logieabea  Gnmdansohaaong  D.'s  übet  die  Entstehnng  aller  Lnat  ist  hanpt- 
Achlidi  dnroh  P.'s  falschen  Begriff  vom  Sittlichen  verschnldet,  nach  dem 
die  .fielbetloeigkeit''    das   ontersobeidende  Wesen  des  Sittlichen  ansmache. 

III.  F.'s  Angriffe  gegen  die  D.  eigentämliohe  Motiviernng  des  aitt- 
Kohen  Handelns  durah  den  Begriff  des  Selbstach&tzQngabedürfnisses.  1.  Dar- 
legung dea  O.'sohen  Beeriffes  vom  SelbBtsohitEnngsbedärfnisse.  2.  P.'s  ab. 
''Teichende  Fassung  dieses  Begriffes  beruht  nnr  auf  seiner  mangelnden  Er- 
kenntnis von  dem  wahren  Ziele,  aof  welches  dies  Bedürfnis  im  Omnde 
gerichtet  ist,  8.  F.'s  angeblich  neue  Erklärung  der  Eutstebung  dieses  Be- 
dürtnissee  ist  D.  nicht  unbekannt;  eis  läuft  aber,  otine  dass  F.  ee  will  nnd 
merkt,  aof  eine  vSUige  Leognung  der  seeb'sohen  Regungen  hinaas.  die  D. 
mit  dem  Namen  .Selbstsohitrangsbedürfais"  bezeichnet;  doch  wird  P.  an- 
gesiohta  der  Brbhmng  diese  Lengnong  bewnaat  nicht  aufrecht  erhalten 
können.  4.  F.'s  Einwendungen  gegen  we  Ableitung  des  sittlichen  Handelns 
ans  dem  SelbstschätzungsbedOrfniase  treffen  D.'s  wirkliche  Meinung  über 
diesen  Punkt  überhaupt  nicht;  sie  beruhen  vielmehr  auf  einem  vSlligen 
Misaverstftndnisse  der  wirklichen  Art  dieser  Ableitung,  die  D.  giebt. 

IT.  Der  Vorwurf  dee  .SolipeiBniaB  aaf  praktischem  GetHete",  den 
P.  gegen  D.'s  B^ründnng  der  Sittlichkeit  erhebt,  ist  völlig  unmtrftffend, 
er  laast  gerade  die  Hauptsaehe,  das  praktische  Lebensideal  aasaer  adit,  zu 
dmn  D,  nnd  Ewai  konaeqnenter  Weise  gelangt 


iM,Coo<^lc 


298  P-  Soheerar: 

L  unter  dem  mtel  „Solipeismas  auf  praktischem  Gebiete*  liat 
J.  PmoLDT  in  dieear  Zeitstwift  eine  recht  aoBföhrliche  Kritik  der  Be- 
^Ddnng  der  Sittenlehre  veröffentlieht,  die  A.  Dördis  in  ssinen  beiden 
Werken,  der  ,  Philosophi  sehen  Güterlehre"  nnd  dem  ^  Sandbaoh  der  mensdilioh- 
oatQrliohen  Sittenlehre"  gegeben  hat. 

1.  Wie  den  Lesern  dieser  Kritik  erinneilich  sein  wird,  handelt  es 
üoh  bei  dieser  BegruDdnng  doroh  Dösnte  nm  den  bedeutsamen  Tersnch, 
für  die  GrtäUnug  der  eittUnheD  Foidenmg  ein  aosreiohendee  HotJT  in  der 
menschlioben  Seele  naobtnweieen;  das  Sittengeests  nnter  gnudsitiliohem 
Absehen  von  allen  metaphysisohen  Uebeneagongen,  seien  sie  philosophischer 
oder  religiöser  Berkonft,  aLein  aoa  einem  Grundbedürbüsse  der  Mensoheo- 
natoT  abznieiten;  da«  uttlJcbe  Handeln  als  Eonseqaens  des  Olüokseligkeits- 
strebens  sn  verstehen.  Auf  diese  ESgentitmliohkeit  weist  schon  der  Titel 
des  Handboohs  hin  „Handbach  der  mensoblioh-natärliohen  Bittenlshrs'. 

Wenn  ein  solcher  Yeisuob  an  sioh  in  der  Oesohiolite  der  Ethik  aaoh 
nicht  neu  ist,  so  mnse  doch  der  Onindgedanke  Dösne'B  and  seine  Ans- 
ffihrong  mit  ihrer  mnfaesenden  Or^düohkeit  und  ihrem  hoben  Grade 
kontrollierbarer  Dentlichkeit  als  absolut  uea  beieiobnet  werden.  Was  iaa 
Grundgedanken  dieeee  B^röndangsTersnches  betrifft,  so  werden  hier  njUnlidi 
nicht,  wie  bei  den  Iriiheren  derartigen  Yersncben,  die  einzelnen  dttUohen 
Torediriften  vorgenommen  und  nun  gezeigt,  wie  ihre  Elrfüllnng  im  eigenen 
Interesse  des  lädividanms  liege.  Von  dieser  anorganischen  Betrachttu^ 
des  Sittengesetzee  als  eines  Hanfens  einzelner,  zusammenhangsloser  Gebote 
ist  D.  TälUg  fem.  Ihm  ist  das  vom  Sittengesetze  geforderte  Verhalten  ein 
einheitliches,  gerichtet  auf  das  Ziel,  das  die  umfassendste  sittliohe  Forderung 
som  Aosdniok  bringt:  „neminem  laede,  immo  vero  omnes,  quantom  potea, 
jnva";  ein  Verhalten,  das  sich  in  concreto  freilich  sofort  in  die  dnich  die 
einzelnen  sittlichen  Gebote  geforderten  Bethfitigangen  auseinander  falt« 
moss.  Für  den  Entsoliluss  zu  diesem  einheiuiohen,  aaf  die  f^rdemog 
fremden  Wohles  gerichteten  Streben  weist  D.  einen  zoreichenden  Beweg- 
grond  in  einem  Bedürfnis  der  MeDschennatur  nach,  und  die  AnfsteUang 
dieser  Triebfeder  ist  dss  Ergebnis  einer  umEassenden  üntersuchmig  über 
die  Ornndbedurfnisse  des  Menschen,  einer  Psj^chologie  des  Gefühl  and 
Willens  also,  wie  sie  in  dieser  Ausführlichkeit  und  mit  diesem  Hasse 
meUiodischer  Bioberheit  meines  Wissens  bisher  noch  nicht  ontemommeQ 
worden  ist. 

Die  so  mit  aller  OrOndlichkeit  festgelegte  eigene  Stellang  in  der 
Frage  nach  den  rein  menschlichen  Bewe^ntnden  nicht  bloss  za  einielnen 
sittlichen  Handlungen,  sondern  za  einem  sittlichen  Leben,  wird  dann  von 
D.  noch  nach  zwei  Seiten  hin  gesichert  and  verteidigt,  sowohl  gegen  ESn- 
würfe  und  Bedanken  gegen  seinen  eigenen  Standpunkt,  wie  dnron  Kritik 
der  Hotivationekraft,  die  den  von  anderer  Seite  namhaft  gemachten  rein 
mensohlichen  Beweggründen  innewohne.  Wir  haben  es  hier  also  mit  einer 
Theorie  zn  tlian,  die  sowohl  wegen  der  Würde  ihres  Gegenstandes,  sowie 
wegen  der  nnssenachaftliohen  Oignität  nnd  Neuheit  ihrer  Ausführung  all- 
seitige Beachtung  and  Prüfung  verdient. 

2.  Das  ist  anch  die  Meinung  onseres  Kritikers  P.,  der  D.'s  Usber- 
zeugungen  .sorgfältig  dorohdocht"  und  die  .Philosophische  Oüterlehre*  nn 
.umfassend  und  klar  angelegtes  Werk"  nennt  Andi  insofern  war  mir  P.'s 
Kritik  erfreulich,  als  er  seine  ganze  kritische  Aafmerksamkeit  den  beiden 
Funkten  in  D.'s  Gedankengaog  zuwendet,  die  auch  mir  als  die  grundlegenden, 
die  Angelpunkte  in  D.'s  System  erscheinen.  Das  ist  erstens  dis  eud&momatiBche 
Grandansobauang  D.'s  von  dem  psfobischen  Meohaniimus  alles  msnsohlicheo 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


A.  DSiinga  rrin  monadiliohe  Begr^ndong  des  Sittengweties.     299 

Budalna,  disa  niniljoh  kUob  menBohliobe  Haudaln  aeitiea  Urapnuig  ans 
Bsdfiifausen  des  Handelnden  nUime,  anf  deren  Befriedigiuig  es  aosKehl; 
dMB  daa  letzte  Ziel,  du  tilQt  alles  Handelns,  die  eigene  Lost  des  Handeln- 
den wtre. 

Nach  dieser  Onrndanaohaanag  beetända  dann  das  Problem  der  rein 
menKdiliohen  Begrflndnng  der  sittlichen  Fonlening  darin,  ein  Bedtir&iiB  in 
4m  menxddiahen  Sede  zu  entdecken,  das  zn  seiner  BeMedignng  gerade 
aitdidiea  Handeln,  lardemng  fremden  Wotüea  als  Kittel  fordert;  genauer, 
dia  BedUrbiia  mfinte  derartig  sein,  daes  es  in  dem  Bewnastaein  des  toII- 
biaditea  Ooteo  all«n  nnd  aossohlieaaliab,  nicht  etwa  in  loOlligen  Neben- 
Torteilen,  aeine  Befriedigung  findet  Weiter  mäasta  von  diesem  Bedärfnisse 
gezeigt  werden  können,  dass  es  die  stlrkete  Hacht  in  der  normalen  Mensohen- 
aatnr  ist,  wohl  im  stände^  eich  alle  ans  anderen  Badflrfnissen  entspringenden 
Bestrebungen  zu  unterwerfen,  mOgen  ne  aioh  nnn  inm  Wohle  der  Hib- 
neoadien  onr  gleiohgflitig  verhalten  oder  es  txu  Verfolgung  ihrer  Zide 
fflindliob  krenien. 

Was  P.  znr  Widertegnng  dieses  Ornndsohemas  der  ErUAmng  von 
dem  Znstandekommen  alles  mensohüohen  Handelns  Torbiingt,  scheint  mir 
diese  von  D.  im  Verein  mit  mehreren  andern,  z.  B.  Zelleb,  SiowabIj  Hohwioz*) 
vertretene  Gmndansoliannn^  dorohans  nicht  zn  wideriegen,  nnd  seina  andere- 
artige  Erklämng  Boheint  mir  nur  einen  Verzicht  auf  kausales  Verstindnis 
alles  Bandeins  zu  bedeuten. 

Der  iweite  Hauptpunkt,  gegen  den  sich  P.  wendet,  betrifft  das 
spezielle  Gmndbedürfnis,  das  D.  nnn  als  Qnalle  des  Bittlicban  Handelns 
aufweist,  nnd  zwar  wendet  sich  F.  gegen  den  Döring'sotien  Betriff  dieses 
Onudbedärfniseee  und  gegen  die  Art,  wie  D.  aus  dem  Streben  nach  seiner 
Befriedigung  das  sittliche  Handeln  herrorgehen  lässt.  Man  sieht,  dar  ganze 
Streit  om  die  reiomensohliche  Begründung  der  Sittlichkeit  führt  aoi  die 
Teisohiedenheit  in  den  peychologisohen  Gnindausohannugen  zurück.  Die 
Fiyoholagie  ist  der  Boden,  auf  dem  der  Streit  iu  Sachen  der  Ethik  aus- 
geioc^teu  werden  muss  und  es  handalt  sich  dämm,  wessen  Fsyobotogie  dia 
richtige  ist.  Die  Kritik  nun,  die  F.  diesem  zweiten  Hauptpunkte  widmet, 
scheint  mir  hauptsBchlich  darauf  zu  beruhen,  dasa  P.  dia  Darlegungen  D.'s 
teils  unvollstintUg  berüoksiohtigt,  teils  missverstanden  iiat 

Üebeilianpt  mute  iob  gestehen,  so  fruchtbar  P.'s  Kritik  zu  werden 
veiBpraoh,  als  ich  sah,  wie  zutreffend  er  die  beiden  Fuudamentalsätze 
des  Dcritig'schen  Systems  znr  näheren  Prüfung  heraushob,  so  wenig  scharf 
Dcd  stiohkrafdg  sind  mir  seine  Einwendungen  erschienen,  die  er  für  tätlich 
hilt  Ja,  meine  Bespreobung  seiner  Kritik  wird  weit  wemger  eine  sachlich- 
pbilosoptiisohe  als  eine  philologische  sein  müssen)  sie  wird  von  den  Ein- 
wendungeo  P.'s  laigen,  doss  sie  zum  grossen  Teile  ein  Kampf  gegen  Wind- 
mühlen sind  und  wd  geganfiber  dem  teils  falsch  verBtandenen,  teils  un- 
ToLtt&udig  berüoksiijitigteu  Oedankengange  D.s  dessen  echte  and  vollständige 
Heinuiv  zur  Geltung  bringen. 

n.  Wenden  wir  uns  jetzt  zu  dem  ersten  Streitpunkte,  der  Frage, 
wie  überhaupt  selbständig  gewolltes  menschliohes  Handeln  zu  stände  kommt. 

1)  P.'s  Anscbauung  hierüber  ist  h5chst  merkwürdig.  Insofern,  als  er, 
wann  ich  ihn  recht  veistabe,  ketDeswegs  grundsfttzlich  und  von  vomheron 
die  end&monistische  Erklärung  alles  Handelns  abweist;  nein,  er  stimmt  D.'s 
Anschauung  zur  Hälfte  durchaus  zu,  lehnt  aber  die  andere  Hälfte  auf  das 
schirfsta  ab ;  oder,  wie  er  selbec  seinen  Standpunkt  bezeichnet,  er  hält  das 
,sudämometüche  Prinzip*    fest,  verwirft  aber  .die  ^oistische  Wendung*, 

■]  Vgl.  die  Zitate  in  der  Ofiterlehra  D.'s  B.  63t. 

rmn-ii-.-i  Google 


300    .  P-  Boheerar: 

die  ilmi  D.  ^dbt.  Er  hilt  «s  also  fär  möglich,  die  BegiiSe  .EndlmoDismu* 
and  „Egoismna''  tÖIÜk  vonunaiidei  zd  tranneii  und  gl>nbt,  dasa  w  Lost 
gübe,  die  mit  penönlicheii  WdoBoben  und  BedöifniBaeu  dee  Individnam» 
«beolnt  nichts  lu  thon  habe.  Du  ist  kUerdings  ein  Standpunkt,  der  bat 
mm  eiaenieu  Bestände  der  Tolkatünliohen  I^ohologie  za  g«hörui  adieint, 
wenigstens  ist  er  mir  unzählige  Haie  bei  Heiüohen  des  piaUisahen  Lebeni 
entgegengetreten,  dei  mii  abei  völlig  nnbaltbu  nnd  nnmögliob  ars^eiiit. 

Das  „riohtig  veistandena  andttmonistisahe  Piinsip'  besteht  fSi  P.  in 
dem  SstM,  .dase  alles  Handeln  auf  die  grösste  Lost  oder  geringste  Dnlost 
geht".  Ans  dieser  TbatBaohe  folgt  aber  für  P.  keineewess,  dass  es  dann 
auoh  immer  dn  penSoliota«,  dgeoea  lotneise  oder  Beadifiüs  dee  Indi- 
vidnnms  ist,  das  floroh  die  Handlung  befriedigt  werden  soll  and  dnroh  doeai 
Betriedignne  ebuk  die  Lnst  entsteht  Nein,  diese  Helnang  ist  gerade  „di» 
■goistisdie  Wendung*  D.'e.  P.  stellt  die  verblnfiende  Behaaptang  aa/,  ea 
könne  ertahmngsoAsrng  anoh  Lnst  in  der  Seele  bei  £rreialiiuig  von  Zieleo 
entstehen,  die  aas  loh  des  Handelnden  gar  nicht  berühren ;  ee  sei  mC^icli, 
dass  vir  nna  fSr  Dinge  intereaaiereii,  Frend  und  Leid  durch  sie  erfahren,  die 
für  nnser  loh  TÖllig  glmchgültig  sind,  die  absolut  keinen  Anknnpfungsponkt 
in  nnsem  Bedürfnissen  und  Wünsohen  haben :  „Das  P^chisohe,  die  Seele 
Diass  in  gewissem  Sinne  weiter  reichen  als  das  Ich."  Eh  siebt  FUle  TOD 
Frende,  btä  denen  e«  nur  hiesee,  „den  lohb^riff  über  ule  natürlichai 
Grenzen  zu  erweitern",  wollte  man  anoh  hier  ein  petaönliobea  Interesse  des 
Individaums  annehmen,  durch  dessen  Befriedigung  die  Spende  entstehe. 

Nun,  demgegenQber  meine  ich,  die  allergewöbnlichste  Brfahnine  dM 
tfigliohen  Lebens  kann  nns  darüber  belehren,  dass  eine  Lust  immer  nur  m 
Stande  kommt,  wenn  irgend  ein  Wunsch  des  betreffenden  Individunms  be- 
fiiedigt  wird,  and  Unlnst  nur  dann  eintritt,  wenn  einem  Bedürfnisse  die 
Befriedigung  versagt  bleibt.  ,,Diea  Tclk  kann  sich  nicht  andere  tnaaa  ala 
bei  Usui",  weil  seine  BedürfniBansststtung  eine  zu  niedrige  ist,  es  aind 
seelisch  verkrüppelte  Hensohen.  „Wenn  die  Haus  satt  ist,"  wenn  sie  »das 
Bedürfnis  nach  BpeiBs  und  Trank  herausgeUsgen  hat",  dann  „scduneokt  das 
Mehl  bitter*'.  Ooethe  mahnt  aosdrüoklioh,  „wenn  da  Gtste  wilM  traktieretf* 
nnd  ihnen  Frende  bereiten,  ja  ihre  besonderen  Wünsche  zu  berüokeichtigeB, 
dioh  „naoh  Sohuau'  nnd  Schnabel  eq  richten",  sonst  riskierst  du,  nichts 
weiter  za  erreitdien,  als  „Salz  nnd  Sohmsli  eu  veriieren".  Und  *<hi  dieser 
Begel  wild  sioh  hoKentliob  aueh  P.  im  praktischen  Leben,  s.  B.  hei  Aor 
Auswahl  seiner  Oeeohenke  leiten  lassen:  er  wird  gewiss  nicht  ^aaben, 
dnem  Kchttuicher  mit  einem  Eistohen  Zigarren  eine  Freude  maofaen  oder 
einen  unmusikalischen  dnroh  eine  Eintrittskarte  zu  einem  Konzert  erfreuen 
zu  können;  er  wird  keinen  abstinenten  Freund  eu  einer  Flasche  „gutra, 
alten  Rheinweins"  einladen,  oder  einen  ICstWTneo  anmutigen  Damen  vor^ 
stellen,  wenn  er  ihm  eine  Freude  machen  will  Bs  sohaint  mir  überflüssig 
EU  sein,  die  Beispiele  für  das  seelisohe  Grundgesetz  za  hlufem,  dass  die 
Entstehimg  einer  Lust  immer  an  das  Vorhandensein  ünes  Bedürfnisses  ge- 
bnnden  ist  und  dass  ningekehrt,  wo  ein  Lustgefühl  eingetret«n  ist,  immer 
ein  Bedür&iis  dee  Individaums  anzunehmen  ist,  dnroh  dessen  Befriedigung 
es  entstanden  isL 

Also  lugeben,  dass  „alles  Handeln  aof  die  grösste  Lnst  oder  die 
geringste  Unlust  geht,"  und  dann  doch  lengnen,  dass  es  dgen«  persünliolw 
Wunsche  dee  Handelnden  sind,  dnroh  deren  BeMedigong  die  Lust  nur  ent- 
stehen kann;  und  dann  doch  leugnen,  dass  die  Handlung  ans  diesen  eigenen 
Bedürfnissen  des  Handelnden  entspringt,  in  ihnen  ihr  Motiv  hat  nnd  allein 
danuif  gerichtet  ist,  diese  persönlichen  Bedüifrüaee  des  Haadelndm  in  be- 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


A.  DSnngB  lem  menBohHohe  BegrÜDdong  das  Sittengeaetxee.     301 

friedigen,  du  hwast,  A  BUgsn  and  vor  dem  B  xnrDokBohreokui,  n^,  „im 
«nteD  sind  wir  fni,  im  zweitau  sind  wir  Knechte"! 

AndoreiHitB  soll  dorobaos  nicht  beh&nptet  werden,  dass  es  eine  so 
wofube  Stehe  sei,  nnn  den  Nuhweis  für  dies  peychiBohe  Onmdgesetx  der 
Entstehung  tod  LoBt  nnd  ünlast  in  Beuehnng  auf  dis  gesamte  Oebiet 
und  alle  Alten  mensohlicher  Lust  lu  liefern  and  die  GmodbedäifniBGe 
ntchroweisen,  ans  deren  Befriedigmig  jede  Art  Lost  eniftteht  in  denen  die 
Ifotive  für  alle  einzelnen  Belbst&ndigan,  nicht  kouventionellen  oder  naoh- 
geahmten  Handlangen  liegen.  Nein,  das  hieesa,  das  gioBse  Terdienet 
•obinileni,  das  D.  um  die  E^weitemng  nicht  bloss  der  populären,  sondern 
Mioh  nnserei  wiBeeaBchaftlioheu  psyehologiBohen  Erkenntnis  dadnrdi  in  An- 
nmioh  nehmen  darl^  dose  er  in  dn  Gfltoriehre  in  einet  ünteistiohupg  Ton 
100  8«ten  das  BedttrhisinTailar  onserer  Seele  anli^eokt  bat  Wie  diee 
Verdienst  om  die  Brweitemng  onsarei  lein  theorebsohen  payohologiBoheii 
&keantniB  auoli  der  Ethik  zn  Gate  kommt,  war  ja  oben  gezeigt,  als  seaagt 
wurde,  dass  den  Psychologen  DCring  widerlegen  mflsse,  wer  seine  ethiBohe 
Theorie  angraifeu  wolle. 

2.  Nun  hat  P.  zum  Beweise  eeiner  souderbareii  psycho- 
logischen Anschauung  auch  einige  Beispiele  angeführt,  in 
denen  angeblich  die  Freude  entatehe,  ohne  daes  ein  persßu- 
liches  BedOrMs  des  Handekden  vorhanden  wäre,  das  durch 
die  Handlung  seine  Befriedigung  fände.  Aber  diese  Beispiele 
beweisen  eben  nur  die  oben  zagestandene  Schwierigkeit, 
manche  Bedürfnisse  zu  erkennen.  P.  ist  das  in  diesen  Fällen 
nicht  gelungen,  und  auch  aus  D.'s  Untersuchung  hat  er  sieb 
nicht  genügend  über  den  Umfang  der  GrundbedOrfoisse 
ontenichtet,  so  dass  er  noch  tief  in  jener,  „der  gewöhnlichen 
Betrachtungsweise  eigenen  unklaren  und  unvollständigen  Vor- 
stellung vom  Umftmge  der  selbstischen  Motive"  steckt,  von 
der  D.  S.  386  der  Güterlehre  redet. 

Pktzoldt  schreibt: 

gViele  ouIoBtTolle  Zosttode,  die  Bemfihnngen  um  ihre  Be- 
seitignug  und  endlich  ihre  geglückte  Anfliebong  lassen  ans  das  eigene 
loh  —  immer  wieder:  das  empiriaoh  nnd  logisch  richtig  abgegrenite 
Ich  —  gani  TBigeesen,  unbeschadet  des  Lnstgefühle,  das  mit  jeder 
Areichong  eines  gewollten  Zieles  Yerknäpft  ist,  onbeeohadet  also  auch 
des  eodlmonistisohen  Prinzips.  So  mfisBeu  wir  die  Freude,  die  wii 
empfinden,  wenn  noa  die  Auflaenng  einer  geometrisa^en  KonstruktionB- 
an^be,  eines  Bttsels,  eines  BchaohproUems  d.  s.  w.  gelingt,  sehr  wohl 
TOn  dem  Stolze  auf  das  eigene  E&nnen,  von  der  lostvollen  Bebiedigung 
nnsens  Ehigeiaes  trennen.  Dass  das  iweieriei  ist,  sehen  wir  ja  dent- 
lidi  diuaus,  <iiss  wir  uns  aooh  übet  die  von  anderen  gegebene  LOanng 
treuen,  wenn  wir  nur  eist  das  unbehagliche  dea  noch  unxelüsten 
Problems  reoht  geftlhlt  haben.  Ist  hob  dooh  in  solchen  JUlen  an 
der  LSsnng  Qberbanpt  weit  mehr  gelegen  ids  daran,  dass  wir  sie  selber 


iM,Coo<^lc 


302  P-  Sohesrar: 

Nun,  dieser  Behauptung  P.'b,  daas  der  Freude  über  die 
LOsung  der  genannten  Probleme  durchaus  nicht  immer  das 
SelbatechätzungsbedUrMs  (dartlber  im  dritten  Teile  diesw 
Besprechung  Genaueres)  zu  Grunde  liege,  ja  dass  diese 
Freude,  wenn  sie  sich  rein  auf  die  Ltisung  selber  bezieht, 
überhaupt  gar  nicht  aus  der  Befriedigung  dieses  Bedürfnisses 
resultiere,  dieser  Behauptung  würde  keiner  lebhafter  zu- 
stimmen, als  D.  selber.  Aber  ist  denn  dieses  Bedttrihis  der 
Selbstschätzung,  so  mächtig  es  ist,  das  einzige  selbstlscbe 
Literesse  des  Menschen,  so  dass  mit  seiner  Abwesenheit  alle 
selbstischen  Bedür&üsse  ausgeschlossen  wären?  Da  hSttxsi 
wir  ja  die  „unvollständige  Vorstellung  vom  Umfange  der 
selbstischen  Motive",  die  oben  P,  vorgeworfen  werden  musste, 
die  besonders  deutlich  in  seinem  immer  wiederholten  Drängen 
auf  „richtige  empirische  und  logische"  Abgrenzung  des 
„natürlichen  Ichs"  zu  Tage  tritt. 

D.  steUt  neun  Gnmdbedürfrisse  der  Menscbennatur  fest 
und  es  ist  F.  ^zlich  entgangen,  dass  D.  gerade  die  von 
P.  beigebrachten  Beispiele  von  Freude  ebenfalls  anführt  and 
zwar  für  die  Wirksamkeit  des  „intellektuellen  Bescldlftiguiigs- 


S.  129—30  der  Güterlehre  schreibt  D.: 


.  ,  b  ihnen  eine  BeaLitat  entspricht,  d.  h.  ob  sie  ErkeantnisM  ■ 
willkommen  nnd  angenebm.  Sohon  in  einraohen  Nattmostttuden  be- 
Bohftfdgt  siob  der  Heuaoh  gern  mit  ■llsiiei  Spielen  de«  TeraMndea  ond 
der  Pbantuie,  Fabeln  und  Batselfragen,  BoheKhaflea  Problemen  ood 
Spielen  des  Scharfsinns.  Bobon  TenmsohuiUoheD  die«  Bad&rlnis  die 
RüoKXBi'schen  Vene: 

„Die  Elfen  sitcen  im  Felsenaohaoht, 
TertreibeD  mit  Beden  die  lange  Kaoht, 
Sie  geben  aioh  duftige  Bitaal  anf*  eto. 
Und  EopiscH  Iftsst  in  den  langen  PolarnSobten  am  Ciatemude  das 
Hekla  die  Bienen  und  Zwerge  EnsammeDkommen, 

.Denn  sie  bahea  in  dem  Dtukel  Langeweil'  in  ihren  Höhlen, 
U5ohtsn  gern  im  Sterngetnnkel  Heoi^oitän  sich  erzihlen.* 


')  Daher  konnte  für  P.  der  Schein  entstehen,   all   ob  «e  «baolnt 
keine  Beiiehang  in  nnseren  Interessen  hfttten. 


iM,Coo<^lc 


A.  D9riDgB  Teia  roensrfJiohe  B^rändimg  des  BittoDgesettes.      303 

Hier  wäre  also  von  D.  in  dem  formalen  BedUrMsBe 
nach  Beschäftigung  der  Vorstellungsfunktioii  ein  persönliches 
SedttrMs  im  Individuums  als  Quelle  des  angehlich  vOllig 
Belbstlosen  Lustgefühls  nachgemesenl 

und  nicht  anders  steht  es  mit  dem  zweiten  Beispiele, 
das  P.  dem  praktischen  Gebiete  entnimmt. 

„Vtx  andere  in  Lebensgefahr  sieht,  der  kennt  keinen  dringenderen 
nnd  keinen  anderen  Wonsob,  als  sie  daiAos  befreit  m  visieD.  Und 
b€dm  Retter  tiud  nioht  bloss  alle  egoistisohan  Böoksiohten,  sondern 
anoh  alle  Gedanken  an  seine  sonstigeii  sittliolien  Terpfliohtnngen  ao 
TöUig  ntr&okgetretsnj  dass  er  lielleioht  die  soziale  and  physieohe 
Existenz  setner  FamiLe  aofs  Spiel  setzt,  nm  etwa  einem  Terkomtnenen 
Heneohen  das  Leben  in  erbalten.  Die  gaffende  Menge  am  Ufer  des 
reissenden  Stromee  fohlt  bei  weitem  oidit  so  sehr  die  beeah&mende 
Idge  ihrer  ünthätigkeit  wie  die  Not  und  den  Jammer  der  ZöUner- 
familie,  tmd  ihre  Rreode  Aber  die  rettende  Ihat  des  braven  Mannea 
ist  gewiaa  von  einer  BiUignng  ihres  eigenen  Verhaltens  so  weit  vie 
not  möglich  entiemt* 

Ja,  wiedermu  wUrde  D.  auf  das  bestimmteste  zugeben, 
dass  die  Freude  der  Menge  Über  die  Bettung  der  Zöllner- 
familie  nicht  eine  Folge  aus  der  Befriedigung  des  Selbst- 
schätzungsbedDrfiiisses  sei,  gar  nicht  sein  könne,  da  die 
Handlung  der  Rettung,  durch  die  es  allein  befriedigt  werden 
konnte,  von  Seiten  der  Gaffer  ja  gerade  unterbleibt;  aber  er 
würde  wiederum  ebenso  bestimmt  behaupten,  dass  auch  hier 
ein  anderes  persönliches  BedUrbis  vorliege,  durch  dessen 
Befriedigung  die  Freude  entsteht.  D.  zeigt  nämlich  in  der 
Gflterlehre  S.  152 — 167,  dass  der  Mensch  infolge  seiner 
Organisation  die  wahrgenommene  Lust  oder  Unlust  anderer 
Wesen  mitempfindet,  indem  er  sich  durch  die  Phantasie  in 
die  Zustände  der  anderen  Wesen  hineinversetzt  und  durch 
diese  Hineinversetzung  an  den  Gefühlen  der  anderen  teil- 
nimmt, sie  mitfühlt  Aus  dieser  Figentfimlichkeit  (die  zur 
Voraussetzung  Ausbildung  der  Phantasie  und  eigene  Er- 
fahrung von  mannigfachem  Leid  und  Freud  hat)  entspringt 
dann  nattlrüch  das  Bedürfnis,  die  anderen  Wesen  frei  von 
Schmerz  nnd  in  glücklicher  Lage  zu  wissen,  um  so  der  Un- 
lust des  Mitleids  zu  entgehen,  weil  eben  kraft  dieses  phantasie- 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


massigen  Hiueinversetzens  in  die  fremden  Zustände  unser 
eigener  G^efOblszustand  schon  durch  die  blosse  Wahmehmuitg 
des  fremden  G}«fühls  beeinflusst  wird. 

Wenn  P.  also  Handlmigen  der  Barmherzi^eit  tri- 
nmphiereod  als  Fälle  anfllhrt,  bei  denen  keine  Bede  davon 
sein  kOnne,  dass  auch  hier  die  Verbesserung  der  eigenen 
Zustände  des  Handelnden  das  Motiv  zu  seinem  objektiT  dem 
Wohle  des  Nächsten  gewidmeten  Handeln  sei,  und  wenn  er 
die  Mitfreude  als  Beispiel  einer  völlig  selbsUosen  Freude 
ansieht,  die  mit  der  Befriedigung  eigener  Interesse  des 
Individuums  gar  nichts  zu  thun  habe,  so  venuisst  man  dabä 
die  Widerlegung  der  oben  skizzierten  Ableitung  dieBee 
Handelns  und  dieser  Freude  aus  einem  GrundbedUrfoisse  dea 
Individuums  und  seiner  Befriedigung,  wie  sie  D.  a.  a  0. 
giebt.  Widerlegt  sich  diese  Ableitung  selber,  oder  kumte 
sie  P.  nicht? 

Also  mit  diesen  Beispielen  scheint  nur  P.  das  Vo^ 
handensein  der  von  ihm  behaupteten  selbstlosen  Freude,  die 
gerade  entstehe,  „wenn  das  Ich  ^nzlich  aus  dem  Bewusst- 
sein  verschwunden  und  die  Seele  nur  von  dem  Nicht-Ich, 
nur  von  der  Sache  erfüllt  ist"  —  das  Vorkonunen  solcher 
völlig  selbstlosen  Freude  scheint  mir  P.  mit  diesen  Beispielen 
nicht  bewiesen  zu  haben,  sondern  nut  ihnen  lediglich  Wasser 
auf  D.'b  Mühle  der  eudämonisÜBchen  Erklärung  geleitet  zu 
haben.  Doch  vielleicht  bringt  P.  in  Zukunft  noch  Fälle  hei, 
ZQ  deren  eudämonistischer  Elrklärung  der  neunfache  Bedlirf- 
nisschlUssel  D.'s  nicht  ausreicht;  bis  dahin  durfte  abOT  D.'s 
eudämonisüsche  Erklärung  von  dem  Zustandekommen  alles 
Handelns  unerschtlttert  feststehen. 

Wenn  P.  femer  meint,  dass 

gdet  Künstler  bo  gani  in  aönem  Weite,  der  Gelehrte  so  v911ig  i» 
sdoem  Oegenstande  aofgehen  kann,  dass  er  alles  nm  BKäi  her  ood 
ftnoh  sieh  selbst  vergisst  —  man  denke  an  Axohimedee'  noli  tnr- 
bare  ämdos"  — 

SO  gentigt  es  wohl  nach  dem  Vorhergehenden,  diraer  Meinung 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


A.  Dörings  nin  romschliehe  BegTfindniig  dea  SHtengsBetieB.     305 

die  Auffassung  ohne  Kommentar  gegenüberzustellen,  die  D. 
in  den  Worten  ausspricht: 

,A]lfl  Euidlimgeii  der  Bntsagasg,  der  aoe«tiAimteti  Selbetlosiftkeft  ja 
der  freiwUligen  Labenuufopfemiig  sind  Bntaipiiigen  and  Anfopls- 
rnngeo  nnr  für  ein  beBtimmtea,  oft  sehr  iimfaiigreioheB  Qe- 
biet  des  BelbatiBohen;  sie  fOi  vBlüg  selbstlos  er  halten,  beruht 
auf  Unkenntnis!  des  ümfangee  der  Natarbedorfnisee  und  der  ans  ihm 
Befriadignng  anUpringenden  {^haimen  Qaellen  intanaiver  Lost'.  (S. 
886  d.  Oäterlehrei. 

3.  Wenn  F.  das  psychische  G^rundgesetz  der  Eutstehung 
aller  Lust  aus  der  Befriedigung  eines  persönlichen  Inter- 
esses leugnet,  so  lässt  sich  deutlich  erkennen,  dass  ihn  dazu 
die  vermeintliche  Gefährdung  eines  hShra^u  Interesses  durch 
die  Anerkennung  dieses  Grundgesetzes  bewegt.  Dies  höhere 
Interesse  ist  die  Sorge  um  eine  echte,  unversuchte  Sittlich- 
keit. Wenn  alles  Handeln  darauf  gerichtet  ist,  dem 
Handelnden  selber  durch  Befriedigung  persönlicher  Bedürf- 
nisse Lust  zu  verschaffen,  wie  D.  behauptet,  so  ist  klar,  das« 
auch  das  sittliche  Handeln,  die  Forderung  von  fremdem 
Wohle  in  diesem  psychologischen  Sinne  „selbstisch  oder 
egoistisch"  ist,  als  es  sein  Motiv  nur  in  einem  persönlichen 
Bedürfhisse  haben  kann,  das  sich  durch  das  sittliche  Handeln 
Befriedigung  verschaflen  will.  Nun  hat  sich  aber  P.  von 
der  Überlieferung  noch  nicht  frei  gemacht,  in  der  Bezeich- 
aung  „selbstiBch  oder  egoistisch"  sofort  einen  sittlichen  Tadel 
zu  erblicken  und  in  der  „Selbstlosigkät"  das  wesentliche 
und  unterscheidende  Kennzeichen  des  sittlichen  Handelns  zu 
sehen.  Und  darum  kann  er  nattlrlich  die  Theorie,  dass  alles 
Handeln  auf  Befriedigung  eigener  Int^essen  des  Handehiden 
ausgehe,  nicU.  gebrauchen,  er  muss  sie  ablehnen.  „Ist 
jede  Handlung  egoistisch,"  sagt  er,  ist  „die  Erreichung  eines 
jeden  vorgesetzten  Zieles  mehr  oder  weniger  lustvoU"  — 
so  ist  „das  ditex  keine  Einsicht,  auf  die  man  einen  Unter- 
schied von  sittlichen  und  nichtsitüdchen  Handlungsweisen 
gründen  kOnnte". 

Aber  diese  Bezeichnung  „selbstlos"  enthält  ja  doch  in 
Wflhiiiut  gar  keine  Inhaltsbestimmung  des  SittUcben,  s<Hidem 

VÜMOJabnMbiUt  t.  wtMOMlikltL  FUlM.  n.  SodoL    XXTIL  8.  20 


iM,Coo<^lc 


306  P.  eolieordt: 

Tielmebr  eine  Theorie  über  das  Zustandekommen  sittliche 
Handlungen  und  zwar  eine  falsche.  Das  Wesen  und  Kenn- 
zeichen des  Sittlichen  ist  Förderung  fremden  Wohles;  ge- 
nauer, ein  solches  Streben,  daa  nicht  auf  Erlangung  von 
Nebenvorteilen  ausgeht,  die  zufällig  mit  dieser  Forderung 
fremden  Wohles  verknüpft  sind,  sondern  das  auf  die  Er- 
zeugung fremden  Wohles  an  sich  gerichtet  ist  und  darin 
seine  Befriedigung  findet.  Überall,  wo  ein  derartiges  Streben, 
vorliegt,  ist  das  sittliche  Urteil  befriedigt;  um  alles  weitere, 
z.  B.  wie  solches  Streben  entsteht,  ktlmmert  sich  das  sitt- 
liche Urteil  nicht,  diese  Fragen  überläast  es  der  Psycho- 
logie. Also  nicht  darauf  sieht  das  sittliche  Urteil,  ob  Streben 
und  Handlung  „egoistisch"  ist  in  dem  obigen  psycholo- 
gischen Sinne,  dass  sich  auch  durch  die  sittliche  That  ein 
persönlicher  Trieb  des  Handelnden  Befriedigung  TerschadTen 
will;  sondern  es  fragt  danach  allein,  wie  sich  dieser  Herzens- 
drang des  Handekden  —  der  ja  wohl  da  sein  moss,  wenn 
es  nicht  an  einem  Antrieb  zur  Handlung  fehlen  soll  —  zum 
Wohle  des  Nächsten  verhält,  ob  er  auf  dessen  Förde- 
rung gerichtet  ist,  oder  nicht.  Und  dieser  letzte  Fall  des 
NichtsitÜicben  schliesst  wieder  zwei  Möglichkeiten  ein:  Ent- 
weder ist  die  Handlung  direkt  böse,  indem  sie  das  Wohl 
des  Nächsten  schädigt,  oder  sie  ist  sittlich  wertlos,  unter 
Umständen  heuchlerisch,  indem  der  Handelnde  zwar  objektiv 
fremdes  Wohl  fördert,  aber  dabei  in  seiner  Absieht  aof  Er- 
langung von  Freude  gerichtet  Ist,  für  die  nicht  das  sittliche 
Wesen  der  Handlung  selbst,  die  Förderung  des  fremden 
Wohles  die  Auslösungsursache  ist,  sondern  die  ihre  Quelle 
in  Vorteilen  hat,  die  mit  diesem  sittlichen  Kerne  der  Hand- 
bmg  nur  durch  zufüge  Umstände  verknUpft  sind.  Wenn 
aber  die  Förderung  fremden  Wohles  nicht  als  blosses  Mittel 
für  die  Erlangung  solcher  anderweitiger  Ziele  in  Betracht 
konunt,  sondern  wenn  die  persönliche  Freude  des  Handeb- 
den  allein  aus  dem  Bewusstsein  stammt,  fremdes  Wohl  ge- 
fördert zu  haben,  so  bezieht  sich  das  treibende  BedUrfrüs 
des   Handelnden    eben    wirklich    auf   das   Moment   seiner 


iM,Coo<^lc 


A.  DöiingB  rrän  iiieiiBcUi<Ae  Begiündong  dee  SHtengeeetzM.     307 

Handlung,  das  sie  zur  sittlichen  macht.  Mehr  als  diese 
Art  „Selbstlosigkeit",  die  in  Wahrheit  aber  sublimierte 
Selbstsucht  ist  und  doch  das  Feuer,  das  der  Nazarener 
gekommen  var,  anzuzünden,  —  mehr  kann  nach  den  Ge- 
setzen des  Seelenlebens  nicht  verlangt  werden.  Die  Forde- 
rung dee  Verzichtes  auch  auf  diese  intensive  persönliche, 
reingeistige  Lust  an  dem  Kerne,  der  eine  Handlung  zur  sitt- 
Uchen  macht,  würde  niu-  die  Triebkraft  des  sittlichen  Handelns 
unt«rbindeD.  Ein  derartiges  Bedürfnis,  das  auf  diese  dem 
sittlichen  Handeln  immanente  Freude  gerichtet  ist,   hat  D. 


ni.  Kommen  wir  jetzt  zu  dieser  Triebfeder  des  sitt- 
lichen Handeks,  dem  „Bedür&isse  der  Selbstschätzung". 
WßT  übt  P.  sowohl  an  der  Auffassung  D.'s  von  der  hier 
Torliegenden  Erscheinung  des  seelischen  Lebens  scharfe 
Kritik,  wie  er  vor  fJlem  leugnet,  da^  dieser  Begriff  des 
Selbstschätznngsbedürfiüsses  überhaupt  geeignet  sei,  das 
Motiv  des  sittlichen  Lebens  abzugeben.  P.  schliesst  seine 
Kritik  des  Ddsrao'schen  Versuches,  das  sittliche  Handeln 
mit  Hülfe  dieses  Begriffes  zu  motivieren,  mit  den  ver- 
nichtenden Worten: 

.Damit  iit  enrieseo,  dua  daa  SelbstsohStcniigsbedtiäiis  nioht 
m  Qnmdlai^  der  Sittenlehre,  die  Selbatsahätziuig  niaht  cum  Ziel  dee 
Bittliohen  Handelns  gemacht  «erden  kaou.  Im  Gegenteil,  vom  Bland- 
pnnkte  der  ta  begründenden  Sittenlehre  aas  ist  £e  allinähljobe  ISn- 
«ahriteürang  nnd  eohliesBliehe  ÜDterdrfiobnng  jenes  Bedürfnisses  in 
fbidenu 

Wir  stehen  also  hier  an  dem  wichtigsten  Teile  der 
pBTzoLDi'schen  Kritik.  Zu  seiner  Beleuchtung  wird  es 
nOtlg  sein,  zunächst  kurz  die  wahre  und  vollständige  Meinung 
D.'s  über  diesen  Punkt  zu  entwickeln. 

1.  Das  Setbstschätzungsbedürfnis,  um  dessen  Begriff 
es  sich  zunächst  handelt,  gehört  zu  den  rein  geistigen  Be- 
dOrfiiissen  des  Menschen,  die  in  dem  Verlangen  bestehen, 
emen  bestimmten  Vorstellungsinhalt,  ©ine  bestimmte  An- 
schauung haben  und  vorstellen  zu  dürfen.  Wie  intensiv  die 
Lust  der  Selbstscbätzung  ist,   ist  eine  allgemein  bekannte 


iM,Coo<^lc 


308  P-  Sotieeier: 

Erfahrung.  Es  genügt,  an  einige  Erscheinungen  zu  erinnern, 
die  von  diesem  Lustgefühl  Zeugnis  ablegen.  Jeder  Erzieher 
weiss,  ein  wie  mächtiger  Sporn  ftlr  den  ZQgling  in  dem  Lobe 
tmd  der  Anerkennung  von  Seiten  des  Erziehers  liegt;  dass 
das  sicherste  Mittel,  widerstrebende  Z9glinge  zu  leiten,  darin 
besteht,  sie  „bei  der  Ehre"  zu  packen  und  das  Verhalten, 
das  man  von  ihnen  erwartet,  als  Konsequenz  oder  Moment 
der  Würde,  die  sie  ja  selber  fUr  sich  beanspruchen,  zu  de- 
duzieren. Von  Gambbtta  ist  die  Äusserung  Überliefert,  dass 
das  Präsentieren  der  Wache,  wodurch  er  immer  wieder  an 
seine  Würde  als  Kammerpräsident  erinnert  wurde,  so  er- 
frischend auf  ihn  wirkte,  wie  Absyntli.  Das  hohe  Lustr 
gefObl,  das  mit  dem  Bewusstsein  des  eigenen  Wertes  ver- 
knüpft ist,  ist  endlich  doch  überhaupt  die  Voraussetzung  (3r 
die  Sitte  der  Anrede  mit  dem  AmtsÜtel,  die  dem  Angeredetes 
jedes  Mal  das  Bewusstsein  der  von  ihm  in  der  G-esellschaft 
erreichten  Stellung,  seines  gesellschafüichen  Wertes  wachruft 

Schon  diese  wenigen  Beispiele,  welche  die  Erfahrung 
des  Lesers  beliebig  zu  vermehren  im  Stande  seia  wird, 
können  die  Natur  dieses  BedOrinisses  zeigen:  Es  ist  ein  rein 
geistiges  Bedürfnis  des  Vorstellens,  das  seine  Befriedigung 
in  der  irgendwie  (über  die  emzig  wahre  Quelle  des  Wertes 
weiter  unten)  gewonnenen  Vorstellung  von  der  Bedeutung 
und  dem  Werte  der  eigenen  FerstJnlichkeit  findet 

Freilich  sind  mit  irgend  einem  G-rade  von  Eigenwert 
auch  meist  noch  andere  Vorteile  und  Annehmlichkeiten  für 
die  betreffende  Persünlichkeit  verbunden;  beruht  doch  auf 
unserem  Werte  fUr  unsere  Umgebung  ihre  Bereitwilligkeit 
zu  Gegenleistungen.  Aber  diese  Annehmlichkeiten  sind  eine 
Quelle  besonderer  Freude,  die  wir  sehr  bestimmt  von  der 
Freude  aus  dem  Bewusstsein  unseres  Wertes  unterscheiden. 
Die  Mahnung,  „immer  der  erste  zu  sein  und  vorzustreben 
den  andern"  wendet  sich  bei  dem  Ermahnten  zweifellos 
nicht  an  sein  Bedürfnis  nach  den  fettesten  Schinken,  dem 
prächtigsten  Zelte  und  den  schönsten  Kleidern,  was  alles 
dem  ersten  Helden  auch  zufällt,  sondern  setzt  bei  ihm  die 


n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL' 


A.  Dörings  rein  mansolüiohe  Begrüadmig  dee  Sttengeeetzes.      309 

Blhigkeit  uad  das  Bedürfnis  voraus,  in  dem  Bevusstaein, 
der  erste  zu  sein,  an  sich  eine  aUsse  Befriedigung  zu  finden. 
Ist  so  das  Objekt  des  SelbstschätzungsbedUrfniases  die 
eigene  Persönlichkeit,  so  konnte  es  nach  den  obigen  Bei- 
spielen scheinen,  als  ob  das  BedUrfiiis  darauf  gerichtet  wäre 
und  darin  seine  Befriedigung  ßLnde,  dass  der  Wert  unserer 
Persönlichkeit  von  unserer  Umgebung  anerkannt  werde, 
dass  es  also  wohl  ein  BedOrfiiis  nach  dem  rein  geistigen 
Gute  der  Schätzung  unseres  eigenen  Selbst  wäre,  dass  es 
aber  nach  der  Hochschätzung  unserer  Person  seitens  unserer 
Umgebung  verlangte.  Gewiss  entspringt  nun  häufig  genug 
in  den  Individuen  aus  dem  SelbstschätzungsbedUrfnisse  das 
Streben,  sich  der  Schätzung  und  Anerkennung  der  eigenen 
Person  von  Seiten  ihrer  Umgebung  zu  veraichern.  Aber  es 
Käst  sich  leicht  erkennen,  dass  das  wahre  und  eigentliche 
Ziel  des  Bedürfnisses  nicht  die  Schätzung  unseres  Ichs  von 
Seiten  der  andern  ist,  sondern  dass  wir  erst  dann  befriedigt  sind, 
wenn  wir  selber  die  Überzeugung  von  unserm  eigeoeo 
Werte  haben,  wenn  wir  selbst  uns  schätzen  dürfen.  Be- 
friedigt uns  denn  die  Hochschätzung  von  Seiten  jedes  Be- 
liebigen und  macht  uns  die  Oeringschätzung  seitens  jedes 
Beliebigen  unglücklich  P  Wägen  wir  da  nicht  sehr  sorgßUtig 
die  Stimmen?  Was  kümmert  es  den  Mond,  wenn  ihn  der 
Hund  anbellt!  Und  ebenso  erfreut  uns  ein  günstiges  Urteil 
Über  einzelne  Leistungen  oder  über  den  Gesamtwert  unserer 
Person  doch  nur  dann,  wenn  wir  den  Urteilenden  für  kom- 
petent halten,  wenn  wir  selbst  von  der  Richtigkeit  seines 
Urteils  überzeugt  sind,  d.  h.  wenn  wir  selbst  uns  Wert  zu- 
sprechen können.  Also  das  Urteil  der  andern  ist  durchaus 
nicht  für  den,  der  sein  eigenes  BedUrMs  richtig  versteht, 
das  letzte  Ziel,  das  er  in  Wahrheit  begehrt;  es  ist  höchstens 
eine  Quelle  für  die  eigene  Schätzung  seiner  Persönlichkeit, 
eine  Quelle,  die  der  selbständig  Urteilende  ohne  Schaden  für 
sein  G-lück  entbehren  kann,  wie  sie  auch  keine  Verminderung 
seiner  Unlust  aus  seinem  eigenen  etwaigen  VerwerfunpurteU 
über  die  eigene  Person  bieten  kann. 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Hier  gilt  Bnttlers  Tort:  „Ein  jeder  giebt  den  Wart  ädb.  Bdbst 
Wie  hoch  loh  mich  selbst  anBchlageB  will,  das  steht  bei  mir." 

2.  Diesem  DöBZNo'&chea  Begriffe  des  Selbstschätzungs- 
bedürfiiisses  stellt  P.  nun  folgende  Behauptung  über  seine 
wahre  Natur  entgegen: 

„SelbstsohBtiDDgebedürtais  wfirde  das  BedArfnia  adn.  sieh  in  irgend 
welcher  Hinsicht  vor  aaderii  bevorzugt  za  wissen.  Selbstschiitsaug  ist 
SelbstBohätinng  im  Gegensätze  znrSchätzong  anderer,  aber  auch  im 
Vergleich  mit  andern.  Jeder  Mensoh  hat  von  Nator  den  Drang,  ind«n 
Ihit^ailen,  die  ihn  beiondera  interessieren,  andere  zn  äbertreffen." 

P.  erklärt  also  die  Vergleichung  mit  andern  für  ein 
wesentliches  Moment  bei  dem  Bedürfnisse  selbst  wie  bei  der 
Entstehung  der  Selbstschätzungslust.  Aber  das  ist  eine  vOUig 
willkürliche  und  leicht  zu  widerlegende  Behauptung. 

Wie  oben  gezeigt,  geht  das  reine  Selbstschätzungs- 
bedürßiis  keineswegs  darauf,  „andere  zu  übertreffen",  sondern 
darauf,  dass  wir  selbst  unsere  eigene  Persönlichkeit  schätzen 
möchten.  „Ändere  zu  übertreffen,  sich  vor  andern  in  irgend 
welcher  Hinsicht  bevorzugt  zu  wissen,"  mag  einer  der  Wege 
sein,  wie  jemand  bemüht  ist,  sich  das  Bewusstsein  seines 
eigenen  Wertes  zu  verschaffen,  aber  das  Bedürfms  selbst 
besteht  darin  nicht.  Sein  Objekt  ist  lediglich  die  eigene 
Persönlichkeit,  und  die  Eücksicht  auf  andere,  die  Vergleichung 
und  das  Sichmessen  mit  anderen  hat  mit  dem  Ziele  des 
SelbstschätzungsbedUrfnisses  selbst  dimihaus  nichts  zu  thun. 
Es  könnte  sich  nur  darum  handeln,  dass  die  Beziehung  auf 
die  andern  bei  der  Befriedigung  des  Bedürfnisses,  bei 
der  Eatstehung  der  Selbstsdiätzungslust  eine  notwendige 
Rolle  spiele,  dass  wir  die  Überzeugung  von  dem  Werte 
unserer  eigenen  Persönlichkeit  nicht  anders  erlangen  könnten, 
als  dadurch,  dass  wir  uns  bestrebten,  den  vorliegenden  Wert 
der  andern  zu  übertreffen,  dass  wir  uns  an  ihnen  und  mit 
ihnen  mässen.  Dass  aber  auch  das  durchaus  nicht  zutrifft, 
das  soU  später  gezeigt  werden. 

Wenn  wir  trotzdem  häufig  genug  beobachten,  wie  Bich 
das  Bestreben  geltend  macht,  andere  in  irgend  einer  Be- 
ziehung zu  übertreffen,  so  steht  es  mit  diesem  Streben  wie 
mit  dem  oben  geschilderten  nach  Anerkennung  von  Seiten  der 


iM,Coo<^lc 


A.  DCiiogi  TMU  menBohliche  Begrändimg  des  SitteugesetEes.     3X1 

Umgebung.  Sie  sind  beide  nicht  ein  notwendiger  Ausfluss 
des  Bedürfnisses.  Wie  bei  dem  Verlangen  nach  der  An- 
erkennung seitens  anderer  das  eigentliche  Ziel  des  Bedürf- 
nisses nicht  klar  erkannt  war,  so  mangelt  es  bei  dem  Streben, 
sein  Selbstecbätzungsbedftrluis  dadurch  zu  beüiedigen,  dass 
man  in  irgend  einer  Beziehung  sich  vor  andern  hervorthut, 
an  der  Vemunfterkenntnis,  worin  denn  wahrer  Wert  besteht 
und  wie  er  demgemäss  nur  erlangt  werden  könne.  Der 
Inhalt  des  Ziels,  auf  welches  das  BedUrfiiis  ausgeht,  ist 
nicht  erkaoDt  P.  spielt  also  in  seiner  Kritik  des  Döring'- 
schen  Begriffs  vom  Selbstscl^tzungsbedUrlhiBse  gegen  D.'s 
klare  Erkenntnis  von  dem  wahren  Ziele  und  der  wahren 
Natur  dieses  Bedürfnisses  —  diese  Aufdeckung  des  wahren 
Sachverhalts  im  Punkte  des  Ehrtriebes  ist  gerade  D.'s  Ver- 
dienst um  unsere  psychologische  Erkenntnis  —  empirisch 
vorkommende  Formen  desselben  und  seiner  Bestrebungen 
ans,  die  auf  mangelnder  Erkenntnis  der  betreffenden 
Individuen  von  der  wahren  Natur  und  dem  wahren  Ziele 
ihres  eigenen  Wunsches  beruhen.  Nicht  D.'s  Begriff  dieses 
Bedürfnisses  ist  durch  diese  von  P.  aus  der  Erfahrung  auf- 
gegriffenen Formen  widerlegt,  sondern  die  betreffenden 
Individuen,  die  derartige  Wünsche  und  Bestrebungen  an  den 
Tag  legen,  müssen  aufgefordert  werden:  „Erkennet  euch 
selbst",  damit  sie  auf  Grund  dieser  Selbsterkenntnis  ihre 
Wünsche  und  Bestrebungen  korrigieren  und  sie  auf  die 
wahren,  ihrem  Grundbedürfiiisse  innewohnenden  Ziele  richten. 
Und  zu  dieser  Selbsterkenntnis  sind  D.'s  gründliche  Dar- 
legungen in  der  Güterlebre  über  das  Bedürfnis  nach  Selbst- 
Schätzung  ein  trefflicher  Führer. 

3.  Femer  erklärt  P.  die  Entstehung  dieses  BedürMsses 
auf  eine  Weise,  die  auf  eine  Leugnung  desselben  als  eines 
Belbständigen,  primären,  eines  Grundbedürfnisses  hinaus- 
läuft. D.  hatte  über  die  Entstehung  dieses  Bedürfnisses  gesagt: 

„Das  Beäärfnia  der  BelbBtschAtiimg  liat  seiner  BntstehoiiK  naoh 
etwas  BAtselhafteH  und  bildet  ein  Prablem.  —  Wir  kommen  hier  nicht  über 
die  IhstsBohe  eines  nnmittelbaren  Bedfirfniisea  des  Etgenwertes  hinaus; 
dasselbe  bÜdet  einen  thstsAohlichen  Cbankterzng  der  mensohlichen  Natur, 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


der  tief  im  onbewnssten  OeistsBleben  wurzelt,  gletohsam  ma  nktaugeeohidit 
liobee  Fi^tiim  im  hShereo  BinDs."    (S.  114  o.  116  der  Oäteriehre*).) 

Dagegen  schreibt  P.: 

„Wii  beortsilan  die  andern  nach  ihrem  Werte  fOr  uns,  d!a 
Uidem  nne  nach  ihiflm  Werte  für  me:  Wer  nnsOutee  erweist,  istgat; 
wer  tue  ßösee  Ümt,  ist  scUeoht.  Wenn  wir  non  sehen,  welche  Onnit- 
betengnngen  und  Torteils  man  denen  gewfihrt.  die  ffii  viele  Hanadieii 
wertrolie  Fersönliolikeiten  sind,  da  lie^  es  doch  nahe,  dass  wir  mH 
gelbst  nach  muerm  Werte  füi  die  andern  tragen,  und  die  Entstebini( 
des  WnnBohes  ist  doch  eaiu  natSrlich,  dasa  aooh  wir  fGr  die  andern  «nm 
Wert  k&ben  möohten,  siso  die  Entstehung  „des  Bedfirfnissee  nadi  iA- 
jektivem  SSgenwerte." 

P.  glaubt  also  aUen  Erostee,  mit  dieser  Ableitung  die 
Entstehung  des  Selbstschätzungsbedürfnisses  in  dem  Sinne 
erklärt  zu  haben,  den  D.  mit  diesem  Worte  verbindet,  d.  h. 
des  Wunsches,  daes  wir  selbst  unser  eigenes  Ich  für  vert- 
Toll  halten  mochten. 

Wie  mir  scheint,  täuscht  sich  P.  aber  ausserordentlich 
Über  die  Tragweite  dieser  Erwägung,  die  er  das  Individuum 
hier  anstellen  lässt. 

Denn  thatsäcblich  Mhrt  sie  durchaus  nicht  zu  den 
Wunsche,  „dass  auch  wir  fUr  die  andern  einen  Wert  haben 
möchten",  also  zur  „Entstehung  des  BedUrfiiisses  nach  ob- 
jektivem Eigenwerte",  sondern  nur  zu  dem  Wunsche,  dasB 
die  andern  uns  schätzen  möchten.  Nun  sahen  wir  ja  frei- 
lich vorhin,  dass  dieser  Wimsch  die  Form  ist,  in  der  sich 
das  echte  Selbstechätzungsbedilr&iis  in  dem  Falle  äussert, 
wenn  das  Individuum  das  wahre  Ziel  seines  BedUrMsses, 
die  eigene  Überzeugung  von  seinem  Werte,  nicht  klar 
durchschaut.  Aber  der  hier  entstehende  Wunsch  nach  der 
Schätzung  von  Seiten  der  andern  hat  nicht  einmal  mit  dieser 
Form  des  irregeleiteten  Selbstschätzungsbedürfoisses  etwas 
zu  thun,  denn  die  Schätzung  der  andern  vird  hier  nicht  als 
ein  an  sich  beglückendes  Ziel,  sondern  nur  als  Mittel  eut 
Erlangung  des  eigentlichen  Zieles  begehrt,  das  in  den  ^Quiist- 
bezeugungen  und  Vorteilen"  besteht,  „die  maji  denen  gewährt, 
die   für  viele  Menschen  wertvolle  Persönlidikeiten  sind". 

')  Ich  bemerke  hienn,  daas  D  in  dem  Eaadbnohe  8.  261  Oenaoem 
(tndSiahaieies  über  diese  Frage  nach  der  Bntstehnng  dieses  Bedtrfaisses  Imtet 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


A.  Dörings  rein  menBcHUdie  Begründimg  des  Sittengeeelzea,      313 

Selbst  wenu  also  aus  diesen  mittelbaren  Wunsche  nacb  der 
Achtung  TOQ  Seiten  der  andern  das  Streben  entstünde,  ob- 
jektiven  Eigenwert  durch  wahrhaft  wertvolle  Leistungen  zu 
erwerben,  so  wäre  dies  Streben  immer  noch  nicht  ein  Aus- 
fluss  eines  BedürMsses,  das  auf  Eigenwert  gerichtet  wäre, 
sondern  nur  eines  Bedürfnisses,  das  die  Vorteile  begehrt,  die 
mit  dem  Eigenwerte  verbunden  sind.  Aber  keineswegs  „liegt 
es  nahe",  wie  P.  meint,  dass  aus  dem  Wunsche  nach  „Gunst- 
bezeugungen und  Vorteilen"  in  Verbindung  mit  der  Be- 
obachtung, dass  diese  Güter  nur  solchen  zu  teil  werden,  die 
flir  viele  Mensdien  wertvolle  Persönlichkeiten  sind  —  keines- 
wegs aber  liegt  es  nahe  oder  ist  es  gar  notwendig,  dass  aus 
diesem  Wunsche  und  dieser  Beobachtung  in  dem  Individuum 
das  Streben  geboren  wird,  sich  durch  wirklich  nützliche 
Leistungen  wertvoll  zu  machen.  Im  (Jegenteil,  das  „gerissene" 
in  seiner  Art  wirklich  „rationell"  verfahrende  Individuum  wird 
zur  Erlangung  der  in  Wahrheit  ja  nur  begehrten  äusseren 
Vorteile,  die  es  an  dem  Baume  des  Eigenwertes  hängen  sieht, 
zunächst  versuchen,  seine  Umgebung  durch  den  Schein 
objektiv  wertvoller  Leistungen  zu  täuschen,  von  welcher 
gewöbolichsten  Erscheinung  des  täglichen  Lebens  ja  jeder 
die  erheiterndsten  und  auch  betriibeniteten  Proben  kennt 
Und  erst,  wenn  sich  zeigt,  da^  „kein  Maulspitzen  hilft, 
sondern^  gepfiffen  werden  mura",  erst  dann  wird  es  sich  zu 
wirklich  nützlichen  Leistungen  bequemen.  Also  das  Streben 
nach  objektivem  Eigenwert  ist  durchaus  nicht  ein  echtes, 
legiümes  Kind  der  seelischen  Faktoren,  die  P.  als  seine 
Eltern  ausgiebt;  und  wenn  es  ja  einmal  unter  ihrer  Wirk- 
Bamkeit  in  der  Seele  des  Individuums  sich  einstellt,  so  muss 
man  sagen,  es  ist  nicht  spontan  entstanden,  sondern  es  ist 
ihm  durch  die  äusseren  Umstände  aufgezwungen. 

Wie  man  aber  in  diesem  letzten  Falle  dies  Bedürfnis, 
das  auf  mannigfache  äussere  Vorteile  gerichtet  ist,  ein  Be- 
dtirfiiis  nach  objektivem  Eigenwerte  nennen  kann,  bloss  des- 
halb, weil  der  Bewerber  um  diese  äusseren  Vorteile  durch 
die  Umstände  gezwungen  ist,  sich  des  Mittels  objektiv  wert- 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


314  P-  Bcheerer: 

Toller  Leistungen  für  die  Erlangung  seines  Zieles  zu  bedienen, 
~~  das  verstehe  ich  nicht.  Jedenfalls  hat  D.  diesen  lochen 
Schnitzer  nicht  gemacht,  sondern  wenn  er  von  dem  BedUri- 
oisse  nach  Selbstschätzimg  redet,  so  meint  er,  wie  zur  Genüge 
gezeigt  ist,  dass  die  menschliche  Seele  ein  Bedürfnis  darnach 
habe,  sich  selbst  schätzen  zu  können,  und  dass  sie  in  diesem 
Bewusstsein  des  eigenen  Wertes  an  sich  eine  süsse,  ja  die 
intensivste  Lust  empfinde.  Also  bei  der  PBTzoLDT'schen 
Erklärung  von  der  Entstehung  des  „SelbstschätzungsbedOrf- 
nisses"  liegt  ein  bedenkliches  Quid  pro  quo  vor:  Was  bei  seiner 
Ableitungthatsächlichherauskommt,  das  ist  etwas  ganz  anderes, 
als  die  seelische  Erscheinung,  deren  Entstehung  zu  erklären  er 
sich  anheischig  machte.  Was  herauskooimt,  ist  nicht  das 
echte,  direkte  Begehren  des  Eigenwertes,  dasD.  bei  seinem 
Worte  „Selbstschätzungsbedürfnis"  im  Sinne  hat,  sondern 
nur  jenes  mittelbare  Streben  nach  Eigenwert,  das  auch 
nicht  einmal  immer  oder  notwendig  aus  dem  niedrig  selbstischen 
Begehren  nach  äusseren  „Gunstbezeugungen  und  Vorteilen' 
entsteht,  sondern  nur  unter  bestimmten  Umständen  sich  ein- 
stellt und  zwar  nicht  als  eine  Quelle  hoher  Freude,  was  das 
echte  SelbstschätzungsbedOrfnis  im  Sinne  DObenq's  ist, 
sondern  als  Bringer  tiefen  Verdrusses,  Sollte  P.  mit  dieser 
Erklärung  aber  gar  meinen,  dieses  aus  trübem  Sumpfe  auf- 
steigende Unkraut  des  mittelbaren  Strebens  nach  Eigenwert 
wäre  die  einzige  Erscheinung  im  Garten  des  seelischen  Lebens, 
das  D.  dazu  veranlasst  haben  könnte,  von  einem  Segen 
spendenden  Edelkraute  des  Selbstschätzungsbedürihisses  za 
fabeln,  mit  anderen  Worten,  sollte  F.  die  Existenz  eines  solchen 
direkten  Begehrens  nach  E^igenwert  in  der  menschlichen  Seele 
Überhaupt  leugnen  wollen,  so  meineich  angesichts  der  Erfahrung 
doch:  „Dies  Wort  sie  sollen  lassen  stahn  und  keinen  Dank  dazu 
haben."  Bemerken  muss  ich  doch  auch  noch,  was  P.  ganz 
entgajigen  zu  sein  scheint,  dass  auch  D.  dieses  mittelbare 
Streben  nach  der  Schätzung  von  selten  der  andern  sehr  wohl 
kennt,  es  in  der  Güterlehre  S.  119—20  bespricht  und  „das 
Geschäftsinteresse  der  Ehre"  nennt.      Also  mit  dieser  an- 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


A.  DSringa  lein  menschlicbe  Begründung  des  Sittengeaetzes.     315 

geblich  neuen  Erklänmg  sagt  P.  DöKmo  nicht  einmal  etwas 
Neues;  er  widerlegt  aberD.'s  ausdrückliche  Unterscheidung 
zwischen  diesem  „Geschäftsinteresse  der  Ehre"  und  dem 
echten  „Bedürihisse  der  Selbstschätzung"  nicht  dadurch, 
dass  er  die  Identität  beider  Erscheinungen  einfach  noch 
einmal  behauptet 

Es  bedarf  dagegen  wohl  nicht  erst  der  Versicherung, 
dass  D.  völlig  mit  P.  in  der  Beurteilung  der  sittlichen 
Motivationskraft  Übereinstimmt,  die  diesem  mittelbaren  Streben 
nach  Eigenwert  innewohnt,  für  das  P.  unlogischer  Weise  den 
Namen  „Selbstscbätzungsbedürfuis"  beibehält.  Letzterersa^: 

,,DieBm  bo  gewordene  und  autwicbelte  Bedürfnis  könnte,  soweit  es 
als  Motiv  aUdn  in  Frage  käme,  immer  Dor  sa  äuBserlioh  mit  dem  aittliehen 
äbereinetiinmeDdeii  Verbalten,  also  zni  Btreberei  führen,  nie  zor  rollen 
Hingabe  an  das  sittliche  Ideal  oder  gelegentlich  goi  zu  Bittlicber  Selbst- 
anfopfernng.  Bis  zu  dieser  Höhe  reicht  das  SelbstGobatznngsbedürtnis 
(d.  h.  also  in  P.'a  Sinne)  nioht." 

Ganz  denselben  Gedanken  äussert  D.,  nur  noch  aus- 
führlicher als  P-,  S.  388—89  der  Gttterlehre,  woraus  ich 
folgende  Sätze  hierher  setzen  will: 

„Die  Triebfeder  des  nach  dem  Prinape  der  erwarteten  Oegenseitigkeit 

das  eigene  Streben  bemessenden  Sgoisrnns,  der  Sichening  des  eigenen 
Olüoksiustandes,  soweit  er  vom  Verhalton  der  andern  abbiegt,  dnroh  die 
Bewerbimg  um  Qegenteistung  fährt  auf  die  Maxime  des  ftiLSBerlioh 
Onten  .  .  .  Dies  aber  ist  nicht  die  Maxime  des  Outen  als  soloheu, 
sondern  dea  Oaten  um  der  möglichen  mannigfachen  Vorteile  und  Qüter,  die 
doroh  die  Oegenleiatnng  der  anderen  dem  IndiTidunm  selbst  zufallea 
können  ....  Aosserdem  tat  die  Voraussetzung,  snf  der  das  ganze  Ver- 
bbren  beruht,  dass  nämlich  die  andern  sich  zur  Gegenleistung  verpflichtet 
fohlen  watden,  —  teilweise  offenbar  irrig,  wie  der  Tod  das  Sckrates  zaigea 
kann.  Mit  der  Anfdednmg  i^eses  Irrtums  in  der  Voraassetzung  wird  dann 
aberauoh  die  Kraft  der  Triebfeder  binfftllig  und  der  Egoismus 
der  Belbsthälfe  tritt  in  seine  Beohte." 

Für  jeden  also,  der  die  Wandlung  durchschaut  hat,  die 
der  Inhalt  des  DöaiHo'schen  Begriffs  vom  Selbstschätzungs- 
bedürMsse  unter  P.'s  Händen  erfahren  hat,  dürfte  zweierlei 
klar  sein.  Erstens,  wie  völlig  auf  diesen  seinen  Begriff 
von  diesem  BedUrfiiisse  oben  zitiertes  Verwerfungsürteil 
zutrifft,  „dass  das  Selbstschät^ungsbedUrfiiis  nicht  zur 
Grandlage  der  Sittenlehre,  die  Selbstschätzung  nicht  zum 
Ziele  des  sittlichen  Handehis  gemacht  werden  könne  etc." 


iM,Coo<^lc 


316  ^-  Soheerer: 

Auch  hier  wiederum  stimmt  niemand  lebhafter  bei  als  D.  selbst 
Aber  eben  so  klar  ist  das  andere,  dass  dieser  Kadiweis  der  Ud- 
tauglichkeit  des  fraglicheii  BedUr&iases  zur  sittlicbeu  Trieb- 
kraft dem  DtiBiirQ'scheQ  Begriffe  nicht  eimnal  die  Haut  ritit 

4.  Richteten  sieb  die  bisherigen  fiinweadungen  P.'s 
gegen  den  Dösmo'schen  Begriff  des  Selbstschätzungs- 
bedürfiiisses,  so  bezieht  sich  ein  zweiter  Versuch  der  Wider- 
legung von  D.'s  Begründung  der  Sittlichkeit,  der  in  grosserem 
Stile  auftritt,  auf  die  Art,  wie  D.  nun  aus  dem  rein  selbatischeo 
Bedürfnisse,  das  auf  die  eigene  Lust  der  Selbstscbätzung 
gerichtet  ist,  sittliches  Handeln,  Förderung  fremden  Wohles 
hervorgehen  lässt.  Aber  bei  diesem  Widerlegungsversuche 
liegt  eine  merkwürdige  Erscheinung  vor.  Nämlich  trotz 
des  durchaus  zutreffenden  Berichtes,  den  P.  über  diesen  Teil 
des  DöaiNQ'schen  G-edankenganges  im  ersten,  referierenden 
Teile  seiner  Kritik  bringt,  wendet  sich  diese  Wider- 
legung gegen  einen  Gedankengang,  der  mit  dem  echten 
DöBma'schen  absolut  nichts  gemein  hat.  Diese  ganzen  Ein- 
wendungen richten  sich  gegen  einen  imagii^ren  Gegner. 

Zum  Beweise  dieser  Behauptung  sei  auch  hier  wieder 
D.'s  wirkliche  Meinung  vorangestellt. 

Worin  das  Wesen  des  SetbstschätzungsbedUrfnisses 
besteht,  war  vorhin  gezeigt  worden.  Das  Bedürfnis  zielt 
nicht  auf  äussere  „Vorteile  und  Gunstbezeugungen",  sondern 
als  rein  geistiges  auf  das  Bewusstsein  des  Individuums,  dass 
seiner  eigenen  Person  wirkhch  Wert  zukomme.  Ist  nun  erkannt, 
worin  dieser  begehrte  Wert  nur  bestehen  kann,  in  welchem 
Falle  unsere  Person  wirkUch  Wert  besitzt,  dann  ist  damit 
auch  die  Frage  nach  dem  zulänglichen  BeMedigungsmitte! 
des  Bedürfnisses  beantwortet.  Es  handelt  sich  aJso  jetzt  um 
den  Begriff  des  Wertes,  der  dann  auf  die  eigene  Person  an- 
zuwenden wäre. 

■  Und  da  ist  klar,  dass  Wert  ein  Beziehungsbegriff  ist 
bei  dem  immer  andere  Wesen  vorausgesetzt  sind,  für  die  er 
vorhanden  ist.  So  nennen  wir  wertvoll  alles,  was  uns  oder 
anderen  fühlenden  Wesen  Lebensförderung  bereitet;  was  da- 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


A.  Döiings  rain  mensoUtohe  BegrftDdiing  dee  SittengewtzM.      317 

gegen  keinem  fühlenden  Wesen  in  irgend  einer  Beziehung 
nutzt,  ist  absolut  wertlos,  sein  Verschwinden  wird  von 
niemandem  schmerzlich  empfunden.  Der  Grad  des  Wertea 
steigt  und  fällt  mit  dem  Masse  der  LebensfSrderung,  die  er- 
zielt wird,  sei  sie  intensiv  oder  extensiv.  Es  können  Dinge 
lange  Zeit  vollkoiomen  unbrauchbar  und  darum  wertlos  sein, 
sowie  jemand  aber  eine  nützliche  Verwendung  fUr  sie  ent- 
deckt, bekommen  sie  Wert,  werden  sie  zu  begehrten  Artikeln, 
wie  das  letzthin  z.  B.  mit  dem  Kerne  des  spanischen  Kohres 
geschehen  ist,  aus  dem  seit  noch  nicht  langer  Zeit  die  Wände 
der  danach  benannten  RohrplattenkoSer  hergestellt  werden, 
die  sich  durch  Leichtigkeit  und  zugleich  zähe  Festigkeit  aus- 
zeichnen. Wir  selber  gewinnen  also  irgend  ein  Mass  ob- 
jektiven Wertes,  sobald  wir  uns  bestreben,  das  Wohlsein 
anderer  fühlender  Wesen  zu  fördern,  sei  es  durch  Befreiung 
von  Schmerz  oder  durch  positive  Bereitung  von  Freude. 
„Der  ist  der  Grosseste  unter  Euch,  der  euer  aller  Diener  ist," 
belehrt  Jesus  seine  ehrgeizigen  JUnger. 

So  lässt  das  vemunftgemässe  Verständnis  des  Begriffs 
Wert,  worin  er  besteht,  nur  ein  Be&iedigungsmittel  des  Be- 
dürfnisses der  Selbstschätzung  oder  des  Eigenwertes  zu, 
n^ünüch  sitthches  Handek.  (Handbuch  S.  266—67.  Gater- 
lehre  336—43.) 

Ich  möchte  zur  grosseren  Veranschaidichung  dieses 
abBtr^:ten,  nüchternen,  blutlosen  Gedankenganges  noch  einige 
Stellen  aus  Erzählungen  anfuhren,  in  denen  in  der  Sprache 
des  Geßlhls  das  Bedürfnis  nach  Eigenwert  ausgesprochen  ist, 
und  zugleich  die  klare  Erkenntnis,  worin  der  begehrte  Wert 
besteht,  wodurch  er  erworben  wird;  in  denen  sich  somit  die 
Begehung  des  nach  Bichtung  tmd  Ziel  richtig  verstandenen 
EigenwertsbedUrfiaisses  zum  sittUchen  Handeln  deutlich  zeigL 

.  .  .  ,Eb  ist  die  BehnSDcht,  jenumdem  etwu  ta  sem.  loh  bin 
■0  arm,  dan,  wenn  ioh  heute  stürbe,  nienumd  dk  wKre,  einan  Knu» 
«af  meijien  Btirg  m  legen.  lob  habe  keuea,  dem  ioh  emeii  kleuMD 
Öienat  erweiseii,  füi  den  ich  uäben  oder  kochen,  oder  dem  ioh  uoti 
nni  Torleaen  könnte.    Mit  leeren  Einden  moes  ioh   zojehen,    wie  die 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Henaohea  abhftngig  sind  roneinaDder,  nod  wie  jeder  irgend  einer  Beela 
imeatbelirlioh  IhL  und  ioli?  .  .  .  .  (Ana  dem  Boman  .Blonde  Vh> 
anohong",  Deutsche  Ztg.  1902). 

.  .  .  „Als  er  weg  war,  fing  Gmmy  an  zu  weinen.  Sie  kam  uA 
wieder  einmal  annätz  vor  —  was  sollte  das  bischen  Leben  —  immw 
daaaellM  —  Tag  für  Tag,  Jahr  für  Jahr.  Sie  dachte  an  Qrete  von 
Hiller:  Die  hatte  doch  eine  BescUlftigang,  wnsate,  was  ihr  Oatta  Tar- 
langte;  die  war  bat  ed  beneiden,  die  war  ein  reifes  Eom  aof  dem 
Acker  des  Lebens,  Emmj  äne  nntzloae  Blüte,  die  fmohtbiiDgeodm 
Habnen  den  Plats  wegnahm.    Sie  lebte  so  hin,  niemandem  amn  Natuo, 

aioh  aelbat  am  wenigsten  zar  Freode.  — Emmy  ging  in  Ou 

kleines  Bckoko-Bondoir  nnd  ftililte  sich  nnglacklich;  eie  kam  sich  oft 
wertlos  TOr  aof  der  Veit.  —  Oott  ja,  Jostoa  liebte  aie  wohl,  ab« 
Bohliesalioh  hat  wn  Mann  seinen  Bemf,  der  ihn  über  allee  binwegbriogt 
Er  würde  aie  ein  Jahr  betraaem,  aber  rahig  weiterleben  wie  ijnflisi. 
—  Und  Bnbi  wtirde  ^e  gar  nicht  vermissen,  der  mochte  Fraa  HeoMt 

viel  lieber. Eine  merkwärdige  Weltl    Das  beste  w&re  es  schon, 

sie  Btnrbe!"  (Ana  der  BreBUnng  .Man  lebt  ao  hin",  Dentsche  Ztg.  1901). 

„loh.  will  onr,  dass  mein  Leben  einen  ^n  habeo  soll,  daa  ist 
alles  — .  loh  eignete  mir  den  Orandsatz  an:  Haat  dn  deinen  Öeiat 
erleuchtet,  ao  erlenobte  anoh  andere,  deine  Nftohaten,  dann  wird  deiii 
Leben  eine  Bpnr  hintarlassen.  Wen  aber  sollte  man  wohl  erleachten, 
wenn  nicht  den  onwisaenden  Dorfmensoheni'  —  —  Deswegen,  man 
teurer  Vat«r,  verschmähte  loh  die  ehigeizige  I^nfbahn  und  entsohloss 
mich,  ein  Dorfprieater  zu  werden".  Ans  dem  Boman  von  Fotafbuo, 
„Ein  AnserwUilter'.) 

Statt  nun  diesen  obigen,  in  kürzester  Kürze  skizzierten 
G^ankengang  D.'s  zu  kritisieren,  wendet  sich  P.  gegen 
folgende  Art  der  Begründung,  die  er  für  die  echte  Döboto- 
sche  hält 

D.  hat  nämlich  unter  den  mannigfachen  von  ihm  bei- 
gebrachten empirischen  Beispielen,  in  denen  sich  Lust  aus 
dem  befriedigten  Selbstschätzungsbedürfiaisse  zeige,  ais  ersten 
den  Fall  angeführt,  dass  die  Selbstschätzung  beruhe  „anf  der 
Vorstellung  der  Übereinstimmung  des  eigenen  Verhaltenß 
und  Handelns  mit  irgend  einer  Norm  des  Strebens,  die  dem 
Individuum,  einerlei  mit  welchem  Bechte,  als  solche  gilf- 
(S.  117  d.  Qiiterl.).  P.  meint  nun,  nach  diesem  Typus  Usse 
B.  selbst  auch  das  SelbstschätzungsbedOrfois  das  Motiv  sein, 
die  Forderung  des  Sittengesetzes  zu  erfüllen;  D.  „dehne 
den  Begriff  der  Selbstschätzung  auf  das  Verhälteis  des 
Menschen  zur  Norm  oder  zum  Ideal  aus".    Elr  macht  dann 


iM,Coo<^lc 


A.  Dörings  tein  mennMohe  Begrfindniig  des  Sitteogeaetzea.     319 

sofort  gegen  diese  Art  der  Ableittmg  des  sittlichen  Handelns 
geltend,  dass  dabei  aus  dem  SelbstschätzimgsbedürMsse  nicht 
ein  bestimmtes  Ideal,  also  hier  das  Sittengesetz,  erschlossen 
werden  könne,  an  dem  das  Bedürfnis  den  Menschen  treibe, 
das  eigene  Handeln  zu  messen,  „das  Selbstechätzungsbedürfnis 
ist  ein  rein  formales,  dem  erst  die  Umgebimg  des  Meoscben 
die  besondere  materiale  Bichtung  giebt".  Warum  sollte  denn 
gerade  das  Sittengesetz  die  Norm  sein,  durch  deren  ErMlung 
der  Mensch  glaubt,  allein  den  objektiven  Wert  zu  empfangen, 
wonach  ihn  sein  "Werthedttrfnis  streben  lässt,  da  es  doch  in 
diesem  Falle  zum  Zustaudekonmien  des  Bewusstseins  eigenen 
Wertes  ganz  und  gar  nicht  auf  den  inhaltlichen  Chfu-akter 
des  Handelns  ankommt,  sondern  nur  auf  dies  beides:  dass 
überhaupt  irgend  eine  Vorschrift  dem  Individuum  wirklich 
als  verpflichtende  Norm  gelte  und  sodann,  dass  sein  Verhalten 
dieser  von  Uun  als  höchster  Wert  anerkannten  Norm  auch 
wirklich  entspreche.     So  will  P.  fragen. 

Und  in  der  That,  dieser  Ekwuri  trifft  gegen  diese  Art 
der  Ableitung  des  sittlichen  Handelns  aus  dem  Selbst- 
schätzuugsbedÜrMsse  völlig  zu,  nur  schade,  dass  P.  den 
sich  hier  zeigenden  Scharfsinn  nicht  dazu  verwendet  hat, 
D.'s  wirkliche  Ableitung  erst  zu  verstehen  und  diese  dann 
zu  kriüEderen.  Denn,  wie  vorhin  gezeigt,  gewinnt  D.  that- 
sächlich  durch  Analyse  des  Begriffes  „Wert"  die  Förderung 
fremden  Wohles,  das  sittliche  Handeln  als  mittelbares  Ziel 
des  i 


Und  dass  dieser  Einwand  P.'s  richtig  sei,  dass  bei 
diesem  ersten  von  D.  angefahrten  Falle  der  Entötehung  von 
Selbstschätzungslust  das  Ideal,  an  dem  das  Bedürfiiis  den 
Menschen  sich  zu  messen  treibt,  von  aussen,  aus  der  Um- 
gebung, aber  nicht  aus  dem  Bedürfnisse  selber  stammt,  das 
würde  wiederum  keiner  lebhafter  ziehen  als  D.  selber,  wie 
seine  Worte  in  dem  obigen  Zitat  schon  beweisen,  „eine 
Norm  des  Strebens,  die  dem  Individuum,  einerlei  mit 
welchem  Rechte,  als  solche  gilt".    Wie  weit  D.  davon 


iM,Coo<^lc 


330  P-  Soheer«; 

entfernt  ist,  nacli  dieBem  T3^us  aus  dem  Streben  nach  Mgen- 
■wert  das  sittlich©  Handeln  hervoi^ehen  zu  lassen,  kann  noch 
eine  andere  Stelle  zeigen,  an  der  er  einige  solcher  „Ideale" 
nennt,  au  denen  Menschen  ihr  Handeln  zu  messen  sich  durch 
das  Selbstächätzungsbedtirfnis  getrieben  fühlten.  „In  diesem 
Sinne  könnt©  man  sagen,  der  Wild©  mache  sich  ©in  Gewissen 
daraus,  sich  an  seinem  Feinde  nicht  gerächt,  der  Indlaa«", 
nicht  skalpiert,  der  Neuseeländer,  seine  eriegten  Feinde  nicht 
gefressen  zu  haben".     (G-Oterl.  S.  326.) 

