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n,g,t,7l.dM,GOOglC
LIBRARY
UNIVERSITY OF CALIFORNIA.
Class
n,g,t,7l.dM,GOOglC
n,g,t,7i.dM,G00gfc
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M,Googlc
XXVII.. Jahrgaog. '. I. Haft.
(Nm*''fiI|i HO
Vierteljahrssehrift
för
wissenschaftliche
Philosophie und Soziologie
gegründet voo
Richard Avenarius,
in VerbiBiiiuig mit
Ernst Mach nod Alois Riehl
herBQBgegebän .-^-..
Paul Barth.
lullns Schultz: Ueber die Fumla- | PV.JUd&i«3:StachyoIogle. (M.Naih.)
mtnle der fonnalen Logik. i i,. Müff'dmann : Das Problem d^r
(lainrt Mfillsr : Ueber die leitlicben [ Willens frei heil in der neiiesieQ
hiQeQBcbaftenderSinneswahrnebmuiiE. j deutschen Philosophie. (MaiOlliicr.)
Paul Barth: Die Geschichle der Er- Sichter, BaoulDr.-.Kiai-Aasspibche.
Jichung in soaiologiEch. Beleuchtung. 1. (W. P. Schiimaim.)
BetprechaiiKeii übei .Schtifien von: Fatve, L : La mt^ihode dans les.
Ädamkieuna : Die Grosshimrinde als I ssicnces eiipi^rimenlales. (Giessler.)
Organ der Seele. (Aug. Dunges.) 1 Ba/^win Didioriary ofHhilosophy and
Ä. miliare: Die Lehre vom Leben. ! Psychology. (Paul Baiih.)
(Augusi Dilngcs.) ! Groos, Karl: Der äsiheljfche Gcnus.=.
l Kant : Ein Lebensbild nach Dar- ; (Jonas Cohn.J
Stellungen seiner Zeitgenossen Jach- j Storch. E.: MuskeJfmiktion und Br-
tnaon. Borowski.WaSianski.Herausg. ! wussisein. (.August, Dunges.
von A. Hoffmano. (L. Rauseheu- '" ' '" '
bach.)
Mayer: Die schuldhafte Handlung
(E. Marcus,)
Ä. KnAtmiam : Ein Beitrag lur Ge-
schichte der Metapby^k und der
ftycholoped(MWUlen9.{\V.Henzcn. )
Wagn». Ä., '
piriokrilischeii Grundlegung dci
Biologie. (August Dunges.)
PbUoBOphlgche Z«ltscbrUtcti.
Bibliographie.
Leipzig.
Atisgegebeii ftm 20. März
„CcWijjIe
Bei der Redaktion sind eingegangen:
Aall, A., bacbt und f Rieht Leipitlg, Beialand. 341 8.
ArUtolellan Soct«tf, Froceoditigs of the, II Oxford, Williams & Norgate.
240 S.
Bauch, B., Oliickaeligkeit und PerBSnlicbkeit in der kritiadien Ethik.
Stnttjjart, Frommann (E Hauff).
BLbso, C, T.a Fantasia. Cat&nia. G^iannotta. 397 S.
Bon, F., Die Üogmeu (l(-r Krlcenutnistbeori«. Leij^zif!, Engelmaun. 349 ti.
Basse, L., Geist und Körper, Seele und Leib. Leipzig, Dflrr. 488 S.
Cesca, G., La Filosofia della Vita. Messina, Muglia. 221 S
— La Religione Morale de!!' Umaaitä. Bologna. Zanichelli. 684 S.
Chamberlain, H. 8t., Dilettaatiamue, Eaase, HouotbeismuB, Rom. München.
Brookmaon, 80 S.
BeDSseo, P., Der kategoriBche Imperativ, Kiel u. Leipzig, LipsiuH & Tiacber.
29 S,
U[e ErlOann^r, vom Dasein. Leipzig. Naumann. 287 S.
Flttgel, 0., Die äeelenfrage mit Bücksicbt auf die neueren Wandlungen
gewtiiser nator wissen Schaft lieh er Begriffe. CStben. Scbulze. 15Ö S.
tiejser, 0., Oruadlegung der empiriechen PsTcbologie, Bonn, Hanat^in.
240 S.
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JodI, F., Lehrbuch der Psychologie. Stuttgart u. Berlin, Cotta; 2. Au«.
2 Bde. 435 u. 448 S.
Kate, H. Ten.. Zur Psychologie der .Tapauer, Kolff & Co. 12 8.
Kinkel, W., G. Fl'. Herbart, sein Leben und seine Philosophie, tiieasen,
Rlcker. 2Ü4 S
KlrechmaDD, A., Die Ditnensionen des Itaumes. Leipzig, Engelmann. 112 8-
Kranse's, K. Chr. F., BriefuechseL Herausg. v. V. Uoblteld a. A. Wünsche.
Leipzig, Dieterich. 540 S.
Lobsien, M., Schwankungen der psjcbischen KapazitHt. Berlin, Reutber
& Iteicliard. 109 S.
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Maanbelmer, A., Geschichte der Philosophie. Frankfurt a. M.. Neuer
Frankfurter Verlag. 111 S-
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Medicus, F., Kants Philosophie der Geschichte. Berlin, Reutber & ßeichard.
82 S.
Mellin, G. S. A., Marginalien und ReKister zu Kants Kritik der Erkenntnis-
vermögen, 11. Gotha. E, F. ThiAemann. 237 S.
Meamann, E., Die Entstehung der ersten Wortbedeutungea beim Kinde.
Leipzig, Engelmann. 69 S. •
— Die Sprache des Kindes. Zürich, Zürcher & Furrer, 82 S.
Mejer's Grosses Conversatioot-Lexikon. 6. Aufl. I. Leipzig, Bibliographisches
InstitQt. Ö03 u, IV S.
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Sandrou. 125 S.
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iM,Coo<^lc
Vierteljahrssehrift
ffir
wissenschaftliche
Philosophie u. Soziologie
gegründet von
Richard Avenariaa
im Tarbindong mit
Brnat Mach imd Alois Riehl
heraiugegeben
Paul Barth.
8i«b«iiBHdfWMuig^r Jahrgang. N«ne Folge IL
Leipzig.
O. B. Beisland.
1903.
,iP<.-jM,Googlc
'•6 3
,t,7i.dM,GoOglc
lohalteveraeichnis
dm
37. Jahrganges.
o du Haft, dlaanblHAos dls S
Artikel.
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iM,Coo<^lc
InhaltiTerzeiofanü. VQ
Oä^ier, y. V., Wm ist lUnm. Zeit, Bewegimg, Haue T Was itt die
Enoheinimgsweltr — Ton Dr. J. Schultz. IV, 467—468.
OibamU, (f., TorlMiiag«n Aber Hatnrpiiiloaophia. — Ton Oieaalar,
IT, 474—477.
I^ldsyi, Der Streit der Pijchologiaten und FannaUKt«n in der modernen
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463—466,
Sckiffe, (f.. Der Znsammenhuig toq Leib nnd Seele. — Ton Angnst
Dfinges. IT, 468.
Starei, £, Haskelfnnktion nnd Bewnsitsein. — Von Angait Dflnges.
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Staitantm vtUrum fragmatta, calUgit Jahamiu ai Armm. — Ton Panl
Barth. III, 368.
Vaiattimtr, JTt., Immanuel Kant's Kritik der reinen Vemnnft. — Ton
W. P. Schumann. IV, 466.
Wagmtr, A., Beitr&ge za einer empiriokritdsch«n Orondlegong der Bio-
logie. I. Heft. — Ton Angnst Banges. I, 103.
BellMtancelge.
Bnese, L., Qeist und KOrper, Seele und Leib. K, 240.
PkUoBopUsche Zeltsckriftea.
I, lOe— 108. — in. 368-864. - IT, 481-488.
BibUognpUe.
I, 10»— 112. — in, 866-^868. — IV, 486—488.
BerlchtigOBg.
a, 230—282.
Entregnang du ReiMBeBt«a.
Dni«fcf«U*rb«iektigug.
IT, 4S4.
BrUiriDr.
IT, 478—460.
iM,Googlc
n,g,t,7l.dM,GOOglC
M»M*M*A*MM*MA**MAAAAAAtAAAA*^^»».
Abhandlungen.
üeber die Fnniiamente der formalen Logik.
Von Jillis ScbnltE, Berlin.
A. HQBBERI. TBrwlrft die piTcbolaglitliclis
IDC nlne LogUi ili denn ÜMOtMlaebs Onm
I. kein WihiiwlUkrlteriiim — H
Her nDnuÜTeD Logik nnd
KlelH iber UWe
li PoruIUe keinen ihearetlKlien Isbilt Uefero —
b] Die UnnolifUll^uiuletm San lUIhemuDu
d) Kakts TnuuBsndenuIpMlgaophle fllr H.'b Zwecke
e) H.'i eigene TonehUge ebgelelmt — VH.
B, Inwlefom mim die doftd. L<j^ übetiiMiipt fDndl«rt
piycbolaglHtKlie nnd die eAannnitdirlllKbe,
I. Unell nnd Wihriielt rem piyckologliUi
Verden? Z^el mBg]
I.
Gegen die nbliohe p87ohologistiBche Begründiuig der Logik hat mau
neneidingB Bedenken ge&oEsart. Ich glaube nicht an deren Triftigkeit,
denke vielmehr, daas WnmiT, Siqwast, Esduakn and ihre Oenosseu im
grossen und ganzen den jüngsten „ Abaolntisten" gegenüber das Feld be-
haupten. — um dies in zeigen, nrnsa ich ein paar SelbBtTorstiUidliohkeitea
TOiHnfschioken- denn wo Fondamente wackeln, heisst es naohBohaaen, was
nbeilianpt noch feststeht.
1. Es giebt eine uornative Logik. Ihre Begeln dienen dem
Zwecke, inittell>are Urteile richtig zn gewinnen.
2. Alle Sätxe (von Fragen, Bitten und dergl. abgesehen) lassen sich
in drei ElaBaen teilen: a) Die Foetalate (Forderungen, Normen, Begeln)
gehen auf ein Soll, auf einen Gegenstand also, der noch nioht iat; da
tä» ihn verlangen, wäre es sinnlos zu sagen, sie stimmten mit ihm iiber-
ein oder anch nicht, b) Definitionen begrenzen einen Begriff; wenn
alle Wörter der Sprache vöJIig eindeutig wären, hatten eie keinerlei Zweck
— ausser etwa im Kindemnterriohte; wer aber mit schillernden Ansdriioken
la arbeiten hat, wie z. B. jeder Philosoph, bedarf ihrer, damit man ihn ge-
■auduni. PhlloK o. Sodol. XXViL 1. 1
iM,Coo<^le
2 Dr. JnliaB SehulU:
Qftu veistebe. laoerhaJb der Orenzea des allgemeiDan Spraohgebniaohs
ann sind sie völlig nillkürlicti; nnd in Bioh gageastaadBloB and leer, c] Be-
bau ptnngen oder Aussagen gehen suf OegenstAnde ; sie heben nämlich,
eine Th&tsache oder die EusteDs eines Dinges, ein Merkmal oder eine Ver-
änderang herror, machen anrmerksiini daraaf; mögen sie non sämtlich
KPrädikattonen" im taohnischen Sinne sein oder nicht
3. 'Wahrheit ist nnr im Satze. Jenes wortlose Drteil, das manche
Logikei in jedem Akte des Wiedererkennens ünden wollen; das eines nach-
denklichen Taubstummen'); das „anbewnsste" gewisser Sohuleu; selbstver-
ständlicb das ideale, das kein irdisches Wesen je tbatsAchlich gedacht oder
gar gesprochen zu haben braucht, den „Satz an sich" Bolzanos*]; all das
begreife ich unter dem Tetminns ,8afa" hier mit — gleichgiiltig ob es der-
gleichen giebt*); denn hier zum Beginne möchte ich allen möglichen Stand-
pnnkten gerecht werden. Ich denke, bei so weiter Fassang des Begriffs
wird z. B. auch Hnsssio.*) seine Bedenken gegen den „Oemeinplatz" fallen
lassen. — Eine Wahrheit, die nicht im Satze steckte, würde ich mir
jedenfalls vorbehalten, mit einer neaen Vokabel zu tanfen und hätte dabei
das allgemeine Sprachgefühl sioherücb anf meiner Seite.
4. Wahrheit im gewöhnlichen Wortsino ist die üeber-
einstimmnng des Satzes mit seinem Gegenstände. Die Eritikea,
die diese Definition erlitten, beruhen auf Hissveistandnissen. Hit , Gegen-
stand" ist kein metaphysisches Ding an sich gemeint, dessen even-
tuelle Hichtezisteuz oder ünerkennbarkeit alle Wahrbeil vemichten
könnte, soodeni zunächst die Tbataachen der Wabmehmnng nnd des
innem Erlebens im alle rsch lichtesten, gänzlich empirischen Sinn; sodann
jegliches, was nach den allgemeinen Denkgesetzen als gleioh real be-
trachtet werden mass. Qoideckemeyeb') meint zwar, die über Fan-
tasiebilder, z. B. Cehtauren, ausgesprochenen Sätze nnd diejenigen Dia-
jonktionsurteile, in denen das eine Glied zugleich die Yemeinong des andern
sei, könnten nicht unter die Kategorie „Wahr -irrig" fallen, wenn üeber-
eiustimmong des Urteils mit der Wahrnehmung das Wabrheitskriteriom
bilde. Aber gewiss! Der Satz: „Dies da ist entweder eine Florfliege odsT
ein Bohmetterling!" ist ja einfach die Sjnthese'J zweier (wahrer oder
irriger) Urteile, nämlich: „nur F. und S, kommen die nnd die Eigenschaften
zu" — und: „dies da hat die und die Eigenschaften!- Beide urteile aber
sind falsch oder wahr, jeuachdem sie mit Wahmehmangea harmonieren
oder nicht, und der Satz: „Centaaren haben Fferdeletber" ist licbtig
als bansthistorisches urteil, geprüft au antiken Bildwerken n. s. f.; also
letztlich an Perzeptionen; kann auch psychologische Wahrheit haben,
sofern meine eigne Fantasie, also ein seelisches Erlebnis, sie garantiert;
natni^eochiobtlich wäre er gegenstandslos, hätte also im Grunde mit dem
Wahrheitsbegriff noch gar nicht einmal zu than, ganz wie nach dtaseo
üblicher DeRnitJon zu erwarten! — Jede Art „formaler" Begriffsbe-
Btimmnng aber, auch die G.'s selbst, wird statt einer Definition aioe
Anweisung, wie Wahrheit zn suchen sei. , Ein Urteil ist wahr, wenn
') Beispiele s. Jises, Prino, of Psyoh. I, 8. 266 ff,; Ribot,
L'eTolution des idess generales, S. 48 ff.
') WissenHchaftslehre I, a 76 ff.
■) Vgl. X.
') Log. Unters. I, 8. 1B9.
') ZeitBohritt für Philos. u. phiL Kritik, Bd. 120, Heft 2 (1902).
•) Vgl Sigwart, I/.gik I, S. Aufl. S. 301-306.
iM,Coo<^lc
TJeber die Pundunente der fonnalen Logik. 3
es mit klarer Einsiofat gefiütt ist und alle Irrtumaquelleii sorgRlltig vet-
Btopft sind* — j», du ist denn doch ein Basept, beiaa ümzirfcelung des
Begriffs! Setxt man aber statt .klarer" etwa: „richtige" Einaioht, so
wird eine blöde Tantolo^e draus')!
Also kann Wahrbeit nur einer Betiaaptnng zukommen. Forde-
rnngen mOgen notwendig odei willkürlich sein, DeBnitioDen haadliah oder
inbequem, anch onter Ums^nden sprachwidrig; wahr oder irrig sind nat
idingang aller Wahrheit ist der Identitfits- and der
WideraprachsdatE. Denn ohne deren Qeltnng wäre „UebereinstimmnDg"
ein Wort ohne allen Sinn; wer sn jenen formalen üraziomeu iweifelte,
mnsata mit dem Auadnutlie .Wahrheit" etwas ganz anderes meinen als
wir. Demnach wird auch der eisigste Skeptiker, sofern er überhaupt aileilt,
das aA = A* und „A nicht ^ Non-A" immer voraussetzen müssen. Viel-
leicht bält er's für eine blosse Uebereinknnft, Heinetwegen! sei ihm die
Wissenschaft ein OSneespiei nnd die Wahrheit eine vom Fabrikanten in die
Mitte gemalte Nummer hundert; er habe auch gerne die Wahl, ob er mit-
wüTfeln willl That er's jedoch und zählt die Augen nicht, will sagen, miss-
achtet das logische Orundprinzip, ho halwn die Würfel in seiner Band über-
haupt keinen Zweok mehr, — Ich persönlich bin überzeugt, daas der Wider-
spnichssatz, der Satz vom ausgeschlossenen Dritten und das Dictum da
omni et uno ans dem Identit&tspriozip unmittelbar abzuleiten Bind, meine
daher im Folgenden, wenn ich das letztere nenne, die orsteren Immer mit;
wer darüber anderer Ansicht ist, eigänze diese jedesmal in Oedauken. —
So, and bis hierher wären wir einig — oder nicht? Nun aber setzt
es Streit!
u.
Auf welcher theoretischen Disziplin hat die norma-
tive Logik sich zu gründen? Ethik, Äesthetik, alle speziel-
leren KuDstlehren berufen sich doch auf Tbatsächticbkeiten ;
sollen allein die Regeln der Wahrbeitfiadung wie mUssige
EonTentiooeD in der Luft schweben P Niemand will dies.
Man pflegte ihnen bisher ein Fundament aus Psychologie und
'Wissenschaftsanalyse zu bauen; so empirische Grundlagen
jedoch werden, wie es scheint, unmodern. Mit seinen
„Logischen Untersuchungen"') glaubt Edhonb
HcaseaL einen neuen Weg zu weisen; vielleicht auch einen
sehr alten, jedenfalls war er im letzten Menschenalter kaum be-
treten. Und ein so eigenartiger Denker wie Goswin
Ufhdbs geht die gute erste Hälfte der grasQberwachsenen
Strasse mit^. Jener wtlnscht eine apriorische und unbe-
'I Nifaeres Abechnitt Z.
') I, 1900.
') „Einfätirung in die moderne Logik" I, 1901.
iM,Googlc
4 Dr. Jnlias Schnitz:
dingt apodiktische Wissenschaft als theoretische Stütze
für die Normen unseres Urteilens und Stdiliessens. Aber vie -
soll nao diese, die „reine Logik", beschafTen sein? Als
theoretische Disziplin muss sie Wahrheit enthalten, also
irgendirie anf Gegenstände gehen, demnach in Behaap-
tungen leben. Hnssssi. deutet wohl an,^) sie bestehe im
Grunde aus Definitionen; aber wie kann sie dann objek-
tire Gewissheiten bergen P Begriffsbestimmungen sind ja frei
wie die Lüfte — innerhalb der Schranken, die ansere Sprache
zieht; das sahen wir schon; wer soll a^is ihnen Positives
lernen? Behauptungen also mttssen schon heran, damit theo-
retisches Wissen entspringe: wie aber sind solche apriori
mS^ch?
Man sieht, unser Gegner wird zunächst die „Kritik der
reinen Vernunft" in den Grund stampfen mUssen, wenn er
den Unterbau der logischen Regeln in seinem Stile ausfuhren
will; und ich sehe nicht, wie man der Kantischen Uoerbitt-
lichkeit sich entwinden könnte oder bestreiten, dass Denk-
formen ohne Anschauungen „leer" sind. So zaubert aber
doch aus leeren Gelassen Gegenstände hervor, wenn es an-
geht! — Doch setzen wir einmal, das Unerreichliche wäre
erreicht, das gesuchte System nicht empirischer Behaup-
tungen stände da: wer garantiert uns, dass diese „ideale,n
Wahrheiten" auch im Ernste „wahr" sind? Die handsge-
meinen Wahrheiten der „Gh-fahrung" lassen sich durch das
Zeugnis der Sinne und durch's innere Erlebnis bestätigen oder
berichtigen; wie aber soll man die Aussagen der „reinen
Logik" kontrollieren? Hubsbbl — und auch Uphubs*) —
berufen sich als auf ein allerhöchstes Tribunal auf die
Evidenz, das unmittelbare Einleuchten jener funkelnden
Grunderkenntnisse. Wie seböD, wenn ein Zweifel an diesem
Kriterium nicht verstattet wäre!
Als Belastungsprobe für seine Tragkraft taugt jedoch
der Augenschein des Identitätsprinzips und seiner KoroUarien
■) s. 139. 178.
*) S. 22 (f., 36, 67.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
üeber die FoDdamente dei foTmalen Logik. 5
' wenig, und Husskbl that Qbel daran, gerade darauf be-
sU^dig zu pochen. Denn das Uraxiom ist ja fUr das, was
vir „Wahrheit" nenn en, die allgemeinste Bedingung^); wollte
die Logik nur aas ihr sich auferbauen, so bedürfte sie gar
keiner fandierenden Wissenschaft weiter; ein Hinweis auf die
blosse DeflnitioD der Wahrheit tbäte ihr völlig genug. —
Aber es giebt andere Deoknormen, deren Patente untersucht
seio woUen; auch Hüssbbl steht solche Ware zur Verfügung.
So nennt er als axiomatisch^) die Eegel, von n auf a + \
KU schliesseD ; ich stelle den in der Geomebie Üblichen Schluss
aus einer vorgezeicLneten Figur auf das ideale ADSchauungs-
gebilde daneben. Habe ich die Fermutationen meinethalben
bis 1- 2. 3. 4 berechnet und das bis dahin waltende G-esetz
eingesehen, so wende ich es ohne ZOgem auf jede beliebige
Zahl an; habe ich an einem willkürlich gewählten recht-
winkligen Dreieck den „Fythagoras" mir klar gemacht, so
bin ich gewiss, dass er allgemein gilt. Und zwar ist diese
Gewissheit apodiktisch; ich fühle, es muss so sein — obwohl
ich auf den Identität«- und den Widersprucbssatz mich nicht
berufen dürfte, denn um identische oder auch nur gleiche
Grossen bandelt sichs ja gar nicht. — Warum also herrscht
die mathematische Induktion schrankenlos, während
alle sonstigen Induktionen nur Wahrscheinlichkeiten liefern?
Hier gilt es, die Normen begründen! Hier wäre eine
würdige Aufgabe für HnssBBL's reine Logik."
Und was hülfe es ihm dabei, mit seiner „Sridenz" an-
zurücken? Das wäre mir eine schöne Wissenschaft, die
auf jedes unbequeme Warum nur immer „evident! evidentl"
ausriefe I Obendrein liesse sich der Fall denken, dass ein
Satz dem einen völlig evident erschiene, dem andern nicht
UpHBtJS z. B. hält das Substanz- und das Kausalgesetz für
*) 8o auch HcBBKRi^ 8. :
•) S. 61.
iM,Googlc
6 Dr. JnliQfl Schnitz:
evidenf): ich sach; Mach^) und andere weigern sich. Aber
auch ich selbst und viele mit mir würden die Form, die
Upheüs dem zweiten dieser Gesetze giebt, beanstanden. Von
einer theoretischen Wissenschaft nnn, welche die Denkregeln
begründen will, müsste man doch wohl verlangen, dnss sie
dergleichen Streitigkeiten schlichtete; wozu wäre sie sonst
da? Will also Husbbbl nicht emfach alles, was ihm per-
sSnlich evident vorkommt, ans selbstherrscherisch diktieren,
so wird er schon ein Kennzeichen angeben mUssen, das echte
and falsche Evidenzen scheidet. Er nennt die Evidenz ein
„Erlebnis der Wahrheit"*). Fast möchte man vermuten, er
meine damit etwas wie einen Eindruck, den die objektive
Idee auf unsere Seele mache; den Reizungen unserer Sinnes-
Organe durch die Aussenwelt vergleichbar: Platos Berührung
derPsychemitdem ewigem Reiche des Wesentlichen! Aber war'
es so: wer richtet zwischen einem Ideenblindeo, der unlogische
Evidenzen erlebt, und uns Normalen? Sollen wir alle Skeptiker,
auch die bedeutendsten, für geistig verkrüppelt halten, wie
gewisse Kenner den Böcklih eine Zeit lang fUr farbenblind?
Das gesuchte Kennzeichen wird eben doch (trotz S. 180 ff.)
nur aus der Naturgeschichte der Evidenz zu gewinnen sein.
Und auf diesem Wege geht Uphubb ihm in der That nach.
Er schildert'") sehr fein das Verhalten unserer Seele bei
echter Einsicht und bei blinder G-ewissheit. Aber damit ver-
legt er ja das endgültige Urteil über die logischen Eegeln
in die Psychologie — was Hüssbbi, eben vermeiden wollte!
Denn ein zweites Kriterium^') giebt hier nichts aus: freilich
können unechte Evidenzen nachträglich zerstSrt werden, echte
niemals; aber sollen wir bis ans Ende aller Tage unser
Urteil über die Geltung meinetwegen des Kausalprinzips auf-
>) 8. 82, 53.
*) Puaim, K. B. .Die Mechuiik, \a ihrer Entwiokelung*, bist krit.
dargestellt, (3. k. 1S97), S. 473 ff., 492 : „Die Printipieii der W&rmeiebre*'
<2. A. 1900), & 432 ff.
•) 8. 190.
"I 8. 96 f.
") TjPHiitti, a 37,
iM,Googlc
TTeber die Fanduneiite der tonuBlen Logik. 7
sobieben? Und vorher vOssten wir ja nicht, oh ein uns
TÖUig gewiss erscheinender Satz nicht doch vielleicht noch
omgestossen wtlrde. Wo bekommen wir da jene absolute
Sicherheit her, die Hcsbbbl fUr alle Behauptangen seiner
reinen Logik fordert?
m.
Mit dem Kriterium üherempirischer Wahrheiten steht
es tlbel; und um ihren Inhalt wird dem HSrer vollends
bange. Jemand möchte die Denkprinzipien selber für
theoretische Aussagen ansprechen, aus denen die „reine
Lo^" sich nähren konnte. Da aber tritt nns der unbequeme
Mann aus Königsberg in den Weg.
Apriorisch und apodiktisch nämlich sind bloss solche
Sätze, die subjektive Methoden der Welt«rfassuDg ausdrucken.
DasB ich alle nur irgend erdenkliche vergangene, jetzige
oder künftige Wirklichkeit in die Formen streichen werde,
die mir, soweit ich Subjekt bin, bereit liegen: das allerdings
kann ich sicher wissen, und keine Erfahrung ändert daran
etwas; die Schablone bleibt dieselbe, ob man Papier oder
Tuch oder Holz darunter legt! Dann aber steckt zugleicli
ein Anderes. Apodiktische und apriorische Sätze sind nie-
mals Behauptungen; denn das Subjekt an sieb ist ja eben
kein Gegenstand eines möglichen Wissens; sobald man es in
einen solchen verwandeln will, das reine Ich also mit dem
empirischen vertauscht, steht man in der Psychologie. —
Aussagen anderseits wollen ihr Objekt; ihre Wahrheit wird
ja an der Übereinstimmung mit diesem gemessen. Die ob-
jektive Weltseite aber ist in beständigem Wechsel begriffen;
ihr nähert man sieb nur durch Induktion und aposteriori.
Die englischen Empiristen wollen auch die logischen
Axiome auf Gegenstände bezieben and durch Erfahrung
verifizieren lassen. Diese Ansicht habe u. a. ich selber
seiner Zeit bekämpft']; z. T. mit ähnlichen Qrtlnden greift
>) Psycho), d. Axiome (1899), Buch IV.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
8 Dr. Julins SobnltE:
auch HüssEBL sie an*). Die Denkformen sind ihm ideale
Wahrtieiteo, weil sie aof Bealitäten nicht gehen. Ganz
recht; our übersieht er, dass sie damit den CharafctOT von
Behauptungen verlieren und anter den Gegensatz Wahr
und Irrig Dicht mehr fallen. Alsdann aber hilden sie auch
für eine theoretische Wissenschaft keine mögliche Unter-
lage.
Definitionen sind sie unter keineu Umständen; auch
solche gähen ja keine Wahrheit, weil nicht auf Gegenstände,
sondern anf blosse Begriffe bezogen. Und die fUr die Denk-
prinzipien erheischte Notwendigkeit fehlt ihnen obendrein;
sie behalten allezeit «twas Willkürliches und erzeugen wohl
Statuten, aber niemals eine positive Erkenutoia.
EIant hat es nicht deutlich ausgesprochen, aber zwischen
seinen Zeilen muss es gelesen werden: die apriorischen In-
strumente, mittels deren das Subjekt alle Reize packt und
ummodelt, kOnnen weder Definitionen, noch Aussagen, es
müssen Forderungen sein. Als solche sind sie ohne Er-
fahruDg gegenstandslos — und geeignet aller Erfahrung
ohne jede Ausnahme sich anzuschmiegen. Als Fordernngeu
des Ich bilden sie die eine Seite der Welt; ihr Gegensatz
gegen das „Objekt" ist eben der von Hussbbl so feierlich
erklärte, aber nicht herausgearbeitete Gegensatz zwischen
Idealem und Bealem. Die logische Richtigkeit jedes Urteils
messen wir an diesen unverbrüchlichen, ans eingewurzelten
Postulaten, wie wir inhaltliche Wahrheit an den Gegen-
ständen kontrollieren. Als Forderungen führen die Prin-
zipien „Notwendigkeit" mit sich, deren sie als Be-"
hauptungen ewig ermangeln müssten; denn die Welt um
uns und in uns spielt in Schillerfarben, aber angeborene
Denkgewohnheiten dauern und — zwingen. Als Forderungen
sind sie schrankenlos; denn eine notwendige Forderung, wo
brauchte die ihre Grenze anzuerkennen? Sie ist absolut,
während alle Aussagen von der wirklichen Welt umzirkelt
') S. 78 ff.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Ueber die FoDdamente der fonnAlen Logik. 9
und boechnitten werdea. Han sieht, ich will dem Gegner
an die vOUige Exaktheit seiner Axiome nicht rühren; nur
eben .wahr* im genaneaten Wortsinne sind sie nicht, weil
ae nicht unter die Kategorien „Wahr" und „Unwahr"
gehören.
Der Webstuhl ist nicht eine besondere Art von Gewebe;
und unser notwendigstes "Werkzeug, Wahrheit zu gewinnen,
der Identitätssatz, ist eben dadurch, dass er alle wahren
Sätze erst wahr macht, etwas anderes als ein blosser „wahrer
Satz". Auch er hiesse nur missbräuchUch „wahr" — denn
er hat, wie alle Axibme, keinen Gegenstand, an dem er
sich messen und mit dem er Übereinstimmen kOnnte.
DaB wül nicht jeder zugeben; ea kliogt so paradoxl Sogar dar Psy-
chologist Benno ElRDiuini'J sieht im 1 den tisch mitalchaeiD ein Merkmal —
nod Etrar das allgemeine Merkmal jeder Torstellang als soloher; dadnroh
ebeo werde sie „VorstelluDg', dass ihr Gegenstand nicht zugleich ein
anderer ist. Uod damit wäre denn dem Uraziom sein „OegeuBtaud* gläck-
iidi garantiert. Verbinden wir can aber auch mit allem Voretellen ein
Bewusstaeii] von dieser Identität des Objekts mit sich selber? Ja, meint
&., unter der Voraussctznng nämlinh, dasa „wir unsere Aufmerksamkeit
darauf richten, wie das Vorgestellte vorgestellt wird"*). Also wäre doch
das ,A ^i," eine BeBtimmong, nicht des Vorstellnngsinhalts, sondern
dar vorstellenden Thätigkeit; es bringt das Wesen unseres Vorstellens
tarn Ausdruck'); „bildet den Kern dessen, was seit Kisi als Position,
Setaang nnd .... Bejahung bezeichnet worden ist" '). Soll aber das Axiom
die ESgeuart sutjektiTen Thnus ausdrücken, so kann es keine Behauptung
sein — ausser so weit das psychische Faktum hinterher beschrieben wird;
denn Behauptungen gehen nur auf Inhalte; und B. fährt uns in die Irre,
wenn er das Prinzip') zugleich als Merkmal jedes Vorgestellten he-
zdchnet. Thun und Wollen, Willen nnd Fordern geboren zu einander.
und etn Postolat mitbin, aber keino Anssage und auch keine „Wahrheit"
ist das logische Omndgesetz.
Was sollte auch ein „A. =^ A" aussagen? worauf hindeuten? —
Nehmen wir einen identischen Satz sinnvoll in den Mund, so heben wir
immer die thatsSchliche Identität zweier durch irgendeine Nebenbestimmang
getrennten Inhalte hervor. „Dreieck C = Dreieck D" — beisst: „die
Dreiecke sind in ihrem Wesen, d. i. als Eonstruktionsforderangen, identisch
nnd eines, obzwar zufallig an verschiedenen Stellen meiner Tafel symboli-
siert" Dergleichen „A = A°8 sind selbstverständlich Behauptungen wie
andere und unterliegen der Prüfung, ob sie wahr sinrt oder falsch. Wenn
ich dagegen über den von vornherein einen unzertreonten Inhalt A
") Logik I (
■■) 8. 1«7.
') S. 172.
•) 8. 174.
') a 169.
Z
n-.iG00g\c
10 Dr. JaliQB Schultz:
HUT aussage, dass er A ist, so sage ich eben nichts von ihm aas. Sach-
lich schon ganiichtsi denn welches Merkmal höbe ich an ihm hervor?
Aber ich definiere Doch nicht einmal; denn dazu gehören wenigstens zwei
besondere Aosdräcke. Ich klingle wie ein Narr mit Vokabeln — und daa
Ist Alles'].
Sobald ich jedoch das Axiom als Postulat erfasse, ^rt Leben hin-
ein. „Du nilist Wahrheit? Erste Bedingung: Halte, was Da einmal geseilt,
als solches fest!" Da ist die traorige TriTiaütät snr QnindDorm alles
Wissens geworden; snr Orunonorro; und so bildet sie daa Eingangsthor —
dar normativen Logik; sie ist wohl trefflieb gemauert; aber theoretisch
kann auch die milchigste Norm, allein gelassen, nicht arbeiten. Da-: ans
Behauptungen zu bauende Fundament der Lehre von den Denkregelu
bleibt nach wie vor zu suchen.
IV.
Aber die Mathematik liefert doch apriori theoretische Sätze von
apodiktischer Oewissheit ? Wanim sollte die reine Logik ein Gleiches nicht
Um diese Frage zu klären, müssen wir uns zunSohst an Eint orien-
tieren. Die Grundgedanken seiner Iransszendentalen Aesthetik haben das
Jahrhundert überdauert und stehen yieLeicht für die Ewigkeit; aber ihre
Fassung ist zum Teil stilwidrig genug. Eine noglückliche Sache ist es z. B.
mit der Einteilung der urteile in synthetische und analytische; die beiden
Klassen entsprechen einigermassen den „AuEBagen" und „DefiuitioDen"; die
Fostulate fehlen ganz ; und doch tritt der Gegensatz des apriorischen zum
empirischen Wissen in volle Belenchtung erst, wenn nir uns klar sind, dass
nur Fordemngssätze die Tbätigkeit des Subjekts ausdrücken können : ich
snchto das schon zu zeigen 1 Wenn der ßaum die Form unsrer An-
schauung ist, so kann er unmöglich zugleich Objekt dieser ADsohauiuig
sein — es wäre denn in der Psychologie! — ; ein Gebilde, über das man
Behauptungen aufstellt, muss sich auch bereit Süden IsÄsen, dieselben
mittels seiner thatsächlicben Existenz dem Vergleichenden nachträglich ed
garantieren. Ohne sotcbe Realität bliebe jede Aussage „leer" --: Ktm
selber hat es deutlich genug dargelegt
Uüssen nun spnorische Urteile des Oegensfandes entbehien, folglich
auch der Uebereinstimmung mit ihrem Gegenstande, mithin der,W^rheit"
im eigentlichsten Wortsmne; und können ErfahrungssStze niemals apodik-
tJBohen Charakter gewinuen: so stehen apodiktische Forderungen und
empirische Bebanptungen einander reinlich gegenüber. Aus jenen
erwächst nur normatives, bloss aus diesen theoretisches Wissen. — Und
die Hatbematik? Und ihre .synthetischen Urteile a priori" ?
Analysieren wir ibre Methode im einzelnen.
leb soll z. B. den „PythagOMs" beweisen oder die Länge der Sub-
normale in einer Parabel angeben. Was thue ich daV
1) Ich zeichne eine Figur auf mein Blatt: ein rechtwinkliges Dreieck,
die zugehörigen Quadrate und das üebrige; resp. lob fordre eine Kurve,
deren Formel y'^'px sein soll. In beiden Fällen ist meine Konstruktion
eine Oandlong reiner Willkür: die „Welt" drängt mir ja eben diese
Unie, jenes Dreieck nicht auf; ich könnte just so leicht ein gleichseitiges
zeiobnen oder eine Ellipse heischen.
') Vgl. auch den Antipsychologisten Jcuus Berdiunh, Die Orund-
probleme der Logik (1882), S. 61.
iM,Coo<^le
üeber dio Fondunente der formaleo Logik. 11
2) Ich eotdeobe in tneinei) Gebilden Fienren niaderar Ord-
nttDK« die ich benutzan kann; im ereteren z. B. Dreiecka mit mir bekannten
OleichheitamarkaD. Die Jetzt entütehenden Bebauptangen : das nnd daa
Dreieck hat gemeiDHame Basis und gleiclie Höhe mit dem und dem u. b. w.
— Bind reiD empirisch; ihr Oegensiand ist einfach die eohwarz auf weiss
vor meinen Augen liegende Zeicbonng! Sia fallen folglich nnter den Oegen-
B^ Vahr-IrTig, sind aber nicht apriorischer, noch apodiktischer N&tur.
3) Ich prüfe, ob eine Veränderung des BaliebigTariabeln die Ba-
anltata von 2) amstoesen kOnnte, ob z. B. bei Verkürzung einer Kathete im
rechtwinkiigan Dreieck eines der „Häl&dreiacke" verachwfinde od. dgl.
Dmss diese Arbeit auf empIriBcbem Felde aich vollzieht nnd die durch sie
ermngrae Oanisshait keine apodiktiscbe ist, ersieht man besonders aus den
komplizierteren Fällen. Bei der .Diskussion" einer verwiokelten Kurve z. B.
hat man inneriioh kein anderes Oefäht als bei sonstigen wissenschaft-
lichen Analysen: es werden eben alle Mö^icbkeitan geprüft and aas voll-
stZndiger Induktion eine gut fundierte Behauptung gewonnen.
4) Nun wende iah das Ergebnis auf alle möglichen Figuren
gleicher Formel an; ioh sage mir: „was sollte miob bindere, im ana-
logen Falle wieder genan so wie jetzt zu verfahren, dieselben Eülfslinien
sa ziehen u. s. w.?* Und dies ist der Punkt, wo die apodiktische
Natur der Oeoroetrie sich zu äussern beginnt; aber alsbald gehen auch die
.Aussagen* ans, und es bleibt die Norm übrig: „verallgemeinere eohranken-
loa, was Du vorhin an einem einzelnen empirischen Gebilde gelernt hast!"
5) Ich zweifle vielleicht an der Richtigkeit der iu 2) „vorausgesetzten"
Teiterkenntnisse. Alsdann nntersucha ich diese salber auf gleiche Art, wie
den Lehrsatz, von dem ioh ausging. Im Falle des „Pytbageras" z. B.
wurde ich die Kongruenz- und Oleichheitssitze darznthnn haben und dabei
(üe Opeiationen 1 — 4) jedesmal wiederholen; durch unermädlicbe Er-
neuerung dieses Terfabrens aber lassen sich die „Axiome" als Seegrund
jedes Theorems ertancben.
6) Diese snnd Forderungen, apriori und apodiktisch, und fallen also
nicht nnter den genauen Begriff der „Wahrheit". — Ich verlange eine
linie, die zu^ich durch zwei Punkte völlig bestimmt sei und unveränder-
liche Bichtnng habe; ich verbiete damit, dass zwei Linien, die eine
Gerade unter gleichem Winkel schneiden, einander je treffen. Meine Or-
ganisation erzwingt einen ebenen Baum dreier Dimensionen a. b. w. Id
diesem „Soll" liegt kein „Ist" — es sei denn ein psychologiBches. Die
Behauptungen, zwei Parallele kreuzten sich nie, der Baum erlitte nicht
die kleinste „Krümmung" u. s. f. müssten sich von einer künftigen Er-
fahrung unter Umständen modifizieren lassen, könnten mitbin niemals apo-
diktisch sein. Wir aber behaupten gar nichts. Wir postulieren.
Und zwar ins völlig Schrankenlose. Wir wissen: in jede etwaige Beob-
achtung auch spitester Zeiten werden wir nnsern Banm, unsre Pa-
rallelen hineindenken; wir sind entschlossen, die Empirie naoh unsren
Anschannogaformeln zu modellieren, nicht diese durch jene verbessern zu
7) Aber neben den ßebilden, die wir in diamantener Beinheit er-
zeugen, steht jederzeit die empirische Körperwelt, für die unsre absolnt
apodiktischen Üieoreme nur angenähert gelten. Neben unsren idealen Ge-
raden nnd Ellipsen li^en die Grenzen der „wirklichen" Gegenstände und
die von nns gezogenen Linien auf Papier und Holz. Und da zersplittert
skh daa Unteilbareine ins Zahllose, Individoelle. Denn meine Konstruktions-
fordening existiert, sobald sie eindeutig bestimmt ist, nur in einem einzigen
iM,Coo<^lc
12 Dr. Jalins Schultz:
Exemplar — wie jeder Begriff. Der empiriaohon QaAdraW von 1 m Seiten-
IftDge dagegen kana es unzÄblige geben. Die best&cdige Benehnog nnn dar
.reioeD" Mathematik aof dietie winunelade Erfahrangswelt gibt jeuei eist
das rechte Lebeosblut and schafft immer toh neuem die Oewissbeit, dass
wir iu)8 nicht in blosBeo i£onventiODeD bewegen'].
Uit der Arithmetik aber steht ee wie mit der Oeometrie. Will
ich meinetwegen den binomiacheii Sati darstellen, so w&hle ich mir i)
wiliküriioh die Aufgabe: (a+b)». 2) Nachdem ich die ereten Potenzen
naoh früher gelernten Regeln entwickelt habe, durohsahaue iah aposteriori
das Eoerfizieutengeaetz; weshalb bisher der erste Koeffiiient dem Qesamt-
exponenten gleich wurde, aad so weiter. 3) Ich prüfe, ebenfalls dnroh
Beobachtung, ob keine Grösse in der Becbnang stecke, die geeignet
wäre, für die Zuknnft daa Qesets abzuändern. 4) Darüber beruhigt, handle
ich nach der apriorischen Norm, von n auf n-{-l 2u schliessen. 5)
Wegen der Entwicklung der einzelnen Potenzen u. s, w. rekurriere ich im
Notfälle anf frühere Erkenntnisse, mit denen icb die Schritte 1 — 4) wieder-
hcje. 6) Zu allerletzt komme ich aof die allgemeinsten Axiome der Orösseo-
lehre und aof den Zahlbegriff znriiok; und stehe hier in apriorischem
Gebiet: die Zahl als ZählaiJgabe und die mathematischen Ausgest^tangen
des Identitätssatzes sind keine Behauptungen mehr, sondern Forderangen.
7) Alle Gesetze der Algebra und Zahlenlehre Huden tausendfache Anwen.-
dongeo und Verdeutlichungen in der Errahining.
Nun endlich ist uns klar geworden, was es mit Kants „synthetischen
urteilen apriori" auf sich habe. Apriorisob sind die in Jedes mathematische
Gebilde eingewickelten und immer neu kostümierten Oraodnormen (6j and
für jeden Beweis der entscheidende Bohluss (4), der das Veraligemeinern
des theoretischen Einzelerwerbs gestattet and an dem das eigentliche
„Verstäadnis" des Lebrsatzes bgagt Sie enthalten aber auch keine that-
S&chliche Belehrung, keine „Wahrheit" im strengeren Worteinne. IndoHseo,
jene „absolut exakten' und letztlich notwendigen Postulate werden inner-
halb willkürlich gesetzter Figuren und Aufgaben (1) durch Betracbtung,
also apostenori, entdeckt (2, 3) und (7] mannigfach anf Erfahrung an-
gewendet; sc entspringen „wahre" Aussagen, die an sich nicht notwendig,
meist jedoch eofoit durch den Augenschein kontrollierbar sind.
Ausgangspunkt rnid Qangweise der Mathematik sind mithin apriori-
stisch und apodiktiscb, die Gegenstände jedocb, die sie auf ihrem Wege an-
trifft, echte Gegenstände und also Anlasse zu Behauptungen, deren Wahr-
heit sich konstatieren läsat; dadurch aber wird die „reinste" Wissenschaft
zugleich „theoretiseh".
V.
Will demnach Hussebl's reine Logik theoretisoh thao,
80 mag sie una Objekte vorweisen, in denen ihre aprio-
rischen Normen versteckt liegen und aus denen sie mittelst
Behauptungen hervoi^ezogen werden können. Wohl öffnet
sich da eine Möglichkeit, und Hdbbbbl weist darauf hin^.
') üeber diesen Punkt ist Lanok abweichende Auffassang interesaant
zu vergleioheo: Oesoh. des Mat. (3. A.. Iserlohn 77) 11, S. 16.
•) S. 248.
iM,Coo<^le
Vebar die FandameDte der foimalen Logik. 13
Wie, wenn die „Mannigfaltigkaitslehre", also die allgemeinste
Form der Mathematik, die gesuchte Wisseoachoft wäre?
„Grösse" und „Mamiigfaltigkeit" sind so abstrakte Voretell-
' angen, ihre konkret fixierteD Symbole so alldeutig, dass die
auf letztere basierte Disziplin fast eber formale Logik als
Arithmetik heissen kOnnte. Wir gewinnen schon HofTaung,
die leere Flasche Husbkel's möchte schlieBslich doch noch
vollgegossen werden. Aber achl Kaum will der verdurstende
Philosoph sie an den Mond setzen, so kommt der Mathe-
matiker gerannt. „Mein ist das Qebräu — dass du dich
nicht unterstehst, einen einzigen Schluck —1" Denn leider:
„Niemand kann es den Mathematikern verwehren, alles, was
nach mathematischer Form oder Methode zu behandeln ist,
fOr sich in Anspruch zu nehmen" ^). Traurig giebt der Logiker
das Gett^k aus den Händen und seufzt dabei^): „GehOrt
die Bearbeitung aller eigentlichen Theorien in die Domäne
der Mathematiker, was bleibt dann für den Philosophen
Übrig?" Ja, das möchte man wissen; ob uns Husbbel's Ant-
wort genügen wird, wollen wir bald sehen.
Vorher aber noch geschwind ein Ausfluchtsloch veratopft!
Unser Logiker thut gelegentlich dergleichen*), als könnte ein
normativer Säte durch blosse Umformung theoretisch werden.
Aus: „ein A soll B sein" macht er: „nur ein A, welches B
ist, hat die Beschaffenheit C und behauptet nun, der neue
Satz sei rein theoretisch und enthalte keine Normierung
mehr. Das heisat denn freilich ein feines EunststÜckI Der
Taschenspieler zeigt uns einen leeren Hut, schüttelt ihn und
zieht zu unserem Staunen ein paar saubere Ferkelchen oder
ein BoseDbouquet draus hervor. Bemerkt das gläubige Publi-
kum denn aber nicht, wie das Normative aus dem „Soll"
des ersten in das „C" des zweiten Satzes einfach hinUber-
gerutscht ist? Sogar Wilhei-m Schuppe, der doch alle ür-
■) s. 263.
<} S. 48, 166.
iM,Googlc
14 Dr. Julius Schnitz:
Sache hat, sich über HcssBßL'a Buch zu freuen'), schüttelt
hier den Kopf^). ^Tein, das wäre eine etwas trübselige
tbeoretifiche Disziplin, die neben der regelgebenden beständig
als Schatten hinliefe I Die letztere sagt etwa: schhesae hier
nach dem Modus X; die erstere echot: der Modus X ist hier
richtig. Von dergleichen Nahrung wird die neugeborene
reine Logik nicht leben ktinnen! Die alte hatte es gut; die
wollte ja von vorneherein nur Vorsßhriften geben; ihr Stoff
waren die einzelnen Fälle, in denen ihre Begeln Anwendung
fanden. Sie machte es den anderen normativen Wissen-
schaften gleich. Wie verfährt etwa die Ethik? Sie fängt
mit einem allgemeinen Eezept an und fragt nun: was ist
also deiue Pflicht wenn die und wenn jene Gelegenheit ein-
tritt? Oder nimm die Aesthetik. „Die Kunst soll . . . ."
helsst es an der Schwelle; und nachher: „wie zimmre ich
nach dieser Regel einen dritten Akt? wie mal' ich meinen
Schinken herunter?" So handelte auch die bisherige Logik:
A soll als A festgehalten werden n. s. v.; welche Schluss-
formeu sind demnach im einzelnen erlaubt, welche verboten?
wie hab' ich die, wie jene Disziplin zu fundieren, damit den
idealen Ansprüchen genügt werde? — Aber theoretische
Exsudate aus der wässrigen Allgemeinheit der Grundprin-
zipien? Milch her, Herr Hüssebl! Nur ein paar Tropfen!
Sonst verhungert Ihr Eind Ihnen unter den Augen!
VI.
In dieser Not erinnern wir uns an Kamt's grosses
Unteruehmen, die logischen Prinzipien regelrecht zu „dedu-
zieren". Sollte nicht die „Transszendentalwissenschaft"
eine echte Vorläuferin von Hüssebl's „reiner Logik" gewesen
sein? Natobp^) meint es, und Hussbkl selber^) wäre nicht
*) Dean bei Scbcppis „Bennsstseio äberhaapt" (Orundrigs der Erkeant-
niBtbnoKe a. Lo^k, 1894, R. 31; diese Ztsoh. 1893, S. 379, u. a. a. 0.)
wird H. dooh aohliesslich landen inüBseo, neon er nnn ausfäiiTeti mächte,
WM er Torünfig verheiBSt; vgl. VI, Anm. 8.
•) Aroh. f. ayst Pnil. VII, S. I8f.
■) Kantstudien VI, 8. 270.
*) 8. 214.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
üeber die FnoduneDte der formalen Logik. 15
SO abgeneigt, es gelten zu lassen; freilich steckte der arme
KQnigsbei^er — die Zeilen waren eben abergläubisch! —
noch ein bischen tief in allerlei Mythologie! Doch das wäre
zu ertragen; man kann ja renovieren und weiterbaaen, wenn
man nur überhaupt Bauplan und Steine sieht!
Leider wird der eigeatliohe Sinn von Kant's DeduktEoo der Ansohau-
QDgB- und Denkformen verechieden anfgefasst. Drei Dentungeo sind mög-
lich, and Eaht bat wenig dazu getlian, die Botscheidnog znischeo itinen
ZD erleiohtem.
1. Jeder onbefaDgene Leser der .Er. d. r. V." liest Aestlietik nnd
Analytili trotz aller Protwte des Verfassers sanächst „pejchologistiscli''.
Haom, Zeit und Deuhformen Bind angeborene Varfabningsneisen unserer
Seele, in nnsier Oi^anisation wurzelnde Gewohnheiten, Welt zn erfassen'}.
Und man findet die Tafel des Apriori durch psychologische Zerfasernng
onsrer Vorstellangen und ürteihiakte. — Trotz der anaführlionan Dar-
legungen Robl'b*) glaube ich, Samt bätte, am ganz konsequent zu sein, seine
Lehre so ptäzisieren müssen. Dass der grosse Denker allen ,Anthro>
pologismos* schier ängstlich ablehnt, ist mir immer als eine Art Halbheit
etscfaienen'). Metapbysiker und logischer Abaolutist aus Leidenschaft, Em-
pirist und Skeptiker durch den Zwang übermächtiger OedankenanstÖsse, vei-
snoht er immer aofs neue, den ranachenden Strom seiner eigenen Philo-
sophie in stauen; beweist alle Ontologie in Gnmd und Boden — und
schleppt aie nachträglich darch die praktische Hinterpforte wieder ein;
arbrätet thatsäcblich mit psychologischen Argumenten and donnert dann gegen
alle Psycho logistik. Ein andres Motiv kommt hinzu: wie jeder originelle
Kopf fühlte Cani die Gegensätze seiner und der früheren Ansichten schroffer,
als sie wohl waren; wie er den Idealismus BxHKELEy's heftiger ablehnt, als
im Weeen seines Idealismus lag: sa möcbte er Lkibhizbns Lehre von den
angeborenen „Dispositionen*' der Seele') sich möglichst weit rem Leibe
halten — weiter, als unbedingt nötig! -- Ist dieser mein Eindruck richtig,
so ftUlt die „Transszendental Wissenschaft" wenigstens teiLweis unter HuasisL'a
Verdikt nnd ist als Wiege einer „reinen Logik" nicht mehr zu brauchen.
2. Man könnte KÜri's Erörterungen aber auch so deuten: was Apriori
ist, ergiebt sich aus der Natur des Erkennens an eich, ganz abge-
sehen von der faktischen Einrichtang der menschlichen Seele'']. Das wäre
nno Hdbsibl's Fall: „Subjektive Bedingungen der Höglichkelt" aller Iheorio
aind „nicht etwa reale Bedingungen, die im einzelnen Urteil ssut^ekte oder in
der wechselnden Spezies urteilender Wesen wurzeln; sondern ideale Be-
dingungen, die in der Form der Subjektivität überhaupt and
in deren Beziehung zur Erkenntnis wurzeln" "). — Aber um diese Bedio-
gnogen aufzufinden, müsaten wir die „Form der Subjektivität überhaupt"
') Vgl. z. ß. Hrluholtz, Tort^uadReden,4. Aufl. (1896) I. B. 99.
*) „Der phil. Kritizismus" X (1876).
■) Vgl. LiRoi, Gesch. des Hat. II, S. 44 f.; 125 ff.
') Vgl. Nouv. esB., Pref; I, 1; IV,4, woim „Oegenredneflaatschon
etwa« CtüTOOEu aufblitzt!
^) Vgl. z. B. Stöbkino, Die Erkenntnistheorie von Tetens (1901),
8. 164 ff.
*) 8. 111. ScHiiFra würde sagen: „im Bewusstsein überhaupt", e.
T, Anro. 5.
iM,Coo<^lc
doch erat vor aosTe Lupe aebmeQ; and wie soUen wir dae? Im Begriff
des „Salijekts" liegt offenbar, dass es nie zogleioh , Objekt" sein kann ; nie
Hiogleicli and nie „als solohes". Objektivieren wir es dennoch, so ge-
schieht das immer nor miHels des apriorisoben Böstzengs, das wie >a snohen
gingen ; nnr im gpiegol der .Grfahmng' sehen wir das Snbjekt — and da
steht es denn als .Ich"; und die Tr&nsszeadeutalphilosopbie Ist abermals
znr Psfohologie geworden. — Ja, wBre sogar der OriS ins üngreifbare an
sioh denkbar — and das Satjekt lisBBe sieh als „reineB* irgenvie fossen:
so fassten doch wir MenscheE. es ninunermehr. Denn am über die
no&tiBchea Bedingungen Jeder möglichen Theorie zn urteilen, mnsste
man ansierhalb aller Theorien stehen; wie wird das menschliche Denken
es anfangen, swischen sich selber und irgend einer'ibm vielleicht nnnah-
baren firkenntnismetbode zu richten? Ein Kind von sieben Jahren, das
entscheiden soll, ob Dentuch oder Chinesisch die [ogischere Sprache sei,
kann nicht ratloser dastehen als ein Philosoph, der aaf Hqssksl's Fragen
antworten müsste, — Oder er käme auf die alte Litanei wieder zurück:
nach nnserer Definition der Wahrheit sei der IdentitAISBatz die nnnmging-
liche 'Wahrheitsbedingung. Die eine Erklarnng aber gäbe noch lange keine
Wissenschaft!
3. Han könnte annehmen (und das wäre z. 6. Eieel'b Helnong'),
die Prinzipien sollten ans den objektiv vorliegenden Produkten des menscb-
liohen Denkens heraoegepresst werden; dabei aber könnte man die be-
stehende Wissenschaft oder das natürliche Erkennen des .Laien"
als Haterial sich wählen. — Wer zweifelt, dass Kamt zom Teil diesen Weg
eingeschlagen hat? Zn apriorischer and apodiktischer Oewissheit aberfahrt
der nicht'°); wsa Hussicrl") selber zugiebt: denn erstens ist die Wissen-
schaft als Kultur erzeagnis schliessüch ein empirischer Gegenstand wie jeder
andere und die jetzige ebenso „historisch" wie alle früheren. Zweitens
darf die „reine Logik", die den Ansprach erhebt, für alle Methoden den
Kanon abzugeben, nicht ihrerseits vorhandene Methoden als Leitsterne an-
erkennen. Ja, dürfte sie sogar: so müsste drittens nnsere erkenntnistbeo-
retiscbe Arbeit doch immer indcktiv bleiben; und wer garantiert ans nnn,
dass wir aas der Fülle wiseenscbaftlicber Normen gerade die grandlegenden
beim Suchen ertappen? Das war «b ja eben, was Kant dem Aristoteles
vorwarf: er habe seine Kategorien aofgeiafft, wie sie ihm aufstiessen") I —
Die Zeriasernng des natürlichen Denkens führt ohnedies onweigerlioh
zum dritten Uale in die Psycholngie hinein I
Man gehe in der Eile die Tran sszen dentale Aestbetik and Analytik
mit mir durch und überzenge sich, dass ihr Verfasser uns wirklieb zwischen
den drei Anffassungen seiner Transszendentalen Dednktion so ziemlioh freie
Wahl laset. Warom sollen uns Raum nnd Zeit vor aller ErfiJirang gegeben
sein? Weil man sich von einzelnen Orten nnd ihrem Beieinander und von
einzelnen Zeiten and ihrer SuccesBion nur dann eine Vorstellung machen
kann, wenn Raum und Zeit als Auschanungaformeu der Seele bereits inue-
wohnen; während ich 2. B. eine einzelne Farbe sehr wohl empfinden kann,
ohne die ganze Farbenskala auch nnr zu kennen. Scdsnn, weil man sioh
Raam and Zeit niemals wegzudenken vermag, während mau etwa eine toii-
and geruchlose Welt sich wohl ausmalen könnte. Aber woher weiss ich
•) Vgl. Op. cit.'l, 167 etc.
'•) Vgl. LaKOB, Gesch. der Hat. U, S. 29 f., daiu Äbachn. VIII.
") S 26.
") Transsz. Anal, l, I, 3.
iM,Coo<^lc
lieber die Fand&metite der totmalen Logik. 17
beides — gesetzt einmal, daaa es bis aof den I-ponkt riobtig wOj-e? wenn
ein Zweifler ee beatritte, womit wollt' ich ihn aeinea IrrtumB überfähren?
Ich möaste ihn ofFenbar anSordem, in sich hineinzogaoken uad anBzopro-
bieien, ob er fertig bringt, was ans anderen miasglückt; mithin — Paycho-
logie sn treiben! Oder er halte aicb ans reine Sabjekt, wenn er mit dem
Bekanntschaft pflegt. — Kani's drittes Argument nun ist: ohne seine Lehre
sei die apodiktische Natur der Mathematik undenkbar; hier haben wir Ana-
lyse einer bestehenden Wissenschaft als Grundlage; und nebenbei ist dieser
eriienntniatheoietisohe Beweis der schwAchste der dreie: ein Gegner wie
Um, leugnet einfach den Notwendigkeitsoharakter der Geometrie nnd Arith'
metik"} und ist snf keine Weise zu widerlegen. Tollende unklar
bleibt, woraus die Deduktion der Denkprinzipien ihre eigentliche Gewias-
h^t schöpfe. Zwar, dass ein apriorisches BegriSselement in alter Erfahrung
stecken müsse, wird breit genug dargelegt. Das raumzeitliche Phänomen
tilgt als solches noch keine Gegenständlichkeit und keinen Zusammenhang
in sich; um also „erkannt" zu werden, muss es der Formung dnrch die
Grundbegriffe unseres Denkens unterliegen. Wiederum eine Schiasskette,
die ich psychologisch nenneu würde, denn abermals müsste ein etwaiger
Zweifler an seine innere Erfahrung gewiesen werden. Kakt seltier freilich
denkt wohl — wie anoh in den Psyohologiamen der „Aeathetik'' — mehr
au die Natnr der SnbJektiTitSt an sich als an die derempirisohen Seele;
nur giebt er nirgends an — und auch kein Gott vermöchte das — auf
welche Weise wir über erstere je das geringste erfahren sollten j seine Satze,
wo nicht psycho logisuh, sind einfach metaphysisch und sollen doch die dog-
matische Metaphysik stürzen! unleugbar psychologisch sind vollends die
langen Erörterungen über die MÖgticbkeit der Anwendung Ton Kategorien
aof die sinnliche Erscheinung. ^ Mit alledem aber ist eigentlich nur die
Berechtigung oder Notwendigkeit einer transszendentalen Logik gezeigt; deren
eigentlicher Inhalt wnrde die Deduktion der einzelnen TerstandesbegriHe
bilden. Und diu — unterbleibt wunderlioherweise, obgleich ein langes Haupt-
Btäck nach ihr heisst. Denn, vergeaaen wir es nicht, die Tninaazendental-
wissenschaft soll ja den Boden für die normative Logik bereiten, nicht nur
in HrBssBt.'s, sondern gaax ebensogut auch in Kant's Sinne; die Denkformen
deduzieren muss also doch heissen: ans inneren Gründen ihre Vollbürtig-
fceit und damit indirekt die Logik richten. Nun aber wird auf einmal der
Pfttantsnchende zum Patentamt. Aus der zufälligen Einteilung der urteile
in der scholastischen Logik werden die Denkprinzipien geschöpft. Und zwar
auf etwas listige Art, Es heisst nämUcb zunächst ganz unschuldig: „Ton
dem Leitfaden der Entdookong aller reinen Vera tandesbe griffe." Nun, als
.Leitfaden* Hasse sich die ürteilatafel ja vielleicht verwenden, und vor-
läufig machten denn also die zwölf Kat^orien so hin laufen, nur mussten
sie hinterher ihre Echtheit darthun. Unser Anspruch darauf wird aber
nirgends befriedigt; duroh die endlosen Darlegungen über die Notwendigkeit
reiner Terstondea begriffe äberhaept und die Möglichkeit ihrer Anwendung
aofs Phänomen wird unser Geist so ermaltet, dass wir leicht jene unbe-
queme Frage vergessen ; wie wichtig eine transszendentale Deduktion der ein-
Eslnen Kategorien wäre, darüber haben wir so lange predigen hören, dass
uns nun ist, als w&re jener Leitfaden zugleich die Ableitung selber gewesen,
und dass wir den lanfsohein in Gottes Namen unterzeichnen, ohne noch-
mals ins Kirchenbuch zu gucken.
Man sieht, für eine „reine Logik", die weder psycho-
") System of Logic I (1843), 8. 296 ff.
TleiutJahnKliiin r. «rtneuHlufil. FIiUbb. d. SocioL ZXYIL 1. ^
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
IB Dt. JalJQB SohuItE:
logiaieren, noch von der ZergUedenmg der aktuellGD Wissen-
schaft ausgehen soli, finden sich bei Kant keine Ansätze;
wir mUssen uns anderswo umschauen!
VIL
Aber warum nicht gleich von Anfang an bei der rechten
Schmiede? Sehen wir doch, wie HtiBSEBL selber sich die
Sache denktl Er schreibt nämlich seiner Zukunftswisseo-
sohaft eigenhändig ihre Aufgaben Tor<)-
IiTSteos sollen die aller Theorie notwendigen Kate-
gorien festgestellt und „geklärt", auch die Formen ihrer
Verknüpfung dargethao werden. Feststellung der Urbegriffe
— gewiss, eine grosse Aufgabe! und zwar genau die der —
„Transszendeotalen Analytik". Die drei Wege, zwischen denen
Kant schwankt, machte sein jüngster Nachfolger vermeiden
und denkt an einen vierten. Die Idee von „tiieoretieeher
Sinfaeit" wird als gegeben biDgenommeii; und alle Begriffe,
die eingewickelt in ihr stecken, sollen aus ihr herausgeschält
werden. Das Ueble ist nur: jene Idee ist weder ein Über-
sinnliches noch ein empirisches „Ding", sondern sie ist ein-
fach eine Forderung; ob willkürlich oder notwendig, bliebe
zu untersuchen. Aus Forderungen aber fallen nur wiederum
Forderungen, niemals objektive Ke^täten, man schüttle nun
so heftig als man irgend willl Qnd auch keinerlei Ver-
knüpfung von Forderungen schafft Theorien I Wir dr^en
uns immerfort in der normativen Lc^k, die von jeher mit
den hier gestellten Aufgaben sich herumgeschlagen bat Ins
Theoretische treten wir erst hinüber, wenn wb" die Postu-
late aus etwas Oegenständhohem ableiten; und das kann nur
die Seele — oder die thatsächlich vor uns liegende Wissen-
sohaft seini Damit aber ist zugleich der apriorische und
^odiktische Charakter unserem Forschen verloren gegangen
— unwiederbringlich, da helfen keine Thränen! — Termino-
logische Begriflsbegrenzungen vollends konnten niemals für
■) s, 248 ff.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
TTeber die PmdHmente der formalea Ix)gik. J9
sich wißsenschaftlichen Wert gewiiiDen. Es iHt ja praktisch,
Tor jeder Untersuchung die etwa schillernden Ausdrücke eu
definieren: man Tenneidet auf diese Weise Missverständnisse I
Aber allen kOnftig^en Schriftstellem eine solche Arbeit im
voraus abnehmen zu vollen — das geht kaum an. MCchte
Hdssbbi. die Wörter „Wahrheit", „Bemehung" u. s. f. noch
so elegant erOrtem, noch so scharf amzirkeln: wen kann er
damit hindran, sie in neaen Zusammenhängen wieder neu-
gefärbt zu verwerten? Verlorene Liebesmühe!
In den Urhegriffen nun gründen Gesetze, denen alles
theoretische Forsehen gehorchen muss, wenn es gUltig sein
will. Diese abzuleiten, ist das zweite Problem der „reinen"
Lc^k. Das Aushängeschild scheint eine Art von Wahrheits-
theorie zu versprechen und man hofft endlich auf Inhalt.
Aber nein — die Untersuchung nach den Kriterien aller
Erkennbiis mUsste ja notwendig ins Erkenntnistheoretische
oder Psychologische hinüberspringen — und solche Sprünge
untersagt sich der „reine" Logiker streng. Jene gesuchten
G-esetze sollen gar nicht im Wesen der Welt oder des Geistes,
sondern in den schon vorher aufgefundenen Kategorien
wurzeln! Aus Begriffen aber kann nur Begriffliches und
ans Nonnen nur ein Soll entspringen. Wir kleben, wir
kleben, wir kleben — und kommen von der regelspendenden
L(^k nicht los; alles Theoretische, was wir in der Feme
sahen, zerrinnt wie Luftspiegelungen! — Aber vielleicht hilft
uns Nummer drei! Das Letzte soll sein, apriori „die mtlg-
liehen Theorien" su erkunden^). Wer sich etwa des Unter-
^gens entsetzt, wird belehrt, dass die zu ersinnende Dis-
Eipün in Gestalt der „Mannigfaltigkeitslehre" bereits von den
Hathematikem ersonnen ist Da hätten wir denn endlich
etwas Beelles unter den Händen. Aber achl wir sahen es
schon froher: auch diesen Gang haben wir umsonst gerochen.
Der Mathematiker isst uns den ganzen schtkien Braten weg
und ttberlässt dem Logiker die Petersiliengamitor zum Nagen.
') s. S47.
2*
20 Dl*- JalinB Sehnlts:
„Ueber Sinn und Wesen seiner Leistungen" „zor Einsicht
zu kommen" : das gestattet er dem hungernden Freunde. £ine
fdne Aufgabe: Methoden, die andere- erfinden, hinterher durch
logische Operngläser zu bewundem! Nein, verehrteste Herrn:
venu die Philosophie nichts weiter will oder kann als dies:
80 besorgt ihr ein anständiges Begräbnis! Wie seine Theorien
zur Idee aller Theorien sich verhalten, das kann der Wissen-
schaftler in seinen Musseatunden sich zur Not noch selber
überlegen I
vm.
Mit Hossebl's „reiner" Logik steht es Obel; eine Tot-
geburt, furcht' i(äi fast. Aber bedarf denn die norma-
tive Denkiehre Überhaupt der theoretischen Unter-
lage?
Es ist kurios, dass gerade ein Philosoph diese so eiMg
sucht, der sie wirklieh kaum nötig hätte! Ihm sind ja die
Axiome so selbstverständlich, so in sich absolut evident:
dass er sie gar nicht erst zu begründen braucht! Die und
die Postulate tragen vir in uns: entwickeln wir, was aus
ihnen folgt! So hat's die alte ScbuIIogik ganz unbefangen
gehalten und den Teufel nach der JiMndierung des Aller-
sichersten gefragt. Die Norm stand auf festen Beinen da —
und gut!
Wenn die UnverbrOcblichkeit und schrankenlose Q-el-
tnng eines Gesetzes von vornherein als unentrinnbarste Not-
wendigkeit gefühlt wird, sind theoretische Basen überhaupt
sinnlos. Die Ethik z. B. bedurfte deren nicht, solange sie
von der positiven Beligion ausging; Gottes Gebot herrschte
ohne Grenzen — und wer am Dekalog zweifelte, den hätte
man einfach aufs Maul geschlagen. Die „Wissenschaft"
konnte nur das unbedingt Gegebene auseinanderfalten, kasu-
istisch zerfasern! -- Und warum macht nun unser Logiker
es nicht ebenso? Er proklamiere doch einfach, was ihm
evident und apodiktisch ist^), und zerznpfe es in alle denk-
') Vgl. SoHUPPB, 8. 11 d« V, Anm. 6 lit. Abh.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
üftber die FnodaineDte der formalen Logik. 21
baren Anwendbarkeitonl So hätte er zwar nicht seine theo-
retisch „reine", aber eine reinliche regulative Logik und
könnte sich manche Qual ersparen 1
Nach Begründung schreien Normen bloss, wenn sie za
schwanken beginnen, d. h. wenn ich unsicher werde, ob ich
ee mit absolut notwendigen Fostulaten oder etwa nur mit
willkfirlich aufgestellten Begeln zu thun habe. Und da giebt
es denn zweierlei Beweisarten. Will ich wissen, was mein
neues Taschenmesser taugt, so läse' ich entweder die 6Ute
des Stahls and der Arbeit von einem Sachverständigen
prüfen oder — ioh versuche, wie es schneidet! Handelt sioh's
um die schrankenlose Gültigkeit eines Gesetzes, so kann ich
nach seiner Herkunft oder nach seiner Anwendung
fragen. Da ist z. B. ein sittlicher Imperativ; ich weiss nicht,
ist er unweigerliches Pllichtgebot oder eine Ausgeburt der
zufälligen Laune; so untersuche ich entweder, ob er tief in
der Natur des Menschen und der Qesellschaß. wurzelt, oder ich
Überlege mir, welche Folgen seine Uebertretung haben müsste.
Qanz ähnlich steht es nun mit der normativen Logik.
Der Identitätssatz rechtfertigt sieb selbst und alle seine
Kinder und Enkel, das zeigte ich schon. Mt^Ücb aber, dass
es Denkregeln giebt, die nicht wie er aus dem blossen Be-
griflF der Wahrheit hervoi^ehen"''); solchen nun könnte jemand
den apodiktischen Charakter und die unbedingte Gültigkeit
abstreiten; und dann mOssten sie ihre Privilegien erweisen.
Damit hängt ein anderes zusammen. Die normative Logik
bedarf, wofern sie nicht vom Identitätesatze allein ausgehen
will, einer möglichst vollständigen Tafel der Kategorien
und Priaxipien; da muss es denn ein Tribunal geben, vor
dem jeder apriorl evident erscheinende und axiomatisch
sich geberdende Satz sich zu legitimieren hat. Eben seine
Evidenz soll er legitimieren; sie nur zu behaupten, geht für
ihn nicht an. Mit dem blossen Ausrufe: „evident!" gewinnt
man hier keine Prozesse.
•) S. IL
n,g,t,7l.dM,GOOglC
22 Ot. Julius Soholts:
Und da kämen vir nun wie in der Moral auf zwei
mSglicbe Begrtindongea. Entweder ich zeige, dass die an-
gefochtene Begel unserer Otgaoisation mit Notwendigkeit
entfliosst; eine solche Thatsacbe genügt allen TemOnftigen
Ansprüchen, denn mit anderen als menschlichen Gehirnen
vermögen wir nun einmal nicht zu denken, und ein psycho-
logischer Zwajig — zwingt uns -eben. Was auch Hdssbbl
sage: jenes „eigenartige Bewussteein, in dem sich das ein-
sichtige Erfassen eines Gesetzes oder eines Gesetzmässigeo
konstituiert"''), ist thatsächlich nichts anderes als das (Ge-
fühl, gerade so und so denken zu müssen. — Oder wir
zerfasern unser wirkliches Wissen und zeigen, dass es der
bestrittenen Norm nicht entbehren kann. Hussbbl — wie
sdioa Eant und offenbar die meisten logistisch gerichteten
Gleister — empfinden diesen zweiten Wog als den „objek-
tiveren" ; er ist ihnen von Natur sympathischer als der psy-
chologistische. Aber yielleicht hat auch er seine holprigen
Partien.
Wenn nämlich der Epistemolog das Apriori innerhalb
des allgemein menschtichen, des vorwissenschaftlicben Denkens
aufsucht: dann wird er einerseits öfters in den Qflleisen
fahren müssen, die sein Konkurrent, der Psycbologist, ge-
bahnt hat, und aUe Steine, die diesem an Aon Copf sollen,
gefährden auch ihn. Anderseits aber leugnet die Wissen-
schaft manches, was dem natürlichen Verstände richtig, ja
notwendig vorkommt; setzt der Philosoph nun dessen aprio-
rische Prämissen als logische Grundregeln, so kann der un-
sinnige Fall eintreten, dass die Wissenschaft gegen die Logik
streitet. Lässt dagegen, um solchem Wirrwarr zu entgehen,
der Erkenntnistheoretiker die gemeine Menschenvemunft un-
beachtet laufen und analysiert allein die eigentliche Wissen-
schaft: so gerät er in neue Sümpfe hinein. Denn erstens
hat die Gelehrsamkeit wenigstens früherer Perioden notorisch
falsche Sätze fllr denknotwendig erklärt; ausgeschlossen ist
•) 8. 134.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
üeber die Fnndamenle der fonnaIeD Logik, 23
es nicht, Aasa denu^iges auch heute vorkommt, ja dass so-
genaoate Andorne einander widersprecheo! Nun soll doch
die Philosophie in solchen Fällen Bichterin der Binzelwissen-
sohaften sein; wie darf sie diesen ihre eigenen Q-rundsätse
ohne weiteres entnehmen? Zweitens könnte es in der
Wissenschaft Mode werden, echte Denkprinzipien zu ent-
thronen; vielleicht lässt sich mancher gelehrte Zweck mit
einem einfacheren Apparat erreichen, als er uns eingeboren
ist; soll z. B. über die apodiktische Natur des Causalgesetzes
die modernste Physik entscheiden? Sie thut ja, als käme
sie mit dem Fnnktionsbegriffe aus; wird deswegen die Philo-
Sophie sofort ihre Ansicht über die Katur jenes Ahorns auf-
geben? Drittens unterscheidet die Wissenschaft nirgends
zwischen dem denknotwendigen Apriori und den ihr
vorläufig unentbehrlichen Hypothesen. Blosse Elr-
keantniskritik wird also niemals herausfinden, zu welcher
der beiden Klassen etwa das atomistische Prinzip gehOre.
Es wird doch wieder an eine andere Instanz appellieren
müssen. Dass unser ganzes Wissen auf dem Regelmässig-
keitssatze beruht, darllber sind alle einig, nur halten ihn die
Positiyisten fQr eine durch Erfahrung angeregte Theorie,
wir anderen fOr ein absolutes Postulat. Die Entscheidung
hängt ausschliesslich au der Frage: „könnten wir den Satz
aus unseren Q-ehirnen wegstreichen?" — m. a. W., sie hängt
in Psychologie. — Viertens endlich verleiht die Erkenntnis-
theorie ihren Aussagen nicht mehr apriorische Evidenz, als
die Seelenlehre; denn die Wissenschaft ist so gut wie unser
inneres Leben ein empirisch dargebotener Öegenstand, und
auch ihre Methoden und Begeln wollen induktiv gesucht
werden; HusssaL räumt das übrigens*) prinzipiell ein und
macht auch von der Epistemologie für seiue Zwecke keinen
weiteren Gebrauch; nur dass er die erkenntnistheoretiscbe
Fnndierung der Logik mehr auf sich beruhen lässt, die psy-
chologiatiache bekämpft.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
24 Df- JqIidh Bohnltz:
Biese hat nun freilich ebenfalls ihre Schwächen. Denn
erstlich scheint uns mancherlei zu Zeiten mit .Denkzwang"
zu bedrängen, was hinterher als zweifelhaft, ja als irrig sich
herausstellt. Und zweitens führen echte und unentrinnbare
Forderungen unserer Organisation, ganz folgerichtig festge-
halten, in der Anwendung gelegentlich teils auf Zweideutig-
kfliteu, teils sogar auf Antinomien, indem sie einander gegen-
seitig in die Haare geraten.
Also ist keine der beiden „grundlegenden" Wissen-
schaften unfehlbar. Der erkenntnistheoretischen Argumen-
tation mangelt es an Blut, der psychologistischen an Knochen ;
diese Überzeugt uns im lonersten, aber treibt uns dafür leicht
in die Irre; jene ist etwas vorsichtiger, aber langt auch
selten zum Letzten. — Ich denke, die beiden sollten einan-
der ergäozeul Hätte ich eine logische Forderung auf ihre
Haltbarkeit zu prüfen, ich würde zunächst nachschauen, ob
sie einem unabweisbaren Bedürfnis unserer Seele entstammte;
sodann, ob sie dem natürUchen Denken, schliesslich, ob sie
der Wissenschaft unentbehrliche Stützen leihe. Erst wenn
sie aus all diesen Feuern ungeschmolzen hervorgegangen
wäre, würde ich sie unter die logischen Edelmetalle ein-
reihen.
IX.
A.bor Hdbskbl widerlegt ja doch die Möglichkeit, IjOgik auf Psycho-
logie za pfropfen, durch so scmageiide Oründe')! — Wir wollen sie oiu
alle deT Beihe nach angehen!
1) Der Psychologist bannt alle Wahrheit ins Urteil, um ihr Wesen
dann aas der Zerfaserang das Urteilaaktes besser zu verateha. Nnn aber
giebt es unbestreitbare Wahrheiten, die mit lebendigen Aussagen gamiohia
m Bchaffen haben War Nevtoas Gesetz vor Newton nicht wahr*}?
Wir antworten : es besass Wahrheit genau in demselben Sinne, in
dem ein von niemandem («merkter Gegenstand ein Phänomen bleibt. Eine
rote EKferart werde in Tenezaela neu entdeckt. Nnn sind die Farben ab
BmpGndoDgBqaalitäten subjektiv. Folgiicb — war der Käfer gamicht rot,
ehe man ihn fand? — .A.ber Tiere suien ihn dochl' So mag es denn am
die EiemenbttEchel oder aoch das BInt einer nnterirdisohen Olmart gehen,
die zwischen lanter blinden Geschöpfen in ewiger Dunkelheit schwamm;
Wie urteilt HussniL aber diesen Fall? Wir anderen pflegen zu ssgoi :
') Tgl. SoHUppc u, Natorp in den T A 6, TI A 1 cit Abbalgen.
■l S. 127, vgl. üparra, Einf. i. d. mod. Log. I, S. 5.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
TJeber die FoDdaineDte im formaleo Logik. 25
a Mensohen, meinetwegen za NioiiodB Zeiten, znRUlig in diese Hoble,
nen Urwald geraten waren, Bo hätten sioh ihnen — gemftsB unserer
insamen Organisation — die nnd die optischen EiBdräcke geboten;
0 war dae Bot der HSgliohkeit nach immer da; and in dem Urteil:
,(Üe Speziea X hat rote Kiemen oder Fingeldecken" — unterscheiden wir
die potentiellen nicht von den aktuellen SinneBempßndnngen. Schliesslich
bneoht man nach BeiHpielen garoioht in Erdlücher oder Urwälder sa
kriechen; jedee aagenblicklich nicht beobachtete Objekt stellt eine Wahr-
Dshmnagsmöglicbkeit dar; das ist Öfters auBführlich gezeigt worden.
— Gerade so nun denken wir über .verborgene" Wahrheiten; ihre Sinnen-
seite lag schon vor der Zeit der .Finder" potentiell da; nnd was an ihnen
gedanklich 'war, steckte von jeher in der möglichen Konsequenz unserer
menschlicheit Anlagen. Das ist es eben, was iob mit dem Ausdruck meine;
.die Wahrheit gilt") — im Gegensätze zo dem anderen: sie existiert',
täe existiert nnr im wirklich gedachten oder ansgesprocheneQ urteile,
aber galt unter Umständen sogar vor allem irdischen Denken; sotem i<^
mich selber als Zoschauer und Kritiker bis in die Periode des glühenden
Uraebels and immer weiter zurück versetzen kann.
Wenn ich die Augen schliesse, so leuchtet die bunte Welt weiter ;
und wenn ich den Qeist von ihm abwende, .gilt" ein wahres Urteil immer
Docli; auch galt es, ehe es ausgesprochen ward, wie die Sonne schien, ehe
Augen sie sahen. Das ist ein — wie auch immer fundiertes — Postulat,
ohne welches kein „objektives Wissen" bestehen könnte. Aber wohl ge-
merkt: die eine Oewissheit hat Sinn nur für sehende, die andere nur tAi
logisch nns gleich gebildete Oeschöpfe. Wenn eins Wahrheit gilt, soweit
ihre Erfassang nach unserer Organisation uns möglich ist: so gilt sie fftr
Wesen, denen ihre Entdecknng nnmögliofa, weil widematünioh wäre,
eben dämm nicht. £3 scheint ein schnarriger Gedanke, dass die Einrieb-,
toDg unseres Qehimes Sätze garantieren soll, die noch in gar kein Gehirn
aiDg^angen sind. Aber daas jener bis heute unbekannte Käfer gerade „Tot*
aussieht, das b&ngt doch genau so gut wie die Röte des LäsobblatteH vor
mir von der Struktur meiner Netzbaut und meines Sebzentrums ab. Ganz
ebenso ist das TerhiUuis der „verborgenen" Wahrheiten zu unserer logischen
inUge.
Ein bisher nnentdecktes wahres Urteil tSMt inhaltlich mit dem nun-
mehr endlich ansgesprochenen ganz und gar zusammen. Begründen wir
du in diesem stehende Apriori psychologisch, so ist damit zugleich auch
über jenes entschieden. Der logische AlÄolutiBt mag das bestreiten, well
er den psychclogistischen Relativismus überhaupt bestreitet; aber dieser
llast sich nicht umgekehrt von der Thatsache der ^verborgenen Wahr-
heiten* aus entwurzeln.
Wie ist es denn non mit jenen niathematisohen Funktionen der Sera-
phim, die H11SSKBL*) sich ausmalt? sie sollen sc schwierig sein, dass sogar
ein Gauss sie höohstens binnen tausend Jahren eriemen könnte; nnd nun,
so dichten wir weiter, wäre das mathematisierende Enf^elsgeschleoht an
Kopfweh EU Grunde g^augen; und es ^be im ganzen Weltall kein Weeen
■eenr, das jene Lehrsätze je zu begreifen hoEFen dürfte. Hätten sie dann
noch Wahrheöt? Wenn ja, so scheint es Emssia. um den Psyohclogismu«
gelhan; also nein? aber das wäre doch wunderlich I — Ich stelle eine
Q^enfr^e: .Sind die ^eoreme nns deshalb unerreichbar, weit sie der in
n,g,t,7l.dM,GOOglC
26 Dr. Julias Sohniti:
unserer Seele lebenden Hathemaüh widerapreoheD, meinetwegen Miuinig-
fftltigkateD voraosBetzoD, zu denen sog&r die Hetageometrie den Sohlüsml
verweigert?" Dann würde ioh ruhig gestetten: Diese Wahrheiten sind mit
dem Tode ihrer Erbenner verloschen, sie haben keine Geltung mehr. Knd
flie uns aber -— und des muss natürliob Hussckl'b Ifeinung sein — nsr
darum fremd, weil uns VorkeontniBse und EombinstionskiaCt eu ihrer Er-
werbung bisher mangelten; und solleu sie in letzter Linie auf anserer
Mathematik bervben: so würde ich etwas anders darüber denken. Wofür
der OauBS des aeohsten Jahrhunderts v. Ch. eine Hekatombe opferte, das
arbeitet jettt in jedem Tertianerkopfe; wer weiss? vielleicht findet man
noch Uethoden, die Analfsis auch etwas wegsamer eu machen^ und wenn
in fünftigtausend Jahren ein Primaner diejenigen Funktionen erlernt, an
denen heute berühmte Professoren kauen : so eiEwingt am Ende das höchste
Oenie jener Zeit, was bis dahin nur die lieben Engel konnten, unter aaa
gesagt, ioh glaube uicbt tu solche Zukunftsbilder; aber iuimerhin — mit
HÜcteicht a^ jene eventueUen CsgUoatros der Uathematik
Aber ich will ernsthaft sprechen. Laaaen wir doch die englischen
Fanktionen anf sich bemheu, nnd denken wir an das höahste, aber ewig un-
eisteigliohe Ziel aller Wisüensohaft: die Weltformel')] Setzen wir, sie lebte
im göttUchen Geiste: ist sie uns nun wahr oder faisch? Ioh antworte so:
wenn sie nach unserer Logik mit Notwendigkeit aus der uns möglieheD,
also für uns geltenden Wahrheit folgt; wenn also ihre Prämissen und jeder
einxelne Schritt zu ihr hin in unserem Sinne Wahiiieit ist; wenn sie dem-
nach ans lauter uaserei- Organisation angepasster Wahrheit besteht: so
müssen wir sie auch ideell als Wahrheit für ans anerkennen. Dass wir
nicht Gedichtnis und Aufmerksamkeit genng besitzen, obendrein eu kois
leben, nm die für ihre Auffindung nötjgen Kombinationen eu voUiieben :
.das sind üuBserliche Fakten, die einen logischen Begriff nicht Ködern können
oder sollen. Denn logische Begriffe sied Forderongen; und jede w^ite
Forderung geht ins Bohrankenlose.
2] Der Psjchologismus führt die ^mdiktisohe Notwendigkeit auf einen
durch altvererbte Gewohnheit entstandenen Denkiwang zurüok. Nun aber
hat Bpodiktisohe EvidenE mit Denkzwang gamiehts eu thun^. Denn
es giebt Fälle, wo logische Notwendigkeit vorbanden ist nnd dennoch der
nnd jener sich gegen sie zu sträuben die Kraft behält, von allem subjek-
tiven Zwange mitbin frei bleibt.
^enn ioh einen inathemadschen Bata, wie notwendig er auch ans
seinen Frftmisaen folgen mag, nii^t verstehe'): so liegt das daran, dass icä
diese Prämissen nicht genügend beherrsche oder dass ioh nicht koaientriert
genug bin, um sie alle in einen Griff eu packen, oder endlich an der
Dunkelheit des Faohdialekts. Wären diese Hindernisse nicht vorbanden,
eo wurde das logische Uuss auch mein thatsächliohes Denken
zwingen. — Auch im gewöhnliohen Fehlschlüsse") erlahmt nicht etwa
die Macht der Deukgesetze über unser Oehirn; aondem Gedächtnis- oder
Terständabirrungen trüben den Sinn der Vordersätze. Jemand tiegehe z. B.
eine falsche ümkehmng; er sage: .der Montblanc, das Matterhom, der
Pic d'Anethou . . tragen ewigen Schnee'; and ein paar Zeilen weiter:
.ich legte soeben dar, dass die Schneebei^ anter allen Bergen die höchstea
') Vgl. auch HuBBwiL. S. 185.
') Vgl. auch UpHtJKa '8. 22, 34, 38 ff.
') Hdbbkrl, S. 14Ö.
«) Husblrl, S. 102, 107.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Ueber die FaDdameDte der formalen Locik. 27
Kisd"; er sohliesee luithiu: „alle sebr hohen Berge smd beHohaeit, fol^'Uoh
sind alle beschneiten Ber^e sehr hoch". Zeigt er sich da nicht von den
Sduankea der logischeo Axiome entbanden? Kaum; er meinte nur, durch
ToUstfindise Induktion die Kongruenz der Begriffe Hochgipfel and Schnee-
gipfel gezeigt la haben: and hatte z. B. die niedrigen Sohneekappen Hord-
Norwegenfi beim Debeischlag Tergeasen; hatte also liederlich indnxiert and
dadnndi eine Verwechselung zoatande gebracht Änoh der ZirkelsobloBS
beniht nicht etwa auf einem Verstoss gegen die Prinzipien, sondern auf
einem Mangel au Aufmerksamkeit; der Hitzige merkt in seinem Dispatier-
eifer Dicht, daus er die in beweisende Behauptung, sprachlich übermalt, als
Vordersatz henntst. — Widersprüche kann man als solche übersehen, in-
dem man den Inhalt der sich beetreiteaden Sätze nicht genügend über-
schaut oder auoh einen derselben missdaatet : aber einen erkannten Wider-
spruch aafrecht zu erhatten, ist niemand imstande.
Wirklich nicht? Aber wir können uns doch oftmals einer Eineiobt
gewaltsam entziehen: „das Widerstreben gegen die erkannte Wahrheit ist
eine leider nur zu hSufig vorkommende Thatsaohe; wir können unseren
Blick von dem Sichaufdrängen nnd Einlenohten der Zusammengehörigkeit
ablenken and aot etwas Andres richten, ans dadurch die eintretende Ein-
sicht aus dem Snn schlagen, in den Hintergrand drängen, verdunkeln und
Sar ganz beseitigen"*). Gewiss — wenn wir ein schlechtes oder sehr
liges Oedfichtnis haben. Da schalten wir dann wohl ganze Oedanken-
grappen ans und vergeesea sie. — Ein Atheist mag unter Umständen
wünschen, an Gott za glauben, weil er die Frommen glnckltcher sieht ^s
sieh nnd nm ihren Frieden beneidet. Er möchte gerne für Wahrhrft
halten, was er noch für Intam bäitj aber die entgegengesetzten Urteile
gleichz^tig zu Ollen, miselingt ihm. Deshalb schlägt er sieh seine bis<
herigen Gedanken gewaltsam aus dem Kopfe und veisncht, sich in die
fremden hineinzuleben, hoffend, dass jene allm&hlich verschwinden, diese
überwiegen werden. Er hindert sich selber am Urteilen, „er gibt seinen
Intellekt gefangen*. Wenn ihm aber sein Vorhaben glückt und er später
in seinem Herzen spricht, es sei dennooh ein Oott ; wenn er also überhaupt
wieder urteilt: so hat er sich von seinen früheren Ansichten auch thatsäohlioh
losgemacht, sie sind tot, sie widerstreben der neuen Aussage nicht mehr.
Dächte er in Wirklichkeit noch, Gott existiere nicht: welchen Wert könnte
ihn «in entgegen gesetztes Urteil daneben gewinnen?
Vielleicht furchtet jemand eine nahende Aufklärung und bemüht sich
knmpfhaft, im Zweifel zu bleiben; er hütet sich daram, den Dingen ins
Geaiolit za leuchten, er will kein Licht! Henelaos wirft die Korrespondenz
iwisohen Paris nnd Helena angelesen in's Feuer. Wozu die Höhe, wenn
ans die Iiogik keine Nötigung anthäte? Er könnte dann ja die Doku-
mente ruhig lesen; er hübe einfach den Widersprucbssatz in sich auf und
hielte seine Schöne weiter für Penelope! Nein, eben weif er gewiss ist,
dass widerspreahende Urteile sioh gleichzeitig in seinem Schädel nicht ver-
tagen, vermeidet er den gefürchteten Augenblick der Kontradiktion. Er
will lieber im Nebel als im Sonne asohein leben; er will nicht urteilen.
So geht OB ireili<^ vielen; wer aber überhaupt zam Urteil schreitet, der
kann gar keine audre Absicht haben, als richtig zu urteilen. Er braucht
die Wahrheit ja nioht auszusprechen; vor den Menschen lügt er vielleicht;
ab^ in seiner Seele will er richtig urteilen oder gar nicht, ein drittes
•) ÜPUirca, 3. 43
n,g,t,7l.dM,GOOglC
28 Dr. JnliuB Bohnlti:
ist undenkbar. — Dasa ich nan, wofern ich richtig urteileD will, an einen
Wideiaprnoh niaht glauben kaan, giebt HnwERL") selber eq.
Sein Hinweis auf die Leugnung des Widerepraohssatzeti durch Bpieur
und Hegrl") ist natörlicb mehr ein Sehers. Das geleugnete Axiom bedeutet
bei diesen Denkern offenbar etwas anderes als in der gemeinen Logik.
Aber was geht uns hier die Geschichte der Metaphysili au?
3) Umgekehrt: nicht aller Deukzwang geht auf apodiktische Oewiss-
heiten")i es giebt z. B. Bie Ideen, die uus beherrsohen und verfolgen köunea,
ohne logisohe Notwendigkeit mit sich zu führen"). Und einem derartigen
sulqekliven ZwangageFühle wird man doch die allgemeiogflltige Evidenz nicht
an die Seite selten wollen.'*)!
Hier ist das dgentliobe Rhodns unsres Logikeis: hier mnss er
springen! Er räumt ein, dass es „falsche Evidenzen* gibt"). Wie sollen
wir sie von den echten unterscheiden? — Znnftchst ist ja die
apodiktische Evidenz nichts als ein indi^idneUes Oefiihlserlebnis: .ich moss
80 und so, kann nicht anders denken I" Wäre nun aber ich das einaige
Wesen in der Welt, das kausal dächte, HnsaKKC der einzige von n auf n 4~ 1
Bohlieesende Heusch: dann müssten wir ans am Eede in „lichten Aogen-
blioken" fragen, ob nicht die anders geartete Hetkrzalil mit ihren Methoden
weiter käme als wir iwei Isolierten? Deswegen brauchten nnsre Prinzipien
für uns persönlich an Ueberzengungskraft noch gar nichts eingebüsst za
haben. Es kommt offenbar alles daiauf an, daas unser subjek-
tives Einleuchten AUgemeingältigkeit gewinne. Nur durch diese
nuterscheidet es sich von individuellen, willkürlichen, wohl gar u&rrischea
Deoklaunen. Oder man gebe ein anderes Eriteriom! Ich ünde bei Hdbbbbl
keines! Wollen wir nnu prüfen, ob eine private Denkuot wendigkeit tugleich
.absolut", d. h. für alle zwingend ist, so müssen wir entweder zusehen,
ob sie in der gemeinsamen Menaohennatur unausrottbar wurzelt; oder ob
sie alles Wissen bahemcbt Diese Methode befolge der Erkenntniskritiker,
jene der Psycholog,
4) Es ist ansinnig, über apodiktische Evidenzen lichten zu wollen,
statt ihnen einfiuih zu vertrauen; denn jeder Grund für oder gegen die
evidente Notwendigkeit eines Satzes beruht i^endwie abermals auf einer
Evidenz^ das Prozessverfahreu ist damit von vornherein auf die Unendlich-
keit angelegt").
Ich antworte: da ausser dem Identitfitssatz alle Prinzipien sobon be-
stritten worden sind und da mancher Satz, der einst für apodiktiach galt,
nnn als zweifelhaft, ja als irrig erkannt ist: so wird jenes Gericht über die
Evidenzen einfach gefordert, mag jemand es nosinnig schelten oder nicht.
Der Bichtei aber verlangt von den angefochtenen Axiomen nicht weniger,
noch mehr, als dass sie ihre allgemeiue Geltung erweisen. ,Der und der
Satz leuchtet dir ein — schön! Das ist Dein persönliohes Erleben. Nun
zeige, dass er allen einlenchtet und warum; und zeige ferner, dass die
Wissenschaft ihn nicht entbehren kann!" Wir rekurrieren also nicht auf
ewig neue apodiktische Evidenzen, sondern auf einfache Thatsacben der
Psychologie und der Erkenntniskritik.
") S. 89.
") S. 141.
"J HossBW^ 8. 107.
") Uphuiw, S. 22.
") ElIBHEK^ S. 189.
") Vgl. n.
") S. 84 f.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
üebei die Fundamenta dei formalen Logik. 29
6) Dieser Bekois selber ist unsianig, denn die Oewissheit von apo-
^ktischen Prinzipien darf sich Dicht auf empirische ITskten stützen''').
Aber apodiktische Evidenzen müssen apriori, also Forderungen
seiaj imd Aussagen giebt es nnr aposteriori, weil nur die Erfabrang That-
sacbea gew&hrt. Demnach sind theore tische Wissenschaften zuelpich
empirisch (oder doch so eng mit der Empirie verflochten wie die Mathe-
matik); und die Logik ist apodiktisch, eben weil sie auf Postniatan errichtet,
also normativ ist. Man nehme ihr diesen Charakter, so wird sie statt
.ideell" angenbtioklich .reell"") nud eine Tbatsachenwisseasohaft. Soll sie
ftberhaapt tbeoretisoh fundiert werden, so muss auch die Erfahrung die
Staine za ihrer Basis liefern.
Aber wie kann eine empirische Wisaenscbafl:, die doch bloss „vage"
Gesetae bietet, Jene überempiriscben und absolut eiakten Gesetze geben,
welche den Kern aller Logik ansmacben"^?
Da steckt das MissvetstAndnis"). Kein Mensch anf Erden hat
D&mlich je behauptet, die FsTOhoIogie solle die logischen Qeeetze „gebea*
— oder die logisohen Axiome wttren psycholo^sche Behauptungen. Nein.
Behaoptongen sind sie vielmehr gar nicht. Sie sind Postulate, und
zwar DDbediugte, die allem Wissen, auoh dem psychologischen, seine Normen
vorschreiben: die lo^sohen Gesetze „geben* nur sie selber. Aber als
Postulate können sie bloss eine regelnde, nicht eine aussagende Wissen-
schaft gebSren
.Die Lo^ will eine theoretische Orundlage" — das heisst eben etwas
ganz Andres, als Husskhl ons einreden mächte. Nicht der Inhalt der
PrintipieD bedarf der Bgeründung, sondern ihre Allgemeingültigkeit
soll nntersacht werden. Das Apodiktische ao ihnen ist znn&ohst sab'
jektiv; dass sie alle Mensohengeistar zwingen, das ist ein empirisches
Faktum — und dient ihnen zugleich als Beglaubigung.
Es Hessen sich am Ende recht mannigfaltige Logiken aufstellen, den
sahtreicheD Axiomen euteprechend, die man bereits für denknotwendig go-
balten hat ; jede derselben könnte, wenn sie nur in sich genügend zusammen-
hinge, eine absolut exakte normative Disziplin sein — so gut wie Lonit-
BCHiwSTTS Geomatrie ihre besondere Exaktheit hat Aber wir würden
zwischen aUen diesen Systemen doch wählen wollen. Und da würden zwei
Thataaohen der Erfahrung den Ausschlag geben. Erstens, dass die
.wahre* Logik in der allgemeinen Konstitution der menschlichen Spezies
wurzele; zweitens, dass die objektiv vorhandene Wissenschaft ihrer be-
nötige"}. — Man wurde ans diesen Tbatsacben nicht die logiseben Sätze
ableiten (dies wäre wirklich absurd), sondern mittelst ihrer die ants
Geratewohl entworfene Tafel des Apriori prüfen. Nor in diesem Sinne
bogrnndet ans Psychologie und Wissenschaftskritik die Logik; und eine
B^ründnog in diesem Sinne führt zam mindesten keinen inneren Wider-
sprach mit eioh.
Ziehen wir die Uatbemstik zur Yergleiohung heran, so wird alles
völlig klar werden. Bekanntlich Ist die Metageometrie eine in sich ge-
i und logisch möghohe Disziplin, Nnn wollen wir den Fall setzen.
>') HnssKBL, S. 64, vgl. 69 ff., 99, 119, 123.
") Tgl. IleseiBi, S. 188 eio.
") 8. 64.
*•) Z. B. auch hei Euro, Der phil. Kritiaisrnna II 1 (1879). 8. 7.
") Vgl. auch BiMHL, Der phiL Krit H 2 (1887), S. 64 f., der freilich '
nur 2) gelten lässt.
iM,Googlc
30 Dr. Julias SohnltE:
«n I^cholog oder Physial<% Btetlte empirisch (est, wunm wir Hansohen
keinen anderen Raum als den enklidiaohea aaiusohanen vermOgen. So
wfirden wir den Vorrang aneerer vor den übrigen Geometrien als uns
notwendig einsehen. Mithin dürften wir sagen, daas Euklid und dasa also
der Par^eleosatz u s. w. ihre Beglaabignng nun erst recht empfangen
hütten. Aber das hiesse doch nioht, daes der FaralleleosatE ans jenen fak-
tischen Bebaaptnngen ersohlossen würde, wie etwa der AnsBenwinkelsatz
ans dem Winkeleumniensatz folgt; and es hiesse ebensoweaig, dass die gso-
raetrisoben Tbeoreme aan plötzlioh phTSioIogiacbe Datea geworden seien. —
Mein QebartsacbeiD ist aicht der innere Oruod meines Daseins auf der
Welt; Echtbeits-Dokameate liefert ans die Psychologie für die Denknormen,
keine bgischen Ursprünge!
6) In den logischen Priniipien wnneU die Möglichkeit aller Theorie;
dafaer können sie nicht ihrerseila dorch eine bestimmte 1%eorie, i. B. die
psychologiatische, sich beglaubigen lassen. Denn setzen wir den 'Stil, diese
veraagte die gewänechte Be^anbigang, so leugnete sie ja damit als IHieorie
ihre eigene H&gliohkeit. I^irf sie aber nicht versagen, so steht es auch
nicht bei ihr lu gowährea").
Wenn ich, was der Gegner mir selbst einiilnmt"), mittetet der
logischen Begeln über dieselben and ihre Begründong nachdenken darf.
so wird auch die Fnndierang der Möglichkeit aller Theorie mittelst einer
Theorie, kaum so absurd sein, wie es zunächst 9oh«nt — Es geht nun ein-
mal in der Philosophie nicht so rn, dass ans wenigen Priniipien das weitere
mit mathematischer Strenge folgte; sondern man tastet von allen Seiten über-
all hin — und tastet sioh einander entgegen. Der eine versucht sich mit
diesen, der andere mit jeneu PrSmissen, und es moss sich allmählich heraos-
stellen, welche davon lÜe notwendigen und allgemeingültigen sind.
Darum brauchen wir nun auch Hirsam.s Einwand nioht gar tragisch
za nehmen. Für jede Untersuchung, t. B. auch für die nach der Nator
der logischen Forderungen, fassen wir die apriorischen Werkxeoge, die wir
in uns vorfinden, zauHohst unwillkürlich und naiv in die Hände and arbeiten
fKhIioh damit los. Entdecken wir dann mit Hilfe eben dieser Werkzeuge,
dass eines derselben nioht recht taugt, so werfen wir's weg und sohaf&n
mit den anderen weiter. Wir müssen freilich hinterher dös Produkt dea
verloren gegebenen Instramentes seinerseits verniohten oder umformen, viel-
iwsht das ganze Werk nen binnen! Es giebt viele Hensnhen, die den
Zweckgedanken für ein unbedingtes Postulat halten; nehmen wir an,
ein solcher dichte über den Ursprang aller Postulate naoh and käme durch
ksDsale wie teleologische Schlüsse zum Resultat: es sei der Begriff des
„Zwecke«* ein mehr oder weniger willkürlich koostruiertas und für die
Mehrzahl der Menschen keine»w^s zwingendes, daneben ein dem Erkennen
wertloses Gebilde: — was hätte der Mann nunmehr zu thun? Er wftrde
augenscheinlich die Zweckidee aus seiner Axiom entafel streichen, seiae
eigenen Bchldsse ans ihr aufheben und mit dem Beste seines Gerätes die
Arbeit von neuem anfangen. Erkenntniskritik und Psychologie waohaen
Bchüeeslich gemeinsam empor; man winl eich darauf verlassen dürfen, dass
sie mit der Zeit, einträchtig worfelnd, die togiscbe Spreu vom lo^sohen
Weilen sondern werden; also nochmals, nicht so tragisch thnnl Das Denken
über das Denken bleibt ja wohl immer eine problematisobe Sache, das geb'
ich zu; aber problematisch ist eben manches in der Philosophie!
*^ Hdsskbl, S. 110 ff., vgl. t, B. aaoh Fiom, Logik, 8. 6i3.
") S. 67 f.
iM,Coo<^lc
Deber die Fandunente der formalen Logik, 31
7) Der t^^cbologiBiuDB führt auf den B^riff einer relativen Wahr-
heit. Dieser aber ist widemnnig"). Hat näinlich „alle Wahrheit ihre aoa-
BohlieBslicfae Quelle in der aUgemeio meDsohliohen Konstitntion , so gilt,
daas wenn keine aoloho EonatitntioD bestände, auch keioo Wahrheit be-
stinde. Die IheeiB dieser hypothetischen Beb aaptung ist wideraionifc; denn
der Batz „es besteht keine Wahrheit" ist dein Sinne nach gleichwertig mit
dem Satse „es besteht die Wahrheit, daas keine Wahrheit beeteht". Die
Widerainnigkeit der Thesie verlangt eine Widersinnwteit der HypothesiB,
Als Leognung aaee gnltigen Satzee von tbatsttchlichem Oehalt kann sie
aber wohl blaoh, niemals aber widerainnif; sein"*').
- „Alle Kreter lügen" n. s. w. — ich rieche Scholastik! Was meinen
wir denn, wenn wir sagen: in dem und dem Falle bestände keine Wahr-
heät? Doch wohl nioht: „es bestände die Wahrheit, dass keine Wahr-
heit bestSnde"; sondern: „ee besteht die Wahrheit, dass in dem Falle
keine Wahrheit beulände". Sie besteht, jetzt, für mioh, der die er-
forderliche HenschenkonstitntioD besitzt nnd sich (ör einen Augenblick in
jeoe irreale Möglichkeit hinein deokt. Dia gegenwärtige Wahrheit, dua
ohne Uiteilsf&higa ein urteil und also eine Wahrheit nicht znstaude käme,
wird vom Gegner in eine hypothetische Wahrheit vom Nichtznatande-
konunen irgend einer Wahrheit nnter gewissen Voraossetzongen verdreht.
Mao könnte nach Hosebrl's Rezept ebensogut schhessen: Wenn kein
Spreohender existierte, existierte kein Satz ; eu existierte aber dann doch
der Satz, dasa kein Satz existierte — n. a. t
Wenn nneer Logiker") den Begriff der Wahrheit für den and jenen
wideisiDnig nennt, ao hängt das eben einzig und allein an seiner Defi-
nition von Wahrheit Ist diese ein DiDgansicb, so ist der RelatiTismnB
abeard; wenn nicht, nicht I
Definitionen sind frei wie die Vogel. Wamm sollte man nicht die
adiöiutea Siebensachen mit dem Worte „Wahrheit" taafen? Fragt man
aber den alten Pedanten, den Sprachgebrauch, so wird er antworten: Wahr-
heit sei die üebereiostinunang einer Aussage mit ihrem Gegenstände.
Deiu „wahr" nennt man nun einmal nicht Dinge, sondern Sätze; und unter
dem sngehSrigen SubstantiT „Wahrheit" kann ich nnmöglich etwas anderes
veistehen als entweder die Bigensohaft wahr zu sein, oder ein einzelnes
Wahres, oder die Summe alles Wahrenj also steckt alle Wahrheit trotz
HuaaxaL') im urteil, wie auch bisher allgemein angenommen wurde. E^
die Anffaasnng ihres Weaens kommt mithin unsere Wahl unter den Urteils-
theorien in Betradit.
leb kenne deren vier;
1) Jedes urteil subsumiert ein Gegebenes unter einen Begriff*).
Dieee Ansicht muss mit den gewöhnlichsten Aossagea die tollsten Ver-
renkong«! Toinehmen, am sie in ihr enges Bett zu quetschen. .Da läuft
*•} HnsaKBL, S. 117.
") B. 119, Tgl. noch BoLZANo, Wiasenachaftslehre f, 8. 145, 197 f.;
um, die Omndprobleme der Logik (1883), S. 88; Uphüis, Eint, in
d. mod. Logik, 8, 6.
'*) a 117.
*) 8. 182.
*) Dies im Qnmde HamLnN's Doktrin, vgl. auch z. B. Natorf in
Pha. Monh. 27.
n,g,t,7l.dM,.COOglC
32 Dn Jalins Sohults:
ein Reh!" soll vermutlich bedeuten: „dieses Reh ist ein lanfendes Wesen";
oder: .„dieeas Lanfende ist ein Reh"? Ich frage den eisten besten Un-
befangenen, ob er de^leichen wirklich mit einer solchen Anssaga meine, oihI
hoffe zn Octt, dass er mir ins Gesicht laoht. Fnr die üblichen BeiBpietositx«
der Schiillogik: ,Gi)ld ist gelb" nnd Shnüohe an bestreitbare Albernheiten
mag die Theorie passen').
2) Das Urteil ist eine durch Bejahung ohuakteriaierte Vorstetlnng
oder "WahniehmQng; der „Olanben' zeichnet es vor der eintirohen Perzeption .
ans*). Diese Ueinung hat Wilhelm Jrhcsaliii so gründlich wideri^'},
doss ich mich einfach anf seine Aosführungen berufe.
3) Das erteil ist eine Fonnnng des Weltiithalts. Wir fassen unsere
Empfindangskamplexe nach Analogie unseres Ich als dauernde und wirkende
SnMtanzen ; ihre wechselnden Attribute and Thfttigkeiten sagen wir alsdann
von ihnen ans; and eben dieses unserer Psyche naturnotwendigs Spielen
mit dem Phänomen ist die eigentliche Urteilsfanktion. die sich aach ohne
Sprache ftoasert, besonders deutlich aber im Satze hcrvoTtritL — Wann
SiQWAttT*), HSffdino') u. a. im urteil eine Synthese, WmiDT*) eine Ana-
lyse, Jodl') KUf^ch eine Analyse und eine Synthese sieht, so meinen
sie wohl alle mehr oder weniger dieses Selbe; die Oegenüberstellung und
zugleich Trennung und Zusammenpackung tou Subjekt und Prädikat ist
ihnen der Sem jedes Satzes! nur dass der eine das Trennen, der andere
das Vereinigen schärfer empSndet nnd betont. Am sohönaten und klarsten
ei^rtert Jebuslikn") die Sache.
Bioher ist, dass wir die Welt gamicht anders als subatanzial- kausal
begreifen kennen; sicher ist femer, dass jede entwickeltere Sprache in den
E^egorien der Substanz und des Wirkens lebt; sicher endlich, dass weit-
aoB die meisten lebendigen Behauptungen als PiMikationen von Subjekten
auftreten. Fraglich ist nur, ob alle das thun.
Wenn ein Kind beim Anhliok eines Schafes „bäh" ansraft, so fühlt
es schwerlich das Tier als Substanz und prädiziert dessen Existenz; sondern
die intetessaate Wahrnehmung lockt einfach durch Assoiiaticn das Wort-
bild herbei; so aber möchte es do<]h vielleicht allgemeiner in jener Unwt
zugegangen sein, als die Sprachen noch aus Wunela bestanden. Ich
glaube nicht recht an die beliebte These, dass schon im Ausapreohen einer
Wurzel Sul^ekt und Prädikat psychologisch gesteckt haben müsaten; die zu-
nehmende Substanzialisierung nnd Verursächlichung der Phänomene erschuf
ja eben die Scheidung von Verb und Hauptwort und die Flexion, Solita
nicht der primitive Mensch einfach seine Eindrücke mit Lauten begleitet
haben ~ ganz wie wir es bei jenem Kinde annahmen? Mindestens ist die
Entstehung der Sprache und ihre Entwiokelung aus dem Wurzelzustande
') Üebrigens kann ich mich anf die Kritik Mills gegenüber Hamilton
bemfen: „An examinaticn oF H's philosopby" S. 346 ff.
') HiLi,, Syst of Logic I, S. 116, BasHTANO, Psych, von emp. Stdp.
I (1873), S. 266 ff., 290. Lippb, Qrundthatt. des Ssetenl. (1883). S. 394 ff.
etc. Eine barocke Wendung in ähnlichem Sinn bei Wahli, Das Qanze der
Philosophie u. ihi Ende, (1894), S. 384-388.
») „Die Urtailsfunktion-, (1895), S. 66 ff,, 183.
•) Log. T, 68ff.
'•) Psych, i. Umr.. S. 241
•) Log. I, 1. A., S. 136 ff.
•) Lehrb. d. Psych-, 1. Aufl S. 616,
'•) S. 76ff.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
üeber die Fundamente der fonn&leii Logik. 33
ZOT AgglntinatioQ and dann cur Beogniig auf diesem Wege am bequemsten
EU I)^raifen. und noch wir eiieben Aehnliches. loh gehe dnrch einen
dunklan Oang, sehe in der Ferne einen Schein und rnlu: ,Uoht' I loh
eage aber diunit eigeatlioh niobt, dasg ich Licht sfibe, oder dasa jene«
Ucht existiere; weniftsteua blanche ich daa nicht zn meinen; sondern idi
hefte unter ÜmBt&nden nur ein lAutaymbol an eine Empflndong. Die
Dichteteprache aller Volker ist reioh au Fügnngen, die dergleichen nnper-
Bönliche, anbetanilose Oefuhlsschatten dnioh unsere Seelen ziehen lassen —
,Lnft im Laub, und Wind im Bohrl"
Oani allgemein fallen blosse Carstelinngen psychologiaoheT Zustände
unter diese Beeohreibnng, nnd weiterhin entschieden die Impersonalien.
Jeffusalem hat") die Ansfübrongen Martysi*) Qber letztere geschickt kritisiert,
soweit dieaelben Bhcmtahos Urteils tbeoiie stützen sollte d.
EzjstsDÖalsItze sind sie in der That nicht, and eine zur Torstallong binin-
trstsnde Baiabnng macht ihr Wesen nicht sus. Aber andrerseits — zwei
Glieder findet man im impersonalen Satze wiiklioh nur, wenn man sie
ktampthaft snoht — oder wenn man die grammatiBchQ Form auf Kosten des
logischen Inhalte nbersohätzt ^Ea regnet" — das sollte ein Benennungs-
■ rteil Bein")? identisch mit dem Satze: „das ist Hegen?" Und es wäre
die Eischeinnng selber Sntijekt, eine atigemein bekannte Votstellnng Pridi-
dikat? Wenn ich aber meiner Fran ana der Zeitung vorloser „es regnet
in Genua?" wie dann? Nein, in diesem Pankte behält Hirtt gegen Biewisr
gUntend recht! — Oder hestünde dan Subjekt gar in einem hinzugedachten
„Hier"*)? Ein noch seltsamerer Eäufalll Fühlt denn irgend jemand beim
Impenonale die räumliche Umgebung stärker oder andersartig mit als bei
einer beliebigen Aussage? Wie soll die adverbiale Bestimmung nun auf
«nmal Solijektahinktioneii ubemehmenT Ja, wenn es heisst; „mss Vogel
oder stirb' I" -~- sonst nie und nimmer. Betrachten wir'e mhig, BO laaseu
wir l)ei den Urteilen: .es ist kalt" oder .es schneit" einfach einen Empfind-
ongskomplez von assoziierten Lauten begleiten — weiter ist da nichts sa
enhlecken. — Ebenso nun fasse ioh wenigstens einen Teil der .Existenzial'
stttse" auf"). Zwar eine Behauptnng wie: ,Qott eristiert" ist gewiss zwei-
gliedrig; sie besagt, daaa Oott nicht ein blosser Begriff sei, sondern ichhaften
Wesens iteniease"); also arbeitet hier Jemsalems echte .Urteilsfunktion",
Wenn ich aber etwa im Frühling ausrufe: .da ist ja schon ein VeilaheDJ"
— so snbetanzialisiere ich nicht weiter, sondern ioh verbinde bloss eine
Wahrnehmung mit den zugehörigen Worten.