Auf  die  anderen  Qegengründe  P.'s  gegen  diese  Art  der 
Ableitung  des  sittlichen  Handelns  aus  dem  Selbstschätzui^ 
bedürfnisse  einzugehen,  erübrigt  sich,  nachdem  gezeigt  ist, 
dass  D.  diesen  Weg  der  Begründung  gar  nicht  einschlägt. 

rV.  Was  schliesshch  die  Bezeichnung  „SoUpsifimus  aof 
praktischem  Gebiete"  betiifft,  mit  der  F.  D.'s  Standpunkt 
belegt,  so  dürft©  klar  g©worden  sein,  wie  völlig  sonderbar 
und  willkürlich  er  dafür  ist.  Bas  höchste  Gut  D.'s,  das  in 
dem  Bewussteein  des  Wertes  der  eigenen  Person  besteht, 
wird,  wie  gezeigt,  ja  nur  dadurch  rerwirklicht,  dass  er  sein 
ganzes  Ich  mit  all  seinen  Kräften  in  den  Dienst  seiner  Mit- 
menschen stellt  Diese  Gesinnung  nun  „praktischen  SoUpsis- 
mus"  zu  nennen,  bloss  um  deswillen,  weil  sich  der  Handelade 
durch  das  stärkste  Band  an  die  Förderung  des  Wohles  seiner 
Mitmenschen  gebunden  weiss,  nämlich  durch  das  BedUrfiiis 
nach  eigener  Seligkeit,  das  heisst  denn  doch,  mit  Pbtzoldt 
zu  reden,  „alle  gesunden  und  starken  Begriffe  Terwischen 
uod  schliesslich  Temichten". 

P.  wirft  in  seiner  Kritik  ausdrücklich  DÖBDia  mit 
Stibnkb  zusammen,  nur  weil  D.  mit  diesem  eine  Theorie 
teilt,  nämlich  die  oben  besprochene  psychologische  Theorie 
Über  das  Zustandekommen  alles  menschlichen  Handelns  aus 
dem  Verlangen  nach  persönlicher  Lust.  Dal>ei  ISast  er  aber 
gerade  die  Hauptsache  ausser  acht,  nämhch  das  praktische 
Ergebnis,  die  Lebensideale,  zu  denen  beide  von  ihrer  gemein- 
samen theoretischen  Grundlage  aus  kommen,  von  denen  man 


iM,Coo<^lc 


A.  Dfirin^  rein  maauhHohe  BegründiiDg  dea  EUttengssetzeB.     321 

doch  sagea  muss,  dass  sie  toto  coelo  verschiedea,  ja  dia- 
metrale GegenBätze  sind:  Auf  der  einen  Seite  der  Mann,  der 
absolut  rUckBiehtslos  g^en  das  Wohl  seiner  Mitmenschen 
verföhrt;  sie  existieren  Oberhaupt  neben  ihm  als  selbständige, 
gleichberechtigte  Wesen,  nicht,  er  fühlt  sich  als  den  „Ein- 
zigen'' und  sie  als  sein  „Eigentum";  auf  der  anderen  Seite 
D.,  der  Bich  als  „aller  Diener"  fühlt,  der  seine  ganze  Kraft 
restlos  daran  setzen  will,  das  Wohl  seiner  Mitmenschen  zu 
fördern. 

Wenn  man  das  Verhältnis  der  beiden  Denker  richtig 
bezeichnen  wollte,  müsste  man  vielmehr  sagen,  D.  ist  der 
Überwinder  Stibmsb's  und  des  von  ihm  vertretenen  un- 
sittlichen Egoismus,  ein  Überwinder,  dessen  Widerlegungs- 
kraft um  so  wirksamer  imd  tiberzeugender  ist,  als  er  von 
demselben  Boden,  derselben  psychologischen  Grundanschauung 
ausgeht.  Pbtzoij>t  urteilt,  die  beiden  zögen  an  einem 
Strang,  in  gleicher  Richtung,  und  wirft  so  Feuer  und  Wassw 
in  einen  Topf. 

Wenn  mich  zu  der  Abfassung  dieser  Antikritik  ein 
Herzenswunsch  lebhaft  bewegt  hat,  so  ist  es  der,  dass  es 
mir  gelingen  mScbte,  meinen  personlichen  Eindruck  auf  die 
verehrten  Leser  zu  tibertragen,  dass  es  sich  bei  der  von  D. 
gegebenen  Antwort  auf  die  alte,  bisher  noch  immer  nicht 
beantwoilete  Frage  nach  der  Triebfeder  des  sittlichen 
Handelns  in  der  Menschennatur  um  eine  Theorie  handelt, 
die  P.'s  Urteil  „sorgffiltig  durchdacht"  —  aber  nicht  aus- 
geklügelt, sondern  aus  dem  eigenen  Erleben  geschöpft,  fOge 
ich  hinzu  —  in  einem  Masse  verdient,  das  P.'s  verwerfende 
Kritik  nicht  einmal  ahnen  lässt,  geschweige  denn  rechtfertigt; 
dass  diese  Theorie  in  der  That  Zustimmung  oder  Bekämpfung, 
aber  nicht  laue  Gleichgültigkeit  erwarten  darf,  und  dass  die 
Güterlehre  nach  dem  Worte  Liohtenbsbo's  geprüft  werden 
muss,  „wenn  ein  Kopf  und  ein  Buch  zusammenstossen  und 
es  klingt  hohl,  so  braucht  das  doch  nicht  immer  an  dem 
Buche  zu  liegen".     Sollte  es  mir  gelungen  sein,  diesen  Ein- 


iM,Coo<^lc 


S2S  P-  Sohaerei: . 

drack  weiter  za  geben,  dann  werden  wir  vieUeicht  bald  die 
Freude  haben,  nicht  mehr  Kritiken  Ober  D.  zn  erhalten,  bei 
denen  die  Antwort  nur  a  male  informato  critäco  ad  melius 
inffflmandmn  criticmn  appellieren  moBS,  sondern  solche,  die 
die  Sache  fördern,  die  uns  sachlich  weiter  bringen  als  D., 
und  d«ren  Beantwortung  zum  philosophischen  Nachdenken 
beraosfordert  nnd  nicht  bloss  zu  der  mechanischen  Thätlgkdt 
des  Zitierens  von  Stellen  aus  D.'s  Wn-ken. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Skiufl  der  gosial-ttkonomischen  Oeschichts- 
anffassnng. 


L 
Von  Fnsi  OfpenkelKer,  Beriin. 


Die  fdgendeii  BUtter  aiiid  antetuidoD  als  Entwurf  zum  einleitenden 
Kipitel  eines  grösseren  soziologisohen  Werkes.  Di  Verftsser  ans  m^ir- 
baua  (Gründen  die  Vollendong  dieser  Arbeit  tut  Enrnaksteilen  mfissen,  so 
enlseUieest  w  sich  Enr  HeraoBg&be  der  Skiize,  nm  hofFentlioh  ans  der 
Iritik  der  Fkohgenossen,  ad  es  fdr  die  Terti^^ang,  sei  ee  fdr  die  Ver> 
beisenmg  aeiiier  AnsobanongeD,  neoe  OesiohtopQnkte  za  gewinnen,  die  der 
«tägOlti^ii  Bedaktion  ca  gnte  kommen  konnten.  Für  diese  ist  eine  dc^en- 
gMofaiobtliohe  Enleitong  nnd  Wflrdipmg  der  uitgenössisdien  Qesdiioht»- 
Philosophen  becw.  Sodologen  sslbslv  unündliob  in  AoBriobl  genommen,  die 
nier  nooh  f^t.  Es  finden  sich  lediglioh  Ans&tze  daso,  einielne  Zitate  and 
n»h  seltenere  poietnisohe  AusfShmngen,  schon  in  dem  Toriiegenden  Text 
tdne  .Ünstimm^keit',  die  ioh  lebhaft  bedaaere,  aber  niobt  mehr  Indem 
kann.  Bs  wird  mir  eine  Ehrenpflicht  sein,  sobald  wie  möglich  meinen  Daök 
fBr  yiel&ofae  Anregung,  wie  aTioh  meine  mannighoheD  Bedenken  gegen 
Torgetragane  Ansohaanngen  anSEospreohen  nnd  in  begründen. 

u»  InbliographiscAe  Bedürfnis  nach  Naohweisen  über  die  aosiologieohe 
littentnr  wird  ja  dnnh  pAm.  Barih'b  .Die  Fhiloeophie  der  Oesohiehto  als 
Seiiologie,  I*')  in  fast  vollkommener  Weise  befiiedigt,  sodass  ich  mich  be- 
gnögeti  darf,  darauf  hiumweisen.  Dass  iah,  meinem  Stadiengaog  eatspreoheDd. 
aotser  doroh  die  hier  angeführten  eigentliohen  Boiiologen  und  Oeeohlidita- 
phOosophen,  auch  dnroh  Hisloriker,  Ethnologen  nnd  namentUoh  aoiiologiaoh 
interessierte  Nationalftkonomen  viiiaeb  angeregt  worden  bin,  wird  iet  Stah- 
mann nnaohwer  erkennm.  Idi  liehe  vor,  lieber  keinen  Namen  in  nennen, 
aW  Mfs  Oentewohl  einige  beransangteifen.  Die  Soziologie,  als  die  Erönnng 
des  stolzen  Banea  1er  GriBteewissensohaften,  dankt  so  vielea  AÜnselzweigen 
der  Fonohnng  osd  in  jedem  Einzelzweiga  so  vielen  verdienten  Porsohera 
ihre  Baostnne,  daes  «ne  vollsUndige  liste  Bogen  füllen  würde.  Hier  kim- 
htnieren  ansser  PhihMOphie  nnd  Psychologe  Oeechiohte  und  Oekonomik, 
Bechti-  nnd  Btaatswissensohaft,  BeÜgions-,  Sprach-  und  Knns^hfloBophie, 
Anthropologie  nnd  Enltnrgeschiohto  und  wnter  ohne  Ende  —  mne  nnabseh- 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


324  FranE  Oppftnheimer: 

bare  Fülle  der  Ersoheiiiiui{[eii,  jadem  und  vor  nllam  den  noh  äoBBedüdi  «■- 
geengten  Flivatgelelirteit  muht  sa  bew&ltigeii. 

So  mag  dieaer  Versnoh  naohsiohtige  Beorteilnng  finden!  Bein  Tai- 
fuaer  weiss,  was  er  der  üniveisitas  litteranim  soholdet  und  denkt,  tmae 
Sohuld  bald  getrenliab  abEahlen  in  können.  — 

A.  Die  ÜTBUlie  der  sesohlobtlieheii  Bewtgwag. 

(HeroYstische 
und  kollektivistische  Geschichtsauffassung). 

Was  ist  Geschichte? 

Ich  glaube,  dass  aJle  gesdiichtspbüosophiBcheQ  Schuloi 
ohne  zögern  die  folgende  allgemeine  Definition  annehmen 
werden:  (beschichte  ist  die  Bewegung  von  Menschenmassen, 
G^escbichtswisBenscbaft  ist  die  Lehre  von  der  Bewegung  von 
Menschenmassen.  Denn  die  iE^inzelhandlong  gilt  aUgemein 
nur  itir  „geschichtlich",  insofern  Massenbewegung  auf  sie 
folgt.  Caesars  Mahlzeit  ist  eine  Handlung  Caesars,  aber 
keine  geschichtliche  Handlung. 

Die  gleiche  Übereinstimmung  glaube  ich  noch  voraus- 
setzen zu  können,  wenn  es  sich  um  die  Beantwortung  der 
allgemeinsten  Frage  nach  der  Ursache  dieser  geschichtlichen 
Massenbewegung  handelt.  Da  alle  menschliche  Bewegung 
(d.  h.  alle  willkürliche,  die  hier  allein  in  Frage  konmit,  Be- 
flexbewegnngen  interessieren  uns  hier  nicht)  auf  Triebe  hin 
erfolgt,  Triebe  aber  nidits  anderes  sind,  als  zur  Befriedigung 
drängende  BedOrfnisse:  sosindaUegeschichtsphilosophischoi 
Schulen,  soweit  ich  sehen  kann,  darin  einig,  dass  menschliche 
Bedürfiiisse  die  Ursache  der  geschichtlichen  Bewegung  sind. 

Wessen  Bedürfnisse? 

Hier  scheiden  sich  die  Geister.  Die  „heroiBÖsche'' 
Oeschichtsauffassung  trennt  sich  so  in  der  Beantwortung 
dieser  Frage  von  der  „kollektivistischen''. 

a)  Charakteristik. 
Die  ältere  „heroistäscbe"  Auffossung,  die  heute  aoch 
fast  unbestritten  die  Universitäten  beheirscht,  nimmt  an,  dass 
es  Bedürfnisse  resp.  Triebe  einzelner  Menschen,  der  „Qenies". 


iM,Coo<^lc 


Skiase  der  aorial-Okonoinwnhen  Gewhiohhiiniffaiwiing.  335 

der  „geborenen  Herrscher,"  der  „Heroen"  sind,  die  die  nidis 
indigestaque  moles  durch  ilir  schöpferisches  „Es  werde!" 
aliein  in  Bewegung  setzen.  Und  sie  spricht  als  die  Bedürf- 
nisse, die  den  Willen  dieser  Heroen  lenken,  selbstversUind- 
lieh  die  „höheren  Triebe"  an:  die  egoistischen  der  Buhm- 
nnd  Herrschsucht,  die  altruistischen  der  Volks-  und  Vater- 
landsliebe, auf  noch  höherer  Stufe  der  Menschenliebe 
(ChriBtus)  oder  gar  der  aUgemeinen  Liebe  zu  allem 
Lebenden  (Buddha). 

Die  jüngere,  „kollektivistische"  Auffassung  behauptet 
dagegen,  dass  die  bewegende  Kraft  der  Geschichte  in  der 
Massenseele  zu  suchen  ist.  Oder  mit  anderen  Worten:  daas 
es  ein  „MassenbedOrfois"  ist,  das  die  Masse  in  Bewegung 
setzt.  Da  nun  aber  die  hSheren  und  höchsten  Triebe  in  den 
„Viel  zu  Vielen"  keinen  Baum  haben,  da  die  Triebe  der 
„grossen  Persönlichkeit",  durch  die  sie  sich  ja  von  der  Masse 
unterscheiden  soll,  in  dieser  gleichen  Masse  nicht  lebendig 
sein  können,  so  wird  meistens  angenommen,  dass  keine 
anderen  als  die  niedersten,  die  ökonomischen  Bedürfnisse  und 
Triebe  die  geschichtliche  Bewegung  verursachen,  d.  h.  die 
Triebe  zur  Versorgung  mit  materiellen  Gtenussgütem,  nament- 
lich mit  der  Nahrung,  aber  auch,  je  nach  EJima  und  Wirt- 
schaftsstufe,  mit  Kleidung  und  Behausung.  In  dieser  Gestalt 
trägt  die  kollektivistische  Theorie  den  Namen  der  „ökono- 
mischen Qeschichtsphilosophie"  und  wieder  eine  Abart  dieser 
ökonomistischen  ist  die  „materialiBtische",  deren  besondere 
Auffassung  uns  unten  noch  beschäftigen  wird.  Ich  will  sofort 
hier  vorgreifend  bemerken,  dass  ich  schon  die  erste  Fassung, 
geschweige  denn  die  noch  engere  zweite,  fOr  zu  eng  halte 
und  deshalb  eine  weiter  spannende  Theorie  mit  dem  be- 
zeichnenderenKamen :  sozialökonomische  Geschichtflphilosophie 
vorschlagen  und  begründen  werde.  Der  Name  „materialistisch" 
deutet  ^Qcklich  einen  ferneren  Gegensatz  zu  der  älteren 
Auffassung  an.  Diese  pflegt  gemeinhin  nicht  nur  „heroistisch", 
sondern  auch  „idealistisch"  zu  sein,  d.  h.  sie  glaubt,  die 
Geschichte  sei  ein  „sittliches  Problem"  (Moiimsbn);  und  zwar 


iM,Coo<^lc 


326  Frftnz  Oppenheimer; 

wird  das  meistens  in  dem  Sinne  gefasst,  als  sei  die  Gbsdiichte 
die  fortschreitende  Verwirklichung  einer  sittlichen.  Idee. 

Wenn  diese  Vorstellung  weiter  nichts  besagen  soll,  iJb 
dass  der  Verlauf  der  Qeachichte  darauf  hinauskommt,  die 
Menschheit  emporzniOhren  von  der  Knechtschaft  zur  Frei- 
heit (Hbgbl),  von  der  kriegerischen  zur  friedlichen  TMtig- 
keit  (Saint  Simon),  von  der  Barbarei  zur  Humanität  (Hbbdkb), 
von  der  Natur  zur  Vernunft  (Soklbibbiia,chbb):  dann  ist  die 
„materialistische''  Auffassung  mit  solcher  „idealistischen 
durchaus  vereinbar.  —  Wenn  aber  hier  das  Teloa  des 
Aristotelismus  spukt,  wenn  die  Lehre  besagen  will,  dass  die 
„Idee",  indem  sie  ihrer  Verwirklichung  „zustrebt",  die  ak- 
tive Kraft  der  G^chichtsbewegung  ist,  oder  mit  anderen 
Worten,  wenn  das  „Wertresultat"  der  Weltgeschichte  nicht 
als  ihr  Ergebnis,  sondern  als  ihr  Ziel  und  Zweck  gefasst 
werden  soll,  dann  freilich  stellt  sich  die  materialistische  Auf- 
fassung als  kausale  Wissenschaft  in  den  denkbar  stärksten 
Gegensatz  gegen  die  idealistische  als  teleologische  Mystik, 
der  gleiche  Q«gensatz  wie  zwischen  der  vorlamarckiscben 
teleologischen  und  der  nachlamarckischen  kausalen  Biologie, 
ein  Gegensatz,  der  die  ganze  Geistesgeschichte  der  Mensch- 
heit umschliesst.  Denn  das  Teleologische  ist  immer  auch 
das  Theologische,  und  alle  Wissenschaft  und  Philosophie  ist 
nur  erwachsen  mit  dem  Masse  ihrer  Abkehr  vom  Theologisch- 
Teleologiscfaen.  Dies  in  der  m&glichsteu  mir  erreichbaren 
Kürze  der  Unterschied  der  beiden  Geschichtsphilosophien. 

b)  Kritische  Würdigung  der  heroistischen  and  der 
kollektivistischen  Geschichtsauffassung. 
Die  heroistisch-idealistische  Gescbichtsauffaasong  ist 
schon  durch  ihren  Ursprung  verdächtig,  weil  sie  entstanden 
ist  aus  den  Aufzeichnungen  der  Hofhistoriographen,  die  den 
Verlauf  der  Dinge  unter  den  Gesichtswinkel  des  Nutzens 
und  des  Glorie-Bedürfnisses  ihrer  Herren  sahen  oder  ge- 
zwungen waren  zu  sehen.  Dass  sich  PHlrsten,  Kanzler,  Ge- 
nerale und  Gesetzgeher  ftlr  die  einzig  massgebenden  Faktoren 


iM,Coo<^lc 


Skü»  der  sodal-ftkonomisohra  OMohiehtBanffiHeaiic.  327 

der  O-eschichte  halten,  ist  bekannt,  tmd  so  mosste  die  Ge^ 
schichtsdarstellang  selbst  tod  diesem  Glauben  ausgehen  imd 
beheiTBcht  werden. 

Die  heroistische  Theorie  kann  aber  den  geschichtlichen 
Verlauf  gar  nicht  erklären.  Gerade  die  allervichtigBten  ge< 
Schichtlinien  Hassenbewegungen,  die  eDtscheidendeu,  sind 
ohne  Vermittlung  von  „Heroen"  erfolgt,  die  Wandernngea. 

Alle  Weltgeschichte  ist  im  Kern  Geschichte  von 
WanderoDgen.  Soweit  wir  rUckwärts  bUcken  kömien  in 
den  Nebel,  der  die  Aitfänge  der  Menschheitaentwickelung  auf 
diesem  Planeten  verhüllt,  fOhrt  alle  Bewegung  der  Kultur 
auf  Bewegung  von  MenschenmasaeD  im  eigentlichen  Sinne, 
anf  Wanderung  znrUck.  Durch  Wanderung  an  Flttssen  und 
SeeküBten  entlang  kam  der  primiliTe  Tiermensch  —  so 
nimmt  die  Kulturgeschichte  mit  Wahrscheinlichkeit  an,  — 
in  B^Ührung  mit  anderen  Klimaten  und  geographischen  Be- 
dingungen; auf  diese  Weise  allein  entrann  er  aus  den  Händen 
seiner  bald  ÜberzärtUchen,  bald  hysterisch  aufwUtenden  Mutter, 
die  ihr  Kind  verdarb,  der  Tropennatur,  in  die  Zucht  der 
strengen  aber  gütigen,  alle  Kiilfte  des  Leibes  und  der  Seele 
anermUdlich  entwickelnden  Lehrmeisterin,  der  kargeren  Natur 
der  gemässigten  Zonen;  und  so  wuchsen  durch  die  Wanderung 
and  während  unaufhörlicher  Wanderung  aus  den  dunklen, 
passiven  Tropenrassen  die  hellen,  aktiven  Herrenrassen  des 
Nordens  empor,  mit  deren  Eintritt  in  die  Ebenen  der  grossen 
StrOme  die  eigenUiche  Weltgeschichte  erst  beginnt.  Und 
was  ist  diese  in  letzter  Linie  anderes  als  Wanderung?  Welle 
anf  Welle  aus  dem  überquellenden  Ozean  kriegerischer 
Herrenmenschen  in  den  grossen  Wüsten  Zentralasiens  und 
Arabiens  bricht  über  die  Deiche  der  Ackerbaustaaten  in  den 
reichen  Schwemmebenen.  Schicht  lageri  sich  über  Schicht; 
und  kaum  ist  eine  neue  Herrschaft  notdürftig  gefestigt,  so 
moss  sie  schon  wieder  die  siegreichen  Waffen  rUckwärts 
wenden,  um  die  nachdringenden  Verwandten  abzuwehren. 
Anprall  der  Wanderer  und  ihrßüokstau  oder  ihr  Einbruch: 
das  ist  der  gewaltige  Rahmen,   in  den   alle  Terfassungs-, 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


S26  Frani  Oppenboimer: 

Wirtschafts-  und  politische  Geschichte  des  Altertums  ein- 
geschrieben ist. 

Und  das  Mittelalter  beginnt  mit  jener  ungehenrm 
Wanderbewegung,  die  wir  „Völkerwandwung"  engeren  Sinnes 
za  nennen  pflegen.  Von  Osten  wälzt  sich  in  zwei  ungeheuren 
Strömen  die  wandernde  Masse  nach  Westen,  nördlich  und 
sOdlich  von  der  Mittelsee,  and  das  ganze  Feld  der  alten 
Kultur  wird  einer  neuen  Tie^flügong  unterworfen.  Bei  Xeres 
de  la  Frontera  und  Tours  und  Poitiers  stauen  sich  die  beiden 
StrOme  aneinander  empor,  kommen  notgedrungen  zum  Still- 
stände, und  nnn  beginnt  das  eigentliche  Mittelalter,  die  cha- 
rakteristisclie  Epoche  der  Feudalverfassung,  verursacht  haupt- 
sächlich dadurch,  dass  die  Mächtigen  ihre  kriegerischen  Qe- 
lUste  nunmehr  nach  innen  kehrten,  und  dass  das  niedere 
Volk  fortan  nicht  länger  durch  Auswanderung  ihrem  Drucke 
ausweichen  konnte.  Noch  sind  die  neuen  Reiche  nicht  ge- 
festigt, so  beginnen  schon  wieder  die  Angriffe  neuer  Wanderer: 
der  Wikinge  von  Norden,  der  Avaren,  Magyaren,  Slaven, 
Tataren,  Mongolen,  Türken  von  Osten,  der  seeraubenden 
Sarazenen  und  Mauren  von  Süden,  die  abgewehrt  werden 
mOssen  und  auf  die  Verfassung  nnd  politische  Lage  Europas 
entscheidend  einwirken.  Und  mitten  inne  geht  die  Bttck- 
wanderung,  der  Rückstau  in  den  KreuzzUgen,  in  der  Kolo- 
nisation der  Levante,  die  die  kapitalistische  Wirtschaft  Tor^ 
bereitet,  und  vor  allem  in  der  ungeheuren  Kolonisation  der 
slaviachen  Länder  QsUich  von  Elbe  und  Saale  und  an  der 
Donan,  die  das  Feudalsystem  im  Kerne  umgestaltet  und  die 
beiden  Grossmächte  neu  erschafft,  die  später  die  ersten 
Jahrhunderte  der  Neuzeit  entscheidend  mit  beherrschen: 
Freossen  und  Österreich. 

Aber  damit  sind  die  Einflösse  der  Wanderung  auf  die 
Neuzeit  imd  neueste  Zeit  bei  weitem  noch  nicht  erschöpft. 
Mit  dem  Wandervolke  der  Türken  kämpft  Europa  bis  tM 
ins  19.  Jahrhundert.  Und  inzwischen  erschafft  die  flber- 
seeisdie  Auswanderung  eine  neue  gewaltige  Grossmacht,  die 
Verein^ten  Staaten  von  Nordamerika,  die  ihr  Schwert  und 


iM,Coo<^le 


Bkine  der  aonal-Skonomisdieii  OeBohiditBBQftMBimg.  329 

ihr  Gold  Behr^nachdrUcklich  in  die  Wage  der  Völkergeachichte 
za  werfen  begonnen  hat,  und  deren  Einflus3  auf  die  politische 
nnd  -wirtBchaftliehe  Entwickelung  der  alten  Welt  ganz  und 
gar  unUberBehbar  ist.  Und  inzwischen  schafFt  femer  die 
binnenländische  Abwanderung  vom  Lande  in  die  Industrie- 
bezirke  ia  England,  Deutschland,  ÖBterreich,  Italien,  ßuss- 
laod  die  Bevtilkerung  des  alten  KoDÜnenteB  vSUig  um,  ver- 
legt den  Schwerpiinkt  der  poUtiBchen  Macht  und  wirtschaft- 
lichen EJr&ft  auf  eine  ganz  andere  Stelle,  ver^dert  die 
MassenpBychologie  von  Grund  auf,  läest  alte  Parteien  ver- 
schwinden und  stampft  neue  aus  dem  Boden,  zerschlägt  alte 
Werte  und  stellt  neue  Qber  sich. 

Das  wirkt  alles  die  Wanderung,  und  sie  allein!  Vor 
diesem  gewaltigen,  allem  Persönlichkeitswirken  zur  Voraus- 
setzung dienenden  Thatsacheukomplez  muss  jede  andere  Ge- 
schichtsauffassung als  die  kollektivistische  ihren  Bankerott 
erklären.  Wo  sind  hier  die  „Heroen"  Oablylb's,  die  „Ein- 
zigen" Nutzbohx'b,  die  der  ewig  toten  Hasse  ihren  Geist 
einhauchten?  Tentobod?  Theodorich?  Attila?  Omar?  Dschin- 
gis-Khan?  Sie  waren  der  Balken,  den  der  Strom  gegen  die 
Brücke  wirbelt:  wer  brach  die  Brücke?  Der  Strom,  der 
lebende,  oder  der  Balken,  dem  der  Strom  die  Bewegung  gab? 
Denn  wer  kennt  die  „Genies",  die  die  Hyksos  gegen  Ägypten, 
die  Mongolen  und  Mandachu  gegen  China,  die  Schwarztlaggen 
gegen  Annnm,  die  Zulu  gegen  Kapland,  die  Wahehe  und 
Mafiti  gegen  Uganda,  die  Inka  gegen  die  Peruaner,  die  alten 
!&^hminen  Ober  den  Indus  führten?!  Wer  war  der  „Staats- 
mann", der  den  alaviBchen  Osten  mit  Millionen  deutscher 
Baaem  besiedelte,  wer  der  Gewaltige,  der  in  einem  Jahr- 
hundert 18  Millionen  Europäer  zum  Auszuge  nach  dem  Lande 
der  Streifen  und  Sterne  entflammte,  wer  die  „FersÖnlichkeit", 
die  das  europäische  Landvolk  zu  Dutzenden  von  Millionen 
vom  Lande  fortfegte  und  in  die  Städte  warf? 

Und  was  konnte  selbst  ein  Btaktsmum  wie  Otto  Biunuok  uderes 
leisten,  als  in  dieser  von  ihm  nicht  geechafieneo,  nioht  gewäoBohtec,  aber 
nitdit  ZD  EÜgelndea  oder  la  dämmenden  StrömuDg  das  Sohifi  des  Staates, 
mit  dem  Torteil  seiner  Elaa&e  nnd  dem  Nntien  seiner  Dynastie  an  Bord, 


330  Franc  Oppsnheimei: 

mö^ohat  geBohiokt  vor  Wind  und  Wellen  za  btltan?  Er  selbat  mutte  dy 
genMi  geong,  der  gedankenmlohtige  EtieBe,  als  er  nntar  aein  Bildnu  du 
bflMhmdene  Wort  solnieb:  ,ün(U  fort  neo  rSKittirr  Abar  die  Oedubo- 
•ohwaohen  wollen  ihm  und  nna  einlnlden,  ei  habe  den  Strom  flieaaao  ud 
atUlstahen  laasan  nach  aainem  Willen,  wie  Joana  die  Sonne  Btillatahea  Um 
in  der  Amoiitersohlaoht;  nnd  die  Zweige  ron  hente  wollen  thnn,  wu  d<f 
Bieee  nie  nngoBtratt  Tennohta.  und  laseen  den  Osean  mit  Ketten  pMtfota, 
wann  er  wogt,  wie  das  Qeseti  der  Natu  ee  ihm  TOiaohieibt,  dai  siob  um 
UeneohengeeetE  nioht  ktimmert 

Die  heroistische  Auffassung  ist  aber  nicht  nur  unge- 
nügend, weil  sie  die  wictitigsteu  Ersdieinungen  nicht  erklSr«i 
kann,  sondern  sie  ist  auch  noch  zweitene  da,  wo  sie  glaubt 
erklären  zu  können,  geradezu  unwiBsenschaftlichl  Ihre 
groteske  Überschätzung  der  Einzelkraft  beruht  lediglich  uif 
einer  liederlichen  Fassung  des  Begriffs  der  „Ursache".  Nach 
ihr  ist  der  Heros  resp.  seine  sich  auf  die  Menschenmaesen 
seiner  Umgebung  äussernde  Seelenenergie  die  Ursache  der 
geschichtUchen  Massenbewegung.  Der  Begriff  der  Ursache 
ist  aber  ein  -wiggenschaftlich  streng  bestimmter:  „causa 
aequat  effectum"  ist  die  siegreiche  Formel  der  Natiu^ 
Wissenschaft.  Die  Weigerung,  sie  als  auch  ftlr  die  „Oeistes- 
wissenschaften",  d.  h.  die  Soziologie,  gelten  zu  lassen,  lEt 
eine  rein  willkürliche,  durch  nichts  begründete.  Auch  hier 
dürfen  wir  nur  eine  solche  Kraft  als  Ursache  annehmen,  die 
der  in  der  Wirkung  entbundenen  Kraft  quantitativ  gleich 
ist.  Und  man  braacht  das  Problem  nur  so  zu  stellen,  um 
sofort  zu  sehen,  wie  grotesk  die  heroistische  Auffassung  ihre 
Helden  Überschätzt.  Eine  Bewegung,  die  zwei  Jahrtausende 
hindurch  die  Massen  zu  Millionen  in  Bewegung  hielt,  vie 
das  Christentum,  also  Milliarden  von  „Menschenkräften" 
entband,  kann  unmöglich  ihre  Ursache,  d.  h.  ihr  Aequiva- 
lent,  in  der  emen  „Menschenkraft"  Christi  gehabt  haben, 
und  schätze  man  ihre  relative  Überlegenheit  noch  so  hoch. 
Und  ebensowenig  kann  ein  zerstörender  Taifun  wie  der 
Arabersturm  sein  Äquivalent  in  der  einen  Menschenkraft 
Mohammeds  gehabt  haben. 

Wenn  das  zugegeben  werden  muss,  so  muss  auch  zu- 
gegeben werden,  dass  die  heroistische  Auffassung  unhalthar 
ist.    Denn  Wräsenschaft  ist  nach  Kamt   nur   insoweit  vu^ 


iM,Coo<^lc 


SUue  dar  Mnal-QkwomiBohen  OeaehiohtBanflHgang.  331 

handelt,  me  Mathematik  reicht,  d.  h.  mit  anderen  Wortea: 
wie  feste  quantitative  Beziehungen  zvischen  den  einzelnen 
Phänomen  festgestellt  werden.  Diese  einzig  wisaenschafüiche 
Frage  hat  sich  die  hier  bekämpfte  Auffassung  noch  nicht 
einmal  vorgelegt,  geschweige  denn  beantwortet. 

Die  ganze  Verwirrung  ist  sehr  einfach  darauf  zurttck* 
zufuhren,  dass  die  Heroisten  zwei  sehr  verschiedene  Begriffe 
gleich  setzen.  Sie  halten  „Ursache"  and  „Veranlassung"  für 
gleichbedeutend.  Es  ist  das  die  naive  vul^re  Auffassung, 
die  den  Funken,  der  ins  Pulverfass  fiUlt,  den  Vogelflügel,  der 
die  Lawine  I6st,  den  Schlag  der  Spitzhacke,  der  einen  Stau- 
damm durchbricht,  für  die  „Ursache"  hält  der  Explosion,  der 
Verschüttung,  der  ÜberBchwemmung.  WiSBenschaftlich  an- 
gesehen handelt  es  sich  hier  aber  jedes  Mal  um  materielle 
Hassen  im  labilen  Gleichgewicht,  die  durch  eine  kleine  „ver- 
anlassende" Störung  in  Bewegung  gesetzt  und  erhalten  werden, 
bis  das  stabile  Gleichgewicht  erreicht  ist,  oder,  im  energe- 
tischen Ausdruck:  um  Mengen  latenter  Energie,  die  durch 
eme  „veranlassende"  Gleichgewichtsstörung  in  lebendige  EJraft 
umgesetzt  werden.  Hier  sind  „Ursache"  und  „"Wirkung" 
augenscheinlich  äquivalent. 

Gerade  so  deutet  die  kollektivistische  Auffassung  die 
geschichtliche  Massenbewegung.  SÜne  solche  kann  über- 
haupt nur  dann  eintreten,  wenn  ein  allgemeines  Bedür&iis 
vorhanden  ist,  „seine  Lage  zu  verändern",  d.  h.  latente 
Energie.  Je  stärker  der  Trieb,  einer  um  so  kleineren  Ver- 
anlassung bedarf  es,  um  die  Masse  aus  ihrem  labilen  Gleich- 
gewicht zu  werfen,  oder,  um  ihre  latente  Energie  in  lebendige 
Kraft  umzusetzen.  Und  auch  hier  sind  dann,  wenn  es  ge- 
schah, Ursache  und  Wirkung  völlig  äquivalent. 

Wenn  wir  im  Lichte  dieser  quantitativen  Auffassung 
die  beiden  oben  angeführten  Beispiele  betrachten,  so  schwindet 
jede  Schwierigkeit.  Wir  haben  im  ßömerreiche  kurz  vor 
Beginn  unserer  Zeitrechnung  eine  soziale  und  wirtschaftliche 
Lage  der  Massen,  die  ihre  „latente  Energie",  das  Bedürfiiis, 
den  Trieb  nach  einer  Lageveränderung  bis  auf  einen  solchen 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


332  Fr&DK  Oppenbeimer: 

Grad  der  Spannung  angehäuft  hatte,  dass  die  geringste  Ver- 
anlassung Über  den  kritischen  Punkt  fortführen  musste.  Draa 
der  „soziale  Gradient"  war  maximal. 

loh  habe  diefioD  meteorologisoh«>t  Begriff  in  die  Sozialwissenuhift 
eingeführt,  ■weil,  er  in  nnöb^TtrefSicher  Dentliabkeit  die  sozialen  VorbBltnine 
TeransohaDÜdit.  Der  meteorologische  Gradient  bedentet  den  NeignngHwinksl 
einer  Lnftmasee  Ton  der  Höhe  des  Haximmn  bis  zm  Tiefe  des  Minimum, 
gemeaaen  an  der  abaolnten  Eatferuung  der  Isobaren.  Je  bleiner  dei  On- 
dient,  d.  h.  je  weiter  die  Isobaren  Toneinander  entfernt  sind,  nm  so  Oocher 
ist  der  Triahter,  nm  so  geringer  die  Qeeohwindigkeit,  mit  der  die  Lafboasse 
seine  "Wandung  hinabgleitet;  je  grösser  der  Gradient,  d.  h.  je  nftber  die 
Isobaren  einander  li^n,  um  so  steiler  ist  der  lichter,  am  so  grteaer  di» 
Oeeohwindigkeit  der  Loftbewegnng,  d,  h.  nm  so  stArker  der  Sturm. 

Im  ßömerreiche  war  der  Gradient,  wie  gesagt,  maiini^ 
Die  ganze  Masse  der  Bevölkerung,  entrechtet  und  ausgebentet, 
lag  unter  einer  Isobare  ansserordentUch  hohen  BozialQkono- 
mischen  Drucks.  Und,  da  die  Mittelstände  so  gut  wie  toU- 
konunen  vernichtet  waren,  lagen  die  Isobaren  bis  zur  Tiefe 
des  wirtsdiaftUchen  MinimTim,  zur  Elassenlage  der  winzigen 
Herrenschicht  der  rOmiscben  Nobilität,  dicht  aneinander;  die 
Trichterwand  war  ungeheuer  steil,  der  Zug  auf  die  Hassen 
enorm,  das  labile  Gleichgewicht  di(dit  am  kritischen  Punkte. 
Die  Lehre  Chrißti  war  die  Veranlassung  zu  seiner  Übei^ 
schreitung,  und  die  latente  Energie  setzte  in  lebendige  Kraft 
um.  —  Ganz  ebenso  erklärt  sich  der  Ärabersturm.  En 
armes,  aber  in  seinem  Herrentum  stark  begehrliches,  tod- 
T^achtendes,  religiOs  fanatisiertes  Volk  hat  eine  ungeheure 
Menge  latenter  Energie,  einen  gewaltigen  Trieb  zu  eiDö" 
Lageveränderung  aufgespeichert;  die  Lehre  Mohameds  ent- 
bindet die  latente  Energie  in  lebendige  Kraft:  der  Storni 
bricht  los.  Er  wird  aber  erst  zum  Taifun,  sobald  er  in  das 
tiefe  Minimum  der  antiken  Sklavenwirtschaft  hineinfuhrt: 
ohne  die  Bestimmung  des  Koran,  dass  jeder  Sklave  tm 
wird,  der  den  Islam  bekennt,  hätte  der  Arabersturm  die  alte 
Welt  nie  fiberrannt.  Wenn  ein  Bild  gestattet  ist,  so  war 
Mohameds  Lehre  die  Schneeflocke,  die  UbOT  einen  massigen 
Hang  ballenden  Schnees  herabrollt  und  allmählich  zur  kleinen 
Lawine  wird.  Endete  der  Hang  unten  in  ^e  flache  Mulde, 
so  zerstäubte  sie  harmlos.    Er  endete  aber  in  eine  steile 


iM,Coo<^lc 


SklzM  der  Bonal-ökoDondsohen  OMohiohtsinfFassaiig.  333 

Wand,  auf  der  ungemessene  Schnoemassen  gera4e  eben  noch 
hafteten;  diese  warf  sie  durch  ihren  Anprall  aus  dem  Gleich- 
gevicht,  und  nun  donnerte  die  Verheerung  zu  Thal,  eine 
Biesenlawine,  unendliche  Massen  vou  Schnee  und  Eis  mit 
mit^ewirbelten  zersplitterten  Wäldern  und  zertrümmerten 
Felsen.     Und:  „causa  aequat  effectuml" 

Also,  um  abzuBchliessen:  die  Ursache  der  geschicht- 
lichen Bewegung  ist  latente  Massenenergie,  d.  h.  die  Be- 
ddrfiiisse  der  Masse  zur  YeriUidemng  ihrer  Lage. 

Um  jedoch  Missverständnisse  unmöglich  zu  machen, 
die  sehr  gewCholicb  sind,  mögen  hier  einige  Worte  Über  die 
historische  Bedeutung  der  starken  Persönlichkeit 
eingeschaltet  werden. 

Die  heroistische  Schule,  um  ihre  schwache  Position  zu 
maskiereii,  pflegt  es  nämlich  so  hinzustellen,  als  wenn  die 
kollektivistische  Schule  jede  Bedeutung  starker  Persönlich- 
keiten für  die  geschichtliche  Bewegung  überiia^t  leugne. 
Sie  hat  es  dann  leicht,  den  Gegner  ad  absurdum  zu  flibren, 
wenn  sie  einen  Julius  Caesar  neben  einen  slowaloBchen 
Kesselflicker  stellt,  um  sich  über  die  dummen  Kerls  lustig 
zu  machen,  die  beide  fUr  gleichwertig  erkllb-en. 

Das  ist  ein  selbstgeschaffener  Popanz,  den  die  bero- 
isÜBche  Schule  zerfetzen  kann,  ohne  dass  es  dOT  kollektivisti- 
schen wehe  thut.  Sie  leugnet  die  Bedeutung  der  historischen 
Persönlichkeit  nicht  im  mindesten:  sie  weigert  sich  nur,  ihre 
Überschätzung  mitzumachen. 

Derjenige  kollektivistische  Forscher,  der  in  einem  Buche 
jede  Bedeutung  der  historischen  Persönlichkeit  leugnen  wollte, 
vUrde  sich  schon  dadurch  selbst  widerlegen:  denn  er  schreibt 
ja  sem  Buch,  um  Massenvorstellungen  und  Massenhandlungen 
auszulösen.  Kael  Ma&x,  der  erfolgreichste  Vertreter  der 
koUektivistischen  Auffassung,  hätte  gewiss  weder  die  Inter- 
nationale, noch  die  sozialdemokratische  Partei  begründet  und 
gefOhrt,  wenn  er  der  Ansicht  gewesen  wäre,  dass  seine  eigme 
Itistorische  Bedeutung  nicht  grösser  sei  als  die  des  dumpfesten 
Proletariers. 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


334  Frani  Oppanhainior: 

Das  also  kann  die  kollektivistische  Auffassung  nicht 
bedeuten.    Was  bedeutet  sie  in  Wirklichkeit? 

An<^  die  stärkste  Persönlichkeit,  der  Heroe,  dessen 
„Energie''  (das  Wort  deckt  glOcklich  physische  und  psychische 
Seite  der  Gabe)  die  durchschnittliclie  seiner  Zeitgenossen  am 
das  Vielfache  Qbertrifft,  kann  nur  dann  Massenbewegung^ 
auslesen,  wenn  die  Massen,  nahe  dem  kritischen  Punkte,  im 
labilen  GHeichgewicbt  ruhen,  sodass  ein  kraftiger  „Beiz"  oder 
„Anlass"  sie  in  Bewegung  setzt.  Wo  das  nicht  der  Fall 
ist,  da  bleibt  die  stärkste  Persönlichkeit  macbüos. 

Diese  ErwSgung  fOhrt  erst  zu  der  rechten  Schätzung 
der  „Genies".  Sie  erscheinen  dem  ersten  Blicke  als  „sin- 
gulare" Menschen,  weil  sich  an  ihren  Namen  gewaltige  Ent- 
ladungen lebendiger  Kraft  knüpfen.  Wir  mOssen  aber  an- 
nehmen, dass  Menschen  von  gleicher  „Energie"  sich 
zu  allen  Zeiten  in  allen  Völkern  finden.  Man  sagt 
gewöhnlich,  wenn  Julius  Caesar  zur  Zeit  der  Pyrrhus-Kriege 
gelebt  hätte,  wäre  er  ein  ausgezeichneter  Konsul  und  General 
geworden;  wenn  Jesus  Christus  zur  Zeit  der  Richter,  oder 
Martin  Luther  im  12.  Jahrhundert  gelebt  hätten,  so  wären 
sie  vorzü^che  Prediger  oder  Philanthropen  oder  Gelehrte 
geworden.  In  diesem  „Wennsatz"  »scheint  der  Sachverhalt 
in  etwas  kindlicher  Form  und  stark  Terschleiert.  Man  muss 
statt  dessen  sagen:  die  Julius  Caesar,  die  Jesus  und  Luther 
in  Zeiten  mit  kleinem  „sozialen  Gradienten"  konnten  die 
Massen  nicht  bewegen,  weil  sie  zu  weit  vom  kritischrai 
Punkte  waren. 

Dies»  A.7iSaamng  wint  dadnroli  gestfilit,  disa  in  Zeiten  mit  growwB 
Bosalem  Ondientea  die  PenOnlicbkeiteD  wild  waohsBii,  i.  B.  in  d«t  fi«- 
naiMaiioe  im  Bömemioh.  Heben  Cmmi  etehon  Htriua,  SulU,  Pompeja^ 
Citiliiift,  Sertorins:  dan  Oaaaar  der  badaatandata  von  allan  war,  i>t  «äbr- 
aofadnliah:  abar  aidier  iat,  daaa  d«  SohiokMl  daa  iftmisohaii  Baidies  in  tat 
HsaptUmoi  ganz  daasalbe  ([eweeen  wire,  wann  Caesar  alB  Kind  gastoitaa 
oder  bei  Oargorik  fe&dten,  oder  bd  der  nebarfahrt  naofa  DjRhMdünm  im 
Stnrme  nntoigagancan  wkre,  und  wann  statt  einer  joüeohan  üne  pompojiaak* 
DTnastia  das  ante  JahriinndeTt  nnaerer  Zeitreohnong  beherrscht  Utta.  Dean 
der  Gradient  war  ao  groea,  daae  der  ESnsbin  artolgan  rnnssta. 

Die  heroistische  Auffassung  beruht,  wie  mir  scheint, 
auf   zwei    Fehlschlüssen:     erstens,    wir    bezeichnen    als 


iM,Coo<^lc 


Skiue  der  Boiial-9koDotiÜBidk«ii  Oesohiohtsanffusong.  335 

„Männer  von  G-enie"  Menschen  von  starken  Erfolgen, 
Dod  zwar  täuschen  -wir  uns  Über  die  Bedeutung  des  „Genies" 
Infolge  eines  typischen  Kreisschlusses.  Zuerst  schliessen  wir 
ans  der  OrQsse  des  Erfolges  auf  die  Grösse  der  Eoergie, 
und  dann  nennen  vir  die  supponierte  Energie  die  Ursache 
des  Erfolges.  Und  zweitens  können  wir  uns  von  dem  dy- 
nastischen Gesichtspunkte  nicht  losmachen,  verwechseln  fort- 
während das  Schicksal  einer  Familie  mit  dem  der  YOlker. 

Einige  Beispiele  flir  die  ersten  Fehler:  wir  nennen 
Karl:  „den  Grossen",  weil  er  beispiellose  Erfolge  hatte,  und 
seine  Nachfolger  Schwächlinge,  weil  unter  ihnen  alles  zu- 
sammenfiel. Und  gewiss  war  Karl  von  grösserer  Energie, 
als  die  Ludwige  und  Arnulf.  Aber  nichts  desto  weniger  ist 
sieher,  dass  bereits  unter  Karl,  und  ohne  dass  er  es  ver- 
hindern konnte,  jene  Desorganisation  des  Reiches  einsetzte 
und  fortschritt,  die  seinen  Nachfolgern  alle  politische  Macht 
aus  den  HiUiden  spielte,  die  Yerselbständigimg  der  grund- 
gesessenen Beamtenschaft  zur  Qrundherrschaft  und  der 
Niedergang  der  gemeinfreien  Bauemschaft.  Gewiss  war 
Otto  v.  Bismarck  ein  Überlegener  .Mensch;  aber  nichts  desto 
weniger  ist  sicher,  dass  die  wirtschaftlichen  Interessen  der 
führenden  Klassen  West-  und  Ostdeutschlands:  Grosskapitalis- 
mns  und  Grosslandbesitz,  zufällig  gerade  bis  zu  seinem 
Sturze  parallel  liefen  (Zollschutz),  sodass  die  Begierung 
Deutschlands  ein  leichtes  Spiel  war;  und  dass  sie  nach  seinem 
Storze  auseinanderwichen,  gegeneinander  brandeten,  so  dass 
von  nun  an  ein  fester  Kurs  vorläufig  unmöglich  wurde. 
Dieser  Interessengegensatz  von  FreihandelsbedärfDis  und 
verert^ktem  Schutzbedürfbis  entstand  aber  ganz  unabhäi^ig 
von  den  regierenden  Männern  durch  die  wirtschaftliche  Ent- 
wickelung.  Bismarcks  grösstes  Glück  war  sein  recht- 
zeitiger Sturz! 

Historische  Misserfolge  und  Erfolge  nur  aof  die  per- 
sönliche Energie  der  leitenden  Persönlichkeit  zurückfuhren, 
heisst  alle  kausale  Forschung  durch  eine  Scheinerklärung 
abschneiden. 


iM,Coo<^le 


386  Franz  Oppanheimer: 

Eid  Beispiel  für  den  zweiten  Fehler:  dass  eine  der  zvei 
Kolonialn^hte  Deutschlands,  Pret»sen  oder  Sachsen  (Oster- 
reich als  Torriegend  Blavisdie  Macht  schied  aus),  die  Vor- 
macht Deutschlands  werden  musste,  war  klar.  Denn  ihr  aus 
Gründen  des  politischen  G-leichgewichts  relativ  gross  ge- 
schnittenes Qebiet  musste,  einmal  mit  Menschen  aufgefOlll, 
die  kleineren  Staatsbildungen  des  Stanunlandea  überwiegen. 
Dass  in  diesem  Kampfe  die  HohenzoUern  glücklicher,  ge- 
schickter und  kräftiger  waren  als  die  Wettiner,  ist  gewiss; 
aber  ebenso  sicher  ist,  dass  die  Geschichte  Deutschlands  in 
den  HaupÜinien  ebenso  verlaufen  wäre,  wenn  die  Wettiner 
dem  Protestantismus  treu  geblieben,  und  wenn  August  der 
Starke  die  Kraft  seines  Landes  nicht  in  den  polnischen 
Abenteuern  verzettelt  l^ltte:  die  Hauptstadt  des  durdi  die 
wirtschaftliche  Blntwickelung  ganz  ebenso  geeinten  Deutsch- 
luid  wäre  dann  Dresden  statt  Berlin,  und  die  Wettiner  trügen 
die  Kaüerkrone.  Die  Völker  aber,  auch  der  Adel,  wären 
ebenso  loyale  Sachsen,  wie  sie  heute  Preussen  sind.  Italien 
ward  auch  zum  Einheitsstaat  und  hatte  doch  keinen  Bismarck! 

„Genies"  sind  also  Männer  von  Brfolgl  Der  Mensch 
ist  der  Anbeter  des  Erfolges. 

Sie  sind  freilich  Männer  von  Erfolg,  weil  sie  Mämier 
von  Verdienst  sind,  von  überdurchschnittlicher  Energie,  die 
geborenen  Führer.  Ihre  Energie  kann  der  Anlass  zu  Massen- 
bewegungen werden,  die  sonst  später  eingetreten  wären. 
Das  ist  Verdienst  genu^  für  Buhm  und  Ehre,  das  ist  genug 
von  historischer  Bedeutung. 

Dass  die  Zeitgenossen  und  Volksgenossen  solche 
Männer  ehren,  ist  sehr  berechtigt  Denn  für  sie  ist  es  von 
grtlsster  Wichtigkeit,  dass  eine  Massenbewegung  früher  ein- 
tritt, als  ohne  den  „Anlass",  den  die  Energie  ihres  FObrers 
gab;  und  für  sie  ist  von  noch  grosserer  Wichtigkeit,  dass 
sie  im  Zusammenprall  der  verschiedenen  Massen  Hammer, 
und  nicht  Amboss  spielen.  Aber  für  das  Geschick  der 
grossen,  derart  zusauunengeschweissten  Massen  aaf  die 
Dauer  ist   die   Persönlichkeit   ohne    viel  Bedeutung.    ^ 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


SkisEe  der  soüal-ökonomisoheii  QMohiobtMnfEusmig.  337 

Ettooeii  ist  eingeschrieben  in  einen  venig  elastischen  Kreis, 
den  die  Lagerung  der  Masse  bestimmt;  mid  selbst  ihr 
Wollen,  ihre  Zielsetzmig,  kami  nur  mn  ein  Oeringes  weiter 
spaimen,  als  die  ihrer  durchschnittlichen  Zeitgenossen.  Sie 
sind  nicht  Schöpfer,  sondern  Geschöpfe  ihrer  Zeit. 

Das  ftnch  für  knnstlerisohe  nnd  wiasanaolianJiohe  Oenies  m  be- 
giSnden,  wire  eine  rösroUa  AoTgkbe.  ladeesen  gehört  es  nicht  streng  in 
uusrer  Aufgabe,  die  nus  ja  nur  eiae  Orandteriuig,  nicht  aber  one  Aw- 
föhimig  dar  Oeschiohlsphiloaophie  ala  ^ema  stulte. 

Also  um  zusammenzufassen:  die  kollektivistische  Ge- 
schichtsauffassung denkt  nicht  daran,  zu  leugnen,  dass  durch 
besondere  „Energie"  über  den  Durchschnitt  ihrer  Zeit- 
genossen sich  erhebende  starke  Persönlichkeiten  existieren,  die 
ZQ  Ftthrem  der  Masse  prädestiniert  sind.  Nur  ihre  masslose 
Überschätzung  lehnt  sie  ab. 

Und  vor  allem  muss  sie  eine  miabweisbare  methodo- 
logische Forderung  •stellen:  alle  (Geschichtswissenschaft  hat 
die  klare  Au^be,  zuerst  und  vor  allem  die  kollektivistischen 
Strömongen  und  Bewegungsantriebe  genau  zu  erforschen. 
Erst  dann  wird  eine  gerechte,  wissenschaftliche,  d.  h.  quan- 
ÜtaÜve  Bestimmung  der  Kraft  und  Leistung  der  historischen 
Persönlichkeit  zuerst  möglich  werden,  wenn  der  Ralunen 
genau  bekannt  ist,  innerhalb  dessen  ihr  eine  gewisse  Be- 
wegungsfreiheit (im  gewöhnlichen  Sinne)  vei^önnt  war. 

Diese  Forderung  wird  auch  derjenige  Historiker  als 
berechtigt  anerkennen  müssen,  der  die  Überzeugung  hat, 
dass  die  starke  Persönlichkeit  in  unserer  iElinschätzung  allzu 
niedrig  bewertet  worden  ist.  Die  einzige  Möglichkeit,  diese 
Schätzung  zu  widerlegen,  ist  der  vorläufige  Betrieb  der  — 
kollefetiTistiachen  Geschichtsauffassung. 

Dritter  und  letzter  Grund  gegen  die  heroistische  Ge- 
schichtsdarstellung:  sie  widerstreitet  der  Lehre  von  der  Un- 
freiheit des  Willens,  dem  Determinismus. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  um  die  allgemein  philoso- 
phischen Grtlnde  aufzuführen,  die  dazu  zwingen,  die  mensch- 
liche Handlung  als  streng  determiniert,  als  in  die  allgemeine 
KausaUtät  eingegliedert,  aufzufassen.    Hier  genfigt  es,  fest- 

*.  B.  SodoL    XXVQ.   a  22 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


338  Frans  Oppenhaimer: 

zastellen,  dass  eine  nicht-determimsiische  SozialwissenBcttaft 
ein  Unding  wäre.  Denn  alle  "Wissensehaft  sucht  GJeseta- 
mässigkeit;  und  wie  wäre  eine  Oesetzmässi^eit  der  mensch- 
lichen  Massenhandlung,  das  Thema  der  Sozifdwissenstdiaft, 
möglich,  wenn  der  menschUche  Wille  dem  Kausalgesetz  nicht 
unterworfen  w^eP  Willkür  und  besetz  sind  kontradiktoriache 
Gegensätze.  Daher  ist  die  Unfreiheit  des  Willens  der  Aus- 
gangspunkt, das  „Axiom"  aller  Sozialwissenschaft. 

Unfreiheit  des  Willens  hedeutet  nichts  anderes,  als  äan 
der  Wille,  der  unbewusste  wie  der  bewusste,  in  strenger 
Kausalität  verursacht  wird  durch  die  gesamte  Verumständimg, 
d.  h.  das  jeweilige  „Milien"  des  Menschen  samt  seinen  et- 
erbten  und  erworbenen  Charaktereigenschaften.  Hätten  wir 
die  UniTersalfonnel  dra  LAPLAoa'schen  Welt^eistes,  so  konnten 
wfr  aus  den  Umständen  Motiv  und  Handlung  jedes  einzelneo 
Menschen  berechnen.  Davon  sind  wfr  weit  entfernt.  Aber 
wir  sind  durch  unsere  unabweisbare  Fräinisse  gezwungen, 
anzunehmen,  dass  eine  bestimmte  Yerumständnng  im  durdi- 
schnittlichen  Menschen,  d.  h.  im  Bestandteil  einer  Mensch^i- 
masse,  ein  bestimmtes  Bedifrfius  erzeugen  wird,  das  wiedw 
eine  bestinunte  Handlung  auslöst. 

Es  ist  klar,  dass  fOr  eine  solche  Betrachtung  das  be- 
wusste Motiv  jede  selbständige  Bedeutung  verliert  Die 
Soziologie  interessi^  sich  ausschliesslich  für  die  menscb- 
liche  Handlung  in  ihrer  Gesetzmäßigkeit.  Wenn  diese  oi)- 
jektiv  determiniert  ist  durch  die  Yerumständung,  so  ist  es 
ihr  gleichgültig,  ob  noch  eine  subjektive  Spiegelung  dieses 
Prozesses  im  Bewusstsein  nebenher  geht,  die  ebenso  streng 
determiniert  ist.  Sie  hat  dieses  Phänomen  der  Psychologie 
zu  tiberlassen.  In  ihrem  eigenen  Betriebe  darf  sie  es  ruhig 
vernachlässigen.  Sie  darf  ohne  weiteres  die  VerumstäaduDg 
als  die  Ursache,  und  die  Handlimg  als  ihre  Folge  ansprechen, 
ohne  des  bewussten  Motivs  fiberhaupt  EntUhnung  zu  thun, 
das  für  das  Zustandekommen  der  Handlung  ganz  ohne  seih* 
ständige  kausale  Bedeutung  ist. 


iM,Coo<^lc 


Skizze  dei  soü&l-ökonomiBohen  ßesohichtMafhasang.  339 

Dieser  Auffassung  widerstreitet  freilich  das  Gefühl  des 
Uenschen  auf  das  lebhafteste,  der  sich  frei  v&hnt  und,  aller 
phüoBophischen  Erkenatois  zum  Trotz,  inuner  frei  wähnen 
moss,  weil  ihm  seine  Selbstbeobachtung  vorspiegelt,  dass  er 
jeweils  die  freie  Wahl  zwischen  mehreren  objektiv  mö^chen 
Handlungen  habe.  Dass  er  thatsächllch  nicht  die  freie  Wahl 
hat,  dass  nur  eine  Handlung  objektiv  und  subjektiv  möglich 
ist,  das  kann  er  mit  den  Mitteln  subjektiver  Selbstbeobachtung 
unmöglich  erkennen,  da  er  wenig  oder  nichts  von  der  Ver- 
umstfindung,  der  „Motivation",  weiss,  die  seine  iTim  zum 
BewusBtficiü  kommenden  Motive  in  ihrer  relativen  Kraft  er- 
regt; und  da  er  gar  nichts  weiss  von  den  stärksten  Motiven 
seiner  Handlung,  den  unter-  oder  unbewussten.  So  erscheint 
dem  getäuschten  Menschen  die  subjektive  Begleit- 
erscheinung eines  objektiven  Zwanges  als  bewusstes 
Motiv  einer  freien  ThatI 

Und  zwar  wird  der  Mensch  ganz  gesetzmässig  ge- 
täuscht. Da  er  ein  vernünftiges  und  sittliches  (d.  h.  soziales) 
Wesen  ist,  das  sich  frei  wähnt,  so  erscheinen  regelmässig 
in  seinem  Bewusstsein  diejenigen  vermeintUchen  „Motive", 
die  seine  Handlung  als  vernünftig  oder  sittlich,  oder  beides, 
rechtfertigen.  Während  er  einem  objektiven  Bewegungs- 
zwange folgt,  glaubt  er  als  freies  Wesen  bewussten  ver- 
nünftigen oder  sittlichen  Antrieben  zu  folgen,  die  ihm  gerade 
diesen  Weg  mit  gerade  diesen  Mitteln  und  Zielen  als  den 
besten  erscheinen  lassen. 

Diese  AaSaaBang  ist  von  bo  groBsei  Bedentang  fSr  die  gsBamte  Bo- 
lialwisBeiiBcluift  und  widerstreitet  andererseits  den  menaohliohen  Btolse  so 
■ehr,  dsSB  ich  sie  daroh  sine  Erfahmng  der  ezperimentellsn  Psychologie 
dem  VeTBtindiiiB  oShoi  Itthren  möohto. 

Eb  ist  niotit  selten  inö^oh,  ein  empfindliohae  IndiTidaom  in  post- 
hfpnotisotier  Suggestion  in  gewissen  Eandlongen  zu  bringen.  Es 
eriUUt  im  Zustande  der  Hypnose  den  Befehl,  neoh  dem  Erwachen,  ohne 
aieli  dee  Befehls  zn  erinneni,  zn  bestinater  Zeit  an  einem  bestimmten 
Orte  eine  bestimmte  Handlung  aostuföhren,  z.  B.  eineu  Mord.  80  war  ea 
in  einem  berühmt  gewordenen  Experiment  der  Nanojer  Bobnle,  wo  zwischen 
Befehl  und  Ausfühmng  eine  lange  Zeit,  meiner  Erinnerung  nach  8  Monate, 
TenfaicJieB.  Das  Versnohsobjekt,  ein  hannloser  gntmiitiKet  Hensoh,  dai 
irthrend  der  gesamten  Friat  tbatsloblicdi  keine  Spar  einer  Erinnemng  an 
den  Befehl  h^e,  erschien  wirklich  loi  beetimmten  Zeit  am  feetgeaetitan 
Orte  nnd   versuiiJite,   die  ihm    beieiohnete,   ihm  bis  dahin   vüllig  fremde 

22« 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


340  FiBne  Oppenheimer: 

Peraon  zu  ersteohen.  Festgehalten  und  nwih  aeinen  UotiTen  befragt,  er- 
x&hlte  er  eine  Qesohiohte  von  iwigjahriger  Veifolgong  n.  s.  w,,  nnd  Ewar 
in  der  entachiadenen  „A.atoeiiggeBtioii'',  äam  aia  du  Motiv  seinee  nüea- 
g^äoiten  Attentats  sei. 

Hier  können  wir  den  Meohaoismas,  der  nos  intereesieit,  klar  ar- 
kennen.  Ein  Hensob  folgt  önem  Zwangeaatnebe  dnroh  untarbewnute  Hottreu 
vemreacht  daroh  eine  Veramatändiing,  von  der  bt  uiohts  weis.  Er  hu 
kein  nooh  so  eohwaohes  verstandeemlBsiges  oder  dtdichea  .MotiT'  in  det 
gewöhnlichen  Bedentnng  dee  Wortes  als  üisaobe  sdner  Handlang:  abet 
er  moBs  sieh  solche  Motive  selbet  eohnffen.  MoesI  denn  er  mnsste  tnoh 
selbst  verlieren,  sioh  als  Temünftiges,  sittlichee  Wesen  aufgeben,  wenn  er 
sioh  —  nicht  anderen  —  lugeeteben  mfieste,  motiylos  tu  bandeln.  & 
mnsste  sioh  (Ar  „geisteskrüik*  halten:  und  dafSr  hält  sioli  nioht  einmal 
der  Qeisteskranke,  so  lange  er  krank  ist,  sondam  hdohstens  retroepekliv,  wenn 
er  anf  seine  Mheren  Handlungen  KoräokUiokt. 

Also  ZwangBantrieb  und  Selbsttäuschung  über  das  Motiv  I 
Das  hat  Ludvio  Qdhflowioz  in  die  knappe  Fonnel  geprfigt: 
„Naturgesetzlich  handelt  der  Mensch,  und  mensch- 
lich denkt  er  hinterdrein!"  Es  heisst  besser:  „und 
mensdüich  denkt  er  nebenbeil",  denn  die  Handlung  als 
objektiv  sich  äussernde  Umsetzung  psychischer  Energie  in 
Muskelbevegung  einerseits,  und  das  bewusste  Motiv  als  sub- 
jeUive  Spiegelung  des  Vorganges  im  Bevnsstsein  anderer- 
seits  sind  gleichzeitige  Folgen  derselben  Ursache,  des 
BedOrfidsses,  des  Triebes. 

Das  bewusste  Motiv  ist  also  Oberhaupt  nicht  Ursache 
von  Handlungen.  Das  Menschenleben  erschöpft  sich  nach 
dem  Worte  des  geistreichen  Franzosen  darin,  „zu  wollen, 
was  man  nicht  thut,  und  zu  thun,  was  man  nicht  will". 

Darum  ist  auch  vom  Standpunkte  der  Psychologie  aus 
die  Behauptung  der  heroistischen  Schule  abzuweisen,  dass 
die  bewussten  Motive  der  „grossen  Persönlichkeiten"  dia 
Ursache  der  Massenbewegung  seien. 

Die  kollektivistische  Auffassung,  als  streng  deter- 
ministische, kausale  Wissenschaft  von  der  Q^schichte,  be- 
trachtet natürlich  die  bewussten  Motive  der  Masse  als 
ebenso  irrelevant  wie  die  der  Einzelnen.  Welche  aittlicheo 
oder  verstandesmässigen  Gründe  eine  durch  den  ZwangB- 
antrieb eines  MassenbedUrfaisses  bewegte  Masse  sich  auto- 
SDggerierte,  um  vor  sich  selbst,  die  sich  &^i  handelnd  w&hnt, 


iM,Coo<^le 


Sküie  der  sonal-ökonomiBohen  OeedilohtBiiiSassaiig.  341 

das  nächste  Mittel  zur  Befriedigung  des  MassenbedUrfnisses 
za  rechtfertigen:  das  notiert  sie  als  historische  Thatsache, 
verläJlt  aber  nicht  in  den  Fehler,  es  flir  eine  historische 
Ursache  zu  Iialten. 

Gerade  dieser  Fehler  wird  »bei  g^enwSitig  von  HlatoiUeni,  Sodologon 
(nnd  NatJonalökonomen)  hSnfig  beganeen,  und  znir  njoht  am  von  heroistüolL 
gesiimten,  soDdern  auch  von  offen  KoUeUtTiBtiBoheD  nnd  aolohen,  die  eine 
Teimittelnde  Btellimg  einnehmen.  Just  die  bewnssten  Motive  eisofaeben 
Ihiien  als  die  letzte  Ursache  des  sozialen  Oesohehens.  loh  werde  mich 
demi^tohBt  in  einer  eigenen  Arbeit  mit  den  Tertreteru  dieser  Anfiasanog 
kitisab  aoeeinandecsetzen:  hier  mnas  ioh  mich  darauf  beechränken,  die 
pTinBpiellen  Oeeichtsponkte  zn  skizzieren.  Als  Ausgan^poukt  w&hla  ich 
eine  nrzlioh  erschienene,  angenehm  acbarf  und  präzis  formulierte  Dar- 
stsllniig  WERmR  Sovubt's.  Ei  Bprioht  eine  weit  verbreitete  Anscbanoog 
ans,  wenn  er  in  dem  Qeleitwort  zum  ersten  Baude  seines  „Modernen 
EaptaliBmas*  mit  starkem  Nachdrack  betont,  „dass  wir  aus  niemals  ver- 
leiten  lassen  sollten,  als  letzte  Ursache,  anf  die  wir  soziales  Oesohahen 
turfiokfSJtren  wollen,  etwas  anderes  anzusehen,  als  die  Motivation  lebender 
Menaoheo'  (p.  XYIII'j).  Er  meint  damit,  dem  gebiinohüohen  Sinne  des 
Wortes  zuwider  (Hotiration  bedeutet  den  psyohlaoheii  ProEess,  ans  dem  die 
Hotive  hervoreehen)  die  bewnssten  „Motive  oder  Zweekieiheu",  die  alao 
als  sprimlre  Uisaohan  oder  treibende  Krflfte  des  menschlichen  Handelns* 
angesehen  werden  (p.  XIX). 

Als  seine  Gründe  für  dieses  Verbot,  weiter  zurück  za  lorsohen,  giebt 


nnd  der  Qesetze,  welche  diese  regeln,  finden  könnte*,  2.  kkmen  wir  „an 
die  noch  nicht  flberbrückte  Elnft  der  psjchologiBchen  Vemrsaohnng,  die 
eine  andere  als  die  meohanische  Eaasalit&t  ist",  3.  „gingen  wir  de«  nn- 
■chätzbareD  Vorteils  Terlojftig,  von  bekannten  ErUten  (den  m  der  on- 
mittelbaren  Grfafamng  gegebenen  Motiven  menschlichen  Handelns)  eo 
unbekannten  Erftften  als  bewirkenden  Ursachen  zurückzugehen".  Sohbabi 
meint  natürlich:  „wir  hätten  den  grossen  Nachteil  u.  s.  w."  »Als  welches 
alles  elementare  Feststsllongen  sind,  die  mir  der  philosophisdie  Leser  ver- 
zeihen möge''(l)- 

SoMBABT  hilt  au  dieser  Vorschrift  auch  in  einem  Teile  seines  Werkes 
fest;  der  .kapitalistische  Geist*,  dessen  Entstebnng  sehr  geistreich  verfolgt 
wird,  wird  als  eine  der  Ursachen  dee  Kapitaliünos  ausgerufen.  Merk- 
würdigerweise aber  übeisohreitet  SoHBun  seine  eigene  Wamongstafel  sehr 
wohlgemut,  wo  es  Eich  um  den  Antipoden  des  kapitAlistiBchen  Geistes,  nm 
den  ebenso  sagenhaften  „genmsenschaftlichen  Geist"  handelt  Dieser  wird 
ganz  korrekt  nnd  im  vollen  Einverständnis  mit  meinen  Arbeiten  über  diesen 
Gegenstand,  nicht  als  Ursache,  sondern  als  Folge  der  sozialokonomisohen 
Temmständong  nachgewiesen  *).  Und  ich  meine  nun,  was  dem  genossen- 
sehaftliehen  6«st  recht  ist,  sollte  dem  kapitalistisoheu  nnd  allen  anderen 
Geistam  billig  seinl  Warum  hier  die  Fnrcht  vor  einem  .onbegrenztan 
Begressns'T 

'\  VierteljahrsBohrift  fflr  wiss.  Philos.  nnd  Soziol.  XXVI,  8.  S2. 
>)  V^.  meine  Anzeige  in  der  „Eoltur*,  Söln  1903. 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


312  FitnE  Oppanheimar: 

Diese  Foioht  ist  guu  KMeosbudaloe.  Man  hat  nii^t  nötig,  bü  ul 
die  Bewegung  der  kleinätaa  Teile  und  die  Qesetie,  wolohe  dieee  regsb, 
miflokKngehea;  and  noch  weniger  an  jene  sohaDerüohe  erkenntnistheoretucbe 
Kluft,  die  die  meohanisohe  Eaasalität  ran  der  psychalogischen  Teraiwcliniig 
trennt,  sondern  man  hat  nar  anf  die  pejohologiadie  TJisactie  jeder  mensdi- 
Uchen  Handlang  znrückzngehen,  and  zwar  ist  das  nicht  das  .Iwwnnte 
UotiT,  die  Zweckreihe",  sondern  das  Bedärfnis. 

Das  bewosste  Motiv,  die  Zweokreihe  ober  ist  überbaopt  nicht  ümdia 
mensohlicher  HaDdiun^r,  sondern,  wie  wir  wissen,  nichts  als  ein  begleitendn, 
BnbjektJTea  Spiegelbild  der  Handlung,  ist  Folge  des  Bedfirftüsses  wie  di« 
Handlung  selbst,  and  niemals  UiBaohe  der  Handlang.  „Als  weldiee  illei 
eleventare  Feststeltangen  sind!" 

WAre  es  aber  aacb  mehr,  was  wäre  damit  Kr  das  wissensabaHliche 
Verständnis  gewonnen?  Worte  anstatt  der  Begriffe,  leere  Tautologien I  Wu 
sagt  es  mir,  wenn  ich  hSre,  der  Eipitaltsinas  ist  die  Folge  des  kapitalistischen 
QwsCes,  die  Genossenschaft  des  genossenschaftlichen,  das  Handwerk  des 
Handwerksgeistes,  die  Erobemng  des  kriegerischen  Geistes?!  Da  ist  ee  gsnt 
genaa  dasselbe,  wenn  mir  ein  Theologe  die  Lasterhsfdgkeit  einer  üpochi 
als  FoUe  der  Sündhaftigkeit  darstellt,  and  es  kommt  fast  aaf  Onkel  Biaesi|S 
nationalökononiiBohe  Theorie  binaos,  dass  die  Armnt  ron  der  Fowerthee 
herstamme. 

Es  mass  dieser  Freade  am  Wort  eatsohieden  entgegengetreten  werden. 
weil  sie  sich  in  immer  neaeo  soziologischen  Konstrnktionen  aossprioht,  die 
oiobts  rdrdern  können.  Wenn  Knin  Bbxtsio  die  ganie  WeltgeecbiaUe 
begreifen  will  als  Kampf  and  Wechsel  individnalistisaher  and  koliekonittiwiier 
Eiwte  nnd  Epochen;  wenn  FassiNAmi  Tounnes  die  beiden  „Willen*,  den 
.Wesenswillen*  der  organiBoh  nrwüohsigen  „ Gemeinschaft",  nnd  lUe 
.'Willkür"  der  meohanisch  Easammengeschlossenen  „Gesellschaft'  xom  Pol 
and  Antipol  das  sozialen  Lebens  macht;  wenn  Cial  EixDEBiuinr  nZwisg 
und  Freiheit*  ab  die  Pole  hinstellt,  oder  Heihbic&  Dutzk.  Bozialismns  und 
IndiTtdnalismus,  so  bleiben  wir  immer  noch  an  der  Oberfläche  der  G»- 
Bchehnisse.  Wobei  übrigens  allen  genannten  Denkern,  wie  auch  Sombaih, 
der  Dank  nnd  die  Bcwondernng  des  Yerfassets  nicht  vorenthalten  sein  soll 
ISr  das,  was  sie  trotz  ihrem  nngiäoklichen  Untersachnngsmittel  geleistet 
haben.  Aber  dase  es  nngläcklich  ist,  dass  es  die  Forschung  geiadeia 
lähmt,  weil  es  auf  alle  fragen  eine  bequeme  Antwort  hat,  das  moss  mit 
alter  Kraft  ausgesprochen  werden,  und  dass  ee  keine  „Wissenschaft*  im 
strengen  Sinne  ist,  nicht  minderl  Wo  steckt  hier  vor  allem  Kure's  ,lbth«- 
matik",  die  quantitsüve  Bestimmtheit  der  Beziehungen? 

Nein,  man  muss  hinter  die  bewusstea  Motive  zurück, 
die  man  allenfaUs,  wenn  auch  mit  grösster  Yorsicht,  alB  die 
Indikatoren  der  wirklichen  Ursache,  der  Bedürfnisse,  be- 
nutzen mag.  Tiefer  kann  mau  dann  nicht  mehr  schürfen, 
aber  so  tief  muss  man  auch  schürfen.  Es  ist  die  klare 
Aufgabe  aller  Sozialwisseoschaft,  in  den  gesetzm&BBigeii 
Teräaderungea  der  objektiven  Daseinsbedingungen, 
unter  denen  die  Menschenmassen  stehen,  die  Ursache 
für  die  Q-esetzmässigkeit  der  Massenhandlungen  zu 


iM,Coo<^lc 


Slöne  der  soiial-ökonomiBoheii  OeeohüditsanffluBaDg,  343 

entdecken.  Jene  Veränderungen  erzeugen,  vermehren, 
hänfen,  spannen  gesetzmässig  latente  Energie,  die  Bedürf- 
nisse; und  diese  verwandelt  sich  gesetzmässig  in  die  lebendige 
Kraft  der  Bewegung,  in  Massenhandlung,  die  sich  wieder 
streng  gesetzmässig  der  verschiedenen  Mittel  der  BedllrfiaiB- 
befriedigung,  als  der  Zwischenziele,  bemächtigt,  um  zum 
Endziel  zu  gelangen. 

Damit  ist  das  Problem  nach  der  Ursache  menschlicher 
llassenbewegnng  erledigt,  und  wir  können  uns  jetzt  dem 
zweiten  Problem  der  Geschichtsphilosophie  zuwenden,  der 
Frage  nach    der  Richtung  menschlicher  Massenbewegung. 

B.  Die  Btehtang  mensolillcher  Musenbewegang. 

Dass  Massenbewegung  ganz  im  allgemeinen  Befriedigung 
eines  MassenbedUrfuiBBes  anstrebt  und  dadurch  zur  Massen- 
handlung wird,  wissen  wir  bereits.  Jetzt  haben  wir  zu  fragen, 
welche  Massenbedllrfhisse  nach  Befriedigung  streben.  Das 
ist  die  Frage  nach  den  Endzielen  der  Massenbewegung. 
Und  wenn  wir  das  festgestellt  haben,  ersteht  die  zweite 
Frage  nach  den  Zwischenzielen  der  Massenbewegung, 
d.  h.  mit  anderen  Worten,  nach  ihren  Mitteln.  Denn  ein 
Mittel  ist  immer  Zweck  zum  Zwecke,  seine  Erlangung  Ziel 
zur  Erlangung  eines  ferneren  Zieles. 

I.  Das  Endziel  der  Musenbewegnng, 

(Die  geschichtlich  wirksamen  Massenbedtirfiiisse.) 
a.  Das  ökonomische  Massenbedtlrfnis. 

Das  „primäre",  d.  h.  lebenswichtigste  und  daher  mäch- 
tigste BedOrfnis  des  durchschnittlichen  Menschen,  dasjenige, 
dessen  Befriedigongsnüttel  daher  den  grtfssten  „Grenznntzen" 
haben,  ist  das  ökonomische  nach  Genussgütem  zur  Stillung 
von  Hunger  und  Durst,  je  nach  Klima  und  sozialer  Stufe 
auch  das  nach  Kleidung  und  Behausung.  Es  ist  daher 
a  priori  klar,  dass  es  die  weitaus  mächtigste  Ursache  aller 
Massenbewegung  sein  muss;  und  in  der  That  wird  dieser 
Schluss    durch    die   Thatsachen    der   Geschichte   bestätigt 


iM,Coo<^lc 


344  Frani  Oppenheimet: 

(Wanderungen).  Dieses  Bedürfnis  beansprucht  daher  die 
erste  nähere  Betrachtung. 

Es  ist  strenges  Gesetz  der  wissenschaftlichen  Methodik, 
überall  da,  wo  mehrere  Kräfte  bei  einer  Bewegung  zu- 
sammenwirken, sie  einzeln  zu  untersuchen,  um  zu  finden, 
wie  die  Bewegung  verläuit,  wenn  nur  Kraft  a,  oder  nur 
Kraft  b,  u.  s.  w.  wirkt.  Diese  „isolierende  Methode"  be- 
dient sich  womöglich  des  Experimentes;  wo  das  unmöglich 
ist,  sucht  sie  wenigstens,  soweit  erreichbar,  eine  gedankliche 
Isolierung  durchzuführen,  indem  sie  sich  einer  genauen  In- 
duktion der  zugänglichen  einschlägigen  Thatsachen  bedient. 

Wo  es  festgestellt  ist,  dags  eine  der  angreifenden  Kräfte 
die  stärkste  ist,  beginnt  man  selbstverständlich  mit  ihrer 
Isoherung.  Sie  erscheint  dann  als  die  eigentliche  Ursache, 
die  übrigen  als  „SUfrungen".  Ein  solcher  Fall  liegt  hier 
vor.  Psychologische  Analyse  und  summarische  Betrachtung 
(Wanderungen!)  haben  uns  gezeigt,  dass  das  ökonomische 
Bedürfiiis  die  wichtigste  und  mächtigste  Triebkraft  der  ge- 
schichtlichen Massenbewegung  ist:  daraus  ergiebt  sich  metho- 
dologisch die  Forderung,  es  zunächst  in  isolierender  Be- 
trachtung als  das  einzige  geschichtlich  wirksame  Massen- 
bedUrfiais  zu  behandeln.  Ich  nenne  diese  methodologi&di 
notwendige  Torläufige  Behandlung  des  Problems  die  „öko- 
nomistische  Geschichtsbetrachtung"  zur  Unterscheidung 
von  einer  sich  fUr  endgültig  haltenden  Abart  der  koltektivi- 
süschen  Geschichtsphilosopliie,  die  ich  als  „ükonomistische 
Geschichtsauffasssung"   unten  näher   würdigen  werde. 

Das  ökonomische  Bedürfnis  ist  nicht  das  egoistische 
Bedürfois.    Beide  unterscheiden  sich  sehr  scharf. 

Ich  habe  bisher  immer  von  ludiTiduen  als  den  Elemen- 
ten der  Menschemnassen  gesprochen.  Mit  Recht!  denn  bis- 
her handelte  es  sich  um  eine  mechanisch-physikalische  Auf- 
fassung. So  lange  es  sich  um  nichts  anderes  als  die  Be- 
wegung schlechthin  der  Masse  handelte,  konnte  keine 
andere  Auffassung  Platz  greifen  als  die  atomistische:  und 
das  Individuum  ist  das  Atom  einer  Masse. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Skim  der  BOEial-5konoiniBidiea  GeeohiobtaanfEMSoni;.  346 

Sobald  es  sich  aber  wie  hier  in  der  Frage  nach  Art 
und  Bichtung  der  BedUrfnisee,  nicht  mehr  um  Bewegung 
schlechthin,  sondern  um  Bewegung  zur  Befriedigung  eines 
BedOrfiiissea  handelt,  also  um  „Handlung":  von  diesem 
Augenblicke  kommt  man  mit  der  atomisüachen  Betrachtung 
nicht  mehr  aus.  Denn  alle  Handlung  ist  Thätigkeit  eines 
organischen  Wesens,  und  das  „Element"  eines  organischen 
Wesens  besteht  nur  aus  Atomen,  ist  aber  doch  mehr  als 
nur  ein  Aggregat  von  Atomen,  ist  selbst  eine  lebende 
Einheit,  eine  „Zelle". 

Als  lebende  Einheit  der  Masse  aber  ist  das  Individuum 
auch  vom  rein  biologischen  Standpunkte  nicht  anzusehen. 
Es  kann  sich  —  als  Säugling  —  nicht  selbst  ernähren,  und 
kann  sich  als  Erwachsener  nicht  fortpflanzen.  Die  Fort- 
pflanzung ist  aber  allen  Lebens  wichtigster  Teil:  die  „Natur" 
kümmert  sich  bekanntlich  sehr  wenig  um  die  Fortexiatenz 
des  Individuums,  sobald  der  Bestand  der  Art  gesichert  ist. 
Die  lebende  Einheit  der  „Gesellschaft"  —  so  nenne  ich  von 
jefcst  an  die  zur  Befriedigung  von  Masseobedürfnissen  han- 
delnde Masse  —  ist  nicht  das  Individuum,  sondern  die 
Familie,  nicht  nur  in  ihrer  engeren  uns  geläufigen,  sondern 
sogar  in  der  weiteren  Bedeutung  der  Bluts-,  der  Gross- 
familie der  primitiven  Horde,  des  Urbildes  von  Feedisamd 
ToEoraiBs'  organisch  gewachsener  „Gemeinschaft",  vonLoDwie 
GüMPLowicz'  „Gruppe"!  Kur  in  solcher  sozialer  Einordnung 
ist  der  Mensch  als  „Individuum"  überhaupt  denkbar;  ohne 
sie  könnte  er  im  Kampfe  ums  Dasein  nicht  bestehen.  Und 
ßo  entsprechen  dieser  Bedingung  des  natürlichen  Lebens 
auch  die  natfirlichen  BedUrfiiisse  (Triebe),  die  wir  ja  nicht 
anders  verstehen  kOnnen,  denn  als  durch  Anpassung  und 
Zuchtwahl  erworbene  zweckmässige  Organe  fttr  den  Kampf 
ums  Dasein.  Sie  gehen  von  Anfang  an  nicht  nur  auf  die 
Erhaltung  des  Individuums  selbst,  sondern  auch  auf  Er- 
haltung der  Art,  sind  von  Anfang  an  ebenso  sozial  wie 
individuell,  ebenso  altruistisch  wie  egoistisch.  Ich  nenne 
dieses  auf  Erhaltung  des  organischen  Gesellschafteelementes 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


346  Fraas  Oppeiili«im«r: 

gerichtete  Bedtirfius  mit  Jüliüb  Lippikt  das  BedOrfiois  (reep. 
Trieb)  der  Lebensfflrsorge. 

Dies  BedUrfiiis  äuBsert  sieb  also  nicht  nur  in  der  nacktML 
Ich-Sucht  des  ftittersuchenden  Einzelvesens,  nicht  nur  als 
Hunger,  Durst,  FrostgfUhl,  Mordgier  und  Trieb  zur  Flucht 
vor  dem  stärkeren  Feinde,  sondern  auch  als  Kindes-,  V«^ 
wandten-  und  Stammesliebe,  als  OpferwilUgkeit  für  di« 
anderen  Mitglieder  der  „Gruppe"  bis  zum  todverachteuden 
Heldentum. 