Die dritte Theorie mnss also erweitert werden; und wir aoospfieren :
41 Aussage ist die Begleitung eines Wahrgenommenen oder Voi^-
staHten durch daran gebundene Worte*^. Da wir die Welt nur snbstanzial
und kansal begreifen kSnnen, so mnss notwendig der weitaas grosate Teil
aller Behauptungen die Kategorien der Substanz nnd Wirkung zeigen ; darum
") 8. 120 ff.
") Diese Ztsdi. 1884, 8. 161 ff.
**) Siowun-, Logik I, 8. 77—79 ; UanrY, in dieser Zisch. 1884, S. 87 ;
Jemaalem. 8. I2b f.
'*) Jerusalem, 8. 126.
'*) Auf welche Bbehiaho seine Theorie gründet, vgl. „Ps. v. e. 8t."
I, 8. 276 ff.
'*) Vgl. Jerusalem, 8. 67 f.
") Vgl. fi. EBDxaHN, Logik I (1892), 8. 198 ff.; daneben freilich
8. 1871
VMtMqitoMlittt t HbMOCduM. PUlu n. SoeloL ZXVIL I. 3
rmn-ii-.-i Google
34 ^t- 'nlina Solmlts:
paHt die ZweigUedrigkeitstheorie anf dio mostan Urteile vortreSlioh. IMa
MenBohheit aber maobte (wie die Kindheit) Feiioden intfät, in denen jenaa
■zioniatiflohe Sotema Bioh erat entwickelte; und jeder Ton ans hat Augen-
blieke, in denen es sohlift oder doch ermattet Will man nun die qinah«
liehen Produkte ancti dieser Momente und Btnfen prtidikatiT gUedem, «r
veidreht man den psfohologisohen Thatbeatand in Onuaten einer Hfpotheaa.
Die sohliditere Bwleitongetbaorie dagegen wird «Uen möglichen nUen ge-
recht Vtelleioht findet jemand, ich wiederholte eigentUoh nor ArgnmMte,
mit denen a. S. Bbkntaiio aohon operiert habe; nnd wundert Bi<di, dass ioh
sc^eaalioh die Ansitdit 2) verwerfe, die ehedem bo geeohickt aoa Jonen B»-
weiagründen auferbant war. Der Funkt aber, wo iah B. (um mich an diesaa
SU halten) entg^entrete, ist folgender: B. hält für aoagemaohf*), ,daaB dec
CnteiBdiied iwiaohen TorateUen and Urtnlen ein innerer UnterscJiied des
ansn Denkens vom anderen aein moss*' ; und da er nun die Meinung 8)
genau atu denaelben Ornnden wie ich für schief erachtet, ao bmimt er M
aeiaer Olanbenstheorie, deren Irrwege dann ihrerseitB die Verfeohtei der
>Zweigliediigk«t" dentlioh naohzuweiBen varmoohten. Daaa die AaaonatioD
eines Bewnwtselnsinhalts mit Worten (oder gleinhirertigen Bymbdaa) die
VorBtallung tarn Urteil erheben kenne: diesen Gedanken streift B. gar luoht;
nnd der aUnn bereit uns nun von jeder Sohwieiigkeit
Folgende Ein^bide liessen sioti gegen die Begleitungstheorie erheben:
IJ Die eingliedrigen Phraaen, um derentwillen die Theoria 8) ver-
lassen wnrde, sind Ausrufe oder was sonat, aber keine Urteile. — loh ant-
worte: Definitionsssohe! Jedenfalla haben sie aar Wahrheit dieselbe Be-
ziehung wie echte Urteile, und ich nenne sie datier an meinem gegsa-
wirtigen Zwede so, ohne anderen Beaeiobnaagen vorgreifen eq wolleo.
2) Naoh una mttaste jeder Wortkomplex, s. B. „grüner Bohnes* etc.
ein Urteil sein.
Antwort: Dass Wahmehanngun oder Tcrstellangen vorhanden
sind, an die aseoiiierte Wörter aich aohlieseen, war uns Bedingung fftr's
Znatandekommea eines Urteils. Ein „ainnloaea" Hersagen von Lauten er-
giebt also freilich keine Behauptung. .loh stelle mir soeben grünen Sohnes
vor" — ist zweifellos eine Aussage; bedeutet der Ruf: „p^er Sohneel"
angenhr dies (mit geriugerer Hervorhebung meines loli), so ist er ein
Urteil im weiteren Binne, ist er ein blosses Wottgeklingel, dann be-
lieb nicht
3) Kann denn unter Umstanden auch ein einzelnes Hauptwort eine
Aussage sein? — Wenn es einen Zustand unserer Seele oder eine Wahr-
nehmang abbildet, warum nicht? Man sieht einen Bauch aufsteigen und
ruft: „Feuer!" Das kann richtig oder falsch sein. Jemand verzieht sein
Gesicht und sagt: „Zahnweh I" — Er kann lägen oder die Wahrheit sprechen.
Und lansohe ich in eine Traumwelt hinein und ftüstere: »Olookeal*' oder:
aOletscherl" — ao beschreibe ich allerdings psychische Torginge und kann
dabei, wenn ich z. B. schauspielere, unwahr werden. Die logu^n Kenn-
zeichsD des Batces sind also da.
4) Es giebt aber Ueberg&nge zwiaoben dergleichen Eiklamationen
nnd sinnentblösstem Qestammel. — Gewiss, vor dem Eingeetftndnisse, dass
alles in alles i^endwo äbe^eht, scheuen wir Fsyuhologisteo uns überhaupt
nicht; das ist nur den Absolntisten fatal.
) BnaxTUio, Op. cit (Amn. 4), S. 270, 295.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
neber die Fnndkmente der formalen I/tgik. 85
6) Aach PoetnUte and DeSoitioiieii siad 8Uz« nod als solohe den
■gen verwandt; hier wtre mitbin «an Uebe^aog erwfloBoht — nod
eeheint nach nnserer Theorie in fehlen.
loh antworte: Der Zweigliedrigkeitstheorie fehlt er ebenso gvt Tir
wSiden folgendermasBen erlAntern: ünaere Forderangen nnd Begiübbe-
ttiminiuigei) TerUeidea rioh formetl als Aussagen Aber ein Wah^eDon-
menee oder Vorgeetelltea. In der DefinitioD wird der Bwrift ale Babetu»
kaetSmiert, und was in Wirklidikeit eine willküiiicbe BedeDtnngslimitatioa
iüL ersobeint wie eine — grammatiBohe — Behaupttug. Das Poatnlat tritt
entweder als {«yohologische Behaoptnng auf, oder man denkt es sich erfftUt
nnd beechreibi ee nnn wie eise niataache.
6) fib giebt aoch gedachte, wortloie ürteUe. — A.ber doch wohl
nur ala abgebleichte Nebenformen der lasten. Dasa .Denken' ein ainner'
ücdiea Sprechen * sei, ist gewiss falsch; der MatheinBtiker, der in einer Pigni
gMohe Dreiecke aotBnoht, .denkt" ancb; das stUlsohweigende urteil aber
ist iweifellaa stamme Bede. — Der Oeberdenspraohe passt uoh onsare
Iheorie besser an als alle anderen. Der .Sata an sioh" Bolumos kommt
— ale bloeee HSgliohkait eines Urteils — hier nicht in Frage.
7) Wlre die UrteilefonktiDa mit nnaarer sabstaniialiBierenden IhUg-
krit identiBch, so qaölle sie notwendig ans den Tiefee anserer Natar. Unsere
Wahmahmangen and Vorstellnngen aber mit Worten zo beglsiteD ; was
bvibt nns daza?
Hier steigen wir in's Zentrum aneeree Problems.
Wir wollen, wenn wir aaesagen, andere auf „ansere"
innere oder äussere Wirklichkeit aufmerksam machen. (Unter
UmstindeD nehmen wir selber die Holle des .Anderen'! wir spalten uns;
MMioioge Ennd aoch Unterredungen).
Wie geschieht das? Wir heften an den interessanten Weltfetzen
gewisse lAute; in der Seele des Oenosnen reproduzieren diese die zuge-
hörigen Bilder and ähneln so dessen psychischen Zustand dem unsrigen an.
Also ohne Qemeinsohaft kein tfrteil.
und hier enispritigt der natürliche Begriff der Wahrheit Wenn die
durah meine Aussage beim Terstah enden EmpfilDgererteagtenToistelluDgen mit
meiner Wahrnehmung, also dem, waa ioh für gewOhnlloh „WirkJiohkait*
nenne, soweit übereinstimmen, wie man dies von Voistellangen überhaapt
Temfioftigerweise verlangen darf, so ist mein Satz „wahr". Und das Kn-
terinm deseen ergiebt siäi ganz einfach, der Hörer wird sein Bild mit d«D
Augenschein vergleicben. Mögticberweise mnss er noch Denkoperationen
vornehmen, am vom Aogensobein zu seiner Wahrheit za gelangen; sind
hierbei B«ne von den allgemein mensobliohen EimfunktioDen abhängigen
Bdititte mit den vorgesohrieboDeu in Uebereinstimmang zu bringen, so
wird abermals der Satz ihn „fiberzengen*. Wir sprechen dann von mittel-
faanr Wahrheit. Sie mnss in ietztar Linie auf unmittelbarer beruhen.
Andere Wahrbeitsproben giebt es nicht als zaschanen and mitdenken and
dabei beständig die in uns erweckten VorBtsllangen mit dem Besaitet des
ZoschanenB und Hitdenkens vergleicben.
E^ absoluter Einsiedler würde nie Veranlassang finden, Wahmehm-
ongsnrteile za Allen, wohl aber könnte er im Selbetgespräcbe indnzieren
ond seine Induktionen sjdlter durch die Bealität beetätigt oder widerleg
sehen; es gäbe daher fir ihn nur mittelbare Wahrheiten. — Ist nun die
Wahrheit — so gnt wie die Sprache selber ~ ein soziales, nicht ein
iM,Coo<^lc
36 Df' Jalius Sobnlts:
iDdividoeÜea Gut"), so verliert Upsdn' Frage"') ihren eigeDtlioheii Ornnd,
woiQ dooh die .Wiiiliehkeit" DoohmalB abgespiegelt ta werden brsaotia.
Eine aHtOssige" Wiederholung des Bsalen liegt natürlich da nicht voi, wo
ein Uensoh.irn anderen seiueu eigenen Eindrücken ein Echo geben möchte,
und ee bemhen non nicht nnr die lebendigen Urteile &nf dem Verkehre
der Henaohen nnteraintuider, sondern anoli die „Satee an sich*. Das Fall-
gesetz TOT Oalilei war eine SatzmSgÜohlEeit; und zwar deswegen, weil
Bohon Adam es hätte Terifiiieren müssen, wenn man es ihm Schritt für
Schritt bKtte vordemonstrieren k<^nnaD.
Ist nun aber das Kenniaichen ^er Wahrheit teils der lugensohün,
teils die NöÜgnug, jeden der Schlüsse nachzudenken, die von der PerEep-
tion auf ein Ailgemeinnrteil geleitet haben: so muss alle Wahrheit ron d«r
^nrichtnng unseret Sinne und unseres Oebimee abhängen. Das Farben-
urteil eines Rotblinden und den Lehrsatz, die Dreieckswinkel betrügen über
zwei Rechte, halten wir für falsch, weil wir mehr Farben als jener sehen
nad den Euklid im Leibe tragen, und weil wir also unfähig sind, die beiden
Behauptungen nachzuerleben. Unterschiede kein Mensch ausser mir grün
und rot und wären sie alle Psendospb&riker, so würden meine abweiobendan
Aussagen IntOmer sein; denn das Xndividnnm vermag niohte wider di«
Oattnng. In der ganzen empirischen Welt wenigstens kann es nach
nnserer Definition der W^rheit und ihres Kriteriums nur relative Wahr-
heiten geben. Wenn Busbsi'L «die Rede von einer Wahrheit für den oixi
jenen" , widersinnig" n«int"): so scheint es fast, als dürften wir ihm den
Sal3 mit besserem Iteohte umdrehen.
XI.
Nor ein Ausweg bleibt dem „Absolutisten"; nur ein
einziger, letzter; er kann das Vorbaodensein einer nn-
bedingten Wahrheit als Axiom postulieren; und da-
mit Überspringt er daon eben die Schranken der Erfahrungs-
welt. „Wir nehmen an, dass wir die Wahrheit erkennen
können"*) sagt Uphobs. .Die" Wahrheit, d. h. die abso-
lute. Wohin aber fQhrt diese Annahme? Entweder zum
nalT-unkriÜschen Einderstandpunkte: wir sähen die Objekte
genau, wie sie an sich sindl — Oder — die Wahrheit
selber wird Objekt des Erkennens^); genauer gesagt:
ausser dem, was wir im landläufigen Sinne „Wahrheit"
nannten, der tJebereinstimmung nämlich eines Satzes mit einer
„Wirklichkeit", giebt es noch eine Extrawahrheit — Hubbbbl
") Tgl. Bäbl, Der phil. Krit II 2 (1887), S. 64.
")S. 6
■') 8. 117.
>) Einf. in d. med. Log. I, 8. 2.
*)ib.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
üeber die FoDdameiite der formaleii Logik. 37
nennt sie die „ideale"^ — die mit „Wirklichkeiten" nichts
ZQ thnn hat und, indem sie ohne subjektive TrUbong dem
Bewnastaein sich aufdrängt, ein theoretisches Wissen ermög-
licht, dessen G^egenstand sie selber ist — denn auf Gegen-
st&nde moss ja wohl alle Theorie gehn I — Das sieht im
Grande Hcbsebl selber ein, aber er siebt nicht, dass damit
die formale Logik notwendig zur Ontologie wird.
Denn ist die Wahrheit absolnt, d. h. ftir jedes denkbare
Denkwesen die eine und gleiche, so mnss sie ein von nnsrer
Organisation anabhängiges Dasein fuhren, masB Sabsfaoz
sein; und sollen wir sie erkennen, so muss sie zugleich in-
teUigibel werden. Intelligible Substanz aber ist „Idee" in
Plato's Sinne*). Auf eine idealistische Metaphysik läuft mit-
bin Hussbbl's Erkenntnistheorie hinaus; und ich halte es
für ein nicht geringes Verdienst des feinsinnigen Denkers
Uphuss, das in seiner jüngsten Schrift folgerichtig und klar
gezeigt zu haben.
Die theoretische Zukunftlogik Hüssesl's ist eine Seifen-
blase; die psychologistische BegrUndung der Denklehre hält
sieb gegen alle Einwände: das hab' ich hoffentlich bewiesen.
Aber der Relativismus befriedigt nicht jeden; es giebt Na-
turen, die es unheimlich finden, im Subjektiven zu schwimmen;
sie woUen irgendwo den Bodengrund des Unbedingten.
HOgea sie denn immerhin mit unsrem neaesten Platoniker
die absolute Wahrheit fordern; er wird sie von seinem An-
fangssatze aus sicher führen and ihnen schöne Gefilde zeigen;
nor, dass sie diesen Anfangssatz aus ihrem Bedürfnis und
Wollen heraus, willkürlich also, gesetzt haben, dessen müssen
sie während der ganzen Untersuchung eingedenk bleiben;
mit dem kritisob-theoreüscben Unterbau, den ihnen Bvbbkrl
geliefert, war es nichts.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Ueber die zeitlichen Eigenschaften der Sinnes-
wahrnehmnng.
Von Bob«rt MBUer, QieHsen.
WIhnnd ia Phjdker dia &
1 betdm FUltn denellM M.
kU ,«o<U1t«' UDd „nlnUVs' koftntsii kian.
_ _— .. „ D dm ZUrptt der maagflndoi Penon, und
an, gtknnpft. — Dia W*Iini«timnnt*UM>(e lim ikb *l) „nliw Er-
g maSUHn — der B«(rlff der SlmuaftmUloii wird ■(- " — ' —
Im Sominer 1698 wurde im Institut für experimeDtelle Psyohologie
za Leipzig eine Untersuohimg „über den ümfaiig des Bewoaetaeins" be-
pmneD; ee eeigte aiob im Verlauf der Arbeit, daäs der Oegenetand dieser
Frage ttvh innigste verknüpft sei mit deo zeitlichen Verhäitnisseii von
8iniie8wahmehmnrig and Vorstellung überhaupt, und daaa es notwendig sei,
Eimichat dieae zum Objekt der Unterancbnng zu maohen. Von Winter
1S8B bia Oatem 1901 beschäftigten wir, Dr. Hoebivb und Verf., ans gemein-
Bsm experimentell mit dieser Aufgabe, und ea ergab sieb, dass die hierher-
gehCrigen Fragen von einer grundlegendeu Bedeutong seien, nicht nur für
die experimentelle Psychologie, sondern auch für die Würdigung der er-
kenntniatheoretischen Fragen der Binneephysiologie. Das folgende ist der
ente Abaohnitt aus einer jetzt abgeschlwiaenen nmfangreiohen Untersnohang
über den .Zeitsinn" und es soll hier versucht werden, die Problemstellung,
zu der wir soblieeelich gelangten, darzulegen.
I.
Änsgangspankt des folgenden ist eine specielle Frage
aaa der Physiologie der Sinne, welche nämlich die Vorgänge
aeien, wenn eine sinnliche Wahrnehmung einer Abfolge kurz
daaemder QehtlrsemdrUcke statt^ndet und wenn wir über
diese Wahrnehmung aussagen; diese Aufgabe scheint eine
«hr einfache zo sein. Der Verlauf eines solchen Wahr-
iM,Coo<^lc
40 Bobatt Müller:
DehmungSYorganges ist uns gegeben beim Hinhören auf die
Schläge eines beliebigen Pendels, das entweder an einen
schallenden Körper leicht anschlägt, oder durch irgend eine
mechanische Vorriditung, mit der es verknüpft ist, einen
Sehall hervorruft.
Diese Schalleindrtlcke von kurzer Dauer sind durch
Zwischenpausen von einander getrennt; und über diese
Pausen können wir aussagen ob sie gleich seien oder nicht;
dass wir dabei falsch oder richtig aussagen können, mag zu-
nächst unerörtert bleiben, uns gentigt es, dass wir im gege-
benen Falle wohl dazu kommen würden, eine Aussage über
die Gleichheit oder auch Ungleichheit der Pausen zu machen.
Die Beobachtung, auf der die Aussage beruht, machen wir
im vorliegenden Falle mit dem Qehörsapparat, sie sind
SinneswalimehmuQgen des Gehörs und die Aussage ist ganz
allgemein eine Sinnesaussage. Die G-ehÖrswahmehmung ist
im vorliegenden Falle die entscheidende Instanz fUr die Aus-
sage über die Gleichheit oder Ungleichheit der Pausen, also
der Zeitteilung, wie sie durch die Schwingungen des Pendels
gegeben ist.
Für den Physiker dient die Bewegung des Pendels als
Zeitmass; sie wird daher fOr Ihn zu einem höchst wichtigen
Vorgang, auf Grund dessen es ihm möglich ist, die Vorzüge
der Aussenwelt in einen durchgängigen Zusammenhang zu
bringen und in ihren zahlenmässigen, qantitativen Verhält-
nissen, in dem die Zeit selbst als numerisch bestimmbares
Quantum behandelt wird, zu untersuchen. Wir oehmea zum
Ausgangspunkt dieselbe Erscheinung der Zeitdauer der Pendel-
schwingungen, werden aber versuchen, dieselben von einem
anderen Gesichtspunkte aus zu betrachten.
Der Physiker kommt durch seine Beobachtungen und
Ueberlegungen zu dem Ergebnis, dass die Bewegungen des
Pendels durch die Constanz und leichte Uebersehbarkeit
ihrer zeitlichen Verhältnisse in vollkommener Weise geeignet
sind, zur Beobachtung und Darstellung der zeitlichen Ver-
hältnisse der Vorgänge unserer Umgebung zu dienen, und
iM,Coo<^]c
Ueber dia EeitHohen Efgeusohoften der SiDneswobniehmiiDg. 41
er gelangt so zu einem unirersalen, in einena äusseren Vor-
gänge gegebenen Zeitmasse. Wir beobachten denselben Vor-
gang, 'Wir nehmen dieselben äasseren Erscheinangen, wie der
Physiker, wahr, onsere Ueberlegungen gehen aber nicht auf
die Ermittelang von Zusammenhängen in unserer Umgebung,
sondern anf das aussagende Individuum, indem wir in letzter
Linie fragen: woher kommt für uns die Möglichkeit, über
die zeitlichen Verhältnisse von Sinneswahmehmungen aus-
zusagen, zeitJiche Verhältnisse, wie sie etwa bei der Wahr-
nehmung der Pendelschwingungen gegeben sind? Wir beob-
achten genau dasselbe, wir sehen oder hQren um nichts mehr
oder weniger als der Physiker; unsere Beobachtung bezieht
sieb auf einen Vorgang in unserer Umgebung und die Aus-
sage, der Zeitabstaod zweier gehörter Schläge ist gleich
gross, oder die Zeitdauer zweier aufeinander folgender Schwin-
gungen ist gleich, hat in allen ihren Bestandteilen die Wahr-
nehmung des Vorganges zur Voraussetzung. Eine Aussage,
welche geknüpft ist an einen Vorgang in unserer Umgebung
und erst mOglich ist, wenn dieser Vorgang uns in irgend
einer Weise gegeben ist, soll als Erfahrung bezeichnet
werden. Im vorliegenden Falle ist jener Vorgang die Vor-
aussetzung unserer Aussage in allen ihren Teilen und so ist
nach unserer BegrifEsbestimmang die Aussage in allen ihren
Teilen Erfahrung; wir haben denselben Ausgangspunkt wie
der Physiker, indem der Vorgang in unserer Umgebung, an
den in beiden Fällen alle weitere Analyse anknüpft, derselbe
ist. Wir beobachten, dass die Schläge eines geeigneten
Pendels immer in gleichem Zeitabstande erfolgen. Diese
Aussage ist unabhängig von Rechnungen oder Ueberlegungen
auf Grund irgend welcher Voraussetzungen, sondern beruht
unmittelbar auf der sinnlichen Wahrnehmung jenes Vor-
ganges. Dadurch, dass wir sagen, die Wahrnehmung des
Voi^anges in unserer Umgebung ist Inhalt des Ausgesagten
in sämtlichen Componenten der Aussage, ist es aus-
geschlossen, dass die Aussage um irgend etwas mehr ent-
luüte als der Vorgang, der Gegenstand der Aussage ist.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
42 Robert Ufi)ler:
Wir wollen diese als WahraebmangBaussage bezeiclinen und
könnea dann sagen, dass dieselbe inhaltlich nichts eothUt,
was dazQ veranlassen könnte, den Vorgang und die Aas-
sage inhaltlich gegenüber zu stellen. Der Vorgang ist ans
gegeben in unserer Wahrnehmung und als aosere Wahr-
nehmnng, und diese und der Vorgang sind inbaltiich voll-
ständig congnient. So kommen wir zu dem Ei^bnis, dass
die Analyse der Wabmehmung als solche in keiner Weise
zu dem Srgebnts führen kann, den subjektiven Beflind des
aussagenden Individuums irgendwie zu erweitem und zu
completieren um irgend etwas, was nicht in der Wahrneh-
mung des Vorganges schon enthalten ist.
Eine Wabmehmungsaussage, welche so beschaffen ist,
dass alles ausgeschlossen ist, was nicht der Erfahrung ange-
hört und alles Ausgesagte nur auf den Vorgang sich bezieht,
nicht aber Irgend welche Beziehung auf das aussagende In-
dividuum enthält, soll als positive Form der Wahmebmungs-
aussage bezeichnet werden, eine solche dagegen, welche so
formuliert ist, dass die Beziehung auf die aussagende Person
darin enthalten ist, wollen wir relative Form der Wahr-
nebmungsaussage nennen.
Wir verknüpfen mit diesen Bezeichnungen keinerlei
theoretische Hintei^danken, welche sieh etwa auf die Rea-
lität der Umgebung oder „die Erkenntoisthättgkeit des Sub-
jekts" beziehen würden, denn wir haben zn solchen Fragen,
wenn wir die Schwingungen des Pendels beobachten, nicht
den geringsten Orund, wir unterschieben auch mit dem Ter-
minus nWahmehmuDg" keineswegs irgend eine Theorie, son-
dern wollen mit demselben nur die Thatsache bezeichnen,
dass die Person A oder B eine Aussage zn machen im
Stande ist, welche in alten ihren Teilen nichts enthält, was
nicht Gegenstand der Erfahrung ist, indem es in allen Teilen
auf die Umgebung sich bezieht und durch dieselbe bedingt
ist. In der Form der positiven Wabmehmungsaussage ist
der Inhalt derselben eine Q-mppe ausgesagter aussenwelt-
licher Beziehungen, mit denen sich theoretisch etwa, der
n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL'
Ueber die zaittichen Eigenschaften der SionesirahnielimnDg. 43
Physiker beschäftigt; dieser kann sich dabei seinen Stand-
punkt n&cHi Belieben wählen, er kann etwa die Wellenbeve-
gODg oder die stationäre Strömung ganz allgemein oder
andrerseits die optischen Anomalien eines Borazitkrystalls
znm Gegenstand seiner Untersnchung machen; durch^ngig
handelt es sich am Beziehungen, bei denen die Person des
Untersncbers nicht in die Formnlierung der Ergebnisse ein-
gebt. Ca aber die Aassage notwendig von einer aussagenden
Person 'berrUhrt, so muss es jederzeit mQglich sein, den In-
halt der Aussage auch in relativer Form aaszudrtlckeo.
(Hierin liegt eine der Wurzeln der später als falsch zorflck-
zaweisenden Annahme, dass alles Gegebene zunächst als
„Inhalt meines Bewusstseins" gegeben sei.) Der Inhalt der
einzelnen Wahrnehmung, wie er in der Erfahrung gegeben
ist, kann dadurch nicht geändert werden, in der Wahrneh-
mung haben wir allen Inhalt der Erfahrung, welcher derselbe
bleibt, ob die Wahrnehmung in positiver oder relativer Form
aasgesagt werde, denn diese Unterscheidung bertthrt nicht
den Inhalt, sondern die formale Beziehung auf die aus-
sagende Person.
Bis jetzt wurde durchgängig von der Wahrnehmung
der zatlichen Verhältnisse eines schwingenden Pendels ge-
sprochen, es ist aber möglich, der Betrachtung eine allge-
meine Form za geben, darch welche dieselbe in ihrer Be-
deutung verständlicher wird.
Wir babeo die Ausdrucke „positive und relative Form
der Wahmebmnngsaassage" nur zur Bezeichnung einer for-
malen Bescbaftenheit derselben eingeführt, keineswegs ent-
halten dieselben die Gegenüberstellung von „objektiv und
sabjektiv", deren Binführung gerade vermieden werden soll,
und die Termini erschienen zweckmässig, um die irrige An-
nahme za vermeiden, dass die aussagende Person als Subjekt
eingefOhrt werden solle; sie enthalten also keineswegs irgend-
welche theoretische Nötigung, das Subjekt als primär gege-
benes einzufahren, weil dies eine Ausdehnung in der Anwen-
dung dieser Termini Ober die formulierte Begrenzung rein als
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
44 Robert Hüller:
formale Beschaffenheit der Aassage involvieren wtlrde.
Weiterhin decken sich diese Termini nicht mit der Ünter-
scheidoDg eines GegflDsatzes von ^physisch" und „psychisch",
welchen wir Überhaupt ablehnen.
Wenn man den Inhalt der WahmehmDD^en durch
logische Operationen zerlegt, bo kommt man zu Elementea
derselben, wie Tönen, Farben, Bäumen, Zeiten, Wärmen u>d
anderen derartigen Bestimmungen; diese können in mannig-
facher Waise zu Complexen verknüpft sein und es lassen sich
auf Gmnd der Analyse der Wahrnehmung bestimmte Kri-
terien angeben, unter denen wir diese Complexe als Körper
bezeichnen. Diese sind aber keineswegs beständig, bald kann
das eine bald ein anderes Slement in wechselnden Verhält-
nissen auftreten oder fehlen. Ueber das Vorhandensein nod
die Beziehung dieser Elemente entscheidet die Elrfahrung und
auf Grund derselben werden die Bestandteile des Complexes
als Eigenschaften desselben hervorgehoben. Diese Elemente
können wiederum Gemeinsames darbieten, auf Grund dessen
sie als allgemeinere Eigenschaften der Wahrnehmung zu-
sammengefasst werden. Als ein solcher Elementcomplex,
in dem die Abgrenzung positiver und relativer Form der
WtüimehmungsausBage anscheinend sich nur unscharf von
einander trennen lassen, tritt unser Körper auf. Dieser ist
ein durch gewisse Besonderheiten ausgezeichneter Umgebuugs-
bestandteil, von dem sich zeigt, dass er das Verhältnis der
anderen Umgebungsbestandteile mitbestimmt; derselbe Körper
wird, wenn er nahe ist, durch mein Auge gross gesehen,
wenn er fem ist, klein, mit dem rechten Auge gesehen sieht
er anders aus, wie mit dem linken, bei einer Abducenslähmung
wird er doppelt gesehen und bei geschlossenen Augen wird
er gar nicht wahrgenommen. So erscheinen durchgängig die
Eigenschaften eines und desselben aussenweltlicben Körpers
durch die Wahrnehmung, welche an bestimmte Organe des
Körpers der wahrnehmenden Person gekntipft ist, modificir-
bar zu sein, sie erscheinen durch dieselben bedingt. Wir
haben nun nur von diesem Zusammenhang der Elemente
iM,Coo<^lc
Deber die seätlioheD ESgaiuohaften der SinneswahraehrnDog. 45
aoszogehea, tod welchen gesagt wurde, daes sie Tollstäodig
and ansschliesslich Id der Wahniebmung gegeben seien und
dies bedeutet, dass sie für unsere Betracbtang zunächst als
einziger Erfabmngainhalt anzusehen sind. Die einzige Son-
denmg, welche der Yon uns zu Grunde gelegte Begriff der
&fahmng bietet, ist zunächst die Heraushebung unseres
ügenen KOrpers als eines Umgebungsbestaadteiles, der die
anderen KOrper als Umgebungsbestandtelle zu modificiren
im Stande ist. Insofern die Wahrnehmung reine Erfabning
ist, rerBchaffl ans die Analyse derselben nichts, was uns
nicht schon gegeben wäre; ein Versuch, der diesen Weg eio-
sdilagen wollte, rein ans dem Subjekt ohne die Diacussion
der Bedingtheit der Wahrnehmung allerlei Einsichten zu
schöpfen, müsste sich das Material und die Möglichkeit dazu
erst durch Hypothesen uud Theorien verschaffen, welche
ausserhalb des von uns formulierten Begriffes der I^ahrung
li^en.
Wir gehen in der allgemeinen Form unserer AosamandeTsetEong von
der Annahme soB'), dass ein beliebiger Umgebungsbes tandteil in einem
solohen Verhältnis zu menschlichen Individaen stehe, dass, wenn jener
gesetzt ist, diese eine Ei-fobmng anssagen.
In dieser Anaahme tritt der TJmgebangsbestandteil als Toraas-
setzQDg dee Ausgesagten auf, insofern die Anssage anmöglioh ist, wenn
nicht der ümgebangsbestandteil gegeben ist; ein solches Aosgesagtaa wird,
via oben aasgesprochen, als Erfahrung bezeichnet. In Bezug hierauf soll
Eunächst der einfachste Fall angenommen werden, dass jener ümsebungs-
beatandteil Toranssetzung des Ausgesagten in dessen sSmtlichen Bestand-
teilen sei, nnd dass damit das Ausgesagte aach in allen seinen Kompo-
nenten als Erfahrung gesetzt sei. Diese Annahme lässt sich in dem S^e
aossprechen '. „Wenn Bestandteile nnaerer Dragebung als Voraussetzong
einee aasgesagtea in allen seinen Komponenten anznnehmen ^nd, so ist
daa Aosgesagt« in allen seinen Komponenten ata, £rfahrang anzunehmen"
(K-nnäsiuh).
Me von Atbnabiüs durchgefQhrte Untersuchung über
den Begriff der reinen Erfahrung lässt sich zu gründe legen,
um die Grenzen und die Art des Verfahrens zu bestimmen,
wenn Tersooht werden soll, die Wahrnehmung auf Grund-
lage der reinen Erfahrung zu nnteranchen. Dass man he-
rechtägt sei, diese Forderung zu stellen, lässt sich auf zwei-
>) Bk^abd AmuBins, Kritik der reinen Brfahrang 1888 p. 8.
n,g,t,7l.dM,.COOglC
46 Robert MülleT:
fache Weise zeigen, einerseits indirekt, denn wenn mao
Berechtigung and Möglichkeit unserer Postolieniag nicht zu-
giebt, so muss man die entgegengesetzte Annahme machen,
dass die Untersuchung der WahroebmuDg in letzter Linie
notwendig zu BegrifieD fahren müsse, die Aber alle Erfah-
rung hinausliegen Das bedeutet aber, dass eine abgeschlossene
Theorie der Wahrnebmung auf Grund des in ihr selbst ent-
haltenen Materials unmöglich wäre, dass also eine and««
Qaelle von Begriffen, (welchen nicht nur eine formale Funk-
tion, wie sie Kant den Kategorien beilegte, zukäme), welche
auf die Erfahrung anwendbar seien, existiere, als in der Er-
fahrung selbst. Damit wäre die Berechtigung metaphy-
sischer Begriffe ( — und als solche lassen sich die Begriffe
des Bewusstseins, des Subjekts, des Psychischen und des
Willens ganz oder in ihren Komponenten nachweisen) —
fUr alle Zeiten zugestanden und der Verzicht ausgesproohMi
auf eine induktive Theorie der Wahrnehmung, welche inner-
halb der Grenzen der Erfahrung liegt.
Unter den Umgebungsbestandteilen haben wir nun den
eigenen Körper insofern als besonders bedeutungsvoll gefunden,
als er die anderen Umgebungsbestandteüe inhaltlich mit-
bedingt. Gebe ich einem wachen Individuum eine auf einem
Besonanzkasten befestigte, schwingende Stimmgabel von be-
stimmter Bchwingungszahl, etwa 533, so ist dasselbe in der
Lage, auszusagen, dass es einen Ton von einer gewissen
Höhe höre. Diese Aussage würde wegfallen, wenn bei
diesem Individuum die peripherische Endigung des Gehör-
nerven, oder der Kerv in seinem Verlauf, oder in seinem
zentralen Verbreitungsgebiet zerstört würde; man könnte sich
auch nach dem Tode des Individuums von der morpholo-
gischen Intaktheit des Hörapparates überzeugen, und man
wird umgekehrt bei einem Individuum, welches diese Aas-
sage nicht zu machen im stände ist, annehmen, dass jener
Apparat in irgend welchem Teile morphologisch nicht intakt
oder nicht normal funktionsfähig sei. Ebenso wird das In-
dividuum unter anderen Umständen äne Farbe aussagen,
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
Deber die zeitlichen EigeoBchaftea der ^DneBwahmeliDiiuig. 47
aber cor, solange seine Netzhaut intakt ist, bei Dun^-
sdkneidnng des Sehnerren wird diese Aasaage unmttglich.
Bei einem anderen IndlTidnam felilt vielleiclit die Möglich-
keit, bestimmte Farbenpaare, etwa grtln-rot oder blau-gelb
zu erkennen und dies erklären wir ebeoTalls durch einen
Ausfall in der Beschaffenheit des farfoenempfindenden Appa-
rates im Auge. In allen diesen Fällen läast sich zeigen,
dass die Aussage mit bedingt ist durch den Umgebuogs-
bestandteil. den wir als den Körper des Individuums be-
zeichnen. Ebenso finden wir, daas bei Störungen der Wärme-
und Kälteempflndongen, wie sie bei SyringomyeUe auftreten,
gewisse Fartieen der grauen RUckenmarksubstanz zustört
sind. Auf diese Weise lässt sich zeigen, dass für alle Ele-
mente der Wahrnehmung, Farben und Töne, Wärme, Druck,
Baum und zeitliche Bestimmungan, der Körper des Indivi-
dnums als Bedingung auftritt.
Nun hat nicht eine beliebige Zerstörung innerhalb des
komplizierten Ümgebungsbestandteiles unseres Körpers die
Folge, dass alle oder bestimmte Elemente in Wegfall kom-
men, es lässt sich vielmehr zeigen, dass der Wegfall der
Elemente mit dem Ausfall oder der Zerstörung der Funktion
bestimmter Teile des Körpers verknOpft ist. So fallen die
Farben weg bei Zerstörung der Betina, des Sehnerven oder
bestimmter Gehimpartieen, dasselbe giit fUr die räumlichen
Bestimmungen, soweit sie dem Gesichtssinne angehören, so
tritt Ageusie ein bei Zerstörung des Glossopharyngeus, dw
Chorda und vielleicbt des ramus lingualis des Quintus, so-
weit demselben Gbordafasem beigemischt sind. In gleicher-
weise gilt fUr alle anderen Elemente, welche als Inhalt
einer Wahmehmungsaussage auftreten können, dass sie in
Wegfall kommen , wenn bestimmte Fartieen des Körpers
zerstört werden.
Diejenigen Bestandteile des Körpers, an deren G^eben-
sein das Anflxeten von Elementen, welche Überhaupt Inhalt
von Wahmehmungsaussagen sein können, gebunden ist, sollen
als Sinnessubstanzen bezeichnet werden.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^le
48 Bobert Haller:
Das Ergebnis Torstehender Betrachtung lässt sich dahin
aassprechen, dass alle Elemente, welche als Erfahrungsinhalt
aaf Grand der Wahrnehmung auRreten können, gebunden
sind an das QegebenBein der Sinnessubatanzen im KOrper
des aussagenden Individuums.
So bezeichnen wir als Sehsinosubstanz den gesamten
morphologischen Komplex von der Netzhaut bis zu den Teilen
der Orosahirnrinde, an deren morphologische und funktionelle
Intaktheit die Wahrnehmung von Farben oder visuellen räum-
lichen Wahrnehmungen geknüpft ist, ala HOrsinnsubstauz den
morphologischen Komplex der nervösen Teile des inneren
Ohres, des Oktavus nnd aller Teile des Zentralnervensystems,
deren Vorhandensein Bedingung ist für die Möglichkeit der-
jenigen Elemente, welche als Inhalt von Aussagen von Qte-
hOrswahrnehmungen auftreten. In demselben Sinne sprechen
wir von Geruchsinnessubstanz , Geschmacksinnessubstanz,
thermischen und taktiien Sionessnbstanzen.
Nicht alle Teile der Sinnessubstanzen brauchen für das
AuRreten der Elemente die gleiche Bedeutung zu haben, ein
vollständig Erblindeter kann farbige GesichtshaUucioationen
haben, ein Individuum kann taktile Empfindungen in eine
nicht mehr vorhandene amputierte Extrem! tätverlegen. Dagegen
wird für einen Erblindeten das Element „Farbe" nicht ala
Wahrnehmungsaussage, bedingt durch einen Umgebungs-
bestandteil ausserhalb des eigenen Körpers, auftreten können.
Diejenigen Teile des Körpers, an deren Vorhandensein die
Möglichkeit des Auftretens eines Elementes, das einem an-
deren Umgebungsbestandteil als dem eigenen Körper an-
gehört, geknüpft ist, sollen als Sinnesorgane bezeichnet
werden, diejenigen Teile der Sinnessubstanzen, mit welchen
diese Möglichkeit nicht unmittelbar verknüpft ist, wegen ihrer
morphologischen Beschaffenheit als zentrale Sinnessub-
atanzen.
So kommen wir ausgehend von dem Begriff der Erfah-
rung zu dem Ergebnis, dasa alle Wahrnehmung an das Vor-
handensein der Sinnessubstanzen gebunden ist. Dies ist aber
iM,Coo<^lc
üeber die leitlioben EtgonsoIuifteD d«r Smneswi^niebmniig. 4d
von grundlegender Wi<^tigkeit. Denn wenn bewiesen wird,
dass ohne Sinnessubstanzen keine Wahrnehmung müglich
sei, so ist bewiesen, dasa alle Wahrnehmungeaussagen und
alles, was auf solchen beruht, nicht m<}g)ich sei, ohne einen
zu Grunde liegenden Komplex unseres Körpers, der uns in
den Sinnessubstanzen gegeben ist.
Der Begriff der Sinnessubstanzen ist zunächst als Teil
unseres Körpers ein morphologischer, d. h., es ist fQr sein
Gegebensein in diesem Falle gleichgültig, ob wir ihn im Zeit-
punkte t, oder t, betrachten; in dieser Weise stehen wir
denselben gegenüber, wenu wir sie anatomisch untersuchen,
wenn es gilt, die gröberen Formverhältnisse oder den feineren
Aufbau derselben zu ermitteln.
Fttr die Analyse des Wahrnebmungsvorganges hat aber
der Begriff der Sinnessubstanzen noch eine andere Bedeu-
tung. Alle Wahrnehmung ist nämlich an das Fortschreiten
der Zeit gebunden, sie ist ein Vorgang. Damit ist gesagt,
dass die Sinnessubstanz während des Ablaufes der Wahr-
nehmung geändert wird, dass dieselbe in ihrer Beschaffen-
heit im Zeitpunkt tj und t, verschieden ist, wenn wir einen
WahmehmungsTorgang als gegeben annehmen. Die Bezie-
hung zwischen dem Wahmehmungsvorgang und der Aenderung
der Sinnessubstanz bezeichnen wir als Sinnesfunktion, wobei
wir gemäss der Erfahrung, dass die Sinnessubstanz in das
Auftreten der Elemente der Umgebungsbestandteile als Be-
dingung eingeht, diese Aenderungen der Sionessubstanz unter
Umständen dMcb. als unabhängige Variabele betrachten
können. Demnach verschiebt sich fQr uns der Wert des
Begriffes der Sinnessubstanz, indem die Tragweit« desselben
nicht in seiner morphologischen, sondern vielmehr in seiner
funktionellen Bedeutung liegt. Tbatsächlich ist auch die
Betrachtung des Zusammenbanges zwischen Wahrnehmung
und den besonders zu derselben in Beziehung stehenden
Complexen unseres Körpers für die Physiologie das Motiv
zor Bildung des Begriffes der Sinne ssubstanzen gewesen.
VlvMUahnKtarlft t wbMnKbmRI. PMlM. u. Soilol. XXVn. 1. *
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
50 Kobert H«ller:
Bsvot es aber uig&iigig ist, den Begriff der SJanMfnnktioii in oat-
wivkeln, ist es nötig, die ulKemüneD VerÜltiÜBu der Aeudenrngeo, ontar
welche die SinnesfunktioD fiUlt, nach ihrer formalea Seite xa nntanndiao-
Wenn ia der Teineti Erlabmug iwei Verändetliohe so lasammen-
b^ngen, dass mit der Aenderong der ersten die der anderen gesetzt iat, so
ISsat sich die erste is Hinsieht anf die zweite <da deren AeademaKsbedingnng
bezwohuen, die Aenderungen der sweiteD TeründeiUobeD rind aana in Be-
ing anf die ente bedingte oder abbängige; beide znsammeD sollen nntet
dem Begriff des Systems Ensammengentsat weiden*). Alle naoh nnseret
YoiEOssetning gegebenen ümgebnngsbest&ndteile können als veAnderliob,
und die VerSDdernDgen in der angegebenen Weise voneiaandei abb&ngig
gedacht werden. Sie können eo miteinander die nuumigfacheten Systune
von der mannigfaltigsten Qrösse bilden, die sohliesslioli in eioem nnogan,
den geeaniten Bereioh der Eifabning orobssenden Sfstam gedaofat werden
können. Die Oesamtheit der Merkmale eines beliebigen Syatema von Dm-
gebnngebestandteilen, welches die Bedingung erfüUt, daas es mit einem
anderen Verindertichen ein System höherer Ordnnng bildet, also selbst ein
Veränderliches ist, dessen Aenderongen ii^ndwie von einem anderen Ter-
tloderliohen abhängen, durch welche die OrenzbestimmuDg des Systems, »iao
der Beeohlossenheitsbegriff desselben in einem bestimmten Zeitponbte t, logisch
vollständig bestimmt wt, seil als die fiystembesohaffenheit des Zm^nnktes
t^ beseiohnet werden.
Es ist nicht notwendig, für unsere Zwecke die allgemeinea Eigen-
schaften des Begrifft der Aendening m entwickeln*), da er uoh im Laufe
der [jQtersnohung noch näher nach den besonderen umständen, mit denen
wir es ta thnn haben, bestimmen wird; ee genügt hier, darauf hingewieeen
ZQ haben, dssa der Begriff der Sianesfonktion dem formalen Begriffe der
Aandernng einer Syatembeschaffenheit sich unterordnen lässt, und dua dem-
zufolge die logischen Bestimmungen jenes formalen Begriffes mit Torteil
anob bei der üntersochong der Sinnesfonktionen anzuwenden sind.
Damit eine mö^c£e Systemändemng zur wirklichen werde, ist es
notwendig, dass eine aossetiialb des Systeme selbst gelegene Bedingung
hinzutrete, welche als Komplementärbedinguug der zagehürigen Aendening
dee betrachteten Syatema bezeichnet werden soll, während die im Syatant
Beibat enthaltenen Bedingungen als systfimatisohe Vorbedingungen zn be-
zeichnen Bind. Die Zosammensetzung der syatemaÜBohen Vorbediognngen
und der Eomplementärbedingung bezeichnen wir als Bedingnngageeamtlieit.
Demnach kann eine als raögtich gedachte Aendemng nur in dem Fall wirk-
lich eintreten, daea nicht etwa die eine oder andere ihrer Bedingungen,
sondern ihre Bedingongsgeeamtheit gesetzt wird. Daraus folgt för tue fiid-
beschaffenheit eines Systems, dass, wenn die Aendening einer Antanga-
beschaffenheit als Folge der Setzung einer Aendernngsbedingung gedacht
wird, die Endbesohaffenheit nicht durch die Aenderungsbediugung sIInd,
sondern auch durch die Anfangsbescbaffenheit des g^nd orten Syatoms be-
stimmt gedacht werden muss.
') AvBMAStDS, Cr. d. r. Erfahrung 1868 p. 26.
Wenn man sich eme solche SystembeschaSenheit in einem folgenden
Zeitpunkt t, geändert denkt, so ist die Systembeechaffenheit, wie sie zu Be-
^nn der Aendemng gesetzt wird, als Anfangsbescbaffenheit, und die za
Ende der Aenderong gegebene, als Endbesobaffenheit dea Systems zu b»-
zeit^eo.
') Vgl. AviKiBirs, £r. d. r. Erfahrung p. 25—30, wo diese Ent-
wicklung gegeben ist
iM,Coo<^lc
ü»bv die seitlichen SSgenschaften der SinaeswahinehmaDe. 5X
Wendet man diese fonnale Entvicklnng anf die Sinnes-
fiinktion au, so folgt, dass dieselbe als wirklich nicht ge-
setEt Verden kann, solange die Summe ihrer Bedingungen
nur anf die Sinnessubstanz beschickt ist. Es ist vielmehr
nStig, dass eine Komplementärbedingung durch das öegeben-
sein weiterer Umgebungsbestandteile hinzutrete. Die Qe-
samtheit der EigenschafteD der Sinnessubstanzen repräsen-
tieren dann die systematischen Vorbedingungen der Sinnes-
wahmehmung als funktioneller Aenderung in den SinnesBub-
stanzen, und in ihren Eigenschaften and dem AnfCreten von
Umgebungsbestandteilen ist uns die Bedingungsgesamtheit
des WahrnehmungsTorganges gegeben. Denkt man diesen
als eine Aenderung der AnfangsbescbafieDheit der Sinnes-
substanzen, bedingt durch die Setznng einer Komplementär-
bedingung, als welche das Gegebensein eines DmgebungB-
bestandteiles anzusehen ist, so ist die Endbeschaffeaheit nach
abgelaufenem WahmehmongsTOrgang sowohl durch die
AeodernngsbedlDgung als auch durch die Anfangsbeschaffen-
heit des Systems, als welche wir die Gesamtheit der Eigen-
schaften der Sinnessubstanzen aufininehmen haben, bedingt.
DiflHB ÜDteilegang führt iIbo wieder lariick zu der Frage nvüi dam
ZasumDenhaDg der Klemente der Erfebmng. Es etgiebt äab, dass die
SjRteinbeBuheffeiüieit für das Eintreten des To^puigeB der Wahraelmiaiig
aüein ebensowenig hlureieht, wie daa Gegebenseiii eines Cmgebnngibestand-
tsileij dass also beide in gleioher Weise prim&r sind. Damit wird jede Be-
rei&tigaDg hiaGUüg, nach Art tod SystembegriffeD gebildete Begdffe, wie
iJofa' oder .fiewnsstiein'' als primäre den äusseren TJmgebungsbestandteilen
gsguräbamiatBUeii. Ans dem Terhtütnis der Bedingougen in der Be-
dingangi^esamtbeit ergiebt aiob, daas ein gesohlossenet Komplex, der als
,loii* an beodohnen wltie, für das wirkliche Eäntretan einer Aendening
Aberluuipt keinen anreiohenden Ornnd enthUt Das .loh', die teilweise oder
ToUstftndige Identifisiening desselben mit dem eigenen Körper, ist ein System-
bsgriS, der für gewisse Zwecks des praktisohen Denkens bmuohbai sein, der
n einer voriJln^en ürientiarmig fähren kami, aber primär gegeben ist uns
im Inhalt dieses Bepifles nicht, sondern gegeben ist uns nur der Zosammen-
hing der Elemente in ihrer dorohgängigen gegenseitigen Bedingtheit and
fnr die veiadiiedenartige Bedentnng der Elemente ist der Gegensatz von
,1A' und .Weif Empfindnng oder Ersoheinong und Ding, weloher im
UHTan und philosophisooen Denken einen so breiten Baom einnimmt, nnr
ein täiweise sotreRender TorUnfiger Aosdniolt. Wenn mau die Terhäit-
nisse der Wahrnehmung vom Standpunkte der reinen Erfahrung iietrachtet,
Bo fallen die Oegen^Uze zwischen „loh" nnd .Anssenwelf, „piyohisoh*
Bnd ^phjsioh", nErsobeinnng' und .Ding" hinweg, es handelt sieh nnr noch
iM,Coo<^lc
52 Robert Uüllen
um den Zaummenh&ag der Elemeata, welche überluQpt in der WtUu*-
nebmapg aaftreten können. Die Wisseiuchaft h&t den ZnB&aimenliaiig dieser
Glefflente einfach anzaerkenneo, nnd sich in demselben zn orientferen, und
kann nicht die Aufgabe haben, die Ebüstanz derselben eikltlren zn weiten.
Denn mit einem solchen Erklärangd versuch fände ein Dorobbrechen det
Orenzl)eBtünmnng der reinen Erfahrung st&tt, und es würde der Omnd'
forderuDg widersprochen werden, die Analyse des Wahmehm enge Vorganges
auf Grund der reinen Erfahrung durchzufahren.
Die Analyse des Wahrnehmungsvorganges kann nicht
eine Ämplifizierung, Erweiterung, Neuentdeckung im iahalt-
lichen Befunde der Wahrnehmung erreichen, inhaltlich arbeiten
mit demselben Material wie der Physiker oder der Vertreter
einer anderen auf die E]rmittelung aussenweltUcher Zasammen-
hänge gerichteten Disziplin; es fragt sich, ob der Unterschied
der positiven und der relativen Verknüpfung der Elemente in
der Formulierung der Wahrnehmungsaussage dahin fuhrt,
dass beide schliesslich mit einem vollständig disparaten Be-
griffsmaterial arbeiten müssten, wie dies gegenwärtig bei der
Psychologie im Verhältnis za den Naturwissenschaften sensu
strenuo der Fall ist, oder ob die Identität des Inhaltes mit
sich selbst beide Arten der Formulierung zu durehg^gig
gegenseitig abhängigen machen. Es ist daher weiterhin auf
das Verhältnis der Elemente zum aussagenden Individunm
einzugehen, und wir wollen an ein von Mach') gegebenes
Beispiel anknüpfen: „ESne weisse Kugel iällt auf eine G-Iocke;
es klingt. Die Kugel wird gelb vor der Natrium- — rot
vor der Lithiumlampe. Hier scheinen die Elemente (Farbe,
Ton, Raumform) nur untereinander zusammenzuhängen,
von unserem Leib unabhängig zu sein. Nehmen wir aber
Santonin ein, so wird die Kugel auch gelb. Drücken wir
ein Auge seitwärts, so sehen wir zwei Kugeln". Mach
bezeichnet die Elemente in dieser Beziehung zum KCrper,
zum auBsenweltlichen Komplex der aussagenden Person als
Empfindungen. Alle Elemente, sowohl die Umgebungsbe-
standteile ausserhalb des eigenen Körpers, wie dieser selbst,
bilden einen kontinuierlichen Zusammenhang, welcher bei
Äenderung eines jeden Elementes mehr oder minder weit sich
') Mach, Analyse der EmpGndaogen, 1900, p. 11.
lieber die zetäicben Eigensohatten der Smneawahraehmiing. 53
Terändern kann, nur dasa eine Aenderucg des eigenen EOrpera
viel weiter and tiefer greift, als bei weiteren Umgebongs-
bestandteilen. „Eiin Magnet in unserer Umgebung stifrt die
benachbarten Eüsenmassen, ein stürzendes FelsstUck erschüttert
den Boden, das Durchschneiden eines Nerven aber bringt
das ganze System von Elementen in Bewegung" (Uaob).
Nach dieser AufFasBungsweise besteht also keine Kluft zwischen
der »materiellen" and „geistigen" Welt, zwischen „KSrpern"
und .Empflndongen", zwischen „aussen* and .innen". Eine
Farbe ist etwas physikalisches, sobald sie in ihrer Abhängig-
keit von TJmgebungsbestandteilen und Vorgängen ausserhalb
des KOrpers der aussagenden Person, etwa der leuchtenden
Flamme, oder als Eigenschaft einer wäesrigen Lösung, oder
in ihrer Abhängigkeit von einer Oberfläcbenheschatfenheit,
oder ähnlichen mehr, betrachtet wird. In allen diesen Fällen
haben wir es mit positiven Formen von Wahmehmungsaus-
sagen zu thun. Betrachten wir die Farbe in ihrer Abhängig-
keit von der Netzhaut, so ist die Wahmehmungsaussage
eine relative, die Farbe ist eine Empfindung im Sinne Maohs.
Nicht der Inhalt, sondern die Untersuchnngsrichtung schafft
den Unterschied zwischen physikalischen und sinnespbysio-
If^cher Forschung, soweit letztere auf der relativen Form
der Wahmehmungsaussage beruht.
Die Untersuchung des Vorgangs der Wahrnehmung
einer Abfolge kurz daaernder akustischer EiadrUcke gehört
der Physiologie des Ohres an, aber der Punkt der in vor-
liegender Untersuchung besonders in den Vordergrund gestellt
werden soll, ist nicht ein solcher, der den Gehörswahr-
nehmongen allein eigen wäre. Die Auffassung der zeitlichen
Verhältnisse ist bei den GehörseindrUcken besonders wesent-
lich und prägnant, sie ist aber eine Eigenschaft, die im all-
gemeinen in jedem Wahmehmungsvorgange gegeben ist, so*
dass wir von unserer spezieUen Frage aus zur Untersuchung
einer allgemeinen Eigenschaft der sinnlichen Wahrnehmung
fortzuschreiten haben.
Hier liegen nun die Verhältnisse, wie so vielfach in der
n,g,t,7i.-JM,.COO<^le
64 Bobort HfiUer:
Sinnesphysiologie, so, dass uns eino rein physikaltsolie Ue-
tbod«, das ist eine solobQ, bei der jede Feststellung in Fonn
einer positiven Wahraehmungsaussage auftritt, nicht zur
TerfligUDg steht. Der InhEÜt der Wahraehmungsauasage ist
uns TOD Torne herein nur in relativer Fonn gegeben, die
Beziehung auf die aussagende Person ist nicht nur eine
mögliche, sondern auf Glrund der in diesem FeJle vorliegen-
den Verhältnisse auch die einzig gegebene. Man könnte
eäne Methode, fllr welche der Ausgangspunkt primär auf
ärund der zu untM-suchenden Umstände notwendig die Be-
ziehung des Aussageinhaltes zur aussagenden Person enthält,
fUs „subjektive Methode" bezeichnen; bei dem (Gebrauche
dieses Terminus bemerken wir aber ausdrDcklich, dass wir
unter keinen Umständen einen weitergehenden Sinn, der die
EänfUhruQg eines „Subjekts" involvieren würde, damit zu
verbinden gedenken.
Es giebt auch im Gebiete der Sinnesphysiologie rein
physikalische Methoden, wenn diese auch nur vereiozelt lui-
wendbar und von einer im allgemeinen zurücktretenden Be-
deutung sind, wie etwa die Beobachtung der BetinalstfSme
oder der Pigmentwanderung in der Pigmentepithelschicht der
Netzhaut oder die Beobachtung des Tensorreflexes; man
kann also keineswegs sagen, dass die Anwendung der sub-
jf^ven Methode und das Gebiet der Sinnesphysiologie in
ihrer Ausdehnung zusammenfielen. Die subjektive Methode
ist nur eine sinnesphysiologische, und ihre Anwendung be-
ruht auf der Annahme, deren Berechtigung wir nachzuweisen
VOTsncht hab^, dass der Zusammenhang zwischen Sinnes-
organ und Wahmehmong ein in den Grenzen der ErftUinmg
notwendig gegebener sei. Insofern' der Gegensatz zwischen
positiver und relativer Form der Wahmehmungsanssage kein
disparater ist, sind auch die Grenzen der subjektiven Me-
thode keine absoluten, es ist wiederum die Art der Frage-
stetlnng, die darüber fflitscheidet. Wenn man von der rela-
tiven Formulierung eines Wahmehmangsvorganges ausgeht,
dann kann man sagen, dass jede physikalische Messung auf
iM,Coo<^lc
üeber die i«tti<4ien Eigatsohaneo dar Sinneswahi-iiebmung. 55
relativ formalierbare 'WahrnehmangsTorgUnge hinaoBlaufe,
denn jede Längenbestimmuog ist ein Vergleichen optischer
Baamwahmehmungen. Hat die Aassage der Wahraehmong
den Zweck, zur Darstellimg von Betäehangen von Umgebongs-
bestaodteilen ausserhalb des KOrpers zu dienen, dann treiben
vir etwa Physik. Fassen wir den WahrnehmuDgsTorgang in
seiner Bedingungsgesamtbeit zum Zweck der Uotersuchung
der Systembedingang ins Auge, dann verwenden wir die
subjektive Methode im Gebiete der Sinnesphysiologie. I^e
Grenzbestimmung der Angaben der Physiologie wird da-
durch nicht berührt, denn diese erfolgt nach ganz anderen
Gesichtspunkten. Alle die Begriffe, welche wir formuliert
haben, sind an der Definition der Aufgabe der Physiologie
nicht beteiligt, denn diese liegt darin, die Erscheinm^en,
welche «n in der Erfahrung gegebener Komplex lebendiger
Substanz zeigt, zu untersuchen. Insofern die Wabmebmungs-
vorgänge an die Komplexe lebendiger Substanz, die wir als
Sinnessubstanzen bezeichnet haben, gebunden sind, ist ihre
Analyse eine Aufgabe der Physiologie. Fttr deren Begrifib-
bestdmmung ist es aber gleichgültig, ob die Untersuchung
der Ivebensvor^ge mit der physikalischeD oder mittels der
subjektiven Methode erfolgt.
Auf Grund unserer Auseinandersetzungen wird jode
Berechtigung hfofällig, m der Theorie der Wahrnehmung eifin
experimentelle Psychologie als eigenes Forschungsgebiet ab-
zugrenzen. Die Bestimmung einer wissenschaftlichen Disziplin
soll stets nach inhaltlichen Gesichtspunkten erfolgen ; Mechanik
nnd Thermodynamik haben ihren eigenen Inhalt, der im Zu-
sammenhang der Elemente gegeben ist, die Physiologie hat in der
Untersuchung des vitalen Geschehens ihr in der Erfahrung
bestimmbares nnd bestimmtes Gebiet, eine DisTdplin dagegen,
welche das „Ich" oder das „Bewosstseia" an und fQr sich
behandelt, ist auf dem Boden der Erfahrung, wie diese im voi^
hergehenden zu bestimmen versucht wurde, nicht mSglich und
beruht auf Begriffen, welche nicht innerhalb der von uns fest-
gesetEten Grenzen der reinen Erfahrung liegen. Soweit eine
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
56 Bobsrt Müller:
Psychologie versuchen 'würde, die Analyse der Wahraehmung
unabhängig von ihrer in den Sinnessubstanzen liegenden und
weiteren aussenweltlicheo Bediogtheit durchzofOhren, beruht
sie auf der Verwechslung einer Überdies anmÖgUcben Methode
mit einem Inhalt, und diese wird dadurch nicht statthafter,
dass sie allerlei metaphysische Begriffe zu ihrer Pundlerung
benutzen muss. Was in einer derartigen Psychologie empirisch
sein könnte, das istOberhauptkeinePsychologie, sondemSinnes-
pbysiologie, und was in dieser angeblichen Disziplin ausser-
halb der Grenzen der Begrifiäbeetimmung der Ph^olo^e
liegt, das tiat überhaupt kein Recht, sich als Wissenschaft
zu bezeichnen, weil es auf allerlei mythischen erdichtetea
Begriffen beruht. Ein brauchbares Ergebnis der Analyse der
Wahrnehmung ist demgemäss nur dann zu erwarten, wenn
dieselbe auf der von der Physiologie geschaffenen Grundlage
sich vollzieht.
Da wie nDsera Aufgabe dahin begrenzt habea, die Ibeorie der Wahr-
nehmuDg ioneifa^b der OreiiEen der reioen Erfahrung zu behandeln, mag
es dahingestellt bleibeo, in weloheoi umfange eine psfohologisohe Üethode
in den Bozialen and historischeo Wisseuschaften statthaft sei. Wir Ter-
kennen nicbt die grossen Fortschritte, die nnsere Einsicht der Terwendang
derselben aof jenen Gebieten verdankt
Die Redaktion der yieiteljahtaschrift erachtet es als ihr«
t^cht, daa empiriokritische System, wie jedes andere, das anf wisaen-
fiohi^jchen Gnindsatsen bembt, in Worte kommen eq lassen, mächte aber
^ade, weil Ayenaiuüs, der Begründer desselben, zugleich Begründer dieser
Zeitschrift ist, ansdrücklicb erklären, dasa sie die Änschaanngen der vor-
stehenden AbhandlaDgen nioht teilt, insbesondere nioht die Aa&ssnng, die
Begriffe des Bewosstseins, des Sabjekts, des Psychisohen and des Willens
seien sowohl gans als In ihren Componenten „ metaphysisch *. —
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Die Geschichte der Eniehimg in soziologischet
BeleoGhtnug.
I.
Von Pftnl Bartk, Leipzig.
Inhalt:
Die EndehDAg bt Hbhlnglg von der V«rb»ui|[ der OoMllBdufL and wirkt uf dleae
nraok. Vlor TsU« der Enlebmtg: Zucbl, UDlerwelnoig, ITaWIricht, BBletmmg. — Otfa
der EmaBanug dei Btoffa der OenlUduft M dta Fuallle — Die llieoileii dar Enlwlckalang
der FantfUenfinmiaii. — Dleae aber obne iMmaaAema ELnfluu mal die Enl^nng. — Abwsaen-
bell Jeder ZdcU bei daD PtKbar- nnd JUgarrDLkenl. — Beginnende Zncbt bei dm Vleb-
rflädem nad den n[adtir«n Arkerti&nftra. — BIrenge Zacht bei den hCberen, in patriarctaiedie^
Kippe lebendAi Aderfaaiiem,
Die Erziehung ist die FortpOaazung der Qese]lBChaft.
Man könnte meinen, diese Definition sei zu weit, sie müsse
dahin eingeschränkt werden, dass die Erziehung die geisUge
fortpSanzung der Gesellschaft bedeute. Aber die Gesellschaft
ist ja ein geistiger Organismus, wie ich in einer früheren
Abhandlnng in dieser Zeitschrift') zu beweisen versucht
h&be. Sie kann sich also nnr auf geistigem Wege, d. h.
durch Mnwirkung auf den Willen und die Vorstellungen
fortpflanzen. Aus der physisehen Fortpflanzung der in ihr
vereinigten Menschen ergiebt sich nicht die (Gesellschaft der
nenes Generation, sondern nur das Material fUr dieselbe.
Die Gesellschaft der Spartaner pflanzte sich nicht dadurch
fort, dass EJnder geboren, sondern dadurch, dass diese
Kinder zur Lebensauffassung und Lebensführung der Alten
gelnldet wurden.
Freilich auch dieses Material — die Kinder — muss
') Im 24. Jahrgang (1900): Unrecht und Beoht der orgacisolieii
OeselbchBflBtheoTi e.
iM,Coo<^le
58 Fftnl Barth:
TOD der Oeeellacliaft hervorgebracht werden. Sie hat dafOr
cdn besonderes Organ, die Familie. Wie mannigfach wkAi
die Formen nnd Verfassungen derselben im Laafe der socialen
Entwicklung sein mOgen, das Wesentliche ist die länger oder
kürzer dauernde Verbindung zweier oder mehrerer Menschen
verschiedenen Geschlechts, die bei keiner der mamiigfaltjgen
Formen fehlt. Und da Physisches und Q-eistiges in dOB
Anfängen ungetrennt sind, so wird die Familie in den An-
flLngen der 3eseU8<diait nicht bloss das Organ flir die Ik-
nenerung des Stoffes der Gesellschaft, sondern auch fUr ihre
Ftmlpflanzung als solcher, fUr die Erziehung sein. Und auf
allen Stufen der Kultur wird die Familie Organ der ersten
Schritte der Erziehung bleibe, da diese von der physischen
Aufzucht untrennbar sind.
Im allgemeinen aber werden tOr die GJesellschaft immer
mehr Organe der Erziehung notwendig werden, je um-
fassender ihre Aufgabe wird, d. h. je mehr Eulturerwerb
an WiDensdispositioDen, an Wissen nnd an KRnoen auf die
künftige Generation zu Obertragen ist. Das Prinzip der
Arbeitsteilung, das im physischen Organismus, zur
t>ifferenzierung der Zellen nnd zur Ikzeugung mannigfaltigw
Öewebe Führt, wird sich auch an den Organen der Erziehung
immer mehr geltend machen, aus Organen werden sich
Organsysteme entwickeln.
In dieser Beziehung also, in der äusseren Organisation,
die der Erziehung dient, haben wir stetige Veränderungen
in der Erziehnng zu erwarten, die vielleicht mit der all-
gemeinen Arbeitsteilong gleichen Schritt halten, vielleicht
, aber, — je nach besonderem Interesse oder besonderer Gluch-
^Itigkeit der Oeselischaft fQr die Erziehung — schneller
oder langsamer, als im sonstigen sozialen Leben, sich durch-
setzen werden.
Aber nicht bloss die äussere Organisation, so zu sagen
die Form der Erziehnng, wird von der allgemeinen Gliederung
der Gesellschaft abhängen, auch ihr Inhalt, d. h. alles, was
im weitesten Sinne zu lehren ist, wird der Wandlung unter-
iM,Coo<^lc
Die Oeaahiahto der ErztriiQDg in soEiologisoher Beleaobtnn)t. 5g
Torfen sein, je nach dem, was der jeweiligen G-raellechaft an
Ideen, Kuintmssen, Foügkeiten, Eigenschaften des Willens
wichtig erscheint. Und ausserdem wird auch hier die
Arbeitsteilung ihren Einfluss geltend machen. Im Laufe
der G(eschichte wird der Unterschied der Stände und Klassen
grösser und macht eine nach den verschiedenen Klassen
verschiedene Lebensausrlistang notwendig.
In sweifacher Hinsicht also, in Bezog auf seine Form
(d. b. seine äusseren Einrichtungen) wie auch seinen bihalt
(d. h. die Ideen, die es verfolgt) wird das SrziehangBwerk
UQ Spiegel des Lebens und der Thätigkeit der jeweiligen
Qeeellschaft sein. Aber nicht bloss ein Spiegel, da es den
gespiegelten Gegenstand, die Gesellschaft, keineswegs unver-
ändert läset. Da in ihr alles in Wechselwirkung steht, so
wird die Bktiehung nicht bloss von dem Leben der Gesell-
sdiaft abhängig sein, sondern auch auf dieses surttck-
wirken. Sie wird möglicherweise durch Tradition oder durch
logische Konsequenz Ideale vertreten, die dem gleichseitigen
Leben der Gesellschaft entgegengesetzt sind und so diesem
eine, wenn anjjh nicht völlig entgegengesetzte, doch von
der ursprQngliohen abgelenkte Bichtung geben können.
Wenn wir so die Wechselbeziehungen zwischen Gesell-
sciiaft und Eniehung verfolgen, so werden wir teils die
Geschichte der letzten als Teilbewegung einer allgemeineren
begreifen, teils das Auftauchen neaer Ideale in der Ge-
sellschaft auf einen Teil seiner Ursachen zarUckzufUhren
vermögen.
Eine Darstellong jener Wechselbeziehungen ist bisher
nicht vorhanden. In dem einzigen Werke, das hierfür zn-
näcbst in Betracht käme, Lobeuz tos Stbin'b „Bildnngs-
wesen"^), wird sie nur dürftig gegeben. Abgesehen von den
äusseren Unvollkommenheiten, den fortwährenden Wieder-
holungen, der grosseia Flüchtigkeit, die mannigfache Irrtümer
■> Drei BKode, Btnttgut 18S3 und 1884, (5. nnd 6. Teil Beioer
.VenraltnngBleliTe'').
iM,Coo<^lc
eO Panl Barth:
venirsacbt hat, den broiten Abschweifungen, die fast ud-
vermittelt in das Gebiet der Staatswissenschaft Ubergehea,
Ton dem Fehlen des Schlusses, wodarch das 19. Jahrhundert
ausserhalb der Betrachtung bleibt, — tod alledem abgesehen
hat diese Arbeit noch einen grossen Mangel, nämlich eine
durchgehende, auf Üngentlgen des Quellenstudiums beruhende
Unzulänglichkeit der Einzelheiten der Q^cfaichte sowohl der
Gesellschaft als der Erziehung. Die gangbaren Geschichten
der Pädagogik — mit Aosnahme der „Geschichte des ge-
lehrten Unterrichts" Fb. Paitlsens >), die wenigstens Illr den
höheren Unterrieht die Bedingtheit durch geistige Strömungen
nachzuweisen sucht*), — zeigen kein Bewusstaein der Auf-
gabe den Zusammenhang der Erziehung mit der Gesellechaft
zu verfolgen. Im allgemeinen ist bloss die Rede von dem
„kulturhistorischen Standpunkte", von dem man die Geschichte
der Pädagogik treiben wolle, eine Versicherung, die ebenso
wenig besagt, als wenn man eine Geschichte der Tiere vom
zoologischen Standpunkte zu schreiben erklärte. Denn
Kultur ist alles, was nicht Natur ist, was vom Menschen —
oft gegen die unmittelbaren, natürlichen Triet)e — geschaffen
wurde.
Die Form nun, die äussere Organisation lägst sich
a priori nicht näher bestimmen. Der Inhalt aber lässt
aus psychologischen Gründen in 4 Teile zerlegen. Eh- muss
sich erstens auf den Willen beziehen and in diesem a) gevrisse.
der Gesellschaft wertvolle Dispositionen erzeugen, die persön-
lichen und die sozialen Tugenden, b) dem Willen die Be-
handlung der Objekte lehren, die ohne Wissen nicht mOgtioh
ist, d. h. gewisse Fertigkeiten beibringen. Er muss aber
zweitens auf das Vorstellungsleben einwirken nnd zwar a)
>) 2. Aufl., Leipzig, 1896.
*) Dieson Zwecl verfolgt aitcli die Irarae, aber anregende Bede, mit
der F. A. Lanoe im Oktober 1866 seine Th&tigbeit ab Privatdoieut in Bonn
erüffneta: Ueber den ZosammenhaDg der GrEieliQogBBjBteme niit
den herrsobeuden Weltansahaniiiigen Terschiedeuer Zeitalter,
aniMinein Naohlassa Teröffentlioht in den Honatsbeften der Comenins-
Qesellschaft, 111. Band (1894) S. lOSff.
iM,Coo<^lc
Die Oefiohiohte dar Erziehang in soziologischer fidsachtnag. gl
das Termeiatliche oder wirkliche erworbene Eiozelwisseo der
neuen Generation überliefern, b) die GesamtanscbaauQg der
Welt, die auf keiner Stufe fehlt, auf sie Übertragen. Um die
vier Teile durch kurze Bezeichnung aueeiuander zu halten,
sei es gestattet, sie in obiger Reihenfolge bezüglich Zucht,
Unterweisung, Unterrieht und Belehrung zu benennen.
Unsere Betrachtung müssen wir bei den Naturvölkern
beginnen, da diese nach einer bisher unerschUtterten Hypothese
die frühesten Stufen der Entwicklung der Kulturvölker dar-
stellen^).
Bei den Naturvölkern wird die Erziehung notwendig
Sache der Familie sein, oder eines grösseren Verbandes,
dem die Familie selbst angehört. Jedenfalls, da keine Arbeits-
teilung bei ihnen vorhanden ist, oder die Arbeitsteilung nur
innerhalb der FamiHc stattfindet, dürfen wir auch hierfür
keine besondere Organisation erwarten.
Es wäre nun ein sehr verlockender Versuch, eine der
verschiedenen EntwicklungsgeBChichten der Familie
auszuwählen und ihre Wandlungen als ebenso viele Änderun-
gen der Erziehang nachzuweisen. Solcher Entwicklungs-
geschichteo giebt es schon mehrere.
L. H. HoHaiN bat eine sehT bestimmt« Abfolge versobiedener Ter-
fassiingen der Familie als par&Uelgehead mit verschiedenen Stofen der
Knlhu- zn erweisen gesucht. Von letzteren nimmt er für die Ntttorepochen
der Gesellschaft 6 an, nämlich 3 Stnfen der „Wildheit" nnd 3 der Barbarei,
jede deraelben doroh einen teohmsohen Fortschritt gekennzeichnet. Die
Unterstufe der Wildheit, die allerdings von Mosa.ui bloss erschlossen, nicht
doroh sin lebendiges Beispiel belegt worden ist, kennt nur wilde Fniobte
als Nahrungsmittel die Mittelstufe bricht an durch den Fischfang nnd den
Gebrauch des Feuere, die Obeietufe be^nt mit der £r&idang des Bogens.
Diese ganze Periode der Wildheit zeigt zagleioh zwei Formen der Ehe,
die ÜoBaAH als blutsverwandte und ata Fonaloa-Eihe bezeichnet*). Die erste
besteht BUS leiblichen Brüdern und Schwestern, die ehelich zaaaaimeii
leben, die zweite entweder aus leiblichen Schwestern, die mit fremden
Mitnnem, oder aus leiblichen Brüdern, die mit fremden Weibern eine
onterschiedslos ehelich verkehrende Gruppe bilden.
Die b^innende Barbarei kennzeichnet sich durch die Töpferknnst,
') Tsrgl. S. B. SmKMBrz, Die Bedeutung der Ethnologie für die
Soziologie, 26. Jahrgang dieser Zeitschrift (1902), 8. 437.
'} Vergl. L. H. Moboak, Anoient Society, übersetzt u. d. T. Dia
UrgeaellachafI von W. EiCHRon und E. Eautsky, Stuttgart, 1891, AnlaDg
n,g,t,7l.dM,.COOglC
die Hittelstnfe deiselbea m der alien weit durch die ZUimaiw von Em»-
tiereD, in der neuen Welt doioh den QartenUn, die Obentate dnreh dw
Verubeitang des Süsena. Die ^Paarangsfamilie", eine neae Ebefoim eines
Mannea mit einem 'Wwbe, die zwar aassohliesslidi, a]>er nioht lebene-
länglioh mit einander leben, eondeni ihren Band öfter wechseln, entsteht
bei vielen TSIkem gleiohieitig mit der Barbarei, nnd geht anf der Ober-
stufe derselben in die monogamiBche über, die bei andern Völkern direkt
auf die Punalna-Familie folgt') und mit dem Beginn der Civilisatioii, d. h.
der firfindong der Schrift uJgemein wird. Die AusBchliessiuig der Blats-
verwandten von der Ehe, die sahen in der Pnnaloa-Kimilie dnrohgefiihit
wurde, dauert in wachsender Strenge fort nnd ist eine der wesentlichen
Fonttionen des lOeachleohtsverbandes", der eine Einheit mehrereT ver-
wandter oder sich für verwandt haltender Paarnngstamilian oder mono-
gamischer Familien dareteUL
Die blutsverwandte, die Fnnalaa- und die monogamieohe Familie sind
oaoh HoBOuf Hllgenieine, überall bei den geschichtlichen Völkern naiAweis-
bare Stufen der Shitwioklang der Familie, während die Paarungsfamilie und
die patriarchalische (die Ehe eines Hannes mit mehreren 'Weibern) nur bei
einigen Tülkem als Zwischenstufen vorkommen, die erste bei den nord-
amerikaniuohen Indianern, die zweite bot den Semiten.
Auch sind die Famüienformen nicht gleichmässig auf die verechie-
denen Enltnieturea verteilt. Die Pnnatua-Familie fUlt sonst in die Periode
der Wildheit, bei den alten Briten aber in die Uittelstote der Barbara*).
Durch die Tenohiedenheit der Familientorm erkUren sich naeh
HoMAH auch die iwei verschiedenen VerwandtRohaftsaysteme, die in
der Ethnologie und in der Oeeohicbte auftreten, das klassifisiereDda
and das deskriptive. Das eiste unterscheidet zunächst die Qeneiationen :
Vater und Sntter, SAhne und Töchter, Enkel nnd Enkelinnen. Innerhalb
der Oeneiationen sind anter der Herrschaft der blutsverwandten Famüien-
form alle Uitglieder derselben Generation Brüder nnd Schwestern. Dieses
von UoRsi.v als das „malayische" bezeichnete Verwandtschaftssystem flb^-
dauert Boesr die blutsverwandte Familie nnd gilt noch unter der Hensohaft
der Pun^ua-Familie. Unter der Fnnalua-Familie aber bildet sich täae neue
Unterscheidung aus. Es werden nicht mehr alle gleichaltrigen als Brüder
nnd Sohweetem betrachtet, sondern bloss die wirklich innerhalb der Pnoalu»-
Familia Oeborenen. Für den Mann heissen zwar die Kinder seiner Br6dw
noch wie im malayischen Systeme Söhne und Töobter, die Kinder der
Schwester aber nicht mehr wie im malayischen Systeme Söhne und Töditer,
sondern Neffen nnd Nichten, für das Weib nur noch die Kinder der
Sohvester Söhne und Töchter, die Kinder der Brüder aber ebenfalls Neffen
und Niditen*). Auch dieses Verwandtaohaflssystem , das „tntuniBoha* bei
UoBeix, besonders bei den dravidisohen Völkern beobachtet, überdauert
naoh ihm die Familienform, der es Beinen Ursprung verdankt Es igt bü
vielen Stämmen dsr Indianer Nordamerikas in der Sprache noch im 0»-
brauche, obgleich sie von der Punalna-Ehe läi^t cur Paarnngs-Ehs fiber-
gegangen sind*). Diesen beiden Arten iee hJassifiiierenden TerwandtMhafts-
') MoROAN, a. a. 0. S. 390(t.
■) Hossm, a. a. 0. 8. S91.
*) HoBOAH. S. 368f.
*) Das .ganowanisohe" System der nordametikanischeu ludianer ist
im Prinup dem tnranisehen gleich mit einer gelingen Abweichung. Tergl.
MoneiN B. 37a
iM,Coo<^le
Die QaBcbiohte der Erdeboiig in soüologischer Beleaohtoiig. 99
ijiteDiB steht das daskriptive Kegenflber, das «u der monoguuUohen Amilia
herrorgeht ■) and die Beiiehnugen derselben oaoh BlatBverwuidtacilutt und
TenohwBgeniDg bezeiclmet, den Begriff dea Grades der Terwandtiohaft
ttcanget dnrchgeföhrt haX, wie er sehr bewoast im rämiBohen Beohte ans-
gdüldet ist*) Dod d&iom z. B. oidit mehr eigne Söhne und Söhne dae
mdeis (Neffen) gleich beietchaet.
ESd onderee Sohema hat HacLxnnah entworfeii and als dai wahre zd
erwttMD gwncbt: Alle Basun geben imter den neageborenen Kindern de^
Knaben den Vorzog, die als Erieger und Jfiger dem Stamme nfitzlich werden
können, xiefaen danim möglichst viele Knaben auf, wlihrend sie brt alle
Udchea aussetzen*). Dadurch entsteht HangBi an Frauen und aus dieaem
wieder Euerat die ganx allgemelDe Sitte des Franenraabs, dann das Prinzip
der Exogamie, d. h. der Heirat eines fremden Weibes and das Verbot
der Endogamie, der Heirat eines einheimischen. So liegt nach MacLchhui
am ersten Anfange der Oesehiohte nicht die Ehe der Blutsverwandten,
sondern zna&ohst die „Promisonit;", d. h. völlig regalloser Gesobleohts-
reriehr*}, dann die .Polyandrie", d. h. die Ehe mehrerer Männer
mit einer oder mit mehreren Fnmeo, die itoh beeonden oharabtetiatisoh
noch jetzt mit Verwandtschaft in weiblicher Linie bei den Nairen (einem
Dravidaatamme) und mit Verwandtschaft in m&nnlioher Linie bei den Tibe-
tanern zeigt*). Ans ihr entsteht allm&hlioh die Monogamie. Die grosse
AnsdehoniiK der VerwandtsotiaftBbczeiohnungeo, die in Moroin's blassifika-
tonehen Verwandtscliattss^emen fdch zeigt, «ttUrt MacLenhan teils aas
der .H9fliobkeit'' der primitiven Mensohen*), teils am den beiden Formen
der PolTandrie'O.
Ober den Ursprung der Exogamie gehen dieAneicbteD
sehr auaeinander. Maclbnhah fllhrt sie. wie oben bemerkt,
auf den Frauenraub zurQck, E. WssTBiofABOs, wie wir
weiter onten sehen werden, auf eine natürliche Abneigung
gegen ehelichen Verkehr mit nahen Angehörigen, mit denen
man fortwährend gemeinsam gelebt hat. Er erklärt also
die Exogamie ans Scheu vor der Blutschande, wätirend
E. DoBKHSiH (Annäe sociologique I, 1898, S- 1 ff.) umgekehrt
diese Scheu aus deo* Exogamie herleitet. Nach seiner An-
sicht gilt bei den NatarvSlkem das Mädchen unmittelbar
nadi Emtritt der Pubertät, ebenso die menstruierende Frau
und die Frau, die geboren hat, als unrein, d. h. ursprünglich
als heilig und zwar, weil im weiblichen Blute das Blut des
') MoBGAH s. 373.
•) MoBSAH ä. 334.
') TergL U ACI^nNAN, Stadies in anoient history, (enthaltend PrimitiTe
ManiageiuideicdgedieeeeWerkerg&nzendeAbhaiidlQngeD),Londonl886, S. 90.
•) a. ft. 0. S. 92.
■1 a 93, 8. 102r., 8. 105f., zuBammenfassend a 114.
^ MacLbinak, a. a. 0. 8. 289, S. SOO. f.
') a 300 (.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
g4 Paul Barth:
gemeiDsamen Ahnen, nämlicrti des heiligen Tieres oder der
heiligen Pflanze der Orens, des nTotem", zum Vorschein kommt.
So wird das Weib der eigenen Gens tabu, unberührbar, und
es könneo zur Ehe nur Weiber einer fremden Gens, deren
Totem nicht tabu ist, genommen werden. Diese Sitte, meint
BuBKHEiu, Überlebt dann, wie alle Sitten den Q-Iauben, der
sie erzeugt hatte. Ich glaube, dass Dubkhbih der Wahr-
heit näher kommt als die anderen Erklärer.
BeideD, Mokoan wie TAaclehkau, wirf von C. N. Starcke') und von
E. "WMTKBMiKCK ') wideTsproohen. Diese beiden verwerfen die Annahme
einer nrspräDgUcben „PiomislEnitftt*. Anfänglioh „Bucht dor Mann eine
Arbeiterin, eine Wirtacbafteiin", sagt St&bckk'). Und da er nur eine er-
nähren kann, so ciamt er nur eine als ständige Oefthrtin. Das Interesse
für die Kinder liefert später einen Beweggrund für die Poly^unio, wenn
die ökonomischen Mittel dafdr ausreichen, in der aber eine Frau immer
die eigentliche Ehefrau bleibt Das Gegenstück, die Folyondrie, ist nur die
Ehe des ältesten von mehreren Brüdern, der die jüngeren Brüder als lieb-
haber seiner Frau zalässt, eine bssondera in Tibot aus der Armut des lAndeü
entstandene nud herrschende Bitte*], und ,die Polygamie mnss schwinden,
sobald aie fortschreitende Entwicklung die daaerbaften Motive nnd die
Gmndkrfifte mehr zur Geltung bringt"').
Auch E. 'Wesirruarck bestreitet die Fromiskuitit als Urzustand
ebenso wie jede Art der „Qemeinscii ansehe". Die grosse Aosdehnung der
Namen Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Sohn, Tochter erklärt er nicht
wie Morgan, aus einem auf Gruppeuehe beruhendsD Verwandtschaftasysteme,
sondern wio zum Teile MacLei^'an aus „Anspracheswecken"'), d. h. als
HÖflichkeiteform. Die Eifersucht erscheint nach 'Wf.stermarck solion bei den
Säugetieren, erst recht also beim primitiven Menschen ucd fuhrt notwendig
sat Monogamie'). Die Exogamie und die Blutsohandeverbote erklärt
Westeruauck nicht aus dem I^uentaube, sondern aas der seolisohen TJd-
mögliohkeit geschlechtlicher Liebe zwischen den allernächsten Verwandten,
überhaupt „zwischen Personen, die von Kindheit an beisammen gewohnt
haben"*). Polyandrie und Polygamie sind nach Westermasce keineswegs
häufige, dnrch wirtschaftliche Umstände oder durch numerisches Ueber-
wiegen des einen Geschlechts verursachte Ausnahmen von der Regel der
Monogamie*), bis höhere Gesittung diese zur ausschliesslichen Norm macht
Alle diese Theorien halten bei aller Abweichung im einzelnen doch
gemeinsam daran fest, dass die Blutsverwandtschaft die zaerat nur aus ge-
meinsamer Abstammung von einer Mutter hergeleitet wird, also nur aut
') U. N. Stahcke, die primitive Familie, Leipzig 1888.
') Geschichte der menschlichen Ehe, dentsoh von B. Eatschkr und
RAZER. Jena 1893.
•) Starcke, a. a. 0. S. 274.
'i Stabcee, a 144ff. und S. 283.
') B. 283.
*) Wesiermarce, a. a. 0. S. 640.
') a. a. 0. B. 641.
») S. 646 f.
•) 8. 647 f.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Die Geschichte der Erziehung in soziologischer B«leuchtiiDg. g5
ICutterrecht beruht, die Quelle aller weiteren Bilduagen sei. Ihnen gegtia-
über hat nenardiogs H. Scvoktz ') zu erweisen gesnobt, does niubt die Blata-
venrandtBohaft, sondern der Oeaelligkeitstrieb nicht verwandter aber
gloitdialtriger jauger KBuner die oigontQmlicben ErBoheinangen der OrappeD-
Ehe hervorbringe.
So herrscht Ober die Entwicklung der Familie und
Aber die treibenden Paktoren derselben keineswegs Über-
einstimiunng. Indessen, auch wenn die Entwickelungs-
geschichte der Familie feststünde, so wäre es fraglich, ob
sie so Tie! fUr unser Thema bedeutete, dass die Erziehung
ihr parallel ginge. Es scheinen andere Momente des primi-
tiren Lebens zu sein, die sich in der Erziehung geltend
machen.
Ein sehr wichtiger Bestandteil der ersten Erziehung,
vielleicht der wichtigste ist die Zucht, d. h. die Erzeugung
von WilleDsdispositionen, die Einpflanzung der persönlichen
und der sozialen Tugenden. Das primitivste wäre nun,
wenn diese Zucht ganz fehlte, wenn ddro zwar Fertig-
keiten. Wissen und Weltanaicht den Kindern überlieferte, —
was zum grossen Teile unwillkürlich, durch den blossen
NachahmongstTieb der Kinder zu stände kommt — die ab-
sichtliche sittliche Erziehung aber insofern gänzlich unter-
bliebe, als Unterdrückung der unerwünschten Eigenschaften,
der persönlichen und sozialen Untugenden nicht stattfände.
Einen solchen primitivsten Zustand finden wir nun
wirkh'ch — nach den sorgfältigen Forschungen von S. R.
SrKraHBTz^) — am häufigsten bei den von den Ethnologen
sogenannten „unstäten" (d. h. von Fischfang und Jagd
lebenden) VtSlkem, nämlich denjenigen Indianern Nord-
amerikas, die noch auf dieser Stufe verharren, den Pata-
goniem, den Feuerländem, den Eskimovölkern, den Ainos
(auf Yezo), den Australiern und den Tasmaniem. Bei ihnen
allen werden die Kinder ^verwöhnt". Sie werden viel ge-
') AltetflUaaaen nnd H&nnerbünde. Eine Darstallung der Orond-
roraien der OeeellBohaft. Berlin, 1903, besonders B. TS ff.
*) Das YeAiltnis zwiscdien Eltern nnd Kindern bei den NatnrTölkem.
In der Zeitschrift fnr Sozialwiseeaeohaft, heranjig. von J. Volf, I, (169S)
8. 6Uf.
yioMiUdmishiUk r. wlMiucbifU. PUloi.
iM,Coo<^lc
QQ Paul BKrthi
liebkost und nie bestraft, anch nicht ftir grobe Unarten,
hOchatens, dass sie bei den Nord-Australiern „venu gar aehr
lästig von der Mutter auf die Erde gesetzt und auf einige
Stunden allein gelaaaen werden"'). Bisweilen werden die
Kinder auch tod beiden Eltern vernachlässigt*), jedenfalls
aber niemals erzogen. Nur die fUr das Leben nötigen tech-
nischen Fertigkeiten werden gelehrt. Bei den Arawak-
Indianem z. B. wird der Knabe frQb an Rudern, Eichen
und Jagen gewohnt, die Mädchen helfen schon bald ihrer
Mutter^). Ebenso verhält es sich bei den Grönländern*).
Was nun die Familienverhältnisse der von Fischfang
und Jagd lebenden VOlker betrifft, so sind sie sehr ver-
schieden. E. Gbosse'^) findet bei den Feuerländem die
polygyne Ehe^, bei der grossen Mehrzahl der niederen
Jägervölker die monogene Ehe^, desgleichen hei den
höheren Jägervölkem^). Um die Exogamie zn sichern, d. h.
das oben erwähnte Prinzip, dass die Frau nie aus einer
blutsverwandten Gmppe genommen werde, sind manche
Stämme in Gruppen geteilt, die als Nachkommen einer
Mutter betrachtet werden, deren Mitglieder nicht unter ein-
ander heiraten dürfen. Von den niederen Jägervölkern haben
die Australier solche Gruppen"), von den höheren (ast alle
Indianer, die dazu geböreni"). Bei den Indianern der nord-
amerifcanischen Westküste fehlt auch nicht die Rechnung
der Verwandtschaft und Vererbung in männlicher Folge"),
Die meisten der niederen Jägervölker leben ohne :^upt-
i. a. 0. 8. 618.
. _ ) bei den ladianem Ealifornieiis, naoh Steihjcetz, Ethnologischs
Stadien zur eraten BotwickloEg der Strafe, II, Leiden a. Leipzig, 1894, 8. 182.
') SmKUKTz, ElhDolog. Stadien U, S. 183.
') BTEiNiiEn, a. n. 0. 8. 186.
') Die Formen der Familie oud die Formen der Wirtschaft Frei-
bnrg und Leipiig, 1896.
•) a. a. 0. S. M.
') 8. a. 0. 8. 46.
•) a. a. 0. 8. 73.
^ VergL OsossB, a. a. 0. 8. 60, anoh Morgan. S. 41 ff.
'•) Vergl. Stakcm, B. 31.
") Ghosbe, 8. «. 0. 8. 83 1 SiiBOJjt, S. 31.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Die Geechiohte der Erziehnng In soiiologisolier Beteachtnng. 67
{inge'}, dagegen hat fast jeder höhere Jägerstamm einen
Häuptling, der freilii^ weniger Macht ala Kang besitzt^).
Die Häupter einer Hausgemeinschaft, einer Sippe, hahen
mehr Autorität.
Warum wird nun bei diesen Jägerstämmen keine Willens-
erziehung geübt? Die Formen der Familie sind bei ihnea
so mannigfaltig, dass sie nicht die Ursache der bei allen
gleichmässigea Abwesenheit jeder Einderzucht sein kOnnen'),
wir aJso eine andere Ursache suchen müssen. Wahrscheiu-
lich liegt sie darin, dass fUr ihr ganzes Leben die Impulsiven,
unmittelbaren Handlungen genügen. Die erste hObere Bil-
dung des Willens — über das blos Impulsive hinaus —
fordert der Krieg, der beständige Unterordnung unter eine
Autorität verlangt und die AutoriUlt selbst dadurch befestigt.
Die Jägervölker aber führen sehr wenig Krieg. Sie haben
keinen Besitz, kein Vermögen, das andere Völker zum An-
griffe reizen könnte. Und wenn sie dennoch angegriffen
werden, so können sie ihr Territorium leicht räumen, ohne
wertvolles Vermögen zurückzulassen und so dem Angriffe
ausweichen. Im Sommer wandern sie ohnehin immer, erst
im Winter vereinigen sie sich in festen Dörfern *). Da
der Krieg bei ihnen so selten ist, darum haben die niederen
Jägerstämme, wie oben bemerkt, keinen Häuptling, die
höheren einen Häuptling ohne besondere Autorität Der
Krieg aber allein kann auf dieser Stufe die Zucht des
Willens bewirken. Wo er fehlt, haben die Alten ihren
Willen nicht in Zucht, finden darum auch keinen Grund,
den Willen ihrer Kinder in Zucht zu halten*).
>) Gbobsi, a. «. 0. 8. 39.
•) GnoMK, a. a. 0. 8. 72.
") Wie H. Spsnceb und dar holUodische Ethnograph Wilken meiiien.
Te^. Stbdihetz, Elho. Studien n, 8. 204.
•) Qbosbe, S. 67.
*) Eise einiige Atunahme scheinen die FenerUnder za maohen.
Obwohl si« auf der denkbar niedrigsten Stnfe der Koltni stehen, zeigen
■ie doch nii^t gftnclichen Hangel an Kinderzaoht. Tgl. Stkinmetz Ethn,
Stnd. II, 8. 200. AndeiB deraelbe io der Zeitsohr. f. Sozialw. I, S. 611.
iM,Coo<^lL'
Aber es giebt auch Naturvölker, bei denen schon eine
gewisse Erziehung vorhanden ist. Es werden den Kin-
dern persönliclie Tugenden eingepflanzt, besonders die
Tapferkeit und Abhärtung gegen Schmerz und Wetter, nad,
was die sozialeo Tugenden betrifft, so wird wenigstens das
Gegenteil, die Untugend, besonders Widerspenstigkeit gegen
die Eltern durch Strafen bekämpft. Die Fertigkeiten werden
vielleicht sorgßUtiger gelehrt. Bei den Apaehen lernen die
Knaben schon frühe den Gebrauch der Waffen^. Bei den
QuaycuruB (am Paraguay) werden die Enaben frtlhe an
den Krieg, die Mädchen an die Arbeit gewOhnt').
Dies ist gegenüber der ersten Gruppe nichts prinzipiell
Neues. Wohl aber ist neu, dass z. B. der Tlinkit-Indianer
(an der Westküste von Kanada) sein Kind züchtigt, wenn
es sich weigert, im Winter ins kalte Wasser zu gehen').
Femer werden die Kinder gewöhnt, Schmerzen zu ertragen.
Und erst nach allerlei peinlichen Proben , nach der so-
genannten Initiation, die sehr verbreitet ist, wü-d der Knabe
unter die Erwachsenen des Stammes als Krieger auf-
genommen -*).
Aber auch Unbotmässigkeit wird bekämpft. Bei
den Aleuten (auf den aleutischen Inseln, westlich von Alaska)
werden Ungehorsam und unbedeutende Vergehen blos mit
einem Verweise, gröbere Verletzungen der Sitte mit ein-
oder mehrtägigem Fasten bestraft'), Ausser Strafe haben
die Eltern als Abschreckungsmittel noch den Zorn des bösen
Geistes. Die Tupi (an der Küste Brasiliens) kratzen in der
Nacht ihre Bänder mit einem Fischzahne, vorgebend, dass
der böse Geist dies getlian habe, um nachher mit ihm drohen
') Stblnheiz K. 8. 19Ü.
^ Stknheiz U, 8. 196.
') STEismrz ir, 8, 194. Stelnjibtz unterscheidet .ufuigetide Br-
ziehnng ohne oder fast ohne Easteiane nnd .Btien^e Zaoht". Da es sich
aber nur am einen gradaellan Untetschisd handelt, so habe ich diese b«den
QrappSD zusammeDgeDoiumeu.
*) Vergl. Stkikhete, ZeitBchrin fSr Sosialw. I, Si- 626. Beispiele der
Initiation bei Stn^HEn II, a 196, auch bei LxTomsEkv, L'^rolntion de
l'Mncation, Paris 1898. B. 61, 67, 91, 144, 145, 154 und bei ScmniTz, 8. 96ir.
•) Simnaiz II, S. 201.
iM,Coo<^lc
Die Oeschichta der Eniehung in Boziologiijcher Beleuahtuiig. 39
ta kODDen'). Also in Bezog auf die sozialen Tugenden
irird wenigstens offene Widerspenstigkeit geahndet.
Die Mädchen werden auf dieser Stufe zur Keuschheit
angehalten, sie wohnen oft getrennt von den Jünglingen
am anderen Ende des Dorfs. Während Stklhhbtz bei den
33 Völkern, die er als jeder Kinderzucht ermangelnd an-
fuhrt, kein Beispiel der Blrzwingung der Keuschheit der
tnidchen erw&hnt, giebt er in der zweiten Gruppe dafOr
an: die Omaha (nm den Winnibagosee in Kanada)^). Die
Viehzüchter und niederen Ackerbauer halten alle viel auf
Keuschheit der Mädchen, da nur unberührte Mädchen als
Frauen verkauft werden können^).
Wie in mancher Hiniicht — durch die Hilfe des „bOsen
Oeistes" — der religiöse Glaube auf dieser zweiten Stufe
förderlich für die Erziehung ist, so wird er doch
auch vielfach ihr hinderlich. Bei einigen Völkern ist noch
ein grosses Hindernis für die Energie der Erziehnng
die teilweise aus religiösen Vorstellungen entstandene so-
genannte, „Teknonomie", d. h. die Sitte, dass der Knabe,
sobald er geboren ist, als der eigentliche Herr der Familie
betrachtet wird, dass der Vater ihn niemals straft, dass die
ganze Erziehung sich auf Unterweisung, Unterricht und
Beiehmng beschränkt, in sitUicber Beziehung aber die an-
geborenen wilden Instinkte herrschen. Auf den Oesellschafts-
inseln folgt der erstgeborene Sohn eines Häuptlings gleich
im Augenblit^ seiner Qeburt seinem Vater nach, und zwar
nicht bloss in bezug auf den Titel, sondern auch in der oft
bis zur Anbetung gesteigerten Ehrfurcht, die man ihm fortan
erweist*). Der Vater wird so bloss des Sohnes Stellvertreter.
Das iBt in der FanüUe des Häuptlings am sichtbarsten und
aufmiigsten, verhält sich aber ebenso auch in den anderen
>> SmmBiz II, S. 196.
■) a. B. 0. 8. 191.
■) Qbobsb, a 106, S. WnnBiuBcx, 6. 5Öff.
*) VerRl. Srnmmz II, B. 22S S. Ttuat weist die Tetnonomie von
IfiD Völkern, die er onterBnchte, bei dreissig nach. Vergl. Steinkiik, 11.
;. 237.
iM,Coo<^lc
70 Panl BarthT
Familien. Bei anderen Völkern, z. B. bei den Javanen ist
von dieser Teknonomie nur noch ein Best geblieben, nämlich
die Sitte, dass die Eltern den Namen des Kindes annehmen.
Wena ein jaTanisches Kind den M'amen Sariman empßlngt,
so heissen seine Eltern fortan Faq-Sariman, Vater des Sari-
man, und Boq-Sariman, Mutter des Sariman. Von gleicher
Bedeutung, wie die Teknonomie ist bei den Völkern, die
nocti Mutterrecht haben, das ihr ganz analoge Vasu- Wesen,
d, h. die Unterordnung des mütterlichen Oheims unter seinen
Neffen, bei dem er Vaterstelle vertritt, wie dies auf den
Fidschi-Inseln, auf Samoa, den Palau-Inseln und an anderen
Orten beobachtet worden ist»).
lieber den DrapnmK beider Sitteu führt SiUNtUTs'J vier teils wirk-
lich gegebene, teils mögliche Erkläroiigsweiseii &□. Die oiste derselben sieht
in der TetnoDomie nur einen der hftoligen ¥Slle des NftmenweohüelB des
Natnrmen sehen, der eich oft nach einem nen erworbenen wertvollen BesitEe,
in diesem Falle nach dem Kinde, nenne. Dagegen spricht, daGS man nach
sonstiger Analogie eher die ümkehrung, die Uebertragung des Namens der
Eltern an das Kind ta erwarten hat"). Die zweite sieht in der Annahme
des Namens des Bohnes durch den Vater nnd in der ganzen Unterordnung
des Vaters unter ihn nur den Ausdruck der Lieb6, dart^ die sich der
Vater die vom Sohne einst ihm darzubringenden Totenopfer sichern vUL
„Mit der strengen Vaterberrschaft als Onincllage der Familie stellt sich der
Ahnenknlt stets e!n''*j. Aber die Teknonomie gilt auch häufig im Hatri-
srchate, muss also noob andere Ursachen haben. Die dritte Hypothese ist
die, dass nach einem weit verbreiteten Olaubea bei der Geburt das ersten
Kindes die Seele der Eltern in das Kind übergeht, die Eltern also keina
weitere Daseinsberechtigung haben, womit, sowie mit der aUgeroeinen
Oeringsoh&txong des Lebens hei den Naturvölkern, anoh die in Melanesien
und anderswo allgemeine Tötung der Alten zusammenhänge. STsramn
weist diese H^rpothese nicht ganz ab (B. 232, 235, 248), sondern glaubt sie
vereinbar mit einer vierten Erklamngs weise. Diese von dem verdienst-
vollea holländischen Forscher Wcjckn and dem so sehr sorgfältigen be-
rähmten Anthropologen Ttlob angenommen, sieht in der Teknonomie eine
ähnliche Bedeutung wie in der bekannten weit verbreiteten Convade, dem
Minnerkindbette, durch das der Mann symbolisch seine Hechte auf das
neugeborene Kind geltend machen will, das also ein Sjmptom des üeber-
ganges des Matriarchats in das Patriarchat ist. Wn.KEK stellt auch die
Teknonomie in diesen Uebergang; wo die Mutter sich nach dem Kinde
benennt, sieht er nur eine höfiicbe Nachahmung des T&terlichen Namens.
Ttlob hingegen ündet sie dem Matriarchate gleichzeitig und nur unter ihm
durch das Interesse dee Mannes geboten ; wo sie im Patriarchate vorkommt,
') Verel. SiEDiMmz D, S. i
») n, 297 ff.
*) S/imatttz H, 228 ff.
*) Stkikhetz II, S. 229.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Die Gesohiohte der Erriehung in soziologischer Beleuulituug. 71
scheint sie ihm bloßes nUeberlebsel". Di »Ge Frage dar Zeitbestimmong
ist sebnnd&r. Im gaszen dünkt mich, dass diese vier ErUänmgen sich
Dicht ausaehliesaen, soedem ergänzen.
So Belir diese beiden Sitten, TeknGinomie und Vaßu-
Wesen, der Zucht auch entgegenwirken, ein wichtiger Än-
Auig derselben besteht doch bei den hier angeführten Völkern.
Und es ist nicht zufällig, dass unter ihnen — der zweiten
nnd dritten Gruppe bei Stbimubtz — nach diesem nur sehr
wenige als imstäte VOIker, die meisten als Viehzüchter —
besonders in der dritten Gruppe: Aleuten, Kurden (in
Kleinasien). Basutos (in der Eapkolonie) — Ackerbauer
oder Jägerbauer, d. h. solche, die Ackerbau und Jagd ver-
einigen, zu bezeichnen sind.
Die Familienverhältnisse sind hier, wie bei den un~
stfiten Völkern, den Jägern und fächern, auch sehr mannig-
Tach. Besonders herrscht bei den Viehzüchtern als charakte-
ristische Form die Kauf- und Baubehe vor').
So wird es auch hier nicht eine neue Verfassung der
Familie sein, die den höheren Grad der Erziehung hervor-
bringt, sondern die Über das Primitivste schon erhobene Art
der Lebensflirsorge. Der Viehzüchter und der Acker-
bauer haben infolge der besonderen BeschafTenheit üires Be-
sitzes eine regelmässigere Arbeit als der Jäger, dem nur
darch sein eigenes BedOrMs, nicht durch das der Haustiere
oder durch die Wachstumsbedingungen der Kulturpflanzen
seine Arbeit reguliert wird. So müssen beide schon im Frieden
ihren Willen der Erfüllung regelmässiger Pflichten unterwerfen.
Noch notwendiger ist das im Kriege, der immer und
überall die Unterordnung des Einzelnen unter die Zwecke
der Gemeinschaft fordert. Die Kriege aber sind eben fflr
die Viehzüchter und Ackerbauer häufiger. Unter den ersten
befinden sich die kampflustigsten und grausamsten aller Natur-
völker, wie die Masai (in Ostafrika um den Äquator). Beide,
Viehzüi^ter wie Ackerbauer, haben nicht bloss einen Vorrat
an Lebensmitteln wie die Jäger, sondern Vermögen an Vieh
') VergL Gross». 8. 104 ff.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
72 Paal Bmtbi
und Äckerboden, also viel begehrenswertere Besitzobjekte.
Beide können ausserdem nicht so leicht ihr Laad aufgebeD
und sofort ein gleichwertiges finden. Beide WOTden also
bänfiger aogegriffeu werde» und sich wehren müssen. Nichts
aber entwickelt die Disziplin des "Willens mehr als der Krieg.
Und die Alten werden so naturgemäss empfindlicher gegen
den undisziplinierten Willen der £tnder.
Aber diese Völker, bei denen sich der Anfang der Zadit
im c^n festgestellten Sinne findet, d. h. die ZUchtnog
persönlicher Tugend, der Tapferkeit, und Unter-
drtlckung socialer Untugend, der Widerspenstigkeit, sind
noch keineswegs die höchsten der Naturvölker. Man maas
2U den Naturvölkern alle diejenigen rechnen, deren geaellschaft-
licber Zusammenhang noch auf der Blatsverwandtschaft, —
wenn Sohubtz Recht bat, verbunden mit dem ursprUnglidien
Qeselligkeitstriebe, — nicht auf einer künstlichen Gliederung
der Volksgenossen beruht. Und dazu gehören aach noch
diejenigen Völker, deren soziale Einheit die patriarchale Sippe,
ein sehr fest gefügtes G-ebilde, und deren Wirtschaft schon «a
Ackerbau mit einer gewissen Technik, nicht mehr der primitive
Hackbau ist. Dieser letzte kommt selten allein vor, m^t
in Verbindung mit Viehzucht wie z. B. bei den Kaffem '),
und begründet keine höhere Kulturstufe. Ein entscheidender
Fortschritt dagegen zeigt sich entweder in Anwendung von
Zagtieren und Düngung, dem speziell sogenannten Acker-
bau, oder in Düngung mit künstlicher Bewässerung, dem
sogenannten Gartenbau^). Als einziger Nahrungserwerb,
(^ne Städte und ohne Industrie, ist beides jetzt selten ge-
worden. Die Dorfgemeinden Indiens bieten noch Beisiuele
der Wirtschaft dieses Typus, aber keine reinen Beispide, da
Über ihnen noch ein sozialer Überbau aus Brahmanen, Krieg«ii,
Industrie und englischen -Beamten liegt.
') Vergl. Ed. Habs, Die Haastiere und ihre BeEiehimgeii lox Wiit-
Bchalt der UenacbeD. l«tpziK. 1896, S. 465f. Auch J. Lutdr Knltnr-
geechiohte der MeoBobheit, I, Stattgart, 1886, 8. U9S.
') Bittx, a. a. 0., S. 388ff.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Die Geachiohte dei' Eraehong in soziologischer Beleachtnng. 73
Dagegen sind eine Anzahl geschlclitlicber Völker
durch diese Stufe des Oartenbaus oder diejenige des reinen
Ackerbaos hindm-chgegangea. Die Azteken Mexikos und
die Pemaner des Inkareidtes haben von Gartenbau gelebt.
Aber beide sind nicht mehr den Katunrölkem zazarechnen,
beide scheinen bereits in einer künstlich, nach Ständen ge-
gliederten Gesellscdiaft gelebt zu haben, zeigen jedenfalls
einen fest oiganisierten Priesterstand, der dem Charakter der
reinen M'aturrOIker widerspricht. Die europäischen Kultur-
völker leben vom Ackerbau, nach patriarchalischen Sippen
gegliedert, in den letzten Zeiten der sogenannten Vorgeschitdite,
die in die geschichtliche Zeit durch Sagen hinUbet^ngen.
So die Stämme. dieHomer schildert, die Germanen, die
Tacitus beschreibt.
Und eine Folge des Ackerbaues scheint es, dass diese
geschichtlichen Völker in der Periode der patriarchalischen
Sippe eine Verschärfung der Zucht zeigen gegenüber den
zuletzt angeführten NaturrSlkem.
Die Erziehung bei Homer unterscheidet sich sehr deut-
lich Ton der eben betrachteten Stufe, auf der bloss der Un-
gehorsam bekämpft wird.
Was die Zucht betrifFt, so werden zunächst die fUr das
kriegerische Leben nötigen persOnUchen Tagenden ebenso
verlangt, wie bei primitiven Völkern. Der alte Peleus giebt
Boinem unrntlndigen Sohne Achilleue den alten Fhoinix mit,
damit er ihm die Thateo des Krieges lehre 9. Und es ist
selbstverständlich, dass die Feigheit, Ober die so oft harter
Tadel hervorbricht*), an der heranwachsenden Jugend mög-
lichst bekämpft, die Tapferkeit mÖgUchst gefördert wird.
Hierin aber liegt kein Hinausgehen Ober die zuletzt ge-
nannten Natorrölker.
Anders in bezog auf die sozialen Tugenden. Denn
es wird nicht bloss Ungehorsam gegen alle Äheren ver-
yiliasIX, T. 488 ff.
>) E. B. a. m, 39 ff.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
74 Panl Barth:
pönt, sondern auch positive Verehrung verlangt. Sogar
einen Älteren auszufragen, gilt als unbescheiden i). Und dia
scheue Ehrfurcht, die der Jüngling vor dem alten Maane
haben mus8, wird mit demselben Worte («M«c), -wie die
fihrfurcht vor den GKSttern bezeichnet*). Gegen die Mutter
ist die Ehrerbietung geringer als gegen den Vater, da die
Frauen tlberhaupt den Männern gegenüber eine dienende
Stellung haben. Daher die bekannte, allerdings sehr sach-
liche Zurechtweisung Penelopes durch ihren Sohn Telemach^).
Die speziell weiblichen Tugenden, die Schamhafügkrät
und die Keuschheit, werden, wie wir oben sahen, oft auf
der mreiten Stufe der Erziehung, bei Viehzüchtern und
niederen Ackerbauern, geschätzt. Auch bei Homer wird
die Sittsamkeit und die Keuschheit der Jungfrauen dadurch
gesichert, dass sie vor der Verheiratung von fremden, nicht
verwandten Männern sich fem halten müssen*).
Von den Fertigkeiten sind zunächst die für den Krieg
notwendigen G-egenstand der Unterweisung. Phoinix lehrt
seinen ZOgling Achilleus Redner der "Worte und Thäter der
Werke zu sein*). Auch der zuerst genannte Teil, die Be-
redsamkeit ist ein Erfordernis des Krieges* Denn der
König darf bei Homer keine Entscheidung auf eigene Faust
treffen, sondern nur nach der Beratung mit der Versammlung
') Od. m, 14 Q. 24
*) Tergl. die eb«u uigeführte Stelle der Odjrssee, wo du Substantir
oiAJf steht mit dem formelhaften, öfter (z B. II. XXIT, 503) gebraaoht«n:
aliüo dmvs, and Od. XXI, 28: &aöy ontv j/tiaaio.
■) Od. XXI, 360— S&'t: „Geh iafi Haus nod besorge deine Arbeit,
den Webstuhl and die Spindel uod gebiete den DieneriDnen an ihr Werk
iD schreiten. Der Bogen wird der Männer Sorge sein, besonders meine;
denn mein ist die Oewalt im Haose".
*) Vergl. Od. VI, 386 — 88. Eine Ausnahme machen oar öCtentliobe
Aofifiee und Beigentänze, an denen beide Geschlechter teil nehmen. VergL
II. XVIII, 567ff,, auch 690ff. Diesen Hinweis auf die besondere weibliiAs
Erziehung verdanke ioh der Arbeit von R. F. J. Ktöizsu, die grietdusoha
Erziehung in Homere lüas nnd Odyssee, Zwickau, 1891, die itn übrigen wenigar
von der Erziehung der homerisohen Zeit ab von deren allgemeiDen Sitten handalt,
aber anch für diese nor eine Zusammenstoppelong Tcn Stellen luingt, ohos
sich von irgendwelchen soziologischen oder psychologische □ BegrifTen leften
zn lassen.
•) II. IX, 448.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^le
Dis Qeschiohte der Erziehung in soEiologisober Beleuchtung. 75
der freien ItJänner, io der jeder, selbst ein Thersites, aufea-
treten und das Gewicht seiner GrüDde geltend zu machea
berechtigt ist. Wer also etwas erreichen will, muss die
Künste der Rede verstehen. Diese wird an Nestor nicht
geringer geschätzt als an anderen die Tapferkeit'). Doch
aacb fUr die Friedenszeiten ist die Beredsamkeit ntitjalicb.
Mit begeisterten Worten wird der Redner der Volksver-
SEuntnlung geschildert, den alle wie einen Gott anschauen^).
Die gleiche Schätzung der Beredsamkeit werden wir später
bei den Azteken Mexikos Snden, die, wie oben bemerkt,
über die Naturform der sozialen Organisation schon hinans
gewachsen sind, aber doch noch vieles ihr Verwandtes zeigen.
Kein Wunder daher, dass die Beredsamkeit die Bälfte der
homerischen Unterweisung ausmacht.
Dass Wissen und Weltanschauung, wie bei allen schon
in Betracht gezogenen Völkern, auch in der homerischen Welt
der Jugend Überliefert werden, ist selbstverständlich. In der
That lernt Achill von Chiron die Heilmittel für die Wunden'),
und auch die Lieder von berühmten Thaten, die er zur Laute
singt*), muss er in seiner Kindheit und Jugend gelernt haben.
In den Naturformen der Gesellschaft giebt es zwar
schon Unterschiede des Reichtums und der Vornehmheit, auch
den grossen Gegensatz zwischen fVeiheit und Sklaverei. Bei
Homer finden wir Vornehme und Gemeinfreie {Aaoi), unter-
halb ihrer die Klasse der Sklaven. Aber noch sind die
Stände nicht schroff getrennt, noch giebt es keinen auf
Öffentlichem Rechte beruhenden Unterschied zwischen Prlvi-
l^erten und Volk, noch ist der Verkehr zwischen Herren
und Sklaven fast wie zwischen Gleichen. Odysseus und
Telemaeh verkehren freundschaftlich mit Eumaios und mit
') II. U, SlOff. wäoacht Agamemnon, er hätte zehn Ratgeber TOn
glachei Beredasm^t wie Nestor; dann würde Troja bald wanken. Ebenso
wird OdjBBeuB' Klugheit und Beredaamkeit sehr gepriesen.