Man  sieht,  dass  bei  gehöriger  Interpretatiou  die  „tSko- 
nomistische"  Betrachtung  kaum  noch  etwas  von  dem  „platten 
MatehalismuB"  Übrig  behält,  den  man  ihr  so  häufig  nachsagt 

Dieses  Bedürfois  der  LebensfUrsorge  fllr  sich  und  die 
Seinen,  für  Familie,  Statmn  und  Volk  ist,  um  es  zu  wieder- 
holen, wenn  auch  vielleicht  nicht  die  einzige,  so  doch  gewiss 
die  mächtigste  und  überall  wirkende  Ursache  der  geschicht- 
lichen Massenbewegung  und  namentlich  der  einflussreitdifitaD 
von  aJlen,  der  Wanderung.  Das  war  auch  häufig  den 
Wanderscharen  selbst  klar  bewusst  Die  wandernden  ger- 
mantschen  Völkerschaften,  von  den  Cimbem  an  bis  zu  den 
GoÜien,  überschritten  die  Grenzen  des  rÖmjBchen  Reiches 
mit  der  klaren  Bitte  um  Überweisung  von  Ackerland;  und 
die  beiden  Itiesenwanderungen  der  Neuzeit,  transatlantische 
Aus-  und  binnenländische  Abwanderung  erfolgen  unbestr^t- 
bar  und  kaum  bestritten  ganz  Oberwiegend  ebeofalls  aus 
dem  Ökonomischen  Bediir&us  der  Masse,  ihre  La^  zu  rep 


Aber  auch  den  nicht  friedlich  „trekkenden",  sonders 
kriegerisch  einfallenden  Horden  erschien  mindestens  in  den 
Anfängen  ihre  Handlungsweise  von  keinem  andern  BedDrfius 
verursacht,  als  von  dem  ökonomischen.  Sie  waren  und 
nannten  sich  voller  Stoiz  „Räuber".  Man  wird  weder  Ge- 
schichte noch  Wirtschaftswissenschaft  jemals  verstehen,  veno 
man  sich  nicht  klar  macht,  dass  der  Raub  das  erste  und 
vornehmste  aller  Gewerbe  ist.  Erst  viel  später,  nach  langer 
Berührung  mit  der  Kultur,    maskiert  sich  der  räuberiscbe 


iM,Coo<^lc 


Ski&se  der  soEkl-^konomisohea  OeaohielitHKifbssiuig.  347 

Erwerbstrieb  mit  „Motiven",  die  mittlerweile  eine  höhere 
Schätzung  erlangt  haben,  z.B.  Kassenstolz,  Heirschsuchtu.s.w. 

Wir  wifisen,  was  wir  Ton  diesen  angeblichen  MotiveD 
zu  halten  haben.  Sie  sind,  wenn  nicht  bewusste  Vorspiege- 
lung, unbewusste  Selbsttäuschung.  Und  wir  befinden  uns 
hier  in  glücklichster  Übereinstimmung  mit  den  Überfallenen 
Grenzna^hbarn,  die  immer  sehr  genau  wussten,  dass  die 
Orenzbarbaren  über  sie  herfielen,  weil  sie  Beute  machen 
■wollten,  selbst  wenn  sie  andere  Grilnde  angeben  1  Die  Fabel 
von  Wolf  und  Lamm. 

Zwei  BedfirMsse  namenUich  sind  es,  die  zur  Wider- 
legung  dieser  Auffassung  gewöhnlich  Ton  den  „Idealisten" 
als  ebenfalls  massenbewegend  angeführt  werden,  ohne  dass 
sie  dem  ökonomischen  Bedürfnis  entsprängen:  das  Unab- 
hängigkeitsbedOrfois,  der  „Freiheitsdrang"  —  und  das  reUgiOse 
Bedürfnis. 

Von  diesen  ist  das  erstgenannte  zweifellos  ein  nur  wenig 
veränderter  subjektiver  Reflex  der  Lebensfürsorge,  und  zwar 
sowohl  der  individuellen  wie  der  sozialen  LebensfUrsorge. 
Denn  Unfreiheit  und  ökonomische  Ausbeutung  sind  nur  zwei 
Seiten  desselben  Phänomens.  Brächte  Oewaltherrschaft 
keinen  Gewinn,  so  hätte  sie  niemand  jemals  angestrebt  trotz 
der  Last,  den  Kosten  und  den  Gefahren  ihrer  Errichtung 
und  Erhaltung.  Und  forderte  Gewaltherrschaft  nicht  den 
Geld-  und  Btutzins,  brächte  sie  gar  statt  dessen  Geschenke 
oder  Schutz,  so  hätten  die  Dithmarschen  gegen  Herzog  Erich, 
und  die  Schweizer  gegen  Herzog  Karl  nicht  so  verzweifelt 
geimpft.  Die  amerikanischen  Kolonien  fielen  ab,  weil  das 
Hutterland  sie  knechtete,  um  sie  mit  Zöllen  und  Industrie- 
nnd  Handelsmonopolen  auszubeuten;  die  heutigen  australischen 
Kolonien  sind  loyal,  weil  Grossbritannien  ihnen  für  den 
schwachen  Schatten  einer  ohnmächtigen  Souveränetät  die 
Verteidigungslast  abnimmt.  Es  ist  das  ein  ähnliches  Ver- 
hältnis der  „Oberhoheit",  wie  es  einst  zwischen  den  Kaisern 
von  Byzanz  und  den  Königen  der  Gothen  und  Hunnen  be- 
stand, die  in  Form  von  HUlfsgeldem  Tribut  erhielten  und  es 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


348  Fianz  Oppenheim  er: 

sich  dafUr  lachend  gefallen  liessen,  dass  der  gekrönte  Schvach- 
kopf  am  Goldenen  Hörn  sie  als  Vasallen  bezeichnete. 

Von  solchen  scheinbaren  Ausnahmen  abgesehen,  be- 
deutet Unfreiheit  geschichtlich  immer  Skonomiache  Aus- 
beutung: und  daher  ist  der  Freiheitedraug  der  Völker  ein 
sozial-ökonomischer  Trieb,  veredelt  durch  den  altruisüsehen 
Zug  des  „Einer  fUr  Alle!"  Aber  seine  Wurzel  hat  das 
grandiose:  „Lever  duad  as  Slav"  des  Friesen  dennoch  im 
-wirtscfaafUichen  „Egoismus"  des  Einzelnen  für  sich  und  seine 
„Gruppe". 

b)  Das  religiöse  Massenbedflrfnis. 

Nicht  ganz  sicher  bin  ich  aber  dieses  Zusammenhanges 
für  das  religiöse  Bedürfiiis.  Auf  die  Gefahr  hin,  von  den 
fanatischen  Tempelfl^htem  des  Atheismus  —  es  giebt 
nämlich  auch  solche  —  der  reaktionären  Gesinnung  als  über- 
fuhrt erklärt  zu  werden,  muss  ich  meine  Zweifel  an  der 
Allgemeingültigkeit  der  ökonomistischen  Auffassung  in  diesem 
Punkte  erklären. 

Wir  finden  das  religiöse  BedUrfiiis  und  den  daraus  ent- 
springenden AnstosB  zu  Handlungen  bei  den  tiefstehenden 
Primitiven,  die  wir  noch  beobachten  können.  Keine  Jäger- 
oder Fischerhorde  ist  religionslos.  Ich  weiss  wohl,  dass  die 
Religion  vielen  bedeutenden  Kulturhistorikem  als  eine 
Schöpfung  der  LebensfUrsorge,  also  als  ein  abgeleitetes 
Motiv,  erscheint;  und  ich  selbst  zweifle  nicht  daran,  dass 
hier  thatsächhch  ihre  stärkste  Wurzel  steckt,  nämlich  in  der 
Sorge,  Dämonen  und  Ahnengeister  günstig  zu  stinunen.  Aber 
es  will  mir  scheinen,  als  habe  sie  noch  eine  zweite  selb- 
ständige Wurzel  in  dem  höchsten  und  edelsten  BedUrMs  des 
aulrecht  Schreitenden,  das  ihn  vom  Tiere  allein  unterscheidet, 
im  EausalbedUrfnisI  Und  dann  käme  ihr  neben  dem 
ökonomischen  Bedürfiois  der  LebensfUrsorge  selbständige 
Bedeutung  als  Ursache  geschichtlicher  Massenbewegung  so- 

DafUr  spricht  manches  Positive  wie  Negative!  Positivi 
dass  Religionsbedürfhis  und  Ökonomisches  BedUrbis  in  i^ 


rmn-ii-.;Goog\c 


SkiEze  der  sozial-ökonomiBohon  OesohiohtmnSBSgaiig.  349 

Weltgeschichte  häufig  als  gegeEGiuanderspieleade,  nicht  als  pa- 
rallel wirkende  Kräfte  erscheinen.  Wir  finden  auf  frühester 
Stufe  über  alle  Welt  verstreut  die  sogenannte  „Wertvemichtung 
durch  den  Totenkult",  die  Grabmitgift  oder  Scheiteriiaufen- 
mitgift  der  Oestorbenen,  dul-ch  die  Ansammlung  von  „Kapital" 
auf  dieser  Stufe  unglaublich  aufgehalten  wird:  eine  Hand- 
lun^weise,  die  der  ökonomischen  Selbsterhaltung  prima  facie 
geradezu  entgegengesetzt  ist,  wenn  sie  natürlich  auch  aus 
der  LebensfUrsorge,  aus  der  Angst  vor  den  Geistern  erklärt 
werden  kann.  Wir  finden  ferner  überall  das  Wesen  der 
religitlsen  Büsser,  Eremiten,  Anacfaoreten,  Klöster,  das  mit 
seinem  Zölibat  dem  Triebe  der  Arterhaltung  zuwiderläuft. 
Und  schliesslich  finden  wir  Überall,  dass  nur  der  Missbrauch 
des  religiösen  Bedürfnisses  durch  Priesterschaften  oder 
priesterliche  Patriarchen  imstande  ist,  zu  erklären,  wie  aus 
der  praktischen  Anarchie  des  Jägerstammes  die  knechtische 
Unterwerfung  des  Ackerervolkes  unter  einen  tollen  Despotismus 
sii^  entwickeln  konnte,  die  die  unglaublichste  wirtschaftliche 
Ausbeutung  ohne  Murren  erträgt. 

Dies  als  Andeutung  der  positiven  Gründe  fUr  die  mög- 
liche Annahme,  dass  dem  religiösen  Bedürfnis  eine  selb- 
ständige Bedeutung  als  Ursache  für  geschichtliche  Bewegungen 
beizumessen  ist.  Ein  negativer  und  nicht  minder  wichtiger 
Orond  ist,  dass  bb  bis  jetzt  nicht  gelungen  ist,  eine  genügende 
Parallelität  zwischen  den  wirtschaftlichen  und  religiösen 
Stufen  aufzufinden,  wie  sie  für  die  wirtschaftliche  und  poli- 
tische Verfassung  zweifellos  existiert,  und  wie  sie  auch  hier 
nachweisbar  sein  müsste,  wenn  die  ausschliesslich  Okono- 
mistjsche  Auffassung  zu  Becht  bestände,  nach  der,  um  den 
Fachausdruck  zu  brauchen,  einem  bestimmten  wirtschaftlichen 
»Unterbau"  immer  ein  bestimmter  „ideologischer  Überbau" 
entsprechen  sollte. 

Hier  harren  also  noch  Probleme  ihrer  Lösung,  und  bis 
dahin  kann  man  nicht  mit  Sicherheit  in  Abrede  stellen,  dass 
etwa  in  den  Kreuzzügen  und  im  Araberstunn  das  religiös« 
Bedürfnis  als  selbständige  Ursache  geschichtlicher  Massen 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


350  FrftDi  Oppflnheimet: 

bewegung  mindeBtens  mitgewirkt  habe.  Mitgewirkt  insofern, 
als  es  einen  Teil  der  Kämpfer  wirklich  allein,  ohne  Wir 
Wirkung  der  ökonomistischen  Motive,  in  Bewegung  setzte, 
und  bei  anderen  die  Bewegimg  verstärkte. 

Dass  etwa  alle  Mitziehenden  dieser  grossen  Eampf- 
zeit«D  ausschliesslich  von  dem  religiösen  Bedtir&is  in  Be- 
wegung gesetzt  worden  wären,  ist  nämlich  nicht  einmal  fOr 
den  ersten  Kreuzzug  anzunehmen  —  in  den  späteren  flbe^ 
wog  das  „Fürsorge-BedUrlhis"  notorisch  alle  anderen  sehr 
bedeutend  — ,  wenn  auch  alle  von  dem  bewussten  Moüt 
religiöser  Begeisterung  getragen  zu  werden  glaubten.  Es 
war  diese  Begeisterung  gewiss  bei  vielen  jener  subjektive 
Reflex,  den  wir  kennen. 

Du  können  wir  mit  Sioheiheit  bob  einom  Teranok  iaolieTender  Be- 
traohtoDg  der  eiiiBohUgigen  hlBtorisohen  Thalsuhen  sohlieaBeu.  Niemils 
hat  sich  eine  religiäse  Hasaeabewegnng  kriegeiiBoher  Art  gegen  Asdan- 
KÜnbige  gerichtet,  ohne  dass  ilire  Q3tei  oder  die  Mensohen  selbst,  ils 
Sklaven,  den  Lohn  dea  Olanbenseifers  gebildet  bütten.  Ton  Bklaveiqigdeo 
abgesehen,  haben  siah  ferner  die  religiösen  HaiSBenbewegnnfeo  immer  gagm 
reichere  Tälkerschaften,  nie  gegen  trmere,  ergossen.  Das  g&t  fGi  den 
Aiaberstnrm  so  gnt  wie  für  die  Ereutiüge  nnd  (Üe  ConqnistE  von  Xeiitai 
nnd  Peru,  and  wie  für  die  Albigenaerkriege  nnd  den  dreiäsigjftbiigen  Kiieg. 
Wanun  hat  das  glanbenBeifrige  Spanien  wohl  gegen  die  stidtebewohneodsB, 
aokerbaoenden  Inka,  aber  nidit  gegen  die  nackten  Fatagomer  einen  Kreu- 
zQg  nntemomtsen?  Warum  hab«i  die  Qentsohrittet  iwar  Preoteen,  lithaosr 
und  Liren,  aber  nicht  die  wandernden,  armseligen  Lappen  mit  Heereema^ 
Eum  Cbristentam  geiwnngen? 

Anderereeita  hat  die  Qleichheit  des  fflanbens  das  Innere  Volk  niemsli 
gehindert,  das  reichere  weiter  eq  pltindem,  wenn  es  möglich  war.  Dift 
Beivsohotten  haben  sich  dnioh  ihre  Bekehrung  ebenso  wenig  von  ihiui 
Baouftgen  in  die  Tiefebene  abhalten  lassen,  wie  die  Normannen  tob  ihno 
Hratenftdkrten;  Wilhelm  der  Sroberer  war  kein  «jhlediterer  Katholik  sl* 
Harald!    und  ebenso  wenig  hat  jemals  ein  ohristliohas  Volk  nach  Unt«- 


r  Qegnei  aioh   mit  ihrer  Bekehrang  begnügt,  sondern  hat 
reohtung  nnd    ■"  ■    .       .     .     .  ,       -.^    .    .      ^. 

selbstreratlndlich  fortbestehen 


le  Entrechtung  nnd    ökonomische  Ansbeutong   der   BesiegteD  wie 


werinng 
politisohf 
"wer 

Aus  alledem  darf  man,  wie  ich  glaube,  schlieesen,  dass, 
wenn  dem  religiöseD  BedUrMs  als  Ursache  historisch^' 
Massenbewegung  Überhaupt  eine  selbständige  Bedeutung  zq- 
kommt,  dass  es  dann  fllr  sich  allein  nur  kurz  dauernde, 
wenig  folgenreiche  Bewegungen  auslesen  wird.  Wichtige 
MasBenbewegoi^^en  wird  es  wahrscheinlich  nur  im  ZusammeD- 
wirken  mit  dem  mächtigen  und  nachhaltigen  ökonomischen 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^le 


8)d»e  der  sozUl-ölonomiBolieD  OesohlohtsanfEusnng.  351 

Bedürfnis  verursachen,  nnd  zwar  aach  hier,  wie  mir  scheint, 
Torwiegead  negativ,  nnd  zwar  durch  Forträumtiug  von 
Motiven,  die  vorher  die  schrankenlose  Entfesselung  des 
kriegerischen  Erwerbstriehes  verhindert  hatten.  Wenn  die 
Kirche,  die  sonst  gegen  Christen  Fehde  und  Raub  verpönte, 
sie  in  den  Kreuzzfigen  ftlr  heilige  Pflicht  erklärte:  wenn 
Mohammed  seinen  gefallenen  Glaubensstreitem  den  unmittel- 
baren Eintritt  ins  Paradies  versprach,  wenn  Thomas  MOnzer 
seinen  Bauern  und  der  Mahdi  seinen  Derwischen  verkündete, 
die  (Gefallenen  würden  sofort  durch  götUiche  Gnade  wieder 
erweckt  werden,  um  fröhlich  und  gesund  weiter  zum  Siege 
zu  schreiten:  dann  musste  die  Massenbewegung  viel  stärker 
werden,  als  ohne  diese  Ausschaltung  der  stärksten  entgegen- 
stehenden Triebe,  Gteisterfiirclit  und  Todesfurcht. 

Aus  diesen  Betrachtungen  ist  man  berechtigt  zu 
schliessen,  dass  die  ökonomiBche  Betrachtung  imstande  sein 
wird,  alle  mächtigen  und  dauernden  Bewegungen  der  Masse 
mit  genügender  wissenschaftlicher  Genauigkeit  aus  dem  einen 
Massenbedürfois  der  Lebensfürsorge  zu  erklären.  Wenn  ich 
also  auch  nicht  mit  Sicherheit  in  Abrede  stellen  kann,  dass 
dem  religiösen  Bedürfnis  eine  selbständige  Bedeutung  bei- 
zumessen ist,  so  könnte  ich  mich  doch,  so  weit  die  Ursache 
der  geschichtlichen  Bewegung  in  Frage  steht,  mit  einer 
kleinen  reservatio  mentalis  mit  der  „ökonomistlBchen  Q&- 
schichtaauffassung"  einverstanden  erklären,  die  jene  selbst^ 
ständige  Bedeutung  entschieden  leugnet.  Ich  könnte  es  um 
so  mehr,  als  sehr  wahrscheinlich  ist,  dass  nur  das  Bedüräiis 
derLebensfUrsorge  eine  „immanente  psychologische  Kategorie" 
ist,  während  dasjenige  der  Religion  höchst  wahrscheinlich 
eine  „historische  Kategorie"  ist,  soweit  Beligion  verstanden 
wird  als  Furcht  vor  einer  übernatürlichen  Macht.  Als  solche 
ist  sie  augenscheinlich  auf  dem  Aassterbeetat  und  wird  ver- 
mutlich in  absehbarer  Zeit  gänzlich  aus  dem  Bewusstsein 
der  Kulturmenschfaeit  verschwinden.  Denn  je  mehr  das- 
Eansalbedür&is  durch  die  positive  Wissenschaft  be&iedigt 
wird,  um  so  weniger  wird  das  FürsorgebedUrfais  durch  di& 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


362  Franz  Oppenheimer: 

Sorge  um  die  Gunst  eines  übernatürlichen  Weeens  zu 
Handlungen  gedrängt.  So  verkümmem  beide  Wurzeln  der 
„Superstition"  (Dührikg)  gleichzeitig,  und  es  wird  kaum 
etwas  anderes  von  ihr  übrig  bleiben,  als  das  Sitteng^ek. 
der  reine  Ausdruck  des  Ib^UrsorgebedUrMsses  in  seiner 
sozialen,  altruistischen  Seite.  Wenn  diese  Prognose  richtig 
iai,  darf  man  mit  der  ökonomistischen  Auffassung  daB 
ökonomische  Bedürfnis  nicht  nur  als  die  weitaus  stärkste, 
sondern  sogar  als  die  einzige  immanente  Triebkraft  aller 
denkbaren  menschlichen  Geschichte  bezeichnen. 

Diese  Übereinstimmung  erreicht  aber  ihr  Ende,  sobald 
unsere  Betrachtung  den  njLchstan  Schritt  macht,  lämlich  bei 
der  Frage  nach  den  Zwischenzielen,  den  Mittein  der 
menschlichen  Massenhandlung. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


I. 
Besprecha&gen. 

Stoleonun  retenun  fragmenta,  eoUeglt  Johannes  ab  Ar- 
nim. Vol.  n.  Chrysippi  fragmenta  logica  et  physica. 
Lipsia«,  in  aedibus  B.  G.  Teubueri,  348  S. 

Gme  genaue,  mi^liohBi  votlet&ndige  Sanunlnng  der  FngmeDte  der 
lüm  Btoa  ist  ein  driugendeB  B«dtiifniB.  Fäi  Zano  tmd  KLUiTHn  ezistieit 
die  dnnihanB  anf  deutschen  Arbeiten,  beeooden  denen  von  Wicbbmcth  nnd 
WiLLHAnK  tnhende,  der  TenoUst&ndigung  noch  sehr  bedürftige  Samm- 
lung von  Peabsoh.  London  1U91,  ror  Csatiopp  nur  die  gfimliah  vendtate 
Ton  BieDR  in  den  Annalee  Aoademioe  LoTanieosis,  1820 — 1S31.  3.  vm 
Abbu  hat  non  untemomman,  die  Baste  der  alten  Stoa  vollat&ndig  msaininea- 
mtragen.  Der  vorli^ende  Eweite  Band,  der  Yor  dem  eraten  ersobeint, 
enthält  die  znr  Physik  und  zur  Lo^  Chrysipp's  gehörigen  Fragmente,  der 
dritte,  der  schon  nnter  der  Fresse  ist  wird  die  aof  die  Moral  DeziigUohen 
Fragmente  Chtysipp'e  and  seiner  Nachfolger  bis  Pauaetins  insammenfaBBea. 
Der  erste  Band  soll  Ztso  und  ELkanthss  ond  ihre  SchQler  enthalten.  Wie 
so^fUtig  der  vorli^ende  Band  gearbeitet  ist,  geht  daraos  hervor,  dasa 
BOOT  xa  den  Bäohem  Cbiysipp's  über  die  Voraehneg  und  Über  das 
SoUc^sal,  deren  Sporen  Qebcxb  (ChrTSippea,  in  den  Jahrbb.  für  klass. 
Phibl.  14.  Sopplementband,  I8S6)  zusammengestellt  hat,  Abnoi  noch  neue 
ütetlen  gefunden  bat  So  sind  die  Fragmente  916  nnd  1174  (bei  Abhin) 
TOD  Oebch  noch  nicht  angefahrt  Dem  sehr  Terdienstlichan  unternehmen 
ABtnu'e  ist  der  beste  Fortgang  ea  wfinsohen. 

Leipzig.  Paul  Barie. 

Th.  ChtmpeTz,  Griechische  Denker,  eine  Geschichte  der 
anöken  Philosoptiie.  2.  Band.  2.  durchgesehene  Auflage, 
Leipzig,  Veit  &  Co.     Vin  u.  61ö  S. 

Wer  den  ersten  Band  der  „Orieohisohen  Denker*  von  Th.  Goxpbbe 
Rannte,  hat  mit  lebhaftem  Verlangen  den  zweiten  erwartet  Lebendige  aof 
■nimeT  Kenntnis  bemhende  Darstetlnng  und  die  beetftndige  Tergleiohong 
der  antiken  Oedankeng&n^  mit  den  modernen  geben  dem  ersten  Bande 
^en  grosaen  Reii  nnd  einen  besonderen  Wert    Dieselben  eigentnmlioheD 

^M^jdnHbilR  C  wlMUtbaU,  FUIm.  n.  8oeloL    XZVIL  i.  2S 

n,g,t,7l.dM,COOglC 


354  Panl  Barth: 

Vorzüge  zelohnsn  den  zweiten  Band  ans.  Er  behandelt  BoknUeB  and  die 
sogenannten  einaeitigeD  SokratikeT,  d.  h.  die  Eyniker,  die  Hegariker  und  di« 
Eyieoaikei,  zuletzt  das  ninfassende,  keineswegB  einseitige  Hrstem  Platw. 

Q.  beginnt  mit  einer  sittengescbichtlicben  Schildening  des  Zeitaltert, 
von  dem  er  handeln  will.  Die  allni&hliche  Vereittlichnog  der  hellenischen 
Beligion,  der  Peesimismua  des  Eoripides,  der  homaniBierende  Einfluss  der 
Aofklärnng,  die  torchtbaie  Hftrte  nnd  Gransamkeit  der  Erlege  und  der  Partei- 
kämpfe, dies  a]leH  tritt  in  konkreten  Zügen  vor  onsere  Angan.  —  Für  die 
Darstellnng  dea  Sokrates  befolgt  G.  die  Methode,  Ton  Xenophons  Berichten 
allee,  was  der  Weltansohannag  AenophooB  eigentünüich  angehört,  abnuiehen 
nnd  ihn  durch  die  Bohriften  der  ersten  Periode  Flatoe  sowie  dnroli  Aristo- 
teles zu  ergänzen.  Sehr  ansohanliob  wird  uns  Bobratea'  Leben  geschildert, 
der  berühmte  Prozees  gegen  die  10  Feldherm,  in  dem  er  so  fest  auf 
Seiten  der  Gerechtigkeit  stand,  and  sein  eigener  werden  in  allen  Phasen 
juristisoh  and  geschichtlich  beleuchtet.  Den  Anstoss  zum  Philosophierm 
fand  Sokrates  nach  G.  in  der  Eikeoutnis,  dass  „die  Menschen  in  den  unter- 
geordneten Zweigen  der  Lebensführong  klare  Einaiaht  in  dos  Terbältnia 
von  Zwecken  und  Mitteln  teils  besitzen,  teils  nnablässig  erstreben,  während 
bei  ihren  obersten  Anliegen,  bei  all  dem,  wovon  ihr  HeU  nnd  Unheil  im 
höchsten  Masse  bedingt  ist,  nichts  Aehnliohes  statthat.*  Der  Kern  des 
Sokiatismas  liegt  nach  0.  in  den  drei  Worten:  „Niemand  fehlt  freiwillig.* 
Der  Intellektualismos  desselben,  die  These  von  der  Lehrbarkeit  der  TngNvl 
sei  deshalb  tächter  dorohführbar  gewesen,  weil  der  damaligen  Denkart  eine 
strenge  ünteraoheidung  zwischen  Individoal-  nnd  Sozial-Hoial  gefehlt  habe 
(S.  60).  Auch  Xeuophona  Weltansohanong  wird  aosföhrlich  bwjudelt  und 
viel  ünsokratischee  in  den  Memorabilien  aufgewiesen. 

Die  Geeohiohte  der  Eyniker,  die  nnn  folgt,  wird  bis  auf  OenooiM) 
von  Gadara  herab  verfolgt.  Die  Ifegariker  werden  in  ihrer  Verwandtsduß 
mit  den  Elaaten  genan  betrachtet,  auch  dnreh  Vergleichung  mit  EaaaiET's 
Realismus  in  neues  licht  gerückt  Die  ansfühiüohe  AnflÖsnng  ihrer 
FangsohlüBse  ist  eine  seht  dankenswerte  logische  Absohweifnng. 

Der  so  veisdiiedenartige  Gesichte  wie  Ariatipp  and  Hegesiu 
nK»#äfan)f  darbietenden  kyrenksohen  Schnle  ist  ein  langer  Abschnitt  g^ 
widmet  Ihre  Erkenntnistheorie  wird  wohl  etwas  nbereohätzt,  ihre  um  Tel 
wie  bei  Annikeria,  trotz  dem  Eedonismos  die  Belbstaufopfening  empfehlende 
Moral  sehr  gut  entwiokelt 

Id  der  .Diatonischen  Frage*  d.  h.  in  der  Frage  der  Echtheit  Tiai 
der  Folge  der  Swriften  Piatos  hILlt  sich  Gouprkz  frei  von  einseitig«r  Ten- 
denz. Er  benutzt  mit  grosser  Sorgfalt  die  neueren  nnd  neaesten  FoischungeB 
nnd  verwertet  ihre  Ergebnisse,  die  um  so  sieherer  sind,  da  aie  von  vo- 
sohiedenen  Ausgangspaiikten  aus,  von  einander  unabhängig,  nntemtunneii 
wurden.  Bie  gehen  im  Gegensätze  za  Mbeteo  Arbeiten,  die  innere  Kri- 
terien anwandten,  von  spraohliohen  Eigentümlichkeiten  aus.  Zuerst  änl 
Lewig  Camfheix,  dess  der  Tirnftos,  der  Kridas  nnd  die  Gesetze  laianuneu 
fast  1500  Worte  enthalten,  die  in  den  übrigen  Dialr^en  fehlen,  mit  i^°^' 
nähme  des  Sophiates,  des  Politious  nnd  des  Philebns,  die  aber  dadurch  i" 
ihrer  Echtheit  gesichert  und  zeitlich  den  oben  genannten  Dialogen  '"''^^^ 
rüokt  «erden.  Aber  auch  den  allen  Dialogen  gemeinsamen  Spraoto^ 
venraudete  CiJiFBELi.  zur  nntenochung,  in  dem  er  besondera  die  in  ii? 
BpKteren  Dialogen  hftofiget  als  in  den  früheren  vorkommenden  ^o*.." 
<u«sen  anfanohte  and  ihr  Vorkommen  in  verhältnismllKig  steigeaden  -^"J^l!^ 
von  den  Werken  der  Jngend  an  bis  zn  denen  de«  Altera  bestiminta.  0^ 
berSoksichtigte  er  aueh  die  Art  des  StoSes  Jedes  Dialogs,  t.  B.,  diM  <"* 

rmn-ii-.-i  Google 


Gompertz,  Grieohisohe  Danker.  355 

Parmenides  infolge  der  Abstraktheit  des  Ge^nstandes  an  Worten  übertiatipt; 
also  mch  an  den  seltenen  Worten  anf  jeden  Fall  arm  sein  rnnsa,  eeine 
ohronologiBolie  Stellang  alao  ans  Heinem  WortBobatae  weniger  sicher  zn 
folgern  ist 

Ohne  Eenntuia  Campbxli.'b  oatersnohte  dann  bekanntlich  DiMMmHom 
die  rhatoriaohen  Frage-  nnd  üebergangsformelo  und  andere  Partikeln,  t- 
Abhim,  der  Dtrhibibssb'b  Brgebnisee  kannte,  die  Vormein  der  Zutinuunng 
und  der  Bqahnng.  Alle  drei  Foraoher  —  nebst  anderen,  wie  Sosinz,  Sittkb, 
SnBBcx  —  kamen  im  weeenUidien  zn  dem  fibereinstimmenden  Sohlnsse, 
daas  die  früheaten  Dialoge  Flaio'b  die  .Sokratisahen''  sind,  in  denen  die 
Ideenlehre  noch  niobt  votkonimt,  deren  Hittetponkt  der  Protagoras  bildet 
Eb  folgen  dann  Qoigias,  Heno,  Symposion,  Phaedon.  Den  Eöheponkt  er- 
reicht Plato  im  FhaedroB  oud  in  der  Repoblik.  Omen  sohliessen  sich  an 
Pannenidee,  Theaetet,  Bophietea;  endlich  Politioos,  ^maeos,  Eritias,  Philebos 
and  Oesetze  bilden  den  Abeohlnn.  Ee  weicht  diese  Beibenfol^  —  and 
anoh  diee  dient  ihr  zar  Stütze  —  nor  teilweise,  nimlioh  in  Beiug  anf 
Theaetet,  Sophietes,  Politioos,  Pannenides,  ab  von  derjenigen,  die  K.  F. 
Herhank  als  den  geiatigen  SntwiokelangBStnfen  Platoe  entsprechend  annahm. 
Anoh  die  amiFängliohen  TJntersnohiuigen  LmoBU.wsEi'B  fähren  diesen  zu 
einer  Umliehen  Reihenfolge,  nur  dose  er  Oorgiaa  und  Ueno  nooh  zni'  sokra- 
t^chen  Periode  rechnet  Nor  wenig  abweichend  isi:  Blass  anf  Grund  seiner 
Beobachtong  des  HintnB.    Er  setzt  den  Theaetet  nnd  die  Republik  früher. 

0.  Bchliesst  sich  im  allgemeinen  der  doroh  die  sprachliche  Untere 
Bochnng  erschloesenen  Reihenfol^  an,  soweit  sie  nicht  der  ans  iem  Inhalt 
eiaohloesenen  inneren  Wahrscheinlichkeit  widerspricht.  Damm  setzt  er  z.  B. 
den  Pliaedras  nicht,  wie  Schleiermacher,  üsensr,  Inunisch,  in  die  Sokratisohe 
Zeil,  den  Kratylns  nmnittelbar  nach  dem  Theaetet.  In  der  Frage  der  Echt- 
heit ist  er  dorchauB  konaervatiT.  Die  nau  folgende  Darstellung  and 
Charakterisierang  der  einzelnen  Dialoge  ist  meisterhaft  Sehr  scharfsinnig 
wird  z.  B.  die  politiBofae  Tendenz  des  Qorgiaa  anfgewiesen,  seine  psycho- 
logische Feinheit  nnd  seine  logische  ünToUkommenheit  beleachtet  Ganz 
besondere  Aufmerksamkeit  widmet  Gouptsz  mit  Recht  den  .Gesetzen'. 
Sie  zeigen  ans  einen  anderen  Plato  als  fast  alle  anderen  Dialoge,  Dir 
Pythagoreismns  zwar  ist  ihnen  mit  dem  IKmfias  gemeinsam,  aber  ihr  strenger 
Dogmatiamas,  ihre  andaldsame  Orthodoxie  nnd  die  Xiehre  von  der  bdsen 
Weltseele,  die  freilich  nni  einmal  anklingt,  sind  Erzeugnisse  einer  gewissen 
Terknöchemng  nnd  eines  gewissen  PesaJinismas,  dem  selbst  Platoe  4>olIi- 
nischer  Qeiet  im  Alter  erlegen  sein  mnss. 

Eän  Torblick  anf  die  Akademie  nnd  anf  AngnstinnB,  sowie  eine  Anf- 
ztthlong  deijmigen  nnmittelbaren  Schüler  Piatos,  die  ab  Staatsminnei  uch 
ansgezeichnet  hid»en,  und  ein  Rückblick  sof  die  frühere  helleniaobe  Natur- 
philosophie BtMessen  den  inhaltreichen  Band. 

Dieser  zweite  Bond  des  verdienstvollen  Werkes  lisst  nnr  einen 
Wonach  zurück:  Höge  es  dem  verdienten  greisen  Ter&user  veigöunt  b«ii, 
sein  Werk  sn  !Bnde  za  führen! 

Leipzig.  Faul  BABra. 

A.  Eirseluiuuui,  Die  Dimensionen  des  Baumes.  Eine 
kritiBche  Studie.  Leipzig,  Engelmann,  1902,  112  S. 
(Sonderausgabe  aus  Wundt-Festsclirift,  Phil.  Stud.  Bd.  XIX). 

„Nicht  weS  läe  Hypothesen,  Glaabenssaohe  sind,  verwerfen  wir  die 
metageometrisohen  Theorien,  sondern  wul  sie  anf  widerspmohsvollen  Bohein- 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


366     '•  Bobulti:  A.  EaohnMiiii,  Di«  DimeDmoneo  des  Bmnea. 

b^nffen  imd  nundo-üiitanoliMdDngAa  anfgabaat  Bad  .  .  .  IHe  hoatige 
Mwtenatik  IKnft  Q«falir,  aioh  in  eine  dem  geaniidan  HenaoheDToatandc 
«itfrnndete  analftiBidi-EonnaliBtiaohe  S^rmbolik  m  Teriisren.  Es  ist  dahn 
«rwfinaobt,  dfiSB  den  allni  hock  OiegüideD  Spekalationeii  die  wiohMrna 
ilögel  «fai  wBni^  B<4uiuli«ii,  damit  Bte  aicli  aiaht  sa  wait  entfanen  tdq 
dem  A.tiiging8gabiet  allst  ma&ematiBoheB  Foraahimg,  van  dem  OaUat,  dam 
•UainNobreudJÜikMtiiuwwoluit:  dar  Oeometriedea  gegebenen  Baames.' 
—  So  die  Ißieee  des  Tf.  (S.  106),  mit  der  det  Beienaent  Töllig  äberobi' 
atimmt  Anob  die  BeweisfOhriuig  im  einselDaD  scheint  mix  sohatfsiiuiig 
und  grftndlioti;  wollte  loh  genaooi  auf  die  entsoheidenden  Punkte  «ngehen, 
so  vürde  die  Anieige  cor  Abbandliuig  anwachsen.  Ebenso,  wann  idi  nüt 
gewissen  eAenntnisuieoTetisohen  Eenafttzen  des  Tt,  die  mii  mindei  plsn- 
sibel  als  der  Hanptinbalt  der  Schrift  TOrkommen,  mich  polemiaoh  aassin- 
andersetsen  wollte.  —  Dass  über  ein  Kit  hondert  Jahren  immer  aals  ame 
beredetes  Thema  sich  allznTlel  anbedingt  Nenes  fiberbaapt  ntobt  sageft 
liest,  ist  ja  von  vomher^  klar;  doch  findet  aioh  immerfain  dies  und  jenw 
Sigenartige:  originell  ist  x.  B.  die  Weise,  wie  das  beieita  von  Kisr  u- 
geetannte  HandeohnbpTobleia  behandelt  wird  (5.  39ff.);  K.  wendet  es 
ntnlioh  ins  PhysikaUsche:  wie  Ulsst  sieb  die  üntatehang  enantiomoiphet 
Kristalle  erkliren?  Da  sie  einander  in  allen  Teilen  sfmmeOrisoh  etttefmuen, 
eo  weiss  man  nicht  lecht,  wodnroh  die  Unaohen  mr  BeehfBdi^iuw  hiei, 
IDT  Unksdishung  dort  si<di  von  einander  nntsraoheid«)  aollaa;  denn  die 
Begriffe  Links  and  Rechts  traten  ein«n  .nndeflnierbaien  Chaiskter*  (8.  36) 
an  Bjoh.  und  doch  otilaete  ea  Untersohiede  geben,  wenn  das  TTrsat^^^tseti 
nioht  eine  Ltioke  haben  soUte.  .Hier  stehen  wir  Yor  dir 
Alternative,  entweder  zom  Wonder  oder  zu  vierten  Dimension  nnsete 
Znflnoht  nehmen  an  müssen,  sofern  wir  nioht  ...  die  eioheitlühe  ksusile 
Ordnung  preisgeben  wollen"  (S-  39).  Steht  es  damit  wirklich  so  sehlimm? 
Dass  em  Sjstam  nach  reohta  und  ein  aoderee  nach  links  rotiert,  daßi 
sollte  man  deoh  nosweidentige  Begrfindnngen  geben  können -.  man  bat  die 
Kassenmittdpnnkte  beider  zn  einem  Koordinatensystem  so  in  Betiehang  in 
setiea,  dass  die  wirkende  Kraft  hier  in  n^tiver,  drat  in  positiver  Blohtimg 
angreift  Und  ans  der  Botation  mnss  aioh  ein  kompUnerteret  Fall,  du 
Swnmbeubewegiing  ond  das  weitere,  aualytiBoh  ableite  lassen.  W«m 
ich  einen  Draht  im  Sinn  des  Uhrzeigers  anfwlakele  nnd  einen  iwat»  to 
entgegVDgesetzten:  so  ist  eben  die  omgekehrt  gwichtete  Bewegung  tneiDU 
Arme,  mathematisch  doroh  das  entgegangoaetete  Toneiehen  aosgedräokt, 
die  ansreiohende  Ursache  für  die  Entstdiuig  der  symmatrisobea  Sduanbea 
Aber  die  reohtsgedrehte  kann  in  «ne  Uuagediehte  aiemala  aber^efnbit 
werden;  wo  bleibt  da  der  Znaonuneiihaiig  dar  WMi  Unaa  man  dia  ent- 
|M;engeBe>lzt8n  ür-  und  Bwigkeltswirbel  annehmen,  nm  unser  doppslsaitiiw 
PhSnomeusnerklärenT  —  Doch  wamm?  Wenn  idi  jenen  reehtsgewrudeD« 
Draht  wieder  stracke,  kann  ich  ihn  hernach  andi  links  winden.  Wwn 
ich  eine  von  zwd  enantiomorphen  Bobstanseii  s,  B.  verdampfen  msolu 
nnd  dann  was  weiss  ich  welchen  Binflüasea  aoBsetie,  so  Httre  ea  a&  sie^ 
ganz  gat  denkbar,  dass  ioh  sie  in  ihre  Oegenanbetanz  verwandeln  kSnnte: 
ob  ea  «oh  empirisoh  thnii  l&sst,  müssen  die  Chemiker  erforschen.  Allu 
ist,  wie  billig,  bäm  Kriatsll  verwickelter  ds  bd  dM  Drshlapii^i  >^ 
irntionaler  braucht  es  dämm  nicht  zu  sein. 

Wenn  ich  glaube,  dass  der  Tf.  in  diesem  ond  anderen  Punkten  int, 
so  empfinde  ioh  doch  überall  eine  frische,  echt  philaso[Aisohs  Itt  lU 
Probleme  aniapaoken.  Aach  die  Spiaohe  des  Btlofaleins  mntet  nrapranglioii 
an;  man  liest  ee  ohne  Ijugeweile. 

Berlin.  Jvurm  ScEDi.n. 


iM,Coo<^lc 


Angnflt  Döngea:  Brnst  Cuarer,  LeilmiE'  System  eto.        357 

Cnwlm',  Ernst,  Lbibhiz'  System  in  seinen  wissen- 
scliaftlichen  Gruadlagen.  Marburg,  N.  G.  Elwert, 
1902.    XIV,  549  S. 

Wemiger  in  den  letzten  abgeeohlonenen  IRxienuuna  als  Tialmehr  in 
den  QnmdlagKi  und  is  seinei  Entwiokeliing  soll  jenes  [^osophisohe  Systam, 
das  den  Btffnfl  des  Werdens  und  der  Eatwickelonc  so  besondere  innig  in 
aiali  udgenommen  hat,  hier  dargeetellt  werden.  Dabei  wird  das  msthema- 
tJBohe  MotiT  der  STSträtbildong  an  die  erste  Stelle  gerockt  Indem  IxissJZ 
die  ÖledobsetzoDg  von  Logik  ond  Mathematik  entrebt,  will  er  die  Logik 
«ns  einer  'Wiss^osohaft  der  Denkformen  vor  Wissensobaft  gegenstXndliobBT 
Erkenntnis  ambildea.  Die  ijuil;8iB  der  läge  nnterwirft  dei  It^  ein  Qe- 
Uet,  ffir  das  dem  ersten  Anscheine  nach  die  Mittel  dee  reinen  Denkens 
nnzngftnglioh  sind.  (S.  168).  Die  enge  Benehung  im  MaÜtemBÜk  tiitt 
anoh  in  der  Funmg  dei  KnttbtgäB»  herrOT,  .der  amnet  Definition  nacih 
nicbts  anderes  ist  ala  eine  Ansfährnng  nnd  bestimmte  OestaUung  des 
Difterentialbegriiliee."  Der  Dnaliamna  von  Kraft  mid  Stidl  Ist  in  der  Qnheit 
des  Grondpriiudps  der  phyaikalisohen  EcMmng  ftberwnnden.  (B.  S41).  IKa 
Monaden  bedeuten  niaht  <Ue  an  awii  bestehenden  ürasohen  der  BnidieinnnvBn, 
«ondem  ,fiepr9sentationen  ond  Fiinöpien  dei  Phinomene*  (8.  S80J.  Di» 
gesamte  'Wirklichkeit  atetlt  äoh  als  em  Inbagrül  von  ISnulsnlgekten  dar, 
die  nach  besonderen  OesMzen  beeondere  Reihen  bewusiter  Inhalte  ans  sich 
entwickeln.  In  der  Ttennonff  von  Seele  ond  Körper  wird  ein  ursprünglich 
nnd  begrifflich  einfaches  TerfaAltnis  dorch  die  Beflezion  in  eine  Verschieden- 
heit von  Momenten  serlegt  (B.  408).  Schliesslich  bnngt  Vf.  die  Omndidee 
f&r  die  Anordnong  des  zu  bewAltigenden  Stoffes  in  foliendeu  Worten  mm 
Aoedmek:  ,E^r  das  sachliche  TerstSndnis  der  LnsNizWien  Lehre  war  es 
ecforderliuh,  den  B^riS  des  „E^nfaehen"  znnlohst  in  seinen  Leistimgen  für 
die  wissensohaftlicheD  EinEelgebiete  zn  verfolgeo.  So  ei^b  sicJi  der  not- 
wendige Fortschritt  von  der  Mathematik  zor  Dynamik,  von  der  Dynamik 
ZOT  Gmndlegnng  der  Lehre  vom  Bewnssteein,  in  der  wiederum  ein  all- 
gemdnei  B^iff  des  loh  von  seiner  Ansfühmog  im  Begriff  des  Individaams 
zu  Bcheidan  war*.  (S.  630).  Aber  niclut  nur  die  Wurzel  des  SjBtems 
SDcht  Vf.  Uossznlegen,  sondern  anoh  seine  grandlegende  Bedentnög  fär 
sjAtere  und  selbst  modernste  Systeme  nnd  AnschannDgea  zu  beweisen. 
Den  erkenntniskritisahen  Standpunkt  hat  Lzibniz  in  vielfacher  Einsicht,  vor 
allem  aber  dnreh  seine  idealistische  Aoffassnng  von  Raun  nnd  Zeit  vor- 
berütet  oder  geradecn  vorweggenommen,  .wenn  er  anoh  die  Einheit  nnd 
aoBScUieasende  ISnsohiftnknng  der  transzendentalen  FragesleUimg  nirgends 
erreiidtte*.  Das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft  stützt  ääi  aof  Qe- 
danken,  die  bereitB  von  Tjxamz  entwickelt  sind  (B.  311),  in  der  Oebertra^g 
der  ContinnitStslehre  aof  die  Ordnongen  der  Xatorwesen  wird  der  Evolntion»- 
theoris  vorgearbeiteL    (S.  421). 

Eine  ansffihrliohe  Einleitung  zn  der  eigentliohen  Abhandlung  b^ 
soh^fligt  sich  mit  dem  System  DtscAsice',  ein  geeohichtüoher  üeberbli^ 
'über  die  Entstehung  dee  Lsmmz'solien  Systems  und  ein  kritisober  HaditiBg 
beeohliessen  das  Werk. 

Hom  bei  Detmold.  Auodst  DOnais. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


n. 
Philosophische  ZeitschrUteiL 

AtcUt  ttr  Philosophie,  L  Abteilnng  (Berlin,  Reimer). 

B4.  1«,  H«ft  X  (N.  F.  Bd.  »,  Heft  t). 

F.  Klntalan,  LaibniHU  BulahDiinii  nr  SehoIuUk. 

0.  Bkanieh,  DI*  SehUderoBc  d«r  DnMrvdt  In  FUtoni  Phkidon. 

A.  TbomiaD,  Cahar  dia  Bnurloklong  dar  atUaahan  Thaoil«  Bnekaa. 

K  T.  Altar,  usbar  AnQt>ba  and  Uatboda  In  den  BtwtlHu  d*r  Analoailtn  dn  b- 

tibixas  In  Kftuti  Kritik  dar  i«hiaii  Tamantt. 
J.  Lindiar,  Tha  atUokl  phUmaphy  ot  Harau  Auralini.  —  Jahraabariakt. 

Bd.  16,  Heft  S  (N.  F.  Bd.  9,  Heft  S). 

P.  Tannary,  Un  not  inr  DMoartaa. 

r.  Rlntalan,  Lalbninna  Baiiahnnssn  mr  Soholaitlk  CSehlnM). 

E.  T.  Aitai,  Uebar  Aatgaba  nnd  Stathoda  In  dan  Bawalaan  iv  AiwloslaD  im  B^ 
ffttarnns  In  Santa  Kritik  dar  raloan  Tamonft  (Sokliaa). 

S.  Uilband,  Artitota  et  Iw  lUthimatlqBM. 

J.  Llndiay,  Tha  Plaoa  and  wortk  ol  Oriantal  PhUeaopk;.  —  Jfthtaabatlaht. 

Bd.  1«,  Heft  4  [N.  F.  Bd.  9,  Heft  1). 
W.    Ualjar,    SiilnoiM     damoki«tlMk«    egabmong     aud    a«ln    T*rhll(nii    nm 

OhrilMntiun. 
Br.  Banoh,  JfalT*  nnd  .SantlmantallMh*  —  „Slaaaliob'  und  ^omaatiaob*.  (Um 

U«(Qrti(di-kriUMhi  Panllsla). 

H.  Branar,  Sanaoaa  Analoktan  Ton  der  Vai 

CL  PU(,  La  utBraUi  m«  AriitottUslan.  -  Jalwäät 

KutetntUen  (Berlin,  Baather  A  Reiohftrdt). 

Bd.  8,  Heft  1. 
F-  Standlngar,  Oobana  Logik  dar  ralnan  Erkannbili  and  dl«  Logik  d«l  Vak 
nahniiuiE. 

F.  Tbllly,  Kant  and  TelaDloglDal  SHiIaa. 

7l.  Hanau,   Santa  Platflnliinni    und   Tkaiamu,    dargaatallt    im  OaganMta  ■ 


[  (London,  Eclinbiu^li,  Oxford,  Williama  uid  Norgat«). 
Hew-Serln,  Kr.  M. 

ha  Daflnltlon  «_      _ 

it  Work  on  tka  Pbilowpky  at  Lalbnli. 


iM,Coo<^lc 


nilloflophiadie  ZeiteohiiftaD. 


B.  Boakuqnat,  Hädosirai  kBong  IdeklljU. 


W.  Ho.  Doacklli  n«  PhyiioloslMd  Fmaton  ot  tha  Attaitlan-Fro4i«u  (11)- 

"  * ■    "-'— Jim  kBone  IdeBllHa. 

,  The  Ordsr  of  tha  Hecallui   CkMgoriM    1d  Um   H«|«U*a 

F.~Ö.''8rBVhIII*r,  Ob  PraHrring  ApPMmneaa. 
H.  Haa  0»tl,  SynboUe  ttmvm&g  (V). 

J.  B.  Kalihaad,  Tha  Problam  ot  Oondnet  -  DlMvarian.  -  Otlrtiial  NotlOM.  - 
Kaw  Boaka.  —  PhUoMphlisI  FarlTdiaaU. 

ZettMhiitt  flr  Flilloiioplile  nndplillosopUsclie  Kritik  (Leipzig,  Eaacke). 

Bd.  US,  Heft  1. 
0.  Sehmaldar,  Dia  lOhSptailMha  Knft  dw  Klndai  In  dv  GMtaltns  aaiiw  B«- 

wuttMiDMtuiioda  bla  inn  Bagian  daa  Bohnlnnlairiohti.    (Sehlua.) 
L.  W.  Starn,  Dar  iwilta  HanpUati  dar  EDarntik  nnd  daa  LabeaipTaUain-    (Btu* 

aatinhÜMaphliaha  üntannobuiK.]    (SahlDui) 
J.  Tolhalt,  BelMc«  lu  Analna  dMBawiutlaalM.    (SohloM.) 
B.  Wfthle,  Balbiga  air  niaoila  dar  Intaipratatlon  phUo*«phlHhar  WeAe- 
H.  Iiiarlla,  Blaa  Baaa  ,Len>c  dat  Batunaroblena*. 
■.  Kialar,  RdacomaDa  ra  ahuz  phllMophUaksa  Payaholocla. 
B.  Wihaa.ZwFaalataUuig  daaB««iUha  darWahrbalt.  —  Baaenalonan.  —  HMlaia. 

—  BariehUsvag.  —  SalbälaBaalEeB.  —  Kan  eliisagsBEana  SohiUtan.  —  Au 
ZtltMhilftaa. 

N.  12S,  Heft  i. 
It.  IiaarllB,  BIna  nana  .LteimR  daa  Banmproblanii*  (Boblua). 
B.  KoiiBth,  Elnlsa  BameAnDgaa  so  HaaAali  Waltr&taala. 
tr.  B.  B.  Aar«.  Zar  Baativmai«  daa  TarhUtniMaa  airtiohtii  EAanatnlrtliaaila 

■ad  Parohalogie. 
W.  *,  Tiaklaah,  Dm  OnuidgeaaU  dat  Letwia. 
W.  FlekI«T,  nnter  walohan  phUoaaphUehan  VoiaoMatssBgaB  hat  alah  bei  Hegal 

dl«  WertaehlUant  dM  Blaatea  aotwlekelt  nad  wie  iat  diaae  n  bsniieflaB) 

E.  Belahal,  DantaUnag  and  Kritik  tod  J.  St  Mllli  Thaori«  dar  IndnktlTea  Me- 
thode. —  BetauloBeii-  —  S«lb«uuelg«u.  —  NoItien>  —  Nen  alBgacaagaa« 
aahriftaK.  -  Ana  Zaltaahrittan. 

Bene  PUlosopUqne  (Pari«,  Alaou). 
2S.  Anii^e,  Ko.  S. 

F.  le  Daateo,  laatlaot  at  aerrltada. 

Canteeor.  La  phüoaapble  noaveDe  at  la  via  de  l'aaprit. 

L-  Winlarakl,  Le  prinalpe   dn  Boladro  effort  oomme  baM  da  la  Boleaoe  aooUla 

(LAitlele). 
A.  Sodfernais,  A  prapoa   d'ona  BhUoaephle  'de  la  aolldaritA.   —  Analyaaa  et 

aoiVtaa  readua.  —  Bene  daa  pModlqn««  Miaogon.  —  Lima  aoBToanx. 

SS.  Annfe,  No.  1. 

0.  Boa,  OoatribnUen  «  l'Made  dei  aentlmaala  latallaetatli. 

L.  TlaUrakl,  La  prindpa  da  moladta  eV6rt  oomme  baaa  da  la  aoleius«  MWiala. 

(Balte  at  la). 
T.  le  Danteo,  IniUaot  et  Barrltada.    fflalta  et  fln.) 
P.  Roaaaaan,  La  mtmolra  dat  rtre«  daoa  le  rtre.  —  Analyaaa  at  somptet  rondu. 

—  BaTV«  dat  pCriodliinaB  Uraagan.  —  LlYraa  nonvaaBX. 

28.  Ann^,  Ko.  6. 

1.  Darhhalm  et  B.  Faaeonnat,  Soolali^e  et  adaaBca  aoolalaB. 
Dnpiat,  La  atgätlon;  Mada  da  pvobologl«  pathologlqll«. 
" -'    "  La  volODtA  daoa  la  riTO. 

daa  IdAaa  d'aprM  nn  llTra  rteant.  —  Aaalnaa  et  oomptaa 
—    —  Baraa  daa  ptricMllqnat  Atnngera, 

28.  Annde,  Ho.  <t. 
L  Lamdry,  L'lmltattoo  daa*  laa  beaos-arta. 
i-  SfhiBB,  BiqalaM  d'aoa  phUiMophla  dat  eoDToationi  aoolalaa. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Phikwi^Uaeh«  ZeitetbiiftoB. 


S8.  Ann««,  No.  7. 
U.  KaazloB,  Lm  Uimmta  «t  rsrotDÜaa  d»  U  «onl»  O-  Aiüoto). 
Dt.  P.  BoKUlar,  Le  ■■>■  du  ratonr. 
O.  Pftlknta,  Um  Mol«  p«d>c«llq>e;  I/MaoatlralnM. 

P.  RsgDkid,  Ijb  mytliahi^  k-t-all«  H4  u  Neil  d*  t'iaprit  kiUMtat  —  AnljMi 
•t  MMptM  niidni.  —  B«Ta«  im  pfaMlOw  tb«w«B.  —  Owmiwfc"«*  - 


-  LIttm  bobtmu. 
Tke  ndlosophlcKl  Kavlew  (New-Tork  and  London,  The  MAcmilltui  Oon^.), 

Vol.  TU,  TSo.  t. 
A.  T.  Omond,  ntUoflopliT  uid  itt  OonaMimu. 
a.  T-  Ladd.  PMln«B<ak  to  h  Annunnt  ter  the  Bal^c  «t  Qod. 
»  ^  — -1,  Battondkim  tBHodwn  BtUu. 


Toi.  TU,  Ko.  3. 
J.  B.  Angall.Th«  a«UtlMi*  of  atnstinl  ud  ronstlOMl Piyaholsgr  taFU)w^V> 
B.  B.  Ho.  SilTary,  AltrBlm  In  Hum'i  TnMlM. 
H.  Baath  B«wd«n,  Tb*  VanotUo«!  TtaMiy  vi  PantUallan. 
Barltwi  of  Booki.  —  SnnuaulM  of  AttlelM.  —  NoUmi  tt  Maw-Bw^.  —  Bot«, 

ToL  TU,  So.  i. 

ti.  }.  B.  WoodbrIdE«,  Tka  Fi«U«H  «I  HMKpbjBiai. 
J.  H.  HTaloB,  FToManu  ttf  adwoa  and  ruütmnhj. 
Fi.  Thllly,  Tlw  Ttamy  «f  ladMttoD. 

A.  fiahrluti  Tka  BauimiIo»  o(  BnotiMW  !■  Ktule. 

Bvrtsm  of  K^.  —  Bwiuuriw  oTArtklw.  -  Motioat  of  IFtw  Book«.  —  ITaUt. 

TkePi;eliolDgtc»1BeTiew(NeW'ToTkuidLoiidon,The]|[acniilluiOomp.). 
ToL  X,  Ho.  a. 

B.  C.  Sanlord,  PijDluilogT  and  Phyrie*.  ,  .. 
r.  O.  Bonioi,    A.    Bta^    of    th*    BolatiMii  botiraw   llnUl  AdUtU;  »ad  tk* 


'(^«■latlwi  o^U 

"  "  "  st  o«t,„  „.  _  _.,__ 
—  FtnhNoflaal 
»  PantolaclMd  i 
7  aad  Oogaate  Sn 


e.  T.  Land,  Diiaat  OobUOI  of  tha  Jlatlul  7taU< 
~"         ■  -  -  -    rtiä^aj  ;■ 

,_idI«c1m1  Id ,  — .    -. 

Lltantor»  of  Payoholoi;  aad  Oogaate  8nh]«eM  for  1903. 


UoobmIm  aad  Ropoitt.  —  FtnA<^laal  Litaiatw«.  —  Naw  Bcwka.  —  HqIm-  - 
_j„  ^  .o».         «»..  =.„t.-.-_.„.  jjjgj^  ^,    B,  ~  A.  B"-" •■-  -'  *^ 


ToL  X,  No.  1. 

B.  Bark  Baldwill,  Blid  and  Bod;  froH  tka  SnaUo  t><^t  of  Nlew. 

0.  R.  Bqnlra,  Fatltaa;  SDcgaation  loi  a  Naw  Batkod  of  Ibt— titaMoa. 

K.  Oordon,  Haaoiu  ia  HcmoiT  and  in  Attantlon. 

IL  L.  Aiklay,  An  UTtiticatlon  of  tka  Prooa»  ol  IndcmoBt  aa  IsTolvad  In 


from  the  PtvöbaloBiiial  Laboratory  of  df  UbItb^V^ 

_., j  Vtataiuat  H.  a.  An«oU.  —  Dlwoaalan  and  ifV* 

FiTokologioal  UtMatniB.  —  Kow  Booki,  —  Kotaa. 

ToL  X,  Ho.  4. 

a.  L.  KdlT,  (Stnllaa  fron  tha  Ftynkologliial  Lahoimtorr  of  tk«  übItküO*' 
Okloaso.j  PiiahophTilDal  Tast*  of  Normal  and  AbnonuJ  CkUdrea.  A  (M- 
panUr«  Stndy. 


J.'p.'HJ'lan,  Tb«  Dlibribntiea  »f  Atlantion. 
IMtanwIan.  —  Pirokoloftleal  Utuatnie,   —   N«w  Booka. 
BoBOBnipk  Sappltmcata. 

ToL  IT.  (Wholö  No.  17),  iKuurj  IMS. 
atndi« 
^^~S«tl«a  öf  Konoctapk  Sn^t 


:arTard,  Fayokologtanl  Stndi«^   Vol.  I,  «antalninf  ilntaan  BsptriMMtal  In"^' 
tattoni  ftom  tba  Hurard  PayokolofflaJ  I^bontatr.    Bditod  br.  H.    1" — '■■*"* 


iM,Coo<^lc 


rhiloBophiflChs  Zeitschriften. 

ToL  T,  Ko.  1  (WhDle  No.  18X  April  IM». 
J.   V.  L.  Jonsi,  SocUUt;  ud  SvmptthT-     Aa  Introdaetioi 
SrmMh;.  —  SctIm  otXonognpb  Sapiilaaaiiti. 

ToL  T.,  Ko.  S  (Wbole  No.  20),  Juury  190S. 
C.  H.  HitBhtoek,  Tbe  Fiyoliolac;  otB 
Strfotft  FflOBofle»  (Pavia,  Succeatori  l 

Aniw  T,  TqL  Tl,  Fu«.  1. 

r.  Bonatslli,  Aknl  MkiulmMU  iBtomo  »Um  Kstnn  dal  Mhomw«,   dd  Tolwt, 
_  d*U  «oarioBM  •  daUk  pnawloM. 
e.  Zi  aekBta,  La  D«bb»  Ulla  DMMnk  dl  io«nrt«. 
T.AUmkant,  La  flIOMriU  dl  Platr«  OtrMtl  (Oont.  a  fln«). 
e.  Rtgoat.IiiModipdeafldd. 
E.  Kondalt»,  L'edioulonB  iMMdo  a  KomciiMl. 
C.  Oantviil,  L'alümo  swtwfl«  dl  Kut. 
towyi»   BibU^dM.  ~   Hotfils   ■  PibbUsuioBl.  -    SowMUl  atO»  BlTKt* 

Zettadirift   Ar   Fsydiologle   «nd   Phyilologle   d«   Sbuiesarrsa«. 

(Laipzi^r,  J.  Ambi.  Barth). 
Bd.  «,  Heft  2. 
■.  Stahl   ond  J.   Mal)«r,     nntamehiuisu!    Dbar  dl«  optlMbe  und  kapUatIt« 

LokallMtioa  bd  Natgongm  nm  «1>b  Hsltüla  Aoba*. 
B.  Wlarima,  nntanDahangaa  über  die  aogtm.  AD£meih>amk*ltMotaWNikoiixaD,III. 
H.    Pailahenrald,      Zu      LaiMoUtnag      bat      lalUlahia    Kaptnainngen.    — 

UtwatarlNrlak». 

Bd.  31,  Heft  S. 
B.  ?lp*r, 
TLZlab«] 


UtwMarbaünht. 

Bd.  Üy  Heft  i. 
X.  Hejar,  Zar  Tkamla  dar  OarftoiahaaipaDdiimM. 

Obr.  Ladd-7raBkIlB  n.  A.  QattBann,  Debar  daa  Sabaa  dnrob  SeUalar. 
A  Ivanoff,  Sin  Baitnc  aar  Labra  Ibwaia  Euoebattlaltang. 
UMtatBTbärieht. 

Bd.  tl,  Heft  fi  n.  S. 

H.  LlriBhlaft,  BibUonaphla  der piTBh»:pb;alBloglw)taaii  Utaratnr  dM  Jabraa  ItOl. 
NinaBnanaleluili  darBlbllogMpbt«.  ~  ManiMiiraflner. 

Bd.  tt,  Heft  1. 

H.  Tolkalt,    Die  BedantaBg    dar    nledaran  EmpAndniigaii    ftr    dl«  iathatla«^ 


e.  HajBiaaBi,  Habar  üatanabledaehwellan  bei  lIlBskaBBan  tob  EoBtiaaUarlMB. 
K.  DBiaolr,  Dia  Iit]iaU««he  Badeatanff  daa  abaalatan  QBantBBii. 
Utaratarbülabt. 

Bd.  38,  Heft  8. 

B.  Fneba,  tlabar  11«  «taMOibopisakB  WirkoiiK  dar  awiaaBBten  Tvateabllder. 
B.  L.  Sehaetfer  Bad  Alfr.  Sattnaon,  Uebardle  mUifeUadaempflndUelikalt  Ar 
SlalBhealtlc»  TOdb. 


Llt«MtBrb«rt«bt. 

Heft  48,  Bd.  3  n.  4. 
H.  Piper,  Dabar  daa  HaUl^altararUltnla  noBokolar  nnd  bluokilar  auKtUat« 
UaUampfladOBKeD. 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


FhiloBophisohe  Zeitschriften. 


iBln,  n«bBr  eins  elnfuihB  Kethoda  iv  UntcnBulinas  Iw  HvkaUCMI 


E.  A.  H.  OftinblB  uid  H.  Whlton  Oalklna,  Dia  raprolulwu  TontaUmc  babn 

Vl«d«rarka&aea  nsd  batm  Vwglelehtn. 
P.  BohDlti,  Oehlni  osd  SmIs. 

A.  BArnitain,  nsbar  etna  «InfuihB  Kethoda  ■ 
iMp.  dea  aadkahtnllMi  b«l  SaiitMknnkan. 

Lttantnrbarlobt. 

Pneylad  Ftlozoflom;  (WonzawE^  nlicEi  Ernc»  No.  46). 

Bok  TI,  ZMEyt  1. 
J.  Kodii,  Qualqaw  ranuu^qM  anr  Ik  poariblllU  da  U  l<d  parekidoelqBa  di  ta^r 
J.  Lakktlawlai,  L'IndBstloii  oomma  luTanlon  da  h  dMnodon. 
P.  C  h  m  1  Bio  Irak  i,  Sai  U  vi«  et  l'utlTltt  da  J.  OolBebowakl. 
Kbtdb  odtlqaa.    Bbtqb  Mlsntlflqo«.    Llvia«  rtaDBii  pu  laon  aBMon. 

Bok  n,  z«8Ejt  n. 

p.  Ohmlalowakl,  Sor  la  tI«  et  l'aotlvlt«  da  J.  aolBohowikL 

J.  Lakailawloi,  L'ladBoUon  oomma  loTenlon  da  U  dMnellciii, 

Q.  BaadonlB  da  Oonrtenar,  Laa  baaaa  parDUqasa  doa  phtnanrtnea  de U  tanEl«. 

B.  StruTB,  Db  prlnolpa  BaprSoiB  da  U  Mndolta  monle. 

Bama  dai  ayaUniea  oantaniponina.   —  Serna  MisntlAqne.  —  Uttm  itiBHM  pu 
iBBia  aitatun. 

Bok  n,  ZesEft  m. 

J.  VaiBBibars,    La  »pport  anlre  U    nuUdra    et    la    foiMe    dea    phtawstaca 

ehu  Kant. 
J.  LewkowIOB,  SzpoaltlOB  arltlqaa  da  U  dootriae  de  Bplsoia  anr  DiaB. 
P.  Ohmlalawaki,  Snr  1»  Tia  et  TMtlTtt«  da  J.  OoluBbowikL 
J.  BlellDckl,  Bnoora  nn  dttall  anr  la  *la  da  I.  Oolnebowakl. 
K.  Eiaai,  L'tse  d'or,   l'ttat  de  la  natnra  at  la  diTaloppamaBt  par  1«b  B&Utta(M» 
Bavne  eiitlqna.  —  BaTne  aolantlflana. 

C«ska  lll;al  (Prag,  Laichter). 

Bofolk  IT,  SoBlt  1. 
HoitlnakT,  A  la  mtmolra  da  Prof.  Dirdlk. 

^  EtomMrla  non  —  Bnolldlanaa  et  loa  n 

l.<lBBDeiioB  da  la  moaosamia  d'asJoBrd' 

-  OorrMpoDdanoa  alava.  —  IhMavcota.  —  Aaalyae*  et  OoBpu« 


La  olaaalilaatioa  dei  aantlmaata  at  da  riMulnatiDn. 
"        aa  niuM- 


Bocnlk  IT,  Seslt  8. 
Kramar,  La  olaaalilaatioa  dei  »uu..uii^_  «  ..■  . 
Srtina,  La  rtforma  da  raualKnanieiit  leeoadait«  „ 
H aa B a r,  Ia  geomatria  aon-afloUdleana  ato.  (aalta). 
Blaba,  L«  ptMlmiim«  et  «a  rUntatloii.    Berae  gtalrala  eta. 

Bocnik  IT,  Seait  i. 
J.  Haaner,  La  Gtemetrie  non-eaalldlenna  at  aon  npport  t,  ta  nottiqae  (SBlta)- 
¥i.  Ditlaa,  La  Tilorme  da  rBnadsaemaot  «Moudklre  en  Praaaa.    (Salta.) 
0.  Kiamar,  La  alaaalilDatlon  daa  aentimaata  et  da  l'IaiacUlBtiMl. 
B.  KllBabergar,  La  pUleaophie  poUtlqne.  „ 

BaTna  BtaArale.  —  Ooireipondanoa  alare.  —  Aaaljaea  et  oomptea  randu.  —  Ban« 
ptrloolqae.  —  Falla  divar«. 

Bocnlk  IT,  Seslt  i. 
Fr.  Drtlna,  La  rtFanae  da  I'aaaelniemaBt  aMoaltlre  ea  Praaie.    (Saite.) 
H.  Dsaek,  La  eonaoienea  natlonala.  _.  ,^, 

H.  Banaer,  La  gtoaiBtilB  naa-aBolldlanne  et  lei  rapporti  aTao  la  noUqna.  (SnitaJ 
Kavaa  generale.  —  Dooanasta.  —  Analnai  at  oomptaa  real».  —  BeTBO  parloditw- 

-  FaltB  dlTcr*. 
B«Tne  N^o-Bcoluticiiie  (Louveüd,  Institnt  Snpäriear  de  Philosophie) 

10.  Annöe,  ITo.  1. 
D.  Nji,  L>L 
H.  KeaHal 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


FhiloGoptüaohfl  ZeitsduifteD.  363 

C.  Fta.  dB  BlbftaeoBit,  Lm  thtorlM  d«  NlatMeta*  nt  l'otlglBa  at  la  Ttdtn  da  ta 
Konla. 

Clodf  n«  PUt,  L'tdta  da  bonliBiiT  d'urt*  ArlatotB. 

D.  HarsIsr.La  dendtea  Idol*. 

■UBOMa  «t  DoenmtBto,  —  BoIlBtlii  da  Itnatltat  laptelaiiT  da  PhlloBophlB.  —  Comptaa 
nadu.  —  OBTiBcaa  B&TDyta  i  U  rMMttea. 

10.  Anait,  Ho.  8. 
IL  Dafsarny,  La  rSIa  da  Ik  Soetolosie  dtaa  1a  FodtlTlnia. 


■tigaBa , 

[  L»  tbta«  da  U  dlatlnetlni  Malla  aatts  1'ai 

w  orgulitaa.  m  Laa  praBTaa  da  l'axMauea 

Jiatitat 

-  OnTnsaa  enToyta  4  U  BedMrtinD. 

Tke  Hlkb«rt  Jonnal  (London  uid  Oxford,  WOlioins  and  Norgat«.) 

Toi  I,  Ko.  8. 
8.  Law«!  Dleklnaon,  Optlnlim  ud  ImmortaUty. 

A.  a  FilnKla-Fattlmii,  HaTtlnaan'*  FbnoMphy. 
T.  W.  Bhr>  DkTlda.  Baddhim  u  >  IItÜ»  foroa. 

B  OldtlaU.  Tha  Fafln«  of  CbiMlMi  HiSiaii  In  ladU. 
J.  P.  HahKfty.  Tba  Diiftliic  ot  DooMaa. 

B.  W.  Bao«a,  Baewt  AapMt«  of  tba  lakaBuiB«  ProUam. 
P.  W.  Behmladal.  DU  fall  wHU  Bonanaf 

S.  a  Starana,  Angnat«  SaWtlar  and  tha  Paria  Bobool  at  Thaology. 


Tol.  1,  Ho.  4. 

F.  9.  Faakody,  Tha  OhuMtw  «I  Jmu  Ohriat. 

W.  Killer,  Ära  iBdiM  Hlariou  a  FaUsra? 

V.  Tard.  Tk«  mkiMoky  ot  AaUioilty  In  BaUghn. 

W.P.  Coftb,  Dons  bdiava  !•  tha  BaAmnaUimf 

Fh.  Sidnay,  Tha  Ubanl  OathoUe  ■«ranuat  In  Es|l»>l- 

P.  8.  Birrall,  ne  cnwlnc  Balnatinoa  «t  ahla  man  to  Uka  «titn. 

1.  B.  PoyntiB«,  PhyatealLaw  aod  litt. 

T.  K.  Chayns,  rrnaälng  naadi  of  tba  old  TeMamant  Btodj. 

3.  Botf  att ,  ZoroMtrUnlBm  and  wlmitlTa  Obiirtlaalty. 

W.  &.  Oaiaala,  Tha  pnrpoaa  ofBnwblu. 

DlMBiaimu.  —  Barlawa. 

Vlu««  FUlosopUqn«  (pBria,  Aloan). 

13.  Annto. 
Braebaid.  L«a  ,IiOi«>  da  FUton  at  la  tUorla  daa  Idtsa. 
Hanalin,  Don 


PiUoa ,  Ln  «rftiqn«  de  Bayl«.    Orltlqna  daa  attribata  la  IMbb; 
Daiclaa  ,  Baaaf  anr  la  notiox  d'abwin  dana  la  mttM^ijwlgp»  Luuwibiiv. 
Pillen,  Blbllacraphto  phQaaophlqaa  tnavalM  da  l'aanta  fiOS. 

Otnnul  Aneiican  Annals.    (Philadelphia,  Geimon  American  Eistorical 
Society). 

Hew  Herleg,  Tel.  1,  Ho.  S.    Old  Seriea,  Tol.  4,  Ho.  S. 
H*m  from  the  Amslean  Kthnosraphlsal  Srnray: 
BnaraaB'a    oplnion  of  Qoatha. 
nie«  SwablBB  JaETsallata  and  tha  Amarlean  Barelntten. 
ValdaakBDtaiy  of  tha  BaTolatloil  aTTS  to  1T80). 
Ckrsnlk.  —  Baudaohan.  —  In  Saaban  Ano  BoIb.  —  : 

ArekiTes  de  Psfckolofle.    (Oen&Te,  H.  Kfindig). 

Ho.  &,  feine  n  (1  foic.) 
It-Thaty,  LH  moeiin  da  l'Unnidella  doDUtttqaa. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


PhiloMplÜBobe  ZeitMhiift«!. 


A.  B 1 B B t ,  Not*  (u  r»i.niiMliil'iii  dB  taa>>- 
E.  OI*pftrtd«,  Uniulon  da  Midi  obai  Im  »norBmnx. 
Th.  Vlo  arBoy,  Lw  pilaaijM  da  )•  pi^ab^agla  mUsMbm. 
Falti  rt  dlMuMou.  —  BlbUosnpUa. 


iBi&Iei    dfl    Soclologle.      (Soci^td    Beige     d«     Booiologia,     Firis 

Bnuellee.    L 
H.  0.  J*aqD»rt,   Susort  rar  Im  Iranu  da  1»  tsdAtt  bd««  da 

VrtMBU  düa  Im  aduA  dM  30.  itxMwt  iKO.  ' 

A.  Tarnaarieh,  Lm  «UboUqnaa  «t  la  loalalHla. 
U.  C  Tma  OTarberib,  La  rnKtteUtltm*  blft^iu  da  Karl  Kux. 
Lp.  da  ItannysekiLt«  doetrinaa  rtallataa  an  laatolncta. 
H.  VanHantta,  Lairtciltata  de«  rtoaataa  aontrararaea  »w  la  sneapttai 

tUlaw  de  FhlfMra. 
r.  BtUimna,  Da  la  naaMre  deat  an  d^  oonanalT  I'blatoira  lltttnlra. 
6.  Lecrand,  hm  oanaaa  da  la  tranmlMloii  laUf^ala  at  dn  partaga  asBata 

biana  nmax  d'aprta  l'Allainane  M  U  Fraaea. 
PkÜMMUe  da  l*U>Ulr«  et  äidAocia. 

L.  daLantaheaia,  L'Mtaiiia  de  la  paiae  en  Mint  de  vne  aoeioloflqae. 
F.  Deaohampa,  I^a  eanaaa  aoolalaa  dB  Uaünunia  anx  Btata-Uala. 
i.  Hoaepiad,  L'aatbropoaooioloKl*. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


m. 
Bibliographie. 

L  Geschichte  der  Philosophie. 

BaiBium,  J.)  Deutsche  und  aosserdeatsohe  I^ülotoptus  der  letzten  Jtbx- 

zdmte,  dUgeBtelit  und  beutet    Ootlu.    (TIU,  raS  S.)    IL  9,—. 
Cuierer^  Tkdr.f  SniDoza  nnd  Schlei eimBolier.     Die  kritisolie  LOaimg  dM 

ttn  Spinoza  InntenisseDen  Problems.    Stattgart     (TI,  179  8.)  H.  4,—. 
IMt,  Bb.  A.,  Spiooza's  politioal  and  ethioal  PfaUoeopbr.    New-Tork.  (612  8.) 

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CIrap»,  iobB.,  Die  Prlndpien  der  Etbä  bei  Friw  nnd  ihr  TerhUtois  la 

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SlttdB^cr,  t.,  Friedrioti  Nietzedie  nnd  das  Erkenntoisprohlem. 

monographiBoher  Terenoh.    Leipzig.    (7,  109  8.)    M.  1,60. 
flbigtr,  E.,  Santa  Lehre  vom  Glauben.    Leipzig.    (XVlll,  170  S.) 


monographiBoher  Terenoh.    Leipzig.    (T,  109  8.)    M.  1, 

flbigtr,  E.,  Santa  Lehre  Tom  Glauben.    Leipzig,    (xvlu, . 

Ball,  A.  F.,  The  Satiie  Ot  Seneoa  on  Apotheosos  of  Claadina.     London. 

M.  6,-. 
Beltrtfe  zar  Oesdüebte  der  Philosophie  des  IfitMalters.     Texte  nnd 

üntannclkiuigen.     Heranag.  t.  Cl-  Baeomker  o.  G.  t.  Hertling.     IT  Bd. 

1  Heft.    Des  Adelard  Ton   Bath  Traktakt  de  eodem  et  diverse.     Von 

tt  Willner.    Manater.    (VIH,  112  8.)    M.  3,76. 
Cafitalne.  W.,  Die  Moral  dee  demeos  von  Alexandrien,    Paderborn, 

(TI,  Ml  80    K.  7,—. 
Coitint,    X.,    Opnaoulee    et    fragments    inedits    de    Lelbniz.      Paris. 

(684,  XTJ  8.)    M.  25,-, 
T.  Danckelmann»  E.,  Chulee  Battenx.    Sein  Leben  nnd  sein  aestbetisohes 

LebreeUnde.    Sostock.     (149  S.)    U.  2.40. 
Baff,  B.  Ä.,  Svinoza's  political  and  ethioal  Fhiloaophy.    London.    (6S8  S.) 

M.  12,60. 
liIrtBd  Bcrtusl  6.,  B.,   L'inooDSoio  nella  fllosoSa  di  Leibnitz,    Cstania 

(380  8.)    JL  a — 
Oreatano,  F..  Le  idee  fondomentali  di  Fedenoo  Nietische  nel  loro  pro- 

greeaiTO  STokimento.    Falmero.    (THI,  369  S.)    H.  3,—. 
Kanro,  B>,  sdileiermacber,  peisonal  and  apecolatlTe.     London.     (300  8.) 

TL  6,40. 
CemmentKria  in  Aristotalem  graee«.    Bdita  oonsilio  et  anotoiitate  aoademiae 

litteraram  redas  bomsdcas.    Toi.  T,  pars  6.    themistii  (Sophoniae)  in 

parva  tiattiralla  commenlariiim.    Edidit  P.  Wendland.     Beitin.     (XlT, 

«  B.)    K.  2,40. 
Afckandluren  znr  Philosophie  nnd  ihrer  Gesohiohte.     Beiansc.  von  B. 

Snhnann.    16.  Heft.     Das  Eanealproblem  in  Lotae's  Pbiloeopnie.    Ton 

£  Wentaoher.    Halle.    (TH,  66  8.)    H.  2,—. 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


366  Kbliographie. 

Orr,  J,f  David  Enme  uid   his  In&a^oa   on  PhiloBOphj  and   Tbeolog;, 

LondoD.    (266  SO    U  3,60, 
StBdlen,  Beraer,  Zot  PhiloBophie   und  ihrer  Qeachichte. 

L.  Stein.    XXXIII-  Bd.    Bmpfindong  und  VorateUang.     Ton  N.  I 

Bern,    (n,  86  9.)    H.  1,60. 

IL  iMglk  und  Erkenntnistheorie. 

FaUgTl,  M.,  Eant  und  Boliano.     Halle.    (XI,  124  ä.)    H.  3,—. 
Adsnuoii,   B.,   Tha   Development  ot  modern   Philosophj.      With  oth«r 

Lectores  nnd  EssaTs.    Edit  br  W.  B.  Sorler.    2  toIb.    London.    (752  S-) 

M.  21,60. 
Schrader,  E.,   Znr  Orondlegnoc  der  Fiyoholode  des  Urtüla.     Leipzig- 

(98  a.)    M.  3,—. 

IIL  Allgemeine  Philosophie  und  Metaphysik. 

CorneUni,  H.,   Eüileitang  in  die   Philiwaphie.    Leipag.    (XIV,  357  S) 

FUn't,  'a.,  Agnostiaism.  Croall  Leotoiee  for  1887—88.    London.    [618  B.) 

M.  21,60. 
Drekar,  E..  FliiloBophische  Abhandlongen.     Heiaoag.  von  der  Qattin  am 

Autors.    Berlin.    (XL  222  n.  XVII  fl.)    H.  3,—. 
B^,  F.,  Phüosophie-    (Nachgelasaenes  Werk.)   Berlin.  (V,  363  8.)  H.  6--- 
Metcknlkol^  E.,  Etndes   sitr  la  natnre  hnmaine.    Essai   de   phil<«o^ 

optimiate.    Paris.    K.  fl,— . 
Bau,  A.,  Dissertations  on  leading  philosophioal  lopics.    London.    (286  S.) 

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4«  ftsHltler,   La   fiction    aniTerselle.     Deuxidme    eesw   soz   le  poQTOir 

d'imagioer.  Paris.  H.  3,60. 
Lloabow»  6.,  Les  visages  et  les  ^mes.  L'art  divinatoire.  Paris.  H.  7,60- 
ButUn,  A.,  Die  Lehre  yom  Denken.  I.  Berlin.  (V,  211  8.)  M-  &,- 
Bosse»  1.4  Geist  und  Körper,  Seele  and  Leib.  Leipzig.  (X.  488  S.)  H.8,M. 
Borafort,  ly  L'onite  morale  dans  l'univerBite.  Paris.  (IV,  279  8.)  M.3,a). 
8slT&dorl,  6.,  L'etioa  evoluzionista.  Torino.  (494  S.)  M.  10,—. 
IrOBS,  D.,AStad7mtlLeP^cholog7otEthio8.  London.  (194  S.)  E-E,-. 
Hudsler,  H.,  Life   in  Mind  and   Coudaot:   Stadiee  in   human  Sttatt- 

London.    (460  S.)    H.  13,60. 
87iii«,D.,TheSonl:  ABtndyandanAqrament    London.    (266  8.)  11.6,40. 
Iitttim,  Im,  FhfaioinÖDeB  de  enegestion  et  d'anto-sii«eition  prioMU  d*!)!) 

essai  sor  U  psyoliologie  phyaioloeiqoe.    Paris.    U,  6, — . 
Arn&lz,  M.,  Los  fenömaoos  psioolqgioos.    Madrid.    (362  8.)    IL  8,-- 
Dvgn,  L.,  Imagination.    Paris.    (^  S.)    M.  4,—. 

V.  Bthlk  nnd  Rechtsphilosophie. 

Cesra,  m.,  La  filoeofia  della  nt&.    Hesaina.    (260  8.)    H.  2,60. 
Clmball,  Glas.,  8aggi  di  Slosofia  sooiale  e  gioridioa.     Borna.    (S»  °-l 

KoBdolfo,  B.,  Saggi  per  la  storia  della  morale  atilitwia.     La  metale  ^ 
T.  Hobbes.    Pado«.    (278  S.)    M.  3,—. 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Bibliogn^ihie.  367 

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Fomllläe,  A.,  Nietzsche  et  l'immoraliBme.    Paria.    M.  5, — . 
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285,  836  8.)    M.  5,—. 

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VL  Aeathetik. 

Borsdorff,  A.  T.  W.«  SdeDoe  of  Literatoie:  On  literarj  Theories  ofTaine 

and  Herbert  Spencer.     London.    M.  1,20. 
Dahmen,  Thdr.,  Die  Iheoris  des  Suhünen.      Von  dem  Bewegongaprinzip 

abgeleitete  Aeathetik.    Leipzig.    (VIU,  191  8)    M.  4,—. 
BoMi,  F.,  Die  Natnr  in  der  Kunst.     Studien    eines  Natnifontohera   zur 

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RablnBteln,  S.,  Fsychologiach-äethetiBohe  Fragmente.  Leipzig,    (in,  1008.) 

M.  2,~. 
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Beitrige  tnr  Aesthetik.      Herausg.    v.  Th.  Lipps   u.  K.  Uaria  Werner. 

Vin.    Der  Pantragisrnna  als  System  der  Weltanaohannng  und  Aeathetik 

Friedr.  Hebbels.    Von  A.  8chennert.    Hamburg.    (XVI,  330  8.)    M.ll,— . 

Vn.  Philosophie  der  Gesellschaft  und  der  Geschichte. 

Baccared4a,  A^  Beligione  e  politica;  Etiologia  dei  oostnini.    Napoli.    (SU, 

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Zleyler,  L.,  Das  "Wesen  der  Knltnr.    Leipzig.    (VI,  192  8.)    M.  4,—. 
IToltmmiuif  Ih,  Politische  Anthropologie.    Untersuchung  über  den  ESn&oM 

der  Desoendenztbeorie  auf  die  Lehre  v.  d.  polit  Entwiclclong  der  Völker. 

Ksenach.     aV,  326  8.)    H.  6,—. 
Orotenfelt,  A.,  Die  "WertBehiltztuig   in   der  Geschichte.     Leipzig.    (VII, 

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Lilly,  W.  S.,  Chriaüanity  and  modern  Civilisation.  London.  (394  S.)  H.  15, — . 


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H.  13,»). 
Mflifer,  A.,  Nene  Stutalehn.    Jeu.    (XII,  886  S.)    H.  6,—. 
Tmuto,  A„  Saeei  oritioi  di  sodoloeüi  e  di  oiiminotogU.    Tonso.    (SMS.) 

M.  B,— 
Vrlgkt,  G.  D.,  Odtlina  of  pnwtioal  Sooiology.    London.    H.  9,^ 
Dnbaewi  S.  IL,  Jewish  Hietorv.    £m>v  in  Philoaobhv  of  BiBtorv.    London. 

(182  S.)    M.  8.-.  ■ 

VUL  ReUgionsphllosophle  und  Theosophle. 

Gi^niiohn,  K.,  Die  BeligioD,  ihie  peychisohen  Formen  und  ihre  Zeatnl- 
idee.  Baitng  snr  LoBong  der  Vage  nach  dem  Weeen  dw  Betiem. 
Leipag.    (Vn.  218  S.)    H.  4,-. 

BaniukBB,  A.,  La  religion  poeitive.    Faiia.    H.  3,60. 

BadoTUiorlö,  K.  M.»  Hensehengeist  und  Oottheit  leiohmtUlers  Baligioii«- 
pliilosopbie  aof  Qnind  von  deasen  MetepliTSik.   Wien.    (IT.  119B.)  M.  3,— . 

IX.  Naturphilosophie. 

Fiedler,  E»TranBcendentale  Natorlehre.    MfSbuah  i.  Erkenntnta  der  über- 

aiiiDlioh.  Welt    LeipEig.    (160  8.)    H.  3,—. 
LtTrfeli,  8^  Holeknlar-phyBio  logische  Abhandlongan.  t.  üeber  das  Wads- 

tnm  der  (n-ganismen.    Budapest    (40  S.)    IC.  1,—. 
Ble«BiriJk,  B.,  Ser  Kampf  dee  tieiiBchen  ..Organismus"  mit  det  pflau- 

lichen  „Zelle".    Amsterdam.     (189  S.)    H.  3,—. 
BvnCkeT,  M.,    Easai  snr  Ilifpereapace,  le  temps,  ia  maüdre  et  l'eneigia 

Paris.    H.  3,50. 
üelickmuiii,    A.,    Die   Darwin'sche    Tbeorie.     Leipsig.     (Vn,  402  S.) 

26  AbbUdongen.    M.  7,bO. 
de  Tries,  H.,  Die  Hotationstheorie.    II.  Bd.    Die  Baatardiemog.   3.  L^- 

Leipag.    \ß,  241—496.)    M.  8,—.    U.  Bd.  3.  Lfg.    £3ementare  Blstud- 

lehre.    {XIV  n.  8.  497—752.)    M.  7^. 
AiHaAf  L.,  Le  sentiment  religieox  en  France.    Paris.    H.  2,50. 
Ksuio,  B.)  mieorie  der  BewegQngHübertrsgDng  als  Tersacli  einer  nenei 

OnrndlegODg  der  Mechanit    Leipzig.    (7,  103  8.)    IL  2,40. 
Billln^r,  A.,  Hegels  Natnrpbiloeophie  im  vollen  Beoht  gegandber  üireo 

Kritikaatem.    Mönchen.    (S3  8.)    M.  1.40. 
BoEianl,  E.,  Ipoteeispiritioae  teorichescienttflohe.  Qenova.  (530  8.)  M.G,— ' 
KraAai)  TT.y  Ansichten   fiber  die  individnelle  und   spedfische  Oeatsltmit 

in  der  Natur.    Loipii^.    (VH,  880  8.)    M.  6,—. 
Fiepers,  M.    C,    Mimicry,    Selektion  und  Darwinismus.     Leiden.     (I^< 

462  S.)    H.  9,—. 

X,  Allgemeine  Pädagogik. 

Kemgiea,  E.,  Die  Entwicklung  der  padagDgiBohen  Psychologie  im  XIX  Jaln- 

hondert.     (Aus:     ^Zeitschrift  für  lAdagog.  ^ycholiwie,  Pathologie  iu<^ 

Hygiene.")    Berlin.    (42  S.)    M.  I,— . 
LaSTie,  S.  8^  Studien  in  Hiatory  ot  educatioiial  Opinlon  Crom  the  Be- 

naiasanoe.    London.     (270  S.)    M.  7^. 
Aflma,  F.,  Die  moderne  Pädagogik.    Sammlong  wertvoller  lAdagodu'"' 

Abhandlungen,  AufaHtse  and  Vortrage  a.  d.  neueren  Rlda^igik.    I.  Bd. 

langenaalza.    (VI,  346  8.)    M.  3,— 
Walräaum,  H.,  Die  ADScbaamK.    Gles.  Beitrige  zur  pSdagog.  PtyobokffB- 

Berlin.    (IT,  208  S.J    U.  2,80. 


iM,Coo<^lc 


Skizze  der  sozial-ttkonomiscben  Geschichtz- 
anUassnng. 


n. 

Von  Ftku  Oppeib«liier,  Berlin. 


pdUdieliak  Hlual  dar  BAdaifalibefrledl^tiiif.  «)  DL0  prliAltlTA  OrgbdmtaD  d«r 
HUM  IKiit^  nDd  Buu).  9)  Die  EntlUliuic  dM  polUlHlKn  MltMi  ID—  Fmdilws« 
^_.— ,. j_  «. ...C.  w_..     g^  !,„  gp,^  aw  KrUte  li — — —  — — 


n.  Die  Zwlsehenzlelfl  der  Musenbewegnng. 

(Die  Mittel  der  Massenhandiung.) 
a)  Darstellung  der  geltenden  Lehren. 
1.  Die  Okonomistische  GescMchtsauffassung. 
Die  allgemeine  Frage  nach  den  Mittehi  der  Massen- 
himdlung  ist,  soweit  ich  sehen  kann,   bisher  noch  niemals 
einer  eigenen  Betrachtung  unterworfen  worden.    Das  wissen- 
fichaftliche  Nachdenken  hat  sich  bisher  nur  mit  ihren  Ur- 
sachen und  Endzielen  beschäftigt,   und  glaubte   damit  das 
Problem  der  Zwischenziele  implicite  mit  erledigt  zu  haben: 
eine  ai^e  Verwirrung,  die  alle  Soziologie  bisher  gelähmt  hat. 
Bin  charakteristisches  Zeichen  dieser  Verwirrung  scheint 
mir  zu  sein,   dass  man   die  Worte:   poUtische   Ökonomie, 
Nationalökonomie,    Sozialökonomie,    Ökonomie,    Yolkswirt- 

nwMJAlMMft  £  wlMnehilU.  PUkc  n.  BadvL    U.VU.    4.  24 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


370  Franz  Oppeaheimer: 

Schaftslehre,  Sozialwirtschaftslehre  u.  s.  w.  ^emmnhin  als 
Synonyma  braucht,  obgleich  Bie  recht  verschiedene  BedeutuDg 
erlangen,  sobald  mtut  erst  einmal  darauf  aufinerksam  ge- 
worden ist,  dass  die  Massenhaadlung  sich  sehr  Terschiedener 
Mittel,  politischer  und  Ökonomischer,  zur  Befriedigung  des 
MassenbedUrfnisaes  bedient. 

Wenn  bisher  nur  ungenügend  in  der  WirtschaitevisseD- 
schaft  (Cabbt,  Rodbbbtdb,  DOhhihs),  und  so  gut  vie  gar 
nicht  in  der  Geschichtswissenschaft  sich  die  Aufmerksamkeit 
auf  dieses  Problem  gerichtet  hat,  so  glaube  ich  die  Ursache 
des  folgenschweren  Übersehens  auf  die  Verwirrung  dmth 
ein  vieldeutiges  Wort  zurÜckfUhreB  zu  dürfen,  das  Wort; 
„ökonomistische  GescbichtsaufTassung". 

Indem  man  nämlich  die  kollektivistische  Gleschichts- 
auffassung,  wie  gezeigt,  mit  gutem  Hechte  als  „Okoaomisti&che'' 
Geschichtsauffassung  benannte,  weil  als  Endziel  der  Massen- 
handlung die  ökonomische  BedUrfiiisbefriedigung  der  Masse 
erkannt  war,  lag  die  Versucbuug  sehr  nahe,  nun  auch  ohne 
weitere  Prüfung  anzunehmen,  dass  ausschliesslich  oder  vo^ 
wiegend  auch  ökonomische  Mittel  zur  ErreichuQg  desEad- 
Zieles  angewandt  werden. 

Von  dieser  freilich  nirgends  zur  vollen  Klwheit  durch- 
gedrungenen Vorstellung  ist  die  Geschichtsschreibung  über- 
all, wenn  nicht  beherrscht,  so  doch  stark  beeinflusst.  Ich 
habe  im  ersten  Kapitel  des  ersten  Buches  meines  „Gross- 
grundeigentum und  soziale  Frage"  eine  stattliche  Anzahl 
von  Belegen  dafUr  zusammengetragen  (S.  13ff.),  die  sich  leicht 
vermehren  Hessen  *)• 

Es  ist  nicht  leicht,  den  Gedankeninhalt  dieser  V(a<- 
Stellung  scharf  wiederzugeben,  da  er  nii^^d  scharf  gegeboo 
ist  Man  muss  ihn  zusammensetzen  aus  verstreuten  gelegenl- 
llchea  Bemerkungen,  die  sich  zum  Teil  in  Polemiken  flndeo. 
Er  ist  ungeföhr  folgender; 


0  Ygl.  s.  B.  KmB,  .OMohiehte  des  Altarttuna",  dw  danbnswutir 
Weiae  io  der  EinleitniiK  inm  1.  Bande  seiaa  PAmiMea  «Äärf  hinitellt 
D)«Be  fklaoha  Pilmine  irt  aach  danmtor. 


iM,Coo<^lc 


Skiue  dar  soül-ökonomisohen  OaiohiohtoftalEusoiig,  871 

Aus  einem  Zustande  sozialer  und  Ökonomischer  Gleich- 
heit hat  sich  durch  Ökonomische  Differenzierung  allmählich 
ein  Zustand  politischer  und  ökonomischer  Ungleichheit  ge- 
bildet Und  zwar  bedeutet  „ökonomiscbe  Differenzierung" 
hier  augenscheinlich  Differenzierung  durch  ökonomische 
Mittel:  die  höhere  'wirtschaftliche  Begabung  schwang  sich 
auf,  die  niedere  sank.  So  entstanden  die  sozialen  „Klassen", 
deren  Interessengegensätze  den  Verlauf  der  Geschichte  be- 
stimmen in  einem  Kampfe,  der  wieder  mit  Ökonomischen 
Mitteln  geführt  wird.  Loanirz  ton  Stein  sagt  klipp  und 
klar;  „Mit  der  Entstehung  des  Einzeleigentums  entsteht  durch 
die  wirtschaftliche  Kraft  des  letzteren  der  Prozess  der 
Klassenbildung,  den  die  ältere  Verfassung  nicht  kennt". 

Das  heisst  scharf  gefasst:  aus  wirtschaftlicher 
Thatigkeit,  d.  h.  durch  den  Gebrauch  wirtschaft- 
licher Mittel,  entsteht  VermOgensverschiedenheit; 
aus  VermOgensverschiedenheit  Ktassenverschieden- 
heit,  d.  h.  Verschiedenheit  politischer  Rechte. 

Die  ADSuBDiig  atiinmt  mit  den  Beobcahtangen  dM  UgUdiaD  Lebena 
aDKez«iatuiat  fiberain.  Wenn  eine  Familie  aoa  der  nntereten  Bohicht  des 
Ttdües  ndt  nun  Beiobttun  erhebt,  so  steigt  sie  such  in  der  Klasae,  bis  sie 
xalfltit  aoob  geeellsehaftUoh  die  ToUe  Ebeabürtigkeit  wringt,  wie  i.  B.  die 
NaAtaramen  der  ersten  gToeaeo  FabTikbeeitser  ond  Buikiers  in  ganz  Saropa. 
tTmgekdirt  hat  dar  TeimllgeDSTerUI  einei  TOrDehmen  Familie  auch  den 
Termst  dar  Elase  zai  9<Aga.    ,Deklaa8lert'  ist  ein  trefleoder  Ansdraok  dafär. 

Welche  ökonomischen  „Kräfte"  oder  Mittel  es  sind,  die  ■ 
die  Differenzierong  vollziehen,  auf  diese  Frage  erhält  man 
keine  rechte  Antwort.  Es  bleibt  hier  alles  in  einem  gewissen 
Nebel  der  Worte,  weil  Begriffe  fehlen.  Es  scheint,  als  wenn 
die  Historiker  im  allgemeinen  ebenso  viel  an  die  sogenannten 
GJesetze  der  „Verteilung",  wie  an  die  der  „Erzeugung"  ge- 
dacht haben.  Das  „Gesetz  der  sinkenden  Erträge"  mit  seinen 
drei  Konsequenzen,  dem  Bevölkerungsgesetz,  dein  Renten- 
gesetz und  dem  „ehernen"  Lohngeaetz,  den  „Gesetzen"  der 
volkswirtschaftlichen  Verteilung,  spielen  hier  in  der  Historik 
eine  bedeutendeBolle,  beherrschen  z.  B.  den  gesamten  Gedanken- 
gang Thomas  Buoxu's;  dazwischen  laufen  dann,  zum  Teil 
davon  abhängig,  nebulose  Vorstellungen  von  der  Grosse  der 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


372  Frans  Oppenheimer: 

relativen   Verschiedenheit    der    wirtschaftlichen    Kraft   und 


2.  Die  materialistische  Geschichtsauffassung. 

Auf  viel  festerem  Boden  finden  wir  uns  gegenüber  der 
„materialistischen"  Geschichtsauffassung,  der  Schfipfung  von 
Marx  und  Ehöbls.  Sie  giebt  die  Kräfte  der  Wirtschaft  un- 
zweideutig an,  die  nach  ihrer  Ansicht  die  Geschichte  be- 
wegen. Es  sind  dies  ausschliesslich  die  in  der  GOter- 
erzeugung  wirksamen  Kräfte.  Sie  gestalten,  indem  sie 
sich  entfalten  und  vermehren,  die  wirtschaftliche  Grundlage 
der  Gesellschaft  um,  namentlich  die  Gesetze  der  Ver- 
teilung, die  also  als  eine  Punktion  der  Erzeugung  aufgefasst 
wird.  Mit  dem  wirtschaftlichen  „Unterbau"  wälzt  sich 
gesetzmässig  auch  der  „Oberbau"  um,  nämlich  die  politische 
Verfassung  und  die  „Ideologien";  Religion,  Kunst,  Wissen- 
schaft, allgemeine  Weltauffassung  und  Weltstimmung  u.  s.  w. 

Eine  gewisse  Milderung,  die  freilich  auch  ein  wenig 
Unklarheit  in  die  lapidare  Kraft  der  ursprünglichen  Formel 
bringt,  erhält  diese  „produktionistische"  Spielart  der  kollek- 
tivistischen Geschichtsauffassung  durch  die  berühmte  Emoslb- 
sche  Fassung:  „das  bestimmende  Moment  in  der  Geschichte 
ist  die  Produktion  und  Reproduktion  des  unmittelbaren 
Lebens".  Hier  ist,  wie  die  Ausführungen  ergeben,  neben 
die  Gütererzeugung  auch  noch  die  Familienform  als  selb- 
ständiges, aber  augenscheinlich  als  parallel  verlaufend  ge- 
dachtes, „bestimmendes  Moment"  gestellt. 

Diese  Theorie  ist  eine  Konsequenz  aus  dem  MAix'schen 
„Gesetz  der  kapitalistischen  Akkumulation".  Mabx  ist  be- 
kanntlich der  Anschauung,  dass  im  kapitalistischen  Pro- 
duktionsprozessdas  gesellschaftliche  „Kapitalverhältnis"  selbst 
immer  wieder  reproduziert  wird,  das  Klassenverhältnis,  das 
zuerst  durch  „ursprüngliche  Akkumulation",  d.  h.  durch 
Gewalt  geschaffen  wurde,  und  auf  dessen  Grundlage  die 
kapitalistische  Wirtschaft  allein  entstehen  konnte.     Ich  habe 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


Skiize  der  aozüd-SkoiioiiiiBobeii  QesohiohtganSassQng.  373 

mich  neuerdin^  bemllht^),  den  NachweiB  zu  fuhren,  dass 
dieses  Gesetz  nicht  existiert.  Der  von  Marx  dafUr  geführte 
deduktive  Beweis  ist  formal  unhaltbar;  und  die  von  ihm  an- 
gefahrten Thatsachen  beweisen  das  Qegenteü  seiner  Behaup- 
tung, während  er  keine  Thatsache  beibringt,  die  fUr  seine  Be- 
hauptung beweisend  wäre.  NamentUch  ist  es  nicht  wahr, 
dass  „die  Maschine  in  der  Oesamt-Industrie  Arbeiter  frei- 
setzt" ;  und  femer  ist  es  unwahr,  dass  in  der  Landwirtschaft 
der  Konkurrenzkampf  statt  hat,  der  zur  Ökonomischen  Ex- 
propriation der  Elleineron  im  Preiskampfe,  und  somit  zur 
Akkumulation  und  Zentralisation  des  landwirtechafUichen 
Kapitals  führt  Die  kapitalistische  Eotwickelung  ist  nicht 
nur  in  ihren  Axifängen  von  Art,  Sichtung  und  Mitteln  der 
Produktion  gänzhch  unabhängig,  sondern  wird  auch  in  ihrem 
Fortgang  „reproduziert"  allein  durch  das  Fortbestehen  von 
Institutionen,  die  durch  die  ursprüngliche  Akkumulation  ent- 
standen sind,  ist  also  nicht  bestimmt  durch  die  Produktion, 
sondern  durch  die  Distribution. 

Damit  ist  der  einzige  geschichtliche  Beweis,  den  Mabx- 
Enqels  fUr  ihre  spezifische  Ausgestaltung  der  kollektivlstiBch- 
ökonomistischen  Geschichts-Philosophie  beigebracht  haben,  als 
widerlegt  zu  betrachten;  und  diese  „produktionistiache"  Spiel- 
art steht  ohne  Stütze. 

b)  Die  sozialökonomische  Geschichtsauffassung. 

Ich  trete  nunmehr  den  Beweis  an,  dass  es  nicht  allein 
„ökonomische"  Kräfte  oder  besser  Mittel  sind,  deren  sich 
das  MassenbedürMs  zur  Erreichung  seines  Endzieles  bedient. 
Wenn  mir  das  gelingt,  so  ist  die  ökonomistische,  geschweige 
denn  die  noch  engere  materialistische  Geschichtsauffassung 
als  zu  eng  nachgewiesen. 

Als  herrschende  Vorstellung  der  ökonomistischen  Auf- 
fassung imd  ihrer  Einschränkung,  der  materialistischea,  haben 
wir  oben  folgende  These  festgestellt. 

')  Das  Qnuidgeaetz  der  Eabl  Ifixx'Bchen  OMellachaftdelireD,  Dar- 
utaüoDg  und  Eritit    (Berlin,  Georg  Eeimer.)     1903. 


iM,Coo<^lc 


874  FraoE  Oppso heimer; 

„Aus  virtsctiaftlicher  Thätigkeit  d.  h.  durch 
den  Gebrauch  wirtBchaftlicher  Mittel  eutsteht  Ver- 
mSgeDsrerschiedenheit;  aus  VermOgeuBverBchieden- 
heit  entsteht  Verschiedenheit  politischer  Bechte, 
„Klassenversohiedenheit" 

Die  These  ist  an  sich  nicht  falsch,  wie  oben  schon 
zugegeben,  sie  ist  aber  falsch,  weil  sie  sich  für  allein- 
und  allgemeingültig  erklört.  Denn  viel  wichtiger  für  die 
geschichtliche  Bewegung  ist  der  genau  entgegengesetzte 
Zusammenhang,  den  idi  als  erste  These  meinen  folgenden 
Ausführungen  voranstelle: 

„Aus  politischer  Thätigkeit  d.  b.  durch  den  ge- 
brauch politischer  Mittel,  entsteht  Verschiedenheit 
politischer  Eechte:  Klassenverschiedenheit.  Aus 
Klassenverschiedenheit  entsteht  VermCgensver- 
schiedenheit" 

Beide  Arten  der  sozialen  Differenzierung  gehen  nebeo- 
einander  her,  durchdringen  imd  verschlingen  sich.  Aber  die 
letztgenannte,  ich  nenne  sie  von  jetzt  an  die  polttiscbe 
Differenzierung,  bildet  die  Voraussetzung  und  Be- 
dingung aller  Skonomischen  Differenzierung,  wie  ich 
die  erste  nennen  will,  ökonomische  Differenzierung  iigend 
grösseren  Umfangs  und  irgend  längerer  Dauer  hätte  sich 
nicht  entwickeln  können  ohne  die  Voraussetzung  der 
politischen  Differenzierung. 

Es  werden  in  der  G^eschichte  offenbar  zwei  sehr  ver- 
schiedene Mittel  gebraucht,  am  einer  Menscfaenmasse  die 
ökonomischen  GenussgOter  zu  schaffen.  Das  eine  Mittel  ist 
die  Gewalt:  Baub,  Krieg  mit  nachfolgender  PlUndenuig 
oder  Unterwerfung  zwecks  dauernder  Aneignimg  eines  Teils 
der  Arbeiteprodukte  der  Besiegten  in  den  Formen  des  Tributs, 
der  Steuer,  Grundrente  etc.  Das  ist  also  BedUr£aisbeöie- 
digung  durch  fremde  Arbeit.  Daneben  findet  sich  von  An- 
fang an,  und  je  höher  in  der  kulturellen  Entwicklung,  um 
so  mehr  vorwiegend  als  Voraussetzung  der  gewaltsamen 
Aneignung,    die   BedtU-öüsbe&iedigung   durch   die   eigene 


iM,Coo<^lc 


Sfclzia  der  soiial-ökoDomiMben  OMidiiohtsaiifliwaDK.  37b 

Arbeit,  sei  es  durch  SelbatTerbrauch  oder  durch  friedlichen 
Eintausch  fremder  Arbeitserzeugniase  gegen  Hergabe  einer 
im  Wert  gleicbgeschätzten,  äquivalenten  Menge  eigener 
Arbeitserzeugnisse.  Dort  Aneignung  nach  dem  Bechte  des 
Stärkeren  ohne  Gegenleistung,  hier  Aneignung  nach  dem 
Bechte  der  Gleichen  fllr  gerechte  Gegenleistung. 

Die  beiden  Mittel  sind  offenbar  Pol  undAntipol  und 
mOssen  sorgfältigst  unterschieden  werden;  zu  dem  Zwecke 
ist  eine  tenninologiBche  Verabredung  nötig:  ich  nenne  die 
gewaltsame  Aneignung  ohne  äquivalente  Gegenleistung  das 
politische,  —  die  eigene  Arbeit  und  den  äquivalenten 
Austausch  eigener  gegen  fremde  Arbeit  das  ökonomische 
Mittel  der  BedtirüdsbeMedigung. 

1.  Die  politischen  Mittel  der  Bedürfnisbefriedigung. 

oc)  Die  primitive  Organisation  der  politischen  Mittel. 

(Krieg  und  Staat). 

Wir  kennen  das  eine  politische  Mittel  bereits  aus  vielen 
Andeutungen  über  die  internationalen  Beziehungen  der 
verschiedenen  menschlichen  „Massen",  namentlich  aus  ihren 
wichtigsten,  den  durch  die  Wanderung  verursachten,  inter- 
nationalen Beziehungen.  Hier  ist  das  politische  Mittel:  der 
Krieg! 

Aber  nicht  minder  wichtig  ist  das  politische  Mittel  in 
den  intranaUonalen  Beziehungen  einer  i<nd  derselben  mensch- 
lichen Masse.     Hier  tr^  es  den  Namen:  der  Staat! 

Diese  entscheidende  Erkenntois  verdankt  die  Wissen- 
schaft namentlich  Ludwig  GontPLOWicz-Graz.  Der  Staat  — 
das  ungeffihr  ist  der  Inhalt  der  neuen  Auffassung  —  ist 
nicht  das  Ergebnis  eines  „Gesellschaftsvertrages"  freier 
gleicher  Menschen;  noch  weniger  die  Verwirklichung  einer 
„staatenbildenden  Idee"  oder  gar  die  SchOpfung  eines  „staaten- 
bUdenden  Volksgeistes",  sondern  er  ist  das  „politische 
Mittel"  XBT*  HSoxv*"  ^^^  intranationalen  Beziehungen  innerhalb 
derselben   „Gesellschaft",  ist  das  Mittel   eines  Teiles  der 


iM,Coo<^lc 


376  Frans  Oppenheim  er: 

Marae  zur  BeMedigung  ihrer  Skonomischen  BedUrfoisse  aul 
Kosten  eines  anderen  Teiles  derselben  Masse. 

Und  zwar  entsteht  der  Staat,  wie  ich  m.  W.  zueret 
gezeigt  habe'),  indem  die  iaternationalen  Beziehungen  der 
verschiedenen  handebiden  Menschenmassen  aUmählich,  durch 
verschiedene  Übergänge,  zu  intranationalen  Beziehungen, 
und  die  ehemalig  selbständigen  „Massen"  nunmehr  zu  Be- 
standteilen einer  grösseren  Masse,  zu  Schichten,  Kasten  oder 
Klagen  werden:  der  Staat  ist  SchOpfung  des  Krieges! 

Der  typische  Verlauf  ist  folgender:  Beisige,  in  der 
Jagd  gestählte,  waffengeübte,  in  gemeinsamer  Massenbewegung 
straff  organisierte  Nomaden  Überfallen  ihre  Grenznachbiuii, 
friedliche,  waffenentwöhnte,  in  loser  Organisation  staatenlos 
lebende  Ackerbauer  zuerst  in  unregelmässigen  Raubzügen, 
bei  denen  rücksichtslos  geplündert,  gesengt  und  gemordet 
wird.  Das  ist  das  erste  Stadium  der  internationalen  Be- 
ziehmigen. 

Allmählich  wird  den  Hirten  klar,  dass  dieses  Vorgehen 
nicht  das  zweckmässigste  Mittel  der  BedUrftüsbefriedigung 
ist,  sintemalen  ein  totgeschlagener  Bauer  nicht  mehr  pflügen, 
und  ein  abgehackter  Fruchtbaum  nicht  mehr  tragen  kann. 
Sie  erkennen  als  ein  zweckmässigeres  Mittel,  den  Bauer 
leben  und  den  Baum  stehen  zu  lassen.  Sie  erscheinen  daher 
fortan  in  regelmässigen  Zwischenräumen  nach  der  Ernte, 
morden  und  sengen  nur  noch  so  viel,  wie  erforderUch,  om 
den  nötigen  Respekt  zu  erhalten  und  etwaigen  Widerstand 
niederzuschlagen,  und  nehmen  nicht  mehr  die  sämtlichen 
Arbeitserzeugnisse  der  Bauernschaften,  sondern  lassen  ihnen 
Saatgut  und  notwendige  Lebensmittel  bis  zur  nächsten  Ernte 
und  nächsten  Schätzung.  Gleicht  der  Hirte  im  ersten  Stadium 
dem  Bären,  der  einen  Bienenstock  zerstört,  indem  er  üin 
plündert,  so  nähert  er  sich  im  zweiten  dem  Imker,  der  seinen 
Stock  pfleglich  behandelt,  um  „das  Volk"  in  seinem  Bestände 
nicht  zu  gefährden.    Wir  kennen  solche  internationale  Be- 


')  Der  BOzioIogiBche  FeGsimismag.    K.  Fr.  Fr.  1901. 

n,g,t,7l.dM,COOglC 


SUae  der  soaal-OkonomisoheD  OesohiohtsaoffaBanng.  377 

Ziehungen  zwischen  Komaden  und  Ackerbauern  aus  der  Sa- 
hara, wo  der  hackbauende  Neger  die  Bolle  der  Bienen,  die 
hellfarbigen  Fulbe  berberischer  Rasse  den  Imker  agieren. 

Schon  in  diesem  Stadium  entsteht  eine  Art  von  Schutz- 
verhSltniB  zwischen  Ausbeutern  und  Ausgebeuteten.  Der 
Imker  lässt  natürlich  den  Bären  nicht  an  „seinen"  Stock, 
der  Hirtenstamm  verteidigt  „seine"  Bauern  nach  Kräften 
gegen  andere  Hirtenstämme,  die  Lust  haben  möchten,  ibm 
durch  „unlauteren  Wettbewerb"  das  Geschäft  zu  verderben. 

Das  dritte  Stadium  ist  das  der  Zahlung  von  Tribut  oder 
Schutzgeldem,  die  den  Herren  in  ihre  Zeltlager  gesendet 
werden.  Beide  Teile  haben  nur  Vorteile  von  dem  Arrangement, 
die  Bauern,  weil  sie  den  kleinen  Unregelmässigkeiten  ent- 
gehen, die  früher  mit  der  Ginziehung  des  Tributes  durch  die 
gesamte  Hand  unvermeidlich  verbunden  waren:  einige  nieder- 
gebrannte Hatten,  ein  paar  Totschläge  und  Schändungen  und 
sehr  viel  rossezerstampfte  Felder.  Die  Hirten  aber  können 
sich  der  ihnen  zugetragenen  Güter  erfreuen,  ohne  sich  be- 
mühen zu  müssen;  sie  ersparen  die  „Geschäftsunkosten"  oder 
können  das  „Geschäft  erweitem",  indem  sie  ihre  freigewordene 
„Arbeitszeit"  and  „Arbeitskraft"  auf  die  Unterwerfung  neuer 
Ackerervölker  verwenden. 

Das  vierte  Stadium  endlich  verwandelt  die  intematio- 
naien  in  intranationale  Beziehungen,  wenigstens  unter  räum- 
lichem Gesichtspunkte.  Die  Hirten  setzen  sich  zwischen  die 
Ackerbauer,  aus  irgend  einem  Grunde,  sei  es,  weil  ihnen 
ihre  Heimat  zu  eng  geworden  ist,  sei  es,  weil  stärkere 
Stämme  sie  aus  der  Steppe  gedrängt  haben,  sei  es,  weil  sie 
die  Aufgabe  des  Schutzes  ihrer  Tributpflichtigen  gegen  andere 
Hirten  auf  diese  Weise  am  besten  erfüllen  können,  oder 
schliesslich,  weil  sie  ihre  Tributpflichtigen  überwachen  wollen, 
um  die  Organisation  eines  Aufstandes  zu  verhüten.  Sie 
lassen  aber  den  Unterworfenen  ihre  alte  Verfassung,  ihre 
BeligioD  und  Sprache  und  verlangen  nichts  als  Zahlung  des 
Tributs.     Solche  Fälle  kennen  wir  z.  B.  in  Arabien. 


iM,Coo<^lc 


378  FraDi  Oppanhaimer: 

Das  letzte  Stadium  ist  die  AuBgestaltimg  des  „Staates" 
im  eigeDtüchen  Sinne,  d.  h.  Ausbildung  einer  gemeinsamen 
Verfassung,  eines  Staatsrechtes,  einer  Staatsreligion,  die 
sämtlich  den  ausgesprochenen  Zweck  haben,  den  Bezug  des 
Tributes  (jetzt  zur  Steuer  und  Grundrente  geworden)  zu 
gewährleisten,  aber  ajidererseits  das  Steuersubstrat,  Land 
und  Leute,  mindestens  in  seinem  Bestände  zu  erhalten.  Hier 
ist  die  ursprunglich  internationale  Beziehung  endlich  in  jedem 
Sinne  eine  intranationale  geworden:  denn  unter  dieser  Ver- 
fassung verschmelzen  die  beiden  stammverschiedenen  Gruppen 
zur  Nation,  zum  Volke  ein^  Staates. 

Zwiavhen  viertem  nod  letztem  Stadiam  kann  es  noch  Zwisdiw- 
gUeder  geben:  bo  lebten  die  Biegreiohen  Inka  gemeioBam  in  dar  Haoptotadt 
als  im  wesentlichen  kommunistiHclie  Adelfiganoesensohaft  von  den  Tribaten 
der  eroberten  Slämma,  die  unter  ihren  angestanunten  Fürsten,  in  ihrer 
alten  Verfassnng  nod  Religion  weiter  lebten  wie  vor  der  ünterwarfong. 
Also  viertes  Stadium  I  Aber  in  innere  Streitigkeiten  der  Stämme  oder  gu 
in  Streit! gkeiteu  zwischen  den  Stämmen  griffen  die  Inka  sehticbtend  und 
richtend  hinein,  hatten  aaoh  für  den  Zweck  eine  Beamten hierarohie  anter 
dem  Befehle  des  Eänigs  organiaiert.  Das  weist  aohon  anf  das  fünfte  Stadium 
nnd  zeigt  anch  an,  ans  welchen  Gründen  der  «Elasaenfürsoi^e '  das  vierte 
Stadium  den  Birteu  selbst  als  auf  die  Dauer  unhaltbar  erscheinen  mnscts: 

ce  Beibung  schwächt  augenscheinlich  die  Stenerkraft  der  Staaar- 

1 :  nnd  das  dsrf  nicht  geduldet  werden. 

li  anderen  Staats bildnngen  sind  einzelne  Zwisohanstufen  ansgebtlMi, 
roweilen  sprang  die  Gntwickeluug  ohne  Uebergang  vom  eisten  bis  zun 
letzten,  sodass  aas  den  BSuhern  von  gestern  der  Adel  von  heute  wurde. 
Beispiele  r  Meder,  Ustgothen,  Franken  in  Oallien,  Normannen  in  Söditilien. 

Aber,  wo  immer  ein  Staat  entstanden  ist,  da  entstautl 
er  als  politisches  Mittel  einer  Menschengruppe  zur  ge- 
regelten Befriedigung  ihrer  ökonomischen  Bedürfnisse  mitt«ls 
Aneignung  von  Äjbeitserzeugnissen  anderer  Menschengruppen 
ohne  äquivalente  Gegenleistung.  Das  ist  eine  durchaus  all- 
gemeine Thatsacbe,  eine  Begel  ohne  irgend  eine  Ausnahme, 
wie  z.  B.  FaiBDBicH  Batzkl  feststellt  Die  geschilderte 
Entstehung  des  Staates  ist  nicht  ein  Typus,  sondern  der 
Typus  schlechtweg. 

Betrachten  wir  einen  solchen  Staat,  so  finden  wir  ein 
bestünmtes  Spiel  der  Kräfte.  Einerseits  haben  wir  einen 
polaren  Gegensatz  in  dem  besonderen  ökonomischen  Be- 
dOrfiiis  der  beiden  Gruppen.   Das  Interesse  der  ausbeutenden 


iM,Coo<^lc 


Skisie  der  aoiial-dkoiiftmisoliBii  OflBotdobtsanfbssnDg.  87Q 

Gruppe  geht  dahin,  das  bestehende,  ihr  günstige  Becht,  das 
sie  einseitig  auferlegt  liat,  zu  erhalten:  sie  ist  „konserTaÜT". 
Das  Interesse  der  ausgebeuteten  Gruppe  geht  im  Gegenteil 
dahin,  das  bestehende  Eecht  aufzuheben  und  durch  das 
Recht  der  Oleichheit  aller  Hitglieder  des  „Volkes"  zu  er- 
setzen: sie  ist  „liberal"  und  „revolutionär". 

Hier  steckt  die  Wurzel  aller  Klassen-  und  Parteienpsy- 
chologie. Kraft  der  oben  dargestellten  Selbsttäuschung  be- 
ruft sich  jede  Gruppe  auf  Vernunft  und  Sittlichkeit,  um  ihre 
Handlungen  zu  rechtfertigen.  Die  herrschende  Gruppe 
konunt  überall  schnell  zu  der  Überzeugung,  dass  sie  selbst 
besseren  Blutes,  besserer  Rasse  ist  als  die  unterworfene; 
äaas  diese,  tftörrisch,  tückisch,  trag  und  feig,  ganz  unfähig 
ist,  sich  selbst  zu  regieren  und  zu  verteidigen;  dass  jede 
Auflehnung  gegen  ihre  Herrschaft  dem  göttlichen  Willen 
und  dem  göttlichen  Sittengesetz  zuwiderlaufe.  Sie  verbindet 
sich  daher  Überall  mit  der  Priesterschaft,  die  diese  Religion 
zu  verkünden  hat,  die  das  „Tabu"  auf  das  Becht  des  Staates 
und  den  Besitratand  der  herrschenden  Gruppe  legt,  wofür 
sie  einen  Anteil  au  deren  Rechten  und  GenussgUtem  erhält 
So  entsteht  die  charakteristische  Psychologie  jeder  Herren- 
klasse: Bassenstolz,  Verachtung  der  arbeitenden  Unterschicht, 
Oberzeugte  oder  wenigstens'  äusserlich  dokumentierte 
Frömmi^eit.  Dazu  tritt  eine  Neigung  zum  Verschwenden, 
die  sich  edler  als  Freigebigkeit  darstellen  kann:  sehr  be- 
greiflich bei  dem,  der  nicht  weiss,  „wie  Arbeit  schmeckt", 
und  als  schönster  Zug  die  persönliche  todverachtende  Tapfer- 
keit, erzeugt  durch  die  Notwendigkeit  einer  Minderheit,  jeden 
Augenblick  ihre  Rechte  mit  der  Waffe  zu  verteidigen,  und 
begünstigt  durch  die  Befreiung  von  aller  Arbeit,  die  den 
Körper  in  Jagd,  Fehde  und  Sport  auszubilden  gestattet 

Umgekehrt  ist  die  unterworfene  Gruppe  natürlich 
„liberal".  Sie  hält  den  Rassen-  und  Adelsstolz  für  eine 
Änmassung,  sich  selbst  fUr  mindestens  so  guter  Rasse  und 
guten  Blutes,  die  Arbeit  für  die  Quelle  aller  Ehre  und  allen 
Glücks,  ist  häufig  skeptisch  gegenüber  der  Religion,  die  sie 

rmn-ii-.-i  Google 


3gO  Ifrans  Oppenheim  er: 

mit  ihren  Ausbeutern  verbunden  sieht,  und  ist  bei  einiger 
intellektueller  Entwickelung  ebenso  fest,  wie  der  Adel  vom 
Gegenteil,  davon  Überzeugt,  dass  die  Privilegien  der  heir- 
scheaden  Gruppe  gegen  Recht  und  Vernunft  verstoBsen. 
Ihr  steht  es  ausserhalb  jeden  Zweifels,  dass  nur  die  De- 
mokratie das  Gltlck  der  Völker  gewährleistet,  und  dasanur 
sie  mit  dem  göttlichen  Rechte,  oder  wenn  sie  diesen  Anklang 
an  die  Religion  vermeiden  will,  mit  dem  „Naturrechte"  ver- 
einbar ist. 

Unter  diesem  Widerstreite  der  Interessen  mtlsste  der 
junge  Staat  alsbald  auseinander  fallen  {oder  vielmehr,  er 
könnte  gar  nicht  erst  zur  Bildung  gelangen,  da  die  Aus- 
gebeuteten nur  durch  nackte  Gewalt  in  ihrer  Abhängigkeit 
gehalten  werden  könnten,  sodass  das  vierte  Stadium  nie 
überschritten  werden  würde),  wenn  dieser  Gegensatz  nicht 
durch  starke  Gemeinsamkeiten  der  beiderseitigen  Gruppen- 
interessen gemildert,  unter  Umständen  sogar  überkompen- 
siert würde. 

Wir  kennen  dies  Gemeininteresse  bereits.  Es  beruht 
darin,  dass  die  herrschende  Gruppe  im  Interesse  der  dauern- 
den und  reichlichen  Versorgung  mit  ökonomischen  Gütern 
das  stärkste  eigene  „FürsorgebedUrfiüs"  hat,  die  beherrschte 
Gruppe  mindestens  in  ihrem  Bestände,  „prästations^hig", 
zu  erhalten.  Zu  dem  Zwecke  schützt  sie  sie  nach  aussen 
gegen  andere  Ausbeuter:  die  militärische  Aufgabe  des 
Staates;  und  nach  innen  gegen  die  Übergriffe  ihrer  eigenes 
Mitglieder  durch  die  „Satzung"  eines  beide  Teile  bindenden 
Rechtes:  der  Staat  als  Rechtsstaat! 

Dies  gemeinsame  Bedürfnis  der  Verteidigung  und  des 
Rechtsschutzes  ist  in  der  Regel  stark  genug,  um  die  zentri- 
fugale Kraft  des  Gegensatzes  zwischen  Ausbeutern  und  Aus- 
gebeuteten aufzuheben.  Und  dieses  gemeinsame  Bedürfnis 
macht  die  beiden,  ursprünglich  nur  mechamsch  in  und  g^a 
einander  gepressten,  häu£g  stamm-  und  sprachfremden,  Massen 
nun  zu  einer  organischen,  „historischen"  Masse  mit  einer 
gemeinsamen  Massenpsychologie,  für  die  die  oben  für  jede 


iM,Coo<^le 


BkiziB  der  sozial-3b)Doimsclisn  Gesohiohtsaaffaasimg.  gg^ 

menscbliche  Masse  eatvickelten  Bewegtmgsgesetze  natürlich 
volle  Geltung  haben. 

Dieser  „primitiTe  Staat",  wie  wir  ihn  nennen  wollen, 
macht  fortan  eine  ganz  geeetzmässige  Bntwickelung  durch, 
deren  HauptzUge  durch  alles  Arabeskenwerk  der  individualen 
—  wenn  das  Wort  hier  gestattet  ist  —  Schicksale  deutlich 
zu  erkennen  sind.  Die  Ursachen  der  Bewegung  sind  auch 
hier  Maseenbedlirfnisse,  und  sie  bedienen  sich  sowohl  der 
politischen  wie  der  ökonomischen  Mittel.  Die  Qflschichts- 
darstellung  einer  bescimmten  Epoche  wird  daher  genötigt 
sein,  das  zeitliche  und  räumliche  Nebeneinander  aufzuweisen, 
zu  betrachten,  wie  das  ökonomische  und  das  politische  Mittel 
sich  wechselseitig  beeinflussen,  wie  sich  „Staat"  und  „Wirt- 
schaft" gegenseitig  beeinflussen,  rerschlingen,  durchdringen, 
sich  fördern  und  lähmen.  Dazu  bedarf  es  aber  als  der  un- 
umg^glichen  Voraussetzung  einer  isolierenden  Vorarbeit,  die 
die  verschlungenen  Fäden  aaseinanderwirrt,  jede  einzelne 
Komponente  für  sich  allein  betrachtet  und  so  dasjenige  fest- 
stellt, was  die  maraistischen  Hegelianer  die  „innere  Dialektik" 
jedes  der  beiden   geschicbtlicben  „Mittel"   nennen  würden. 

ß)  Die  Entfaltung  des  politischen  Mittels. 
(Das  Feudalwesen). 

Die  Staaten  werden  erhalten  durch  das  gleiche  Prinzip, 
durch  das  sie  geschaffen  wurden.  Der  primitive  Staat  wurde 
geschaffen  durch  den  Krieg:  er  kann  nur  erhalten  werden 
durch  den  Krieg. 

Das  ökonomische  Bedürfnis  hat  keine  Grenzen,  kann 
niemals  voll  befriedigt  werden,  der  Reiche  ist  sich  niemals 
reich  genug.  So  lange  die  herrschende  Moral  die  des  Faust- 
rechtes ist,  nach  deren  Codex  jeder  —  ausserhalb  des 
„Priedenskreises"  seiner  Gruppe  —  jedem  nehmen  darf,  was 
er  mag,  wenn  er  kann:  so  lange  muss  Krieg  aller  gegen  alle 
bestehen.  Und  diese  Moral  des  Faustrechtes  ist  in  primitiven 
Orappen  wie  bekannt  die  allein  herrschende. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


382  PTtni  Opp«nh»im«r: 

Der  „Adel"  —  bo  werden  wir  von  jetzt  an  die  sieg- 
reiche Gruppe  des  primitiven  Staates  nennen,  empändet  ein 
starkes  „BedUrfhis"  nach  den  ArbeiterzeugnisseQ  der  benach- 
barten, noch  nicht  onterworfeneu  Ackerbaus.  Dieses  negative 
„Bedürfnis"  eines  Mangels  wird  noch  verstärkt  durch  das  in 
gleicher  Richtung  wirkende  „positive"  Bedürihis  einer  kräftigen, 
im  Übennass  ernährten,  arbeitsfireieu  Masse,  eine  „innere 
Schwüle"  zu  entladen,  d.  h.  durch  die  „unruhige"  (das  Wort 
deckt  den  Begriff  vortrefflich)  Thatenbegier  und  Kampflust 
Der  Erleg  ist  dem  Adel  nicht  nur  politisches  Mittel,  sondern 
auch  Seibatzweck,  ntUnlich  SportI 

So  greift  der  Krieg  über  die  Grenzen,  unterwirft  Be- 
zirk nach  Bezirk  der  lose  organisierten  Ackerbauer,  erweitert 
den  Staat  —  bis  seine  „Interessensphäre"  mit  der  eines 
anderen  Staates  gleicher  Bildung  zusammenstöast.  Jetzt 
wird  aus  dem  kriegerischen  Raubzuge  zum  ersten  Male  ein 
wirklicher  Krieg  im  engeren  Sinne,  da  jetzt  zum  ersten  Male 
gleich  organisierte  Massen  gegeneinander  branden;  das  End- 
ziel des  Kampfes  bleiben  immer  Tribut,  Beute,  Steuer,  Gnmd- 
rente:  aber  der  Kampf  geht  nicht  mehr  zwischen  der  Gruppe, 
die  ausbeuten  will,  und  dei^enigen,  die  »isgebentet  werden 
soll,  sondern  zwischen  zwei  ausbeutenden  Gruppen  um  die 
gesamte  Beute,  eine  sehr  wichtige  neue  Erscheinung  der 
internationalen  Beziehungen,  die  sich  auf  höherer  Stufe  in 
den  intranationalen  Beziehungen  immer  wieder  reproduziert. 

Das  Ergebnis  des  Zusammenstosses  ist  immer  das 
gleiche:  Entstehung  eines  Staates  von  grösserem  Umfang  and 
grösserer  Bevölkerung,  Indem  der  eine  der  beiden  um  die 
„Hegemonie",  das  „Prinzipat",  kämpfenden  Staaten  den 
anderen- angliedert.  Welcher  von  beiden  den  anderen,  das 
ist  für  die  HanptUnien  der  Entwickelung  gleichgültig,  und 
darum  —  ich  verweise  auf  die  oben  gegebenen  AusfOhrungea 
Über  den  Fehlschluss  dynastischer  Geschichtsaufbssong  — 
liegt  fUr  die  wissenschaftliche  GesohichtsaufTassung  kein 
Grund  vor,  den  siegreichen  Führer  als  Heros  zu  verehren; 
wohl  aber  für  die  Zeit-  und  Volksgenossen  I 


iM,Coo<^lc 


Skim  der  sozia]  -ÖkoDomiiohBii  OesohiQhtsaaffaasiiiiit.  gg3 

Denn  fUr  sie  handelt  es  sich  darum,  wer  Hammer 
und  wer  Ambos  spielen  soll  in  diesem  weltgeschichtlichen 
SchweisBungBprozess.  Am  stärksten  ist  -^kr  „Adel"  an  dem 
Ausgange  interessiert:  für  ihn  handelt  es  sich  nicht  nur  um 
ein  Mehr  oder  Minder  an  wirtschaftlichen  GenussgtUem, 
Bondem  meistens  um  seine  gesamte  Existenz. 

Denn  hiofig  wird  die  besieg  AdelsklosM  anigerottet  (bayrisohsr 
and  sobw&btHher  Yolksadel  doroti  die  Franken);  etienso  h&ofi);  la  einer 
Klüse  mmderen  Reobtes  berabgedrnokt,  entweder  zu  einer  MittelUasae. 
die  noch  einige  Reite  der  alten  Tribatrechte  babäit  Irömisohe  Poaseesoren 
in  den  TOlkerwaodenuigsstaateD,  ugeLiftchsiBoher  Adel  naob  der  normannisolien 
Eroberang  Englands)  oder  ganz  ins  Proletariat  herabged rückt.  Nnr  selten 
-wird  er  als  Tollberechtigt  rezipiert,  von  den  siegreiolien  Adelsgruppen  ins 
Konnubium  anfgenommen,  Boznsagen  adoptiert  (Bäohsisoher  Adel  im  Karolinger- 
reich,  einzelne  tuskieche  nnd  latiniscbe  Familien  in  Rom,  einige  nendisoba 
Dynasten  in  Brandenburg,  der  alaTieobe  Adel  in  Meoklenbnrg  und  Fommem). 

Wie  das  im  einzelnen  ausläuft,  ist  nichts  als  eine  Frage 
der  relativen  politischen  Macht,  denn  es  handelt  sich  lun 
Festsetzung  tob  Kechten,  und  jedes  Becht  im  Staate  ist 
„die  jedesmalige  Grenze  der  erkämpften  Machtsphäre" 
(GdmfiiOWioz).  Je  gleicher  die  aufeinanderprallenden  Kräfte, 
umso  gleichmässiger  verteilen  sich  die  Rechte  im  Friedens- 
schluBS,  je  ungleicher  die  Eräfte,  nm  so  bitterer  btlsst  der 
Überwundene:  vae  victis! 

Die  „Plebs",  wie  fortan  die  unterworfene  Gruppe  ge- 
nannt sein  mag,  ist  an  dem  letzten  Ausgang  des  Kampfes 
der  beiden  Adelsklassen  nicht  interessiert;  denn  es  ist  ihr 
sehr  gleichgültig,  an  welchen  Grundherrn  oder  KOnig  sie 
Rente  und  Steuern  bezahlt,  namentlich  wenn  der  Kampf 
zwischen  rassen-,  sprach-  und  etwa  noch  religionsverwimdtea 
G^ppen  spielt  Wohl  aber  ist  die  Plebs  sehr  lebhaft  inter- 
essiert an  dem  Verlaufe  des  Krieges.  Denn  der  wird  auf 
ihrem  Rücken  ansgefochten.  Jede  Addsklasse  hat  das  leb- 
hafteste Interesse,  die  andere  „bis  zur  Weisse  zur  Ader  zu 
lassen",  um  ihre  Kampfkraft  zu  schwächen.  Diese  Kraft 
wurxelt  in  dem  Steuerrecht  auf  die  Arbeitserzengnisee  der 
Plebs:  folglich  gebietet  die  Logik  der  Dinge,  diese  Wurzel 
auaEorotten,  die  Steuerffihigkeit  der  Plebs  zu  zerstören. 
Daher  die  furchtbare  Zerstörungswut  der  Kriege  in  dieser 


iM,Coo<^lc 


384  Frans  Oppenheim  er: 

Epoche,  das  Niederbrennen  der  Hütten,  das  NiederBtempfeii 
der  Kornfelder,  die  Zerstörung  der  Weinstöcke  und  Frucht- 
baume, das  Niedermetzeb  der  Herden  und  der  Menschen 
selbst,  soweit  sie  nicht  als  Sklaven  fortgefDhrt  werden  können. 
Darum  hat  die  Plebs  ein  ungeheuer  starkes  Interesse  daran, 
den  Krieg  auf  das  Gebiet  der  Nachbarn  zu  verpflanzen;  das 
„G-emeininteresse"  ist  stark  genug,  um  den  Gegensatz  der 
Sonderinteressen  zu  Überwinden,  und  so  lässt  sich  die  Plebs 
willig  vom  Adel  in  den  Krieg  führen,  um  das  Vaterland  zu 
verteidigen,  obgleich  der  Löwenanteil  an  der  Beute  dem 
Adel  zufällt. 

Auf  diese  Weise  wächst  also  der  primitive  Staat,  oder 
vielmehr,  um  die  SpKNCBas'scbe  Weltformel  anzuwenden,  eioe 
Angflhl  von  primitiven  Staaten,  „integrieren"  sich  zu  einem 
grösseren  Aggregat.  Und  im  gleichen  Schritt  damit  schreit«! 
die  „Differenzierung"  voran.  Dass  die  ursprüngliche  Gliederung 
in  zwei  Gruppen  sich  weiter  unterghedem  kann  und  häufig 
wirklich  untergliedert  in  mehr  Gruppen,  je  nachdem  die 
relative  Macht  der  kämpfenden  Teile  über  ihr  künftiges  Recht 
entschied,  haben  wir  bereits  gesehen.  Das  ist  aber  nicht 
die  einzige  Kraft  noch  der  einzige  Grund  der  DUTerenziernng. 

Je  grösser  das  Staatsgebiet  wird,  umso  weniger  ist 
es  möglich,  es  zentraiistisch,  von  einem  Punkte  aus,  zu  ver- 
walten, so  lange  Nachrichten-  und  Transportwesen  so  gut" 
wie  ganz  unentwickelt  sind.  Die  Tendenz  zur  ZentraUsatJon 
durch  den  Krieg  führt,  als  These,  zu  ihrer  Antithese,  der 
Dezentralisation  in  ihrer  Verwaltung.  Mitglieder  der 
herrschenden  Gruppe  werden  in  den  Provinzen  als  Satrapen, 
Prokonsuln,  Grafen,  Herzöge,  Governadoren  etc.  mit  der 
Vertretung  der  Gruppeninteressen  betraut.  So  lange  mangels 
einer  Geldwirtschaft  ein  geordnetes  fiskalisches  System  nicht 
mögUch  ist,  müssen  diese  Beamten  mit  ihrem  Gebalt  und 
Etat  auf  das  Steuersubstrat,  Land  und  Leute,  angewiesen 
werden:  sie  ziehen  sich  ihr  persönliches  Deputat  von  den 
allgemeinen  Staatseinnahmen  ab,  disponieren  selbständig  Über 
eüien  anderen  Teil  für  die  Zwecke  der  Wehrkraft,  des  Becht»- 


iM,Coo<^le 


Bldzza  der  soiial-6k<moiiitscheii  GwchiehtMnftosnng.  3g5 

Schutzes,  der  Kirche  imd  der  Woblfahrtspolizei,  soweit  sie 
im  Keime  vorhanden  ist,  (Strassen-  und  Märktewesen  etc.), 
und  liefern  den  Kest  ab. 

So  beherrschen  sie  —  der  Himmel  ist  hoch  und  der 
Zar  weit  —  ihren  Amtsbezürk  mit  sehr  grosser  Selbständig- 
keit, und  es  kann  nicht  ausbleiben,  dass  sich  in  ihnen  ein  wirt- 
schaftliches BedUrfius  entwickelt,  das  dem  der  Q^samtheit 
immer  stärker  entgegenläuft.  Der  an  der  Ostgrenze  reperende 
Machthaber  ist  wenig  geneigt,  seinen  Kriegsschatz,  seine 
Qarde  und  seine  Bauemtruppen  an  die  Bekämpfung  eines 
Feindes  zu  setzen,  der  die  ferne  Westgrenze  bedroht.  Er 
hat  das  Bedürfnis,  das  Steueraufkommen  seines  Bezirkes  fUr 
sich  und  die  Erhöhung  seiner  Macht  zu  verwenden,  statt  es 
für  Gruppengenossen  und  andere  Bezirke  herzugeben;  er 
hat  schliesslich  das  stärkste  Interesse,  eine  höhere  Macht 
zu  zerstören,  die  sich  in  die  politischen  Beziehungen  zwischen 
ihm  und  seinen  Untertbanen  mischt,  als  Appellationsinstanz 
ihnen  den  EUcken  steift,  ihn  auf  Schritt  und  Tritt  beengt, 
ja  in  seiner  Existenz  bedroht.  Denn  natürlich  kennt  die 
regierende  Klique  im  Zenü-mn  die  Gefahren  des  Sstrapen- 
wesens  ebenso  genau  und  ist  ängstlich  bemüht,  die  lokalen 
Machthaber  nicht  zu  gross  werden  zu  lassen.  So  verwandelt 
sich  die  Tendenz  zur  administrativen  Dezentralisation  in 
die  bewusste  Tendenz  zur  politischen  Dezentralisation:  im 
Gebäude  des  Einheitsstaates  entstehen  Bisse.  Zuletzt  zerßillt 
er  in  eine  Reihe  von  Kleinstaaten,  die  vielleicht  noch  durch 
eine,  fast  nur  noch  formelle,  ohnmächtige  ZentraUnstanz  zu- 
sammengehalten werden,  die  aber  dessenungeachtet  mitein- 
ander in  unaufhörlichem  Kampfe  liegen.  Von  dem  ersten 
Stadium  des  Krieges  aller  gegen  alle  unterscheidet  sich  das 
jetzige  nur  dadurch,  dass  Inzwischen  die  politische  Diffe- 
renzierung und  die  ökonomische  Differenzierung,  die  uns  sofort 
beschäftigen  wird,  mehr  Gruppen  mit  eigenen  Interessen  er- 
schaffen haben,  die  auf  die  Masse  in  der  lUchtung  ihres  Be- 
dürfnisses wirken  und  das  Spiel  der  Kräfte  in  einer  anderen 
Diagonale  vereinen. 

TIartaUabmiliilft  f.  irimmteimta.  PUlo*.  a.  SodoL     XXVU.    l.  ^ 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^le 


386  Fraoi  OppeDhaimer: 

Jedoch  sind  die  geschilderten  politischen  Kräfte  (Eriei 
und  Verwaltung)  nicht  die  einzigen,  die  die  Differenzierung 
vollziehen.  Es  bestehen  noch  innerhalb  der  herrschenden 
Gruppe  selbst  urwüchsige  Verschiedenheiten,  die  Sonder- 
Interessen,  zentrifugale  Tendenzen  erzeugen.  Auf  diese  ur- 
wüchsigen Verschiedenheiten  war  bisher  keine  Bflckeicht  zn 
nehmen,  da  sie  fUr  die  bisher  g^chllderte  Seite  der  Ent- 
wickelung  ohne  Einfluss  waren:  jetzt  ist  es  Zeit,  säe  in 
Eecbuung  zu  stellen. 

Der  erobernde  Hirtenstanun  ist  keine  einheitliche  Hasse 
mehr,  wenn  er  zur  Staatsbildung  schreitet.  Er  ist  mindestens 
schon,  und  zwar  durch  das  politische  Mittel  des  Krieges,  in 
zwei  „Klassen",  d.  h.  Bevölkerungateile  verschiedenen  Ver- 
mögens und  Rechtes,  geschieden,  in  Freie  und  Sklaven.  Diese 
letztgenannten  sind  anfangs  nur  Kriegsgefangene,  die  von 
der  Hirtenstufe  an  nicht  mehr  geschlachtet,  aber  auch  nicht 
mehr  als  gleichberechtigt«  Genossen  adoptiert  werden,  wie 
noch  auf  der  Jägerstufe;  und  zwar,  weil  sie  erst  hier  zn 
einem  Mittel  der  wirtschaftlichen  Bedürfnisbefriedigung 
werden,  da  allein  ihre  Arbeitskraft  es  dem  Sieger  erlaubt, 
grössere  Herden  zusammenzuhalten  und  gegen  menschliche 
und  tierische  Feinde  zu  hüten. 

Aus  dieser  Zweiteilung  entwickelt  sich  sehr  bald  regel- 
mässig eine  Dreiteilung.  Der  grosse  Herden-  und  Sklaven- 
besitzer heinist  die  Beute  an  neuen  Herden  und  neuen  Weide- 
knechten  allein  ein,  wenn  er  auf  eigene  Faust  mit  sein^ 
Clan,  seinen  fireien  Verwandten  imd  bewaffiieten  Knechten, 
auf  Raub  und  Fehde  auszieht;  und  er  heimst  einen  grösseren 
Teil  ein,  wenn  er  als  Feldherr  mit  seiner  Garde,  seinein 
„Gefolge",  an  der  Spitze  des  ganzen  Stammes  siegte.  So 
akkumuliert  sich  das  Vermögen  der  NomadeniUhrer;  sie 
werden  zu  Fürsten,  „Fürsten  der  Stammhäuser",  wie  die 
Bibel  sie  nennt.  Unterstützt  wird  dieser  Ausleseproiesfl 
durch  den  Missbrauch  des  religiösen  Bedürfuisses  der  Masse 
als  eines  politischen  Mitteis:  der  „Patriarch",  der  ■^terhche 
Opferpriester,  versteht  es  überall,   das  seiner  Verwaltung 


iM,Coo<^lc 


Skizze  der  soual-ökonomiBohen  QesohicLtsaDffassiuig.  367 

anvertraute  StammesvermOgen  unmerklich  in  sein  Privat- 
vermögen  zu  verwandeln. 

Diese  Akkumulation  drllckt  zuweilen  schon  nach  unteo 
auf  die  kleineren,  ärmeren  Gemeinfreien  durch.  Sie  sinken 
ab  und  zu  in  eine  geminderte  Freiheit,  in  „OUentel"  zur 
Dienstpflicht,  herab,  namentlich  nach  Unglücksfällen  (Krieg, 
Seuchen,  Dürre,  Schneestürmen  etc.),  die  mit  ihrer  kleinen 
Herde  ihre  Existenzgrundlage  vernichteten.  Dann  müssen 
sie  von  dem  Patriarchen,  dem  StammfUrsten  oder  dem  ein- 
fachen  „Reichen"  Vieh  auf  Darlehn  nehmen,  ein  fee-od, 
ein  Vieh-Eigen:  den  Embryo  aller  „feodalen"  Beziehungen; 
denn  der  Entleiher  wird  für  immer  oder  bis  zur  Abzahlung, 
die  meist  mit  schweren  Wucherzinsen  zu  erfolgen  hat,  ein 
abhängiger  treueverpflichteter  „Mann"  des  Darleihers.  Solche 
Verhältnisse  wurden  kaum  als  sehr  drückend  empfunden,  da 
sogar  die  volle  Sklaverei  im  Hirtenstamme  eine  keineswegs 
harte  ist,  noch  auch  dort  sein  kann,  wo  die  Bewegungsfreiheit 
der  Weidesklaven  so  gross  ist.  Die  Sklaverei  zeigt  ihr 
schlimmes  Wesen  erst  in  der  Geldwirtschaft,  bei  der  kapi- 
talistischen Ausbeutung  der  Unfreien  für  einen  zahlungs- 
kräftigen Markt. 

Immerhin  hält  im  Hirtenstamm  die  gemeinfreie  Masse 
in  der  Rege!  noch  das  Heft  in  der  Hand.  Und  so  bildet 
der  primitive  Staat  mindestens  dort,  wo  der  ganze  Stamm 
als  Eroberer  auftrat,  anfangs  eine  Art  aristokratischer  De- 
mokratie, aus  der  sich  einige  reiche  Geschlechtshäupter  ein 
wenig  herausheben,  ohne  eine  ausschlaggebende  politische 
Macht  entfalten  zu  können.  Sie  sind  zn  den  Heerführer- 
und  Priesterstellen  ceteris  paribus  prädestiniert,  zu  den 
ersteren  ihrer  kriegerischen  Erfahrung  und  ihrer  unentbehr- 
lichen Gefolge  halber,  zu  den  letzteren  durch  ihren  Reichtum 
(Opfer):  aber  sie  stehen  als  Beamte  unter  scharfer  und  wirk- 
samer Kontrolle  der  vollfreien  Heeres-  und  Ratsversammlung, 
der  sie  z.  B.  mit  dem  Leben  für  die  Gunst  der  Götter  haften, 
deren  Dienst  ihnen  anvertraut  ist:  noch  in  historischer  Zeit 
wurden   von    germanischen   Völkerschaften    „Borkenkönige" 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


888  Franz  Oppenbeimer: 

geopfert,  imter  deren  Herrschaft  das  Volk  Baumrinde  hatte 
essen  müssen,  weil  Misswachs  und  Viehsterben  heirscbteo. 
So  stehen  die  kleinen  Gaukönige  der  primitiven  Staaten 
Die  polnische  Szlachta  im  10.  Jahrhundert  gieht  ein  un- 
gefÄhres  Bild  solcher  adeligen  Demokratie.  Unter  ihr,  recht- 
los, unpolitische  Wesen,  schmachtet  die  Plebs. 

Ein  wenig  anders  verUntt  dio  Entwickeluitg  da,  wo  da  vonäiEiui 
«....__   _...  ., ., —    _,.__  Qg,riUir  des  StanuuM, 

e  Chlodwig  in  OaUieo. 
I  TOmharein  viel  fester  eniotatet,  yiel  wtoigm 

Die  Bildung  des  „Staates"  wird  Ursache  einer  viel 
stürkeren  und  folgenschwereren  inneren  Differenzierung  der 
herrschenden  Gruppe,  als  zuvor  möglich  war.  Der  Stamm 
mag  die  neugewonnene  Beute,  Acker,  Land  und  Leute,  sogu 
gerecht  teilen,  jedem  Krieger  so  und  so  viel  Bauern:  dennoch 
entsteht  sofort  eine  ungemein  bedeutende  G^undbe6itzye^ 
schiedenheit,  denn  dem  FUrsten  wird  soviel  Ackerland  ao- 
gewiesen,  wie  er  für  seine  —  eigentumsunfähigen  —  Weide- 
sklaven braucht,  die  er  mit  in  den  neuen  Zustand  inferierte. 
Da  ein  Begriff  vom  Werte  des  Bodens  angesichts  der  un- 
geheuren noch  nicht  umbrochenen  Fläche  nicht  existi^tB 
kann,  geschieht  diese  Zuweisung  oder  Okkupation  ohne  jeden 
Hintergedanken. 

Fortan  haben  wir  drei  Hauptklassen  zu  unterscheidea: 
den  Grossgrund-  und  Grossherdenbesitzer,  den  Edeling  oder 
Flirsten  des  Gaus,  mit  zahlreichen  zinspQichtigen  Bauern 
und  persönlichen  Dienern  und  Kriegern;  zweitens  die  Ge- 
meinireienmitkleinem  Grundbesitz  und  wenigen  Ackerknechten, 
und  zuletzt  diese  selbst,  die  in  mehrere  Klassen  zerf^eii 
können,  wenn  die  miteingebrachten  Weidesklaven  ein  anderes 
Recht  erhalten  als  die  unterworfenen  Ackerbauer,  die  wir 
als  „Hörige"  bezeichnen  wollen.  Aber  diese  Unterteilung 
ist  fUr  den  grossen  Gesamtverlauf  ohne  Belang. 

Dieser  zeigt  folgende  Hauptaüge:  Aufstieg  der  grossen 
Grundbesitzer  und  der  Plebs,  Niedergang  der  Zentralgewalt 
und  der  Gemeinfreien. 


iM,Coo<^lc 


SUize  der  Bo^al-dkonoiniBobeii  OesohiobtuDfEusDiig,  889 

Die  grossen  Grundbesitzer,  seieo  es  nun  die  reichen 
Herdenbeeitzer  der  ersten  staatsbildenden  Okkupation,  oder 
seien  es  ihre  Nachfolger  im  Besitz,  die  adeligen  Beamten 
aus  der  siegreichen  Gruppe  des  durch  den  Krieg  zusammen- 
gescfaveissten  Einheitsstaates,  dehnen  ihre  lokale  Macht  durch 
das  politische  Mittel  mehr  und  mehr  aus.  Sie  lassen  durch 
ihre  Sklaven  und  Hörigen  im  noch  nicht  okkupierten'Lande 
roden ;  ihr  vermehrtes  Einkommen  ermöglicht  ihnen,  ihr  per- 
sönliches „Gefolge",  ihre  Garde,  zu  verstärken:  mit  ihr 
unternehmen  sie  immer  weiter  spannende  Raub-  und  Er- 
obemngszüge  Ober  die  Grenzen  imd  wohl  auch  in  die  Inter- 
essenfiphären  benachbarter  Beamten  des  gleichen  Staats- 
wesens, gewinnen  neues  Land  zur  Besiedeluug  mit  abhängigen, 
zins-  und  heerdienstpflichtigen  Männern,  neue  Mittel  zur 
Verstärkung  ihrer  militärischen  Hausmacht.  So  werden  sie 
immer  stärker  und  stärker. 

Im  gleichen  Masse  wird  die  Zentralgewalt  schwächer. 
Ihr  entgleiten  die  Provinzen,  die  sich  nun  als  selbständige 
Mächte  neben  ihr  und  gegen  eie  behaupten.  Um  in  den 
Nöten  der  auswärtigen  Verwickelungen,  die  kraft  des  inneren 
Bewegungsgesetzes  des  politischen  Mittels  nicht  aufhören 
können,  die  Hilfe  der  lokalen  Machthaber  zu  gewinnen,  muss 
die  Zentralgewalt  die  Zukunft  ftlr  die  Gegenwart  verkaufen. 
Sie  sieht  sich  gezwungen,  die  faktische  Gewalt  der  lokalen 
Machthaber  formell-rechtlich  anzuerkennen,  indem  sie  ihnen, 
eines  nach  dem  andern,  die  staatlichen  Hoheitsrechte  abtritt, 
Die  wichtigsten  sind  die  Erblichkeit  des  Lehens,  die  Ge- 
richtsbarkeit und  die  staatlichen  Begalien,  hier  vor 
^em  die  Verfligung  über  das  noch  unbebaute  Land,  das 
nach  gleichmassigem  Volksrecht  überall  dem  Stamme  als 
Gesamtheit  gehört,  dessen  Verteilung  dem  Patriarchen,  dem 
Geschlechtshaupte,  dem  Kuni,  zusteht. 

Von  diesem  Augenblicke  an  sind  die  gemeinfreien 
Bauernschaften  geUefert.  Ihre  Macht  war  schon  ohnehin 
durch  den  Wechsel  des  Berufs  geschwächt:  sMä  dem  kampf- 
frohen Hirtenkrieger  war   der  waffenentwöhnte  Bauer   ge- 

n,g,t,7l.dM,.COOglC 


890  FrkDi  Oppenhoimar: 

worden,  während  der  GaufUrst  seine  politische  Macht,  sein 
Einkommen  und  seine  Garde  fortwährend  verstärkte.  Schon 
stand  die  Wage  der  Macht  gleich:  der  Verzicht  der  Zentral- 
gewalt  auf  ihre  Rechte  ISsst  die  Schale  der  Gemeinfreibeit 
emporschnellen.  Schon  die  Übertragung  der  Gerichtshobeit 
(Immunität)  an  den  TenitorialfUrsten,  der  Verlust  der  Appet- 
latioQ  an  die  Zentralgewalt,  war  ein  nicht  zn  verwindender 
Schlag:  er  gab  der  Gewalt  die  Würde  des  Rechtes,  deckte 
sie  niit  dem  Tabu  der  Supersütion.  Aber  noch  viel  ver- 
nichtender wirkte  der  Verlust  der  noch  freien  Läudereien. 
Der  Machthaber  sperrt  sie  fortan  gegen  die  freie 
Siedelung  ab,  erschliesst  sie  nur  solchen  SiedelungswilligeE. 
die  entweder  schon  seine  HOrigen  sind  oder  sich  bereit 
erklären,  es  zu  werden.  Jetzt,  nach  dieser  mit  emem  Schlage 
erfolgten  ungeheuren  Vermehrung  des  fürstlichen  Qrossgnmd- 
eigentums,  das  alles  noch  freie  Land  usurpiert,  hat  es  eret 
den  Umfang  erreicht,  in  dem  es  die  ökonomische  Differen- 
zierung entscheidend  zu  beeinflussen  vermag. 

Bisher  hat  der  Zugang  zu  freiem  Lande  die  Ökonomisclie 
and  soziale  Gleichheit  den  Gemeinfreien  aufrecht  erhalten. 
Wenn  em  Bauer  zwölf  Söhne  hatte,  so  Übernahm  der  ilteste 
die  väterUche  Hufe,  und  die  elf  anderen  rodeten  sich  nene 
Hufen  in  der  Gemeinen  Mark.  Das  ist  fortan  unmöglicb, 
denn  die  Mark  ist  gesperrt.  Der  Besitz  von  Bauemfamilies 
mit  zahlreichen  Kindern  zersplittert,  der  anderer  akkumuliert 
sich  durch  glückliche  Heiraten  und  geschickte  Darlehen: 
kann  auch  mit  den  gemieteten  Kräften  der  durch  die  Boden- 
zersplitterung verarmten  Dörfler  fortan  mit  Erfolg  bebanl 
werden:  und  so  entsteht  eine  Dorfaristokratie  auf  der  einen, 
ein  Dorfproletariat  auf  der  anderen  Seite.  Und  das  geschiehi 
nicht,  wie  die  „ökonomistische  Geschichtsauffassung"  es 
regelmässig  darstellt,  weil  das  Land  „voll  besetzt",  d.  h.  von 
80  vielen  Menschen  braiedelt  war,  als  es  dem  Stande  der 
Technik  enUprechend  ernähren  konnte,  sondern,  weil  es 
durch  das  politische  Mittel  gesperrt  war! 

Damit  ist  der  Ruin   der  Gemeinfreiheit  entschiedeit. 


iM,Coo<^lc 


Skizze  der  aozial-ökoDomisohen  GeBchiobtsaufTaasang.  391 

Absolut  geschwächt  durch  Verlust  ihrer  Wehrkraft,  relativ 
geschwächt  im  Vergleich  zu  der  täglich  wachsenden  mili- 
tärischen  und  moralischen  Macht  des  zum  höchsten  Bichter 
aufgestiegenen,  zu  ihrem  erblichen  Fürsten  gewordenen 
Orossgrimdherm,  werden  sie  nun  auch  noch  durch  die 
Spaltung  in  mehrere  VermOgensklassen  mit  verschiedenen, 
gegen  einander  streitenden  Interessen  gelähmt.  Die  Folge 
ist  ihr  unaufhaltsames  Versinken  in  die  Hörigkeit,  in  die  sie 
teils  freiwillig  eintreten,  um  Land  zu  erhalten,  teils  halb 
gezwungen,  um  den  Chikanen  des  Oerichtsherm  zu  entgehen 
oder  in  den  ewigen  Fehden  einen  Schutz  zu  haben,  teils 
gepresst  durch  brutale  Gewalt  und  Missbrauch  der  Gesetze. 
Der  ewige  Kriegsdienst  im  dynastischen  Interesse,  zu  dem 
sie  jetzt  gezwungen  werden,  während  sie  vorher  nur  im 
Verteidigungskriege  aufgeboten  werden  durften,  legt  durch 
den  wirtschaftlichen  Verfall  den  noch  aufrechten  Best  so 
gut  wie  ganz  nieder,  und  das  allerletzte  thut  dann  die  Usur- 
patJon  der  Gemeindemarken  durch  den  zum  Obermärker 
emporgestiegenen  Grundherrn,  der  das  Rtlekgrat  aller 
Bauemwirtschaft,  die  Viehzucht,  durch  Beschränkung  der 
Weiderechte  zerbricht 

Wenn  ich  mich  hier  dor  Aoadräolie  dei  deutschen  Wirtsobaftslebeas 
bediene,  ao  will  ich  durchaoa  bo  veretandea  werden,  dasa  ioh  ganz  allge- 
metne  menBchiicba  Oetiobicbta  skizziere.  Nicht  nur  in  Europa,  nein 
«ach  in  Indien,  JsTa,  Japan  ist  der  Prozees  in  den  Haaptz&gen  Töllig 
gleich  vertaofen. 

Während  die  Freienschaft  auf  diese  Weise  sinkt,  steigt 
die  alte  Plebs  ebeumässig  empor.  Denn  in  demselben  Masse, 
wie  das  wirtschaftlich-politische  Interesse  des  Fürsten  eich 
gegen  seine  eigenen  kleineren  Stammesgenossen  wendet,  in 
demselben  Masse  identifiziert  es  sich  mit  dem  seiner  un- 
mittelbaren Unterthanen.  Sie  sind  seine  politische  Macht; 
ihre  Arbeit  schafft  ihm  die  Mittel,  seine  Garde  zu  unter- 
halten, ihre  Arme  schwingen  seine  Schwerter.  Aber  nicht 
nur  ihr  Gedeihen  ist  seine  Macht,  sondern  auch  seine  Macht 
ist  ihr  Gedeihen.  Die  Interessengemeinschaft  ist  reziprok; 
denn  nur,  wenn  ihr  „Herr"  emporsteigt,  können  sie  mit- 
emporsteigen, sein  Fall  ist  ihr  Fall. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


392  FrBDi  Oppenheimer: 

Das  gilt  schon  von  den  unfireiea  Ackerbauern,  Ober 
die  der  Herr  seine  schützende  Haad  bSJt,  aber  vor  ^em 
YOD  den  unfreien  Kriegern  seines  Gefolges.  Sie  haben  als 
Unfreie  keine  eigene  „Ehre",  nehmen  nur  au  der  Ehre  des 
Herrn  teil.  Ihr  Hass  gegen  die  hochmütigen  Gtemeinfreien 
ist  echt  und  gründlich,  die  ihnen  Verkehr,  Gemeinsamkeit 
des  Gerichts  und  Konnubium  versagen.  Schon  deshalb 
folgen  sie  dem  FQrsten  mit  Begeisterung  in  den  Kampf 
gegen  die  Bauern.  Aber  dieser  Hass  ist  noch  mehr  als 
bloss  das  „Keasentiment"  des  sozialen  Pariah:  er  ist  der 
Ausdruck  eines  tiefen  Interessengegensatzes.  Die  Plebs 
kann  nur  empor,  wenn  die  Gemeinfreiheit  zertrQimnert  vird, 
sie  muss  sie  zerstSren.  Und  daher  die  unzerbrechliche 
Interessengemeinschaft  mit  dem  Pursten,  der  allein  das  Zer- 
störungswerk vollbringen  kann. 

Das  ist  die  Interessenwurzel  der  sagenverklärten  „Ge- 
folgentreue",  die  darum  übrigens  nichts  an  ihrer  menschlichen 
Schönheit  verhert,  wie  überhaupt  nichts  thörichter  sein  kann, 
als  die  Verwechselung  des  historischen  „Materialismus",  wenn 
das  gebräuchliche  Wort  hier  einmal  gestattet  ist,  mit  dem 
Cynismus.  Die  Rose  ist  doch  herrlich,  wenn  auch  ihre 
Wurzel  in  den  Kot  taucht  1 

Der  Fürst  selbst  weiss  die  Interessengemeinschaft  mit 
den  kräftigen  Eepräsentanten  der  Plebs  Überall  zu  würdigen. 
Als  seine  Geschöpfe  sind  sie  ihm  sicherer  als  die  eigenen 
Gruppengenossen,  die  durch  ihren  Stolz  lästig  und  dnrcli 
rechtliche  Ansprüche  auf  Gleichheit,  sowie  durch  ihre 
Familienbeziehungen  gefilhrlich  sind.  Darum  steigt  Überall 
der  Freigelassene  am  Fürstenhofe  Über  den  Freien,  der 
Ministerial  Über  den  Edeling.  Und  so  tritt  an  Stelle  des 
alten  Volksadels  der  siegreichen  ethnischen  Gruppe  ein  neuer, 
ethnisch  gemischter  Hofadel,  in  den  der  Volksadel  zum  kleinen 
Teil  eingeht,  während  der  grossere  Teil  in  den  Kriegen 
der  Feudalepoche  zu  gründe  geht,  oder  —  die  kleinen  Ge- 
meinfreien —  in  die  Plebs  hinabsinkt  Der  sogenannte  ü^ 
adel  Deutschlands  ist  z.  B.   ein  Gemenge  von  Germanen, 


iM,Coo<^lc 


Skiue  der  Bozikl-Ökonomisohen  Oeeohiahfsanffassiuig.  393 

Kelten,  Romanen  und  „Mestizen  des  Rassenchaos"  (Cham- 
berlain),  die  am  Karolingerhofe  in  die  Hübe  kamen;  der 
deutsche  Sehwertadel  zum  grossen  Teile  Abkömmling  un- 
freier Ministerialen,  die  von  den  meist  aus  dem  Uradel  ent- 
standenen TerritorialfUrsten  beamtet  waren.    Und  so  Überall  I 

deht  schon  so  durch  die  politische  und  die  in  ihrem 
Rahmen  sich  abspielende  Ökonomische  Differenzierung  die 
primitive  Klassenscbeidung  nach  ethnischen  Merkmalen  all- 
mählich ganz  verloren,  bo  thut  die  biologische  Vermischong 
der  beiden  uraprOnglicben  Gruppen  den  Rest  Die  Herren 
erzeugen  mit  den  Frauen  der  Unterworfenen  Bastarde,  die 
teils  in  die  Herrenklasse  rezipiert  werden,  teils  als  kriegerisch- 
revolutionäre  Elemente  die  Widerstandskraft  der  Plebs  stärken, 
ein  Gesichtspunkt,  auf  den  schon  Graf  Gobineau  nachdrück- 
lich hingewiesen  hat. 

Das  Schlussergebnis  ist  eine  völlige  Verwischung  des 
alten  Gruppengegensatzes  und  die  Ausbildung  neuer  Gegen- 
sätze. Die  Oberschichten,  d.  h.  die  sozial  und  wirtschaft- 
lich Privilegierten  werden  jetzt  gebildet  durch  Teile  der 
alten  Siegergruppe  mit  Teilen  der  alten  Besiegtengruppe; 
und  die  ausgebeutete,  Steuer  und  Rente  bezahlende  Schicht 
besteht  jetzt  aus  den  Resten  der  alten,  nunmehr  stark  ge- 
hobenen Plebs,  die  mit  dem  Hauptteil  der  Siegergruppe, 
den  Gemeinfreien,  zu  einer  einheitlichen  Klasse,  den  „Grund- 
holden"  des  deutschen  Rechts,  verschmolzen  ist. 

Das  verkeant  Odhflowicz,  für  dan  der  Bp&tere  Elauengegeiisatz  sich 
iDomer  noch  daretellt  als  fiaasengegeosatE,  als  .RassenkampC*:  eine  der 
Haaptwnneln  eeines  soziologisctien  PessimiBmosl  Wir  werden  diesen  Fehler 
fortan  ZB.  Termeiden  wissen. 

Um  zu  rekapitulieren,  es  geht  mit  der  Differenzierung 
in  neue  Klassen  an  Stelle  der  alten  ethnischen  Gruppen  der 
Zerfall  des  Einheit^taates  in  selbständige  Fürstentümer  pa- 
rallel, die  um  die  Vorherrscliaft  und  Alleinherrschaft  kämpfen 
und  kämpfen  müssen,  weil  das  innere  Bewegungsgesetz  des 
politischen  Mittels  es  so  mit  sich  bringt;  weil,  wer  nicht 
Hammer  sein  will,  Ambos  werden  muss;  weil  das  BedUrfhis 
nach   arbeitsfreiem  Eüikommen  unbegrenzt  ist!    In  diesen 


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391  Fr«ni  Oppenkeimer; 

Kämpfen  der  Zentralisation  werdea  immer  wieder  neue  Sisr 
heitsstaaten  unter  neuen  Dynastien  gebildet,  die  immer 
wieder  au  der  Notwendigkeit  administrativer  DezeutraJisatioD 
verbluteu,  solange  es  uumOglicli  ist,  lokale  Beamte  auf  fest« 
Besoldung  zu  setzen,  solange  man  sie  mit  Land  und  Leuten 
belehnen  muss. 

Und  so  wtlrde  denn  alles  Staatsleben  in  einem  ewigen 
Kreislaufe  von  Organisation  und  Desorganisation  ablaufen 
müssen,  wenn  nicht  inscwischen  in  dem  Rahmen,  den  das 
politische  Mittel  schuf,  im  Staate,  daa  Ökonomisehe  MiUel 
neue  Differenzierungen,  neue  Massen  mit  einheitlichen  Be- 
dürfnissen, d.  h.  neue  Masseukräfte  erzeugt  hätte,  die  nun 
endlich  jenen  cbcidus  vitiosus  sprengen. 

2.  Die  Entstehung  des  ökonomischen  Mittels. 

Es  kann  an  dieser  Stelle  nur  eine  ganz  grobe  Skizze 
der  wirtschaftlichen  Entwicklung  gegeben  werden,  wie  sie 
durch  das  ökonomische  Mittel  der  BedUrfoisbeMedigung, 
Arbeit  und  äquivalenten  Tausch,  erzeugt  wird.  Wir  kennen 
den  Anfangszustand,  der  uns  hier  allein  zu  beschäftigen 
hat,  den  bei  der  Entstehung  des  Staates:  die  primitive 
Bauemwirtscbaft  wird  meist  im  Hackbau  betrieben  {so  in 
fast  ganz  Afrika),  weil  die  Domestikation  der  grossen  Hbob- 
tiere  und  ihre  Einstellung  zur  Ackerarbeit,  als  Püugtiere, 
erst  von  den  Hirten  mitgebracht  wurde.  Die  Stoffveredelung 
ist  noch  durchaus  auf  Hausfleiss  beschränkt  (Töpferei 
Weberei,  Zimmerer-  mid  Schmiedewerk.)  Hier  imd  da  ist 
der  Dorfgemeinde  wohl  schon  ein  auf  Naturaldeputat  an- 
gewiesener „artizan-staff"  (Indien)  angegliedert  Der  Handel 
beschränkt  sich  auf  den  Austausch  von  Luxusprodukten, 
seltener  auf  den  Vertrieb  der  Erzeugnisse  von  Stamm-  oder 
Dorfgewerben  (afrikanische  Schmiede,  polynesische  Töpferei 
und  Schiffswerften  etc.) 