») Od. Vni, 170fl.
') IL XI, saa.
') II. IX, 186 f.
iM,Googlc
76 PaqI Bai'th:
Burykleia')- Nausibaa spielt Ball mit iUreo DienerinneiL
Auch gilt Doch keine Arbeit als gemein, als zu niedrig Air
die Voniehmea. Andromacbe füttert die Bosse ihres Mannes,
wenn es nicht Hektor selbst thut^), Laertes lebt unter seinen
Dienern auf dem Lande und behackt selbst den Garten >),
Nausikaa hilft ihren Dienerinnen beim Waschen*).
Demgemäss giebt es in der Erziehung keinen Unter-
schied des Standes. Der Sobn der Sklavin wird mit den
ehelichen Eindero zusammen in gleicher Weise erzogen; erst
nach dem Tode seines Vaters, bei der Erbteilung, wird er
TOD seiDOD Halbbrüdern, mit eioem geringeren Erbe, als sie
sidi selbst Euteileo, abgefunden"). Eumaios, als Kind phönifi-
schen Seeräubern abgekauft, wird von Odysseus' Matter mit
ihrer Tochter Ktimene zusammen aufgezogen und erfreut
sich derselben Rechte, wie die Tochter des Hauses, bis diese
eich verheiratet 6).
Dass endlich die soziale Arbeitsteilung bei Homer noch
nicht so weit vorgeschritten ist, dass es einen Stand der
Ermeher geben kennte, verrät sieb besonders auch in seiner
Sprache, in der sich weder für „Iiehrer" oder nErzieber"
noch fUr Erziehen ein spezifischer Ausdruck findet, dieses letzte
vielmehr mit demselben Worte wie das physische „Auf-
ziehen" (T^i^sty) bezeichnet wird, neben dem noch das Oberall,
aach auf tieferen Stufen vorhandene Unterrichten, aladiiätnwtv
besonders benannt wird^), der spätere terminus tecbnicns für
Erziehen (nraMfevetr) aber durchaus fehlt.
Mit der homerischen Gesellschaft steht auf gleicher Stufe
die germanische, die uns Taoitds schildert. Auch sie be-
■) Ueber Tolemsch und Eamüoe verel. Od. XVI, äOff., über OdysMiu,
EnmaJoB und deo EiDderhinen Od. XXT, 2S3ff., über OdyBBeoe und Saij-
Ueia Od. SIX, 4T4ff., über Telemaoh ond Earjkleia Od. II. 363ff. Vergl.
KLÖTxm, B. a. 0. 8. 6.
•) D. VIU. 18611.
•) Od. iXIV, 226ff., anoh II, 187ff. Vei^. Klötirb, a. a. 0.,
*) Od. VI, 25«. Vend. aoob Od. VII. 5f.
') Od. XIV, 202ff.
•) Od. XV, 383 ff.
') Vergl. z. B. 11. IX, 442.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Dis Gescbiobte der EnJehuog in soiiologiscber Beleuchtung. 77
ruht noch auf der Blutsverwandtschaft. Die GermaoeD
kämpfen, geordnet nach „Familien und Geschlechtern" *), wie
die Krieger Homers nach Phratrien {Bruderschaften), d, h.
Vereinigungen blutsverwandter Geschlechter, und nach
Stämmen, d. h. Vereinigungen mehrerer Phratrien, geordnet
sind'). Ihre Wirtschaft wurzelt in dem allerdings noch nicht
sehr intensiven Ackerbau und in der vielleicht noch stärker
als in der homerischen Welt betriebenen Viehzucht. Beider-
seits ist der Verkehr Über den Tauschhandel noch nicht
hinaosgekommen. Das germanische Königtum beruht, m.6
das homerische, nicht auf der Macht, sondern auf dem
moralischen Einflüsse des Königs ').
Die Familie erzieht den Knaben zur Tapferkeit. Wenn
die Erziehung beendet ist, wird er in feierlicher Weise in
einer Versammlung der Geschlechtshäupter vom Vater oder
emem Verwandten mit Schild und Speer geschmückt*). Die
Töchter müssen mit den Frauen nicht bloss alles für den
Haashalt Nötige besorgen!^), sondern, wie es scheint, sogar
den Ackerbau^), werden also durch die Mütter von Kindheit
an in den Kreis ihrer Pflichten eingeführt. Da die Bede-
knnst zu den Erfordernissen des Königtums, und, da in der
Volkaversammlung jeder reden darf, wohl auch des freien
Standes gehörf), so wird der junge Germane sie ebenso
wie der junge Grieche bei Homer von seinem Vater oder
von dessen Stellvertreter gelernt haben.
Sehr lebreich wäre es, wenn man mit der ttitesten griechischen nad
der ftltesten germanischen Eraiehnng diejacige Tergleichen könnte, die von
den alten, Indien erobemdea Ariern geäbt wurde. Aber die Teden,
die ihre Religion enthalten, — einen natDraliatischeD Foljrtheiitmafl, der
') TAcmw, Oermania, E. 7: „Fnmiliae et propiaquitates".
•) U. 11, 862 (f.
*) Ticmm, ». a.: 0. K. 11.
*) TACITC3, K. 18.
^ a. a. O. £. 26.
•) K. 16.
') K. 11.
iM,Googlc
dnioliAQS die gleiche geistige Stnfe reriU, wie die homensohe Beligion nnd
die der alten Oermaaen, — berichten ans nichts fiber die Eniehaiu der
Jagend'), ebenso wenig, wie es scheint, die grossen Epen, die den Eunpf
nm die indische üetelme schildern.
Die Strenge nun, die wir bei den Acliäern und bei
den Germanen in der Erziehung finden, dOrfen vir keines-
wegs aus der AJleinherrschaft des Mannes ableiten. Stbim-
MBTZ*) erweist ganz klar, daas auch im Matriarchate der
Mann, zwar nicht der Vater, aber der mütterliche Oheim
regiert, der Unterschied der FamilienTerfaeauDg also dem
Kinde gegenüber nicht in Betracht kommt Vielmehr scheinen
die drei Stufen der Zucht, die wir als deatlich unter-
Bcheidbar feststellen konnten, 1) Abwesenheit jeder Zucht,
2) Erzwingung der Tapferkeit (bei den Mädchen der Keusch-
heit) und Bekämpfung des Ungehorsams, 3) Züchtung posi-
tiver sozialer Tugend, besonders der Ehrfurcht vor den Alten
auf der schärferen Disziplin des Willens der Erwachsenen
zu beruhen, die durch zunehmende Fianmässigkeit der Lebens-
fUrsorge erzeugt wird. Diese ist zuerst recht dUrflig, nicht
ernster als das Spiel des Kindes*). Da der Wilde selbst
sein Leben lang ein spielendes Kind bleibt, so kann er auch
seine Kinder nicht erziehen, zumal das Kind der Naturvölker
sehr frühe selbständig wird*). Aber einmal hört das Spiel
auf oder vielmehr es vereint sich mit regelmässiger Arbeit.
Es erhebt dann den Menschen aus einem blossen Triebleben
zu einem teilweise wenigstens wählenden und seine Triebe
weiteren, mittelbaren Zwecken unterordnenden Wesen. EIrst
ein solches kann erziehen. Und nur die harte Not des
■) Te^l. LnouBHur, ■. a. 0. 8. 385 f.
*) Ethnologische Stadien U, 8. 207 f.
0 Veritl. E. BßcHER, die Entatehnng der Toi Ils Wirtschaft, S. Aofl.,
Tdbingen, 1898, 8. 34: „Das Spiel ist Utar ale die Arbeit" BOohu'b Bach
.Arbeit und Bhfthmas" sohilderi den Proiess des üebeiTanges vom entea
cor zweiten ond die Verbindung beider.
*) Tergl. Stedhotz, II, 8. 216: .Bei den Athka-AIenten wird der
Enabe mit »hn Jahren selbständiger Jttger und heiratet er." Daaelbet
auch viele andere Beispiele dieser Frühreife.
iM,Coo<^lL'
nie GeBcbichte der Eriieiiang in aosiolo^soher Beleaohtnng. 79
Daseinskampfes konnte wie Oberhaupt den Fortschritt zu
einer neuen Lebensiuittelerzeud^ng, auch die hfihere Willens-
bildung erzwingen 1).
Neben dieser Macht der Lebensfürsorge ist es vor allem
der Krieg, der, wie oben (S. 67 u. S. 71) bemerkt, dem Er-
wachsenen Unterordnung des Willens üben und schliesslich
auch von seinen Kindern fordern lehrt. STBrajtiETz^) Hihrt
sechszehn Völker an, bei denen der Krieg die Macht des
Häuptlings erst schafiTt oder steigert. FUr den Anfang des
Kri^ea beweist Steinmetz, für die Dauer desselben vermutet
er^), dass der (Gehorsam durch Strafen erzwungen wird.
Wer aber Gehorsam leistet, wird auch Gehorsam fordern.
So ist der Krieg die Schule für die Erziehung der Erzieher.
Ä.uch ist es wohl kein Zufall, dass im Lateinischen modestia
sowohl die militärische Manneszucht als die allgemeine Tugend
der Bescheidenheit 'bedeutet.
Der dritte Faktor, der das Willensleben des primitiven
Menschen regelt, ist der religiöse Gedanke. Er besteht
zuerst nur in der Erklärung des Lebens als einer persSn-
lichen Macht, eines „Geistes", der als ein zweites Ich nach
Analogie des Schattens, des Spiegelbildes im Wasser, des
Traumbildes gedacht, den Körper bewohnt, durch zeitweiliges
Verlassen ihn krank macht, durch endgiltiges Auswandern
den Tod herbeiführt. Die zweite Stufe ist die Anerkennung
nicht bloss des Lebens, sondern aller Erscheinungen und
Mächte der Natur als persönlicher Wesen, der allgemeine
„Animismus." Wenn diese Mächte, als Menschen gedacht,
folgerichtiger Weise mit menschlichen Schicksalen ausgestattet
') Vergl. ancb F. Bateel, Politisotae Oeograpbie, MfiDohen ond Leipzig,
1S97, S. 65: „Es nitre verfehlt in ^aben, der AQketban nnd die Viebiooht
sdea nnr ErwerbsEweige. E^ Bind Pottnen des Lebens, id deneD jede
BkUigkeit nnd jedee Streben eine besondere Riahtaog empfingt'
■) EthnolDgiache Stadien ü, S. 316 ff.
■) Doch fühlt ei fär die Daoer des Krieges tiaoh ein bestimmtes
Zeagnis an, niUnlidt, dase bei den Apalachiten Sohildwachen, welche ein-
schliefen, mit dem Tode bestraft worden [a. &. 0. S. 3S1).
. UN''..
80 I*«!!! Barth:
werden, so enteteht aas dem Animismus der DatoniUstisdne
Poljtbeismus mit seiner bunten Mythologie, wie er bei Homer
zu finden ist*)-
Die homerischeo Qötter sind mehr mächtig als sittlich,
wie man Überhaupt den EinSues der religiösen Vorstellungen
auf die primitive Sittlichkeit nicht überschätzen darf. Diese
ist zunächst das Erzeugnis der Terwandtschaftlichen und der
wirtschaftlichen Verhältnisse^). Aber auf der homerischen
Kulturstufe bedeuten die Götter doch schon etwas, auch fQr
den menschlichen Willen. Sie sind nicht spezifisch sittlicb,
eine Göttin, die Ate, ist sogar die Quelle alles physischen
and moralischen UnglDcks^), Hermes lehrt den Menschen
Meineid und Betrug*), alle Gatter sind bestechlich durch
Opfergaben ^). Aber der Mensch mass sich ihnen unter-
ordnen, ihnen opfern, ihre Heiligtümer unverletzt halten.
So zähmen sie seinen Eigenwillen und lehren ihn den Eigen-
willen seiner Kinder zu zähmen. Sie bändigen seine Wildheit,
seine Sittlichkeit werden sie erst, selbst sittlich gewordes,
in den Kunstformen der Gesellschaft fördern.
') Veigl. über die religiöae EntwioblnDg P. Bakth, die Philoeophia
der OsBohidite ak Soziologie, Leipng I, 1897, 8. 377 B.
') Vergl, Tylor, primitive Caltnre, deotsoh a. d. T.: ADßnge der
Cnltor, Leipzig 1873, I, S. 421 und IL S. 360.
>) IL IS, 606ff.
•) Od. XIX, 895 fE.
•) U. IX, 497 ff.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
llM»tlHlf***"*'.^^**^^'
I Berichterstattung.
I
I.
Bespreeknngen.
AdanUewlei, A^ Die G^rosshirnrinde als Organ der
Seele. Mit 2 Tafeln and 1 Abbildaog im Text. Wies-
baden, J. F. Bergmann, 1902. 79 S.
VeifiMsei bwbsiohtigt. hier allee was er in Terechiedenen Sdiriften
üb« dl« Fonktioii der Orosshinitinde and ihrer Oimglien veriffentticbt bat,
nbwaiiditlioh und in allgeiueia faselicher Form EOBammeDioBtellen, In ana-
tamiscber Beziehuig wird erw&bnt, dase die Ganglienzellen der Binde gai
oiobt Zrilm im gawöhnUidieii Stime des Wortes seiu können, eondem wirk-
liche O^ane darateUeo mfisaen, daher auch, wie Vf. gezeigt bat, einen
eigenaD Aroarat eq ihrer ErnähniDg besitzen wie er eonat nur den Organen
siäenimt (3. 8). Ihr phyBiologiacner Unterachiad gegenüber der anderen
KSrpei^Df^en bestehe darin, dass sie nicht bloss wie diese sensibel, mo-
toriach oder tlopbisch fonktionieren, aondeio die Fähigkeit des Empfindens
nnd WoUens, der scbSpferischen Oeataltungsgabe nnd des OedfichtniBses,
dea BewossUeins und des Denkens, besitzen (S. 5). Das Qedttohtnis wird
ala eine phyBisobe Funktion bezeichnet (3. 14), welafae eine allgemeine
XSgenechaft aller Organe dea Kürpers ist (S. 7). Das Kiodergehim komme
als eine apsychisohe Masse auf die Welt, ansgestattet mit dem Vermögen,
die Eindrücke mechanisch in binden, so daes es sich ihnen KegenSber nicht
andera verhalte wie die photograpbische Platte oder die Walze dea Phono-
gr^hen (3. 9). Indem dieses Eindetgefaim die ihm mit der Gebart auf
einmal dnroh alle Binne znströmendeu Eindrücke anzieht nnd mechauiscb
abaorbiert, ohne Spar einer geistigen, ihm noch ganz fremden Arbeit,
sammelt es die Welt in Gestüt von Bildern, 3chemen und Formen und
bildet eich so die ersten Torstellongen von den Dingen, die nach und nach
TOT Erfahning anwachsen und sc tai Grundlage werden znerst der In-
telligenz nnd dann der Klngheit [S. 12). Drängen die in das Bewnsatsein
gelangenden Bilder der realen Welt die Oan^lienzellen dazu, sich zn tLnssem,
so beznohnen wir den auf diese Weise in ihnen erregten Trieb als den
Willen. — „Dnd der Wille wird entweder zur That oder znr Handlung"
IS. 26). Die Binde ist nicht nur ein Spiegel nnd nicht nnr eine liebt- nnd
tonenipfindliobe Platte — sie ist aach ein selbstachQpferiBches Organ. Es
ist ebenso die Sgentttmliohkeit der Oanglienzelle der EUnde, geistige Bilder
TlenalJahlMbrlft t. wiaaeniobaftl. FliUoioplii«. XZTU. 1. ^
d„:,ip<.-jm,C00<^Il'
82 August Diinges:
xa produzieren, vie es eine Eigentüniliofakeit des BeniBteinB ist, elektrisdia
E^fte zu erzengeo, . . . der Drüse, zu seceniiereD, der Niere. Harnstoff,
-der, MagendrSsen, Lab zp bereiten aus ganz deoselben Materien (S. 36)i
Die Oanglien Zelle siebt' uod hürt im wahren Sinne des Wortes and nicht
nnr das was Auge und Ohr im Wachen ihr zutragen, BOndero anoh noch
das, was sie, während die Sinne ruhen, an Oesicbls- ncd Oehörphaenomen
in itiram eigenen Eörper hervorbringt und scbliesslich aaoh das was jede
andere Ganglienzelle der Rinde scbaSt (intra-gangliijae Nervenvennittelongen
8. 29). Wie der rahende Hnskel, so ist auch die ruhende Hirnrinde noch
.iuaotiv" thätig. und darauf ist der Traum zurückzuführen (S. 38). Die Em-
fifindnng wird erzeugt dnnih die intramolekulare ErBohütternng der Osng-
iensubstani (S. 40). Einen Willen bat der Mensch nur im wachen Zu-
stande, die Ganglienzellen erzeugen elektrische Ströme, welche den Willen
unzertrennlich begleiten nnd physisch ansführen, was er seelisch intendiert
(S. 44). Als psychophysische Prozesse werden die bei seelischen Erregungen
zu beobaohträden Vorginge an den Blutgeßssen, Speichel- und 8chweiss<
drüseu beieichnet. Diese Drüsen werden bei jeder Erregung auf beiden
Seiten zu gleicher Zeit in Thätigkeit gesetzt (S. 50). Während die bisher
erwähnten Funktionen allen Ganglien der Grossbimrinde in gleicher Weise
znkonimen, giebt es noch spezielle Funktionen, zu deoeo sich bestimmte
Gruppen von Ganglien zusammen ordnen, welche als Seelenfelder der Oross-
himriude zu bezeichnen sind (das SeelenTald der Bewegung,, des Sehens,
des Hörens, des Schmeckens und des Hiechens). (S. 52). Die früher ao-
genannte „Sehsphäre" vermittelt nicht nur das seelische Erkennen des Netz-
bautbiidee, sondern auch die Muskel- und Drüsenronktion und selbst die
Emähmng des Auges. Ebenso weiden anch die secliaehen Substrate der
andern Sinnesorgane nicht Felder abstrakter seelischer Funktionen, sondmi
die anatomiechen Seeiensubstrate dar einzelnen konkreten Organsysteme
sein (8. 77). Aas der Leistung aller Spezialseeleu ergiebt sich die seelische
Oeeamtkraft des Individuums, die individuelle Oesamtseele.
Soviel des Interessanten das Buch auch enthält, so leidet es doch
erheblich unter einer fcrtwUrenden Vermischung des Physischen und des
Psychischen, während eine scharfe Trennung dieser beiden Gebiete, sowohl
die Verständlichkeit als auch den wissensch^iehen Wert der Arbeil ge-
wiss nur erhöht hätte. Ganz schlecht ergeht es dabei gleich im Anfange
dem Gedächtnisse, welches Vf. geradezu aller seelischen Valenz entkleiden
möchte. Der bereits zitierte Vergleich mit Phonograph und photographisoher
Platte ist im Orunde recht uozutreSend. Abgesehen davon, dass Vorgänge
im Körper, die dem Gedächtnisse korrespondieren, nicht physikalischer,
sondern biochemischer Natur sein müssen, so ist das Gedächtnis selber uns
in erster Liole der Begriff für die Thatsache, dass (innere) Erfahrungen siofa
vriederholen können. Man sollte daher sctüiessen, dass überall da, wo raan
Gedächtnis annimmt, das Vorhandensein von Erfahrung und infolgedessea
auch ein Subjekt der Erfahrung vorausgesetzt weiden müsse. Das Gedächt-
nis kann nur festhalten und reprodazieren, was bereits geistiges Eigentum
ist Es reproduziert zudem nur eigene Gedanken oder Vorstellunpen, nicht
etwas, was im Gehirn eines andern als Bild oder Schall wiedererscbünt,
wie bei jenen Apparaten. Wie könnten Eigenschaften, und zwar auch
geistig, vererbt, wie in der Form von Instinkten komplizierte Verrichtungen
auf die Nachkommen übertragen werden, wenn das Gehim des Neugeborenen
«ine „apsyohisohe Masse" wäre? JedeoMls unterschiede es sich aber vom
Phonoeraphen dadurch, dass es Eindrücke reproduzierte, die ganz andere,
in vielen Fällen schon nicht mehr eiistierende Gehirne (nämlich die der
iM,Coo<^lc
Adamkienicz, Die OrasabiniriDde üa Organ der Seele. gg
Torhhren) aufgenommen hatten. Welche AtifTasBang sioh Tf. äberhanpt
von den geisttgen Vo^ngen bildet, wird am besten belenohtat darch die
Bebanptang, die Oanglumzelle der Rinde prodaziere geistige Bilder, wie
£. B. die SpacheldrüBe den Speiohel secemiert. Körperliches und geiatiges
wird also xneinander in dn VerhAltnia von Ürsaolie und 'Wirkung gestellt
Diee sei nur heiroi^ehoben, darüber in diakutieren ist hier nicht der Ort.
Die Heorie Nissls, welche das Nenropil (fibrilläro Substanz) als Trtget der
DervöBen Thätigkeit ansieht, htktte eine Erwähniing Terdiant. Bei der Ab-
handlung der „psfchophysischen Prozesse" durfte die EjpeThidrusiH nni>
Ateralis nicht vergessen werden.
Horo bei Detmold. August Dühqks,
Bllharx, AlfoDS, DieLehre vom Leben. Mit 32 AbbilduD-
gen im Text. Wieflbaden, J. F. Bergmann, 1902. 502 S.
Der erste Teil des reichhaltigen, fesselnden BacheB bringt eine za-
saaunen fassende Darl^nng der von demselben Terfosaer herrührenden
.JIIetsphjBik als Lehre vom Tarbewnatitea''. Den Ausgangspunkt bildet ihm
das „oogito ergo sum" des Cartesiaa, Nur im Sein des eigenen Denkens
ist die absolata Position zum Vergleichen des Seins mit dem Gedachten,
also xnm Erkennen der Wahrheit gegeben. Nur als subjeotive SainsgrösBe
kann das Ding an sich auf ein Bewusstsein bezogen ('=' erkannt) werden
(S- 4). Das gesamte objektive Erkennen ist nur formales Erkennen, zur Er-
kenntnis des Inhalts branoht man aber nur das zeitlich formale Denken
anfzngeben, also nnr das Denken (rechtwinkelig) in den Baum zn drehen
[S. 22). Dabei wird die Gültigkeit des von der Zeitbedingiing abhängigen
Satzes vom Widerspruch anfgehoben und es können kontradiotorische Be-
stimmnugen wie im Banm gleichzeitig giltig sein. Aus unserm eigenen loh
können analytisch Sein nnd Denken, Inhalt tind Ferro gespalten and in
Gestalt gleich grosser RectangnlordimenBionen, also als Quadrat, wieder ver-
einigt werden. Sein steht auf Denken, Inhalt auf Form aenkreoht, da
Beoiangularit&C nur der Ausdruck des Gegensätzlichen ist. Dem synthetischen
urteil, dass ,,anBer Sein begrenzt ist", strebt alle Erkenntnis zu, aus ihm
folgt die ganze deduktive Metaphysik (S. 30). Begrenztes Sein ist Setos-
gröese. Seinagrösse wird Kategorie der Grosse. Begrenzte Beinsgrösise hat
Oegen-Seinsgrässe. Joder Begriff hat einen Gegensatz (S. 36). Der icgisohe
Ideatitfttssatz A :^ A verwandelt sich in den metalogiscben Enantialsatz
(-|- A) = ( — i). So stellt sich hier eine dednctiv ans der Metaphysik
hergeleitete synthesi tische Logik der gewöhnlichen analytischen oder zeiüiohen
Logik gegenüber; ebenso der „höheren Anaysis*' der Mathematiker die
phUosophisohe Disziplin der „höheren Syntheais". Rationalistisch falsch ist
der Begriff einer Grösse schlechthin, die vielmehr immer gegensätzliche
Grösse, also mit einem Vorzeichen begabt ist. Die inatbemaiiachen Axiome
sind ans dem metalogischen Enaiitialsatz abzuleiten.
Im Objekt ist die Entgegensetzung von Sein und Denken in dem
Gegensatz der vorbewnssten, also dem Sein angehangen EmpBndung nnd der
oacbbewuHSten Eisoheinung enthalten. Tritt Denken anf, so wird die Subjekt-
Objeküelation im Bein zur Subjekt-Objektrelation im Erkennen; das gesamte
sinDliohe Erkennen beruht auf einer Gleichung zwischen EmpGndangsgrösse
nnd VorsteUnng vom allerkleinsten Lebewesen an bis hinauf zum Mensoheo,
d. h. bis zur Umdrehung dieses synthetischen Denkvorganges in den analy-
iM,Coo<^lc
84 Aagnst Dtttgas:
tiMk€it der meoMbliahu 8prM)tb^nCBtilldaa|. Dlrskt nn ll«ta|ik]'sisdie&
ftkit dia EmpfiadiiBg, dio aaoh Seiiwfoni [„Fonn>It)liaIt"] ist
Die Fiolegomena HoUieaBen mit einer einfceheadea DsrlegnBg dw
Bedantong Eants, Schopeuhaneis, Bdnaid von Harbnanoi and Vundta für
die Philaaophie.
Der 2. Teil behandelt die Lebre TOm üarisofaeii Veisttnde. Di«
Natorftnohnng kommt ohH lletftph7<ik nidit au; es i>t ein Irrtum und
Ü«bei;pi9 der Natorfotsobar, wenn eia die Leben [„ftotogie"] ai^wdilieeelliill
für ihre Prinzipien in Anspmcli nehmen. Leben, das an eine« bettüuMitaB
Punkte softrilt, kann nur eine bestimmte Phase im Laofa dnai nnendlidien
Entwickelung, nichts Nenes, d. h. es musa überhaopt von Ewigkeit her toi^
banden sein. ChsrakteristiBob für den Beginn des Lebens ist das Hetwie-
treten der Seinsform des Denkens ans der aUgemainen Seinsfonn des Sohopen-
baBafScban Woüena: Der reoeptlv-nefiatiTB Vorgani dee EüiwtTkaim<bkH«afl
wird durch BeiiehuDE auf einen gemeinschaftlichen Mittelpnnkt Em p fi n d an jb
bavQSst, «ml dnrefi ümstfilpnng der Kettrlnmlich-^oalitafiTan Empfindnag»-
dalen. oder durch die SpontaneitAt, Aotoalitttt, foeitivitkt des Dwkana lor
Yoratallnng (B. 213). Wo das Prindp des Labans oder dia Saala als
ganzes, als outeilbare Einheit, als pnnktoalla latansitit in Betraeht kommt,
da ist sie Oegenatand der Ifetsphysik, metaphysiBotLer Beinsinhalt, WeltUUfte.
Die Fbjsiologen kennen das Leben nor in seiner Zereliederiug and Zec-
splitteniDg in die Brsoheinongen ond gelangen auf mrem pltj-sikaliscbeo
Wege niemals 2am BegtifTe das Qanzua (8. 22ö). E^ne meohanisehe Biologio
ist ein Widerspruch, eine TitaUstische eine Tautologie, die unnötig wird, b»>
bald Jena au/gegeben ist (S. 3S6}. Eraft gehurt zu Uatarie und iet wie
diese ein phräi^isoher ß^riff. Uetaphyaik kennt nur Inhalt nnd form.
TircbowB Satz: „Omnis oellola e oellala" ist, da ar den TJneDdliohkeits-
b^riS in sioh scbliesst, ein metaphysischer Satz (6. 236). Die philoeopbisohen
Anscbanangen Darwins, Haecketa, Dnbois Heymonds nnd Jobannaa HüUers
werden in diesem Teile eingehend erörtert nnd kritisiert
Dar 3. Teil bebandelt die Lehre Ton der mensohliohen Temnnft nnd
zwar laerst von der theeretiecben yemonft, dem Ternfinftigen Denken, so-
dann Ton der praktiecben Vemanft, dem Terafinftigen Wollen. Die Amoeb»
ist als der tiergewordene Protist im beeonderea anzusehen (8. 24fi). [Es
giflbt doch auch amoeboide Fflanzenzellen wie die Plasmodien der Myxomy-
oeten. Ref.] Beim Zellenstaale, in welchem dorab Arbeitsteilong der
Bewnsstseinsmltlelponkt in eine zentrale Zelle gelegt wurde, handelt es sich
um etwBs dem wirklioben Staate Identisches nnd beim Staate flberlianpt ala
Einheit dar Vielheit am einen metaphysisoben Begriff. Nur das Nervan-
system macht das tierist^e Indindonm ans, die Grenze des Babjekts ist di«
Empfindongsgrenie: alle aooeesoiiechen Organe gehören streng genommen
dem Ob}ekt, der Anssenwelt (8. 247). [Dieser Satz ist bedenkliob. Di»
Vorgänge an „acoeBsorisohen Organen'^ kgnnen, wenn daselbst ätBrnngen
eingetreten sind, ebenso mm Bewnsstsein kommen wie Beelntttobttgangeii
einesTeiles des „Nervenetaates". Btömngen im motorischen und Qjropatlusohen
Nervensystem können eintreten ohne lom Bewusstsein zugalaogen. Stömngan
von „aocessorischen Organen" können ohne Uitwwkung von Empfindung
nerven, indirekt, etwa durch Intoxioation, Fieber u. der^. das BewnsstsaiB
alterieren. Kef] Als die das centrale oder höchste BewossteMn ttagend«
Amoebe, die als Sitz der Beele angeaprochen werden kann, wird eine Zelltt
im rhckwertigen Teile der Hyponbysis vermutet (S. 260). Der weemtlMli»
Unterachifld zwischen Tier nnd Hensoh liegt darin, dass sich xu der synlha*
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
Bithsrz, AlfoDB, Die Lsbre vom Leben. gg
tisetan, tienaoh nsnlioben, inteftnloo EinitUtiRk«it eine ftnalytiiohe Thktig-
Ut der Di&BrwtiBtiiMi, die «n d«a Beüti der Spnobe geknäpft irt, goa^t
(&86^. Aar die Frag«: wie kannen Seele uid LMb eins mib? ecfoQt dia
iBtwQit: hNu «le dte Twbnodeaen Oegefuilia Inhalt nod Formr ria
Xooiniiaa de« Qoidnte, Cnlieit einer enantJAlm Zweiheit, also ein metal»-
paak dnalistisobar MonismiiB, sehr TBiBchieden von dam Honisiniu d«-
Nitorfinsoher (B. 268). Inti^nl- ond Differentislbegriffe Btehen im Ter-
bUtnis Ton labalt und Piani, nnd Abstrakt», wenn aie richtig gebildat, d. b,
wann tie von den Eoakretje richtig «bdiffereniiert worden sind, inneean tat
diesen Mokrecbt atehen Der Irrtum übeHuivpt entbSlt ein Akms, du die
Begiilb tMB der Biobtonf abcadiiogea sai^t, «md tranaTerauen Zog, nnd
wird dtbier im aUgemeinM nls Trxnavetsismna beaeiobnet (8. SlO). InüQD
iat intwüMdiarar TransTeisiBinna. Oeanuder OeJateBEnatand iat dann tot-
kandan, wetin nicht nur die einntnen Begiifta, aondein die geaamta Tot-
^UnngBinaBae derFOhlapUre eineisiüts and derABSOziatioaa- [=» Abatraktitna-
•t<klrel «ndereiseits, ftlü diem aelbrt, mit eioander im Gleidigewifdit stehen.
Aiifeineananil)rliahere,BioliiDmTeilaBErae^linaBSiAlieaBeDdeBrMttiiag
dar f^cbcsen kann hier nur hingewieean «ndeo. Terf. behandelt alsdann
die EntTiekelongiKaaohiohte der menaobliohea Verannft als Knltnrgaeohidte
der MeoMblieit Die Orienttden hatten alles ia Fülle: Tiabinn, Phantaaie
nsd BagiboBg, m fehlte ibnen aber die logiache Oeradlinigkeit, welche die
Oriedian bewoaet, nnd die BaotmngnlaritU, die sie nnbewnsst tr.eben. Der
Ken de« ChriatentoDis, daa Qebot der Nlahstenliebe ist der n ach anssao
gewandte Aeketismna, in wddiem der dem grieohisoben Oeiate bemde,
negativisofa* AaketiKniiB der Orientalen auf eine positive Formel gebracht
wurde. Seitdem besteht inneibalb dee Chriatentams ein Kampf awiaohan
BoBanismna nnd Genuaiiismua, zwisoben riimieiAem Formalismus und ger-
maniachar Inhaltlicbkrit Dem dentsoben Ojmnasiuni weiat Vsrf. die An(-
gabe EU, dis idealen Zirie der Menecbiieit weiter und weiter sca stecken (S. 876),
jedoch steht ei dam lIAdohengrinuasiani nnd der modernen Fraaenbewegnng
äbeibaapt im allgomainen n^t aympathiach gegenüber. Mann ond Weib
Bind ^eidiwertiga Oegenafttze |-|- a ^^^ — a|, nnr beide losammen bilden den
Begiffi Hensob (S. 388). In der Aesthetik (B. 395) behandelt Verf. laerat
den Begriff der Zweckmässigkeit, dann den des Sohönen. üraaohe nnd
Wirkong ist ein zeltliches Verhältnis zwisoben Forni nnd Form, die Zweok-
beiiebnng dagegen ist ein zeitliches TerbSltnis zwischen Inhalt und Form
lä. 399). B« der tdeologischan Betraobtnng ist von einer Kette von &-
eigniasen oiobt die Bedoj vielmolir wird der Vo^ang in der Gegenwart als
ganz frm nnd unabhängig von jedem vorher beginnend gedacht Teleologie
seist also DnbwHngtfaeit rorans, daher einen Beinsiobalt oder eins Walt-
hUfte, deren Attribut die Fieibeit ist Bas Sohäne nimmt eine vermittelnde
SteUnng swiaohen dem rein Sinohcben and dem Erhabenen ein <S. 408).
Die Miithetitaha Vontellnng ist eine vollkommene Einheit der integralen
nnd diS«teiiti>len Toratelinng. Wie das bei solohen Gegensätzen müglioh
ist, ist logiaofa nicht zn verstehen, wohl aber metalogtsoh [8. 415). Die
Lsiire vom vem&nftigBn Wollen beaoh&ftigt sich zuerst mit der Ethik. Daa
cbHste Srinqcesetz ist daa Gesetz der Erhaltong der Einheit in der Vielheit,
dar Kooatiuu in der TsriabilitAt, der ünbedingtheit (Freiheit) in der Be-
dingtheit (8. 4S8}. Dieses „etbophysiscbe Gesetz" herrscht dnroh die gai^>e
Natnr. Dm «irentliiAe Problem der Ethik ist die Beantwortnng der Frage
wis ans dem fitlicphyalsohen ein Etliopathisohee werden könne, also daa
PreblNn des Urspiai^ des Bösen (B. 42&). Das Tier kann niobt etho-
palhiMh handeln, wal aooh die BUdang aller aeiDor VorsteUnngen dem
ethopbjsiacheii Gesetz gehorcht Erst beim Menschen wird es durch die
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
gg Leo Haiiaohenbach:
Bildaoe Abstrakter Begriffe möglich, dass innerhalb derselben B^iifisfonn,
K. B. Pferd, zwei versohiedene Inhalte gedacht werden, von dcDen nur der
eine dem ethophyaischen Gesetz gehorobt, der aadere also falsch sein mnss.
Die falsche Torateliiing zwingt das Wollen in eine ftdsohe ßiohtang, damit
ist das Böse in die Welt getoinmen (8. 42?). [Kannen nicht auch Tier«
pejchopatbisoh weiden, z. B. ein wntkrankei Hund, der anch seines Herrn
nicht schont, dem er sonst treu eigeben war? und ethopathisch, z. B. die
Katze, die erst aehmeichalt, dann kratzt? .Ref.] Well der Hennoh ein
Doppelwesen aus Vernunft und SionliabVeit ist, mit doppeltiin Willens-
inobven. so geht bei ihm der Begriff der natädicben, oniverseLen, inetB-
phjsiBchau Freiheit in den der sittlichen Freiheit (= gut) und den der
sittlichen Unfreiheit (^ böse) auseinander. Das Böse müsste durch die
Ternnntt ans der Welt henmsgebracbt werden, wie es durch Vemnnft hin-
eingekommen. Eiue Abhandlung über Nietzsche als Ethiker folgt dem idU
gemeinen leil der Ethik.
Das Bnch sohliesst mit einer kurzen Oeeellsohaftslehre. Im Individanni
ist daa oäuze Träger des Bewasstseins, im Staat der Teil. Dar Btaat ist
kein sittliches Individuum, sondern besteht ans eolcben. An Stalle des
Siltengpseties tritt das Recht. Im idealen Sinne fallen Becht nnd Sittlich-
keit zusammen, in Wirklichkeit nie. Daher fordert das irirUicbe Leben
obe Ergänzung, das Recht des Starkem, das sich im Konkurrenzkampf und
Kriege zur ueltung bringt Vielleiobt werden, wie sich deretDst die
Menschen zur Einheit des Staates vereinigt haben, die Staaten eich anter
der höheren Idee der Menschlichkeit zusammenfinden (8. 602).
Die Urteile, welche Vt. über andere Philosophen und ihre Systeme
RUIt, mögen bei vielen Terwunderuug nnd Widerspruch erregen. Darwin
und Wundt z. B. werden untentchatit und nicht im ganzen CJmfange
ihrer Leistungen gewürdigt. üeberPlato Hesse sich streiten. Dodi spricht
so vieles fnr die bereits von Schopenhauer vertretene Ansicht, die ci8i|
Piatos bedeuteten die einzig wirklichen, realen Urbilder der Dinge and
nicht ans der Erfahrnng erst abgeleitete Begriffe, dass eine eingehende
ÜDtenuohnng dieser Frage gerade im vorliegenden Buche sehr am Platze
gewesen viire.
Horn bei Detmold. August DOmqbs.
ImnuBnel Kant BId Lebensbild nach Darstellaagen
seiner Zeitgenossen Jachmann, Borowski, Wa-
sianski. Herausgegebeo von Alfons HofimiuiD. Halle
a. S., Hago Peter. XIV und 442 S.
Der Titel ist irreführend. Das Buch bietet nur im Neudrucke die
drei SohrifleD: Immanuel Kant geschildert in Briefen au einen Freund von
Reinhold Bernhard Jachmann-, Darstellung des Lebens und Charakters
Immanuel Kants von Ludwig Ernst Borowski; Immanuel Kant in seinen
letsten Leben^ahren, ein Beitrag zur Kenntnis seines Charaktere und hins-
lichen Lebens ans dem täglichen Umgänge mit ihm von C. A. Ch. Wasianski.
Hinzugefügt sind nur ein Vorwort, welches vornehmlich Notuen über die
drei Antoren entfatUr, nnd ein kurzes Schlnsswort Ein LabensMId auf
Orund der drei Berichte zusammen zustellen, bleibt dem Laser überlawen.
Der Herausgeber beroft sich auF Houston Stewart Chambarlain, dasa
man „erst den Menschen kennen and lieben" lernen möge, ehe man an das
Studium seiner Lehre geht, der auch tat die drei abgedmokten Sobriften
iM,Coo<^lc
Kult, iDUDauueL Ein Labensbild nach DantalliiDgeii n. a. w. g7
unter knner Wordignsg ihres Wertes hinweist Dia nrapröDglioben Dar-
stelloDgen sollen in ihrer Frische wirken, daher Bind sowohl kiitiaohe wie
erliutemde Zosätie unterblieben; es fehlt aber aaoh jede Terwertnng der
Ergebniese der Eantforsubung. Ans dem nämliohen Omnde sind anoh die
ihröm Inhalte nach onweseutUchen, ihrer Form nach ermüdend wiikenden
Toireden weggelassen. Ob WasiansM'a Schrift beeondere geeignet iet, mit
dem Hensnhen Jant vertraat m machen nnd so ,.iD die Ansohaanngen des
Dentere einen Blick m thun"? Wer Eont kennen lernen will, wünscht
doch wohl den lehrenden, schaffenden Mann, d^n überlegenen Geist zu
finden; Wasianski eohildert den absterbenden Kant, der unser Mitgefühl
hennsfordert, nicht onsere Bewnndernng.
Soll übrigens die „achlichte Oräese dieses einzig von der Idee ertällteo
Leben»" (Treitschke) die Aufgabe erfttUen, „die dentsohe Jugend den ihr
von ihrem Kaiser gewiesenen Weg m führea" (p. KII>, so dürfte eine Gr-
gänsnng nach der Beite des O^hlsmiBsigen recht angebracht sein; das
gebt gerade ans dem Torliegenden Bnohe hervor.
Kleinstnippea. Leo RA.n8CHiNBA0B.
Die selmldliafte Handlang lud Ihre Arten Im Strafireeht
von Max Ernst Mayer, Privatdozent in Strassbai^-
Leipzig 1901 (201 S.).
Die Absicht des Verfasseis dieser Schrift, welche den ganzen Be
griff der achnldhaften Handlnng systematisch bebandelt, begreift sieh am
leichtesten, wenn man das Srgebnisa seiner Bemühungen voranseahickt: Die
vor^tzliche und die fahrl^ige Eandlung treten in den DefinitioDen der
Beohtslehrer als heterogene Scholdarten auf. Die eretere ist strafbar, weil
der rechtswidrige Erfolg beabsichtigt war, die zweite obwohl er nicht be-
abeiohtigt war.
Der Verfasser sucbt nach einem gemeinsamen Moment für beide
SohnJdarten, das einerseits die Verwandtschaft, andrerseits vermöge seiner
Variabilität den ünterachied beider gtrafarten ins Licht setzt. Zngleinh
aber aoU das Moment gefunden werden, das wegen seiner Variabilität ge-
Mgnet ist, als Faktor für den Schnidgrad nnd daher für die Höbe der
Btrafe zu dienen. Der Verfasser hat damit das nene strafrechts-philo-
sophiaohe Problem einer einheitlichen gchnldformel aoTgevorfen
nnd lÖBt es ant folgende Weiae (8. 102ff0
Dasjenige einheitliche Moment, das einerseits das Semeinsame der
Scbnldartan hervortreten lässt, andererseits aber die variabele Basis für
eine Skala der Bohuldgrade (daher der Höhe der Strafe) bietet, ist das
Motiv. Das Motiv ist insofern ein Inhaerens der Strafgesetze, als die
Beetimmungen derselben die Funktion haben, als Qeganmotive gegen die
Willensbeth&tigung zu wirken (mit Schopenhauer) B. 160. Daher liegt
das gemeinsame Moment alles Bohnldbaften Verhaltens (sei es Handlung
oder Unterlassung) in dem Omstande
dass die Torstellnng vom rechtswidrigen Erfolg (ab-
gekürzt: ,V. V, r. E."), welche Gegonmotiv der WilienB.
beihätignng sein sollte, nicht Gegenmotiv geworden
ist (& 151).
Dies ist der gemeinsame .Nenner" aller Bchuldarten. Der Siblei
ergiebt sich, wenn man fragt, warum die V. y. r. E. nicht Gegenmotiv
geworden ist. Daher ist:
iM,Coo<^lc
TortktilioH di« Budlang, wann dio T. v. r. E. deswagm niidtt
QwwmotiT wnrd«, w»il »a HanptmoUv dei lUUin war.
FahrlliBig dia Haadhu^, wamn die V. t. r. B. dsaw^^ nicht
QagflDBwti? wnida, wail rie ftbarbsnpt nitAt vorhanden war fso.
obir^l aifl hltta voriiandea aatn wüera — denn du Oeaalc ver-
langt, daas jadar die Wirknngsn aeiner Willengbethllignns naoh
dam Oadchtepnnkt pHlft, ob sie sich als reohtewidrigs Brfolga
dantallea wardeo).
In dieeeit Weise luBan sieh anoh das leichte Versehen vom Qroben und
der direk e vom eTantnellfln Torsati soheiden und svar dnrdi die Eot-
naetxnog von Hanpt- nud Nebenmotiven, poaitiTen nnd negativen
cegenaet:
MotoieD.
Incwiaoben hat der Tertuser ferner dargelegt, daas das .HotiT* in
■wei Elementfl xeifillt, näraliah in: das .differenzierende" ^= Toistellnng
vom £rfolg (d. h. der Wirkong der Willensbeth&tigniig in der Anesenwalt)
nnd das .integTierende* = Oeffthlaton (i. e. Idotiv im eigeotliahen
Simie ala Öefühl der Bofftanng, Furcht, Halber, Bauhaneht ete.).
Das erstere Element wurde oben ala Kriteriam der Sohnldarten ver-
wandt {hu integrierende Qenient des Motivs ist dasjenige eiDheitliiAe
OatttugBrnoment in dien strafbaren Handlangen, das bestimmend für den
SoknUgnid, daher fQr die Btraffaähe wird. & tdnd aber Verhältnisse
von Motiven cn einander and von Motiven znin Charakter, lum Milieti eto.,
welche den Schuldgrad bestimmen. Diee wird in interewanten Ansführongen
K^ba
EBlegt.
Hier
liermit haben wir die weeantlicban Mom«ite riner noBMi Theoria
gebeo, die nok bIü Motivationstlieorie baaeiohnen liease. um die DorA-
ibrbarkeit dieser Theorie eq beweiaen, war aa aalbetrarstlndlioh Hr den
Verfasaer geboten, die gauEc Theorie daa Btnfreohta, aewait sie dw Be-
griff der eiAuldhaften HaadlaDg betrifft, la daroUanfan (S. 1—101), woM
sich ergiefat, das» sich die neue FormalieruDg an bereits besteheada Stiaf-
raeUathttorien entweder ohne waitetea oder laittelet oioht wesentlicher Mo-
diUatioiiaii ^naalben anpasasD läset Hierbai werden die wiohtigatMi Sttaf-
reohtsüieorieii und KontMvanen unter Bengnahma aaf die Literatur heran-
gaaogaa und der Kritik vntarworfoo. Dieae Auaaiiwndenetsiuigm dea Vw-
taaaeiB mit den hemokandan Thecwien eiadiaiDaa oiidit ttberaU eiBwands-
frai, gaben filnigene abac an diaaer Stelie in einer Beapiedinng im allge-
nelMB keinen Aalaas, wwl sie keine weaentlioh aeneo Oeaohlspuii]|te
enthalten. Soviel darf man indesaan wohl saften, das« die Anatlada gegen
diaae AnBafnaBdenetEOBgMi naht in einer Beanstasdong der Hotivations-
tfawria fShna dttftea. Den Qraod daHr Snda ioh ^rio, daaa tinUofalnh
daa SemeDt der geaetMridrim Motivation sehen den biriiengen Thaotien
an Oroode Hegt, nur daas ee W^er pwisaemasaen sUllaahwei|and ■nataa-
geaetzt ist daher nidtt temÜDOlogisoh ans Lieht tritt. 80 ist i. B. der
Vorsats gar nicht vorstallbar, ohne die VoiMallang der Motivatieo des
Villens (durah die TorateUang vom Erfolge). Dies ist anoh der Omnd,
warum ee dam Verfasser gelingt, mittelat aeiner Thaorie die beidan ein-
aadar widentreitandeB Vorsatztheorien nämlt^ die .Willenstiieorie'
«nd die .VorstelluDgatheotla" zu vereinigen, 3. IMff. Denn der Vorsatz
ist wedar ab bleaaet Wille oedi eine bloaee VorBtellang, aendem ist der
durch die Voretellaog vom Erfolg geleitete (also motiTieite) Wille. Sahen
diaa« eine Folge der Theorie des Vartaaaera, darah weidie d. E. eine theo*
retnobe Eentroveiae aotgultig entaehiedan wiid, giebt dan Bewaia Kr die
Bedeutung dieser Motivationstheorie. Unter allen Umatftnden hat sie die
n,g,t,7i.-JM,.COO<^le
Vmjoi, Die sctmldhafte HkndlnDg osd ihre Arten im Strafreoht. gQ
SsdeBtmg uner neuen AnKlyH der Btivfreohtsbegriffe, we(ohatheoretlsoh
im hSchsteD Orade kUreod nad anr^end irirkea tnosa.
Ob die HDS Umtm praktisch biauohlMr bsib wird, dfiifta riier m
vacneiiieii sein. lUn kaoo Dlmlish auob in dar AnalrBs wMter galMo, als
SB du Badürfnia i«t Praxis fordert nad tuliast Ea fiedet »ioli vielfach,
itea rieb mit znaammengesetztea bekannten Begriffea Iwohter operieren
lisst, als mit ihren Siementen. So haben die Begriffe gTorBati* und
,fthTitta»jfkBit' etfaieohen and nicht bloss rein raohtUobaa Charakter.
Etfaisohe Begriffe Bind es aber grade, in denen sogar der gemeine Verstand
«ich aqh letohteete orientjert, me denn überfaanpt der peyobolagiBohe Weg
von inoeo naoh anssen (vom Willen lom Erftd^) leichter faaebar iat, als
der vom HoÜt inm Willen. loh glaube, man wird mir hierin Beoht geben,
wenn man die Motintionaformeln des Verfasaera la dorohdringen sidi be-
mtUieD will. Anaseidem könnte die Frage aufgeworfen werden, ob nicht
hier anch die Verein heittiohnng in weit getrieben ist, d. h. ob nicht Sohold-
arten, die absolut heterogen sein könnten (Vorsatz und Fahrtasaigkeit)
flUadilich als blosse Stufen der Schuld überhaupt dareestallt werden.
Jedenfalls aber bleibt die Anregung die Stra frech tsbegrif^ vom Oesiohts*
punkte der Motivation anii n kontroliereD, sehr bedeutend und verdienstliob
Atuäi darin ist dem Tartasssr beiinstimmeD, das« die Hotivationa
thaorie darauf hinletteo könnte, eine ^^eueine Theorie der Strafinntessnu
in Anlehnung an die Ergebnisae der Enminologie eq ermögtiohen, obwoh
«i sich hier selbetveratiUidlloh nur darum handeln könnte, den Btrafriohtei
zu belehren, auf welche Motive und TJmatände er bei der Btrafsumesanng
die Aufmerksamkeit lu Inkan bitte, nicht aber daröber, welcher Bohnld-
grad in oonoreto voriiegt; denn in dieaer Hinaieht ist eine BohematJsierong
naefa einw kontinnierlichan Skala bei dar vielseitigen Verachiedenheit der
FiUe all unmöglich an enujhten.
Von den grundlegenden Iheaen das VerfaaaeiB ist hier nur nach
eine bervorsuheben, weil sie neu und von allgameinsrem phüoBophisobain
Intereaae ist. Sie betrifft die Frage der Verantwortlichkeit und daher der
Freiheit. Der Ven'aassr ist Anhinger dos Determinisuas, sieht aber ein,
4a88 das Strafreoht ohne die Voraussetzung des ladetermtuismus fiberbanpt
nitdLt EU halten ist Daher hült er die Determiniertheit des Willens feat,
verwirft dieBealit&t der Freiheit und stützt sich nur au/ das durah kein
Mittel SU beaeitigende FreiheitsbawuaatseU. Diesem Bawnsstsein
scbreil^t er wnea eigentüniüofaen motivierenden Wert an. Ea ist ihm
ein Faktor, welcher verhindert, dass die VorstsUnng der Determiniertheit
daa Willens Motiv des Willens wird. So gelangt er an einem Koalition»-
sjatam in der Formel: .Die Meusohbeit iat lum ladeterminismos deter-
Duniart."
Diese Theorie ist geistvoll and blendend, aber n. B. unhaltbar. Zn-
■dobst ist in der Formel der Terminus , determiniert" in ebiem anderen
als dem teohnisohon Sinne gebraucht (als höhere .Beetiminang" der Mensch-
beil). W^ er im Sinne der Katordetermtuation eebranoht, so würde er
u iBesem Rinne den Begriff ilndeterminlsmuB" totu anfheben. Ferner iat
die originelle Voianssetzung, dass ohne das Freiheitsbewasatsein die
Voistwnng der Determination motivierend wirken wurde (diese Vorstellung
als Motiv heiast: „Fatalismus"}, nicht zu begründen, da dieee VorataUni^
ala bewurte Oberhaupt »ieht vorhanden zu selubrauohte, damit
wb handeln köimen. (ü. E. ist s überhaupt nur dsawagra iaolierter
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
90 W. Henien:
QegeaBtaiid des Bewnsstseius, w^ sie sam Freifaeilabevassteein in Qegen-
eatE tritt>*>.
Wii Bchiieseen unser Beterat mit dem Bemerken, dass die Aos-
fütmitigen des Vertaasera überall lebendig, Uar, pTSgnant nnd vieiTaoh geisU
voll und originell sind und bedeatende AoregiiDgen geben. -
E^sen. E. Mabcüs
Alfred Knehtmum, Maine de Biran. Bin Beitrag zur
Geschieht« der Metaphysik und der Psychologie des Willens.
Bremen. Max KOssler. 1901. 195 S.
Mit dieser Arbeit wird uns in Deatsobland die erste monographisohe
Würdigung eines Philosophen geliefert, der iu Frankreich nicht aufgehört
hat, die Geister auKsIegenthch zu bescii&ttigen, seit Tictor Cousins Herans-
gabe seiner Schriflea und seit den Bem&hangen eines Navills, G£iuj{d u. s. w^
um das Teratändnia seines Sjrstems. In der That ist die Philosophie Hains
ni BiBANs wohl berechtigt, unsere Aufmerksamkeit in eingehenderer Weise
EU beschäftigen, als dies bisher bei uns der Fall war. Er hat zum ereteb
Male das Problem des effort vonla in seiner ganzen Tiefe erfgast; er hat
mit allem Nachdruck anf die Schwierigkeit hingewiesen, die sich ergiebt ans
der Beeinflnaanng des ESrpers dnroh den menschlichen Willen, welche in
der MnskelbeweguDg zum Ausdrucke kommt; er hat den Beffriff der Kraft
aus diesem Verhältnis des Willens zur Körperbewegung abgeleitet und den
Versaoh gemaoht, auf diesem Grunde das Gebäude einer eigentümlicheo
Metaphysik zu errichten. Wenn ihm diese Aufgabe auch nicht geinngea
sein mag, so sind der Tergleicbspunkte unseres Philosophen mit gleich-
zeitigen und nachfolgenden Denkern doch so viele, dass schon aus diesem
Orunde die nähere Betrachtung seiner Ansohaunngs weise lohnend und lehr-
reich genannt werden muss. Insbesondere Ist es die Philosophie Arthur
ScuoFENHAUEBB, auf die von Biran ans neues Lioht fällt Beide setzen das
Grondweeen des HeDscheo in den Willen, in durch Selbstbeobachtung er-
kannt wird, Maink dr Bibaj« kommt aof diesem Wege mittels Analogift-
Bohlueses zur Erkenntnis dessen, was wir als die in der Natur wirksame Kraft
bezeichnen. Schopenhauer geht noch einenSchritt weiter, indem er dieser
Kraft dasjenige Prinzip unterl^, das wir in ans als Witloa erkannt haben.
Die oben erwähnte Schwierigkeit, den EÜnfluss des Willens anf den Körper
zD erkl&ren, glaubt Maine de BnuN freilich selbst nicht gelost zu ha1>en. Er
konnte dieses Ziel aooh nicht erreichen, weil seine Anschannng des meosoh-
liehen Wesens eine dnalistiscbe ist Der Einfluss des Oeietes anf den
EÖrper wird aber um so unerkl&rlicber, je tiefer die Kluft ist, die beide von
einander trennt. Wenn man hingegen auf monistischer Grundlage ateht,
wenn man Geist nnd Körper für Begriffe hält, die nur emer einseitigen
Auffassung des eiuheitlioben Men sehen wesens ihren Ursprung verdanken,
in welchem der Geist ebenso mit dem Eorperliohen verbunden ist, wie der
Körper nioht ohne geistiges Leben gedacht werden kann, so schwindet aucb
die Schwierigkeit, die Kluft zwischen beiden zn überbrüokon.
KuEHniANNhatdiePhilosophieMAiKBDEBiRANs von den verschiedensten
Seiten aus beleuchtet, er bat sie in Znsammenhang sebiaoht mit dem
Strome der philosophiegesohichtliohen Bewegung, ihre Orundbegriffe ent-
*) Zu wünschen wäre, dass der Verfasaer tiefer in die Aosfährangen
Kants eindringe, namentlich in die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL'
Enehtmann, A., Ma Beitrag zur Oesohidite der Hetaphjaik d. s. w, 9X
wickelt and allee bis jetit vorlie^iende Hateria! RSwisienliaFt verarbeitet.
Naoh einer aUgemein orientiereiiden Einleitung wird das erkenntniiitlieoretisohe
Problem und das Problem ine Willens formuliert. Das Verb<nis der
PhiloBophie Bnu^s znm Sensualismos Condillac'» und zn LAKOuaDiiit^
DcSTUTT Ds TiucY uid CsAiu.EE BoKNET wifd erörtert, and nach Entwickelang
der Theorie dee effort doula werden die AnkaäpfnnffSpankte berührt, die
BmiK für diesen BegTiff and für den Teisocb, den Eaosalbegriff ans dem
Wollen abznleiten, bei den engUsohen Philosophen , bei I^ibniz, Kakt,
Fichte, Scheluno, bei den Philosophen der Berliner Akademie and bei den
Physiologen gefanden hst. Ein weiterer Absclmitt behandelt Bikans Psyolio-
logie, Erkenntnislehre, Hetaphysik and Ethik aaf dem Ornode des effort
TOuln. Ee folgt eine Biographie, ein Abschnitt vber die Uterator ober
Hohe de Bisa:« in Frankreicl], über Beine Beorteilaog in Blngland und über
sein. VerhAitoia zo Sciiofenhaveb oad Wunst. Endlich wird Bibans System
einer besonnenen und durchaas parteilosen Kritik unterzogen, und in einer
Sohlaasbetrachtung ISast ans Euebtmann einen Bliok in dss Ganze seiner
ngsnea Veitan Behauung thun, in welcher antOrundlage der ScHOFENaiuEBSchea
Fhiloaophio der Pessimismus zu überwinden versucht wird dorch die
Tendenz, dasOesetz der Kausalität mit dem der Zweckmässigkeit zn vereinen.
Lieipzig. W. Hrhzeh.
MSblOB, F. J., Stachyotogie. Weitere Termischte Aufsätze.
Leipzig, Job. Ambrosios Barth, 1901. Till und 2l9 8.
4,80, geb. 6,00 M.
Dem Andenken Q. Tu. Fiohneeb ist das Buch gewidmet, zu seinem
hondertsten Oebortatage hat der Verfasser diese .Aehrenless" veranBtalCet
Lsn^aam, aber siegreich, meint er, werde Pech.vbr8 BinfiuBS wschsen ond
«chlieasVch werde seinem Oeist die Herrschaft werden, die iiun gebühre. —
Die zwölf AuMtxe, die das Buch enthält, sertallen wesentlich in drei Gruppen.
Die beiden ersten, je drei Oespräobe über Metaphysik und über Religion, ent-
wickeln die Grundgedanken des Meisters in populärer Weise. Darüber hin-
BOBgehend stellen sie die Haltung fest, die der Verfasser selbst einnimmt.
Ohne HetaphyBik kann man nicht leben, aber die echte Metaphysik mahnt
zur Beaeheidenhejt. Zart and mehr in AndeutuDgen möge von dem geredel
werden, das seiner Natur nach unsei Verständnis überateigi „Das S:r^tem
auBEubanen", seine W&nde sozossgen mit plumpen Definitionen zu bekleiden,
scheint ihm ein Verstoss gegen die Sohamh^tigkeit des Denkens zu sein
tS. 27.) Aber obwohl sie nicht von Anfsng and von Ende reden soll (S. 36.].
ist sie doch eine rechte Stütze, weil sie Demut und Vertrauen lehrt Auf
Gott vertrauen und nach bestem Wissen und Gewissen handeln, ist das
Einzige, was ans ziemt. (S. 30.) So glaubt er denn vom Ctuisteatume, dass
nicht daa Dogma das eigentlich Durohschlagende war, sondern die Erfahrung,
mn h^mmee Leben, d. h. das Leben eines Menschen, der von sich sagen
kann, dass er nicht mehr sich selbst lebe, mache glücklich [ß. 46.). Die
Selbetverlengnung aber setze das Mitgefühl voraus, die Erkenntnis, dass wir
ESns sind mit allen Wesen, mit der Welt. Daraus ergebe sich, daas wir
uns in der Welt wiederÜDden müssen, dass Das, was unsern Kern bildet,
auch im Herzen der Welt wiederzu^deu sei, dass somit ein Gott vom
rtdigiösen Gefühl gefordert werde. (8. fiO.)
Eine zweite Gruppe von vier Aufsätzen hat das Gemeinsame, dass
litetaihiatorisohe und ütterarisehe Themata vom Gesichtspunkt des PsyohiaterE
anabdiandelt werden, JeaN'Ja()ue3 Boüsssac'b Jugend geechichte, die Krankheit
iM,Coo<^lc
92 Dr.Hax Offner:
OoeracB in seiafli Ldpiigw StadentooMit and ihre Baurtailuog daroh dw
Qy^UologSD W. &. Pbeukd, dJa Hailoug dei Orest. Den drai A.iAUHn
mrana Mspridit ein vierter fiber Pa^hiatrie und Litteratargsschicfat« die
PrioifplMi der nonan BehandlnngiirMBa. nünBitrtgtioh ist es iq reden,
wie PlillotogeD and andere Höohwgdehite aber Hansoben ood Hudlapgen
aburteilen, obiw n ahnen, daas dun mehr nötig ist, ale das Moralisieren
und die laDdilofige UensobeDkenntnis. Dem Ante moas sein Recht werden
er mau tbarall gehört werden and er wird ea werden, lobatd aein Drtml
höieaswMt ist." (S. 66.)
Die dritte (imppe von diesen AaMtzen, aingeleitet duroh ejae Ab-
handlDns Aber das wödinm der Talente, behandelt weiter die Vererbung
künati«faalLei Menta, ÜnteracJiiede der Oeechleohter, den phjsiologisahen
Scbwaeh^n dea Weibaa, die Bntartang nnd wird beschlossen durah einen
AnlwtE Aber Massigkeit und enthattaamkeit. Der leOte Aotsati verteidigt
mit OMok die Haltung der Mttssigen gegen die Usbertraibungen und zeloti-
echen Angriffe der Abstinentler, der Aufsatz über den phfiiologisoheu
Sohwaehainn daa Velbee, seit Jahren ein Stein de« AnstoaseB für alle
Fntuenreohtler, bietet doch der AnlKase tum NaohdenkeD genng, um die
hochtrabende und gehissige Behandlnog nicht za verdienen, die ihm aas
jenen Bereisen lu teil geworden ist Wer seinen Ansfährnegen sioh niobt '
gmndsitzlich versohliesst, wird in der vorangehenden Btudie mancherlei
finden, was in derselben Rjohlang sieb bewegt, der JUaogyn wird aia out
"Vl'ohl behagen genieaeen, für die nach Oleichheit Btrebeude Frau dürfte sie
Dooh in stArkerem Masse Orond xnm Aergamia bieten, alt der se bitter an-
gefeindete Aufsatz aber den Sohwaohsinn des Weibes.
Berlin. Max NaTh.
■fiffelflUnii* I^fo: Das Problem der Willensfreiheit
in der nenesten deatscbea Philosophie. Leipzig,
J. A. Barth. 1902. 115 S.
Ba ist EWtfelhaft, ob ee eine Frage giebt, an der mehr Köpfe ihreD
Soharhinn vetanoht haben nnd die zngleiah weiter entfernt iat von einer
a'lgemein angenommenen LOanng als die Frage der Willenafreiliait Und
manche haben sioh resigniert darein ergeben, sie unter die unlöabarfln
Probleme aintareihen, sie auf den philosophischen Index xu setaen. Aber
80 schlimm steht die Sache dooh niobt. Die Wideraprüafae der Meinungen
haben ihren Orund weniger in der Schwierigkeit der Frage sribet, als in
der Tersohiedenheit derer, die sich an ihre Beantwortnng herangenaht
haben. Denn die Freiheit ist awar ein philosophiaohes, speiiell peychologisches
PiobleDi, aber eines, das den Nachteil hat — in gewisaem änne tat das
freilich auch ein Torang — an der Orenie zu liegen nnd aidi eng sn be-
rühren mit der Theologie, der Ethik and der Pikdagogik, der Äychiattie
und dem Strafreoht, so dass anob diese daranf Ansprüche ertiebmi. und
wie et dann geht bei Omndstüoken, anf denen Servitute lasten, sehlieaslMi
ist der Basitaer gar nicht mehr Herr auf seinem Omnd and Boden nnd die
KDze Kaabbareohaft redet darein, ao dass er selber kaum mehr an Wwte
mmt. Jeder bringt seine Auffasanng, aeine Gmndansahaunng mit, dar
Geologe, besonders der Icatholisobe, gewisaa raligiaae ToranaaetEungen, 4sr
Jurist und der Erzieher seine prak&ohen Fordeningen; und der Cthiltsr
wie der Payehiatar geht ebensowenig Torauasetznnitlos an die Frage her«n.
Und nm die üngunat der Umstünde noch an arhöheo, geht diasM vialAuA
die strenge philosophisohe Schalung, die starre peinliche Konseqaeat im
iM,Coo<^le
HöSelmana, Leo, Du PioMw« dar Wütensfreiheit o. s. w. 93
ffWMallfu und FMthaltwi dw Begriffe ab. Ho, om nnr ein Beiapel ta
brngan, IttBBmuiii Eraft-Bbinga Behandlung dieter frage niobt wsnigeT
wie drai FratkeitsbegiiBe lieUloh dnnheinander Bobviminen sehen.
Dordt dieses lohn-wa-Bohn von Oedankengängen nnd -lirglngen siah
binduicfa in winden und aaoh anderea eine Babo tu breohen, rerlaagt rial
AMdaaer, viel BelMvsrleiigliODg, ud wirdfiifen M. sehr dankbar Min, daas
er die enteagnngBrelohe Amit, danih die TetBohiedenen LÖsdd^q, welche
das ProHem der Freiheit In der neaeeten deatsoben Pbilosopme erMren,
nna UirfvndiZQfahreii, anC sioh genommen bat.
Ais Onrndlage für seinen bitisohen Bericht schickt M. einen gaoE
ftlkemein gehaitenen Üebeiblick 1it«r das Problem voraus, in dem er die
indetarn^oistlB^e, deterministische und fataÜBtische Lösnng kum chantk-
tsridert sowie die mgroode Uegendea AnJTassangen des Begriffes Freiheit
skizziert Daran sctüieest üoh an cesdiiclltlicher Hüokblick. Im Ansohlnss
an TsEKDELENBCBua grnndlegende üotersachtuig über diu .tTotweadigkeit
und Freiheit in der grieobiaoDen l^iilosophie* (18&6) referiert er Ober die
Ansichten der Alten und meist im Ans^oss an F. Hachs „Dia Willens-
fireibeit des Mansohea" (1887) über die frühohristlichen und mittelalter-
lichen Denker. Daran scbliesst sich eine chronologieoh geordnete üebersiobt
über die Stellang, welche die bedenteadsten Philosophen von DiscABTEa
Ms Beiieei zn der Frage eingenommen haben.
Die neneaten Philoeophen dagegen gruppiert er in lodetermi nieten,
Fatalisten nnd Deterministea. Als Vertreter dee Indeterminismus
nennt H. LoTZE, seinen Schüler Bvao Bohuib und als jüngsten den
Bthiker Wentsciok. Ihnen weist er nach, das sie daes libemm arbitriniu
indifferentiae, das sie als irrig ablehnen, im Qrunde doch festhalten und
daas ihre Berofong auf das Freiheilsgefühl nnd die sittliche Wärde dee
Hensdien keineswegs lur Annahme der Willensfreiheit zwinge, sowenig wie
Bene nnd Verantwortlichkeit, Bcänld and Verdienst, während hingegen die
Preisgabe der Aligemeingültigkeit dee Kansaigesetiee, womit allein diese Frei-
heit «rettet ««dem könnte zu den bedenlliohsten iConsequenieu führen müaste.
Den Verttetera der iuteliegiblen Freiheit, wie E. FiecioB, Fuceen und
den Sobopenhaoerianem Luaim, U^inlaensiui und Bahnsen gegenüber zeigt
er, daes das Gefühl der Verantwortlichkeit jene Annahme nicht
fndere, welche bestenfalls in ihrer Uetiqihysik eine Stütze haben könne.
Die dritteOiuppeven Vertretern des Indeterminismns bilden die katholischen
Philosophen, wie Fblsner, OnTSEBi-BT, Schell, Knub, welch letiterer
seine Ansicht , positiven Indeterminismue*' getantt bat, nnd F. Mach,
dar seine an IÄbmk sich anlehnende Lösung als .relativen Indeter-
ninismns" betöobnet. Gemeinsam ist allen diesen die Ablehnung des
libenun arUtrinm indifforentiae, der feste Olaube an die absolute Gültig-
k^ des Eaosalitätsgesetzes, die Annahme der Entscheidung des Wirkens
moL Hotiven, alles gut deterministiaobe Aosohannngen — nnd die Behauptung,
dass dieser Wille doch gelegentlich anch moi diesen Motiven nicht zn folgen
hraodie, dass er Eelegentlioli dem Kausalgesetz entrückt sei. Dadurch ist
nnn mit anderen Worten das verpönte liberum arbitiiam indifferentiae wieder
da. um dieser Philosophie, die gleich derjenigen des Thomas toh
AquiN ein traurigea Bild bietet, wie gesandes Denken sich quält nnd
krämmt, um der auf völ^ unsureiobende Eikenntnia sich gründenden, aber
dogmatisoh festgelegten Lehre der Eirohe sich zu entwinden, gilt das
' Wort Goethes voff-4ar Chemie: ^Sie spottet ihrer selbst und weiss nicht, wie."
Sne andere Gruppe von Denaem, die Gruppe der EoCnnncsIoeen,
cAVktt die Frage überbaut für onlösbar and schliesst ihre UntarsBOOungsB
iM,Coo<^lc
94 Dr. Hftx Oftnar:
mit ' einem reflignierten onn liqnet, ao der theologjsiarende DuxnuHN,
der von physlkiliaclien ^rvägaDgeD MSf^bende Hanno, der an der AUgemeiii-
göltigkeit den Kanaalgeaelzess zweifelnde Üklzeli^Ncwin, wie auch, der
von M. nicht erw&hate Kboha^n in Kopenbageo, vou dem man sioh
fragen kann, ob man ihn nioht den deutaclien Deoken) zuzählen BOll.
Eodlich halten an Indetermimamus feet die meisten evaagetiBohen
Ibeologen and die Hehruhl der Strafreobtslehrer, obwohl dnroh
LiszT eine 'WendaDg der Ansichten angebahnt ist. besondere dsdarob, dass
er, wenngleiob für den Deterqiiniarous stob erklärend, die Entacheidnng über
das Problem fär das Str&Trecht für irrevalent bezeichnet, gleichviel, in
welchem Sinne sie anaßllt.
Das vollkommene Widerepiel dea iDdeterminiBmas ist derFatalismaB.
Seine Torkämpfer sind die MaterialisteD, so in der jüngsten Zeit Eaxceel,
Bfz, noter dessen Einflass KiEnscHE, der freilich Wandlungen dnrch-
gemacht und im .Zarathustra" sich auf die Seite des Indotorminiamas
gestellt hat, so dass sich Wektscker auf ibn berufen konnte. Dieser
Fatalismus leidet an der falBohen Anffassung des BegrifCes Naturgesetz als
einer über den Ereignissen in Natur und Hensobenleben stehenden Uaobt,
während es doch nur diese selbst in ihrer Begelmässigksit aasdrückt. Die
irrige Auffiusncg dagegen der Freiheit als ürsachlosigkeit und den Glauben,
daes nnBeroMoral Bi(£ aufdiese Freiheit grüade, teilt ermit den Indeterminismus.
Die dritte Losung endlich ist der Determinismus. „Die einzelnen
'WUlensvorgäoge sind motiviert und gehen ans zureiohenden Ornnden
hervor. Trotzdem aber ist der Begriff der Freiheit vollberechtigt und wohi-
begründet. Freiheit bedeutet: Determinierung der einzelnen WUleuBinhalte
durch das lob, durch den Charakter, durch das, was ich meine innerste
Persönlichkeit DSnne. Diese Freiheit steht im Oegensatz zur Unfreiheit d. i.
der Motivation durch fremde, meinem Wesen fernliegende Momente".
Allerdings tritt dieser Grundgedanke in verschiedener, nidit immer reiner
Fassung auf und es Bpielen bald indelerminialische, bald fatalistische Uomenta
herein. Zu den indeterministischen Deterministen rechnet IC.
SiGWART und WuNDT. SjowiBT sieht in der Freiheit das snbjektiTe
Postulat des bewussten Willens und stellt ihn damit ausserhalb der Kausalität,
bei allem sonstigen Determinismus; dadurch entrückt er das Problem der
wissensobaftlichen Erkenntnis. Wimci bebandelt die Krage zunächst streng
deterministisch, leugnet aber für das Psychische das Prinzip der Aequivalmi
von UrBaofae und Wirkung und stellt für dieses Gebiet das Prinzip der
wachsenden Energie auf. Dieses macht natürlich eine Voransberechnung
der Wille nshandlongen unmi3glioh, selbst wenn alle Motive, Gründe und
Uisacheu bekannt wären. Gegenüber diesem „WaobBtum gebtiger Energie'
erhebt sich indes die Frage: „Ist dieses Plus der paychisonen Energie dnrdi
gewisse üraaobea bestimmt oder nioht?" Wu^idt will dieses Flos anf-
Dtsaen als nrsacbloses Etwas, aia ein Etwas, das zu den als Motive
wirkenden geistigen Verengen noch irgendwie hinzutritt.. Dann aber
spricht sich in der Anerkennung eines solchen Wachstums der indeter>
ininistisohe Gedanke aus: UnBere Willensentscbeidungen können nicht
die blosse Folge gewisser Motive und Ursachen sein, es muBs noch ein
neues Moment hinzutreten, „em kauaalitätsloser Anhang." „Der Xndetei-
minismns nennt dieses neue: die freie Wahl; bei WromT heiast es: das
Wachstum geistiger Energie." Solche indeterministisch ausklingende LösuDg
finden wir auch bei anderen so bei Elbenhakb, Achtes, Michaklis.
Ihr O^nsatz ist KnsT, dessen DeterminiBmus fataliBtisoh ausklingt.
Beine Deterministen dagegen sind: v. Hartmans, FsciinKR,
Padlser, Lipps, SnDCKL, Edblpe, Ziehen, Eshabdt ; ferner die N ea-
iM,Coo<^lc
Hnffelmaim, Leo, Du Problem der Willensfreiheit o. r, «. 9Ö
kiDtimer, besonders Libdmaks, Windelsakd , Natorp, desBea Deter-
mlDisiniis allerdings dorcji die ^unahitie eines EnergieznwKchueB weaigstens
in MürFEUUKKS DarsteUiiiig uns keineswegs gegen die Zweilel Si&KomoEiut
Itescbert erecheiot, und Adicxes, sind die Fositivisten, wie Lus nad
BiEBL, dann die Vertretei der IinniaDeD7.pliilaBoptue Scumn und Beehie,
wenngleich letzterer das niobt Wort Laben will, weil er Determiiiiamus
nDberecfatigter Weise identifiziert mit Fatal [smua, sind endliob die Herbar-
tianer, &iten \oran t. Volsmajw, und die Benekeaner wie Ditteb,
Auch die HoTalstatistik, die am Sohlnsse noch gestreift wird, hat sioh
TOD der fatalistiBchen Anffasanng znr deterniinisti scheu bekehrt. So er-
scheint denn der reine l>eterminismns als die einsige kunseqoent dnrch-
fhhrte Löemig des Problems von der Willensfreiheit.
Es ist eine stattiiche Reihe von Denkern, deren Behandlnng der viel
omstrittenen Frage U. uns roiführt Aber es sind noch lange nicht alle,
die sich daimn bemäbt haben. Im Anhang bringt er noch eine erstaunliche
Menge von Autoren, die sich seit 18B4 zu der Frage geäusseit haben.
und auch dann noch vemiisst man den einen oder den anderen nambaften
Philoeophen, der zwar niolit in einer selbständigen Schrift, aber im Zn-
aammenhang seiner Werke Stellung genommen hat, so den Ethikor Zumlib,
den Historiker der Ethik Jddl, die Psyokologen Eoeflih, Meinono und Ebben-
FSLs und Hebleb, den Verfasser der , Elemente einer pbilosophisohen
PreihntBlehre."
Indes wer wird in dieser Frage, wo die Litteratur mit tropischer
Ueppigkeit wnchert. ToUständigkeit Terlangen '. Seien wir dem Verfasser
lieber dankbar fQr das Viele, das er eo sorgsam gesichtet dargeboten hat.
Es war, weiss Oott, keine kleine and auch keine angenehme Arbeit.
Ingolstadt. Max Offneb.
Klehter, Baoul, Dr., Eant-AussprUche. Leipzig, £ni8t
WnnderKch 1901. Preis M. 1.20.
Die Bedentnng eants für das Oeistesletien unserer Nation ist so
gross, dass es Pflicht jedes Gebildeten sein müsste, ihn aus seinen
Leistungen selbst zu kennen. Die Philosophie Kants aber ist schwer zu-
gin^oh, und nur irenige wenden die dazu erforderliche Mühe auf. raOttl
BicHTEB bat in dem TOTliegenden Bache einen leichteren Weg gezeigt, Eant
ans eigenen Worten kennen za leinea. Er hat aus seinen Werken, den
Beflezionen, aus den Eollegnachscbriften zosammeogetragau und nach stoff-
lichen Gesichtspunkten geordnet. Systematischer Zusammenhang ist nicht
erstrebt, die Spruch Sammlung soll nicht die Kan-tibche Philosophie ersetzen
oder auch nur in das System einführen. Aber sie ist wohl geeignet, die
San^ischb Leben San schauung wiederzuspiegeln und zu zeigen, wie viel
Kapital der Fonds unserer geistigen Kultur Eakt verdankt, wie seine Ge-
danken im höchaten Grade zeitgemSss sind und auch unsere Generation
noch fahren und leiten können. Für Fachgelehrte ist sie nicht bestimmt
eit wendet sich an den grösseren Leseikreis der geistig Interessierten, und
ihr Zweck ist erftUIt, wenn sie ein Bild von der geistigen Grösse Kants im
Leser erzeugt, wenn sie den oder jenen veranlasst, zu den Qnellen selbst
m steigen.
Die Answahl selbst zeugt von einer guten Eenntnia auch der ent-
legeneren Schriften Kants, die litterarische Behandlung ist musterhaft.
Leipzig. Wilhelm Paul Scbuiunn.
iM,Cooglc
Farre, L., L« mäthode d*ns les aciences expirimen'
tales. Paris, Reinwald 1898. 470 S.
Der Zweck d«r vortiegenden Arbeit beataht dkrin, dam MaiiDa der
WiMentohaft and aooh dem Kanfinuiii die lor Fotaranng aotwaniHmn
Hethodan an die Hisd zu gaben. Der Anfängar in der Winenschaft kennt
nioht diejwigea Viaaenagebieta, welobe nocdt wenig luterBnoht lind, et
kennt anoh nicht die Methoden, Mittel nnd Inatramente, welohe loa Ir-
reic^en dee jeweiligen Zieles dienen können, er Teratsht ea noeh nldit,
exakte ScJiläMe zu »ehe», teine Sohlfiiee in diskutieren, das Hypothetieaba
von Üewieaanen an nnterecheiden. Ee »t daher dem Verf. in danken,
daes et die beingiiohen Metliodeu, deren SohlldMnng ta einer groaaen An-
Eahl von Büoliam zerstient sieh vorfinden, geaammelt and gruppiert hat
In der Binleitnng weiden «nige allgemeiiw natutwiaBenaobaRlidia
BMTiffa aiöiteit: Sabetani, Energie, Geeett, Ürsaehe, Zufall, Vander,
Bndens, Gewieeheit. Einige Proben B«en hier erwAfant: Die aUgemdne
Foraal Hr piiaiaa Oeeetie lantet fölgandennassea: Ist dieaea odar jenes
System von Körpern gegeben, and treten dieae oder jene Snergieen in
Aktion, so ist dai Eodreanltat in ^em cagebeneD Moment dieaee beiw.
Snsa. Die Uraaohe naai g^ebenen nioomens ist der Ztutaod der
stur in dem nnendlich klmnan AngenliiiDk, welcher deiqfanigen Torher>
gegangen ist, in welchem das Phänomen sich vollzogen bat Sind die Cr-
saohe oder das Gesetz eines PblinoroenB onbekannt, so sprioht mao von
Zofall; von Wunder dann, wenn ein Phftsotnen im Gf^enaati in den oalür-
liehen Oeeetxan sich vollzieht
Seine eigentliche Arb«t teilt Verf. eatapreohend tainem praktischen
Standpunkte in zwei Teile: ce qn'on doit füre und ce qn'on doit ne
Znnfiohfit werden die Hypothesen behandelt Hat eine Verifikation
bei Hner gröeseren Anzahl von FKllen Btattgefunden, so hUt man ee fflr
überfinsBW. dies bei jedem snaJogen PhUnomen von neuem zn thon. Hier
tritt die Hypothese in ihr HeohL
.Die alJgemeinete Form des Problems der in den experimentellen
Wissenitobaften gesuchten Srkiliraiigen ist folgendee: Wenn ein Phinomen
(Resultat) gegebüi Ut, die Bedinipiiigen m bestimmen, welche es hervor-
febracht haben.' Es giebt in Wirkhohkeit nor eine wabre ErU&nuig «nee
'hänomeos, aber mehrere mögliche. Etstete Icunnen wir nicht. MÜ kann
immer nur sagen : .Die Dinge verlaufen so, als ob diese oder jene Be>
dingaug Ursache von diesem oder jenem Phänomen wäre." Wir erbalten
nur eine mehr oder weniger vollstSodige Erklärung der Erscheinungen.
Es werden dabei mehrere Stadien dnrohlaufen: 1) Die Gm^piemng der
Thatsachen, welche in ihrer GesamtwiTknng etwas Analoges bieten, 2) die
Analyse einer jeden dieser Thalsachen und ihrer Vorläufer, 3) die Berück*
sichtignng dessen, was sie beaoadere als Vorläufer gememsam haben. Eine
Erklfirung muss vollständig, fruchtbar und wahr sein. Man kann fibrigeos
nnr sagen: „Die Dinge verlanfen so, als ob die Befrachtung ein Fhknomen
der Ernährung w&re, als ob zwischen zwei Hasaeupnnkten eine Anziehung
direkt proportional den Massen und umgekehrt proportional dem
Quadrate der Entfernungen stattfände, als ob es in der Mechanik
eine Besnltanfe gäbe, als ob die Trlgheit eine wirkliche Kimll
wKre, als ob die Zentrifugalkraft existierte, als ob imaginäre and
uoendlioh kleine Quantitäten, die geometrischen Unien, fUohan reale
Exisfeni besässen, als ob die Elektrizität ein Flnidum wäre, ala ob das
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
L. F&TTe, La methode dans lee scJenoes ezperimeQtales. 97
Schwarze eine wirkliohe Farbe wäre, als ob es 3 Fnndamentatfarbeu gäbe,
jJs ob Atome existierten." „Die Dinge verlaufen in der Biologie so, ata ob
die Fonnen willküiÜch gewüilt wären, um die Funttioneo zn erföUen, als
ob die Kiftfte und BpesiGBOhen Tüchtigkeiten (vertoa) in Wirkliolikeit
existierten, ala ob die NerroDzellen dnrch ibie Terläogernng kommoni-
zierteiL'', n. b. w.
Die Probleme präsentieren sich in zwei QmudfomieD : 1) Wenn ein
FUtnomeu gegeben ist, seine Ursache zu bestimmen, 2) Wenn ein Effekt
hervorgebntcbt werden soll, die dazu nötigen Bedingongen antngeben.
Das erste dieser Probleme kommt mehr in der eigentlichen Wtseeneahafl
vor, das letztere mehr in der Ennst Im allgemeinen mnss man sich da-
mit begnügen, die Draaohen anzageben, welche eine bestimmte Sorte von
Ersoheinimgen hervorbringen. Die üntersnohong zerfillt, falls sie voll-
ständig sein soll, in folgende Teilantetsiichnngen : Reelle Ursache in einem
gegebenen Falle, zweitens in ähnlioiien !EWen. Högliohe Ursache in ähn-
lichen FUlen and in einem gegebenen Falle. Uögliohe Optimalorsache - in
einem gegebenen Falle. Entsprechend die Erforsohnng der mögliohen und
besten Mitte!, um einen Effekt zu produzieren. ~ In der Natnr finden wir
nicht eine IJisache, sondern ein Zusammenwirken von Ursachen, walobe
entweder mit einander vennisoht oder kombiniert sind. Lm erateren Falle
ist der allgemeine Effekt derselbe, welchen Jede Ursache allein hervor-
bringen würde, im zweiten Falle nicht. Hieraus sieht man, doss, wenn
niao bei einer Erstdieinung alle Ursachen eliminieren würde, ausser
der Bauptsache, man zo Besnltaten gelangen würde, welche ver-
schieden sind von denen, welche die Natur giebt. Der Effekt verflndort
sieh mit der „Qnantit&t der Ursache. * Im Anschlnss hieran besprioht
Terf. einige bezügliche Fälle, wobei er die Tei^ndernng der Effekte je naoh
den Uiaaohen dun^ entsprechende Kurven zu versinnliohen sucht. Eine
groBse Bolle spielen bei dem vorliegenden Oegenstande die 4 Methoden
Ton Stuart Mill.
Weiterhin kommt Verl auf die Instromente zu sprechen. Er unter-
schwdet luatromente zur Produktion und Instrnmente zum Meesen. Der
Mensch braucht die Instrumente zum Erzeugen der Phänomene nud 2U deren
Btudinra, er sucht mit ihrer Hälfe den Lauf der Natar zu verlangsamen,
HindeniiBSe zu eliminieren. Zur ersten Klasse von lustnunenten geboren
die Instrumente, welche einen nützlichen Effekt erzielen, so z. B. die Re-
gulatoren für Bewegung, für das Ansfliessen, die Automaten, ferner die
Instrumente, welche einen schädlichen Effekt verhindern oder annullieren,
die Kompensatoren. Zur zweiten Klasse gehören diejenigen Inatromente,
welche die Effekte fühlbar und messbar machen. Fühlbar werden sie durch
die Amplifikatoren (z. B. Hikroskop, Teleskop, astronomisches und terre-
strisches Femrobr, Telephon, Resonator, elektrischer Multiplikator, Ijnse,
Spiegel) und durch die Beduktorea (z. B, Photographie, Phonograph, Mano-
metBituben). unter den eigentlichen Measinstrumenten werden Baroskop,
Bart^Tsph, Dynamometer mit Feder, Kathetemeter und Polarimeter zitiert.
Nachdem Verf. noch über die Art und Weise, wie man ungewohnte
Thatsacben iu Angriff zn nefunen hat, über wissenschaftliche Definitionen
and über die Art der wissenschaftlichen Fragmtellung sich geäussert bat,
geht er mm zweiten, kleineren Teile seines Werkes über.
Die Oeechichte jeder Wissenschaft zeigt eine Anzahl von Irrtümern.
Zu diesen klassischen Irrtümern gehört z. B. die Annahme einer spontanen
Eixeogung der Infosorien und höherer l^ere. Es ist daher dem Forscher
Vorsiät anzuempfehlen, sobald er die gewohnten Wege verlOsst and seine
VlBTtelJahTBialirUt f. winenigkaftl. Philoaopbla- SXTIL 1.
iM,Coo<^lc
eigaDsn geht, damit ei nicht ähnlichen tiefwarzeladen Selbatmasohnngen
reriällt. — Derselbe Hensoh urteilt andere, je nachdem er allein ist <>dar
Btoh in Mitten einer Menge von HesBchen befindet, da im letzteren Fall«
die ladividuea eine Art von BoggestioD aof aioandei auBüben. ~ Der
Forseher darf reiner nicht im Affekt nrteüen. Aach dixt ec nicht mit
Vomrteilen an seine Untersnchnngen herangehen. Der menBohliobe Odst,
der eine Frage beurteilt, pflegt gewäbnlioh folgenden Weg m geben:
ASektivee Urteilen a priori oder Vorurteil, Anfsuchen der Gründe, welche
dieses Torarteit aafrecht erhalten konneu. Finden sieh keine, so Verwerfen
der ganzen Sache. Der Forscher mnss den nmgekehrten Weg geheu: Auf-
unchen der Grunde, Urteil a posteriori und Motivitäi — Man kann ni^t
a priori entscheiden, ob eine Suite unmöglich ist, »ondem erst a posteriori.
Dia Unmöglichkeit kann eine dreifache sein, eine logische, eine materielle
oder augenbliokliche. — Der AnStnger in der Wissenaobaft mnas sich da-
vor hüten, in Worten wie Vererbmig, speiiflache Energie, Affinität, Lebens-
kraft XI. B. w. wirkliche Elrklärongen ta sehen. — Die Anwendung mathe-
inatiBoher Formeln kann gegenwärtig bei vielen Problemen noch ni<At
stattfinden, so i. B, in der Natnr, Biologie, Fsjohologie, Sooiolt^e, weit
man nicht alles Gegebene kennt. Die mathematischen Formeln lassen die
Besnltate wohl Toraosaehen, aber letztere müssen verifiziert werden. £uie
grosse Rolle spielt in der Wissena^^aft das arithmetische Mittel. Die
Arbeit fi.vres zengt von omfasaendem Wissen, Und man muas anerkennen,
dass Verf. sich bemüht hat, in jedem Falle das denkbar Zatreffendste zn
geben, so dass das Bach nicht allein den Novizen der Wisse DBch^
empfohlen werden kann, sondern bereits manchen fortgeschrittenen Ge-
lehrten znm Nachaohlagen and zor Informienmg gate Dienste za leisten
vermag.
Erfort. GusBLER.
KarlGrOOS: Der ästhetische Qenusa. Qiesaen (Ricker)
1902. Vm u. 263 S. geheftet M. 4.80. geb. M. 6.00.
Statt eine sneite Auflage seiner „Einleitung in die Aeethetik" za
veranstalten, hat sich Gboob zu einer Nenbearbeitung des ästhetischen
ProblemB entsahloasen. Der vorliegende Band ist der Beginn dieser Nen-
bearbeitung. Weitere Bände sollen das Schone und die ästhetischen Modi-
fikationen, das Wesen des Genies und das System der Künste behandeln.
Damit ist das Thema des Buches umschrieben. Es soll eine psychologische
Analyse des ästhetischen Genusses als Orundlnge der Aeethetik gegeben
werden. Gaoos bleibt also bei seiner psychologistisahen Stelinngnahme und
verteidigt dieselbe S- 1351. gegen die {Hnwände, die ich in metnerall-
gemeinen Aesthetik erhoben habe. Er schreibt der Psjchologie eine gewisse
Fähigkeit der Normbildung zu, mässigt aber seinen P^chologismus durch
die Behauptung, dass eine vollständige Lösung des Wertproblems ohne
metaphysisohe Bestimmungen nioht möghch sei (135). Da in letzter Zeit
von verschiedenen Seiten die psychologische B^^rändung der Aesthetik
verteidigt worden ist und sich dabei mehrere wesentlich vereobiedens
Gruppen von Fsychologisten ergeben haben, scheint es notwendig, disM
Streitfrage noch einmal gründluAer zn behandeln, als es bei Oelegenheit
eines Beferates geschehen kann. Ich hoffe, dies in abeehbarw Zeit thnn
■n können, möchte daher an dieser Stelle nur hervorheben, daae Gboos,
aoEsar durch jenen Hinweis auf die Metaphysik anoh noch durch die Ein-
(Ohmng des .natürlicfaro Gefühls', das uns zwingt, das .lithabach Wwt-
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
Kar] Oroos, Der Mhetisebe Oennss. 99
volle" eugor in fassen ais dw .ästhetieoh Wirksame", dem oenen Pajoholo-
gisniw mUao wird (S. 140), dabei aber ein wissenactutFtlich lüoht fasebarae
Kriteriam einführt üebrigeue hindert der abweichende Btandpnjiit nioh
nJoht, im eiuielnan vieles ans Oaoos' Werke zu billigaii nnd la leniea.
Idi glaube daher, gut sa IhuD, wenn iob an dieser Stelle ein iiarzes
BefeiBt dea weeentiiöhen Inhalts gebe')-
Dia Eiiileitniig keniDseiohnet die Anfgabe des Bnchee und giebt eine
knne üebenicht über die Methoden der psyohoiogischen Aesthetib, die
Datoi^maae mit denen der allgemeinen Tsychologie nbereinstiminen. Dar-
auf hennxeiolinet Oroos im 1. Kap. den fisthetisolien Oennss als nSpiel'.
Diesen Begriff definiert er ata eine Tätigkeit, die Selbstzweck ist. £r ^enzt
aleo das Spiel von der Arbeit durah seine Interesselosigkeit ab. Die Ur-
sachen des Spieles sind angeborene Triebe, die anch ohne emstw Zweok
ZOT Bethätignng drängen. Bei allen Spielen kommt die Frende ah an-
genehmen und intensiven in Beirncht, uneQnteiBcheidiiDgderaQfSBthstJaahem
Oebiet die Oegenäberatellimg dee Schünen nnd des Erhaltenen entepricht.
Die Analogie von l^thetisäiem Genüsse wird dann dnroh eine Aualjse
des Freiheitsgefühls nnd der lilnsion an/ beiden Gebieten gestützt.
Nachdem so der ästhetische Oennse gewissennassen seinen psycho-
biologischen Ort erhidteo hat, wird die weitere Analyse durah eine Fest-
legung der psjoholo^schen Termini eingeleitet, (B. 26 ff.), auf die als anf
einen Beitrag zu den hierzu notwendigen Etärungsbestrebungen anfmertsam
£0 machen ist Hit einigen Bedenken sohliesst Oroob sich dann für die
waitereBehandlungderherkömraiiülien Scheidung in sinnliche nnd reproduk-
tive Faktoren des ästhetischen Oennsses an. Die Vorzugsstellung des 6e-
üdita und Oeböis im Vergleich mit den äbrigen Sinnen findet Oroos
weaentlich darin begründet, dass nur Oesicht und Oebör „Sprschsiune" sind
(36). Interessant sind die folgenden Ansfnhrangen über die ainnliohe Seite
der ästhetischen Form d. h. über das Hineinspielen der Bewegnngs-Ein-
stellnngen nachahmender Art und der übrigen Organe mpfindang an in die
isthetiecbe Anffaaenng der räumlichen Form. Sehr gnt echeinl mir die
Scbilderruig der Qefnhie beim tiefen mhigen Atmen S. 65 gelungen zu sein,
ebenso treffen wenigstens für mich die Bemerkungen itn wesentlichen zn,
die Gboos tber den Anteil der Organempfindnngen am Eindmoli der Lese-
poeeie B. 79 ff. macht. Ich iialte diese sehr gut beobaobteten Sohildemngen
für eine wesentliche Bereioberung unserer an solchen Analysen armen
psych ologieehen Litterator. Doch hat sich mir, als ich ähnliche Fragen im
Anacblose an verwandte Ausführungen meiner Aesthetik mit verschiede neu
SsthetiBoh und philosophisch gebildeten Personen besprach, die Ueberzengnng
anfgedi&ngt, dass hier individuelle Differenzen eine bedeutende Rolle
Bpiäeo. Ob der üeberzeugung, zu der sich Oroos 8. 28 bekennt, dass
die motorische Versnlagnog ein Merkma] der ausgesprochen ästhetischen
Naturen ist, den Thatsacben entspricht, müsste durch experimentelle Coter-
sndiong festgeetellt werden. Als Hypothese, die die Forechungen über den
Zosammenbaog von Sinnestypos und Oeistesart leiten kaun, bat sie jeden-
fallB ihren Wert
Weit weniger bedeutend ist das Kapitel über die reproduktiven
Faktoren des ästhetischen Oeoosses. In dem Abschnitte über die ästhe-
tieiAefi Urteile sudit Oboos durch Berufung anf die Qrundthataachen dee
Werteus das ästhetiscb Wertvolle als engere« Uebiet ans dem weiteren des
iM,Coo<^lc
100 Paul Barth.
äathetisoh WirkBamen heramizusoßdem. Eine prinzipielle Behsodlaog dieser
Fragen ist ja nach Gnooa nicht ohae Hetaph^aik mählich — er begnügt sich
daher hier mit einer empiriaohen Anfzäblang und Diskassion der ODaeren
Urteilen zu Grande liegenden 'WertmassBtäbe.
Im 5. Kapitel modifiziert und verteidigt Gkoos seine ältere Tbeorie
von der inneren Nachahmung als dem Wesen des ästhetisohen Ocnnsses.
Er analysiert zanächst das, was beim ästhetischen „Miterleben* vorgeht.
Er h< diesen Ansdruck für verwendbar — doch mnss man eich klar
halten, dass er ein Bild ist. Was diesen Zastand in Wahrheit von der
blossen VoTstellung eines fremden Erlebnisses antarscheidet, ist nar die
Umwandlung der vorgeetelltea Oefähle in reale and das Aoftreten von
reprodozierten OrganempfiD düngen. Diese OrganempSndongen enthalten
eben das imitatorische Element Osoos schränkt seine These nun ein, !□'
dem er die Existenz schwächerer SatheLisoher Genüsse ohne , innere Naoh-
atunnng" zngiebt — aber er hfilt in dem Sinne an ihr fest, daaa er sagt
(S. 200): „Die Erfabrungea, die ich an mir seligst mache, zwingen mich
dazu, die hiermit gekennzeichnete Art des Uiterlebeos, die im vollsten
Sinne den Namen einer „inneren NachahoinDg' verdient, überall da an-
zunehmen, wo das ästhetische Objekt in .packender- Weise durch Formen
zu uns redet — wo aber die form fehlt, da reden die Objekte nicht viel,
und wo sie nicht reden, da giebt es wenig zum Hiterleben." Hervor-
zuheben ist weiter der B^mbolische Charakter vieler Nachahmungen — sie
denten das Nachzoahmende nur an (204 f.). Den irreführenden Ausdruck
, Scheingefühle " für die ästhetischen Gefühle giebt Qsoos auf (309). Die
ästhetischen lUusioneo uuteracbeidet er von den tüaschendcn, thatsäobliohen
lUusioneo als „aufkeimende" (215). Die Einheitlichkeit jedes ästhetisohen
Verhaltens wird bewirkt durch die „monarchische Einrichtung des Bewnsst-
seins" — die im Scblussabschnitt näher beleuchtet wird.
Freiburg i. B. Jonas Cobn.
Bletionary of PhiloBophy andPsychology ed by James
MarkBaldwin, New- York aiidLondoi],Macmilian. Vol. 1,1901.
XXIV und 644 S. Vol. II, 1902, XVI and 892 S.
Diese zwei Bände in Quartformat suchen ein schwieriges Problem ro
lösen, für die englisch redende Welt wohl überhanpt zum ersten Haie.
Ausser dem Heiaasgeber haben noch ÖO Mitarbeiter daran gewirkt. Sin
Wörterbuch für Philosophie und Psyohologte ist mühseliger als für jedo
andere Wissenschaft. Nicht bloss das Schwanken der Terminolo^e und deran
lange Geschichte, auch der Streit der Schnlen und der grosse Dmlang des
Gegenstandes machen es sehr schwierig, ein encyklopädisches Went in
schaffen, das allen Anforderongen gerecht würde.
Anch das voriiegende Werlc bleibt weit hinter dem Ideale larüclt.
Die Psychologie ist vor der Philosophie sehr bevorzugt und innerhalb der
ersten wieder die physiologische Seite der Erscheinungen. Manchmal geht
es zu sehr in die physiologischen Einzelheiten,, z. B., wenn unter
.Neurologie" die Methoden der Färbung der Nerveuaubstanz angegeben
werden. In der Fhilcacphie sind die Denker des Altertums und Mittel-
alters ausdrücklich ausgeschlossen. Nur die griechische und die lateinische
Terminologie wird berücksichtigt und von den grossen Philosophen des
Altertoms eine kurze biographische Notiz gegeben. Aber auch das so ver-
engerte Gebiet ist nicht immer eindringend behandelt. Ont ist t. B. der
Artikel Eants termiaology, ausführlich, aber doch äusseriioh bleibend der
iM,Coo<^le
Diotionary of Pliiloaophj aüd Pejcholo^e eto, 101
entsprechende über Hegel, kng nnd doch wenig methodieoh verfahrend der
über .Tdeologj".
Der Grandfehler des Vörterbuchs ist, daas as sich zd weit ooBbieitet.
Aneser der Psfchologie aad der Philosopliie, deren Teile der Tradition naoh
Ethik, liogik, Aesthetik, Beligiousphilosophie, Sociologie sind, werden dem
Stel und dem Prognunm gemäss noch berücksichtigt: Psychopathologie,
Authiopologie, Neurologie, Physiologie, Oekonomilc, Philologie, Physik und
Adagogik. Das ist za viel für 2 B&nde, mit denen das eigentliche Würter-
bocb abgeschlossen ist. Denn der noch ausstehende dritte Band soll bloss
eine aystematisohe Bibliographie bringen.
Die biographisuhen Notizen sind dürftig, sie wären am liesten weg-
gebheben. Im übrigen will ich den kfihnen Wagvmnt des flarfiosgebers
gerne anerkennen nnd dem Werke eine baldige zweite Auflage wllnschen,
die zur Abstellong der mannigfachen Uängel Gelegenheit biete.
Leipzig. Paul Bahth.
Storch, £., Muskelfonktion und Bewusetsein. Mit
7 Figuren im Text Wiesbaden, J. F.Bergmann, 1901. 44 S.
Das Sensorinm wird in zwei Territorien eingeteilt, die bei der Wahr-
nehmong stets beide zusammenklingen, nAmlioh die „Pathopayohe", als psy-
chische Repräsentation der eigentlichen Sinnesqoalitäten und die „Hyopsyche*,
ab psychische Repräsentation der Muakelthtttigkeit (S. 56). Die myosen-
Borische Bahn ist anatomisch noch nicbt genau festgelegt, sie mischt sich
in der inneren Kapsel den motorischen Stabkran zfaaem bei, ihre kortikale
Projektion ist dieselbe wie die der motorischen Pyramidenbahn. Nimmt
man als Ausgangspunkt letiEterer die grossen Pyraniidenzellen an, so Gndet
die myosensoriscne Bahn ihr Snde an den kleben Zellen der oberen Bobichten
(S, 82). Brei myopsychische Felder werden in der übrigens bei jeder Er-
regung als Einheit thätigen Hyopsyche unterschieden: 1. Glossopsyche =
Brokasche Windung (nnd BcblSf^appen?). Dir psychisches Ecrrdat ist die
Voistellnng des Intervalls nnd der absoluten Tonhöhe; 2, Eidopsyche =
Hinterbauptlappen. Sie ist das myopsycbische Feld der Augenmuskeln und
besteht nur aus Richtongs Vorstellungen ; 3. Ergopsyche = Stimhirn einaohl.
der Centralwindnngen. Hier treten za den Richtangsvorstellungen noch dio
der Hasse und der absoluten Orössa hinzu. (Von einem psychisohen Eorre-
lat der Hyopsyche zn sprechen (S. 81} ist unkorrekt, und auch die Ein-
teiliuig der kortikalen Projektion der motorischen Peripherie in ein moto-
riscbes nnd ein myopsychisches Feld ist nicht scharf genug, da die Myo-
psycbe [= Uuskelseete] doch als dem motorischen Felde obergeordnet gelten
moBB. Referent.} Die Zeitvorstellung ist nicht lokalisiert, sondern die Re<
pfftsentation einer nnunterbrochen im ganzen Hirn vor sich gehenden eigen-
artigen Bewegang. Die Zeit wird (ä. 46) etwas kühn als „die -objektivierte,
von allen Beizen unabhängige ürth&tigkeit der Seele" bezeichnet. „Bie be-
sitit infolge davon kein Oegenstüok in der Welt der Objekte . . . Natür-
lich hat diese üithätigkeit ihr objektives Eorralat in einer Bewegnngsfcrm
der Grossbirnrinde, über deren Natur, ob cbemisub oder physikalisch, heute
Termutungen anfzostellen, massig erscheint. Das aber können wir sagen,
dass diese dem Zeitbewnsstsein eutspreohende Bewegnngsforni nicht erst
dnrch änssere Reize entsteht, sondern von Anfang an vorhanden ist, und
daaa die Rinden vorginge, welohe durch Reize veranlasst werden, diese
Omndbewe^ng nur modifizieren, um ein Bild zn branchen, Fartialwellen
auf einer Ornndwelle sind." (Tielleicht soll die Zeitvotstellang, nicht dio
iM,Coo<^lc
102 AQgast DüDgeiä.
Zeit, als Drth&tigkeit der Seele augeDomnieii vreTdeo, wenigstens wider-
eprjlche das nicht eo sehr dem, übtigaDB auch eigeDtüm liehen Sitze [S. 46]:
,WAS iob eubjektiv, als Beetsodteil miliar Person liobk«t. OedSobtoiB oenne,
ist objektiv, unabhängig von mir gedacht — die Zeit*. Keferent). In der
Breite dea Oesnoden giebt ea keine Wahraebmnng ohne Erregung des
ganzen Qehinis und ohne Beteiligung der ganzen Myopejcbe (S. 82).
Hern bei Detmold. Aronai Dünqrs.
Wagner, A., Beiträge zu einer empiriokriti sehen
Grundlegung der Biologie. I. Heft. Leipzig, G-ebrllder
Bornträger, 1901. 91 S.
.Nicht bestimmen was bei biologlsober Vorsehung herauskommen
soll, Houdern Buchen, was bei derselben thatsAchlich heraoskommt, das
kann als die mehr und mehr auftauchende neue Devise <^er Biologie gelten
(9. 9)." Nicht Dogmatismus, sondern logisoh-kritiBche Verwertung dordi
ErtahroDg gefandener Thatsachen, Oleic^telluDg der biologiachen Oeseti-
mlsaigkeiten mit den p^Bikalischen und (AemiBchen; «elbatändige Er-
torsohuug des biologischen ErBcheinnngsgebietee anabb&n^g von Phjsik and
Chemie, wodurcb der Gegensatz des Vitalismus und MechaniBmus gegen-
Gtandsloa wird; richtige Problemsteltung auf Omnd der Erkenntnisstfaeorie:
mit dieseu Forderungen wird das klar geschriebene Buch eingeleitet. Die
Frage, ob die Erkennistheoiie so weit vorgeschritten sei, um ein Fundament
für andere Forsch angsriobtnngen liefern zu köunen, dürfe getrost bejaht
werden. Dabei soll mäglicbst der Standpunkt vertreten werden, dasa die
NatoTwissenschoft Fiktiooen jeder Art nod Fundieraug auf metaphysiaohen
Begriffen lermeide, deshalb gerade in ihren Fandamenten peinlich mit der
reinen Bmpirie Schritt halte and weder begrifüicfaeAbetrahta wie „Materie"
und .Kraft", noch willkürliche Fiktionen wie .Atome" und .Holebüle',
noch auch willkürliche dogmatische Doktrinen, wie .meohanisohe Natu
aller Energie rormen" etc. zu fundamentaler Grundlage nehme (3. 64).
Unmittelbar gegeben sind uns nur unsere Empfindungen (8. 48). Sie ^nd
die wafarhafien Elemente, dasjenige, von dem wir als dem Elistg^ebenen
aasgehen müssen nnd für welchee es keine weitere Zuriiclifnhning giebt
(S. 68). AoBsenwelt und Vo: stell ongs weit sind in der Erfahmog untrenn-
bar. Im Denken trennen wir sie durah logische BegriSsbildung zum Zwecke
eines methodischen Wechsels der Betrachtungsweise und vollziehen bo eine
Soheidung der empirisch einheitliahen ßeihe in zwei geeonderte FaralLel-
railien: die der Umgebnogsbeatandteile und die der Emp&ndnngen, Vor<
stetinngen eto, (S. 68 u. 69). Indem sich Vf. in folgendem anf SiohaBD
AyzNBsa's Kritik der reinen Btfahrung stützt, gelangt er schliessliob zur
Formnliernng folgender drei S&tze, welche er als Fundamentals&tze der natur-
wissenscbaftlivhsn Erfahrongsanalyse bezeichnet: (8.89 n. 90}.
1. Die ümgebungsgesamtfaeit ist für die empiriokrittsche Betraohtnngs-
weise als eine Mannigfaltigkeit von Wirkangs weisen anzunehmen.
2. Innerhalb der Cmgebongsgesamtheit ist ein Wechsel von Wirknngs-
weiseo anzunehmen.
3. Dieser Wechsel ist als ein geaetim&esiger anzunehmen.
Di« FoTtsetzuDg dieser Btodie soll sich mit der Aufgabe belasseii,
die systematischen Verkettungen innerhalb der UmgebnngsgeBamthwt
(.des Systems B-) soweit in verfolgen und zu entwickeln, als es an der
Hand des zugänglichen Erfttbrungsmateriales möglich ist.
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1. Z^in k Bumdil, KlnUuln N
iM,Coo<^lc
Abhandlungen.
EadoxoB von Knidos, Spensippos and der
Dialog Phüebos.)
Tod A. Wrim;, BerÜB.
n OetMiüB iwiMtiso Enden
1. EndoxoB Ton Knldos (e>. MO).
Eadozos von Enidos gehört nicht selbst der alten Aka-
demie an. Er ist überhaupt mehr fachmUssiger Xaturforacher
als Philosoph. Er mass aber hier an die Spitze gestellt
Verden, weil er offenbar der erste gewesen ist, der mit
wiasenschaftlicher Begründung eine Bestimmung des höchsten
Gates vertreten und dadurch die ganze neue Bewegung ein-
geleitet, insbesondere auch die Nachfolger Piatos zum gleichen
BemOhen um eine wissenschaftliche Grundlage der flber-
kommenen GOterlehre angeregt hat.
Knido«, die Tatsistadt des Eudozos, war eise dorisciLs Eolotu'e im
Sfidwesten von ElwDaBien. Eodoxoe lebte QogefiÜir von 400 — 347 (D. L.
Tin, 90). Ei ist einer der Keiateemlahbesteii und einflnssreiohsten Ter-
treter der antiken Katorfonichang, ein Mann von dem geistigeii Gepiüge
*) Probe ans der demnfiohst enchdnenden Schritt .Gescliialite der
irietdiiaehen Fhiloaophie. QemeinTeiBtOndlich nach den Quallen." 2 Binde.
tiNpEig, R. Beistand.
1. n. BotiaL ZZVn. 3. 8
n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL'
eines Thaies. Er war epochemachendar AstrODam, Usthematiker, Arzt
and Gesetzgeber seiner Tateistadt (L. D. TUI. 86, 88; Cio. lEep. L o. 16;
PInt. Kolot 32), vielleicht auch Geograph (D. L, 90; 8. Emp. Hyp. I- 152 ;
PluL Non poase 10). Plutarch nennt ihn wiederholt einen Dinaonbegeisterteii
Mann nnd berichtet,, er hätte sich gern wie Phaeton von der Sonne ver-
brennen lassen wollen, wenn er um diesen Preis ihr nahekoDimen nnd
ihre Gestalt, Grösse und Schönheit erkennen könnte (Ndq posse 11). Ana
Srmliühen Yeihttltnissen hervorgegangen, ermöglichte er es durch die Beihilfe
verschiedener Gönner, einen umfassenden Stndiengang zu verfolgen. Mit
23Jahren, also etwa nm 377, über ein Jahrzehnt nach Eröffnung der Akademie,
war er in Athen zwei Monate lang Hörer Piatos (D. L. Till. 66 f.). Er
nahm jedoch keineswegs die Lehre Platos an nnd scheint später die pla-
tonischen Ideen im Sinne der körperlichen üistoSe des Anaxogoras um-
gedeutet zu haben (Zelleb, II. 1, 1039, 4). Bald darauf nntemahm er als
Begleiter eines Arztes und mit Üsteistütznng von Freunden eine Reise
nach Aegypten. Dieses Land erfrente sieh, nachdem ein seit 387 unter-
nommener ünteijochungsT ersuch der Perser im Jahre 380 kläglich geBoheitert
war, bis 362 wieder ungestörter Unabhängigkeit unter dem kiftCtigen Könige
Nektanobia ]. (oa. 380—60). Dieser stand in enger Beziehung zom spar-
tanisohen Könige Agesilaos, der ibm griechische Söldner lieferte. Ein
Empfehlungsschreiben des Agesilaoa an Nektanebis ermöglichte Budoxos
den wissenschaftlioben Verkehr mit den ägyptischen Priestern. Er verweilte
dort 16 Monate. Mit welcher Hingabe er sich dem Studium der ägyptischen
Priesterweieheit widmete, beweist der Zug, dass er sich sacb 'Weise dieser
Piiester die AogenhraueD und die Haare an anderen Eörperstelle» absohor.
Von diesen erfuhr er auch die wahre Ursache der Nilüberschwemmungsn
(Diela Doxogr. 386, 229, 1). Auch die genaue JahresUinge von 365 Tagen,
6 Stunden und 19 Minuten, die später dem julianischen lUiender zu Onmda
gelegt wurde, soll er als der erste von den ägyptischen Priestern über-
kommen haben, Ebenso auch die genauen ümlaiäszeitan der übiigen Pla-
neten. Auch soll er eine ägyptische Schrift, deren Titel vielleicht „Toteu-
gespiftche" war, ins Griechische übersetzt haben (D. L. VIU. 87, 89). In
der Entwiokiung der Geometrie wird er durch verschiedene Neuerungen
epochemachend (ib. 90). Zur Astronomie verfaseta er eine Anzahl Schriften.
Dan Inhalt zweier derselben hat Aratos (um 270 vor Chr.) in Form eines
noch vorhandeoen astronomischen Lehrgedichts wiedergegeben. Erhalten ist
aaob ein Kommentar des gelehrten Astronomen Hipparch (3. vorcluistL
Jahrh.) zu seinen astronomischen Schriften und dem Gedichte des Aratos.
Seine Hanptleistnng in der Astronomie ist, dass er zuerst die wirkliche
Planetenbewegung unter genauer Berücksichtigung der Umlaufazeiten wissen-
schaftlich zu erklären versuchte. Er ntdim behufs dieser Erklärung 27 in-
einandergesohaohtelte bewegUohe Sphären an, die er in verachiedener Zahl
den verschiedeDen Planeten und dem Fizsternhimme! zuteilte (Aristut.
1073b. 17, Simplio. zn de Coelo n. 10). Er wurde so, während er sioli
ED dem später herrschend werdenden astrologischen Aberglauben der Chal-
däer, dem Glauben an das Horoskop, noch völlig ablehnend verhielt (Cio.
Div. n. 0. 42), der Vater der wissenschaftlichen Astronomie. Aristoteles
baute seine Theorie weiter aus. Seit etwa 240 vor Chr. wurde diese in
Alexandria durch eine etwas veränderte (die der Epizyklea) ersetzt, die
sodann in ihrer Ausbildung durch Ftolemäns bis auf ^opemikns herrschend
blieb. Eudoxos soll bereits in seiner Vaterstadt Enidos eine förmliche
Stemwarte errichtet haben. Trotz seines frühen Todea (er starb im Alter
von 63 Jahren, D. L. 90) genoss er nicht nur in seiner VaterstadL sondern
in ganz Griechenland das höchste Ansahen als gefeierter Gelehrter (D. L. 88),
iM,Coo<^lc
Endozos von Enidoa, Spensippoa und der Dialog Philebos. 115
Dieser UDiverselle Forscher Dua hat auch in die En4>
Wicklung der Philosophie darch erstmalige Aufstellung einer
wissenschaftlich begründeten Lehre vom höchsten Gut in
epochemachender Weise eingegriffen. Aristoteles berichtet
ober diesen Punkt seiner Lehre (1101b, 27 £f., 1172 b, 9 ff.)
in einer Weise, dass noch die von ihm angewandte Argu-
mentation durchbhckt. E]r stellt zwei Merkmale auf, an
denen der hSchate Lehenswert erkennbar sein muss. Das
letzte Gute (nicht im sittlichen, sondern im aziologisohen
Sinne) ist nicht das, was gelobt wird. Man lobt das, was
zur Erlangung des Zieles dienlidi ist, nicht das Ziel selbst.
Wenn etwas Gutes nicht gelobt wird, so beweist dies,
dass es besser ist, als was gelobt wird, also als letzter
Zweck obeoansteht Das ist das erste Merkmal. Es
verhält sich damit wie mit den Göttern, die zu loben auch
niemand fllr nötig hält. Der eigentUohe Beweis femer, dass
etwas ein Gutes ist, besteht darin, dass es begehrt wird.
Jedes Wesen findet heraus, was ihm gut ist, ebenso wie die
ihm zuträgliche Nahrung. Das höchste Gut muss also das-
jenige sein, das allgemein begehrt wird. Das ist das
zweite Merkmal.
Diese beiden Merkmale des letzten Gutes nun passen
auf die Lust. Die Lust wird nicht gelobt; man fragt
bei ihr nicht nach einem ausser oder über ihr liegenden
Zweck. Die Lnst wird femer tod allen fühlenden Wesen
begehrt.
Ein weniger zutreffendes drittes Argument ist folgendes.
Wenn die Lust zu einem anderen Guten hinzutritt, z. B. zu
Handlnngen der Gerechtigkeit oder Besonnenheit, so vermehrt
sie dessen Wert Hier liegt eine unklare Yermengung der
beiden Begriffe Gut und Gutes vor. Er gerät durch diese
Verwechslung auch in einen Widerspruch mit seiner vorherigen
BeweisfObrung, nach der die Lnst das letzte und einzige
Dasselbe Resultat ergiebt sieb nach Eudozos aber aach,
wenn man das Gegenteil der Lust in Betracht zieht. Die
8*
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
116 A- Döring:
Unlust wird Yon allen Wesen, und zwar am ihrer selbst
willeo, gemieden. Sie ist also das letzte Übel.
In welcher schriftstellerischen Form Eudoxos diese Ge-
danken vorgetragen hat, ob er bei der Lust wieder zwischen
den verschiedenen Arten der Lust unterschieden hat, sowie
welche Hegeln für die Lebensführung er aus diesem Prinzip
abgeleitet hat, ist anbekannt. Dass er unter Lust nicht die
Sinnenlust, sondern die Lust im uniTersellen Sinne verstanden
hat, ergiebt sich aber schon aus dem höchst ehrenvoUen
Zeugnis, das Aristoteles (1072 b, 15) mit dem grössten Nach-
druck seiner persönlichen Lebensführung ausstellt «Seine
Beweisführungen fanden Beifall, mehr wegen der Güte seines
Charakters als um ihrer selbst willen. Denn er erschien als
ein hervorragend masshEÜtender Mann, so dass er nicht ^s
Freund der Lust solches zu sagen schien, sondem weil ea
sich in Wahrheit so verhalte.**
Eb darf wohl Termutat werdea, dass Eadoxos in diesem Lebrponkta
daroh dia Sobnle oder darch die Schriften Demokrits beeinflnsst worden
ist. Ein so vielseitigei Foracher ist gewiss nicht an den natarwissenaobaft-
liehen Leistangen eines Demokiit vorbeigegangen, und d% trat ihm denn
aach die Lehre Demokrits von der Lost als oberstem Lebensziel entgegen.
Hat er aber von diesem den nicht auf die Sioneslast eingeachrftnkten, Bondern
lu umfassender Geltung erweiterten Begriff der Lust übernommen, so wird
er auch Demokrits ideale Folgerungen aus dem Lustprinzip für die Lebens-
führung gutgebeisseu haben. Die Beweisführung dagsgeo für die Lost als
höchsten Lebenswert ist das ohBrakteristiBobe Neue, das van ihm selbst
hinzugebracht worden ist. Die Darlegung dieser Theorie mag am 300 statt-
gefunden haben.
3. Spenslppos (vor 400-339).
Spenuppoe war der Sohn einer Schwester Piatos (D. L. IV. 1). Er
war also mntmassliofi vor 400 geboren. Ans seinem Leben vor der Leitung
der Akademie ist nur bekannt, dass er während eines längeren Aufenthalts
Dions in Athen zur Zeit seiner Verbannung ans Syrakns (366 — 3ST} la
diesem in ein enges frenndsohaftllohes Yerbttltnis trat. Er erheiterte ihn
in diesen trüben Zeiten durch sein joTialea Wesen und trat in Sytakua,
wohin er Flato auf dessen dritter Beiae begleitete, mit seinen AnÜngern
in Verbindung (PIntaich Dion 17. 22). Es werden auch Briefe von ihm
so Dion erwähnt (D. L IV. ö). Den Angaben, dass er ein anBBohWHfende«
Leben geführt und an erheblichen CharakI erfehlem gelitten habe (D. L.
IV 1 f., Athen. VII. 279, XII. 646, Tertoll. Apol. 46), liegen als tats&chliobea
Ifateiial ofFenhar nur einige jugendliche Lüohtfertigkeiton tu Qninde (Hat.
adnl. et am. 32, fratr. am 21).
Dass Flato ihn zu seinem Nachfolger berief, scheint tod Xeno-
kiates und Aristoteles als Zurücksetzung empfunden worden n awn.
iM,Coo<^lc
Badoxos TOD EnidoH, Speosippos and der Dialog Fhilebos. Xn
WeiügsteiiB variieeaeD beide auf laagere Zeit Athen. Er wurde bald von
Mner LUutmiig beblien, so dass er sich ia eioer Sänfte zur Akademie
tragen Usseo mosute. Trotz der angeblioh dem K^iker Diogenes gegebenen
prompten Antwort, das Leben bsbe seinen Bitz nicbt in den Beinen, sondern
in dOTVemnnft, soU er, sebliesslicb von Trübsinn übermannt, seinem Letran
freiwillig ein Ende gemacht haben (D. L. IV, 3). Er hatte eine grosse
Zakl TOa Schriften verfasst, von denen jedoch fast nor die Titel erhalten
sind (D. L, IV. 4 f.).
Er strebte nach systematisclier ToUständigkeit der Er-
keDQtnisse, veQ anch das einzelne nur im ZuBanunenhaiige
mit allem übrigen richtig gewürdigt werden kOnue (D. L. 2,
Z. 996, 2). Über das einzelne seiner Lehre ist wenig bekannt,
doch scheint er den grSssten Terstiegenheiten des Flatonismus
gegenüber eine anageprägt nüchterne Haltung zur Qettnng
gebracht zu haben. So ränmt er der Sinneserkenntnis
wenigstens nnter Leitung der Vernunft einen gewissen Banm
ein (S. Emp. Bogm. I. 145 f.). So liess er, wie es scheint,
die Ideen ganz fallen (Aristot. 1028 b, 21) und vertrat die
(evolationistische) Ansiebt, dass das VoUkommene nicht am
Ausgangspunkte der Entwicklung zu suchen sei, sondern als
Entwicklnngsresultat undEndei^ebnis betrachtet werden mUsse
(Aristot. 1072 b, 31, 1091 b, 16). Besonders dieser letzte
Funkt ist von weittragender Bedeutung, schon deshalb, weil
die entgegengesetzte Ansicht, nach der die Vollkommenheit
in den Urgründen liegt, sich im weiteren Verlaufe des grie-
chischen Denkens folgerichtig zu einer weltfeindücheii Mystik
ausgebildet hat. Vielleicht hing hiermit auch die ihm zu-
geschriebene, nicht besonders hohe Vorstellung vom GUttlicben
zusammen (D. 538), vermSge deren er nach Ciceros vager
und phrasenhafter Ausdrucksweise (N. D. I. 32) „die Er-
kenntnis des Göttlichen aus den Seelen herausgerissen" habe.
Doch bleibt in seinen Spekulationen genug Fhantastik
übrig. 'Ec kennt eine ganze Beihe übersinnlicher Prinzipien
und gerät, da er die Ideen durch Zahlen ersetzt, in eine ganz
pythagoreische Zahlenmystik hinein (Arist. 1028 b, 21; Jambl.
Tbeol. arithm. 62 f.). So vertrat er auch die Unsterblichkeit
der Seele (mutmasslich im Zusammenhange mit der Seelen-
wanderung) und zwar, abweichend von dem späteren Stand-
iM,Coo<^lc
118 A. Döring:
punkte Piatos, auch für die beiden unvernünftigen Seelenteile
(Z. 1008, 4).
Ausser erkennbarem Zusammenhange mit diesen Speku-
lationen stehen seine Bemühungen am eine wisseusohaftlicb
begrttndete Güterlehre für das diesseitige Leben. Es trifft bei
diesen ältesten Vertretern dieser Bestrebungen nodi nicht zu,
dass das höchste Gut der alleinige Endzweck ihres Denkens
ist, auf den sie (nach einem Worte Kants) alle ihre Er-
kenntnisse beziehen.
Dass er sich auch nach dieser Seite bethätigte, das zeigt
zunächst seine SteUungnabme zur Lustlebre des Eudoxos.
Dass er die Lustlehre überhaupt berücksichtigte, geht schon
daraus hervor, dass er emen Dialog „Aristippos" verfasst
hatte (D. L. IV. 4 f.). Es wird aber auch ausdrücklich
seine Polemik gegen Eudoxos in diesem Punkte bezeugt
(Arist 1163b, 4; 1172b, 36 fl.). Über die Art dieser Polemik
sind freilich an diesen Stellen nur einige fragmentarische
Andeutungen erhalten. Danach suchte er die Bemfang auf
die Allgemeinheit des Luststrebens bei allen fühlenden Wesen
durch den EUnweis auf die Minderwertigkeit der tierischen
Natur zu entkräften, und dem Beweise, dass die Lust ein
Gut sein müsse, weil die Unlust ein Übel sei, stellte er die
unzweifelhafte, aber in diesem Falle nicht beweisende Tbat-
sache gegenüber, dass auch ein Übel einem anderen Übel
entgegengesetzt werden könne. Ja, es könnten sogar beide
entgegengesetzte Übel einem dritten entgegengesetzt sein, das
weder Gut noch Übel sei. Im Anschluss daran suchte er dann
zu beweisen, dass die Lust als solche überhaupt so gut wie
die Unlust ein Übel sei, und dass ein Zustand, in dem weder
Lust noch Unlust vorhanden, beiden vorzuziehen sei (Arist-
1163 b, 6, 1173 b, 6, 1162 b, 8; Gell. N. A. IX. 6, 4). Wie
er aber diesen Beweis führte, darüber wird an diesen Stellen
nichts mitgeteilt. Jedenfalls zeigt er sich hier als Gegner des
Lustprinzips, Aristoteles erklärt einmal das herrschende
Vorurteil gegen das Wort Lust dadurch, dass dasselbe „durch
eine Art Erbgang" (im Sprachgebrauch) „in den Besitz der
iM,Coo<^le
RadoxoB TOD Xnidos, SpenelppoB. nud der Dialog PbilaboB. 119
körperlichen Lu8t übergegangen" sei {1153 b, 33). Dieses
Vorurteil bestand offenbar auch bei Speosippos, trotzdem dass
zwei so hervorragende Qeister wie Bemokrit und Eudoxos
mit allem Nachdruck darauf hingeviesen hatten, dass Glück-
seligkeit nur ein GefQhlszustand sein kann. Er wollte nicht
anerkennen, dass nur die mit einem Gegenstande TerkoUpfte
Lust die Ursache seines Wertes sein kann, dass nur eine
Lustursacbe ein Gut sein kann. Er war daher genötigt, sich
nach einem anderen Prinzip umzusehen, aus dem die Beschaffen-
heit, ein Gut zu sein, abgeleitet werden konnte.
Welchen Weg er einschlug, das erfahren wir aus der
schon öfters angefahrten Tafel des Clemens von Alexan-
dria (Strom, n. § 133). Nach derselben erklärte er die
Glückseligkeit für einen „vollkommenen Zustand in dem der
Natur Gemässen" oder im Besitz der Güter, einen Zustandi
auf den .das Begehren aller Menschen gerichtet sei". Er
erkannte also an, dass die im Begehren aller lautwerdende
Forderung der Natar nach dem ihr 'Gemässen für die
GlUckseligkeitsfrage ausschlaggebend sei. Er wollte jedoch
nicht anerkennen, dass das eigentliche Merkmal fUr das der
Natur Gemässe die Lust sei, sondern fand schon in dem
betreffenden Zustande selber, im yoUkommenen Besitze
der betreffenden Güter die Gewährleistung der Glückseligkeit.
Wie er nun die von der Natur geforderten Güter im
einzelnen bestimmte, darüber fehlt es fast ganz an direkten
Naehriditen. Wir hören nur (Plut. Not comm. c. 13), dass
er ebenso wie Xenokrates Gesundheit und Reichtum nicht
für gleichgültige Dinge, sondern für Güter hielt. Es ist jedoch
nach dem, was in dieser Beziehung Über seine Nachfolger
Xenokrates und Folemon berichtet wird, im höchsten
Grade wahrscheinlich, dass er sich in der Bestimmung dieser
Güter an die in Piatos „Gesetzen" mit so grossem Nachdruck
hervortretende Dreiteilung und Bangfolge anschloss, nach der
die Güter der Seele (die Plato ausschliesslich in den Tugenden
fand), die eigentlich allein an sieb selbst wertvollen waren,
die Güter des Körpers nur um ihrer Bedeutung für die Seele
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
120 A. Döring:
nad die äussdren Güter nur um der Bedeutung für den ESrper
willen Wert liabea.
Wenn dies aber der Fall wu-, so mnssten auch diese
drei GQterklasseit und ihre Bangfolge nicht, wie bei Plato,
einfach aufgestellt, sondern ans dem aufgestellten Prinzip
des Tollkommeaen Zustandes nach der im allgemeinen Be-
gebren zutage tretenden ^Forderung der Natur abgeleitet
werden. Wie und in welchem Masse dies schon Speusippos
gethan hat, wird nicht berichtet. Nur über das Verfahren der
alten Akademiker im allgemeinen finden sieb Nactuiditen
bei Cicero, die überdies teilweise an Unklarkeit leiden. Am
ToUstöndigsten soll nach Cicero diese Lehre vom höchsten
Gute als eines Lebens nach den Anforderungen der Natur
TonPolemon ausgebildet worden sein (Iln. IV. 14,45), doch
kann das Hauptsächlichste zur Erläuterung dieses Stand-
punktes im allgemeinen schon an dieser Stelle angeführt
werden.
Die Natur hat das Streben, sich selbst zu erhalten. Sie
ist mit den dazu erforderlichen Hilfsmitteln, den Gütern, aus*
gestattet. Diese zu erhalten, auszubilden und zu er^lnzen
dienen die Künste, deren oberste die Kunst der Lebens-
gestaltung im allgemeinen {ars vivendi) ist (Fin. IV. 16). Als
Güter der Seele in diesem Sinne werden in diesem Zusammen-
hange aufgefülirt: Kirstens die Fähigkeit zur Liebe und Für-
sorge für andere, die sich zunächst als Gatten-, Kindes- und
Verwandtenliebe offenbart, und auf der die Mtjglichkeit des
menschlichen Gemeinschaftslebens und die Entwicklung der
Tugend der Gerechtigkeit beruhen. Zweitens die Fähigkeit,
auch widerwärtigen Lebensumständen Trotz zu bieten, die sich
zur Tugend der Tapferkeit entwickelt. Drittens die Fähigkeit
zur Erkenntnis und Forschung, aus der Wissenschaft und
Weisheit entspringen. Viertens eine Anlage zu Scham und
Scheu, aus der die Zügelung der Naturtriebe, die Sophrosyne,
entspringt. So entwickeln sich alle Tugenden aus seelischen
Naturaniagen und sind, indem sie diesen Genüge leisten, selbst
Güter (Fin. IV. 17 f.). Die Güter des Körpers werden in
n,g,t,7l.dM,.COOglC
Eudoxos von Enidos, Spensippoe und der Dialog Phileboe. 121
diesem Zuaammenhaiige nicht näher aufgeführt und nur als
minderwertig im Vergleich mit denen der Seele bezeiobnet.
Das NatnrbedUrftiis ist das Kennzeichen, aas dem das
Natorgem&flse, also alles, was ein Gut ist, erkannt wird.
Ificbt durch die Last, sondern durch die Naturgemässheit wird
das Begehren wachgerufen (58). Ist die Summe einmal fest-
gesetat, so ergiebt sich leicht die Rangfolge der Bedeutung
fOr das Ganze der Glückseligkeit (ib. 32) Die geringeren
QDter aber werden durch die höheren nicht TSUig entwertet
(37). Der Mensch ist durchaus nicht bloas Seele (28). Die
GlQckseligkeit besteht im Genüsse entweder aller oder doch
der meisten und wichtigsten dieser Göter (60). Dies wird
anderweitig (Fin. II. 34; Äcad. II. 131) auch so formuliert;
Das höchste Gut besteht im Leben nach der Natur, d. h. im
GteoDss der natnrgemässen GQter, einschliesslich der Tagend.
Das Natui^mässe ist in der Natorausstattung bereits
angelegt nnd bedarf, um zur Glückseligkeit zu führen, nur
der Erhaltung und Pflege. Im Sinne dieser Angelegtheit zählt
Cicero einmal (Fin. V. 17) offenbar nach der Lehre der alten
Akademie eine Anzahl körperlicher Güter auf (Unverletztheit
allOT Teile, Gesundheit, normale Sinne, Freiheit von Schmerz,
Eraft, Schönheit) and fUgt dann hinzu, etwas Ähnliches seien
auch die ersten Funken und Samenkörner der Tugenden in
der Seele. Hier zeigt sich deutlich, weshalb die Tugenden
Güter sind; deshalb nämlich, weil sie die Ausbildung einer
in der Seele vorhandenen Naturanlage sind
An einer anderen Stelle hei Cicero (Akad L 19—21)
finden wir diese Lehre der alten Akademie folgendermassen
dargestellt. Das Lebensziel oder höchste Gut besteht darin,
dass wir alles für die Seele, den KOrper and das Leben
Erforderliche von der iN'atur empfangen. Die Güter des
KDrpers betreffen teils den ganzen KOrper, wie Gesundheit,
Eraft, Schönheit, teils die Tüchtigkeit und Brauchbarkeit der
emzelnen Organe. Von den durch die Natur verliehenen
Gütern der Seele werden hier nur angeführt : schnelle Fassungs-
kraft und Gedächtnis. Es fehlt also ganz die Naturausstattung
iM,Coo<^le
122 A.Döring:
ZU den sittlichen Eigenschaften. In dieser Beziehung steht
hier nur die offenbar aoa fluchtiger und verständnisloser Be-
nutzung der griechischen Vorlage entsprungene Wendung, die
Tugend sei die Vollendung der Natur und alles dessen, was
in der Seele angelegt ist. In noch flüchtigerer Weise wird
dann üher die Güter „des Lebens" nur gesagt, dass sie zur
Ausübung derTugead erforderUch seien (eine ganz unbestimmte
Hindeutung auf die Bangfolge). Ganz äusserlich werden dann
noch angehängt: Reichtum, Macht, Ruhm, Beliebtheit
Diese Angaben gehen vielleicht in einigem schon über
die Ausbildung dieser Lehre bei Speusippos hinaus. Anderen-
teils bleiben sie in ihrer Lückenhaftigkeit und Verständnis-
losigkeit -wohl schon hinter der von ihm erreichten E)nt-
vicklungsstufe zurück. Jedenfalls dienen sie zur Ejrläutemng,
was schon Speusippos mit seinem „vollkommenen Zustand im
Naturgemässen" gemeint hat.
Clemens bat aber in seiner kurzen Angabe noch einen
sehr bedeutsamen Zusatz: „Die Guten streben nur nach
Freiheit von Belästigung (aochlesia)." Offenbar kommt in
dieser Formel seine positive SteUnugnahme zur Lustlehre des
Eudoxus zum Aasdruck. Der „Gute" strebt nicht nach Lust,
sondern nur nach dem Mittelzustand zwischen Lust und Unlust,
nach der Unlustlosigkeit, der Belästignngsfreibeit. Vielleicht
erschien ihm, wie es nach den angeführten Zügen aus seiner
Polemik den Anschein hat, nicht nur die Unlust, sondern auch
die Lust, wie er sie verstand, als eine „Belästigung". Das
System der Güter dagegen, wie er es aus den Anforderungen
eines normalen, der Natur gemässen Zustandes ableitete,
wird durch diese Bestimmung, die offenbar nur gegen Lust
und Unlust EYont macht, nicht betroffen.
3. Der Dialog „Fhllebos".
Der „Philebos" steht unter den Schriften Piatos und
wird auch heute noch meist für ein Werk Piatos gehalten.
Er bietet aber unter dieser Voraussetzung eine Menge von
Schwierigkeiten und Unbegreifliohkeiten. Es ist kaum denkbar,
iM,Coo<^lc
EadoxoB TOD Enidos, Spensippos und der Dialog Fhileboa. 123
dass Flato sich auch nur in beactiränktem Masse, wie dieser
Dialog thut, zur AoerkenDUDg der Lust als Gut herbeigelassen
haben sollte. Wenn er aber dies that, so wird er doch kaum,
wie der Verfasser des .Philebos" thut, dies Resultat der ünter-
sachung am Schlüsse wieder rückgängig gemacht und wider-
rufen haben. Ein grosser Teil der Schrift ferner beschäftigt
sich mit der Tdllig unhaltbaren und sinnlosen 'Unterscheidung
von wahrer und falscher Lust Eine seltsame Eigentümlichkeit
derselben ist sodann, dass bei ganz unzulänglichen Gelegen-
heiten die grossen Prinzipienfragen des Piatonismus ganz
ohne Not in die Diskussion gezogen werden. So bei der Frage
nach den verschiedenen Arten der Lust und Unlust das
Problem der Ideen und ihrer Zerteilung in der Vielheit der
ErscheinuQgsdinge (14 C S.). So bei der Frage, ob Erkenntnis
oder Lust den Vorrang verdiene, die Frage nach den letzten
Grundelementen des Seienden (23 C ff.). Endlich sind die
Gedanken manchmal an sich selbst unklar oder durch Un-
zulänglichkeit des Ausdrucks verdunkelt Der Gedankengang
im ganzen ist schwerMlig und Übermässig kompliziert
Alle diese Unbegreiflichkeiten fallen weg, und das
Wesentliche des Inhalts wird vollkommen verständlich unter
einer doppelten Voraussetzung. Einerseits, dass der „Philebos'
von ünem geistvollen und scharfsinnigen, mit der platonischen
Gedankenwelt und Darstellungsweise vertrauten und sie in
wahrhaft geistvoller Weise nachbildenden, aber noch un-
geschickten, in den Gedanken noch nicht zur vollen Klar-
heit und im Ausdruck noch nicht zur vollen ßeife gelangten,
noch unausgegorenen jugendlichen Mitgliede der Akademie
verfasst ist. Anderenteils, dass dieser Autor gerade in den
Gegensatz zwischen Eudoxos und Spensippos einzugreifen
and beiden gegenüber einen selbständigen Standpunkt geltend
zu machen bemüht ist.
Letzterer Punkt wird durch die wesentlichen Züge des
Gedankenganges zur vollen Gewissheit erhoben. Gleich zu
Anfang wird der Gegenstand der Diskussion in folgender
Weise formuliert Zwei Ansichten über das wahre Gut
iM,Coo<^lc
124 A. Döring:
Stehen einaDder gegenüber. Nacli der einen besteht ea fOr
alle lebenden Wesen in dem Sich-freueo, in der Lust and
Ergfitztmgim weitesten and umfassendsten Sinne (IIB).
Bies ist nicht die Lehre Aristipps, der nor die Sinnen-
lust als Gut anerkannte, sondern entweder die Demokrits
oder, was viel näher liegt, die des damals in ganz Griechen-
land hochgefeie'rten Eudosos. Nach der anderen besteht ea
im Erkennen, Denken, Sich-erinnem, richtigen Vorstelleo nnd
Schüessen, kurz in der Gesamtheit der intellektuellen
Funktionen und ist nach dieser seiner Natur selbst-
verständlich nicht allen lebenden Wesen zugänglich, sondern
nur denen, die darjtn Anteil zu haben vermögen (11 C),
d. h. nur den in hOberem Masse mit den Yemunftanlagen
Ausgestatteten. An einer späteren Stelle (19 D) wird diese
Ansicht dahin formuliert, dass nach ihr „Vernunft, Wissen-
schaft, Einsicht, Kunst" (vielleicht gleichbedeutend mit Theorie]
„und alles damit Verwandte" fUr das wahre Qui zu halten
seien. Dies ist nicht die Lehre Flatos, der das wahre Glück
ausBcbliesslich in die denkende Erfassung der unveränderlichen
jenseitigen Wesenheiten setzte. Bei ihm liegt der Wert ganz
ausschllessUch in der BescbaSenheit des erkannten Objekts,
und demgemäss hat bei ihm auch nur die zur Erfassung des*
selben führende De nkthätigkeit im engsten Sinne Wert. Nach
dem hier bezeichneten Standpunkte dagegen wird ganz offenbar
dieser Wert den erkennenden Thätigkeiten im weitesten Um-
fange beigelegt, sofern sie nur richtig geübt werden. Das
Objekt kommt dabei nur insoweit in Betracht, als es ja auch
der richtigen Erkenntnisfunktion zufallen muss. An sich acheint
derWert aueschliessUch in dieBethätigung, dieFuoktion gesetzt
zu werden. Das ist eine Ansicht, die sich schon in der letzten
Lehenszeit Piatos im Kreise der Akademie gebildet haben
mochte. Sie hat die grOsste Ähnlichkeit mit dem, was ans als
Grundlehre des Aristoteles später entgegentreten wird.
Aof Grund dieses Gegensatzes werden nun drei Lebens-
formen, d.h. drei Weisen, nach der Glückseligkeit zu streben,
statuiert. Die eine sucht das Ziel aasschliesslich durch Lust
iM,Coo<^le
Endozoe von Enidoa, Speaeippos and der Dialog HiilahoB. 125
ZU erreichen, die andere ausschliesslich durch intellektaelle
Thätigkeit, die dritte durch eine Mischung von beiden {11 S.
21 Ef.).
Es wird nun gezeigt, dass ein Leben, in dem alle
anderen Bewusst^einsersobeinungen ausser dem Lustgefühl
aosgemerEt wären, also ein Leben ohne Erinnerung, ja ohne
die Fähigkeit, sich auch die gegenwärtige Lust im Vorstellen
gegenständhch zu machen, etwas ganz Absurdes und keines-
falla das 61IlckseligkeitfibedUrhii& Befriedigendes wäre. Es
wäre das Leben einer Auster oder Qualle. Ebenso femer,
dasa ein Leben, das ausschliesslich in Erkenntnisfunktionen
ohne jedes begleitende Lustgefühl verliefe, ebenfalls dem
GIQc^seligkeitsbedUrlQis nicht Genüge thun könnte (21).
So kann also von diesen drei Lebensformen nnr die
dritte, die gemischte, in Betracht konmien, und das Problem
spitzt sich dahin zu, welchem von den beiden Bestandteilen
der Mischung der überwiegende Wert zugeschrieben
WKtlen muss (22 Ü ff.). Dies führt zu einer umfangreichen
Untersuchung zunächst über Wesen and Wert der Lust
(31 B-35 0).
Hier treten nun wieder in einem besonderen Sinne,
nämlich unter Einschränkung auf das Vorhandensein oder
Nichtvcffhandensein der Lust, drei mögliche Lebens-
formeo auf, eine lustvolle, eine anlustvolle und eine mittlere,
bezeichnet durch die Abwesenheit der Unlust, aber auch der
Lust (43 D ff.}.
FQr diesen letzten Zustand als den begehrenswertesten
sind Männer eingetreten, „ausgezeichnet durch Er^
kenntnis der Xatur," die geradezu die Existenz der Lust
leugnen. Dieser letzte Punkt wird jedoch dahin näher erläutert»
dass sie nicht das Vorhandensein der Lust als seelische Er-
scheinung leugnen. Sie behaupten vielmehr nur infolge des
WidwwiUens einer nicht unedlen Natur gegen das Wesen der
Lost, diese sei lediglich eine Art von Gaukelei oder Tascben-
spielerei, also keine wirkliche, sondern nur eine scheinbare
Lust (44 O). Wie dies gemeint ist, zeigt die ausfuhrliche
n,g,t,7i.-JM,.COO<^le
126 A- Döring:
Widerlegung dieses Staadpanktes, die uns zugleich die von
diesem Standpunkte Torgebrachten Beweisgründe kennen lehrt
(44 D— Ö3 0). Es ergiebt sich nämlich, dass in der Ver-
teidigung dieser Ansicht nur diejenigen Arten der Lust ins
Auge gefafist worden sind, die mit einer Beimischung von
Unlust verbunden sind. Dies ist der Fall bei den meisten
kfirperliehen Lustarten, wo die Lust nur in der Stillung der
vorangegangenen heftigen Unlust des BedQrfens und Begehrens
besteht, also nur die vorgängige Unlust aufhebt. Es ist aber
auch auf den rein seelischen Gebieten der Fall. Die Affekte
Zorn, Furcht, Sehnsucht, Liebe, Bifersucht, Neid sind
Mischungen von Lust und Unlust, in denen die beiden Bestand*
teile schwer voneinander zu sondern sind. In der TragOdie
weinen die Zuschauer, während sie zugleich gemessen (48 A).
Sehr eingehend wird der gemischte Charakter lier durch die
KomOdie wachgerufenen QefUhle nachzuweisen versucht Diese
Darlegung läuft daraus hinaus, dass der Genuss am Komischen
auf einer besonderen Art von Schadenfreude beruhe. Der
Verfasser bezeichnet nur die Schadenfreude irrig als Neid,
d. h. als ihr gerades Gegenteil. Wir sehen menschliche Wesen
mit gewissen absurden Eigenschaften behaftet, die als solche
ein mitfühlendes Bedauern, also eine Unlust, wachrufen mtlssen,
während wir zugleich durch das Vorhandensein dieser Sch&den
lustvoll erregt werden (48 B S.). Unzweifelhaft ist hier das
Wesen des Komischen richtig, aber zu eng gefasst.
Wer sind nun die so urteilenden und arfpimentierenden
Männer? Es kann kaum zweifelhaft sein, dass hier die
Stellungnahme des Speusippos zur Lust bezeichnet
wird. Wenn er dem Luststreben das Streben nach „Be-
lästigungsfreiheit" (aoohlesia) gegenQberstellt, so entspricht
das genau der „dritten Lebensweise**, wie sie vorstehend
bezeichnet wurde. Und zur Begründung dieses Standpunktes
konnte er kaum treffendere Argumente beibringen als die
vorstehend skizzierten, die zum Teil bei Schopenhauer
wiederkehren. Wir lernen also aus dem „Fhilebos*' noch ein
Stück seiner Lehre kennen, die Art nämlich, wie er seine
iM,Coo<^lc
Eadoioa von Eoidos, Speamppos and der Dialog Philoboa. 127
Verwerfung der Lust als Gut begründete. Dass eine Melir-
zahl von „MännerQ" als Vertreter dieses Standpunktes be-
zeichoet wird, kann dagegen nicht ins Oeiricht fallen. Die
Mehrzahl war entweder wirklich vorhanden in seinen An-
hängern oder sie dient nur der berkltmoilichen, absichtlich
unbestimmten Bezeichnung. Dass letzteres hier der Fall,
seheint durch die herrorragenden Leistungen dieser aMänner„
in der Naturerkenntnis bestätigt zu werden. Diese scheint
nun freilich auf Speusippos durchaus nicht zu passen, der
nach allem, was über ihn bekannt ist, alles eher als ein
Naturforscher war {Z. 1006). Es ist aber im Sprachgebrauch
der platonischen Schule Erkenntnis der Natur keineswegs
gleichbedeutend mit dem, was wir unter Naturwissenschaft
verstehen. Im Sinne dieser Sichtung gelten die teilweise
recht abstrusen Spekulationen über das Wesen des Seienden,
mit denen sich ja Speusippos, wie gezeigt, eingehend befasste,
durchaus als Leistungen in der Erkenntnis der Natur der
Dinge, zu denen unser Verfasser als wesentlich gleich-
gestünmte Seele, wie verschiedene Partien des „Philebos"
zeigen, anerkennend und bewundert aufschauen konnte.
In sehr treffender Weise nun lässt unsere Schrift diesem
Standpunkte eine wenigstens teilweise Widerlegung wider-
fahren. Unser Verfasser verhält sich zu Speusippos fast wie
in diesem Punkte von Hartmann zu Schopenhauer. Es
giebt reine, d. h. nicht durch das Opfer begleitender Unlust
zu erkaufende Lust. So schon auf dem Gebiete der Sinne,
wenn dem Gl«nuss nicht ein nnlustvoUes Begehren voran-
g^angen ist, wie bei der Wahrnehmung schöner Farben, regel-
mäflaiger Figuren, wohllautender Töne und Wohlgerüche.
So vollends auf dem seelischen Gebiete in der die intellektuelle
Bethätigung begleitenden Lust (62 A). Bemerkenswert ist
hierbei nur, dass er an dieser Stelle den in der ursprünglichen
IVageatellung vorausgesetzten Gegensatz aufhebt und der
geistigen Bethätigung einen Lustwert beilegt. Es giebt also
wenigstens eine stattliche Gruppe von Lustgefühlen, die von
den Angriffen dea Lustgegners nicht getroffen werden.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
128 A- Döring.
LILdierlicb aber wird er, wenn er dann plStzlicIi sme
eigene Widerlegung des Pessimisten selbst wiederum wider-
legt Die Lust ist stets nur ein Werden (d. b. ein sieb ver-
änderndes Gescbeben). Eiu solcbes kann oicbt ein Gutes
sein. Das Gute ist das Sein, um dessen willen das Werden
stattfindet. Hier schwankt der B^;riff des Guten (d. b.
Wertvollen) plötzlich aus dem Fsycholo^scben ins Metar
physische hinUber. Aber auch in der Seele mOasen ausser
der Lust auch die Tugenden als „Gutes" gelten. Hi^ schwankt
der Begriff aas dem Psychologischen ins Ethische hinfiber.
Dies wird noch besonders dadurch deutlich, dass ausgeführt
wird, nach der entgegengesetzten Annahme mOsste der beste
Hensch bei vorhandenen Unlustgeftihlen sich fUr schlecht
und der schlechteste bei vorhandenen Lustgefühlen sich für gut
halten (53 CS.). Hier herrscht also allseitige Unklarheit
Kurzer ßUlt die Untersuchung Über die Arten der
Erkenntnisthätigkeit aus. Obenan steht hier das auf das Un-
veränderliche gerichtete Denken (65 C— 59 D).
In sehr umständlicher, grossenteils uuTerständlicber Weise
wird nunmehr (59 E— 67 A) die richtige, zur wahren Glück-
seligkeit führende Mischung hergestellt. Dies geschieht in so
schwankender Weise, dass Euo&dist (64 f.) die Lust als völlig
von der Mischung ausgeschlossen erscheint, bis sie dann
schliesslich doch noch ein ganz bescheidenes Plätzdien zu-
gewiesen erhält (66 C). Die Einzelheiten sänd hier ohne
Interesse und zum Teil schon durch ihre Dunkelheit un-
fruchtbar.
Das Ganze schliesst dann mit einem unverkennbaren
Ausfall gegen die Argumentaüonsweise des Eadozos. Wenn
die Lust nach allen ihren Arten fUr em Gut ausgegeben
werden sollte, so hiesse das dem Urteil der Ochsen, Pferde
und sonstigen Tiere Glauben schenken und die Liebestriebe
der Tiere für ein vollgültigeres Zeugnis halten als das Urtül
der Denker (67 B).
Durch vorstehende Einordnung und Auffassung schdnt
das „Fhilebosi^tsel" in befriedigender Weise gelOst zu werduL
iM,Coo<^lc
Ba'dDxoa von Knidoe, Sponsippoa und der Dialog FUleboe. 120
Der Verfasser setzt sich mit Eadozos, mit einer eigenartigen,
in der Akademie vertretenen Schätzung der intellektuellen
Thfttigkeit und mit der vtllligen Verwerfung der Lust seitens
des Speusippos auseinander und versucht, sämtlichen drei
Standpunkten gegeuUber eine vermittelade Stellung, mit An-
erkennnsg der Lust in beschränktem Masse, doch mit weit
überwiegender Sehätzung des InteUektaellen, einzunehmen.
Es ist ein Standpunkt, der mit dem später von Aristoteles
vertretenen eine entfernte Ähnlichkeit bat. Ob die Abfassung
dieses Dialogs noch in die letzte Lebenszeit Piatos oder kurz
nach dessen Tode ßUlt, lässt sich nicht entscheiden. Doch
ist es nach der Art, wie von Speusippos geredet wird,
wahrscheinlicher, dass sie in das hohe Greisenalter Piatos,
also tun 350, als dass sie in die Zeit der Schulleitung des
Speusippos fiUlt
n,g,t,7l.dM,COOglC
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Verstehen nnd Begreifen.
Eine psychologische Untersuchung
TOn Hermum Swoboda, IVieii I.
Inlialt.
w VmMu« von Aiudrufk. - B. Du VnMhai «cb i
(Jnod si etiam detor istelleotQm esse renun dijndicativiim, uon
myenjemns, qnonam psoto MCiuidniii eom iDdioemos. Qnom enim magna
eH ciina mtetlMtnm divermtaB : qnoniara alins eet Oorgiae iotellectaa, seonodom
quem dicit nihil eue, alias Eeracliti, secondom quem dioit omnia esse, alins
eorom qü qoaedam esse diount, quaedam non esse : nnllam dijndicandae
JDtelleotnnm diff erentiae viam invauiemaa, aeo hniiii iatelteo-
tum seqnendnm esse, illiiiH antem minime dicere nobis lioobit.
Seztoi ElmpiiiciiB, Pyrrh. Hypot
lib. U. oap. YI.
Etadeitmig.
„Verstehen" and „Begreifen" sind keine wissenschaft-
lichen tennini. Sie dazu zu machen, zu zeigen, dasa sich
in ihnen ein Tatbestand birgt, welcher der Begrenzung ßlbig
und dieselbe wert ist, da« ist das eigentliche Ziel der folgenden
Untersodiung.
In anderer als rein wissenschaftlicher Fassung gehalten,
sollte abra diese Untersuchung ein noch viel höheres Ziel
haben ktinnen. Das Verstehen ist Ton der grössten sozialen
Bedeatnng. £s ermSgUcht erst das friedliche Zusammenleben
der Menschen. Wo Menschen so zusammenleben, kann man
getrost annehmen, dass die Bedingungen fUr gegenseitiges
Verständnis günstig sind. Aber nirgends auf der Welt liegen
Eöe so günstig, dass einer den anderen ohne weiteres Toll-
iM,Coo<^lc
132 Heimauii 8wabod&:
kommeD Terstände. So wenig zwei MecBchea einaader in
allen Ttilen körperlich gleichen, so wenig gibt es jene psy-
ohisdie Gleichheit — wenn auch nur für einen einzigen Zeit-
punkt — welche eben Voraussetzung des Vollrerständnisses,
der Idee des Verstehens ist. An dieser Idee gemessen ist
freilich der grOsste Teil unseres Geisteslebens ein Miss-
verstehen, gegen dessen Schäden wir von altersher imman
sind, ja sein mllssen. Aber feineren Geistern macht sich doch
bei jeder Gelegenheit und sozialer Veranlagten wenigstens
in gröberen Fällen die Kluft fühlbar, welche Mensch von
Mensch trennt.
Wenn nicht das Leben selbst und das ZusammenBein
mit anderen Grund zum Weiterleben wäre, wenn Leben
nicht gleichzeitig Freude am Leben wäre, so mOsste es
majicher wegen der beängstigenden Einsamkeit inmitten der
MiUionen vorzeitig bescbliessen.
Das Miasverstehen kann also ganz unbemerkt bleiben.
Wird es aber empfunden, dann kann man regelmässig folgendes
beobachten: Es wird immer unangenehm empfunden und
es ist immer ein Gegenstand des Vorwurfes. Es wird immer
als ein Zeichen mangelnder guter Absicht, wenn nicht gar
als ein solches böser Absicht aufgefasst Man beschuldigt
andere des Missverständnisses, indem man nischlich annimmt,
sie könnten sich gegen eines anderen Meinungen oder
Handlungen stellen, wie sie wollen. Es liegt nur ein spezieller
Fall von Zurechnung vor. Aber eben so wie sich die Un-
barmherzigkeit im Zurechnen von Handlungen bedeutend
gemildert bat, seit man in die Vorbedingungen des mensch-
lichen Handelns einen genaueren Einblick gewonnen, seitdem
man namentlich erkannt bat, wie viel auf ßechnung an-
geborener Organisation zu setzen ist, ebenso sollte man hoffen
können, dass auch die Beurteilung gegenseitigeo Miss-
verstehens eine ruhigere wird in dem Masse, als sich der
ISnblick in die teilweise unabänderlichen Vorbedingungen des
Verstehens erweitert. Vor allem aber wird man wissen und
beherzigen müssen, dass das Verstehen nicht so verständlich
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
Venteben and Begreifen. 133
ist, wie man gemeinbia annimmt, wenn man sich mit gutem
Willen ein klein venig Mtlhe gegeben hat Nicht der gute
Wille, den jemand entwickelt, darf ihm Kriterium des er-
reichten Verständnisses sein, Bondem einzig und allein jenes
Gefühl der Zustimmang, welches keineriei Klausel kennt.
Wie oft hört man in Diskussionen: „Ich verstehe sie ganz
gut, aber " Das gibts nichtl Wer einen andern ganz
gut versteht, erwidert nicht mit „aber". Die Schwierigkeit,
sich auf den Standpunkt eines anderen zu versetzen, wird
ausserordentlich unterschätzt. Aber gerade die fälschliche
Annahme, schon auf dem Standpunkt des anderen zu stehen,
ist es, aus welcher man innerlich das Recht der Kritik und
des Widerspruches herieitet. Wie viel von all den im
SCTentlichen Leben, in Kunst und Wissenschaft geführten
Diskussionen, besonders von den leidenschaftlichen auf das
nUscdiliche Verstehen — Meinen zurllckzufUbren ist, erhellt
beim ersten Hinweis. Natürlich, je weniger man auf dem
Standpunkt des liehen Nächsten steht, fUr desto dümmer muss
man seine Ansicht halten — d. h. seine Worte, denn um
seine Ansicht zu kennen, mtlsste man eben auf seinem
Standpunkt stehen. Man erfasst nur die Worte, nur das
ÄusseruDgsntfttel und kritisiert den Inhalt, den man selbst
beigesteuert hat.
Es wäre nun allerdings eine unverzeihliche Vennessen-
hdt. von einer psychologischen Analyse Abhilfe zu erwarten
gegen eine so verbreitete, eingewurzelte Gewohnheit wie das
vermeinüiche Verstehen. Handelt sich's um eine alte Ge-
wohnheit, so wird dieselbe wohl Überhaupt eine gewisse Be-
rechtigung haben. Und so ist's in der Tat. Alles verstehen
heisst alles vergeben und — alles gehen lassen wie's geht.
Enei^e im Widerspruch und in der Bekämpfung anderer
batMissverständnis zur Voraussetzung. DasMissverständnis
sorgt mithin dafOr, dass die Komponenten nicht aufhören,
welche die Welt weiter bringen.
Das Missverstehen steht im Dienste der Gedanken-
auslese.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
134 Hetmanii Swobodtt:
Von dieser Erwägung brauchen sich indes diejemgen
nicht beirren zu lassen, deren Handeln dem BinfluBS der
Reflexion zuzüglich ist und welche die Mfig^chkeit anderer
als leidenschaftlicher Q-egnerschaft in sich verspüren. Sie
haben ihr Becht anf Milde wie die andern auf Ungestüm.
Nur sollte man nach Gegenständen trennen. In der Politik
wird man nicht so bald ohne die Schärfe der unüberbrück-
baren Gegensätze auskommen. In der Wissenschaft könnte
es doch vielleicht anders sein. Wer missversteht, beimpft
leidenschaftlich, wer versteht, kann es noch immer ernsthaft
tun. Die Einsicht macht eine trübe QueUe des Handelns
versiegen und ein paar reine dafür frisch hervorsprudeln.
IL Allgemeine Bedingungen des Terstehens.
Di« „psyehisehe Sltution".
Die Beobachtungen, welche mir den Anstoss zur vor-
liegenden Arbeit gaben, hat jedermann gemacht: wie ver-
schieden wir uns zum Beispiel Büchern gegenüber verhalten!
Das eine nehmen wir mit der grOssten Leichtigkeit durch, da
ist uns bald dieser bald jener Satz längst „auf der Zunge
gelegen", früher oder später hätten wir ihn sicher selbst ge-
schrieben, wir werden beim Lesen warm wie beim Selbstr
produzieren, der flüchtige Blick auf ein Wort genügt, um
uns den Inhalt ganzer Sätze erraten zu lassen und schliessUch
legen wir das Buch ebenso erleichtert zur Seite, als hätten
wir uns etwas vom Herzen geschrieben Ein anderes kostet
Mühe; wir können uns nicht gleich in den Verfasser hinein-
denken, wechseln in Gedanken öfters den Standpunkt, um
die Sache so zu sehen wie er, müssen manche Stelle Wort
für Wort und wiederholt lesen, schliesslich werden wir müde
und zerstreut und raten uns eine Pause an.
Ein Buch ist uns aus der Seele geschriebeo, ein anderes
.sagt uns nichts"; das eine verzeichnen wir als Labsal, Herz-
stärkung, Erlösung, das andere „lässt uns kalt". Diese beiden
Verbaltungsweisen sind für's Empfinden derart verschieden.
iM,Coo<^lc
Yerstehen nnd Begrafen. 135
dasa man leicht dazu gelangt, sie bewusst zu uater-
scheideu.
Einmal aufioerkaam gemacht, werden wir diesen Uater-
schied dann auch in den weniger aufdringlichen Fällen gewahr,
das ist namentlich Kunstwerken gegenüber, wo unser Interesse
mannigfaltig ist nnd leicht fUr das eine ein anderes eintreten
kann. JESn Gemälde entzQckt noch ehe wir uns sagen, warum,
beim anderen haben wir Mühe, uns durch eifrige Beflexion
zu einem „kalten Terständois" zu bringen. Bei dem einen
HusikstUck lassen wir uns „ausströmen", ein anderes „findet
nicht den Weg zu unserem Herzen". Aber auch bei ganz
kurzen Äusserungen anderer, bei Aphorismen, Sinnsprüchen,
Lebensregeln n. dgl. fällt jenes zweifache Verhalten auf.
Die Sprache ist — nunentUob fttr das „wuue" VeThMtiÜB — reich
an koaventiODellen Phrasen, von denen im vorhergeheDden einige unter
Anfnhi-aiigszeicben gesetzt wurden, nnd in welchen eich viel richtige Be-
obaohtOD^ objektiviert hat Ton der nohligea Einsicht in die Bedingungen
des YeTsändnisaes zengen aoch zahlreiche Steilen bei unBern besten Schrift-
steilem (F^cst'h NachtgespAch mit Wagner; Sciülles: Willst du die andern
Teistetu ....); man fbdet dieselben, ao gut es mit den Mitteln einer nn-
wissenschafUichen Psychologie geht, beschrieben. Und auch die Bezeichnong
ist zienlich regelmässig, indem für jenes Terhältnis zumeist „verstehen"
angewendet wird; ' daneben kommt aber in der nämlichen Bedentang auch
.begreifsn* vor. und nicht anders ist es bei den philosophisaben Schrift-
steilem. Sie zeichnen zwar unser Verhältnis bewnssterweise aus, beschreiben
es eingaliend, benennen es aber jeweils verschieden').
"Was ZU einer Untersuchung über das Verstehen ver-
lockt, ist auf den ersten Blick klar. Wer je die Annehmlichkeit
des „Anfgehens im Verständnis" genossen, fUblt leicht das
Bedürfnis nach, die Q-ründe dieser Annehmlichkeit zu er-
forschen. Und em flüchtiger Qedanke an den Menschen, als
ein der Verständigung bedürftiges Wesen, an die Probleme
') „Nur sich selbst versteht man ganz, andere narhalb. Denn man
kann es höchstens znr Oemeinsoboft der Begriffe bringen, nioht aber zu dei
diesen znm Orande liegenden ansahanliohen Auffassong." (Suhofsnhauer,
FiKEROi nnd Fabujpomkva II. § 6; ähnlich g 7 und § 18.) Dagegen Hakt-
lum, Phil. d. Cnb. S. 200: „Oefiihte kann überhaupt nur begreifen,
wer sie gehabt hat; nur ein Hypochondriat versteht einen Hypochondriaten,
nur wer schon geliebt hat, einen Verliebten.' Bier wird in der nämlichen
Stelle begreifen nnd verstehen für ganz dasselbe Verhältnis gebraucht. Doch
ist „VerBtflhen" hieffir entschieden häufiger im Qebrauoh. „Begreifen" und
„begreiflioh* gebrancht die ümgangsspraohe gern bei Handlangen.
iM,Coo<^lc
136 Heimann Swobods:
dea Unterrichts, an alle Arten kOnstlerischer Mitteilung macht
vorläufig eine hinreichende Vorstellung von der Wichtigk^t,
über das Wesen des Verständnisses etwas auszumachen,
nicht bloss zur Befriedigung des Erkenntnistriebes, sondern
vielleicht auch zur Bereicherung und VerbessGrung der Praxis.
Sucht man, um Über den zu behandelnden Gegenstand
einen Überblick zu gewinnen, für ajle Fälle des Versteheos
einen zusammenfassenden Ausdruck, so findet man auf der
einen Seite immer ein menschliches Individuum and auf der
anderen — kurz gesagt — Äusserungen eines solchen. Der
Begriff dieser wird natürlich nicht auf die vom lebendigen
Organismas ausgehenden zu beschränken sein, sondern auch
alles Sinnfällige umfassen, worin sich Spuren menschlichen
Geistes erhalten haben, also den „objectiven Qeist". Und
man könnte danach als den Gegenstand der folgenden Unter-
suchung bezeichnen das Verhältnis eines Menschengeistes zu
anderen, oder mit BUcksicht darauf, dass wir vom Geiste
anderer nur durch das Kenntnis erlangen, worin er sich ab-
und ausdrückt, die Wirkung der Ausdrucksmittel, wobei
natürlich Aasdrucksmittel nicht in dem engeren Sinne zu
nehmen ist: Mittel, mit dem man ausdrücken will, sondern
allgemeiner, wodurch etwas von der Psyche des Individuums
zum Ausdruck kommt, es mag ihm selber vielleicht —
wie bei Kunstwerken — zeitlebens zum Teil nnbekaant
bleiben, was.
Die Gliederung der Untersuchung wäre nun leicht durch
die folgenden Fragen gegeben:
1. Was kann alles Gegenstand einer Äusserung werden?
(Gedanken, GefUhle u. s. w.)-
2. Womit kSnnen wir dies alles ausdrücken, oder vor-
sichtiger: Was fUr Ausdrucksmittel stehen uns hierfür
zu Gebote (Geberden, Sprache, Musik, Mittel der
darstellenden Künste u. s. w.)?
3. Wie kommt der Ausdruck zustande (Theorie des
Ausdrucks)?
n,g,t,7i.-JM,.COO<^le
Terstehen and Begreifen. 137
4. In velchem VerhBJtnis kann ein zweites Individunm
zu einem „Ausdrack" stehen?
5. Wie bewirkt der Ausdruck Eindruck? (Q^rade des
Verständnisses).
Mit der Beantvortung dieser Fragen 'wVire das Ver-
hältnis zvischen den geisügen Indiriduen erschöpfend be-
bandelt.
Ich babe jedoch nicht die Absicht, den G-ang der Unter-
suchnag nach diesen Fragen einzurichten. Zveokentsprechen-
der dürfte es sein und gleich die Praxis zur eigenen Theorie,
wenn ich meinen Gedankengang mit „ausschweifender
Redlichkeit" wiedergebe. Kaidi Schopenhauers treffendem
Ausdruck ist man ja doch nur „Q^egenheitsdenker'*. Will
man fUr seine Gedanken Propaganda machen, so ist es
darum gut, die Gelegenheiten, bei denen man auf etwas
gekommeu ist, nicht zu Terbehlen, und auf diese Weise
sowohl Zustimmung als Widerspruch zu erleichtern.
Betrachten wir nun zuerst das Verhältnis, welches wir
zn einzelnen Sätzen wie Aphorismen, Maximen u. drgl. ein-
nehmen kSnnen. Die Selbstbeobachtung ergibt hierüber, wie
gleich anfangs bemerkt, ein Zweifaches, zwei extreme Ver-
baltungsweisen, zwischen welchen man jedoch offenbar einen
stetigen Zusammenhang anzunehmen genOügt Ist Man konnte
die beiden BezeichnuDgen der Laiensprache, welche ein
physiologisches Begleitmoment sebrrichtigbetonen, akzeptieren,
and von einem „warmen" nnd „kühlen" Verhalten, von warmer
und kühler Auftiahme eines Satzes, eines Ausdruckes u. drgl.
sprechen. Warm und kühl sind in dieser Bezeichnung keines-
wegs bildlich zn nebmeo. Suchen wir indessen nach anderen
beschreibenden Momenten unseres „warmen" Verhaltens, so
mOssenwir der Erleichterung gedenken, die uns ein Dictum
bereitet, welches wir voll „verstehen". Wir fUhlen uns durch
das glückliche Wort eines anderen häufig befreit, erlöst.
Besonders charakteristisch aber ist oft fUr unser „warmes"
Verhalten dessen plÖUlicber Eintritt. Manche Sätze haben
wir dutzendemale in unserem Leben gehört, gelesen, ohne
iM,Coo<^lc
138 Hermann Svoboda:
TOQ ilmea besonders ergriffen gewesen zu sein, bis sie una
eines Tages „bei guter Oelegenlieit" einfallen, and nun erst
in „ihrer vollen Tragweite bewnsst werden", „die Wncht
einer "Wahrheit" für uns gewinnen. „Jetzt erst versteh' ich",
sagen wir dann häufig in solchen Lagen und konstatieren
hiermit, wie sich der frflhere Zustand vom gegeBwärtigen
abhebt ■); der QefOhlsimtersctiied der "beiden Verhaltimgs-
weisen ist so gross, der Unterschied zwischen dem Unbehagen
des Halb-Yerstehens und dem lebhaften Lustgefühl des vollen
Verständnisses, daas er zu jenem unwillkürlichen Ausruf
drängt. Auch der Ausruf ist bedeutsam, wenn jemand nach
längerem Nachdenken freudig ausbricht: „Jetzt geht mir
ein Licht auf!" und des weiteren zu beachten, wie sich bei
diesen Worten seine ZUge klären, ja eiae strahlende Freudig-
keit annehmen können. Beispiele fllr einen so plötzlichen,
gelegentlichen Wandel des Verhältnisses zu Aussprüchen
u. drgl. kennt jeder aus eigener Erfahrung, der, mit gutem
Gedächtnisse begabt, aus seiner Jugendzeit manches Tiefe
behalten und unverstanden mit sich getragen hat, bis er mit
reifereu Jahren und vielseitiger Erfahrung dazn kam, dem-
selben einen Sinn zu unterlegen. (Horaz-Lekttlre und noch
manche andere Q-ymnasiallektürel)
Allein nicht nur den Aussprüchen anderer gegenüber
kann ein solches doppeltes Verbalten Platz greifen. Vielmehr
kommt es sehr häufig vor, dass wir beim Durchlesen eines
älteren Manuskriptes oder besonders erster Einfälle, Ski^ea
auf Grund dunkler, halbreifer Ideen sehr ratlos sind und uns
manchmal trotz grosser Mühe nicht in die Lage hinein-
versetzen können, in der wir jenes geschrieben, bis uns dann
auf einmal beim Anblick eines Gegenstandes, eines Boches,
einer Person, einer Eleinigkeit, die uns auch damals ange-
regt hat, alles wieder klar, ja selbstverständlich wird. Man
kann also wie einen andern, auch sich selbst zu Zeiten nicht
') Eine Beibe feiner Deobaohtongen bei Eari lAnge (Über A[)per-
ception. Eine psydiologtsob-pädagogisobe Monographie. 6. Anfi. Leipiig
1899 S. 13 ff., S. 30).
iM,Coo<^lc
Terateheo aad Begreifan, 139
versteheD, schlecht verstehen und wieder ganz verstehen,
und was aus diesem Fall, in welchem wir Mitmensch und
Ich in einer Person sind, klar erhellt, ist: Zum Verstehen
muss man in der „gleichen psychischen Situation"
sein, in welcher das zu Verstehende gesprochen,
geschrieben, getan wurde.
Die Bezeidmong .psychieche Situation" beabsiobtige iob keines -
we^ als Tenninoa einzofahreD: für eine ganze Reihe von fUleo würde sieb
weit mekr die Bezeichnnng „innerer StandpanlEt" eignen. Oenao so.
wie wir im Terrain nns so oder anders stellen mässen, um einen Wald in
gewisser Perspektive eq sehen, in gewisser Beliobhing o. s. w., so nehmen
wir anch beim Denken, ja beim abatratteateQ, einen Standpanbt ein, was
nns beeondeiB antf&llig werden kann, wenn wir denselben wechseln. Die
BazeiohDQDg Standponkt von unserem Denken ist keineswegs bildlich zu
nehmen. "Wir stetlen ans beim Denken tatsächlich unter unsere Tor-
stellnugen, gruppieren sie um ans, ändern den Oesiohtswinkel, stetlen ncB
näher, weiter, oberhalb, unterhalb; wenn wir etwas verstehen wollen,
probieren wir verwihiedene Standpunkte in Gedanken ans-, es ist laicht zu
beobachten, wie sich den geistigen Bemühnngon um das Verständnis eines
Satzes, um die ßewinnung des richtigen Standpunktes körperliche Gefühle
asaoEÜeren, ganz ähnlich denen bei Verrenkungen und Verdrehungen, dje
schwierige« Beobachten notwendig macht. Man denke übrigens an die
ADstrengongsgefShle in den Angen bei länger anhaltendem abstrakten
Denken. Freilich sind die individuellen unterschiede im Voistellen beim
Denken, dio Unterschiede der .mental imagery", erwiesenermassen überaus
gross, und eben deshalb ihre Mitteilung tn vielen I^len sicher ganz un-
mSglich. Allein gerade dieser Umstand ist für die Zwecke unserer Uuter-
suidiDttg von der grössten Bedeutung, weil dadurch in einer Reihe von
Aassagen, die sich sehr objektiv geben, ein subjektives Moment aufgezeigt
wird, welches das VeratSndnis bedentend erschwert nnd zwar umso sicherer,
als sein Torbandensein nicht vermutet wird.
Mit dem Erfordernis der „gleichen psychischen
Situation" ist fUr das VoUverstehen eine rein formale Be-
dingung aufgestellt, und es wird Aufgabe des Folgenden
sein, den Inhalt derselben näher zu bestimmen. Vorerst
mögen jedoch einige Bemerkungen Platz finden, welche die
Bedeutung dieses Elrfordemisses ins rechte Licht rücken.
Die „gleiche psychische Situation" ist noch nicht das Ver-
stehen selbst. Verstehen ist ein ßelationsbegriff. Verstehen
ist die Anerkenntnis, dass ein fremder Ausdruck unserem
momentanen geistigen Inhalt gerecht wird. Wenn wir etwas
ganz verstehen, sagen wir gern: Besser hätte ich's auch
nicht ansdrOcken können. Man könnte danach auch formu-
n,g,t,7l.dM,.COOglC
140 HarmaiiD Swoboda:
lieren: Yersteben beisst, fremden Ausdrnck fDr
eigenes Auszudrückendes adäqnat finden.
Femer sei darauf hingewiesen, dass das Erfordernis
der „gleichen psychischen Situation" zum Zwecke des Voll-
Terstehens zwar immer besteht, dass es aber nicht immer
schwer zu erfüllen ist Die „psychische Situation", deren
Ausdruck irgend ein Diktum ist, k&nn sehr einfach, jedermann
zugänglicb sein, wie zum Beispiel bei Wahmehmungsurteilen.
Aber auch hier kOnnen schon sehr bezeichnende Fälle von
Nicht-Verstehen eintreten. Wenn wir mit jemand an einem
Wasserfall stehen und er zitiert plötzlich: „Des Menschen
Seele gleicht dem Wasser . . . ., so werden wir das nicht
aufß,llig finden, uns gleich in ihn hineindenken, ihn verstehen,
indem wir uns die Stimmung, welche zu jenem Ausspruch
und zum ZitJeren desselben notwendig ist, ohne Mühe nach-
scbafTen. Gesetzt jedoch, es zitierte jemand obige Stelle
auch einmal während einer Tarokpartie, so würden wir nur
ganz herkömmlich handeln, wenn wir ihn verwundert an-
sehen und in die Worte ausbrechen: Was hast Du? leb
versteh Dich gar nicht. Hier wird es uns eben schwer,
wenn nicht unmöglich, uns in die psychische Situation des
anderen ohne Anleitung hineinzudenken. Der war vielleicht
gerade unaufmerksam, in Gedanken bei einem Wasserfall,
den er vor Jahren sah, etwa angeregt durch das Bild auf
einer Tarokkarte; allein in alle diese Voraussetzungen semes
sonst ganz klaren Zitates können wir nicht sofort — ebne
Anleitung — nach. Es handelt sich also hier nicht um das
Verstehen des Zitates, sondern des Zitierens. Wir verstehen
mithin etwas erst dann ganz, wenn wir fUr das Was und
das Warum die zureichenden Gründe kennen und daraus
ergibt sich als erste Definition der „psychischen Situation":
Die „psychische Situation" ist der Inbegriff aller
psychischen Elemente, welche wir für einen ge-
gebenen Ausdruck nach Inhalt und Akt als zu-
reichenden Grund anerkennen. Der zureichende Grund
für einen Ausdruck nach der Seite des Inhalts ist nur das
iM,Coo<^le
Tent«hen and B^reifBa. 141
korrespondierende fMordemis zur Adäqnatheit des Auadmcks;
der Ansdrack ist adäquat, wenn das Auszudrückende daflir
zareichender Grund ist und umgekelui. Die Eonstatiening
dieses Verhältnisses ist freilich ganz und gar Sache des
snbjektiven Ermessens, des Gefühls. Man frage jemand, der
an einer Stelle henunfeilt und sich nach vier-, fünfmaliger
Änderung mit grttsster Sicherheit fOr eine plctzlich einfallende
sechste Wendung entscheidet, nach den Gründen seiner Ent-
scheidung. £r wird an das „Gefühl" appellieren. In diesem
Gefülil der Leichtigkeit, gleichsam der Behebung einer Yer-
stopfang im Gehirn, erkennt man leicht das oben als
Charakteristikum des Voll-Verstehens angegebene wieder.
Es ist für die Entstehung dieses GefUhls ganz gleichgültig,
ob wir für etwas nach längerem Suchen selber einen Ausdruck
finden oder ob wir einen fremden adäquat finden. Auch der
diesem Gefühl eigentümliche Kontrast zum Toraufgehenden
Zustand ist ganz der gleiche. Daher unsere lebhafte Be-
friedigung, wenn wir die Lösung einer Frage, eines Problems
vernehmen, über welches wir selbst schon nachgedacht
haben, wenn wir ein Buch zur Hand nehmen, in welchem
eines von unseren Lieblingsthemen behandelt wird, in welchem
Fall wir dann für jedes glückliche Wort das feinste Ver-
ständnis haben und dem Autor dafür desto dankbarer sind,
je mehr wir den Dank uns selber schulden, vonwegen der
guten Vorbereitong, mit der wir an die Lektüre gegangen sind.
Das BrfordemiB der gleichen psychischen Situation,
faiess es oben, besteht zwar durchgängig, allein es ist nicht
immer schwer zu erfüllen. Je subjektiver die psychische
Situation, desto schwieriger ihre absichtliche Nachschafiiing
in einem anderen Subjekte. Wo unter die zureichenden
Gründe emes Ausspruches z. B. eine gewisse Stimmung
gehurt, wie hei vielen Aphorismen — „Gedanken als
Stimmung", wie sie Blehl treffend nennt — da heisst es eben
dieser Stimmung habhaft werden; wer Ober ein ziemliches
Bepertoire solcher verfügt, dem mag es vielleicht durch
Herumstifbem in denselben und versuchsweises Anpassen
iM,Coo<^lc
142 HerinaDii Swoboda:
und Unterlegen gelingen, diejenige zu finden, in welcher jener
Aphorismus für ihn einen Sinn hat. Bei längeren Schriften
sorgt oft das Vorausgehende, dass mau in jene Stimmung
kommt, aus welcher das Folgende geschrieben ist Der
Verfasser, der Redner, welcher Gelegenheit hat, den Leser,
den Zuhörer erst in einem gewissen geistigen LokaJ heimisch
zu machen, mit seinen eigenen Vorstellungen anzufüllen,
auf seinen Standpunkt hinUherzuleiten, wird viel eher Ver-
ständnis erzielen, als ein anderer mit etlichen uneingeleiteten,
wenn auch noch so leidenschaftlichen Sätzen. Allein, so
wenig derartige Sätze geeignet sind, Verständnis zu erzielen,
so machen sie doch einen umso klareren Begriff vom Wesen
des Verständnisses. Gerade diese schwierigen Fälle muss
man heranziehen, um das Problem des Verstehens zu ver-
stehen. Da ist einem an einer Sentenz „alles klar", etwa
auch noch „nichts Besonderes daran", bis man bei anderer
Gelegenheit merkt, man habe sie damals doch nicht ganz
verstanden; und dies kann sich ßfter wiederholen, ohne dass
wir mit absoluter Sicherheit anzugeben vermöchten, wann
wir ganz „hinter etwas gekommen sind". So wertvoll nun
auch offenbar das Voll-Verstehen ist — schon die dasselbe
begleitenden GefUhle sind ja nur ein Ausdruck seines vitalen
Wertes — liegt es doch sehr oft ganz ausserhalb unseres
Beliebens, bis zu demselben vorzudringen und es fragt sieh
daher, was uns alsdaim für ein Surrogat zur Verfügung steht.
Wenden wir uns indes der näheren Charakterisierung
der psychischen Situation zu. Um etwas zu verstehen, muss
man in der gleichen psychischen Situation sein, hiess es erst
Ein späterer Satz hat diese Aufstellung insofern berichtigt,
als er zum Verständnis eines Ausdruckes nur das, aber auch
alles das forderte, was auf seite des Ausdrückenden not-
wendig war, damit er sich so ausdrücke und nicht anders,
also alle Teilbedingungen des Ausdrucks. Dass die Summe
dieser Teilbedingungen für den Ausdruck zureichender Grund
sei, dafür haben wir kein anderes Kriterium als unser Gefühl;
doch dürfte dies der Evidenz des Verhältnisses kaum schaden.
iM,Coo<^lc
Tersl^en und Begrei&D. 143
Uater „psychischer Situation" haben wir aleo von allen
im Bewu^teein gleichzeitig anwesenden Elementen nur jene
zu verstehen, von denen keines fehlen konnte, ohne den
Ausdruck zu alterieren. Es lässt sich hier die Differenz-
methode des Experimentierens in einem Falle der Selbst-
beobachtung mit so angenscheinliehem Nutzen anwenden,
dass es gar nicht verwegen erscheint, an die Ausbildung einer
experimentellen Selbstbeobachtimg in diesem Sinne zu denken.
Erkläre ich z. B. ein lyrisches Gedicht erst zu verstehen,
nachdem ich bei Gelegenheit eine bestimmte Erfahrung ge-
macht oder einer feinen Stimmung, einer seltenen Gefühls-
nuance habhaft geworden hin, so erkläre ich hiermit diese
Erfahrung, diese Stimmung u. s. w. als notwendige Bedingung
der Entstehung des Gedichtes. Ich konzipiere es in dieser
Stimmung nach, ich fühle, wie es aus dieser Stimmung, aber
auch nur aus dieser mfiglich ist, ich kann die psychische
Situation keinen Augenblick in Gedanken ändern, ohne mich
zu überzeugen, dass es in emer andern unmdglich ist Etwas
verstehen heisst, es selbst sagen kOnnen, mit voller Über-
zeugung, aus tiefstem Herzen; solange wir das nicht können,
fehlt uns eine der erwähnten Teilhedingungen. Freilich ist
auch der Fall denkbar, dass solche Teilbedingungen nicht
auf seit« des Lesers, Hörers, sondern des Autors fehlen,
dass man also mehr „herausholt" als hineingelegt ist.
Bevor wir m die Behandlung der Teübedingungen ein-
gehen, seien noch einige Hlustrations^lle erwähnt. Eine
wissenschaftliche Erkenntnis, z. B. einen Satz der Mechanik,
hält man gemeiniglich dann für verstanden, wenn man eine
klare Vorstellung von den Thatsachen und Beziehungen hat,
welche in demselben zum Ausdruck kommen. AUein man
kann zu einem solchen Satz doch noch in ein anderes Ver-
hältnis treten. Wer z. B. im Laufe einer historischen Dar-
Btellung allmählich dazu gelangt, sich in den geistigen Inhalt
seines Entdeckers zu versetzen, in die individuellen Geistes-
verhältnisse, denen der Satz entwachsen, so dass er ihn
schliesslich selber zu entdecken meint, oder der Schüler,
iM,Coo<^lc
144 SermkikD Siroboda:
■welchem der Lehrer nur Thatsachen vorführt, aus welchen
er ihn selber etwas zu finden anleitet, diese beiden werden
jenen Satz doch noch anders verstehen; sie haben ihn am
Ende eines längeren Gedankenganges, sie haben ihn not^
wendig, er wird für sie ein Erlebnis, ein Ereignis, und die
Erfahrung lehrt, dass solcherart erworbene Kenntnisse im
Gedächtnisse wie eigene geistige Errungenschaften haften').
Wer einen Gedanken so versteht, ist dem Schöpfer desselben
gleich; er macht die Wonne des Konzepts mit, die Pein des
Problems und die Freude der Erlösung.
Um also einen Gedanken quasi erstmalig zu haben und
voll zu verstehen, ist mehr notwendig, als sich ihn anzu-
demonstrieren, begreiflich machen zu lassen. Worin dies
mehr besteht, das klarzulegen, wäre Aufgabe einer psycho-
logischen ErkenntnisÜieorie, oder wenigstens einer Psycho-
logie des Erkennens.
Das grosse agens, dem wir alle Wissenschaften zu
danken haben, ist das intellektuelle Unbehagen, welches
allem Unklaren, allem Problematischen anhaftet'). Der Ge-
danke, der uns von diesem Unbehagen befreit, hat daher im
Verhältnis zu uns eine vitale Bedeutung, er ist eine Art
Serum, welches unsere Psyche zu Selbstheüungszwecken ab-
sondert und er hat daher diese Bedeutung nur für den,
welcher am entsprechenden Probleme krankt. Wen man
*) Stedthai, (Uaber die Arten ond Forme& der iDterpretatioB, Tet-
bandloDgen der 32. Tcraammlong denfacher Philologen und Sohnlmänner in
Wieabaden 1877) nennt dies das „pliilologisohe Yeratehen" im Gegoostt»
mm , gemeinen Verstehen", weil er lutaptsaohlioh inf die „kftmtliohe
Herbei^ rung* der Bedingungen desselben das Augenmeib riohtet, wie sie
beim Terstehen antiker Schrißen, Kunstwerke allerdings kaom za vermeiden
sein wird. Auch geniale Einblicke müssen auf diesem Gebiete dnnb g4-
flissentliohes Einleben mögtiob gemacht werden.
*) Siehe Mach, die Analyse der Empfindongen. 2. Aofl. Jena 1900,
S. 809. „Alle Wissenschaft geht daranf ans, Thatsachen in Qedanken dar-
zustellen, entweder zu praktischen Zwecken oder zur Beseitigiuig des io-
tallektnellea Unbehagens. Die praktischen Zweoke fähren aber anoh auf
ein impnlsiTes Unbehagen zorflck.' Hack berührt sieh hier eng mit Are-
naiins, der als den Ausgangspunkt unseres gesamten theoretisohen nad
praktisohen Verhaltens die „TitaldiSerenz* annimmt, ein Begriff, waloher
in den meisten ElUleu ganz gatdnroh .Unbehagen" wiedergegeban werdw kaan.
iM,Coo<^le
al^ durch Vorhalten der fraglichen Thatsachen mit dein
Probleme infizieren kann, dem kann man auch ein volleä
Verständnis seiner LöBung, des wissenschaftlichen Satzes
täcfiera.
So iit snm Tentändtui dues Phltt»opben die Eenntnis Beiner Vor-
ginger Boveit notwendig, als Beina Philosophie doroh die LeiatnogeD seiner
TorgSnger bedii^ liit. Oder *en nicht der aubjektive Idealismne znr Ter-
nrcänng gebradit hat, den wird AvoQEirius' Tersiioh (Der mensohtiohe
Weltbe^iff, Lupsg 1891) mit demBelben BarEoiSamenv mobt aoBprechen.
LsDge (K a. 0. S. 804) kommt bei BrÖrtenuiK der Frage, wie in der
Schale Intereflse tn erwecken Bei, zu dem Sohlossä: .Es müssen Thatsachen
rar das Cind in Probleme verwandelt werden . . . Anf diese Weise buui
anoh dem scheinbar trcwkenaten Unterriohtsftegenstande jenes spannende'
Oeföhl der Tothudune und der Enrertong gedohert werden, das den apper-
lipierenden YoiBteUangeii 'die reohte StSrke und I,ebhaftigkeit verleiht.*
Im Gebiet der Mathematik und Physik unterliegt das
meist keiner grossen Sch^erigkeit. Denken wir an den
häufigen Fall, däss ein neuer Gedanke durch das plötzliche
Zusammentreffen zweier anderer im Bewusstsein entsteht
(Newton), so ist die Genesis dieses Gedankens in jedem
aufgeweckten Individuum leicht zu wiederholen, Dass man
aber; wie gut auch immer zum Verständnis eines Gedantens
präpariert, doch noch nicht in den vollen Besitz des Aktivi-
tätsgeftlhls einrUckt, welches den genialen Erst-Denker aus-
zeichnet, ist ohne weiteres klar. Genau genommen, verstehen
sich zwei Individuen nur dann vollkommen, wenn sie un-
ablÄngig von einander, von den nämlichen Voraussetzungen
ausgehend, auf den nämlichen Gedanken kommen, was Sich
auf wissenschaftlichem Gebiete oft genug ereignet. Allein
man hat das Gefühl, dass das Voll-Verständnis, das quasi-
schöpferische Verhältnis zu einem wissenschaftlichen Ge-
danken ein nicht gerade bedeutsamer Idealfall ist. Und
nicht mit Unrecht. iMe Sätze der Naturwissenschaften sollen
jedes subjektiven Einschlages entbehren; sie sollen Verhält-
nisse der Aussenwelt zum Abdruck bringen, die jeder nach-
prflfen und nachkonstatieren kann, sobald er nur darauf auf-
merksam gemacht ist. Eine gewisse Stufe der geistigen
Entwiekelimg ist hier natürlich immer vorausgesetzt; es
a. Sodol. xxvn. i. 10
iM,Coo<^lc
146 HermaDD SvobodS;
wUrde den Gang der Untersuchung zu sehr komplizieren,
wenn wir dieses Moment näher in Betracht ziehen wollten.
Sowie es bei einem Urteil in der Wissenschaft einmal
darauf ankommt, wie man sich „zu der Sache stellt", muss
jeder andere, der ein solches Urteil verstehen will, sich eben
so zur Sache stellen können und wollen.
In den Naturwissenschaften lässt sich natürlich am
ehesten Verständnis erzielen und infolgedessen — was von
grösster Wichtigkeit ist — Übereinstimmung; Wissenschaft
— wenn sie auch in dem intellektuellen Unbehagen eines
Individuums ihren Grund hat — ist doch nur das, was
mehrere, viele, womöglich alle zu befriedigen imstande ist.
Resultate des Denkens, welchen — von zeitweiligem und
psychologisch wohl begründetem Widerstände abgesehen —
dauernd die Anerkennung versag bleibt, haben mit der
Wissenschaft nichts gemein. Die Stabilität der Verhältnisse,
denen wir uns mit unseren Gedanken anpassen, sorgt schon
für die Ausscheidung des Unhaltbaren. Daher der grosse
Vorteil, welchen in dieser Beziehung die Naturwisseuschaften
haben: Sie gestatten immer eine Benifung auf die allen ge-
meinsame Aussenwelt, ihre Begriffe werden durch den steten
Verkehr mit dieser einer fortwährenden Korrektur und
Läuterung unterzogen, die nicht einmal unser Zuthun er-
fordert: res nolunt male intelligi.
Wie wenig der Mangel an Vollverständnis in den Natur-
wissenschaften ausmachen kann, sei noch an dem Beispiet
der sogenannten intuitiven Erkenntnisse dargethan, unter
welchen wir eine „Bereicherung, Erweiterung, Erg^Lnzung
sinnlicher Vorstellungen durch andere sinnliche Vorstellungen
unter Leitung der sinnlichen Thatsache" (Mach) zu verstehen
haben, z. B.: „Der Baum hat eine Wurzel.** Solche Urteile
pflegt man gern als selbstverständlich zu bezeichnen, was
immer so viel heisst als: Wir können uns gar nicht vor-
stellen, was für ein Problem durch sie zur Ijösung kommen,
was für ein intellektuelles Unbehagen durch sie behoben
werden soUte oder anders und einfacher: wir können uns
iM,Coo<^lc
Teretehen mid Begreifen. 147
nicht vorstellen, was zu einem solchen Urteil drängt. Die
sinnlichen VorstellungBelemente, welche eben durch ein solches
Urteil produziert werden, genügen vollständig zu seiner
Verifizierung. Dadurch, dass wir sie im Urteil schon bei-
sammen erhalten, konunen wir nicht mehr dazu, sie selbst
zusammenfügen zu müssen. Allein wir kommen in diesem
Falle offenbar nur um die MUhe und nicht um den Qewinn.
Darin liegt die grosse ökonomische Bedeutung alles Selbst-
verständlichen. Darin liegt aber auch seine Gefahr. Im
obigen Beispiele besteht die Erkenntnis m einem einzigen
zusammenfassenden, Überschauenden Blick und das Urteil,
welches zu diesem Bück anleitet, verschafft jedem, der mit
den nötigen Beproduktionselementen versehen ist, die nämliche
Erkenntnis. Das Urteil schafft hier in jedem, der es hört,
hest, die geistige Situation, aus welcher es möglich ist und
zwar umso leichter und sicherer, als es sich nur um gegen-
ständliche Vorstellungen und nicht um Begriffe handelt, der
Reproduktionseffekt der gebrauchten "Worte also ein ziemlich
eindeutiger ist Sowie jedoch dies letztere nicht zutrifft —
ein Fall, von welchem noch ausführlich die Rede sein wird,
so ist die Gefahr ßUschhchen Verstehens-Meinens sehr nahe
gerückt.
Obwohl es nun nach dem vorausgehenden ein geistiger
Luxus ist, etwas Selbstverständliches zu problematisieren, so
hat dasselbe doch einen grossen Reiz und für die vorliegende
Untersuchung eine grosse Bedeutung. In keinem Falle
niUnlich ist man Über die mannigfaltige Verhaltungsmöglichkeit
zu einem Urteil so frappiert, als wenn man irgend etwas
Selbstverständliches auf einmal als Problemlösung „empfindet."
Und die Art, wie man dazu kommt, ist ebenfalls sehr
charakteristisch.
Mit Absicht ist nändich zu diesem Behufe nichts aus-
zurichten. „Plötzlich" sieht man die Sache so, „zufällig"
kommt man di^inter. Die Situation, die neue geistige —
meist ganz kurz und vorübergehend — ist von unvergesslicher
Charakteristik. Der Zufall ist in seiner Bedeutung für das
iM,Coo<^lc
14Ö B»T»ilrafr BHiiiiiil:
^Isti^e Finden nicbt zn uBtersehätKeii. Geiiau so yaie jemand,
ja gaJize Generationen bei diesw oder jener Hantierung einer
technischen Erfiadang auf ein Haar Äahe ^aren^ bia sich
einmal xnfilllig die Bedingungen gBnstig gruppierten, tot auch
bei neuen Gedanken oft alleä foa einer glßckUchen, nichts
weniger als planvollen Vorst*llung3-Konsfellätion abhängig,
ton einer Begegnung enöegener, wildfremder Vorstellung
kömpleie, die durch eine Kleinigkeit veranlasat *ifd. Wer
einmal in einem flolchen Augenblick plötslicber £rleaehtung^
nach einem adäquaten Ausdruck gesucht und die Unzuläng-
lichkeit der Tcrrhandenen Ausdnicksmittel gefohlt hat, der
wird Sich in Hinsicht nicht so leicht einbilden, in fremd©
Ansichten eingedrungen zu sein.
i)ie Bedeutung einer solchen Vorsicht wird erst das
folgende offenbaren, wo wir von deii Schfrierigkeiten des
VoU-Verständnisses und seihein höchst mangelhaften Efsata
in den Geisteswissenschaften reden. Da eö sich hierbei haupt^
sächlich um die BegriffsmiSfere handeln wird und damit andere
komplizierte Fragen auftauchen, so seien an dieser Stelle
einige vorläufige Bemerkungen Ober unser mögliches Ver-
hältnis zu philosophischen Ansichten und Schriften ein-
Es Inon aiemaitdeni, der di6 äntspracbönde BftokfäehtsliMl^eit g^en
flieh selbst bestttt, tntgeben, an welch unscheinbare Oelegenheilen wir oft
nnsere Gedanten anknöpfen and, was eist recht ins Gewicht tüli, wie innig,
jft nnavflisHch diese Seziehncg zvischen Gelegenheit tud GedsubennOSn ksnn.
Pas tngemeib b&nfiAe, dem Faychcdogen und Kenner dar ntensohljohen
Seele freilich sehr erklärliche Verechweigeu dieser Gelegenheiten darf dar-
fiber nicht t&nsohen. Ein hfibsohes Beispiel för dne derartige Golegen&ait
Kefart Haoh, dessen herzerquickende und selbstlose Aufrichtigkeit überhanpt
für die Psychologie des Erlfenneiis, mehr erbracht bat als ganze B&nda Yär-
logenr Abetraktionen.
Hach en&hlt in der .Analyse" (S. 28), wie er su seinem Empfindongs-
tnoniemuB'' gukommen. „An einem heiteren Sommertege im Freien erschieo-
mir einmal die Welt samt meinem loh als eine zasammenfaaiigeFide Haas»
Ton Empfindungen, nur im loh slSrker lasammenhängend. Obgleich die
eigentliche Reflexion sich erst später b inzugesellte, so ist doch dieser
Uoment för meine ganze Anschanang bestimmend geworden." Man mute-
onr daran denken, wie sieh bob solchen Anlässen schon Systeme entwickelt
baben. in welchen der TerTasser nnr aas den Wolken vernehmbar wird und
Kolonnen von Beweisen inr Stötznng des OebSnde« herfaaltsn mfissen, wo
4er Anläss diein Beweis geni^ «are — am diese .Ich* nnd vor allem
den Naobsatz: .Obgleich a. s. w." zn würdigen. Welche UShe bitte jemand.
iM,Coo<^le
IbHidiB Aogptwuipg j^ dun ent .wUu hmiakgmiaendeii BfAexionen" m,
Ters^eh^n nöd vde leioht hat mau'B dod I Wird doch auch der Süinkloprer-
himuM iD dfiii Kran in wfh fflibwn boi MRtna UiÄlioiüüi Aiiiass -SnpfijultiDsa-
Vas uU ni» dieaw Baüpialt Ea aoll auf dea .^n^jektlxau Eüi'
f(4ila(" iüowajuBj dar '^4' ^i jadej PhUp^fü^ «ngegebeq, ^bSE vi« mir
scheint, nicht gehnbreod ge würdig wird. Ein eiazemeä^Brlelinis, eine EdU
tBi^nphnng^ BJQ flüEiur GbankteTzoXi eine gewisse körperiiiäLB lFi>nBtitntif>n
A^aCTijgBpnntt «inH ST^omBl £111 solofaee System kaaa Qagenstud daw
vieBeoscnafdicheii'ITDtennohDDg, einer eebr iDtereasaetea pBycholoeisoheb,
«vwdaell (iBfalio-paäioloaisdieD Cnteranciiaag, »ioer hiatoibcihaD über die
l^ntwick^^ des UeDuiLeDgei^tB^ sein, aber selber Wissenschaft nie, da
es keiiie Wiss^üfchaft ad nsQtn propriam giebt, eine ÜeboreinstimmiiDg
jedoch nur daaa xu atnartan ist, wenn äossenatiiektise AnUsse vad^an,
£'b |rir diae obait yon den fiatnrwiaaenschaften bemerk iiatten. UiqgebQhrt
DD pi^n dann natürlich von einer solchen TTebereinstiminung auf einen
loloheii AnlasB lohliessen'). fis ist jedoch nicht Zweck der votUegeadea
Dnteisaehan^ jBinei Art von Philosophie den Ohoraktar der VisBODsohafC
zn nehmen, welche gottlob iininer setteiier wird, doch hat diese bteiae Ab'
sdkweifniig immerhin Oalegenheit ta folgeudsr Binsidit gelben:
den Ideal ewet Via9eii4oua& entsDriohi, ist fürf Volf-yenständnis giinstig.
Wo jedoch der au^ektlTe Einschlag ^teginut, da beginnen die Schwi^ngkeiten
r dqppeltftr Natu: Es können die Anadnicksmittel i
sein, j^i) ganz anfmnebmen oder ps finden die AuadnioksBiiUel nicdit die
entsprechende Eündrock^fahigkeit vor, wenn z. B. der ßubiekti'ye Kinschlag
in aalbiaen Oeiählen, Erlebnissen besteht, in welchem Fa& ^erdinga anoit
ra^miasig das An^dmcksmittd versagen wird.
Da nun dieser subjektive Eiasctilag auch aus der
Wissenscbaft nocli lange nicht verbannt ist und bei den
ausserwigsenschaftlichen Äusserungen oft geradezu die Haupt-
sacbe, Gegenstand des Ausdrucks ist, so verlohnt es
sich wohl, denselben näher zu betrachten. Eine Art desselben
ist schon erwähnt worden, das ist der subjektive Anlass.
IfatUrlich braucht derselbe fUr eine Äusserung nicht conditio
sine qua qod zu sein, die Äusserung braucht durch ihn nicht
eindeutig bestimmt zu sein. Allein in den zahlreichen Fällen,
wo uns etyag erst bei der Kunde des Anlasses verständlich
wird, WQ uns etwa jemandes Philosophie erst verstäntJUch
wird, sobald wir in seine Tagebücher oder Frivatbfiefe Ein-
blick erhalten, da ist der Anlass eben auch conditio sine qua
M^ii^ttuiSymiiloa VorttamerkungeD' (AQfJfae, ß. S6j. .Der philosophische
St^ndpiinf^ des gemeiaei) Hannes bat Ansprach anf die höchste Wort-
achätituig. Dersäbe hat sicJi ohne das absiobtlidie ZaÜinn des Menaohen
--'^-r laoger int erieb^n; er i^t eio N»tniproduit" n. a. w.
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
}50 Hermann Swoboda:
non, auf der einen Seite für die konkrete Äusserung, auf
der andern Seite fUr ihr volles Verständnis. Der Anlass
conditio sine qua non, das ist nur eine andere Formulierung
für das vorhin über die biologische Bedeutung unserer
Äusserungen Vorgebrachte. Wenn ein GJedanke, wenn ein
ganzes System nur Sinn hat als Heilmittel für das Unbehagen
eines ganz individuellen Intellekts, was soll es dann anderen
sein? Entweder Schall oder alles, was es seinem Autor
war. Dies letztere wird hinreichend bezeugt durch die be-
geisterte Zustinunung, welche Dichtem und Philosophen zu-
teü wird, die eine „Zeitstimmung glücklich erfassen." Hier
ist eben der Anlaßs ein verbreiteter, der Autor findet nur
ein Auskunftsmittel für eine „allgemeine Beklemmung", flir
ein „sehr verbreitetes GefUhl"; dafOr heisst er denn auch
ein „Kind seiner Zeit". Umso grössere Schwierigkeiten
haben dann allerdings kommende Zeiten, um ihn „aus seiner
Zeit" zu verstehen. Was von einer Zeit, einer Landschaft,
einem Milieu in jemandes Werke eingeht, ist kaum anzugeben,
vom Wie? ganz zu schweigen. Man hat es hier mit Im-
ponderabilien zu thun und doch sind dieselben für ein voUes
Verständnis von der grössten Bedeutung. „Wer den Dichter
will verstehen, rauss in Dichters Lande gehen." Gobthk er-
zählt in der italienischen Reise, wie er erst am Meeres-
strande die Odyssee verstanden. Das Verständnis eines
physikalischen Gesetzes kann mir im Freien so gut wie im
Zimmer, vor einem alten so gut wie vor einem neuen Apparat
aufgehen, mit 20 so gut wie mit 60 Jahren, wie auch alle
diese Umstände für die Entdeckung eines Gesetzes gleich-
wertig sind. Aber schon fOr eine Philosophie sind solche
Umstände nicht gleichwertig. Hier sind sie mit dem Kon-
zept der Grundgedanken — die drüber wuchernde Reflexion
kann das nicht verdecken — oft genug untrennbar verbunden;
und gerade jenes System, welches sich schon seiner Methode
nach ganz unpersönlich geben will, ist der schönst« Beleg für
diese Thatsache. Um wie viel mehr gilt dies erst von Kunst-
werken, wo allerdin^ die Absicht auf Ausdruck des Per-
n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL'
Varataben tmd Begralfen. 151
sönlichen gerichtet ist und der Hinweis auf den subjektiven
Einschlag nicht so notwendig wie bei wiBsenschaftlichen
Werken, wo derselbe wohl gar abgeleugnet wird („geome-
trico modol").
In vielen Fällen wäre es sehr ungerecht, dem Autor
wegen der Vorenthaltung des subjektiven Anlasses Vorwürfe
zu machen; man denke nur an die mannigfaltigen „Einflüsse",
die überhaupt erst ein kommendes Geschlecht bei geänderten
Verhältnissen durch den Gegensatz bemerken kann. Gelingt
es doch noch fortwährend in den Werken der Griechen neue
„Einflüsse" zu entdecken, welche diesen verborgen bleiben
mussten. Nicht unmögliches, aber immerhin eine fast un-
menschliche Peinlichkeit in eigener Sache würden wir z. B.
von Kamt fordern mit dem Begehren, uns ins Konzept der
„Kritik der praktischen Vernunft" als Ganzes einzuweihen,
i. e. seine Gemütsbedllrfnisse einzugestehen und allem übrigen
voranzustellen; oder von Plato den „geheimen Ursprung"
seiner Ideenlehre, von Sohopbhhaübb den seiner Überschätzung
des Willens, von Nistzsohb den seiner Agitation gegen das
Mitleid, also den individualpsychologischen Ursprung ihrer
Gedanken. Sowie es sich mn die eigene Person handelt, da
versagen die glänzendsten Psychologen.
Diase NatOtsiobt der Pajobologen gegen sich selbst Ut sehr leiobt
'Teratändliob, «ena man an den Sinn der psyohisahen Phänomene nberhaopt
denkt Sie sollen naa fiber etwas zur Ruhe bringen. Das Bemerken eines
Anlassee norde aber einen neuen Gedanken foiäern n, s. f. Schliesalidh
ranssen wii bei etwas tax Buhe kommen. Dieses Bedärfnte steht jedem
faktiBob höher ab das Urteil der Hit- nnd Naohwelt fiber seine Weike.
Auch die Schwäche des Ausdrucksmittels ist oft in
Betracht zu ziehen. Allein in einer grossen Zahl von Fällen
kann man nur von einer garstigen Manier sprechen, den
Anlass eines Gedankens zu verhehlen, um demselben dadurch
einen grösseren Nimbus zu verleihen, um ihn nicht durch
Mitteilung seines vielleicht unscheinbaren Anlasses billig er-
scheinen zu lassen; so namentlich in Fällen, wo es sich um
allgemein gehaltene Erörterungen handelt, die von einem ganz
konkreten Beispiel ihren Ausgang nehmen. Wir streifen mit
diesem Punkt schon die vorhin erwähnte Begriffsmis^re.
iM,Coo<^lc
15^ Bqrmin« ^i[ql)944:
Die Absiebt der vorliegendeo Uotersuchmig geht zwar
li^upit^chlicb dahin, die Schwiengkeiten dea Verstäadnis^
zu b^bandeta, soweit dieselben in der Natur der beteiligton
Faktoren (z. B. Autor, Sprache, Leser, Komponist, Ton-
kunst, HSrer u. s. w.) liegen, doch kann es nicht schaden,
auch auf einen besonders häufigen Fall von schuldbareF
SchwerrerständUchkeit einzugehen, indem neben prahlerischer
Absicht*) gewiss auch mangelnde Einsicht oft aa der ba^its
gerügten achwindelhaften Allgemeinh^t Schuld ist.
Siu konkretes Boüpiel! Eb ist iwkt niofat der wisBenMh&fÜioheQ
Iiitetstor entaommei], doon eiintiert mui siuh gleich, denrtige^ Bohon in
Werken jedes Genres angetroffea za liaben. In Ottilieas lagebnch heiaat
es: „Allee VoHkommena in seiner Art mnss über seine Art hinansgatiei),
es moBs etWRS Anderes, ünvergleiohbores Verden." Dosere BeaktioQ beim
Lesen eines solchen Satzes ist ephr bezeichnend: Wir snchen nach einem
BasiHfl], an velchem «ix denselben allenfalls TeriBzieren könnten; also die
EewShnlicha Beaktion beim BCren eines Begiiffswortas. Hören vir das
urteil: Nicht alle Ffianzen sind bodeiistfindig, aber alle eotbehren der Wahl.
bevagoDg, nnd ist ans dasselbe nicbt sohon TOn froher her als evident in Er-
iimenmg, so denken wir sofort an eine bestimmte Pflanie, wit dfirfan aber
auch an jede beliebige Pflanze denken, voransgesetzt, dass das Urteil
richtig gebildet ist. Im fraheren Beispiel dagegen er^ben sich bei nahe-
liegenden Belegen gleiah Schvieiigkeiten. Nun ist in diesem Falle der
Antur so liebenswürdig nnd fügt das Beispiel an, aU^rdings hintenan, also
doch mit Verkehrang dieser lästigen Ordnung im Intellekt, der so gemein
ist, von der Wirkliohkeil anszngehen, b^m einzelnen anzufangen. .la
manchen Tönen ist die Nachtigall noch Tegel; dann steigt sie über ihre
Klasse hinüber und scheint jedem Gefiederten andenten zu wollen, vaa
«igcu^ich singen heissß." Sovie vir das Beispiel visseo, hat dar Sats
^oen S^m; vir Tersteben sofort, vi« jemand dorch den Gesang der Saoti-
tig^ auf einen solchen Gedanken konuneo kann, sind nns aber auch iSUig
klar, vie jemand ohne daa Beispiel dem Sslie gaoi ratbw gegentbentelit.
Beispiele für derartige aUgemeipe fiUze findet man massanbaft im letxtaa
Bande jedes Dichters, in Afdionsman-, UaximansammhiDgen n. d^
Es kann ganz gleichgiltig sein, wie wir auf ein Be-
griffswort reagieren (Beispiel von der Pflanze oben). Da
hat die allgemeine Ausdrucksweise ihre eigentliche und volle
Berechtigung. Es kann zwar nicht gleichgültig aber leicht
sein, in der gerade erforderlichen Weise zu reagieren, durch
*) EiNT f Anthropologe ed. Kirchmann, S. 19) bemerkt: .OU vird
stndierte Dunkelheit mit gevünsobtem Erfolg gebraucht, um Tiefsinn und
Otöndlichkeit Torzospiegeln; vie etva in der DÜnmeruiig ödez dazak unen
Nebel gesehene QegenstSnde immei grosse gesellen verdan, ah sie sind.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
TwsMiwi onii Begreifen, 158
den ganzeD Znsajnmeiahang oder durch das Prädikat darauf
gleitet; d$ Snd^t die aUgemeine Ausdrucksveise ihre Be-
recbtigung in d^ Fiudigkieit d:^ Reagierenden, der ^dch
weise, „was gemeiat i^". Die Zumutung an diese Findig-
keit sollte natOrlich ihre Grenzen haben; von jemandem, der
verstanden werden will (und vw etwas drucken lässt, sollte
dodi nichts anderes wollen) ist es schon unschön, d^ Leser
in Bchwimgeren Fällen nach einem Beispiel, nach der gerade
passenden Reaktion aucJi nur suchen zu lassen. Der Zu-
sammenhang, die durchschnittliche geistige Beweglichkeit,
ein gewisser Stock gemeinschaftlicher Vorstellungen ver-
bargen eine gewisse, von Fall zu Fall schwankende Wahr-
scheinlichkeit der richtigen Reaktion; dieselbe auch in schwie<
rigeo F^en dem Leser ;u aberlassen, gereicht beiden Teilen
zum Schaden.
Die vorliegenden Bemerkungen richten sich nicht gegen
falsche Verallgemeinerungen, die ja im ausserwissenschaft-
lieben Verkehr bis zu einem gewissen Grade unentbehrlich
sind und ausserdem ganz wohl verständlich, eindeutig sein
können, sondern gegen die Anwendung von Begriffen, wenn
ihre gerade erforderliche Bedeutung schwer zu treffen ist
oder wenn überhaupt nur eine einzige Bedeutung, für das Be-
griffswort eiogesetat, passt. Auch soll nicht ein durchgängiges
Erforderais „platter Deutlichkeit" MifgesteUt werden. D^s
Halbverstandene, das bloss Gewähnte, alles sous-entendu hat
seinen unbestreitbaren Reiz am richtigen Ort.
Hiermit wären wir am geeigneten Punkte angelangt,
um über das „Verstehen" in den Geisteswissenschaften einige
vorläufige Bemerkungen zu machen. Einen Satz der Natur-
wissenschaft hat man verstanden, wenn man durch seine
Anleitung in der Natur dasselbe sieht wie der Entdecker
desselben. Durch die Gemeinsamkeit der Aussenwelt wird
dies sehr erleichtert. Eben darin liegt nun die Schwierigkeit
des Verständnisses in den Geisteswissenschaften, dass ihr
^laterial aus Be^usstseinsdateD besteht und daher nur
iM,Coo<^lc
154 HermaDD Swoboda;
dem einen Bewusstsein unmittelbar gegeben, flir jedes andere
aber nur durch Symbole zu erschliessen ist. Absolute Überein-
stimmung über die Bedeutung eines Begriffes ist daher, genau
genommen, in diesen Wissenschaften nicht zu erzielen; es
giebt nur eine mehr oder minder grosse Wahrscheinlichkeit,
dass zwei Individuen — ohne vorherige Übereinkunft —
mit dem nämlichen Worte das Nämliche meinen. Und diesem
Übelstand kQnnen auch Definitionen nicht immer allhelfen,
weil es wieder ganz individuell ist, was man in die Definition
aufnimmt. Der Begriff „Eecht!" Es giebt von diesem Be-
griff keine allgemein anerkannte Definition und wer sich
seiner bedient, kann einer beliebigen von ihnen huldigen.
Solche Begriffe sollten daher nie ohne Erläuterung, wie man
sie meint, gebraucht werden. Eine Unmasse von Streitfragen
hat nur in dieser Unterlassung ihren Grund. Ein nahe-
liegendes Beispiel sind die Moralbegriffe. Was ist gut?
Es ist daher nicht zu verwundem, dass die Natur-
wissenschaften von jeher als Ideal einer Wissenschaft galten.
Am meisten entfernt sich von diesem IdeaJ wohl die Geschichts-
wissenschaft, wie in neuerer Zeit des öfteren treffend aus-
geführt wurde. Wie vielerlei Darstellung hat nicht z. B. die
Geschichte der Griechen gefunden ! Und immer wieder
werden neue „Gesichtspunkte" entdeckt, die wider-
sprechendsten Ansichten, ohne das einer von ihnen aus-
schliessliche Evidenz zukäme, geäussert, so dass man unter
Geschichte am besten die Summe der Entstellungen zu ver-
stehen hätte, welche der Parteien Gunst und Hass vornimmt
Worin hat diese Mannigfaltigkeit im Urteil über ge-
schichtliche Verhältnisse ihren Grund? Offenbar darin, dass
die Mittel, mit denen wir uns Vergangenes rekonstruieren,
ganz individuell sind; verschieden die Quellen,- aus denen
die Forscher schöpfen, verschieden die eigenen Anschauungen,
die Anschauungen ihrer Zeit, ihres Landes, ihrer Milieus,
mit welchen sie den Anschauungen der Vergangenheit gegen-
überstehen und dieselben noiens volens individuell i^per-
iM,Coo<^lc
Versteben und Begr^en. 155
zipieren ■). Umsoweniger nun alle diese konstituierenden
Momente einer Beuiteilung in der Darstellung zum Ausdruck
kommen, umso schwieriger das Verständnis.
Die Fauschalbeurteüungen von Dichtem, wie man sie
häufig in Literaturgeschichten findet! Der eine spricht von
ScHiLLBB und denkt an dessen lyrische Gedichte, der andere
an seine Dramen, der dritte an seine ästhetischen Schriften,
der vierte wohl gar an seine Eigenschaft als Mediziner oder
als Professor — das Urteil verrät jedoch nichts von dieser
„Hinsicht auf." Kennt man nun einen Schriftsteller sehr
genau, so versteht man oft leicht das abstruseste Urteil über
ihn, weil man beim Durchmustern des betreffenden Erinnerungs-
komplexes bald dahinter kommt, was des Urteils Anlass ge-
wesen sein mochte. Da hierin ein eigentümliches Vergnügen
liegt und nicht alle Verallgemeinerungen so bös gemeint sind,
als es den Anschein hat, so ist gegen ihre Anwendung, wo-
fern sie sich harmlos giebt, nichts einzuwenden. Von dieser
Art sind viele der knappen Charakteristika bei NiBizsoasi
„Kart oder cant als intelligibler Charakter." „Johm Stüabt
Mnji oder die beleidigende Klarheit" u. a. Einige von
diesen Beispielen erwecken ein besonderes Interesse. Ver-
sucht man nämUch, seinen Bewusstseinsinhalt in dem Moment,
da man ein solches Urteil versteht, zu analysieren oder mit
anderen Worten, forscht man nach den Belegen, auf Grund
deren miui dem Urteil Evidenz zuerkennt, so gerät man in
einige Verlegenheit. Es ist uns nicht leerer Schall; von
etwas anderem als von Empfindungen, Vorstellungen, Ge-
fühlen usw. — kann darin nicht die Rede sein, und doch
können wir dergleichen in unserem Bewusstsein nicht vor-
finden, höchstens „sehr modifiziert." In grösserem Zusammen-
hang wird dieser bemerkenswerte Fall im nächsten Abschnitt
untersucht werden.
') Das rine in et studio kann bsim beeteo Willaa nni Po8e sein.
Der Feinlütrige Temimmt anoh aus der gedlmpftan B«de den TeihalteDsn
Grimm. Sine in et Htndio, i. e. eine feinere Form tos in et stadiom.
iM,Coo<^lc
168 Berming Svobod«:
211. Bia BflillBgVDgw de» Ter^t^^Mui im efi^^alwH.
BtB«i^BUig und AwdmA.
Im vorigen Abschnitt ist als Bedingung des VersteheiiB
sUgeiD.«^ die „^iehe psycbisclie Situation" ^ugegebafi forden
und aia Beweis hierfUr die Ergebnisse uns^^r in difis^D
Fall sehr leichten und Überaus klaren gelbstbeol^acbtung.
Fragen wir uns dub, vorin diese gitu^on bestehen kann
oder mit anderen Worten, was alles zur Äusserung kommen
k&nn: offenbar nichts anderes, als was jede Einteilung unseres
gesamten psychischen Inhaltes aufzunehmen bestrebt ist. Es
ist fllr den weiteren Gang der Untersuchung von grossem
Vorteil, die Einteilung zu acceptieren, welche AveBa^ius ge-
troffen hat, in Elemente und Charaktere, oder — mit Ver-
meidung der noch nicht eingebürgerten termiai — jn Vor-
stellungen und Gefühle. Doch muss hinzugefiigt wenien,
dass der Begriff des Elements bei ATP>f4siüs weiter ist als
der der Vorstellung, indem er auch die Empfindungen mit
^inbegreift und der des Charakters vieiter als der des Gle-
fUhls, indem er Bekanntheits-, Vertravrtheitsr, Sicherhfijts-
und andere GefUhle umfasst, wobei ihm übrigens die Um-
gangssprache sehr entgegenkommt, die da häufig yon eineot
„gan? eigenen Gefühl", „eigentümlichen Zrnnutesein" u. dgl.
redet*).
Vorstellungen und GefUhle können das Äussere des
Menschen ganz unalteriert lassen, dann sind sie für den
Mitmenschen einfach nicht da. Die Erregtmg bleibt in diesem
Falle entweder auf die ursprünglich ergriffenen Neryeapjutien
beschrfijikt oder greift wenigstens nicht auf motorische Zentren
über. In frühen Stadien des Menschengeschlechts waren
jedoch — venn wir aus der Psychologie des Kindes die
entsprechenden Rückschlüsse auf die Phylogenese ziehen
dürfen ~ nicht nur GefUhle, sondern auch Vorstellungen
■) AvKNABiüs, Kritik der rmoen Erfahnuig. I. Lnpaig 188& 8. 16.
Jd., Dar mmsoblioh« Welttwgriff, S. 1 und 12. iehnllob i«t Brauns
" ' - ' " Bns^ndlioham und siiit4nd[ialiem 3i - ' '
I d«n Öe^nni^ fltwas nmstiadlitA.
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
Tttnnnt dnd BifiHlAii. IST
imsläÄde, eine lebhaftfe QesamterregöDg (Irradialioh) Kervor-
iarafcn und zwar nicht nur dann, wenn Bie mit dem 'Wohl
nhd Wehe des IndiTiduums in e^em Znsammenhange standen.
Unter den sekiradären Erregimg«!, welche von Vorstellungen
und Qeföhlen ausstrahlten, wurden ron besonderer Bedeutting
die der Stimmwerkzeuge; sie fUhrten zur SprachschSpfung.
Ao^erdem ist eine Anzahl d6r sogenannten Ausdrucks^
bewegnngen auf solche sekundäre Erregungen zurückzuführen.
Es kann nicht Aufgabe der TorH^enden Untersuchung aein^
den weiteren Verlauf der Entwickelung im Detail darzulegen;
nur das Resultat derselben ist fOr uns von Bedeutung. Das-
selbe besteht wesentlich in folgendem:. Ein grosser Teil der
Empfindungen (tor allem die sensoriellen) und die denselben
entsprechenden Vorstellungen haben ihren Übertragenen
Wirkung^reis ganz Terloren. Sie sind mit den sekundären
Err^nngeH im Sprech- und Sprachzentrum, welche sie am
Beginn der Entwickelung verursachten, verbunden geblieben
und werden in dieser Verbindung Überliefert. Zwisdien
Wort und Vorstellung liegt heute nur mehr eine Association
vor, keinerlei kausales VerbäHnis. Die Produkte jener ehe-
maHgeu sekundären Erregungen, mit den Modifikationen;
welche sie durch verschiedene Einflüsse erlitten haben, dienen
zur Bezeichnung; sie sind konventionell. Neuschöpfungen
dies^ Art kommen nicht mehr vor; jede sprachliche Neu-
schOpfung ist gegenwärtig von Haus aus Bezeichnung. Allein
noch eine Reihe von sekundären Erregungen ist konventionell
geworden und somit zimi Teil Bezeichnung: Die Ausdrucks-
bewegungen (mit den gleich anzuführenden Einschränkungen).
Doch ist diese Art der Bezeichnung von der durch die Sprache
immerhin deutlieh geschieden, erstens dadurch, dass sie zum
grossen Teil unserer Willkür entzogen und im Zusammen-
hang damit zweitens an eine starke primäre Erregung ge-
knüpft ist, wie sie drittens nie Vorstellungen, sondern nur
Gefühlen eignet. Man könnte derlei Bezeichnungen auch
konventionellen Ausdruck nennen, um sowohl auf ihre zentrale
Entstehung als auf ihre soziale Bedeutung hinzuweisen.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
Hermann Swobodar
Der hier eatwickeite iJegiiS dar ADB(lruoi§Mwegiiiig mllt bo nemueh
zosammeD mit der 3. Axt Yon Anadmobbewegongen nach Dabwik (Prinnp
der direkten ThatiKtaitdeBNerreDsystema) und den xwei enten ArteQWDNDis
(Friosip der direliten iDnerrationBiiidemQK, Prinzip der Aeaodation uialoger
EapDndongen). Job. lege das Esnptgewidit anf den zentralen üiBpmng
der betreltenden Bewegnu^en, ciobt aöf ihre soziale, mitteilende Bedentong.
Hiermit eisohnnen aber die Ansdmoksbewegnngen als spezielle Form einer
allgemeineiaa Form des Aoadmoka. Der sichtbaren Bewegung von Extre-
mitäten tmd Mtukeln geht ja eine zentnUe Erregung vorana. Es iat aber
kein Onutd, diese Erregtiogen, wenn sie motorische Zentren eigreifeD,
*on anderen prinzipiell zn scheiden, t. B. von der Miterr^iuig dar mnsika-
lischeD Phantasie. Was die Erregnne motorischer Zentren aoazeidmet, das
ist der grosse Enargie-Verbranob, weuialb sie zur raschen AUaitnng starker
primftrer Erregnngen Tortreffljob ged^et sind; daTQr sind sie aber foimen-
arm ond daher an nnd für sieh wenig geeignet znm Charakterisieren. AJIea
n&her CharakterisJerende geht auf andere Prinsipten znifick (Duiwinb
Prinzip zweokmissig assocnierter Oewohohmten, Wbotiib Prindp der Be-
ziehnug der Bawegang zu SinnesTorst^ongan). Es würde sich daher riel-
leicht empfehlen, die konkreten Anedmcksbewegungen nicht wie bisher jode
anf ein Prinzip zurfickzafähren, sondern eTentnelJ auf zwei und mehrere.
80 kann ich durch Kopfnickea nicht sohleohthin bejahen, sondern nur ener-
gisch oder apathisob oder sonst wie, kurz in einer Art nnd Weise, die
für sioh schon wieder ansdruoksvoll ist.
Osnz in meinem Binne A. Bus: „Ich bebaohta den sogenannten
AuBdmck sls Teil und Btück des Oefühls. Ich glaube, es ist ein aUgemeiaee
Gesetz des Geistes, dass in Verbindong mit der Tbatsache dea inneren
FnhlenB oder des Bewusstseins eine diffuse Thtttigkeit oder Erregung
anf die Glieder des Körper ansgeht*. Daswbi wendet dagegen ein, das
Gesetz der diffusen Tätigkeit der Empfindungen snheine ihm zd allgemein
XU sein, nm ant spezielle Ausdmcksfonnen viel Licht zn werfen. Allein
man musa nur nioht mit einem Prindp alles erklären wollen. Die Form der
Auadruoksbew^ungen muss nioht ans derselben Quelle stammen, wie die
Energie zu diesen Bew^nngen.
Nachdem Sprachlaute einmal BezeichDungen geworden
waren, konnten selbstverständlich auch Gefühle mit ihnen
bezeichnet werden; im Anfang der Entwickelung war jedoch
die von Gefühlen ausgehende Miteiregung auf das Sprech-
zentrum sicher nicht beschränkt und auch in der Folge gab
sich in der GefUhlssphäre das Bedürfnis nach ausgiebigerer
Entladung kund, das ÄusdrucksbedUrfnis.
Bezeichnen wir sekundäre Erregungen jeder Art, sofern
sie das Äussere des Menschen ändern, als Ausdruck, so
waren also ursprünglich alle seine Äusserungen Ausdruck,
es mochte die primäre Erregung der Vorstellungs- oder der
Gefühlssphäre angehören'). Ein Teil dieser Äusserungen
iM,Coo<^lc
Yetstehen nnti Begreifen. XÖ9
wurde dann konventionell, wozu neben dem bereits erwähnten
Umstand der groeaen Frequenz der sensoriellen Empfindungen
•wohl auch die generelle Gleichheit der Sprachwerkzeuge das
ihrige beitrug. Die sekundären Erregungen sind in diesem
Fjdle za einfachen Associationen von grosser Innigkeit ge-
worden. Gebiet und Ausmass der sekundären Er-
regung sind festgelegt. Welchen Anteil hieran die Eigen-
schaft des Menschen als eines sozialen Wesens hat, kann
hier unerörtert bleiben. Nur ganz im Anfang geht die Ent-
wickelung des Sprachvermögens im Individuum der wahr-
scheinlichen Entwickelung im G-enus parallel. Von den Be-
zeichnungen, die der Erwachsene gebraucht, sind keine mehr
als Resultat ursprünglichen Ausdrucks zu betrachten; die
Verbindung von Bezeichnung und Gegenstand ist von aussen
erfolgt durch Erziehung und Verkehr mit den Sprachgenossen.
Neben diesen sekundären Erregungen, welche den Cha-
rakter des Ausdrucks bereits verloren haben, daher auch
ihre Bedeutung fUr das Individuum als Entladungsmittel,
wofür sie allerdings an sozialer Bedeutung gewannen —
neben diesen giebt es eine Beihe von sekundren Erregungen
— diejenigen, welche die Ausdrucksbewegungen einleiten —
welche einerseits für das Individuum noch die Bedeutung
eines Entspannungsmittels haben vonwegen ihrer grosseren
Ausdehnung, andererseits doch auch schon eine soziale Be-
deutung, insofern sie konventionell geworden sind und mit
der Sicherheit einer Bezeichnung verstanden werden.
Es ist nun sofort klar, dass da noch ein grosser Teil
des Bewusstseinsinhaltes überbleibt, für welchen es weder
eine Bezeichnung noch ein konventionelles Ausdrucksmittel
giebt. Denn, was die Vorstellungen anlangt, so haben sich
Bezeichnungen für dieselben (sowie späterhin für Gefühle)
nur soweit gebildet oder erhalten, als sie Verkehrsbedürfnis
waren, nur für Massenartikel sozusagen; das Seltene, Indi-
viduelle blieb von der Bezeichnung ausgeschlossen. Um eine
Bezeichnung durchzusetzen, ist der mutuus conaensus erforder-
lich, dieser setzt aber voraus, da^ jedermann das Bezeich-
iM,Coo<^lc
ISO Hftrmiun EnrǤtfdt:
Bete lö sich hat. FBr »fiesen Fall jedoch, «ife fllr den der
BeieJfthiHHig von Vorstellnngakomplexen, 016 einer Wort-
bezeichnnng entbeliren, kommf die Beschreibung auf,
welche man eine BeEeichnung im weiteren Sinn nennen
k(}nnte. Wenn einzehie G^egenal^de, Bflder, Vorg^ge nicht
durcheinelnzehiftsWortvor mein geiatigesAuge gebracht werden
können, flo leitet mich die Beschreibtmg an, den Gegönstandr
das Bild znssmmenznsefzen, den Vorgang sich abspielen zu
lassen; emem Kinematogramm könnte man sie im letzteren
Falle vergleichen. Waa auch die Beschreibimg nicht be-
wältigt, dad ist dann „unbeBchrefbUch", „namenlos". Im
Falle der Unb^schreibhclikeit eines Phänomens, irgend einer
Herrlichkeit auf dem forum eztemum oder intenium tritt
wieder jener starke Bäregungszustand ein, den man allgemein
^s Sprachscfaöpfer annimmt, noch erhöht durch das peinliche
0efQhl,mit den vorhandenenBezeichnnngen nicht auszukommen
und die benommene Freiheit, neue zu bilden. Die „Un-
beschreibüchkeit" wird nicht nur als Hindernis der Mitteilung
unangenehm bemerkt (von dem der Bezeichnung meist zu-
grunde liegenden MitteilnngsbedUrfhia ist hier noch nicht die
Eede), sondern auch abgesehen von diesem Bedürfnis, ebenso
wie es uns auf der anderen Seite eine Befriedigung gewahrt,
für etwas — ganz in Gedanken — eine Bezeicimung oder
gelungene Brachreibung zu finden'). Das, was nicht be-
zeichnet, beschrieben werden kann, wird dfinn durch die
auf andere Bahnen gedrängte Erregung ausgedrückt; der
Mitteilungserfolg leidet darunter allerdings, die subjektive
Befriedigung des Ausdrückenden nicht. Dichter, welche
keinen Instinkt für die Grenzen der redenden Kunst haben,
Mystiker, deren Gesichte jeder Beschreibung spotten, suchen
alsdann durch einen Wortschwall auszudrücken, was sie
mit Worten nicht sehtidern kühnen. Da sie hierbei immer-
hin das angenehm täuschende Gefühl haben, in die Worte
') Did Spnöha ist „nIcM blu «In ioBaerea Mittel nir Hitt^one^
Bondant eine imrarefonn derB«et(inintiieit deeOddADkeDa" (Lixirts, l.o. S. H.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^le
Teratehen und BegreifoD. 161
„alles hineinzulegen" (indem sie ihrer Erregung ledig werden),
Bo überschätzen sie leicht den Mitteilimgswert derselben.