Allmählich  verdichtet  sich  die  Bevölkerung  auf  der 
Flächeneinheit  unter  dem  Friedensschutz  des  Staates,  und 
gleichzeitig   dehnt   sich   sein   Gebiet     Beides 


iM,Coo<^lc 


Skisze  dflt  Boziil-ökonomisohen  Qeaohiohtsaii&ssaiig.  395 

genommeQ  macht  eine  Vergrösserung  des  Marktes  aus.  Mit 
dem  Markte  wächst  nach  dem  bekannten  Grundgesetze  der 
Ökonomik  die  Arbeitsteilung,  da  ein  spezialisierter  Beruf 
genug  Abnehmer  üudet,  um  seinen  Mann  zu  ernähren.  Die 
bäuerliche  Naturalwirtachaft  und  die  „Grossoiken Wirtschaft" 
der  grossen  Grundherrschaften  giebt  einen  Zweig  ilirer  alten 
gewerblichen  Eigenproduktion  uach  dem  andern  an  die  neu 
entstehenden  Gewerbe  ab:  die  von  mir  sogenannte  „primäre 
Arbeitsteilung"  zwischen  Landwirtschaft  und  Industrie  schreitet 
inuner  mehr  voran.  Die  Gewerbetreibenden  drängen  sich  teils 
aus  politischen  Gründen(SchutzbedUrfluB)  teils  ausökonomiscben 
Gründen  (Märkte)  in  den  Städten  als  BUrgerstand  zusammen, 
die  zum  Teil  schon  vorher  als  feste  Plätze  oder  fürstliche 
Hofhaltungen  oder  Kultstätten  bestanden  hatten.  In  ihnen 
greift  die  sekundäre  Arbeitsteilung  Platz:  der  Zimmermann 
spaltet  sich  in  Wagner,  Tischler,  Drechsler,  Zimmerling,  der 
Bclunied  in  Schlosser,  Spengler,  Huf-,  Kupfer-,  Grobschnded 
etc. ;  und  zuletzt  die  tertiäre  Arbeitsteilung,  die  Vereinigung 
zahlreicher  Arbeitskräfte  in  einem  Betriebe,  die  das  Maschinen- 
wesen, den  Grossbetrieb  vorbereitet.  In  gleichem  Masse 
entfaltet  sich  der  Handel,  der,  je  grösser  die  Stadt  mit  dem 
Wachstum  ihres  Marktes  wird,  um  so  mehr  Rohstoffe  und 
Kahrungsmittel  aus  immer  grosserem  Umkreise  heranzuschaffen 
und  immer  mehr  Gewerbserzeugniase  in  gleichem  Umkreise 
abzusetzen  bat. 

Gewerbe  imd  Handel  können  schon  auf  verhältnis- 
mässig wenig  entwickelter  Stufe  nicht  mehr  ohne  einen  be- 
quemen Wertmesser  auskommen:  die  Geldwirtschaft  ver- 
drängt in  immer  weiteren  Kreisen  den  alten  NaturaltauBch. 
Sie  entfaltet  sich  zunächst  in  den  Städten  zu  immer  grösserer 
Reife;  hier  zuerst  entsteht  die  moderne  Steuerwirtschaft, 
und  hier  zuerst  das  auf  ihr  beruhende  Wesen  modernen  Be- 
juntentums,  besoldeter  Bearatenl 

Sobald  sich  Geldwirtschaft,  Steuerwirtschaft  und  Be- 
amtenbesoldung  auch  auf  das  Gebiet  der  TerritorialfUrsten- 
tilmer  erstreckt  bähen,  ist  jener  circulus  vitiosus  gebrochen, 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


396  Fr&DB  Oppenheim  er: 

der  die  Einheitsstaaten  der  Naturalwirtschaftsepoche  immer 
■wieder  zersprengte.  Fortan  kann  die  unentbehrliche  admini- 
strative Dezentralisation  ohne  Gefahr  für  die  politische 
Zentralisation  ins  Werk  gesetzt  werden;  denn  niemajid  ist 
anhängiger  und  bleibt  abhängiger  von  der  Zentralinstanz  als 
der  von  ihr  besoldete  Betimte.  Selbst  der  Gedanke  einw 
Verselbständigimg  kann  ihm  nicht  kommen,  im  Gegenteil, 
sein  Interesse  ist  identisch  mit  dem  seiner  Auftraggeber. 

Mehr  nochl  Die  G«ldwirtschaft  ermöglicht  nicht  nur 
der  Zentralinstanz,  die  leitenden  Beamten  der  Provinzen  fest 
in  der  Hand  zu  behalten:  sie  vernichtet  noch  dazu  alle 
Eeime  selbständiger  Gewalten,  die  sich  etwa  in  ihrem  Macht- 
bereich noch  finden  mochten,  schneller  und  gründlicher,  als 
die  furchtbarste  Btutpolitik  es  hätte  vollbringen  können.  Und 
zwar  folgendermassen: 

Das  Endziel  aller  Handlung  der  kleineren  Grundaristo- 
kraten, die  in  den  Provinzen  in  halber  Abhängigkeit,  halber 
UnablULngigkeit  als  kleinere  Feudalherren  sitzen,  ist  nach 
wie  vor  möglichst  ausgiebige  und  gesicherte  Versorgung  mit 
Ökonomischen  GenussgUtem.  Das  einzige  praktikable  Mittel, 
um  dieses  Bedürfnis  zu  befriedigen,  ist  in  der  Natm-alwirt- 
schaft  die  möglichst  kräftige  Ausbildung  ihrer  militärischen 
Macht,  mit  der  sie  von  der  Zentralinstanz  sowohl  wie  von 
der  Plebs  alles  erhandeln,  erpressen,  erzwingen  können,  was 
sie  begehren,  mit  der  allein  sie  das,  was  sie  bereits  besitzen, 
verteidigen  können. 

Sobald  aber  die  Geldwirtschaft  durchgedrungen  ist, 
können  sie  ihr  Bedürfnis  viel  ausgiebiger  mit  dem  neuen 
Mittel,  mit  Geld,  befriedigen.  Viel  ausgiebiger;  denn  wenn 
sie  die  Naturalleistungen  ihrer  Hintersassen  fortan  an  die 
Städter  verkaufen,  statt  die  Hunderte  von  Mäulern  ihrer 
Kriegsknechte  samt  Familien  und  Streitrossen  zu  fUllen,  so 
sind  sie  für  ihre  Begriffe  ungeheuer  reich  und  können  alle 
die  lockenden  Luxuswaren  des  emporgeblOhten  Handels  er- 
werben.  Sie  entlassen  ihre  Gefolge  und  scheiden  somit  als 
politische  Machtfaktoren  aus,  und  so  ist  auch  von  dieser 


iM,Coo<^lc 


Skfm  der  Borial-SkonomiBohen  GeeohichtsanSaBSuiig.  397 

Seite  her  das  Feudalsystem  plötzlich  in  der  Wurzel  aus- 
gerottet. Die  Herren  selbst  aber  „bewirtschaften"  fortan 
ihre  QUter,  d.  h.  sie  pressen  aus  ihren  Unterthanen  heraus, 
was  sie  irgend  können,  sei  es  Geldrente,  sei  es  ungetohnte 
Arbeit,  und  drücken  sie  schliesslich  in  die  ToUe,  kapita- 
lisÜBche  Sklaverei  hinab. 

Daraus  ergiebt  sich  eine  Tollkommen  andere  Kon- 
stellation der  Kräfte  im  ganzen  Staateleben.  Bie  urwüchsige 
Interessengemeinschaft  zwischen  balbfUrstlicbem,  zum  VoU- 
fOrstentum  strebendem  Feudfüadel  und  seinen  Hintersassen 
ist  in  ihr  Gegenteil,  einen  entschiedenen  Interessengegensatz, 
umgeschlagen.  Bildete  früher  Zahl  und  Wohlstand  der 
Hintersassen  den  Reichtum  des  Herrn,  so  ist  er  jetzt  um 
80  reicher,  je  mehr  er  ihnen  entpresst,  d.  h.  je  ärmer  sie 
sind,  und  je  weniger  er  von  semen  Bobemten  ernähren 
muss,  d.  h.  je  weniger  zahlreich  sie  sind.  —  Hatte  früher 
die  Zentralinstanz  in  den  kleinen  Feudalherrn  ihre  natürlichen 
Gegner  erbüeken  müssen,  so  werden  sie  fortan  ihre  natürhchen 
Verbündeten,  da  sie  jetzt  die  Macht  der  Zentrale  nicht  ent- 
behren können,  um  ihre  ausgebeuteten  Bauern  in  Raison  zu 
halten  und  die  formellen  Gesetze  durchzusetzen,  die  die  volle 
Expropriation  erst  ermöglichen.  Darum  wird  aus  dem  einst 
unversöhnlichen  Grundadel  in  aristokratischen  Stadtstaaten: 
patrizischer  Adel,  der  mit  dem  älteren  Stadtadel  zusammen 
Bauernschaften  und  Kolonien  ausbeutet;  und  in  monarchischen 
Staaten  wird  er  zum  Hofadel,  der  den  Roi  Soleil  umgiebt 
und  ebenfalls  das  ganze  Land  als  ein  Rittergut  betrachtet, 
das  der  herrschenden  Klasse  möglichst  viel  Grundrente  zu 
Bteuem  hat.  — ■  Und  schliesslich  schlägt  auch  das  Verhältnis 
der  Zentralinstanz  zur  noch  freien  Bevölkerung  um.  Bisher 
stutzte  sie  sie  nach  Möglichkeit  als  die  ihr  noch  verbliebene 
ßekrutierungs-  und  Steuerquelle  und  als  Hebel  ihres  Kampfes 
gegen  die  immer  mehr  aufkommenden  Feudalmächte.  Jetzt, 
wo  diese  Gefahr  gehemmt  ist,  wird  auch  die  Zentralinstanz 
um  so  reicher  und  mächtiger,  je  mehr  ihr  Steuerflskalismus 
die  freie  Bevölkerung  auspowert.    So  sind  alle  alten  Qegen- 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


898  Frftnt  Oppenheimer: 

Sätze  Terschwunden  und  neue  eotstanden,  nur  durch  die  Um- 
wälzimg von  der  Natural-  zur  Geldwirtachaft. 

Mehr  als  diese  Andeutungen  lässt  sich  hier  kaum 
geben.  Kur  eins  darf  man  im  allgemeinen  betonen,  dass 
der  Einiluss  der  ökonomischen  Umvrälzungen  unmöglich 
überschätzt  werden  kann.  So  z.  B.  ist  das  Schicksal  der 
antiken  Staaten  ganz  wesentlich  dadurch  bestimmt  wordeo, 
daas  sie,  um  den  grossen  Binnensee  des  Mittelmeers  gelagert, 
schon  in  den  frühesten  Stadien  ihrer  Feudalentwiekelung, 
ihres  „Mittelalters",  die  Geldwirtschaft  des  Orients  von  den 
HandelavSlkem  Übernahmen.  So  kamen  sie  unmittelbar  zur 
kapitalistischen  Sklavenwirtschaft,  an  der  sie  zu  gründe 
gehen  raussten,  ganz  wie  im  Norden  ein  Jahrtausend  später 
Polen  dfu'an  zu  gründe  ging,  dass  es  die  Geldwirtechaft 
erhielt,  ehe  seine  Feudalentwickelung  in  der  Bildung  fester 
BtaatUcher  Territorialherrschaften  und  eines  freien  städtischen 
Mittelstandes  zur  Reife  gelangt  war.  Im  westliehen  Europa 
aber  fand  die  Einführung  der  Geldwirtschaft  überall  ein 
solches  voll  entfaltetes  Feudalsystem  vor;  und  daher  konnte 
hier  die  Sklaverei  überwunden  und  ein  neuer  Fortschritt  der 
menschhchen  Gesellschaft  angebahnt  werden. 

DasB   zu   diesem  glöcklicheo  Ausgange   noch  muicberlei  mitwirkte: 

die  nngeheare  Grösse  des  Siedüllandes  im  Vergleich  mit  der  BevöHLeniDg, 
das  Christentnm  mit  seinem  an  zerstörbaren  demokratiaclion  Oleiobheitsbem. 
das  aber  vor  allem  such  die  rolgeaschnere  Spaltang  der  weitlichen  and 
geistlichen  Macht  erzeugt«,  in  deren  "^'ettkampE  die  Völker  den  tertios 
gaadens  a^ertpu,  veiL  namentlich  das  Taba  der  Suporetition  ins  Wanken 
gen'et;  ferner  der  antike  Hnmanismns  mit  seiner  kosmopolitiBohen  Wiesen- 
sobaft  und  Philosophie,  vielleicht  auch  ein  Stück  Rassenbegabang  der 
Oennanen:  das  soll  wahrlich  nioht  verkannt  werden  Doch  es  ist  hier  nicht 
der  Ort,  es  in  behandeln.  Es  gehört  in  eine  spezielle  Uesohiohtsdar- 
Btellnng,  nicht  iu  eine  allgemeine  Oesohiohtsphiiosphie. 

3.  Das  Spiel  der  Kräfte  im  entfalteten  Staate. 
(Klassen,  Klasseninteressen  und  Klassenkampf). 
Nachdem  wir  so  in  einem,  so  weit  es  die  enge  Ver- 
schlingung des  Kausalkomplexes  zuhess,  isoherenden  Ver- 
fahren die   beiden  Mittel   der  Massenbedürfnisbefriedigung 
einzeln  betrachtet  haben,  ist  es  möglich,  in  einer  kombi- 


iM,Coo<^lc 


Skizze  der  sozial-fikonemisohen  OeachichtsanrfaHsting.  399 

oiereDden  Betrachtung  eine  allgemeine  Darstellung  der  be- 
wegenden Kräfte  des  entfalteten  Staates  zu  skizzieren. 

Es  besteht  ein  fUr  alle  Staatsangehörigen  ungefähr 
gleiches  Maesenbedürfinis,  ich  nenne  es  das  „Oemeininter- 
esse",  das  mit  gleichen  Mitteln  gleiche  Endziele  erstrebt. 
Es  beschränkt  sich  ganz  wie  beim  primitiven  Staate  auf 
militärischeD  Schutz  nach  aussen  und  auf  Rechtsschutz  und 
etwas  Wohlfahrtapolizei  nach  innen.  Die  Plebs  muss  tot 
den  äussersten  Ausschreitungen  der  Herrenschicht,  diese 
vor  Empörungen  der  Plebs  geschützt  werden,  beide  gemein- 
sam haben  das  gleiche  Interesse  an  der  Vermeidung  von 
Bürgerkriegen  mit  ihren  Verwüstungen,  und  ebenso  daran, 
die  auswärtigen  Kriege  im  Feindeslande  auszufechten. 

Neben  dem  Gemeininteresse  wirken  die  SonderbedUrf- 
nisse  der  verschiedenen  Massen,  die  ich  von  jetzt  an,  da  die 
etimischen  Gruppen  nicht  mehr  existieren,  als  Klassen, 
deren  KlassenbedUrfoisse  ich  als  Klasseninteressen  be- 
zeichnen werde. 

Unter  einer  Klasse  verstehe  ich  einen  Teil  eines  im 
Staate  organisierten  Volkes  und  zwar  eine  durch  ein  ge- 
meinsames wirtschaftliches  Bedürfnis  zu  gemeinsamer  Hand- 
lung gedrängte,  und  daher  vermeintlich  von  gemeinsamen 
bewussten  Motiven  geleitete  Menschenmasse,  die  mit  anderen 
„Klassen",  d.  h.  anderen,  durch  ein  anderes  gemeinsames 
wirtschaftliches  Bedürfois  zu  gemeinsamer,  anders  gerieb* 
teter  Handlung  gedrängten  Menschenmassen  ein  Volk  zu- 
sammensetzt (das,  wie  gesagt,  auch  wieder  nichts  anderes 
ist,  als  eine  grössere  durch  ein  gemeinsames  wirtschaftliches 
Bedürfnis  zu  gemeinsamer  Handlung  gedrängte,  entsprechend 
„motivierte"  Menschenmasse). 

Wir  erkennen  jetzt  die  dritte  Gliederung  innerhalb  der- 
jenigen menschlichen  Massen,  die  als  geschichtlich  handelnde 
für  unsere  Betrachtung  von  Interesse  sind.  Ihr  mecha- 
nisches Element  ist  das  Individuum,  ihr  organisches 
dement  die  Familie,  und  schliesslich  ihr  politisches 
Element  die  Klasse. 


iM,Coo<^lc 


400  Fiani  Oppenheimer: 

Die  Feststellung  ist  sehr  wichtig.  Demi  sie  belehrt 
uns  über  eine  neue  Bichtung  des  Bedürfnisses  der  Lebens- 
ftirsorge.  Wie  der  Mensch  als  G-eseUschaftsatom  für  Mch 
selbst,  die  Erhaltung  des  individualea  Lebens,  handelt,  wie 
er  für  das  organische  Element,  dem  er  angehört,  i^mlich 
flir  seine  Familie  im  weiteren  Sinne,  d.  h.  ausser  für  Weib 
und  Kind  ßir  die  blutsverwandte  Horde  sich  einsetzt,  im 
BedUrfiiis  der  „Erhaltung  der  Art",  so  identifiziert  er  auch 
sein  Interesse  als  politisches  Wesen  mit  dem  seines  politischen 
Elementes  der  Gesellschaft,  der  Klasse.  Und  zwar  handelt 
er  derart  aus  einem  Triebe,  der  gerade  so  wie  die  ersten 
beiden  als  ein  durch  Anpassung  und  Selektion  erworbenes 
zweckmässiges  Orgtm  für  den  Kampf  ums  Dasein  aufgefasst 
werden  muss.  Denn  der  Mensch  als  pohtisches  Wesen  ist 
ebenso  undenkbar  ohne  die  Emgliedenmg  in  eine  Klasse, 
die  ihm  im  Kampfe  um  die  Existenz  den  RUckea  deckt,  wie 
als  organisches  Wesen  ohne  die  EingliedOTung  in  die 
Familie.  — 

Dass  die  ersten  „Klassen"  nlchte  anderes  sind,  als  die 
bei  der  Bildung  des  Staates  aktiv  und  passiv  beteiligten 
ethnischen  „Gruppen",  zeigt,  durch  welchen  kontinuierlichen 
Seelenprozess  das  Bedürfnis  der  „KlassenfOrsorge"  entstanden 
ist,  das  eine  so  mächtige  Bolle  in  der  Geschichte  spielt 
Wir  werden  fortan,  da  der  ethnische  (Gegensatz  so  schn^ 
verschwindet,  nur  noch  von  dem  rein  pohtischen  Q«gensatz 
der  aus  gleichen  ethmschen  Elementen  gemischten  Bang- 
und  Vermögensklassen  handeln. 

Das  „Bedürfnis"  jeder  einzelnen  Klasse  stellt  eine  reale 
Menge  assoziierter  lebendiger  Kraft  dar,  die  mit  einer  be- 
stimmten Geschwindigkeit  auf  die  Erreichung  eines  bestimmten 
Zieles  hindrängt.  Die  Klasaeuinteressen  samt  dem  Gemein- 
Interesse  sind  also  in  buchstäblichster,  streng  mechfuiiscfaer, 
nicht  etwa  bloss  bildlicher  Darstellung,  die  bewegenden 
Kräfte  des  Volks-  und  Staatslebens.  Wenn  wir  vom 
Gemeininteresse  absehen,  das  in  den  bisherigen  Geschichts- 
auffassungen mehr  als  genügend  berücksichtigt  worden  ist, 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


Ski  US  dar  social-ÖkoiKimisalieii  OaBohiohtsanRaSBDDg;  4OI 

SO  ergiebt  uns  die  Betrachttmg  der  Klasseninteressen  das 
folgende  Bild. 

Alle  KlasseüiuteresBen  haben  ein  gemeinsames 
Ziel,  das  Gesaraterzeugnis  der  auf  die  GUterher- 
stellung;  gewandten  produktiven  Arbeit  aller  Staats- 
angehörigen, d.  h.  das  Erzeugnis  des  „ökonomischen  Mittels". 

Mit  anderen  Worten:  Jede  Klasse  erstrebt  einen  mSg- 
lichst  grossen  Anteil  am  Nationalprodokt;  und  da  alle  das 
gleiche  erstreben,  bildet  der  Klassenkampf  den  Inhalt  aller 
Staatengescbicbte  (immer  abgesehen  von  den  Handlungen 
des  Gemeininteresses.)  Wir  haben  zwei  Gruppen  zu  unter- 
scheiden: die  der  bevorzugten  Klassen,  die  einen  Anspruch 
auf  mehr  Guter  aus  dem  Natioualprodukt  haben,  als  ihre 
eigene  Arbeit  erzeugt  hat;  und  die  Gruppe  der  ausgebeuteten 
Klassen,  die  einen  Teii  des  Erzeugnisses  üirer  eigenen  Arbeit 
an  jene  abzutreten  gezwungen  ist. 

In  jeder  Oioppe  köonen  noh  mehrere  reisohiedene  ElasBeii  finden. 
Zum  BeiapiEd  haben  wir  im  EeitgenSasisohea  Deutsahluid  mindesteuB  drei 
renchiedene  bevoraogte  KUsaen:  die  der  groaaen  Hagoaten,  deren  Inter- 
etae  ebenso  aehr  mit  der  Qnmdreote,  wie  mit  der  ^brik-  nnd  Hüttenrente 
varknüpft  ist;  sweiteoa  die  der  kleinen  Landjunkar,  die  nur  an  der  Omnd- 
rente,  und  drittens  die  der  Orosändaatriellen,  die  neu  mit  der  Indnetrierente 
vorknöpft  sind.  Ke  ansgebeotete  Klasse  nmfaset  mindesteoa  die  Klain- 
bananiUaaae,  die  Landarbeiterklasse,  die  Indastriearbeiterkiasae  and  die 
Uehnahl  der  niederen  Staat»-,  Gemeinde-  nnd  Privatbeamteu. 

Dazwischen  stehen  Übergangsklassen,  die  nach  oben 
hin  Tribut  zu  entrichten  haben,  ihn  aber  von  unten  her 
wieder  einziehen  dürfen:  Grossbauem,  die  zwar  übermässig 
zu  den  Steuern  beitragen  müssen,  mit  denen  die  privilegierten 
Klassen  ihre  SonderbedürMsse  befriedigen,  die  aber  Land- 
arbeiter ausbeuten;  kleinere  Industrielle  \md  Handwerker, 
denen  Industriearbeiter  und  Privatbeamte  die  Steuern  er- 
setzen müssen  u.  s.  w.  Ja,  ein  Individuum  kann  mehreren 
Klassen  angeboren:  ein  adeliger  Subiütembeamter  mag  eine 
Tochter  im  Adelsstift  versorgen  und  als  städtischer  Haus- 
besitzer seine  Mieter  ausbeuten. 

Die  Klassenangehörigkeit  entscheidet  auf  die  Dauv 
über  die  Parteiangehörigkeit.     Eine  Partei  ist   nichts 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


402  Frani  OppODheimer: 

anderes  als  die  organisierte  Vertretung  einer  Klasse. 
Wo  eine  Klasse  durch  die  ökonomische  oder  politische 
Differenzierung  in  mehrere  Klassen  mit  verschiedenen  Sonder- 
interessen zerfällt,  zerMlt  in  KOrze  auch  die  ent^recheode 
Partei  in  mehrere  junge  Parteien.  Wo  ein  alter  Klassen- 
gegensatz durch  die  soziale  Differenzierung  (darunter 
fasse  ich  politische  und  ökonomische  fortan  zusammen)  ver- 
schwindet, da  verschmelzen  in  KUrze  auch  die  beid^  alten 
Parteien  zu  einer  neuen. 

Alle  Parteipolitik  bat  zum  Ziele,  ihrer  Klasse  einen 
möglichst  grossen  Anteil  am  Nationalprodukt  zu  schaffen. 
Das  will  sagen:  die  Gruppe  der  bevorzugten  Klassen  will 
ihren  Anteil  mindestens  auf  seiner  alten  Höbe  erhalten,  wo- 
möglich noch  vermehren;  das  Ideal  ist,  den  ausgebeuteten 
Klassen  nur  gerade  die  Existenz  und  Prästaüonsßhi^eit 
zu  lassen  und  das  ganze  Mehrprodukt  der  mit  wachsender 
Volksdicbtigkeit  und  Arbeitsteilung  ungeheuer  vermehrten 
Ergiebigkeit  des  ökonomischen  Mittels  zu  beschlagnahmen. 
—  Die  Gruppe  der  ausgebeuteten  Klassen  will  ihren  Tribut 
höchstens  in  alter  Höhe  weiter  entrichten,  das  gesamte 
Mehrprodukt  der  entfalteten  Wirtschaft  aber  unter  sich  zur 
Verteilung  bringen;  womöglich  i^er  den  Tribut  auch  noch 
absolut  vermindern.  —  Und  die  Gruppe  der  Übergangs- 
klassen will  nach  oben  hin  höchstens  gleichviel,  womöglich 
weniger  abtragen,  von  unten  aber  mindestens  gleichviel,  wo- 
möglich mehr  erhalten. 

Das  ist  Inhalt  und  Ziel  des  Kampfes.  Sein  Mittel  ist 
zunächst  für  Jahrtausende  der  Verfassungskampf.  Nichts 
ist  den  Beteiligten  klarer,  als  dass  das  „Becht"  die  Ursache 
der  verschiedenen  „Berechtigungen"  ist.  Die  bevorzugten 
Klassen  sind  bis  fast  auf  unsere  Zeit  die  rechtlich  pri- 
vilegierten Klassen.  Um  diese  Privilegien  dreht  sich  der 
erste  Kampf.  Die  Klasse  der  privilegierten  Gruppen  wollen 
sie  konservleren,  sind  „konservativ",  die  der  ausgebeuteten 
Gruppen  wollen  sich  davon  liberieren,  sind  „liberal''.  Der 
Yerfassungskampf  wäre  überall  schnell  entschieden  ohne  die 


iM,Coo<^lc 


Skizie  der  soiial-öbonomisohen  OesohiobtaanlEassiuig.  4^ 

Taktik  der  Übergangsklassen.  Diese  sind  als  Yortruppeo 
der  Uberaleo  Hauptmacht  so  lange  liberal,  bis  sie  ihre 
Tributpf liebt  abgeschüttelt  haben;  dann  wenden  sie  die 
Waffen  gegen  die  alten  Kampfgenossen,  werden  konserrativ, 
um  ihre  Tributrechte  zu  verteidigen.  Da  die  soziale  Diffe- 
renzierung immer  neue  Übergangsklassen  erschafft,  zieht 
sich  der  Verfassung^ampf  sehr  in  die  Länge. 

Je  nachdem  das  nächste  Ziel  des  Kampfes  die  Durch- 
setzung oder  Beseitigung  eines  ganz  bestimmten  Privilegs 
ist,  gruppieren  sich  die  Parteien  zum  Kampfe.  Die  ver- 
schiedenen EJassen  der  Gruppe  der  Privüegierten  gehen 
meist  zusfumnen,  kSimen  sich  aber  auch  heftig  bekämpfen 
und  dabei  ihre  Bundesgenossen  in  den  Übergangsklassen 
oder  gar  den  unteren  Klassen  suchen:  hier  reproduziert  sich 
der  internationale  Kampf  der  ursprunglichen  Adelsgruppen 
der  primitiven  Kleinstaaten  um  die  Beute  im  intranationalen 
Leben.  —  Die  Übergangsklassen  fechten  bald  gemeinsam  in 
einem  Lager,  bald  spalten  sie  sich,  um  hier  die  oberen,  dort 
die  unteren  Klassen  zu  verstärken.  Jedesmal  wird  die 
Handlung  durch  das  Klasseninteresse,  das  KlassenbedUrfiois, 
gelenkt;  nicht  immer  richtig,  denn  Parteien  sind  unter  Um- 
ständen  ebenso  km^sichtig,  wie  die  Männer,  die  sie  fahren, 
können  auch  ebenso  gut  wie  Einzelne  für  fremde  Interessen 
gemissbraucht,  getäuscht  werden.  Aber  auf  die  Dau^  fOhlt 
doch  der  Instinkt  jeder  Klasse,  wo  sie  -der  Schuh  am  heftigsten 
drttckt,  und  strebt  nach  Erleichterung. 

Die  antake  Welt  kommt  über  den  politischen  Ver- 
fassungskampf nicht  hinaus.  Sie  geht  an  der  Sklavenwirt- 
Bchaft,  dem  politischen  Mittel  xor'  i^ox^v,  zu  gründe.  Aber 
in  dem  modernen  YOlkerleben  konunt  einmal  eine  Zeit,  wo 
die  alte  Zwingburg  des  politischen  Mittels  bis  auf  wenige 
Beste  im  Yerfaseungskampfe  gebrochen  ist,  wo  der  „Libe- 
ralismus" siegreich  das  Schlachtfeld  behauptet.  Und  nun 
zeigt  sich,  dass  damit  nicht  alles,  entfernt  nicht  alles,  er- 
reicht ist,  was  der  Liberalismus  sich  und  seinen  Kämpfern 
verheissen.     Das  Feudalwesen  ist  zerstört,  die  bUrgerliche 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


404  Frant  Oppanheimei: 

Gleichheit  erfochten  —  und  dennoch  hat  sich  in  der  Ve^ 
teilung  dea  NationalproduktflB,  dem  Objekt  des  langen, 
blutigen  Verfas&ungskampfes,  wenig  oder  nichts  geändert. 
Xach  wie  vor  lebt  die  grosse  Masse  in  bitterer  Armut  oder 
karger  Dürftigkeit,  in  harter,  zermalmender,  geisttßtendcf 
Arbeit,  in  Dump(h«t  and  Stumpfheit  —  und  nach  wie  tot 
zieht  eine  schmale  Minderheit,  nur  zum  Teil  aus  anderen 
BeTtSkerongselranenten  gebildet,  den  ungeheuren  Tribut 
arbeitslos  ein,  um  Terschwenderisch  zu  gemessen.  Es  giebt 
keine  Privilegien  mehr,  und  dennoch  Klassen,  Rlasseninter- 
essen,  Klassenpolitik,  Klassengesetzgebong,  Klassat^ustiz, 
KlasBenverwaltung.  Und  darum  herrscht  nach  wie  Tor  der 
Klassenkampf. 

Aber  er  hat  sein  Angesicht  geändert.  Er  ist  nicht 
mehr  der  politische  Verfassungskampf,  den  der  Liberalismos 
fuhrt,  sondern  der  soziale  Klassenkampf,  den  der  SooidismiB 
itlhrt.  Er  geht  noch  um  dasselbe  Objekt,  um  die  Antdie 
am  Nationalprodukt,  aber  mit  anderen  Mitteln.  Der  Kampf 
um  die  Verfassung  tritt  zurQck,  mit  deren  Umgestaltung  man 
bisher  in  eiüem  Wahne  geglaubt  hat,  die  „Verteilung"  (I^ 
tribution)  entscheidend  mitumzugestalten:  an  seine  Stelle 
tritt  der  direkte  Lohnkampf  zwischen  Proletariat  und  £x- 
ploiteuren,  „Kapitalisten".  Seine  Waffe  sind  nicht  mehr  die 
politische  Demonstration,  die  Barrikade,  der  Stimmzettel, 
sondern  der  Streik,  die  Gewerkschaft  und  die  Genossen- 
schaft. Statt  der  politischen  wird  die  wirtschaftliche  Orga- 
nisation das  Mittel  des  Klassenkampfes. 


So  hat  uns  unser  Überblick  bis  zur  Gegenwart  geführt 
—  und  hier  hat  die  Geschichtsphilosophie  ihr  WwkzMg 
niederzulegen.  Die  weiteren  Aufgaben,  die  zu  lösen  sind, 
fallen  dem  zweiten  Hauptteile  der  Soziologie,  der  Wiaseo- 
schaft  von  den  Gesetzen  der  wirtschaftlichen  Bewegong, 
zu.  Sie  allein  kaim  die  Aufgabe  lösen,  in  der  Veigimgui- 
heit  und  Gegenwart  die  wirksamen  Kräfte  zu  erkennen  md 


iM,Coo<^lL' 


Skills  der  soasl-ikoiiomiaahen  OeBohiohtaKaffaBBQDg.  406 

VOR  dieser  Erkeantnis  aus  eine  fundierte  Prognoee  der  Zu- 
kunft unserer  Gesellschaft  zn  fonnulieren. 

Dazu  ist  hier  nicht  der  Ort.  Ich  kann  daher  nur 
unter  VerweiBung  auf  die  daselbst  gegebenen  deduktiven 
und  induktiven  Beweise  den  Hauptinhalt  meiner  früheren 
Arbeiten  hier  in  kurzen  Worten  wiederholen: 

Es  ist  ein  Irrtum,  zu  glauben,  dasB  der  Kampf  des 
Liberalismus  gegen  das  Feudalwesen  bereits  beendet  ist. 
Noch  steckt,  ökonomisch  maskiert,  die  wichtigste  SchOpfong 
des  politischen  Mittels  als  Fremdkörper  in  dem  vermeint- 
lich gänzlich  auf  dem  ökonomischen  Mittel  aufgebauten  Or- 
ganismus der  modemrai  Gesellschaft:  das  Grossgrund- 
eigentum;  und  es  wirkt  als  Fr^ndkörper,  indem  es  eine 
spezifische  Krankheit  erzeugt,  den  „Kapitalismus". 

Das  Grossgrundeigentum  ist  nämlich  ein  Gebiet,  Über 
dem  der  wirtschaftliche  und  soziale  Druck  konstant  ist, 
der  auf  der  BevOlkerungsmasse  lastet;  infolgedessen  strömt 
von  hier  aus  eine  ungeheure  Wanderung  in  diejen^en 
Gebiete,  wo  mit  der  BeTölkenmgsvermehrung  und  Arbeits- 
teilung der  Druck  regehnässig  absinkt,  in  Städte  und 
Bauembezirke ;  und  nur  dadurch  stehen  hier  den  Eigentümern 
von  „Kapital"  jene  „freien"  Arbeiter  der  MABx'scben  Ter- 
minologie immer  in  ausreichender  Zahl  zur  Verfügung,  ohne 
deren  Vorhandensein  nach  Mabx  selbst  Produktionsmittel 
nicht  „Kapital"  wILren,  d.  h.  „Mehrwert  heckender  Wert". 
Alle  anderen  Erklärungen  der  Herkunft  dieser  „freien"  Ar- 
beiter sind  unhaltbar,  sowohl  die  MAüTHUH'sche,  aus  dem 
Gesetz  der  Bevölkerung  abgeleitete,  wie  die  MAsz'sche,  aus 
dem  Wechsel  in  der  organischen  Zusammensetzung  des  Ka- 
pitals abgeleitete.  Deduktion,  Statistik  und  geschichtliche 
Beobachtung  beweisen  eindeutig,  dass  die  einzige  Quelle 
dieser  freien  Arbeiterbevölkerung  dag  Orossgrundeigentum  ist. 

Kun  geht  dieser  Feudalreat  rettungslos  zu  gründe  und 
zwar  an  seiner  eigenen  Einwirkung  auf  die  freie  Wirtschaft, 
an  der  Wanderung.  Die  Folge  der  Auswanderung  über  die 
Ozeane  ist  ein  Sturz  der  Froduktenpreise,  und  die  Folge  der 


iM,Coo<^lc 


406  FranE  Oppenheimer: 

Abwauderuiig  das  unaufhaltsame  Steigen  der  Löhne.  So 
schrumpft  die  Grandrente,  der  letzte  primäre  Best  des 
politischen  Mittels,  und  die  Quelle  aller  sekundären  Aaeig- 
Dung  ohne  äquivalente  Gegenleistung,  des  Zinses  und  Profites, 
von  zwei  Seiten  her  zusammen,  und  wird  in  absehbarer 
Zeit  gänzlich  mit  seinem  materiellen  Substrat,  dem  Gross- 
grundeigentum,  verschwunden  sein,  womit  dann  auch  die 
übrigen  „Qewaltanteile"  an  dem  Ei^ebnis  des  ökonomischoi 
Mittels  verschwinden  werden. 

Denn  es  lässt  sich  nicht  nur  theoretisch-deduttiv  er- 
rechnen, sondern  an  einer  ganzen  Anzahl  bedeutsamer  Tbat- 
sachen  erweisen,  dass  Überall  da,  wo  mangels  eines  Gross- 
gnmdeigentums  keine  Grundrente  gesteuert  wurde,  auch  die 
Übrigen  arbeitslosen  Einkommen  fortfielen,  sodass  ein  hoher 
und    gleichmässiger   Wohlstand    aller   Schaffenden   bestand. 

Die  geschichtliche  Eutwickelung  hat  also  die  „Tendenz' 
zur  Ausstossung  des  letzten  und  wichtigsten  Feudahrstes 
und  zur  Herstellung  eines  Zustandes  von  Wohlstand  und 
Gleichheit,  wie  ihn  der  Liberalismus  verheissen  hat. 

Diese  Tendenz  ist  nichts  anderes  als  die  Fortsetzung 
derjenigen  allgemeinen  Tendenz,  als  deren  Verwirklichung 
fast  alle  grossen  Geschichtsphilosophen  den  Verlauf  der 
Weltgeschichte  angeschaut  haben:  die  allmähliche  Ersetzui^ 
des  Kriegs-  oder  Gewaltr  oder  „Nomaden''-Rechtes  und 
seiner  Organisationen  im  politischen  Mittel  des  Staates  und 
Gflwalteigentums  durch  das  Frieden-  oder  Tausch-  oder 
Gleichheitsrecht  und  seine  Organisationen  im  Okononüscheo 
Mittel  der  Friedensgesellschaft  und  des  auf  eigener  Arbeit 
beruhenden  Privateigentums.  Das  ist  das  „Wertresultat" 
der  Weltgeschichte,  das  alle  bekannten  Definitionen  der  Ge- 
schichtsphilosophie zusammenfasst.  Das  bezeichnet  den  Qaug 
der  „Kultur":  die  Ausdehnung  des  Rechtes  der  Gleichheit 
und  des  äquivalenten  Tausches  von  der  Horde  auf  befriedete 
Märkte,  Marktetrassen,  Kaufleute,  Städte;  die  Übernahme 
des  Stadtrechtes  in  das  Staatsrecht,  in  das  internationale 
Recht,  and  schliesslich  die  Beseitigung  des  letzten  Bestes 


iM,Coo<^lc 


Bkiiio  der  BOUftMkonomiMbeii  Oesahiobtsanffssaaiig.  407 

des    Gewaltrechtes    durch    die    Folgen    des    grundlegenden 
Freiheitsrechtes,  der  Freizügigkeit. 

Mehr  als  diese  Andeutungen  kann  ich  hier  nicht  geben. 

Ich  stehe  am  Ende  meiner  Darstellung  einer  allgemeinen 
Geschichtsauffassung.  Die  wichtigsten  allgemeinen  Formeln 
der  geschichtlichen  Massenbewegung  hoffe  ich  entwickelt 
zu  haben. 

Es  ist  Sache  der  speziellen  G«schichtsdarstellung 
der  einzelnen  Vtllker-  und  Staatenschicksale,  die  Entstehung 
der  Klassen  aus  den  Klasseninteressen,  dieser  aus  der  so- 
zialen (pohtischen  und  ökonomischen)  Differenzierung,  und 
den  daraus  folgenden  Klassenkampf  selbst  zu  untersuchen 
und  das  Ei^ebnis  als  die  Diagonale  aus  dem  Parallelogramm 
der  geschichtlichen  Kräfte  quantitativ  zu  begreifen,  indem 
man  die  Zahl,  die  örtliche  Anordnung,  die  innere  Gliederung, 
die  wirtschaftliche  Ausstattung  u.  s.  w.  der  einzehen  Klassen 
aufgrund  möglichst  genauer  Erhebungen  als  bekannte  oder 
möglichst  genau  geschätzte  Kräfte  in  die  Rechnung  einstellt. 
Bleiben  unerklärte  Reste,  d.  h.  wenn  der  Verlauf  zweier 
Völkei^eschichten  unter  sonst  gleich  erscheinenden  Umständen 
verschieden  ist,  so  wird  man  mit  äusserster  Vorsicht  zur 
Theorie  der  Rassen  seine  Zuflucht  nehmen  dürfen,  d.  h.  die 
Annahme  machen,  dass  von  gewissen  ethnischen  Gruppen 
oder  Mischungen  (Rassen)  grössere  Energiemengen  zur  Ent- 
ladung kommen  als  von  anderen.  Man  wird  wahrscheinlicli 
Recht  haben  mit  der  Annahme,  dass  die  RUckständigkeit 
von  Negern  oder  Australiern  nicht  ausschliesslich  auf  der 
geringen  faktischen  Entwickelung,  sondern  auch  auf  einer 
geringeren  Entwickelungsfähigkeit  beruht:  eine  gleiche  An- 
nahme aber  für  die  leibUch  ähnlichen  kulturtragenden  Völker 
der  weissen  Rasse  darf  jedenfalls  nur  als  ultimum  refugium 
der  Erklärung  gemacht  werden.  Vielleicht  besteben  auch 
hier  gewisse,  festgewordene  Unterschiede  des  Charakters  und 
der  geistigen  Anlagen,  die  unter  sonst  gleichen  Umständen 
eine  verschiedene  Kraft  und  Richtung  der  Massenbandlung 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


408  Franz  Oppenheimer: 

Terursachen.  Aber  das  kann  nur  a  posteriori  in  einer  eigenen 
Disziplin,  der  TcrgleicbBnden  Rassenpsychologie,  festgestellt 
werden,  darf  aber  unter  keinea  Umständen  als  Voraussetznng 
a  priori  zum  Axiom  der  Untersuchung  erhoben  werden; 
sonst  wird  die  Theorie  zur  „Eselsbrücke"  der  Historik,  wie 
der  pythagoreische  Lehrsatz  als  Eselsbrücke  der  Mathematik 
fungiert,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  er  wahr  ist. 

Und  schliesshch,  wenn  auch  diese  HilfserklSrung  ver- 
sagen sollte,  —  was  übrigens  nicht  der  Fall  sein  wird,  da 
die  sozial-ökonomische  Auffa^ung  allein  alle  HauptUnien 
der  Entwickelung  erklärt  —  dann  erst  wäre  es  gestattet, 
die  überlegene  Energie  von  „Heroen"  zm-  Erklärung  der 
letzt«n  kleinen  Differenzen  zwischen  Thatsacben  und  Rech- 
nung heranzuziehen. 

4.  Zusammenfassung  der  sozial-Bkonomischen  Ge- 
schichtsauffassung. 

Ich  nenne  die  hier  entwickelte  Oeschichtsauflaasong 
die  „sozial-Ökonomische",  um  durch  die  Zusammensetzung 
anzudeuten,  dass  nicht  ökonomische  Ki^fte  allein  das  be- 
stimmende Moment  der  G^e8chichte  sind.  Welche  Faktoren 
dazu  treten,  soll  durch  das  Wort  „sozial"  ausgedrückt 
werden,  das  in  dieser  Zusammenstellung  mit  „ükonomisch" 
kaum  eine  andere  seiner  vielen  Bedeutungen  im  Hörer  an- 
klingen lassen  wird,  als  die  hier  beabsichtigte  der  sozialen 
Rangstufen  und  Klassen.  Dadurch  aber,  dass  „ökonomiscb" 
als  Schlusswort  drai  Hauptton  erhält,  soll  angedeutet  werden, 
dass  das  (fkonomische  Bedth^s,  der  Monomische  Trieb,  die 
entscheidende  (eigenUiche)  „Ursache"  der  geschichüidiffli 
Bewegung  ist. 

In  dieser  letzten  Auffassung  ist  sie  idraidsch  mit  iet 
bekannten  „kollektiTistischen",  „materialistischen"  Gteschichts- 
auffassung.  Sie  unterscheidet  sich  von  ihr  scharf  durch  die 
strenge  Unterscheidung  der  Mittel  der  Bedürfedsbefriedignng 
in  das  politische  und  das  ökonomische  Mittel. 

Wenn  Karl  Masx  z.  B.  die  Gewalt  fUr  eine  „ök<no- 


iM,Coo<^lc 


Bkiize  der  soritl-ökonomisohen  Oasohichtsanfbesnac.  409 

miBcbe  Potenz"  oder  die  Sklaverei  für  eine  „ökonomische 
Kategorie"  eiidärt,  so  spricht  er  eine  Halbwahrheit  aus,  die 
aOe  Sozial'wisseaschaft  ärger  Terwiireu  muss,  als  eine  Ghinz- 
Unwahrheit  es  vermöchte,  die  man  bald  genug  ^s  solche 
erkennen  würde.  Die  Sklaverei  ist  in  der  That  „ökonomische 
Kategorie",  soweit  es  sich  um  das  zu  deckende  Bedürfnis 
handelt:  aber  sie  ist  „politische  Kategorie",  soweit  es  sich 
um  das  Mittel  handelt.  Wenn  man  hier  nicht  Bch9rfstens 
unterscheidet,  so  ist  es  unmöglich,  die  wichtigsten  Zusammen- 
hiinge  der  Sozialwissenschaft  zu  erkennen.  Es  ist  unmö^ch, 
die  Geschichte  zu  verstehen,  wenn  man  nicht  erkennt,  dass 
sie  zum  hauptsächli^en  Inhalt  die  Deckung  ökonomischer 
Massenbedürfbisse  hat  —  das  hat  die  materialistische  G^e- 
flchiehtsanffassung  zuerst  in  den  Vordergrund  des  historischen 
Dmkens  gestellt:  aber  es  ist  ebenso  unmöglich,  die  Wirt- 
schaft zu  begreifen,  wenn  man  nicht  berücksichtigt,  dass  sie 
im  Rahmen  des  Staates  undseinea  Rechtes  als  der  Schöpfungen 
des  politischen  Mittels,  der  Gewalt,  abläuft.  Und  wenn  man 
das  nicht  erfasst,  ist  es  auch  tmmöglich,  Ober  die  allgemeinste 
Auffassung  der  Historik  hinaus  zu  einer  befriecUgenden  Dar- 
Btellnng  im  einzelnen  zu  gelangen. 

Kurz,  um  es  m  national-ökonomischer  Terminologie 
auszudrücken:  man  muss  sich  darüber  klar  werden,  dass 
alle  Weltgeschichte,  soweit  sie  Staatengeschichte  nichts 
anderes  ist,  als  der  internationale  und  intrauationale 
Kampf  um  den  Massstab  der  Verteilung  des  durch 
das  Ökonomische  Mittel,  die  Arbeit,  geschaffenen 
Stammes  von  Oenussgüterni  Die  Wirtschaftswissen- 
schaft sucht  seit  lange  die  „Gesetze  der  Verteilung",  und 
solche  existieren  auch,  aber  nicht,  wie  sie  glaubte,  als 
kausale  Naturgesetze,  als  ewige  immanente  „ökonomische 
Kategorien",  sondern  als  Normativgesetze,  als  mensch- 
liche Satzmigen,  den  Besiegten  vom  Sieger  auferlegt  im 
Becht  und  der  V«^as&ung  des  Staates,  in  der  ursprünglichen 
Verteilung  der  Produktivmittel,  also  als  historische,  ver- 
^gBche  „politische  Kategorien". 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


410  Fr»iiz  Opponheimer: 

Das  iet  der  Hauptinhalt  der  sozial-Okonomischeu  Ge- 
schichtsauffassimg  und  der  Sozialwissensctiaft  überhaupt: 
denn  Historik  und  Ökonomik  sind  nur  zwei  verschiedme 
Ansichten  desselben  wissenschaftlichen  Objektes,  des  menscb- 
licheaKollektiTlebensJenestelltseineEntwickelungsgeschichte, 
diese  seine  Physiologie  dar,  jene  arbeitet  sozusagen  mit 
Längs-,  diese  mit  Querschnitten ;  beide  zusammen  erst  geben 
die  ToUe  Elrkenntois. 

Das  G-nmdgesetz  der  Bewegung  haben  ältere  ökoDo- 
misten  als  das  Prinzip  des  „self-interest"  oder  des  „Eigen- 
nutzes" oder  des  „kleinsten  Mittels"  u.  s.  w.  benannt.  Ich 
habe  es  in  meinen  früheren  Werken  anders  formuhert: 
„Die  Menschen  strßmen  vom  Orte  höheren  Bozialwirtschaft- 
lichen  Druckes  zum  Orte  geringeren  sozial-wirtschaftlichen 
Druckes  auf  der  Lmie  des  geringsten  Widerstandes."  Ich 
habe  diese  Fassung  gewählt,  um  anzudeuten,  dass  es  sich 
lediglich  um  einen  besonderen  Fall  des  grossen  allum- 
fassenden Gesetzes  handelt,  dem  die  anorganische  wie 
die  organische  Welt  gleichermassen  unterworfen  ist;  nach 
dem  Gase  und  Flüssigkeiten  sich  bewegen,  nach  dem  ebenso 
das  Magma  des  Erdinneren  in  zerstörenden  Ausbrüchen 
emportritt,  wie  das  Blut  in  den  Geffissen  der  Menschen  oder 
der  Zellsaft  in  den  zartesten  Lücken  seines  Gewebes  strSmt; 
nach  dem,  wie  Fbiedbich  Ratzsl  in  seiner  Studie:  „der 
Lebensraum"  jetzt  wieder  in  universaler  Betrachtung  gezeigt 
hat,  auch  Pflanzen  und  Tiere  wandern  und  sich  verbreiten: 
von  ungünstigeren  zu  günstigeren  Existenzbedingungen! 

Um  Missverstandnissen  vorzubeugen,  sei  noch  hinsa- 
gefügt,  dass,  um  menschhche  Massenbewegung  zu  erzeugen, 
der  Druck  sowohl  wie  der  Druckunterschied  psychologisch, 
als  Bedürfnis,  empfunden  werden  müssen,  und  dass  der 
letztere  stark  genug  sein  muss,  um  ein  „GefSlle"  herzu- 
stellen, das  das  natürUche  Gesetz  der  Trägheit,  des  Be- 
harrens, überwindet.  Femer,  dass  natürlich  keine  Bewegung 
stattfinden  kann,  wenn  zwischen  dem  Ort,  wo  die  Masse 
ruht,  und  dem  Minimmn  sozial-wirtschaftüchen  Druckes  sich 


n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL' 


Skiue  dei  MiW-ökoDomisalien  GeBohichtBwgMinng.  iH 

nur  Orte  noch  hSheren  sozial-wirtBchafÜichen  Druckes  finden. 
In  diesem  Falle  führt  eben  keine  „Linie  des  geringsten 
Widerstandes"  vom  Maximum  zum  Minimum,  und  die  Masse 
bleibt  so  unbewegt,  wie  ein  Gebirgssee,  der  keinen  Abfluss 
hat;  latente  Energie  kann  sich  nicht  in  lebendige  Kraft  ver- 
wandeln, so  lange  die  Barre  nicht  durchbrochen  wird. 

„Auf  der  Linie  des  geringsten  Widerstandes"  strQmt 
die  bewegte  Masse,  d.  h.  sie  bedient  sich  immer  des  „kleinsten 
Mittels",  um   zur  Sättigung  des  Bedürfnisses  zu  gelangen. 

Kaum  ein  Satz  ist  in  der  Wissenschaft  so  arg  miss- 
verstanden  worden,  als  dieser.  Wenn  ihn  der  Wirtscbafte- 
theoretiker  an  der  Spitze  seiner  Ausführungen  stellt,  aia 
grundlegendes  Axiom,  dann  bricht  sofort  der  Lärm  los. 
„Leere  Konstruktion  vom  abstrakten  Wirtschaftssubjekt." 
„Economical  man!",  „homo  sapiens  lombardstradarius", 
(Soxbabt),  so  schallt  es  von  allen  Seiten  dem  Thoren  ent- 
gegen, der  eine  „längst  überwundene"  Wirtschaftsauffassung 
wieder  aufwärmen  will. 

Diese  Kontroverse  gehört  in  eine  national-Skonomische 
Auseinandersetzung.  Hier  sei  nur  gesagt,  dass  das  „Prinzip 
des  kleinsten  Mittels"  denn  doch  einen  wesentlich  anderen 
Lihalt  hat,  als  die  „historische"  und  die  „ethische"  Schule 
der  deutschen  Nationalökonomie  glauben  machen  wollen. 
Wir  brauchen  unsere  Untersuchungsergebnisse  in  Bezug  auf 
das  Bedürfnis  der  Masse  und  ihre  Mittel  zu  semer  Befriedigung 
nur  noch  einmal  zusammenzufassen,  um  das  zu  erkennen. 

Erstens  umfasst  das  „ökonomische  Bedürfnis",  der 
Trieb  der  Lebensfürsorge,  weit  mehr  als  den  Trieb  der 
individuellen  Futtersuche  oder  gar  den  Gelderwerbstrieb. 
Er  ist  Trieb  zur  Erhaltung  nicht  nur  des  mechanischen 
Elements  der  Gesellschaft,  des  Individuum,  sondern  auch  zur 
Erhaltung  der  Art,  d.  h.  des  organischen  Elementes,  der 
Familie,  und  des  poliüscben  Elementes,  der  Klasse. 

Und  das  „kleinste  Mittel"  zur  Befriedigung  dieses 
komplexen  Bedürfnisses  der  Lebensßlrsorge  ist  durchaus 
nicht  immer  und  überall  die  exakte  Kalkulation  des  kauf- 


iM,Coo<^le 


418  Prani  Oppenheimer: 

mScnischeo  Hauptbuches,  sondern  das  kleinste  Mittel  ist  ver- 
schieden je  nach  der  objektiven  Venimstandung,  in  der  das 
Individuum  lebt,  Dach  der  politischen  Organisation  nnd  der 
wirtechafüichen  Stufe,  in  die  es  eingegliedert  ist,  nach  der 
Klasse,  zu  der  ea  gehOrt,  nach  dem  strategischen  Aufmarsch 
und  den  relativen  Kräften  des  Klassenkampfes. 

Für  Jt^er  und  Fischer  ist  das  kleinste  Mittel  die  okku- 
pierende Arbeit  und,  wenn  die  Bevölkerung  zu  dicht  wird, 
die  gewaltsame  Usurpation  benachbarter  E^ch-  und  Jagd- 
grOnde.  Für  Hirten  ist  das  kleinste  Mittel  die  kriegeriache 
Eroberung  benachbarter  Weidegründe  und  Versklavung  ihr«- 
bisherigen  Besitzer,  die  den  Siegern  fortan  als  Weideknechte 
zu  dienen  haben.  Wo  Jäger  oder  Hirten  an  wohlhabende 
Ackerbauer  oder  reiche  Städter  grenzen,  ist  das  kleinste 
Mittel  der  Krieg  und  Eanbzug  oder  die  Beraubung  oder  Be- 
steuerung der  Handelskarawanen.  Für  den  Ackwbauer  ist 
das  kleinste  Mittel  die  friedliche  Besetzung  oder  kriegerische 
Eroberung  neuer  Feldmarken,  wenn  die  seinen  menschm- 
erfUllt  sind,  für  den  Städter  die  Eroberung  der  Stätten,  wo 
seine  Handelswaren  wachsen,  und  die  Erpressung  von  Frohn- 
diensten  und  Steuern  von  der  einheimischen  BevClkeroog. 
Erst  unter  einer  ganz  bestimmten  objektiven  Verum- 
ständung,  d.  h.  im  freien  Verfassungsstaate,  der  die  „Rente* 
gewährleistet,  in  der  „kapitalistischen  Wirtachalt",  ist  das 
kleinste  Mittel  der  Einkauf  der  Waren  und  der  Arbeitskraft 
auf  dem  billigsten,  und  der  Verkauf  der  Waren  auf  dem 
teuersten  Markte,  d.  h.  die  Glewinnung  von  Mehrwert  im 
Klassenkampf  der  freien  Konkurrenz.  Nur  hier  gedeiht  der 
homo  sapiens  lombardstradarius  und  auch  hier  nur,  insowedt 
er  Wirtschafter,  nicht  aber,  insoweit  er  Familienvater,  Staats- 
bürger,   Religiöser,    Glelehrter    oder   GeBchlechtswesen   ist. 

Insofern  sich  also  die  WirtschaftswiBsenschaft.  mit  dem 
Menschen,  soweit  er  Wirtschafter  in  der  kapitalistischea  Gle- 
eellschaft  ist,  zu  beschäftigen  hat,  bleibt  ihr  gar  nichts  anderes 
Übrig,  als  nur  den  „economical  man"  zum  Ausgangspunkt 
ihrer  Darstellung  zu  wählen,  denn  sie  behandelt  nur  seine 


iM,Coo<^le 


Skizze  der  BOiisl-UoDomisclieii  OesohiobtstnifFassiiiig.  413 

wirtachaftliclie  HaDdlung!  Dass  er  keine  anderen,  als 
wirtschaftliche  Handlungen  ausführe,  hat  sie  nie  behaupten 
-wolleo:  aber  diese  gehören  nicht  in  ihr  Thema,  sondern  sie 
hat  sie  anderen  Zweigen  der  Sozialpsychologie  zu  tiberlassen. 
Wenn  sie  sich  auch  damit  beschäftigen  wollte,  so  ertrinkt 
alle  Wirtschaftawisaenachaft  rettungslos  im  uferlosen  Ozean 
der  Sozialpsycbologie,  die  Überhaupt  erst  fester  Baugrund 
werden  kann,  nachdem  mittela  des  isolierenden  Verfahrens  die 
sozialen  Schöpfungen  der  einzelnen  Motive  herausgesondert 
worden  sind. 

Nur  hat  freilich  die  nachklassische  Ökonomik  den 
schweren  Fehler  begangen,  die  kapitalistische  Wirtschaft 
als  die  endgültige  Form  des  Wirtschaftslebens,  als  letzte 
denkbare  Stufe  zu  proklamieren.  Dieser  Fehler  muss  aus- 
gemerzt werden:  aber  er  ist  keine  Folge  der  isolierenden 
Methode,  wie  man  bisher  angenommen  hat,  sondern  eines 
selbständigen  Rechenfehlers.  Die  vier  Spezies  stimmen, 
aber  der  Ansatz  des  Eegeldetri-Exempels  ist  falsch.  Es  ist 
die  Aufgabe  der  national-ßkonomischen  Wissenschaft,  den 
richtigen  Ansatz  aufzustellen;  mir  hat  sich  hier  ergeben, 
dass  die  Konstruktion  des  nach  dem  Prinzip  des  kleinsten 
Mittels  wirtschaftenden  „economical  man"  als  Prämi^e  zu 
Deduktionen  führt,  die  mit  der  Wirklichkeit  vollkommen 
übereinstimmen. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Ober  die  zeitlichen  TerhUtnisse  in  der  Slnnes- 
walirnelimiiiig. 


Tod  K«b»rt  Mflller»  Oiessen. 
n.    (SohliiBs). 

Inhilt: 


VgrvtBlhmc  ws4«n  knn  bwprQclMk^ 

Wenn  man  die  Terschiedenen  Elemente,  welche  in  einer 
Wahmehmung  enthalten  sein  kOanen,  einzeln  ermittelt,  so 
ei^ebt  sich,  dass  dieselben  nicht  gleichartig  sind,  sondern 
daes  sich  bestimmte  derselben,  v^che  wir  als  Empfindungs- 
äiaraktere  bezeichneii  wollen,  von  andern,  den  Wahmehmnngs- 
charakteren,  sondern  lassen.  Die  Diskussion  über  Empfindung 
und  Wahmehmung  soll  zurückgestellt  werden,  da  zu  der- 
Belben  die  Besprechung  gewisser  Punkte  erledigt  sein  moss, 
weldie  im  folgenden  enthalten  ist. 

Es  ist  stets  möglich,  eine  Wahmehmungsaussage  so  zu 
transformieren,  dass  sie  eine  zeitliche  und  eventuell  auch 
räumliche  Bestimmung  enthält  and  diesen  lässt  sich  die  Be- 
dentang einer  Orientierung  in  der  Ä.U38enwelt  zulegen;  es 
wird  dann  die  Wahmehmungsaussage  in  positiver  Form  aus- 
zudrucken sein,  der  Inhalt  derselben  ist  aber  stets  ein  Za- 
Banunenhang  von  Elementen  (Zeiten,  Räumen,  tactilen  and 
Wärme-Empändungen  u.  s.  f.).  Es  ist  keineswegs  wesentlich 
und  nötig,  dass  die  Wahmehmung  eine  weitere  Beihe  von 
Torgängen  bei  der  aassagenden  Person  involviere,  welche  zur 
VoTBtellang  eines  Dinges  fuhren  mtissten,  vielmehr  beziehen 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


416  Bobert  HQUer: 

sich  Wahniehmung  und  Empfindung  in  gleicher  Weise  auf 
die  ÄuBsenwelt  und  enthalten  gleich  viel  davon,  nämlich  alles, 
sodass  hier  eine  Grenze  von  vornherein  nicht  vorhanden  ist. 
und  es  erst  einer  besonderen  Darlegung  bedarf,  warum  die 
rämnlich-zeitliche  DetenninierÜieit  in  der  Wahrnehmung  eine 
Überwiegende  Bedeutung  gewinnt  fllr  die  Beziehungen  der 
aussagenden  Person  zu  aussenweltlichen  Umgebungsbestand- 
teilen. Die  Wahrnehmung  ist  ebenso  primär  wie  die  Em- 
pfindung und  ebensowenig  abgeleitet  wie  diese;  mfui  darf 
auch  nicht  annehmen,  dass  durch  die  räumlich-zeitliche  Be- 
stimmtheit die  Wahrnehmung  nur  irgend  etwas  mehr  in 
qualitativer  Beziehung  enthalte  als  die  Empfindung,  da  Kauin 
und  Zeit  nicht  qualitative  Inhalte  der  Wahrnehmung,  sondern 
extensionale  Bestimmungen  in  derselben  sind.  Zwei  Hammer 
schlage,  nacheinander  gegeben  in  zeitlicher  Folge  als  Wahr- 
nehmung, enthalten  nach  Aitensität  und  Qualität  um  nichts 
mehr,  als  dieselben  einzehen  Hammerschläge  nach  ihren 
Merkmalen  als  EmpfindungeD  betrachtet. 

Es  mögen  nun  mehrere  aufeinander  folgende  Hammer- 
sclilSge  von  verschiedener  Beschaffenheit  gegeben  sdn,  wir 
können  dann  zunächst  die  Empflndungscharaktere  in  mehr- 
facher Weise  unterscheiden.  Zunächst  ergiebt  sich  die 
Unterscheidung  disparater  Empfindungen,  welche  verschie- 
denen Empfindungsgebieten  angehören,  auf  Grund  der  Er- 
regung verschiedenartiger  Sinnessubstanzen.  Sie  ist  fUr  das 
Individttum  etwas  primäres  und  bestimmt  die  Qualität  der 
Empfindung;  so  sind  rot  und  grtln  primär  gegebene  Ftfb^ 
qualitäten,  der  Geruch  von  NH|  und  Cg  Hg  NO,  primSr 
gegebene  Geruchsqualitäteo.  Die  Empfindungsqualitäten  sind 
innerhalb  der  individuellen  Erfahrung  schlechterdings  oiclit 
weiter  reduzierbar,  sie  bedeuten  fflr  das  Individuum  soeu- 
sagen  eine  Art  Präformationssystem,  an  das  alle  Empfiadtug 
und  Wahrnehmung  gebunden  ist.  Es  handelt  sich  hier  aber 
nicht  um  einen  mystischen  Apriorismus,  sondern  es  ist  mOgUcb. 
auf  Qrund  einer  bestimmten  Betrachtungsweise,  welche  to" 
dem  Gegebensein  der  Empfindung  zu  den  damit  identisohen 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL' 


Deb«r  die  leJUloheD  Verhältnisse  in  der  SUineswihnteluiiiuig.    417 

Vorgängen  in  den  Sinnesaubstanzen  fortschreitet,  einen  E]inblick 
in  das  Wesen  desselben  zu  gewinnen.  Indem  die  Beschaffen- 
heit der  Sinnessubstanzen  gegeben  ist,  bevor  das  Individuum 
Oberhaupt  Erfahrungen  gemacht  hat,  ist  auch  die  (^laUt&t 
der  Empfindung  vor  aller  Erfahrung  determiniert  und  voll- 
zieht sich  in  diraer  vorherbestimmten  Weise  im  einzelnen 
Erleben  der  wahrnehmenden  Person. 

Die  Empfindung  ist  nun  nicht  nur  qualitativ  determiniert, 
sondern  einer  solchen  kommt  im  allgemeinen  eine  bestimmte 
Stärke,  Intansität,  zu.  Diese  sollte  aber  nicht,  wie  vielfach 
geschehen,  als  Empfindungsquantität  bezeichnet  werden,  wei! 
dies  die  Quelle  mannigfacher  Irrtümer  der  „Psychophysik" 
geworden  ist.  Der  Begriff  der  Ikupfindungsintensität  ist 
keineswegs  etwas  primäres,  sondern  eine  sekundäre  begriff- 
liche Bestimmung  der  gegebenen  Empfindung.  Wir  kommen 
zu  derselben  erst  durch  Yergleichung  quaUtativ  gleicher 
Empfindungen  durch  eine  gewisse  Art  der  Wahmehmungs- 
aussage,  welche  zunächst  eine  Beziehung  darstellt  von  der 
Form,  die  Empfindung  a  ist  stärker,  schwächer  oder  gleich 
der  qualitativ  ihr  gleichartigen  Empfindung  b.  Damit  diese 
Aussage  möglich  sei,  muss  eine  qualitativ  bestimmte  Empfindung 
in  ihren  Abstufungen  der  Intensität,  imd  somit  wiederiolt, 
gegeben  sein. 

Bb  warde  gesagt,  daas  die  Aussaga  über  die  EmpGndaDgsHtärke  eine 
Bexiehangsaassoge  sei,  der  eine  VeigleiohuDg  von  EmpfindaDgeQ  zu  gninde 
liege,  sodass  diaae  Form  der  SiDDesaassage  als  Sinaesurteil  zn  bezeiohaen 
wäre.  Te^eiobt  mao  die  St&rke  zweier  BammeTHoMage,  Bo  buiQ  etwa  die 
AwaagB  lauten,  daaa  der  eine  etärber  sei  als  der  andere  und  diese  kann  je 
nach  Dmetänden  mit  vollsr  Sicherheit  abgegeben  werden.  Sie  ist  nicht  ab- 
h&n^g  von  dem  Betrage  der  SohaLlatärken,  sondern  nur  von  dem  Verhält- 
nisse derselben,  während  jener  Betrag  in  weiten  Orenien  Tarieren  kann. 
Der  Inhalt  eines  solchen  Urteils  ist  die  Feetlegnng  eines  IntenBitlUavarbält> 
Disses  zweier  Empfindungen,  und  nicht,  selbst  nicht  relatiT,  eine  QnantitatB- 
beetünmong  von  aolchen.  Dadurch  aber,  dasB  daa  Inten BitAtaverhältniB  sieh 
als  ein  ,,mehr"  der  einen  Bmpfindang  and  als  ein  „weniger"  der  anderen 
ao&ssen  läsat,  daas  es  femer  mögt  loh  iat,  aymbolisoh  das  IntensitatS' 
TerbAltnia  in  einer  ausgedehnten  Uannigfaltigteit  darzustellen,  hat  man  die 
BastimmnngdeBlntensitatsverhältniBseB^eineqaantitBtive  von EmpGiidangeD 
aof^fasst  In  diesem  Sinne  ist  anoh  von  einer  Mesabarkeit  der  EmpSndungs- 
stärken  die  ßede.  Die  Berechtigung,  von  den  Erapfindnngsintensit&ten  als 
Qnanta  der  Empfindung  zn  reden,  gUt  also  nnr  in  diesem  mittelbaren  Sbne 
nnd  mag  statthaft  erscheinen   unter  Wahrung  der   nötigen  Restriktionen: 

VI«ieUaluMlirlfi  f.  trlmunluftl.  PblUu.  n.  BodoL    MVn.    t.  27 

D„:,iP<.-jM,CoO<^le 


418  Bobeit  Hüüvr: 

denn,  die  BeBtinuuiiDg  der  Merkmile  dar  Brnpfindnag  ist  tat  bmIl  t^w- 
NtiBohen  BfldfliftiiiaeD  erfolgt,  erst  die  SiDiiesphysiologie  hat  gos^gt,  «ü 
I^beahAlligkdt  und  '^B**ig™'e  *iaa  afAart  tmaohriebsM  Badealaiw  hälw. 
Bo  ist  aaoh  dw  puiso  Tonnokäte  Lehncabbide  der  Mawoag  der  BMpfimtoay- 
Btirka  nioht  munittdbar  dem  gewabnUcheii  Denken  gegeben,  WDden  beriuil 
auf  wdtUnfl^  theoratisdun  Oberlegnagen,  denn  QraMUlgm  nad  Dnnh- 
fährangeti  einer  fortgeaetsten  Bevision  bodürfon.  Für  di«  gewöhalKha 
AnfFusing  ist  die  qualitativ  ood  intenaiT  ohankterisierte  Empfindung  adbst 
OMt  ein  <^ial«. 

Der  Bmpfindmig  kommen  non  GigeDaabaften  i^  nach  ««lohen  im 
Urteil  über  IntenaitätSTerhUtiiisse  uidit  nur  eine  VediUtniaaDBsaKe  ist, 
acndem  etwa»  über  BeMga  der  Bnpbidinigen  annagt  Teningert  mn 
den  Betrag  einer  SohaUsttrke  förtgeeetit,  bo  kmiunt  man  aoUieaaliah  n 
einer  Orenie,  vo  dieselbe  fiberhanpt  moht  mehr  wahrgenommen  wird,  diese 
bexmehnet  man  als  BmpfindnngaMhweUe  der  8diallst£to:  sdehe  Sohwalbn 
existieren  —  die  Verhlttnisse  sind  im  einielnen  liemlioh  THMhieden  — 
für  alle  Empfindnn^gebiete,  die  IbdBtenE  derselben  bemht  aof  allgemeinen, 
nAher  angebbtuen  Eigens^iaften  der  SinneatnbBtana«). 

Sind  zwei  Schallstärken  gegeben,  von  denen  man  die  BtKAaie  unver- 
ändert ISsst,  wahrend  man  die  sohwücliere  immer  at&rker  macht,  so  kommt 
man  sn  einer  Qcente,  wo  b«ds  Sohallatttrken  nk-Jit  mehr  ontersoheMbar  aiBi; 
auf  diese  Weise  kommt  man  inm  Begriff  der  TJatersohiedsemi^iMUiidih^ 
als  derjenigen  Orenie,  welcher  die  TTnteisoheid barkeit  iweler  Empfindungen 
entsprioht 

Auf  diese  Weise  gewinnt  nun  zwei,  wie  Qoanta  forronliflrbare  Be- 
stimmongen  der  BmpfindnnKSintenBitftt,  nftmlich  einerseits  die  Empfindungs- 
Bohwelle,  andereraeitB  die  DntersohiedsBmpßndlinhkeit  Anf  der  Kzistena 
der  letzteren  beruhen  dann  die  Massmethoden  der  JGmpfiudong,  deren  An- 
wendung im  Qebiet  dar  zeitliolien  Verh&itnisse  der  Sinueswahmehronng  nadi 
der  Beaprachong  von  Sinaesanssage  and  Sinnesnrteil  noch  sn  betraohtM 
sein  wird. 

Qualität  uod  Intensität  lassen  sich  als  Empfiodunga- 
charaktere  der  Extension  in  der  Wahrnehmung  gegenU>w 
stellen.  Unter  dieser  Terstehen  wir  die  Thateache  und  das 
Merkmal,  das  jedem  als  Empfindung  charakterlBierteD  Ans- 
sageinhalt  zukommt,  dass  er  zeitliche  und  eventuell  auch 
räumliche  Ausdehnung  besitzt.  Wir  wollen  dwnit  sa^en, 
dass  unsere  Empfindung  selbst  das  räumliche  und  zeitliche 
Ausgedehnte  sei.  Das  erscheint  fUr  den,  der  sieh  gewöhnt 
hat,  die  Empfindung  als  etwas  „Psychisches"  zu  betrachten, 
einfach  paradox,  und  doch  ist  es  die  einzige  MögUchkeii,  die 
Schwierigkeiten,  die  sonst  für  Wahmehmungs-  und  Proj^- 
üonshypothesen  besteben,  zu  vermeiden.  Wenn  ich  ein 
Ausgedehntes,  etwa  einen  Baum,  sehe,  so  ist  die  Empfindung 
nicht  in  mir,  etwa  in  meinem  Auge  oder  in  m^em  Kopfe, 
sondern  sie    ist  dort,    wo  der  Baum   ist,    den  Eäiqiflndimgs- 


iM,Coo<^lc 


TJeber  die  leitliohan  VeiUHniMe  in  der  BiimeBwifamehmiiiig.     419 

und  Wahraehmnngskomplex  ia.  jener  Stelle  bezeichne  ich 
eben  aSs  Baom.  I>«bgeniSS8  BAge  ich,  die  Brnpflndm^  Ist 
gar  nicht  in  dem  Sabjekt,  Bondern  sie  ist  drausseii  und  ich 
beEdchne  die  GeBtunintheft  diar  am^^ehnten,  ausser  mir 
li^enden  Bmpflndungffli  als  Aussenwelt  and  es  ist  mt^Hch, 
den  ZnsammenhaDg  der  Srnpfindongen  aoeser  mir  in  der 
absolaten  Form  der  WahmehmnngBatissage,  ToUstSndig  un- 
abhängig Tom  Subjekt  zd  formuliereii,  sodass  meine  Em- 
pflndmigeQ  als  Btemente  der  Aussenvelt  aoftreten.  Die 
ÄDBsenwelt  sind  meioe  Empflndnngen  und  meine  Empfindungen 
^d  die  AuBsenwelt,  erst^es  nnr,  insoweit  als  sie. zu  mir  als 
aoB&^ender  Penon  in  Beziehung  steht,  soweit  ich  sozusagen 
gerade  der  Knotenpunkt  der  jeweilig  gegebenen,  dem  un- 
unterbrocbenen  Wechsel  ausgesetzten  Elemente  der  Wahr- 
nefimang  bin.  AJle  Amsagen  Aber  die  Aussenwelt,  soweit 
dieselben  flbra-hanpt  der  rebien  £!rfohrmjg  angehören,  gehen 
auf  die  Sinnesaussage  zurück  und  wir  ziehen  daraus  den 
SchlUBB,  dass  die  Erregung  der  Sinnessubstanzen  selbst  so 
boHshaffen  sein  muss,  dass  sie,  von  der  aussagenden  Person 
erlebt,  Ausdehnung  besitzt.  Mit  dieser  einfachen  Annahme, 
daBB  die  Simpfindung  selbst  das  Ausgedehnte  sei,  Tersohwindet 
eine  Ffllle  von  Schwierigkeiten,  mit  denen  sich  die  Erkennt 
nistheorie  seit  jeher  abgequält  hat  Die  Empfindungen 
exteäeren  als  Ausgedehntes  nicht  in  der  aussagenden  Person, 
de  Bind  darstellbar  unabhängig  ron  ihr  als  Zusammenhang 
der  Elemente  der  Aussenwelt.  Diese  wird  zum  Knotenpunkt 
der  letzteren,  indem  lüe  Ausdehnungen  der  Empfindung  nach 
den  Verhältnissen  der  Erregung  der  Sinnessubstanzen,  gemäss 
den  Eigenschaften  derselben  gegeben  sind. 

So  wird  die  Ermittelung  der  Grandeigenschaften  der 
Sinnessubstanzen,  welche  sich  in  prinzipiell  ziemlich  einfacher 
Weise  leisten  lässt,  zur  letzten  Grenze,  welche  dem  mensch> 
liehen  Erkennen  gegeben  ist,  und  die  Eigenschaften  von 
Elmpfindnng  nnd  Wahrnehmung  enthalten  die  gesamte  Deter- 
miniertheit der  Aussenwelt.  So  sind  in  ihnen  die  letzten 
Daten  gelben,  welche  das  menschliche  Ejrkennen  bestimmen 

27' 


iM,Coo<^lc 


420  Bobart  HflUar: 

und  da  die  Eigenschaften  der  Erregang  der  Sinnessobstanzen 
vor  aller  Erfahrung,  die  im  individaetlen  Erleben  mOglidi 
ist,  bereits  vorbanden  sind,  so  sind  die  al^meinen  Eigen- 
schaften unseres  Elrkenneas  apriorisch  bestimmt.  Damit  ist 
aasgesagt,  dass  nicht  die  ZufiUligkeit  der  individaelleD 
EiXistenz  alle  Form  und  allen  Inhalt  der  subjektiTen  Er- 
fahnmg  bestimme,  sodass  diese  Ton  bidividuum  zu  IndiTi- 
dnnm  unTergleichbar  vfire,  sondern  es  lassen  sich  einfache 
Momente  angeben,  die  aller  individuellen  Erfahrung  zugrunde 
liegen.  Weit  Über  die  Betrachtung  der  menschlichen  Sinnes- 
wabrnehmi^  und  des  menschlichen  Erkenntnisvermögens 
hinaus  läset  sich  zeigen,  dass  die  Grundeigenscbaften  iet 
Sinnessubstanzen  die  gleichen  sind,  und  dass  sie  schliesslich 
zurückgeben  auf  die  Eigenschaften  der  lebendigen  Substanz 
Überhaupt,  sodass  die  Ekßrteruug  dieses  Begrilfs  die  funda- 
mentalste und  letzte  Aufgabe  ist,  die  wir  zu  leisten  im 
Stande  sind. 

Es  wäre  nun  unstatthaft,  auf  grund  dieses  sinnesphy- 
siologischen Äpriorismus  so  zu  schliessen,  dass  mtm  sagt, 
dass,  wenn  alle  Merkmale  von  Empfindungen  und  Wahr- 
nehmungen durch  die  Beschaffenheit  der  Sinnessubstanzen 
bedingt  seien,  die  Komplementärbedingung  nach  Art  eines 
Dingbegriffs  gedacht  werden  mflsste,  der  jeder  positiven 
Besümmung  unzugänglich  ist,  da  er  selbst  nicbt  Gegenstand 
der  Erfahrung  sein  kann.  Eine  derartige  Folgerung  würde 
dem  Satz  widersprechen,  dass  Wahrnehmung  und  Wahr- 
genommenes schlechthin  identisch  sind,  da  sie  das  Wahr- 
genommene um  etwas  vermehrt,  was  selbst  niemals  in  die 
Erfahrung  eingehen  kann.  Indem  wir  aber  den  primären 
Charakter  des  Dingbegriffes  im  Bereich  der  Erfahrung  ah- 
lebnen, indem  wir  also  das  primäre  Gegebensein,  die  Irre- 
duzibilität  und  Notwendigkeit  eines  ^  die  Analyse  des 
aussenweltüchen  Geschehens  zu  verwendenden  Substanz- 
begriJTes  bestreiten,  haben  wir  erst  recht  keinen  Qrund, 
denselben  als  ausserhalb  aller  Erfahrung  liegenden  Grenz- 
begriff einzuiUhreu.    Auch  der  Begriff  der  lebendigen  Sab- 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


UvbsT  die  EeiUiohen  VeriiAltniHBa  in  der  Snueewtümiehiiniiig.     421 

Btans  wird  sich  als  empirische  Eegriffsbildung,  die  keine 
irredosdbelen  Bestandteile  enthält,  späterhin  erweisen,  und 
vir  huldigen  nicht  im  geringsten  Titalistischen  Anschauungen. 
Wir  sind  der  Meinung,  dass  die  gesamte  Analyse  des  ausser- 
veltlichen  Geschehens  im  Bereich  der  Erfahrung  eines  dog- 
matisch formalisierten  SubstanEbegriffes  (als  Materie)  wie 
ebenso  der  Einführung  eines  Kraft-  oder  Bnergiebegriffes 
vollständig  entraten  kann,  dass  weder  der  Physiker  noch 
der  Chemiker  derselben  bedürfen.  Wenn  also  im  TOrliegenden 
der  transzendentale  Bealismns  abgelehnt  wird,  so  sind  vir 
weiterhin  dffl*  Ansicht,  dass  der  erkennbiistheoretische  Idea- 
lismus eines  BKasBLBT  ebenso  abzulehnen  sei;  dieser  ist 
schliesslich  gezwimgen,  die  G^emeinschaft  aller  menschlichen 
ErkenntnisvennOgen  in  Gott  zu  Hilfe  zu  nehmen,  um  die 
Identität  des  Erkennens  bei  verschiedenen  Individuen  über- 
haupt zu  begründen.  G^ea  diese  Form  des  Idealismus 
spricht  nun,  dass  alle  Empfindung  und  Wahmehmimg  unter 
einem  absoluten  Zwuige  stehen.  Dieser  Zwang  der  Sinnes^ 
Wahrnehmung  ist  als  ein  letztes.  Dicht  weiter  ableitbares 
Faktum  anzuerkennen  und  er  ist  es,  an  dem  jede  ideatütische 
Philosophie  zerschellt. 


Dieser  Zwang  ist  es  «eiteihin,  aof  dem  in  Jedem  einsolnen  ge- 
gabeneji  FaUe  von  Wihrnehmong  nnd  Empfindnng  die  Uöglichkeit  identisuw 
SiDnesaiissagen   Terachiedener  Penonen   beruht  und  ea  erdSoet  sieb  hier 


e  gewaltige  PerepektiTe,  \tm  der  aoe  die  theoretieohe  HQgliohkeit  eine« 
cenunerdoms  von  Henschen  Teretaiidlitdi  wird  (theoretiaolie  WiderIc«iiDg 
dea  SolipuBinas).  Indem  ich  bei  aei  Wabmebmnog  etwa  «nee  Olooken- 
tonae  anä  Ornnd  der  Rmrthiffnnhntt  mmner  Sinnesenbetanxen  nnd  dea  Qe- 
gebenseins  der  Komplementirbedingnng  nnter  einem  eindeutigen  Zwange 
ttebe,  der  meine  Wehmehmong  bestimmt,  kann  ich  unter  denselben  Yer- 
hUtninen  Ki  uaoh  eine  andere  Penon  eabetitnieren,  welohe,  da  System- 
beeobaffeDheit  ond  EomplemenUrbediogmig  dieselben  sind,  notwendig  die- 
selbe TahiDehmnngmueaM  produieren  mnes,  wie  ich;  oder  ich  kann 
■odreneils  die  gegebene  IdentitU  der  Sinneeanssage  benatsen,  nm  die 
Bjatembeadiaffeobert  der  SinneBBubetuuen,  indem  ich  die  mir  alt  selbst 
^nagender  Peiwm  gexogene  Grenze,  übergehend  auf  eine  andere  ansaagenda 
Penoo,  Sbendireite,  (eventiiell  TarRleiohend)  nntersnohen,  oder  ieh  kann 
«chliowlioh  lUe  Sinseaannage  einer  beuebigen  Person  snr  Bn^ttelnng  weiterer 
VeAlhnieae  der  EomplementftrbediDgnne  benatzen. 

Hier  Mbeint  mir  die  Lteke  in  den  Ansführon^  Haoss  in  seiner 
Analyse  der  Empfindungen  zu  liegen,  dass  sieh,  sowie  man  einmal  Em- 
pfindm^  und  WaAmehmnng  bezogen  auf  die  mliniehmende  Penon  bei  ihm 
"■*  Aoge  fasat,   dieselben  siuh   in  rön  subjektiTe  Phänomene   yerwandeln. 


iM,Coo<^lc 


422  Robert  Malier: 

■odaa  dia  gstegeotliotw  Idsotifixienuv  MineB  BtaqdMUiktM  mit  im 
BerkeleyB,  Qber  die  er  sieh  beUagt,  in  der  Hist  maaäuul  nihe  liegend 
BOnug  lat 

Der  ZvangBcharakter  in  der  eiiuelnen  W^irnehmnng 
isL  im  Ablauf  derselbea  gegeben  und  im  Voratflllon  und 
Denken  in  keiner  Weise  vorausbeBtimmbar,  ebenso  wenig  ist 
er  ableitbar  aas  der  Beschaffenbeit  der  Sinnessubstanioi. 
Wir  ei^ennen  diesen  Zwang  in  nnserer  Analyse  der  Wahr- 
nehmung an,  indem  vir  rein  deskiiptiT  die  WahmehmuigB- 
aoBsage  als  durcb  einen  ausserweltlichen  Umgebungsbeetand- 
teil  bedingt  darstellen,  womit  gesagt  sein  soll,  dass  wir  die 
Bedingungen  eines  bestimmten  gegebenen  WahmehnnmgB- 
Torganges  nicht  auf  Gnmd  des  Oegebenseins  der  aussagen- 
den Person  allein  abzuleiten  vermögen.  Dass  wir  diese  Be- 
dingung selbst  als  einen  ausserweltlichen  Umgebungsbestaiid- 
teil  auffassen,  ist,  wie  aus  dem  folgenden  sogleich  errä(^tlich 
werden  wird,  durch  die  Beschaffenbeit  der  Wahm^nDang 
selber  bedingt,  indem  dM^elben  die  EJigenschaft  der  Extenson 
zukommt.  Indem  wir  die  Wahrnehmung  als  in  dieser  Weise 
bedingt  beschreiben,  behaupten  wir  keineswegs,  dass  ein  reales 
G^egebensein  einer  Aussenwelt  Gtrund  des  Zwangschan^lers 
der  Wt^imehmung  sei  (Ablehnung  des  naiTeo  RealinoDS). 
Darüber  etwas  zu  sagen  bin  ich  ausser  stände,  da  icti  damit 
die  festgelegte  Grenze  des  Standpunktes  der  reinen  Erfahning 
tlbwschreiten  würde;  ich  sage  vieiraehr  nur,  die  Sinneewahi^ 
nehmung  steht  unter  einem  Zwang,  dessen  Bedingungen  auf 
Grund  des  Gegebenseins  der  wahrnehmenden  Person  avi 
zum  Teil,  nämlich  hinsichtlich  der  Eligenschaften  ron  Gdi- 
pfindimg  und  Wahrnehmung,  ableitbar  ist  Da  der  ^emiL- 
niBtheoretische  Idealismus  alle  Realität  und  alle  ErkEumtois- 
bedingungen  dem  Subjekt  beilegt,  lehnen  wir  ihn  ab,  da  dff 
erkenntnistheoretiscbe  Realismus  eine  substantielle  Existeni 
der  Aussenwelt  in  irgend  welchM*  Form  behauptet,  und  vir 
diese  nicht  anerkennen,  ist  unser  Standpunkt  auch  von  diesem 
fundamental  verschieden.  Als  gegeben  seh«i  wir  nur  die 
Sinneswahmehmung  in  ihrem  Ablauf  an,  welche  ZwaogS' 
Charakter  besitzt.     Ihr  kommt  in  gewissem  Sinne  die  Be- 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


üeber  die  leittiohan  TeitiiltiüsM  in  der  Snnaewalirnehmtuig.     423 

deotang  dar  Aussenwelt  eu,  and  sie  ist  mit  dem  auseerwelt- 
iieben  G^escb^en  identisch,  isdem  eine  Aussage  desselben 
eine  Wahmehmungaaussage  in  positiver  Form  ist. 