Was nun die Gelühle anlangt, so ist klar, dass nur eine
kleine Anzahl derselben durch Ausdrucksbewegungen zum
Ausdruck kommt; denn wenn diese auch nicht gerade auf
Affekte beschränkt sind, so erfordern sie doch eine gro^e
Intensität des GtefUhls, und so entsteht die Frage nach den
sekundären Erregungen, die sich von den feineren und
edleren GefUblen ausbreiten, wie also diese Gefühle zum Aus-
druck kommen. Wie schon oben erwähnt, können Gefühle
auch bezeichnet werden; allein vom GefUhl verlangt man,
dass es zum Ausdruck komme. Der Dichter, der eine
Stimmung schildert, der sein Gefühl beschreibt, gilt
als schlecht; es soll davon nicht die Eede sein, und es
soll doch liberall sem. Die Forderung ist keineswegs im
einseitigen Interesse der Geniessen-woUenden, sondern in der
Katar der Sache begründet. Während den Vorstellungen
eine begrenzte Extensität eignet, während sie femer den
Charakter von Erregungen gänzlich verloren haben und eine
fixe Verbindung mit ihren Bezeichnungen eingegangen sind,
haben die Gefühle keinen umüriedeten Wohnbezirk, was
weiter seinen Grund hat in der relativ (im VerlüUtnis zu
den Vorstellungen) grossen Intensität; da aber Gefühle,
welcher Art auch immer als Abweichung vom Indifferenz-
pqnkt empfanden und ihre Abschwächung angestrebt wird,
so wird die Gefühlserregung vom ursprünglichen Gebiet auf
andere absichtlich übergeleitet oder geht von selbst über, je
nach den Umständen. Man kann an die Flüssigkeit in
einem Gefilsse denken, deren Kiveau dadurch sinkt, dass
man das GefSss mit anderen, kommunizierenden verbindet.
Es tritt nun ein bedeutsamer Unterschied zu Tage
zwischen Bezeichnung und Ausdruck: Der Ausdruck hat in
erster Linie eine Bedeutung für uns selbst, er ist uns Be-
dürfnis, die Bezeichnung ist in erster Linie Verkehrs-
mittel, soziales Bedürfnis. In zweiter Linie hat jedoch
Tlot^ibrHchitfl f. itlaniKliBM. PbUu. n. SodoL XXVIL 1. 11
iM,Coo<^lc
152 Hermknn Swobodt:
auch die Bezeichnung für uns eine Bedeutung und ebenso
der Ausdruck eine soziale Bedeutung, einen Marktwert.
Wir können nunmehr die eingangs gestellte Aufgabe
näher präzisiereu als UntersuchuDg über die soziale Be-
deutung der Bezeichuungs- und Ausdrucksmittel oder
— mit einiger Ungenauigkeit — Über unser Verhältnis zu den
wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen
anderer. Die zwei menschlichen Äusserungsweisen sind also
Bezeichnung und Ausdruck. In den folgenden Abschnitten
wird es sich nun um das Was von Bezeichnung und Ausdruck
handeln, also um eine genaue Bestimmung der „psychischen
Situation."
IV. Ctegenstand der Bezelcliniui;.
Gegenstand der Bezeichnung können nach dem oben
Gesagten ganz allgemein sein: Vorstellungen und Vorstellungs-
komplese und Gefühle. Wenn sich daher jemand der Rede
bedient, sollte man meinen, dass er auf das eine oder das
andere hinzielt, dass ihm etwas Bestimmtes vorschwebt, wo-
nach man ja auch jemand zu fragen pflegt, den man nicht
gleich vereteht. „An was denkst Du dabei eigentlich?"
Denken natürlich in der Bedeutung, eine bestimmte Vorstellung
haben. Der so Gefragte kommt sehr häufig in Verlegenheit
er hat das Gefühl, dass man ihn um mehr fragt als billig;
er getraut sich, bei einer Aussage zu beharren, ohne sich
allzu peinlich um eine B\mdienmg derselben durch deutliche
Bewusstseinselemeote zu bemühen. Würde man ihm indes
vorwerfen, dass er spricht ohne zu denken, dass er von
nichts spricht, so wäre das in den meisten Fällen ein
ungerechter Vorwurf. Offenbar war es diese Beobachtung,
dass man zum Denken und Reden nicht immer klarer Vor-
steUungen bedürfe, dass aber doch immer irgend ein Etwas
im Bewusstsein dabei gegenwärtig sei, welche schon Akisto-
iM,Coo<^lc
TeratdwD niid B«gTriten. Igg
Tiuts ZU dem Satze veranlasste: Ovdinois dvsv ^ayrättfunoi
Eriimeni wir uns an folgendes: Wenn wir einen Zeitunga-
artitel lesen, an dem uns alles „sonnenklar" ist und wir
fragen uns danach, was wir uns während des Lesens vor-
gestellt haben, so werden uns vielleicht ein paar Vor-
stellungen, Erinnerungsbilder einfallen, die gar nicht zum
Gegenstand gehören und durch irgend einen Anlass beim
Lesen reproduziert wurden, allein keinerlei klare gegenständ-
liche Bewnsstseinselemente, die uns das Verständnis erst ver-
schafft hätten^). Solche Elemente trage» wir Immer erst
dann, mit Absicht und MUhe, zusammen, wenn uns etwas
nicht „ohne weiteres" klar ist. Genau in demselben Zu-
stande dämmerlichen Voretellens wie ein Zettungsleser be-
finden wir uns sehr oft bei eigenen Niederschriften. Wie ich
schon durch die Wahl des Beispiels zeigen wollte, spielen
Übungsverhäitnisse in diesem Fall eine grosse Rolle. Aus
diesem Grunde unterlassen wir die „Fundierung unserer
Aussagen", wie man das gleichzeitige, entsprechende Vor-
stellen nemien könnt«, gerade da, wo es am leichtesten wäre
Tonwegen der grossen Geläufigkeit der betreffenden Vor-
stellungen. So, wenn wir von Haus, Baum, Strasse, Licht
reden, es sei denn, dass wir Über dieselben eine neue Aus-
sage machen wollten. Ganz parallel damit geht unser Be-
dürfois nach Vorstellung, wenn wir über einen Gegenstand
ein ungeläufigea Urteil hören. Das Urteil wird in
diesem Falle einer Kontrolle unterworfen, wie eine Bank-
') Ich bJD mcht dei Aasioht, daaa siok disaer Satz „nur auf Oattonga-
be^riffe betieht oud dass er anBserdem uariohtig iat." (Siebe Oomfebz B.,
Znr Psychologie der logieoheu Grandthatsachen. Wien 1897. S. 91), weit
Aristoteles nicht sagen wollte, dasa ^naa/iata immer notwendig, BOndern
nur dass sie öberhaopt vorhanden seien.
*) So Btdioo EtniE (Trestise, I. 7) und Bebkelet (Frinoiples of human
kooicl^de, introd., XIX). Beide nnterlasaen indes anf den Einfluas der
Übung hinzuneisen, wie auf den gewichtigen ünterHchied zwischen originellem
Danken und jenem .Denken', womit wir für alltägliche Oesprjiclie aus-
kommen. Endlich iat die abstrakt idea bei ihnen immer der gegenständliche
Begriff, Da mag es immerhin sein, dass man mit einer ganz vagen Vor-
eteUnng auskommt for reÖectioD and oouversation.
iM,Coo<^le
164 Eerinaali Swoboda:
Dote, ob die darauf angegebene Summe in Barem deponiert
ist; es wird auf Eontrebande visitiert, ob es nichte mit
sich führt, als was die ^Sinnlichkeit" gestattet. So muss
der Vorgang beim originellen Denken sein; die Evidenz, das
ist der Rekurs auf Geschautes. Worte können uns vertraut
sein und darum vertrauenswürdig: die Eechtfeiügung dafür
liegt nur in jenen unmittelbaren Erfahrungen, die wir nach
dem frequentesten Sinnesgebiete als Geschautes beseichnen.
Dies besagt auch die erste der „Vier Regeln" im discours
de la m^thode: Nichts mehr in unsere Urteile aufzunehmen,
als was sich d^m Qeist so klar und deutlich darstellt-,
dass ich keinerlei Veranlassung habe, es in Zweifel
zu ziehen. Die Warnung, welche diese Regel gegen die
Begriffe enthält, ist vollberechtigt. Unser begriffliches Ver-
halten der Fülle der Erscheinungen gegenüber ist durch die
Ökonomische Natur unseres Zentralorgans bedingt und vor-
wissenschaftlich. Die wissenschaftliche Begriffsbildung unter-
scheidet sich von der kindUchen nur durch die AbsichtUchkeit,
nicht in dem Endzweck einer leichteren Zusanunenfassung
und Beherrschung des gesamten Erscheinungsgehietes. Von
diesem Teil der Wissenschaft, welcher also seinen Grund in
uns selbst hat, in unserer Schwäche, könnte man sagen, ist
scharf unterschieden jener andere Teil, welcher zur Aufgabe
hat „die Kachbildung der Thatsachen in Gedanken" oder „die
bewusste Reproduktion der Wirklicl(keit." Bei diesem Ge-
schäfte sind die Begriffe geradezu das grOsste Hindernis, sie
bringen um den unbefangenen Blick oder was noch schlimmer
ist, sie entwöhnen ganz vom Schauen und führen zu einem
Zustand, dem Dbscabtes mit seiner ersten Regel bewusste
Opposition macht.
In einem FaJle jedoch schemt mir seine Forderung-
rigoros, eben in dem Falle, wo die Begriffe unbedenkliche
Anwendung finden können : beim Syllogismus. Der heuristische
Wert desselben ist allerdings danach. Der Syllogismus ist
geradezu das „aussersinnliche Denkverfahren", das Ver-
faliren „mit Au^chluss der Sinnlichkeit", jenes Denkverfahren^
iM,Coo<^lc
Veistehen und Bsgiaifan. 165
bei welchem mao — paradox ausgedruckt — an nichts zu
denken braucht. Unser Verhalten beim Schliessen illustriert
diesen Umstand sehr schön. Wenn jemand z. B. etwas durch
Schluss gewinnt und ein anderer will es nicht gleich einsehen,
sagt jener gerne ungeduldig: Da braucht man doch nicht erst
nachzudenken I Danach konnte man den Syllogismus be-
zeichnen als einen sprachlichen Mechanismus, um aus
dem Material zweier Urteile ein drittes zu gewinnen;
sprachlich, d. h. nicht notwendig in der Art, wie Schul-
beispiele vorgetragen zu werden pflegen, sondern lediglich im
Sprachzentrum, nicbt „im Hinblick auf etwas." Das
Schliessen ist ein quasi mathematisches Verfahren, in dessen
Verlauf man die Beueimungen der Zahlen auslässt, um sie
ins Besultat wieder einzusetzen. Schon seine Erlernbarkeit
und der Einfluss der Übung weisen darauf hin>). Das her-
kömmliche, im Laufe der Entwickelung erworbene Vertrauen
zu demselben birgt nur dann keine G-efahr in sich, wenn es
von der Einsicht begleitet ist, dass durch sprachliche
Operationen Über die Wirklichkeit sich nichts ausmachen
lässt. Qanz im Qegensatz hierzu erscheint das Urteil kein
formeller Prozess mit Bewusstseinselementen, sondern ein
bestimmter Ausschnitt aus den Elementen selbst, durch sprach-
liche Bezeichnungen fixiert. Die Vorstellungsthätigkeit ist
beim Urteilen eine weit lebhaftere, es geht nicht mit so
spielender Leichtigkeit und taschenspielerischer TrUglichkeit
Tor sich, seine Form besticht nicht, man sucht nach einem
Fundament. Dieser Umstand, dass ein richtiges Urteil stets
von einer Anschauung seines Inhaltes begleitet ist, hat —
') SiewABT (Logä I, 2. Anfl. 8. 483} fährt atlerdingB noch ebe tweita
Alt das Schlienens an, anl welche tuoh Bradlby naa Scsdppk Gewicht
legen, bei velohar die Piämissen eine Teräudenmg heretellen, «elehe, naoh-
dam ede enohaat ist, „die Zoa&mmengehörigkeit der im SohluBSBatE vaiteüpften
Element« nnmittdbu erkennen läsaf ; allein, wenn man die dort uigefohrten
Betitele genauer besiebt, findet matij dus nur die inAUige Operation i
trois tenies dara veiieltet, von einem „ansc^aoliohen Sohbessen eii
sprediaD. Man Teimdue nur in jenen Beispielen die Frftmiasen, was man
«Hine weiteres kaiml Sie sind einfadi Anidtungen, in der AnHobannDg
etwas sosammenznsetieD, was dei andere eohon beisammen hat imd haben
moBB, nm die Prtmissen überhaupt aosspteoheii in können.
iM,Coo<^le
166 EermaDD Bwoboda;
zufolge der unmittelbaren Evidenz alles innerlich Erfahrenen,
Geschauten — , in mehreren Urteilstheorien seinen Ausdruck
gefunden ').
Dafi Vertrauen in ein Urteil gründet sich auf seinen
Inhalt, das in einen Schluss auf seine Form.
Es kann nicht Aufgabe der vorliegenden Untersuchung
sein, diesem bedeutsamen Unterschied genauer nachzugehen;
nur dies eine wollen wir aus dem Vorhergehenden fiir unsere
Zwecke konstatieren: Unser Denken bewegt sich fortwährend
zwischen den beiden Extremen des reinen Schauens und
des reinen Sprechens, es ist immer Sprechen und Schauen,
bald mehr von dem einen, bald von dem anderen').
Die Bilderfülle Tuüert, Vergleichen wir einea VortragBudeo, der
Biah'a erlanben kann, erat coram pablico eq deoken mit eiriem woUvor-
bereiteten. Der entere spricht mit bäu&geii kleinen PauBeo, wahrend deren
er die Aogen toq den Hörern gerne wegwendet, am sich das Qeaichtsfeld
niobt irritieren eq laasen, man meikt ihm die Hübe an, lortw&brend Bilder
EtiaamnenEQtrageD, am von OeBohantem herabznleaen, Dagegen das sicht-
lich legere Benehmen bei mechauiaierten fUnleitmgen, Debergängenl Von
dieaer letzteren Art ist dnrobgKngig das Benehmen politisoher Bedner, welch»
Jahrzeh ntelaee über dasselbe Progmmn] spreohen nnd ihre Phrasen anr einmal
and ein für aUemal im Leben fundieren — wenn tlberbaupt — im Beginn
ihrer Laufbahn, am fürderbin ganz aatomatisch au funktionieren. Im lAofe
der Zeit werden eben die berrliohsten Sätze notwendig Phrasen, nicht fnn-
dierte Urteile, wenn man es nnterlässt, sie van Zeit zu Zeit auf ihren
Gebalt zu prüfen. Das Schlimmste ist, wenn aioh die Phrase nngeprüft
Tererbt, also für den Erben von Hans ans nor eine tanbe Nnsa ist.
Während nun der politische Bedner, wenn er nicht von der ärgsten
Sorte ist, doch immer auch einen eingeübten Bilderzjklos zur Verfügung
hat, der ihn sicher vor dem „Steckenbleiben" sohützt, ist diese FataiitSt fast
nnvenneidiich and ans dem ängstlichen Benehmen des Betreffenden sofort
eraichtlich, wenn jemand eine Hede — zugegeben von Qebalt and Tiefe —
abfasat, aber beim Memorieren nicht hauptsächlich darauf achtet, die be-
gleitende Bilderreihe zu üben. Nur dies letzere berdhtgt ihn, für eine etwa
entfallene Wendung sofort eine andere zu finden. Wer den .Stoff be-
herrscht", dem ist nie um ein Wort bange. Hierin hat die ßedegabe der
Erleuchteten ihren Oiund ; wohl auch die Redseligkeit der Mystiker.
Oanz Analoges finden wir auf Seite dee Hörers, Lesers. So und so
viele Sätze lassen wir passieren, auf Treu nad Olauben, dann halten wir
einen an und suchen ihm was zu unterlegen. Man achte, wie ans in einem
VortTage, dem wir von irgend einem Pankte nicht mehr folgen können,
plötzlich allea Phrase und leerer Schall wild, wie wir vergeblM^ naofa ToT'
Stellungen haschen. Ea tat oft angemein schwer, anaugeben, worin dieses
') Vgl. Lipps Definition von Urteilen: nVoratellen mit dem B»<
woBstsein der WirkÜohkeit' (QiandthatMtchen dea Seelenlebeoa, S. 396).
>) Siehe Taink, l'Intelligenae. L Bd. £ap. I, 3.
iM,Coo<^lc
YoTetehen und Begnifei). 167
.Folgeo' eöf^tlioh besteht Die l)ishergebreiioLtenBezai(^iiDDg«i .Bilder-
reihe", „Oesiohte", ,QesohaQtes' sind tär die meisten FOlle tIqI zn Btuk.
Allein da bewährt «ch wieder die schon früher einmal praktizierte DifFereoz-
methode. Im Aogeubliok, wo ich den Faden verliere and mir alles Phrase
wird, merke ich, dass etwas niobt mehr da ist, was früher da war, ioh
mwke die Aeoderang, den UnterBohiad, wenn ioh anoh infolge der
sohwierigen Beobaobtangsverhältniase nicht angeben kaan, am was eich mein
Bewosstseinszostand geändert hat Iah verzeiobne hier meine Bab^ektive
EmpGndnng in solchen F&llen: Die schwane I^einwand nach einem Skio^
tikon-BUd; eine sehr beieicshnende Association. Und hiermit wfirea vii
wieder ca der eingangs dieses Abschnittes aalgeworfeaen Frage naoh dem
Oegenatand anserer Aassagen znröokgekehrb
Es hat sich bisher gezeigt, dass die Grundlage derselben
oft derart ist, dass man Aastand nimmt, sie ohne weiteres
als Zuständliches oder G-cgenständliches zu bezeichnen; eher
aber noch als zuständlich. Auch die Antworten, die man
auf Umfragen erhält, fallen in diesem Sinne aus. In letzter
Linie kommt man immer auf ein „eigentumliches Gefühl",
keine helle Vorstellung und kein deutliches Gefühl, aber doch
ausreichend beglaubigt als Fundament von Aussagen^). Ein
Beispiel dürfte in dieser schwierigen Frage von Vorteil sein.
Bei dem Worte „Aufsehen", ob ich es selber gebrauche
oder ob ich es höre, stelle ich mir keineswegs Leute vor,
die von ihrer Arbeit aufsehen. Dem Wort entspricht keine
sinnliche Vorstellung mehr; und doch wäre dieselbe so be-
zeichnend. Allein das Wort ist zu geläufig, es ist deklassiert,.
zum Alltagsdienst erniedrigt. Diesen Wandel machen viel©
Bezeichnungen durch; sinnlich sind sie nur, solange sie neu
sind. Daraus erklärt sich das Streben der Dichter nach
neuen, farbigen Bezeichnungen. Je populärer sie jedoch
werden, desto mehr werden sie von der Umgangssprache
geplündert. Die nachaugusteische Prosa z. B. zeigt dies
deutlich. Darum scheint uns Schiller heutzutage stellenweise
banal. Der Reiz der Sprache Nietzsches! Man schaut fort-
>} OcBBEs (Die Sprache und das Erkennen. Berlin 18S4. S- 137)
spricht davon, das „Woitbegriffegefähltwerden". AuohQoxPHM (a. a. 0,
8. 96) kommt kq dem Sobloss, dass die .sobeinbar abstraktesten Begriffe
dnrdi OefBhIs- ood H(uidlangsiiaalit&ten Tertreten weiden*. Wjnmr traut
der Selbstbeobaohtong in diesem Falle sowait, dass er von eineu,eigeii
tümlioheD Begriübgeföhl- spricht (Pbys. Psych., 11. S. 477.)
iM,Coo<^lc
16g Hermftria Swobod«:
während beim Lesen seiner Schriften. Das Gesichtsfeld ist
immer belebt, es ist einem nicht so grau dabei zmnute!
Kun veiss man aber trotz des Mangels jeder sinnlichen
Vorstellmig ganz gut, was mit dem Worte „Aufeehen" ge-
meint ist. Ich weiss ganz deutlich, was ich etwa mit dem
Satz: „Das Buch erregte allgemeines Aufoehen" sagen will
und der Leser, was damit gesagt sein soll. Und so in Yielen
Fällen. Ich weiss, was em Staat, eine Versicherungsgesell-
schaft, was Transzendental-PMlosophie ist, ohne mir dabei,
i. e. im Momente des Wissens, etwas vorzustellen; ja, es
kostet mir vielleicht, besonders das erste Mal Mühe, die ent-
sprechenden Vorstellungen alle zu wecken und zu bezeichnen ;
ich „weiss es, al>er kann's nicht sagen". Auf Seite des
Hörers, Lesers, kSnnte man nun annehmen, bestehe die
Reaktion auf eine solche Bezeichnung einfach in einem Ge-
fühl der Bekanntheit, der VertrauÜieit; sowie der Zollwachter
jemanden, der täglich Über die Grenze hin- und hergeht,
nicht anhält, nicht visitiert Allein dieses BekanntheitsgefQhl
wäre nicht im stände, zu unterscheiden. Mir ist „Ver-
sicherungsgesellschaft" bekannt und „Transzendental-
philosophie" bekannt; sie smd mir aber auch als etwas ganz
Verschiedenes bekannt.
Es giebt also auf Bezeichnungen eine doppelte Art der
Reaktion: eine ausführliche, vollständige und, eine
summarische, stellvertretende. Diesen zwei Arten der
Reaktion muss aber auf Seite des Bezeichnenden ein zwei-
faches Bezeichnetes entsprechen. Teilt man nun alles Be-
zeicbenbare ein. in Dinge, Eigenschaften, Vorige und Be-
ziehungen, so fragt sich, was kann für diese stellvertretend
eintreten?
Es handelt sich vorläufig aar um Wortbezeichnungen.
Da ist nun zu bemerken, dass ein einzelnes Wort sowohl ein
einzelnesDing,eineeinzehieEigenschaftu. s. w. bezeichnenkann
als auch einen Komplex von Dingen, Eigenschaften, Vorgängen,
Beziehimgen, als auch Komplexe von Dingen und Eigen-
schaften und Vorgängen und Beziehungen (Beispiel von der
iM,Coo<^le
Vantohen und B^itifeo. 169
Versichenm^geaellschaft), so dass die Beaktion auf ein
solches Wort ein Bild sein kann, besser gesagt eine Ab-
bildung, oder auch ein lebendes Bild, oder auch eine
belebte Situation oder endlich eine Reihe von solchen
Situationen. Was ich mit einem Wort zu bezeichnen und
womit ich darauf zu reagieren habe, ist nur im Falle der
logischen Begriffe festgesetzt; ausserdem ist die Beaktions-
freiheit eine bedeutende. Das giebt dann die psychologischen
Begriffe, deren unglaubliche Verschiedenheit durch die gleiche
Wortbezeiehnung unseligerweise verschleiert wird und zu so
vielem Übel im Verkehr der Menschen führt.
Es giebt also sehr einfache Beactionen auf Wortr
bezeichnungen, die nur einen Moment erfordern, wie zum
Erkennen eines Gegenstandes, tmd sehr komplizierte, welche
eine länger dauernde Vorstellungsthätigkeit erfordern. Mit
diesem letzteren Ausdruck sind wir vielleicht dem wahren
Sachverhalt auf der Spur. Eine bestimmte Vorstellungs-
thätigkeit kann offenbar wie jede andere Thätigkeit mehr oder
minder eingeübt sein. Erinnern wir uns nun der Aussagen, die
wir von jemand, der in irgend einer Hantierung sehr geschickt
ist, erhalten Über das, was ihm während derselben bewusBt
ist, „Ein eigentümliches GefUhl," bekommt man immer zu
hören, „ich weiss, wie ich's mache, aber ich kann's nicht
sagen," ein Gefühl grosser Sicherheit bei aller Verschwommen-
heit der bewussten Elemente. Das gerade Gegenteil beim
Anßnger. Ich halte es nun fllr sehr wahrscheinlich, dass
anch von einer bestimmten Vorstellungstiiäügkeit ein
FmiktionsgefUhl, wie man es nennen könnte, zurückbleibt,
worin mich die Beobaditung, dass verblasste Vorstellungen
als GefUhl oder als etwas von eigentumlichem Charakter be-
zeichnet werden, sehr bestärkt. Der Sprachgebrauch beweist
zwar nichts, aber er ist doch symptomatisch. Diese ab-
gekürzte Beaktion wird natürlich besonders dort beliebt sein,
wo die vollständige Beaktion umständlich oder wenigstens
nicht in einem Moment erledigt ist. Das giebt dann „un-
anschauüche Vorstellungen;" „ unanschaulich" bezieht sich na-
iM,Coo<^lc
X70 Hermann Swoboda;
tltrlich auf das Residuum der Vorstellungstbätigkeit. Es
giebt keine Bezeiclinungen, auf welche ich nicht mit einer
Vorstellungsthätigkeit reagieren könnte, bei deren Gebrauch
ich mir nicht irgend etwas vorstellen kömite'), nur darf
man nicht immer so einfache und momentane Reaktionen
verlangen, wie „Kasten", „Bamn" u. s. w. Der Satz „Be-
griffe sind immer imanschaulich" hat seinen Grund in
einer solchen überspannten Forderung. Der Begriff i. e. das
Begriffswort, kann entweder eine vollständige Reaktion
auslösen, also eine Reihe von Vorstellungen, oder auch eine
einzige, — die sind dann natürlich anschaulich -— oder eine
abgekürzte Reaktion: da giebt es nichts Anschauliches,
aber auch keine Vorstellungen.
Ea iüt ein grosser üntsTachisd zwischen dem, was von der ganzen
Boakdon auf einen gegeoBtändliahen Begriff zuräobbleibt nnd von der
aof einen BeziehangGbegriff. Im ersten Falle reagieren wir mit einer
konkreten Voietellung nnd „der Bereitschaft, beliebige andere, wenn nötig,
in reprodazieren" (Home). Die Bereitschaft ist bei allen gegenständlichen
Begriffen dieselbe, Bie ist keiner nntereobiedlichen Farbnogen fähig. Bei
den Beziehangsbegriffen hraachen wir mit gar beiner sinuliohen Vor-
slellong ZQ reagieren. Der Beziehnngsbegriff kann zwar aach an einer
Beihe von sinnlichen Voretellnngen veranBohanlioht werden, allein sie sind
für seine Bildang ganz irrelevant Eute : Einmal ist die ToUst&ndigs
Beaotion eine Keihe, das andere mal eine Sitnation. Eäoe längere Tor-
Btellnogsthätigkett kann nicht nnr dorch eine einzelne anschanllche Vor-
Btellnng ereetzt werden : das B^riffswort kann einen Prozees einleiten od«r
sofort mit einem gewisiien Charakter verbanden weiden; ihm selber kommt
weder das Attribut der Anschaulichkeit noch der Ünanscbaolichkeit m.
Im weiteren Verfolg seiner Lehre von der GestaJt-
qualitilt ist Ehbehpels dahin gekommen, dieselbe auch auf
Begriffe und unanschauliche Vorstellungen auszudehnen*), wie
Ich glaube, mit vielem Recht. Für den Ursprung der Lehre
waren Beispiele massgebend, wie das von der Melodie. Die
') .Es bt nicht möglich, ein durch abstrakte Wörter aosgedriioktes
Urteil za finden, das nicht in ein genan gleichbedeatendee Urteil mit
koakreten Namen verwandelt werden könnte." (Hill, Logik. I. S. 126).
') Ueber OeataltqaaliUten, Viertelj. f. w. Ph. Bd. XIV. 3. Heft.
Er nennt sie (S. S81) „Oestallqoaliiäten höherer Ordnung." Als Beispiel»
für welche fnhit er an: Wohlthat, Dienst, klagen, räohen, Handwerk n. •.,
„bSohst verschiedenartig insammengmetzto Vorsteilongskompleze, die wir
in „einheitlichen BegriSen verbinden," womit wohl nur die Boob-
achtdog gemeint ist, dasa wir beim Gebrauch derselben kein vielfach ^*
gliedertes Bewnsstseinsdatum haben, sondern etwas fSnheitliohea, eme
chuakteristische Nuance.
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
Ventehen and Begreifen. 171
Melodie ist die Summe der einzelnen Töne und doch noch
etwas anderes, sie ist auch etwas anderes als die Summe
der aufeinanderfolgenden Tonrelationen. Sie ist etwas Ein-
heitliches, welches oft gar nicht zu zerlegen gelingea
will. Ich habe des öfteren die Beobaehtung gemacht, Asiss
ich eine auffallende Violinpassage aus einem Musikstück
im Ohr zu haben glaubte, ja mir dieselbe auch in der Vor-
stellimg zu Gehör bringen konnte, beim Versuche jedoch,
sie niederzuschreiben, um eine Anzahl Noten in Verlegenheit
war. Ebenso glauben wir, uns eines Ornamentes, einer Ge-
bäudefatfade ganz genau zu erinnern, als Ganzes ist sie uns
gegenwärtig, übers Detail hingegen trauen wir uns keine
Wette einzugehen. Achten wir genau, was von der Ge-
samtTorstellung bleibt und was ausßlllt, so können wir kon-
statieren: Es bleibt ein Schema, ein Linienschema und alles,
was dasselbe verundeutlichen könnte, verblasst. Dass von
Ornamenten, Gebäuden, Landschaften ein Linienschema
bleibt, erscheint naheliegend, allein ich habe die Beobachtung
gemacht und durch Umfrage bestätigt erbalten, dass auch von
Melodien, von Eeiationskomplexen und Belationsbegriffen
solche Linienschemata übrig bleiben, wenngleich nicht so
deutlich'). Ich halte nun dieses visuelle Schema in allen
Fällen fllr ein associatives Element und zwar von Bewegungs-
empöndungeu. Die Bedeutung dieser wird in der neueren
Psychologie immer mehr anerkannt, zum Teil wohl auch,
wie durch Steickeb, entschieden Übertrieben.
Bei dem focalen Charakter imseres Sehfeldes sind wir
bei den meisten Gegenständen, wenn wir sie genau besehen
wollen, genötigt, ihre Kontur mit dem Blick abzulaufen;
dasselbe thun wir aber auch, wenn wir uns emes Gegen-
standes genau erinnern wollen. Wenn ich mir z. B. einen
') Intereescnt iat dka Ei^ebnis einer kleinen EnqnSte, wel<Ae Ribot
(Enai enr rimagiDstion oreatrioe. Paris 1900. Anhang) mitteilt, wonach
von 16 nnnineiäilieohen Personen im Konzert zu aehen angaben: 8 dsa
Ügnea oonrbea, 3 des imagee, des fignres qoi s&ntent en l'air, des deasias
phantastiqnea, 2 les vagaes de la mer, 2 rien.
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
172 Hormann Swobodi:
Elepbanten genau vorstellen will, so ziehe ich mit dem Auge
seine Kontur, vom Rüssel ausgebend Über den Blicken u. s. w.
Auch das E rinne rungssehfeld bat focalen Charakter.
Es ist Übrigens zweierlei möglich: Dass ich mich bei der
Erinnerung an einen Gegenstand der mit dem Sehen ver-
bundenen Bewegungsempflndimg bloss erinnere, oder aber die
betreffenden Bewegungen zur Verstärkung der Erinnerung
thatsächlich ausführe. Zum letzteren Falle ist zu bemerken,
dass er Zeit erfordert, ein Moment, welches überhaupt för
die in zusammenhöngendor Darstellung vorkommenden Vor-
stellungen sehr in Betracht kommt; das jeweihge Tempo
einer Bede oder einer Darstellung lässt nur eine bestimmte
Reaktionsdauer zu und soll natürlich der Beaktionsmindest-
dauer angemessen sein.
Wenn uns jedoch eine Vorstellung sehr geltlaflg Ist, so
wird, wie immer durch Übung, eine Verkürzung des Pro-
zesses eintreten, die Bewegungsempfindungen, welche beim
Ausfahren einer Kontur einander folgen, werden so zusammen-
rücken, dass sie den Anschein einer einzigen erwecken: So
machen wü- auch unsere Unterschrift „in einem Zug", eine
TumUbung, eine Figur beim Eislaufen „in einem Schwung."
Die Erinnerung an diese eine Bewegungsempfindung wird
dann als Momentreaktion sehr geeignet sein und damit zur
Supplierung der gegenständlichen Vorstellung selber.
Lazabub beschäftigt sioh sehr eingehend mit den VerkfinniiRS-
pTOceeaen, bleibt jedooh bei einer detailierten Beaohreibong und etwuobw-
fiäohliohen Binteilnng des Beob&cbtangsmftterialea st«hen. Er nntersohaidet
(L 0. 8. 245 ff.) zwischen „verdichteten nnd vertretenden Vorstelinngea."
,In dar Bepräsentfttion etBobeint der Denbakt von dem wirkliohen Inhalt
ToUkummeD entleert nnd dorch eine blosse B«eiabnng oder Hindentang tat
denselben ersetzt" „Die Terdtohtnne des Denkens besteht duin, data
Zdt- nnd Eraftrerbrauofa für den gleichen Inhalt immer geringer, oder
Üinfjug nnd Energie das Inhalts immer gifisser wird." Es nensoht keine
reobta Klarheit darüber, wann wir es mit verdichteten nnd wann mit
Tertretenden Vorstellangen zu thnn haben. Das Bichliga dürfte wohl sein,
doBs laerst sine VardichtanK stattfindet nnd das Verdiohtmigsprodakt dann
staUvertretend ist. Die Frage naoh dem Wesea dieaes TardnbtaD^
jmdnkteB hat Laubdb nicht gestellt Auch EHBanriLs besobiinkt anli
eigentlich darauf, fdr üne Seihe anbestreitbarar Ersdiainnngeii einen
passenden Oattnngsbegriff an finden. Dadnroh indes, dass er sdnen Ä.m-
gingspnnkt von klaren Formgabildsn nimmt, fnr welohe die Bedentnng der
Bewegnngsemp&udangen anerkannt ist, ist er dem Oedanken an eine all-
iM,Coo<^le
TuBtehen tmd Begraifen, 173
Sanvoare Bedeutung deiselben schon naher, Aach webt er Dacbdrnoklioh
axml hin, du8 die Oeetoltqoalität ein „poBitiveB TorBtellnngs-
• lemanf' Bei, etwas, was xa einem TontellnngEkompIex hinEokommt,
nicht infolge von VertnmiagfiprOEesEeii von ihm übrigbleibt.
üeber „Terdiohtong", soweit sie Gathmgsbegrifto betrifft, vgl,
Bibot (L'eTolotiou dea idees g6n£raies. Psris 1897). Derselbe weist anch
auf den ESnfloss der Uebnng hin; On sppiend i oomprendre an ooncept
comme on apprend k maicher, i danser, i faire de rescrime, k joner d'nn
inatrament de mnaiqae , . . Lee tennes generanz ooovrent nn savoir
potentiel, leB ideeB gen^es Bont des htbitadee. So Bchon Htune,
Inatise 17, wo ei sagt, ^e aiiBführiiobe Reaktion anf ein Begiiffawort
ad nns .only preeent in power," Dabei wird fibetsehen, das« es aioh nidit
darum bändelt, ob man der ansffihriiohen Beaktion mSohtig ist, sondern
ob man für «e einen knnen, nichtsdestoweniger aber vollstilndigen Er-
Btti haL Wenn Ribot (8. 168) bemerkt: an fiiud, rantagonisme de
l'image et de l'idie o'est celle dn tont et de la partie so veniänt er offen-
bar diese HögUchkeit. FieiUoh steht damit wieder seine Aeassernng im
Wideieprach: lapeDBÖeaymboliqoe, Operation parement verbale en sfiparenoe,
est Bontenae, ooordonäe, vivift^ par an savoir potentiel et an travail in-
oonsdent-"
Was die Beaohreibnng der Thstsaoben anlangt, so herrsobt ober die
Frage dea TerkürznogsprozeeseB in allen Schriften seit Locke grosse üeber-
einstimmong; die leiäite Zngftngtichkeit der Beobachtnogen lätt indes mit
der Schwierigkeit, dieselben eq erkl&ren, ^eiehen Schritt.
Ich erwähne noch, dass die früher besprochenen Be-
wegungsempfindungen möglicherweise beim Sehen des GJegen-
standes schwächer sind, als beim erstmaligen VorBtellea, wo
das Auge von nichts Realem dirigiert wird. Das Vorstellen
eines uns nicht geläufigen Bildes, etwa des Antlitzes einer
laug Terstorbenen Person oder eines demolierten Gebäudes
kostet bekanntlich Anstrengung; wir müssen Zug um Zug
zusammentragen; wir, d. h. alle diejenigen, welche nicht
ausgesprochen zum type visuel gehören. Je lebhafter die
Empfindung, desto dauerhafter die Vorstellung. Dieser Um-
stand ist nun von grosser Bedeutung für die VorsteUung von
Vorgängen, Thätigkeiten und Beziehungen, denn wie schon
oben bemerkt, sind diese Vorstellungen eigentlich ein Vor-
stellen, sie erfordern unsere Aktivität. Vorstellen in diesem
Sinne heisst ja nichts anderes, als auf eine Vorstellung
die Auftnerksamkeit richten. Nun sind Vorginge und
Thätigkeiten Bewegung. Die Vorstellung von Bewegung
kann aber nur Bewegung von Vorstellungen sein').
*) Stont, vgl. Apperception and the movement cf attention. MinA XVt,
8. 28; The idea of a movement is the movement in ita oommsnoement^ and
all ideas are to some eztent ideaa of movement
iM,Coo<^lc
.174 ' HarmftDD Svobods;
Ich lasse es wieder dahingestellt, ob sich zu dieser Bewegung
voD Vorstellungen die Bewegungsempfludung assocüert oder
ob sie mit derselben entsteht Während nun auch im Falle
der Vorgänge und Thätigkeiten die Bewegungsempfindungen
im Anschluss an Bewegungen in der Aussenwelt entstehen,
iiaben wir es bei den Relationen mit der ruhenden Aussen-
welt zu thuu. Alle Beziehungen sind in erster Linie ein
Beziehen, Bewegung des beziehenden Ich zwischen Vor-
stellungen, Bewegung von Vorstellungen. Beziehung als
etwas Reales kann nichts anderes sein als die mit dem Be-
ziehen verbundenen und von demselben zurückbleibende Be-
wegungsempfindung'). Diese — wie man sie nennen könnte
— Relationsempfindungen, gelangen zu grosser Selbst-
Ständigkeit und Unabhängigkeit von sinnlichen Vorstellungs-
elementen, so dass sie ganz allein imstande sind, Aussagen
zu fundieren*),
Das beste Bespiel za den eben behandelten Fragen bieten wohl die
BeEeichDungen für Terwondtschofts-, SchwagerschaflSTerh<iiisse, natürlich
anoh andere, minder poputftta Begriffe der BeobtswisseDSohatt wenn nos
jemand von Beioem Stierbmdei oder Beinern Schwager spriobt, BO Bind wir
angenbUdclich orientiert. Wenn er ans hingegen etwa folgende Hittailnug
nacht: Eine Sohwägetin meiner Fran ist mit meinem QrosBneSen ver-
heiiatet, so mnsaen wir uns das erat „inreohttegen". Solohe Relationen
sind uns zn wenig geläufig, als dass sie sich konzentriert haben könnten;
wir müBBen sie .aiiefübren", mässen Schritt für Schritt nach der bekannten
Manier in Oedanken einen Stammbaam entwerfen. Das Terhältnia ist das
nBmb'ohe wie beim Fechten, Schwimmen, lanzen, das man zaerat aof Tempi
erlernt, bis diese darch Hebung soBammennicken. Dsb, was duroh di*
üebnug wegf&llt, ist aber nur die auf die einzelnen Phasen gerichtete Auf-
merksamkeit, während diese selbst hlom uubewusst werden. Beweis
dessen, dass sie bei jedem Widerspruch sich sofort wieder abheben. So
^braucht der geübte Jnrist Begriffe wie Eigentum, Besitz, Sohadenusati
mit voller Sicherheit, ohne siiÄ deren Definition explicite zu vergegen-
wärtigen. Hört er dagegen über diese Begriffe nnriahtige ^ussageii, so
spüren dies sozusagen die Begriffe sofort an der riohtigen Stelle, d. h. es
wird jener Punkt der Definition bewusst, gegen wetcben die Aussage fehlt,
ein Beweis, dass das ünbewasste nicht unwirksam war. Wohl wird
') Mich wundert, dasB SatoaiTS!&, det die Relationen aasdruokliob
für Oestaltqualitilten erklBrt (1. o. 8. 273) und vom Tei^leidien sogar sagt,
es sei ein „Wandern des geistigen BlioksB" (S. 274). nicht diesen weiteren
Bchritt gethan hat.
*) Tgl. BaSdittg, Psychologie, S. 206: „Wir behalten Betiehnngen
besser läs die einzelnen am Beiiabnng gehörigen Glieder, die Form besser
als den Inhalt."
iM,Coo<^le
Tentoh«! und B^ieiliBn. 176
such hier öftera der B{Atei tn erwähnende Fall eintreten, daaa Bohon die
AoBsage, die WortnaunmenBtelliing doroh du Ungewohnte aoffKllt — IndM
nnr bei gröberon Widerspiflohen. Das jniistiBohe Denken besteht gröasten-
twla im Anfetellen mögUoher BedebnngeD ; der AaBBcblmn der nnmöglichen
wird in der eben enÄhnten Art djmb die verwendeten Begriffe selbst
garantiert — nstörlioh in mannigfachen Graden, die von der Ftinfühligkeit
nnd Geübtheit des lodividanins abUngen.
Qanz analog li^en die Verhältnisse beim btlentierten oder wettigstens
geübten Schachspieler. IKe Wirbin^kreise seiner und der feindlichen
Figuren Bind ihm geitenwärtig and beeinfliiBseii seine Hasanalunen, indem
sie ebe Reihe von Zügen aoBBohlieesen — ohne dass er sieb erst sagen
mSsste: Dorthin kannst dn nioht, dorthin anoh nicht n. b. w. Und aa
braucht aieh andi der grosse Feldherr nicht eigens zn sagen: dort hah ich
ein Detachement, von der Seite hin ich gesichert, sondern vom Aogenbliok,
WD er diese Umstände znr Kenntnis genommen bat, datiert ihre fortdanernde
"Wirkaamkeit, wenn sie anoh nnbewnsst blähen. Nur aof diese Weise ist
es möglich, bei einer Entscblnssbusang alles la berüolisiohügen, was von
Belang ist: Nnr wer nicbta zu berücKBichtigeo braaoht, kann alles be-
rücksichtigen — aberücksicbtjgen" das erstemal im Sinne von aofmerkaam
befrachten genommen. Ist man genötigt, einen Umstand nach dem anderen
herannehmen nnd abEuwSgen, so ist erstens die ToUstlndigkeit dieses Ver>
hhreus wie die Erfabmng zeigt, sehr fraglich, femer wird die simultane.
Einwirkong in eine snccesBive verwandelt, die ßeihenfolge >- so Euällig
sie manchmal sein mag — wird dadurch von trnglicher Bedeutung. In
dem einen Falle müBBen wir uns aus den vielen Komponenten die Besnl-
tierends konstruieren, im anderen Fall bewegen wir uns auf ihr wie
ein Körper, der von mehrerea Kräften angegriffen wird.
Sobald von den Gliedern einer Relation abgesehen wird,
können die Aussagen über dieselben natürlich wieder nur
Eelationen sein. Dies ist der Fall in der Arithmetik, deren
psychologische Grundlage erst in neuerer Zeit scharfsinnigen
Untersuchungen unterzogen wurde. Die Arithmetik ist aber
nicht nur aus dem Grunde interessant, weil Relations-
empflndungen ihre einzige — nicht etwa bloss, subsidiäre
Grandlage — sind, sondern besonders deshalb, weil ihr Aus-
sageinhalt, das Besagte, gar nicht zum Bewusstsein kommt.
Die Evidenz eines Satzes der Arithmetik prüfen wir an
keinerlei Vorstellungselementen; in dem Augenblick jedoch,
wo er uns einleuchtet, wird unser Bewusstseinsinhalt doch
um etwas reicher gegen früher, wo wir ihn nicht verstanden.
"Wie in vielen Fällen, so wird indes auch hier infolge der
grossen Übung und der dadurch ermöglichten Kompliziert-
heit der Operationen die gedankliche Rekonstruktion dos
Urspriinglichen und Elementaren an ihnen sehr erschwert.
n,g,t,7l.dM,COOglC
176 HermaiiD gwobod«:
Erl&ntemiigeii über die pBjobotogisohea Orondlageii dei Hathemitik
amd TOD fondAinwitftler Bedeatung für die Betraohtnn^ aller .A.bkfiTciiiig»>
prazesse" anoh ausserhalb derselben. Ich verwetse hier auf Ziadlera ^BÜi^
faüge znr IHieorie der mathematiecheii Brtaiuitiua'' (ffitz. Borklite dar RiiL
hJ8t Klasse d. kais. At. d. W. Wien 1889). wdohe in Absoh. T (üebar
die mstbematisohe Symbolili) eine öber&oa klare Behandlung der va-
sobUgigen Fragen liefern. Zindler nntersoheidet iwisohen reprägen-
tierenden nnd BairogatTorBtetloDgen, von denen die ersteron in dar
aynthetiiohnn Oeometrie überwiegen, die letzteren in der Arithmetik (i. B.
das IntegralzeiDhen). BeprgHeutierende Tarstellnngea sind also hier
ansobanliohe (im Gegensatz zn Lizibdb). Aber anch . dia Snnofiat-
Torstallongan sind es and ihr Zweck brätsht eeiade darin, HPinBBS
Ofientionen, die mit den Objekten selbst nicht ansäiaiitiob aosfUirlMr und,
mit den Embolen ansohanlicb Bosznfähren. Und ans dem Besnitata der
Oparationen mit den Symbolen xieht man Sohlüase ant die Besnitata der
^Mrationen mit den Objekten selbst. Da ferner die Halationen
zwischen den Bnrrogaten leicht erkennbar sind so wird es
anroh Symbolik möglich, fielatjonen zwischen matheraatisohen Olq'ektea ta
entdecken, welche man ohne Symbolik nnmögliob hätte feststellen köimen.*
Was die Ifatbematik von den übrigen Wissenschaften nnd dieee wieder vom
Alltagadenkan nnterscheidet, das sind die Eantelen, dass dnrch die Operation
mit den Symbolen nlohts herauskommt als was man sich, wenn snoh nm-
st&ndiiober durch die Operation mit den Objekten TerschafFen könnte. Die
BeschaSang solcher Kaatelen ist schon des Öfteren versncht worden; ne
liegt schon LBiBj^zeng Gedanken einer cbarakterologia nnireisalis zu Oninde.
Die Anabildnng wissenschaftlicher Begriffe leistet nicht so grosse Dienste,
als blofig gemeint wird. Denn der wissenschafUJohe, der logisohe Begriff,
ist, genau genommen, eineBeibe von Urteilen, in dieser Fonn aber düoh-
aus nnhandliab. Die E^e hingegen, wo man das Begiüfewort uiweflUir-
licb als Bjmibol verwenden imn, sind für das schöpferische Danken
wertlos. Daranf kommt es aber hanptsBohlich an, ein Punkt, den mdi
ZiNDLKB ansser acht Ifissi .Alle beim mathematisoben Denken anftretendm
Torsteltnngen bestehen ans Wortvoretellungen, üesicbtsbildeni nnd den in
der Bev^angs7orstellang vorhandenen Elementen (S. 76j. Allein man mnss
unterscheiden zwischen dem Bachner und Mathematiker, wie iwisohen dem
Oeaetzeekundigen nnd dem Juristen, dem Mechaniker und Physika. Hu
der Beohner wird mit blossen Wortvorstellnngen in seiner Art etwas leisten.
Auch Harti (Ueber SprachreSex, Nativismus und absichtliche Sprach bildung,
Tierielj. f. w. Fh. XIV. B. 78) ist der Unterscheidung von reptflsentieTauden
nnd Surrogat voTstellnn gen nahe, wenn er dem Wort nachrühmt, dass es
uns erleichtert, „Das Gewonnene in jedem Angenbhck sicher zu re^egen-
w&rtigen und zum Behnf weiterer Verwendung in noch komplizierteren
Ge dankengetügen im Bewuestsein festzuhalten. Endlich kann das Wort
geradezu Btellvertreter des Begriffes sein, was uns beeondais bei
sehr fcomplixierten Oedankeninhalten zu statten kommt*.
An dieser Stelle möge anch auf die vortrefflichen Ausrührungen hin-
gevrieeen werden, welobe Stoui in dem Aufsatz Thonght and langnage
(Hind XVI. S. 186 und 187) zum Gegenstände liefert. Er ontersoheldet
zwischen suggestive, expressive ond Substitute signs. HSnggeslive
sign is merely a memory help" es tritt ganz zurück, wenn ee seinarflicht
gman hat. Ein eolobcs Zeichen ist die Gestalt des Springers im Schach-
spiel. Znm Denken selbst Ist mir das Zeichen und die Aufmetksamkeit,
welche leb daranf richte, gai nichts nütze. Das gerade Gegenteil beim
iM,Coo<^le
Terstohen und Bograifsa. 177
B tign in dar Arithmetik, Al^bn, fonulen Logik (I); it renden
naelees oll raforance io thit wbitdi it repreaentB. Du EAup^tenue «endet
tödi den expreesiTe signi so, dea Worten. Zieht man in Betracht, due
wü beim Seden, Lesen, Bolireibea oft kdaen deutlichen Bewnsstssinainhalt
haben als die dabei Kebran<^ten Worte, daas vii aber denselben ^ Intel-
«Bse rawenden, webhee in den die Worte koostitaierenden Oasichta-, Qe-
faöre- nnd Innerritionaempflndiingen tmmSgUoh eetne Quelle liaben kann,
so bleibt noT fibrig, daaa die Bedentnng der Worte doroh die anf sie
gerichtete Anfine^amkeit waohgerafen wird. The expresslTe BÜn is a
meaaB of attending to itssigniflottioD. l.af diese Wdse ist das Wort an
instmment for thinHng kbont the meaoing vhioh itexpresseB;aBabetitate
mgn ia a means of not thinkjog abont the meacing wnioh it symboliseB.
Es kann nicht Aufgabe dieser ZeÜea sein, die ange-
regten Fragen noch weiter zu verfolgen; es sei nur fUr unsere
Zwecke konstatiert, dass es ein sehr unscheinbareB, jedocli
äussert wichtiges Fundament unserer Aussagen giebt: die
Bewegungsempfiudungen, resp. ßelationsempändungen, dass
dieselheo ferner teils von subsidiärer Bedeutung sind als
Ersatz der vollständigen Reaktion, teils selbständige Aussage-
iahalt«, wie in der Arithmetik. Bewegungs (Relations-)
empflndungen sind es wohl auch, welche vielen Hyposta-
sierungeo zu Grunde liegen, wodurch der in denselben ein-
geschlossene Glaube, dass wirklich etwas da sei, eine, wenn-
gleich andersartige Bestätigung erfährt.
Da mit der Vorstellung von Bewegung die von Richtung
und Geschwindigkeit untrennbar verbunden sind, so erklären
sich leicht die den Relationsempfindungen (dem abstrakten
Benken) häufig assoziierten Linienscbemata, choreographischen
Wir fi-agten oben: Was kann alles bezeichnet werden?
Und die Antwort ww: Dinge, Eigenschaften, Vorgänge, Be-
ziehimgen, einzeln oder in bunten Komplexen. Bisher war
nur von Wortbezeichnungen die Rede. Was dieselben —
abgesehen von den bei der Entstehung der Sprache mass-
gebenden Momenten — veranlasst, ist hauptsächlich das Be-
dürfnis, fUr gewisse, häufig wiederkehrende Komplexe ein
einfacheres Zeichen zu haben, sowie man in der Algebra für
einen längeren Ausdruck, den man herausheben kann, ein
emziges Zeichen einsetzt. Die Wortbezeichnung trägt so-
dann wesentlich bei, den bezeichneten Komplex zu fixieren,
L PhUoi. u. SoidoL XXVU. g. 12
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
ItS HvTMnm 8w»b«4«t
wu freilich von grossem Sehaden ist, sobaJd sich eine ander»
SUementeiikombination als braachbar erweist, indem die alte
EombiBaüon ihrem ZerreiBsen grossen Widerstand eotgegen-
eetzt, worin sie von dem aasoziierten Worte unterstützt wird-
Dadurch wird der Wert der Sprache fllr das originelle Deakm
sehr herabgesetzt. Die Yereinfacliuug des Denkens, welche
man ihr häufig nachrühmt, leisten in erster Linie die
im Vorhergehenden behandelten Bewegungsempfindungen,
oder wenn man eine weniger verpflichtende BeEeidinung vor-
sieht, die GeBtaltqualitäten, so dass es ausser dem DenkeK
in Bildern noch eine Art sprachlosen Denkens giebt
Die Anwesenheit von Wortroratellmigen ist ebensoTMÖg-
präjudiziell fOr ein unanscbauliches Denken als es die An-
wesenheit von VorsteUnngen für ein anachaoUches Denkw^
ist. Dass man sich verleiten lassen kann, in den beim Denken
gegenwürtigen Vorstellungen die Hauptsache zu erblickM^
daran ist die Natur der Bewegungsempöndungen Schuld, der
Umstand, dass sie sich infolge der grossen G-eübtheit nicht
mehr als solche abheben. So befähigen sie uns ja aueh suBi
präzisesten Auffassen der Eaumverhältniase, ohne dasa vir
ihre Beihilfe ahnen. Ferner haben die Wortvorstellungeo,
ob Oesiehts- oder Lautbilder als Vorstellungen der sensorieUen
Sinne eine bedeutendere Lebhaftigkeit, sie sind von den flinf
Qebilden, die sich bei jeder Vorstellung zur WcnDr'scbeiL
Komplikation vereinigen, die hellsten. Allein nicht sie sind
es, welche Wortzusammenstellungen von wenigstens an-
scheinender Berechtigung ermöglichen, wofern uns nicht diese
Zusammenstellungen selbst schon geläufig sind. „So weseofe-
lich sind die Worte, dass es für ein völlig klares Denken
genügen kann, wenn nur die Worte dem Bewusstsein sich
darstellen", meint Lopps. Nach dem Gesagten ist es flb" die
Wesentlichkeit der Worte kein Beweis, wenn sie im Bewusst-
sein dominieren. Mit blossen Worten kann man nicht ein-
mal einen Unsinn sagen, von der Art etwa wie die
HezenchQre in der Walpurgisnacht, diese „meisterhafte
Mischung von Sinn und Unsinn".
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
Tmtebra und BagralfcB. ^79
Soirie das einzelne Wort kOnnen unser-e sämtiicbm
AuSBagen, irie kompiliert sie auch sein mOgen, nicht« anderes
sein, als Bezeiclinangen Ton Dingen, Eigenschaften, Vot-
gfingra, Beziehungen und deren Komplexen. Allmli&gB
Qotn'Beheidet sicii das durch Wcnle Bezeichneta Ton ^dera
^orch umfangreichere Aussagen Bezeichneten. Das Bezdicb-
nete muss einmal bemerkt werden; dazu Bind die Verhält-
nisse nicht immer so gOnstig vie bei Gegenständen '). Wort-
bezeichnnngan haben m.ch nur iUr das gebildet, was dem
Durchschnittsmenschen auffällt; vqp eine neue Erscheinung
entdeckt, wem eine neue Beziehung einßUlt, der muss sie zuerst
beschreiben, dann kann er sie auch benennen. Von da aus
erfohren die Wortbezeichnungen eine fortwährende Be-
rdchenmg. Allein der ungeheueren Mannigfalti^eit der Er^
seheinungswelt gegenllber sind sie doch gering an Ziüil. Da
die Sprache wi Teil des sozialen Organismus ist, vedSüt
alles minder brauehbare d& Auslese; fUr das indiTiduell
Gtescbaute, was nicht einer dem anderen nachschauen kann,
eine WcHtbezeichnung einzufUfaren, besteht kein Bedürfnis.
Da sich die Wissenschaft nur mit dem Allgemein-
gültigen befasst, so ist sie offenbar in der Lage, ihre Ke-
Bulti^ am bündigsten zu fassen; vorderhand gilt dies jedoch
nur von den NaturwiBsenschaften, von deren mehr oder
woiiger formelhafte DaxstelluDgen die uferloseaDarsteUungea
der anderen Wissenschaften sehr unvorteilhaft abstechen.
Der Wunsch, für alles Bezeichenbare eine bündige Be-
zeichnung wenigstenB in den Wissenschaften einznfUliren,
ist schon des öfteren gehegt worden.
Davon, dass alle unsere Aussagen nur Bezeichnungen
von den mehrfach erwähnten Komplexen sind, kann man si<^
leicht Überzeugen, wenn man z. B. die Beschreibung einer
nicht gewöhiüicben Erschemtmg, eines Vorganges, die Er-
klärung eines Verhältnisses liest, von welchem man schon
') Treffend bemerkt Bibot (L c. 8. 148): Soavent lee esprits joüb
■'etozment de comprendie ohaqne mot «t de ne psB BaToIi oe qne l'eii-
Bemble vent dire.
n,g,t,7l.dM,COOglC
ISO HermitDn Svrobod«!
Kenntnis hat. Man kommt die ganze Zeit mit einem Bild
BUS. Es geht wie bei einer SkioptikoQTorstellung zu. Der
Erklärer hat eine Zeit lang über das Bild gesprochen, jetzt
spricht er weiter, das Bild wechselt. Wenn man sich da-
raufliin beobachtet, findet man, dass mao fllr eine Darstellung
von grtlBserem Umfang mit ein paar inneren Situationen,
„Platten" auskommt').
Nach dem Vorhergehenden liegt die Frage nahe, was
denn das Denken sei, und was Gedanken? In der Umgangs-
sprache wird denken häufig gleichbedeutend mit Vorstellen
gebraucht In einer ganz ähnlichen Bedeutung wird Denken
aneh in der Wissenschaft verwendet. Die Komplexe, nament-
lich aber die Kelationen, welche wir beschreiben, finden wir
häufig nicht vor, wir nehmen sie erst vor; und diese Phan-
tasieüiätigkeit heisst auch Denken. Dieses Denken ist also
nichts anderes als ein Vorstellen von dem, wofür es keine
Einzelbezeichnung giebt; was nicht bezeichnet werden kann,
sondern beschrieben werden muss. Die dritte und an-
gemessenste Bedeutung von Denken ist aber die: Von einem
Aussageinhalt zum andern Übergehen. Das Denken ist in
dieser letzten Bedeutung ein imaginärer Prozess, es ist —
in Ausführung des obigen Vergleiches — der MechanismuB,
der die Platten wechselt. Das Denken wird irgendwie an-
geregt und kommt nach wechselnden Situationen zum Ab-
schluss. Diese Zwischensituationen nennt man auch Gedanken.
Es ist darnach klar, dass alle G«danken Splitter sind, nur
nicht die Gedankensplitter. Diese letzteren sind nämlich
meist nichts als Beschreibimgen von geschickt gruppierten
Relationen — vom Anteil der Sprache, Wortspielen abgesehen
— immer einheitliche Phantasieprodukte, ausser allem Zu-
sammenhang verständlich, etwas für sich. Die Gedanken
hingegen sind meist nur „im Zusammenhang verständlich".
') Vgl. QokPEBz' „AnBch&aliohe QeBamtTOTBtollung" (&. a. 0. B. 99),
eine Bezeicbniuig, die dqi ioBorern nicht reclit pasBt, als ed dieser Oesamt-
vOTStellong sebi hünfiK OefuHle geboren, wie auch gerade in dem von ilun
uisl;fiierteD Baiepiela {„Tagend iat Qläckseliglfeit").
n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL'
Vsntdieit wid Bc^nUeD. 181
sie kommen niir als Qlieder einer Reihe in Betracht Natttr-
lich kann ein G^edanke, der Glied einer Reihe ist, auch fUi*
sich allein iü Betracht kommen, verständlich sein, packend
sein; wenn er's aber ausser der Reihe nicht ist, so bildet
das noch keinen Vorwurf fttr ihn').
„Gedanke" ist also wesentlich nicht verschieden von
anderem, wofOr wir Einzelbezeichnimgen haben, Beweis dessen,
dasa vieles, was zuerst ein guter Gedanke war, späterhin
mit einem Begiiffbwort fixiert wurde. Potential, Auslese
dnd solche Phantasieprodukte, welche durch die Einzel-
bezeichnnng Yerkehrsßlhigkeit erhielten. Wenn wir nun ein
einzelnes Wort oder grossere syntaktische Gebilde vor uns
haben, so mOssen wir uns erstens fragen, ob dieselbe eine
vollständige Bezeichnung sind. Ein einzelnes Wort kann
es sein, ein Satz, ja eine Reihe von Sätzen braucht es noch
nicht zu sein. Haben wir dann die Bezeichnungseinheit, so
fragt flieh, oh das Bezeichnete, der Gedanke, in einen Zu-
sanunenhang gehört oder nicht.
Fragen wir nocti, was eine Beschreibung ist. Antwort:
Wesentlich das Nämliche wie eine Bezeichnung; nur dasa
eben das Beschriebene aus den schon angeführten Grtlnden
keine Mnzelbezeichnung erhalten hat. Anderen gegentlber
bat die Beschreibung den Zweck, die längere Reaktion, welche
eine Wortbezelchnung auslUst, stückweise erfolgen zu lassen,
unter Brachreibtmgeu verstehe ich hier natOrlicb nicht nur
Darstellungen, die, schon am Stil als solche kenntlich, darauf
ausgehen zu beschreiben, sondern welche dies faktisch thun.
Versteht jemand ein Wort nicht, d. h. ist er in der Reaktion
auf dasselbe nicht geübt, so ^kläre ich ihm dasselbe, d. h.
ich leite ihn schrittweise zur richtigen Reaktion an. Be-
schreibungen haben jedoch nicht nur Wert aia Mittel der
Uitteilung, sondern auch fOr uns, indem wfr mittels derselben
*) Das Niherg bierfibor aoten bei hespndmag von AyiNABiDB' Vltal-
nOkoiaiwrie. V^ Wumn, IiOglk. S- Aoflage. L B. 74, über .Oedanken-
Tcrianf als Qodlfl d&r BegiiflibüdQiig.'' VoratoUen und li-enken stehen nach
TmniT ra rinander im VerUUtnis dea weiteren B^tilb so dem encenn.
iM,Coo<^le
1S3 H«tm»tiik ftiTobodk:
I ElmnUl« gleichfiam in potentiell« Ebiergie rerwaDdeln.
S^ ist DUQ einmal so, dass wir fHr viele gate EinüUle mctits
dafür können, vie schon ihr Narae sagt; dasB sie nur pl(fts-
Ucbft Konstellatioben dnd, am die vir fOr immer kommen
ktfaaen, wenn wir mis nicht gleldi die MSglichkeit sichwn,
sie ftMtan Bolb«' herfoeiznfllhren. Diese „EiafiUle" sind Ar
uoswe Untersuchung von grosser Bedeutung, Wir Tergl«oh«i
sie gern mit ein«n plßtzlich aofleuchteaden Licht, einein
BUtz u. s. Vf., offenbar lauter „Analogien Aet Bmi^dung",
die sich ganz unabweislich aufdrängen, ohne dass man reoht
tuzugeben vermöchte, was ihnen auf Seite k. B. des ab-
strakten Denkens entspricht; dass wir Übrigens eu solchen
Analogien unsere Zuflucht nehmen, ist schon ein Bew^ dieser
Schwierigkeit. Ganz im G}eg«isatz nun zur blitzartigen
Aufklärung, die uns dmxjh gute EinßUle zuteil wird, steht
die Umständlichkeit, die ihr« Beschredbong erfordwt, und
die Schwierigkeit der Beschreibung, trotzdem uns lUles
„sonnenklar" ist; so klar, dass wir ohne das Bedürfids, üe
uns zu sichern oder andere mitzuteilen, auch kein Bedürfnis
Mtten, sie zu beschreiben. Da solche BinMle gewöhnlich
durch vorhergegangene YerkUrzungsprozesse erst ermöglicht
werden, so ist — bei der bestrittenen Natur dieser — schwer
anzugeben, worin ihr Fundament besteht. Man kann da nur
Ton geschicktem Arrangement, Übersichtlicher Au&teUung,
Gruppierung reden; denn es ist sehr auffällig, dass wir Be-
schreibungen, wenn sie auch nicht sonderlloh gelungen und,
verstehen, sobald wir durch sie in welcher Keihenfolge immer
in den Besitz der einzelnen TeüfeaktioDen gelangt sind und
nun mit ihnen selber zu wirtschaften an&ngen. Da komnaen
wir dann plötzlich dahintw und finden beim nochmaligen
Lesen der Beschreibung alles in Ordnung. Die Erkenntnis,
die Einsiclür oder wie man es immer nennen mag, hat ebaa
im Gegensatz zu ihrer sprachlichen Fixierung einen momen-
tanen Charakter; beim Wiedo-lesea (Ohlt man deuUidt, wie
man zum Ersten das Letzte und zum Letzten das Erste brancht
Dieser, sohes obw erwäbatt UmsUnd, dass wir gl«icfaaam
n,g,t,7i.-JM,.COO<^le
Tsniefcw aiMl Begreitai. |83
mit ein« Platte ftlr ein gröBaeres Ot&axa von BeK^cfanung^
ankommen, ist wohl der tigere Orond der PeriodeQbildung.
SiAß Periode, eine BeieicbntmgBeiahMt. Die mod«7ie Dar-
ste^QUg hat den V(Hrt«l, dass tia, durdi keinwiei syntak^ha
BOekriohtep beengt, die nötigen Teilreaktionen in belieblgw
Ordnung und mit Muse besorgen luuin. Dagegen wird in
der Palode die Ziuammenfassung derselben durch die rftum-
liebe Eingrenzofig gefordert und dureb die zeitliche Ztuammea-
rQektmg erleichtert.
sind schon die Schm«igkeiten groas, welche das „klare"
Denken einer Analyse seinem Bewusstseinselemeate entgegen-
setzt, 80 ist dies natürlich in erhöhtem Grade der Fail beim
„onUaren" Denken, wie es einer Lösung so oft voraufgeht.
All^n, was ist eine Lösung? ZiebMi sioh nicht manche
Ahnongen durch ganxe Generationen hindurch, Ms es einem
Genius gelingt, darüber hinaus cn einem Abschlosa zu ge-
langen, der sich vielleicht aach wieder bloss Torlttu&g, als
efate Ahnung entpuppt, u. s. w.? Es ist daher beim besten
Willen nicht mö^ch, seine Aussagen auf sichere Besultate
xa beschränken; indes kann man in dw Wissenschaft wohl
das Krfbrdemis eines subjektiven Abschlusses, su Ende^
Denkens aufstellen. In den redenden Künsten ist das
and««. Zu Ende-Denken Mi'ordert Anstrengung und Geduld.
Das HalbbewtuHte, Halbgeahnte ist biologisch sehr bedeutsam.
IHe Ahnungen, alles Unklare hat reichere Beziehungen cur
QefUhlsspMre; solang man auf eine Lttsung hingespEuant ist,
hat man die Dlosion eines Lebenszweckes. Auch die Tor-
Btadi«! einer wissenschaftlichen Entdeckung entbehren nicht
der Gefühlscharakteristik.
Die Äusserung unklarer Gedanken kämpft mit den
n&nlif^eu S<Avierigkeiten, wie die Beschreibung undeutiiehM'
Gegenstände; es ist aber zu bemerken, dass sowohl ein
unklarer Gedanke als auch ein undeutlicher Gegenstand
knoeswegs dw Bestimmtheit entbehrt. Beweis dessen,
dass man sloh einer Ahnung mit derselben Zuversicht
zukehrt, wie nur irgend einem „klaren Ergebnis." Die
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
184 Hcrinaiiit frwoliodi:
Schvieiigkeit liegt nur in der Bezeichnimg. Aimnngen kann
man nur alinen lassen; Unklarheit kann man nur durch
Unklarheit ausdrücken, aber nicht beschreiben. Allft
Bezeichnung dient nur dazu, wertvolle Komplexe, Beziehungen
festzuhalten. Das unklare Denken ist nur ein ZTiscben-r
Btadimn; die Anwendung der Bezeichnung dafür ist eig«ttlioh
Missbrauch. Die Sprache ist dafUr zu deutlich und befitimmL
Man reagiert auf sie zu stark, zu sinnUch. Will man daher
die Sprache, in Verwendung für unklare Gedanken, verstehen«
so muss man sich eine Art halber Reaktion angewObnen,
halbes Hinhttren, Lesen mit balbgescblossenen Lidern, um
sich nur Schatten erregen zu lassen. Die Sprache wird aus
eiuer^Anleitung fUr bestimmte Reaktionen zu einer An-
regung für unbestimmte. Je verschwommener, gefOhls-.
xmtennischter und persönlicher das Bezeichnete wird, umso-,
mehr verliert die Bezeichnung an MittoiluDgswert
Neben dem unklaren Denken ist ein passender Platx
für das „abstrakte Denken". Die Marken werden oft. yer-
tausoht Was versteht man unter abstraktem Denken? Ist
das begriftlicbe Denken ein abstraktes Denken? Es ist ein
grosser Unterschied zu machen zwischen originellem Denken,
i. e. einem Denken, welches für mich etwas Neues zutage
fBrdert und allem Übrigen „Denken", einer je nach dem Falle
sehr geübten, automatischen oder nachlässigen Funktion.
Das originelle Denken ist unter allen Umständen
intuitiv, d. h. nicht abstrakt, es muss etwas Bezeichnetes
da sein, wenn das auch nicht eine LJchtgestalt im Sehfeld
ist. Eine originelle Aussage muss fundiert sein. Inwiew^
bei allen anderen Aussagen, den abstrakten inbegriffen, infolge
grosser Übung eine Fundierung häufig unterbleibt, ist bereits
erwähnt worden; desgleichen, dass das Schliessen kein ori-
ginelles Denken ist»).
') üeberainBtimmeiid Ooupisz {>. a. O.S. lOlff.) ,Daa uadimlidi«
Denken Erzeuger allet nhrbalt neuen nnii sdiSpferitdien OedankHi.'
.Das dieknisive Denken dient nni tor Abkänonp dea anadianlieben. Ea
enpOnct seinen Wert ftberall erst von dem Wnt der vartzetendeii La-
Bchanliuikeit."
iM,Coo<^lc
Venteh«n and Bagröfen. 186
Alle tmeere AuBsagen sollten tod unserer Intuition
einmal accreditiert worden sein; leider vertrauen wir aus
Bequemlichkeit und anderen Qründen häufig der Rekomman-
dation durch andere oder verzichten auf jede Legitimation.
Der Qrund, warum man mehrfach doch ein originelles
Denken ohne Intuition annimmt, liegt offenbar in dem eigen-
tümlich schattenhaften Wesen derselben. Nehmen wir
NnrrzscHxs Apper^n: Kaitt oder Cant als intelligibler
Chanücter. In dem Augenblick, wo mir das YerständniB
desselben aufblitzt, habe ich gar kerne deutliche Vorstellung,
und doch ist mir der Witz klar. Worin besteht aber hier
der Witz? In einer (»Iginellen Zusammenstellung, in einer
Beziehung. Dass dem so ist, wttrde der Fall jemandes be-
zeugen, der nicht weiss, was Cant heisst oder was man unter
dem intelligiblen Charakter versteht und dem man därOber
erst Aufklärung vn'schaffen muss. Er wird nämlich ti^tz
derselben von dem Witz nicht so gepackt sein, wie jemand,
dem jene Bezeichnungen geläufig sind und zwar deshalb, weil
die ßlieder der Beziehung, damit dieselbe einleuchtend sei,
annähernd gleichzeitdg im Bewusstsein anwesend sein mtlssen,
was nicht möglich ist, wenn die Reproduktion eines Gliedes
nicht geübt vor sich geht*)- Der Gedanke ist ein Tableau,
bei welchem alle mtlglichen Elemente beteiligt sein können.
Da aber der 'Fassungaraum des Tableaus beschränkt ist, so
müssen sich die Elemente bescfar^lnken, eventuell vertreten
lassen. Als direkten Anlass des Yerkürzungsprozeeses möchte
ich indes die Enge des Bewusstseins nicht aufTassen, die
beiden scheinen mir Überhaupt in keinem ursächlichen Zu-
sanunenhang zu stehen. Bei der Enge des Bewusstseins ist
es natürlich sehr vorteilhait, dass solche Verkürzungsprozesse
■) Tie kuujmuiid die SohÖnheit eineilioDieriBolieii Stelle u^ehen,
der in jedem Ten ein halbes Dotsend Tokebel naohwihhgen mn»!
Sehe fibei den Snflins der Uebnog im ugedentoten Sinne »oli
Muh, .inalfse, B. 817: .Du iN^iifOioli« Denken eine Beektionsth&ti^eit,
die «oU geübt tein vül .... Bi wird in keinem OeUet mCglidi sein,
sich xa den tiöberen Abetraktkoen m ertieben, ohne sich mit den ESniel-
heiten beiohiftigt an haben.*
iM,Coo<^lc
IM . H«rBftna Swobo44:
antreten. Von einer Been^^g kaim niclit die Bede sein,
denn mehr als driimen Platz bat, geht eben nicht hiauo*).
E]s ist natürlich eine wichtige Frage nach dem Wut«
des Denkma, wenn ra sich von dar sinnlichen AosohMtoag
mehr und mehr entfernt Sb& i<^ hierüber einiges bemerke,
sei nodi aof folgendes hiogeviesen. Obiges Apper^
Nibtzsohs'b wäre es ebensogut mttglich gewesen, in doen
lungeren Satz auszuspinoen. Das Beieidmete desselben
hätte aber immer nichta anderes Hain könnui, als jenes gesobiokte
Arrangement. Es finden sich bei Nktzsohi eine Meogd
solcher Beispiele, wo er die ränzelnen BeäehungsgUeder
einfach nebeneinander hinsetzt und binmit im Lesen den
Gedanken ebenso wweckt, wie er in ihm selbst ent^tandMüst
UndnundieFrage nach dem Werte des atAtrakten Denkens, ge-
naoer: nach dem wissenschaftlieheu Wart des abstrakten
Denkens. BennfUrmichhatmeinDenkenimmerW«rt;e8tst«n
Eomplement zu meinem Übrigen Gesamtzustand, es ist ein
Stflck von mir, von meinem Leben. Bezeichnen wir es kurz
als Aufgabe jedw Wissenschaft, allgemeingültige Be-
ziehungen aufzusteUen, so liegt sehr müie, vorin es das
abstrakte Denken häufig fehlen Itlsat Es verleitet nämlich
— beim Mangel der Bimüichen Kontrolle — leicht zu einem Spiel
lait Beziehungen, zu Kombinationsexperimenten, zu einem
anmutigen Ballett ausBelationen, dem Ulnigens ein ftsthetiacher
Wert zukommen mag. Solch» Art sind viele der B]>st»-
matischen Arbeiten aus der nachkantisohen Periode*). Solche
Produkte sind hauptsächlich daran erkenntlich, dass man cu
ihnen nicht Stellung nehmen kann; man kann nirgends kräftig
ja oder killftig nein sagen, sie lassen sich nii^:ends packan.
Das kommt davon, dass das Bezeichnete jeder intersobjektivaa
Grundlage entbehrt. Es ist zwar nicht immer notwraidig,
dass wir uns behub Zustimmtmg oder Ablehnung das Be-
>) TgL iMg9gen Uustrs, L o. 6. ua
*f .La philüotAie n'Mt qs'niw poisit aojthiitiqaM La
phünapU« Doai pnMnta, bob pas oo qni «t an m qs'all« MOlt, Mria M
Ja'ilia taim ajant plm a'Bppttano» «t i« gtatillMi»." ll«ntalgMia
er Apolda de Baimond Sebond,
iM,Coo<^lc
TvnMiM <m4 BtgctSha. 187
sdehnete klar Torstellen; das tet Folg« der Übung. Aus-
laachen ISsst sich jedoch mit blosser Übung Aber die Dinge
Bii^ta, Übong kann die Anschaunng nicht ersetzen, Ble
kum nur schwierigere Anschauungen ermöglichen.
Bdion Huu steffite iie IVsge, wie es kommt, dase wir fiber Se^arang,
KirohA snd dwglttehM) ksinaa Unsinn radui, obwohl wir boim Spradisn
keine klaren Toratellnngen von jenen Subjekten liaben, und wieso ein anderer
■ofoit merkt, wenn wir vAm neeelbeii einen Dusidb ttaatfm- {Treat^
Fut L Seot. vn.) Dei letztere IUI gieU uhoii die Antwort. Es sind
uns nimlicli niaht nni eiuelne Worte, soudein wiDb ganze Sitze bloss dem
King nach TertnnL INeee VertnaUieit erleiebtert einersrits ihre ge-
daakenloie B«prodnktiaB lut mthi »der miader grossen AeBdenngen,
aoderaeita Uue gedankenlose Hinnahme, ,Tenttlndiiia*, ebne R&oksioht
Mf Bolobe AfindenttRen. Vf^. Lifk. Onmdthateaahen, 8. M6: .Torte, die
nsfat ans njnalns. Trnrtrniiiiiniwiilnllimfiii. die ni<A[tj(aau ohne in Onindg
liegenden yoisteUongsiwan^ sind, werden acoeptiert and weitergegeben in
dem gnten Olanbon, doss ne das rwiftsetitienB, was sie zu lepitsentiereu
fstgoMa, wenn sie n«r ia der gewobniUohen Fenn und mit dem nötigen
Oeviobt aoftreten."
IIb ist aber omlditig, wenn Erna meint, das ans das ünBinnige
finar Ansaage sofort eüdeaditot, Bondera das Ungewohnte des PiUikats
lieht unsere Anftnerksamkeit an oad diese veiiiilft eot Eonstatierung des
Unsinns.
Es ist übrigens weiter zo bemerken, dass wir nnr im Zasammen-
hang einer gröBseren Darstellnng mil emem Teite, emem Batae keine
distinot idea Terbinden, was darin begründet ist, dass wir jeweils nur ein
tbeorotiBdMe edn sraklleohes Interesse haben können, welches den Be-
wnsstsemsgad der dasselbe be&iedigenden HiUBoperaUonen bestimmt Wer
a. B. «n Wüd ansehleioht, der macht der Beiha nach eäm Anzahl von
Bewegungen, von denen müxdie ganz unbewnsst bleiben, manohe wenigstens
nachüghdk erinnert werden können, manche im ICttelpnnkt der Anf-
meiksamkeit stehen, je nach dem Orade der OeSbtheit and ihrer Bedentang
fBi den FaE Je grösser die üebnng, desto anseohlieesUcher kommt dar
zweite Oesiohtspankt inr Oeltang. Und wie beim Handeln so iafs auch
beim Denken. „Ihinking is aotion direoted, towards intellectaal ends.
Intdleetnal ends aie attained b; an appK^riate combination of movement
«f attentitm Jost as parcUcal ends are attained bj an i^propriate oombinatian
«f movemeota of the bodjr." Stont, Apperception and the movement of
attention, Mind XTL S. 23. Wie viel iob mir bei einem Satz denke, das
ist immer davon abh&ngig, in welchem Terii<nis dieser Satz zam Hanpt-
gedankea steht, wie viel Anfmerkumkeit also anf ihn entOlU. Die intelleotnal
«ids doA Bosns^en central belichtet, von ihnen weg vrird es immer dnnkler,
verblassen ^e Gedanken za Schatten.
Endlich moss bemerkt werden, dass die Frage nicht die ist, wanuu
wir ohne deatlicbe Torstellnng keinen Unsinn reden, soudsm ob wir
ohne dieselben etwas Gesoneites reden, neue Aussagen matdien
kSnnen. Der Srgste Hohlkopf braucht, wenn er sich nnr vomohtig in ein-
lud angeleinten SAtzaa bewegt, keinen Unsinn zu reden,
Anschauung ist also fUr unser Denken unerlässlich.
Bomaosätze wie: „NervOs an seinem Barte zupfend, ging
iM,Coo<^lc
18g Hermann Swoboda:
er, mit auf dem Rücken gekreuzten binden, hastig hin und
her", haben auf allen Gebieten des Denkens ihre Analogien.-
Wo die Anschauung' das Denken faktisch nicht begleitet, soU
sie es doch immer begleiten kSnnen. Das Denken soll die
Kontrolle der Anschauung nie zu scheuen brauchrai, „An-
schauung" nattirlich indem weiteren Sinn, welchen wir ihr
frOherzugebengendtigt waren, welchen ilir auch Wuitot giebt*).
Die Psychologie der Intuition ist ein sriir vemadi-
lässigtes Kapitels, was damit zusammenhängt, dass die Br-
keuDtnistheorie bisher zu wenig psychologisch behandelt
wurde; wohl auch damit, dass, wie Lazabcs treffend be-j
mOTkt, „die intellektuale Ajischauung für eine lehrweise
Mitteilung eine Sisyphusarbeit ist"
Hiennit dürfte über den Gegenstand von Bezeichnungen
vielleicht schon mehr gesE^ sein, als fUr den Endzweck
dieser Untersuchung von nöten, sicher aber weniger als den
in diesem Absclmitt berührten Fragen gemäss ist
') hoffk, L 2. Anfl. 8. SS ond U.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Folgernngea ans Kants Anifaflflnng der Zeit
!■ der Kritik der reinen Tennnft.
' Ton 0. Leo, Eaasel.
IMb Zdl In d«r ti
BtniOaaDtaaalt tk TUBD^uU t
— DWZdt bus nkU utf den Sbm bCHbrifakt wtidMi. Miiil«m enOMkt dA auf dm Vtr-
- Dar loglHhi Vanumfinbnaih iiililliil idlllehsn Toriaaf In deh, — Di* Utuib-
_^ ._ „ . — ^^^ v„ — , ... „... ... ... -u ., ^ g^^ ^,^
iBflndmiUl«' B^
nKnft, TTM^ WiUa.
- Dl« Z«lt «k loilMh* F
DBI mit I ' - -
hb|l>iB ZaU. — O. U
BsiÜättdaT Zdt uf ot^jekttm WliUlohkdt.
Ist mein eigenes sich seiner selbst bewusstes Sein eine
zeitlos beharrende Wirkliclikeit, oder als ein zeitlich be-
grenztes Sein nur ein vergängliches Glied einer unbe-
kannten Wirklichkeit? Diese Frage, deren Beantwortung
der religiöse Glanbe entspringt, auf deren Lösung
im letzten Grunde auch alle Sittlichkeit beruht, sie
lautet fUr das philosophische Denken: ist die Zeit in meinem
eigenen Sein eingeschlossen, lediglich in diesem gegeben
und möglich, oder ist sie Ausdruck oder Form einer Wirk-
lichkeit, welche auch mein Sein umfasst? Ist die Zeit nur
in mir, oder bin ich in der Zeit?
Wir sehen in Kant den Philosophen, dessen Kritik der
reinen Vernunft in die Bedingungen möglicher Erkenntnis
am tiefsten eingedrungen ist und deren Grenzen am hellsten
beleuchtet hat; Welchen Anhalt bietet nun die Kritik der
reinen Vernunft für die Beantwortung jener Fr^e?
Kamt behauptet und erweist in seiner Lehre von der
Zeit in der transzendentalen Ästhetik: einerseits die em-
190 0. Leo.
pirische Realität der Zeit, wouach uns in der Erfahrung
niemals ein Gegenstand gegeben werden kann, der nicht
unter die Bedingung der Zeit gehörte >), aadererseite: Die
traoezendentale Idealität der Zeit, nach welcher sie, wenn
man von den subjektiren Bedingungen der sinnlichen An-
schauung abstrahiert, gar nichts ist*). Die Zeit wird hier*),
ebenso wie der Baum, als bloss sabjektiTe Bedingung aller
unserer Anschauung erklärt, welche niemals das Mindeste
Ton dem Dinge an sich selbst aassagt, das den ErBcheinungra
der Gegenstände zu Grunde liegen mag.
Das heisst; Die Zeit ist nichts ausser uns, sie ist
lediglich in uns.
IndesB in der transzendentalen Ästhetik kommt die
Zeit allein als Form der Sinnlichkeit in Betracht, d. h. als
Form der ^Fähigkeit (Bezeptivität), Vorstellungen durch die
Art, wie wir von Gegenständen af&ziert werden, ku be-
kommen"*).
Kamt sondert in seiner Untersuchung die Bedingungen
mOgUchOT Erkenntnis in reseptive und spontane, erstere fasst
er zusammen als Anschauung, ietstwe aia Denken; den
spontanen Faktor der Erkenntnis nennt Emr Synthesis; er
kennzeichnet denselben unzweideutig als eine Handlung, durch
welche das Mannigfaltige der reinen Anschauung durch-
gegangen, aufgenommen und verbunden wird'). Denmäcbst
erklärt Kamt ausdrücklich"), dass der Synopsis der An-
schauung jederzeit eine Synthesis korrespondiert, und daas
die Bezeptivität nur mit Spontaneität verbunden Erkenntnisse
möglich macht. Dass aber 'Kant die Handlung der Syntheas
als eine Funktion in der Zeit begreift, beweisen die Aufl-
Ahrungen von der Syntbesis der Apprehension in der An-
schauung auf Seite 98 n. 99 d. K. d. r. V.:
■) K. d. T. T. S. 36. AUea AnfSlmiiMii der Kritik der rcüMB
VeiDDiift liegt die Ansrnbe tod 17&1 eo Omnde.
') H. 86. a. 0. 0.
') S. 48/49 &. 0. 0.
•) S. 19 ft. 0. 0.
•) B. 77 «. 0. 0.
•) 8. 97 «. 0. 0.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Folgernngen na Eauts AnfMüing der Zeit id der Kritik eto. 191
.ItiiMre VeafllBlliiHgKi mjjgm entq^lngen, w<A«t na woll», «fc ri»
dnrdi den Em&nn Bnsserar Singe oder dofoh iuiara ünxdt« gawitkt
seieD, üfl nS«D a^ priori oder emi^TiB«^ tia Enthfäamigen entsfauden sein,
w tAaw na Anh alt MwffllfciWniiaii d« Ocnttta nn inMm Sfam, <ma
als aoloh« aiad alls nofien Erkenn tniaw Hktrt docdi d«r fonutw B*-
dmgnug des ioneieii Sinnes, nämliob der Zeit, nnterwarfen, äle in welobar
lim inagieanit g— riwt, vertaflpH nnd in Tetfajltnlwe gebnolit weid^
mfisaen."
Wenn dann weiter') darauf hingewiesen wird, dass
ohne diese Syntheais der Apprehenaion wir weder die Vor-
stelhmgen des Raumes, noeh die der Zeit a priori haben
konnten, da diese nur durch die Sjnthesis des MannigfaltigeQ,
weiches die Sinnüctikeit in ihrer nrsprHnglichen Bezeptivität
darbietet, „erzeugt" werden können, so wird ersichtlich, dass
Kamt in der Anschauung eine spontane, hervorlMingende
Thäägkeit Toraussetst.
Die Form als solche erzeugt nichts ; alle Hervorbringung
fordert Thäügheit; aber nur diejenige kann Inhalt des Be-
wusstseins werden, welche an eine Form gebunden ist, die
wir Zeit nennen.
Wir mOssen also unterscheiden: Die zeitliche Bestimmt-
heit aller im Bewusateein möglichen Vorstellungen als die
notwend^ Form aller Anschauung und die Zeit als Form
des Wirkens derjenigen Thätigkeit, welche als ihre Wirkung
die Vorstellungen und somit die Anschauung zustandebringt,
also die Zeit als Form alles Bewusstseinsinhaltes von der
Zeit als Bedingung des BewuBstwerdens; d. h. die Anschauung
als Wirkung und die Anschauung als Ursache. Die Zeit
ist ebensowohl in der Thätigkeit des Anschauens wie im
Angeschauten enthalten.
Der anschauenden Thätigkeit als solcher werden wir
uns selten bewusst, meist nur ihres Ergebnisses,
des Angeschauten. Kant fasst in dem Satze : „Die
Zeit ist nichts anderes als die Form des inneren
Sinnes, d. i. des Anschauens unserer selbst und unseres
■) S. 89^00 a. 0. 0.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
193 0. Leo!
InnweD ZuBtaades"') nur den rezeptireii nicht den
spontaneo Faktor der Anscliauang ins Auge.
So wie Baum und Zeit die Bedingungen der Anschauung
zu einer möglichen Erfahrung, so bedeuten fBr Kamt die
Kategorien oder die reinen Verstandesbegriffe die Be-
dingungen eines Benkens in ebenderselben^).
In der „Deduktion der reinen Yerstandesbegriffe" vird
die Notwendigkeit einer dreifachen Sjuthesis nachgewie&w:
ein thätiges Vermögen der STuthesis des Mannigfaltigen in
der "Wahrnehmung, weiches Einbildungskraft ist, das re-
produktive Vermögen dieser Exaft, die Wahrnehmungen zu
ganzen Beihen zu Terbindm, endlich der Beproduktion nach
Begeln a priori, durch welches die Wahrnehmungen zu einem
Bewussteein verbunden werden und somit die Einheit dw
Apperzeption in Ansehung aller Erkenntnisse hergestellt
wird*).
Diese dreifache Synthesis gehört allerdings dem
empirischen Bewusstsein an und wird durch den inneren Sinn
vermittelt, die Zeit, welche in derselben steckt, bleibt somit
lediglich Funktion dieses Sinnes. Das aber ist ersichtlich,
dass wir es hier mit einer Thäügkeit, dem Wirken einer
Kraft zu thun haben, deren Wirkung eben jene Synthesis ist.
Kaut legt jedoch dem empirischen Bewusstsein ein
transzendentales, durch die Zeit, als Form des inneren
Sinnes, nicht bedingtes Ich zu Grunde und, zu diesem ge-
hörig, eine transzendentale, von der Sinnesthätigkeitunabhängige
Einbildungskraft, d. h. das Vermögen der Verbindung von
Sinnlichkeit und Verstand, welches als Grundvermögen der
menschlichen Seele aller Erkenntnis a priori zu Grunde liegt*).
Hiernach besteht für Kamt die Gewissheit des Zusammen-
hanges des vom Zeitsinn unabhängigen transzendentalen
Ichs mit dem der Bestämung durch die Zeit unterworfenen
empirischen Bewusstsein durch das in der reinen Einbildungs-
■) 8. 33 a. 0. 0,
»l a 111 a. 0. 0.
») S. 118—128 a. 0. 0.
*) S. 123 Q. 124 &. 0. 0.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Folgenugen wu Kants Aof^BBiuig der Zeit in der EriUk ate, 193
kraft gegebene Vermögen der Synthese. Ist das verbindende
Glied dieses Zusammenhanges selbst als zeitlos zu denken,
30 gehört die Zeit allein der Sinnlichkeit als der Form des
inneren Sinnes an. Das ist der Standpunkt der transzenden-
talen Ästhetik.
Indem jedoch in der Deduktion der reinen Verstandes-
begrUTe jenes verbindende Glied als eine Kraft, als Thätigkeit,
als spontanes Geschehen, gekennzeichnet wird, kann von
demselben die Zeit als zeitlicher Verlauf nicht ausgeschlossen
■werden.
H. Lom behuptet*) und beeUtigt es [n dar Uet^hj^ v. J. 1679,
du8 ee gans nnmöglioh sei, Zeitv«rl&iir ile eine BedinpmK für das Znstaod^
Erugnisses gegebai oei. Aber anoli der augeubtiokUobe eintritt eines
EreigiiiBBes Uldet mit dem Zustande vor demselben ein Oesohehen, einen
Terianf. Wirken bt das, was Ursache ond Wiikang verbindet, (üe TbStigkeit
des Teiindema. Das Wort Eieignia bedeutet nii£ts anders als das8 etwas
ist, was Torher nicht war; das aber ist — sobald wir absehen ron aller
'Wabrnehmnngabeetiinmtheit dessen, was ist und nicht war — sntliohei
Verlanf.
Man darf aacb nii^t einwenden, die Zeit sei nni in der emptiisoheo,
niolit in der transzendentalen Binbildungskiaft notwendig mite^eben ; denn
es bandelt moh tüoht nm zwei tüi sich seiende veisobiedene KÜwte, sondern
um ^nnddieaelbe Eiaft. Der zeitliche Verlaof kann aoob in das "WiAen
oder Sein dieser Kraft nioht erst daduruh htneinlioniniei), daas es angesohant
wild, also dnroh den Binn; denn der Sinn ohne Einbildungskraft ^ebt ttber<
lianpi keine Eikenntnls, was naohzaweisen hier ^rsde die Absieht Kuns ist.
Wir finden yielmehr in der Dednktion der reinen Veratandesbepifle die
logische Begründung der Behauptung, daas in der Reihe der Bedhigun^n,
auf deren ErfttUting die Möglichkeit der Erkenntnis beroht, die Zeit nioht
auf den Sinn, das eine Ende dieser Beihe t)eeohräiitt ist, sondern mittels
der ^e ganze Beibe verbindenden Einbüdnogskraft sich weiter gegen das
andere Ende, den Verstand, erstreckt; wie weit? das wird die Beträchtang
des Denkens zeigen.
Kant teilt die oberen Erkenntnisvermögen ein') in
Verstand, Urteilskraft und Vernunft. Wie der Verstand das
Vermögen der Regeln, so ist die Urteilskraft das Vermögen
zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel stehe
oder nicht*). In der transzendentalen Doktrin der Urteils-
kraft*) wird zunächst die Möglichkeit gezeigt, wie reine Ver-
') Grundlage der Metaphysik v. J. 1867, 8 49, 8. 63.
*) S. 180 a. 0. 0.
») a 132 a. 0. 0.
*) S. 137 n, flgd. a. o. 0.
TkrMJdnMtuin t wliMtiKlwlU. FbUo». o. SodoL ZIVIL 2. 13
n,g,t,7l.dM,COOglC
291 0. Lao:
staDdesbegriffe auf ErsoheinungeD Überhaupt angewendet
werden kOnnen, dass es hierza ein Drittes geben mtksse, das
einerseita mit dem reinen Yeretandesbegriff, andererseits mit
der firscbeinong in Gleichartigkeit stehen muss. Diese ver-
mittelnde Vorstellung miiss rein (ohne alles Elmpirische) nnd
doch einerseits intellektuell (dem Denken angehörig), anderer-
seits sinnlich sein. Diese Bedingungen werden erfüllt in der
Subsumtion der Verstandesbegriffe unter die transzendentale
Zeitbestimmung. Kakt nennt dies das transzendentid«
Schema.
.Die Sohsmata Bind nüdita als ZeitbeBtimmangw a priori nach Begflia,
tmd diaae gahea nach der Ordiiniig der Kategonea auf die Zsitieilu, das
Zsiünhalt. die Z^tordnong, endlich den Zeitiob^riS in Aautaag aller nög-
lioheD O^graetindei)." .Die Kategorien Bind, ohne Bohamata, nni Tank-
tionen des Verataudee lu Begriffen, «teilen aber keinan Oegenetand vor.
Die« Bedeutung kommt ihnen von der Sinnliohkwt, die den Teratand
realinart, indem sie ihn Eogleieh reatringiert *).*
Die Bedingung des Wirkens der Urteilskraft wird hier-
bei wiederum als eine Synthesis gekennzeichnet und zwar
als eine Synthesis, welche die vom Verstände als rein
intellektuelle Gebilde erzeugten Kategorien mit der Zeit, als
dem in der Einbildungskraft enthaltenen — nach Kaut —
sinnlichen Faktor verbindet und hierdurch in die Einheit des
Bewusstseins überfuhrt.
Vorher*} sagt Eakc erl&ntemd: .Das rnne Schema dei Örössa aber
aU unes Begnffea des Terstandes ist die Zahl, welche eine VorBteUnng
Ist, die die anoeeasive Addition von Einem lu Einem (gleiobartigeD) msammen-
*' ' AIbo iat die Zahl niohta anders, als die Sinheit der Synthons dea
liner gleichaitigon Anschaanng überhaupt, dadoi ' ' " '''
a der Apprehemiion der Auaohanang enenge.'
Die Zeit wird vom Ich erzeugt. Dieses Ich kann nicht
das empirische sein, denn als solches wäre es der Zeit unter-
worfen; es ist das transzendentale Ich gemeint, das Subjekt
der reinen, transzendentalen ElnbildungskrafL Hierbei aber
erheben sich die Bedenken; Kann dieses Ich etwas hervor-
bringen, was nicht in ihm enthalten ist? Ist diese Hervor-
bringung nicht selbst schon etwas Zeitliches, ein Zeitverlauf?
') a 146.
•) 8. 147.
•) S. 142/143 a. 0. 0.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Folgeningen wu Euits AnfflnsTing: dar Zeit in der Eritik oto. 105
Aach die Einbildungskraft ist uns nur miUels des inneren
Sinnes gegeben, dessen Form die Zeit ist; die Zeit ist also
«rkenntnistlieoretisch notwendige Bedingung der EUnbildungs-
kraft ond doch soll diese jene hervorbringen? Diese Be-
denken zeigen, dass in der Verstandestl^tigkeit Sinn und
Denken gar nicht zu trennen sind.
Eadt sdbct sagt: .Denlen ist die Handlnng, gegebene AjisdunmoE
anf räen Qegsutand la b«(ieh«ii" 'J. Ferner: .Wenn wir sie (Teistuiii
ond SiimlioUeit) trennen, so lutben wir Ansohaniingen ohne Begriffe, oder
Begriffe ohne Ansdianiuigen, in beiden fUlen Toistellnngao, die wir auf
keinen Gegenettnd beliehen können").
Mit anderen Worten: es ist oline logische Widersprüche
nicht möglich, in der Verstandesthätigkeit die Spontaneität
(des Denkens) von der Rezeptivität (des Sinnes) scharf zu
trennen, und, wenn Kaitf in der transzendentalen Analytik
diese Sonderung nichts destoweniger aufrecht erhält, so ge-
schieht dies, um die Elemente klar herauszustellen, welche
in der Verstandesthätigkeit zusammenwirken, und so den
festen Grund zu gewinnen fOr die Grenzen, innerhalb deren
der Verstand nur Erkenntnis schaffen kann. —
,Ajle Tuuere Grkentnia hebt von den Sinnen an, geht Ton da znm
Terstande ond endigt bei der Temnnft, über welches niohls EÖheree in
uns anMtrotFen wird, den Stofi der Anachannog zu bearbeiten and anter
<lie hSotaete ISnheit dee Denkens za bringen," heisst es in der tnuissenden-
talen Dialektik*). Die Vernunft aber ist da« Vermdgen der Prinzipien oder
sjnfiietischeT Erkenntnisse bub B^riffen*). Den logischen Teiuoiiftgebranoh
kennzsichnet Kurt: ,In jedem veraanftsohlusBe danke ich zuerst eine
fiegel dnroh den Verstand ; zweitens subsamiera ich ein Erkenntnis noter
die Bedingnng der Regel, endlich bestimme ich mein Erkenntnis domh das
Fridikat der K^^, mithin a priori doroh die Vernunft'), „Als eigeottim-
lidiat Grundsatz der Vemnnft äberhaupt wird sodann nachgewie§en : zu der
bedingten EttenDtnis des Verstandes das Unbedingte zn finden, womit die
&Bheiit denelben vollendet wird""). — .Der transzendontala Vemnnft-
begriff aber gebt jedmrieit aul die absolute Totalität in der Synthesis der
Bediiwin^en und endigt niemals als hä dem sahlecbthin, d. h. in jeder
BezieDnng Unbedingten"^).
■Ja
301 a. o. 0.
■^ 8. 304 a. 0. 0.
iM,Googlc
196 0. Leo:
Aus diesen Sätzen der Kritik der reinen Vernunft ist
ersichtlich:
Die Vernunft ist ein Wirken, Thätigkeit, Spontaneität.
Obgleich an dijesem Wirken der Sinn in keiner Weise be-
teiligt ist, wird dies doch in der Darstellung des logischen
Vernunftgebrauches unzweideutig als zeitlicher Verlauf ge-
kennzeichnet. Hier wird also die Zeit vorausgesetzt, unab-
hängig vom inneren Sinn. Würde man einwenden, dass uns
die Vemunftthätigkeit im Vemunftschlusa nur deshalb als
zeitlicher Verlauf erscheine, weü wir uns derselben nur
mittelst des inneren Sinnes bewusst werden können, so würde
damit auch die Vernunft dieser Form des inneren Sinnes
unterworfen und anerkannt, dass die Zeit Bedingung des
Denkens als einer Bewusstseinserscheinung ist.
Auch das Wesen der Vernunft ist Synthese, Vermögen
der ZusammenfQgung der Mannigfaltigkeit der Bedingungen
zur Einheit des Unbedingten, zur Totalität der Synthesis.
Die absolute Totalität der Syntbesis schliesst allerdings
jede zeitliche „Bestimmtheit" aus, fordert viekuehr unend-
liche Zeit; denn eine unendliche Reihe kann nicht in End-
lichkeit erfasst werden.
.Die Synthesig des UedioKleii mit seiner Üedingnng und die ganu
Beihe der letzteren fährt gar nitmta von ISiis<Jkrttuknne diüoh die Zeit und
keinen Begriff der SuccesBion bei sich," heisst es auf 8. 500 der Kritik d. r. V.
Während der VemunftschlnsB eine vollaudete Wirkung der VeninnR
bedeutet, kann die abiolate Totalität der Synthese niemals voUendet werden.
Die tTsnuendeiitalen Ideen sind lediglich Prinzipien zn dem oneDtbelulieh
notnendigen Gebrauch, den Terstand auf ein gewisses Ziel in richten, ia
Aussiebt auf welches die Kiohtnngslinien aller seiner Begeln in «nem Punkt
EOsamnieulBnfen, der, ob er zwar nnr eine Idee, d. i. ein Punkt ist, ans
welchem die VerBtaiidesbegriSe nicht ausgehen, dennoch dazu dient, ihnen
die gröBste Einheit neben der grossten AnsbreitaDo; zu t erschaffen '). Dieses
Ziel kann nie erreicht werden, denn absolate Totalitfit der Bedingungen kann
im meoschliobea Denken nicht gegeben sein; sie bleibt stets unTollendet
Wird nun die Vemunftthätigkeit selbst zum zeitlosen
Wirken, weil sie nach einem Ziele gerichtet wird, welches
jenseits aller zeitlichen Bestimmtheit, sowohl der zeitlichen
Beschränktheit wie der zeitlichen Ordnung, liegt, weil diese»
■) s. 6M a. 0. 0.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Folganugen ans Kants Aoffawiing der Zeit io der Kritik etc. 197
Wirken niemals vollendet werden kann? Muss dieses Wirken,
weil es immer ein Werden bleibt, nicht ein zeitlicher Verlauf
sein?
Kants Behauptung, dass die Vernunft selbst keine Er-
scheinung und gar keiner Bedingung der Sinnlichkeit unter-
worfen ist') und dass die reine Vernunft als ein bloss intelli-
^beles Vermögen der Zeitfonn und mithin auch den Be-
dingungen der Zeitfolge nicht unterworfen ist>), ist mit der
Forderung eines zeitlichen Verlaufes auch im Wirken der
Vernunft wohl rereinbar, sobald wir unter dem zeiüichen
Verlauf nicht die Zeit als Form des inneren Sinnes, nicht
Zeitdauer und Zeitordnong, sondern die transzendentale Zeit
verstehen, wie sie dem inneren Sinn als Bedingung seiner
Möglichkeit im transzendentalen Ich zu Grunde liegt. Dieses,
weil es das a priori des empirischen, durch den inneren Sinn
Vermittelten Bewusstseins ist, kann nnr als dessen trans-
zendentale Idee, als die Totalität aller Bedingungen des
empirischen Bewusstseins, als die psychologische Idee im Be-
wusstsein bestehen. Das ist die Idee der Seele.
Kant behandelt dieaelbe in den PatalogMineu der reinen Temnnft')
and gelangt ea dem ErRebnia, dass die Begriffe der Snbntanc, der Einfaoh-
heit nnd der PersanUohkrit dar Seele, aU des Sabjektes des Bewnsetaeios,
nun praktisohen Oebnmdt als nStig nnd Unreiooend beibelialten Terden
kSmieii, aber moht als eine Erweitening noeerer SelbateAanntnia gelten
dfiifen. In der Begrfindnng wird anigflffihrt: IHe IdentitU des Bewnsst-
seina ist not eine Anmale Bedingong; in der niunerisohen IdentitU dea
Sabjefrtee des Denkens kann doch, ohneraohtet der logischen IdentiHt dea
Ichs, «ne ümwandlong, rin Wediael Torgwasgen lon, der die aabstaotielle
IdenüHLt ansKhlieast Der Sati, daia Alles Messend nnd nlohts In der
Tett bebarrlioli ood bleibend sri, whd doroli die Etoheit des Selbstbevnsst-
ttÜBB nicht «idwiegt TVir können niemale ansmaohsn, ob das loh (ein blosser
Gedanke) lüaht ebMsovohl flieast als die übrigen Gedanken, die dadnroh
aneinander gekettet werden. Die Sabetanidalitit der Seele kann aaoh nicht
anf die Identitit der Person gegrandet werden, weil diese ans der Idgntitit
des loh in dem Bewnsstsein aller Zeit, darin ich mich erkenne, k^nee-
W«s folgt
Hieraus mOssen wir entnehmen: Das zeitlose Beharren
des transzendentalen Ichs ist keine notwendige Behauptung
') 8. fi58 a. 0. 0.
■1 a 661 a. c. 0.
*) 6. 841—366 d. K. d. r. T.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
108 0- I-ao:
dea empiriBchea Bevuestsems; auch wenn jenes als ^-
fliessendes, als zeitlicher Verlauf, gedacht wird, enthält es
doch alle Bedingungen des empinBchen Bewusstseim.
Wir gelangen somit tu der Schlussfolge, Kaots Aus-
flihnmgen zur psychologischen Idee schliessen keinesw^ps
aus, dass die im empirischen Bewusstsein als Zeitform (Zeit-
dauer und Zeitordnung) gegebene Zeit nicht auch im trans-
zendentalen Subjekt desselben als unbegrenEte, unaufhörlich
fliessende Zeit vorauszusetzen sei und dass demzufolge di»
Zeit nicht lediglich den rezeptiven, sondern auch den spon-
tanen Bedingungen aller Erkenntnis angehöre. —
Die Kritik der reinen Vernunft lehrt empirische Bealit&t
der Zeit, d. i. deren objektive OUltigkeit in Ansehung allw
Gegenstände, die jemals unseren Sinnen gegeben werden
können, streitet aber der Zeit allen Anspruch auf absolute
und transzendentale Realität ab i). Das gilt zweifellos fUr die
Zeit lediglich als Anschauungsform des inneren Sinnes, also fllr
die zeiüiche Bestimmtheit in Bezug auf Dauer und Folge.
Indem wir jedoch aus der Kritik der reinen Vernunft nicht
nur die MögUchkeit, sondern die Notwendi^eit entnehmen,
der Zeit eine umfassendere Bedeutung, nämlich die der
Wirkungsfonn alles spontanen Wirkens, einschliesslich der
von aller Bestimmtheit durch den inneren Sinn freien Ver-
nunft, und in dw Zeit als fliessender Zeit oder zeiüichem
Verlauf eine Bedingung aJles bewussten Seins Oberhaupt zu
sehen, werdw wir der Zeit auch die tra^iszendentale Bealltät
nicht versagen dürfen, gleichgültig ob wir der Zeit auch in
dieser Bedeutung empirische Bealität beilegen oder nicht.
In der Bespreohong der Antiiipationeo dw "VobniehinnDg lieiMt m,
DMhdem Banm and Zeit als koDtuinierliche OrÖBsen daigesteUt vnidan:
„Dergläohen OriMsen kann tum anoh testende ueDnen, weil die Bynthesis
(d«r pröduktiTBii BiiibildiuigBknfi) in ihnr Xniea|iu>g ain fartcuc in dor
Zeit iB^ dweo KontinoitU man beaondeiB doroh den AnadiBOk daa FUmmu
(Terfliws«!») la beselchDen pflegt**).
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Folgmugen na Kants AnftMDQC der Zeit in der Eiitik eto. J00
Hioioit wird nicht nur die KontinuitAt des Baumw
auf die Kontinuität der Zeit zurÜckgefOhrt, es vird aucti die
Kontinuität der Zeitanachauung auf diejenige Etgentttnüich-
keit der Zeit, als Form des inneren Sinnes, begründet, iFelche
man als das Fllessen zu bezeichnen pflegt. Also Ist die
fliessende Zeit in der von Kamt allein ins Auge gefassten
Zeit als Bedingung jeder mSglicben Erfahrung, in der empi-
rischen Re^tät der Zeit mit enthalten.
.BealiUt ist im reinen TentsndeBbegrflie das, was eiuer fimpSndnog
üWhaiipi kam^dDähtt; Jaijwiigi alio. dämm BmUI an ädi aalbat ein
Sap (in der Z»ä) anseifL SitfiHöM, tefissn Begrw m NioUaep j(ia 4^
ZeiQ ^otataBl' — sagt EAm*).
Die Zeit ist hlenuu^ Voraussetzung (Bedingung) so-
vobl der EealitÄt wie der Negatioo. Der B^piff d«s Seins
ist eben nur möglich in der Zeit Die Zeit Ist das Umfassende,
welches nicht nur -das Sein, sondern audi das Kichtsein in
sich achlieasL Von einer empirisdien Realität der Zeit kaos
daher nur die Bede sein, äß kann nur gedacht werden, wenn
unter Zeit etwas verstanden wird, was sein oder auch nicht
sein kann, nämlich eine ganz besümnd» Sinschränkuiig der
Zeit, in welcher im remen Verstandesfoe^iffe die Realität
allein mJÜ^icb ist
Unter der Zeät im Sinne des reinen VerstandeHbegiifCe&
ist somit etwas anderes zu denken als nnt^ der Zeit,, von
deren empirischer Beahtät gesprochen werden kann; letztere
kann nur eine durch das Denken bedingte Bestimmtheit
ersterer sein. Das bedeutet: ök en^tirische Realit&t der
Zeit ist nur mOgUeh unter der VortoisBetzuag einer alles
Sein und alles Nichtsein mn^issenden Zeit; die empirische
Beahtät der Zeit ist nur möglich auf der Grundlage der
transzendentalen Zeit, als der Bedingung aller BealitAt.
Wir bgfinilan uns hier im BieUAng jmit det ^"»^■"i-p H. I«™,
■wenn dsndbe in B^nei Metaphystt') danraf liinweist, wie cTer nedanle,
wdt di» Seit mi not Xom sdei ftwaignis die TonteUens, dooh -dem Vor-
sUUea aelbst den O !"■■»"■ eüMr Tfrtttig^Jt oder aündestana «oea &t-
«dudwna nicht nduneo kSnne, dessen Begriff tianlos enoliüiien würde ohne
die yonniBsetiniw «dm Zritrerlanb, der arinam Kade gaaütet, akdi wm
') a 148 a. o. 0.
*) Zweiter Teü dea Systems der Philosophie. IS29. S. S80.
n,g,t,7l.dM,COOglC
300 0. Leo:
Aüfcag in nntenoheiden. Wie wmit die Z^ lüdit Uoas ein Enoognis
nSfchiBober ThStii^eit, nndflni mgldoh dia Be^ngimg fSi die AnsOImiig
der CkitiKkeit sei, dnroh welche sie als fitzan^nlB gewonneii werden soll,
nnd wie die ToTstellnug jadee Weohmls munOglioli scJieiDe ohne wirtliidien
WeohMl im Tontellen.
Nun ist ja die Zeit an sich, das reine Yerfliessen, nichts,
was Empfindung sein kann, vielmehr bloss Form das O«-
scheliens Überhaupt; die Realität der Zeit setzt daher einen
Empfindung erregenden Faktor voraus, em Wirken, dessen
formale Bestimmtheit die Zeit ist
Dieser Gedanke findet mittelbare Bestätigung im Schloss-
satz des Kapitels von der Antizipatioa der Walimehmung*}:
,Bb ist merkwfirdig, daw wir an OrOswn liberiianiit a priori ntn ein«
änäp QnaÜtSt, nämliob Üie EontiniutS^ an aller Qoaliat aber (dem Gealen
der InoheinnDgen) niolitB wntei a priori ala die intanBive Qoantittt, nimlioh,
dam sie einen Ond bab«, erkaoiieo können, allee nbrige bleibt der Er-
MunDg fiberiasaen'.
Die Kontinuität als einzige Qualität a priori aller
Grössen wird von Kjjtt, vrie oben gezeigt, als das Fliessende,
6. i. als die Zeit bezeichnet Der Grad oder die intensive
Grösse alles Bealen in den Erscheinungen kann weder aus
der Anschauung noch aus dem Denken hergeleitet werden,
sondern nur aus einem in aller Empfindung wirkend ent-
haltenen Factor, auf den auch Eösr hinweist, indem er, wie
nachgewiesen wurde, die Funktionen des Verstandes und der
Vernunft als dwidlungen kennzeichnet, alle Spontaneität an
wirkende Kräfte (Eüibildungskraft, Urteilskraft, Ei^enntnis-
kraft) knüpft und bei allen Bedingungen der Möglichkeit der
Erkenntnis ein VermOgen zu wirken, d. i. Energie, voraussetzt
Unser Bewusstsein enthält indes nicht nur das Erkennt-
nisvermögen, sondern auch das eines hiervon deutlich unter-
schiedenen Wirkens, dessen mannigfache Gestaltung als Kraft,
Trieb, Wille, sich zugleich als ein spontanes und einheitliches
WirkungsvermSgen, d. i. als Energie darstellt, sowie nicht
minder Intensität, Verschiedenheit des Grades, in sich schliessti
wie „in allen Erscheinungen die Empfindung und das Beale,
welches ihr an den Gegenständen entspricht" >).
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Folganngaii am Kaats AnSusiiiig der Zeit in der Eritik et«. 201
Fiof. BngL'} bahanptrt um im AnsohloH u Htnn, dass «ii in
keinsm VUla «in« Entft «ahnehmeit, Kmdwn In Jedem FiUe auf Knft
oder ViAMmkett inhHwitn Das kann aber nin mr die otöfl^^tire Kraft:
Tontellimg gtitea. ünsaies mUekäTan 'WiAnngarennSgeDB (Eneifpe) sind
wir nna onmtttelliar bewMst Suhl nennt et Innerratiinsgerahl; aber der
Name thst niohts rar Saidie. Antmedaamkelt, Anipannnng, Anstrengung
^nd BewoHtarinserregangen, die wir, ebenso wie an negativen ^^rto,
ZeabmdLeit, AbBpannnng, Ermfidong, dem GMde naoli dentUob nnteiwbelden.
Trieb, Kraft, Wille sind ErscheinuQgeD; das Beale,
irelches Umea in der Empfindung entepricht, ist die Energie,
ebenso wie Sinnlichkeit, Verstand, Yemonft, Erscheinungen
sind, denen als Eeales die Energie der Sinnesthätigkeit und
des Denkras enstpricht. Ziehen wir von diesen Erscheinungen
alles ab, was lediglich der anschauenden und denkenden Er-
kem^nis angehSrt, so bleibt nichts übrig als der verschiedene
Orad der Energie.
Die Quelle dieser Energie liegt ausserhalb aller mög-
lichen Erkenntnis, denn alle Erkenntnis aetzt deren Wirken
Toraus. Welches Wort wir zu ihrer Bezeichnung wählen,
ist nebensSchlich; K4KT nennt das Gemüt die geheimnisTolle
Qnelle des inneren Sinnes; er setzt das Gemüt als Ausdruck
für das einheitliche Beale aller Empflndungsgestaltung. In
diesem Sinne können wir sagen: Alle auf das OemQt zurück-
zufahrenden Erscheinungen finden ihre synthetische Einheit in
einem VennOgen des Wirkens, d. i. in der Energie des Ge-
mütes, und sie smd bedingt durch die Zeit als die Form des
inneren Sinnes. Einheit der Energie in der Zeit wird somit
zmn Grunde aller empirischen Erkenntnis und alles empirischen
Seins und Wirkens.
Wollen wir diesen empirischen Grund als einen trans-
zendentalen begreifen, so müssen wir das abstreifen, was ledig-
lich dem Selbstbewusstsein augehßrt: die Einheit und die
zeitliche und räumliche BestünmUieit der Sinnlichkeit; es
bleibt sodann als transzendentale Bedingung alles Seins und
Wirkens das, auch von aller zeitlichen Bestimmtheit (Zeit-
dauer und Zeitordnung) losgelöste, reine Wirkungsvermögen,
die in unaufhörlichem Flusse,, ohne Anfang und ohne Ende,
■) Im 1. Band des plüloBopliiaeken KrltiaiamDB. a 109.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
202 0. L.o:
ohne jede zeitliche oder t^omliche Begrenztheit vi]^«id&
Enei^e; in dieser aber ist die Zeit als transzendentale
BealitHt eingeschlfwseu.
Indem wü »o dar Zeit dM Pikdikst der BmUHU orUHaa, niobt ab
einer fax iöeb eeienden TirkBohkeit, aondem all daijanicaB Vig^w^T B^
BümmHieit, mit welobet to tmuendentale Wiiktidikitt in nnanram Bawvaet-
Min wiiküm wiid, gelangeo wir wieder snr PebereinatimmBiur mit der
AnaflUmmg Lome*), woiiäeli die Zrit nicht die Bedingrnif des wiriteos iat^
Bcadam «• IVlikeB «wogt, aber nicht ale «in bUlbendee italm Piodokt^
daa irgendwie flSeae oder die Dinge beeinflnsae, sondern all die nib]e1rt)*e
fliilfiiiiiiiifiiiiii. wlbreDd die BoBBaaalnn dea wbkeu aalM, walclie die-
■alba mfi^ioli maeh^ die eigeiuta Natu des TViridiDiun aaL
Aue dem Bewusstwerden der Energie entspringt der
Grundsatz von dem Orade alles Kealen in der Erscheinung;
ans dem Bewusstwerden des Verfliessens der Zeit der Grund-
satz von der Kontinuität aller GrOssen, d. h. von der Eon-
tinuität der Zeit als Bedingung der Kontinmtftt jeder Grtisse.
Auch der Kontinuität der Zeit ist transzendentale Realität
beizulegen. Das bedeutet: aller zeitlichen Bestimmtheit,
sei es Zeitdauer oder Zeitordnnng, liegt die kontinuierlich
fUessende Zeit zu Gnmde, von der jene die durch An-
schauung und Denken bedingten Erscheinungsformen sind.
Soll jedoch die transzendentale Realität der Zeit nicht
ausschUesslich logische Wirklichkeit bleiben, so muss sie im
bewussten Sein und Wirken irgendwie gegeben sein, unal>-
hängig Tom Denken und vom inneren Sinn; wir müssen una
derZeitbewuBst sein als eines kontinuierlichen Bandes, welches
alles das, was der innere Sinn als Empfindungen, GefUhle,
Vorstellungen, Gedanken und Handlungen zusanunenhängend
oder auch nicht zusammenhängend, entstehend und wieder
verschwindend, dem Bewusstsein liefert, umfassend verbindet.
Denn aus der Kontinuität der Zeit innerhalb der einzelnen
Bewusstseinszustände folgt noch nicht deren kontinuierUcber
Zusammenhang. Dieser wird erst dadmx:h mOglich, dass er
im Bewusstsein a priori als zeiüiche Kontinuität gegeben
ist, als die Gewissheit der, unabhängig von dem besonderen
■) Hetopbydk S. 300.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Folgerungen au Kants AnJtumuig der Zeit in der Kritik etc. 208
Inhalt an Empfindungeii, TerfliesseBdeo Zeit, welche alle
LQcken des bewussten SeiuB ^eictiBaiu erfüllend schliesst.
'Wenn wir tau tnamlowni S«düafi erwiohui, wenn nadi bewontkaoBi
Znatude du BewoMtMiK sutekketut, lo wieMO wii eeltr woU, Aue wir
geachlafm lubeo, diM Ki nneer BemiMüein laere, inhihlcee Z«t den
UMBUickliekaa tddi leMen Bmvmimaamtboi treut Vir uitmduidM
bei glaiaker ZeitdMMr tat m/batOmta ud ImgMMBwan Teilwf dw Zeit,
woU tie dert mit n^r oder sannigUtigenr Ecregmic des iunerai
Sitam erfBUt ist, liitr weniger BewemeTiaefiegungeB •nthilt Dee neiet,
d>M die Zeit, soweit äe Mir dem iniMCMa BioM eatapnoU, einer hiarvon
onahhhifigen nmliwndBii deiobaitigea Kontinnilit angelüfrt, welcbe durch
den inneren Biaa nicht ancMpft wird.
Badliek fordert udi £e TbatauBka, da« wuer deokendee bkennea
ihr die (hensea der emeiriiäen Zeit eowoU in der HidrtBag auf nv-
floaaeae wie auf kommeMe WiAlichknt wüt, ja nabegrenst weit, Unaa^
(Dgaben venug, notwendig alt BwUnnog ikier USglitdikeit, die Qegebe».
uBt üner KuntmeiHtt der Zrit, wetcoe dia Kontinniat In inneieB Sian
ine ünenneteüche binein forttfilut
Die Zeit, wrfcber wir tmnsieBdentale Beaütlt bnlegen, ist die B»<
dingnng aller Anachanmig and kann dalwr dnich Ansidiaanng lüobt gegeben
Min oder «rkanat weiden. Das nimmt denjenigen Bedenken die Bewele-
kraft, wdehe gegm die traneiendantale BealitU der Zeit ans der doroh den
innei^ Sinn venafttelten Ansehannog «itBommen werden.
'Wenn i. B. 0. LixBHura*) usfBhit, dass Svooeaefon, alsoZeit, nur dann
maglidi 8«; wenn etwsa dnander Guccedlert, und dass, wenn jedes
Sulgekt der AuMsanderfolge fdile, die Anfeinanderlolge f^iUoh wegMo;
Mhlieaetiob unter Berufung auf Ixibritz, Bikulby mtd Austotbus feet-
steUt, den die Zrii jätbi» iet, sobald wir aberiMB tos der Ideenfolge in
useeaBi Oetst; — eo gilt dies wohl fBt die Zdt als ITonn dee inneren
Kons, licht afcn- fir die Zeit, welobe ebensowohl Bedingung des inneren
Sinn wie notwend^ iet, nia jene Otse n denken. Soll je^xdi der Sats
gellen, daas fb ana ^ehta sein kann, was nicht durah den inneren Binn
Dneenn Bewnestamo v^nittelt wird, dann iet eben allea, was fflr das Be-
waastarin abpumpt ist, in der Zdt oder bedtogt durch die Zeit Dann
gtebt es entweder gar kelue BealitiU oder nnr Bo^tlt in der Zeit und die
Zät wird Bedingung a priori aller Bealitit
LnsKAinr et&tct seine AUehnu^ der transisndntalsn Beali&t in
Zeit auob auf die Annahme eiaei volüomineneo (lll-)InteUigent, welche
' nach Analogie und als voUendeta Hyparbel der mensohuohen IntalHgens n
denken Ist nnd TemSge ihrer ttamlich.seitUdien Allgege&wart oder
Befannkenloslgh^, wegen Ihrer ■bsdoten Besidijeni und Proepiaeoi den
gesamten Wmptoum mit einem einsigen Bliue Bbetschane*). Diese Yw-
auasetsaeg, ebenso wie die weiterhin^) als denkbar beieiehnete entlase
Weltlegtk, steht jedeeh im 'Widenjjünoh mit der Kritik der rnnen Twnnnf^
weiche d« keostttnttTM Oehnmih transsendentaler Ideen (daan g^Bit
auob £e abednle IntdUgeu und die teitkee Weltkgik) nidit loUesi«).
*) AnalTBia der Wlrkliahkelt, Ao&g. v. I90a 8. 107/108.
Ö 8. 109 a. 0. 0.
^ S. 306 a. o. 0.
') S. 619 u. 644 der K. d. r. V.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
204 0- I-«o:
Du ünbodingta kann im meaidilicheii Bevustsein nieinda aU
aolohss erbast Verden; aller BewnsetsdnaiDhalt ist bedingt. Das ünbedingto
oder Abaolate ist ein aegatirer Erketutniswert, der Angdmck fQr das,
waa unsere Intdügeni Dioht ist nnd nicht sein bann.
Allintelligenz naoh Analoge und als Tollendete HTpertMl der nwasob-
liehen Intelligani bedeatat: siob das Bedingte unbedingt denken. Dw
schrankenlose Baum ist k«n Baum mehr, nnd der Weltprozeaa hört auf
läa Proiees sn sein, wenn er mit der «bsolaten Seepiiieni imd Persi^«i<
^ea Angenbliokes verknfiptt wird, ha^ ist Form des Denkens and ohne
die TUUi^eit des Denkens ntchs; l%&taRkeit aber bedeatat ein Oesohehen
in der Z«t; leitloea Weltlog^ ist ein Widerspmch in sich.
Nicht einmal der Gedanke T*=&px, mittelst dessen der Blick den
UathematikerB den nnendliohen verlauf einer Fatabet ebenso tusammen*
fBBst, wie eine aohrankenloee Intelligenz den gesamten Wel^mseas mit
tinem einmaligen, aber ewigen Anbliu nnd Oedüken*}, ist <dme EsHÜahen
Teilanf m dräken, ebensowenig wie das Ange eine E^or ohne Bewegung
anfanfassen Tennag. und wenn ee an der bezniAneten Stelle wd(M bdast:
j,wie der ungeübte oder langsam denkende Kopf nnr m&hsam nnd aUmihlidi
jene logische BohlnEarnbe denkt^ die der geniale Ueometer fast simultan
dunjiBchanI, so entwickelt rieh die reale Kanaalreihe, welohe von der ab*
aolntsn InteWgeni ^mal für alle Mal snb spede aetemitatis überblickt
wird, (Bf eine endlielie Intelligenz, wie die des Hensohen, in zeitlioher
UnKsnansdehnnngaOmUilioli ab" — iowerdenhior einmal zwei Tersofaiedene
Oraae der Intelligeni, die aber beide einen zeitlichen Verlauf bedeuten
(denn fint simultan ist eben nicht simultan), das andere mal zeitlicher Ter-
Imf nnd zeitlose Ansobanung auf einander bezogen, also zwei ganz ver-
sobiedene Terhlltnisse, deren vergletohende Verkn&pfong eine beweisende
Erkenntnis nioht zu geben reimag.
Wenn femer die psjchalaAsahe Tlnteisnohnng zu dem Ergsbnis kommt,
dsSB nnaer Zeitbewusstsein niäits uisprün^oh Oegebenee, vielmehr tm
dnroh ansohanende Erfahrung vermitteltes Denkprodut sei, so gilt dies
doch nnr für das empirisohe Zeitbewnsstsein, nioht abw fOr die timos-
zendentale Wirklichkeit als die Bedingung der Höglichkwt jeder Erhhrong.
Der Umstand, daas die wisseosahaftliche Forschnnc diese Wirklidtkeit
nirgends nadiznweisen vermag, hebt die Notwendigkeit nicht aaf, das Tor*
Jmndensein eber aolohen voranaznaetzen. Daran indem anoh die I^b-
lüsae der emgehenden Untrasnohnngen Enout Posca's*) nidtts; diese setzan
ein Tanüditetwerden nnd Nealnldiuig von BewnsstseioBdementen v<n»H^
sowie das Fortbestehen eines Beiizostandea des Nerrensystema ohne den
SDgehÖiigen insseren ESodmok; Vemiohtetwerden, NeubQdnng, FortbeaUhen •
aSoA aber doch nnr sprachliche Bilder tfir die Orandthateahe des Ge-
bcbehena, der wir jedenMa die rabjektive Wirkticbkeit des Wechsels oder
dar Verindernng im Substrat der Bewusstarinsetregung zuerkennen müssen,
ganz unatÜngig davon, wie dies sonst za denken sei.
Wird jedoch dieser Wechsel — wie es bei Fobch der Fidl ist —
ledif^ioh als Qnale einer Eigensohaft des Subjektee, nimlioh des Eiiiinenin<a>
Vermögens aufgefosst nnd disses Subjekt als ein zeitloses, d. h. in Un-
veifnderliohkeit bebamndes begriffen, so wiid damit allerdings der zeit-
liche Terlaat ansgescbaltet, aber dem in TJnverftnderlii^eit neharrenden
>) Analysis d. W. S. 868.
^ Ausgangspunkte zn einer Theorie der Zeitvorstallang, 6 Artikel
im 23. nnd 24. Jah^ang dieser Zeitschrift
iM,Coo<^le
Fotgennigm ■
> Kants Anfhamog dar Zdt in der Kritik eto.
^nlgekt der Weaheti aIb BJgeBKhaft beigelegt, wts doch woU «n tHnder-
■prncit ist
Anoii Prof. Bühl erkennt der Zeit BeelitU za, ib«r olnektire nioht
BDbjektive Wirklichkeit. Er eagt im bewnssten Oegeneatz m Eaki*] .TJns
vielmehr eiaolieint das Bewnastiein als das beliarrliohe, als des sioli im
Wechsel identieoli Setcende nad Wissende, der Weahsel dagegen als das
iDukokst Aenaserlii:^ nnd doroh die Brfalimng AafgedmngoDe. Dnroh
die vereinigte Ttntsllniig der BimnltaneiiSt lud der SnooessioD Wgiebt
■icli erat die Zoitwahniebmaiif^* Femer'): .DerBegnff der Saoceasiou aber
ist {ebenso wie der der Eoexisteni) von realer Bedentong, weil er ans der
beetimmtan Hanni^altigk^t iw Empfindungen abetrshiert wird und nicht
ans iif end öner form des Bewusetseins entspringt"
Hier wird die ESnheit aut das tiehancliehe, sich im Weoluel identisoh
wisMnde Bewnsstsein bezogen, und es weiden zwei Wirklichkeiten als Be-
diagnnem dee bewnsaten Seins und Wirkens voransgesetzt: das als be*
hauend ersoheütende Bewnsstsein und der Wechsel der äusseren Dinge.
Beharrung und Wechsel sohliessen önander ab Wirkliclikeit ans;
ist die Wliklichkat Beharmng, dann ist aller Wechsel äohein nnd ebenso
nmgekehit unsere Erfaluong enthUt freilich beidee, aber das Beharren
immei nur in zeitlicher Begrräztk^; sobald wir deren Mass gross genug
grrafen, stellt sich tbetall die VeAnderiichkeit dee Bebaireudeu heraus;
unser eigenes S«n, selbst in seiner Erweiterung mm meneohli^en Sein
nberhaiutt, ist liiervon nicht anegeeoUoeseu. Die Wirkliclikeit des Wechsels
kann als Beharmng erscheinen, die Beluumng als Wirklichkeit jedoob
sohlieest den Weiäisel auch als Ersdieinung ans. Dataos folgt, dass die
Einhwt dee BewnsstseinB auf dessen Wirken, auf die bewuiste UiItiKkeit
zu beJsieheo ist, nicht jedoch anf das beharrende ruhende Bein deesefben.
Die EcBoheiniingen als Inhalt unseres Bewusstseins hftngen such
nicht ab mdeioh von der Besoliaffenheit der Sinnesthätigkelt und von der
Form der Beize, welche diese SinnesthUigkeit zur Analösnng bringen*),
tondem von der F&higkeit der Sinne, auf Reize gestaltend zu reagieren.
Beize, welche die Grenzen der Fähigkeit der Sinne, Beize gestaltend auf-
lofaseen, übersäireiten, werden gar nicht oder undeutlich aofgefasst, oder
sie seratdien zeitweise oder dauernd das bewusste Sein. Wohl mag sich
unsere Sinnesentfaltnng und Thätigkeit im Laufe langer Oenerationsfolge
gewissen dauernden Beizen und deren Wirkungsfonnen angepasat haben,
das araehßttert aber die Thatssche nicht, dass die äussere Wirklichkeit nur
in den Fonnen und in der Gestalt in das Bewnsstsein treten kann,
welche ihr die gegenwärtige Organisation nnd IbStigkeit der Binne ver-
leiht. Kamt hat i. d. E. d. r. T. zur Widerlegung des Skeptiiismns daranl
hingewiesen, da^ notwendig eine transzendentale Msterie aller Oegenstflude
als Dinge an sich vorausgesetzt werden müsse, w^che an den Er-
scheinungen als etwas Beharrliches nnd als ein von allen unseren Vor-
stellungen nnterschiedeces äusseres Ding der Empfindung entspricht Hier-
aas folgert Bicai.*), dass die Dinge selbst wirklich mit ihren Erscheinungen
simnltuD sind und weiter: .wenn nun aber die Simultaneität reale Be-
deutung ausser dem Bewnsstsein hat, warum sollte nicht auoh die
Sncceesion diese Bedeutung haben können? Warum sollen die Dinge selbst
') PhiioB. Kritizismus, ü. Bd., 1. Teil. B. ISl.
*J 8. 73 ebendaselbst
■) BiEHL a. a. 0. n. Bd. 2. leU 8. 30.
*) a. 0. 0. n. Bd. 1. T. S. 30,
n,g,t,7l.dM,GOOglC
BMkmttr nod nnr ihre baohdnnngen im Bewimtsehi in eiliem ZeUcaf «m-
einander ^otogen seio?"
KuD babauptet &b«r Kaki kemoswaoB, ima jader EnobaiiuiBg «mea
Dfngea Koob in dei: tnumendenUlan Wirkliahkait ain Ding antmaohsa
mftas^ soodern aUcm em« tmuMndKitBlB Wiikliohkeit fii die Hatrak,
welohe jedooli nioht OlyeU dw Erkanntnia aäa and wod« dnnh (iniifiidM
Anaobaunng Botäi doroh So^Iusfolga betttglich da Art Uum {Wob tot-
gwtallt werdan kSnne- SiKnltaneiQlt und SnooMsioD bab«n abor nur dum
«inan Bion, wann üb auf Beatüiunbaie Dinge, auf Objakte dar SükMutais
basogim werden.
Simoltan ist eina Hahilieit tod Tahruduntugnt, tSr wMb.e eine
DHtenidLeidQng naoh Quer niÜidien BeaämmäMÖt nit^t bestellt; Simnl-
taaeitit eaädtt auch keine Folga odar saitUobe Oidnimg, fibertianpt Wn
.._. _. __,...-_u__ ™. ___!._. ^. n. .. .... . fiaga iioija der Z "
aug, w«
iiuiMwi Snoes in Betiadit kam. Fir die Zeit ah VocBtaUaag bedeutet
ledooh die SimnltaaeitU eine zweite Dimension, also eine Konteneu mit
dam Baambegrifl.
Der Umstand, dess in der menaohliohen Ansohsanog TielTache, oft
dnnbgftngl^ TJebereinstimmnng bestellt, findet seine ErkUltnng in der
üebenttistunmiing der Oqiuilsstion nnd der Sinnesfnnktlonea; sie besteht
aber sndi nur soweit, als diese Kleben Ist. Ei kann danms nmsowen^er
die Behanptnn^ begröndet Werden, dass uns die EmpGndnngen nach Bmr
Tonnellen BestunmUidt dnroh die SnsBereD Dinge aoaedrangen würden, als
die n&bere Pröfnng eine ToHe üeberansfa'mmnng der Menaitten in der ainn-
L'ohen AnSsBsnng der Dinge nnd To^Uige irähl niemala beelStigt.
Nach alledem erscheint die objekÜTe Wirkliohkeit doch weniger go-
eignet, die trsnsiendentale Sealität der Z«t zu begrijnden als die ButtJektiTe.
Die Kritik der reinen Vernunft beantwortet die Frage,
wie ist Überhaupt Erfahrung möglich? Sie sucht die im Be-
wusstsein auffindbaren Bedingungen der Möglichkeit der an-
■ schauenden wie der denkenden Erfahrung zu erfassen und
klarzulegen; das Vermögen der Anschauung und des
Denkens setzt sie als gegeben voraus. Von diesem zugleich
rezeptiven oder formgebendcn und spontanen oder hervor-
bringenden Vermögen ausgehend, wird die Möglichkeit ob-
jektiver Erkenntnis begründet und zugleich deren Grenze
gezogen.
Wenn hierbei die Zeit lediglich dem rezeptiven, nicht
aber auch dem spontanen Vermögen zugerechnet wird, so
ist dies erklärlich, weU das letztere ebenso wie ersteres nur
bezUgUch der Art seines Wirkens untersucht, im übrigen
aber als gegeben behandelt wird. Die Spontaneität und die
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Folgemngea ani Kante Anffixumiig dar Zeit in dw Kritik etc. 207
traoBzendeatale Realität der Zeit sind indes der Kritik der
reinen Vernunft nicht fremde Eilemente; sie liegen als un-
aufgescblossene Fächer in ihr, auf welche die Untersuchung
notwendig stösst, sobald sie die dort zu Grunde gelegten
wirkenden Faktoren nicht mehr als gegeben, sondern als
solche begreift, die zu ergründen bleiben.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Di« Geschichte der Erziehung In sozlolcgischer
Beleachtung.
n.
Von FftKl Butk, Laipzig.
Inhalt:
Dbt fibogang loa der g«ntfl«D mr lUIacUKliro GtaxLlHluift b«l ttr HeUanen. daa
MndkMieni nnd Penumeni, Indflni, Patem. äBmiUu, A^pton, ChlufiHD, Iipaaem. Dia
eoIipnchaidcBi ßrtcbslnaiigeti In dar Bnl«birag, mll Aiumtbm« der bAUaaiKboii Enlahiuki:.
Alle sozialen Zustände, die wir bisher betrachtet haben,
sind als Naturforroen der Gesellschaft zu bezeichnen. Was
die Familie und die Sippe (Gens) zusanunenhält, ist, neben dem
Geschlechtstriebe und dem Geselligkeitstriebe die wirkliche
oder vermeintliche Blutsverwandtschaft ihrer Mitglieder. Aus
Sippen (Geschlechtern) setzt sich der Stamm, aus Stänamen
das Volk zusammen. Alle Angehörigen eines Volkes glauben
sieh blutsverwandt, meist von einem oder wenigen gemein-
samen Ahnen herstammend. So die Germanen von den drei
Söhnen des Mannus*), die Hellenen von den drei Söhnen
des Hellen: Aiolos, Doros und Xuthos. Es ist also ein
durchaus spontanes, natürliches Band, das die Gesellschaft
auf dieser Stufe bindet.
Ebenso ist die gleichzeitige Weltanschauung eine Summe
durchaus spontaner Vorstellungen, die aus der "Wahrnehmung
der umgebenden Natur sich unwillkürlich der Seele des pri-
mitiven Menschen aufdrängen. Die animistische Deutung der
Naturvor^nge, die Hineinlegung eines dem eignen ähnlichea
Ichs In dieselbe ist so unausweichlich, dass sie auch heute
noch bei den in Unterscheidung und Abstraktion erzogenen
') Vargl. Tacitus, Oennsai« K. 2.
TlaUUilnelirlft f. ifimtailam. PUloi. n. Sodol. XXVn. 2. 14
iM,Googlc
210 Psnl B«rtli:
Kultunnenschen, sich mit psychologischem Zwange vollzieht,
der Wind, die Blume, sogar das Schiff oft in Gedanken und
darum auch in der Sprache als lebende Wesen behandelt
werden. Der Animismus ist durchaus kunstlos, vom psycho-
logischen Hechanismus erzeugt. Aus dem Spiele der Phantasie,
ohne bewusste Absiebt, erwächst auch die Bereicherung des
Animismus mit menschlichen Schicksalen der Qötter, durch
die er zum naturalistischen Polytheismus wird. Diesen
fanden wir oben bei den Indem der Zeit der Veden, bei den
homerischen Griechen und bei den Germanen. Er ist aber
ähnlich, wenn auch nicht so überaus reich, wie bei den
Griechen, bei den Indianern Nordamerikas entwickelt«), Ober-
haupt bei jedem der geschichtlichen Völker auf derjenigen
Kulturstufe, die Moboah die Oberstufe der Barbarei nennt.
Indessen das Band der blossen Katurtriebe genUgt bei
einer gewissen Höhe der B!ntwicklung nicht mehr. Wabr-
Bcheinlich ist es das Streben nach unbeschränktem Frivatbesitz
an Grund und Boden, was den Oeschlechtsverband auflöst
Die Ehe ist allmählich streng monogamisch und lebenslängUcb
geworden. Jedenfalls hat nur eine Frau die Rechte der
Ehefrau, Sklavinnen, die der Mann haben kann, sind ihr
nicht ebenbürtig. Die eheliche Zuneigung ist individueller,
damit fester geworden, zugleich notwendigerweise die Liebe
zu den Kindern gewachsen. Daraus entsteht der Wunsch,
ihnen mögUchst reichen Besitz zu hinterlassen, zunächst an
beweglichen Gütern, dann aber auch an einem AckerstOcke,
welches grösser sein soll als das, welches das Geschlecht
nach gleichem Eechte jedem Genossen zuteilt, und zwar nach
einem solchen Besitze, der nicht mit dem Tode der Besitzer,
wie bisher an das Geschlecht zurückfiele, sondern den
Kindern erhalten bliebe.
Einen solchen Übergangszustand finden wir bei den
homerischen Griechen. Noch besteht der Geschlechtsverband,
*) VergL Chantepi« d« la Ssnssaye, Lehrbadi der BeligiNis-
gesohiobte, I*, Fieibnig i. B. nod Lrapzig, ISffl, B. Sl. LoNonLuiwB G«-
dioht Hiavatha ist die Datstelliuig der indiuuscben Hythologis.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL'
Die Oeeobiolitfl d«r Eraiehang in soiIoIo|isalLer Bflleaohtuig. 211
der, wie wir oben gesehen haben, die Männer auch im
Kampfe yereinigt, immer noch ist er die Grundform des
sozialen Lebens. Ein ungeselliger Mensch wird ätp^^rcf^^) ge-
nannt, d. b. ein solcher, der Mitglied einer „Fhratrie", die
ursprOnglich auch „Geschlecht"^) bedeutet, nicht ist, oder
zu sein nicht verdient. Noch lebt zwar nicht das ganze
Geschlecht in einem Hause, wohl aber mehrere verwandte
Familien'), genau wie in der noch jetzt bestehenden „Brüder-
schaft" (Zadruga) der Südslaven. Koch pflügen — ein
Zeichen der Flurgemeinschaft — die Mftnner zugleich das
Ackerfeld*).
Aber schon hat der König ein großes Landgut, das
er mit Lohnarbeitern oder Sklaven bearbeitet'), selbst noch
aller landwirtschaftlichen Arbeit kundig und sie ausübend^),
aber doch ausserhalb des Geschlechtsverbands stehend, nur
andere Könige als seines Gleichen betrachtend.
So entstehen allmählich verschiedene Klassen grosseren
oder kleineren Besitzes im Volke, die an Besitz Gleichen
fühlen sich unter einander näher, als ihren Geschlechts-
genossen, da sie die gleichen Anschauungen und Ziele des
Lebens haben, sie werden endlich zu besonderen Ständen,
indem die Gesetzgebung, die Verschiedenheit der Klassen
M n. IX, 63.
*J 0. ScröuDXR, Spnohvergleiolmng und üi^esoliiahte, 2. Aofl.
J«nK IEm), S. 675: „^r^Ja" kann nTspran^oh kaum etwas anders als
xäerou (F&milie) in seiner erweiterten Bedeutung n&mlioh das Oe-
aelileaht bedeutet haben,
*} So die SQhne nnd likihter des Pbiamos mit ihien Gattinnen and
Oatteo. n. TL 848 ff.
•) IL XVni, 641 ff.
•) Vewl. die Emtesiene auf dem SoliUde Achill'b, li. XVIII, 560 ff.
und darfiber handelnd: R. Föhlkanh, Geschichte des antiken RommnnismaB
und StttialiBmna, 1 Uänohen 1893, S. 27 9. Der hier erwfthute fitwJuif,
dem das t^irot genSrt, rnnse, wie Pöhlkisn 8. 30 bemerkt nicht grade der
Sdoig des Tolkee, es kann aaoh ein Häaptling eines Qeschlechts sein. In dem
kleinen Sdteria giebt ee (Od. VIII, 890 f.) ausser Alkinoos noch 12 jJmiJI^k,
'- " - " " ^' "TS ebenfalls „viele- (Od. I, 394t), aber das Krongnt des
war das T(i
Landbe
•) Od. XIIV. 219 ff.
n,g,t,7l.dM,COOglC
213 Pinl Bartki
anerkennend, Omen verscbiedene Bechte und Pflichten dem
Staate gegenüber zuweist
Der Staat selbst erweitert sich, indem er mannigfachere
Aufgaben übernimmt. In der Geschlechterzeit hat er nur
eine Aufgabe, die Abwehr der Gewaltthat, die von aussen
dem Ganzen droht, den Krieg; die Gewaltthat im Innern,
die ein Volksgenosse gegen den andern ausübt, rächt das
Geschlecht. Nun aber übernimmt der Staat diese Rache, da
das Geschlecht sich auflöst, er wird Verfolger der Verbrecher
und ausserdem stellt er sich noch andere Aufgaben, wie wir
sehen werden. So wird die Gesellschaft aus einem natür^
liehen, spontanen ein künstliches, vom bewussten zielsetzen-
den Willen geformtes Gebilde. So hatten in Attika sich
längst verschiedene Besitzklassen ausgebildet: die Eupatriden,
die Geomoren und die Demiurgen'), während dem Namen
nach der alte Geschlechtsverband noch bestand und wohl
Familien aus den verschiedensten Vennögensklassen ver-
einigte. SoLON erst hob die alte, auf dem Sippenverbande
ruhende Gliederung der Gesellschaft ganz auf, indem er
neue Phylen einführte, die, den alten geographisch zusammen-
hängenden gegenüber, Bewohner der verschiedensten Land-
schaften vereinigten, also durchaus künstliche Gebilde waren.
Ausserdem ordnete er das attische Volk in vier Klassen, die
dem Staate im Kriegsdienst wie in Leistungen des Friedens
je nach dem Vermögen verschieden hohe Opfer zu bringen,
demgemftss auch verschieden bemessene Rechte auszuüben
hatten.
Aber es giebt noch einen zweiten Weg, der über das
bloss Naturwüchsige hinausführt. So mächtig die Götter
shid, wenn die gewaltigen Naturmächte göttlich gedacht
werden, so sind sie doch zunächst nur in privaten Dingen
wichtig. Bei Homer sind sie mi Begriffe, auch auf Volks-
') Te^l. Boui, OeBchichte OrieohenUnda I, Berlin 1886, 8. 4fi7.
.Deaiatgen" sind hiar lüoht Uoas HaiKlworker, Bondern besttsloee Lohn-
arbeiter tberhaapt, GeomoreD = Aokerbaaer, Eapatriden = Adlige, d. li.
grosse Oroudlierren.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL'
Die Oeeohiohte der Eraiehaog In Miiologisoher Belenohtang. 3X3
Sachen Einfluss zn nehmen; Sie ergreifen Partei fttr die
Troer oder fllr die Achäer. Aber es giebt keinen Staud,
der von VoUiswegen den Kult der GWtter pflegte. Wo im
allgemeinen Interesse der Beistand der Götter nötig iat,
wendet ^cli der König durcli Gebet und Opfer an aie, sonst
werden die religiösen Pflichten erfüllt durch einzelne Priester
oder iartii die Ai^hörigen einer Familie, der die Pflege
eines vom Vollie anerltannten Heiligtums anvertraut ist'),
ohne dass jedoch diese Priester in irgendwie erkennbarer
Veitindung mit ekander ständen. Da aber Gemeiosamkeit
der Pflicht die Menschen ein^der näher bringt, so Ist es
natürlich, dass allmählich die Priester mit einander in Ver-
bindung treten und wie die Besitzer gleichen Vermögens
einen besonderen Stand bilden. Bei den Hellenen und den
Römern ist dies nicht geschehen, die priesterlichen Funktionen
werdMi bei ihnen als Leistungen für den Staat betrachtet,
und wie alle anderen, jährlich wechselnden oder lebenriHng'
liehen, jedenfalls aber gewählten Beamten aufgetragen, so
dass ein priesterUches Beamtentum sich nicht aussondern
kann. Dagegen grachieht dies frtihe auf zwei anderen
Schai^)lätzen der Kultur, in Asien und in Amerika.
Die rote Rasse hat in Amerika an zwei Stellen eine
lange Entwickelung gehallt, und in gewissem Sinne die blosse
Naturform der Gesellschaft überschritten, in Mexiko und in
Peru. In Mexiko war ein Volk von Norden emgewandert
and hatte die eingeborenen Stämme tributpflichtig gemacht.
£s nahm auf der Hochebene von Anahuac seinen Sitz, von
dem aus es die umhegenden Stämme beherrschte.
DifHB Volk iebto noob gras nnd gat in dar QeBobleoliterTMbMong,
Dia 8})anier, die diese nidit veretandeD, htben in ihren Berichten daraus
(enaa nach dem Votbilde ibree Taterlandee, via ee zur Zelt der Entdeokong
MexikoB war, eine stindiBohe Qeeellschftft mit raonuohisoher Spitce ge-
madit*). HoBSui aber hat naohgewiesen, dase die Asteken einer der drei
*) So WKT das Priestarhun der Athene io Eleuis erblich im Ge-
£cUea)ite der Etunolpiden, die Athene der AkropoUs von Athen war den
Bntadan anvertrant Vergl. rtTBim. dr ooülahois, la citd antiqae, 13. ed.,
Pui§, 1890, B. 140.
■) Vei^L MoROAN, die ürgeaellaohaft, dentacAe Ueban. 8. 157.
n,g,t,7l.dM,.COOglC
214 Psnl Barth:
stStkBtea Stknine des HocbUuds tod Analiaao waren, der die beiden
uideren, die lezoDcanen und die TUaoalanan, mit Boh eo einem dw Itud
TOD Ucndko bevohnendeii Volke verbanden hatte. Beeonden beifi^oh
der Asteken Ist aus den spanischen Qnellen offenkondig sn enreiseii, dan
ihr „Pneblo" in 4 Quartiere, jedes Quartier wiedenim m üatenbt^DnMn
geteüt war. Wiewohl nni von den QDartieren beieogt ist, dass ilire B»-
wohner dorch Blntaverwandtschan Terbonden waren, ao sohlieeat doch
HoBGiH mit Bedit dasselbe inbezug anl ihte üntaräbtailongen and UUt
diese für OeBchlenbter (Sippen), die Quartiere für Pliiatrien'). Da die
andern beiden Stämme fthnliohe Quartiere hatten, so vermntet HoBOut anch
fär sie das Geschlecht als die soiiale Einheit jedes Oeachlecht hatte ge-
meinsamen onveränsserlichen Orandbeeits*). Wenn die spanisohen Beni»t'
erstatter Ton einem feudalen Onmdherm sprechen, so ist es thatsfohlieh
der ffiaptling des QesoUecbts, den sie meiaen'). Der Bat von .vier
Priuien", a<u dem und von dem nach den spanistdien Berichten bei den
Aeteken der , König" zu wählen war, war der Bat der Häuptlinge derO«-
sohleohter, und da er bei den Tezkukanen 14, beim dritten Stamme nodi
mehr Mitglieder zählt, so verrnntet Hobban, dass er anoh bei den Azteken
gidsser war, die .vier* von den Spaniern erwähnten Uitgtieder nnr einen
AuBBtdinaa bildeten*). Ifoimzinu, der gewählte Häuptling des gansen
Stammes der Azteken and darnm auch der verbündeten Stimme erscheint
Tondiesem Batedorohans abhängig'), eristalso keineswegs einabsolntArHonaroh
wie PmLiPP II. von Spanien, sondern wird von den Azteken seibat Txukbi,
d. h. Eriegshäuptling oder TutOAin, S|>reoher, ^annt, er Reicht vielm^
AemmHOK, dem vom Bäte der Krieger abhängigen Heerfdhrer der Adiiv.
Die Aufhssnng Hontezuiub als einea enrOfAisohen ESnige wurde bea<uiden
dadurch begünstigt, dass das heilige Tier seiner Oena, stin ,Totem* der
Adler war*).
.Caiaer" HoNnzmu regierte, war Be>
Aber die Unterwerfung war wohl besonders durch die
Hilfe des obersten Qottes der Azteken gelungen, des
HüiTziLOFocHTLi, dem zum Danke nun die Gefangenen ge-
schlachtet, Überhaupt beständig Menschenopfer dargebracht
wurden. Die verschiedenen Familien, die früher den Kult
besoi^ hatten, wurden dadurch besonders wichtig, sie
schlössen sich zu einer Priesterkaate zusammen, die von
den zu jedem Tempel gehörigen Äckern und vom Tribute
') a. a. 0. 8. 167 f.
') HoROAH, a. a. 0. S. 169.
1 a. a. O. a 170.
*) a 173 u. 176
*) HoBQin 6. 173 fl.
*> HoBOAH S. 178.
') HoROAN B. 164.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
IKe QeMtäahto d«T Erdehnog In sonologisiätei Belsaohtang, 215
der Unterworfenen erhalten wurde'), und wegen ihrer Macht
nun auch auf alle Entschliessungen des Volkes einwirkte.
Und hierin liegt ein Hinausgehen über das Unmittel-
bare, Natürliche. Bei den primitiven Indianerstämmen haben
die wichtigsten GStter, die Ahnen des Qeschlechts, keinen
anderen Priester als das Haupt des QescMechtes selbst. Die
Priester der anderen Götter haben als solche keine Bedeutung,
sondern nur durch den Nebenberuf des Medizinmannes, des
Regenmachers, des Wahrsagers, des Zauberers überhaupt,
den sie mit Hilfe ihres Gottes oder Geistes ausüben. Jeder
treibt sein Geschäft fUr sich, nur bei den Kariben bilden sie
eine Art Zunft»). Überall aber leben sie von freiwilligen
Gaben, nicht von einem ein für alle Male fixierten Ein-
kommen"); auch haben sie keinen Einfluss auf Öffentliche
Angelegenheiten*) und erfreuen sie sich keiner andern
Aotorität als der des Erfolges. Nach Misserfolgen werden
sie durchgeprügelt, oft getutet''). In Mexiko ist es schon
anders. Die Priester der obersten Götter bilden eine sich
als Ganzes fühlende Klasse, sie geben in öffentlichen An-
gelegenheiten ihren Willen kund, ihre Zustimmung zu einem
Erobenmgezuge oder ihren Widerspruch dagegen«). So roh
und barbarisch uns auch ihre Vorstellungen von der Gott-
heit-erscheinen, es ist in ihnen doch ein geistiges Element,
vfclches so sichtbarer und konkreter als vorher verkörpert
wird und auf das Gesamtlehen des Volkes, nicht bloss des
einzelnen Geschlechtes Macht gewinnt, — wie jedes geistige
*) Vwf\. W. Fbesoott, OeBchiohte der Eroberai^ toh Mexiko, dentaoh«
Ueben. I, Leipzig 1845, S. 67. Chantefib de lä. Sitrasin, Lehrbodi der
Beligionsgasohiohte I, S. 36. J. Ltpusr, Allgemeine Oesohichte desPrieetor-
tnuu, I, Bertin 1883. 8. 306 ff.
') LippERi a. «. 0., I, S. 48 r., 8. 63.
*) Lama &. &. 0. 8. 62. Lifpxrt ontencheidet «udräokliob nach
dem Mangel oder dem VorhuideiiBeiii einer fortdanernden FnisoTge „Zaaber-
prieetertam" und „BtEflsprieaterhim!''
*) JjFnai 8. 68.
*) UrFBBS S. 72.
rrersl. IjFpiBT a. a. 0. 8. 806: .Was kann dei grosse MoHnzmu
e den Aosepmoh der Götter durch die Priester eingehtJt lu
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
216 P»ttl Barth:
Element, ausBerordentlicli eat^ckelimgsföJüg. Damm muss
maa daran festhalten, - dass mit der Bildmig einer vom
übrigen Volke abgesonderten Priesterklasse die blosse
Naturfonn der G-esellsehaft Oberachritten ist.
Ähnlich wie in Mexiko verhält es sich im zweiteu
Kultm'-Zentrum der roten Basse, in Peru. Hier ist ein Volk
eingewandert, an dessen Spitze ein bevorzugtes Geschlecht
steht, das der Inkaa^). Diese nennen sich Kinder des obersten
Gottes, der Sonne^), ähnlich wie bei Hombr die Könige sich
„von Zeus abstammend" nennen. Die Angehörigen dieses
Geschlechts bilden zugleich die Priesterschaft des Sonnen-
gottes'), sie vereinigen in sich die weltliche und geistliche
Herrschaft über die unterworfenen Völker.
Diese laben noch in der unräebeigdo konunnnisHBchaD VufaaHung.
Die spanischen Quellen und im.tik ihnen anoh Passoon nnteilicgeii hier
datselWi llUuohiuig wie in Beeng anf die TerfaUtnisee HexikoB. ^o halte
den Kniska, das Hai^it eines Oest^eoh^ föi einen weatemoptieohw Faadal-
herm*J. Seinen gans Tereohiedenen, dnrchans demokratiBohen Charaktet
aber offenbart die in demselben Atom Aberiieferte Thatsaoh«, dass der
Kuraka oft gewühlt wurde, ganz wie der OesohleohtstüUiptUng eines anderaa
IndiaDeiBtammea'). Venn wir ferner hören, da&s die BGemeisde' dem
neu verbeitateten Paare das Haas bante tud daa der .Oameinde" cn-
gewieeene Land jedes Jahr nach der wechselnden Zahl der ffamilian'
mttgtieder nnter die FamüieQ neu umgeteilt worde'), ao haben wir aus
weeeotüohen Eenuräahen der OentÜTerfsasnng vor nna. üebar ihr eihebt
sich, ohne den TOrgefnndenen Bau aufgelöat sn haben, die Aristokratie dei
GsBohleohtH der Inkas. Ihnen ist ein leil des Bodens eigen, ein anderer
!Feil der ^nne*, d. h. der Priestersoban; nnd alles dieses laka- nnd
Friestarland mnss vom Volke ebenso wie sein eigenes bebavt woden').
So war das Leben des Feroaners arbeitsvoll, aber von einer „zermalmendrä
Tyrannd", wie H. S?EiieEn die Verfassung des alten Fem nenntf), kann
hier ebenso wenig wie auF sonatigen frühen Stnfen der Oesellsahaft die
Bede sein. Es gab zwar keinen Beiehtnm im Volke, aber anoh keine Arniat
nnd Not*j. Die ganze Lebensweise war, wie Pbisoott sagt, dem Gmate des
Trikes dorehaas awemesMc'^, wnrde also nit&t als drnekend gefühlt
sondwn war mit Zomedenheit retbimden.
') Pbksoott, histur; of the oonqnest of Peru, Paria 1847, S.'6I[.
■) ParaooTT, S. 4 f., 8. 48.
*) Preboott, 8. 61.
•) Pkesoott, 8. 98,
') PRBacoTT, a. a. 0.
•) Pksscott, 8. 28.
T PiMscorT, 8. 29.
^ The ram verans the state, 9. ed. London 1886, 6. 4S.
■) PHsoon, B. BS, 8. l(Hff.
■^ 8. 37; anoh 8. 100: ,the goveniment of the laoas, homrer
arbiträrer in form, was in its spirit tral; patriarohaL*
iM,Coo<^lc
Dis Oeachiohta der Erdrirnng in Miiologiaoher Belanohtiuig. 217
Wenn so bei den klassischen Völkern die Entstehung
der YermOgensklassen, also eine tikonomische Umwälzung,
bei den amerikanischen Völkern die Entstehung des Priester-
Standes, die wohl auf politische Elreignisse, auf Eroberungs-
kriege zmückgeht, Über die blossen Naturgebilde der Qesell-
schaft hinausgeführt hat, so ist auf andern geschichtlichen Ge-
bieten auch beides zugleich, eine ökonomische und eine
religittee VerBnderung zu beobachten, nämlich bei den Kultur-
Tölkem Asiens, wenngleich deren Ursachen und Ergebnisse
anders als in Amerika und im klassischen Altertum sich
darstellen.
Was zunächst die ökonomischen Verhältnisse betrifft,
so muss man wohl das Geschlecht, das letzte und dauer-
hafteste der TOn der Natur geschaffenen sozialen Gebilde
in ganz Asien sich vorstellen nach Analogie der indischen
Dorfgemeinde, die noch jetzt besteht, jeder Familie ihren
Anteil an der Dorfmark zuweist, fUr gemeinsame Bebauung
sorgt, jeder Familie auch das ihr zukommende Wasser zu-
teilt und noch von dem aus fünf Ältesten bestehenden Dorf-
rate, seltener von einem Häuptling regiert wird*). Für
die Zeiten, in denen die Veden und die grossen Epen ent-
standen, bilden die Dorfgemeinden das ganze Volk. Es giebt
nur einen einzigen Stajid, den der Äckerbauer. Aber durch die
Kämpfe um das Land bildet sich ein neuer Stand, die
Krieger, auch eine neue Art der Niederlassung, die Stadt,
das befestigte Lager des Fürsten^). Gleichzeitig') vollzieht
sich in dem zu religiösem Denken und Träume geneigten
Volke eine Umwandlung seines Glaubens. An die Stelle
Indras, des mächtigsten Gottes der Veden, tritt Brahma, der
Schöpfer des Weltalls, die erhaltenden Götter vereinigen
iHidi in Via(^u, die zerstörenden Naturmächte in Qiwa,. Das
') TvgL H. 8. Mjjnz, TilligB Comnunitiw io tfae KMt snd Weat,
6.«d. London 1887, 8. 10et,183f.,aii(l LiTXLnx, lUa Vreigmtara, dentstdi
TOB K. BücEBL B. Uff.
■} Madb, ft. a. 0. B. llSf.
t TahnohdBfldi am 800 t. Chr. be|^imt dia DreigHteriehra d«
EiaduBmiu allmkiiliali toM nhiMB. Chanta^do la Swuuftt 11,8.119.
n,g,t,7l.dM,.COOglC
218 Piiiil Barth:
WiMen von den Göttern wird kompUziert«r, desgleichen die
Ordnung ihres Dienstes, das Ritual der Gebete, der Opfer^
BOssungen etc. Während im altvedischen Zeitalter der König
nicht bloss Führer des Volkes im Streite, sondern auch
Sänger und Priester beim Opfer war'), bedarf es dazu nun
einer besonderen Vorbildung und schliesshch der Lebens-
thätigkeit eines ganzen Menschen, es befestigt sich der schon
in den letzten Zeiten der Veden entstandene*) priesterliche
Beruf imd damit ein besonderer Priesterstand. Neben den
drei so abgegrenzten Ständen der Ackerbauer, der Krieger,
der Priester bilden den vierten, falls sie nicht als ausserhalb
aller Stände befindlich betrachtet werden, die unterworfenen
Ureinwohner des Landes, die Sudras, die Sklaven der drei
anderen Stände. In den Gesetzbüchern der Inder, z. B. dem
des Manu, erscheinen die drei Stände als lebenslänglich, ver-
erbt, unüberbrückbar von einander getrennt, kurz in dem
Sinne, in dem wir von Kasten sprechen.
Einen ähnlichen Gang wie bei den Indem hat die Ge-
sellschaft bei allen asiatischen Völkern genommen. Ihre
Gesetzgebung bezeichnet Überall den Übergang von der
Geschlechtsverfassung zu emer ständischen Gliederung,
gleichzeitig die Erhebung ihrer Götter von blossen Natur-
wesen zu sittlichen Mächten, Wie die indischen, so sind
') 8. LEFMAmr, Oesohichte des alten Indiens, Berlin 1890, S. 194.
*) ChaDtepie de la Baussaye II, 8. 42f. Aooh L. tok Sohbokobb,
Indiens Dtentnr und Koltor in hiBtoriHoher Entwiokelaag, Lnpog 1887,
8. 1&3: „ta war natürlich, wenn die alten Priester- und Singerflunilien,
unter denea Tomehmlioh die Ennda der lieder oad Opfer gepQegt wurde,
s. B. die Tanisfathas, En^ikaa, Atris, Qäotaraas s. dgl. m. siäi ala ein geiat-
lioher Adel dem'fibrigen Yol^e gegenüber mehr ond mehr bewnsst wärdea
nnd sieh von demselben absonderten. Sb war ebenso natärUoh, wenn die
aahlieiolien kleinen Füisteufamilion mit ihrem ritterliohen Anhwig ndi ata
ein bsBoaderer Stand, als ein ritterlioher Adel zuBarameusohlossen. Die
übrigen siiaohen Inder Messen wie früher „das ToEk* (vi;), und der
dnaeine daza gehörige ein .Volksgenosse" oder YU^ya. Dass man endlioh
die dunkle, ni<ätaiisohe Bevölkening, soweit sie sieh dem arisoh - indisohen
Staatsverbande eingefügt, reep. nnte^eordnet hatte, als eine beaondere
UenaohenklaBae von den Ariern nnteisohied, mnss ans fast als selbet-
YarsOndlieh eiaoheinen. Von den nnnbeiateigliohen Schranken iwisohen
diesen Ständen, sowie inabeeondere Ton der Terworfanheit der nnteratan
Sohiohten der BeTölkerong ist im Yqjorreda niigends die Rede.'
iM,Coo<^le
Di« Qeeobiehte der Erdebtuig in sotiologisdhet BelenottuDg. 219
die persischen Arier ebenfalls in SÜLnde gegliedert, jn Priester,
Krieger und Bauern'),
Von den Bemitischen Yßlkem erleben die Israeliten
diese soziale Fortbildung zur Zeit ihrer Gesetzgebungen, Über
die wir freilich nur, soweit sie das judäische Königreich be-
treffen, Näheres wissen. Das Deuteronomium, das um
621 vor Chr. entstand, schafft einen Priesterstand. Jehovah,
vorher der Gott des Gewitters, eine Naturmacht von nicht
rein sittlicher Bedeutung, wird nun der HQter der sittlichen
G«bote, der Belohner der Guten, der Verfolger der Schlechten.
Neben dem Priesterstande, der sich nach Analogie eines
Geschlechtes organisiert und sich zum Ahnherrn Lewi, einem
Sohn Jakobs giebt, muss noch ein Stand der „Obersten" an-
genommen werden, den der babylonische Eroberer ebenso
wie die Priester hinwegfilhrt, um das Volk der führenden
Mämier zu berauben*). Nach der RUckkehr werden die
Priester, an deren Spitze der Hohepriester steht, und die
Ältesten (wohl dieselben, wie die hinweggefUhrten „Obersten")
die regierende Gewalt der Juden und bleiben es in allen
inneren Angelegenheiten auch unter derrÖmischenHerrachaft').
Ähnliches finden wir bei den Südsemiten Asiens, den Arabern.
Vor Huhfunmed leben sie, nach Sippen geordnet, ohne
Priesterstand*}, nach seiner Gesetzgebung erheben sich über
den bestehenbleibenden Sippen ein Stand der Priester der
TJIemas') und ein Stand der Kriege'r).
Die reine Gentilverfassung des einzigen hamitischen
Volkes, das geschichtliche Bedeutung hat, der Ägypter, ist
in das Dunkel der Vorgeschichte gehüllt. "Wo sie uns in
geschichtlicher Zeit entgegentreten, sind sie schon in Stände
geteilt: Priester, Vornehme, Volk. Den triumphierenden
■) Tergl. W. Geeseb, OstüaiUBaha Koltar im Alteitum, SclaDgen 18^,
8. 477.
*) 2. Bnoh der KSnue XXIV, 14.
■) LiFPEEE, a. ft. 0. U, 191.
*) VergL LatBa, a. a. 0. II. 3. 296.
■Ö lOFiBT, a. ft. 0. 8. 298.
^ TergL A. ton Ebbmcb, Knltaigesohiohte dsBOrieiito, II, Wien 1877,
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
•ßO - P"l Btrth:
KOnig Sethosis I. empfangen laut des Textes einer Dar-
stellimg „die Priester und die Grossen, die Yorstelier des
Doppellandes Ägypten')."
Endlich finden vnr bei den mongolischen KulturrOlkeni
ebenfalls eine ständelose Zeit der blossen natürlichen Orgaiii-
satioD der Gesellschaft, nach ihrer Gesetzgebung aber Rang-
unterschiede. Bei den Chinesen beharren wie Überall im
Orient die Sippen, doch tritt innerhalb derselben ein aller-
dings nicht erblicher, sondern immer neu zu erwerbender
Kriegs- und ein fViedensadel hervor, der sogar eine besondere
Sprache, die Mandarineni^rache (z. B. ohne r) sprechen muss*).
Der alte Kommunismus löst sich auf, die Götter er-
langen eine ethische Bedeutung, wenngleich sich kein be-
sonderes Priestertum herausbildet. Derselbe Prozess voll-
zieht sich in der Geschichte der JiqKiner*).
Dieser Übergang von der gentilen zur ständischen Ge-
sellschaft ist der wahre Anfang der Kultur. Man hat andere
Fortschritte für wichtiger erachtet. Die deutsche Geschichts-
schreibung machte früher mit der Erfindung der Schrift den
tiefsten Einschnitt in die Gliederung der Geschicke der
Menschheit, mit ihr Hess man die eigentliche Geschichte
beginnen, die eben nur durch schriftliche Überlieferung möglich
sei, während man die voraufgehende Zeit der mündlichen
Überlieferung als blosse „Vorgeschichte" betrachtete. Mobgam
hat den Gebrauch der Schrift ebenfalls als Merkmal der be-
ginnenden Zivilisation bezeichnet, doch schemt er di& gleich-
zeitige Entstehung des Staates, der die Menschen nach anderen
Prinzipien als nach der Blutsverwandtschaft gruppiere, für
noch wichtiger zu haJten.
In der That ist ja die Gesellschaft eme Gesamtheit
von WlUenseinheiten. Ihr Zusammenhang ist zunächst ein
mehr unbewusster, auf den Instinkten beruhend^-. Das be-
■) Ntch Ijtmr, a. a. 0. I, B. 509.
■) EIuTRB. Oescihidite tod Ostasien, Lwpf ig 1669, S. 118. E. J.Snoox,
Printin aTÜiwttou, Ltmdm 1897, U, 8. m.
■) F. 0. Asuu, historr of ]apu, London 1874, I, S. 12, 8. 16.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL'
Die Oeeohichte der Entshuit in ■niologiBohef Belenohtiug. 221
I logische Denken wendet sich zuerst nur auf äusaere
Objekte, auf die Beherrschung der Natur durch technische
Erfindungen, erst spät auf die Art und Weise des Zusanunen-
hanges der GeseUschaft selbst. Dieser wird öegenstand des
bewusstea Denkens in der G-esetzgebung. Der Gesetzgeber
ist der erste, wenn auch nicht theoretische, doch praktische
Soziologe. Dianit ist eine ganz neue Bahn eröffnet. Denn
das Wesentliche der Gesellschaft, eben der soziale Zusammen-
hang, ist nicht mehr dem natürlichen, naiven Denken Über-
lassen, sondern dem bewussten, logischen, wissenschaftlichen
Nachdenken, das so viel reicher und schöpferischer als das
natürliche ist, wie die Wissenschaft an Fruchtbarkeit für
das Leben das zufällige „Finden" übertrifft. Jedes Gebiet
des sozialen Lebens wird fortan die „Hebung" verspüren,
die der Geist bewirkt. Es wird gedeihen und fortschreiten
in demselben Masse, als es ihn walten lässt, und in demselben
Masse sinken und verfallen, als es sich seinem Walten entzieht.
Mit der Umwandlung der gentilen Gesellschaft in eine
ständische muss die Erziehung ebenfalls eine Umwandlung
erleiden. Wie alle sozialen Beziehungen und Verrichtungen
wird auch sie von nun an mit grösserer Bewusstheit ihres
Zweckes und ihrer Mittel betrieben werden. Was ihre Form,
ihre äussere Organisation betrifft, so kann man jetzt, da es
eine Arbeitsteilung giebt, besondere gesellschaftliche Organe
der Erziehung zu änden erwarten, in Bezug auf ihren Inhalt
aber ist es möglich, dass nicht alle Stände die gleichen Ziele
zu erreichen streben, sondern in Zucht, Unterweisung, Unter-
richt und Belehrung jeder sich eme andere Aufgabe stellt.
Wenn wir mit den von den Naturformen der Gesell-
schaft am wenigsten entfernten Rassen beginnen, so müssen
wir zunächst die Mexikaner und die Peruaner ins Auge
fassen.
Was die Mexikaner betrifft, so wird ihre Erziehung
von Lbtottbnbaü ') — ohne Angabe der soziologischen Ur-
iM,Googlc
222 Ptnl BKrth:
Sachen, deren er sich nicht bewusst ist — folgendenoassen
richtig gekennzeichnet: „die physische und moralische Auf-
zucht der Kinder war nicht mehr dem Zufalle der Spiele,
der spontanen Nachahmung und der sozialen Umgebui^
Überlassen." Dass damit eben m der E^iehung der Oeist,
das bewufiste Wollen an Stelle des unbewussten Q^schehens
tritt, sieht Lbtocbhbau nicht.
Die Kinder des herrschenden Volkes, der drei SUunme,
wurden von den Priestern erzogen. Unterweisimg empfingen
sie zunächst in der Familie, mit zehn Jahren wurden sie
auch der Zucht unterworfen und für Ungehorsam bestraft^.
Die EJiaben mussten vom dreizehnten Jahre an Holz holen
und fischen, die Mädchen mahlen, kochen, weben. Nach
vollendetem fünfzehnten Leben^ahre wurden alle Knaben
und Mädchen den Priestern Übergeben. Die Kinder der
Häuptlinge wurden dabei von denen des Volkes getrennt,
die auch Mher in die Priesterschule eintraten. Die Lehr-
fUcher dieser Priesterschulen scheinen für die Kinder des
Volkes nur religitfse gewesen zu sein, religiöse Tänze, Ge-
sänge und Heldenlieder*). Ausserdem wurden alle Zöglinge
zu produktiver Arbeit, zum Ziegelmachen, Bauen, zur Aus-
schachtung von Gräben und Kanälen angehalten. Die Kinder
des Adels hingegen lernten die Bilderschrift, die bei den
Mexikanern im Gebrauch war, die Astronomie, reUgiöse,
heroische und geschichtliche Hymnen und die Gesetze ihres
Landes. Wie bei Homer, müssen sie auch die Kunst der
Bede pflegen, die für den regierenden TeU des Volkes sehr
wichtig ist. Neben diesem wissenschaftlichen Unterrichte
der rehgiösen Belehrung, der Unterweisung im Reden er-
werben sie gleichzeitig alle kriegerischen Fertigkeiten. Fasten
und erhöhte Anstrengung waren die Mittel der sehr strengen
Zucht, der sie unterworfen waren. Nach dem zwanzigsten
Jahre etwa widmete sich ein Teil dieser Jugend den welthchen
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Die Qflwdüohte der Eiziebiuig in sosiologiBober Bdevohtiing. 2fi3
Oeschäften, dem Kriege und dem Äckerbau, ein Teil dem
Friesterstande. Dieser Teil blieb unTerheiratet und lebte in
besonderen, die Tempel umgebenden Oebtluden.
Was die Mädchen betrifft, so erhielten die Töchter des
Volkes ihre Erziehung nur in der Familie. Die Töchter des
Adels aber wurden von den Priesterinnen, die neben den
Priestern, wie diese, unTerheiratet, in der Nähe der Tempel
lebten, erzogen imd lernten dort Übung der weiblichen
Tugenden, besonders der Keuschheit, Ehrertietung gegen
Ältere und Geschicklichkeit in den besonderen weiblichen
Handwerken und Kunstgewerben. Wenn diese Erziehung be-
endet war, so verheirateten sie sich oder wurden Priesterinnen.
Die Zucht war auch hier, wie bei den Kiiaben, strenge. In
Oegenwart Älterer wagten die Kinder kaum zu sprechen.
Während in Mexiko ein ganzes Volk, das der drei Stänuue,
«ich zum Herren tributpflichtiger Stämme gemacht hatte, ist
es in Peru nur ein Geschlecht, das Ober eine ganze Anzahl
der Quichaa-Stämme die Herrschaft ausübte. Dieses Ge-
schlecht der Inkas oder Sonnensöhne war aber reich genug
an MitgUedem, um den Unterthanen gegenüber die ßoUe
eines regierenden Standes zu spielen. Die Erziehung bleibt
darum bei den Unterworfenen im Naturzustande, d. h. der
Familie überlassen, nur für die Inhasöhne ist sie öffentlich
organisiert 1). Die Inkas waren allein Priester, ein Teil von
ihnen auch Lehrer, „Amautas", ein Amt, das, wie es scheint,
vom priesterlichen getrennt war*). Sie lehrten den jungen
Inka die Thaten der Vorfahren, die Quipu - Schrift, die
Dichtungen, die die Lehrer selbst verfasst hatten, den Kriegs-
dienst und die priesterlichen Zeremonien, da ja einige der
Inkas Priester werden mussten. Mit einer sehr langen und
strengen Initiation, die trotz aller Härte festUchen Charakter
hatte, schloss im 16. Lebensjahre die Erziehung ab^).
'■) LnovBnKii? S. 200.
^ LnonBuiAü B. 200.
*) lATOiiBnai.li S. 207.
.C,SK>gle.
224 Panlfiuth:
E^Tie gewieae Ähnlichlait mit dar Koltai Hexiki» und Fwna hU dk
des Jesnitanslaates von ParaguAy. Eier bat aioh im hallen Liebte der ffi-
Bohiohtliaben Zeit der Torpuii; «ioderholt, des in Mexiko ond Pen m
Bildung eines re^erendsn Stäüdea geführt hntts. Wu den £iiwebonw&
gegenütier in Hexibo der Stamm der Azteken, in Pem das Oesoblecbt dar
Inkas, das varen in Paraguay den eingebomon Gaarani-St&mmen ngenSber
die eingewanderten Jesuiten. Diese ßinden das Volk in deraMben Vor-
fassnng, die die Aiteken in Mexiko, die Inkas la Peni aatnteL Die feste
Boiiale Einheit war die Qens, an deren Spitze der Blnptliog, von den
Spanieni ^Kazik* genannt, etand '). Mehrere Gentes bildeten einen Btamm.
Das ganze Volk wnrde tiiiti von den Jesuiten, als einem legterenden Prieetei-
staade, beherrscht Die Eazikeo, die ßssohleditahanptlinge, waren ihre
„Corregidores", ünterbeamten*). Der Omnd nnd Boden, desgleichen die
Herdes waren Oemeineigentam der Oens, Oebranahaelgentnm an beweg-
lichen Oiitern tmd Arbeit wurde einem jeden sogewieeen ■). Wer seine kb-
geteilte Arbeit nicht verrichtete, erlitt Prfigelstrafe. So wurde das ganze
Volk ala nneraogea betraobtet, einer im eigentliobsten Sinne patriorohaliaohen
Behandlung unterworfen. Erat recht ward die Eniehong der Jngend vom
regierenden Stande organisiert. Da aber dieser der Eoltnr des alten Europa
entsprungen war, so mnsste der Inhalt dieser Eniehnng reicher sein als
derjenige, der, bei den Azteken und Penianem, dem amerikauisohen Boden
allein entsprossen war. Alle wurden im £ateohismus nnternchfet, der in
die Sprache der Ouarani übersetzt worden war nnd im geistlichen Orange,
die Begabteren lernten leeen und aohreiben, beides nach dem lateiniscben
Alphabet. Die tächtigHten der Rinder wurden spttter neben den OescdileohiK
hSuptem zu Eorregidoren gemacht*). Aber diese ganze Kultur war eben
von aussen den Indianern herangebracht worden, und, da die Jesuiten den
ersten Grundsatz jeder Erziehung, die Seitetthätigkeit zu wecken, mcht be-
folgt hatten, so schwand alle diese äusserlich angeklebte Bildung, als sie,
infolge der Aufl5aung des Ordens, genötigt wurden, ihre Hand ron ihren
Zöglingen zurückzuziehen'). Nor der euro^dische kunstmäs^ge Oeean
geistlicher Hymnen, den die Kiugebornen Paraguays noch heute veiatehen*),
wie er dae erate war, das sie lernten, ist ein letzter Nachklang ihres Be-
mfiheos in dee Worts eigentlichster Bedeutung.
Bei den Indem entsprang, wie wir oben saben, die
ständische Gliederung des Volkes einem zweifachen Grunde,
sowohl der sozialen Arbeitsteilung, wie der Entstehung eines
Priesterstandes. Die Erziehung wird hier eine verschiedene
je nach dem Stande, dem das Kind zugehört. Eine Öffent-
liche Organisation der Erziehung giebt es nicht, in ihrer
C") Ve^l, OoTHsm, der <
y, Leipzig 1888, S. 84.
nmaa; doch iet dies nach i
[, der christliob-soziale Staat der Jesuiten in Para-
OoTEsni nennt Kaxtk den Httuptling eines
s nach seinen eigenen Ausführongeu imgenau.
-; a. a. 0. S. 46.
') a. a. 0. 8. B3— 36.
') a. a. 0. S. 44.
•) ■. t. 0. S. 61.
■) a. a. 0. S. 31.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Die OMchiolite der Erziehnnj; in Boeiologisoher Beleachtnng. gg5
Form also ändert sich nichts gegenüber der Vergangenheit').
"Wohl aber ändert sich ihr Inhalt. Während in der Periode
der Vedea wohl für alle Kinder des Volks Unterweisung in
den Fertigkeiten des Krieges und des Friedens die Haupt-
sache ist, werden die kriegerischen Fertigkeiten jetüt spezifisches
Vorrecht der Kinder des Kriegerstandes. Die Söhne der
Brahmanen lernen den Inhalt der religiösen Bücher, besonders
der Puranas und was sonst an Kenntnissen, besonders
astronomischen und medizinischen, vorhanden ist, teils von ihrem
Vater, teils vom „Guru", einem ganz besonders gelehrten Brah-
manen,meist einem im Walde lebenden Einsiedler. Er schliesst
seinen Unterricht undseineBelehrungmit der Mitteilungder „hei-
ligen Worte", die man nicht zu' oft wiederholen, jedenfalls aber
keinem Mitgliede einer anderen Kaste verraten darf*). Zur Er-
ziehungderpriesterliehenKasteistauch zurechnen, dass die Baja-
deren der Tempel lesen, singen und tanzen lernen, während
die Fi-auen der anderen Kasten sich dieser Künste schämen,
nur der häuslichen Verrichtungen kundig sind*). Die Brah-
manen üben ihre Lehrihätigkeit teils umsonst, unterhalten
sogar, wenn die Geschenke der Fürsten reichlich fliessen,
noch ihre Schüler, teils nehmen sie Lohn von ihren Schülern.
Die Kasten der Ackerbauer und der Unterworfenen (der
Sudra) haben keinft Erziehung, die sich über diejenige der
Naturformen der Gesellschaft erhöbe.
Bei den Juden ist, wie wir oben gesehen haben, seit
der Gesetzgebung des Esra der Priesterstand der herrschende.
Bin Unterricht der Erwachsenen im „Gesetz" fand bald nach
Esra mehrmals in der Woche statt*). Gleichzeitig bestanden
auch Schulen für Knaben, in denen wohl das Lesen der
Thorah geübt wurde. Und zwar gilt dies sowohl von
Jerusalem als auch von der jüdischen Diaspora in den
') Die heutigen von Letoobnead B. S94 erw&htiteii Eüamentarsahaleii,
die ■llerdings nur inaofera öffeutlich sind, als sie jedes Kind gegen Scbol-
geld anfnetuneD, sind Nachahmangen der earopüschen Entlar.
*) LnoüBKEiir S. 891.
*) LnouifiEin 3. 394.
*) Letoübnud 8. 360/61.
Tleit«IJ*liiMlirln t wlMUtlMlU. FUlw o. SodoL XXVIL 2. I&
n,g,t,7l.dM,.COOglC
hellenischen Städten, von dieser wohl noch mehr, da bei den
in der Zerstreuung lebenden Juden die Religion das feste
einigende Band bildete. Diese Knabenschule (Beth Hassepher)
war allgemein ; seit Josua Ben Gamla, der 62—66 n. Chr. Hoher-
priester war, war ihr Besuch für alle Kinder Zwangspflicht'),
Die besondere ständische Bildung des Priesterstandes, der
Rabbiner, wurde in einemhöheren Kursus (Beth Hammidrasch),
der erst das Schreiben einschloss, überliefert*). So finden
wir hier durch den herrschenden Stand Form und Inhalt
der Erziehung bestimmt. Sie ist allgemein für alle Kinder
des Volkes und sie ist ausschliesslich religiös.
Dies wiederholt sich genau bei den Arabern, seitdem
sie einen herrschenden Priesterstand haben. Überall in der
islamitischen Welt ist seitdem die niedere Schule, der Kuttäb,
eingerichtet, in der ein Fiki, ein Laienniönch, unterrichtet,
durch die Gaben der Schüler oder aus den Einkünften einer
Moschee unterhalten, oft selbst des Lesens und Schreibens
unkundig, bloss mündlich, nach dem Gedächtnis den Koran
lehrend, oft auch Lesen und Schreiben und einiges Rechnen
damit verbindend^). Die Zucht ist streng, durch körperliche
Strafen aufrecht erhalten*). In grösseren Städten giebt es,
den höheren theologischen Schulen der Juden entsprechend,
theologische Hochschulen, die „medresseh", deren Ort immer
eine Moschee ist. Da der Koran nicht bloss für das religiöse,
sondern auch für das weltliche Recht die einzige Quelle ist,
so sind diese „arabischen Universitäten" zugleich Rechts-
schulen. Der Stand der Geistlichen bildet zugleich den
Stand der Richter. Und da er von griechischer Astronomie
und Medizin einiges aufnahm, so wurden auch diese Frag-
mente der griechischen Wissenschaft in einigen der Hoch-
') 0. B&oi, Jüdische uad mahammedamBche Erziehung in K. A.
ScHum, Geschiohte der Erziehung I[, I, Btnltgart 1893, S. 6&9.
*] 'Wenn LETonR.Nxiu [8. 864r.] als die drei Elassen des Beih
Bammidrasb a&giebt: Uikra UishD&h und Qem&rab, und die erste sls das
griechisclie liwfä., die kleine, tnSssst, so ist dies ein Intnin. Der Name
lommt her vom hebiäischen Esra lesen nnd bedeutet .iieeatohDle*.
■) Lbtoukkuu S. 333 f.
*) 836/36.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Die GeBohiohte der Ernehnng in sosiologiacher Belenohtang. 227
schulen gelehrt. Die Zucht bleibt auch auf dieser Stufe
streng. Die von der Sitte gebotenen äusseren Zeichen der
Ehrerbietung gegen den Lehrer sind sehr lebhaft und häufig.
Der Kultur der Semiten sehr ähnlieh ist diejenige der
Hamiten. Zu der Zeit, wo die alten Ägypter in die Ge-
schichte eintreten, sind sie, wie wir oben gesehen haben,
über die natürliche Verfassung der Gesellschaft schon hin-
aus, haben sie schon eine Priesterkaste, neben anderen
ständischen GUederungen. Auch bei ihnen finden wir durch
den Priesterstand eine allgemeine, öffentliche Erziehung
organisiert, die freilich nicht der Religion, sondern dem
praktischen Leben insofern diente, als sie die wegen der
jährlichen Überschwemmungen sehr nötige Vermessungs-
kunde zum Gegenstande hatte •)■ Neben dieser allgemeinen
Erziehung giebt es innerhalb der verschiedenen Stände eine
Vorbereitung auf den väterlichen, auf das Kind zu ver-
erbenden Stand, die aber wohl der Familie anheimlallt. Was
von wissenschaftlicher Erkenntnis in Astronomie, Medizin
und anderen Wissenschaften erreicht war, desgleichen die Kunst
des Lesens und Schreibens, blieb wohl Monopol der Priester-
kaste*), bis in den letzten Zeiten der politischen Selbständig-
keit die „Vornehmen" Anteil daran zu nehmen begannen.
Von der mongolischen Welt Asiens sind wesentlich nur
die Chinesen und Japaner hier zu betrachten, weil alle
andern mongohschen Völker — von einigen Ausstrahlungen
der europäischen Kultur abgesehen — von jenen beiden alles
angenommen haben, was sie über die Barbarei emporhob.
Die Religion der Chinesen hat zwar den blossen Na-
turalismus Überschritten, aber, wie bei den klassischen
Völkern, doch zu keinem Priesterstande geführt. Doch haben
sich, wie wir oben sahen, zwei Mandarinenkasten gebildet,
die Mandarinen des Krieges und des Friedens. Eine vom
Staate organisierte Erziehung giebt es nur fUr die Kinder
der Mandarinen. Sie hat zwei Stufen: Die Mittelschule, die
n,g,t,7l.dM,COOglC
228 Paul Barth:
sich im Haoptorte eines Distrikts befindet, und die klassißchen
Schriften, besonders drei des Kootuotds und eine des Itaroros
lehrt. Die in diesen Schulen vorgebildeten Jünglinge unter-
werfen sich verschiedenen Prüfungen, um die drei Grade
zu erreichen, von denen der höchste die Mandarinenwürde
verleiht, d. h. zu einem staatlichen Amte berechtigt. Man-
darin des Krieges wird man ebenso erst nach drei PrtlfimgeD.
die sich auf physische Geschicklichkeit und Kenntnis des
Kriegswesens beziehen*).
Das elementare Schulwesen ist Privatsache, es wird
eine Anzahl Schriftzeichen, Rechnen und Gesang gelehrt.
Der Lehrer wird von den Schillern bezahlt.
Die japanische Gesellschaft hat nicht eine Aristokratie
der Bildung, sondern eine Aristokratie des Besitzes. Trotz-
dem war das Erziehungswesen dem chinesischen ganz gleich,
wie Überhaupt die japanischeKultureineKolonie der chinesischen
war, bis europäischeldeen nach Japan eindrangen'). Die elemen-
tare Bildung war ganz den Familien überlassen, die mehrere zu-
sammen einen Lehrer annahmen; ^ nur die Erziehung der
— wie in China — weltlichen Aristokratie war vom Staate
organisiert. Der ganze Kursus bestand aus drei Stufen: Die
erste lehrt die oben erwähnten vier Bücher der Chinesen, und
nach ihnen erst Lesen, Schreiben und Rechnen. Die zweite
Stufe umfasst Geschichte, Rhetorik, weitere Ausbildung in
chinesischer Schrift, Arithmetik und Geographie, ausserdem
körperliche Übungen. Die oberste Stufe, nur durch je eine
Hochschule in Kioto und Yedo und durch mehrere in der
Provinzhaupfstadt vertreten, lehrte Theologie und Moral, be-
sonders nach den chinesischen Klassikern, ausserdem die
chinesische Sprache und Schrift in systematischer Weise,
desgleichen die Sprache und Schrift der Japaner. Die Frauen
wurden in Japan besser gebildet als in China. Während
die Chinesinnen nur hSusliche Geschäfte lernten, lernten die
Japanerinnen fast alle wenigstens ein wenig lesen undschreiben.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
JKe Geschichte der Gniehong in Bosialogisohec Belenohtnng. 229
Wie diese alte Erziehung eine Nachahmung der
chinesischen ist, so ist die neue, die in den letzten Jahr-
zehnten teils organisiert wurde, teils noch organisiert wird,
eine Nachahmung derjenigen des modernen Europa, von der
später zu sprechen sein wird.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Berichtigung.
In seinem ßeferat über Mellins Marginaiien und
Register zur Kr. d. r. V. (diese Zeitsclirift XXVI 4, S. 456)
spricht E. Mabcü8 einen allgemeinen Zweifel aus, „ob nicht
auch Mrllin hie und da die subtile Schärfe Kamts verfehlf
habe. Er führt zur Begründung an, dass ihm „allerdings
nur eine einzige Stelle" aufgefallen sei, und beanstandet das
Marginale 943. Dort heisst es: „In der Transzendental-
philosophie ist diese Subreption gewöhnlich und unvermeidlich,
daher kann hier der apagogische Beweis nicht erlaubt sein."
Kant habe hier nur von „transzendentalen Versuchen" der
spekulativen Dogmatiker gesprochen und habe mit seiner
Methodenlehre die „von ihm neubegründete Transzendental-
philosophie gar nicht treffen wollen."
KiST bestimmt durch die Kritik die Idee der Trans-
zendentalphilosophie zum ersten Male, aber er selbst spricht
von einer „Transzendentalphilosophie der Alten" und sagt
auch in den Prolegomenen, dass was seiner Zeit diesen Namen
führe, eigentlich ein Teil der Metaphysik sei; der Einwurf
würde also Mblijhs Ausdrucksweise im Vergleich zu Kabt
gar nicht treffen. — Es könnte nur die Frage sein, ob Käst
sein Verbot der apagogischen Beweise auf Fragen der trans-
zendentalen Dialektik einschränken, oder auch auf die trans-
zendentale Ästhetik und Analystik erstrecken wollte. „Wie sich
von selbst versteht, will Kakt in seiner „transzendentalen
Methodenlehre" die Anforderungen an die Transzendental-
philosophie feststellen. Der Hinweis von Mabcus auf eine
andere Stelle (766, 2. Aufl.) Übersieht vollständig, dass sie
einen Abschnitt abschliesst und sich nui* auf ihn bezieht.
Berichtigung. 231
. „Von der eigcntUmlicben Methode einer Transzendental-
philosophie läsat sich aber hier nichts sagen . .," wo Kaht
nur die Frage nach dem dogmatischen Gebrauch der
spekulativen Vernunft aufwirft und erledigt. Der 4. Ab-
schnitt, um den es sich bei Mbllin handelt, beginnt aber mit
den Worten: „Die Beweise transzendentaler und synthetischer
Sätze haben das EigentUmliche " Kaht fragt
dort, ob wir überhaupt und wie hoch wir bauen
können, im 4. Abschnitt, wie wir bauen müssen, wenn
wir es auf einen beständigen Bau abgesehen haben. Hier
sind wir also bei der Methode der Transzendentalphilosophie,
in der die Subreption herrschend ist, „das Subjektive imserer
Vorstellungen dem Objektiven, nämlich der Erkenntnis des-
jenigen, was am Gegenstande ist unterzuschieben."
Kaht giebt nun drei Regeln für „transzendent^e Beweise,"
bei denen er (z. B. S. 816) auf die von ihm gegebenen Be-
weise exemplifiziert. „Die dritte eigentümliche Eegel der
reinen Vernunft, wenn sie in Ansehung transzendentaler Be-
weise einer Disziplin unterworfen wird, ist: dass ihre Beweise
niemals apagogisch und jederzeit o s t e n s i v sein müssen.
Der direkte oder ostensive Beweis ist in aller Art der Er-
kenntnis derjenige, welcher mit der Überzeugung von der
Wahrheit, zugleich Einsicht in die Quellen derselben ver-
bindet; der apagogische dagegen kann zwar Gewissheit, aber
nicht Begreiflichkeit der Wahrheit in Ansehung des Zu-
sammenhangs mit den Gründen der Möglichkeit hervor-
bringen." Dass Kant hinsichtlich der Deduktionen und Be-
weise der Analytik diesem Anspruch genügen wollte, d. h.
dass er sich den Anforderungen, die er andern gegenüber
stellt, selbst zu unterwerfen „verbindlich" fühlte, bedarf
keines Wortes. Der 4. Abschnitt zeigt im Beginn die
Methode der Analytik und verlangt, dass man in Fragen
der Dialektik umsomehr die dort befolgten Prinzipien an-
erkennen müsse. „Ein jeder muss seine Sache vermittelst
eines durch transzendentale Deduktion der Beweisgründe ge-
führten rechtlichen Beweises, d. i. direkt führen, damit man
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
232 Ludwig OoldBohmldt:
sehe, was seine VernunftansprUche für sich selbst anzuführen
haben." Hat nun wirklich Kant in seiner Transzendental-
philosophie das geleistet oder hat er sich damit begnügt,
das Gegenteil seiner Behauptungen zu widerlegen? Diese
Fra^e wird sich Herr JIascds ernst selbst beantworten.
Nur den letzten Punkt seines Einwurfs gegen Mellih
will ich noch widerlegen. Kamt soll nach Mabcüs seine
ganze Transzendentalphilosophie auf einen apagogischen
Beweis („das Blendwerk, womit die Bewimderer der Gründ-
lichkeit imaerer dogmatischen Vernünfter" nach demselben
Kant „jederzeit hingehalten worden sind"), -gründen. Mabocs
weist auf das „Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit"
hin, das den kantischen Gedankengang sehr klar in der Vor-
rede zur zweiten Auflage giebt. Die Probe auf das Exempel
giebt einen neuen Grund, es für richtig zu halten, aber sie
begründet das Exempel nicht. Kant hätte nicht Kaht
sein müssen, wenn er nicht eine solche Missdeutung hätt«
befürchten sollen und in der That versieht er den betreffen-
den Passus in einer Anmerkung noch mit folgender Warnung:
„Ich stelle in dieser Vorrede die in der Kritik vorgetragene,
jener Hypothese analogische, Umänderung der Denkart, auch
nur als Hypothese auf, oh sie gleich in der Abhandlung selbst
aus der Beschaffenheit unserer Vorstellungen von Raum und
Zeit und den Elementarbegriffen des Verstandes, nicht
' hypothetisch, sondern apodiktisch bewiesen wird, um nur die
ersten Versuche einer solchen Umänderung, welche allemal
hypothetisch sind, bemerklich zumachen." Will man zeigen,
dass Kant apagogisch beweist, so sind also hier die Hebel
anzusetzen. Als unbegründeter, missverstHndlicher Vorwurf
ist ea schon längst ausgesprochen worden.
Gotha, Dez. 1902.
Ludwig Goldschhidt.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Entgegsnng des ReieisenteB.
MsLUJi setzt im Marg. 943 an stelle des Textausdrucks
-tr. Versuche" (11. Aufl. S. 280) den Ausdruck „Trscdtl-
Philosophie", während doch grade an der von Goldsohmidt
zitierten Stelle (S. 766) die Tr.-phüosophie in scharfen
Gegensatz gebracht wird, zu den vorher (s. S. 763) be-
handelten „tr. Versuchen". Mit dieser Identifikation giebt
Mellin eine Auslegung, die in einem Auszug unstatt-
h&it ist.
GoLDBCHMiDTS Ausführung ist daher keine „Berich-
tigung" (die Thatsachen treffen müsste), sondern der
Versuch einer Eechtfertigung der MBDuu'schen Aus-
legung. Ich halte diese Auslegung für falsch.
Aus dem ganzen Zusammenhange ist es für mich selbst-
verständlich, dass die Kritik der reinen Vernunft nur die
reine Vernunft selbst, nicht aber die an ihr geübte Kritik
imd dass die Methodenlehre nur die Methoden der reinen
Vernunft, nicht die Methode der an ihr geübten Kritik,
zu kritisieren beabsichtigt. Diese Scheidimg ist überaus
wichtig; ohne sie entdeckt man scheinbare Widersprüche,
me weiter unten gezeigt wird.
Allerdings greift der Abschnitt über Beweisdisziplin
auf kritische (transcdtl-philosophische) Beweise zurück
(S. 810fr.), aber er bespricht auch mathematische und
naturwissenschaftliche Beweise. Folgt etwa daraus,
dass die Metboden der beiden letzteren zum Thema
gehören? — Weder diese noch die Methoden der kri-
tischen Beweise werden an dieser Stelle kritisiert, vielmehr
wird ihr Charakter nur zur Erläuterung und Begründung
iM,Coo<^lc
234 B. Uarcnsi
des eigentlichen Themas exponiert '). Demgemäss werden
die kritischen Beweise (weil sie sich gleichfalls „eines
ausserhalb des Begiiffes liegenden Leitfadens bedienen")
denen der Mathematik gleichgestellt und in graden
Gegensatz gebracht zu den Beweisen der „tr. Versuche",
welche „noch viel mehr" (als jene) der „Rechtfertigung be-
dürfen". (S. 812), d. h. bei denen man weit vorsichtiger in
der Beweismethode sein muss.
Speziell in Frage steht hier der apagogische Beweis.
Zunächst (S. 817) wird der allgemeine Charakter desselben
überhaupt im Vergleich mit dem direkten beleuchtet luid
zwar sowohl die Nachteile wie die Vorzüge (vgl. besondere
bzgl. des Modus tollens S. 819). Nirgend v-ird hier be-
hauptet, dasser beweis un kr ä ftig d. b. ein blosser Schei n-
beweis sei. Nun erst kommt das eigentliche Thema, näm-
lich der Beweis „tr. Versuche" und hier aber auch nur
und ausschliesslich für diese wird dei" indirekte Beweis für a b -
solut unzulässig imd untauglich erklärt. Die Beispiele
ergeben hier klar, dass es sich nur um spekulative
Versuche handelt. Aber das strikte Verbot ist auch be-
gründet, es ist gegeben, weil diese Versuche „insgesamt
innerhalb des eigentlichen Mediums des dialektischen Scheins"
angestellt werden.
Auf die Traasc. -Philosophie Karts kann sich
dieses Verbot nicht beziehen. Deim sie ist weder ein tr.
Versuch, noch bewegt sie sich ,.innerhalb des dialek-
tischen Scheins", deckt vielmehr diesen als Täuschimg auf
und kann sich (wie die Mathematik) im Gegensatz zur Spe-
kulation eines „ausserhalb des zu beweisenden Begriffs be.-
*) Anoh in dem IhscbDitt betr. die Disäpl. des dofiniat Oebtwioha
weiden die Mathematik and die Irscdtl. Philosophie (3. 747fF.) in glucher
WaiBfl zur Erliuterunfr and Begründung herangezogen. Es war gut,
dass Eakt hier {S. 766) den von mir betonten Vorbehalt (ÄosschliessuDg
der Traodt] Philosophie) machte. Sonst hätte man zweifellos aach diesen
Absoboitt anf sie ausgedehnt. Dieser allgemeine Yorbehalt sagt, dasa nur
die der Kritik uaterliegenden „ Vermöge DBumatäude', nioht aber das
VennBgea tat Eiricbtung des kritischen Oebäudea nnteimudit wenlen
eoU. (Vgl. Kr. 8. 739).
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Entgegntug des BeseBsenteii. 235
liiidlicheii Leitfadens bedienen", hat auch eine apriorische
Übersicht über die Gesamtheit ihres Materials (der Organi-
sation der reinen Vernunft)'), ist daher jener „Subreption"
(S. 820), welche die Anwendung des indirekten Beweises
absolut ausschliesst, nicht unterworfen. Soviel ist sicher,
dass selbst, wenn man diesen ganzen Abschnitt auch auf die
Methode kritischer Beweise ausdehnen .will, man
dennoch aufs schärfst« scheiden muss, zwischen Vor-
schriften, die sich auf die kritischen Beweise und
Vorschriften, die sich ausschliesslich auf die „tr. V e r-
suche" beziehen sollen und das eben ist es, worauf es
hier ankommt.
Ich kann meine Auslegung auf eine Thatsache
stutzen. Kant selbst beruft sich in seiner Trscdtl-Philosophie
expressis verbis auf einen „indirekten" Beweis (in der
Antinoraienlehre S. 534). Er durfte das, weil sein Verbot
sieh nicht auf seine Tr-philosophie, sondern ausschliess-
lich auf tr. Versuche bezog. Er durfte es, weil er hier
nicht „innerhalb" sondern oberhalb „des dialektischen Scheins"'
stand. Er hätte es nicht gedurft, wenn er die Verwendung
des indir. Beweises für absolut unzulässig gehalten hätte;
denn in diesem Falle hätte er sich auf einen Schein beweis
gestützt. Eine eigentümliche Fügung ist es übrigens, dass
ÜELLiK auch an dieser Stelle ungenau ist, indem er
(Marg. 614) das nach obiger Darlegung sehr erhebliche
Textwort „indirekt" weglässt.
Aufrecht halte ich femer, dass Kants Fundamental-
beweis neben dem direkten ein apagogisches Moment ent-
hält (und zwar im modus ponens). Um nicht weitläufig zu
werden, beziehe ich mich auf meine Abhandlung: „Kakts
Revolutionsprinzip (Kopemikan. Pr.) Herford 1902" und be-
') Daher ist hier aogar der apagogisohe Beweis im modus poneue
üoht gniDdsätilich anageHcbloaseu, da EJuh die „Gesamtheit der möglichen
Fcdgenrngen" hier apriori übersehen lässt (S. 818). SoUte Q. das letstere
bestreiteD, bo würde er eich mit Ea.nt in Wideispraoh setzen. Es ist hier
aber auch der eineige Fall, wo ein apag. Beweis ohne Vorbehalt zngelassen
»erden könnte und Kaki macht Gebraach davon. S. unten.
n,g,t,7l.dM,.COOglC
236 E. Marcas:
merke liier nur, dass das apagogjsche Moment in der Ad-
vendung eines „Erscheinungs'' -Begriffes üegt, dem die logische
Idee TOD einem zu Grunde liegenden „Ding an sich" not-
wendig inhäriert, so dass jener Begriff nur gemeinsam mit
«liesem inhärierenden Element auf das Reale anwendbar ist.
Dass die Realität eines Erscheinungsbegrifles, in-
sofern als er ein solches unerkennbares Inhärens (oder
Subsistens) hat, nicht direkt beweisbar ist, bedarf keiner
Ausführung. Von der anderen Seite ist aber der Beweis
durch und durch direkt (ostensiv) geftihrt, sofern man vom
„Dmg an sich" absieht. Denn da folgt apriori, dass, was
in Raum und Zeit auftritt, notwendig nach seiner Beschaffen-
heit (und bezüglich des Daseins dieser Beschaffenheit) vom
Dasein jener Anschauungsformen abhängt. Ein solchergestalt
bedingtes iässt sich aber logisch richtig erst denken, nach-
dem man von der entgegengesetzten Seite das apago-
g i s c h e Moment des „Dinges an sich" herangebracht hat.
Kurz, dieses apagogische Moment ist die Vorau^etzung der
logischeaMOglichkeitdesOedankens,dass„begrifrsunabhängige
Gegenstände sich nach dem Erkemitnisvermögen richten."
Man brauclit zu der von mir zitierten Anmerkung (11.
Vorr. S. XXn) nur den Schlusssatz der Anmerkung S. XIX
hinzuzuziehen, um einzusehen, dass auch Kaut in seiner
„Hypothese" ein apagogisches Moment erkannt«, weshalb
er sie eben vorläufig als Hypothese vorstellig jnachte.
In Kants Beweis stehen also ein direktes und ein
apagogisches Moment in eigentümlicher Wechselwirkung.
Keins von beiden darf für unweseatHch gehalten werden.
Hier ist die letale Stelle des Systems.
£ssen>Kahr. E. Marcus.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Berichterstattung.
WfW¥W9¥W¥W¥9V¥9SW¥^WW¥¥W¥W¥¥¥^9¥¥¥¥¥W99W99
I.
Besprechungen.
fNlldseheld, Bndolf, Zur Ethik des Gesa mt willens.
Eine sozialphilosophisctie Untersuchung, Leipzig, 0. R.
Eeisland 1902, I. Band VI u. 552 S.
Der Yerfuser will eine Ethik konstruieren und zwar als Werttheorie
im Qeiste Benekee und der Eatwickelungstheoria (S. 80). Zu ihrer Qrnnd-
legang bedarf er äoer pBTohologischen Theorie. Er lehnt Wvmii'b ps^oho-
physohen Parallelismna ab, desgleichen die „beschreibende und zeigliedernde
njchologie" DiLTBEYs, nod entscheidet sieh für eine psyohophTSiaahe Aol-
(asBimg im Sbne der „reinen Erfahrang" von Atknikub. Seine Gründe
«nd niolit immer stichhaltig, bo, wenn er behauptet: „Rein Psjobisohee
kommt in meinem Bewosstsein niemals Yor/'
Im übrigen ^bt OoLDecHBii) in diesem ersten Bande nooh nicht den
positiven Aafban seiner Ethik, sondern die Etitik dee bestehenden Oesamt-
willens, des Staates. Er findet die Wurzel alles Uebels darin, dass dieser
.Oesamtwille in Wirklichkeit kein Oeeamtwille ist", worin es auch be-
gründet liege, warum „anser durch die Erziehung modißzierter sozialer Trieb
«na immer wieder in unseren Eguismua zurückwirft". Der bestehende
Staat ist nur der Wille einer 6mppe, nämlich einer Nation, kein Qe-
meinscbartswille ; darum moss er nach aussen egoistisch sein, wie sehr er
nach ionen anch Altruismus predigt. Seine Verbindung mit dem Fiotestan-
tiamus hat ihm nichts genützt. Der Protestantismus hat die Antorittit des
Staates nur befestigt, aber nioht veredalt, weil er selbst, nachdem er die
Temniift im Kampfe g%en den Katholizismus zu Hilfe gerufen hatte, sie
nachher prei^;egeben hat und bei Luther stehen geblieben ist, anstatt seine
Lehre in der lUohtong der Wissenschaft fortzabilden. Der Katholizismus
aber ist der schärfste Gegensatz gegen Vernunft und Wissenschaft und
kehrt ^oh in der Praxis nioht an seine sittliche Theorie (Seite 179). So
ist in nnaerem Zeitalter dee „RentabiliUrismus" (S. 496) „eine Verwilderang
alles Wertem nn^enssen" (S. 100). „Die Vervollkommnung der Maschine
enchunt vielen wichtiger als die Eöherbildung des Typus Mensoh'- (9. 364).
Jede Emmgensobaft der Technik wird mit Jnbel begrfisst, und jedevölker-
veibittdende Idee mit Verachtung zurückgewieaen (8. 494). „Trotz aller
maagdhaftmt Einrichtungen sohreitet auch innerhalb des Beatmenden die
iM,Coo<^lc
Mensclibeit entsohiedeD fort, ihre Zahl wächst an, das Elend TeiringeTt Biuh,
aber ongesichtG der grossen Samme element&rei Kraft, die wir in nnsern
Dienst ^zogen bsbeo, ist dieeei' Fortsohritt minim" (8. 61ö). Solche Ge-
dauken werden nicht immer mit tiefster B^ränduog, aber snoh nie in
trivialer Weise entwickelt, sodass mau dem zweiten Bande mit Interesse
entgegensehen mnss. — Für diesen möchte der Hef. dem Verf. raten,
genauer, mit Angabe der Seite, ^ zitiaren, als es im 1. Bande geeohieht
Leipzig, Paul Babth.
Th. Lipps, Vom Fühlen, Wollen und Denken. Eine
psychologiscbe Skizze. Leipzig, J. Ä. Barth, 1902. Vni
und 196 S. 6,40 Mk.
Die Anzahl der Oefühle ist nnendlioh gross, und dooh sUid sie alle
nur HodifikaÜonen eines einzigen Omndgefähls, des Icbgelühls: sie sied
die anmittelbaren Bewusstseiiiss;mptome davon, wie sich psychische Tor-
fKoge in diesem Ichgefuhle spiegeln. Solche TcrgSnge sind aber ihrem
Irspnuig nach bald etwas uns fremdes, ee sind Wahmehmnngen, bald
•twBB una selbst Angehöriges, als ErinneinngS' und Phantaaievoratelliuigen',
und auch die gegensULndlichen Inhalte, die diesen Vorgfingen eatspTechen,
sind dos eine Mal einem uns Fremden suinteilen, der Welt der Objekte,
d. h. sie sind Wahmehmongs- oder Erinnerungsgegenstlnde, ein anderes
Hai aber aind sie Gegenstände der Phantasie — frei von uns gewoben.
und wir haben ein unmittelbares Bewnsstsein Ton solober
Freiheit und solcher Fremdheit oder Oebandenheit. Dieses Be-
wuBBtsein ist dorchaas zu trennen von dem der EmpündungeD und Vor-
etellangen selbst; es müsste sieh ja sonst als eiu ihnen allen gemeinsames
Emp&ndongs- oder Torstellungselement nachweisen lassen! Thalsächlich
handelt es sich um Gefühle. Und Gefühle begleiten auch die Wirkonga*
weise psychisoher TorgBjige. Psychische Vorgänge wirken gegen einander
oder jedes psychische Geschehen wirkt gegen ^e Hemmung. Hier sprechen
wir Tom Strebnngsgefäbl. Und das Strebongsgefohl ist am so st&rker,
je intensiver einerseits das Geschehen nnd je grösser andererseits die
HemmoDg ist. Es ist aber in irgend einem Grade bei jedem psychischen
Geschehen Torhonden. Dieses Streben ist nun an sich noch kein Wollen,
oder braucht ea nicht zu sein — es ist noch nicht einmal ein Wünschen.
Wollen und Wünschen ist aktives Streben. Daneben aber giebt es passivt
Strebungen: etwas strebt mir entgegen oder strebt in mir, ein Oeduike
etwa .strebt in mir auf." Was aber macht die Aktivität eines Strebens
aas? £s mnss darin mein Ich, die Nator meiner Seele in besonderer
Weise lur Geltung kommen, oder (was dasselbe sagt) es moss von einem
positiven Wertinteresse in mir getragen werden: dos Streben ist mir wert-
voll : ich erlebe Lust, wenn ich es mir als vollendet voisteile. Daa ist der
Fall z. B. beim Streben nach Keichtum. Es kann aber zunächst noch ein
Wünschen Bein; zum Wollen im eigentlichen Sinne vrird es eist, wenn ich
nicht abziele anf ßeichtnm, insofern er mir etwa duroh ZoÜl ia den
8oh<»s fiUlt, sondern auf meine eigene Reichtum schaffende Thätigkeit.
Wollen ist stets Stieben nach einem Ziel, dass duroh eigene Thätigkeit er-
reicht werden kann, in diesem Sinne reden wir auch von äusseren Willens-
handlungen, d. i. von gewollten Bewegungen. — Damit ich ein Bewegnogs-
etrebm erleben kann, muss ioh zuvor die Bewegung erlebt haben — das
ist für LipiM eine selbstverständliche Toraussetzung. Diese Bewegung nun
kann natünioh nicht selbst wieder eine erstrebte sein, ebensowenig aber
iM,Coo<^le
OoldsQheid, Badolf, Zur Etbik des Oesamtwillena. 239
datf eis den ßeflexbewcgiiDgen zngerKhoet weiden — sie stände ja dann
aiuserhalb des psjohiBohen Lebens, es bleibt also nur übrig, sie als
antomatisohe Bewegung aufiofassen, d. h. sie ist eine mir wohl zum
BewoBstieia gekommene Folge von Bewegangsempfindungen, die durch
eines zentralen, aber nicht bewussten Impuls eingeleitet wnrden, über
dessen eretmaligeB Znstandekommen allerdings gar niohts gesagt werden
kann. Hierin liegt indessen noch ein Problem, Salt die gewollte Be~
wegang eintieten, so iqubs — sollte man meinen — zunSobst der Impuls
erstrebt werden: wie aber kann er das, da er doch unbewusst ist? Die
Antwort giebt das auch aonat so wiobtigo Gesetz der psychischen Stauung.
Erstrebt wird zunächst nicht der Impnle, sendern die Bewegung; da diese
aber nicht ohne weiteres erreicht werden kann, entsteht eine Hemmang,
das psychische Cleschehen staut sich und konzentriert sich eben dadurch
auf die Bemmong, und alles, was mit ihr in unmittelbarem payohisohen
Zusammenhaage steht, wird überflutet; dabei wird mithin auch der Impuls
getroffen nnd nnnmebr kann sich die erstrebte Bewegung ohne weiteres
verwirklichen. Man sieht, das zweckmässige Mittel ~ der Impuls — wird
durch die Staunng nur herbeigeführt, nicht aufgefunden, nnd so
verhält es sich allgemein: Zwecke und Mittel giebt es stets erst auf Omnd
einer dnioh zweckTcse Erfahrung geschaffenen Regel. Alle Zwecktbätig-
keit beruht auf einer zweckmässigen Organisation der Psyche
und despS7ohophyst5chenOrgBnismus;und nicht etwa umgekehrt
Eine Art des Strebens mnss noch besonders hervorgehoben werden:
Das Erkenntnisstreben. Hier heisst die Hemmung Widersprach.
Jeder Widerspruch drängt von selbst nach seiner Anfhebang: Sehen wir
unter (scheinbar] gleichen Umständen Terachiedenes eintreten, so entsteht
auch hier eine Stauung, dnrch die ebenfalls Mittel zur Beaeitigung der
Benunung anfgefnnden werden, nur heissen diese Mittel hier Bedingungen
nnd je nachdem Gründe oder Uisachen. So gelangen wir zum kausalen
Denken. —
Wie verkehrt es ist, die Gefühle auf Lust und Unlust einzu-
schränken, zeigt das Dargelegte deutlich; in der That gehören diese ,Wert>
gefnhle" als I^rbungen, die alle Gefühle annehmen ki3nnec, an das Ende
einer Gefnhlslehre. Genauer ergeben sich die Wertgefnble als „unmittel-
bare Bewussts eins Symptome dafür, dass ein psyohisoher Vorgang
in der Natur der Seele günstige oder ungünstige Bedingungen
zur Appereption voründet". Ton den Wertgefühlen fuhrt der Weg leicht
in das ethische Gebiet hinüber, und so bilden namentlich die beiden letzten
Kapitel wertvolle psychologische Ergänzungen zu des Verfassers ethischen
GmndfrsgeD.
Damit habe ich versucht, nicht die Hauptgedanken, aber doch die
vielleicbt wesentlichsten Grundgedanken des trotz seines geringen ümfanges
so rnchhaltigen Werkes wiederzugeben und denke, es sind zugleich auch
die Hauptpunkte hervorgetreten, die die Stellung des Verfassers gegenüber
seinen Fachgenossen kennzeichnen. Inbetreff der Lust-TJnlust-Theorie be-
darf es keiner weiteren Bemerkungen ; vielleicht ist es aber nicht über-
ftuBBig auf den fost diametralen Gegensatz, in dem die iJFFSsche
Willenetbeorie zu derjenigen Wunnis Stent, noch besonders hinzuweisen:
insbesondere haben die Lippssohen Anschauungen mit dem, was man Volun-
tarismuB nennt, nichts zu tbun — trotz der grossen RolJe, die das Streben
in ihnen spielt Aber dieses Streben hat mit dem WcNDTschen Wollen an
sich gar nichts gemein. WmmTS Wollen in LtPFsscbe Terminologie über-
setzt heisst Aktivität im Streben und diese gilt Ltpps als eine ablut-
n,g,t,7l.dM,.COOglC
240 P>n> Linke:
We Tbalsaohe. Am meisten dfirfte abar wohl der Boheinbar aelbatrer-
stiudliohe Satz, daas jades Ziel eine« WolleiiB voriier ungewollt erlebt snn
mü8M, vom Gegner mit Recht angefochten werden.
Im übrigen hat die Arbeit die bekannten Vonäge IiFPiacheT Stduwb-
weise; Kfirze, Prignanz, Elariieit der Sprache; grossen RMohtam in den
AnednickBmitteln: L. venteht es, an« mm wirklichen Erieben dea be-
twhriebenen Thatboetandea in iwjngen, et giebt veränderte nnd matmigfaidi
«bgestofte Bedingangen an nnd nötigt uns, du eigene Erieben sodann xa be-
fragen, wie ee sich den Denen Bedingengen gegenüber verhllt — er pebt
«in pejohologisohes Experiment auoh ohne Apparate.
Leipsiig. PitTL Ijske.
Selbstanzeige.
Xudwlg Bubb«, Oeist und Kßrper, Seele und Leib.
Leipzig 1903, Dürrsche Buchhandlung. 8». Xu. 488 S.
8,50 Mk.
Das Bach hat sich die Aafgabe gestellt die neaardings so vieUach
erörterte Frage über das Verhältnis des Psychischen jtom PhyaisoheD in
nmfassender, mögliohst alte dabei in Batracht kommenden Qeeiohtspnnkte
beräoksichtigender Weise zn behaedelD. Ee lerfUlt in drei Eanptabeohnitte.
Der erste giebt eine Charakteristik nnd Widerlegnng des MateiialismnB,
dessen verschiedene Typen scharf nnteisohieden werden. Der aweite,
qmfangrmohfite leii erörtert die Streitfrage : Psychopbjeisoher Paralle-
liemuB oder psychophysisohe Weehselwirtnog? Die Tereohiedenen
Formnltemngen des parallelistischeD Gedankens werden dargelegt, die
-echten von den unechten unter- and die letzteren aosgeeofaieden. Sodann
werden die Schwiengkeiten, welohe den Parallelismns nnmöglioh ersoheioen
lassen, eingehend erörtert: die ünznläoglicbkeiten der metaphysischen Be-
gründung, das Künstliche und Gezwungne des ganzen Standpunktes, die
Unmöglichkeit, allee Psychische in physischer Form wiedenngeben, andlioh
die Eonuequenzen, zn welchen die Theorie sowohl in physischer (Antomateo-
theorie) als in paychisoher Hinsieht (Hechanisiemng dea gesamten psychiscdien
Lebens nnd Zerstörung des Wesens des logisehen Denkens) führt Bodano
Yersnoht der Verf. zn leigen, dsss die von ihm Toi^^ezogene Weehed*
Wirkungslehre durch das Prinzip der Qeechloesenbeit der NatarkMutBOt,
welohes lediglich eine petitio principii darstellt, nicht unmöglioh gwnacht
wird, mit dem Prinzip der Erhaltung der Buergie (dasselbe als Aeqninlau-
prinzip gefasst) aber sehr wohl vereinbar ist. — Der dritte (Sohloss-)
Teil endlich giebt eine kurze Skizze des metaphysischen Weltbildes, wie es
sich nach ide^istisch-spiritualis tischen Prinzipien bei gleichzeitigem Fest-
halten an dem Prinzip psychophysisoher Wechsel wirkong geetaltet.
k vDD Hu Scbmenoir rorin. Ziüm k Bändel. Klrehb^B N.^
n,g,t,7i.-JM,'COO<^IC
mit ftiHtif t i>#itt tia ttttiktß I
Abhandlungen.
Teratehen und Begnifea.
Eine ps;chologische Untersuchung
von Hermuiii Swobote, Vi«D.
n.
Inhalt.
I . ElnlaltiuiK. — a. AJlcnnsbie Badlngnncni dn Ventaheu. „Dls pijclilKhe SHuttoB".
r^ S- IHa BadlDgiuigfln dm Ventaheni Im duelnai. Braelctinimff und Aiudmek. — 4. GfigAD-
fBuid dv DmJiliiiiiiiB, - - 1. a«|cuBiid und Prinilp du Aiudnck«. — I. Du VenMiea
TlinlnrfbenllieoriB, — fl. IH« Ond« du VanMbnu and du BtfnUeo.
T. Cf^nututd nai Filnzlp des IntdraokeB.
~Wir baben in Kap. 3 alle menschlichen Äusserungen
in Bezeichnungen und Ausdruck eingeteilt und gefunden,
da98 erstere dem wenig aufregenden Vorstellungsleben eignen
und MittäUungszweckeu dienen, während letzterer dem sub-
jektiven BedUrfois der Befreiung vom QeftlhlsUbermass dient.
Dieses Übermass ist natürlich ganz individuell; je feiner
organisiert ein Mensch ist, desto eher wird er sich 2um
Ausdrucke gedrängt flihlen. — Ob es aber überhaupt zu
einem Ausdrucke kommt und wie, darüber folgendes.
Unter Ausdruck, wurde früher ausgeführt, ist im all-
gemeinen eine sekundäre Erregung zu YCretehen; von
diesen !Eh-regungen ist eine AnzaM konventioneU geworden,
d. h. es ist das initergriffene Erregungsgebiet und die Art
der Erregung von Individium zu Individium nicht verschieden.
Von dieser Art sind die Oeberden. Sie nähern Sich schon
TkiM)]ahndirUI t wtecnMluiM. PbfliM. o. BodoL ZZTIL 3. 16
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
342 Herraann Bwoboda;
vermSge ihrer fixen Yerbindimg mit bestimmten GeßUil«!
den Bezeichnungen, sind aber von dieBen doch noch dadurch
getrennt, dass sie jedesmal, so oft sie verwendet werden,
neu entstehen, wtlhrend bei den reinen Bezeichnungen
der Gebrauch nur auf Assoziationen mit den zugehörigen
Vorstellungen zurUckzuflihren ist, Assoziationen, die giuiz
unabhängig von dem erstmaligen VerknUpfungsgrunde wirk-
sam sind.
Die Auedrucksbewegungen sind, wie schon der Name
sagt, sekun(^re Erregungen in motorischen Zentren. Nun
kdnnen aber solche Miterregungen offenbar auch in irgend
welchen anderen Teilen des Nervensystems auftreten, da ja
in demselben bekanntlich alles mit allem zusammenbängt,
etwa im Musikzentrum. Namentlich feinere Geitlhle werden
solcherart durch eine vorläufig ganz auf das Innere des
Menschen beschränkte Ausstrahlung zum Abschwellen ge*
langen. Auf welchem Gebiet die Miterregung stattfinden
wird, ist sehr naheüegend: wo wir geübt sind, wo wir in-
folge Veranlagung innere potentielle Energie aufgespeichert
haben, also beim Maler die Farben- oder Gestaltenphantasie,
beim Tondichter die Klang- oder Formenphantasie u. s. w. ').
AoBdraok ist keineawega auf Kniutwerke besohrftnlti allein da dis
EtuBtler entenG starker primllrer Erregniigan fiUüg Bind and zweitens täo
ansgeEaiohnetoB Gebiet Mr Hiterregungen haben, so Iftsst äoh an densalben
daa Wesen des Ausdrackes am leiohteBten erkennen. Jeder Kflnstlar ist
dadurch bemerkenBirert, dass er irgend ein weit ober den Dnrohsohnttt
entwickeltes Specialsystem hat von groBsem FnuktionsbedürfDiB; das giebt
die spezifische Pharvtaaie jedes EünsBers nnd den eisten ESotulaiigBgniDd
lür dieselben; die Einteilung uaoh den „Aosdnioksmitteln" Sprache, TtSne usw.
verleitet sehr, jenes ursprüngliohe Uoment zn nbeisehen .nnd namenäioh
anter der Bezeiohnnng „Diohter" EünstleT von den reiBohiedensten Fbaa-
tasieanlatjen zn enbenmiereo.
Mit der spezifischen Phantasie ist jemand nur KUnsÜer
für sich. Für andere wird er es erst dadurch, dass er die
Produkte seiner Phantasie objektiviert Beherrschung der
„Ausdrucksmittel" rechnet man ebenfalls zu den Erforder-
Ton Nerruikraft sohlBft offenbar die gewoEnheitamissigea Wege ein."
(Steideb, AbhaadloDg über die Physiologie des lAohens), was bmm Kfiiutlar
soviel heisst, als der Übeisobass erregt sone spsii&ohe Phantasie.
iM,Coo<^le
TeiBtehen und BegreUeo. 243
nissen des Künstlers. Ich setze das ganz gebi^uchliche
Wort „Ausdrucksmittel" unter Anführungszeichen, weil wir
es da mit Ausdruck im vorhin entwickelten Sinne gar nicht
zu thun haben. Auch muss noch obendrein zwischen den
einzelnen Künsten wohl unterschieden werden. Die dar-
stellenden Künste stellen das Phantasieprodukt gleichsam
aus dem inneren heraus, womSgUch nur mit den Modifi-
kationen, welche das Konzept am Material erleidet; hier
geoiesst man das Kunstwerk unmittelbar. Die darstellenden
Künste erfordern eine Technik. Anders bei den redenden.
Die Objektivierung derselben gewährt nur teilweise einen
unmittelbaren Q-enuss: den am Klang und Formelementen
der Eede. Im übrigen ist die Bede nur eine Anleitung,
jene Gestalten, Handlungen U.8.W. in der Phantasie zusammen-
zusetzen, welche das künstlerische Konzept ausmachen. Und
insofern ist die Hede zum grCsaten Teil Bezeichnung. Die
Mitteilungskraft, die ihr der Künstler zu geben versteht, ist
ein gfmz besonderes Können, desgleichen die Handhabung
der Sprache als Kunst, was zahlreiche Kombinationen und
Individualitäten ermöglicht.
Die Objektivierung der Tonphantasie ist ähnlich der
in den redenden Künsten; nur ist es eben nicht jedermanns
Sache, aus einem Notenblatt Musik zu hören, weshalb eine
oder bei Orchesterwerken eine grosse Zahl von interpretieren-
den Mittelspersonen notwendig ist. Von einer Technik als
etwas, was nicht schon mit dem Fhantasieprodukt gegeben
wäre, wie in der Malerei, ist in der Tonkunst nicht die Rede.
Nim kommt aber zu den bisherigen Bestimmungs-
momenten des Künstlers, der spezifischen Phantasie und
seinem Darstellungsvermögen noch eines hinzu. Wir ver-
langen vom Künstler Individualität, wir wollen ihn in seinen
Werken, „er soll etwas zu sagen haben", oder wie immer
man diese Forderung formuliert hört Was heisst nun dasP
Das beste Beispiel bietet die Musik. Es giebt musikalische
Naturen (Mozabt, DvoftAi), deren Phantasie sich in reinen
Fonnkombinationen nach den Gesetzen des. Wohllautes zu
16*
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
844 Harmann SwabvdB:
ergehen scheint und ajidere {Beethoven, Wagner), deren
Konzeptionen immer von der Q^fUhls- oder Verstandessphäre
beeinflusst sind, in denen etwas drinnen liegt, was durch die
musikalischen Elemente nicht mitgegeben ist und doch aus
diesen spricht. Und so gieht ea auch Haler, welche nur
in Farben und Linien schwelgen und andere, die man aus
jedem Bilde klagen oder jubeln hOrt Erinnern wir uns nun
an das über die sekundäre Erregung Gesaf^. Es ist bei
der allgemein erhöhten Empfänglichkeit der KQnstJematur
ganz selbstverständlich, dass sich alle Erregungen auf dem
Gebiete der Lieblingsbethätigung äussern werden; die Er-
regung fliesst nur im ausgewaschensten Bett ab. Auf diese
Weise wird aber die spezifische Phantasie beeinflusst.
Ohne einen eigenen Ausdruckswillen wird die sekundfire
ihregung die spezillscbe Phantasie doch modifizieren. Allein,
wenn auch kein Ausdruckswille da ist, so kann doch ein
starkes AusdrucksbedUrfnis da sein, d. h. Bedtlrfhia nach
Verteilung der Erregung und damit verbundene Abschwächung
derselben. Und das AusdrucksbedUrfnis, in seiner besonderen
Art und besonderen Stärke, wird die ganee Person des
Künstlers charakterisieren.
Dieses dritte Erfordernis in seinen vielfachen Mischungs-
verhältnissen mit dem ersten, giebt wieder eine Beihe
Künstlerindividualitäten. Bei denen mit lebhafter spezifischer
Phantasie tritt das AusdrucksbedUrfiiis häufig ganz in den
Hintergrund; das sind die heiteren „olympischen" Naturen,
mit der Lust am Fabulieren. Bei den titanischen Natoion
steht die spezifische Phantasie ganz im Dienste des Aus-
druckes, sie wird zum Spiegel des reichen Innenlebens, ihr
Funktionieren ist nicht mehr Selbstzweck. Schlieselich kann
die spezifische Pbuitasie im Verhältnis zum Ausdm«^-
bedürfnis sehr kümmerlich sein, so dass sie überhaupt nur
auf „Anregungen" thätig ist, dass sie iofolgedessra ganz
in Abhängigkeit gerät und ihre eigentümlichen Gesetze ver-
nachlässigt: ein in der neueren Entwickelung auf allen Ge-
bieten sehr häufiger KUnstlertypiu. Beim echten Künstler
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
VeTBtsbtn niid BegreiletL 245
fliesst das GefUbl, das ihn gerade beseelt oder zum Schaffen
drängt, nur ins Konzept ein, es giebt der spezifisclien Phan-
tasie nur eine gewisse Richtung, ohne die Selbsttbätigkeit
deraelben aufzubeben, es liefert für das sctüiessliche Besultat
eine scbv&ohere Komponente. Die Künstler von Gnaden
der Leidenschaft hingegen entbehren der spontanen Phantasie;
der Hochdruck des Gefühls macht sie nur geschickt in der
Verwendung ihrer geringen Anlagen, ihre Gleniahtät besteht
nur in der Art wie sie sich im Leben behaupten; sie brauchen
daher schwierige Verhältnisse, um etwas zu sein, suchen
»uch wohl solche Verbältnisse geflissentlich; sie brauchen
einen Lenz, der für sie singt. LebenskUnstler sollte man
diese Art von Künstlern eher nennen. Ihre Kunst ist ihnen
ein Mittet zur Selbsterhaltung. Jeder Mensch hat eine
Zeit erhöhter Empfänglichkeit und dräuender Gefühle; da
wird auch jeder zum Künstler.