Wir  kriirea  zur  Besprechung  der  Extension  als  Eigen- 
schaft der  Wahrnehmung  zurück.  Die  zeitliche  Ausdehnung 
ist  gegeben  als  Hertaual  der  Empfindungen  aller  Sinnesgebiete, 
sodass  die  Erörterung  derselben  eine  allgemeine  Eigen- 
sehaft  jeglicher  Empfindung  zum  .Gegenstand  hat.  Die  räum- 
liche Etxtensiou  kommt  vorwiegend  nur  bestimmten  Sinnes- 
gebieten, nämlich  einerseits  den  Gesichtsempändmigen,  anderer- 
seits derHautsensibilitfttzu,  ohne  Übrigens  den  anderen  durchaus 
zu  fehl«i,  so  vie  es  etwa  mö^ch  ist,  G^ehOrsempfindungen 
ungeführ  nach  ihrem  Ursprungsort  zu  lokalisieren.  Es  möge 
nun  ein  Druckpunkt,  etwa  am  Fussrlicken,  erregt  werden. 
Dann  hat  die  mit  der  Erregung  dieser  taktilen  Sinnessubstanz 
identische  Empfindung  insofern  eine  extensiTe  Bestimmung, 
als  ihr  ein  Ort  im  Baume  zukommt;  dieser  liegt  fin  der 
Grenze  des  aussenweltUchen  Komplexes,  den  wir  als  unseren 
Körper  bezeichnen,  und  welchem  die  Sinnessubstanzen  durch- 
giogig  angehören.  Die  Qesamtheit  der  taktilen  Empfindungen 
des  ruhenden  und  bewegten  Körpers  bildet  eine  stetige,  ebene 
dreidimensionale  Mannigfaltigkeit,  die  wir  als  Tastraum  be- 
zeichnen. 

Der  Erregung  der  Punkte  der  Betina  des  einzelnen 
Auges  kommt  ein  zweifacher  Baum  wert,  und  zwar  ein 
L&^Mi-  und  ein  Breitenwert  zu,  während  bei  der  Erregung 
korrespondierender  Stellen  der  Doppelnetzhaut  die  räumlichen 
Tiefenwerte  auftreten,  sodass  hiermit  die  Dreidimensionaütät 
des  Sebraumes  gegeben  ist.  An  der  Orientierung  im  Baum 
partizipieren  femer  wahrscheinlich  die  von  den  Bogen^gen 
ansgelösten  Ehnpfindmigen  (MACH-BBBOEB'sche  Hypothese) 
und  weiterhin  die  Sinnesempfindungen  bei  der  koordinierten 
Bewegung.  Wie  nun  auch  die  Beschaffenheit  von  Empfindungen 
nnd  Wahrnehmungen  im  einzelnen  Falle  wechseln  mag,  so 
sind  diese  Merkmale  der  räumlichen  und  zeitlichen  Extension, 
welche  wir  als  Wahmehmimgscharaktere  bezeichneten,  doch 

n,g,t,7i.-JM,.dOO<^IC 


424  Bol)«rt  Malier: 

stete  mehr  oder  minder  ausgesprochen  gegeben.  Es  hU  diee 
zu  dem  Irrtum  geführt,  dass  sich  bei  einer  gegebenen  Em- 
pöndimg  eine  Scheidung  treffen  liesse  in  Form  und  Inhalt. 
So  v&ren  nach  Kaht  Raum  und  Zeit  die  aprioriBch  ge- 
gebenen AnschauuQgsfonnen,  in  welche  das  EmpändungB- 
chaos  sich  einordnen  würde.  Diese  Scheidung  scheint  mir 
nicht  haltbar;  unter  dem  Inhalt  von  Wahrnehmung  und 
Empfindung  kami  nicbte  verstanden  werden  als  diese  selbst 
im  gegebenen  Falle,  an  ihr  lassen  sich  wohl  einzelne  M^- 
male  aufweisen  und  diese  lassen  sich  generell  behandehi, 
aber  sie  lassen  sich  nicht  als  formale  Bestimmungen 
loslösen,  es  konunt  ihnen,  wie  sie  m  einer  bestimmten  Walu^ 
nehmung  gegeben  sind,  die  Bedeutung  von  Elemraiten  zu. 
Als  eine  sinnes-physiologische  Formulierung  der  Lehre  von 
den  Anschauungsformen  lässt  sich  die  Statuierung  des  Be- 
griffs der  Oen^alsinne  betrachten,  als  welche  man  „Baum- 
sinn"  und  „Zeiteinn"  ansah  (E.  H.  Webbr,  N.  Czbkiux). 
Diese  Meinung  hatte  zunächst  das  bedeutende  Verdienst, 
dass  sie  die  Diskussion  von  Raum  und  Zeit  dort  einordnete, 
wo  sie  hingehlfrt,  nämlich  in  die  Sinnesphysiologie.  Es  ist 
auch  angängig,  Raum  und  Zeit,  da  sie  Elemente  der  Wahr- 
nehmung sind,  als  Empfindungen  allgemein  zu  behandehi  nnd 
das  wollten  die  Autoren  besagen,  welche  jene  Termini  gebildet 
haben.  Der  Ausdruck  „Generalsinne"  aber  scheint  uns  irre- 
führend und  deshalb  zu  verwerfen  zu  sein.  Eine  Raom- 
empfindung,  die  nur  Baumempflndung  ist,  existiert  ebenso- 
wenig wie  eine  spezifische  Zeitempflndung,  die  nur  Zät- 
empfindung  wäre.  Raum  und  Zeit  sind  nur  Elemente  der 
Wahrnehmung,  die  allerdings  unter  Umständen  als  allün 
wesentlicher  Gegenstand  der  Amsage  auftreten  kOnneD. 
Wenn  man  unter  diesem  Vorbehalte  von  Raum-  und  Zeit' 
empfindungen  sprechen  will,  so  mag  dt^egen  nichts  ein- 
zuwenden sein.  Dieser  Terminus  weist  aber  auf  eineD 
weiteren  Punkt  hin :  räumliche  imd  zeitliche  Extension  als  Wali^ 
nehmungscharaktere  sind  in  den  verschiedenen  SinnesgebiebBi 
identisch,  während  dieEmpfindungscharaktere  disparat  mnd.  So 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


ü«bat  die  z^tijohen  TerhUtoisM  in  der  Sinneewahniehmimg.    42B 

ist  der  Baum  ab  Wahmehmungamerkmal  stets  eine  stetige, 
ebene,  dreidimeDsionale  Mannigfaltigkeit,  die  Zeit  eine  ein- 
dimensioDide,  einerlei,  ob  es  sich  um  die  zeitliche  Deter- 
miniertheit eines  visuellen  oder  akustischen  oder  anders- 
artigen SinnesYorganges  handelt  Dagegen  ist  eine  Tonhöhe 
und  eine  Farbe  qualitativ  derart  verschieden,  dass  eine  un- 
mittelbare Vergleichung  ausgeschlossen  ist.  Weiterhin  be- 
sitzen Raum  und  Zeit  als  Extension  der  Wahrnehmung  eine 
Reihe  gemeinschaftlicher  Eigenschaften. 

Es  mOgen  nun  zwei  aufeinander  folgende  Schall- 
hammerachläge  gegeben  sein;  es  ist  dann  ersichtlich,  dass 
von  zwei  Schlägen  überhaupt  nur  dann  gesprochen  werden 
kann,  wenn  der  folgende  zu  dem  vorhergehenden  in  eine 
Beziehong  tritt,  welche  als  Eelation  der  beiden  Schläge  be- 
zeichnet werden  soll.  Diese  ist  im  vorli^enden  Falle  keines- 
wegs selbst  Gegenstand  der  Wahrnehmung,  sondern  aus  der 
Analyse  des  vorliegenden  Befundes  erschlossen,  zunächst 
als  ein  rein  formales  Verhältnis  der  Möglichkeit,  dass  mehrere 
voneinander  getrennte  Schalleindrtlcke  Überhaupt  Gegen- 
stand einer  Aussage  werden  kOnnen.  Indem  diese  Relation 
zwischen  zwei  Schalleindrücken,  die  Inhalt  des  Wahmehmnngs- 
vorganges  sind,  besteht,  ist  sie  ein  rein  der  Wahrnehmung 
aogehöriges  Verhältnis,  das  demgemäss  in  seiner  Analyse 
um  nichts  mehr  erfordert  als  die  Analyse  einer  gegenwärtig 
gegebenen  Wahrnehmung,  sodass  durch  Einführung  dieses 
B^iriffes  eine  Amplifizierung  des  vorliegenden  Thatbestandes 
(etwa  um  einen  Faktor,  welcher  der  ausstanden  Person  in 
dem  Ablauf  ihres  subjektiven  (Jeschehens  gegeben  sei)  nicht 
stattflndet.  Im  vorliegenden  Falle  nun  besteht  die  Relation 
zwischen  zwei  Sinneseindrücken  von  verschiedener  zeitlicher 
Determiniertheit,  welche  beiden  demgemäss  als  anteriorer 
und  posteriorer  sich  gegenüberstellen  lassen.  Indem  nun 
die  zeitliche  Determiniertheit  der  beiden  einzelnen  Schläge 
in  der  Extension  der  Zeit  gegeben  ist,  so  ist  sie  eine  extensionale 
Beetünmung  der  einzelnen  Eindrücke  und  demgemäss  die 
Relation    eine    Beziehung    zweier    extensional    bestimmter 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


436  Robert  Ufiller: 

SümeseiiidrUc^e  und  indem  sie  der  beschreibeode  Anadnick 
des  Aufeinaaderbezogeaseins  der  beiden  HunmerediUge  iat, 
erweist  sie  sich  als  die  Cnmale  Beziefaun;,  die  erfffllt  aaic 
muss,  dasB  eine  Aussage  Über  auImnandarfolgBiMie  Stnaes- 
eindrUcke  mOglich  sei,  dass  ein  folgendes  zum  TOrhet^efaeod« 
in  Beziehung  trete  und  dass  somit  die  Besdnmumg  dei 
„ä^er"  oder  „später"  im  Ablaufe  dm  WahmehmoBgB- 
TOrganges  ausgesagt  werden  könne. 

Wenn  nun  bei  zwei  aufeinanderfolgenden  Hammw- 
scblägen  der  posteriore  Eindruck  der  gegenwilrtig  gegeb^ie 
ist,  ist  der  anteriore  für  sich  nicht  mehr  ablaufend,  sonden 
ein  abgelaufener  WahmehmnngsTorgang,  der  zeitJicb  als  der 
Vergangenheit  angebörig  detenniniert  ist.  Indem  ^>er  beide 
SchlÄge  Gegenstand  einer  Wahmehmungsauasage  werdeo 
können  etwa  von  der  Form:  „b«de  Schläge  folgen  nscfa 
nacheinander",  so  änd  wir  in  diesem  Falle  berechtigt,  aueli 
den  abgelaufenen  Vorgang  in  der  Aussage  als  Wahrnehmung 
zu  betrachten.  Das  ändert  sieh  aber  weiterhin ,  indem  in 
dem  stetigen  Fortschreiten  der  Zeit  das  zeitliche  Verhältnis 
einer  ablaufenden  und  abgelaufenen  Wahrnehmung  zu  dem 
gegenwärtig  Q«gebenen  sich  ändert  Daher  ist  es  nidtt  all- 
gemein angängig,  eine  abgelaufene  Wahrnehmung  schlechthin 
nach  Art  einer  eben  ablaufenden  zu  betrachten,  da  sie  üdi  von 
dieser  nicht  nur  in  der  zeitlichen  DeterminierÜieit,  sonden 
noch  in  einem  weiteren  wesentlichen  Merkmal,  das  in  uvteran 
implicite  enthalten  ist,  unterscheidet,  und  dies  ist,  dass  eine 
abgelaufene  Wahrnehmung  als  Inhalt  einer  Aussage  niclit 
gegenvrtbtig  unter  dem  Zwang  der  Sinneswahmehmung  steiri. 
Wenn  also  Über  eine  abgelaufene  Wahrnehmung  gegenwärtig 
ausgesagt  wird,  so  ist  der  Inhalt  der  Aussage  nicht  in  ooem 
identiB(^en  ablaufenden  Vorgange  der  Auasenwelt  gegebea 
und  bedingt,  sondern  Bedingung  and  Inhalt  du-  Aussage 
änd  in  irgend  welcher  uideren  Weise  gegeben  uad  vir 
wollen  das  Gegebensein  einer  derartigen  abgelaufen«!  Wahr- 
nehmung als  Inhalt  einer  gegenwärtigen  Aussage  als  Vor- 
stellung bezeichnen. 


iM,Coo<^le 


üebor  die  iMÜiohea  TwUltaisw  in  ikr  BiuMMraluneiuiiiiDg.     427 

Dm  bonct,  (Jan  dis  VoraUlnag  als  laliaU  einor  gaganwirtig  mfig- 
liohen  4uu^  is  dei  Te^uueolimt  als  wahTDahmaiigBTorpogKegsbrä  war, 
dm  Sit  Boiflit  m  emar  io  der  Tergüigeiihett  Bbg«eoliloBsenen  xritutmeoKiteiisioii 
■Be  lUifaflsle  dar  TabnMhioaDg,  die  KnpfinitauwschanUen  von  QnalWK 
nnd  lotenaiUtt,  wie  extenaieule  Bwttramiingqii  niksmeiL  In  der  Tor- 
atollang  dagegen  dnd  die '  länpBndtmgaohankteTe  der  Vahrnahmtuig  nicht 
—fwaia^w  ud  es  lUgt  diea  aoi  dem  Oegebenaein  dar  WahrndimnuR  ab 
mit  dam  snttjektiveii  kleben  identisohaB  Geeohehen  in  der  anEsenwaltliolwo 
Umgebung,  wdohes  bei  dam  Ablmt  dar  Toistelliing  nicht  stattfindet  Da 
aber  die  Toratatlnng  eine  frOber  atattgetaadana  Tahraehtnimg  i»t,  so  atawl 
die  Smpfindnngeoharaktere  als  insaagbaree  in  danelben  Weise  mSglioh  wie 
in  der  damals  g^envtrtig  gegebenen  Tahrnehmnng,  sodase  «noh  von  dnem 
yatgnkUstB  der  Em|>flndiuigBduuaktar  etwa  einer  Farbe  (.^rttn')  soa- 
gaeagt  werden  kann;  man  könnte  also  diese  Knpfindongsohuaktere  iex 
wabnehmnng  sie  Torgeatellte  bezeiahoen.  Diese  ontenehefdeo  sloh  aber 
Ten  den  in  dar  Wabrnehmnng  gSEebenea  dadnnh,  dass  ate  der  aiiiinniwi 
den  Person  »eibit  als  Teil  oder  Inh&lt  der  Aussage,  niobt  aber  als  von 
■naaen  bedingter,  ablsnfender  ErregnngsTorgang  einer  Sinneecabetani  und 
so  ab  ein  damit  identiaohas  aossenweltliohee  Itacbehen  gegeben  ist  Un 
TorgeBtelltes  .Orän"  entbehrt  also  jeglicher  peripherogenen,  sei  es  auuen- 
weltlioh,  aei  es  aas  der  Erregvig  der  tiianesorgane,  bedingträi  Ügentfimllciii- 
kat  ala  Kmpfindong,  die  io  einer  Wahmehmnng  gegebenen  Empfindnnga- 
Dhanktere  können  als  solche  nicht  Gegenstand  der  Tontellnng  oder  UeA- 
mala  von  Torgestelltem  werden,  sie  treten  nnr  als  Hö^iohkeit  von  einem 
Anssagbaren  eines  Vorgestellten  auf,  als  möglicher  Inhalt  einer  gegenwärtigen 
Anasage  anf  Qrund  der  frfiheren  Wahmehmnng,  sie  sind  sellwt  als  vor- 
geatellte  nnr  anssagbar,  ntoht  inhaltlich  adSqoat  reproduzierbar. 

Wenn  zwei  Hammerschläge,  die  Inhalt  einer  in  der 
Vergangenheit  stat^efundenen  Wahrnehmung  waren,  in  ihrer 
zeitlichen  Abfolge  vorgestellt  werden,  so  enthält  diese  Vor- 
stellung die  zeitliche  Determiniertheit  der  Aufeinanderfolge 
der  Sdiläge,  wie  sie  in  der  Vergangenheit  als  extensiTes 
begrenztes  Verhältnis  in  der  Zeit  gegeben  war.  Wenn  ich 
mir  zwei  aufeinanderfolgende  SchaUhammerschläge  vorstelle,  so 
ist  dieZeit,  weiche  zwischen  den  vorgestellten  Hammerschlägen 
verfliesBt,  für  mich  in  meiner  Vorstellung  gleich  der  Zeit, 
welche  zwischen  den  in  der  Wahrnehmung  gegebenen  Hammer- 
schlägen verfioss.  Nur  dann,  wenn  diese  Gleichheit  der  Zeit 
zwischen  den  vorgesteUten  und  den  frflher  in  der  Wahr- 
nehmung gegebenen  Hammerschlägen  für  mich  erfOUt  ist,  ist 
es  mjj^ch,  das  vorgestellte  Zeitverhältnis  als  identisch  mit 
dem  wahi^enommenen  auszusagen.  Wo  immer  eine  Succession 
von  Watunehmungen  vorgestellt  wird,  sind  die  zeitlichen 
Verhältnisse  des  Vorsteliungsablaufes  dieselben  wie  die  der 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


428  Bobeit  HQllet: 

froheren  Wahrnehmung  und  das  bedeutet,  dass  die  Y<N^ 
Stellung  in  zeitlich«-  Beziehung  identische  YerhUtniBse  auf- 
weist mit  det  Wfüintehmung,  beide  unterscheiden  sich  in 
keiner  Weise  hinsichtUch  der  exteosionalen  Detenmni«theit 
in  der  Zeit  Dasselbe  gilt  fUr  die  räumliche  Beschafleoheit 
der  Wahrnehmung.  Daraus  folgt,  dass  die  extensiven  ESgeoi- 
Bchaften  der  Wahrnehmung,  die  zeitUche  und  im  g^^benen 
Falle  auch  die  räumhche  Bestimmung  adäquat  vorg^teUt 
werden,  dass  eine  vorgestellte  Zeit  and  ein  vorge^ellteB 
^umliches  dieselbe  Beschaifenheit  haben  wie  die  ent- 
^irechende  wahrgenommene  Zeit  und  die  entsprechende 
räumlich  ausgedehnte  Wahmehmui^.  Man  bezeichnet  diese 
Adäquatheit  im  Vorstellen  von  Räumlichem  und  Zdtlichem 
als  die  Anschaulichkeit  dieser  Art  von  Vorstellungen. 
(SohlnBB  der  Abhandimg.) 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Zi  Herden  100.  Todestage., 

Ton  Pwü  Bwrtk*  Leipng. 


Uhalt: 

IHe  AofUHraiiK  M  ntloiultatbeh,  itafat  uMr 
Vttm  ynm»tmiti»Hm.  ianm  altUt  fjiiialittittb.  Bardgr  IM  FnAolof«. 
■aDdim  bi  tBtBMT*'  warn,    adn*  p^dioliiglKlw  Tksoite  IM  dto  ti 
UttBk  n  Kur*  EiMk  dar  nten  Vannuft  lud  n  tean  KitHk  4 
TlMcicta  d«    DrQ>nm^   d«  Spmiw.    S«lB  Stu^nrnkt  !■    der  UWmrUdMn  ErMk. 


Am  18.  Dezember  d.  J.  sind  100  Jahre  Terflossen,  seit 
J.  G^.  Hmbsib  gestorben  ist.  Je  rascher  das  Leben  und  das 
Denken  unserer  Generation  vorwärts  eilt,  desto  notwendiger 
ist  es,  bisweilen  an  die  Verdienste  der  Vergangenheit  zu  er- 
innern, damit  wir  unserer  Dankespflicht  uns  bewusst  bleiben. 

Die  Aufklärung  war  bekanntlich  durchaus  synthetisch, 
konstmktiT.  Es  herrscht  in  ihr  das  System  der  „natürlichen" 
Wissenschaften,  d.  h.  der  „Ternünftigen",  die  nicht  auf  Offen- 
barung oder  Geschichte,  sondern  auf  dem  lumen  naturale, 
d.  h.  der  menschlichen  Vernunft  beruhen  wollten.  Der  über- 
lieferten Religion  mid  den  mannigfaltigen  Konfessionen  war 
seit  Thohab  Mobub,  noch  mehr  seit  Bodinus  und  seit  Hsbbebt 
von  Chsebobt,  die  eine  „natürliche  Religion"  entgegen- 
treten, deren  Ideen:  (5ott,  Tugend,  Unsterblichkeit,  Vergeltung 
nach  dem  Tode  der  menschlichen  Vernunft  angeboren  waren 
und  angeboren  sein  muasten,  da  man  sie  ja  vor  der  christ- 
hchen  Offenbarung,  schon  im  hellenischen  Altertume  fand.  In 
Deutschland  wurde  diese  natürliche  Religion  durch  LEimnz 
ond  WoLFF  identisch  mit  der  rationalen. 

Parallel  mit  der  „natürlichen  Religion"  dringt  —  noch 
deutlicher  als  diese  eine  Entlehnung  aus  dem  Altertume  — 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


430  Ponl  B«rtli: 

das  „natürliche  Becht"  oder  das  „Naturrecht"  sur  Clelbmg 
durch.  Es  ist  ein  ideales  Becht  der  Gleichheit  und  Freiheit 
aller  Menschen  als  vemfinftäger  Wesen,  das  man  den  be- 
stehenden positiven  Hechten  entgegensetzt.  Altbukius  grttndet 
darauf  seiae  Gint«ilimg  des  Bechts  und  seine  Lehre  von  der 
Souveränität  und  von  der  demokratischen  Staatev^assmig, 
die  er  allein  anerit:ennt.  Grotius  benutzt  dieses  Naturrecht, 
das  ihm  mit  dem  göttlichen  und  dem  vemUnfÜgeD  Rechte 
identisch  ist,  als  Qrundl&ge  fUr  seine  Forderungen  auf  dem 
(Gebiete  des  Volkerrechts  und  des  Strafrechts.  Und  nach 
allen  drei  Bichtungen,  besonders  der  staatsrechtlichen,  der 
strafrechtlichen,  weniger  der  vOlkerrechtiichen,  arbeiteten 
ihre  Nachfolger:  H^bbs,  Looks,  Putbndobf,  THoiusnifi. 
MoMTBBQinBr,  Bbooabia  u.  a.  weiter,  in  Ansgangspunkt 
und  Methode  wesentlich  gleich,  weaa  auch  nicht  in  den 
Frgebniseen. 

Mae  dritte  „naturgemässe"  Wissenschaft  war  die  natiu^ 
gemässe  Päd^ogik.  Seitdem  WoLFOAse  Rates  ansgOTifen 
hatte:  omnia  juzta  methodum  uaturae  I  war  das  System  ivBaer 
Wissenschaft  von  CotcmniTB,  Looks,  BouBsiun,  Basbdow  nnd 
vielen  andern  immer  mehr  ausgebildet  worden.  Hier  galt  der 
Kampf  der  widernatürlichen,  verkehrten,  „unvemtlaftigeii'' 
Sk^ehungsmethode  des  Mittelalters. 

Dieselbe  Geistesströmung,  wie  in  der  natürlichen  Beli- 
gion,  dem  Naturrecht,  der  naturgemässen  Pädagogik,  findet 
sich  wieder  im  „System  der  natOrlichen  Freiheit",  in  da* 
nationalOkonomischen  Lehre  Adam  Smiths  und  schon  in  d(f 
Theorie  der  Fhysiokraten,  die  in  zwiefacher  Hinsicht  die 
Macht  der  Natur  anerkaimt  wissen  wollten,  enbena,  indem 
sie  den  Boden,  das  natüriiche  SSement  d«-  Produktion,  als 
einzige  Quelle  alles  Beichtums  betrachtet^  zweitens,  indw 
sie  allen  Beschiünkungen  der  Handelsfreiheit  das  Laisser  faire- 
Laisser  passer!  Le  moode  va  de  M-mdmel  entg^;cosetiten. 

Bndlich  gab  es  ~  freilich  nicht  in  dem  Sinne,  dsffi 
Natur  und  menschliche  Vernunft  identisch  wären  —  ai"^ 
„natorgemilBBe  Heilkunde".    Nachdem  schon  aus  Dsmustk' 


iM,Coo<^le 


Zq  Herder'B  100.  Todestice.  431 

SoMe  eiDe  „utromeohamflclie'*  Heilkunde  im  OegeoBatze 
znr  „iatrochemiBohen"  herror^gangen  war,  wurde  beeonderg 
TM  B.  DB  MAHSDvniL&  imd  andern  Ärzten  eine  „natarHche" 
HeUmethode  vertreten,  die  nicht  von  den  Medikamenten, 
scmdem  Ton  der  „Heilkraft  der  Natur"  die  Genesung  er- 
wartete *). 

So  will  das  achtzehnte  Jahrhundert,  das  Zeitalter  der 
AoftUbrang,  Überall  auf  eigenen  lassen  stehen,  es  fOhlt  sich 
als  das  weise,  erleuchtete,  gegentlber  den  dunklen,  barbarischen 
^ten  der  Tergangenheit.  Es  denkt  logisch,  vorwärts  and 
hat  keine  Zeit,  sich  in  die  Vergangenheit  zu  versenken.  Es 
ist  dämm  nicht  psychologisch,  es  bemliht  sich  nicht,  die  Ver- 
gangenheit EU  verstehen. 

HebDeb  macht  eine  Ausnahme.  Wie  Lbbbino  auf  dem 
Gebiete  der  Beligion,  so  findet  er  auf  allen  geistigen  Ge- 
binten in  der  Vergangenheit  notwendige  Vorstufen  der  Gegen- 
wart, und  die  Barbaren,  die  noch  in  der  Gegenwart  leben, 
betrachtet  er  in  vieler  Hinsicht  als  den  Kulturvölkern  eben- 
bürtig. Das  kommt  daher,  dass  Hrbdbb  nicht  Radonaüst, 
sondern  Psycholog  ist. 

Freilich  ist  er  nicht  Systematiker  der  Psychologie.  Er 
verhält  sich  vielmehr  durchaus  intuitiT  und  er  meint,  „dass 
HoMSB  und  SoPHOCLKS,  Dantb,  Shakbbfbabb  und  Klopstooe 
an  Psychologie  und  Menschenkenntnis  mehr  Stoff  geliefert 
haben  als  selbst  die  AniBTOTKLss'  und  Lbibnizb  aller  VOlkM* 
nnd  Zeiten"^).  Was  an  systematischen  Mementen  sich  bei 
ihm  findet,  stajnmt  von  Lbibniz  oder  von  Wolkp.   Wie  sehr 

D  So  Riebt  ea  eine  iatrophrsisohe,  d.  b.  mechatiiBohe  Schule  der  Heil- 
innBt,  ID  AnkDÜpfniig  &n  Üwaoaaxs  begriiadet  durch  des  Schotten  Flrtus- 
"nn  (PncAnn)  Elements  modioinse  phjBioo-matfaematiak,  Haag,  1718.  Tergl. 
R-  SoiuBR,  Die  Botstahnng  der  mechanisohen  Schule  in  der  Bailkiuide, 
Leiptig,  1889,  S.  30,  Und  Bsskasd  bk  Mutobtillb,  der  berfichtigte  Ter- 
Tutel  der  „Bieoenfabel',  sagt  in  einem  medisiDisohen  Dialoge  vom  Jahn 
i'U  wörtlich:  ,Ioh  will  der  Natnr  nachhelfen,  niohi  ihr  in  den  Weg  treten. 
Geheim  mittel  habe  ich  keinea.'  Yergl.  P.  SiKKAuii,  Bebmahd  bb  Mjjidcvillb, 
Freihnrg  i.  B.,  1897,  S.  7.  Der  berühmteate  Arzt  dieser  Kohtung  ist  der 
PttT«iokral  Qümbit. 

„  'l  Tom  Erkennen  nnd  Bmp&ndea  der  menecliliohen  Beele.  1778,  ed. 
Bnphaa,  VIH,  8.  171. 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


432  Pa^t  Barth: 

er  auch  „die  dunklen  und  klaren,  deutlichen  und  verworrenen  ' 
Ideen,  das  Erkennen  in  and  ausser  sicli,  mit  täcb  und  ohne 
sich  selbst",  als  „taube  WOrter  und  Klassifikationen"  der 
liBiBHiz'schen  Terminologie  bezeichnet'),  so  bekennt  er  sich 
doch  zu  derselben  Klassifikation.  „Man  ist  gewohnt,  der 
Seele  eine  Menge  Unterkräfte  zu  geben,  Einbildung  and  Vor- 
aussicht, Dichtungsgabe  und  <3ed8chtniB;  indessen  zeigen 
viele  Erfahrungen,  dass,  was  in  ihnen  nicht  Apperzeption, 
Bewusstfiein  des  SelbstgefUhls  und  der  Selbstthäti^eit  sei. 
nur  zu  dem  Meer  zustrfimender  Sinnlichkeit,  das  sie  regt, 
das  ihr  Materialien  liefert,  nicht  aber  zu  ihr  selbst  gehöre  ■)." 
Also  wie  bei  LsibmizI  Einerseits  Perzeptionen,  d.  h.  £hn- 
pfindungen  und  die  Reste  derselben,  also  der  Inhalt,  Stoff  der 
seelischen  Zustände,  andrerseits  Apperzeption,  d.  h.  wie 
Leibmiz  definiert,  „la  connaissance  räfleuve  de  notre  6tat  in- 
törieor",  d.  h.  Bewusstsein  dieses  Inhalts  und  auch  Bewusst- 
sein  seiner  Veränderungen,  woraus  sich  dann  im  Laufe  des 
18.  Jahrhunderts  Apperzeption  zur  äleichbedeutung  mit 
„Selbstbewusstsein",  (Bewusstsein  des  Selbstgefühls  und  der 
Selbstthäügkeit,  wie  Hbrdbb  an  obiger  Stelle  sagt)  entwickelt 
Und  wie  bei  Leibniz,  so  ist  bei  Hbbdxb  das  Wollen  keine 
besondere  Qrundfunktion  neben  dem  Erkennen.  „Ist  jedes 
gründliche  Erkenntnis  nicht  ohne  Wollen,  so  kann  auch  kein 
Wollen  ohn'  Erkennen  sein:  sie  sind  nur  eine  Energie  der 
Seele"').  Und  wie  bei  Leibniz  und  bei  Woup  strenger 
Determinismus  herrscht,  so  bei  Hhbobk:  „Da  ist's  w^irlicli 
der  erate  Keim  zur  JBVeibeit,  fUhlen,  dass  man  nicht  frei 
sei  und  an  welchen  Banden  man  hafte*)." 

Am  wenigsten  ist  Hbbdbb  Erkenntnistheoretiker.  Da- 
rum versteht  er  nicht  die  Schwierigkeit,  die  für  Leibniz  zur 
Annahme  der  „prästabilierten  Harmonie"  führte;  es  ist  ibai 
keine  Unmöglichkeit,  dase  Körperliches  auf  Unkörperliches 

')  a.  a,  0.  S.  179/180. 
•)  a.  a  0.  S.  196. 
■)  a.  a.  0.  S.  199. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Zn  HsiAm's  100.  TMeeli«».  4SS 

vUe,  dm  am  Bewegin^eB  tod  Dingen  Emj^biehuigeii 
wvden,  cbtaio  wenig  ekie  TJmiiOf^ichkeit,  irie  iSe  Eaietetxmg 
emes  MtteD  Kdrpen  aM  svekn,  die  eeioe  Btein  mnd  <). 
MMer  Haagcl  erkenntBistheoretiBcber  Fähigkeit  Ter- 
■cMJMPt  ihm  vOlHg  das  yentBndnis  Kamt'b.  Den  Kaht  der 
TorkrHlsdieii  Periode  hatte  er  in  Königsberg  gehört  and 
noch  i.  J.  1796,  mdir  als  SO  Jahre  apSter,  gedenkt  er  seiner 
teretarend  mtd  bevundemd^).  Aber  dw  Kritlsinniis  blieb 
änn  ein  Buch  mit  neben  Siegeh.  Kaut  woDte  die  formalen 
Hemeate  der  Erkenntnis  von  den  materiden  trennm.  In 
der  „transEendentalen  Ästbedk"  aondeTt  er  Bamn  und  Zeit  ais 
die  reinen  Fonnen  der  Anschauung  von  der  Anscliammg 
mAsI  ab,  in  der  „traassendentalen  Aniüytik'*  die  aligemeinsten 
Begriffs,  die  Kat^[orien,  nach  denen  -wir  die  Anscbammgen 
ordnen,  ron  diesen  selbst  Aber  beides  ist  fUr  HnsDiB  ein 
(dtles  Bemtlhen,  eine  unmögliche  AbstTakfäon.  Der  Baum 
bleibt  ihm  „nna«  toste  E>fahrang''>),  ein  „schvansblaaee 
Lufttdld*,  ein  „gemahesNiehts*^),  (obgleich  andrerseits  das 
KMita  „ein  Ünbegrifr*  genannt  wird*)).  Aach  die  Zeit 
stammt  aus  der  Erfohnmg,  sie  wird  durch  das  GehOr  wahr- 

>)  k.  A.  0.  S.  l?6f. 

*)  Terel.  Briefe  sor  BeOrdemag  der  Hamuitlt,  6.  Samnihmf;,  Big» 
lIBCk,  S.  112f.  (19.  Brief):  »loh  bake  dM  Biflok  geDOwen,  einen  Fhiloupheii 
(a  kenneo,  der  mein  Lehrer  wat.  Er  in  seinen  blühendaten  Jahren  hatte 
dte  frObliobe  Hanterkeit  eineB  JÜDelii^eB,  die,  wie  ich  KlBQbs,  ihn  ancfa  in 
B«B  gniMirtea  Alter  begieiM.  Beüie  oBa»,  snm  Denkni  gebante  Bbni  war 
nn  £ts  nnMistörbarer  Beiterknt  nnd  Freode.  Die  gedankenreiGhate  Hede 
Imb  joa  Minen  Uppen;  Bohera  und  Witz  und  Laune  standen  ihm  ta  Oe- 

bot,  und  Hin  lehreiider  Tortng  war  der  onterlialtendBte  Umgang 

(Br)  kam  immer  zurück  anf  onbefanicene  EenutniB  der  Natar  nnd  aof  mo- 
'alwohen  Wert  dee  MenKhen.  Uenachen-,  Tölker-,  NatnrgeHchicbte,  Katar- 
lehre,  Hatbematik  nnd  Krtahning  waren  die  Qnell>'n,  me  denen  er  Beinen 
Vertrag  nnd  Umgang  belebte,  Nichts  Wissens  würdiges  war  ihm  gleich- 
ffltig.  Keine  Kabale,  keine  Bekte,  kein  Torteil,  kein  Namen- Ehrgeiz  hatte 
\a  für  ihn  den  mindesten  Beis  gegen  die  Erweiterung  nnd  Aafbellnng  der 
Wahrheit    Er  munterte  anf  und  zwang  angenehm  zam  Selbetdenken ;  Des- 

CiroB  war  seinem  Gemnt  fremde.    Dieser  Mann,  den  iob  mit  grossester 
barkeit  und  Hochachtung  nenne,   ist  ImumxL  Kam;   sein  Bild  atebt 
»ngenehm  vor  mir." 

■)  Metakritik  der  Kritik  dw  reinen  Temiwft,  L  Lnpeig  1799.  8. 
100  (ed.  Suphan,  XXI,  8  61). 

*)  Ebenda,  8.  103  (ed.  Bni^an,  S.  62;. 
*)  8.  131,  (ed.  Suphan,  B.  63). 

I   SatM.    IXVn.    «.  28 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


434  Paul  Bartb: 

genommen  1),  aber  auch  „ein  langes  Nichts"  genannt,  wie 
der  Raum  ein  „breiteB  Nichts"*).  Beide,  Raum  und  Zeit, 
Bind  „Phantaonen"*)  und  doch  wieder  „diskursiTe  Begriffe"*). 
Ohgleich  bisweilen  eine  lichtvolle  Bemerkung  aufblitzt,  wie 
die,  dasB  die  Dauer  nicht  aua  Augenblicken  bestehe  >),  kommen 
ihm  doch  die  logischen  Eigenschaftea  des  Raumes  und  Aer 
Zeit,  ihre  Homogeneität  und  daraus  folgende  KontinaitSt  als 
logische  nicht  zum  Bewusstsein,  „Anschauung  a  priori, 
Formen  der  Sinnlichkeit,  TnuiBzendent^Ssthetik",  bleibe 
ihm  darum  „inhaltlose,  sich  selbst  widersprechende,  Hbelge- 
formte  Worte"').  Der  Beweggrund  Kamt's  bleibt  ihm  ver- 
borgen. 

Ebensowenig  ist  ihm  Kaite's  transzendentale  Analytik 
einleuchtend.  Sinnlichkeit  und  Verstand  sind  ihm  untrennbar 
verbunden^.  Kein  Verstand  ist  denkbar  ohne  Verständ- 
liches"), (wobei  er  nicht  bedenkt,  dass  auch  Kaut  die  AfQnitSt 
des  Mannigfaltigen  zur  Voraussetzung  der  „Assoziation  der  Er- 
scheinungen" und  indirekt  der  Anwendung  dw  Kategorien 
macht*));  die  Kategorien  sind  fllr  Hbbdeb  nicht  „reine"  Be- 
griffe, sondern  ein  nachtrSglich  „aus  menschlichen  E^kennt- 
niflseu  abgezogenes  Fachwerk",  abgezogen  durch  die  eine 
Verstandeshandlung,  die  es  giebt :  das  Eine  in  Vielem  anzu- 
erkennen^"). Und  da  er  sich  in  Bezug  auf  empirische  Begriffe 
Hifmb's  Verwerfung  des  „Schemas"  zu  eigen  macht  ")i  8o  ist 
es  folgerichtig,  dass  ihm  der  „Schematismus  der  reinen  Vw- 
standesbegriffe"  bloss  „eine  dritte  Fiktion  zwischen  zwei 
verschiedenen  Fiktionen"  ist'*).    Dem  „Fachwerk"  der  Kate- 


■)  S.  138f.  (ad.  Suptun,  8.  S5j. 

*)  8. 3941.  Die  Saitea  der  OriKinalaosKaba  stahan  bei  Su^an  un  Banda. 

')  8.  347. 

*)  8.  lOS,  S.  128. 

•)  S.  323. 

■)  Ket&kritik  I,  8.  129. 

^  Sbenda  S.  161.  226. 

■)  8.  206. 

^  Kritik  der  reineo  Vernonft,  ed.  Kcbrsaoe,  8.  13&,  8.  132. 
■*)  Metakritik  1.  8.  196,  219,  249,  269, 
»)  8.  274. 
'•)  a  270. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Zu  Heider'B  100.  Todeatag;e.  435 

goriea  Kaut's  stellt  er  ein  eigenes  entgegen.  Seine  Tier 
„Ürbegrilfe"  sind:  Sein,  Dasein  (Raum),  Dauer  (Zeit),  Kraft')- 
Diese  sind  aber  keineavega  „Stammbegriffe  des  reinen  Ver- 
standes", sondern  wie  der  Banm  durcb  das  Qesicht,  die  Zeit 
durch  das  Oehör,  so  ist  die  Kraft  (zi^Ieich  mit  dem  Begrilfe 
der  Ursache  und  Wirlomg)  durch  das  GefOhl,  d.  h.  deo 
Tastsinn,  gegeben*).  Das  Sein  scheint  eine  letzte,  aus  diesen 
drei  „Urbegriffen"  gebildete  Äbstr^lion,  die  freilich  nie,  wie 
man  erwarten  sollte,  ihnen  übergeordnet,  sondern  stets  neben- 
geordnet ist.  Die  Tier  Urbegriffe  wendet  Hbkdvb  dann  auf 
vier  „Kategorien"  an:  Sein  (in  einem  engeren  Sinne),  Eigen- 
schaften, Kräfte,  Mass.  Den  vier  Kategorien  entsprechen 
vier  Wissenschaften:  Ontologie  dem  Sein,  Naturkenntnis  der 
Qualität,  Naturwissenschaft  den  Kräften,  Mathematik  dem 
Masse.  Der  Verstand  handelt  immer  nach  einer  Vierheit: 
Thesis,  Analyse  (oder  Disjunktion),  die  zwei  Begriffe  giebt, 
Synthesis.  „Das  Vierfache  ist  ein  Actus  der  Seele;  wer  diese 
Tetraktjs  trennt,  vernichtete  das  Wesen  des  menschlichen 
Verstandes"*).  Zur  Begründung  dieser  VerteÜimg  stellt 
HKBDaB  die  Vernunft  (die  nur  graduell  vom  Verstände  ver- 
schieden ist)  als  Richterin  dar.  Als  solche  „vernahm  sie: 
den  Grund  des  Anbringens,  Partei  und  Gegenpartei  und 
entscheidet.  Die  Entscheidung  kehrt  zum  Qnmde  des  An- 
bringens zurück,  der  in  beiden  Mittelgliedern  nur  geweitet, 
d.  i.  von  beiden  Teilen  auseinandergesetzt  ward.  Die  beiden 
Extreme  finden  durch  Ja  und  Nein  ihre  Mitte  wieder."*) 
Diese  Vierteilungen  sind  aber  bei  weitem  willkürlicher  aia 
die  Dreiteilungen  Kants.  Man  wird  an  die  späteren  Tetraden 
des  ScheUingianers  J.  J.  Waonbb  erinnert. 

Die  „Vernunft"  ist  bei  Kant  der  Art,  bei  Hbbdbb  nur 
dem  Grade  nach  vom  Verstände  verschieden,  sie  ist  nur  ein 
„anwendend  höherer  Verstand"").    Nicht  zwei  verschiedene, 

>)  MetkkTitik  I,  8.  234,  260ff.  and  öfter. 

*)  Metakritik  I,  a  230ff. 

■)  A.  a.  0.  8.  266. 

*)  Metakritik  II,  8.  170  f. 

')  Metakritik  0.  8.  14. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


486  ^»■■al  BkTth: 

^chberechtigte  Methoden  der  Venuinft  Bind  es,  uifi  deaao 
mit  gleicher  Beweiabarkdt  These  und  Antithese  der  Anti- 
nomien  herrorgehen,  BtHideni  nach  H.  die  Einbilduigskraft 
föneneits,  der  Verstan  d  anderwseitB.  In  Wahiiieh  verfaUt  es 
sich  nun  so,  dass  die  ABsehatniag,  also  aoch  die  BiBbüdmigB- 
kraft,  die  doch  von  dttr  Ansidiauang  aufigehen  moss,  nur  die 
fiidlichküt  der  Welt  in  Zeit  imd  Baom,  die  findhehkeit  der 
Teilblriceit  der  Materie,  und  die  Endlichkeit  der  KaosaJrcäbe 
aanelimen  moss.  Drain  die  AnBchaQimg  giebt  ans  inmer 
etwas  BegTMutes,  AhferchloBseDes.  Der  Verstand  taiugegaa, 
das  Denken  ist  ja  HUi^eit,  aktiv,  während  die  Anschauung 
immer  passiv  ist  Daram  ist  der  Verstand  in  keine  Gh'enaeB 
gebannt,  sondern  immer  im  stände,  die  Torl&nflg  ai^enommonM 
<h«nzen  m  überBchreiten.  Bu  TTaRTimt  T«iiUt  es  sich  om- 
gekehrt.  Die  Einbildungskraft  ist  ihm  das  tätige  Prinzip, 
das  die  Idee  der  Unendlichkeit  in  den  oben  genannten  drtä 
Biohtongen:  der  seitlichen  und  ränmliohen  Ansdehnong,  der 
Teilbarkeit  der  Matoie  und  der  Kausalreihe  erteugt').  Der 
Vwstand  hingegen  lehrt  nach  ihm  überall  die  Endlichkeit*). 
Die  Bestimmung  Eabt's,  dass  die  Ideen  nicht  konstitotiT, 
sondern  r^folatiT  seioQ,  dass  die  snbstantielle  Einheit  der 
Seele,  die  TotalitiU.  im  Zusammenhange  der  Ersoheisui^en 
der  Welt,  Gott  als  letzter  Grund  alles  Seienden  nur  eän 
nUtzUcher  Schein  seien  —  das  alles  ist  ihm  „WcrtgesehwUt 
transzendentaler  Grillen"').  „Der  postulierte  Gott  der  kri- 
tischen Philosophie,  er  verde  als  ein  Hoff*  oder  Schreck- 
gespenst aufgelUhret,  ist  also  ein  Ungott  fOr  die  MoralitU, 
Hirem  auseinander  fallenden  S^^stem  ein  erbettelter  Notnagel"*). 
Dagegen  ist  der  Gott,  den  die  wahre  Vernunft  lehrt,  die 
„gewisseste  Idee",  die  ihr  Uberhanpt  erreichbar  ist').  Wie  der 


')  Dft^egen  io  dem  sogleioK  Doeh  n  DennendoD  Dialog  .Gott"  vM 
„(ÜtB  Daeadliohe  der  Ternontt  und  das  Endlose  der  ESnbildiinlakTaft''  nnter- 
sohieden.    Ed.  Sufhak,  XTI,  S.  467. 

>)  Metakritik  ]1,  S.  86ff. 

•)  II,  8.  213. 

*)  Metakritik  U,  S.  266. 

•>.  II,  8.  182. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Zn  Heidai^  100.  Todeetage.  437 

Dialog  „Gk)tt''  >)  bewnst,  ist  ihm  diese  Idee,  wie  bei  Svixobi., 
Anfui^  und  Qnmdlage  aller  SrkeDiitiiiB. 

So  wenig  eindringend  dieae  Kritik  der  KAitT'schen  Sr- 
kenntaifitheorie  ist,  in  einer  Hinaiolit  leitet  ihn  ein  richtiger 
Instinkt,  nämlich  in  der  Besorgnis,  die  durch  die  auf  Ka«t 
fcdgende  Spekulation  leider  gerechtfertigt  wurde,  es  könnte 
über  dem  Konstruieren  die  Solidität  des  Unterhaus,  die 
Onindlegung  durch  die  Brgebmsse  der  Emzelwiasenschaften 
amaer  Acht  gelaasen  werden.  „Mit  jeder  Entdeckung  der 
Naturgeschichte  und  Maturlehre,  der  Tergleidiendea  Anatomie', 
Astronomie,  Chemie  u.  f.  hat  die  falsche  Yemunft  von  ihrem 
TrüdeLkram  einen  Zierrat  vra-loren,  indeon  die  wahre  Ver- 
nunft eine  neue  Formel  der  Wahrheit  gewann"  2).  Dagegen 
urteilt  er  vom  Anhänge  des  EritizismuB:  „  Allee  a  priori 
habend,  Gesetzgeber  aller  Natur  und  Schrift,  verachtet  er 
fortan  wirkliche  zumal  mühsame  Kenntnisse  und  dflnkt 
sich,  leer  wie  er  ist,  einen  kritischen  Philosophen.  Diese 
kritische  Leerheit,  diesea  Stolz,  der  sich  mit  Distinktionen 
brUstet,  diese  ÄDmassung,  Natur  und  Kunst  aus  sich  eot- 
springen  zu  lassen,  diszipliniere  man''^). 

Berechtigter  als  Hsbdbb's  Widerstand  gegen  die  kri- 
üache  Ei^enntnistheorie  ist  seine  Gegnerschaft  gegen  Kant'b 
Ästhetik.  Hier  zeigte  sich  Kabt's  Mangel  an  Psychologie, 
besonders  an  Einsicht  in  die  Natur  des  Gefühls.  Jedes 
OefUhl  ist  ihm  sinnlich,  gleichviel  aus  welcher  Tätigkeit,  ob 
aus  (äaw  sinnlichen  oder  einer  intellektuellen  es  hervorg^e. 
Darum  ist  ihm  „em  intellektuelles  GeflihI  ein  Widerspruoh"*), 
d.  h.  eine  contradictio  in  adjecto;  allerhOchsteDS  gibt  er  ein 
intellektuell  bemrirtes  Gefühl  zu,  wie  die  Achtung*).  Und 
obgleich  er  —  trote  dem  vermeintlichen  Widerspruche  — 
BJ^Uer  von  „intellektusller  Lust"  redete),  in  der  Kritik  der  Ur- 

')  Zaertt  1787  ersohieuwi,  ed.  SrpuH,  XVI,  Q.  40Sff.  bee.  S.  488ff. 

*)  Metakritik  II.  S.  212. 

»)  L  m.  0.  8.  214. 

*)  Kritik  der  pnktiwhoa  Vemonft,  ed.  Eihruch,  3.  141. 

*)  Er.  det  pr.  V.  S  90;  &  96. 

')  Uetkphywk  det  Sitten,  ed.  KiBDWUim,  8.  11. 


iM,Googlc 


438  P»ol  Barth: 

teilsiDtdt  selbst  von  „Geistesgeftlbl"  <),  waren  ihm  in  dieser  doch 
das  Fühlen,  d.  h.  Lust  und  UnluBt  einerseits,  das  Denke« 
oder  Urteilen  andererseit«  noch  ganz  und  gar  getrennte  see- 
lische „Vermögen",  das  erste  nach  der  herrschenden  Woi>ft'- 
schen  Psychologie  ein  niederes,  weil  immer  aiimlich  bleibend; 
das  zweite  ein  höheres,  weil  über  die  Sinnlichkeit  sieb  er- 
hebend. Und  duiim  konnte  das  Schöne  nicht  dem  Kelche 
des  QefUhls,  d^  niedrigen  Welt  angehören,  es  musste  in 
die  Sphäre  des  Denkens,  des  Urteils  erhoben,  in  die  Kritik 
der  Urteilskraft  eingeordnet  werden. 

Die  Trennung  vom  Gefühle,  das  immer  sinnlich  ist*), 
musste  bei  Käst  scharf  mid  bestimmt  sein,  damit  nicht  Hohes 
und  Niederes  fälschlich  nivelliert  werde.  Daher  die  strenge 
Scheidung  zwischen  dem  Angenehmen  und  dem  Schönen,  die 
aber  zugleich  jeder  Möglichkeit  einer  genetischen  Betrachtung 
des  Schönen  den  Weg  versperrt.  Denn  in  Wahrheit  entsteht 
das  Schöne  nicht  plötzlich  wie  eine  SchOpfimg  aus  dem  Nichts. 
E^  entwickelt  sich  aus  dem  subjektiv  Augenehmen  allmtUilicb 
als  das  objektiv  Angenehme.  Dies  fohlt  Herder  and  er,  der 
in  den  bescheidensten  Anfängen  der  Dichtung  bei  den  Natur- 
völkern, in  den  einfachsten  Ornamenten  des  primitivsten 
Kunstgewerbes  das  Schöne  entdeckt  hatte,  musste  mch  gegen 
diese  schroffe  Scheidung  Kant's  erklären.  „Nicht  Gegen- 
sätze —  sagt  er  —  sind  diese  Begriffe,  [„Angenehm"  und 
„Schön"],  sondern  Unterschiede,  davon  mehrere  nicht  nur 
beisammen  sein  können,  sondern  in  den  angenehmsten  Gegen- 
ständen beisanmien  sind"  3).  Und  mit  Recht  heisst  es  bei 
Herder:  „Interesse  ist  vrie  des  Guten  und  Wahren  so  auch 
der  Schönheit  Seele"*).  Denn  wenn  das  Schöne  gefiUlt,  wie 
Kant  definiert,  so  muss  es  eben  einem  Interesse  dessen, 
dem  es  gefällt,  entgegenkommen.  Und  die  ganze  Bedeutung 
des  Gefühls  ist  ihm  so  klar,  dass  er  auch  die  Übertra^^ung 


■)  Kr.  der  UrteiUkraCt,  ed.  EiBcimuini,  B.  31. 

*)  Kl.  der  pr.  V.  ed.  EsBituoa,  B.  98. 

^  KuueoHB  1.  Leipzig  1800,  8.  ISSf.  (ed.  Sothah  ZXIl). 

*)  A.  0.  a.  19&. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


Zn  Harder's  100;  Todestage.  43g 

des  G^ftlhls  vom  Subjekte  auf  das  betrachtete  Objekt,  die 
Belebung  desaelben,  die  so  sehr  viel  zum  Interesse  beitrtlgt, 
die  gegenwärtig  so  viel  besprochene  „Einfühlung"  wohl  be- 
merkt hat  „Die  spitzen  Pfeiler  des  Himmels  rOndet  die 
Zdt  ab;  sanfte  Linien  fliessen  von  Beiden  zu  Bergen.  Man 
reiset  mit  ihnen;  das  Auge  htogt  au  ihnen  und  verfolgt  sie^)". 
Und  noch  deutlicher:  „Nicht  uiders  ftUkleo  wir  den  GemUtfi- 
charakter  jedes  echt  gebildetMi  Werkes  der  Kunst,  den  Geist, 
der  es  bewohnt;  schnell  und  sanft  gehet  er  in  uns  Über.  Mein 
Arm  erhebt  sich  mit  jenem  Fechterarm;  meine  Brust  schwillt 
mit  jener  Brust,  auf  welcher  Antäus  erdrtickt  wird.  Meine 
Gestalt  schreitet  mit  Apollo  oder  lehnt  sich  mit  ihm,  oder 
schaut  begeistert  empor*)." 

Diese  Subjektivität  des  ästhetischen  Urteils  macht 
Herder  skeptisch  gegen  die  Grönde,  mit  denen  Kant  das- 
selbe, obwohl  es  zunächst  nur  fUr  den  einen,  der  es  fällt, 
and  nur  für  den  einen  Gegenstand,  von  dem  es  gefiUlt  wird, 
giltig  ist,  dennoch  als  allgemein  und  notwendig  wie  irgend  ein 
Satz  der  objektiven  Wissenschaft  zu  erweisen  sucht.  FUr  Kant 
ist  ja  alle  Wissenschaft  allgemein  und  notwendig;  nicht  minder 
aber  ist  das  sittliche  Urteil  allgemein  und  notwendig,  so  aus- 
oabrnslos  und  einleuchtend,  wie  die  der  Mathematik^).  Kein 
Wunder,  dass  nach  dem  alt«n  Paralielismus  des  Wahren, 
Guten  und  SchOuen  ihm  auch  das  Geschmacksurteil,  ob- 
^eich  rein  subjektiv,  dem  Schwanken  und  der  Bnge  der 
Subjektivität  entiückt  sein  musste.  E^  gründete  dies  auf 
die  Gleichheit  der  Erkenntniskräfte  aller  Menschen,  auf  die 
„zweckmässige  Übereinstimmong  eines  [schönen]  Gegen- 
standes, (er  sei  Produkt  der  Natur  oder  der  Kunst),  mit 
dem  Verhältnis  der  Erkenntnisvermögen  unter  sich*)".  „Auf 
jener  Allgemeinheit  aber  der  subjektiren  Bedingungen  der 
Beurteihmg  der  Gegenstände  gründet  sich  allein  diese  all- 


■)  Kuueoin  I,  B.  69. 

*}  EALueon  II,  Lupiig  ISOO,  134  f. 

^  VergL  Kritik  der  r.  Veinnnfl,  ed.  KtHBuoH,  8.  I 

*)  Kart.  Eritib  der  ürtmlibaft,  ed.  KiaoHMuni,  8.  £ 


iM,Googlc 


440  P>B.l  Barth: 

gemeine  Bubjaktiva  OUtigfceit  dw  WoblgeltUeas*' ■).  IteA 
vas  «0  allgemein  ist,  moes  sehlieaslicli  aocä  notveidis  ad». 
BestjauBt^  ausgedrückt,  „die  ?i^!flwnm**'<rt«  mm  mg  des  Miinig- 
üitigm  zu  EineiQ**,  die  Kakt  bei  jeder  SohSnbfHt  tedafc. 
erleichtttl  die  Erkamtnifi,  den  Kusammenfasseaden  ÜberfaMek; 
sie  ist  krafter^areod  (was  Kant  freilich  oirgeods  sagt);  danna 
geßUlt  sie  uns.  Diese  Erleicbtaruag  aber  geedüeht  unbewvaat, 
ohne  daas  vir,  wie  sonst  bei  einer  ZuBaaimenfoasung,  dwofa 
bewusstes  Denk^  einen  Begriff  des  Gegenstandes  oder  «ümd 
Zweek  dess^en  aufstellen  und  ihn  daran  zu  mesBen,  sie  ge- 
schidit  durch  die  blosse  Anschauung,  daher  „die  AUgeneiD- 
h^t  des  Geschmacksurteils  ohne  Begrifi^.  der  ZweckmiMig' 
keit  ohne  Zweck",  die  Herder  beide  so  widersinnig  i>4eL 
Die  triuifizendentalen  Ideen  der  reinem  Vernunft  sind  bm 
Kant  Begriffe  ohne  Anschauung,  die  Geschmacksurteile  da« 
Gegenstück,  nämlich  Anschauungen  <^e  Begriffe.  Beide 
können  keine  volle  Erkenntnis  geben,  zu  der  ebeuBow<^ 
Begriff  als  Anschauung  g^ört,  beide  sind  darum  ein  gewiaaes 
Spiel  der  Erkenntniskräfte,  ein  Spiel,  das  sich  Heroer 
nicht  so  ernst  denkt  wie  Kant  und  duum  als  solches  be- 
kämpft. Und  da  er  „kein  Ding  an  sich"  im  Gegensatce  z«r 
Erscheinung  annimmt,  so  kann  er  auch  das  „UbersinnUche 
Subatrat"  des  ästhetischen  Geschmacks,  von  dem  Kamt 
spricht,  nicht  Terstebeo. 

Berechtigter  als  die  Einwände,  mit  denen  EbDU>Bm  dfo 
Allgemeinheit  und  Notw«ndigkeit  des  ästbetisdieB  üiteib 
angreift,  ist  seine  Kritik  der  DeAnitJonen,  <üe  Kamt  tob  4ar 
Beredsamkeit  und  von  der  Dichtkunst  gibt  Bride  stad 
so  unzulän^ch,  dasa  es  gentigt,  sie  anzuführen,  um  Hauna's 
Angriff  zu  veratehen:  „Beredsamkeit  ist  die  Kunst  «!■ 
G«BcUkft  des  Verstandes  als  ein  freies  Spiel  der  BiabildangB- 
kraft  zu  betreiben;  Diehtfamst,  ein  freies  Spiel  der  Wai' 
blldungskraft  als  ein  Geschäft  des  Verstandes  aoszufOhren"*). 


'}  Kurs  Kritik  4ar  Urtiilaknft,  «d.  Entcaifunf,  S.  69. 
*)  Teigl.  Ebenda,  a  16t. 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


Za  Hsrder'B  tOO.  TodeataKs.  441 

Aveb  cHa  Musik  hat  B^amt  ia  ihrer  ganxea  Bedeutang  nicht 
gewQrdigt.  Br  findet  mit  Lnsm  in  ihrer  Aikh^^img  ein 
uabewusBtes  Rechn«u,  also  vie  auch  sonst  eine  «iSnstlmiQang 
des  Mannigfaltigen'',  aber  ihre  Beziehung  zu  den  Gefühlen 
und  YorstdlungMi,  zum  menschlichen  Innenleben,  abersi^t 
er  ganz.  „(IMe  Empfindungen  der  Musik)  »nd  nur  von  tran- 
aitorisobem  Eindrucke;  die  Einhüdungskralt  kann  jene  n- 
rUckmfen  (die  Ideen  der  bildenden  Kflnste)  und  sich  damit 
aagenebm  unterlialten.  Diese  aber  erlöschen  entweder  gänz- 
lich, oder,  wenn  sie  unwillkürlich  von  der  ISnbihlungBkraft 
wiederholt  werden,  sind  sie  uns  eher  ISstig  als  angenetua."*) 
I^ese  äuBBerMche,  rein  physikaliache  Auffassung  weist  Hjerdhb 
mit  Becht  zurück.  Die  rein  sinnliche  Musik  ist  auch  ihm 
werüos'),  aber  er  kennt  eben  noch  eine  andere,  die  Ideen 

Weniger  treffend  sind  die  Bemerkungen,  die  Hsbdbb 
gegui  Kamt's  Theorie  des  Erhabenen  richtet.  Diese  ist 
IHfaudpiell  gewiss  nicht  verfehlt.  Kamt  unterscheidet  be- 
kanntlich das  mathematisch  Erhabene  und  das  dyniunisch 
Elrhabene.  Das  erste  schlägt  unsere  Einbildungskraft  nieder, 
die  aber  eine  gewisse  GrOsse  hinaus  dem  Denken  nicht 
f(dgen  kann,  erweckt  aber  grade  dadurch  die  ganze  Über- 
legudieit  unsra^r  Vernunft,  die  nun  die  Idee  der  Unendlich- 
kdt  bildet  und  dfunit  unsere  Macht  als  vernünftige  Wesen 
uns  fühlen  lässt.  Das  dynamisch  Erhabene  bedroht  uns  zu- 
nächst durch  Übennass  an  Kraft,  erhebt  uns  aber  zuf^eich 
zur  Besinnung  auf  die  noch  grossere  Macht  des  Moralgesetzes, 
das  über  jede  Macht  der  Natur  den  Sieg  davonträgt.  In  dieser 
zweitfHi  Erklärung  liegt  offenbar  eine  ESnseitigkeit.  Denn 
die  ungeheure  OrOsse  der  Natoimacht  erinnert  uns  woU 
nicht  bloss  an  die  Macht  der  Sittlichkeit,  sondern  an  die 
Macht  des  Geistes  Überhaupt,  die  der  Natur  erfolgreidi 

>)  a.  «.  0.  &  197. 

^  Briefe  cni  BefSrderniig  der  HnmanHU,  TU,  Hin  1798,  B.  bl 
^83.  Brief):  .Behüte  nna  also  die  Hoee  tot  einer  bloeaen  PMtie  des  Ohrs 
ohne  BÜiehtigDiig  der  Oeetklten  and  ihres  Muses  durchs  Aogs.* 


iM,Coo<^lL' 


442  I***)!  Barth: 

widersteht,  und  oft  sie  menBctüJclieD  Zvecken  nnt^iwft. 
Aber  Herder  verkennt  alles  Wahre,  das  in  Kant'b  Dentiing 
liegt.  Er  firgert  sich  nur  gevissermassen  darüber,  dass  der 
Ursprung  der  Erhabenheit  aus  dem  Objekt  in  das  Subjekt 
verlegt  wird,  dass  die  Gegenstände  der  \atur  nicht  an  sich, 
sondern  erst  durch  ouseren  Gedanken  erhaben  seien,  dass 
das  Unendliche  nicht  objektiv  existiere,  sondern  erst  von 
uns  geschaffea  werde')- 

Fruchtbarer  aber,  als  die  Kritik,  ist  die  positive  An- 
wendung, die  Herder  von  seiner  p^dLoiogischen  Begabnng 
macht.  In  erster  Linie  ist  hier  zu  nennen  seine  Theorie  des 
Ursprungs  der  Sprache.  DieSprache  ist  ursprünglich  Int«r- 
jektion,  „Geschrei  der  Bmpändungen,"  das  noch  jetzt  bei 
den  Wilden  sehr  häufig,  aber  dem  Menschen  mit  dem  Tierr 
gemeinsam  sei*}.  Was  diese  tierische  Sprache  zur  menscb- 
lichen  mache,  das  sei  die  Besonnenheit  (Beflexion)  des 
Menschen,  die  bewirke,  dass  seine  Seele  „in  dem  ganzea 
Ozean  von  Empfindungen,  der  sie  durch  alle  Sinnen  durch- 
raiificht,  eine  Welle,  wenn  ich  so  sagen  darf,  absondern,  sie 
anhalten,  die  Aufmerksamkeit  auf  sie  richten  und  sich  be- 
wusst  sein  kann,  dass  sie  aufinerke''^).  So  werde  eines 
der  Merkmale  eines  Gegenstandes  anerkannt  als  „Mra'kmal 
der  Besinnung."  „Dies  erste  Merkmal  der  Besinnui^  war 
Wort  der  Seele.  Mit  ihm  ist  die  menschliche  Sprache  er- 
funden"-*). Bei  allen  tOnenden  Dingen,  wie  etwa  bei  deo 
blökenden  Schafe,  biete  sieh  von  selbst  der  eigentOmlidie 
Ton  als  Merkmal  dar  und  werde  ihr  Name.  „Das  erst« 
WUrterbuch  war  also  aus  den  Lauten  aller  Welt  gesanmüet. 
Von  jedem  tönenden  Wesen  klang  sein  Name"*).  Wo  aber 
kein  Ton  ertönte,  sei  die  Verbindung  zwischen  dem  anderen 
Sinne  und  dem  Ohre  durch  ein  beiden  Sinnen  gemeinsames 

M  Kalusoni  m.  Lnptig,  1800  (Bomu«,  XXII)  6.  67  ff  and  a  eSt 
*)  ITab«r  dan  ünpniDg  der  Spnohe,  2.  Augam,  Berlin  1789.  M 
BüPiuN,  T.  S.  16 1. 

n,g,t,7l.dM,GOOglC 


■)  BboDdk  S.  34/36. 
')  A.  %.  0.  8.  36. 


Zd  Heidw'8  100.  Todestage.  44S 

„MittelgefUhl"  hergestellt  worden ').  So  sei  „Blitz"  ein  Wort, 
„das  durch  Hilfe  eines  HittelgefQhls  dem  Ohr  die  Empfin- 
dnng  des  UrplötzlichschneUen  giebt,  die  das  Auge  hatte"*). 
Dass  gerade  das  Ohr  für  die  Bezeichnung  der  Dinge  der 
wichtigste  Sinn  wurde,  das  erklSre  sich  daraus,  iasa  das 
GebOr  in  jeder  Hinsicht  der  mittlere,  darum  am  günsti^ten 
auf  die  Seele  wirkende  Sinn  sei:  in  Bezug  auf  räumliche 
Ausdehnung  seiner  Sphäre,  auf  Klarheit  und  Deutlichkeit, 
aof  Lebhaftigkeit,  auf  die  Länge  der  Zeit,  während  deren 
er  wirkt,  auf  die  Ver^^chkeit  seiner  Gegenstände,  die, 
weil  auf  Bewegung  beruhend,  vorübergehen  und  darum  aus- 
gesprochen werden  müssen,  und  endlich  auch  in  Bezug  auf 
seine  Stellung  in  der  Entwicklung,  da  es  nach  dem  Gefühle 
(d.  h.  dem  Tastsinn)  und  vor  dem  Gesichte  den  Menschen 
in  seine  Schule  nehme"). 

Auf  diese  Weise  wird  nach  Herder  die  Sprache  kon- 
stituiert. Die  empirische  Methode  lässt  sich  nicht  ver- 
kennen. Inuner  wieder  betont  er,  man  dürfe  sich  nicht  mit 
psychologischen  Abstraktionen  begnügen,  wie  Witz,  Verstand 
und  dergleichen,  sondern  müsse  immer,  bei  jeder  Äusserung, 
die  „ganze  ungeteilte  Seele"  als  Ursache  voraussetzen*).  Kein 
Wunder  also,  dass  seine  Schrift  über  den  Ursprung  der 
Spradie  von  W.  Wundt,  dem  neuesten  Bearbeiter  dieses 
Problems,  ein  sehr  anerkennendes  Zeugnis  erhält^). 

Auch  Herder's  Bemerkungen,  die  sich  auf  die  Ent- 
wicklung der  Sprache  beziehen,  sind  teilweise  sehr  treffend. 

')  A.  a.  0.  S.  63. 

*)  A.  a.  0.  Diese  ErklSniiig  der  WortbedentnnK  kommt  aehr  nahe 
Ml  V.  yfasDi'a  Theorie  der  „iMtmet^her."  Vgl  W.  "Wtnror,  Välket- 
psydiologie  1,  1,  S.  326  ff. 

■)  Ä.  ».  0.  8.  64  ff. 

*)  A..  a.  0.  S.  29f.,  S.  110. 

*)  W.  Wühdt,  TSlkenwyf^ologie  I,  2,  S.  690:  .In  dieser  Sohrift 
HusEB't  webt  yielleioht  mehr  als  in  den  meisten  spateren  Werken  Aber 
den  ^«ohen  Oegenatand  der  Oeiot  hentiger  Ps^ohologie,  das  Streben,  das 
den  wahren  Psyahelogen  kennieiobnet,  sich  selbst  ganz  zu  veiaenken  in 
die  VontelluDgeo  nnd  Oefohle  des  Handelnden,  nicht  diesem  die  eigenen 
Ueinnngen  nnd  Beflezionen  ununnsohieben.  Was  SiAtare  im  gleichen 
Binne  geleistet  haben,  das  ist  daher  besten  Falls  iait  nar  eine  nkhei« 
iostSbrong  der  Gedanken  Hebdb's  geUieben.' 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


444  P^ul  Battit: 

Uii  Sat^t  findet  er  in  den  ursprOnglicfeea  SpraohM  4ie 
Analogie  der  Sinne  und  GefUhle  m«*Uiclm,  ab  in  ita 
modernen  und  l«tet  er  daraus  Uire  Ym^abe  filr  starke  mat 
kühne  Metaphern,  ihren  „HetaphenigeiEit*'  und  ihren  Reick.- 
tum  an  SynimTinen  ab.  Nidit  minder  richtig  i^  daaa  itat 
ursprüng^chen  ^rächen  venig  Abstraktionen  und  desto 
mehr  GtefUhle  hab«i>),  dass  bei  ihnen  eine  leise  Änderung 
des  Accents  oft  einer  sehr  grofisen  Änderung  der  Bedeutung 
uitBIK^cbe').  Andererseits  irrt  er,  wie  es  leicht  eikUrliok 
i^  in  Sinzelheiten,  Über  die  erst  die  neaere  Forschung 
Licht  verbreitet  hat.  So  meint  er  fälschlich,  daas  »die 
Verba  einer  Sfurache  eher  sind  aia  die  von  ihnen  rund  ab- 
strahierten Nomina"  und  glaubt  damit  ehi  allgemeines  Oe- 
eets  auszusprechen,  während  tatsftchlich  die  primitiTeo 
Sprachen  kein  Yerbum,  sondern  nur  Komina  haben,  bei  ihnen 
also  jedenfalls  das  Nomen  das  frühere  ist*).  Überhaupt  ist  die 
Ansicht,  dass  —  die  Chinesen  allein  ansgKiommen  —  „unter 
idlen  Völkern  der  Erde  die  Gh^unmalik  beinahe  auf  einerlei 
Art  gebaut"*)  sei,  eine  sehr  inige  und  nur  aus  xu  engem 
Umfange  der  Sprachstudien  Hgrdbr's  xu  erklären. 

Im  allgemeineren  Sinne  bedeutsam  aber  ist  die  wissen- 
schaftliche G^samÜialtung  dieser  Schrift  „über  den  Urq>rong 
der  Sprache".  Er  verachmäht  ganz  und  gar  die  Zoflucld 
zu  einem  gtSttlichen  Wunder.  „Der  höhere  Ursprung  ist  in 
nichts  nütze,  und  äusserst  schädlich.  Sr  zerstört  alle  WiA- 
siunkeit  der  menschlichen  Seele,  erklärt  nichts  und  maeht 
alle  Psychologie  und  alle  Wissenschaftmi  uneiklärlich"*). 
Und  nicht  minder  wichtig  ist  die  schon  oben  «wähnte  Ab- 
lehnung psychologischer  Abstraktionen,  zu  denen  ja  auch 
„die  Yemunft"  gehört.  Daher  ist  sc  zu  der  Einsicht 
gekommen,  dass  es  einen  Fortgang  der  Spnu^e  durch  die 

')  B.  70r.    D«bM  Uaf«D  Midi  MUgs  Intfiowr  oMtor,  i.  B.  diM  dv 
Anber  Bthr  als  tMaead  WdTtat  för  daa  Selmit  liato.    &  76. 
•)  8.  87  f. 

*)  8.  8S.    Vgl.  Wüimr,  a.  a.  0.  I.  3,  S.  138S. 
*l  &  18B. 
'}  S.  146. 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


Zn  Hvrder'B  100.  Tndestage.  445 

Ttfnn&ft,  aber  gMetawitig  aueb  dw  Vernunft  durch  die 
apraehe  giebt^). 

Eb  zweite«  OeUtt,  «of  dem  w  Mine  Psychtdogle  on- 
vudte,  ist  das  der  literariaeben  Kritik.  Sb  war  eine tf^im 
HrteBBtete  der  OeseUsebaft,  tie  Um  hier  leitete.  Die  vitale 
Bedentimg  des  sorialan  Lebens  hatte  er  erbaut,  «ie  keia 
Denku*  des  18.  Jahrbnnderte.  „Der  NatnrBtaad  des  Hensehen 
nt  der  Stand  iex  G^esdlacbaft"  i).  „Er  (der  Menacb)  wvd 
(4me  Geeellsdiaft  immer  auf  gewisse  Weise  Terwildem"^). 
Br  apricht  TOD  „der  Znsammenvirkmig  der  Lidividnen,  die 
ras  allein  za  Menschen  machte"  *).  Ilr  kennt  aadi  die  Braq>iete 
von  Menscben,  die,  als  Kinder  oatM'  die  Tiere  gwateo, 
wieder  sd  Tieren  vurdeai').  Und  die  Sprache  ist  eben  des- 
halb ein  wesenUicbes  Hilibmittel  der  Ausbildung  der  Ver- 
Qnnft.,  weil  sie  den  Vei^ehr  der  ICenschen  untereinander  er> 
mSglicbt.  Die  taubstunmi  Oeb<venen  bleib«a  oft  unver- 
BOnftig  „wie  Kinder  oder  wie  menschliche  Tiere"'). 

Damm  sehMzt  er  die  natürliche  Gesellschaft.,  das 
V(dk,  sehr  hoch,  also  au(A  das  deutsche.  „AJlratbalben 
findet  ihr  altdeutschen  Witz  und  Verstand  in  den  kürzesten, 
ungekünstelten  Worten.  Wer  am  Charakter  der  deutschen 
Nation  sweifelt,  darf  irgend  nur  ein  (deutsches)  WOrter-  oder 

^oiebwOrterbnch oder  eine  Sanmilung  von  Gescfaicbten, 

LehrsprUchen,  Liedern,  Fabeln  und  ErzähhmgeD  durch- 
gehen"''). Und  was  das  Volk  fühlt  und  denkt,  kommt  kraft- 
voll zu  Tage,  und  ist  darum  künstlerisch  wertvoll.  Er 
macht  sich  den  Ausspruch  Montaignes  zu  eigen :  „Die  Volks- 
poeaie,  ganz  Natur,  wie  sie  ist,  hat  Naivetäten  und  Eeize, 
durch   die  sie  sich  der  Hauptschönheit  der  künstlich  voll- 


*)  Ideen  sai  Philoeophie  der  OeMfai(dite  dei  MenBohhait.  9.  fineb, 
Kap.  IV. 

*)  Über  den  nrapraag  der  Sprache,  ed.  Sufkin  T.  S.  140. 

*)  Idera,  9.  Baoh,  Kap.  I. 

*)  Ideen,  3.  Bnoh,  E^>.  TT. 

*|  Ideen,  4.  Bnch,  Ekp.  III,  9.  Baoh.  iMp.  IL 

*)  Biiefe  zni  Baßrderniig  der  Hnnumilit,  VUI,  Bin  1796,  8.  118f. 
(loa.  Brief). 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


446  F*al  Barth: 

kommensten  Poesie  gleichet"  *).  Nirgends  ausserdem,  bei 
keinem  noch  so  primitlTen  Volke,  fehlt  der  echte  Keim  der 
Humanität*),  also  ist  seine  Poesie  auch  dem  Inhalte  nach 
unserer  Kenntnis  nicht  unwürdig.  Ebenso  scharf  ausge- 
prägt, wie  sein  Nationalismus,  ist  sein  üniversalismus,  der 
ihn  das  Wort  „Menschenrasse"  nur  ungern  gebrauchen,  und 
einen  spezifischen  Unterschied  zwischen  „kultivierten  und 
uokultivierten  Völkern"  nichtänden  lässt*).  In  den  „  Stämmen  der 
Volker  in  Liedern"  sammelt  er  daher  tod  jedem  Zweige  der 
menschlichen  Gattung,  von  den  Peruanern  bis  zu  den  Mada- 
gassen, von  den  Lappen  biß  zu  den  Spaniern  Proben  ihrer 
Kirnst.  Und  es  ist  bekannt,  wie  er  dem  jungen  Gobthb  in 
Strassburg  für  die  eigentümliche  Kraft  und  Schönheit  des 
Volksliedes  die  Augen  öfbete  und  das  Gefühl  weckte*). 
Und  wie  kein  Volk,  so  schien  ihm  auch  kein  Abschnitt 
der  Geschichte  von  poetischer  Kraft  verlassen.  In  einer 
Zeit,  m  der  man  dem  Mittelalter  im  allgemeinen  feindselig 
gegenüberstand,  in  der  auch  der  franzfisische  Geschmack  an 
Form  und  Regel  noch  stark  herrschte,  verteidigte  er  trotE 
ihrer  Formlosigkeit,  die  er  zugesteht^),  die  Poesie  des 
Mittelalters.  Liebe,  Tapferkeit  und  Andacht  sind  der  Inbah, 
den  er  in  ihren  Sagen  findet^).  Und  im  Gegensätze  znr 
Stimmung  und  zum  Vorurteile  der  Aufklärung,  die  die  he- 
bräische Poesie  als  Äusserung  jüdischen  Aberglaubens  be- 


')  Vorrede  zu  den    Stimmen  der  Völker  in  liadem". 

*}  Ideen,  4.  Bnoh,  Kap.  IV.     15.  Bnob,  Kap.  I.    16.  Baoh,  Kap.  I. 

')  Ideen,  4.  Bnoh,  Kap.  T,  9.  Buch,  B^ap.  1. 

*>  QoBTHE  {Aus  mdoem  Leben.  WabtfaeJt  and  Dichtung,  S.  TnL 
10.  BdcJi)  sagt  in  Bezng  auf  Ebbdeb:  „Die  bebiiisohe  DiohtkaoBt,  treldie 
er  naoh  seinem  Vorgänger  Lowth  geistreioh  bebaadelte,  die  Volkspoeeid, 
deren  üeberUeFeruogen  im  EIbbsb  atifzusochen  er  uns  antrieb,  die  iltesten 
ürhwden  als  Poesie  gaben  das  Zengnia.  dass  die  Diehtbuiat  überhaupt 
eine  Welt-  Tind  Vältergabe  sei,  nicht  ein  Priraterbteil  einiger  fainen,  ge- 
bildeten HAnner." 

*)  Briefe  zur  Befärderung  der  Hamanität,  VUl,  lUga  1798,  91.  Brief: 
„Was  der  Poesie  dea  Hittelalters  fehlte,  war  nicht  Stoff  und  Inhalt,  nidt 
guter  Wille  und  Endzweck;  es  fehlte  ihr  nieht  an  Idealen,  auf  vekdie  ne 
hinarbeitete  nnd  sich  bemüh»,  aber  Qeeohmack,  inoere  Norm  nnd  Begel 
fehlte  ihr.- 

•)  89.  Brief. 


iM,Coo<^lc 


Zn  Harder's  100.  Todestage.  447 

trachtea  und  geringschätzen  musste,  weist  er  auch  iu  ihr 
das  ScbSne  und  Erhabene  auf  und  verteidigt  ihre  Form, 
den  Parallelismug  membrorum  gegeu  Spötter  und  Tadler'), 
indem  er  ihn  dem  Reime  als  einen  Reim  der  G^edimken 
gleichstellt 

Seine  grosse  Fähigkeit  des  NachfUlilens  gab  ihm  einen 
feinen  Geschmack  i^  das  Echte  und  das  Unechte.  Bei 
allem  Universalismus  betont  er  darum  die  Notwendigkeit  des 
Nationalcharakters,  dessen  Verlust  er  als  den  grOssten 
Schaden  für  ein  Volk  erachtet*).  Er  sieht  in  Karl  dem 
(Crossen  nicht  einen  Förderer,  sondern  einen  Verderber  des 
deutschen  Volkes,  da  er  den  deutschen  Geist  dem  römischen 
Papste  unterworfen  habe^).  Besonders  verbasst  ist  ihm  aber 
die  noch  in  seinem  Jahrhunderte  bestehende  Vorherrschaft 
der  lateinischen  Sprache,  die  auch  von  Deutschen,  zumtil 
in  den  Schulen,  geschrieben  werde.  Da  jeder  nur  eine 
Sprache  beherrschen  lerne,  und  zwar  seine  Muttersprache, 
so  beherrschen,  „dass  der  ganze  Umfang  der  Sprache  so 
unter  ihm  sei  als  das  Feld  von  Gedanken"*),  so  kann  nur 
in  der  Muttersprache  der  Gedanke  den  Ausdruck  formen. 
In  allen  übrigen  Sprachen  stehen  dem  Schreibenden  nie  alle 
Möglichkeiten  des  Ausdrucks  zu  Gebote,  sondern  nur  einige 
Phrasen,  die  er  gelernt  hat,  die  nun  von  ihm  angewandt 
werden  und  dem  Gedanken  Gewalt  antun.  „Wenn  die 
fremde  Sprache  nicht  Gewalt  leidet,  so  tut  sie  Gewalt  an""*). 
Unter  dem  Einflüsse  des  Lateinischen  habe  man  die  „alte 
deutsche  Kemsprache,"  wie  sie  bei  den  „schwäbischen 
Sängern"  des  Mittelalters,  bei  Hjther,  bei  Optfz  zu  finden 
sei,  verachtet  imd  die  lateinische  Sprache  hiU)e  die  unsrige 


')  In  der  Abhandlung  „TOni  Geiste  der  ebtUsohen  Foeaie*,  ed  Sapliu, 
XI,  8.  223  ff.,  bee.  S.  238. 

*)  Von  der  neaeran  römischen  Litantur,  üb  den  Fragmenten  über 
<tie  neuere  dentsofae  Litentor,  3.  Stunmlong,  ed.  Sophan  1,  S.  366. 

•)  A.  «.  0.  8.  366. 

*)  8.  403. 

»)  9.  40t. 


iM,Googlc 


446  f  *nl  Bartb: 

zarOcksehalten').  Und  dodi  ist  die  dentsche  I^Hrache  etae 
„Schvetrter  der  griechlBChen^),  eine  Sprache  der  VeriHinft,  der 
Kraft  flnd  Waiirlieit'' ").  Und  wie  es  einoi  echten  Ansdnick 
echter  Qedanken  giebt,  so  ancb  eine  echte  metrische  Fwin 
fOr  jeden  dichterischen  Inhalt.  Mit  Recht  erhebt  er  g^ea 
Denis,  der  die  sogeiuuuiten  OssiAN'scfaeD  Lieder  in  deutsche 
Hexameter  übersetzt  hatte,  den  Vorwurf,  dass  er  dnrch  die 
Änderung  des  Metrums  den  ganzen  Charakter  dieser  Dichtun- 
gen entstellt  habe*). 

Die  bedeutendste  Frucht  endlidi,  die  aus  der  viel- 
eeitigeo  Weltfaetrachtung  und  dem  maDnigfidtigen  '^Hssen 
Herder's  erwachsen  ist,  haben  wir  in  seiner  Philosophie 
der  Geschichte.  Die  Geschichte  ist  ihm  die  Fortsetzung 
der  Entwicklung,  die  an  der  Hand  des  SchSpfers  in  der 
tierischen  Welt  von  dran  niedrigsten  Wesen  bis  zum  Menschen 
geführt  hat^).  Diese  Fortsetzung  leitet  nun  den  Menschen  von 
der  Wildheit  zur  Humanität  oder  Tielroehr,  da  die  Homaiiit&t 
nirgends  ganz  fehlt,  zu  immer  hShu^n  Stufen  dwselben. 

Der  höchste  Zustuid  der  Menschen,  die  voUe  Homanit&t, 
ist  das  Ziel  der  Geschichte.  Seine  nähere  Bestimmung  ist  sehr 
mannigfaltig.  Sie  umfasst  „des  Menschen  edle  Bildung  zur 
Vernunft  und  Freiheit,  zu  feineren  Sinnen  und  Trieben,  zur 
zartesten  und  stärksten  Gesundheit,  zu  Erfüllung  und  Be- 
herrschung der  Erde"").  Sie  ist  also  dasselbe,  was  jetzt 
Kultur  und  Zivilisation  zusammengenommen,  wenn  man  nach 
dem  herrschenden  Sprachgebraucbe  die  erste  als  Beherrsdiung 
der  äusseren  Welt,  die  zweite  als  Beherrschung  der  rfemen- 
taren  Triebe  der  inneren  Welt  versteht.     Denn  Humanität 

■)  8.  873— 37B. 

»)  Br,  «ur  ßef.  der  Hum.  V,  8,  92,  8.  122,  VUI,  8.  JJ5. 

■)  Br.  »nr  Bef,  dar  Hum.  V,  8.  146. 

*)  AoBEQgauseinemBriefwaoiiBelüberOBBUNiuiddie  Lieder  alter  Toller, 
ad.  Snphmii  T,  8.  160-162. 

•)  Vgl  H.  0ÖT2,  war  Hebder  ein  Voi^inger  Dabwins?  In  disMf 
Zeitsohrin,  26.  Jahrg.,  bes.  B.  408.  8.  417  f  Sehr  beochtanswert  nod  schau 
au  Bphkicss  Formel  der  Batwiaklnng  anklingend  ist  aach  folgender  Satf 
Hebdess:  ,  Von  einfBchaiiGasetEen.BOwieTOn groben  Oeetalten.aatüwtetne (die 
Hatai)  ins  Zusammengeeetztere,  KünsUiche,  Feine."    (Ideen  8.  Bncti,  Eap.  Ij. 

■)  Idean,  Buoh  4.  Eap.  VI. 


iM,Coo<^lc 


Za  Heido-'i  100.  IMestage.  449 

Mlili«Mt  auch  OtU«  tbt*),  und  alobt  minder  di«  Rdigion, 
iet  aber  dieser  8berge«>dnet.  Demi  sie  ist  „der  PrttbMn 
selbst  der  Mythologie  der  veraehiedenen  IMigtonen"'). 

So  giebt  es  bei  Herder  eine  relative  HmnaaltU,  die 
jeweilige  EaltorBtafe  eines  jeden  Volkes.  Baneben  aber 
flchvebt  ihm  ein  absolutes  Ideal  der  HomaniUU,  vor,  das 
sich  am  drei  Elementen  zusammensetEt,  dem  Ohristentum, 
der  griechischen  Kunst  und  der  WiBsenschaft.  „Die  ReUgion 
Christi,  die  er  selbst  hatte,  lehrte  und  Qbte,  war  die  Hn- 
manlt&t  selbsf^}.  Die  grieehlsche  Plastik  ist  ihm  „eine 
^nrnme  Schule  der  Humanität"*),  tn  den  griechischen  G^Htem 
tmd  Heroen  findet  er  „dauerhafte  Kategorien  der  edelsten 
und  schönsten  MenscheneilBteM''"),  imgestört  und  ungetrtbt 
durch  den  „geringeren"  Teil  des  menschlichen  Wesfflis, 
der  „als  Faunen-  und  Satyrennatur"  abgesondert,  und  durch 
Üerisdie  Attribute  (HOmer,  Schwänzchen)  „an  die  Greaae 
der  menschlichen  Natur,"  in  die  Nähe  der  tierischen  gerttckt 
worden  ist").  Darum,  wie  ihm  das  Ohristentum  die  reinste 
BaUgion  ist,  „freiwiU^,  bloss  moraliscli''''),'  so  ist  ihm  das 
Griecheotum  „die  Blüte  der  Uenschheif^).  Und  so  kaau  er, 
dar  christliche  Theologe,  sagen:  „Mit  heiligem  Ernst  treten 
wir  sum  Olymp  hinaof,  und  sehen  Gfitterformen  im  Menschen- 
gebilde      Die  Griechen  allein  .  .  .  theifizierten  die 

Mensehheit.  Andre  Kationen  erniedrigten  die  Idee  Gottes 
SU  Ungeheuern;  sie  hüben  das  GdtUiche  im  Menschen  sum 
Gotte  empor"*).  Und  das'  dritte  Element,  die  Wissenschaft, 
Wtont  er  genug,  wenn  er  die  europäische  Kultur  eine  Kultur 
durch  Betriebsamkeit,  Wissenschaften  und  KUnste  nennt  ^o). 

<)  Br.  int  Bef.  der  H<un.  U,  B.  119. 
•)  A.  a.  0.  a  ISl. 
')  Br.  KU  Bei.  der  Hon.  H,  8.  128. 
*)  Br.  tax  Bef.  der  Eam.  VI,  B.  21  (64.  Brief). 
■)  A.  a.  O.  S.  30. 
^  A.  ft.  0.  S.  63  &. 
^)  Ideen,  1£.  Bnch,  Ekp.  HL 
*)  Br.  tat  Bet  der  Hnm.  VT.  8.  U. 
*}  A.  «.  0.  8.  mt. 
'*)  Ideen,  BohloB. 


1.  rUlo*.  n.  BodoL    X3.VD. 


rmn-ii-.;GoOg\c 


450  Favl  Barth: 

Durch  Tradition,  von  einer  Generation  zur  uidem, 
verwirklicht  sich  dieses  Ideal  der  Humanität.  Es  gibt  „eine 
Kette  von  Bildung,  die  durch  das  ganze  GteBchlecht  reichet"  ■), 
in  der  jeder  ein  Glied  ist  Und  „die  Philosophie  der 
Geschichte,  die  die  Kette  der  Tradition  verfolgt,  ist  eigent- 
lich die  wahre  Menschengeschichte,  ohne  welche  alle  äusseren 
Weltbegebenheiten  nur  Wolken  sind  oder  erschreckende  Misa- 
gestalten  werden"  ^).  Wie  oben  erwiesen,  war  Herder 
Determinist.  Mannigfache  Momente:  Klima,  Lage,  Rassen- 
anlagen,  zeitliche  Umstände  wirken  auf  die  Schicksale  eines 
Volkes.  Es  giebt  also  eine  strenge  Notwendigkeit  in  der 
Geschichte.  „Keioe  Weltbegebenheit  steht  allein  da;  in  vor- 
hergehenden Ursachen,  im  Geiste  der  Zeiten  und  Vßlker 
gegründet,  ist  sie  nur  als  das  Zifferblatt  zu  betrachten, 
dessen  Zeiger  von  inneren  Uhrgewichten  geregt  wird"*). 
Aber  diese  Notwendigkeit  ist  zugleich  der  Weg,  auf  dem 
Gott  die  gesamte  Menschheit  zur  Humanität,  als  dem  Elnd- 
ziele  der  Geschichte  führt. 

Freilich  alles  bei  Herder,  selbst  seine  Geschichts- 
philosophie, ist  nicht  so  methodisch  ausgearbeitet,  dass  nidit 
Unbestimmtheiten  und  Fragen  Übrig  blieben.  So  würde 
man  in  Bezug  auf  die  absolute  Humanität,  deren  einer  Be- 
standteil die  griechische  Plastik  ist,  fragen  können,  wem  sie 
ewig  massgebend  sein  soll,  da  doch  die  Plastik  der  modernen 
Völker  keine  Nachahmung  der  Alten  sein  darf,  nach  der  so 
oft  wiederholten  These,  dass  Nachahmung  nicht  wahre  Kunst, 
höchstens  Nacheiferung  möglich  sei.  Herder  war  über- 
haupt mehr  Anreger  als  Schöpfer.  Aber  sein  Blick  war 
doch  auf  manchen  Gebieten,  in  der  Sprachpsychologie,  in 
der  Ästhetik,  in  der  Geschichtephilosophie  so  schu'f  und 
tief,   dass   auf  diesen   Gebieten   seine  Leistungen   epoche- 


')  Ideen,  9.  Buch,  Smo.  I. 
»)  A.  ».  0. 

^  Ideen,  SO.  Bodi,  Anfug.    Ver^  P.  Bunt,  die  PhiloMipbie  dar 
Oeaohiobte  als  SocJolofie,  I,  Leipzig,  1897,  8.  202,  uoh  8.  226  S.,  284  f.,  362. 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Zu  Berder'B  100.  IbdeBtage.  451 

machend  wurden.  Zwei  Eigenschaften  aber  sind  es,  die  ihn 
besondere  auszeiclinen,  sein  universales  Wissen  und  sein 
fester  Glaube  an  den  Fortschritt  der  Humanität.  Mögen 
ihm  viele  menschliche  Schwächen  angehaftet  haben,  dm^h 
diese  beiden  Eigenschaften  kann  er  unser  Vorbild  sein. 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


Bei^preeliuon' 


CttDDkro  SmAmlBf}  La  questione  del  negri  nella  Btoria 
e  nellft  80(»etJi  aord-americana  ooa  prafauoqe  dal  J^f. 
Bnrioo  MorseUi  Torino  Fratelli  Boccsa  18Ö8,  VII  u.  48B  S. 

Du  Toilismnde  Bach  urAUt  io  2  leil«:  1.  dio  Owoluchta  der 
snttUaoisohBD  NwanblaTvei  toil  don  eiitan  jlDAngeu  bis  1866^  dem 
Jatas  ihnr  AoHtlDiiDg,  tt.  dia  soziale  Gotwiakolnn^  dar  amaritaqiaohan 
Kogw  und  dis  kantige  Nagering^  Ifu  änawre  Qniiide  haben  saiaa  Be- 
apretbniiK  vanSgert 

HoHDUta  ztM  tnaiebat,  wie  die  «nglisohen  Kolonien  nicht  diq  «raban 
waren,  die  KegsniltTsii  bieUen,  rialmekr  »c^a  tun  IfiOO  solche  uis 
Sfianieu  in  die  apaniBobeii  Kotooien  «ngeffthit  wunleo.  ^tec  gewbah  dies 
direkt  TOn  Afiibt,  basondeis  von  ChiioeK  ans.  Wie  £arl  V.  einein  VWniaB 
umens  Bnea  ^  Honopot  Kr  diesen  Handel  Toriiehen  bette,  so  gab  die 
•ngUselie  Begianing  i.  3.  1618  ein  solche«  einem  gewissen  Bobert  Bioh; 
1^1  i'iu^,  eine  6eeel)8ob&tt  dafür  gegi'äDdet.  Im  Assiento-Vertrage  von 
17^6  ferpSiohteta  üoh  die  engUsohe  Königin  sogar  auf  30  Jshre,  die 
panischen  Kolonien  mit  je  1800  SUaven  zn  versorgen.  Doch  wurde  der 
Vertrsg  nnr  bis  1739  gehalten.  In  diesem  Jdhra  horte  jedes  Monopol  für 
den  Negerhandel  sof,  er  wnrde  jedem  freigegeben  and  nälun  einen  mssen 
Aufschwang.  I.  3.  1771  s.  B.  hatte  Liverpool  alleia  106  H^lsoUffe  anf 
dem  Vaere,  d(e  88  600  Sldaven  naoh  Amerika  brachten. 

Die  iTe^r  wardeo  die  Werkneoge  des  Plaotagenbaoes  In  dea  SAd- 
staatao-  Tirginien  bildete  znerat  ein  beeonderee  Sklavenreeht  ans.  das  den 
Naget  ala  Ba(£e  bahjpidelte  and  tdd  der  englisohen  B^Iening  bestit^  wiinle. 

Der  VangtJ  sd  freien  Ärbalten,  wTa  ar  In  einem  nnbeaeczteo  Boden 
und  Belbe:tandlgen  Be^tz  bietenden  Lüde  notwendig  sioh  e^ebt,  bewirkte 
aadk  )m  Horden  trotz  dem  ffir  die  Neger  verderblichen  XiUma  die  ISnflUinmg 
der  Sklavusi,  selbst  in  dem  gebildetsten,  gei|t)g'aia  höchsten  stehenden 
Staate  MsssaehoBSets.  Schon  1641  wurde  In  seiner  Verteanng,  dem  bov 
of  libertiea  die  Sklaverei  wnktionlert,  wenn  der  Varkaat  der  Smven  reoht- 
mbslg  gesobeben  war.  Tiela  ohristllabe  Herren  verweigerten  ihren  Bklavan 
die  Taaia,  die  sie  bti  (emaoht  bUte.  Immerhin  gab  es  in  VssaiohtissetB 
wie   Im   gansan  Norden  nur  wenige  Sklaven.    I.  J.  1676  ztthlte  man  dort 


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200,  1716  200D,  1775  3600.  Im  Staate  Kew-Tott  hingteen  gab  es  dwM 
i.  J.  ITlb  4000,  i.  3,  1776  sohoD  ISOOO,  in  PannBrlTUisD  un  letztgenuntM 
Jahre  10000,  und,  wenn  wir  aiim  SOdes  nhan,  m  Vli^inia  alldn  186000, 
in  Süd-Karolina  110000  n.  b.  w.  In  Maaaachnwete  eritob  uoh  anoh  die  ente 
Bewegung  f9r  Abeohaffinng  der  BUavereL  Samuel  Sewalt,  ein  frommar 
Kditer,  giÜI  sie  i.  J.  1700  in  «ner  Solirift  heftig  an  und  eatsflndete  danit 
eioe  lange  Fehde  tir  nnd  vider  aie.  Von  dei  Qeaeägebiiog  von  Maoaohnsnb 
wurde  sndk  i.  J.  1774  die  erste  BUl  gegen  die  ^nWjiliHing  von  SUarai 
angenommen,  aber  doroh  das  Veto  dea  eogUadien  Oonvemems  nnwUnm 
graiaohL  H.  iweifelt,  ob  ee  damals  den  Oesetagebetn  von  MaaiaehBMr 
wlrUioti  mit  dei  Beseitigang  der  BUaTsni  enut  war,  ob  ee  nioht  Ttdaeht 
ihre  Abnoht  war,  gegen  die  engÜBohe  Begienmg,  die  so  als  Oegoeiin  ja« 
Beadtignng  enohien,  den  Hssa  der  Neger  in  eiregen. 

Naoh  der  EiA&mpfang  der  ünabh&agigkeit  der  Union  nahm  die 
BIdaierei  im  Norden  and  im  Süden  einen  s^  Teisohiedenen  Verlauf.  Im 
Norden  wurde  die  BeTölkenmc  diohtei,  datier  der  weisse  LohoariMitsr 
httußger,  zumal  dieser  (ämehiu  des  Klimas  wegen  den  N^er  an  Leistm^- 
lUiigkeit  seliT  erheblioh  übeiragte.  Darum  wurde  1780  Ton  PenasylramBii 
ein  Oeeeti  erlassen,  dass  die  Sklaverei  allmlUjlioh  abgeeohaSt  wüide,  ud 
i.  J.  1790  gab  ee  keinen  einsigen  Sklaven  metir  in  Hassaohossets.  DU 
anderen  Stsaten  des  Nordens  folgten  dem  Vorgänge  PennsylTaniens. 

Im  BQden  liingegen  wnohs  die  SklaTsrei  weiter.  Der  Anbao  dv 
Baumwolle  wurde  immer  lohnender,  seitdem  Elia  Whitney  die  saw-gin,  nu 
Hasohine  zur  Eteini^ung  der  rohen  Wolle  erfunden  hatte,  die  die  Frodoktintlt 
des  einselnen  Arbeiteis  nngehener  steigerte.  WUmnd  bis  dahin  ein  SkUn 
tiglioh  nur  5  oder  B  Pfand  hatte  reinigen  können,  bewUtigte  «c  jetit 
tiglicb  1000  Pfund.  Die  Sudstaaten  der  Union  worden  dadurch  die  Bannt- 
wwlenksmmer  für  die  ganze  Welt  Der  Export  derselben  betrug  1791  taa 
189816,  179»  schon  487  600,  1794  1610  760  Pfand  und  sti<«  so  auf  1400 
HUlionen  Pfand  im  Jahre  1869.  Der  Neger  war  der  nuentbehrtiidie  Ann 
dieser  Knltor.  Die  Plantagenbesitier  des  Südens  wurden  entweder  SUarai- 
EÜobter,  die  lebendige  Waare  verkauften,  oder  Baamw<^enpflanser.  Be- 
Bondsis  in  Maiyland,  Yii^ia  und  Eentui'k;  worden  Sklaven  geiöofate^  in 
Carelina,  Qeotgia,  Tennessee,  Loaiaiana,  Hissisippi  n.  a.  verbtanoht  Dia 
reehüiohe  Grundlage  lieferte  die  Verfassung  der  Union  von  1^7,  welche 
die  SklaTer«  gant  und  gar  der  Geeetigebung  der  einzelnen  Staaten  fibedien' 

Hit  dieser  Bestimmung  sobien  die  SUavenfrage  friedlich  beigelegt. 
Aller  bei  jedem  Eintritt  einee  neuen  TerritorinniB  in  die  Union  entatud 
doob  die  Erage,  ob  dem  neuen  Staate  die  SkUverw  erianbt  oder  veibotefi 
werden  sollte.  Ee  gab  im  Kongress  awei  stJiarf  abgegraste  Gruppen,  die 
.freien  Staaten"  und  die  aSklavenstaaten*,  die  eifersüohtig  dai«nf  hiettso, 
dass  das  aieüdigewloht  zwischen  ihnen  nioht  aufgehoben  wurde.  Und  et 
begannen  nun  in  weiterem  Umfange  als  100  Jahre  früher  die  AgitatioDU 
für  .Abolition"  der  Sklaverei.  Der  Qo&ker  Benjamin  Lund;  gründete  16S1 
die  erste  abolitionistisohe  Zeitsohrift  Ihe  Oenins  of  Universal  Enundpalini, 
10  Jahre  später  etwa  trat  Qarriaon  in  die  Bewegung  ein,  die  immer  heftieer 
wurde.  Die  Kirchen  waren  zum  Teil  Qegner  der  Aboliüon.  Noch  lw8 
worden  600  Geistliche  und  60000  QemüodemitgUeder  wegen  abolitionistisebv 
Tendern  ans  der  Presbrterianisdiea  Kirche  ausgeetosstti.  Abw  die  Be- 
wegnng  ging  weiter.  1836  erschien  Channiu  On  SlaTen,  1886  Hildreth'i 
fioman  Arob;  Moore,  1843  Longfellow's  Poems  on  ^very,  seit  IMS 
I^well'B  Satiren,  nnd  1861  der  berühmte  Roman  von  H.  BeetAer-Ston, 
Uncle  Tom's  Cabin.  Im  vorang^iangenen  Jahre  «uide  trotzdem  vom  KoogreMe 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


Oonuaro  Hondaini,  La  queetione  dei  negri.  455 

to'Oweti  Toa  1793,  du  den  Hemn  du  Beoht  gab,  beim  Fang  tifiohtigei 
SUaTen  die  BehSrden  in  AnBprnoh  za  nehmen,  bedeutend  venchSift,  m* 
dun  a&di  dar  Bfiiger  la  einet'  gewiesen  DnteiBtntznng  dieaeo  Fkneee  an- 
gehalttn,  TJutentätzong  des  FlfiohtigeD  aber  noch  sträiger  als  frÖSer  be- 
straft wöide. 

Der  GegeoBati  führte  BchlieBalioh  zum  Kriege.  Es  ist  bemerkens- 
wert dasa,  wie  HoNninn  beweist,  die  Nardataaten  den  Kampf  nicht  b^jannen, 
nm  die  Sklaveni  aaszorotten,  sondern  um  die  Union  anfreoht  eu  erlialteti, 
Ton  d«r  die  Sädstaaten  sieh  trennen  wollten,  um  in  der  SUsvenftsge  freie 
Band  in  haben  (B.  194  n.  264).  Die  Aulhebong  der  Sklaverei,  die  im 
Febmai  1866  dnroh  Annahme  des  Amendements  13  znr  Verfassnng  geschah, 
war  ihrer  Absicht  nach  mehr  eine  Beatrafong  der  rebelliaGhien  Sndetaaten, 
aia  etD  Akt  der  Hnmanität. 

Ebenso  aoig&ltig,  wie  die  Qeechiohte  der  Sklaverei  ist  die  nnn 
folgende  DatsteUnn^  der  Demographie  der  amerikanischen  Neger  nnd  dar 
Skräiomischen,  iKditischen  nnd  eoiialea  Probleme,  die  eich  aas  der  Frei- 
lassung der  4  Millionen  Sklaven  ergeben  bebea. 

Zanichst  werden  die  statietisoheD  IDiatBaohen  gegeben  über  die  natäi- 
liohe  VermehraDg  nnd  Bewegung  der  Bohwaraen  Bevalksmng,  woraus  aiidt 
eipebt,  dass  die  Neger  immer  mehr  das  Land  verlaeeen  and  sich  in  den 
Sttdtsn  konientaieren,  in  ihnen  einen  schwarzen  Gürtel  bildend,  dass  sie 
aber  den  Sädan  im  tJlgemeinen  nicht  verlassen  nnd  im  Prozenfsatze  der 
Tennehmng  in  jedem  Staate  den  Weissen  sehr  nachatehen.  Ebenso  wird 
die  THalitAt  der  Neger  nutetsocht,  die  sehr  viel  geringer  ist  als  die  der 
Teiasen  nnd  schlieaalioh  ihre  HoralitSit,  die,  soweit  sie  mit  gewissen  Krank- 
heiten znsammenh&ngt,  erst  recht  die  Inferiorität  der  schwarzen  Basse  zeigt 
Zwar  haben  die  Neger  Ökouomiaohe  Fortsohritte  gemacht,  sind  seit  dsi 
Kmaoripafion  wohlhabsnder  geworden ;  andi  ihre  Teilnahme  an  der  Intelligenz 
ist  gewachsen  (es  erschienen  1898  etwa  60  Zeitongen  für  Neger):  aber  die 
nutsachen  der  Horalstatistik  sind  immer  noch  sehr  troatloa  nnd  zeigen 
keine  Tendenz  znr  Besserung  (vergl.  S.  372), 

Danun  acheint  mir  die  Hofinang  kaum  berechtigt,  die  der  Herr 
Verfasser  aoaapricbl,  dasa  es  nämlich  allmtthlioh  zwar  nicht  zn  physischer 
Ifisohong,  aber  zu  sozialer  Amalgamiemng,  d,  h.  zum  (riedlicheii  und  gleich- 
berechtigten  Zusammenleben  der  weiaeen  und  der  schwarzen  Basse  in 
Amerika  kommen  werde.  Ich  bin  mehr  der  Ansicht,  die  Hobsilij  in  seinem 
dam  Buobe  vorgesetiten  Geleilworte  ausspricht,  n&mlioh  dasa  der  Neger 
nie  den  Weissen,  am  allerwenigsten  den  Angelsachsen  Amerikas,  erreichen 
wild,  nnd  dämm  zn  ewiger  LiferioritAt  ihm  gegenüber  verurteilt  ist,  die 
ein  niedliches  Yerfaältnia  zur  andern  Basse  nnmögliob  macht 

Indessen,  welche  Folgerungen  man  auch  für  die  Zukunft  ziehen  mag, 
die  Thatsaohen  der  Negeifrage  sind  bei  Hondaiiii  vollständig  nnd  kljff 
nsammengeatellt    Sein  Bacb  ist  darnm  sehr  wichtig  fnr  den  Soziologen. 

Leipzig.  PAin.  Babth. 

FaTre,   Jj.,    L^organisation  de  la  science,  Paris,  Reinvald, 
1900.     400  S. 

ünaere  Zeit  iat  die  der  internationalen  Kooperationen.  Auf  allen 
Gebieten  maoht  rieh  dies  geltend,  anoh  auf  wisaensohartlichem,  Bieriier 
gehört  das  vorliegende  Buch  fiber  die  Organisation  dee  Wissens.  Högan 
anoh  bereits  kleiners  Tersuohe  in  dieser  Hinaicht  vorangegangen  sein,  m 
gebtlhrt  doch  dem  Verf.  cUe  Ehre,  dass  er  zum  ersten  Male  den  Plan  ta 
«ner  universellen  Organisation  des  Wisssns  entworfen  hat. 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


469  Oitialor: 

Sehoffl  du  Tomtt  tntklU  wtrtrrila  Otdadua:  In  4«  Qtttith 
(hr  WiMwMliaft  «Mt  es  ■WBoh«  BlsaMote,  wdoh*  ^eldifH  aud  A 
wiJw.  nlmlkili  dwiMüiaii,  waloh«  dit  TanraiedeiMa  TwIwmipwBhiflw 
TVbJBdra.  Statt  dw  HatMohw  n  ■tadianD.  Uo«  mü  mw  VoignlfH 
daran  findet,  veriolmt  «e  8ioh,  die  Oln^te  des  Stsdnuna  s«  wIUm,  w  dM 
dU  beafiglUian  latdaokiusan  der  Bolidttlt  de*  aUgevMMB  Tiwenaobaft- 
IÜm  Otbtada«  m  gota  konaMii.  llMiolu  Artmtaa  sv^ea  daahalfc  in 
yainaaaanhait,  wail  nun  niobt  waiaa,  mbin  oao  sie  pUaiann  acdl.  Dia 
Aibail  mnit  gaaohi«^  TWtoilt  mü,  ao  daaa  jeder  dwijanicea  Teil  i»  Ar- 
beit ToUMngw  kana,  fSt  da>  et  am  gsMUuteatao  ist,  und  waloher  dw 
A«d«n  eine  laiaUam  libait  aioharL  iUa  Mitarbeiter  mtiaMB  diaaalbe 
Spiaoha  haben,  diaadben  Methodra,  InstmineBla,  Dafioitioiwa,  '^-^-Hr- 
Ein  gemeinBamee  metriBohes  ^vtem  für  die  Heolutnik  Hd  Fhjiik  exiatiart 
bereits,  nimlioh  das  Bretem  OOB.  Doch  nfiasts  ee  solohe  STSteiM  Rr  aUs 
literaMoben  ViaesnaAafteii,  alle  Indostrien  und  Kfiule  geben.  D«  £s 
QelshitaB  TeitoUedene  Instnunsnte  benntssn,  ae  kann  jeder  nur  eimB 
kleinen  Teil  der  Beeultate  nsImnohtMi,  welobe  uder»  Kiperimeslatonn  ge- 
fondan  haben,  üb  jededk  ein  Biarentlndnia  zwisahao  den  etnieloen 
OelebrteneahaleD  heriDBteUea,  mfiBSteo  tlbet^  diesofeBaanteB  latermMajre's 
eingifalut  werden,  wie  nuui  diee  in  Franknioh  benita  getban  hat  -r-  Bban- 
Bo  wichtig  wie  die  Organisation  der  Wiaeenswaft  ist  Mdi  ii» 
Organisatioii  des  WiMens,  eo  weit  es  geMtrt  wird.  Dar  Leb- 
Stoff  mnas  in  beatiumtar  Teiae  uigeordnat  werten,  «e  daaa  m 
leioht  arfBMt  nad  dem  BedhAtaia  ain^piigt  weiden  kano.  Twn  das 
Lebrgabftnda  bidier  noch  nfiA  hat  dafiaiüT  eigausiart  werden  kOnaeo,  es 
liegt  diea  darin,  daaa  vor  allem  die  ntjnokigis  BDd  erperiweetaile 
Psyohologie  nooh  niidit  feet  begründet  sind.  Von  einer  Befeatigang  disMr 
gnesialwiaseMBciurftep  wärdan  anoh  andere,  wie  die  d«  s<di8nan  Ktarte, 
Nntaen  dehen. 

Speziell  Bohildeit  das  Bnoh  die  Methoden  fQi  folgende  Ttesen- 
BohAften:  Heohuik,  FbjBik,  Chemie,  Biologie,  Uicrobiologle,  FliTsidogie, 
AgTouomie,  Hediiin  and  Sodologie.  Da  tod  diesen  ans  Fhflosot^ea  be- 
sonders die  Methoden  für  FhTsiologie,  Fsjobologie  nud  Bodologie  iotet- 
euieren,  so  wollen  wir  ant  diese  hier  genauer  eingehen. 

Die  Ph^ologie  ist  nsoh  Verf.  das  Stadiam  der  PunktioiMn  der 
lebenden  Matene  and  der  Ornniainen,  welohe  dar&as  berro^ben.  Tut 
teigt,  das«  die  Einteilung  in  Faoktianen  der  Emihrnng,  Bemaa  ood  Be- 
prodnktion  nioht  stiohhaltig  üi  iaoh  mfissten  die  uiTSiologiBohen  Lahr- 
bäoher  ein  Kapitel  enthalten  aber  die  Mittel  der  Begiuienuig.  ^obsatn  als 
üabeigug  von  der  normalen  lui  pstbobipstdten  Fhjsiologie.  Die  Wesen  leben 
nnr,  weil  die  sohMlioben  Effekte  bei  ihnen  kompensiert  werden,  weniptaM 
tarn  Teil,  dnroh  nöttliahe.  Bei  der  Anpassnng  werden  die  achlauchea 
Effekte  dee  nmcebenden  Medinms  kompenuert.  Die  Aehnliohkeit  der  aof- 
einander  folgenden  Fennen  Ist  aaf  täae  dirigierende  Aktion  mrfiakintfihien, 
Weldie  huaerea  finAfiasso  gegenfiber  kompeDsierend  wirkt  Ohne  aeljifcs 
Kompensationen  entstehen  teratolo^iisohe  oder  monstrOee  Formen.  Bs  giebt 
zwisohen  der  Form  nnd  der  Fnnktion  wne  konstante  BeaiehDiw.  ao  daaa  die 
•xistieiande  ¥fna  genau  dirieniga  ist,  welaba  aar  IsiohtaiM  ErfÜtaag  der 
FoDklion  gsaflgt  Diases  Geseti  dar  Aapaaiang  arlaabt  «•■  7vrmm  tar- 
kanasehoi,  wenn  nun  bsstimmta  Vnnktionea  ksnat,  and  die  ftwiktiOMW, 
wenn  man  bestimmte  Foim«D  kennt.  80  hat  ea  CnvleT  dit  Fonaea  mnimK 
foBsUn  Ilars  TOcaDas^en  laaaen.  Jsdooh  ist  daa  Qsaats  aar  aaniSaraafi 
wnae  Terwirkiieht    Immerhin  kBaaen  wir  anawe  leraaiiuiigaa  ao  bagiaaaa. 


iM,Coo<^le 


L.  Tkvre,  L'o^kmtottkui  da  la  soienoe.  457 

all  oh  dl*  AnpMiMj  ala  UiMotw  ezittisTta.    Biririlcb  dar  FngetMhuig 
irt  (Bau  Oftan  genötigt,  sohwierige  Fragen  in  einbdiere  m  Earlegen. 

Dia  PijdwUgie  hxt  ila  Objekt  das  Btndinra  dar  Fh&noman  dee  Ba- 
w—liuiM.  £i  aUan  Tisiansobafteii,  w  aaoli  iu  der  Pavobologia,  ^ebt  aa 
•Ofanmita  Hawiaoha  Irrtämer,  d.  h,  aoloha,  daran  Inhalt  luge  Zeit  aaoli 
TOD  das  badantaiidstaa  OelabiW  ala  Wahriiait  aogaaehan  wurde.   So  z.  B. 

gaoble  nun  Upga  Zait,  man  kfinate  dia  p^ohologiBcha  Walt  alleiu  mit 
fUfs  dai  BtnbiuoiigBkratt  konitraiaTen.  Zweitens  legte  man  Eeitweiaa 
m  gnaaaii  Tert  anf  das  payoholorasohe  fixperimentiena  und  TarnaobUBaigta 
dabei  dia  laiDa  BaobMOtaiDg.  Drittens  atallta  man  früher  Tbeoriea  aot 
obsa  ^ft^nd  lltstaaolien  beobaobtat  m  haben.  Die  Ursache  der  Irrtflinet 
siad  amaeitige  DaflnitionaD,  angeeohiokt  geetallle  Fragen,  die  Annalune  «ner 
OleiohlBimigiait  des  lAiifas  der  Natnr.  So  nahmen  die  Selbetbeobaohter 
oft  maahliaheiweise  an,  dass  die  psrcbologisohen  Vorginge  bei  des  rar- 
■ohiedenan  Manschen  in  ähnlitdiN'  Weise  ablauten.  EHinflg  wird  die 
Wiohtigkatt  nea  ealdeoktar  Üliatsaohen  in  sehr  nbertrieben.  So  snohte 
man  so  einer  baatinuutan  Zait  alle  Empfiodongen,  Bewegungen  und  Gefühle 
Zeitwaiaa  fibarsobtttzta  man  die  Inatnunante  and  wollte 


.  Viele  Irrtämer  raanltiaren  a 

Tamptiamante  der  Beobachter. 

Anf  die  Soiiologie  wendet  man  am  basten  die  Terglnohende  Methode 
an.  und  zwar  kann  man  erstens  die  Thatsachen  oder  dia  Din^  Tergleioheo 
(im  besondem  die  normaien  ond  pathologischen  Thatsaohen,  die  Thatsaohen, 
wdeha  aioh  anf  ein  Indtvidnnm  in  einem  g^banen  Moment  bariehen  mit 
daigenlgen  im  andern  Moment,  oder  swlsohen  iwai  Indlndnan,  iwai  Arten 
von  Indlvidaen,  iwei  Epochen.  Mao  kann  iwdtms  die  UnaohMi  nnd 
TTmstlnde  Te^aiöhen  (die  gewöhn! idien  UrBaohan  mit  den  Ansnahma- 
nraaohen].  Man  kann  drittens  die  Qeaatiie  ve^lmihen.  Die  Ter^riohemde 
Methode  (sei  sie  nnn  historisoh,  geographiaoh,  pathologisch,  paliontologisob, 
embr^ologisoh  n.  s.  w.)  ist  in  du  Biologie  von  Nutzen,  sne  Oeeellaohaft 
ist  ema  Orappe  TOn  Menschen,  in  welcher  uner  auf  den  andern  wirkt, 
nachahnend  oder  zwangswnee.  Die  Soziologie  ist  das  Btodinm  der  sosialen 
Tbatsaehao,  nlmliidi  der  aotialan  9onnan,  der  SntwiokelanR  dlsaer  Formen, 
der  sozialen  Phinomena  oder  Fnnktionen  und  dar  EntwicUoDg  deraalban, 
dar  Badehnngen  zwisohen  Formen  nnd  Fnnktionen  und  der  Entwloklnng 
dar  gagenaeitlgen  Anpaarang  dieser  latctaren.  Bei  jeder  dieaar  6  Abteünngen 


«haidaB.  Die  Oeeohiohte  hat  ala  Ziel  das  Btofinm  aar  Bntwiokelnng  dar 
Forman,  FnnkUoDaD  und  der  Anpaasong.  Hiena  ist  niH^  daaa  man  die 
namanta    der    Srappa,    namntUch    baaondera  einfloasreioEie    Indiridoan. 


Die  TOiliegende  Arbeit  dürfte  mit  viel  grösserem  Recht  den  Namen 
ainea  Bnobea  derÜetboden  verdienen  als  die  vorangegangenen,  und  es  ist 
nicht  zn  lengnanjdass  das  Bnoh  durch  die  goten  Lehren,  die  es  giebt, 
baaw.  docoh  dia  Waranngen,  die  es  den  Forschem  zomft,  manohen  dai- 
uthan  TOT  His^ptiren,  Üntttnschungen  nnd  Zeitrergendungen  zd  bewahren 
vermag. 


n,g,t,7l.dM,COOglC 


458  Oieasler: 

Hdlpadl*  Willy,  DieGrenz-wissenschaften  der  Psycho- 
logie.   Mit  20  Abbildungen.    Leipzig,  Düas,  1902.  515  S. 

Das  Buch  beabdchtigt,  soloheo,  die  sich  fär  die  psychologische  TTliiiiiii 
sohaFt  in  ihrem  gaoieo  Omfange  interessiereD,  aber  nur  in  dem  Teila  dar- 
aelbeo,  der  fcerade  ihrem  BerabEWNge  nahe  steht,  geaügend  untaniafatet 
sind,  dazu  die  notweadige  Ei^nsung  in  bieten.  Es  wendet  sich  vor  allem 
an  Fidsgogen,  die  in  den  Natarwissensohaften  nnd  an  Ante,  die  in  den 
OeisteswiBseniKihaften  Lücken  empEnden.  Naoh  einem  Iranen  ÜI>eTUioke 
üljer  die  Haaptergebnisse  der  modernen  Psychologie,  der  sieh  besonders  an 
Wuinit  ansohtiesat,  wird  zon&chst  die  Anatomie  des  Nervensystems  fNerren- 
lelie,  länbettong  nnd  änssere  Gestalt  des  NerTensystams,  Ban  des  Hacken- 
marks  und  Oehirns)  sbgehandelt.  Ein  Kapitel,  welches  sich  mit  Gehirn  and 
Seele  beaohUtigt,  unterzieht  die  Lokslisationstheorie  nach  FLscnaie  lüiiar 
scharfen  Kritik.  Daran  sohliesst  eioh  eine  Eotnickelnngsgeeehichte  des 
Nerv eney Stern 8,  in  welcher  die  Gültigkeit  des  biogenetisf^en  Gesetzes  von 
Hakckei.  auf  für  diesen  speziellen  Fall  hervorgebobeu  wird.  Der  nftohste 
Abschnitt,  die  animaie  Physiologie,  betrifft  die  Lehre  von  der  Bewsgnng, 
die  Sinnesphysiolugie  und  die  Neireo Physiologie  im  allgemeinen.  Die  beiden 
folgenden  Abschnitte  behandeln  die  Nenropatboiogie  and  PsyohopatholMe, 
letztere  vom  Standpankte  Kkaefcuns.  Im  letzten  Absohnitte,  der  Kot- 
wiokelnngspsyohologie,  beenden  sich  folgende  Kapitel:  Das  Seelenleben  der 
Tiere;  Psychologie  der  Kindheit;  Ursprung  und  Entwiokeluag  der  Spratdie; 
die  AufgatKn  der  Sozialpsychologie ;  die  Entwickelnng  der  wirtschaftlicheB 
und  geistigen  Kultur;  Oeuie  und  Entartnng. 

Dieser  mannigfaltige  Inhalt  des  Buches  ist  in  knappe  und  doch  klare 
Worte  gefasst.  Die  Darstellung  gewinnt  an  Lebendigkeit  nnd  IntereBB« 
durch  hfiufig  eingeflochtene  kurze  DiskosBionen.  Der  allemeueste  Standpunkt 
der  Forschong  wird  überall  gebttbrend  gewürdigt.  Vielleicht  wünscht* 
mancher  Leser,  besondere  in  den  ersten  Abschnitten,  noch  mehr  erl&ntemde 
Illustrationen.  Aber  auch  so  wird  das  Buch  den  beabsiohUgten  Zweck  er- 
füllen und  selbst  darüber  hinaus  Belehrung  und  Anregung  bieten, 

Hern  bei  Detmold.  A.  Düiran. 

8.  S.  Laaiie^  Mptaphysica  Nova  et  Vetusta,  Tournai 
1901.     328  S. 

Verf.  eetst  sieh  in  dem  vorliegenden  Werke  mit  der  Ifet^thysik 
auseinander.  Er  verwebt  alte  nnd  neue  Qedanken,  indem  er  dabei  die 
Tendenz  verfolgt,  seine  Metaphysik  auf  psyohologiaohem  Grunde  anfnibaneD, 
im  Gegensätze  zu  Säst,  welcher  das  Transzendentale  zu  Hülfe  nahm.  In 
diesem  eigenartigen  Versuohe  liegt  der  Wert  des  Buchee,  dessen  Laktöi* 
den  Philoeophen  besonders  empfohlen  sein  möge.  Yarfolgen  wir  dia  Ge- 
danken^ge  im  Einzelnen: 

BewQssteein  ist  die  Thatsaohe,  dass  wir  etwas  f3hlen,  was  yod  ans, 
den  Fühlenden,  yersohieden  ist.  Das  Bewasstsein  zeigt  veiBohiedene 
Stufenfolgen.  In  der  unorganischen  Welt  haben  wir  nur  Aktion  und  Be- 
aktion,  bei  Pflanzen  und  Tieren  Beflexe  als  Antizipationen  des  TliiwiiiiHtuwiiii 
Dieses  Gefühl  ist  anfangs  dunkel  und  tastend.  Es  ist  zuerst  nnr  0«fBU 
im  allgemeinen,  SeuaibilitBt,  sidter  das  Fühlen  eines  Olyektee.  ISn  höhmnr 
Grad  des  Bewusstseins  zeigt  eioh  in  der  Vereinheitlichung  derGeIüliIe,wt»nit  aüi 
Objekt  erfasst  wird.  Das  Bewusstsein  bildet  hier  eine  Kollektion  von  En- 
heiten.    In  diesem  Stadinm  tritt   an  die  Stelle  der  vagen  SenmUlitXt  das 


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Laune,  8.  S.,  KetapbTäoft  Nota  et  Vetaitt.  459 

OeAU  für  bestimmte  Gegenatiude.  Ee  beeteht  eine  Syiiopus.  Verf. 
nennt  die«  hfihere  Form  des  Bswuetseins  die  attnitiTe  Cad-tnari).  Du 
nnmittelbare  Oefühl  ontei  der  Form  der  Attaition  liefert  one  die  reftien 
Phänomene. 

Das  niohtrratiocelle  Weeen  vermag  aof  seine  Sphäre  beBohiinkt  ta 
einer  leUiafteren  Benaibilitlt  ta  gelangen  als  das  ratiooelle  and  lolglioh  an 
einer  leiohtaren  Anpasanng  an  aeine  eigenen  ErfahmtigeD  tuid  an  seine 
Umgebung.    Die  Tenianft  liindert  uns  darau,  dies  ihm  gleicbinthaa. 

Das  Weien  des  menaohliohen  Oeistea  ist  das  Denken  d.  h.  ein  an- 
geboroneB  Streben  naoh  klarem  und  adlquatem  Gifasaen  der  Dinge.  Die 
Teniuift  ist  eine  Bewegung  im  bewoasten  Geaohöpf  oud  von  ihm  emaDJerend, 
welche  den  Zweck  hat,  die  flnemge  Materie  im  Sabjekt  im  Zostaude  der 
Attnition  zu  erhalten,  un  ans  der  einTachen  Vergegenwirtigang  eines 
Objekts  ein  Tom  Bnl^ekt  bahensohtee  Objekt  ed  maohen.  In  der  Periode 
der  Attnition  werden  die  Objekte  als  Tatalitaten  gefasst  und  von  einander 
onteiBohiedeD.  AllmShlich  geht  daa  Sabjekt  aus  seinem  passiT-aktiren 
Veibalten  herans.  Eb  wird  frei  handelnd.  Nanmebr  wird  die  Intelligenz 
nicht  mehr  von  den  Objekten  dirigiert,  sondern  sie  ergreift  letitere  uaob 
ihrem  Belieben.  Sie  ontersoheidet  dieeelben  nicht  nur  von  einander,  aendera 
sie  stellt  aiob  ihnen  gegeoäber  als  Ich  dem  Nioht-Ioh. 

Biaher  hatten  wir  die  Gikenntnisse:  A  ist  da  und  nicht  dort.  A  ist 
•in  Nioht-Ioh.  Jetat  kommen  neue  Momente  hinm,  welche  die  Periode 
der  Temnnft  kennaeiohaen.  Der  Wille  erfaast  die  Dbge  anter  Anwendung 
bestimmter  Denkfonnen  oder  Oeaetze  der  Bewegung,  nämlioh;  1.  Fin, 
8.  Milieu  exela,  3.  ContradiotioQ,  4.  Baison  anffiiante,  6.  £ltre  oder  Identite. 
Die  Fonnel  A  =  A  ist  Zeichen  für  die  Vollendung  der  Feneption.  Der 
Wille  transformiert  doroh  den  Akt  der  Affirmation  das  attoitiye  tierische 
Erkennen  in  die  menschliche  latelligenE.  So  bildet  der  Wille  seiner  Form 
naoh  das  Wesen  dar  Tennnft,  und  das  Wollen  in  seinem  eisten  Akt  bildet 
die  Möglichkeit  des  Erkennena. 

In  dem  vitalen  Frozesa  dee  Denkens  geht  das  Gesetz  der  Negation 
dem  Oesetxe  der  Identit&t  voraua. 

Um  den  Akt  der  Affirmation  zu  Tollenden,  siebt  sich  der  Wille  ge- 
nStigt,  seinen  Akt  zu  materialisieren  und  eine  fühlbare  oder  materialisierte 
Foim'  zu  finden,  nAmlich  die  Worte.  Die  Wahmehmangen  Tersinnlioben 
noh  in  ortikulieTteti  TSnen,  Empfindung  und  Wahrnehmung  unterscheiden 
rieb  dadnrci)  von  einander,  dasa  bei  erslerer  das  Objekt  das  Subjekt  zu 
«ner  rafiektorisohen  Handlang  anreizt,  dass  bei  letzterer  dagegen  das 
Subjekt  als  Wille  das  Objekt  ergreift.  Die  Objekte  bilden  znent  Komplexe, 
welche  noch  nicht  in  ihre  Elemente  auflöst  sind.  Bisweilen  jedoch  üeht 
eine  herTorstechende  Eigenschaft  die  Aufmerksamkeit  besonders  auf  sicdi. 
Dabei  bleiben  jedoch  die  anderen  Eigensabaften  nnterbewnsst  Die  Objekte 
werden  zuerst  nur  einseitig  aof  Grand  einzelner  Eigenaohaften  mit  «oander 
vergUchen.  Daher  rühren  die  falschen  VerallgemeinerangeD,  Also  der 
Geist  beginnt  damit,  dass  er  das  Universelle  unt«  einer  iritbem  Form 
ergrrift,  sodann  geht  er  auf  das  Einzelne  aber,  um  das  UnJTerselle  von 
neuem  lu  erhalten,  aber  diesmal  ein  rationeüea  UniTerseUes. 

Lanria  betrachtet  das  attoitive  Bewusstsein  als  zeitlich  frfiher  im 
VerhUtnis  tum  peneptiven  Bewasataein:  A  wird  zuerst  von  anssen  in  der 
Attuition  aufgenommen  nnd  als  Otyekt  projektiert  Die  zweite  Bewegung, 
welche  allein  Peraeption  und  aus  diesem  Grunde  Vernunft  ist,  ist  die  Ver- 
sißhemng,  daas  dieses  Olyekt  A  weder  B,  noch  0,  noch  D  ist.  Auf  dieee 
Weise  erlange  ich  an  dritter  Stelle,  daaa  A  =  A  ist.    Dieses  Werk  dee 


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460  OiesBlar: 

Villvns  ist  die  Anfmerkuiiikeit  oder  die  iulfw.  Dar  Willq  ^luU  di* 
ToislitU  ig  „lerbraebao"  and  di«  wiütren  SSgansohtftan  d«  DiOM  n>  er- 
keoiiMi.  Die  Koniaption  wird  erreicbt  doioh  eine  Beihe  Tön  1Tnw4i><  n* 
Uldet  doe  Byntbeae  von  aiutlTtiBohaii  ürt^ten.  Das  Objekt  diont  nu  >la 
BHt^Bnkt  Kl  meine  «genen  ottnitioDelleti  und  r>t><H>eUe>i  Aktitilitca.  M 
Uo^  ab  Ton  einer  tfoiahl  von  x,  die  iah  in  j  venrandle. 

Sin  Herknal  dat  Attait  wird  als  gemaiagamaB  fni  nwbnra  Attub 
herrorgeiiobea,  et  wiid  aiui  dirigierondeB  Bament.  Auf  den  frötiena  Ul 
dec  AffinnatioD  (oltf  der  Akt  der  Tiennung  and  DüfereDtüemDg.  D»f 
Wille  bfilt  gewiBBe  Elemente,  welche  sieh  dem  Bewosatsein  iiiiBeotierao, 
fest.  Et  achaSt  doroh  Sabaumptlon  Oidonng  in  die  groBBe  Haue  dar  AtGr- 
inalJonen.  Die  ohankteristlscheii  Merkmale  einer  Qnipp«  werden  in  Kn- 
heifen,  weldie  den  Oraod  fSr  AbstrakUoaen  bilden.  Dia  Form  der  Vtt- 
mittelnne  bei  der  VeraUBemeinemiß  ist  folgende:  Ich  aage  e.  B.,  dav  du 
Heer  nnd  das  Etsat  Ähnlich  sind  mit  Beiiehang  aaf  die  £geD86h«ft  ,grin*. 
I)aa  kteer  sehe  ich,  tu  das  Emut  denke  ioh.  Darob  Tennitt«liuig  der  Kr- 
nnemngsbilder  .Krant"  wird  der  Vergleioli  bergeatallt.  Also  die  Fom 
der  Termitteluog  erscheint  loerst  in  dem  prirnftren  Akt  der  einfacban  Fer- 
leption.  sodann  in  der  Abetraktion  and  Verailgeaieiaening,  sodann  im 
dednktiTen  SjUogiBmas,  sodann  im  lodoktiTen  SjllogJemns.  DemnatA  iit 
die  ganze  Aktion  des  Tarstandes  aiohts  als  eine  Wiederhalong  der  entan 
Art  der  Perzeption,  and  in  dieser  radimenttreD  dialektisoheD  Entwlokeliui; 
ist  das  Oanie  der  fonnBleo  Logik  inbegriffen.  Diese  Dialektik  ist  d«t 
UechapismuB,  daroh  welchen  wir  erkennen.  Der  Wille  bat  aonflohst  ketii 
bestimnites  Ziel.  Letiteres  let  jedooh  impliclte  ip  der  WUtensbewMmnf 
entbatten.  Die  EifCllaDg  der  WiUensbeWBgnng  ist  ein  Fereept  —  verf. 
verlisst  hiermit  das  PsycliologiBcbe  and  wendet  sich  dem  elgsotliob  Utta- 
phjaisohen  za. 

Unter  den  DafioitioDen  der  Sobslani  iit  nach  Verf.  diejenige  dia  n- 
nehmbante,  weldie  unter  ihr  das  Sabstrat  der  BigenHdiatten  venMiL  Du 
OafGU  dea  Beiaadan  iai  ein  letstee  nnd  nunUtolbares  Faktom  daa  Bevnsat- 
seins.  Daa  Seiende  tat  etwas  Notwendigen,  das  einsige  Dni*«fadlt.  Kt 
ist  einsig,  einboh  und  immer  daaselba,  mien<Uioh,  das  PotantieUs  fir  <Ui 
Baella.  Die  wahren  FrSdikate  des  Seienden  finden  aich  in  4er  wn[findandii 
Weit  DsB  wirUieha  Universelle  ist  das  Priua  im  Var^ei^  mit  dem  oni- 
verssUan  Endliohen.  Dagegen  erschaiDt  daa  empfiadande  Cnendlidie  nielit, 
bevor  daa  Godliaha  schon  <U  ist,  nad  zwar  als  OhankteriatikuBi  maiMS  0»- 
dsukans  vom  Endliahen.  Es  kann  objaktiva  WiiUiohkait  baUn,  bmubt 
aber  nicht.  Ee  bildet  das  nnTermeidlioha  Besoltat  des  Zosammeatreff*» 
TOn  Dialektik  und  Materie. 

Das  Endliche  ist  nicht  anr  eine  Reihe  von  gleiohieitig  ezistlarendii 
Baampnnkten.  sondern  eine  Reihe  von  atomischeo  Jstct.  Die  Mögl>iJ>kt>t, 
dass  man  sich  ein  ^orher-Nsehher  vorstellen  kann,  wird  gafteben  dnrdi 
die  Thatssobe  eines  permanenten  KontiDaumB.  Die  Folge  a,  b,  &  welob« 
sioh  —  so  la  sagen  —  über  die  OberQäche  des  permanenten  Sabjekb  ^ 
wegt,  bringt  3  phSnomenologische  Thatsaohen  ins  Bewosatsein:  1.  Dia 
EontinoitSt  dee  Seienden  oder  die  Daner,  ä.  die  Eonttnaitat  der  aoooeasiTeD 
Teile  dee  kontiaalerllchen  Wesens  oder  die  Zeit  Die  Zeit  als  tnbjektiT) 
ErfiÄrang  hat  also  ihre  Worael  In  eineni  doppelten  BeWoBstseln,  In  <1«zk 
BswDBHtsein  der  Kontinuität  des  Seina  des  Ba^)}ekt&  und  der  Bewagnof 
oder  Tetindeniag.  Die  Dtaet  ist  das  konti)iiilerll<Äe  Beiende.  Die  Z«t 
ist  dadoioh  «ne  nnivenrile  Bedlnjong  daa  Bewnssfseiss.    Die  Daosi  •>' 


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Lsnrie,  6.  8.,  MetsphTsica  Von  et  Tetusta.  461 

all  Venn  ebeiiBofat  a  posteriori  wie  t  priori.    Die  Peneptton  bat  n.  a. 
«neh  d»D  liffekt,  aus  sie  deo  Flow  der  Zelt  mhllt:  a  iat  JeteL 

Aosser  dem  Bebt  imd  der  SobstaDi  (riebt  ea  nooh  ein  noHrondlM 
ünItMMHeB  als  Produkt  dw  Sobjekts,  die  Üisaohe.  Daa  kaosale  PlUftat 
UMet  den  Qrond  für  die  ItOguahkrit  Jeder  phknomeoalen  Belhe.  Der 
KaasalneKu  dagegen  Iteibt  gatu  im  Bchosse  der  endliohen  phSnomUialeit 
Reihe. 

tHe  Beaohate,  la  deneo  die  DUlsktik  gelangt,  eiad  bereits  Im  OefBU 
entbaltan.  Aber  die  DialekUh  iat  eine  tTele  BevegiUifCi  welahe  nicht  von 
dan  FhlnomeneD  des  OefShls  geliefert  wird.  Sohoti  du  Her  mit  ednem 
prfaattDUeUeii  Bewassbi^  wird  dazu  getrieben,  nach  A  En  geben  und  nicht 
ssoh  B.  Dies  eatsprloht  dem  Gesetze  des  ansgesdiloGBenen  Dritten  in  der 
DlalektllL  Audt  die  Negation  existiert  s<^on  In  dem  OefflUe  des  s 
•eltfgen  AoBgesohtoBBenstine  TerBohledenei  sensibleT  Objekte.    Der  I 


Uiuohe  hat  an  den  Bedehongen  der  PhanoDieoe  Btln  fUilbar  Entsprwdiendee. 
Die  Dialektik  Bohlieast  nioht  allein  die  nnte  ErU&mng  der  Nabr  in  sich, 
sondern  den  notwendigen  Charakter  der  Natur  als  eoloben. 


Die  Kategorien  Bind  Vertdlgemeineraiigeii  veniddedener  Arten  von 
Fildlkaiea,  Wir  mösseo  sie  gleichzeitig  onter  den  Slementen  a  posteriori 
afld  a  priori  Bnohen.  Das  Intelligible,  das  Nonmenon  ist  ein  anderar  Harne 
für  die  BTothetisohBn  Kategorien  a  priori.    Es  ist  nss  tu  den  Dingen  ge- 

Oniohb  dnroh  die  Dinge.  Duri^  das  Honmenou  emptBngt  die  Intelligent 
t  in  das,  was  in  Wiilliohkelt  da  ist  Die  Kategonen  a  posteriori 
sind  anoh  Produkte  der  Ternnnft,  aber  aur  insofern  als  sie  Arflrmationen 
rind.  Die  Üere  Bind  sich  atluitlviBch  der  Kategorien  a  posteriori  bewnsst, 
aber  sie  Mnnen  nicht  kategorisferon,  weil  sie  nicht  bt^aben  können.  Die 
Kategorien  a  posteriori  bilden  die  Elassifiifenmg  der  empfangenen  Attolts. 
Sie  sind  die  D^'^ersalien  dar  Sinoesdom&nan,  nlmliob  folgende:  1.  Das 
Sein,  8.  die  QaaDÜtAt  im  allgemeinen,  d.  h.  Baam,  Anadehnong,  3.  die 
Qnalit&t  d.  h.  die  qualifizierte  Üoantjat,  dnroh  Figor,  Farbe  nsw.,  4.  Bnhe 
nnd  Bewegung  der  Individnen.  6.  die  Beziehnng  der  ludividoen:  Wo,  wie 
wann?  Bei  tinar  Erklftning  duTcb  diese  Kategorien  a  posteriori  wflide  die 
Natur  nooh  anarchistisch  sein.  Erst  die  Kategorien  a  priori  bringen  Ordnung 
hinein.  Die  Eategorien  a  posteriori  kSnnen  die  srnnma  genera  der  Resep- 
tivittt  genannt  weraen.  Jedes  Direkt  kann  dieselben  liefern.  Die  Kategorien 
a  priori  sind ;  1.  Das  nnlTeraelle  Wesen  als  Orandlage  von  jeder  mSflichen 
BeetimmuDg.  2.  dia  HSgliahkeit,  3.  die  Negation,  4.  der  hinreichende  Orund, 
6.  die  Modalität,  6,  die  Identität,  7.  der  Zweck,  8.  in  diesen  Kategorien 
enthalten  der  iunerische  Nisus  a)  Kausalnexus  und  b)  der  Begriff  der 
Organisatioo. 

In  dem  ikte  der  Peneption  ist  bereits  das  einheitliche  Erfassen  der 
Natur  implioite  enthalten,  deegleioheii  alle  Kategorien  a  priori. 

Erfurt.  OnsaLkn. 

l.MrinoDg.    ÜberÄnnabmen.    Leipzig,  J.  A.  Barth  1902. 
5T  tmd  296  S.     M.  8. 

DasB  es  sieh  hier  nm  die  Arbeit  eines  eigenartigen  Denkers  handelt- 
wird  tnan  bereits  beim  Lesen  der  enten  Paragraphen  fahlen.  HuBOito  be 
iHat  In  ganz  ausaerordentlichen  Hasse  die  Gabe  im  scheinbar  selbstTerstAnd- 
Ud>en  nobleme  zu  sehen  —  und  das  Torliegende  Buoli  legt  davon  du  be- 
Bonders  eindringliches  Zengnls  ab.  Es  handelt  sieh  einfach  um  den  pSTCho- 
jogiaeben  Thatbeetand,  der  den  Jedermann  wohlbekannten  .Annahmen*  zo 


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Oroode  liegt.  Uan  könnte  gaaeigt  uin,  sie  den  Urteilen  EaznroahiiM. 
11.  thnt  das  nioht  and  mit  gutem  Qnuide.  Denn  EWMflriei  tat  fSr  ihn  sun 
Urteil  unbedingt  erforderlich:  zoniolut  eine  bestimmte  Steltdug  innarlialb  dee 
Oegenaatses  von  Ja  and  Nein,  dann  aber  vor  allem  0eberaengnng,  Qlwibeii, 
Wahibeitabewnutsein.  Beides  aoheint  nntartrennlioh  verknOtrft:  dfM  diea 
abet  k^eswegs  der  Fall  an  sein  branoht,  das  bewosen  eben  die  AnntluBea. 
In  der  Tbat  kann  ich  ja  etwas  behaapten  oder  lengnen  and  dabei  4m^  das 
BewuBsta«a  haben,  dasa  ich  es  nnr  .annehme*,  dass  es  also  gana  snnm 
nicht  wahr  ist  Non  kSnot«  man  die  Annahmen  fär  blosse  VontMRun- 
verbindongen  halten;  indes,  man  tOhlt  sogleich,  anoh  das  sind  sia  niät. 
und  ea  spritzt  dafür  □ooh  der  besondere  Umstand,  dass  Annahmen  oegatiT 
sein  können,  nnd  trots  n^ativer  Aasdröcke  wie  .nnklog*,  ,lCesBw  ohne 
Klinge"  u,  s.  w.  dörten  wir  nicht  von  negatiren  VoreteUangan  reden.  Ei 
bleibt  mithin  nur  übrig,  den  Annahmen  eine  Hittelstellong  swindMn  Tor- 
itelluDgen  nnd  urteilen  tuunweisen. 

H.  verfolgt  nun  sein  Problem,  man  mSohte  sagen  dondi  die  gaue 
Psyohologie  bindun^  and  bekommt  so  Oetegenheit,  viele  andere  Tbatatdiu 
von  einem  ganz  oenen  Oeeiohtspunkt  ans  au  sehen.  Besonders  ist  das 
eigenartige  Analogen  mm  Urteilsgegenstande,  das  von  M.  als  Objektiv  be- 
zeichnet  wird,  gewiss  der  Baaohtang  der  Foisoher  wert  Auch  die  Aos- 
fnhrongen  zur  Begehmngs-  and  Wertpeychologie,  in  denen  der  Terl^sser 
■iemlich  ansfQhrUoh  zu  den  EKBxNFELSohen  Ansohanaagen  Stellang  ninunt. 
besitien  eine  weit  über  das  Interesse  am  rorliegenden  Problem  hinausgehende 
Bedeutung. 

Eines  iiioss  nooh  hervorgehoben  werden;  Oft  wird  fär  denjenigen, 
der  M.'b  Oedankengttngen  femer  steht,  eine  grondliohere  Vertnotheit  mit 
ihnen  voraasgesetzt  us  innftohst  angeht,  und  oft  sogar  mehr  als  Uoss 
dies;  so  z.  B.  wenn  gesagt  wird,  es  sei  dnnih  Witjlsik  endgültig  die 
Meiunug  widerlegt,  dsss  das  Wesen  der  EinfüblnQg  in  aktuellen  Oerahltn 
Uge:  das  wird  aber  doch  zam  sllermindesten  nur  filr  den  Qeltnng  hftbsB, 
der  überhaupt  vorgestellte  Gefühle  annimmt.  Und  nooh  mne  Be- 
merkung mag  znm  Schlosse  gestattet  sein.  Wlre  es  nioht  zweckmlasig,  die 
Ueberzeogtheit  als  Urteilscharakter  ütierhaapt  fallen  za  lassen  und  statt 
dessen  müa  die  Eigentämhchkeit  der  binären  Zaordnnng  oder  Qliederung 
in  den  Vordererood  zu  rücken?  Dann  liesseu  sich  die  Ann^imen  ange- 
zwangen  den  Urteilen  subsumieren,  nnd  überdies  wäre  die  Adiqu^eit  von 
Satz  nnd  Urteil  beeonders  einleaohtend  gemacht.  Damit  soll  natüiüch  am 
allerwenigsten  die  Eigenart  der  Annahm ethatsache  verkannt  werden,  aber 
gerade  dese  Eigeaart  scheint  für  eine  solche  AuSssaaug  des  Urteüa 
zu  spieahen. 

Leipzig.  Paul  Linkb. 

E.  Hartbude.  Psychologische  Untersuchungen  zur 
Bedeutuiigslehre.  Leipzig,  J.  A.  Barth,  1901.  VI  und 
98  S.  3  M. 

Die  Bemasiologie  oder  Wortbedentangslehte  ist  keine  neue  Wissan- 
Bohan,  neu  aber  ist  der  hier  gemaohte  Tersuoh  ihrer  genaueren  p^i^o- 
lopschen  Begründung.  So  wendet  aioh  denn  die  vorliegende  Sohrift  gewiss 
hnoh  an  den  Linguisten,  aber  doch  in  erster  linie  an  den  Psydiologan 
Denn  das  Wortbedeatangsproblem  ist  eben  nur  der  SpaiialCall  eines  aooh 
sonst  bekannten  pevidiologisohen  Problems:  des  Problems  des  .Meineni". 
Denke  ich  an  die  Bmpfindang  süss,  so  meine  ich  nicht  den  mir  dabei  vor- 


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E.  Uartiiutk,  Fsrohologisobe  unten,  z.  BedeattmgBlahre.         463 

•ohwebendan  TonWllanpinlult,  aondeni  eban  die  Empfindang  salbet, 
der  YoratoUnngBinlult  ist  nur  Zelohen  föi  die  Gmpfiudiuig  and  anoh  du 
Wort  rB&BB"  ist  an  aoldies  Zeichen. 

Oui  aU^eiD«B  onteiBcheidet  H.  lealee  Bedeaten,  das  niohts  anderes 
snadrfiolt  ala  die  Beziehiuig  vom  Ornnde  lor  Folfce  —  der  rasoh  imkeiide 
Lnftdniok  .bedeutet"  Btnnn  —■  und  findes  (fdr  die  Spruhlehie  fkat  ana- 
BohliBBiliah  in  Vngfi  kommendes)  Bedentüi:  Der  ZuofaengebeT  will  im 
Empflager  eine  beetinunte  Absiolit  etreiohen  und  hienn  ist  ihm  das  Haupt- 
mittel  dn  Zetohen.  Und  wie  ist  Zeichen  und  BodeotnDg  verkniiptt?  Doroh 
VentelloiigsaaaotuttioiiT  Aber  das  triSt  nur  ecbeinbar  sn.  In  Wahdieit 
handelt  es  sich  om  Verknäpfon^  von  ToisteUnug  (dee  ZeioheoB)  und  Urteil : 
erst  durch  üebnng  wird  die  aktiTs  Urtsilstfaitigkeit  allrolblioh  meobantaiert: 
ea  entsteht  blosBe  TonteUnngBaBWciatioD,  die  doh  dann  sogar  (wenn  ich 
E.  B.  jahrelang  ein  Wort  in  falscher  BedeatnDg  gebranoht  habe)  neben 
der  UrtMkassodation  —  also  trotz  besseren  Wissens  —  bemerkbar  machen 
kann.  Dieser  Gedanke,  dar  sich  an  Aosfährnngen  von  HoEFLaa  and  be- 
sonders von  Wiuaix  ansohliesst,  dür^  der  beaohtenswerteete  ontei  den 
vielen  beachtenswerten  Qedanken  des  klar  und  anregend  geechriebenen 
Bflohieins  sein. 

£b  sei  noch  bemerkt,  dsss  wertvolle  ErgÜniODgen  inr  vorliegenden 
BohriR  sich  im  zweiten  Kapitel  der  vorstehend  besprochenen  Hsnioiw- 
sohen  .Annahmen"  finden. 

Leipiig.  Paul  Links. 

Boyee,  Joafftb,  Professor  of  the  History  of  PhUosophy  in 
Harvard  Univeraity.  The  World  and  the  IndividuaL 
Gifford  Lectures  Delivered  before  the  University  of  Aber- 
deen.  Second  Series:  Nature,  Man,  And  The  Moral 
Order.  New  York,  The  Macmillan  Company.  1901. 
(XX,  480). 

Im  ersten  Bande  des  Werkes  hatte  Verfasser  den  Begriff  des  Seins 
erörtert  (vgl.  meine  Rezension  in  dieser  Zeitschrift  XXY,  3j.  Ton  seinem 
dort  gewonnenen  Standpunkt  ans  bandelt  E.  nunmehr  in  diesem 
xweiten  Teile  verschiedene  SünselproblBme  ab  onter  den  Uebersobriften; 
1.  The  Recognition  of  Facta,  2.  The  Liokage  of  Tsots,  3.  Iba  Tempora 
and  the  Btemal,  4.  Physical  and  Social  Realitj,  6.  The  Interpretation  oF 
Natnre,  6.  The  Human  Seif,  T.  The  Place  of  tbe  Seif  in  Being,  8.  The 
Moral  Order,  9.  The  Strug^e  with  Evil,  10.  The  Union  of  Ood  and  Man. 
Zonicbst  nntersnoht  der  Autor,  welches  die  weeentlichen  Züge  der 
Welt  seien,  die  wir  als  Natar  (world  of  deeoription)  auffassen.  Solohe 
seien  ee,  <Ue  eistohtlidi  nicht  das  innerste  Wesen  der  Dinge  aosdräoken 
könoteü.  Der  wii^tigste  Zng  sei  der,  dass  wir  den  Objekten  der  Nator, 
d.  L  den  OegenBttnden  unserer  möglichen  Aufmerksamkeit,  invariabelo 
Oesatie  lOBchriebeu.  Woher  das?  In  aller  Erfabnmg  sei  onser  Inter- 
esse darauf  gerichtet,  Thatsachen  als  gleich  oder  verscbieden  zu  betrachten. 
Wir  unterschieden  aber  die  Dinge  in  zweierlei  Weise,  einmal  so,  daas  wir 
durch  nnonterbroohene  Zwisohengtieder  von  dem  einen  zum  anderen  über- 
gingen, zweitens  so,  dass  wir  sie  als  disitrete  vrahlgaordnete  IndividnalitAten 
ansprSchen,  ähnlich  der  wohlgeordneten  Reihe  ganzar  Zahlen.  In  der  ersten 
Weise  dar  Betrachtung  habe  kein  Glied  ein  nüchstas,  in  der  zweiten  habe 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


464  HerlBftia  Bohwari: 

iadM  Qlbd  ein  nidist«.  K«  Kaga  A  Matnr  befnoUn  b^sM  m»  m  4at 
«ntM  T<lM  b«MaUui.  Nahir  tti  aln  8|ataa^  im  hm  mUImw  IWkM 
bastahs  mit  QUedun,  dio  dor^  tMuoad  DeUigh^*  «Mig  vattotpft  MiM. 
Dia  MataiCMMtM  Boan  dia  nwimbtfe»' 0 M atii,  in  daovi  aiab  die  Hö^- 
lialilrüt  ewiiiiiiilin.  die  Oliadar  äfaiid  tinai  diasar  irtatigen  Baikai  in  du 
von  Mdäm  ■»  tnuforaiiaraa.  Solohe  Art  der  AnBwinng  tühn  n  <ian 
Oednken  der  Natur  bU  cdner  ,Welt  der  Beaahreibang". 

1 
Dtuge. 


ffHadeit  in  «inaader  «ber,  aaiidan  Üben  riik  mes  aiaudar  ata  dUiata 
Kolieltsn  nb,  ale  Stnlton,  is  denen  aleh  jaNa  iofifiduUMi  Übet  innar  na« 
nd  nnwiedarhilhar  aomitgtan.  Ton  ebam  Akt«  aahreite  daa  nuwHBaHM 
n  einem  niehsten  AMa  fort  n.  >.  w.  Di«  Seit,  Hefait  B.  im  AM^n«e 
hieran,  sei  Mrnden  die  n>rm  aotober  prektiaelian  Akti*itit  Owinar 
Mi  sie  die  Form  der  AUfiUt  des  aadlidian  nnerfSUtam  trUlena,  dw  bn- 
Htladig  des  ,noeh  nieht''  (not  jret)  bewnMt  aai.  Daa  gOttÜaha  DiPiiuataMn 
sei  von  uderer  Form.  Dun  Bai  die  Kanie  nnendHooe  c^tli<die  Anfain- 
nndarfolge  de*  Weitgeeohriwns  in  eiuem  Akte  gegenwärtig,  ao  wie 
anob  tuuaram  Bewoa^eiii,  frailioh  nur  in  kfineÄan  Spannu,  laitliali* 
Anfeiiuuid  erfolgen  (i.  B.  der  Töne  eines  Rhjthmns)  geganwftrtig  sein  könnan 
(nKmlioh  im  rhvtluniBalien  OuEen).  Jene  Gegenwart  der  gansen  Zeitrmhe 
in  einem  gOttliohen  Denkftkte  heiBse  .Ewigkeit*. 

Han  könne  eich  anofa  noch  anderaa  endlioluB  Bawnaataein  ala  dae 
imBero  denken,  aolohee,  deBsen  Akte  nioht  Seknadan,  sondern  nu^etch 
längere  Zeltrftnme,  vielleiobt  JehnnlJlJonen,  nmfbnntnn  Dnioh  diesen  Oa- 
duken  deutet  eioh  B.  die  onoigsnisohe  Natu;  LetitOFa  sei  daa  Baioh  der 
mir  und  meinen  UitmeosoheD  gem«Diamen  EtfihnuiKen.  Sie  Urnen 
ans  nioht  so  ertr  dondi  BiDnllöne,  ab  dorch  aoiiala  Notwendi^M  snm 
Erleben.  Unsere  sotialen  Oewohnhelten  und  Kaditionen  bombten  ja  anf 
der  Annahme  einer  invariabeln  Oleichmlseigkeit  der  Dinge.  Eben  dämm 
hielten  wir  letzteie  Annahme  eo  gern  and  eohnaü  bereit;  nudtt  minder  awdi 
dämm,  weil  nnser  begrifflidieB  Denken  mit  detaelban  eifolgreiioh  geong 
duobkomme.  Allein  ea  könne  sein,  daes  den  Nataigeaeti«!  keine  abaolato 
Innrlabilitit  inkomme.  Die  Nator  erlaube  iwar  genannte,  vnaerer  Daeik* 
gawobnheit  entgegwkommmde  Anffimmag.  Sie  «rhabe  eie  ebenso,  wie  aia 
nneeren  leibltohen  BedSifmaew  mit  atloriei  Vonttten  an  Kohlen,  Bols,  Kalmn^ 
n.  B.  w.  entgegenkomme.  Indanen  dämm  in  Bohlieseen,  die  Natnr  sei 
eine  invariabele  Geaetdiobksit,  wkre  ebenso  Abereilt,  wie  wenn  man  schUaae, 
sie  eei  in  ihrem  tetiteo  Wesen  ein  Warenhsos  für  nnaai«  prahtiaafaen  &•- 
dirfniase. 

0«unereB  Stadium  seige  vielmeh^  daBB  swisohen  den  oiiaaisiAeii 
and  den  anorganischen  Proieasen  der  Hatnt  manoheriai  AetantialikaMaB 
Btattflbden.  Diese  (Ekitropie!)  wie  jene  vertief«!  in  ni<it  oinkekrtaraa 
Beihen.  Ferner  die  anbelebten  Dinge  (z.  B.  Aetherwallen)  ambtaa  aioh 
ihrm  Nacdkbam  anin^eiohen,  wie  die  ZnatOnde  des  Bewaastseins.  Indüoli 
den  festen  Terbahnngaweisen  in  der  nnorganisehen  Hatnr  eatspAahan  die 
Gewohnheiten  bei  Lebeweseii.  Die  Nataigeaetia  köantn  fcisfBaalt  aahr 
w<dil  ein  nnr  aehr  langfristiger  BbyttimtiB  des  KatnigeaohaliSBB  sein,  das 
eobHeselieh  doch  eiiwa  andwra  wiche.  Mit  einsm  Wort^  die  UMMiaBha 
Natnr  könnte  der  Oedanhen>  tmd  Wülenaaoadraok  aineB  boaaeltsa  waaaas 
sein,  deaaen  BewnatsainsiAte  unr  in  nnvei^ehlidi  Uagaiar  Zeit  ala  nmwn 


iM,Coo<^lc 


Boyce,  Joaiah,  Tb«  World  and  the  Indmdual.  405 

weobselten.  Dunit  üeeseo  sich  auch  die  diffaieateD  Batwiokelnagsreiheii 
der  oTgauisohen  Wesen  Tsretehen.  Seien  wir  doch  «lleMmt  abbäogig  von 
der  Natur,  d.  h.  in  du  Leban  der  Natnr  eiogeBobloesen.  Nicbts  hindere 
tlao  die  AnnKlime,  dua  innerhalb  diwea  grosaen  omfaBeeuden  Seibat 
irgandwaDn  unaer  eigaiies,  irgendwann  vorher  das  Selbst  der  anderen  Oe- 
adtopfe  entspningeii  sei.  Aof  solohee  Eingebettetaein  nnseres  Beibat  in  das 
höhere  der  Natur  deute  auoh  der  Umstand,  dass  mehrere  Menachea  Iden- 
tJBohee  erleben  können.  Oenaner  wurde  man  sieh  nach  Hotce  eu  denken 
haben,  ia  das  Selbst  der  Natnr  sei  mit  dem  Beibat  anderer  tierischer  Oattnngen 
»noh  das  Belbst  der  mensabtiohen  Baase  und  erst  in  letiterea  die  Selbstheit 
der  vielen  eimelnen  mensoblioben  Individuen  verwobeo. 

Wie  wir  unseres  Selbst  etet  nach  der  Erfahrung  vom  Selbst  anderer 
bewnast  worden,  so  hingen  überhaupt  alle  endlichen  Seibert  gegenseitig  von 
einander  ab.  Sie  alle  zusammen  seien  aber  besohlossen  im  Selbst  Oottea, 
der  die  ewige  Erfüllung  des  wahren,  ethisoheu  Selbst  eines  jeden 
sei,  und  deeseu  eigene  Eatwickelong,  ohne  dass  er  die  Znkanlt  vorber 
wttsate,  durch  das  Leben  der  endliohen  Seihst  hindorohgeiie,  ja  deren  Leben 
sei.  Aut  diese  Weise  werde  trot^  der  Abhängigkeit  der  endlichen  Selbst 
von  einander  und  von  Qott  freier  Wille  der  Heosohen,  dadurch  Schuld  und 
Debel  in  der  Welt,  aber  auoh  der  Kampf  dagegen  möglich. 

Han  sieht,  es  aind  originelle  and  kühne,  mauolünal  gewagte  Ideen, 
die  der  Terfaeser  entwickelt  Beachtenswert  erscheinen  (net>en  aeioer  all- 
gemdnen  Theorie  des  Beins)  vor  allem  die  Reflexionen  aber  Wesen  Tind 
Oeaetzlichkeit  der  unorganisdien  Natnr.  lu  den  Ansfiihnmgea  über  freien 
Willen,  Schuld  und  üebel  zeigt  K.  sich  energisch  bemüht,  sein  BTstem  aus 
der  Nähe  fatalisüsoher  Weltacsohanangen  wegzarücken.  Hier  häufen  sieh 
ihm  freilich  nach  dem  Gindracb  des  Referenten  die  Schwierigkeiten  sehr. 
Auf  alle  Fälle  bietet  der  anregende  anierikantsche  Autor  in  seinem  Werke 
«twas,  was  in  Deutaohlaod  selten  geworden  ist:  eine  tiefstrebende  Meta- 
physik mit  weiten  Perspektiven,  ihr  Stndinm  wird  deoeo,  die  in  den 
grossen  und  letzen  rragen  nach  FOrdening  begehren,  vielfältige  Klärung, 
jedenfalls  reichste  Anregung  bringen. 

Halle  a.  B.  Hebuikh  Schwarz. 

SiUBel,  Bertrkfld,  Fellow  of  Trinity  College.  Cambridge. 
A  Critical  Exposition  of  the  Philosophy  of  Leibniz 
witli  an  Appendix  of  Leading  Passages.  (XVIII,  311  S,) 
Cambridge,  At  the  University  Press.  1900. 

Der  Verfasser  stellt  das  System  LEiBKtz'  zwar  anter  genaaer  Be- 
rückaiohtigang  der  historischen  Znsammenhänge  dar.  Aber  er  Uiut  es  nicht 
80  sehr  vom  Standpunkt  des  Historikers,  dem  die  Frage  im  Vordergrande 
ateht,  .wie  sind  die  Gedanken  meiues  Autors  entstanden?";  sondern  er 
will  als  kritischer  Philosoph  doo  Inhalt  des  Systems  auf  seine  Wahrheit 
prfifen:  er  will  Klarheit  über  den  wissenacboftlioben  Wert  der  dai^eatellten 
Gedankengänge  erlangen  und  verbreiten.  Unter  den  vielen  lichtvollen 
Anaführungen  sei  vor  allem  auf  den  Nachweis  aufmerksam  gemacht^  wie 
sich  LciB.-nz'  leitende  Qedanken  aus  seinen  Annahmen  über  das  logische 
Wesen  der  Aassagen  entwiokeln.  Alle  Aussagen  haben  nach  Iaibnce  (nnd 
nicht  nnr  nach  Leibnizj  die  Subjekt-Prädikat  form.  Räumliche  Aoaaagen 
I.  B.  gehen  nun  aber  nicht  in  diese  ein-,  daher  das  Bemühen  LEmmz',  den 
Banmbegriff  zu  subjekti vieren.     Iaibhiz   kannte  sodann   die  ayntheasobe 

TlMMUahnKhrUl  t  «liwiiHluini.  PtaUoi.  n.  BodoL    XSVIL    4.  30 


iM,Coo<^lc 


466  Dt.  3.  Sohnltit 

Natur  dar  TbatsacheuanBSagsD ;  diese  seieu  dunsh  den  Satz  vom  zoreiahendai 
Grande,  d.  i.  daroh  du  Prioiip  von  der  Wahl  des  Besten  (E^nalnraadifl) 
bestimmt  Femei  and  vor  aUem  ergebe  Bich  LiiBiaE'  monadistisolier  Sah- 
atanibegriff  aas  seinen  logischen  tVämissen.  SabstAnz  aei  das  in  der  Zeit 
behanenda  Snbjefet;  in  dem  Begriffe  diesee  Subjektes  seien  alle  in  der  Zeit- 
reihe an  ilun  anftretenden  Pr&dikate  analytJsoh  enthalten.  Damm  könnten 
die  letzteren  nicht  von  ansäen  her  in  die  Monade  hineingesetzt  worden  sein, 
sondern  mnssten  sich  aas  ihr  selbst  entwickeln:  die  Unabhängigkeit  der 
Uonaden  von  einander.  Diese  fundamentalen  Qesichtspnnkte  setze  Lsmoz 
im  Discoon  de  H6thaphysiqae  und  in  den  Briefen  an  Abhaüld  anseinuider. 
Hier  li^^  also  der  Sonlüssel  seines  Systems;  die  Monadologie  sei  davon  nw 
abgeleitet  Ebenso  scharhinnig  fasst  Rcbsbl  die  übrigen  Theniate  der 
Ixcmnz'schen  Philosophie  an.  Ich  nenne  die  Kapitel  ,the  Anilysis  of  Ex- 
tension; the  Labyiinu  of  the  Continniun,  tbe  Tbeory  of  Space  and  13n»*. 
A.nch  hier  ist  überall  das  saohliohe  Interesse  in  den  Tordei^rnDd  geetallL 
Alles  klar,  anregend,  lehrreich.  Enrz,  das  Bnoh  erreicht  seinen  Zweck, 
den  Leser  so  zu  leiten,  dasa  er  nicht  nur  in  Leibniz'  Oodanken,  aondem 
za  allen  ähnlicher  Oeistesart  (z.  B.  denen  Lotze's)  Stellung  zn  nehmen 
vermag.    Bo  darf  auob  dies  Bnch  bestens  empfohlen  werden. 

Der  Anhang  (S.  203— 306]  bringt  zahlieiohe  aosföhriiche  Bein- 
stellen aus  den  verschiedensten  Schriften  LeiBNiz'.  Wer  eine  Gesamtansgabe 
derselben  nicht  besitzt,  dem  kann  dieser  Anhang  schon  für  sich  selbst  Mue 
erste  vori&nfige  Einführung  in  das  System  Lbibniz'  bieten. 

Halle  a.  S.  Hbbmank  Schwabs. 

W.  Freytag.  Der  Realismus  und  das  Transzendenz- 
problem.  Versuch  einer  Grundlegung  der  Logik. 
HaUe,  Niemeyer,  1902,  (164  S.) 

Der  Verfasser  mischte  von  der  iMffk  aus  den  Realismus  als  die 

vemSnftigBte  Philosophie  erweisen. 

Der  immanente  Wahrheitsbegriff  genügt  nicht;  an  einem  Gegenstande 
will  das  Urteil  gemessen  werden  (vgl.  B.  118—130).  Richtig!  aber  danns 
folgt  gegen  den  Idealismus  nicht  dss  Mindeste;  denn  Gegenst&nde  in  irgend 
einem  Sinne  erkennt  ja  jeder  an.  Dass  die  ganze  Welt  als  Bewussteeins- 
inhalt  .gegeben"  ist,  weiss  natürlich  anch  der  Yeröisser  (S.  130);  wie  onn 
ans  den  psychischen  Elementen  der  Kosmos  mit  seinem  Oegansatx  von 
.Dranssen"  nnd  „Drinnen"  sich  erbaut,  das  interessiert  den  Idealisten,  hänge 
er  Kant  oder  Eüue  oder  wem  sonst  an;  den  Verfasser  interessiert  ea  niciit, 
aber  deshalb  dürfte  er  seinen  Gegnern  doch  nicht  in  die  Schnhe  schietwn, 
dass  sie  anssenweltlos  herumliefen.  Das  thut  er  indessen.  Er  schliesst 
nttmltch  80;  Alle  Indoktion  gründet  sich  auf  das  Prinrip  von  der  Begel- 
mäasigkeit  des  Geschehens;  dasselbe  hat  Sinn  und  Gewissheit  nor,  aof^ 
eine  erkennbare  Aoseenwelt  angenommen  wird  (S,  13,167  f.);  wer  demnach 
überhaupt  induzieren  will,  moss  erkenntnistheo  retisch  er  „Realist"  werden. 
Aber  wann  hat  denn  jemand  behauptet,  die  Existenz  der  empirisohen  Natnr 
B«  minder  objektiv  ^b  die  Gültigkeit  des  Indoktionsschlusses?  Kaut  trifft 
der  Pfeil  BCbon  gar  nicht;  der  bezog  ja  sämtliche  Denkfonnen  anasdilieeslich 
aat  die  „Erfabrong.*  Damit  die  Argomente  des  Verfassers  einen  Idealisteo 
widerlegten,  müsste  dieser  eine  Welt  lehren,  wo  alle  „pejobisohen  labalte' 
chaotjsch  dnrchebander  lägen:  Liebesgedanken,  Biatwüiste,  Axiome,  Ton- 
leitern n.  s.  w.  in  wirrer  Reihe.  Aber  die  Empfindangskomplexe  sind  nns 
ja   bloss  das  primitive  „Datum' j   wir  kommen   von  innen   ans   in   einer 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^le 


Vf.  Fieitag,  Dei  fiealiemus  imd  das  TranBEendeDEproblem.       467 

aAneBenwelt*,  in  dar  sicbs  indozieren  Ifisut,  bo  gatwie  in  der  des  BealiBten. 
Und  sie  ist  uoa  kein  llnombild,  an  dem  wir  .zweifeln"  (8.  13).  „Fbänomen'' 
ist  ans  gldohbedentend  mit  „empirisoher  Wirklichlieit*;  wir  wollen  mit  dem 
Tidbob  missdeuMen  Aosdrack  doch  lediglich  sagen,  dus  gegenäbei  dem 
Tinmittelbar  Gegebenen  die  SiDneoTelt  aiB  aolche  dot  eine  Keäitit  zweiten 
Banges  besitze;  ^  BabBtrat  aber  der  logiaoheii  Operationen  nnd  der  Natur- 
wiaeensab&ft  bleibt  Natur  Natur,  ob  wir  sie  fär  transzendent  oder  ffir 
phinomenal  halten:  trotz  8.  29,34  etc.  moss  die  BeUngloeigkeit  des 
erkenntnisUieoretiscüen  Standpankts  für  die  Basis  der  Denklebre  weiter  be- 
hauptet werden. 

Alles  Gegebene  ist  zunfiohst  .psychischer  Inhalt";  also  sut^ekttv. 
Das  „also"  leognet  der  Verfasser  (8.  130  f.),  indem  er  offenkundig  das 
„Subjekt*  im  8iiine  Eakts  mit  „EmzelperBöniiohkeit''  verweoheelt.  Dase 
Aber  jener  Tordetsats  zu  der  an  Edoh  schon  „idealistischen"  Frage  zwingt: 
wie  wir  vom  Subjektiven  aofe  Objektive  übergehen;  mitbin  irgendeine  der 
sablreictiett  ,idealutieohen"  Antworten  heraosfordert:  das  entgeht  ihm;  dafür 
widerlegt  er  sorgfiUtigst  (S.  34  S.,  96  S.)  ein  paar  ScheinbeweiBe  gegen  den 
Realismus,  die  neilich  nichts  ausgeben.  —  Das  Regelmässigkeitsprinzip  moss 
er  aposteriori  begründen;  denn  wäre  es  apriori,  so  könnte  er  den  weiteren 
Konseqaenzen  EÄnts  sich  nioht  entziehen;  aber  die  Widerlegung  seiner 
apriorischen  Natur  (ß.  8j  macht  er  sich  aUznleicht  Er  liebt  überhaapt  das 
Einrennen  offener  Tburen  und  das  Umgehen  der  eigentlichen  B^istiooen, 
Elr  k&mpFt  anoh  altzngeme  mit  Denteragonisten:  möchten  die  Gegner  dritten 
bis  sechsten  Sanges,  mit  denen  er  sich  henunBchlägt,  auch  sämtlich  gegen 
ibn  Unrecht  haben:  die  Festong  des  Idealismus  bliebe  stehen,  wie  sie  etuid. 