Ausdruck, können wir nunmehr definieren, ist die cha-
rakteristische Modifikation eines Vorstellungsge-
gebietes durch sekundäre Erregungen. Die primären
Erregungen sind Gefühle. Gefühle sind der Gegenstand des
Ausdruckes. Unter diesen Gefühlen wird man aber nicht
nur solche zu verstehen haben wie Sehnsucht, lebhafte
Freude, die zum Ausdruck drängen, sondern auch Gemeiu-
gofllhle, alles was das Bouquet einer Persönlichkeit ausmacht,
was bei ihrem Schaffen wirksam ist, ohne zum Bewusstsein
zu kommen. Die Frage ist nur die, wie diese Gefühle ihren
Einfluss geltend machen und insbesondere, inwieweit sie die
spezifische Phantasie eindeutig bestimmen. Dies soll an
dem Beispiel der Musik erörtert werden, — le langage
^motjonnel nennt sie Ribot — welches einmal sehr aktuell
ist, dann aber auch die Gegensätze zwischen ireier und
dienstbarer Phantasie am schärfsten aufweist.
Man hat der Musik das Kecht abgesprochen, etwas
auszudrücken, einen Inhalt zu haben; ihr ganzer Inhalt
soll in ihrer Form bestehen'). Und sie solle das Ausdrücken
iM,Coo<^lc
246 HarmaDD Bwoboda:
bleiben lassen, weil sie dazu ungeeigoet sei. Ganz im Gegen-
satz zu dieser Forderung gewiegter Theoretiker stehen
einerseits die Zeugnisse sctu^ender Künstler, welche sich'
„jedes Leid von der Seele" sangen, andererseits so vieler
Geniessender, denen die Musik alles Unaussprechliche sagt,
das Höchste, wovor die Kraft der Sprache erlahmt, denen
Musik die Sprache der Engel ist, eme Offenbarung ohne
gleichen. Prüfen wir nun diese drei Standpunkte, gebühi^
licherweise zuerst den des Künstlers. Das subjektive Ge-
fühl, sich von etwas befi^it zu haben, kann ihm niemand
bestreiten. Desgleichen kann man niemand das Vergnügen
ausreden wollen, aus der Musik das heraus zu hören, was
in sie hineingelegt ist, sich durch die Musik die Bedrängnisse
der KUnatlerseele mitteilen zu lassen und gleichzeitig die
Erlösung von denselben zu geniessen. Der Kritiker erhält
erst das Wort, wenn der Komponist etwas ausdrucken will
und verlangt, dass man sein Produkt in gewissem Sinne
auslege, verstehe, und wenn der begeisterte Zuhörer aus
dem subjektiven Gefühl seiner Befriedigung heraus Kunst-
normen aufzustellen beginnt Die obige kritische These ist
auch nur per oppositionem entstanden; zum mindesten er-
klärt sich so ihre Überspannung.
Das Gefühl des Künstlers ist für die Ausdrucksfähig-
keit der Musik kein Beweis; allein auch ihre Eindrucks-
föhigkeit ist noch keiner. Der Kllnstler ist in einer leicht
begreiflichen Täuschung befangen; er unterschätzt den innigen
Zusammenhang seines Werkes mit seiner ganzen Individu-
alität und schreibt den Dienst, welchen es ihm geleistet hat,
dessen objektiver Qualität zu. Die Befriedigung, welche
das Schaffen gewährt, ist beim Dilettanten nicht geringer
wie beim gottbegnadeten Künstler. Dilettanten findet mim
ganz bestürzt über die Wirkungslosigkeit eines Liedes, in
welches sie ihr ganzes Selbst hineingelegt haben. Die Ein-
drucksfShigkeit der Musik ist kein Beweis für ihre Ausdrucks-
fähigkeit, weil der Eindruck offenbar von einer Eeihe von
Umständen abhängt, deren HerbeiMunng nicht in der Macht
n,g,t,7l.dM,GOOglC
T«n(«hen nnd Begrrifan. 247
der Musik liegt. Der Eindruck lässt sich mit einem Wort
nicht erzwingen, es gehört guter Wille dazu. Und wenn der
Eindruck BcÜiesslich da ist, so ist er oft ganz TerscMedeo.
Sehen wir daher von den Aussagen des Künstlers und des
Hörers einstweilen ab und suchen wir das Thatsächliche an
den zugrundeliegenden Verhältnissen zu ermitteln. Zuvor
jedoch sei ein sehr häufiges Missverständnls beseitigt, welches
durch die Zwitterbedeutung des Wortes „ausdrücken" ver-
schuldet ist. „Ausdrücken" wird vielfach in der Bedeutung
von „Bezeichnen" verwendet; so spricht man von einem
„guten Ausdruck" von „Ausdrucksmitteln" nnd meint damit
das, was wir früher als „Bßzeichnung" eingeführt und
gegen „Ausdruck" scharf abgegrenzt haben'). Als nun die
Musik sich vermasB, die Deutlichkeit einer Bezeichnung zu
erlangen, womit sie allerdings ihre Grenzen verkannte, ver-
wehrte man ihr nicht das Bezeichnen, sondern das Aus-
drücken. Man warf Bezeichnen und Ausdrücken zusammen,
und weil sie nichts bezeichnen kSnne, so könne sie auch
nichts ausdrücken. Weil sie nicht imstande sei, in mir die
Vorstellung eines Schwertes, eines Wurmes, eines Ringes
mit der Sicherheit einer Wortbezeichnung zu erwecken, so
sei sie auch ohnmächtig, eine Gemütsbewegung mitzuteilen.
Nimmt man noch hinzu, dass es Musik und gute Musik giebt,
die gar nichts ausdrückt, die reines Spiel der Phantasie ist,
so hat man alles, was zum Verständnis obiger Theorie oder
viehnehr ihrer Vertreter notwendig ist.
Lassen wir es nun vorderhand dahingestellt, ob Musik
nicht doch auch bezeichnen könne und sehen wir, wie es mit
ihrer Ausdrucksfähigkeit steht, worunter wir gar nichts be-
') (Hubio is «n expreasiou ot emotioD, speeoli the expresnon o(
thon^t- Willasohek, On the ondn of mosio. Hind XVI B. 383. DebriKens
anoh WvNDT, Fhysiol. FByob., II S- 599: „Erst die höhere fintwiabemng
dee Bewosstseins, welche der HeiiEoh erreicht, m&oht zum Anadmok
Duumigfaoher Toretellangen und Begriffe ßhig". .A.nBdraok*' ist
zwar bei Wdnim k^n terminns, aber immerhin eine bedenkliche BqniTo oatio.
Eb wire zweckmässig, Ansdmok uuä BexeiohnuDg anter dem BagriS der
Ajnssemng ra veieiiugan, wie es ja Wcnst einiga Zeilen später thnt,
innarbalb deeselbeu jedoch streng za natersoheideii.
iM,Coo<^lc
848 Hfrmann 8w«bo4it:
greifen, als dass sie durch G-efUhle stark uiid bestimmt be-
eiafluast werde. Kann sie füberbaupt beeinflusst werden,
dann drückt sie auf jeden Fall etwas aus, ob man mit ihr
etwas ausdrücken will oder nicht; die ausdruckslose Musik
drückt einfach aus, dass ihr Schöpfer nichts auszudrücken
hat, also sich im Zustande ruhiger, glelchmässiger G-lilck-
BeHgkelt befindet, mid sie macht auch diesen „Eindruck". Es
ist früher bemerkt worden, Erregungen modifizieren
die Thätigkeit der spezifischen Phantasie; in jenen Eüllen
aber, wo die Erregungskomponente gross Ist, wo es zu
einem beabsichtigten Ausdrücken kommt, da wird man
eher sagen können, die primSre Erregung hat sich den
Verhältnissen des sekundären Erregungsgebietes angepasst,
sie hat Ihre Formen mit anderem Inhalt erftUlt. Dies
scheint der springende Punkt zu sein; Die charakte-
ristischen Formelemente des Gefühls werden auf ein
bestimmtes Vorstellungsgebiet übertragen. G-ehen
wir dem Sachverhalt an der Hand eines Beispieles nach.
Der Tondichter will ein Stück komponieren, dessen Inhalt
Liebesleid und LiebesluBt ist. In einem Vorspiel dazu soll
die ganze G«fühlsskala der Liebenden, namentlich das Sehnen
zum Ausdruck kommen. Nun ist Sehnsucht nichts sozusagen
I^mktuelles; es ist ein Komplex von zeitlicher Ausdehnmig,
durch eine Reihe von Forraelementen charakterisiert: durch
die periodische Wiederkehr des Bildes der Geliebten, durch
das angestrengte Sich — ausstrecken nach der Entfernten,
das gewaltsam gesteigerte vergebliche Hinlangen, Yer-
zweiflungskrisen mit jähem Schwinden alles BewusstseinS'
Inhaltes, tiefer Niedergeschlagenheit, wieder aufkeimendem
Verlangen u. s. w. Man könnte danach eine Kurve der
Sehnsucht konstruieren, erst langsam, dann jäh ansteigend
und sofort jäh abfallend; doch diene dies alles nur dazu, um
festzustellen, dass der Verlauf des Komplexes „Sehnsucht"
charakteristische Formelemente enthält und da nun die
Musik „nichts als Form ist", so fällt es ihr nicht schwer,
dieselbe aufzunehmen. So erhalten wir langgezogene, aU-
iM,Coo<^lc
249
miOtiich aufsteigende Themen der Streicher, Äüschweliea und
Abschwelien der Orchestennassen, jäh emporeausende Violin-
passagen, jähes Herabstürzen und Verklingen zum Pianissimo
u. 8. w.'). Es ist hier nicht der Ort, diese Gleichheit der
Formelemente ins Detail zu verfolgen, soviel scheint sich
jedoch aus dem Vorhergehenden schon zu ergeben, dass in
ütr das Wesen des Ausdruckes besteht*). Der Gleichheit
geht natürlich eine Gleichrichtung vorher, dies ist aber nur
eine notwendige Folge der gleichzeitigen Thfttigkeit zweier
Partialsysteme, deren Natur wie die des gesamten Nerven-
systems die Ökonomie ist. So erklärt -sich auch die Er-
leichterung, welche der Ausdruck gewährt: erst die Gleich-
heit irgend welcher Formelemente ermöglicht das Über-
greifen einer Erregung, ihren teilweisen Ablauf auf zwei
Gebieten und die Abschwächung ihrer Intensität.
lob rersteha 3aher niobt, wie man beim Ausdruck voa einer Yer-
■ tärkQBg darcb Empiadnogen Anderer Gebiete iwlen kann, iris ee z. B.
WuNDT that, Phre. Fayeb. It 8. 603: ,Du Frioiip der A»ooiatii]ii uiaioger
EropfindaiiKen (2. Prinzip dar AuHdrucksbewegimgen) Btätzt siob ftuf die
mehrfitoh Darroi^ehobeue Thatsaobe, dasa SlmpflnduDgen von fthnlioben
OefäblatöneTt leidit siob Terbinden and gegenseitig Tere^ken;* ferner
B. 612 und 613, wo er von der Eluiggeberde Mgt, sie .biete der ftnsBeren
TontellDiw nne doppelte enbjektive Vetstttrknng dar". Will der.
jonige, welober im Zom vom Sitze anfspriiigt oder Olässr nod Teller zar-
tr^BUDBit, Minen Zorn Teratirketi? Oder wenn jemand Tor Freude zu
ni^en und jubeln beginnt, will er seine Freude eibölien? Ja, sie wird
erhötit, indem man siob durob ibre Aensserung von der tTnlust be&eit,
welcba die Sbermissige Spannung mit sieb bringt. Das plus stammt also
aoa einer Tarmiaderung von Uolnst; es ist kein positiver Zuwaoba.
Warum können siob wilde Völker, die noob voll ungezügelter Erregung
siwl, im Ausdruck niobt genug thun, so dass sie gloiobzeitig singen, tanzen,
*) Das Elangelement kommt für den Auedmok in unserem Sinne
tm wenigsten in Betrtuht — inne Wirkung beruht zum grösseren T«l
auf den Anali^eu der EmpfinduDg — , weit mebt die Rythmik im weiteren
Sinn und die Djnamik. Orosse Unklarheit hierüber bei Wünot. Ygl. Phys.
P^ a.&13: .Wie in der Musik der Klang benütat wird, um das Wecbseln
und Wogen der Beföhle zu sobildem, so wird er in dem Sprachlaat zum
Symbol dar VoiBtallnng*. In dieser Form ist die Parallele gane nnyeisttnd-
liöb. Doch iKitt sie das im Text Ausgefübrte durohblicken : Gefühle und
Torstellangen mit bestimmten Formelementen können diese durch die ent-
spreehenden Ilaanita der Hoeiti oder Sprache snsdrüoken.
iM,Coo<^lc
250 Harmann Bwoboda;
Durah die ünlaet des Nichanssernbönnens vird dio Treado oft
g&ns pualyueit, wie umgekelirt ein Leiden daroh die Wonne einer ge-
hSrigen EntUdang fOi den Aogenbliok gani rerdrängt werden kun. Huit
Stout ukch der Szene mit E^atbetbl Diese Wonne verleitet aooh wohl
(degentlioh zu einer abüohtliohen Teriingerang des BnlJadnnp proaocfliH
xmi Featbaltnng der eiregenden VorateUongen ; so , redet min ddi in deo
Zorn hinein." Dsza ttigt übrigens auol) der Umatud bd, daas die Tor-
etelliingen wtthreod der Aeussenmg klarer werden, dass endlieh (Ue «ne-
filösten Bewegungen wieder anderweitige VeiSndenin^ herbeiffilmn, der
irkolatioii, Bespiration n. s. w. Es erhellt also ans diesem Beispiel kemta-
wegs, daes der Ansdmok eine Teistärkong der ßefähle nnd Affekte mit
Biöh bringt Warom werden ferner not La9tgeftUile veretkrkt, ünlost-
gefdhle herabgemindert? Ein deotUoher Beweis, dass Aasdraoksbewegnngen
nnd Ausdruck im allgemeinen eine selbständige Quelle Ton lÄst
sind, oder Ton Unlust bei Behinderung am Anedmok.
Je Stärker die Erregung, je anhaltender, desto grösser
ihr uniformierender Eintluss. Daher das Zeugnis grosser
Komponisten, dass sie zur Produktion eines beBtinunten
Opus nichts nötig hatten als eine Stimmung, ein Geflihl
klar und deutlich festzuhalten, wodurch sich die Formimg
der musikalischen Elemente von selbst ergab. Dieses Zeugnis
scheint mir am meisten für das dargelegte Ausdrucksprinzip
zu sprechen. Es dürfte ein spezieller Fall von „Bahnung"
vorliegen.
G-evisB wird man oft mit Ähnlichkeitsassoziationen sein
Auslangen finden, allein das setzt voraus, dass schon eine
ähnliche Vorstellung i. e. eine Vorstellung eines anderen
Sinnesgebietes mit identischen Formelementen vorhanden ist,
während es sich in raner Reihe von Fällen augenscheinlich
um ein Ähnlichmachen handelt. Die psychologische For-
mulierung dieses Prinzips tSMt allerdings etwas schwer, da
wir es nur mit dem Produkt des „Anähnelns" zu thua haben,
was zur Annahme einer successiven Assoziation leicht ver-
leitet Der Prozess, der dazu führt, ist ein rein physiologischer,
den man sich höchstens mehr oder minder zutreffend ver-
sinnlichen kann.
Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir nunmehr der auf
einem ganz bestimmten Eunstgebiet gewonnenen Definition
des Ausdruckes eine allgemeine Formulierung geben und
sagen: Ausdruck ist der durch die gleichzeitige Er-
iM,Coo<^lc
VerttBhen nnd BegrtiftD. 261
reguDg zweier Nervengebiete infolge des durch-
gängigea ZusammenhangeB des Nervensystems und
dessen ökonomischer Natur bewirkte ani-
formierende Einfluss auf das beweglichere der be-
treffenden Gebiete. Die ausserordentliche Beweglichkeit
der musikalischen Phantasie und ihr Formenreichtum machen,
dass sich das Wesen des Ausdruckes an ihr besonders klar
erkennen lässt').
Nach dieser Definition des Ausdruckes ist nun z. B.
auch die Grundlage der Graphologie klar.
Die mimische Kunst besteht in nichts anderem als
im Übergreifen einer Erregung auf eine Beihe von motorischen
Zentren, die infolge hoher Entwickelung und Ausbildung
zu grosser Empfindlichkeit gelangt sind. Allein auch alles,
was mfm gemeinschaftlich als „Einfluss" bezeichnet — - wo-
') Bmoi (£sni bot Timag. creati.) befasut Bieb ziemlioh Biogehend
mit der Jfrago der tnnsposttion naturelle qoi s'opere ohez les mosiateus,
kmniut abw nur m dem onbestiiDiutan Besnltat; uns expreesion exterieure
üo interieoTe, an eT^ement qneloonqae, möme ans idee metuhyBiqna
Bobineot nne metamorpboee d'nDe natnre determinee (S. 179). Dagegen
giebt WiusBE (PeyfAuAoffseta Analyse der fisthetiaiiheD EiDfühlnng, Zeitsohr,
f. PBydi. nnd RiymoL der Binnesorg., XX7. Heft 1 und 2, 3. 40ff.j eine
sehr Entreffende fiesohieibuug das Thatsichliohen mit Eilte des Begriffs
der Oeetaltqnalität Dia mostkaliBohen Gebilde nehmen die OeBtaltqniuilftt
der dannstellendan Oeföhle an, waa dadurch mö^ich ist, daas .die Oe-
Btaltqaalitaten anch bw Tersahiedeabeit der Blemente gleiob sein kännen".
Eb findet ein Transponieren im weiteren Btnne statt. Natürlich kenn dies
nnr bei jenen Gefühlen statthaben, die einen Tielgliedrigen Komplex dar-
stellenj nicht beim blossen „Gefühlston" nach LEmuNys Beieichnong, bei
der Stunmnng, Diese letzteren kommen daroli die Analogien der Einpfindnng
zom Anadmok; wie mir indes scheinen will, dnich Farben bwser als
durch Töne.
Hadbiqseb a. a. 0., S. IST, sprioht von der .UebereinBtimmnng der
Tongebilde mit den in den Anadracksapporaten hermhenden Bewegungen ".
Er betrachtet also, wie besonden ans S. 141 erhellt, als das anssoliliesslioli
Formgebende die mit «ner Oemtitsbewegong verbundenen Organbewegnng«),
Aenderongen dar Baspintion, Zlrknlatian. Hieimit wflrde die Ansdnioks-
fUiigk«t der Mnsik auf Affekte eingesohr&nkt HiatBacbe ist, dass die
AffiSte inlbl^ der dentUdiea Organbewegnngen die Uebertragong der-
selben auf die mosikalisoheQ Elemente sehr erläcbtem.
VnsiunK (Gedanken übet Mnsik bei lieren und Menschen in den
Anfs. Qbw Tererbnng. Jena 1692. B. 596j spricht aach von der „vandei-
baren Feinheit, mit welcher nnsere Hnsik die ganse lonlnter mensohlioher
Stimmungen dJKstallt, wie eine Zeiohnnng Formen darstellt". Oestalt-
qnalilfttl
iM,Coo<^lc
252 EsrmaBm Swobod«:
durch das Moment der Unifonmerung treffend hervorgehoben
irlrd ~- ist nichts anderes als Ausdruck im obigen Sinn;
der Unterschied ist nur graduell. Es ist ganz gleichgUtig,
ob der Einfluss ein äusserer oder innerer ist; das Sdiritt-
halten, das Takthalten konunt nur auf ein {(konomischea
Zusammensein der Empfindungen verschiedener Sinnesgebiete
hinaus'). Alle Nachahmung hat hierin ihren Grund, soweit
dabei die Uniformierung in Frage kommt, daher auch die Ono-
matopöie. Die Einflüsse, denen wir bei unserem theoretischen
und praktischen. Verhalten ausgesetzt sind, sind zahllos, un<
kontrollierbar. Ich habe ge^den, dass das Papierformat,
dessen ich mich beim Schreiben bediene, einen Eiufluss auf
meine Satzbildung ausübt; desgleichen der Umstfuid, ob ich
kuixent schreibe oder stenographiere.
Vorstellungen werden bezeichnet, Gefühle aus-
gedrückt, habe ich früher gesagt; dies erfordert eine teil-
weise Berichtigung. Da nänülch den Vorstellungen meuich-
mal sehr charakteristische Formelemente eignen, so ist es
von vornherein klar, dass dieselben einen uniformierenden
EinfluBs werden ausüben können. Die Vorstellung eines
Wunnes z. B. (Wunnmotiv). AUeüi dieser Ausdruck einer
Vorstellung ist von dem des Gefühls doch sehr verschieden.
Für Künstler und Hörer einmal dadurch, dass mangels einer
starken Erregung die Musik des Chtu-akters einer Befreierin
entbehrt; für den Httrer aber ausserdem noch dadurch, dass
ihr Beneichnungswert sehr gering ist. Wie vielen Gegen-
ständen kommt das nämliche Formelement zu! Gegenständ-
liche Vorstellungen sind durch das, was die Musik aus-
drücken kann, nicht eindeutig genug bestimmt; das Vor-
stellungsgebiet ist zu gross und unübersichtlich, als dass
man mit der richtigen Vorstellung leicht reagieren könnte.
Allerdings wird von Programmmusikem vielfach nur verlangt,
dass man Vorstellungen ausgedrückt finde, nachdem einem
dieselben durch die Schrift betgebracht worden sind; es wird
>) Bin udeiM Beinpiel: Dar ZiuBmBMBbux iwisohflii Buktompc
und KörperllDge. Tgl. Lotzk, Mikrokosmos, II. 5. 253.
iM,Coo<^lc
VentohM ODd BdfTrifkD. 258
Dur an das VergleicbeTermCgen, nicht an das Beaktions-
vermögen appelliert.
Unsere GefUblaskala ist nicht so reich; da ist es
schon eher möglich, dass man das Gefllhl unterlegt, welches
am Konzept mitformte. Davon wird übrigens erst später
die Rede sein, wenn es sich um das Verstehen von Aus-
gedrücktem handelt. Hier sei nur ausdrücklich darauf hin-
gewiesen, dass es fUr die Ausdrucksfähigkeit der Musik
ganz ^eichgiltig ist, ob sie Eindruck macht. M^i bat hier
nicht immer genügend geschieden; man bat die Musik zu
einseitig vom Standpunkt des Hörers betracbt«L
Es ist des Öfteren eine mittelbare Ausdruckbarkeit von
Vorstellungen behauptet worden. So soll die Vorstellung
eines blanken Schwertes dadurch auszudrücken sein, dass
man das freudige Oeflihl ausdrückt, welches durch den An-
blick des Schwertes in einem kühnen Jüngling geweckt wird.
Die Sicherheit der zutreffenden Reaktion wird nun auf diese
Weise gewiss nicht erhöht. Aber ein richtiges Moment wird
durch jene Behauptung hervorgehoben. Blosse Vorstellungen
haben wir nicht; besonders die bedeutungsvollen Vorstellungen
des Künstlers werden stets von lebhaften Gefühlen begleitet
sein und diese werden, wenn er es auch nicht beabsichtigte,
seia Konzept beeinflussen.
Wenn vom Ausdrucksvermögen der Musik die Rede
ist, nennt man meist in erster Linie die Analogien der
Empfindung; auf ihnen „beruhe die MögUchkeit, mit Ttinen
zu mtüeu" (Wdhdt). Die Sicherheit, mit der die „analogen
Empfindungen" einander reproduzieren, ist in der That sehr
gross; ein geschickter Instrumentator kann daraus bedeutenden
Nutzen ziehen. Infolge der mnigen assoziativen Verbindung
iddiem sie sich indes schon Bezeichnungen; sie sind kon-
ventionelle Ausdrucksmittel. Da diesen Analogien der
^pflndungen „fast immer eine Beziehung in den Verhält-
lÜBsen der objektiven Sinnesreize zu Grunde liegt" {Wuhdt)
and solche BeziefauDgen schlirasUch luich zwischen den Ton-
konqilexen und den Gefühlen besteben, deren Ausdruck jene
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
254 EermsiiD Swobod»;
sind, so entstellt die Frage, ob es nicht auch hier zu einer
assoziativen Verbindung und zu konventioneUem Ausdruck
kommen könne.
Die Antwort kann nur in bejahendem Sinne ausfallen.
Jeder, der durch Musik etwas ausdrücken will, hat zuvor
schon Musik gehtJrt. Wir greifen der folgenden Untersuchung
bereita etwas vor, wenn wir bemerken, dass sich zuerst an
gehörte Musik und deren Vorstellung GemiltszuBtände mit
gleichen Formelementen assoziieren, also etwa an bewegt«
Rhythmen G-emUtszustände mit erhöhter Pulsfrequenz. Die
Folge davon wird sein, dass jemandem, der freudige G«fBhle
durch Musik ausdrücken will, einige Elemente derselben
durch blosse Assoziationen zuiliessen werden, dass also nicht
der oben geschilderte Uniformierungsprozess vor sich geht,
sondern das bewShrte, traditionelle Resultat desselben einfach
Ubemonunen wird. Allein der Vorrat an konTentionellen
Ausdruckselementen reicht nur für die gröbste Charakt«ristik.
Wollte der Ausdruck für individuelle Feinheiten konven-
tionell werden, dann dürften diese Feinheiten nicht indi-
viduell sein. So bleibt neben allem konventionellen Aus-
druck noch ein weit grösseres Gebiet für den, wie maa sagen
könnte, originellen oder freien Ausdruck, wo thatsÄchhch
noch ein Anpassen von Formelementen stattfindet, nicht ein
blosses ßeproduzieren assoziierter. So kann die Musik zum
Ausdrucke von NationaleigentUmlichkeit«n, zum Ausdruck
des Zeitgeistes, individuellster GefUhlserregungen dienen,
sie kann vermöge des oben entwickelten Ausdrucksprinzipes
aus der Sphäre des Unbewussten reichlich beeinflusst werden
und solcherart, was keinem Smne zugänglich ist, zu G«hQr
bringen: Kein Wunder, wenn man sie als die eigentliche
Vermittlerin zwischen diesseits und jenseits hingestellt, wenn
sie in der Mystik von jeher eine grosse Bolle gespielt hat
Die musikalische Phantasie als feinstes Beagens auf alle
innerpolitischen Angelegenheiten des Nervensystems, steht
in der That mit den geheimnisvollsten Tiefen der Menschen-
Seele in Fühlung; wenn man von ihrer metaphysischen Natur
iM,Coo<^lc
Veratehen and Begreifen. 255
spricht, hat man nicht ganz Unrecht, Sie ist ein fanios
unterrichtetes Korrespondenzbureau, dessen Meldungen aller-
dings chiffiiert ausgegeben werden und daher zu sehr
mannigfachen Deutungen Anlasa geben.
Alle menschlichen Äusserungen sind Bezeichnung oder
Ausdruck. Wir haben als besonders geeignet zum Ausdruck
die Musik erkannt. Im folgenden soll nun die Ausdrucks-
fähigkeit der Sprache betrachtet werden, wieder vorläufig
ohne BUcksicbt auf ihre EindrucksfUhigkeit. Es wird die
Frage sein nach jenen Elementen der Sprache, welche zum
Ausdrucke in Folge ihrer Beweglichkeit, des möglichen
Formenwechsels geeignet sind. Da hat nun die Lautsprache
vor dem geschriebenen Symbol einen grossen Vorspnmg.
Die grosse Modulationsßlhigkeit der Stimme giebt dem ge-
schickten Rezitator mehr Ausdrucksbehelfe als der raffi-
nierteste Instrumentator mit allen Kombinationen sich an-
eignen kann. Vom Oesang bat Übrigens alle Musik sowie
der lautliche Teil der Sprache den Ausgang genonunen: die
gleiche Abstammung erklärt die gleiche Ausdrucksf&higkeit»)-
Wieder wird man auch bei der Sprache unterscheiden können
zwischen konventionellem und originellem Ausdruck: der
erstere durch den Verkehr herausgebildet und fUr generelle
Anlässe, der zweite von den Seltenen für Seltenes geschaffen.
Der Unterschied zwischen dem routinierten Schauspieler und
dem mit persönlicher Kotel
Die gesprochene Sprache hat gegen früher an Bedeutung
sehr verloren. Die Hörer sind viel seltener geworden als
') Tel. SmcER, EssttTS II, S. 421; All Bpeeoh is aompoonded of two
elementB, tbe words and the tonee in wbioh the; are nttered — the
aigM of ideaa and the Bigna of feeUaga (Bezeiohniuig und Anadniok).
^nüle certuu artioalatioDa ezpreaa the thoaglit, oartaiti modnlatioiiB
■xpress the more or lese of pain or pleaBare wniah the thougbt givse.
Üaiiig the void oadenoe in an unnsnallf extonded badbo, aa oomprehendiug
all vaiUtJona of voice, we ina; eajthat oadence ia the oommeiLtarf of
tbe emotions npon the ptopoeitiOD of thS iDtellect." Daa aind
Thotaachen, an denen aioh nichts ändert, wenn man auch über das Tei-
hUtnia von Hnaib oud Sprache anderer Ansohaanng ist wie z. B. WnmiT,
der tine „geBanj^hnliohe Form der Bede* als Ansgangsponkt der Eot-
iriekelnog von Ooeang nnd Bede Bonimmt (PhTs. Psych. II 8. 630).
iM,Coo<^lc
256 Earmaiin Svobods:
die Leser; die Dichter sind voll Rtickaicht gegen diese, selbst
in BUbDenwerken. Es fragt sich mm, welche Ausdrucks-
mittel gewährt der tote Buchstabe? Oder welchen Einflüssen
ist die Wortphantasie, ist der Stil zu^nglich? Hier wird
man nun finden, dass die Verhältnisse für den Ausdruck sehr
ungünstig sind; die Klagen über die Ohnmacht der Sprache
haben hauptsächlich darin ihren Grund, dass sie nicht un-
mittelbar im Stande ist, uns zu befreien. Das sekundäre
Erregungsgebiet, welches sie repräsentiert, ist zu starr, es
nimmt nichts an. StUeigentUmlichkeiten wie breit, knapp,
üppig, karg, haben schon nur eine Bedeutung als Ausdrucks-
mfttel, wenn man an das entsprechende Bedetempo denkt,
wenn Dichter und Leser in Q«danken reden. Die Freiheiten,
welche die Syntax gewährt, sind allerdings ebenso viele
AusdmcksmSglichkeiten, aber verhältnismässig gering an
Zahl und zumeist in Erbpacht der Konvention. Für den
Künstler, als Ableitungsmittel hat das blosse Sprachaymbol
eine sehr geringe Bedeutung. Allerdings ist zu erwähnen,
dass gerade der Dichter mit seiner gesteigerten Erregungs-
fähigkeit meist ein innerlich sprechender sein wird. Er
braucht indessen hierin keineswegs sonderliche Öaben zo
entfalten; er kann ein guter Dichter sein, ohne Ahnung, was
der geschickte Rezitator aus ihm herausholt. Das Phantasie-
gebiet, welches dem Dichter zur Äusserung dient, ist weit
weniger als die Musik geeignet, eine Ebnung der GefUhls-
wogen herbeizufuhren. Daher die weit grössere Selbst-
befriedigung der Tondichter, wie sie durch zahlreiche Zeugnisse
beglaubigt ist; dagegen die G-unstbuhlerei, die BeifallslUstern-
heit der redenden Künste. Die Poesie kommt nicht so sehr
als Ausdrucksmittel in Betracht denn als Eindrucksmittel.
Ein Gedicht bereitet seinem Schöpfer Freude, wenn er den
Eindruck, welchen er auf andere erhofft, an sich erprobt;
dabei Übersieht er freilich leicht, dass die Reaktionsverhättnisse
bei ihm überaus günstig liegen.
Die Eindrucksfähigkeit der Sprache ist eine mittelbare
Folge ihrer Bezeichnungskraft, Mit dieser ist sie nämlich
iM,Coo<^lc
Tetatohan nnd BflgreUen. 257
Imstande, die Voraussetzungen eines Gefühles, einer Stimmung
an2ugeben, die Umstände, unter weichen sich diese eingestellt
haben. Es ist schon erwähnt worden, dass auch Gefllhle
einfach bezeichnet werden können; wenn man „Hoffnung",
„Liebe", „Verzweiflung'' sagt, so wird jedennann imstfutde
sein, das hierdurch Bezeichnete in sich zu wecken, wenn
aach mit Hilfe erinnerter oder gebildeter Fälle. Allein die
feineren Nütmcen, alle an seltene Situationen geknUpften
Oefdble, wird man am besten durch die Einftthrung in diese
Situation hervorrufen.
loh verweiBe hier aat die neaere deataohe Lyrik, □amentlj<^ Abho
Holz, Stimmiuigalyiik, die auf TalistütidiKeii Salzban guiE venidlitet and
mit MngeworfeneD losen Worten im Leaei Situationen EnsammensetEt, velehe
der 'Entstabnng gewisser Stimmnngen gänetig und.
Diese Situationen mOssen nicht äusserliche sein; sie
kOnnen aus dem Zusammentreffen mehrerer Q^danken ent-
springen; dann wird man diese Gedanken vorbringen und
sich von ihrem Zusammenwirken ein ähuhches Ergebnis wie
im eigenen G*müte versprechen. Je mehr Findigkeit der
lyrische Dichter — dem es ja namentlich um GefUhlsausdruck
zu thun ist — in dem Aufspüren der konstituierenden Momente
einer OemUtsrerfassung bekundet; je sicherer er hierbei das
Charakteristische hervorzuheben weiss, desto eher kami er
beim Leser auf den entsprechenden Integrationsprozess
rechnen. Der Vorgang ist ein gimz ähnlicher wie beim
Verstehen der Rede überhaupt, nur dass Gefühle nicht wie
(uidere Bewusstseinsinhalte in Teile zerlegt, differenziert,
sondern auf Teilbedingungeo zurückgeführt werden müssen.
Damit aber dieser integrationsprozess im anderen zu meinem
Gefühle führe, wird für diese Teübedinguagen gerade in den
Schwierigeren P^en eine Vollständigkeit erfordert, welche
der ganzen Natur der Geftlhle nach schwer erreichbar ist.
Die Quelle derselben liegt sehr oft im Unbewuasten, in so-
matischen Verhältnissen, die jeder Selbstbeobachtung spotten;
aus diesem Grunde wird dann die Bedeutung der bewussten
Elemente für ein Gefühl überschätzt. Ausser somatischen
Veriiältziissen hebt sich uns auch alles das schwer ab, was
TlatMlIitanHhittt t hImsbmIuM. PbUw. n. SodoL XIVIL X i"^
iM,Coo<^le
258 Hermanii Swoboda:
vir gewohnt sind, z. B. das Milieu — MilieuBchildeningra
stammen immer tod Individuen eines anderen Milieus — , die
Landschaft, das Klima.
Der Umstand, dass das Unbewusste nicht unwirk-
sam ist, kommt nun der Musik zugute. Die Musik kann
vollständig ausdrücken, was die Sprache nur unvoll-
ständig bezeichnet; dafilr bezeichnet diese deutlich,
was jene undeutlich ausdrückt.
Wie sehr es auch der eingestandene oder stillschweigende
Zweck der Poeten sein mag, ihre ästhetisch ausst^erte
Innerlichkeit anderen um jeden Preis mitzuteilen, so kQmien
sie sich dabei doch nicht dem Druck der vitalen BedUrfDlsse
entziehen und man wird von vornherein annehmen dürfen,
dass die Art, auf andere Eindruck zu machen, gleichzeitig
geeignet ist, sie von dem lästigen Druck einer Erregung zu
befreien. Diesen Dienst leistet nun thatsächlich die Änaljee
der Bedingungen eines Gefühles; wie man sie aufspürt, vot-
Ueren sie ihre Wirkung, lichtscheues Pack, das vor der
Laterne des Bewusstseins ausreisst Die iä'klärung dies^
zerstörenden Kraft der Keflexion ist wohl in der Ablenkung
der Aufmerksamkeit ün Zusammenhang mit der Enge des
Bewusstseins zu suchen. Ein Gefühl, das mich „ganz be-
herrscht", muss sich sozusagen im Eaum einschränken, wenn
ich auf eine seiner Bedingungen meine gespannte Aufmerk-
samkeit richte.
Nun können Gefühle noch auf andere Weise abgetliaD
werden. Sie können einen Gedankengajig einleiten, bei dessen
befriedigendem Ergebnis sie Tcrschwindeo. Dieser Gedanken-
gang — wie verständlich er auch erscheinen möge — hat
doch nur für deiyenigen einen Sinn, welcher am gleit^en
Gefühle laboriert oder durch den Gedankengang darauf ge-
bracht wird, an was er zu laborieren habe, damit ihm der-
selbe etwas sei. Hier werden mir also nicht die konstitu-
ierenden Momente geboten, sondern die Konsequenzen, zu
welchen ich alsdann die passenden Voraussetzungen zu finden
habe. Als Beispiel diene folgende Stelle aus „Faust"
iM,Coo<^lc
TeiBtabeii und Begrafen. 269
EntBchlafeD sind doh wilde Triebe
Mit jedem ungestümen Thun,
Es reget sich die Menschenliebe,
Die Liebe Q«ttes regt sich nun.
[Faust, rom Spaziergang heimkehrend, im Studierzimmer).
Mui musB selbst mtlhselig und beladen zur Mutter Natur
einmal hinausgepilgert sein und, von der Ruhe des Abends
angesteckt, den stillen Einzug milder und liebevoller Ge-
danken erlebt haben, imi diese Sätze zu verstehen, was
hier nicht heisst: verstehen, was jemand sagt, sondern wieso
er das sagt. Obige Sätze als Ausdruck eines Gefühles
zu bezeichnen, hätte nichts UngewShnliches an sich. Allein
nach der bisher von mis festgehaltenen Begriffsbestimmung
bandelt es sich hier weder um Bezeichnung noch Ausdruck.
Man könnte in diesem Falle populär von einem GefUhls-
hintergnmd sprechen, von einem Gefühl, das — unausge-
sprochen — doch zum psychischen Ganzen gehört, das eine
Komplementärbedingung zum Geäusserten bildet. Im Falle
des eigentlichen Ausdrucks (durch Musik) haben wir es mit
dem harmonischen Zusammensein zweier erregter Ge-
biete zu tiiun; hier dagegen können wir weiter keine Be-
ziehung herausfinden, als dass die Stimmung und die in ihr
gethiuien Äusserongen ganz gut zusammenpassen, dass es
„ganz begreiäich" ist, wenn jemand in solcher Stimmung
derartigeB sagt.
Mn anderes Beispiel, welches zur Aufhellung des in
Rede stehenden Verhältnisses beitragen dUrfte. Unter Gk>BTHE's
Uaximum findet sich der Satz: „Geschichte schreiben ist eine
Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen". Gobthb,
der fleissige Beobachter und gewissenhafte Historiograph
aeiner Seele, bezog sich hiermit sicher auf jene Art von
Geschichtaschreibung, wie sie in Tagebüchern, Memoiren,
Selbstbiographien vorliegt Und man muss, um jenen Satz
zu verstehen, nur beobachtet haben, wie es möglich ist, durch
geschickte Behandlung des wirren Seeleninhaltes Ruhe und
Ordnung herzustellen, wie sich alles im Urteil gefasste wie
17'
iM,Coo<^le
260 Hftrmann Swoboda:
im Kampf bezwungen dackt und friedlich zurückzieht, wie
man die sekantesten Vorstellungen, Gedanken durch pragma-
tische Behandlung, durch organische Eingliederung in den
übrigen Inhalt abtbut. Ohne das blennit verbundene Lust-
gefühl der Befreiung ist ein vollkonunenes Verständnis jenes
Satzes ausgeschlossen; ja noch mehr. Dieses Lustgefühl
musB sich uns einmal abgehoben haben, aufgefallen sein, oder
es muss wenigstens der Ausspruch dazu führen, dass es uns
auffällt Wem nämlich die angenehme Wirkung der Oeschicht-
fichreibung durch diese Abhebung nicht zum Problem vfird,
für den entbehrt auch die Problemlösung ihres ursprünglichen
Wertes. Um aber ins Problem einzuführen, dazu ist jener
Satz durchaus unzureichend; er ist nicht imstuide, im Leser
alle seine Voraussetzungen zu schaffen, es liegt aber auch
gar nicht in seiner Absicht Er dient nur einem vitalen
Bedürfnis seines Verfassers. Die Antriebe, welche zu ihm
geführt haben, kommen in ihm gar nicht zum Ausdruck.
hSchstens durch ihn, indem er sie eben nicht zum Ausdruck
bringt und dadurch den bruchstUckartigen Eindruck macht,
der zur Er^nzung anregt. luspirations- oder Eonzeptions-
gefUhle könnte man sie nennen, die in emem Urteil nur in-
sofern zum Ausdruck kommen, als es ohne dieselben über-
haupt nicht da wSre. Sie stellen die subjeküve Seite unserer
sprachlichen Äusserungen dar, sie sind der biologische Wert-
messer derselben. Sie haben Übrigens keine selbständige
Bedeutung, sondern nur als Begleitsymptome der sachlichen
Vorbereitung. Ihr Charakter ist ganz formal*)-
loh habe hier mit den Begriffen der UndUnfigen Psychologie eis
Veriaitnia darznstellsD vennoht, welches diese bisher nicht beachtet hat
Die Gewandeiiheit der Darstellong mag teilweise auf diesea ümatand loräok-
■nfährea sein. Unten bei Erw&bnuDg der Ti talreih entheorie Atenarics'
wild sich uwen, welch einhohw Darstellnngsbehelf die von diesem PhUo-
sophen eingeffihrten — besser gesagt verwendeten — Begriffe bieten. Qnd
') Nach den m^ten, so anoh nach Wdhdt (Phys. Psych. S. 5SI}
faitta man sie nnter die logischen CMnhle za dUilen. Allan sie ohank-
tetisieran, wie weiter nnten getagt werden wird, gana im allgwneinea itie
3 Abeohnitte jeder Titalieihe nnd fallen bei Denkproieaaen nor deshalb
leichter anf, weil sie liier nickt mit anderen Oeföhlen in KoDknmni b
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
Ventehea imd VegnifMi. S61
wann die Högliohkeit ökoDOmiBoherer DmteUaog in der WjwsiiBdiAft cinea
Forticliritt bödeatet, m wird man aineii eolohen in der erwftlmten Theorie
wohl erUit^en ddAbsod.
Bei Betrachtung des Ausdrucksvermögens der Sprache
haben wir bisher von jenen unaufiUligeren Formen des Aus-
druckes abgesehen, die vorhin als Einfluss bezeichnet wurden,
und die sich als eine Fonnabertragung auf andere Gebiete
charakterisieren. Solche Einflösse kann man zalüreich in
Qranunatik und Syntax nachweisen*). So ist die Trennung
in Subjekt und Prädikat in vielen Fällen nichts anderes als
eine Obertragene Anwendung des Verhältnisses zwischen
Wollen und Handeln, welches infolge seiner grossen Geläufig-
keit einen uniformierenden Einfiuss ausübt, sozusagen einen
übertragenen Wirkungskreis gewinnt^). Hält man dies fest,
80 erscheinen selbst Urteile wie: Der Wind bewegt die
Bäume, nicht mehr als reine Beschreibung, sondern gleich-
zeitig als Ausdruck gewisser anderer Verhältnisse der Seele,
des sich äussernden Ich. Von diesen Verhältnissen haben
durch die Grammatik offenbar jene Ausdruck gefunden, denen
ein genereller Charakter zukommt, so dass man sagen kann,
die Grammatik stelle den ständigen Anteil des Ich an
unseren Urteilen dar. Die erwähnten Einflüsse reichen aber
noch weiter und namentlich in jenen Fällen, wo man von
den psychologischen Entstehungsgrilnden eines Gedankens,
emes Lehrgebäudes u. s. w. spricht, handelt es sich oft um
den uniformierenden Einfluss einer mächtig eingeprägten
Form. So, wenn man den Ursprung von Plato's Ideenlehre
auf den jedem Griechen geläufigen Gegensatz von vi-^ imd
i^fuoäffyoc zurückführt. Oder wenn man von der HBöBL'schen
Dialektik sagt, es ist etwas Wahres dran. Die Form des
diaJektiachen Entwicklungsprozesses ist nämlich in einer
TOT lUen Dingen psychologisch nnd nicht logisch sind, hai das Stodinm
der Spnohe einen so hoben Wert für die psychologische Unter-
enehong des Denkens" (Wonrt, Efisays. Leipzig I880. 8. 278], ein«
AnaAeuDUng des Thataftohliahen.
*) Siehe Jibiiulzk, die ürteüsfonktion. Wien 1696.
n,g,t,7l.dM,COOglC
262 Hsrmann SwobadK:
Reihe von Fällen faktisch zu konstatieren und insofern ist
sie wahr; „anwahr" wird sie nur dadurch, daes sie über die
Grenzen ihres EntstehungBgebietes hinaus Einfluss erlangt,
dass sie ein Fachwerk wird, in das sich alles zwängen lassen
muss. Schliesslich sei noch eines wichtigen Umstandes Er-
wähnung gethan. Wir haben nie bloss CrefUhle oder bloss
Yorstellungen. Dementsprechend wird es auch keine reine
Bezeichnung und keinen reinen Ausdruck geben, sondern nur
Mischformen. Die Unterscheidung dieser beiden Elemente
in den mensciihchen Äusserungen ist aber von Bedeutui^,
weil ihr Verständnis nicht in gleicher Weise vor sich geht,
wie der nächste Abschnitt erweisen wird.
TL D«s Terateken Ton Atusagen.
Wenn Verstehen soviel heisst als in der gleichen psy*
chischen Situation sein, so ist die Frage, wie man durch
Bezeichnung und Ausdruck in dieselbe kommt, mit anderen
Worten nach dem Mitteilungswert von Bezeichnung und
Ausdruck. Derselbe ist bei Bezeichnungen natui^mSss
grösser als beim Ausdruck, da ja erstere, wie oben er^lfant,
ihre Ausbildung durch und für den menschlichen Verkehr
erfahren haben, während letzterer eine Arznei ad usum
proprium ist. ÄUein auch die Bezeichnungen, die Sprache,
wie wir ktirzer sagen wollen, bleibt hinter der idealen
Leistung, im Hörer die Gedanken des Sprechenden getreu
zu erwecken, weit zurück. Der Grund hierfür ist ein zwei-
facher. Erstens muss die Reaktion auf Bezeichntmgen bei
dem einen durchaus nicht zu denselben Vorstellungen führen,
wie beim andern. „Verstehen heisst nichts anderes als:
ich verbinde mit einem Laut, den ich höre, denselben Ge-
danken, welchen ich mit dem gleichen Laut verbinde, wenn
ich ihn spreche", meint Lazabüs*). Die individuellen Unter-
schiede in Begriffen jeder Art sind aber bekiumtlich ungemein
gross. Den FaU zufölliger Übereinstimmung der individuellen
') k. a. 0. 8. 810 nnd Siawui, Logik I, S. 36.
n,g,t,7l.dM,.COOglC
Tamdiait und Begteifeo. 263
Begriffe abgerechnet, wird also dut daim von einem voll-
stilQdigen Verständnia die Bede sein kOnnea, wenn ihre Ver-
schiedenheit irrelevant ist Davon war Bchon in Kap. n die
Bede. Dieser Punkt, die Insuffizienz der Sprache, ist hisher
zu einseitig in Betracht gezogen worden. Man hat darauf
hingewiesen, dass die Sprache das, was sie bezeichnet,
mangelhaft mitteilt; sie bezeichnet aber vieles gar nicht,
und das ist der zweite Grund, weshalb es ihr so schlecht
gelingt, Gedanken von einem Individuum auf andere zu über-
tragen!). Sie kann auch gar nicht alles bezeichnen; denn
von den zahlreichen Voraussetzungen, die eine Aussage im
Leben des Aussagenden oder in den Gredanken von Vor-
gängen! hat, kommen gerade vielleicht die wichtigsten gar
nicht zam Bewusstsein. Im Zusammenhang grosserer Dar-
stellungen gestalten sich die Verhältnisse allerdings günstiger;
denselben Einfluss übt das Gespräch'). Allein der Schwierig-
keiten bleiben doch genug, wie man aus Kritiken und Dis-
kussionen täglich ersehen kann 3).
Gesetzt also, es hätte uns die Sprache in einem Falle
den denkbar besten Dienst geleistet, wir hätten auf die Be-
zeichnung mit dem Bezeichneten reagiert, so bliebe uns doch
noch die Vervollständigung dieses Bezeichneten durch das
unbezeichnet gebliebene übrig, mit anderen Worten: Man
muss unterscheiden zwischen dem Verstehen der
') .Der Sinn liegt in der That nur nim Teil im Wort aa eiab.
Wir Tinäiweigen beim Beden sehr viel, und zwar sehr WeBeotliohes, wu
dooli hinzugedacht werden mosa, wenn es verstKaden werden soll. Wii
epteoheo immer ans bestimmten Lteen and VerhftltBiuen, ttoBsaren und
ünenn, heiaaa, nnd erst doroh die Beiiebung des Oeeagten auf diese realen
TnfailtniBse erhUt die Bede ihien konkreten Binn". Simmau, Ueber (Ua
Arten und Fonnen der Interpretation, B. 80.
*) Vgl. LAZum, a. a. 0. B. 392.
'i Treffend bemerkt Luuub (a. a. 0. 8. S98): ,Qlei<Meit der Oe-
Binnnng, der OeeobmackBiiohtnng, der poliüschen oder jeder Art Meinniig
*ind ebenso wie die Oleiohheit der wieseosohaftliahen STStematib ürBaobe
snd BAi|Mihaft des gegenseitigen VeisOodmesea. Han eiOhrt O^lioh, dau
die Streitenden Klage erheben über wedwelieitigea ICssrenOndnis . . . .*
Qtdnnnng, OeeohmaoksriohtanK n. s. w. das ist daa mitklinBende ün-
bewnaste, welohee täok nna selbatTerBtftndlich nicht mehr abhebt, so mass-
Sebend es aiudi Kr anaen Eonaepte sein mag.
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
264 BermaDn Swabodt:
Bezeichnung und dem Verstehen des Bezeichneten.
Lazabdb und Stbutthal, welche die Apperzeption immer in
Öemeioscliaft mit dem Sprachproblem behandeln, haben sehr
viel zur Verdeckung dieBes Unterschiedes beigetragen. Der
Umstand, da£S wir, wie in Abschnitt IV ausgeführt wurde,
bei unserem Denken thatsächlich oft keines Bezeichneten
gewahr wm'den und die hierauf gegründete Behauptung eines
sprachlosen Denkens hScgen natürlich damit innig zusammen.
Das Verstehen einer Aussage geht also streng genommen
in zwei Phasen vor sich: in der ersten geht nur die Bedeutung
der Worte, in der zw^eiten der Sinn des Ganzen auf. Der
Vorgang bei der ersten ist klar: Die Bahn zwischen der
Bedeutung und dem Wort wird vom Mideren Ende erregt.
Wie ich jedoch dem Ganzen einen Sinn gebe, wie ich es
anstelle, die Bruchstücke der „psychischen Situation" zum
Gtmzen zu kompletieren, dies bedarf noch eingehender
Betrachtung 1). Zuvor sei jedoch bemerkt, dass die zwei
Phasen des Verständnisses nicht emfach aufeinanderfolgen,
sondern dass sie sich mannigfach kreuzen. Bald verhilft
mir die Bedeutung der Worte zum- Sinne des Satzes, bald
der Sinn des Satzes zur Bedeutung der Worte. Manchmal
verstehe ich, was jemand meint, aus dem, was er sagt,
manchmal aber auch verstehe ich das, was er sagt, weil
ich weiss, was er meint So verstehen wir auch einen in
fremder Sprache verfassten Aufsatz, der Über ein uns sehr
geläufiges Thema handelt, vollkommen, selbst wenn wir aus
Unkenntnis einiger Vokabel und Satakonstruktionen nicht
*) "Wann BixmHu. (Üb«r Interpretetion, 8. 38} die Fonnel fQr das
VeiBteben einfach eo ansettt: „Ein GedankenicWt F veianlasst im Bedenden
eine L&utreihe L, und diese I«Qtreihe L erregt im Hörenden wiederom
jetien OedankeciDhalt F. Also F ^ L und L =^ F*, bo sind damit Jens
Fllle, wo ea Bioh um einen Oed«nkeninh< handelt, un wenigsten ge-
troffen, wofern man nicht an ganE geUofige Inhalte denkt, deren WkI-
loagkeit fnr die Betraohtoog schon ini Genüge betont worden ist. AUec-
diiigi bezieht SisraraAi. aeine Formel anf das , gemeine Veretahen' (tsL
Anm. zu S. 32], bei weichem .die Bedingnngen des VeistftudnineB nuiU
eist künstlich herbeigeführt za werden brauchen*, welches also veitifittiii»-
mUeeig rasch vor sich geht Dieser ümetand verUlft aber seiner Fismal
nnr zn einer scheinbaren Bereohtigni^
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
Tenteben und BegrefTn. 266
imstande wären, ihn zu übersetzen. Der Fall ist selir in-
struktiv. Hau siebt, das Verstetiea der Worte igt flir das
des Sinnes gar nicht präjudiziell. leb kann den Sinn haben,
bevor ich die Worte habe, während ich sonst den Worten
erst einen Sinn unterlegen ntuss. Wenn ich dem Sinne nahe
bin, hat das Wort leichte MUhe: Sapienti pauca. In diesem
Falle merkt man gar nicht, was man dem Worte schuldet.
Ctanz anders, wenn wir uns in die Vorraussetzungen einer
AuBSf^e erst hineinarbeiten müssen, dann suchen wir in den
Worten auf und ah naxii jedem kleinsten Anhaltspunkte, den
8ie zum Verständnis bieten könnten, mit anderen Worten:
Wir suchen nach der entsprechenden Vorbereitung zn der
Aussage. Eine Aussage hat einen Sinn, das heisst soviel
als: wir können sie in unseren Bewusstseinsinhalt eingliedern,
wir können von demselben mühelos zu ihr fortschreiten.
Allerdings muss nicht jede'Aussage, jedes urteil so deutlich
den Charakter der Unselbständigkeit an sieb tragen; bei
jenen Aussagen indes, auf welch© es, wie schon öfter er-
wähnt, hauptsächlich ankommt, bei den originellen, die eine
längere Gedaukenreihe zum befriedigenden Ahschluss bringen,
heiest „Sinn haben", nichts anders, als sie in der Reihe und
am rechten Platz haben. Der Grad der Vorbereitung ist
von grösster Bedeutung sowohl für den Grad des Verständ-
nisses, als auch für den Vorgang beim Verstehen'). Bin ich
einer geistigen Entdeckung sehr nahe, so haben die Worte,
in welchen ich dieselbe formuliert äode, die grOsste Mit-
teilongskraft and das Verständnis erfolgt sozusagen momentan.
Nur dies ist der Fall, wo man sagen kann, dass der Hörer
integriert, wo der Vorgang in beiden gleich, nur entgegen-
') Unter den Begriff der Totbereitong fällt anoh Eöflkbs ,Urtwl8-
äkpoBttJOD" (vgl. deaaen PB;<jiologie B. 280), dis ,alle p&ychisohen nnd
phjsiKheD Tejlbedingnnesn des Urteilens nmiasst, insoweit sie nur ebeo
oiaiit selbst schon aktnelle Torgängo, z. B. VDistelloiiKeo und". Das .mit-
Uu^ende TJnbewosste', das aidi natärlioli der BeieichnoDg und Httteiinng
eotäelit.
An detselbeo Stelle findet siob auch ebe Definition von Tarstriken,
dis guiz in meinem Sinne ist: .Vetsteheii heiset wesentlich, diejenigen Ur-
tols mit XJeberaeagtuig und Emsicht bei sieh wieder fällen, welBhe die
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
266 HarmanD Swoboda:
gesetzt ist Bei minderer Vorbereitung, wenn mich die Aus-
sage noch nicht in ihren Voraussetzungen antrifft, muss ich
auf irgend eine Weise in dieselben einzurücken trachten.
Verstehen heisst also, etwas als Folge haben, als Fortsetzung.,
Dies ist nun der Punkt, wo sich meine Ausführungen
wesentlich von der bisherigen Behandlung der Frage unter-
scheiden. Was ich im Vorhergehenden immer als Verstehen
bezeichnet habe, das fällt nach der herrschenden Terminologie
unter den Begriff der Apperzeption. Allein, indem man bei
der Aufstellung und Ausbildung dieses Begriffes immer von
der Apperzeption von Sinneswahmehmungen ausging und die
so gewonnenen Gesetze auf Ferzeptionen jeder Art aus-
dehnte, Übersah man, welcher gewaltige Unterschied zwischen
der Apperzeption von Gegenständen und Äusserungen
besteht. So behandelt Stbinthai. (Abriss der Sprachwissen-
schaft I S. 196ff.) beides promiscue, was ihn natürlich hindert,
im Verstehen ein eigenartiges Problem zu erblicken. In
dem mehrfach zitierten Vortrag über Interpretation rUckt
er demselben zwar näher, betrachtet aber das Verstehen zu
ausschliesslich Tom Stuidpimkt des Philologen und erweckt
dadurch den Anschein, als ob das philologische Verstehen
etwas ganz Apartes wäre, indessen es nur durch seine
schwerfällige Technik vom sonstigen Verstehen verschieden
ist. Auch nimmt er hierbei merkwürdigerweise auf seine
Apperzeptionstheorie keine Rücksicht, scheint es also gar
nicht als eine Art der Apperzeption aufzufassen, giebt ihm
aber auch keine anderweitige psychologische Charakteristik.
OadankeD des VortrageB, die VoiKussetmugen der MasBi^el aDamudifln'.
Mit dem Bsgriff dar Dispoeition und dem UDbewositen operiart andi
B, Ekdmanr (Zur Tbaoiie der AppeneptiDn, Tiettelj. f. w. Ph. X 8. 343S.i.
Die ApperzeptionsiiiaBBe beieiobjiet ei direkt als „erregte Di BpoHition';
was mit aeiiier ünterecheidnDg ebe« .erregten und einee onerregtaD*' Un-
bewiUBten inummanliAngt Obwobl ee sioh ihm nni um die eintedutas
EUle daa Wiedererkennens von Wahrnehmoiigeii handelt (316), so haban
seine i.iiRßhrangen doob vioh dort eine analoge Aawendimg, wo ee sitdi
tun dos YerBtindniH eines Oedankens handelt, den wir selber soboa g^
habt haben.
iM,Coo<^le
VeiBteheo und B«grwf«i. 267
Beaooders fühlbar macht sich der Mangel dieser Unter-
Bcheidimg bei Lahgb (Über Apperzeption), dessen Darstellung
sonst an vielen Punkten trefOiche Bemerkungen enthält, deren
pädagogischer Wert durch den unsicheren psychologischen
Standpunkt übrigens nicht beeinträchtigt wird. So de&oiert
Lakob die Apperzeption als „diejenige seelische Thätigkeit,
durch welche wir einen Bewusstseinsinhalt mittelst ver-
wandter Yorstellungen iu den Zusanuuenhang unseres geistigen
Lebens und Besitzes aufoehmen". Es ist mit ihr stets „eine
Verschmelzung von Vorstellungen , die Einfügung neuer
vereinzelter Elemente in ältere, verwandte, reichere Ge-
dankenkreise gegeben", S. 836. Gedanken als etwas
dem Empfindungselement in der Wahrnehmung Ana-
loges giebt es nicht. Ebenso wenig Gedanken, die als
Perzeptionen Gegenstand einer Apperzeption wären.
Der Gegenstand ist etwas fUr sich; die Äusserung
ist Teil eines grösseren Ganzen, Teil des sich äussernden
Individuums, sie ist femer Lebensäusserung, sie hat ausser
dem, was sie ist, noch eine Bedeutung, und sie hat diese
Bedeutung nur im Zusammenhang. Die Äusserungen sind
abgelegte Kleider, und ob mir dieselben passen hängt davon
ab, ob ich gleich gewachsen bin.
Den intimen Zusammenhang von Gedanken mit unserem
ganzen Ich illustriert das Ge^chtnis. Gedanken, die wir
nicht aus Eigenen organisch entwickeüi, nach entwickeln, die
tragen wir wie ein lockeres Anhängsel herum, sie sind mis
vom mechanischen Gedächtnis nur angespendelt, es ist ein
Zufall, wenn sie uns bleiben. Wie dagegen Gedanken haften,
die wir erlebt haben! Ich habe, wenn es mir gelingt, einen
fremden Gtedanken nachzudenken, immer das begleitende
Bild, das sich an einen Stengel eine Blüte ansetzt. Xur
wenn wir etwas selbst gedacht haben, haben wir wirkUch
den Gedanken, Beweiss dessen, dass wir seine Formulierung
vergessen können, wir finden immer leicht eine neue, während
uns ein fremder Gedanke oft nur durch das Wort erinnerlich
ist und uns mit diesem entfällt. Dementsprechend die Be-
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
268 Btrmana Svöbod«:
deutung, welche ein Kaitt, Schopbnha.üeb dem Selbstdenken
beimessen 1). Halten wir uns mm alle die erwähnten Qegen-
Bätze zwischen Dingen mid Äusserungen vor Äugen, so ist
klar, dass es sich bei der Untersuchung über das Wesen
des VerStehens in erster Linie nicht um das VeryUtms
zwischen der Äusserung und dem, der sie vernimmt, handelt,
sondern zwischen der Äusserung und dem, der sie macht
Dieses nämliche Verhältnis in anderen herzustellen, muss
Ziel dessen sein, der verstanden sein will, dieses Verbältois
in sich herzustellen Bestreben dessen, der verstehen will.
Von der Apperzeption der Sinneswahmehmungen aus-
gehend, kommt man nicht leicht zu diesem Gesichtspunkt
Ein tieferer Grund hierfür liegt in der „Mosaikpsychologie"
Oberhaupt, welche die einzelnen psychischen Phänomen ausser
allen Zusammnnhang zu betrachten gestattet und schlie^ch
durch die immer währende Einzelbetrachtnng dazu kommt,
die Gedanken wie Dinge zu behandeln^). So leiden die
Äpperzeptionslehren — von Hkebabt bis Wosbt — in ihrer
Anwendung auf Äusserungen an dem Ubelstande, dass sie
sich vergeblich bemühen, für die Apperzeption fremdw
Äusserungen, für ihre Aufnahme in den Zusammenhang des
Äpperzipierenden eine zutreffende Darstellung zu geben, nach-
dem sie dieselben eben aus dem Zusainmenhang mit dem
Sprechenden herausgerissen haben. Die Mosaikpsychologie
hat auch gar nicht die Begriffe zu entwickeln vermocht, mit
denen sich diese Darstellung einzig geben lässt, wenngleich
es an Ansätzen dazu nicht fehlt. Solche haben wir zu er-
blicken Hbbbast's Apperzeptionen der inneren Wahrnehmung
') Siehe Sant, Anthropologia, B. 101, wo er tod dar Weiihtft a^t:
.anoh Beibat dam mindeaten Qrada naoli kum de dem Manioheii oin andenr
nicht eingieasen, Bondem er mmas sie aiu dcb aelbat heransbiingan* und
nntei dan Vonohriften, dun sn gelangen, ob acste anfahrt: Salbetdankes.
Siebe feiner ScBDPnHa&DK^ Paierga and Panüi^mena.
*} .Hoatäp^oholocie" strilt Atcnjühus seiner „Vuiatianapsyäudogie'
gegenüber. Diea« baat das phjsiBoha Leben anf ala anTeinanderft^gaula
„Aendernngen eines DisprSogltchen, verttnderliohen Beetandes*, jene ab
eine .ZnaammoiMtnmg tob onprQngliohen, onTerfindeiüaheii Beatsnd-
atftckeu*. Siebe bierSber .Der mensdilJohe WeltlM«iifr-, S. M.
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
Ventehan tmd BegraUan. 2Ö9
und deren Ausbildung durch Stedtfhal, den Apperzeptions-
fonnen des Erkennensi). In ihnen liegt erstens ein Hinweis
auf das Fortschreiten unseres Denkens auf Grund des bis-
herigen Bewusstseinszustandea und zweitens der Versuch einer
Klaaeifikation der Arten des Fortschreitens. Allein hiermit
sind die Voraussetzungen eines bestimmten Denkresultates
nur fllr ein paar markante Fälle angegeben, wo — wie bei
der identifizierenden oder subsummierenden Apperzeption —
durch die Ähnlichkeit der zwei aufeinanderfolgenden Stadien
auf ihren Zusammenhang die Au^erksamkeit gelenkt wird;
ein fluchtiger Blick auf die Unzahl menschlicher Äusserungen
zeigt, dass es nur selten gelingt, sich die Voraussetzungen
einer Aussage so klar zum Bewuastsein zu bringen. Wie
will man aber über den Aneignungsprozess im HOrer etwas
anamachen, wenn man den Elntstehungsprozess im Sprechen-
den nicht beschreiben kann?
Bei der Aneignung von Sinneswahrnehmungen ist der
Prozess mit Zuhilfenahme der Assoziation und Verschmelzung
noch leidlich zu erklären, wiewohl eingewendet werden muss,
dass der Hergang, so wie ihnHEBSABT und Stbinthal schildern,
an der Selbstbeobachtung ebensowenig ßUckhalt hat, wie
Hxbbabt's Abatraktionsprozess. Ich finde es daher sehr
treftend, dass Lazabxjb die Apperzeption einfach als die
Keaktion der mit Inhalt gefüllten Seele gegen äussere \md
innere Ferzeptionen bezeichnet und auf eine ausfuhrliche
Schilderung derselben verzichtet. Sie lässt sich thatsächlich
nicht bieten, wie weiter unten bei Besprechung der psychischen
Kausalität gezeigt werden wird. Bei der Apperzeption von
Äusserungen indes findet man mit obigen Behelfen nur schwer
sein Auslangen. Ist mir der Inhalt einer Äusserung be-
kannt, wird mir also irgend ein Lehrsatz der Physik zitiert,
wenn auch in ungewohnter Fassung, so hat der Fall mit dem
') BewÜB datOr, dass knaksnitt' „ProlegDmena" (Philosophie als
Denken der Welt, nMb dem FriiiEip des UainsteD Ecaftmasaes, Lehiiig
187(n noch ganz in jibhingigkeit von HERBABi'soben, speziell SnniTBiL'soben
ABsohmnigeD abgefaast sind. Siehe Eon», Zur Analyse des Apperzeptions-
begrifiee. Berlin 1898, 8. 146ff., S, 167fr.
n,g,t,7l.dM,COOglC
270 HermaBii Bwobod«:
der Apperzeption von SinneswahmehmungeD allerdings noch
einige Ähnlichkeit: die neue Fassiumg vird, wofern sie in
etwas an die alte erinnert, diese reproduzieren, ja, wenn die
Abweichungen gering sind, werden wir sie ganz überhören,
nod mit der alten Fassung wird uns der Inhalt des Lehr>
Satzes gegenwärtig. Wie aber, wenn uns der Lehrsatz selbst
nicht bekannt ist, wir aber — einen gUnsügen Fall genonunen
— auf dem betreffenden Gebiet bewandert sind? Eine Re-
produktion des Bezeichneten in toto ist naUlrlich in diesen
Falle ausgeschlossen; eine blosse Zusamm^assung der ein-
zelnen Bestandteile der Mitteilung wohl nur bei Beschreibungen
genügend. Es bleibt uns noch ein Drittes übrig: dass wir
nSinlieh die Worte zum Aulaas nehmen, uns em Bezeichnetes
selbst zu suchen, für welches wir die mitgeteilte Bezeichnong
angemessen erachten; dass wir mit den gebotenen Elementen
selber wirtschaften, dass wir sie hin und her kombinieren,
bis die mitgeteilte Aussage so auf sie passt, wie unsere
eigenen Aussagen auf unsere eigenen Einfälle; wo-
von wir ein sehr deutliches QefUhl haben. Bieses Gefühl
ist der Massstab des Verständnisses. Ehe sich dieses
GefUhl nicht einstellt, dürfen wir nicht ruhen, dürfen wir
nicht annehmen, in jemandes Ansichten eingedrungen zu sein ').
Das Verstehen ist in diesem Falle zum Teile Selbst-
schaffen. Steimthal kommt diesem Sachverhalt mit der
4. seiner Apperzeptionsformen, der schöpferischen, nahe,
welcher „der Umstand eigentUnüich ist, dass in den be-
treffenden HUlen das apperzipierende Moment selbst erst
geschaffen wird ..." Er rechnet hierzu das Erraten, Ver-
muten, Ahnen. „Gegeben . . . sind Vorstellungen, die an
') Vgl LoFB, Gnmdthatsaaheii. S. 466f. über die .endgOltig geafigan-
dSD BMingängen der BeDeonong*.
FsuTL, der in einer FeetBohiift (TetHtshen nnd Bonitailen, M ftsdian
1877) ein«) Behi verwoirenen Begriff von „Vetatehea* ^twiokel^ nwdit
doch tiiügt traffende BeobuhtaugeiL, (o B. 9: D» Yentaheii ist «in no-
mittelbues denkendes Erhtsen, welobe« mit einem gewiieen InttinktiTen
Oefflhl der Biohtigkeit breitet ist, gleiohnd ob lotsten« wiiklidt ein
bwoobtigtes iat oder niobt
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
Tarctehra und Begreitai. 271
sich uaTersländlich, weil zuBammeahaagslos oder einander
widersprechend Bind. Hierzu werden YorBtellungen
von innen her gefügt, durch welche das Gegebene er-
^nzt, vennittelt, verständlich gemacht wird: dieses wird
Ton jenen apperzipiert". {AbriaB I S. 216). Die Umgebung,
in welcher sich diese Sätze finden, zeigt jedoch, dass sich
STKniTHAi,ilirer allgemeinen Bedeutung keineswegs bewusst war.
Wie viel der Phantasie bei diesem Selbstechaffen zu
leisten bleibt, ist abhängig teils von dem Grade der Vor-
bereitung, teils TOD der Anleitung, die mir eine Aussage zu
ihrer Verifizierung bietet, flberdles von Anlage und Übung.
Das Verstehen wird zur Kunst, es erfordert Kongenialität,
wenn Teilbedingungen beizustellen sind, für welche in der
Aussage selbst keine Anhaltspunkte vorHegen. Da in diesem
Falle das erwähnte Gefühl der Adäqnatheit der Bezeichnung
oder vielmehr der Inadäquatheit des Bezeichneten der ein-
zige Antrieb zum Aufsuchen von Teilbedingungen ist, so
kommt natürlich auf die Ausbildung dieses Gefühles auch
sehr viel an. Wer dasselbe durch flüchtige Schreiberei
korrumpiert, der sacht es anch bei der Lektüre nicht zu
erreichen. Wie man schreibt, so liest man, modifizierende
Umstände abgerechnet: hinter einem neuen Autor z. B.
sucht mann nicht so viel wie hinter einem Altmeister.
Zu erwähnen ist auch die Zeit, welche hiernach das
Verstehen erfordert. Sie kann sehr grossen Schwankungen
unterliegen; sie kann unter anderem durch Übung so ab-
gekürzt werden, die zwischen Lesen eines Satzes und seinem
Verstehen mitten inneliegende Phantasiethätigkeit kann so
zusammengedrängt werden, dass wir sie ohne besonderen
Anlass nicht gewahren. Bei ^gerer Dauer kommt uns
wohl durch die Anstrengung und Ermüdung unsere Aktivität
zum BewuBBtein.
£e könnte leioht die Ansiaht entstahen, dus .Tentehen" tberbaopt
niobti s« ila die „ütiTs Appenoption''. Alldn der dem Veistehon eigen-
tttmtiBhe MaohuiamQs wiid dnrch Anfmerksunkeit und Wille Diaht toII-
tttiHiig cliarakterisiflit, &bgaaehen daron, diBS d» Fnueas das Tentehana
MnaawegB immBi mit den MerkmalBn dot „aktiven Appeneption" mns-
gWittet zn iwn bnaobt. Dann ist die «aktiTa AppeneptioD" aodi
iM,Coo<^lc
Hecmann Swobod»;
AensMTTiiigeD bew^ir&iikt. Wir radea iwar tnioh vom VerrtelieD Ton
BiogeD, die nraprüngliche Badeatang wmr dies aber entschieden night.
Siehe m diesrnn Pnnfcte Luabus. Leben, S. ISO Anmerhing. Bei Lunn
fa. a. 0. 8. IH] kann man Ton einem Begriff der aktiven Appeneptm
niobt reden; aber eben dadurch^ daaa er keinen lilaraa Begriff entwinkalt,
wahrt er aioh die Freüieit cn euer Beihe treffander Bamchtongn. 8e
weist er uamentlioh anf den Anteil des OefOlita an den AppeneptionB-
proiessen bin. ,Im OefdhI wird der Wert der Feixeption lux <us Ich, ihn
Bedeatang Kr das übrige Tontellnngs- und Oernfttäleben erkannt". T^.
hiermit das melirboh fibei die vitale Bedeutung nnserer Ansaageo
Bemerkte.
Worin diese Aktivität besteht, davon ist in Abschnitt
rv ausfUhrUch die Rede gewesen. Es ist übrigens fUr das
Wesen des Verstehens ganz gleichgiltig, zu welchen SchlUseen
man Über die Natur des Denkens kommt Die psychologischen
Deokgesetze allein vermittehi niemandem Verständnis; die
Hauptsache bleibt das „CrefUhl der angemessenen Be-
zeichnung"; man kann sich bei der Lektüre eines Autors
sehr viel denken, ohne ihn zu verstehen, indem man sich
von seinen Worten zu eigenen Gedanken anregen l&sst.
Dies begründet aber einen tiefgehenden Unterschied zwischen
meinem Verstehen und der Apperzeption, sei es dieser oder
jener Schule. Die Apperzeption ist die Aufnahme imd Ver-
änderung einer Perzeption durch meinen eigentümhcfaen
Seeleninhalt, ein Ich-isieren alles Neuen und Fremden, was
bei fremden Äusserungen nichts anderes beissen kann, als
dieselben missverstehen. Apperzeption und Missverständ*
nis ist dasselbe 1). Wir brauchen uns nur an Denker ver-
schiedener ausgesprochener Richtungen zu erinnern, um diese
Gleichung zu bestätigen. Wer in ein bestimmtes System,
Begriffsgebäude verrammt ist, der hOrt und sieht nur mit
diesem System, seine Begriffe stehen gleichsam an den Ein-
gangspforten zu seinem Innern und weisen ganz Verschiedenes
a limine ab, während sie minder Verschiedenes verspeisen
') Dies sohwebt anoh Lmas klar vor und veranlasst ihn, .un-
richtige, subjektive Apperieptionen" in unterscheiden (8. S9 und 40).
Dar B^riff d« AppeneptiDn Usst indes eine sololie Untersoheidong nieU
■o; die AppeneptioD ist ein Vorgang, der sich im Hörer abstielt nn] nm
Standpunkte dieses sind alle Heine Appwiaptionen richtig.
iM,Coo<^lc
I lad B«pWfly.
B^HM. ,. 37»
Qod asriiniliereni)^ Baber dje beltaiitite Erscheuang, daafi
grosse selbatändige Denkor so leicht dazu hiimejgda, andere
HÜBazaTerstehen, ja leideaschaMcb nüBBZuTerBtehen. Bei
ihnea ist die Stärke der appempierendea Begriffe Bofanld
in vieleo aoderea Fällen jedoob die Schvficfae und Beqaeib-
lictdteit der Äpperziplerenden, w^ehe die Mühe des Sitii-
hineindenkeiui scbeaeii und lieber Unrecbt thon ala für die
riehtige SSnsicht ein bisBchen Abbruch leiden. „Was man
aia Mängel der Intelligenn anBiebt, sind d^er nicht selt^
F^er des Willens. Seinen Neigungen und Wünschen zuta
TrotB unbefangen und gründlich zu appermpibreh, ist darum«
vuiig8t«n3 auf wisseoBobafUichem und eäüscbem Q«biete im
Qninde eine sittliche That Und das Vorrecht starker 0ha-
raktere" =).
Wir apperzipieren aläo mit dem eigeben tch und ver-
sMiMi mit dem fremden Ich. Das beisst, ein zu verstehen,
müssen vir am unserem geistigen Yorrat das fremde Iota
za konstruira^n attchen. Das Exitetium des CteÜngeas iM
das „Gefahl der angemessenen Bezeiehnung''i Dae
„G^fHhl der nn angemessenen BeHeichnung" ist dann das
UnlustgefUhl, welches zu seiner Aufhebung durch das Votl"
versUbidnis drängt. Es u-heitet der Apperzeption entgegeni
Unser Verhalten fremden Äusserangen gegenüber wird melflt
ein Eompromiss sein z¥ris(dien nnsereo Apperzeptionszentrea
nnd dem „tJnlnstgefabI der nnangMaeesenen BezeichnBi^''i
wobei nach der Li^e des Falles der Vorteil sich jeweäs
der einen oder anderen Seite zuwenden wird. Die Appw-
zeptionen, da sie die Änwraidung des «kleltist^ EraftmaMSs"
gestatten, werden, der fikonomischen Natur omeres EUitnd-
systems entprechend, immer den grosseren Teil hiatschen; eis
schützen uns vor der Störung durch fremde Meinungen, vor
der Peifa des Uölemenfl, sie sind eine sehr wohMhätige Ein-
riohtong für den Organiamas, eine SchutsTtHTiehtuag gegen
■) Lu(9x, ft. «. 0. a 48.
■uKtu«. FUlM. B. Sodok XXVO. t. iS
n,g,t,7l.dM,COOglC
274 Hermann Svoboda:
ÜberaofitreBgung durch allzu riet Neues. Unser erstes Inter-
esse ist daher das KissTersteheo. Das Missverstehen
ist uns ein LebensbeddrfDis. Zum VerstSndiiiB aber
drängt eine Beihe von Interessen, deren Nichtbefriedigung
schwerer empfunden würde, als die Störung der geistigen
Ruhe. Beim Gelehrten, der berufsmässig in fremde Gedanken
eindringt, mt^ das „UnlustgefUhl der unangemessenen Be-
zeichnung" das einzige Agens sein; sonst wird häufig in
Betracht kommen, die Besorgnis, jemandem Unrecht zu thun,
die löbliche Absicht, den Gegner vom gegnerischen Stand-
punkt zu kritisieren, und vor allem die Anssicht, unsere
Kenntnisse zu vermehren, auf verheissende Pfade gelenkt
zu werden. Beim Vorhandensein so kräftiger Anbiehe wird
dann jenes GefUhl zum blossen Messinstrument für den er-
reichten Grad des Verständnisses.
Der erwähnte wichtige Unterschied zwischen Apper-
zeption und Verstehen schUesst noch einen anderen ein.
Apperzipieren können wir jederzeit, apperzipieren müssen
wir. Jede Perzeption ist eine Apperzeption, wenn man unter
Apperzeption nicht besonders aufigezeichnete Fälle yerstebt').
Dagegen ist es offenbar, dass wir nicht inmier verstehen
können; wir müssen ja das fremde Ich aus eigenem Material
zusammensetzen und was wir hierzu nicht haben, das können
wir uns durch die grösste Beweglichkeit des Geistes nicht
beschaffen. Das sind die Fälle, von denen gleich im Anfang
die Rede war, wo wir geduldig zuwarten müssen, bis uns
das Lehen im weiteren Verlaufe die Bedingungen des Ver-
ständnisses von selbst beistellt. „Sowie dem Verstehen ein
untilgbarer Rest der Subjektivität einwohnt, so kann es
nicht erzwungen werden, denn der eine Faktor desselben
') loh stimme in diesem Punkte vollkommen Lkuxua bei (Lebw d.
8., B. 41—43), der mii in dieser Fntge der einiig konseqnente und natfir-
liebe scheint, namantlioh im Qegensatc n SnümuL, waldier die F>r-
leption der ipperseption folgen Usst und duoit ihren BegilS roUiUndil
Ändert, indem ar sie tu einem selbstlDdigen payahisoheB FUnomeo maolit,
wlhiend aie ^Igamein als ein abatrahieiter Beatandtaü eines BoMwn gilt
Siehe SramKU., Abriaa der Bpntohwiuensohaft I S. ISOff.
n,g,t,7l.dM,.COOglC
Tentalien und B^idfen. 275
liegt steta in einem iadlTiduellen selbsteigenen Er-
lebnis, 80 dass der Spruch des Dichters „Wenn ihrs nicht
fllhlt, ihr werdet's nicht erjagen" auch fUr die Wissenschafts-
lehre Beine G-eltung haf^).
Apperzipieren und verstehen wird nur dann zusanunen-
fjdlen, wenn zwei Individuen ganz im allgemeinen oder fUr
einen bestimmten Fall annähernd gleiche Vorbereitung haben.
Sonst muss auf die erst« Apperzeption, die ich mit meinem
Bewussteeinsinhalt, wie er eben ist, vornehme, noch eine
zweite folgen, fUr welche ich meinen Inhalt erst adaptira^n
muss. Der Prozess beim Verstehen ist dann nicht der ent-
gegengesetzte wie im Sprechenden, sondern ganz der nSm-
liche. Entgegengesetzt ist nur der Hergang beim Verstehen
der Bezeichnung, schon physikalisch betrachtet. Das Ver-
stehen des Bezeichneten, das Auffassen des Sinnes hin-
gegen, kann nur in einer Bichtung erfolgen, da der Sinn
in gar nichts anderen besteht als in der Aufeinander-
folge von Gedanken in dieser Richtung*). Man muss
nm- immer an Beispiele denken, wo das Verständnis Schwierig-
keiten bereitet Wo einmal Übung und aadere günstige Um-
stände im Spiel sind, wird die Unterscheidung der einzelnen
Phasen und ihrer Succession sehr erschwert.
Es war schon des öfteren von Graden des Verständ-
nisses die Rede und es fragt sich, wie dieselben im Verhält-
nis zum Vollverständnis zu charakterisieren seien. Mindere
Grade des Verständnisses werden vorliegen, wenn von den
geforderten Teilbedingungen einige fehlen. Welche fehlen
') Fkuitl, a. a. 0. B. 20.
*) Völlige YerkenDODg dieses Verb&Itmsses bei HaBBUt e. B. (Werke,
Bd. TI, S. IM)). £r spriobt dort von g&tuliohen Aufgehen in eioem
Dioliter and sBKt von der sioh hierbei vollziahendea Appeneption: .Ohne
Zwaitel mnae sie bei dem Dichter früher eine innere sein, ehe sie fOr
den Leser eine kusseie werden konnte.* Haß, was der Lesei ftoseerlJoh
^ipoiipieit, iat gmt etwas anderes, ab was der Dichter innerliob appor-
Bpiert (vgl S. im Text). Gerade Holche IMohter wie der toq Hkbubt
angefahrte Walter Soott sorgen doroh die detaillierte Einführung, dass ihnsn
der Leset jeden inneren Schritt leioht naohmaobrai känne, also gleioti
ihnen apperdpiere, natörliiji Termittela und naoh der änsaeren Apperseption
dar Worte.
18'
iM,Coo<^lc
379 HMnudD BwsboiK
dOi^n, iwoM tHwrbanpt nooh Tom VeraMiäi (fie Rede 8^
kaon, fa&ngt von den Umständen des Falles ab. Eriunnt
rastt Bi(di fibrigens des ITiiterseMedee, w^eber Bwiscben dsm
Tollen Yersteben und nur dem nächsten tiefereR Grad beat^
— BMft kann ihn konetatiereii, vqbb man dareh mimi kldn-
lichea Umstand plOtxlicli Lieht ttoer einen Satz «npSi^
doD man völlig zo verstriiMi meiste — bo wM man es für
angesägt oraobten, die BeKeichnimg „Tersteheoi*' anr flir das
yoUrer^t^eiL aäznvenden. In den Fällen mindereR Ver-
stehenB bandelt ea aich doch meist nur ran ein Wissen, ein
Wortwifisen; vieirohl aueli der Fall verkoramty dass wir
den Worten einen Inhalt ontM-legen, den vir näi unserem
übrigen BewoBstseinstnhalt in organische yerbindong zu setzen
vermögen, für den aber d8e Worte nidit die (mgemeeBene
Bezeidmong sind. Damk ist zwar der andere nicht ver-
standen, aber man hat sich wenigstens keiner ÄusserliohlEdt
schiddig gemacht
Scbliestdich sei noch eines häuägeü FäCes Srwähnimg
gethan, dessen Erklärong sieh aus dem Vorigen leichi ergiebt.
Wenn wir nämlich tlber eine Frage zu grosser fiJarheit ge-
kommen sind, So finden wir „richtige BemeriCungen" hier-
über oder „Ahnungen", „migenaue Formulierongen" auch
bei anderen'). Wir verstehen andere dann besser als diese
sieh selbst; eigentUeh sind aber doch wir selbst die Yor-
standenen (Siehe Anm. 1). Daraus ergiebt sich der Nutzen
der (Gepflogenheit, ein Bu«h erst dann zu lesen, nachdem
man sich im Anschluss an Titel und Inhaltsverzeichnis eigene
Gedanken gemacht'). Die Worte haben nur dann Kraft,
') So Mgt Kim TOD yWBBWt PiioiipiMt: «IW mnA dnnb ägeam
NKhdmkoiL twnr ulbst damf |ahoiinB«B am, bsranb Sidat mM Ü
mtb andtUKtiis, wo inaii tnt gemN nlalit ntfat wQuIb kngstFoSan UbM,
weil di« Veifaner soHnt miA maak wnetten, d«W ikWi »igMin B>-
makmigeit eiiia sriehe liw cn QniMs UegB.' tPnltgtmuM, ( 3 in In.)
*i Tgl. Lura« K. K 0. 19B. IKo mriMe KMkait fibn- to W<hb
dn TonMmiB habe ioh bot Jaraaalem gvAmdMt (a. «. 0. S. Vt9tt. H^Atf
sdbatnxfl^te md fibsriiafarta Uitoll«.") So ngt w i. B.: „Wv^ «■
Mgnflnrtail nött odtv liMt, dor n^nto, uii tu kbu tn mBiMUBf
aaoh jene Urteile bereits selbst eizeogt oder noh angeeignet haben, die mr
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
YtakAaa nnd Btgni&n. 277
sreBD sie iLein« b«n0tigea. IXe wirksamBten Redner Bud
die, wedche iiiren ZvAörem eigentlich nidtits sagra, soiuUvn
nur dem .eiaen Namoi geben, was jeder schon i n üdi trSgt.
Die Lust der Übemufitimmuiig, das B^iagoi, seine Anaicliteii
in trefilichea' FormtiUifinmg zu flDden, ist häufig weit grfiaser
ala d«a am Erwwb neuer Q«sehtepunb:te um den Preis alter,
£umal jede neue AJoäfM, felis sie oicht aus ms selbst Tor-
gdit, im Beginn nir ein Wort ist Dana^ bestimmt sieb
der Wert tob Di^nssionen, beantwortet sich die frage,
eviseb^Q welchen Individuum ttberhai^t Temlbifiiger Weise
eine Di^nssicm statt haben könne, eine Diskussion, bei
veidier die Teilnehme nidd: ihre Panz«' aneinander reiben,
«fflidem sich emer am andern modifixieren, ilire Seelen ge-
wiasermassen komaumizier«) lassen und aufs gleiche Niveau
t»ingeB.
Es möge nun docA Erwähnung finden, in welchem
Zusammenhang Verstehen und Wiedererkennen steht.
Bas Verstehen kann ein Wied»«rkennen sein, u. z. des
Inhalts cönn- Aussage. Die Formulinimg des Inhalts braucht
kemeewegs an «ne IrUher einmal von uns getroffene an-
ziddiDgeQ. Ja, es kann die gleiche Form cfiner Aussage zu
einem vermeintUchenWiedererkenn«i undVerstehen ftlliren.
£m venneintliches WiedeiM-kennen, eine scheinbare Bekannt-
schaft liegt auch im Ftüle der eigentlichen At^rzeption vor,
wie oben ausgeführt Vermögen wir in einer Aussage nichts
Bekanntes wiederzufindwi, so mtlssen wir uns auf die voriiiü
geschilderte Art ndt ihr bekannt machen. Wir mUssen
trachten, ihr gegenüber in jenes V«-hältms zu treten, als
wenn sie uns schon bekannt gewesen wäre; es handelt Kch
darum, one Gleichung zu erfüllen. Im Augenblicke, wo ich
eräe bis dato unbekannte Aussage vernehme, ist die Gleichung
auf beiden S«ten unvollständig. Ich weiss, was der andere
KUoiig der darin Torkommanden Begriffe eef&hit haben." Und b
„Zu nnserem geistigen Bigentatn werden Beeri&nrteile ent dann, wtam
irir den aÜgaUiltsn Inlialt in unaarer Vontt^nng rekonatmieren imd
dmoh aelbstindige Urteile gestalten."
iM,Coo<^le
278 Heimaan Swoboda;
sagt, aber noch nicht, was er meint; und das, was ich meine,
was ich mir „beim ersten Hören vorstelle", giebt eine von
der vernonmienen verschiedene Aussage. Ich muss nun
meine Meinmig so ändern, dass sie eine der vemonmieiien
gleiche oder wenigstens ähnliche Aussage giebt, alsdann
kann ich der mitgeteilten Aussage die selbstgefundeue
Meinung koordinieren. Das Verfahren bei der Auflösung
dieser Gleichung ist ein reines Probieren, ein Sueben. Man
hat daher auch von „Probeapperzeptionen'' gesprochen. Der
Bezirk des Sucheus kann durch mannigfache Umstände ab-
gegrenzt und das Finden hierdurch erleichtert werden.
Endlich sei noch mit einigen Worten von der Beziehung
des Verstehens zu dem in der neueren Psychologie ge-
schaffenen Begriff der Einfühlung gedacht. Von Ein*
fiihlung wird zwar in der Begel Emotionen gegenüber ge-
sprochen, doch fehlt es, wie die Vertreter dieses Begriffes
bemerken, nicht an Analogien auf intellektuellem (Jebiete.
Einfühlung ist die Vereinigung des fUhlenden Subjekts mit
dem Objekt, die Durchdringung des Q«genstandeB mit unserem
Ich'). Personen gegenüber heisst Einfühlung nichts anderes
als „sich hineinversetzen". Bezüglich dieses Sich-hinein-
versetzens" stehen sich nun zwei Ansichten gegenüber. Die
„Aktualitätsausicht" und die „Vorstellungsansictit'',
wie sie Witasbk in dem oben zitierten Aufsatze nennt.
Nach der ersten Ansicht ist der Zustand des Einfühlenden
ganz der nämliche wie dessen, in den eingefühlt wird, nach
der zweiten besteht das Einfühlen im Vorstellen von
fremden Emotionen. Die zweite Ansicht nCtigt natürlich zur
Annahme, dass es ein Vorstellen von Psychischem gebe;
und diese Annahme wird in der That gemacht^). Dem Ein-
fühlen entspricht auf intellektuellem Gebiet daa Sich-hinein-
denken, das „Eindenken". Bringen wir auch hier die beides
obigen Ansichten zur Anwendung, so besteht nach der
Aktualitätsansicht das Eindenken darin, dass ich ganz das
') Tgl. VisomtB, das Symbol. Anfstttia m ZalleiB JabiUnm.
») Vgl. TiTiant, a. a. 0.
iM,Coo<^lc
Vantehen and Bigreifen. 379
nämliche denke vie der andere, nach der Yoratellun^Bausieht,
dass ich nur vorstelle, was der andere denkt Erinnert
man sieb des häufigen Diktums: „Ich kaim mir schon tot-
Btellen, was du meinst," so mOchte oberflächliche Betrachtung
darin wohl eine Bestätigung der zweiten Ansicht finden.
Allein nach allem Vorhergehenden kann kein Zweifel sein,
daSB wir uns zur Aktualitätsansicht bekennen, dass also nurder
mit Fug behaupten kann, sich in einen anderen hineingedacht
zu haben, der seine Psyche ad hoc der des anderen gleich-
gestaltet hat. Dieses Eindenken ist natürlich mit Verstehen
gleichbedeutend.
Unter der „Vorstellung von Psychischem" — miBS
ich gestehen — kann ich mir nichts Eechtes vorstellen.
Allerdings, in den Pällen, wo wir jemand nicht ganz ver-
stehen, uns nicht ganz einiühlen oder eindenken, herrscht in
unserem Bewusstsein eine gewisse Unklarheit, Blässe, un-
behagliche Kebelhaltigkeit, die von der Vorstellungsfrische
beim Vollverstehen sehr absticht. Bei der Seltenheit des
Yollverstehens ist es nun nicht verwunderlich, dass man
mindere Orade des Verstehens zur Norm gemacht und sie
wegen ihrer charakteristiscben Vagheit zum Zustand des
Verstandenen in einen analogen Gegensatz gebracht hat wie
die Vorstellungen zu den Empfindungen.
Die Vorstellungsansicht ist psychologisch erklärlich,
aber nicht haltbar; die Aktualitätsansicht ist leicht zu
halten, ihretwegen war es aber nicht notwendig, einen neural
Begriff einzuführen. Sie betont kein irgendwo neues psycho-
logiBches Moment.
Tu. Dm Verstehen ron Ansdntek.
Zunächst heisst natürlich auch hier Verstehen nichts
anderes als in der Situation dessen sein, der etwas ausdrückt.
Allein, entsprechend dem Unterschied zwischen Bezeichnung
und Ausdruck ergeben sich einige Modifikationen.
Der Ausdruck dient in erster Linie einem subjektiven
Bedürfiiis, er befreit uns von einem peioigenden GefUhls-
iM,Coo<^lc
abermaw. Bern antapredieod wJM dae Lustgefühl deasen,
der fremden Ausdruck Tersteht, noch weit grösser sein als
dessen, der fremde Aussagen rerstebt. DafOr ond aber die
ßc&wietigli^iten des Verständnisses SMck grosser als bei den
Aussagen, weil der Mitteüungswert des Ausdnu^es weit
geringer ist als bei diesen. Als Beispiel diene wie oben die
Husik. Bs ist ja vielleicht von keinem anderen Verst&adniB
deraeit so viel die Rede. Was beisst also Uusik v^'Stehen
und welcher Art ist der physische MecbaaismuB dieses Vet-
«tehensF Dabei sehen wir von der Form der Musik, also
dem, was ihren ästhetischen Wert ausmacht, ganz ab und
denken nur an den Inhalt, an die emotionellen Elemente,
weldie in ihr zum Ausdruck gebracht und.
Ww zuföllig mit jenem QefQhl in den KcHizertsaai
kommt, aus welchem heraus das vorgetragene Stack kom-
poniert ist, der wird es verstebeu und er wird sich keines
Augenblick im Zweifel seio, dass er es versteht. Die
OfaarakterisCik des V^steh^s ist aiu^ hier ungemein Uar,
es ist die Charakteristik des Selbstsdiaffens wie <^}mi des
ßelbstdenkena. Zum volien musikalischen Verständnis wird
daher nur derjenige be^%higt sein, dessen mu^kafiscäe
Phantasie so entwickelt ist, dass er an eigene Gefflble ii^eod
welche musikalische Elemente, wenn au^ vagw Natur uwl
g»iz dilettantenhaft, anzuknüpfen beßUiigt ist, mOgen dieselben
aiichmitgeringenAbweichungennidits anderes als musikalisdie
Erinnerungen wiedergebe. Ebenso wie jemand, der «e
einen eigenen Gedankwi gehabt, auch nie einen fremden ver-
stehen wird, weil ihm jeder Massstab für den Grad seines
Eindringens fehlt und jeder Ansporn hierzu, so wird auch
nur der in der Musik volle Befriedigung suchen und finden,
welcher wenigstens in guten AugenUicken geahnt hat,
weldien Genuss er sic^ selbst bei höhw entwickelten Fähig-
keiten verschaffen konnte. Es genügt also nicht, dass jemand
gerade vom entsprechenden Gefühle beseeät ist, sondern er
muss auch dieses GefUhl der gehörten Musik vom anzu-
stellen wissen, er muss in sich das ur^Udiliche VeriiUtois
iM,Coo<^le
ud BflgnitKi. Sil
«wischeo Qatä^ und Musik faeratellen köimen, wozu unter
aadezem auch Übun^ ron nOten ist. Das Versteh«! tihl Mjiaik
üt iaher mdd: der mo^ekehrte Prozess wie im Koii4>ooiiten
nach dem Schema: das G^efUhl gestaltet die Mu^ und die
beBtimmte Gestalt der Musik erregt das ÖetUM, sondern ich
JDUSB dieses so erregte Geflühl erat in dieselbe OrdiMing wie
baan Kompitmisten bringwi. Nicht dass ich es habe, maelit
das Vwrtüiiijniti aus, sondern dass ich mich davon befreien
iasse, durch des anderen Musik, eb«iso wie er, not eduem
ff'ort: dass ich die Musik als adäquaten Ausdruck
empfinde. Diese Empfindung ist auch das beste EütwiiHU,
dasa icfa ein ToastUck verstanden habe.
Es fragt sich nun, wie mich ein TonsMck in die
Stimmung, das Geföhl bringt, welches es ausdrückt Hier
kommen nun hauptsächlich zwei Momente in Betracht.
Stimmungen, GefUhtstöne, also ungegliederte Eontinua
werden durch analoge Empfindungen erweckt. (Klangfarbe,
Tonart.) Gefühle, oder vielmehr die komplizierten Geflöils-
TOraussetzungen, das bewegliche Element am Gefühls-
ganzen, werden durch die Bewegungen der musikalischen
Elemente reproduziert. Fr^ sich nur, mit welcher Sicherheit
und Genaui^eit! Die Erörterungen hierüber sind noch
immer aaf der Tagesordnung. Das Wichtigste wurde schon
in einem früheren Abschnitte besprochen.
MnigM wird konieqnent überselieu. Man naimt die Mnsik eine
fiptuhe. Aber man bildet Bioh ein, sie nitdit lernen m mtisaeii. Man klagt
äW die HitteüoiiKeBobvache der Mosik — als wenn die Sprache waies
Oott iras tat ein Ideal in dieeer Beziehung wärel Die Venchiedenbmten
der Individnalbegriffe mag oft nicht Tiel geringer sein, als die von QetöMen,
valohe oina nnd dieselbe Unsik b« TersoluBdenen Hörern erregt Der üm-
Btaad, dass sich die Hensohen der gleichen Worte bedienen, tfinsdit sie über
die Bdiwierigkrit and Boltettheit voUkonunenen Ventebens hinweg. Dann
iit die Mnaü Ür MittoiliuigSKwecto nkdit gaeofaaffen, nicbt aas BUtteilooge-
bedöifnia entständen und nicht dnrcb dasselbe entwickelt Wenn sie andeien
iiidtts sagt, so adhadat das ihrem Sdiöpfer, dessen Interesse sie in erster
lim vx bebie^gan hat, gar nidit
Die Ausdrucksföhi^eit der Musik steht ausser Zweifel,
so bald nur eiiimal ein paar kongeniale Geister einander
verstehen. Ich erioDere an Beethovens IX. Symphonie, der
rmn-ii-.-i Google
282 Hermann Swoboda:
bis auf Wagner niemand das zutreffende Programm zu unter-
legen Termocbte; jetzt finden freilich auch andere den Aus-
druck der Faustischen Gefühlswelt bis ins kleinste DetuI
von genialer Wahrheit.
Freihch bedarf ein kongeniales Individuum, um der
Kompositiou eines anderen den richtigen Q^flihlsanlass zu
unterlegen, nicht der Ifmgweiligen Beihilfe von Assoziationen,
sondern es taucht aus dem reichhaltigen Repertoire seines
Gemütes von selber jenes Gefühl auf, welches man in die
gehörte Musik ausströmen lassen kann oder es findet m
Vorgang statt aDalogden vorerwähnten „Frobeapperzeptlonen'',
man versucht es mit verschiedenen Programmen, bis man das
richtige trifR^ Dies, glaube ich, ist der Grund imseres Vei^
gnUgens am Öfteren Hören der Musik, dass wir schon
wissen, wie wir einem Musikstück entgegenzukommen haben,
dass wir uns schon zu ganz bestimmten Gemütsbewegungen
parat halten und durch den Wegfall der Arbeit des Suchens
ganz unbehindert die Übereinstimmung zwischen G«fUhl und
Musik gemessen können.
Bas Verstehen der Musik ist also in weit höherem
Masse ein Verstehen quoad actum als das von Gedanken-
äusserungen. Ihre Verbindung mit den voraufgehenden und
künstlich festgehaltenen Gemütszuständen ist viel inniger als
die zwischen Gedanken und deren Voraussetzungen im Be-
wusstsein. Daher der vitale Wert der Musik. Die zahl-
reichen Anekdoten über Heilungen durch Musik — mag ancb
vieles im ihnen übertrieben sein — bleiben immerhin sehr
bezeichnend.
Das Verstehen von Musik fällt mit den Wirkungen
derselben keineswegs zusammen, weder faktisch noch im Ideal-
fall. Es ist daher auch gar nicht Absicht dieser Zeilen,
Über die Wirkungen der Musik, wie sie zum Teil in dieser
selbst, zum Teil im HOrer ihren Grund haben, etwas aus-
zumachen. Es sollte vielmehr nur auf den einen Umstand
nachdrücklich hingewiesen werden, dass die Musik weit
weniger als andere Kunstprodukte losgelöst vom Künstler
n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL'
Veratehen nnd Begreifen. 2g3
betrachtet werden kann, dass es in ihr von subjekäven Ein-
mischungen wimmelt, dass sie also in jenen Fällen, wo und
soweit sie Ausdruck ist, nur einen Teil eines grösseren
Ganzen vorstellt — wie oben von Gedanken gesagt wurde
— dass sie nur im Zusammenhang mit dem Schaffenden
Sinn hat imd dass sie infolgedessen für den Hörer nur Sinn
hat, wenn er sie annähernd in denselben Zusammenbang zu
stellen vermag. Für das Auffassen der formalen Elemente,
des „Arabeskenartigen" der Tonkunst, besteht diese Forderung
natürlich nicht. Daher der Genuss von sogenannter „leichter
Musik" jedem Alter, jedem Glescblecbt, zu jeder Stunde, in
jeder Umgebung, bei jeder Witterung, in jeder Gemüts-
disposition freisteht; während die „schwere Musik" immer
Anforderungen stellt, Voraussetzungen heischt und deshalb
von den jeweils Indisponierten verdammt wird. Die leichte
Musik ist eben^nichts als die Ausgeburt üppiger Phantasie,
ohne Beziehung zum Ich, das Ich weiss gar nichts von dieser
Phantasiethätigkeit. Künstler dieser Art bezeugen, dass sie
beim Schaffen sich ihrer selbst gar nicht bewusst, entrückt
waren. Die schwere Musik kommt dem bedrängten Ich zu
Hilfe, die Details ihrer Form kommen nur durch hartnäckiges
Dasein des Gefühls zustande, der Künstler ist sich nicht
nur seiner selbst bewusst, sondern muss sich bewusst sein').
TIIL Du Terstehen nach ATEHAbics' VlUlnUientheorle.
Durch zweierlei Beobachtungen ist Avbnabius auf seine
Vitab-eiheotheorie gekommen: durch physiologische (im Än-
schluss an die GoLTZ'schen Froschversuche) und durch psy-
*) Ans der groBBen Zahl der — meUt sehi populär geh&Iteiieii —
Sobriften, velohe sich mit dem Tent&DdiiiB nnd den Wiiknngen det Hosib
befuem, hebe ich nnr hervor Luabub, Leben der Seele, S. Aufl. III,
8. 69—201, wo man neben einer Beihe teioater BeobacbhmKen (siehe
namentlioh 8. 139, 140, 149, IM) groBse Ünklartieit in den Prinzipien vor-
findei So meint er, ,Die wahre Genialität des Komponisten wird mch
nicht darin Beigen, daw er seiner eigenen Oemütaloge volUtomtnen chank-
teriBtiBchen Ansdraek geben, eondeni dass er mit Sicherheit im Hörer die-
jenige Qemfitslage eizengen wird, welche er beabsichtigt" (a. a. 0. S. 166).
Sohirfer kann man den im Text Terworfenen Standpunkt nicht foimnlieien.
iM,Coo<^lc
96d BMtuna fivohed«:
«bologjaobe. Das Ergeboia dieser BeobaehtungeB -wv die
fi!jBjtdeckuDg, dass unaer psychiscliee Lebea ia R^beo itr-
läuft. Diese Beibea sind aatUrlich in erster Lioie physio-
}ogjl^he; daas diesea pliyuologiscbeo Beibeo immw p^cbo-
logifiche parallel lavfw, ist nidd notwendig. So kommt
^vmnAXtoe — ganz im Einklang mit der zweifacheo Natur
«eioer ßeobachtuagedL — zur Uoterscheiduiig der unablüuigigMi
(pbysiologifichen) uod der abbängtgeo (ps;cbologi8cb«i) Beiheo.
Die abbtüigige Beihe setzt sicfa zasammen aus den psyctüschoi
Werten, den E- Weiten, wie sie ATrarAKius neasii. Sie braucht
keioesv^gB TOllatjUidig zu san. äjib unseren AuSBagen allräa
ist daber kein zuverlässiger Scbluss auf den Ablauf udsmw
36elenvi»'^lnge zu zleben; deshalb setzt Ayb^abiits an die
Spitze seJAes Hauptwerkes die Erörterungen Über die un-
abhängige Vitalreihe, ein höchst mqiädagogjsclier Vorgang,
da uns ja doeh nur die abb^Ji^ge Reihe zum Bewusstsm
koHunt und die unabhängige nur im verachwiegenw HiiüiUck
auf die abhäfi^ge kooslruiert werden kann.
Wie hat man sich nun Beginn und Verlauf einer un-
abhängigen Vitalreihe zu denken?
Unser Zeiüralnervensystem, das Sj^»m 0, haben wir
uns offenbar mit der Fähigkeit ausgestattet zu denken, aicb
in seiner Umgebung unter mancherlei Störungen „Schwan-
kungen" zu behaupten. Diese SchwaDkuBgeo meder auB-
zugleicheu, ist die Aufgabe des Systems C. Das System 0
hat nicht nur Arbeit zu leisten, sondern es wird auch er-
nährt, und es befindet sich im Grleichgewicht, wenn seine
Arbeit durch eine entsprechende Ernährung ausgeglichen
wird. Zu der Formel, welche AvaHAEtus fttr den Gleich-
gewichtszustand aufstellt: P(R) -|- P(S) = O ist bemertens-
werter Weise u. zw. ganz unabhängig auch EsBara ge-
kommen. Ich führe sie nur an, um den Terminus „Vital-
düferenz", welch«- bei Atbkabius eine grosse Bolle spielt,
zu beleuchten. Schwankungen jeder Art werden nämhch
uach obiger Formel bewirken, dase die ^ebraisebe Summe
n,g,t,7l.dM,GOOglC
dor beiden Wert« eine von O verBohiedene QfOsB^, «ben dM*
Vitaldifferenz ergiebt.
Eb «ntsteht mm die Fragey wie VM «ine soichfl ■nf'-'
gehoben? Ein eiafacher Fail ist der, -wenn eü>e ArhtHa^
Yetmvltnnig dutcb eine Eä7t)tliruüg8Tennefanrag aos^glicfien
wird. Aber die VitaldiffereDK kann noeh auf andere Artefi
zur Aufhebung kommen, wie eine rein mstbematisehe Dis'
knssioB obigOT Formel ergiebt; nEDttentitob gilt dies tod ded
VitfüdiffM«nHen bOber^ Ordnong, Bber die nur fioviel be^
merkt Werden mOge^ d88B eie alle Arten pfayaiäGbeD md in^
tellektuellen Unbehagens nmfaseen mid gewOtaolich erst liao&
einer Beibe von Yermittelosgen, d6n MedialttndenmgeD)
darcb die Finaländenmgen zur Aufbebong gelangen. BS
ist bier ni^t der Ort, den Verlauf der Titaireibe im Detafi
darzrfegen — es bliebe Bchwerlioh was anderes flbrigf als
den eratea Band der „Kritik der reinen firfabneig'' eijxa-
scbreiben -^ es soll nur aof das ^y>Me Ergebnis UngewieBetf
werden, dass nneer gesamtes, praktisches mid theoretiBähes
VerhaHMi von Vitaldifferenzen seinen Aasgang nlmmtf ob
diese Bnn von innen oder von aussen „gesetzt" werden, and
TOA dem Sestfeben geleitet ist, diese Vitaldifferenzen aof-
zubeben. Die Form der Vitalreihe ist bei unserem prak-
tischen Verhalten dieselbe wie beim tbeoretjschen; nur unserd
AdBsagen, die E-Werte, sind in den beiden B^en Tersebieden.
Bbi wahrhaft erquickender Monismus, der die simpelsten
Verrlßhtnngen mit den ktibnsten Spekulationen in einer Formet
Eosammenzufassen ermHgllchtl
Der Sinn aller unserer Handlungen und Ge-
danken liegt also in der Stellung, welche sie inner-
halb einer Vitalreihe elQnehmen, und die WUrdignng
von Aussagen wird ganz davon abhängen, auf welchen der
drei Abschnitte der Vitalreihe sie sich beziehen. Ein sehr
sidieres Kriterium, mit welchem Abschnitte man es zu thun
habe, liefern die Gefühle, mit welchem dieselben verknüpft
sind. Die Vitaldifferenz ist von UnlustgefUhlen begleitete —
es wurde schon erwähnt, dass man in vielen f^en aa illrer
rmn-ii-.-i Google
286 Harraftnn Swobada:
Statt „inteUektoelles Unbehagen" setzen kann. Der Medial-
abschnitt, in welchem wir nach Vennitteluagen hin und her-
suchen, ist durch QefQhle der Unsicherheit, Unklarheit, Ver-
legenheit charakterisiert, der Abschluea der Vitalreihe
endlich durch das LustgefQhl behobener Beklemmung, ge*
löster Spannung. Diese „Abschnittscharakteristiken" sind
von ÄrsMASEüs keineswegs zuerst bemerkt worden, vielmehr
findet man unter allen möglichen N'amen Über sie gehandelt,
sie gewinnen nur im Zusammenhang mit der Vitalreihe erBt
ihre rechte Bedeutung^). Sie sind der Zeiger, welcher den
Grad der Schwankung anzeigt, der biologische Wertmesser
unserer Äusserungen. Aus dieser Vitalreihentheorie erwUcbst
fUr unsere Äusserungen, wie schon bemerkt, ein ganz neuer
Einteilungsgnmd, der von besonderer "Wichtigkeit für das
Verstehen derselben ist. Ein Urteil, welches wir im
Initialabschnitt, wo uns die Vitaldifferenz gesetzt wird,
ffiilen, braucht, um verstanden zu werden, nur eine Be-
zeichnung der Umstände zu enthalten, welche die Vital-
differenz herbeigeführt haben. Von Schwierigkeiten, die auch
hier schon infolge verschiedener Vorbereitung sich ergeben
können, sehe ich der Einfachheit halber ab. Das Verständnis
des Medialabschnittes erfordert schon mehr als ein blosses
Auffassen der Worte: es erfordert die zugehörige Vitfd-
differenz und vollends gilt dies von der Finaländerung-
Gerade die wertvollsten von unseren Aussagen sind aber
abhängige von Finaländerungen. Dies spürt schon PuM
(Sophist. 262D), wenn er vom Urteil sagt: Tie^vet », es
bringt etwas zum Abschluss; dieses etwas ist die Vital-
reihe. Und das sind die schwerverständlichen Urteile, welche
nur als Aufhebung einer Vitaldifferenz Sinn haben.
Mit der Vitalreihe ist eine ganz neue psychische Ein-
heit geschaffen. Die einzelnen Glieder der Reihe haben eine
selbständige Bedeutung. Wem daher nur Teile Übermittelt
n,g,t,7l.dM,COOglC
Tontahou und Begr^en. 287
■werden, der kann nichts tuideres als blosse Worte haben;
die lebendige Einheit beginnt erst mit der ßeihe. Etwas
verstehen heisst daher, es in einer Reihe haben,
etwas missTeretehen, ea ausser jeder Reihe haben').
Eine andere Frage ist, wie man zum Verständnis, also
ZOT Bildung einer Reihe kommL Verhältnismässig einfach
ist der Fali, wenn man z. B. einen Autor im Zusammenhang
liest, wenn man also die Vitalreihe m i t dem Autor durch-
ULnft. Schwierig ist die Sache dort, wo wir uns zu einer
Aussage, die eine Vitaländerung vorstellt, die entsprechende
VitfUdifferenz er^nzen müssen. Unter anderen termims ist
darüber schon gesprochen worden. Die Aussage wird oft
Anhaltspunkte bieten, damit wir uns an den Beginn der
Reibe denken können; geht's nicht mit einer, so vielleicht mit
einer anderen Vitaldifferenz, es werden „Probereihen" vor-
genommen. Es ist indes bei Beantwortung der Frage nach
dem Mechanismus des Verstehens aui den schon erwähnten
umstand nachdrücklichst hinzuweisen, dass nur die unab-
hängige Vitalreihe vollsULndig sein muss, dass daher jedes
Bemühen, unsere Aussagen bloss aus dem herzuleiten, was
uns bewusst wird, notgedrungen zu Fehlschüssen führt.
Vom Standpunkt des Funktionalismus, wie Um Atbitabids
vertritt, giebt es keine psychische Kausalität Was uns von
einem psychischen Hergang anfallt oder was wir uns davon
zum BewuBstsein bringen, das ist schon ein neuer psychischer
Hergang, Abhängige einer neuen Reihe. Das beste Beispiel
für einen Fall, wo sich die Schwäche der landläufigen
Psychologie offenbart, scheint mir das Verhältnis zwischen
einem Gedanken und dessen dämmerigen Vorstadien zu sein.
Wer hier versucht, zwischen Bewusstseinsdaten ein Gesetz
a\i£sufinden, wird mit Verlegenheit beginnen und enden. Bei
Lazasus findet sich folgendes Bekenntnis: „die psychologische
*) Dieser üiiistud hat oCenbai; SmuTEAL mi AnMellimg seiner
en Interpretetioitsart, der pmholof^sdiei], veranksat Hit Uüer Hufe
soll der Fhilolog .das erkennende VSTatehan zom bereifenden (?) vertiefen",
and mi dTirali die „kaaaale Betrachtnng dee Bedeverkes" .
iM,Coo<^lc
36B HflrnaBii SwoVoda:
Cba^akteristiK tob OedanheiAeiineB i& dem StaAlum^ da*
ibror Tollen lättwiekhing zur Sprachlorm Enweilen ToraDgehV
iBt bis jetet noch niobt versoclit wordeo. Sie bildet einer
ausseid sobvieiige Aufgabe der Spraobpsycbolf^e" (Lelvea
d. S. m. 8. 149). lä- hätte getrost sagen könneii, unlösbare
Au^abe flk die Spraehpsychologie. Üad wie 'klar emih^k
jenes Verhältnis bei Anwendong dm Begriffs der Vitalreihe.
Unser Vermitnis zu denjenigen Aussagen aaderw,
welehe Finaländerungen zugehtfren, welche Beihen eb-
schliess«!, bwin also von folgender Art sein: Entweder be^
finden wir uns sebon im Initialabscbnitt, wir laborieren am
Problem, oder wir haben sogar schon eine Lösung deesHben
Tersuebt, befinden uns also im Medialabsohnitt; in beiden
FSUen — ^ praktisoh Tielleicht nicht die häufigsten — bria^
die fremde Aussage die eigene Beibe zum sofortigen Ab-
sohlusa, zum befriedigenden, befreienden AbsohlnsB.
Trifft uns eine firemde Aussage nicht schon mitten in einer
ßeihe an, so ist die Folge davon, dass sie uns eine Vital-
differenz setzt, weil nämlich durch eine solche Aussa^ das
gewohnte Verhältnis zwischen Aussage und Ausst^f^nhalt
abgeändert wird (Schwankungsvariation); Mther war vom
„UnlustgefUhl der unangemessenen Bezeichnung" die Bed«.
Wie kann nun diese Vitaldifferenz aufgehoben wer^o?