Und  all  das  ist  schade,  denn  das  Buch  ist  sehr  fleissig  gearbeitet 
nnd  im  einzelnen  nicht  ohne  ScharfBinn.  Anoh  die  Darstellong  fesselt 
anfaoBS,  nachher  erlahmt  ^e  an  der  innerlicheD  Hoffnungslodgkeit  der  ganzen 
Aollgaoe. 

Berlin.  Dr.  J.  Bchoiw. 

Jollns  TOD  Ollrler.  Was  ist  Baum,  Zeit,  Bewegung, 
Masse?  Was  ist  die  Erscheinungswelt?  2.  Aufl. 
München,  Finaterlin,  1902,  (Vm  und  163  S.). 

Vf.  ist  anergetischer  Atomist  Masse  eines  Atoms  ist  ihm  nichts  als 
die  Summe  der  anf  dieses  Atom  geriobteten  Anziehongeo  („Quantität 
latenter  kosmisoher  Kraft",  8.  83).  Damit  zerflieest  die  Materie 
in  Energie;  gut!  non  aber  kommt  die  Hanptsohwierigkeit  Jeder  energetischen 
Lehre:  wie  setzt  man  die  Ene^eFonnen  in  einander  um?  Dass  „freie 
Eiütt"  zu  Wärme  etc.  wird  (8.  53],  wissen  wir  zwar;  aber  es  bleibt  sohlecht- 
hin  unbegreiflich,  SO  lange  den  Hsssenteilchen  Gepnlsion  abgeht;  und  von 
dieser  macht  Vf.  nirgends  Gebrauch:  seltsame  Umkebmng  der  alten,  ewig 
eitlen  Mähen,  die  Gravitation  auf  Druck  oder  Btoss  zurückzufahren  I  Die 
Unsicherheit  in  der  Behandlung  der  ÄtherweUenlehre  (S.  12S.,  97)  hängt 
unmittelbar  mit  jener  einseitigen  Hasse ndeSnition  zosamjuen. 

Ein  „Mqor  a,  D."  den  die  Leidenschaft  zur  Wahrheit  tief  in  Pbjsik 
nnd  Naturphilosophie  treibt,  der  die  Grundlagen  der  Mechanik  selbständig 
durcharbeitet,  den  auch  die  mathematische  Sprache  der  Fachleute  nicht 
unbedingt  zurückschreckte,  ist  gewiss  eine  seltene  nnd  Hochachtung 
heischende  Persänlichkeit;  und  das  Persönliche  interessiert  denn  anoh  in 
seiner  Schrift  am  meisten.  Zu  einem  klaren  erkenntnistbeoretisohen  Stand- 
punkte ist  er  so' wenig  gelangt,  dass  eine  Besprechung  seiner  „philosophischen" 


iM,Coo<^lc 


468  A-  DängOB: 

BeBoltate  aioh  aiolit  lohnt.  Im  ethischen  AnbAnge  dagSKen  steht  mMieheB 
Originelle.  Dar  Tf.  ist  n.  a.  tapfer  genug,  mitten  in  nnaaier  demokratiBcben 
Zeit  sioh  gegenüber  nnseier  nnheimlioben  und  ihiltnrbedrohenden  B«- 
TölkaroofjBEmi^nie  als  Jäoger  des  veisUindigen,  altao  ICalthns  la  bekenoeB. 

Berlin.  Dr,  Jcurs  Schultz. 

Behnppe,  Wilhelm,  Der  Zusammenhang  von  Leib  und 
Seele.  Das  Gnindproblem  der  Psychologie.  Wiesbaden, 
J.  F.  Bkeqmaum,  1902.     67  S. 

Das  Babjekt  besteht  nur  in  dem  Bioh  seiner  bewnsst  sein.  Dahar 
Verf.  die  "Wörter  Ich  nnd  Bewnastaam  völlig  promiseae  gebraucht  (8.  Sbf. 
Als  primärer  BewosstseinsiDhalt  gilt  die  eigene  kompakte  Ansgedehnthatt 
oder  die  eigene  Baamerfätlane  (S.  36).  Der  lebeodige  Leib  mit  alleo 
seinen  Oeaehehnissen  in  seineo  l^ilen  nnd  das  luh  sind  dasselbe,  indem  das 
Ich.  sich  anmittelbar  als  diese  bestimmte  Raamerfüllntig  weiss  (S.  40). 
Das  Ich  könnte  sich  nicht  als  Ansgedehntas  finden,  wenn  es  nicht  wirklidi 
ausgedehnt  wäre  (3.  49).  Ich  sebe  and  höre,  weil  ich  mein  Auge  und 
mein  Ohr  bin  \ß.  66).  Mein  motorischer  Nerv  will,  weil  ich  will,  weil  ich 
dieser  motorische  Nerv  bin  (8.  80).  Somit  ist  das  ßeheimuis  des  ZosanunaD' 
hanp  zwischeu  Leib  und  Seele  zoniükgeführt  snf  die  Ürthstsache,  dass 
das  loh  sich  als  ein  iftnmlioh  Ausgedehntes  beiw.  als  einen  Leib  flndat 
nnd  wriss  (S.  61). 

Hom  bei  Detmold.  A.  DtliraES. 

V.  Wnndta  PhiloBophie  und  Fsjchologie.  In  ihren 
Grundlehren  dargestellt  von  Dr.  Rddou  Eislbb.  Leipzig. 
Job.  Aubbobics  Babth.     IV  und  210  S. 

Das  Buch  ist  für  den  berechnet,  der  Wdndts  Lehren  kennen  lemaii 
will,  ohne  an  der  Quelle  schöpfen  tu  können;  in  zweiter  Unie  soll  es  cor 
G^&nzung  des  Btodioms  der  Schriften  WcKins  oder  zur  Torber^tnog 
darauf  dienen.  Es  werden  nach  einander  behandelt  Psychologie,  Eikanotnis- 
lebre  und  Metaphysik,  stets  in  engem  AnsohLnsse  an  die  Originaldantellnng 
und  mit  Hinweisen  zum  Zwecke  eingehenderen  Stadioms.  Dazu  regt 
EiSTjBS  Buch  vor  allem  an.  Natürlich  ist  manches  recht  kurz  behandalt 
Thataaohe  ist  vielfach  an  Thatsaohe  gereiht,  wo  der  aufmerksame  LaMr 
Oenaueres  zu  erfahren  wünsoht,  teils  wettere  Ausführung,  teils  Begrämdoiig, 
namentlich  in  der  Metaphysik.  Das  tritt  besonders  da  hervor,  wo  die 
—  übrigens  sparsam  geübte  —  Kritik  einsetzt.  Das  CntorsoheideDde  gegen- 
äbei  den  Lebten  anderer  Philosophen  wiid  atüuni  betent,  besonden  wn- 
gehend  ist  die  Auseinandersetzung  mit  E«nt. 

Eingerahmt  wird  die  Darlegong  der  Lehron  Wuntits  durch  ein- 
leitende Bemerkangen  über  Aofgaben  and  Methode  der  Philosophie  über- 
haupt and  durch  eine  Zusammenfassung  am  Sohlusse.  Wahrend  die  Ein- 
leitung von  dem  Gedanken  aasgeht,  dass  Eakts  Temonftkritik  nach  W^er- 
biidang  verlangt,  und  dass  Kritizismus  mehr  sein  mnss,  als  kritikloses  An- 
lehnen an  Kant,  zeigt  die  Schlussziisammenfassung,  dass  Wusdis  sx^to, 
wissenschaftliche  Philosophie  als  wirklicher  Fortschritt  befrachtet  werden  mnss, 

Leipzig.  W.  P.  3chüiu.nk, 


iM,Coo<^lc 


W.  Schoppe,  Der  Zusammenbang  von  Leib  und  Saele.  469 

Talenttaier,   Theodor,    Immahubl   Kants  Kritik    der 

reinen  Vernunft.     8.  revidierte  Au0age.  37,  Band  der 

Klrchmannschen  Philosophischen  Bibliothek.  Leipzig  1901 
DuBEB.     XX  u.  769  S.  4  M. 

Der  neue  Verleger  der  .Philosophisohen  Bibliothelc  ist  bemüht,  die 
einzelnen  Bände  nach  änsierei  Oeatalt  wie  aneh  nacb.  innerem  Geholte 
wertrollor  zn  gestalten.  Dieses  Beatieben  ist  nun  auoh  der  Kritik  der 
reinen  Vemanft  za  Gate  fekommen. 

Die  Eirchmannsohe  Edition  war,  wie  die  Vorrede  zugiebt,  der  Ver- 
bessernng  anaserordentlicL  bedürftig  nnd  damit  erledigt  sich  anoh  die 
Bechtfertigung  nnd  qoasi  Entsohnliugiing,  die  der  HeraaBgeber  Tbsodor 
TALsimMEB  dem  Bndie  Toranssohickt.  Leider  ist  für  die  ersten  Bogen 
die  alte  Anagabe  als  Mannakript  betrachtet  worden  nnd  erst  später  konnte 
Yu.ermssR  aosgiebiger  die  Toriiandene  Literatur  benntzen  nnd  vergleioben. 
Der  Text  schlJesst  sich  wie  früher  an  EiRRTeNSTEn  an,  geht  also  von  der 
2.  Anfiage  ans.  Der  Abdrnck,  den  ich  mit  dem  Original  von  1787  ver- 
gleichen konnte,  ist  korrekter  geworden,  eine  nochmalige  Bevision  ist  aber 
dnichaos  notwendig,  da  immer  noch  störende  Fehler  und  üngenauigkeitea 
sich  finden.  Die  Emendationen  der  veisohiedensten  Art  sind  meistens  in 
den  TcTt  aufgenommen  worden,  ein  Verfahren,  das  sich  vielleicht  recht- 
fertigen lisst,  wenn  man  bedenkt,  dsaa  die  „Philosophische  Bibliothek" 
flixem  weiteren  Leserkreise  dienen  soll.  An  manohen  Btellen  hBtte  der 
Kantieohe  Wortlaut  ruhig  beibehalten  werden  kSnnen,  nnd  für  die  Benutzung 
zu  akademischen  Zwecken  und  zum  Stndiam  wäre  es  fiberhanpt  vorteilhafter 
gewesen,  die  Lesarten  sämtlich  den  Anmerknogen  Eozuweisen,  wenn  ich 
damit  anoh  nicht  etwa  einer  pedantiaohen  ■Wiederholung  der  Druckfehler 
und  offenbaren  Versehen  das  Wort  reden  will. 

Leipzig.  Wn^BELu  Paul  Schdiuhh. 

Paligji,  1.  Der  Streit  der  Psychologisten  und  For- 
malisten in  der  modernen  Logik.  Leipzig  1902.  93 
Seiten.  2.  Kant  und  Boi.zano.  Eine  kritische  Studie. 
Halle  1902.     XI  und  124  Seiten. 

In  der  Binleitnug  zur  ersten  Schrift  stellt  Verfasser  die  Bebauptong 
auf,  der  logische  Psychologismus  sei  eine  FolgeerscbeinuDg  der  Vorhensohaft 
der  Physiologie  innerhalb  der  philosophischen  Betracbtungs weise.  Der  Phy- 
tHologe  sei  nttmlioh  geneigt,  alle  psyuhiechen  Erscheinungen  bloss  als  Schatten- 
spiel za  betrachten,  welches  die  physiologifichen  Vorgänge  begleite.  Diese 
Betrachtungsweise  fähre  naturgeinäBS  eqt  Neigung,  die  Logik  ganz  in  Psy- 
chologie aufgehen  zu  laasea.  Uebrigens  habe  der  Psycbologismus  auch 
eine  relativistische  Weltantfassong  nnd  eine  vollige  skeptische  Zersetzung 
des  Wahrbeitsbegii^  im  Gefolge.  Die  formalistisch  Tendenz  in  der  Logik 
wird  dagegen  nach  FuJiaYi,  durch  die  sich  erstaunlich  entfaltende  moderne 
Itathematik  ermnntert  und  genährt.  Die  Hatbematik,  der  geborene  Feind  eines 
jeden  Belalivismns  nnd  Psych ologismus,  wünscht  die  Logik  ebensosehr  anf- 
lasangeo  als  die  Psychologie  die  Logik  absorbieren  machte. 

Verf  ist  demgegenüber  der  Ansicht,  daas  die  Logik  sich  zwar  nicht 
in  Mathematik  anSösen  lasse,  dass  aber  insofern  zwischen  Logik  nnd  Ma- 
thsmatik  ein  inniger  Zusammenhang  bestehe,  als  sich  die  matbematisohen 


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470  Karl  Uarbe: 

Bezieliaiig«Q  wie  Oleichnisse  nnd  Metaphern  beniitzeD  laaaan,  am  lagtBcha 
BeEishnDKen  Binnßllig  za  maobeti.  Nach  ansföhrlicher  PoLamik  gefitn 
Hl'hsibl  and  BoLZANO,  vorüber  man  die  Bemerkungen  Husskbl'b  in  d« 
Zeitsohrift  für  Fayoholo^o  und  Physiologie  der  Sinneeoiigane,  Bd.  31  p. 
28Tft.  Tei^leiohen  möge,  ^ebt  Verf.  eine  aoBföhrllohe  syatematische  Dir- 
atellung  seiner  eigenen  Anaiohtea  über  das  Terh&ltnis  von  Psychologie 
und  L^k. 

Dass  zwisahen  logischer  und  psychologiioher  ForeohnngaTau  m 
Untereohied  bestehe,  ergiebt  sich  nnserm  VerL  Enfolge  sogleich,  wenn  mio 
die  Ideale  der  Psychologie  and  Logik  ins  Ange  taaat.  Die  Ambition  jener 
soll  befriedigt  sein,  wenn  wir  für  irgend  eine  beliebige  Person  P.,  welch« 
in  eine  bestimmte  Lebenslage  L  versetzt  wird,  angeben  kQnnen,  waldiM 
payahische  Verhalten  V  sie  in  jener  Lebenslage  bekundet  Das  Streben 
des  Logiker«  hingegen  geht  dahin,  die  ErkenntnisthStigkeit  durch  Znniok- 
wendung  auf  sich  selbst  ed  lintem,  zu  kr&FÜgen  und  zu  vertiefen,  kon  — 
zu  potenzieren.  Verf.  unterscheidet  nun  die  pByohiaohen  Fonktionen  in 
SonderfonktioneD  (Empfinden,  Fühlen  nnd  Wollen),  denen  es  an  der  Fähig- 
keit gebricht,  sich  auf  andere  psychische  Funktionen  oder  aof  sich  selbst 
zu  beziehen  und  in  die  allgemeine  oder  abstrakte  psychische  Funktion  d« 
Wissens  oder  Erkennens,  Letzteres  kann  sich  auf  alle  anderen  psychischen 
Fonktionen  und  aaf  sich  selbst  beziehen.  Der  Unterschied  beider  Clusen 
von  Fnnktioaen  soll  sioii  besonders  aus  der  Thatsache  ergeben,  dass  mu 
wohl  sageo  kann,  .ich  weiss,  daaa  ich  fühle,  will  oder  sehe*,  and  aoear 
.ich  weiss,  das»  ich  weiss,  dass  ich  weiss  .  .  .  .*  nicht  aber  „ich  seue, 
dass  ich  sehe"  oder  ähnlicjies.  Die  ünteisnchung  der  genanntea  Sonder- 
fanktioneu  d.  i.  des  unrefleL'tierten  Bewusstseins  soll  nun  die  eigentliche 
DomKne  der  Psychologie  sein  j  die  tJnteranchung  der  allgemeinen,  abstiakten 
psychischen  Fnnktion  des  Wissens  d.  i.  des  reflektierten  Bewassteedns  oder 
des  Verstandes  ist  Aufgabe  Logik. 

Li  dem  Begriff  einer  allgemeinen  psychiaohea  Funktion  liegt  es,  dasa 
sie  in  einer  jeden  besonderen  psychischen  Funktion  gegenwärtig  ist;  so  ist 
denn  auch  in  jeder  besonderen  psychischen  Funktion  sin  Wissen  enthatten; 
wenn  ich  z.  B.  eine  rote  Farbe  sehe,  so  habe  lob  in  meiDem  Sshen  ein 
Wissen  nm  die  rote  Farbe.  Da  anderarseita  unser  reflektierteB  Bewontson 
stets  von  einem  unreflektierten  durchdrungen  ist,  so  stehen  Psychologie 
und  Logik  bei  aller  Verschiedenheit  ihrer  Gebiete  im  engsten  Zasammen- 
hang.  Dabei  lässt  Verf.  auch  eine  rein  psychologische  üntetanchong  dei 
firkenntnis  zu:  die  Untersuchung  der  unreflektierteD  oder  wie  Verf.  aoch 
sagt,  der  konkrete  Seite  des  re&eklieiten  Bewosstseins  ist  Aufgabe  d«r 
Psychologie. 

Die  zweite  Schrift  bildet  gowissermassen  eine  Ergänzung  znr  arstes: 
indem  Pal^qt!  die  in  der  ersten  Schrift  mehr  angedeuteten  Ansichten  tos 
BoLziKO  hier  ansführlicher  bebandelte.  BoLzura's  Lehre  vom  Satz  an  sich, 
worunter  dieser  Denker  den  isolierten  Sinn  des  Satzes  versteht,  sowie  saüie 
Lehre  von  der  Wahrheit  an  sich,  die  sich  aas  Sätzen  an  sich  zosammeo- 
setzen  soll,  sowie  endlich  seine  Tors  teil  ungstheorie  wird  aosführlicli  er- 
örtert Letztere  nmfaast  die  Lehre  von  der  .Vorsteliong  an  sioh*,  d.  h. 
der  Wortbedentnng,  unabb&n^  davon,  ob  dsis  Wort  gedacht  wird  od« 
nicht  Pal  'oti  sucht  den  Oegansstz  dieser  Lehren  zu  den  grundlegendsii 
Ansichten  K^.vr's,  von  dem  suh  übrigens  BoLzura  auch  teilweise  be^D&nsit 
erweist,  herauszuarbeiten,  und  Bolzi^o  mit  Lzibniz  in  näherer  VerbiadDug 
EU  liegen.  Lbibhiz  bekannte  Lehre  von  den  veritet  de  raison  uod  dn 
verites   de   fait   kehrt  bei  Bolzano  als   üntersoheidung  zwischen  BegiiEE>- 


iM,Coo<^le 


PftUg7<-  ^B^  Streit  d.  Psyohologisten  u.  d.  Formaliaten  etc.     471 

und  üntersoheidnnges&tEen  wieder,  am  der  £AM'sohen  üntersoheidong  der 
üneile  a  priori  und  a  posteriori  ge^nüber  za  treten. 

PuuCqti'b  eigene  Ansichten  über  das  Verhältnis  von  Psyoholt^e 
und  Lo^,  stimmen,  wie  man  sieht,  im  weseattichen  mit  jener  sobolastisohen 
"WoTtweiBheit  überein,  die  in  jedem  Bewosatseiusatt  ein  Wissen  erbUobt 
und  die  sohon  einer  einfachen  Betraohtang  des  Sinnes  des  Wortes  HWissen" 
gegenüber  in  sieh  EOBammeoAllt.  Die  Aaefilhrangen  des  Verf.  über  die 
Fsjoholofie  machen  ntoht  den  Sindraolt,  dasa  er  diese  Wissenschaft  am 
eigener  Erfahrnog  odoT  anoh   nni  aas  eigenen  Stadien  näher  kennt 

Wünborg.  Karl  U&rbe 

J«aii  Jadrtg,  De  la  räalitä  du  monde  sensible,   Deuxiöme 
fidition.     Paris  1902.    429  Seiten. 

Der  Verieger  Felix  Aloan  hat  dem  Rezensionsexemplar  eine  hekto- 
graphierte  kurze,  ttheraos  anerkennende  Sezensioo  beiget^  aus  welcher 
wir  erfahren,  dass  die  Bohrift  tot  einigen  Jahren  als  Pariser  Doktordiaser- 
tation  eiBohienen  nnd  dass  ihr  Verfasser  mit  dem  bekannten  Politiker 
identisoh  ist.  Jaaree  stellt  sich  die  Frage,  in  welchem  Sinne,  auf  welche 
Weise  ond  bis  7q  weloiiem  Orade  die  Welt  als  real  anzusehen  ist.  Indessen 
führt  er  ohne  erkenutnistheoretisohe  Skmpel  das  Problem  der  Realität  anf 
das  Problem  des  Seins  zurück.  „Um  zn  wissen,  in  welchem  Sinne  ond  in 
welohem  Qrade  die  Welt  real  ist,  muss  man  wissen,  was  das  Sein  ist  nnd 
in  welchem  Masse  die  Welt  am  aktuellen  und  poteotiellen  Sein  teilhat" 
Das  potentielie  Sein  ist  für  Jaores  das  Qabestimmte  Bein,  das  aktuelle  Sein 
ist  ihm  das  bestimmte  einheitliche  und  nach  Einheit  strebende  Sein.  Da 
Jaures  jeder  Sinn  für  Erkenntnistheorie  zu  fehlen  scheint,  setzt  er  den  un- 
endlichen, unwandelbaren  und  einen  Aether  (ether)  gleich  dem  unendlichen 
unwandelbaren  and  einen  Sein  (Stre).  Dieses  Sein  ist,  wenn  nicht  Qott  in 
Beiner  Vollständigkeit,  so  doch  wenigstens  eine  grossartige  Seite  der  Qott- 
heil.  SiAter  erfahren  wir,  dass  das  Licht  die  Funktion  hat,  die  universeile 
Identität  ond  Durch  siohtigkeit  dieses  Seins  sa  bestätigen.  Es  ist  ebenso 
wie  Wärme  und  Sahall  eine  ewige  Funktion  des  Wettalls.  Wohl  zur  Unter- 
stützung dee  mosaischen  Sohöpfangsberiohtss  lehrt  der  Verfasser,  dass  das 
Licht,  wenngleich  ea  za  seiner  Manifestation  besonderer  materieller  Lioht- 

Snellen  bedaif.  dooh  wenigstens  der  Idee  nach  vor  diesen  existiert  —  In 
ieser  Art  geht  es  weiter.  Nachdem  ich  gegen  die  E&lfie  des  Baohea  durch- 
geloeeu  hatte,  habe  ich  die  Ansicht  gewonnen,  dass  eine  weitere  Fort- 
setzung der  Lektüre  weder  für  die  Leser  dieser  Zeitsohrift  noch  für  mich 
von  Nutzen  sein  könne. 

Würzburg.  Eakl  Marbe. 

A.  Dyrolf,  Über  den  Existentialbegriff.    Freibui-g  1.  Br. 
1902.     VI  und  94  Seiten. 

Im  gewähnliohen  Leben  nennen  wir  einen  Gegenstand  existierend, 
wenn  wir  eagen  wollen,  dass  er  mehr  als  eine  blosse  Fiktion  oder  eiQ  ein- 
foches  Qedankenerzengnis  sei.  In  der  Philosophie  bezeichnen  wir  als 
existierend  alle  Bewusstseinsin halte  schlechthin,  die  sich  dem  Denken  in 
irgend  einer  Weise  als  gegenständlioh  zeigen.  In  diesem  Sinne  existiert 
auch  die  Vorstellung  eines  goldenen  Berges,  ein  leerer  Ranm,  eine  Fem- 
kraft. Selbst  die  Vorstellung  „Nichts"  kano  insofern  als  existisrend  be- 
zeichnet werden,  als  eie  nicht  von  unserem  Belieben  oder  unserer  Phan- 


iM,Coo<^lc 


472  Karl  Marbe: 

taaie  abhängt,  aoodera  in  einer  bestimmten  GwetimKasigkait  nDsereB  Daik«Di 
eine  ihrer  leilaisacheii  bat  Nach  diesen  grnndtegenden  £iörteningeii  be- 
bandelt  Verfasser  das  Terbälbiis  des  EEigteDÜalbegriOs  gegeonber  den  Be- 
griffen des  Seins,  der  BealitSt,  der  Wirkliobkeit  lud  des  Baseiiis,  am  sich 
naoh  eiDigen  mehr  benohtendeo  AnsführungeQ  über  die  metaphysiscka  and 
erkenntnistheoretisohe  Deotang  des  ExisteutiaJbagriffes,  dem  eigaDttiahsD 
Ibema,  der  Frage  nach  der  Entstehung  dw  Eriatentialb^riffM  losa- 
venden. 

Dtroff  verwirft  znafiohst  die  Htms'gche  Lehre,  dasa  der  EiisteDttal- 
begriff  unmittelbar  in  der  Erfabrong  und  mit  jeder  Erfahrung  gegeben  sei. 
Anch  die  Ansichten,  dass  der  Existentialbegriff  ausEotüiesslich  durch  Ver- 
mitteLung  der  Erfahmng  oder  anmittelbar  doroh  die  Ternanft  odardena 
Vermittelong  zustande  komme,  wird  abgelehnt,  ebenso  wie  die  Meinung, 
dass  der  Existentialbegriff  jedesmal  zum  Bewnsstsein  komme,  wenn  Er- 
fabrang  und  Denken  irgendwie  zusammen  treffen.  Terfassar  vertiitt  die 
Ansii^t,  dasB  der  Begriff  dar  Existenz  von  der  Erfahmog  aasgebe,  indran 
er  sieh  tuerst  an  den  Inhalten  der  Sinnes wahniahmnDg  entwickele  nud 
dann  auf  Inhalte  der  Selbst  Wahrnehmung  übertragen  werde.  Brsengt  wird 
der  Begriff  durch  das  Denken.  Indem  dieses  Bewnsataeinainhalte  nnter- 
Hohaidet  und  gleioh  fiudet  und  insbesondere  zwischen  Wahmehmang  und 
Erinnerung  nnterscbeidet,  gelangt  ee  an  der  Hand  dieser  Erbhningen  nun 
Kxistentialbegriff.  Auch  der  Wille  nnd  das  Gefühl  haben  Antml  am  Zo- 
atandekommen  des  Bxistentialbegriffes,  dessen  letzter  tlraprong  im  Oegen- 
BtandB-  und  somit  in  letzter  Linie  im  lohbewuastsein  zu  suchen  ist 

Die  der  Schrift  in  einem  Anhange  beigegebenen  Anmerkongen  ent- 
halten umfangreiche,  auch  die  schuIastiBohe  Philosophie  berüokaichtigend* 
Literaturangaben. 

Würzbui^.  Eabl  Hasbb. 

Kant,  Gesammelte  Schriften;  herausgegeben  von  der 
Königlich  preussi sehen  Akademie  der  Wissen- 
schaften. Bd.  Xn,  zweite  Ähtflilung:  Briefwechsel. 
3.  Baad.  XVn  und  466  S.,  geb.  11  Mk.  —  Band  I, 
erste  Äbteilmig:  Werke.  1.  Band.  Berlin,  Reimer  1902. 
XXI  und  586  S.,  geb.  14  Mk. 

Der  dritte  Band  des  Briefwechsels  umfasst  die  Jahre  17d&— 180.?. 
Sdion  diese  Zahlen  sagen  ans,  dass  sein  Inhalt  an  «issenGohaftlioher  E%i- 
losopbie  nicht  so  ergiebig  sein  kann  wie  der  der  früheren  BAnde.  Dennoch 
bringt  er  über  fünfzig  eigene  Briefe  oder  Brieten twürfe  Kakt's,  allerdings 
meist  von  sehr  Inirzein  Umfang.  Von  den  in  den  übrigen  OesamtaoBKaben 
nicht  veröffentliohten  Aeosserungen  dea  Philosophen,  die  an  dies«r  EÜell» 
allein  Interesse  beanspruchen,  sind  zn  erwILhnen:  der  Brief  an  HoRsiNSnBN. 
in  dem  Kan  (S.  36)  dem  Adressaten  schreibt:  „ich  glaube  an  Ihnea  flinait 
Mann  zu  finden,  der  eine  Oesohiohte  der  Philosophie  nicht  oaoh  dw  Zöt- 
fclge  der  Bücher,  die  darin  geschrieben  worden,  sondern  nach  der  natflr- 
lichen  Oedan kenfolge,  wie  sie  aioh  nach  nnd  nach  aus  der  mensoblioheit 
Veranntt  bat  entwickeln  müssen,  abzufassen  im  stände  ist,  so  wie  die  Bl^ 
mente  derselben  in  der  Kr.  d.  r.  V.  aufgestellt  werden".  Der  Brief  aa 
SciLin  (3.  87)  belenobtet  scharf  Kakt's  Stellung  zu  der  Masaregelaog  doroh 
WöLLNKR,  die  AeDBserangeo  über  die  Art  und  Grenzen  des  Lehrena  nnd 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^le 


E&nt,  Oeeaminslte  Schriften.  473 

Lernens  an  Joüanh  PLüciciit  (B.  66/67)  erinnern  an  die  didabtiBolien  Prin- 
zipien des  jongen  Eura;  in  dem  Schreiben  an  ScrOtz  (S.  ISOff.)  ist  liem- 
lioh  Bnsfährlicb  von  recbtuphilosophiBofaen  Fragen  die  Bede.  Aber  damit 
ist  anob  das  philosophisch  Interessante  aas  Kant's  Briefen  im  wesenUicheo 
eitoböpft.  Fär  den  Charakter  E^m'g  bezeichnend  ist  das  Scbmiben,  in 
dem  et  siob  für  den  in  den  Terwaltangsdienst  übertretenden  Eiesewetter 
beim  Minister  von  STautssra  verwendet  (B.  137/38,  Tgl.  6.  377);  nicht 
mindn  der  gsBohäftamlBBi^  kühle  Brief,  in  dem  Eakt  seinem  Bruder  den 
Tod  üner  SohweBter  anzeigt  (S.  139);  auch  die  Anzeige  der  Sohwigerin, 
die  ihm  den  Tod  seines  Bmdeis  meidet,  lOsst  er  dnroh  „einige  Woohen" 
unbeantwortet  (S.  801].  Dagegen  klingt  naoh  dieser  Seite  hin  atwas  ver- 
aöhnliober  der  acböne  Ansspra^  über  die  EUtem  (S.  140)  und  der  Schlnss- 
brief  der  ganzen  Sammlnng,  in  dem  Kant  im  Namen  seines  veistorbenen 
BrndeiB  seiner  Nichte  nnd  deren  Brfintigam  den  väterlichen  Segen  erteilt 
(S.  343).  Die  Briefe,  die  an  Kant  gerichtet  sind,  zeigen  ans  wieder  ein 
höchst  interessantes  Enlturbild  der  damaJigen  Zeit  nnd  halten  alles,  was 
man  sich  darüber  nach  den  vorigen  Bänden  versprechen  musete.  Die 
«Naohtr&ge",  in  denen  noch  23  Nnmmem,  darunter  vier  bisher  un- 
bekannte Briefe  Kint's  weh  befinden,  bieten  keine  besondere  Ausbeute. 
Der  .Anhang"  enthält;  1.  Oeffentliche  Erklärungen,  in  denen  die  auch 
sonst  bekannte  Aensserung  Kants  in  der  ScHLBiTWEiH'soheii  Streitsache  zd 
beachten  ist:  dass  der  Hofprediger  Schih-tz  der  Mann  sei,  der  seine 
Bohiiften  wirklich  veretehe,  „wie  er  sie  veistanden  wissen  wolle"  und  dessen 
(kflrzlicb  neu  aufgelegtes)  Btiohleiib  über  die  kritische  Philosophie  der 
rechte  Kommentar  zu  dieser  Lehre  (S.  393).  2.  Hand Bcbriftli che  Erklänngen 
nnd  letzter  Wille,  Hier  wird  der  Abdruck  des  E&NT'schen  Testameota 
mit  allen  Kachtiägen  und  Etauaeln  jedem  Kantforscher  willkommen  nnd 
ihm  eine  neue  Beat&tignng  sein  für  die  Durchdringung  dieser  Persönlichkeit 
mit  strengen  Ternnnftmäzimen.  S.  Denkverse  zu  Ehren  verstorbener 
Kollegen.  4.  Zwei  Gedichte,  die  Kant  von  seinen  Zuhörern  gewidmet 
sind,  deren  erstes  die  seltene  Terebrung  zeigt,  die  Kant  sohon  im  Jahre 
1770  genoBs.  5.  10  Stamm  buch  verse,  von  denen  die  meisten  sieb  als 
Mottos  zur  kritischen  Philosophie  verwenden  Hessen.  6.  AosgewUilte 
Proben  ans  dem  amtlichen  Schriftverkehr,  die  uns  Kaut  in  seinen  offlziellen 
Aeosserongeu  an  Uinisteriom,  Senat,  Fakultät,  die  Studenten  n.  a.  vor 
Augen  führen.  Zur  weiteren  Orientierung  über  diesen  reichhaltigen  XIL 
Band  sei,  wie  schon  für  die  früheren  Bände  des  Briefwechsels  geschehen, 
aat  das  eingehende  Referat  in  den  Kant-Studien  hingewiesen.  (Band  VIII, 
Heft  1,  a  97—110). 

Der  erste  Band  der  Werke  enthält  ESnächst  ein  anaftthriicfaes 
Vorwort  Dilthiiy's  über  die  allgemeinen  Prinzipien  der  neuen  Ausgabe, 
über  die  Eintwlung  in  die  vier  Ahteilongen  (Werke  —  Briefwechsel  — 
NaehlasB  —  Vorlesungen);  dann  folgt  das  Terzeichais  der  Mitglieder  der 
Kant-Kommission,  in  der  Vertreter  der  historischen,  philologisoben,  psvt^o- 
It^isohen  Richtung  der  Philosophie  snfgenommec  sind;  derlieiter  und  Hit- 
arbeiter an  den  verschiedenen  Abteilungen,  wo  wir  der  gleichen  Vielseitig- 
keit begegnen,  die  ein  schönes  Gelingen  des  grossen  Unternehmens  in  Aus- 
sieht stellt  Am  SobJois  des  Bandes  orientiert  eine  „Einleitung  in  die  Ab- 
tMloDg  der  Werke"  (S.  507fF.)  über  die  speziellen  Grundsätze,  naoh  denen 
diese  Abteilung  bearbeitet  wird.  Die  Schriften  bis  1781  erscheinen  in  streng 
ohrenologiicher  Folge;  von  1781  ab  folgen  eist  die  grossen  Werke,  dann 
die  in  EÄjrr'a  Aottng  veröffentlichten  Voriesnngen;  jede  Omppe  ist  in  sich 
chioiiologisch  geordnet    Die  Verteilung  der  Werke  auf  die  IZ  Btnie  ist 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


474  Baoal  Richter: 

8.  508  angegeben.  Blb  auf  eiaea  Fall  aiad  die  Ori^^ntldraoke  dem  Texte 
zu  Onrnde  gelegt.  Von  dec  Kritik  der  remen  Temnnft  ist  die  2.  Aiugabe 
vollständig,  die  erste  bU  zu  den  Paralogismeii  der  reinen  Ternanft  (inkl.) 
som  AlHlruok  gebracht,  üeber  Behandlung  der  Sprache,  lateipankäoii, 
Octhographie  (Bearbeiter:  Dr.  Frej)  geben  S.  611S.  aneführlich  Beoheo- 
whaft)  Interpunktion  nod  Orthographie  werden  sich  —  nm  empfindliche 
Störungen  zu  vermeiden  —  nicht  au  das  EAyr'Bolie  Torbild  halten;  dagegon 
wird  die  Sprache  Kant'b  in  ihren  Btehendeu  Eigentäuiliohkeiteii  geaioheTt 
bleiben.  Jeder  Schrift  Kant'b  sind  Eiuleitung,  die  das  „ftoSBcre  lliäswihen- 
material'  bringt,  Haohliohe  Erlänteningeu  und  ein  TeneichuiN  der  Lesarten 
beigegeben,  die  am  Sohlnsa  eineti  Jeaen  Bandes  ihre  Stelle  &nd«D.  Naoh 
dieeen  philolo^sch,  hiBtoriBch  und  philceophisch  maBtergiltigen  Oondita- 
pnnkten  Bind  denn  anch  die  Werke  der  Jahre  1747 — 1756  in  voiüegoidem 
Baude  heraoegegeben :  alA  ein  neuer  Stein  an  dem  mächtigen  Denkmal,  das 
die  Berliner  Akademie  in  jahrelanger  Arbeit  dem  groaseu  Philosophen  er- 
riohtet. 

Leipzig.  Eaoiil  Bickter. 

W.  Ostwald.  Vorlesungen  über  Naturphilosophie. 
Leipzig,  Veit  &  Co.  1902.     467  S. 

Das  voriiegende  Werk  bildet  einen  grossartigen  Tersncfa,  die  Natur- 
philosophie wieder  xa  Ehren  zu  bringen.  Ostw^ld  will  dabei  die  Fehler, 
an  denen  die  fräbereu  Naturphilcsophen  scheiterten,  vermeiden,  indem  er 
„das  Denken  sorgfältig  an  der  Erfahrung  prüft*  ond  „nur  sorgfältig  ge- 
prüfte, in  ihrer  Tragweite  feBtftestellte  YorBuasetznngen"  verwendet  Hierbei 
kommen  ihm  die  neuesten  Forschuneen  der  Mathematiker  und  Naturwissen- 
schaftler aber  das  Wet.en  der  von  ihnen  behandelten  Erscheinungen  an 
statten.  Die  bezüglichen  Ergebnisse  werden  mit  feinem  Urteil  herangeiogen 
und  geschickt  tu  das  energetische  Weltbild,  das  Yerf.  zu  geben  beabaichtigt, 
eingefügt  So  bildet  die  Lektüre  des  Baches  namentlitSi  für  den  mathe- 
matisch-naturwiBsensohaftlich  gebildeten  Fhilosophen  einen  Qenuss,  und  ee 
ist  sehr  wohl  zu  verstehen,  dass  die  Zuhörer  in  grcsser  Zahl  den  intar- 
essanten  Verträgen,  in  denen  die  Quintessenz  des  Wissens  geboten  wird,  lüs 
zum  Schlnaa  beigewohnt  haben.  Allerdings  kann  nicht  geleugnet  werden, 
dass  der  Standpunkt  des  Terf.  auf  die  Deutung  der  Eischeinncgen  und  auf 
iie  Formuherung  der  Tbatssohen  einen  bemerkbaren  Druck  ausübt 

In  den  gleichsam  als  TJuterbaa  dienenden,  einleitenden  E^teln 
entwickelt  Verf.  seine  Ansichten  über  das  Erfahrungswissen,  die  Sprache, 
die  Sinnes  eindrücke  und  Begriffe,  die  Mannigfaltigkeiten  bezw.  Zahlen,  dio 
OrÖssen  und  SULrken,  Zeit,  Raum  nod  Substanz. 

Der  OrundbegrifF,  mit  welchem  Ostwald's  Naturphilosophie  operier^ 
ist  die  bei  vielen  PhiloBophen  so  verpönte  Energie.  Ei  sagt:  „Mit  Aus- 
nahme der  Energie  finden  alle  die  anderen  Begriffe,  deren  Qrösse  dorn 
ErhaltuBgsgesetz  anterliegt,  nar  auf  begrenzte  Oebiete  der  Natnmiecbeinniieen 
Anwendung.  Einzig  die  Energie  findet  sich  ohne  Ausnabme  in  allen  b«- 
kannten  Naturerscheinungen  wieder,  oder,  mit  andern  Worten,  alle  Natur- 
ersohnnnngen  lassen  sich  in  den  Begriff  der  Energie  einordnen.*  Der 
Eoergiebegriff  ist  der  allgemeinste.  Er  nrnfasst  nicht  nur  das  Problem  der 
Substenz,  sondern  auch  das  der  Eausaiität..  Auch  gewinneu  wir  dorob  to 
eoergetiache  Darstellnug  für  die  Thatsachen  einen  Anadruck,  der  vollkommen 
frei  von  hypothetischen  Annahmen  iat.  Denn  jeder  djasbezfigliohe  Begriff 
hat   eine  anfweisbare  und    messbare  Grösse  und  Stärke.    Verf.  behanddt 


iM,Coo<^le 


W.  Oetwald,  YorlMnngeD  über  Nataq^iiloBophie.  475 

naoheisander  alle  brtannteD  Arten  Ton  Energien  im  AsBchloaB  an  die 
neneaten  Fonohnngeo  der  Speiialwisseiisohaften  aud  geht  dann  nber  lom 
Oeaeti  des  GeecbeheuH:  .In  jedem  Qebilde  geeohehea  (U^euigeu  Vorgfinge, 
doiuk  welche  ee  sich  dem  Zustande  dea  Qletohgewiahts  n&hert.  Ist  ea  in 
dieaeiD  Zustande,  so  geechieht  nichts."  „Damit  etwaa  geBohiaht,  müsaen 
lnteneitätsnDteiBobiede  der  anwesenden  Energien  roiiunden  sein."  Nor 
Bolohfl  Ehiergien  kännen  sich  als  rfiomlioh  gesonderte  ErBoheinnogea  erhalten, 
welche  durch  Verknüpfang  mit  anderen  ein  EosammeDgesetataa  Gleich- 
gewicht ergeben,  in  dem  die  IntenaitStasprünge  der  eiaea  Form  daroh  gleich- 
wertige Intensit&tHspriinge  der  andern  Form  kompensiert  werden.  Bin  be- 
Bonders  wichtiget  Zustand  ibt  der  stationäTe,  wie  £.  B.  der  einer  Lampen- 
flamme, Er  unterscheidet  sich  von  dem  stabilen  dadurch,  dasa  bei  diesem 
gar  kein  Energiewecbsel  vorhanden  ist.  Wenigstens  verläaft  der  in  gewissem 
Sinne  vorhandene  Energiewechaal  mit  konstanter  Qescbwindigkeit,  und  des- 
halb aehen  die  betreffenden  Erscheinungen  so  aus,  als  seien  sie  onverändert, 
Bolche  stationäre  Zustände  berohen  auf  Selbatregolierung. 

Maaae  ist  Eapazitftt  für  Bewegungsenergie. 

Besonden  bemerkenswert  sind  die  Ansführungen  über  das  Eiinsalititts- 
gesetz:  Indem  RoumT  Haveb  als  Definition  der  altgemeinen  Ursache  den 
Salz  aufstellte,  dass  die  Ursache  der  Wirkung  quantitativ  gleich  sei,  nnd 
dasB,  wenn  die  Wirkung  eintreten  soll,  dazu  die  Ursache  aufhören,  d.  h.  ver- 
braucht werden  mtisse,  hat  er  das  Kausalgesetz  mit  dem  Gesetze  von  der 
Umwandlung  und  Erhaltung  der  Energie  identiflsiert.  Das  Kausalgesetz  iat 
kein  Gesetz  a  priori,  sondern  „ein  praktisohss  Ergebnis  unserer  BemtihungeQ, 
für  die  Beurteilung  der  Zukunft  unsere  Erfahrungen  zu  sammeln  und  in 
Begriffe  zu  ordnen".  Das  Kausalgesetz  besagt,  .dass  zwischen  den  Ur- 
sachen, den  Bedingungen  und  den  Anläaaen  der  Oenilde  eineraeita  und  dem 
Ablauf  der  Erscheinungen  an  ihnen  andererseits  ein  eindeutiger  funkdoneller 
Zosammenhang  besteht,  so  dass  bei  Herstellung  derselben  Yoraussetznngen 
auch  derselbe  Ablaut  eintritt".  Wie  das  Kausalgesetz  sind  auch  Baum  und 
Zeit  nichts  als  durch  eine  lauge  Entwickelung  emoTbene  nnd  durch  Ver- 
erbung gefestigte  Denkmethodeu,  die  unter  andern  Umständen  auch  anders 
hätten  ausfallen  können. 

Das  energetische  Weltbild  der  nichtorgani sehen  Welt  darf  als  ein  im 
allgero^nen  zutreffendes  bezeichnet  werden.  Grössere  Schwierigkeiten  bietet 
die  organische  Welt  einer  natnrphilosophi sehen  Baarbeitung.  In  der 
organischen  Welt  bildet  der  Stoffwechsel  nur  eine  Begleiterscheinung  des 
Energiestromes.  Die  weaeatliohe  Eigenschaft  der  Lebewesen  iat  in  der 
Selbsterhaltnng  zu  anchen.  Damit  diese  letztere  möglich  wird,  mnss  die 
andere  Form  der  dauernden  Existenz,  die  stationäre  (im  Gegensatz  zur 
stabilen)  beetehen.  Das  faeisst,  „das  Gebilde  mnss  seine  Beach^enheit  da- 
durch aufrecht  erhalten,  dass  es  nicht  kompensierte  Intensitätssprünge  ver- 
mittelst beständiger  Nachlieferung  der  Energie,  die  zerstreut  wurde,  erhält". 
„Durch  die  Wirkung  dea  Energieverbrauches  wird  die  Zuführung  weiterer 
Energie  so  beeinflusst,  dass  immer  annähernd  der  gleiche  Zustand  erhalten 
bleibt."  „Die  Organismen  haben  aber  auch  die  Fähigkeit,  sich  der  Energie- 
Vorräte  selbständig  zn  bemächtigen,  deren  sie  zur  Anfreofaterhaltnng  ihres 
stationären  Znstandes  bedürfen.''  „Der  Organismus  ist  wesentlich  ein 
Komples  chemischer  Energien,  deren  Umwandlung  in  andere  Farmen  sich 
derartig  regelt,  dass  ein  stationärer  Zustand  entsteht."  „Alle  andern  Ener^e- 
fonnen  riuiren  von  der  Umwandlung  uhemisoher  Energien  her."  „Die 
ohTomophjllhaltigen   Pflanzen  nähren   sich    von  strahleDdei  Energie,  alle 


iM,Coo<^lc 


476  Giessler: 

andern  voa  chemischer.  Die  ant  der  Erdrinde  auffindbare  ßreie  Sne^» 
rülut  TOQ  gegenwftttiger  oder  früherer  Sammlang  der  strahlenden  her**. 

Dia  Tempaiakir  beeinausBt  die  Geschwindigkeit  bestimmter  chemischer 
Beaktionen.  Jedoch  nur  die  Warmblüter  besitsea  Ginrichtiuigen  zur  Bam- 
lianmg  der  Temperatur.  Ein  Eweites  Mittel  zur  Begnlierong  der  0»- 
Bchwindigkeit  liegt  in  den  RaumvarhSltnissen  dar  reagierenden  Stoffe. 
„Ein  Torgang  verltLoft  nm  bo  langsamer,  je  garingei  die  Mengen  der  be- 
teiligten Stoffe  Bind,  die  im  Reaktionsgabiet  zur  Geltang  kommen."  Bn 
drittes  Mittal  ist  die  Eatalyse.  OewiBse  Stoffe,  ^e  Eat^ysaforen,  wirken 
auf  chemieohs  Vorgänge  verlagernd  oder  beschleunigend,  wlhreud  sie  selbst 
unverändert  bleiben,  z.  B.  in  dem  trocken  aufbewahrten  Gerstenkorn  nifat 
die  Dnlösliche  Stärke  neben  den  gleichfalls  in  fester  Gestalt  Torhandenen 
Keim  bestand  teil  an,  bei  Zufähmng  von  Wasser  von  genügend  hoher  Tem- 
peratnr  jedoch  beginnt  eine  Beihe  chemischer  Reaktionen,  bei  welchen  die 
Stärke  dncch  die  vom  Keime  ansgwchiedenen  Katalysatoren  in  lösliche 
Formen  übaigeführt  wird. 

Das  Ergebnis  einer  ßeizwirkung  im  O^anismns  besteht  immer  in 
einer  Änderung  des  EnergiestroDies.  Dies  kann  eine  Vennehmug  oder 
Terminderung  sein.  Jedenfalls  wird  durch  den  ßeiz  keine  Energie  arzengt, 
sondern  nur  vorhandene  freie  Energie  in  ihrer  Bethätigong  geändert.  i.ach 
die  elektrische  Energie  der  elektrischen  Fisüha  und  die  strahlende  det 
leuchtenden  Insekten  stehen  onterm  EinfluBS  von  Reizen,  welche  auf  den  für 
gewöhnlich  lauesam  verlaufenden  Vorgang  potenzierend  wirken.  Unmittel- 
bare Umwandlung  chemischer  Energie  in  mechanische  findet  durch 
Aenderungen  des  osmotischen  Druckes  und  durch  Aendernngen  der 
Oberflächenspannung  statt.  Die  wichtigBte  Leistung  ist  die  Umwandlnng 
der  verschiedenen  chemischen  Energien  in  einander.  Das  am  meisten 
angewandte  Mittel  ist  hier  wahracheiulich  die  katalytieche  BeschleQQt^ong 
der  brauchbaren  und  die  katalytisohe  Verzägernng  der  an  zweck  mftBBigen 
Reaktionen.  In  allen  Organismen  linden  sich  solche  KatalTsaloren 
(Encyma).  Die  Ausbildung  eines  bestimmten  Katalysators  kann  unter 
zahllosen  möglichen  StoiTen  einen  bestimmten  in  seiner  Bildung  so 
beschleunigen,  dasB  er  ganz  vorwiegend  entsteht  Auf  solche  Weise  wird 
es  verständlich,  wie  ein  hoch  zusammengesetzter  Organismos,  z.  B.  der 
menschliche,  aas  der  gleichen  Nährflässigkelt,  dem  Blnte,  in  seinen  tbt^ 
Bchiedenen  Organen  die  mannigfaltigsten  StoEFe  bilden  kann.  Für  das  Oe- 
däohtnis  ist  das  Bild  der  ausgeschlilTenen  Bahnen  nicht  zutreffend.  Ostwuj» 
nimmt  statt  dessen  einen  katalytischen  Beschleuniger  an,  der  in  einer  un- 
wirksamen Form  stets  anwesend  ist,  und  der  durch  den  Reiz  teilweise  in 
wirksamen  Zustand  tiberffthrt  inrd,  sogleich  hintorher  aber  in  den  ouwirk- 
Samen  zurnckTerftllt.  Etwas  wie  Gewöhnung,  d.  h.  eine  Erleiohtarang  det 
Wiederholung  würde  eintreten,  wenn  der  Beschleuniger  während  seinee 
wirksamen  Zostandes  noch  die  E^higkeit  hätte,  seine  Hange  aus  der  an- 
wesenden ErnährungBflässigkeit  zn  vermehren. 

Wie  verhalten  sich  nun  die  geistigen  Ersuheinangen  zum  Enugie- 
begriff?  Nii^ends  findet  ein  geistiger  Vorgang  ohne  Energieaufwand  statt 
Und  zwar  liegt  Teranlaasang  voi,  ein  seelenartiges  AgenB  ausadüieealidi 
für  die  Lebewesen  anzunehmen.  Da  der  Oi^Hniamns  ein  im  Btationänn 
Oleiahgowicht  stehendes  Gebilde  ist,  so  findet  in  ihm  ein  beständiger  Eäiar^e- 
nmsatz  statt,  womit  die  Möglichkeit  der  vorübergehenden  Entstehung  daer 
beeonderen  Energieart,  nämlich  der  geistigen,  gegeben  ist  Die  ThatsMlw 
der  Reizleitnog  verrät  uns  das  Torhandenaein  der  Narveneneigi«.  Dei 
Reiz   ist   die   äussere  Energie,    welche  dandi  den  nervalen  Apparat  in  die 


iM,Coo<^le 


W.  Ostwald,  YoTlsBiingeii  über  NatorphilosopMe  477 

NerreDenergie  des  Eisdniohs  verwandelt  wird.  Jade  Fördenuig  des  Energie- 
Stromes  wird  als  angenebm,  jede  Störang  desBefben  als  naaDgeaehm  em- 
pfanden. Das  Bewnsetaeia  ntui  ist  eine  EigenschaFt  der  „Himeuergie", 
□Kmliob  derjenigen,  welche  im  Zentralorgiui  bethStigt  wird.  Damit  die 
ISndnicke   zu   bewasstea   werden,  ist  noch  ein  neuer  Energie  Vorgang  nötig. 

Tom  Denken  ist  das  Wollen  u.  s.  aaoh  ioBofern  zu  nntersdieiden, 
alB  beide  Th&tigkeiten  des  Zeiitralo^ans  nioht  nar  inhaltlich  von  einander 
vereohieden  sind,  sondern  höchstwahrsoheiuljoh  an  verschiedenen  Stellen 
und  in  verschiedenen  Oi^uen  des  Oehims  stattfinden.  Dies  erkennt  man 
daraus,  dass  das  WiUensorgan  durch  VerDacblgRaiKung  and  Niclitgebranch, 
Krankheiten  und  Bchädignugen  meist  früher  beeinträchtigt  wird,  als  die 
andern  Organe  des  Gehirns.  Danken  nnd  Wollen  besitzen  sogar  eine 
Tendenz,  sieh  gegenseitig  zq  hemmen.  Eine  Willensbethätignng  tritt  nor 
dann  ein,  wenn  ein  vorhandener  Zustand  zum  Bessern  verändert  werden 
soll.  ,^  der  Behauptung  der  Wiltensfreibeit  liegt  nicht  die  Bebanptong 
eingeechkiasen,  dass  es  keine  Faktoren  giebt,  welehe  den  Willen  beeinflussen, 
sondern  nur  die,  dass  es  keine  Beeinflussung  des  Willens  giebt,  die  nicht 
durch  den  Geist  des  Beeinflnssten  hindurchgegangen  ist."  „Die  Elemente, 
welche  zu  einem  Entschlüsse  beitragen,  liegen  niobt  alle  in  unserer  Gewalt, 
die  Axt  aber,  in  welcher  vrir  diese  Eleniente  zu  dem  schliesslioben  Willens- 
vorgange  zusammenwirken  lassen,  ist  eine  Folge  unseres  eigenen  Wesens." 

Erfurt.  GiESSLEK. 

Sehlller,  H.  und  Ziehen,  Theodor,  Sammlung  von  Ab- 
handlungen aus  dem  Gebiete  der  pädagogischen 
Psychologie  und  Physiologie.  Berlin,  Reuther  und 
Eeichard. 

IV.  Band,  3.  Heft 
Llebmun,   Alb.,  Dr.  med.    Die  Spraohatörungen  geistig  zurück- 
gebliebener Kinder.     1901.     78  S.     1,80  M. 

Die  Spraohstärungen  nehmen  in  der  Beihe  der  Defekte  geistig  zu- 
rückgebliebener Kinder  eine  hervorragende  Stellung  ein;  denn  sie  geben 
einen  besonders  tiefen  Einblick  in  die  geistige  Struktur  des  Patienten,  und 
ihre  Beseitigung  bringt  häuflg  die  stagnierende  Entwioklung  wieder  in 
Fluss,  Sie  sind  in  den  meisten  FlLllen  sekundärer  Natur,  beruhend  auf 
geistiger  Inferiorität,  sie  können  aber  auch  das  primäre  Element  sein,  wenn 
omanische  AbncrmitSten  (Schwerhörigkeit,  Lähmungen,  adenoide  Wucher- 
ungen) oder  funktionelle  Mängel  die  Sprache  unverständlich  machen,  den 
Patienten  von  der  Umgebung  iBclieren  und  so  die  geistige  Entwicklung  re- 
tardieren. Die  einzelnen  Erecbeinungsformen  werden  durcb  Fälle  aus  der 
Praxis  des  Terfasseis  illustriert  und  an  ihnen  auch  die  Wege  der  Heilang 
gezeigt.  Dadurch  wird  das  Schriftchen  im  hüchsten  Grade  anschaulich  nnd 
instruktJT.  In  der  Auffassung  einzelner  Sprachstörungen,  so  vor  allem  hin- 
sichtlich des  Stotlems,  bin  ich  abweichender  Meinung.  Die  als  neu  and 
originell  angegebenen  pädagogisch-therapeutischen  Massnahmen  sind  zom 
grössten  Taue  altes  Gut,  sie  entstammen  der  Taubstummen-Pädagogik,  und 
es  wäre  wohl  ein  Hinweis  auf  sie  angezeigt  gewesen.  Bezweifeln  muss 
Ich  such,  ob  die  Erfolge  bei  der  verhältnismässig  kurzen  Zeit  der  klinischen 
Behandlung  und  der  Unmöglichkeit,  die  Kinder  andauernd  zu  beobachten 
nnd  zu  baein&ossen,  Bestand  haben, 

Leipzig.  Wilhelm  Paul  Schuua.n>-. 


n,g,t,7l.dM,.COOglC 


Erklärung. 


Im  24.  Jahrgänge  der  Vierteljahnäohrift  (S.  869ff.)  ist  wne  BeMwal 
TOD  P.  Natdrf,  SozialpUagogik,  Stuttgert  1899,  enthalten,  gegen  dis  Fn- 
feeeoi  Nitorp  in  der  eben  erschienenen  S.  AoSnge  dieses  Buchet  fß.  Vllil ' 
allerlei  Oegenbemerkongen  er}ioben  hkt.  Uiese  zwingen  mich,  als  dm  V» 
fisser  jener  Bezensiou,  zu  einer  Erwidenmg. 

1.  Zonäohat  behauptet  Natobf,  er  hÄbe  .den  Verglraoh  der  OwO- 
Bohaft  mit  einem  Organismos  abgeletint",  gleiofawobl  sohiiebe  ich  ibm  if; 
selben  za.  Daran  ist  so  viel  richtig,  dass  iob  sage,  Natobf  betnchte  loit 
PLiTo  „den  Staat  und  woU  auch  (ohne  sie  wesentlioh  vom  Stwte  n 
scheiden)  die  Greaellschaft  ata  einen  Hensohen  im  Grossen,  als  eines  reil(> 
Utgauismos'  (8.  369).  Wenn  er  mioh  dagegen  auf  8.  89f.  der  erateDA°<' 
läge  seines  Boches  verweist,  so  kann  er  ntu  folgenden  Bati  meinen:  ,fli"- 
naoh  hat  man  auch  nicht  mehr  zu  besorgen,  daas,  wenn  von  einem  Willn 
ond  einer  Yemnnft  der  QemeinBcbsft  die  Bede  ist,  diese  zu  einem  a^ 
sehen  Wesen  ausser  den  Individuen  gemacht  werde."  Aber  ist  <Ihi 
mystisahss  Wesen  =:  Organismus?  Ist  die  organische  Einheit  di«  ^ 
aus  den  ZeUen  sufbaut,  etwas  HTstisobes?  Und  8.  133,  auf  die  Vi-vm 
ebenfalls  verweist,  heisst  es:  „So  aber  giebt  es  notwendig  ein  TrieUebet 
der  Oemeinsohaft,  einen  Willen  der  Oemeinsohaft  und  eine  Verannft  ^ 
Oemeinsobaft,  nicht  als  ob  die  Oemeinschaft  ein  selbständiges  Weeeo  vbf- 
was  keinen  klar  anadenkbaren  8inn  hat,  sondern  indem  man  eiri^ 
welche  Qestalt  das  Tiiebleben  der  Einzelnen  in  der  Oemeinsohaft,  nnW 
der  Bedingnng  des  Lebens  in  ihr,  gesetim&saiger  Weise  aonehmBi.  '■'" 
wie  der  Wille,  wie  die  Temunft  unter  der  gleichen  Bedingung  sidi  l^ 
stalten  moss."  Hit  solchen  Allgemeinheiten  ist  der  Ver^ei(£  der  0«mU- 
Bchaft  mit  dem  Organismus,  der  für  Futd's  Tugendlehre  fuudamesUl^ 
dessen  man  sich  nach  Kakt  .sehr  schicklich  bedient  hat'  (Critik  der  ^^ 
teilakraft  ed.  Kdichxann,  S.  S49),  den  man  also  auch  bei  Natobf  ^""^''^ 
mnss,  weil  er  in  der  Tngendlebre  von  Plato,  sonst  von  Kajr  an>g»>'- 
keineswegs  abgelehnt,  sumal  den  angeführten  folgende  S&tze  Natobf's  ent- 
gegenstehen:   „Dadurch   mit    eine  vielfach   neue   Beleuchtung - 

auf  die  Thatsachen  des  sozialen  Lebens,  das  unter  diesem  QeeiciilsDUiitu 
(der  Wechselboziehnngen  zwischen  Erziehung  nnd  Oemeinsohaft)  au  «'" 
gioaser  Organismus  (Organismus  von  mir  gesperrt)  zur  Menaohenbildimj 
tich  darstellt"  (Vorwort  S.  V).  Ferner  8.  69  „der  ainielns  Mensch  i» 
eigentlich  nur  eine  Abstraktion,  gleich  dem  Atom  des  Ph^ikeis.*  ^^1* 
der  einselne  Mensch  eine  Abetiaktion  ist,  so  mnss  doch  die  '^■"^"^^^ 
ein  reales  Wesen  sein,  —  denn  was  bliebe  sonst  übrig  —  und  da  ihre  Tw 
nsammen wirken  und  von  onandet  abh&ngig  sind,  wie  Naiobp  oft  t*^ 
«0  ist  sie  eben  ein  realer  Organismus.  Kndlioh  haisst  ee  6.  79—80  w* 
_die  allgemeinen  Bitdongsgesetie  der  Oemeinsohaft  naoh  der  grosHo  ^' 


n,g,t,7i.-JM,COO<^lL' 


P.  Barth,  ErklftniiiK.  479 

Bioht  Puto'h  notwendig  luletzt  identisoh  Bind  mit  den  BildnDgBgeaetzen  des 
IndividnnmB."  Ist  in  dieser  Bebanptnng  die  AnSassnug  des  Staates  als 
eines  Ifenschen  im  Grossen,  die  Plato  dnrohfShit,  niobt  notwendig  in- 
begriffeoT 

Es  ist  also  IteiiieBwegs  aioe  „Uagmndlit^ait",  wie  Naiorf  sagt, 
wenn  ioli  eine  Ablehnung  dar  organiBchen  Gesellsctiaftstheoria  bei  ihm 
nicht  finden  konnte. 

2.  Femer  hmsst  es  in  meiner  Bezeasion  (8.  373):  „Dieao  Oleiab- 
giltigkeit  gegen  die  enipirisohe  Wirklichkeit  venst  Natorf,  indem  er  sagt: 
„daae  sie  (die  Menschheit]  thata&ohlioh  fortsohreiteu  müsse,  folgt  aas  onserea 
Prinzipien  nicht  nnd  wlirde  sich  auch  emptrisofa  keineswegs  begrüaden 
lassen"  (8.  188).  (Falls  der  letzte  Teil  des  Satzes  die  Raalit&t  des  sitt- 
lichen Fortschrittes  verneinen  soll,  scheint  er  mir  dmchans  urrtämlioh.)" 
Dazn  bemerkt  Natohp  (S.  XII):  „Aber  leider  besohränkt  sich  Barth,  der 
mich  hier  wieder  besonders  tadelhaft  findet  (S.  373),  auf  die  nackte  Er- 
klArang,  dsss  meine  Behauptung  .durohaos  irrtnmlioh"  und  nor  ein  Beweis 
meiner  nOIeichgiltigkeit  gegen  die  empirische  Wirklichkeit"  sei." 

Znnäcbst  wo  finde  ich  Natobp  .tsdelhaft"?  „Gtleichgiltigkeit  gegen 
die  empirische  Wirklichkeit"  ist  doch  kein  Tadel,  sondern  Konstatierung  einer 
Thatsache  einom  Buche  gegenüber,  dos  eine  Deduktion  aus  der  Idee  sein 
will  nnd  anch  in  der  zweiten  Auflage  „die  Äblehnong  der  Psychologie  als 
piimftrar  Omndloge  der  Pädagogik"  festhält  —  Dann  aber  ist  mein  Urteil 
über  seine  Ansicht  Tom  sittlichen  Fortschritte  nicht  eine  „nackte  Brklftrang" 
sondeni  dorchaas  hypothetisch:  „Falls  dar  zweite  Teil  ,  .  ." 

Es  ist  mir  eben  nicht  klar  geworden,  was  Natorf  über  den  sitt- 
lioben  Portschritt  dankt.  Seiner  Ansicht,  wie  ich  sie  Terstaod,  habe  ich 
hier  wie  sonst  die  meine  entgegengesetzt.  Wenn  Natorf  diee  Verfohren 
Hbelehren"  nennt  (S.  VIT),  so  frage  ioh  ihn,  welahen  Zweck  ohne  dasselbe 
das  Besensieren  wohl  hätte. 

3.  Endlich  hält  mir  Natorf  vor,  dass  in  mainer  Bazension  gesagt 
ist,  er  nenne  in  dem  Absohnitte  über  Religion  Scbleierhaciieh  nicht,  während 
er  ihn  thats&chlioh  dreimal  erwähnt.  Dsa  ist  richtig,  loh  hätte  nioht  schreiben 
sollen:  „den  Natorf  nioht  nennt",  sondern  ,den  Natoiip  als  Pädagogen 
nioht  nennt".  ,ln  Bazng  auf  Schulvarfassnng  and  Wahl  der  ErziehungS' 
mittel  finden  sich  bei  Natorp  viele  Anklänge  an  Scm^iERUACHEB".  Dies 
sage  ich  in  meiner  Bozenmon  nnd  hatte  mir  notiert,  dass  ScBumiufACHER 
als  Pädagoge  nicht  genannt  ist  Bei  der  Niederschrift  der  Bezension  ist 
mir  dann  das  Veraehen  begegset,  dass  ich  sagte,  Natobp  nenne  Schleier- 
UACHEs  überhanpt  nicht  Natürlich  wollte  ich  damit  nicht,  wie  mir  Natorf 
(8.  X)  unterlegt,  .rügen",  wie  ans  meinen  Worten  wohl  deutlich  hervor- 
geht: „Diese  (die  Religion)  führt  er,  wie  mir  scheint,  mehr  noch  an 
Schlsurmacbeo,  den  Natorf  allerdings  nicht  nennt,  als  an  Kant,  ao- 
schliessend  aaf  das  Gefühl  inriick,  das  keine  Grenze  kenne,  immer  zum  Un- 
endlichen dränge  (S.  328).  Denn  die  Religion  ist  nach  Natorf  das  Er- 
leben des  Uiibedingtan,  Unendlichen  (8.  337).  Schon  aus  dieser  Inhalts- 
angabe dürfte  bervoigehen,  dass  es  —  von  einigen  bowosaten  oder  un- 
bewuBsten  Anklängen  an  Scm-EüstucHER  abgesehen  —  durchaus  der  Qeist 


Darin  ist  nur  aosgesprochen,  dass  ioh  nicht  weiss,  ob  die  Anlehnung 
an  BCBI.BIBRMACHBR  bewusst  oder  nnbewusst  ist.  Nstürlich  habe  ioh  meinen 
Iirtom,  so  gleiohgiltjg  auch  dar  Fonkt  ist,  den  er  betrifft,  sehr  bedauert 
und  in  meiner  Antwort  auf  eine  Hitteilung,  in  der  mich  Natobp  nach  dem 


iM,Coo<^lc 


480  P'  Barth,  Erblftrang. 

Eisoheinen  der  BeienBion  daraaf  kufmerksam  luaobte,  mioh  sofort  berat 
erkJftit  im  uttcbsteD  Hefte,  aUo  in  damselben  Bande  der  VierteljahiMohrift, 
der  die  Beienaioo  enth&lt,  eine  berichtiKeiide  Erkläroug  za  bringen.  Da- 
tSDf  antwortete  Nitosp  woctlioh:  „Verehrter  Herr  KoUwe,  beetan  Dut 
für  Ihre  Zeilen.  An  der  £rkl&nuig  liegt  nicbt  Tiel;  entsoheidea  Sie  iielbfit, 
ob  SB  Ihnen  der  Leeer  nnd  Ihretwegen  wichtig  genug  eraoheint*  Im 
weiteren  giebt  er  zu,  daea  Schleiebh&cheb  ala  Fftdagoga  in  der 
„Sozialpädagogik"  nicht  genannt  ist,  nur  in  Mheren  Sobriften,  die 
er  zitiere.  Da  icb  aber  doch  nicht  das  OeringBta  , gerügt*  hatte,  so  sdüen 
ee  mir  gleichgiltjg,  ob  die  Erwähnnng  ScBLEtsaRACBEa's  in  der  Religion  oder 
in  der  I^agogik  unterlassen  war,  nnd  die  Erkl&mng  nnterhlieb.  Hätte  ich 
geahnt,  für  wie  wichtig  Natobf  einet  diese  Sache  halten  würde,  so  hätte 
ich  sie  gebracht 

Beeondeni  auf  1.  und  3.  der  hier  erwähnten  Ponlrte  grändet  NitOBP 
jetzt  (8.  X)  folgendes  Urteil:  „Die  ganze  Berichteistattang  Bahtb's  ist  toq 
einer  nicht  leicht  zn  überbietenden  Ungrändliahkeif.  Diese  Beaohnl' 
dignng  weise  ich  ala  durchaus  unbegröodet  zarück.  Das  [errara 
hnmauum  nehme  ich  aäah  für  mich  in  Anspruch,  zumal  in  einer  in  jeder 
Hinsicht  unerheblichen  Eünzelheit  Von  dieser  abgesehen  hat  Natobt  mir 
in  meinem  Berichte,  der  drei  eng  gedruckte  Seiten  beträgt,  kein  Versehen 
nachweisen  können.  Dagegen  moss  ich  zu  meinem  Bedanem  feststellen, 
daas  Natorp  meine  Bezension  vielfach  entstellt  hat,  („ragen",  „tadelhaft 
finden",  gbelehren*}  nnd  in  sie  einen  Ton  hineingelesen  hat,  der  darin 
ebenso  wenig  zu  finden  ist,  wie  in  meiner  Bezension  einer  seiner  froheren 
Schriften  (im  Literarischen  Zentralblatt  1895  No.  44,  S.  1&80),  dass  er 
ferner  es  angemessen  gefunden  hat,  auf  diesen  Ton  seine  Erwlderaog  zu 
stimDien. 

Leipzig,  im  Deierabet  1908.  P.  Babth. 


n,g,t,7l.dM,GOOglC 


n. 
PhflosophisGhe  ZeitBChrlftan. 

AkUt  fir  PUloBoyU«,  I.  Abteihug  (BeiUn,  Etsimei). 
Bi.  13,  Heft  1  (N.  F.  Bd.  1»,  Heft  1). 

C.  H«bl*r,   hWMUg.  T.  A.  TimkrklB,  Dabw  dU  AilMoUllMha  DaanttiaB  in 
TtuBdlfl. 

Bliär«,  Zv  Dtaawd««!*  FlMwoha  TNi  0?^< 

K.  Wllian,  Di*  Satas«rl«a  im  AifMoMlM 


Kmi,  (London,  BdiDbnrgb,  Oxfoid,  WilliuiB  and  Norgata.) 
New  Seiies,  No.  48. 


Zettiekrift  fir  PUlMOflile  und  pUIoiorUuke  Eiitlk  (Laipag,  HUob). 

Bd.  US,  Hm  1. 

W.  T.  Xiehloh,  Du  QrandKaMti  if  L«bm.    (Sehlua). 

V.  Pleklsi,  üntar  wdahen  phfloMphlMtaw  TonuMtnucin  fcit  Hab  Ml  Btftl 

diaWartMUtniudM8tutMutwlakdttBdwl*litdliMnb«irt«llMl  (■oUwn). 

H.  Bslehal,  DanUlng  BDd  Kritik  TflB  J.  Bt.  MUl'i  TtaMri*  i*t  iadaktttM  He- 


K.  Bokolowakr,  Km  n«B«r  baclMkw  1 
H.  8l*b«*k,  RsÜsloB  nnd  EDtwIsktlaBff. 
9.  Fall,  -  ^^-  ■      -    =^- 


ik,  RalUaa  nnd  EDtwIsktlaBff. 

iB,  Puäuallimu  odar  WaBhaalwliknit 

in.  --  BalbatanialcaB.  —  HatlaaB.  —  Km 


B«TMe  FUloaoyUqMe  (Parie,  ALoan.) 
BS.  Annde,  No.  8. 

e.  RasaDt,  Itm  toimaa  almplaa  da  l'i 

H.  Fl*Ton,  l/awBHWio*  n«l»U. 

IL  llasilaB.  Laa  UteMti  at  l'trelntloB  da  bt  mmUU  (I.  ■ 

Dr.  mnah,  Fhlaoa '  -     


ABalnaa  al 


E%iloeophis<Ae  Zeitsohriften. 


Ho.  ». 


j>«,  Pnsboloilg  d'oa  toiiTmin  ii 
_    _     l|t,  LldM  da  anuiUU. 
>r.  WfjBftandti  Frkncktn,  P*] 
I.  Airtftt,  ObMmtiDii  ni  nna  n 


F.  B.  HkOI«,  LIdM  da  muiUU. 

-n-  ""'--iiidti  Fr»iiefc«tt,  PardiolotU  da  1»  aroraBM  «n  riUBWtalfU. 


No.  10. 
B.  PkDlhkD,  L>  8lnDl*tloii  duu  1«  ewMtire.  —  Qnelqn«!  fonaaa  parthnlltna  da 

■Im«lUion. 
B.  Soblot,  L«  flBBUU  «  Moloila. 

"' ■    ~    ■    '■     *    llDBtmoiftnd,  L , .^ 

t«a  ranilni'  —  BaTii*  dta  pirlodlqnaa.  —  Htarolofla. 


Tt«.  Bi«iii«r  da  Hontmoikiid,  L'Aratommiil«  d««  myMiqiiM  ehrttiaBi. 
iattymtm  at  omiiptaa  Tandni-  —  BaTii*  dta  pirlodlqnaa.  —  Hl 
LiTiM.   NonTaliM    ' 


;,  Da  Ift  aanntlon  i  rintclUaaioa  (1.  mitielU. 
.    T . .^j ^ologj — 


I,  Lft  pndeir:  Mnda  payebolöglqn*. 
B.  !•■  uubaTty,  La  omoaiit  ioelaloglqB«  da  iimis. 
F.  Panlhkn,  La  ifmDlstlon  dmna  le  BantUre.    (Flu). 
Anklywa  at  eonptei  lendu.  —  Sara«  daa  pttiodlqnas  «tiugan.  —  UTrea  nomTMBx 

Tke  Fhlloaopklc«!  BevUw  (New-Tork  aod  London,  The  Hkomillan  Comp.) 

Toi.  xn,  No.  s. 

V.    SMlltll,  Ttl«  IdM  Of  SpMO. 

J.  ElBK,  Fncmatlnii  u  k  PhUoaaphia  aathod. 

Ch.  M.  ^kkavall,  Th*  FUloMphj  of  EnwaM. 

Proeaadluai  ot  ttaa Thlrd  Annnülleatlns  of  tha  Wartan  miMnbtail  iMOadatlOB. 

Barlawa  of  Booki.  —  SuBtoarlei  «t  Artlelaa.  —  NMIeaa  of  Kew  Book«.  —  Hot««. 

Tke  PsjcholOKlcal  BeTl«w  (New-Tork  and  Ixmdon,  Tbe  Hacmillui  Comp.) 
Toi.  X,  No.  fi. 

O.  B.  ODttan.The  Cue  of  John  KIdmI. 
J.  P.  ByUB,  ThaDiatrlbBtlon  of  AttantiOB.    (IL) 
II.  üayer,  Sona  PoIbU  of  DlffarsBea  ooDoaiBliig  tbe  Tb«or;  of  Nula. 
DlfeiHloB.  —  Parohologlaol  Lltsntar*.  —  New  Booki.  —  Notaa. 

Zeltsckiift    für   Fsjcholofd«    nnd   Physlologi«    der 
(Leipiig,  J.  Ämbr.  Barth). 


Ltt«nnrb«riabt. 

Bd.  U,  Haft  1  D.  S. 

A.  HalnoBB,  BemaitBiiMii  Obar  den  Fubaukarpar  and  daa  l[lMkn|«K«a«ta. 
O^Rotanbaah,  Da*  Tfoktaek  dar  Uhr  in  akDiUMbar  aad  ipraohpIunrialaslBahar 

«nucan.    (0.) 

n,g,t,7l.dM,.COOglC 


BailahnBf. 
Tb.  ZlahaB,  KrkiBBtBlathHTetlaolia  Abi 
Lltaraturbwlaht. 


PhilosophiaotLe  Zeitaohriften.  483 

Bi.  SS,  H*n  8. 

ILA.  ■.  OmmbleoBd  Mkrr  Wblton  Oalkini  Usbar  dl*  Badaatnus  von  Wort- 
WiWliBcwi  tti  dl«  ünUiMhaldMig  Ton  QuülUtäd  aakMMWar  BaUa. 

K.  F.  BraiB*teln,  Baltn«  iw  Labra  daa  IntKmltUeiMdaa  UahtraiiM  dai  g«- 
tnudM  and  krukaa  StUna. 

Utantstbarl  oht. 

Bene  Ifrio-Bcolutlqi«  (Lon*aiii,  Inatitnt  Sapöriear  de  Philosophie). 

10.  Aanie,  Ko.  S. 
M.  Dafonrny,  La  rOl«  da  Im  Sodoliwla  d 
Ote.  Domat  da   VoTfaa,  Kn  qnaOa  L 
MolMdqBaf 

5.  JaBaaem,  L'av«la(itlaM  dt  ■. 

6.  da  Oraena,  Le  HUtiriaBe  at  la  tanz  nliitudlma. 
BnllBtln  da  l'InititHt  d«  nitloMphia-  —  BalletlBi  bibUofiapUqnaa.  —  Coapta«  na- 

dni'  —  OüTTBcaa  BDTorta  t  la  BAdaotlan, 

Tke  Hlkbert  Jovrnil  (LoDdon  and  Oxford,  Williams  and  Norgate). 

Toi.  II,  ITo.  1. 
S.  Caird,  8t.  Faul  and  tha  Idaa  of  Kvolntlon. 

B.  Jonaa.  The  yraiatit  Atutnd«  «t  leflaetlra  ThooEht  towaida  UaUgian- 
e.  r.  atont,  Ifr.  r  W.  H.  Kyan  M,Ha»anPanottalft;aadlla8nmmlalbodl]r 

DMtta'. 
T-  K.  Oherna,  Babflon  *ni  the  BIbla. 
L.  Oampball,  HaraJltr  In  Aaohyhu. 
B.  Bnaantnat,  Plato'a  ConoapUon  ot  Da«th. 


C.  F.  Dola,  Fiom  An« 
»j,  DoMrbal 


ä.  B.  Baaby,  Doeüwal  Slgnifleanoa  ot  a  minBiIoni  Biith. 
DiMaMlana.  —  Karlawa. 

OMka  Mrsl  (Prag,  Laiohter). 
Roeiiik  IT,  8«sit  B. 


I.  FoBstka,  Qnalaaa*  luporta  antra  la  pofnlatlan  M  U  faolUtA  da  ■ 
'"   "■-'■-  -,    [i  rtfoima  da  l'i — ' ' '"' ■" """ 

•r.r 

"Frito'dfTara. 


Pr.  Drtina,  lÄ  rtfräma  da  l'anaalnaamant  laoondajie  an  Pnuaa.    (Flu). 
T.  J.  HaBBor.Lattometrianon-eiiaudlaiuaataaarappaTtaaTMlaaoUlqaa.  (Solla). 
a  stDtrale.  —  J>00BmsBla.  —  Analyaaa  st  oomptM  randaa.  —  Bbtho  pirlsdqlna. 


Reenlk  IT,  Hcslt  «. 
Fr.  Otda,  41a  mtmoira  da  profWaaoi  J.  Dordlk.    n. 

T-  J.  Hannar,  I«  stomatii« non-andtdlsine  at  asa rapport*  avao la nottlaoo.  (Flaj. 
B.  KllBtbOTKOr,  Uoo  phUoiotihla  polIUasa. 
Barns  Btatrala.  ~  DooBmenta.  —  Analriaa  at  oomptM  isndaa.  —  Baraa  pModiqo« . 

iBtematlonal  /onraal  «f  Ethlca  (Ptuladelphia). 

Toi.  XIT,  1. 
A.  Baniy,  Tha  apaalal  moral  TratnJnf  sl  Qlria. 


J.  Lalnt,  Art  and  HotvUty. 

W.  B.  Banediot,  Baliglon  aa  an  Idaa. 

J.  D.  Stoopa,  Thn«  8Ug*s  of  IndlTldBal  DarsIopmaDt. 

DlaoBMloB.  —  Book  BsTteva. 

Piiaccton  Contribitiom  to  P«;cholon   (Prinoaton,   UniTanity  Pnea), 

Toi.  m,  Ho.  a. 

J.  H.  Baldwin,  Qsnatlo  atadlM.    (GontiB). 
J.  H.  BaldwiB,  Hiad  and  Bodj. 


Tol.  m,  Ho.  S,  4. 
J.  V.  L.  JoBaa,  BosUltr  and  Byapathj. 


iM,Cooglc 


Drockf  eUerberichttgiiiig : 

Heft  n,  S.  220,  3.  ZeUe   von  unten  lies  II,   S.  118 
t  S.  118. 


n,g,t,.i.dM,  Google 


m. 
Bibliographie. 

L  Geschichte  der  PhlloBophle. 

T.  Hvmboldf  s,  W.,  gesaDunfllte  Sahtiften.    Beraosg.  t.  d.  köaigl.  Atoilaniie 

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LabrovH«,  Fr^  P.  J.  Q.  Cabuiü  O?!^?— 1S08).    Piris.    H.  3,60. 
hul6,  J..  Janet  SpiritaAlismssa.    Bndapest    H.  7,60. 
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Bttltrt^  Lui   Gewdiiohte   dar    Philosophie   des   HitteUlteni.     Texte  und 

TJnter^uobimeeii.    Heroosg.    v.    CI.  Baeamter  n,    0.  voa  Hertling.    IT. 

Bd.,  2.-4.  Heft    Münster.    M.  16.60. 
DklclieB,  8.,  Ueber  das  Verhältnis  der  Oeschiohtssohrejbimg  B.  Bnme's 

ZQ  seiner  praktischen  Philosophie.    (68  5.)    Loipiig.    M.  3.—. 
DSrlnc,  A.,   Oesohiohte  der  EriechisRben   Philosophie.    2  Bde.     Leipzig. 

{XII,  670,  Vn,  586  S.)    M.  20.-. 
Stranolk,  j.^  La  peosee  raxse  ooDtemporaire.     Paris.    (271  B.)    H.  3.60. 
Hajin.  B.,  Oeeammelte  AnfBlltze.    BerUn.    (VII,  628  S.)    H.  12.—. 
Schmitt,  B.  H.,    Die   Onoais.    Orandlagea    dar    'Weltansohannng     einer 

edleren  Enltar.  I.  Bd.:  die  Gnosis  des  Altertums.  Leipzig.    (£37  a.  TU  8.) 

H.  12.—. 
de  LBOgr«»  C,  Goethe  ed  Eelmholtz.    Torino.     (161  B.)    H.  2. —    The- 

inistii  in  Aristotelis   raet&physioorum   libnim   A   puaphrasis  hebnüoe  et 

Utine.    M.  8.  Landauer.    Berlin.    M.  31.60. 
DffiBolr,  M.,  ■.  F.  Meiuer,  Philosophisches  Lesebuch.    Stuttgart.    (Till, 

368  B.)    M.  4.80. 
DSU,  H.,  Ooethe  nnd  SohopesUner.    Berlin.    (78  S.)    M.  1.60. 
Harward,  F.  H.,  aii4  M.  E.  Thomas,  Critios   of  Herbartism.     London. 

(168  S.)    M.  8.-. 
Arl«th.  E..    Die    metaphjsiMheD    OrandlageD    der    aristotelisohen    BUiik. 

Prag.    (71  S.)    H.  1.40. 

n.  Logik  und  firkenntnistheorie. 

BiegaiiBkj.  W.,  Oinndsatze  der  allgem.  Logik.    Wareohan.    (406,   TU  d. 
8  8.)    M.  «.— . 

daillard.  O.,  £tude  des  pbenomäneB  an  point  de  vne  de  lear  problenne 


partli 


I*KT1,  M.,  Die  Logik  anf  dem  acheidewegs.  BerUn.  (IT,  843  8.)  M.  9.—. 

n,g,t,7i.-JM,.COO<^le 


StroüKt  C.  A.,  Vbj  tbe  Mind  has  ■  Body.    London.    H.  12,60. 
Dlrr»  E.,   lieber  die  Qrenxen   der   Oawissbeil     Leipzig.    (VIL    152   S.) 
H-  3.50. 

HL  Allgemeine  Philosophie  und  Metaphysik. 

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n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC 


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n,g,t,7l.dM,.COOglC 


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ia  den  wiohtigBteD  religiöa-phitoBophiacheii,  Bofialen,  nitioiuleii  und  Tölks- 

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ileta,   S>,   Willktrliohe   Bntwiokelnngsindenmitea   bei  Pflaoien.     JaoA. 

av,  166  B.,  28  Abbildgn.)    M.  1— 
KrMiner,  H.,  Weltall  nitd  Henwliheit    Oeaobiohte  der  Erfbraobong  der 

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n.  III.  Bd.    Beriin.    (XQ,  616  nnd  X,  468  8.)    Je  V.  13.-. 
Sttnhonae,  B.,   An   IntrodnctioD   to   Notare   Btndiea.    London.    (432  8.) 

H.  450. 
Portigr   Gf   Die   Qrondsiige   der  moniatiBaheii  nnd   dnaliatiaohen   Wdt- 

ansobaunng  onter  Berüokaiobtignng  daa  neaeatan  Standee  der  Natnrwiaa«»- 

Bobaft.    Stattgart.    (IX.  106  S.)    H.  2.—. 
irie«ik»r,  H.,  Das  Werden  der  Welt  nnd  ibre  Zakanft.    Wian.    (160  &) 

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X.  Allfemelne  Pfldago|;lk. 

AkhttndlBMfan.  p&dago)nwdie.    Nene  Volga    Hetaasg.  v.  W.  BarttioloBiftBa. 

JX  Bd.  3.  Beft    Von  der  Vererbung  und  ihrer  Bedeubuig  ftir  die  FS- 

dago^.    Von  W.  Dierke.    Bielefeld.    (19  8.)    U.  —.60. 
Oaroia   j   Barbarin,  B.,    Hiatoria  de  la  pedagogia  eBpaftol».     Madrid. 

(822  8.)    H.  8.—. 
WUllaBa,  S.  0«  1!he  Bietoij  of  auoient  Ednoation.    SyraooBa.    (IX,  298  8.) 

11.  6.^ 
LlTlMa,  K.,  L'4dnoaüwk  da  in  demoontia.    Faria.    IL  6.—, 
Batley,  L.  H^  The  Native-Btud;  Idaa.    London.    (166  6.)    IC.  6.—. 


JJ^- 


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