Offenbar dadurch, dass sidi das gewohnte VerbfiltDia
wiederherstellt, dass sich zu den Worten ein (bedanke ein-
findet. Da aber dieser Qedanke selbst Entghed einer Reihe
sein muss, so kann die durch eine unverstandene oder halb-
verstasdene Aussage eingeleitete Reihe nur dadurch zum Ab-
sehluBS gelangen, dass in ihrem Medialabsehnitt eine
andere Reibe abläuft, eben jene, welche zum be-
nötigten Gedanken führt, eine Hilfsreihe. Die Ku-
sammenhaltung dieses Gtedankens nüt der fremden Aussage,
das Wiederfinden des gewohnten Verhältnisses schliesst
dam> die Hauptreihe ab. Die Zeit, welche zum Ablauf dieser
komplizierten Reihe erfordert wird, kann des angeachtet Beta-
kurz sein; instruktiTW sind natürlich die Fälle, wo siiäa £e
iM,Coo<^lc
VsTBMiflD und Begreifen. 289
£eihe über grSssere ZeitläuftFO aufidehnt, wo uns ein Dittum
„immer vieder keine Buhe l&sst" (Vitaldifferenz) und
zum Nachdenken treibt, bis durch eigeoes Bemühen oder
durch äussere UmsUüide die Hilfsreihe zum Abschluss und
die ursprüngliche Vitaldifferenz zur Aufhebung kommt Mehr
lässt sich über den Mechanismus des Versteheos nicht sagen,
die sehr naheliegenden Fragen nach dem genaueren Hergang
Im Medialabschnitt haben Tom Standpunkte der biomechamscheB
Erkenntnistheorie gar keinen Sinn. Die psychologische
Charakteristik desselben ist (siehe Lazabdb' vorhin zitierte
Bemerkung) sehr dürftig und verschvommen. Die Sprache
ist fOr ihn nicht geschaffen und nicht ausgebildet. Daher
das vergebliche BemUhen, mit der Sprache über ilm etwas
auszumachen. Die Worte stellen sich immer erst ein, wenn
wir über etwas „zur Klarheit gekommen", d. h. im Final*
abschnitt angelangt sind. Der Medialabschnitt stellt nur ein
Übergangsstadium dar, er lohnt das Aufhalten nicht. Die
Unklarheit seiner abhängigen psychischen Worte entspricht
ganz seiner zwitterhaften GefUhlschan^lenstik, die zwischen
dem deutlichen Unlustgeföhl der Vitaldiffwenz und dem aus-
gesprochenen LostgefOhl ihrer Aufhebung mitten inne steht,
also seinem biologischen Wert. Es sind aber nicht um* die
Voratadien unserer (bedanken, sondern auch unserer Hand-
langen und nach allbekannten Zeugnissen, die von Kunst-
leistongen dem Bewi^staein grossenteils entzogen. Dieser
Umstajid im Vereine mit der Bedeutung, welche man den
unklaren Vorstadien im Verhältnis zu den klaren Besultaten
offenbar zu geben genötigt ist, hätte schon dazu fOhren
müssen, die (Geltung anderer als rein psychischer Elemente
für unser Denken und Thun anzuerkennen.
Für das Problem des Verstehens bietet die Vitalreihe
noch einen Vorteil. Wenn die Voraussetzimg des Verständ-
nisses einer Aussage die ist, dass uns die zugehörige Vital-
differenz gesetzt wird, so werden uns offenbar auch Hand-
lungen und Unterlassungen unserer Mitmenschen verständlich
sein beim Vorhandensein der entsprechenden Vitaldiffu'enzen.
lSmiol zzva «. 19
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
290 H«imasn Bwobods:
Sowie Bich unser gesamtes Verhalten mit Hilfe der Vital-
reihentheorie erklärt, so ancb das Verstehen des ge-
samten VerhalteoB unserer Mitmenschen. Ob ich einen
Selbstmörder Terstehe oder deo Auseprucb eines Philosophen:
es lassen sich beidemale die Yoraussetzmigen des Verständ-
nisses unter dem Begriff der Vitaldifferenz subsomieren.
Der Begriff der Vorbereitung leistet keineswegs dasselbe;
in ihm ist keinerlei notwendige Beziehung auf die nach-
folgenden Stadien enthalten.
Hat man einmal das Verstehen von Ctedanken and
Handlungen formal identisch gefunden, so hat es manchen
Vorteil, Ton den Handlungen auszugehen. Erstens sind die
Vitaldifferenzeo, welche zu Handlungen fUhren, weit fühlbarer
als solche. Dann kann man sich über das Nichtveratehen
TOS Handlungen nicht so leicht hinvegtäuBcheo wie über da&
von GJedankeu. Gewöhnlich hört man nur von Handlungen,
dass sie jemand „absolut unverständlich" sind. Endlich er-
hellt bei Handlungen am klarsten die Bedeutung der indi-
vidnellenVoraussetzungen. „Dasmuss man mitgemacht haben",
„in der Situation muss man selber gewesen sran", ist der
vollauf berechtigte Einwurf, welchen die N'ichtverstandenen
den Nichtversteheoden machen.
Ein ganz neues Licht wirft die Vitalreihentheorie end-
lich auf einige Wirkungen der Musik, die zwar schon öfters
bemerkt worden sind, aber erst jetzt recht verstäadlicti
werden. Denken wir an ein grösseres Musikstück, den Satx
ein»' Symphonie oder eine ganze Symphonie; während
derselben mag es oft sein, dass wir im Wohlgefallen an
melodiösen Schönheiten, an ausdrucksvollOT Formgebung und
stimmungsvoller Instrumentierung aufgehen, all^ tun Schlüsse
kommt doch häufig noch etwas anderes hinzu. Woher
stammt die Wirkung, wenn plötzlich daa HauptUiema in
glänzender Qestalt wiederkehrt, namentlich, wenn es in Dur
wiederkehrt, lehrend es die Symphonie in Moll einleitete,
woher stammt die ungeheure Wirkung langhinhaltender
Orgelpunkte auf der DoBoinante und des erlösenden fäntrittes
iM,Coo<^lc
Veistoluii nsd BegreUni. 291
dar Tonika? Ich glaube nicht fehlzagehen, wenn ich diese
Wirkung darauf zurückführe, dass in allen diesen Fällen der
allgemdoe Verlauf der Yitalreihe durch Tongestalton sym-
bolisiert vird. Ja, es ist mir sehr vahrscheinlich, dass die
Dreiteilung der Satzform nichts anderes als ein Ausdruck
der Vitalreihe ist, Ausdruck in dem früher entwickelten
Sinne eines uniformierenden Einflusses. Es ist jedenfalls
Behr bezeichnend, dass der Inhalt, welcher den besten sym-
phonischen WOTken teils von ihren Schöpfern selbst, teils
Ton ihren Eritikem unterlegt wurde, sehr einfCrmig ist:
Immer handelt es sich um die Bedrängung des Genius durch
äussere oder innere Gewalten (Vitaldifferenz), um Auswege,
die er versucht, das Schwanken zwischen ernsten und heiterMi
Auswegen (Adagio, Scherzo, Mendialab&chnitt) und um die
endliche befriedigende Lösung im jubelnden Finale. Es ist
weiter sehr bezeichnend, dass man diese Vitalreihenform am
ansgesprochendsten bei Komponisten findet, welche im Leben
viel gelitten haben, welchen also diese Form leider sehr ge-
läufig war: bei BeeUioren und bei Brückner. Die ungeheuren
GtefQhlswirkungen, welche namentlich der letztere stellenweise
zu erzielen vermag, fUhre ich nur auf die klare Vitalreihen-
form seiner Symphonien zurQck. Die auch von anderen
Seiten an ihm gerUhmte Macht der Steigerung und spannenden
Vorbereitung derselben besagt im Grunde nichts anderes,
nur dass damit fUr den psychologischen Ursprung jener Form
nichts gewonnen ist
Man kennte auch sagen, das Musikstück nimmt die
Gestaltqualität der Vitalreihe an; am einfachsten ge-
schieht dies dadurch, dass die Gefühle, welche die ranzeinen
Ai>schnitte der Vitalreihe charakterisieren, in der nämlichen
Beihenfolge durch die Musik ausgedruckt werden. Allein
die Hypostasierung der Themen und die mannigfachen Ver-
änderungen, Verarbeitungen und Kombinationen, welche mit
ihnen vorgenommen werden, gestatten eine Symbolisierung
auch des Gedankeninhalts unserer Vitalreihrai. Manver-
^eiche densograiannten Vorbereitungsteil, wo sich kein Thema
n,g,t,7l.dM,COOglC
392 Hermann Bwobod&:
deutlich heraushebt, keines Halt gewinnt, mit dea Yorstadien
einer klaren Einsicht und mit dieser dea Eintritt des Haupt-
themas I Das ganze bunte Theater, welches Vorstellungen,
GefOhle, Wille, auf dem forum internum auffahren, wird von
den Themen nachgespielt. Die absolute Musik wird so zum
Spiegel des bewegten Seelenlebens und ihre kOnstlerische
Aufgabe ist, den Typus der Ereignisreihe in der Seele
wiederzugeben, stilisiertes Seelenleben. Dieser Typus ist aba*
eben die Vitalreihe. Zur Bildung der gleichen Qestalt-
qualitftt werden nicht — wie in fixeren Beispielen — die
Töne in ihrer Gesamtheit, sondern die Themen in ihrer
(Gesamtheit verwendet
Ich bemerke zum Schlüsse dieses Abschnittes, dass der
Begriff des Yerstehens bei Avenfuiua sich ganz mit dem des
Appendpierem deckt, dass er denselben also im Steinttaal-
Bchen Sinne auffasst und zu den vorstehenden Erörterungen
nur die Begriffe der Vitalreihe Ärenarius entlehnt sind.
IX. Sie Clnde des Tersteheiu and das Belnif».
Das Vollverstehen ist ein verhältnismässig seltener Fall
Die Welt ist faktisch nicht so öde als sie sein müsste, wenn
es ausser dem Vollverstehen kein Verhältnis zwischen
Menschen ^be. Noch vor jedem Eingehen in eine Unter-
suchung hat man das sichere Geltlhl, es mtl^e Grade des
VerStehens geben. Zwischen dem Fall, wo uns eine
fremde Äusserung vertraut ist wie ein eigener Gedanke,
und dem Fall, wo wir einer fremden Äusserung völlig rat-
los gegenüberstellen, muss es Vermittlungen geben. Wie ist
nnn bei minderen Graden des Verstehens die psychis<^e
Situation des Perzipierenden im Verhältnis zu der im Sich-
Äussernden charakterisiert? Dadurch, dass erst^em einige
Teilbedingungen des Vollverstehens ermangeln? Offenbar
nicht Denn der Mangel des kleinsten Details fllhrt häufig
schon zu völligem Missverständnis. Die Möglichkeit von
Graden des VerständoiBses beruht viekaehr auf einer anderen
fundamentalen Thatsache.
iM,Coo<^lc
THstshen und Begi^en. 293
Alle nnBffl^ Gedanken, alleB, was Überhaupt auf die
Bezeichnung Gedanke berechtigterweise Anspruch erhebt,
ist das reife Produkt einer Genesis, ist ein durch den Hin-
zntiitt der Sprache psychologisch ausgezeichneter Punkt
einer Entwickinngsreibe. Uan kann einen Gedanken in ganz
verschiedenen Stadien haben; in einem Dänunerstadium,
welches von der gegliederten sprachlichen Bezeichnung noch
so weit entfernt ist, wie der fertige Organismus vom gleich-
massigen Ovidam, und in jenem Stadiiun leuchtender Klar-
heit, wo neben der Erkenntnis schon das Wort steht. Das
Wort, die Artikulation, gesellt sich der Erkenntnis eben erst
in einem gewissen Entwicklungsstadium bei, man kann aber
deswegen nicht sagen, daas die Erkenntnis früher nicht da
war. Dies wird durch die Aussage derer bezengt, welche
mit einer ausgereiften and daher trefOich formulierten Er-
kenntnis bekannt gemacht, ausrufen: „Das habe ich mir
schon längst gedacht," obwohl es ihnen sehr schwer fiele,
auf Ehre und Gewissen zu versichern, dass sie wirklich
emen mitteilbaren Gedanken vordem gehabt
Man kann nun die Bedingungen des Verstebens er-
weitem und sagen: Es ist hierzu nicht Bewusstseinsgleich-
heit erforderlich, sondern die beiden Bewusstseinsinhalte
mQssen nur auf einer Entwicklungslinie liegen. Der Keim
im Leser, HOrer muss sich zum Bewusstseinsinhalt des
Schopfers entwickehi kOnnen; womit nicht gesagt sein soll,
dass sich dieser Keim im Laufe der Zeit faktisch so weit
entwickeln würde.
Diese Art von Halbverständnis bat eine grosse kultu-
relle Bedeutung. Der entwickelte Gedanke wirkt entwickelnd
auf den noch unentwickelten. Die Sprache zieht die Ge-
danken auf. Die Sprache macht die Kultnmehmer erst
mOndig. Sprache war von Anbeginn nur den Kulturschöpfem
und -gebem zu eigen, denjenigen, in welchen etwas zur Helfe
kommt
Daher der Genuss der Lektüre gedankenreicher Schriften.
294 Hermann Bvoboda:
Sie bringen Ansätze zur Weiterbildung. Ein lustiges Werden
hebt an. Leben ist Entwicklung, Entwicklung ist Lust
Wiederholen wir es also kurz: Die Möglichkeit von
Oraden des VerstSndnisses beruht auf der ThatBache, dass
G^edanken eine Ontogenese haben.
Zum Begreifen sind die Begriffe notwendig und zwar
die alles Persönlichen entkleideten logischen Begriffe;
während zum Verstehen die psychischen oder wie man
sagen könnte, persönlichen Begriffe vonnöten sind.
Das Verstehen ist inmier ein persönliches Verhältnis,
ein spirituelles Verwandtfichaftsverhältnis. Das Begreifen
setzt keinen näheren Grad von Verwandtachaft voraus als
er zwischen zwei beliebigen Menschen besteht Begriffen
wird der Mitmensch, soweit in seinen Aussagen die ewige,
alleinige Wahrheit enthalten ist. Das Verstehen geht auf
den beweghchen Schein, welchen die Thatsachen in den ver-
schiedenen Köpfen annehmen, das Begreifen auf das ruhende
Sein. Daher in der Wissenschaft überall mit dem Begreifen
das Auslangen gefunden werden muss. Die Wissenschaft
ist tmpersönlicb.
Verstehen gebt aof die Mitmenschen, Begreifen auf die
Welt; Verstehen auf die Welt, insofern sie sieh in Individuen
spiegelt. Begreifen auf Individuen, insofern es ohne Individuen
keine Welt giebt
Verstehen ist Erkennen als Thätigkeit, indem wir
damit den Denkprozess eines anderen von frischem durch-
machen. Begreifen ist Erkennen als Abschluss der erkennen-
den Thätigkeit, als Anschauung des Denkergebnisses.
Während die wissenschaftliche Thätigkeit zum Endziel
hat, alles täuschende Beiwerk, alle persönliche Zuthat zu
eliminieren, besteht die künstlerische gerade darin, der Reali-
tät das Zeichen einer Individualität aufzudrücken. Selbst
die realistische Kunst thut, wenn sie sich auch theoretiscli
zu einer phantasievoUen Schwester der Wissenschaft heraus-
putzt, nie anders. Daher ist das Verstehen der Kunst gegen-
über am Platze, Begreifen der Wissenschaft gegenüber. Aber
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
Tetstehen mid Begnifen. 295
sowie sich Innen- und Aussenwelt, Ich nnd Natur durch-
diingen, schliesst das Verstehen das Begreifen nicht aus,
sondern ein.
Zum Scfaluss möchte ich auf eine gleich anfangs dieser
Schrift erwähnte Chtu-akteristik des Verstehena und Be-
greifens zurückkommen. Das Verstehen ist warm, das Be-
greifen kOhl. Im Verstehenden flammt es von Leben. Der
TerständnisTolle Kultumehmer wird vom Knlturspender zu
Bewegung mitgerissen. Er hat die Illusion der Fortbewegung
dnrch eigene Kraft und die Wonne, welche mit dieser niosion
verbunden isL
Das Begreifen ist wie das Ausruhen von einem starren
Qötterbildnia. Der Anblick der ewig gleichbleibenden GJesetz-
mässigkeit, des ruhenden Seins wirkt beruhigend auf den Geist.
Verstehend bemächtigen wir uns fremden Geeistes, be-
greifend der Welt Die alten Inder haben die Wi^enschaft
über die Kunst gestellt. Die Wiasenschaft führt zum Be-
greifen und zur Buhe.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
n,g,t,7l.dM,GOOglC
A. DÖRING's rein menschliche Begrflndnng des
Eine Erwiderung auf J. Pstzoldt's Kritik derselben
TOD P. Soheerer, Naoen.
I. Snlritong. 1. Eons Ch&nkteTiBieniDg von Däsnis'B rain mensch-
licher HotiTiemDg dM sitUioheD HandehiB. 2. Die beiden Angelpunkte
diesee BegrändncgaTerBaohee, die P. mtrelfoud hecanshebt und gegen die
a Beine Kritik nehtet.
n. F.'s Kritik der eadimonistiBoheti Onndansohaaimg D.'a vom Zn-
Btandekommen Alles menBohEDhen Handelns nnd Erwiderung darauf. 1. P.
erkennt das aendAmonistiBohe Prinsip' an, dass „alles Handeln auf die grösste
Lost oder geringnte Unlust geht", verwirft aber als , egoistische Wendang'
dicBM Prinzips D.'B Sati toq der Entstehong oller Lnst, dass n&mlioh Jede
Lost ein persönliches Bedürfnis oder Interesse dee Individaoms mi
ToiBossetznng h&be, dnrch dessen Befriadigong sie entstehe. 2. Die von
P. dafür angefahrten Beispiele, dasa Lost auch entstehe, ohne dass ein
personlichea Interesse dea IndiTidonniB vorhanden wftra, das befriedigt
«erde, beweisen nnr P.'s unvollständige Kenntnis fom Urninge der per-
>5iüieheD Bedftrinisse der Hensohennatur. 3, P.'s Ablehniuig der psyoho-
logieabea Gnmdansohaaong D.'s übet die Entstehnng aller Lnat ist hanpt-
Achlidi dnroh P.'s falschen Begriff vom Sittlichen verschnldet, nach dem
die .fielbetloeigkeit'' das ontersobeidende Wesen des Sittlichen ansmache.
III. F.'s Angriffe gegen die D. eigentämliohe Motiviernng des aitt-
Kohen Handelns durah den Begriff des Selbstach&tzQngabedürfnisses. 1. Dar-
legung dea O.'sohen Beeriffes vom SelbBtsohitEnngsbedärfnisse. 2. P.'s ab.
''Teichende Fassung dieses Begriffes beruht nnr auf seiner mangelnden Er-
kenntnis von dem wahren Ziele, aof welches dies Bedürfnis im Omnde
gerichtet ist, 8. F.'s angeblich neue Erklärung der Eutstebung dieses Be-
dürtnissee ist D. nicht unbekannt; eis läuft aber, otine dass F. ee will nnd
merkt, aof eine vSUige Leognung der seeb'sohen Regungen hinaas. die D.
mit dem Namen .Selbstsohitrangsbedürfais" bezeichnet; doch wird P. an-
gesiohta der Brbhmng diese Lengnong bewnaat nicht aufrecht erhalten
können. 4. F.'s Einwendungen gegen we Ableitung des sittlichen Handelns
ans dem SelbstschätzungsbedOrfniase treffen D.'s wirkliche Meinung über
diesen Punkt überhaupt nicht; sie beruhen vielmehr auf einem vSlligen
Misaverstftndnisse der wirklichen Art dieser Ableitung, die D. giebt.
IT. Der Vorwurf dee .SolipeiBniaB aaf praktischem GetHete", den
P. gegen D.'s B^ründnng der Sittlichkeit erhebt, ist völlig unmtrftffend,
er laast gerade die Hauptsaehe, das praktische Lebensideal aasaer adit, zu
dmn D, nnd Ewai konaeqnenter Weise gelangt
iM,Coo<^lc
298 P- Soheerar:
L unter dem mtel „Solipeismas auf praktischem Gebiete* liat
J. PmoLDT in dieear Zeitstwift eine recht aoBföhrliche Kritik der Be-
^Ddnng der Sittenlehre veröffentlieht, die A. Dördis in ssinen beiden
Werken, der , Philosophi sehen Güterlehre" nnd dem ^ Sandbaoh der mensdilioh-
oatQrliohen Sittenlehre" gegeben hat.
1. Wie den Lesern dieser Kritik erinneilich sein wird, handelt es
üoh bei dieser BegruDdnng doroh Dösnte nm den bedeutsamen Tersnch,
für die GrtäUnug der eittUnheD Foidenmg ein aosreiohendee HotJT in der
menschlioben Seele naobtnweieen; das Sittengeests nnter gnudsitiliohem
Absehen von allen metaphysisohen Uebeneagongen, seien sie philosophischer
oder religiöser Berkonft, aLein aoa einem Grundbedürbüsse der Mensoheo-
natoT abznieiten; da« uttlJcbe Handeln als Eonseqaens des Olüokseligkeits-
strebens sn verstehen. Auf diese ESgentitmliohkeit weist schon der Titel
des Handboohs hin „Handbach der mensoblioh-natärliohen Bittenlshrs'.
Wenn ein solcher Yeisuob an sioh in der Oesohiolite der Ethik aaoh
nicht neu ist, so mnse doch der Onindgedanke Dösne'B and seine Ans-
ffihrong mit ihrer mnfaesenden Or^düohkeit und ihrem hoben Grade
kontrollierbarer Dentlichkeit als absolut uea beieiobnet werden. Was iaa
Grundgedanken dieeee B^röndangsTersnches betrifft, so werden hier njUnlidi
nicht, wie bei den Iriiheren derartigen Yersncben, die einzelnen dttUohen
Torediriften vorgenommen und nun gezeigt, wie ihre Elrfüllnng im eigenen
Interesse des lädividanms liege. Von dieser anorganischen Betrachttu^
des Sittengesetzee als eines Hanfens einzelner, zusammenhangsloser Gebote
ist D. TälUg fem. Ihm ist das vom Sittengesetze geforderte Verhalten ein
einheitliches, gerichtet auf das Ziel, das die umfassendste sittliohe Forderung
som Aosdniok bringt: „neminem laede, immo vero omnes, quantom potea,
jnva"; ein Verhalten, das sich in concreto freilich sofort in die dnich die
einzelnen sittlichen Gebote geforderten Bethfitigangen auseinander falt«
moss. Für den Entsoliluss zu diesem einheiuiohen, aaf die f^rdemog
fremden Wohles gerichteten Streben weist D. einen zoreichenden Beweg-
grond in einem Bedürfnis der MeDschennatur nach, und die AnfsteUang
dieser Triebfeder ist dss Ergebnis einer umEassenden üntersuchmig über
die Ornndbedurfnisse des Menschen, einer Psj^chologie des Gefühl and
Willens also, wie sie in dieser Ausführlichkeit und mit diesem Hasse
meUiodischer Bioberheit meines Wissens bisher noch nicht ontemommeQ
worden ist.
Die so mit aller OrOndlichkeit festgelegte eigene Stellang in der
Frage nach den rein menschlichen Bewe^ntnden nicht bloss za einielnen
sittlichen Handlungen, sondern za einem sittlichen Leben, wird dann von
D. noch nach zwei Seiten hin gesichert and verteidigt, sowohl gegen ESn-
würfe und Bedanken gegen seinen eigenen Standpunkt, wie dnron Kritik
der Hotivationekraft, die den von anderer Seite namhaft gemachten rein
mensohlichen Beweggründen innewohne. Wir haben es hier also mit einer
Theorie zn tlian, die sowohl wegen der Würde ihres Gegenstandes, sowie
wegen der nnssenachaftliohen Oignität nnd Neuheit ihrer Ausführung all-
seitige Beachtung and Prüfung verdient.
2. Das ist anch die Meinung onseres Kritikers P., der D.'s Usber-
zeugungen .sorgfältig dorohdocht" und die .Philosophische Oüterlehre* nn
.umfassend und klar angelegtes Werk" nennt Andi insofern war mir P.'s
Kritik erfreulich, als er seine ganze kritische Aafmerksamkeit den beiden
Funkten in D.'s Gedankengaog zuwendet, die auch mir als die grundlegenden,
die Angelpunkte in D.'s System erscheinen. Das ist erstens dis eud&momatiBche
Grandansobauang D.'s von dem psfobischen Meohaniimus alles msnsohlicheo
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
A. DSiinga rrin monadiliohe Begr^ndong des Sittengweties. 299
Budalna, disa niniljoh kUob menBohliobe Haudaln aeitiea Urapnuig ans
Bsdfiifausen des Handelnden nUime, anf deren Befriedigiuig es aosKehl;
dMB daa letzte Ziel, du tilQt alles Handelns, die eigene Lost des Handeln-
den wtre.
Nach dieser Onrndanaohaanag beetända dann das Problem der rein
menKdiliohen Begrflndnng der sittlichen Fonlening darin, ein Bedtir&iiB in
4m menxddiahen Sede zu entdecken, das zn seiner BeMedignng gerade
aitdidiea Handeln, lardemng fremden Wotüea als Kittel fordert; genauer,
dia BedUrbiia mfinte derartig sein, daes es in dem Bewnastaein des toII-
biaditea Ooteo all«n nnd aossohlieaaliab, nicht etwa in loOlligen Neben-
Torteilen, aeine Befriedigung findet Weiter mäasta von diesem Bedärfnisse
gezeigt werden können, dass es die stlrkete Hacht in der normalen Mensohen-
aatnr ist, wohl im stände^ eich alle ans anderen Badflrfnissen entspringenden
Bestrebungen zu unterwerfen, mOgen ne aioh nnn inm Wohle der Hib-
neoadien onr gleiohgflitig verhalten oder es txu Verfolgung ihrer Zide
fflindliob krenien.
Was P. znr Widertegnng dieses Ornndsohemas der ErUAmng von
dem Znstandekommen alles mensohüohen Handelns Torbiingt, scheint mir
diese von D. im Verein mit mehreren andern, z. B. Zelleb, SiowabIj Hohwioz*)
vertretene Gmndansoliannn^ dorohans nicht zn wideriegen, nnd seina andere-
artige Erklämng Boheint mir nur einen Verzicht auf kausales Verstindnis
alles Bandeins zu bedeuten.
Der iweite Hauptpunkt, gegen den sich P. wendet, betrifft das
spezielle Gmndbedürfnis, das D. nnn als Qnalle des Bittlicban Handelns
aufweist, nnd zwar wendet sich F. gegen den Döring'sotien Betriff dieses
Onudbedärfniseee und gegen die Art, wie D. aus dem Streben nach seiner
Befriedigung das sittliche Handeln herrorgehen lässt. Man sieht, dar ganze
Streit om die reiomensohliche Begründung der Sittlichkeit führt aoi die
Teisohiedenheit in den peychologisohen Gnindausohannugen zurück. Die
Fiyoholagie ist der Boden, auf dem der Streit iu Sachen der Ethik aus-
geioc^teu werden muss und es handalt sich dämm, wessen Fsyobotogie dia
richtige ist. Die Kritik nun, die F. diesem zweiten Hauptpunkte widmet,
scheint mir hauptsBchlich darauf zu beruhen, dasa P. dia Darlegungen D.'s
teils unvollstintUg berüoksiohtigt, teils missverstanden iiat
Üebeilianpt mute iob gestehen, so fruchtbar P.'s Kritik zu werden
veiBpraoh, als ich sah, wie zutreffend er die beiden Fuudamentalsätze
des Dcritig'schen Systems znr näheren Prüfung heraushob, so wenig scharf
Dcd stiohkrafdg sind mir seine Einwendungen erschienen, die er für tätlich
hilt Ja, meine Bespreobung seiner Kritik wird weit wemger eine sachlich-
pbilosoptiisohe als eine philologische sein müssen) sie wird von den Ein-
wendungeo P.'s laigen, doss sie zum grossen Teile ein Kampf gegen Wind-
mühlen sind und wd geganfiber dem teils falsch verBtandenen, teils un-
ToLtt&udig berüoksiijitigteu Oedankengange D.s dessen echte and vollständige
Heinuiv zur Geltung bringen.
n. Wenden wir uns jetzt zu dem ersten Streitpunkte, der Frage,
wie überhaupt selbständig gewolltes menschliohes Handeln zu stände kommt.
1) P.'s Anscbauung hierüber ist h5chst merkwürdig. Insofern, als er,
wann ich ihn recht veistabe, ketDeswegs grundsfttzlich und von vomheron
die end&monistische Erklärung alles Handelns abweist; nein, er stimmt D.'s
Anschauung zur Hälfte durchaus zu, lehnt aber die andere Hälfte auf das
schirfsta ab ; oder, wie er selbec seinen Standpunkt bezeichnet, er hält das
,sudämometüche Prinzip* fest, verwirft aber .die ^oistische Wendung*,
■] Vgl. die Zitate in der Ofiterlehra D.'s B. 63t.
rmn-ii-.-i Google
300 . P- Boheerar:
die ilmi D. ^dbt. Er hilt «s also fär möglich, die BegiiSe .EndlmoDismu*
and „Egoismna'' tÖIÜk vonunaiidei zd tranneii und gl>nbt, dasa w Lost
gübe, die mit penönlicheii WdoBoben und BedöifniBaeu dee Individnam»
«beolnt nichts lu thon habe. Du ist kUerdings ein Standpunkt, der bat
mm eiaenieu Bestände der Tolkatünliohen I^ohologie za g«hörui adieint,
wenigstens ist er mir unzählige Haie bei Heiüohen des piaUisahen Lebeni
entgegengetreten, dei mii abei völlig nnbaltbu nnd nnmögliob ars^eiiit.
Das „riohtig veistandena andttmonistisahe Piinsip' besteht fSi P. in
dem SstM, .dase alles Handeln auf die grösste Lost oder geringste Dnlost
geht". Ans dieser TbatBaohe folgt aber für P. keineewess, dass es dann
auoh immer dn penSoliota«, dgeoea lotneise oder Beadifiüs dee Indi-
vidnnms ist, das floroh die Handlung befriedigt werden soll and dnroh doeai
Betriedignne ebuk die Lnst entsteht Nein, diese Helnang ist gerade „di»
■goistisdie Wendung* D.'e. P. stellt die verblnfiende Behaaptang aa/, ea
könne ertahmngsoAsrng anoh Lnst in der Seele bei £rreialiiuig von Zieleo
entstehen, die aas loh des Handelnden gar nicht berühren ; ee sei mC^icli,
dass vir nna fSr Dinge intereaaiereii, Frend und Leid durch sie erfahren, die
für nnser loh TÖllig glmchgültig sind, die absolut keinen Anknnpfungsponkt
in nnsem Bedürfnissen und Wünsohen haben : „Das P^chisohe, die Seele
Diass in gewissem Sinne weiter reichen als das Ich." Eh siebt FUle TOD
Frende, btä denen e« nur hiesee, „den lohb^riff über ule natürlichai
Grenzen zu erweitern", wollte man anoh hier ein petaönliobea Interesse des
Individaums annehmen, durch dessen Befriedigung die Spende entstehe.
Nun, demgegenQber meine ich, die allergewöbnlichste Brfahnine dM
tfigliohen Lebens kann nns darüber belehren, dass eine Lust immer nur m
Stande kommt, wenn irgend ein Wunsch des betreffenden Individunms be-
fiiedigt wird, and Unlnst nur dann eintritt, wenn einem Bedürfnisse die
Befriedigung versagt bleibt. ,,Diea Tclk kann sich nicht andere tnaaa ala
bei Usui", weil seine BedürfniBansststtung eine zu niedrige ist, es aind
seelisch verkrüppelte Hensohen. „Wenn die Haus satt ist," wenn sie »das
Bedürfnis nach BpeiBs und Trank herausgeUsgen hat", dann „scduneokt das
Mehl bitter*'. Ooethe mahnt aosdrüoklioh, „wenn da Gtste wilM traktieretf*
nnd ihnen Frende bereiten, ja ihre besonderen Wünsche zu berüokeichtigeB,
dioh „naoh Sohuau' nnd Schnabel eq richten", sonst riskierst du, nichts
weiter za erreitdien, als „Salz nnd Sohmsli eu veriieren". Und *<hi dieser
Begel wild sioh hoKentliob aueh P. im praktischen Leben, s. B. hei Aor
Auswahl seiner Oeeohenke leiten lassen: er wird gewiss nicht ^aaben,
dnem Kchttuicher mit einem Eistohen Zigarren eine Freude maofaen oder
einen unmusikalischen dnroh eine Eintrittskarte zu einem Konzert erfreuen
zu können; er wird keinen abstinenten Freund eu einer Flasche „gutra,
alten Rheinweins" einladen, oder einen ICstWTneo anmutigen Damen vor^
stellen, wenn er ihm eine Freude machen will Bs sohaint mir überflüssig
EU sein, die Beispiele für das seelisohe Grundgesetz za hlufem, dass die
Entstehimg einer Lust immer an das Vorhandensein ünes Bedürfnisses ge-
bnnden ist und dass ningekehrt, wo ein Lustgefühl eingetret«n ist, immer
ein Bedür&iis dee Individaums anzunehmen ist, dnroh dessen Befriedigung
es entstanden isL
Also lugeben, dass „alles Handeln aof die grösste Lnst oder die
geringste Unlust geht," und dann doch lengnen, dass es dgen« persünliolw
Wunsche dee Handelnden sind, dnroh deren BeMedigong die Lust nur ent-
stehen kann; und dann doch leugnen, dass die Handlung ans diesen eigenen
Bedürfnissen des Handelnden entspringt, in ihnen ihr Motiv hat nnd allein
danuif gerichtet ist, diese persönlichen Bedüifrüaee des Haadelndm in be-
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
A. DSnngB lem menBohHohe BegrÜDdong das Sittengeaetxee. 301
friedigen, du hwast, A BUgsn and vor dem B xnrDokBohreokui, n^, „im
«nteD sind wir fni, im zweitau sind wir Knechte"!
AndoreiHitB soll dorobaos nicht beh&nptet werden, dass es eine so
wofube Stehe sei, nnn den Nuhweis für dies peychiBohe Onmdgesetx der
Entstehung tod LoBt nnd ünlast in Beuehnng auf dis gesamte Oebiet
und alle Alten mensohlicher Lust lu liefern and die GmodbedäifniBGe
ntchroweisen, ans deren Befriedigmig jede Art Lost eniftteht in denen die
Ifotive für alle einzelnen Belbst&ndigan, nicht kouventionellen oder naoh-
geahmten Handlangen liegen. Nein, das hieesa, das gioBse Terdienet
•obinileni, das D. um die E^weitemng nicht bloss der populären, sondern
Mioh nnserei wiBeeaBchaftlioheu psyehologiBohen Erkenntnis dadnrdi in An-
nmioh nehmen darl^ dose er in dn Gfltoriehre in einet ünteistiohupg Ton
100 8«ten das BedttrhisinTailar onserer Seele anli^eokt bat Wie diee
Verdienst om die Brweitemng onsarei lein theorebsohen payohologiBoheii
&keantniB auoli der Ethik zn Gate kommt, war ja oben gezeigt, als seaagt
wurde, dass den Psychologen DCring widerlegen mflsse, wer seine ethiBohe
Theorie angraifeu wolle.
2. Nun hat P. zum Beweise eeiner souderbareii psycho-
logischen Anschauung auch einige Beispiele angeführt, in
denen angeblich die Freude entatehe, ohne daes ein persßu-
liches BedOrMs des Handekden vorhanden wäre, das durch
die Handlung seine Befriedigung fände. Aber diese Beispiele
beweisen eben nur die oben zagestandene Schwierigkeit,
manche Bedürfnisse zu erkennen. P. ist das in diesen Fällen
nicht gelungen, und auch aus D.'s Untersuchung hat er sieb
nicht genügend über den Umfang der GrundbedOrfoisse
ontenichtet, so dass er noch tief in jener, „der gewöhnlichen
Betrachtungsweise eigenen unklaren und unvollständigen Vor-
stellung vom Umftmge der selbstischen Motive" steckt, von
der D. S. 386 der Güterlehre redet.
Pktzoldt schreibt:
gViele ouIoBtTolle Zosttode, die Bemfihnngen um ihre Be-
seitignug und endlich ihre geglückte Anfliebong lassen ans das eigene
loh — immer wieder: das empiriaoh nnd logisch richtig abgegrenite
Ich — gani TBigeesen, unbeschadet des Lnstgefühle, das mit jeder
Areichong eines gewollten Zieles Yerknäpft ist, onbeeohadet also auch
des eodlmonistisohen Prinzips. So mfisBeu wir die Freude, die wii
empfinden, wenn noa die Auflaenng einer geometrisa^en KonstruktionB-
an^be, eines Bttsels, eines BchaohproUems d. s. w. gelingt, sehr wohl
TOn dem Stolze auf das eigene E&nnen, von der lostvollen Bebiedigung
nnsens Ehigeiaes trennen. Dass das iweieriei ist, sehen wir ja dent-
lidi diuaus, <iiss wir uns aooh übet die von anderen gegebene LOanng
treuen, wenn wir nur eist das unbehagliche dea noch unxelüsten
Problems reoht geftlhlt haben. Ist hob dooh in solchen JUlen an
der LSsnng Qberbanpt weit mehr gelegen ids daran, dass wir sie selber
iM,Coo<^lc
302 P- Sohesrar:
Nun, dieser Behauptung P.'b, daas der Freude über die
LOsung der genannten Probleme durchaus nicht immer das
SelbatechätzungsbedUrMs (dartlber im dritten Teile diesw
Besprechung Genaueres) zu Grunde liege, ja dass diese
Freude, wenn sie sich rein auf die Ltisung selber bezieht,
überhaupt gar nicht aus der Befriedigung dieses Bedürfnisses
resultiere, dieser Behauptung würde keiner lebhafter zu-
stimmen, als D. selber. Aber ist denn dieses Bedttrihis der
Selbstschätzung, so mächtig es ist, das einzige selbstlscbe
Literesse des Menschen, so dass mit seiner Abwesenheit alle
selbstischen Bedür&üsse ausgeschlossen wären? Da hSttxsi
wir ja die „unvollständige Vorstellung vom Umfange der
selbstischen Motive", die oben P, vorgeworfen werden musste,
die besonders deutlich in seinem immer wiederholten Drängen
auf „richtige empirische und logische" Abgrenzung des
„natürlichen Ichs" zu Tage tritt.
D. steUt neun Gnmdbedürfrisse der Menscbennatur fest
und es ist F. ^zlich entgangen, dass D. gerade die von
P. beigebrachten Beispiele von Freude ebenfalls anführt and
zwar für die Wirksamkeit des „intellektuellen Bescldlftiguiigs-
S. 129—30 der Güterlehre schreibt D.:
. , b ihnen eine BeaLitat entspricht, d. h. ob sie ErkeantnisM ■
willkommen nnd angenebm. Sohon in einraohen Nattmostttuden be-
Bohftfdgt siob der Heuaoh gern mit ■llsiiei Spielen de« TeraMndea ond
der Pbantuie, Fabeln und Batselfragen, BoheKhaflea Problemen ood
Spielen des Scharfsinns. Bobon TenmsohuiUoheD die« Bad&rlnis die
RüoKXBi'schen Vene:
„Die Elfen sitcen im Felsenaohaoht,
TertreibeD mit Beden die lange Kaoht,
Sie geben aioh duftige Bitaal anf* eto.
Und EopiscH Iftsst in den langen PolarnSobten am Ciatemude das
Hekla die Bienen und Zwerge EnsammeDkommen,
.Denn sie bahea in dem Dtukel Langeweil' in ihren Höhlen,
U5ohtsn gern im Sterngetnnkel Heoi^oitän sich erzihlen.*
') Daher konnte für P. der Schein entstehen, all ob «e «baolnt
keine Beiiehang in nnseren Interessen hfttten.
iM,Coo<^lc
A. D9riDgB Teia roensrfJiohe B^rändimg des BittoDgesettes. 303
Hier wäre also von D. in dem formalen BedUrMsBe
nach Beschäftigung der Vorstellungsfunktioii ein persönliches
SedttrMs im Individuums als Quelle des angehlich vOllig
Belbstlosen Lustgefühls nachgemesenl
und nicht anders steht es mit dem zweiten Beispiele,
das P. dem praktischen Gebiete entnimmt.
„Vtx andere in Lebensgefahr sieht, der kennt keinen dringenderen
nnd keinen anderen Wonsob, als sie daiAos befreit m visieD. Und
b€dm Retter tiud nioht bloss alle egoistisohan Böoksiohten, sondern
anoh alle Gedanken an seine sonstigeii sittliolien Terpfliohtnngen ao
TöUig ntr&okgetretsnj dass er lielleioht die soziale and physieohe
Existenz setner FamiLe aofs Spiel setzt, nm etwa einem Terkomtnenen
Heneohen das Leben in erbalten. Die gaffende Menge am Ufer des
reissenden Stromee fohlt bei weitem oidit so sehr die beeah&mende
Idge ihrer ünthätigkeit wie die Not und den Jammer der ZöUner-
familie, tmd ihre Rreode Aber die rettende Ihat des braven Mannea
ist gewiaa von einer BiUignng ihres eigenen Verhaltens so weit vie
not möglich entiemt*
Ja, wiedermu wUrde D. auf das bestimmteste zugeben,
dass die Freude der Menge Über die Bettung der Zöllner-
familie nicht eine Folge aus der Befriedigung des Selbst-
schätzungsbedDrfiiisses sei, gar nicht sein könne, da die
Handlung der Rettung, durch die es allein befriedigt werden
konnte, von Seiten der Gaffer ja gerade unterbleibt; aber er
würde wiederum ebenso bestimmt behaupten, dass auch hier
ein anderes persönliches BedUrbis vorliege, durch dessen
Befriedigung die Freude entsteht. D. zeigt nämlich in der
Gflterlehre S. 152 — 167, dass der Mensch infolge seiner
Organisation die wahrgenommene Lust oder Unlust anderer
Wesen mitempfindet, indem er sich durch die Phantasie in
die Zustände der anderen Wesen hineinversetzt und durch
diese Hineinversetzung an den Gefühlen der anderen teil-
nimmt, sie mitfühlt Aus dieser Figentfimlichkeit (die zur
Voraussetzung Ausbildung der Phantasie und eigene Er-
fahrung von mannigfachem Leid und Freud hat) entspringt
dann nattlrüch das Bedürfnis, die anderen Wesen frei von
Schmerz nnd in glücklicher Lage zu wissen, um so der Un-
lust des Mitleids zu entgehen, weil eben kraft dieses phantasie-
n,g,t,7l.dM,COOglC
massigen Hiueinversetzens in die fremden Zustände unser
eigener G^efOblszustand schon durch die blosse Wahmehmuitg
des fremden G}«fühls beeinflusst wird.
Wenn P. also Handlmigen der Barmherzi^eit tri-
nmphiereod als Fälle anfllhrt, bei denen keine Bede davon
sein kOnne, dass auch hier die Verbesserung der eigenen
Zustände des Handelnden das Motiv zu seinem objektiT dem
Wohle des Nächsten gewidmeten Handeln sei, und wenn er
die Mitfreude als Beispiel einer völlig selbsUosen Freude
ansieht, die mit der Befriedigung eigener Interesse des
Individuums gar nichts zu thun habe, so venuisst man dabä
die Widerlegung der oben skizzierten Ableitung dieBee
Handelns und dieser Freude aus einem GrundbedUrfoisse dea
Individuums und seiner Befriedigung, wie sie D. a. a 0.
giebt. Widerlegt sich diese Ableitung selber, oder kumte
sie P. nicht?
Also mit diesen Beispielen scheint nur P. das Vo^
handensein der von ihm behaupteten selbstlosen Freude, die
gerade entstehe, „wenn das Ich ^nzlich aus dem Bewusst-
sein verschwunden und die Seele nur von dem Nicht-Ich,
nur von der Sache erfüllt ist" — das Vorkonunen solcher
völlig selbstlosen Freude scheint mir P. mit diesen Beispielen
nicht bewiesen zu haben, sondern nut ihnen lediglich Wasser
auf D.'b Mühle der eudämonisÜBchen Erklärung geleitet zu
haben. Doch vielleicht bringt P. in Zukunft noch Fälle hei,
ZQ deren eudämonistischer Elrklärung der neunfache Bedlirf-
nisschlUssel D.'s nicht ausreicht; bis dahin durfte abOT D.'s
eudämonisüsche Erklärung von dem Zustandekommen alles
Handelns unerschtlttert feststehen.
Wenn P. femer meint, dass
gdet Künstler bo gani in aönem Weite, der Gelehrte so v911ig i»
sdoem Oegenstande aofgehen kann, dass er alles nm BKäi her ood
ftnoh sieh selbst vergisst — man denke an Axohimedee' noli tnr-
bare ämdos" —
SO gentigt es wohl nach dem Vorhergehenden, diraer Meinung
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
A. Dörings nin romschliehe BegTfindniig dea SHtengsBetieB. 305
die Auffassung ohne Kommentar gegenüberzustellen, die D.
in den Worten ausspricht:
,A]lfl Euidlimgeii der Bntsagasg, der aoe«tiAimteti Selbetlosiftkeft ja
der freiwUligen Labenuufopfemiig sind Bntaipiiigen and Anfopls-
rnngeo nnr für ein beBtimmtea, oft sehr iimfaiigreioheB Qe-
biet des BelbatiBohen; sie fOi vBlüg selbstlos er halten, beruht
auf Unkenntnis! des ümfangee der Natarbedorfnisee und der ans ihm
Befriadignng anUpringenden {^haimen Qaellen intanaiver Lost'. (S.
886 d. Oäterlehrei.
3. Wenn F. das psychische G^rundgesetz der Eutstehung
aller Lust aus der Befriedigung eines persönlichen Inter-
esses leugnet, so lässt sich deutlich erkennen, dass ihn dazu
die vermeintliche Gefährdung eines hShra^u Interesses durch
die Anerkennung dieses Grundgesetzes bewegt. Dies höhere
Interesse ist die Sorge um eine echte, unversuchte Sittlich-
keit. Wenn alles Handeln darauf gerichtet ist, dem
Handelnden selber durch Befriedigung persönlicher Bedürf-
nisse Lust zu verschaffen, wie D. behauptet, so ist klar, das«
auch das sittliche Handeln, die Forderung von fremdem
Wohle in diesem psychologischen Sinne „selbstisch oder
egoistisch" ist, als es sein Motiv nur in einem persönlichen
Bedürfhisse haben kann, das sich durch das sittliche Handeln
Befriedigung verschaflen will. Nun hat sich aber P. von
der Überlieferung noch nicht frei gemacht, in der Bezeich-
aung „selbstiBch oder egoistisch" sofort einen sittlichen Tadel
zu erblicken und in der „Selbstlosigkät" das wesentliche
und unterscheidende Kennzeichen des sittlichen Handelns zu
sehen. Und darum kann er nattlrlich die Theorie, dass alles
Handeln auf Befriedigung eigener Int^essen des Handehiden
ausgehe, nicU. gebrauchen, er muss sie ablehnen. „Ist
jede Handlung egoistisch," sagt er, ist „die Erreichung eines
jeden vorgesetzten Zieles mehr oder weniger lustvoU" —
so ist „das ditex keine Einsicht, auf die man einen Unter-
schied von sittlichen und nichtsitüdchen Handlungsweisen
gründen kOnnte".
Aber diese Bezeichnung „selbstlos" enthält ja doch in
Wflhiiiut gar keine Inhaltsbestimmung des SittUcben, s<Hidem
VÜMOJabnMbiUt t. wtMOMlikltL FUlM. n. SodoL XXTIL 8. 20
iM,Coo<^lc
306 P. eolieordt:
Tielmebr eine Theorie über das Zustandekommen sittliche
Handlungen und zwar eine falsche. Das Wesen und Kenn-
zeichen des Sittlichen ist Förderung fremden Wohles; ge-
nauer, ein solches Streben, daa nicht auf Erlangung von
Nebenvorteilen ausgeht, die zufällig mit dieser Forderung
fremden Wohles verknüpft sind, sondern das auf die Er-
zeugung fremden Wohles an sich gerichtet ist und darin
seine Befriedigung findet. Überall, wo ein derartiges Streben,
vorliegt, ist das sittliche Urteil befriedigt; um alles weitere,
z. B. wie solches Streben entsteht, ktlmmert sich das sitt-
liche Urteil nicht, diese Fragen überläast es der Psycho-
logie. Also nicht darauf sieht das sittliche Urteil, ob Streben
und Handlung „egoistisch" ist in dem obigen psycholo-
gischen Sinne, dass sich auch durch die sittliche That ein
persönlicher Trieb des Handelnden Befriedigung TerschadTen
will; sondern es fragt danach allein, wie sich dieser Herzens-
drang des Handekden — der ja wohl da sein moss, wenn
es nicht an einem Antrieb zur Handlung fehlen soll — zum
Wohle des Nächsten verhält, ob er auf dessen Förde-
rung gerichtet ist, oder nicht. Und dieser letzte Fall des
NichtsitÜicben schliesst wieder zwei Möglichkeiten ein: Ent-
weder ist die Handlung direkt böse, indem sie das Wohl
des Nächsten schädigt, oder sie ist sittlich wertlos, unter
Umständen heuchlerisch, indem der Handelnde zwar objektiv
fremdes Wohl fördert, aber dabei in seiner Absieht aof Er-
langung von Freude gerichtet Ist, für die nicht das sittliche
Wesen der Handlung selbst, die Förderung des fremden
Wohles die Auslösungsursache ist, sondern die ihre Quelle
in Vorteilen hat, die mit diesem sittlichen Kerne der Hand-
bmg nur durch zufüge Umstände verknUpft sind. Wenn
aber die Förderung fremden Wohles nicht als blosses Mittel
für die Erlangung solcher anderweitiger Ziele in Betracht
konunt, sondern wenn die persönliche Freude des Handeb-
den allein aus dem Bewusstsein stammt, fremdes Wohl ge-
fördert zu haben, so bezieht sich das treibende BedUrfrüs
des Handelnden eben wirklich auf das Moment seiner
iM,Coo<^lc
A. DöiingB rrän iiieiiBcUi<Ae Begiündong dee SHtengeeetzM. 307
Handlung, das sie zur sittlichen macht. Mehr als diese
Art „Selbstlosigkeit", die in Wahrheit aber sublimierte
Selbstsucht ist und doch das Feuer, das der Nazarener
gekommen var, anzuzünden, — mehr kann nach den Ge-
setzen des Seelenlebens nicht verlangt werden. Die Forde-
rung dee Verzichtes auch auf diese intensive persönliche,
reingeistige Lust an dem Kerne, der eine Handlung zur sitt-
Uchen macht, würde niu- die Triebkraft des sittlichen Handelns
unt«rbindeD. Ein derartiges Bedürfnis, das auf diese dem
sittlichen Handeln immanente Freude gerichtet ist, hat D.
ni. Kommen wir jetzt zu dieser Triebfeder des sitt-
lichen Handeks, dem „Bedür&isse der Selbstschätzung".
WßT übt P. sowohl an der Auffassung D.'s von der hier
Torliegenden Erscheinung des seelischen Lebens scharfe
Kritik, wie er vor fJlem leugnet, da^ dieser Begriff des
Selbstschätznngsbedürfiüsses überhaupt geeignet sei, das
Motiv des sittlichen Lebens abzugeben. P. schliesst seine
Kritik des Ddsrao'schen Versuches, das sittliche Handeln
mit Hülfe dieses Begriffes zu motivieren, mit den ver-
nichtenden Worten:
.Damit iit enrieseo, dua daa SelbstsohStcniigsbedtiäiis nioht
m Qnmdlai^ der Sittenlehre, die Selbatsahätziuig niaht cum Ziel dee
Bittliohen Handelns gemacht «erden kaou. Im Gegenteil, vom Bland-
pnnkte der ta begründenden Sittenlehre aas ist £e allinähljobe ISn-
«ahriteürang nnd eohliesBliehe ÜDterdrfiobnng jenes Bedürfnisses in
fbidenu
Wir stehen also hier an dem wichtigsten Teile der
pBTzoLDi'schen Kritik. Zu seiner Beleuchtung wird es
nOtlg sein, zunächst kurz die wahre und vollständige Meinung
D.'s über diesen Punkt zu entwickeln.
1. Das Setbstschätzungsbedürfnis, um dessen Begriff
es sich zunächst handelt, gehört zu den rein geistigen Be-
dOrfiiissen des Menschen, die in dem Verlangen bestehen,
emen bestimmten Vorstellungsinhalt, ©ine bestimmte An-
schauung haben und vorstellen zu dürfen. Wie intensiv die
Lust der Selbstscbätzung ist, ist eine allgemein bekannte
iM,Coo<^lc
308 P- Sotieeier:
Erfahrung. Es genügt, an einige Erscheinungen zu erinnern,
die von diesem Lustgefühl Zeugnis ablegen. Jeder Erzieher
weiss, ein wie mächtiger Sporn ftlr den ZQgling in dem Lobe
tmd der Anerkennung von Seiten des Erziehers liegt; dass
das sicherste Mittel, widerstrebende Z9glinge zu leiten, darin
besteht, sie „bei der Ehre" zu packen und das Verhalten,
das man von ihnen erwartet, als Konsequenz oder Moment
der Würde, die sie ja selber fUr sich beanspruchen, zu de-
duzieren. Von Gambbtta ist die Äusserung Überliefert, dass
das Präsentieren der Wache, wodurch er immer wieder an
seine Würde als Kammerpräsident erinnert wurde, so er-
frischend auf ihn wirkte, wie Absyntli. Das hohe Lustr
gefObl, das mit dem Bewusstsein des eigenen Wertes ver-
knüpft ist, ist endlich doch überhaupt die Voraussetzung (3r
die Sitte der Anrede mit dem AmtsÜtel, die dem Angeredetes
jedes Mal das Bewusstsein der von ihm in der G-esellschaft
erreichten Stellung, seines gesellschafüichen Wertes wachruft
Schon diese wenigen Beispiele, welche die Erfahrung
des Lesers beliebig zu vermehren im Stande seia wird,
können die Natur dieses BedOrinisses zeigen: Es ist ein rein
geistiges Bedürfnis des Vorstellens, das seine Befriedigung
in der irgendwie (über die emzig wahre Quelle des Wertes
weiter unten) gewonnenen Vorstellung von der Bedeutung
und dem Werte der eigenen FerstJnlichkeit findet
Freilich sind mit irgend einem G-rade von Eigenwert
auch meist noch andere Vorteile und Annehmlichkeiten für
die betreffende Persünlichkeit verbunden; beruht doch auf
unserem Werte fUr unsere Umgebung ihre Bereitwilligkeit
zu Gegenleistungen. Aber diese Annehmlichkeiten sind eine
Quelle besonderer Freude, die wir sehr bestimmt von der
Freude aus dem Bewusstsein unseres Wertes unterscheiden.
Die Mahnung, „immer der erste zu sein und vorzustreben
den andern" wendet sich bei dem Ermahnten zweifellos
nicht an sein Bedürfnis nach den fettesten Schinken, dem
prächtigsten Zelte und den schönsten Kleidern, was alles
dem ersten Helden auch zufällt, sondern setzt bei ihm die
n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL'
A. Dörings rein mansolüiohe Begrüadmig dee Sttengeeetzes. 309
Blhigkeit uad das Bedürfnis voraus, in dem Bevusstaein,
der erste zu sein, an sich eine aUsse Befriedigung zu finden.
Ist so das Objekt des SelbstschätzungsbedUrfniases die
eigene Persönlichkeit, so konnte es nach den obigen Bei-
spielen scheinen, als ob das BedUrfiiis darauf gerichtet wäre
und darin seine Befriedigung ßLnde, dass der Wert unserer
Persönlichkeit von unserer Umgebung anerkannt werde,
dass es also wohl ein BedOrfiiis nach dem rein geistigen
Gute der Schätzung unseres eigenen Selbst wäre, dass es
aber nach der Hochschätzung unserer Person seitens unserer
Umgebung verlangte. Gewiss entspringt nun häufig genug
in den Individuen aus dem SelbstschätzungsbedUrfnisse das
Streben, sich der Schätzung und Anerkennung der eigenen
Person von Seiten ihrer Umgebung zu veraichern. Aber es
Käst sich leicht erkennen, dass das wahre und eigentliche
Ziel des Bedürfnisses nicht die Schätzung unseres Ichs von
Seiten der andern ist, sondern dass wir erst dann befriedigt sind,
wenn wir selber die Überzeugung von unserm eigeoeo
Werte haben, wenn wir selbst uns schätzen dürfen. Be-
friedigt uns denn die Hochschätzung von Seiten jedes Be-
liebigen und macht uns die Oeringschätzung seitens jedes
Beliebigen unglücklich P Wägen wir da nicht sehr sorgßUtig
die Stimmen? Was kümmert es den Mond, wenn ihn der
Hund anbellt! Und ebenso erfreut uns ein günstiges Urteil
Über einzelne Leistungen oder über den Gesamtwert unserer
Person doch nur dann, wenn wir den Urteilenden für kom-
petent halten, wenn wir selbst von der Richtigkeit seines
Urteils überzeugt sind, d. h. wenn wir selbst uns Wert zu-
sprechen können. Also das Urteil der andern ist durchaus
nicht für den, der sein eigenes BedUrMs richtig versteht,
das letzte Ziel, das er in Wahrheit begehrt; es ist höchstens
eine Quelle für die eigene Schätzung seiner Persönlichkeit,
eine Quelle, die der selbständig Urteilende ohne Schaden für
sein G-lück entbehren kann, wie sie auch keine Verminderung
seiner Unlust aus seinem eigenen etwaigen VerwerfunpurteU
über die eigene Person bieten kann.
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
Hier gilt Bnttlers Tort: „Ein jeder giebt den Wart ädb. Bdbst
Wie hoch loh mich selbst anBchlageB will, das steht bei mir."
2. Diesem DöBZNo'&chea Begriffe des Selbstschätzungs-
bedürfiiisses stellt P. nun folgende Behauptung über seine
wahre Natur entgegen:
„SelbstsohBtiDDgebedürtais wfirde das BedArfnia adn. sieh in irgend
welcher Hinsicht vor aaderii bevorzugt za wissen. Selbstschiitsaug ist
SelbstBohätinng im Gegensätze znrSchätzong anderer, aber auch im
Vergleich mit andern. Jeder Mensoh hat von Nator den Drang, ind«n
Ihit^ailen, die ihn beiondera interessieren, andere zn äbertreffen."
P. erklärt also die Vergleichung mit andern für ein
wesentliches Moment bei dem Bedürfnisse selbst wie bei der
Entstehung der Selbstschätzungslust. Aber das ist eine vOUig
willkürliche und leicht zu widerlegende Behauptung.
Wie oben gezeigt, geht das reine Selbstschätzungs-
bedürßiis keineswegs darauf, „andere zu übertreffen", sondern
darauf, dass wir selbst unsere eigene Persönlichkeit schätzen
möchten. „Ändere zu übertreffen, sich vor andern in irgend
welcher Hinsicht bevorzugt zu wissen," mag einer der Wege
sein, wie jemand bemüht ist, sich das Bewusstsein seines
eigenen Wertes zu verschaffen, aber das Bedürfms selbst
besteht darin nicht. Sein Objekt ist lediglich die eigene
Persönlichkeit, und die Eücksicht auf andere, die Vergleichung
und das Sichmessen mit anderen hat mit dem Ziele des
SelbstschätzungsbedUrfnisses selbst dimihaus nichts zu thun.
Es könnte sich nur darum handeln, dass die Beziehung auf
die andern bei der Befriedigung des Bedürfnisses, bei
der Eatstehung der Selbstsdiätzungslust eine notwendige
Rolle spiele, dass wir die Überzeugung von dem Werte
unserer eigenen Persönlichkeit nicht anders erlangen könnten,
als dadurch, dass wir uns bestrebten, den vorliegenden Wert
der andern zu übertreffen, dass wir uns an ihnen und mit
ihnen mässen. Dass aber auch das durchaus nicht zutrifft,
das soU später gezeigt werden.
Wenn wir trotzdem häufig genug beobachten, wie Bich
das Bestreben geltend macht, andere in irgend einer Be-
ziehung zu übertreffen, so steht es mit diesem Streben wie
mit dem oben geschilderten nach Anerkennung von Seiten der
iM,Coo<^lc
A. DCiiogi TMU menBohliche Begrändimg des SitteugesetEes. 3X1
Umgebung. Sie sind beide nicht ein notwendiger Ausfluss
des Bedürfnisses. Wie bei dem Verlangen nach der An-
erkennung seitens anderer das eigentliche Ziel des Bedürf-
nisses nicht klar erkannt war, so mangelt es bei dem Streben,
sein Selbstecbätzungsbedftrluis dadurch zu beüiedigen, dass
man in irgend einer Beziehung sich vor andern hervorthut,
an der Vemunfterkenntnis, worin denn wahrer Wert besteht
und wie er demgemäss nur erlangt werden könne. Der
Inhalt des Ziels, auf welches das BedUrfiiis ausgeht, ist
nicht erkaoDt P. spielt also in seiner Kritik des Döring'-
schen Begriffs vom Selbstscl^tzungsbedUrlhiBse gegen D.'s
klare Erkenntnis von dem wahren Ziele und der wahren
Natur dieses Bedürfnisses — diese Aufdeckung des wahren
Sachverhalts im Punkte des Ehrtriebes ist gerade D.'s Ver-
dienst um unsere psychologische Erkenntnis — empirisch
vorkommende Formen desselben und seiner Bestrebungen
ans, die auf mangelnder Erkenntnis der betreffenden
Individuen von der wahren Natur und dem wahren Ziele
ihres eigenen Wunsches beruhen. Nicht D.'s Begriff dieses
Bedürfnisses ist durch diese von P. aus der Erfahrung auf-
gegriffenen Formen widerlegt, sondern die betreffenden
Individuen, die derartige Wünsche und Bestrebungen an den
Tag legen, müssen aufgefordert werden: „Erkennet euch
selbst", damit sie auf Grund dieser Selbsterkenntnis ihre
Wünsche und Bestrebungen korrigieren und sie auf die
wahren, ihrem Grundbedürfiiisse innewohnenden Ziele richten.
Und zu dieser Selbsterkenntnis sind D.'s gründliche Dar-
legungen in der Güterlebre über das Bedürfnis nach Selbst-
Schätzung ein trefflicher Führer.
3. Femer erklärt P. die Entstehung dieses BedürMsses
auf eine Weise, die auf eine Leugnung desselben als eines
Belbständigen, primären, eines Grundbedürfnisses hinaus-
läuft. D. hatte über die Entstehung dieses Bedürfnisses gesagt:
„Das Beäärfnia der BelbBtschAtiimg liat seiner BntstehoiiK naoh
etwas BAtselhafteH und bildet ein Prablem. — Wir kommen hier nicht über
die IhstsBohe eines nnmittelbaren Bedfirfniisea des Etgenwertes hinaus;
dasselbe bÜdet einen thstsAohlichen Cbankterzng der mensohlichen Natur,
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
der tief im onbewnssten OeistsBleben wurzelt, gletohsam ma nktaugeeohidit
liobee Fi^tiim im hShereo BinDs." (S. 114 o. 116 der Oäteriehre*).)
Dagegen schreibt P.:
„Wii beortsilan die andern nach ihrem Werte fOr uns, d!a
Uidem nne nach ihiflm Werte für me: Wer nnsOutee erweist, istgat;
wer tue ßösee Ümt, ist scUeoht. Wenn wir non sehen, welche Onnit-
betengnngen und Torteils man denen gewfihrt. die ffii viele Hanadieii
wertrolie Fersönliolikeiten sind, da lie^ es doch nahe, dass wir mH
gelbst nach muerm Werte füi die andern tragen, und die Entstebini(
des WnnBohes ist doch eaiu natSrlich, dasa aooh wir fGr die andern «nm
Wert k&ben möohten, siso die Entstehung „des Bedfirfnissee nadi iA-
jektivem SSgenwerte."
P. glaubt also aUen Erostee, mit dieser Ableitung die
Entstehung des Selbstschätzungsbedürfnisses in dem Sinne
erklärt zu haben, den D. mit diesem Worte verbindet, d. h.
des Wunsches, daes wir selbst unser eigenes Ich für vert-
Toll halten mochten.
Wie mir scheint, täuscht sich P. aber ausserordentlich
Über die Tragweite dieser Erwägung, die er das Individuum
hier anstellen lässt.
Denn thatsäcblich Mhrt sie durchaus nicht zu den
Wunsche, „dass auch wir fUr die andern einen Wert haben
möchten", also zur „Entstehung des BedUrfiiisses nach ob-
jektivem Eigenwerte", sondern nur zu dem Wunsche, dasB
die andern uns schätzen möchten. Nun sahen wir ja frei-
lich vorhin, dass dieser Wimsch die Form ist, in der sich
das echte Selbstechätzungsbedilr&iis in dem Falle äussert,
wenn das Individuum das wahre Ziel seines BedUrMsses,
die eigene Überzeugung von seinem Werte, nicht klar
durchschaut. Aber der hier entstehende Wunsch nach der
Schätzung von Seiten der andern hat nicht einmal mit dieser
Form des irregeleiteten Selbstschätzungsbedürfoisses etwas
zu thun, denn die Schätzung der andern vird hier nicht als
ein an sich beglückendes Ziel, sondern nur als Mittel eut
Erlangung des eigentlichen Zieles begehrt, das in den ^Quiist-
bezeugungen und Vorteilen" besteht, „die maji denen gewährt,
die für viele Menschen wertvolle Persönlidikeiten sind".
') Ich bemerke hienn, daas D in dem Eaadbnohe 8. 261 Oenaoem
(tndSiahaieies über diese Frage nach der Bntstehnng dieses Bedtrfaisses Imtet
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
A. Dörings rein menBcHUdie Begründimg des Sittengeeelzea, 313
Selbst wenu also aus diesen mittelbaren Wunsche nacb der
Achtung TOQ Seiten der andern das Streben entstünde, ob-
jektiven Eigenwert durch wahrhaft wertvolle Leistungen zu
erwerben, so wäre dies Streben immer noch nicht ein Aus-
fluss eines BedürMsses, das auf Eigenwert gerichtet wäre,
sondern nur eines Bedürfnisses, das die Vorteile begehrt, die
mit dem Eigenwerte verbunden sind. Aber keineswegs „liegt
es nahe", wie P. meint, dass aus dem Wunsche nach „Gunst-
bezeugungen und Vorteilen" in Verbindung mit der Be-
obachtung, dass diese Güter nur solchen zu teil werden, die
flir viele Mensdien wertvolle Persönlichkeiten sind — keines-
wegs aber liegt es nahe oder ist es gar notwendig, dass aus
diesem Wunsche und dieser Beobachtung in dem Individuum
das Streben geboren wird, sich durch wirklich nützliche
Leistungen wertvoll zu machen. Im (Jegenteil, das „gerissene"
in seiner Art wirklich „rationell" verfahrende Individuum wird
zur Erlangung der in Wahrheit ja nur begehrten äusseren
Vorteile, die es an dem Baume des Eigenwertes hängen sieht,
zunächst versuchen, seine Umgebung durch den Schein
objektiv wertvoller Leistungen zu täuschen, von welcher
gewöbolichsten Erscheinung des täglichen Lebens ja jeder
die erheiterndsten und auch betriibeniteten Proben kennt
Und erst, wenn sich zeigt, da^ „kein Maulspitzen hilft,
sondern^ gepfiffen werden mura", erst dann wird es sich zu
wirklich nützlichen Leistungen bequemen. Also das Streben
nach objektivem Eigenwert ist durchaus nicht ein echtes,
legiümes Kind der seelischen Faktoren, die P. als seine
Eltern ausgiebt; und wenn es ja einmal unter ihrer Wirk-
Bamkeit in der Seele des Individuums sich einstellt, so muss
man sagen, es ist nicht spontan entstanden, sondern es ist
ihm durch die äusseren Umstände aufgezwungen.
Wie man aber in diesem letzten Falle dies Bedürfnis,
das auf mannigfache äussere Vorteile gerichtet ist, ein Be-
dtirfiiis nach objektivem Eigenwerte nennen kann, bloss des-
halb, weil der Bewerber um diese äusseren Vorteile durch
die Umstände gezwungen ist, sich des Mittels objektiv wert-
n,g,t,7l.dM,COOglC
314 P- Bcheerer:
Toller Leistungen für die Erlangung seines Zieles zu bedienen,
~~ das verstehe ich nicht. Jedenfalls hat D. diesen lochen
Schnitzer nicht gemacht, sondern wenn er von dem BedUri-
oisse nach Selbstschätzimg redet, so meint er, wie zur Genüge
gezeigt ist, dass die menschliche Seele ein Bedürfnis darnach
habe, sich selbst schätzen zu können, und dass sie in diesem
Bewusstsein des eigenen Wertes an sich eine süsse, ja die
intensivste Lust empfinde. Also bei der PBTzoLDT'schen
Erklärung von der Entstehung des „SelbstschätzungsbedOrf-
nisses" liegt ein bedenkliches Quid pro quo vor: Was bei seiner
Ableitungthatsächlichherauskommt, das ist etwas ganz anderes,
als die seelische Erscheinung, deren Entstehung zu erklären er
sich anheischig machte. Was herauskooimt, ist nicht das
echte, direkte Begehren des Eigenwertes, dasD. bei seinem
Worte „Selbstschätzungsbedürfnis" im Sinne hat, sondern
nur jenes mittelbare Streben nach Eigenwert, das auch
nicht einmal immer oder notwendig aus dem niedrig selbstischen
Begehren nach äusseren „Gunstbezeugungen und Vorteilen'
entsteht, sondern nur unter bestimmten Umständen sich ein-
stellt und zwar nicht als eine Quelle hoher Freude, was das
echte SelbstschätzungsbedOrfnis im Sinne DObenq's ist,
sondern als Bringer tiefen Verdrusses, Sollte P. mit dieser
Erklärung aber gar meinen, dieses aus trübem Sumpfe auf-
steigende Unkraut des mittelbaren Strebens nach Eigenwert
wäre die einzige Erscheinung im Garten des seelischen Lebens,
das D. dazu veranlasst haben könnte, von einem Segen
spendenden Edelkraute des Selbstschätzungsbedürihisses za
fabeln, mit anderen Worten, sollte F. die Existenz eines solchen
direkten Begehrens nach E^igenwert in der menschlichen Seele
Überhaupt leugnen wollen, so meineich angesichts der Erfahrung
doch: „Dies Wort sie sollen lassen stahn und keinen Dank dazu
haben." Bemerken muss ich doch auch noch, was P. ganz
entgajigen zu sein scheint, dass auch D. dieses mittelbare
Streben nach der Schätzung von selten der andern sehr wohl
kennt, es in der Güterlehre S. 119—20 bespricht und „das
Geschäftsinteresse der Ehre" nennt. Also mit dieser an-
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
A. DSringa lein menschlicbe Begründung des Sittengeaetzes. 315
geblich neuen Erklänmg sagt P. DöKmo nicht einmal etwas
Neues; er widerlegt aberD.'s ausdrückliche Unterscheidung
zwischen diesem „Geschäftsinteresse der Ehre" und dem
echten „Bedürihisse der Selbstschätzung" nicht dadurch,
dass er die Identität beider Erscheinungen einfach noch
einmal behauptet
Es bedarf dagegen wohl nicht erst der Versicherung,
dass D. völlig mit P. in der Beurteilung der sittlichen
Motivationskraft Übereinstimmt, die diesem mittelbaren Streben
nach Eigenwert innewohnt, für das P. unlogischer Weise den
Namen „Selbstscbätzungsbedürfuis" beibehält. Letzterersa^:
,,DieBm bo gewordene und autwicbelte Bedürfnis könnte, soweit es
als Motiv aUdn in Frage käme, immer Dor sa äuBserlioh mit dem aittliehen
äbereinetiinmeDdeii Verbalten, also zni Btreberei führen, nie zor rollen
Hingabe an das sittliche Ideal oder gelegentlich goi zu Bittlicber Selbst-
anfopfernng. Bis zu dieser Höhe reicht das SelbstGobatznngsbedürtnis
(d. h. also in P.'a Sinne) nioht."
Ganz denselben Gedanken äussert D., nur noch aus-
führlicher als P-, S. 388—89 der Gttterlehre, woraus ich
folgende Sätze hierher setzen will:
„Die Triebfeder des nach dem Prinape der erwarteten Oegenseitigkeit
das eigene Streben bemessenden Sgoisrnns, der Sichening des eigenen
Olüoksiustandes, soweit er vom Verhalton der andern abbiegt, dnroh die
Bewerbimg um Qegenteistung fährt auf die Maxime des ftiLSBerlioh
Onten . . . Dies aber ist nicht die Maxime des Outen als soloheu,
sondern dea Oaten um der möglichen mannigfachen Vorteile und Qüter, die
doroh die Oegenleiatnng der anderen dem IndiTidunm selbst zufallea
können .... Aosserdem tat die Voraussetzung, snf der das ganze Ver-
bbren beruht, dass nämlich die andern sich zur Gegenleistung verpflichtet
fohlen watden, — teilweise offenbar irrig, wie der Tod das Sckrates zaigea
kann. Mit der Anfdednmg i^eses Irrtums in der Voraassetzung wird dann
aberauoh die Kraft der Triebfeder binfftllig und der Egoismus
der Belbsthälfe tritt in seine Beohte."
Für jeden also, der die Wandlung durchschaut hat, die
der Inhalt des DöaiHo'schen Begriffs vom Selbstschätzungs-
bedürMsse unter P.'s Händen erfahren hat, dürfte zweierlei
klar sein. Erstens, wie völlig auf diesen seinen Begriff
von diesem BedUrfiiisse oben zitiertes Verwerfungsürteil
zutrifft, „dass das Selbstschät^ungsbedUrfiiis nicht zur
Grandlage der Sittenlehre, die Selbstschätzung nicht zum
Ziele des sittlichen Handehis gemacht werden könne etc."
iM,Coo<^lc
316 ^- Soheerer:
Auch hier wiederum stimmt niemand lebhafter bei als D. selbst
Aber eben so klar ist das andere, dass dieser Kadiweis der Ud-
tauglichkeit des fraglicheii BedUr&iases zur sittlicbeu Trieb-
kraft dem DtiBiirQ'scheQ Begriffe nicht eimnal die Haut ritit
4. Richteten sieb die bisherigen fiinweadungen P.'s
gegen den Dösmo'schen Begriff des Selbstschätzungs-
bedürfiiisses, so bezieht sich ein zweiter Versuch der Wider-
legung von D.'s Begründung der Sittlichkeit, der in grosserem
Stile auftritt, auf die Art, wie D. nun aus dem rein selbatischeo
Bedürfnisse, das auf die eigene Lust der Selbstscbätzung
gerichtet ist, sittliches Handeln, Förderung fremden Wohles
hervorgehen lässt. Aber bei diesem Widerlegungsversuche
liegt eine merkwürdige Erscheinung vor. Nämlich trotz
des durchaus zutreffenden Berichtes, den P. über diesen Teil
des DöaiNQ'schen G-edankenganges im ersten, referierenden
Teile seiner Kritik bringt, wendet sich diese Wider-
legung gegen einen Gedankengang, der mit dem echten
DöBma'schen absolut nichts gemein hat. Diese ganzen Ein-
wendungen richten sich gegen einen imagii^ren Gegner.
Zum Beweise dieser Behauptung sei auch hier wieder
D.'s wirkliche Meinung vorangestellt.
Worin das Wesen des SetbstschätzungsbedUrfnisses
besteht, war vorhin gezeigt worden. Das Bedürfnis zielt
nicht auf äussere „Vorteile und Gunstbezeugungen", sondern
als rein geistiges auf das Bewusstsein des Individuums, dass
seiner eigenen Person wirkhch Wert zukomme. Ist nun erkannt,
worin dieser begehrte Wert nur bestehen kann, in welchem
Falle unsere Person wirkUch Wert besitzt, dann ist damit
auch die Frage nach dem zulänglichen BeMedigungsmitte!
des Bedürfnisses beantwortet. Es handelt sich aJso jetzt um
den Begriff des Wertes, der dann auf die eigene Person an-
zuwenden wäre.
■ Und da ist klar, dass Wert ein Beziehungsbegriff ist
bei dem immer andere Wesen vorausgesetzt sind, für die er
vorhanden ist. So nennen wir wertvoll alles, was uns oder
anderen fühlenden Wesen Lebensförderung bereitet; was da-
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
A. Döiings rain mensoUtohe BegrftDdiing dee SittengewtzM. 317
gegen keinem fühlenden Wesen in irgend einer Beziehung
nutzt, ist absolut wertlos, sein Verschwinden wird von
niemandem schmerzlich empfunden. Der Grad des Wertea
steigt und fällt mit dem Masse der LebensfSrderung, die er-
zielt wird, sei sie intensiv oder extensiv. Es können Dinge
lange Zeit vollkoiomen unbrauchbar und darum wertlos sein,
sowie jemand aber eine nützliche Verwendung fUr sie ent-
deckt, bekommen sie Wert, werden sie zu begehrten Artikeln,
wie das letzthin z. B. mit dem Kerne des spanischen Kohres
geschehen ist, aus dem seit noch nicht langer Zeit die Wände
der danach benannten RohrplattenkoSer hergestellt werden,
die sich durch Leichtigkeit und zugleich zähe Festigkeit aus-
zeichnen. Wir selber gewinnen also irgend ein Mass ob-
jektiven Wertes, sobald wir uns bestreben, das Wohlsein
anderer fühlender Wesen zu fördern, sei es durch Befreiung
von Schmerz oder durch positive Bereitung von Freude.
„Der ist der Grosseste unter Euch, der euer aller Diener ist,"
belehrt Jesus seine ehrgeizigen JUnger.
So lässt das vemunftgemässe Verständnis des Begriffs
Wert, worin er besteht, nur ein Be&iedigungsmittel des Be-
dürfnisses der Selbstschätzung oder des Eigenwertes zu,
n^ünüch sitthches Handek. (Handbuch S. 266—67. Gater-
lehre 336—43.)
Ich möchte zur grosseren Veranschaidichung dieses
abBtr^:ten, nüchternen, blutlosen Gedankenganges noch einige
Stellen aus Erzählungen anfuhren, in denen in der Sprache
des Geßlhls das Bedürfnis nach Eigenwert ausgesprochen ist,
und zugleich die klare Erkenntnis, worin der begehrte Wert
besteht, wodurch er erworben wird; in denen sich somit die
Begehung des nach Bichtung tmd Ziel richtig verstandenen
EigenwertsbedUrfiaisses zum sittUchen Handeln deutlich zeigL
. . . ,Eb ist die BehnSDcht, jenumdem etwu ta sem. loh bin
■0 arm, dan, wenn ioh heute stürbe, nienumd dk wKre, einan Knu»
«af meijien Btirg m legen. lob habe keuea, dem ioh emeii kleuMD
Öienat erweiseii, füi den ich uäben oder kochen, oder dem ioh uoti
nni Torleaen könnte. Mit leeren Einden moes ioh zojehen, wie die
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
Henaohea abhftngig sind roneinaDder, nod wie jeder irgend einer Beela
imeatbelirlioh IhL und ioli? . . . . (Ana dem Boman .Blonde Vh>
anohong", Deutsche Ztg. 1902).
. . . „Als er weg war, fing Gmmy an zu weinen. Sie kam uA
wieder einmal annätz vor — was sollte das bischen Leben — immw
daaaellM — Tag für Tag, Jahr für Jahr. Sie dachte an Qrete von
Hiller: Die hatte doch eine BescUlftigang, wnsate, was ihr Oatta Tar-
langte; die war bat ed beneiden, die war ein reifes Eom aof dem
Acker des Lebens, Emmj äne nntzloae Blüte, die fmohtbiiDgeodm
Habnen den Plats wegnahm. Sie lebte so hin, niemandem amn Natuo,
aioh aelbat am wenigsten zar Freode. — Emmy ging in Ou
kleines Bckoko-Bondoir nnd ftililte sich nnglacklich; eie kam sich oft
wertlos TOr aof der Veit. — Oott ja, Jostoa liebte aie wohl, ab«
Bohliesalioh hat wn Mann seinen Bemf, der ihn über allee binwegbriogt
Er würde aie ein Jahr betraaem, aber rahig weiterleben wie ijnflisi.
— Und Bnbi wtirde ^e gar nicht vermissen, der mochte Fraa HeoMt
viel lieber. Eine merkwärdige Weltl Das beste w&re es schon,
sie Btnrbe!" (Ana der BreBUnng .Man lebt ao hin", Dentsche Ztg. 1901).
„loh. will onr, dass mein Leben einen ^n habeo soll, daa ist
alles — . loh eignete mir den Orandsatz an: Haat dn deinen Öeiat
erleuchtet, ao erlenobte anoh andere, deine Nftohaten, dann wird deiii
Leben eine Bpnr hintarlassen. Wen aber sollte man wohl erleachten,
wenn nicht den onwisaenden Dorfmensoheni' — — Deswegen, man
teurer Vat«r, verschmähte loh die ehigeizige I^nfbahn und entsohloss
mich, ein Dorfprieater zu werden". Ans dem Boman von Fotafbuo,
„Ein AnserwUilter'.)
Statt nun diesen obigen, in kürzester Kürze skizzierten
G^ankengang D.'s zu kritisieren, wendet sich P. gegen
folgende Art der Begründung, die er für die echte Döboto-
sche hält
D. hat nämlich unter den mannigfachen von ihm bei-
gebrachten empirischen Beispielen, in denen sich Lust aus
dem befriedigten Selbstschätzungsbedürfiaisse zeige, ais ersten
den Fall angeführt, dass die Selbstschätzung beruhe „anf der
Vorstellung der Übereinstimmung des eigenen Verhaltenß
und Handelns mit irgend einer Norm des Strebens, die dem
Individuum, einerlei mit welchem Bechte, als solche gilf-
(S. 117 d. Qiiterl.). P. meint nun, nach diesem Typus Usse
B. selbst auch das SelbstschätzungsbedOrfois das Motiv sein,
die Forderung des Sittengesetzes zu erfüllen; D. „dehne
den Begriff der Selbstschätzung auf das Verhälteis des
Menschen zur Norm oder zum Ideal aus". Elr macht dann
iM,Coo<^lc
A. Dörings tein mennMohe Begrfindniig des Sitteogeaetzea. 319
sofort gegen diese Art der Ableittmg des sittlichen Handelns
geltend, dass dabei aus dem SelbstschätzimgsbedürMsse nicht
ein bestimmtes Ideal, also hier das Sittengesetz, erschlossen
werden könne, an dem das Bedürfnis den Menschen treibe,
das eigene Handeln zu messen, „das Selbstechätzungsbedürfnis
ist ein rein formales, dem erst die Umgebimg des Meoscben
die besondere materiale Bichtung giebt". Warum sollte denn
gerade das Sittengesetz die Norm sein, durch deren ErMlung
der Mensch glaubt, allein den objektiven Wert zu empfangen,
wonach ihn sein "Werthedttrfnis streben lässt, da es doch in
diesem Falle zum Zustaudekonmien des Bewusstseins eigenen
Wertes ganz und gar nicht auf den inhaltlichen Chfu-akter
des Handelns ankommt, sondern nur auf dies beides: dass
überhaupt irgend eine Vorschrift dem Individuum wirklich
als verpflichtende Norm gelte und sodann, dass sein Verhalten
dieser von Uun als höchster Wert anerkannten Norm auch
wirklich entspreche. So will P. fragen.
Und in der That, dieser Ekwuri trifft gegen diese Art
der Ableitung des sittlichen Handelns aus dem Selbst-
schätzuugsbedÜrMsse völlig zu, nur schade, dass P. den
sich hier zeigenden Scharfsinn nicht dazu verwendet hat,
D.'s wirkliche Ableitung erst zu verstehen und diese dann
zu kriüEderen. Denn, wie vorhin gezeigt, gewinnt D. that-
sächlich durch Analyse des Begriffes „Wert" die Förderung
fremden Wohles, das sittliche Handeln als mittelbares Ziel
des i
Und dass dieser Einwand P.'s richtig sei, dass bei
diesem ersten von D. angefahrten Falle der Entötehung von
Selbstschätzungslust das Ideal, an dem das Bedürfiiis den
Menschen sich zu messen treibt, von aussen, aus der Um-
gebung, aber nicht aus dem Bedürfnisse selber stammt, das
würde wiederum keiner lebhafter ziehen als D. selber, wie
seine Worte in dem obigen Zitat schon beweisen, „eine
Norm des Strebens, die dem Individuum, einerlei mit
welchem Rechte, als solche gilt". Wie weit D. davon
iM,Coo<^lc
330 P- Soheer«;
entfernt ist, nacli dieBem T3^us aus dem Streben nach Mgen-
■wert das sittlich© Handeln hervoi^ehen zu lassen, kann noch
eine andere Stelle zeigen, an der er einige solcher „Ideale"
nennt, au denen Menschen ihr Handeln zu messen sich durch
das Selbstächätzungsbedtirfnis getrieben fühlten. „In diesem
Sinne könnt© man sagen, der Wild© mache sich ©in Gewissen
daraus, sich an seinem Feinde nicht gerächt, der Indlaa«",
nicht skalpiert, der Neuseeländer, seine eriegten Feinde nicht
gefressen zu haben". (G-Oterl. S. 326.)
Auf die anderen Qegengründe P.'s gegen diese Art der
Ableitung des sittlichen Handelns aus dem Selbstschätzui^
bedürfnisse einzugehen, erübrigt sich, nachdem gezeigt ist,
dass D. diesen Weg der Begründung gar nicht einschlägt.
rV. Was schliesshch die Bezeichnung „SoUpsifimus aof
praktischem Gebiete" betiifft, mit der F. D.'s Standpunkt
belegt, so dürft© klar g©worden sein, wie völlig sonderbar
und willkürlich er dafür ist. Bas höchste Gut D.'s, das in
dem Bewussteein des Wertes der eigenen Person besteht,
wird, wie gezeigt, ja nur dadurch rerwirklicht, dass er sein
ganzes Ich mit all seinen Kräften in den Dienst seiner Mit-
menschen stellt Diese Gesinnung nun „praktischen SoUpsis-
mus" zu nennen, bloss um deswillen, weil sich der Handelade
durch das stärkste Band an die Förderung des Wohles seiner
Mitmenschen gebunden weiss, nämlich durch das BedUrfiiis
nach eigener Seligkeit, das heisst denn doch, mit Pbtzoldt
zu reden, „alle gesunden und starken Begriffe Terwischen
uod schliesslich Temichten".
P. wirft in seiner Kritik ausdrücklich DÖBDia mit
Stibnkb zusammen, nur weil D. mit diesem eine Theorie
teilt, nämlich die oben besprochene psychologische Theorie
Über das Zustandekommen alles menschlichen Handelns aus
dem Verlangen nach persönlicher Lust. Dal>ei ISast er aber
gerade die Hauptsache ausser acht, nämhch das praktische
Ergebnis, die Lebensideale, zu denen beide von ihrer gemein-
samen theoretischen Grundlage aus kommen, von denen man
iM,Coo<^lc
A. Dfirin^ rein maauhHohe BegründiiDg dea EUttengssetzeB. 321
doch sagea muss, dass sie toto coelo verschiedea, ja dia-
metrale GegenBätze sind: Auf der einen Seite der Mann, der
absolut rUckBiehtslos g^en das Wohl seiner Mitmenschen
verföhrt; sie existieren Oberhaupt neben ihm als selbständige,
gleichberechtigte Wesen, nicht, er fühlt sich als den „Ein-
zigen'' und sie als sein „Eigentum"; auf der anderen Seite
D., der Bich als „aller Diener" fühlt, der seine ganze Kraft
restlos daran setzen will, das Wohl seiner Mitmenschen zu
fördern.
Wenn man das Verhältnis der beiden Denker richtig
bezeichnen wollte, müsste man vielmehr sagen, D. ist der
Überwinder Stibmsb's und des von ihm vertretenen un-
sittlichen Egoismus, ein Überwinder, dessen Widerlegungs-
kraft um so wirksamer imd tiberzeugender ist, als er von
demselben Boden, derselben psychologischen Grundanschauung
ausgeht. Pbtzoij>t urteilt, die beiden zögen an einem
Strang, in gleicher Richtung, und wirft so Feuer und Wassw
in einen Topf.
Wenn mich zu der Abfassung dieser Antikritik ein
Herzenswunsch lebhaft bewegt hat, so ist es der, dass es
mir gelingen mScbte, meinen personlichen Eindruck auf die
verehrten Leser zu tibertragen, dass es sich bei der von D.
gegebenen Antwort auf die alte, bisher noch immer nicht
beantwoilete Frage nach der Triebfeder des sittlichen
Handelns in der Menschennatur um eine Theorie handelt,
die P.'s Urteil „sorgffiltig durchdacht" — aber nicht aus-
geklügelt, sondern aus dem eigenen Erleben geschöpft, fOge
ich hinzu — in einem Masse verdient, das P.'s verwerfende
Kritik nicht einmal ahnen lässt, geschweige denn rechtfertigt;
dass diese Theorie in der That Zustimmung oder Bekämpfung,
aber nicht laue Gleichgültigkeit erwarten darf, und dass die
Güterlehre nach dem Worte Liohtenbsbo's geprüft werden
muss, „wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstossen und
es klingt hohl, so braucht das doch nicht immer an dem
Buche zu liegen". Sollte es mir gelungen sein, diesen Ein-
iM,Coo<^lc
S2S P- Sohaerei: .
drack weiter za geben, dann werden wir vieUeicht bald die
Freude haben, nicht mehr Kritiken Ober D. zn erhalten, bei
denen die Antwort nur a male informato critäco ad melius
inffflmandmn criticmn appellieren moBS, sondern solche, die
die Sache fördern, die uns sachlich weiter bringen als D.,
und d«ren Beantwortung zum philosophischen Nachdenken
beraosfordert nnd nicht bloss zu der mechanischen Thätlgkdt
des Zitierens von Stellen aus D.'s Wn-ken.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Skiufl der gosial-ttkonomischen Oeschichts-
anffassnng.
L
Von Fnsi OfpenkelKer, Beriin.
Die fdgendeii BUtter aiiid antetuidoD als Entwurf zum einleitenden
Kipitel eines grösseren soziologisohen Werkes. Di Verftsser ans m^ir-
baua (Gründen die Vollendong dieser Arbeit tut Enrnaksteilen mfissen, so
enlseUieest w sich Enr HeraoBg&be der Skiize, nm hofFentlioh ans der
Iritik der Fkohgenossen, ad es fdr die Terti^^ang, sei ee fdr die Ver>
beisenmg aeiiier AnsobanongeD, neoe OesiohtopQnkte za gewinnen, die der
«tägOlti^ii Bedaktion ca gnte kommen konnten. Für diese ist eine dc^en-
gMofaiobtliohe Enleitong nnd Wflrdipmg der uitgenössisdien Qesdiioht»-
Philosophen becw. Sodologen sslbslv unündliob in AoBriobl genommen, die
nier nooh f^t. Es finden sich lediglioh Ans&tze daso, einielne Zitate and
n»h seltenere poietnisohe AusfShmngen, schon in dem Toriiegenden Text
tdne .Ünstimm^keit', die ioh lebhaft bedaaere, aber niobt mehr Indem
kann. Bs wird mir eine Ehrenpflicht sein, sobald wie möglich meinen Daök
fBr yiel&ofae Anregung, wie aTioh meine mannighoheD Bedenken gegen
Torgetragane Ansohaanngen anSEospreohen nnd in begründen.
u» InbliographiscAe Bedürfnis nach Naohweisen über die aosiologieohe
littentnr wird ja dnnh pAm. Barih'b .Die Fhiloeophie der Oesohiehto als
Seiiologie, I*') in fast vollkommener Weise befiiedigt, sodass ich mich be-
gnögeti darf, darauf hiumweisen. Dass iah, meinem Stadiengaog eatspreoheDd.
aotser doroh die hier angeführten eigentliohen Boiiologen und Oeeohlidita-
phOosophen, auch dnroh Hisloriker, Ethnologen nnd namentUoh aoiiologiaoh
interessierte Nationalftkonomen viiiaeb angeregt worden bin, wird iet Stah-
mann nnaohwer erkennm. Idi liehe vor, lieber keinen Namen in nennen,
aW Mfs Oentewohl einige beransangteifen. Die Soziologie, als die Erönnng
des stolzen Banea 1er GriBteewissensohaften, dankt so vielea AÜnselzweigen
der Fonohnng osd in jedem Einzelzweiga so vielen verdienten Porsohera
ihre Baostnne, daes «ne vollsUndige liste Bogen füllen würde. Hier kim-
htnieren ansser PhihMOphie nnd Psychologe Oeechiohte und Oekonomik,
Bechti- nnd Btaatswissensohaft, BeÜgions-, Sprach- und Knns^hfloBophie,
Anthropologie nnd Enltnrgeschiohto und wnter ohne Ende — mne nnabseh-
n,g,t,7l.dM,.COOglC
324 FranE Oppftnheimer:
bare Fülle der Ersoheiiiiui{[eii, jadem und vor nllam den noh äoBBedüdi «■-
geengten Flivatgelelirteit muht sa bew<igeii.
So mag dieaer Versnoh naohsiohtige Beorteilnng finden! Bein Tai-
fuaer weiss, was er der üniveisitas litteranim soholdet und denkt, tmae
Sohuld bald getrenliab abEahlen in können. —
A. Die ÜTBUlie der sesohlobtlieheii Bewtgwag.
(HeroYstische
und kollektivistische Geschichtsauffassung).
Was ist Geschichte?
Ich glaube, dass aJle gesdiichtspbüosophiBcheQ Schuloi
ohne zögern die folgende allgemeine Definition annehmen
werden: (beschichte ist die Bewegung von Menschenmassen,
G^escbichtswisBenscbaft ist die Lehre von der Bewegung von
Menschenmassen. Denn die iE^inzelhandlong gilt aUgemein
nur itir „geschichtlich", insofern Massenbewegung auf sie
folgt. Caesars Mahlzeit ist eine Handlung Caesars, aber
keine geschichtliche Handlung.
Die gleiche Übereinstimmung glaube ich noch voraus-
setzen zu können, wenn es sich um die Beantwortung der
allgemeinsten Frage nach der Ursache dieser geschichtlichen
Massenbewegung handelt. Da alle menschliche Bewegung
(d. h. alle willkürliche, die hier allein in Frage konmit, Be-
flexbewegnngen interessieren uns hier nicht) auf Triebe hin
erfolgt, Triebe aber nidits anderes sind, als zur Befriedigung
drängende BedOrfnisse: sosindaUegeschichtsphilosophischoi
Schulen, soweit ich sehen kann, darin einig, dass menschliche
Bedürfiiisse die Ursache der geschichtlichen Bewegung sind.
Wessen Bedürfnisse?
Hier scheiden sich die Geister. Die „heroiBÖsche''
Oeschichtsauffassung trennt sich so in der Beantwortung
dieser Frage von der „kollektivistischen''.
a) Charakteristik.
Die ältere „heroistäscbe" Auffossung, die heute aoch
fast unbestritten die Universitäten beheirscht, nimmt an, dass
es Bedürfnisse resp. Triebe einzelner Menschen, der „Qenies".
iM,Coo<^lc
Skiase der aorial-Okonoinwnhen Gewhiohhiiniffaiwiing. 335
der „geborenen Herrscher," der „Heroen" sind, die die nidis
indigestaque moles durch ilir schöpferisches „Es werde!"
aliein in Bewegung setzen. Und sie spricht als die Bedürf-
nisse, die den Willen dieser Heroen lenken, selbstversUind-
lieh die „höheren Triebe" an: die egoistischen der Buhm-
nnd Herrschsucht, die altruistischen der Volks- und Vater-
landsliebe, auf noch höherer Stufe der Menschenliebe
(ChriBtus) oder gar der aUgemeinen Liebe zu allem
Lebenden (Buddha).
Die jüngere, „kollektivistische" Auffassung behauptet
dagegen, dass die bewegende Kraft der Geschichte in der
Massenseele zu suchen ist. Oder mit anderen Worten: daas
es ein „MassenbedOrfois" ist, das die Masse in Bewegung
setzt. Da nun aber die hSheren und höchsten Triebe in den
„Viel zu Vielen" keinen Baum haben, da die Triebe der
„grossen Persönlichkeit", durch die sie sich ja von der Masse
unterscheiden soll, in dieser gleichen Masse nicht lebendig
sein können, so wird meistens angenommen, dass keine
anderen als die niedersten, die ökonomischen Bedürfnisse und
Triebe die geschichtliche Bewegung verursachen, d. h. die
Triebe zur Versorgung mit materiellen Gtenussgütem, nament-
lich mit der Nahrung, aber auch, je nach EJima und Wirt-
schaftsstufe, mit Kleidung und Behausung. In dieser Gestalt
trägt die kollektivistische Theorie den Namen der „ökono-
mischen Qeschichtsphilosophie" und wieder eine Abart dieser
ökonomistischen ist die „materialiBtische", deren besondere
Auffassung uns unten noch beschäftigen wird. Ich will sofort
hier vorgreifend bemerken, dass ich schon die erste Fassung,
geschweige denn die noch engere zweite, fOr zu eng halte
und deshalb eine weiter spannende Theorie mit dem be-
zeichnenderenKamen : sozialökonomische Geschichtflphilosophie
vorschlagen und begründen werde. Der Name „materialistisch"
deutet ^Qcklich einen ferneren Gegensatz zu der älteren
Auffassung an. Diese pflegt gemeinhin nicht nur „heroistisch",
sondern auch „idealistisch" zu sein, d. h. sie glaubt, die
Geschichte sei ein „sittliches Problem" (Moiimsbn); und zwar
iM,Coo<^lc
326 Frftnz Oppenheimer;
wird das meistens in dem Sinne gefasst, als sei die Gbsdiichte
die fortschreitende Verwirklichung einer sittlichen. Idee.
Wenn diese Vorstellung weiter nichts besagen soll, iJb
dass der Verlauf der Qeachichte darauf hinauskommt, die
Menschheit emporzniOhren von der Knechtschaft zur Frei-
heit (Hbgbl), von der kriegerischen zur friedlichen TMtig-
keit (Saint Simon), von der Barbarei zur Humanität (Hbbdkb),
von der Natur zur Vernunft (Soklbibbiia,chbb): dann ist die
„materialistische'' Auffassung mit solcher „idealistischen
durchaus vereinbar. — Wenn aber hier das Teloa des
Aristotelismus spukt, wenn die Lehre besagen will, dass die
„Idee", indem sie ihrer Verwirklichung „zustrebt", die ak-
tive Kraft der G^chichtsbewegung ist, oder mit anderen
Worten, wenn das „Wertresultat" der Weltgeschichte nicht
als ihr Ergebnis, sondern als ihr Ziel und Zweck gefasst
werden soll, dann freilich stellt sich die materialistische Auf-
fassung als kausale Wissenschaft in den denkbar stärksten
Gegensatz gegen die idealistische als teleologische Mystik,
der gleiche Q«gensatz wie zwischen der vorlamarckiscben
teleologischen und der nachlamarckischen kausalen Biologie,
ein Gegensatz, der die ganze Geistesgeschichte der Mensch-
heit umschliesst. Denn das Teleologische ist immer auch
das Theologische, und alle Wissenschaft und Philosophie ist
nur erwachsen mit dem Masse ihrer Abkehr vom Theologisch-
Teleologiscfaen. Dies in der m&glichsteu mir erreichbaren
Kürze der Unterschied der beiden Geschichtsphilosophien.
b) Kritische Würdigung der heroistischen and der
kollektivistischen Geschichtsauffassung.
Die heroistisch-idealistische Gescbichtsauffaasong ist
schon durch ihren Ursprung verdächtig, weil sie entstanden
ist aus den Aufzeichnungen der Hofhistoriographen, die den
Verlauf der Dinge unter den Gesichtswinkel des Nutzens
und des Glorie-Bedürfnisses ihrer Herren sahen oder ge-
zwungen waren zu sehen. Dass sich PHlrsten, Kanzler, Ge-
nerale und Gesetzgeher ftlr die einzig massgebenden Faktoren
iM,Coo<^lc
Skü» der sodal-ftkonomisohra OMohiehtBanffiHeaiic. 327
der O-eschichte halten, ist bekannt, tmd so mosste die Ge^
schichtsdarstellang selbst tod diesem Glauben ausgehen imd
beheiTBcht werden.
Die heroistische Theorie kann aber den geschichtlichen
Verlauf gar nicht erklären. Gerade die allervichtigBten ge<
Schichtlinien Hassenbewegungen, die eDtscheidendeu, sind
ohne Vermittlung von „Heroen" erfolgt, die Wandernngea.
Alle Weltgeschichte ist im Kern Geschichte von
WanderoDgen. Soweit wir rUckwärts bUcken kömien in
den Nebel, der die Aitfänge der Menschheitaentwickelung auf
diesem Planeten verhüllt, fOhrt alle Bewegung der Kultur
auf Bewegung von MenschenmasaeD im eigentlichen Sinne,
anf Wanderung znrUck. Durch Wanderung an Flttssen und
SeeküBten entlang kam der primiliTe Tiermensch — so
nimmt die Kulturgeschichte mit Wahrscheinlichkeit an, —
in B^Ührung mit anderen Klimaten und geographischen Be-
dingungen; auf diese Weise allein entrann er aus den Händen
seiner bald ÜberzärtUchen, bald hysterisch aufwUtenden Mutter,
die ihr Kind verdarb, der Tropennatur, in die Zucht der
strengen aber gütigen, alle Kiilfte des Leibes und der Seele
anermUdlich entwickelnden Lehrmeisterin, der kargeren Natur
der gemässigten Zonen; und so wuchsen durch die Wanderung
and während unaufhörlicher Wanderung aus den dunklen,
passiven Tropenrassen die hellen, aktiven Herrenrassen des
Nordens empor, mit deren Eintritt in die Ebenen der grossen
StrOme die eigenUiche Weltgeschichte erst beginnt. Und
was ist diese in letzter Linie anderes als Wanderung? Welle
anf Welle aus dem überquellenden Ozean kriegerischer
Herrenmenschen in den grossen Wüsten Zentralasiens und
Arabiens bricht über die Deiche der Ackerbaustaaten in den
reichen Schwemmebenen. Schicht lageri sich über Schicht;
und kaum ist eine neue Herrschaft notdürftig gefestigt, so
moss sie schon wieder die siegreichen Waffen rUckwärts
wenden, um die nachdringenden Verwandten abzuwehren.
Anprall der Wanderer und ihrßüokstau oder ihr Einbruch:
das ist der gewaltige Rahmen, in den alle Terfassungs-,
n,g,t,7l.dM,GOOglC
S26 Frani Oppenboimer:
Wirtschafts- und politische Geschichte des Altertums ein-
geschrieben ist.
Und das Mittelalter beginnt mit jener ungehenrm
Wanderbewegung, die wir „Völkerwandwung" engeren Sinnes
za nennen pflegen. Von Osten wälzt sich in zwei ungeheuren
Strömen die wandernde Masse nach Westen, nördlich und
sOdlich von der Mittelsee, and das ganze Feld der alten
Kultur wird einer neuen Tie^flügong unterworfen. Bei Xeres
de la Frontera und Tours und Poitiers stauen sich die beiden
StrOme aneinander empor, kommen notgedrungen zum Still-
stände, und nnn beginnt das eigentliche Mittelalter, die cha-
rakteristisclie Epoche der Feudalverfassung, verursacht haupt-
sächlich dadurch, dass die Mächtigen ihre kriegerischen Qe-
lUste nunmehr nach innen kehrten, und dass das niedere
Volk fortan nicht länger durch Auswanderung ihrem Drucke
ausweichen konnte. Noch sind die neuen Reiche nicht ge-
festigt, so beginnen schon wieder die Angriffe neuer Wanderer:
der Wikinge von Norden, der Avaren, Magyaren, Slaven,
Tataren, Mongolen, Türken von Osten, der seeraubenden
Sarazenen und Mauren von Süden, die abgewehrt werden
mOssen und auf die Verfassung nnd politische Lage Europas
entscheidend einwirken. Und mitten inne geht die Bttck-
wanderung, der Rückstau in den KreuzzUgen, in der Kolo-
nisation der Levante, die die kapitalistische Wirtschaft Tor^
bereitet, und vor allem in der ungeheuren Kolonisation der
slaviachen Länder QsUich von Elbe und Saale und an der
Donan, die das Feudalsystem im Kerne umgestaltet und die
beiden Grossmächte neu erschafft, die später die ersten
Jahrhunderte der Neuzeit entscheidend mit beherrschen:
Freossen und Österreich.
Aber damit sind die Einflösse der Wanderung auf die
Neuzeit imd neueste Zeit bei weitem noch nicht erschöpft.
Mit dem Wandervolke der Türken kämpft Europa bis tM
ins 19. Jahrhundert. Und inzwischen erschafft die flber-
seeisdie Auswanderung eine neue gewaltige Grossmacht, die
Verein^ten Staaten von Nordamerika, die ihr Schwert und
iM,Coo<^le
Bkine der aonal-Skonomisdieii OeBohiditBBQftMBimg. 329
ihr Gold Behr^nachdrUcklich in die Wage der Völkergeachichte
za werfen begonnen hat, und deren Einflus3 auf die politische
nnd -wirtBchaftliehe Entwickelung der alten Welt ganz und
gar unUberBehbar ist. Und inzwischen schafFt femer die
binnenländische Abwanderung vom Lande in die Industrie-
bezirke ia England, Deutschland, ÖBterreich, Italien, ßuss-
laod die Bevtilkerung des alten KoDÜnenteB vSUig um, ver-
legt den Schwerpiinkt der poUtiBchen Macht und wirtschaft-
lichen EJr&ft auf eine ganz andere Stelle, ver^dert die
MassenpBychologie von Grund auf, läest alte Parteien ver-
schwinden und stampft neue aus dem Boden, zerschlägt alte
Werte und stellt neue Qber sich.
Das wirkt alles die Wanderung, und sie allein! Vor
diesem gewaltigen, allem Persönlichkeitswirken zur Voraus-
setzung dienenden Thatsacheukomplez muss jede andere Ge-
schichtsauffassung als die kollektivistische ihren Bankerott
erklären. Wo sind hier die „Heroen" Oablylb's, die „Ein-
zigen" Nutzbohx'b, die der ewig toten Hasse ihren Geist
einhauchten? Tentobod? Theodorich? Attila? Omar? Dschin-
gis-Khan? Sie waren der Balken, den der Strom gegen die
Brücke wirbelt: wer brach die Brücke? Der Strom, der
lebende, oder der Balken, dem der Strom die Bewegung gab?
Denn wer kennt die „Genies", die die Hyksos gegen Ägypten,
die Mongolen und Mandachu gegen China, die Schwarztlaggen
gegen Annnm, die Zulu gegen Kapland, die Wahehe und
Mafiti gegen Uganda, die Inka gegen die Peruaner, die alten
!&^hminen Ober den Indus führten?! Wer war der „Staats-
mann", der den alaviBchen Osten mit Millionen deutscher
Baaem besiedelte, wer der Gewaltige, der in einem Jahr-
hundert 18 Millionen Europäer zum Auszuge nach dem Lande
der Streifen und Sterne entflammte, wer die „FersÖnlichkeit",
die das europäische Landvolk zu Dutzenden von Millionen
vom Lande fortfegte und in die Städte warf?
Und was konnte selbst ein Btaktsmum wie Otto Biunuok uderes
leisten, als in dieser von ihm nicht geechafieneo, nioht gewäoBohtec, aber
nitdit ZD EÜgelndea oder la dämmenden StrömuDg das Sohifi des Staates,
mit dem Torteil seiner Elaa&e nnd dem Nntien seiner Dynastie an Bord,
330 Franc Oppsnheimei:
mö^ohat geBohiokt vor Wind und Wellen za btltan? Er selbat mutte dy
genMi geong, der gedankenmlohtige EtieBe, als er nntar aein Bildnu du
bflMhmdene Wort solnieb: ,ün(U fort neo rSKittirr Abar die Oedubo-
•ohwaohen wollen ihm und nna einlnlden, ei habe den Strom flieaaao ud
atUlstahen laasan nach aainem Willen, wie Joana die Sonne Btillatahea Um
in der Amoiitersohlaoht; nnd die Zweige ron hente wollen thnn, wu d<f
Bieee nie nngoBtratt Tennohta. und laseen den Osean mit Ketten pMtfota,
wann er wogt, wie das Qeseti der Natu ee ihm TOiaohieibt, dai siob um
UeneohengeeetE nioht ktimmert
Die heroistische Auffassung ist aber nicht nur unge-
nügend, weil sie die wictitigsteu Ersdieinungen nicht erklSr«i
kann, sondern sie ist auch noch zweitene da, wo sie glaubt
erklären zu können, geradezu unwiBsenschaftlichl Ihre
groteske Überschätzung der Einzelkraft beruht lediglich uif
einer liederlichen Fassung des Begriffs der „Ursache". Nach
ihr ist der Heros resp. seine sich auf die Menschenmaesen
seiner Umgebung äussernde Seelenenergie die Ursache der
geschichtUchen Massenbewegung. Der Begriff der Ursache
ist aber ein -wiggenschaftlich streng bestimmter: „causa
aequat effectum" ist die siegreiche Formel der Natiu^
Wissenschaft. Die Weigerung, sie als auch ftlr die „Oeistes-
wissenschaften", d. h. die Soziologie, gelten zu lassen, lEt
eine rein willkürliche, durch nichts begründete. Auch hier
dürfen wir nur eine solche Kraft als Ursache annehmen, die
der in der Wirkung entbundenen Kraft quantitativ gleich
ist. Und man braacht das Problem nur so zu stellen, um
sofort zu sehen, wie grotesk die heroistische Auffassung ihre
Helden Überschätzt. Eine Bewegung, die zwei Jahrtausende
hindurch die Massen zu Millionen in Bewegung hielt, vie
das Christentum, also Milliarden von „Menschenkräften"
entband, kann unmöglich ihre Ursache, d. h. ihr Aequiva-
lent, in der emen „Menschenkraft" Christi gehabt haben,
und schätze man ihre relative Überlegenheit noch so hoch.
Und ebensowenig kann ein zerstörender Taifun wie der
Arabersturm sein Äquivalent in der einen Menschenkraft
Mohammeds gehabt haben.
Wenn das zugegeben werden muss, so muss auch zu-
gegeben werden, dass die heroistische Auffassung unhalthar
ist. Denn Wräsenschaft ist nach Kamt nur insoweit vu^
iM,Coo<^lc
SUue dar Mnal-QkwomiBohen OeaehiohtBanflHgang. 331
handelt, me Mathematik reicht, d. h. mit anderen Wortea:
wie feste quantitative Beziehungen zvischen den einzelnen
Phänomen festgestellt werden. Diese einzig wisaenschafüiche
Frage hat sich die hier bekämpfte Auffassung noch nicht
einmal vorgelegt, geschweige denn beantwortet.
Die ganze Verwirrung ist sehr einfach darauf zurttck*
zufuhren, dass die Heroisten zwei sehr verschiedene Begriffe
gleich setzen. Sie halten „Ursache" and „Veranlassung" für
gleichbedeutend. Es ist das die naive vul^re Auffassung,
die den Funken, der ins Pulverfass fiUlt, den Vogelflügel, der
die Lawine I6st, den Schlag der Spitzhacke, der einen Stau-
damm durchbricht, für die „Ursache" hält der Explosion, der
Verschüttung, der ÜberBchwemmung. WiSBenschaftlich an-
gesehen handelt es sich hier aber jedes Mal um materielle
Hassen im labilen Gleichgewicht, die durch eine kleine „ver-
anlassende" Störung in Bewegung gesetzt und erhalten werden,
bis das stabile Gleichgewicht erreicht ist, oder, im energe-
tischen Ausdruck: um Mengen latenter Energie, die durch
eme „veranlassende" Gleichgewichtsstörung in lebendige EJraft
umgesetzt werden. Hier sind „Ursache" und „"Wirkung"
augenscheinlich äquivalent.
Gerade so deutet die kollektivistische Auffassung die
geschichtliche Massenbewegung. SÜne solche kann über-
haupt nur dann eintreten, wenn ein allgemeines Bedür&iis
vorhanden ist, „seine Lage zu verändern", d. h. latente
Energie. Je stärker der Trieb, einer um so kleineren Ver-
anlassung bedarf es, um die Masse aus ihrem labilen Gleich-
gewicht zu werfen, oder, um ihre latente Energie in lebendige
Kraft umzusetzen. Und auch hier sind dann, wenn es ge-
schah, Ursache und Wirkung völlig äquivalent.
Wenn wir im Lichte dieser quantitativen Auffassung
die beiden oben angeführten Beispiele betrachten, so schwindet
jede Schwierigkeit. Wir haben im ßömerreiche kurz vor
Beginn unserer Zeitrechnung eine soziale und wirtschaftliche
Lage der Massen, die ihre „latente Energie", das Bedürfiiis,
den Trieb nach einer Lageveränderung bis auf einen solchen
n,g,t,7l.dM,COOglC
332 Fr&DK Oppenbeimer:
Grad der Spannung angehäuft hatte, dass die geringste Ver-
anlassung Über den kritischen Punkt fortführen musste. Draa
der „soziale Gradient" war maximal.
loh habe diefioD meteorologisoh«>t Begriff in die Sozialwissenuhift
eingeführt, ■weil, er in nnöb^TtrefSicher Dentliabkeit die sozialen VorbBltnine
TeransohaDÜdit. Der meteorologische Gradient bedentet den NeignngHwinksl
einer Lnftmasee Ton der Höhe des Haximmn bis zm Tiefe des Minimum,
gemeaaen an der abaolnten Eatferuung der Isobaren. Je bleiner dei On-
dient, d. h. je weiter die Isobaren Toneinander entfernt sind, nm so Oocher
ist der Triahter, nm so geringer die Qeeohwindigkeit, mit der die Lafboasse
seine "Wandung hinabgleitet; je grösser der Gradient, d. h. je nftber die
Isobaren einander li^n, um so steiler ist der lichter, am so grteaer di»
Oeeohwindigkeit der Loftbewegnng, d, h. nm so stArker der Sturm.
Im ßömerreiche war der Gradient, wie gesagt, maiini^
Die ganze Masse der Bevölkerung, entrechtet und ausgebentet,
lag unter einer Isobare ansserordentUch hohen BozialQkono-
mischen Drucks. Und, da die Mittelstände so gut wie toU-
konunen vernichtet waren, lagen die Isobaren bis zur Tiefe
des wirtsdiaftUchen MinimTim, zur Elassenlage der winzigen
Herrenschicht der rOmiscben Nobilität, dicht aneinander; die
Trichterwand war ungeheuer steil, der Zug auf die Hassen
enorm, das labile Gleichgewicht di(dit am kritischen Punkte.
Die Lehre Chrißti war die Veranlassung zu seiner Übei^
schreitung, und die latente Energie setzte in lebendige Kraft
um. — Ganz ebenso erklärt sich der Ärabersturm. En
armes, aber in seinem Herrentum stark begehrliches, tod-
T^achtendes, religiOs fanatisiertes Volk hat eine ungeheure
Menge latenter Energie, einen gewaltigen Trieb zu eiDö"
Lageveränderung aufgespeichert; die Lehre Mohameds ent-
bindet die latente Energie in lebendige Kraft: der Storni
bricht los. Er wird aber erst zum Taifun, sobald er in das
tiefe Minimum der antiken Sklavenwirtschaft hineinfuhrt:
ohne die Bestimmung des Koran, dass jeder Sklave tm
wird, der den Islam bekennt, hätte der Arabersturm die alte
Welt nie fiberrannt. Wenn ein Bild gestattet ist, so war
Mohameds Lehre die Schneeflocke, die UbOT einen massigen
Hang ballenden Schnees herabrollt und allmählich zur kleinen
Lawine wird. Endete der Hang unten in ^e flache Mulde,
so zerstäubte sie harmlos. Er endete aber in eine steile
iM,Coo<^lc
SklzM der Bonal-ökoDondsohen OMohiohtsinfFassaiig. 333
Wand, auf der ungemessene Schnoemassen gera4e eben noch
hafteten; diese warf sie durch ihren Anprall aus dem Gleich-
gevicht, und nun donnerte die Verheerung zu Thal, eine
Biesenlawine, unendliche Massen vou Schnee und Eis mit
mit^ewirbelten zersplitterten Wäldern und zertrümmerten
Felsen. Und: „causa aequat effectuml"
Also, um abzuBchliessen: die Ursache der geschicht-
lichen Bewegung ist latente Massenenergie, d. h. die Be-
ddrfiiisse der Masse zur YeriUidemng ihrer Lage.
Um jedoch Missverständnisse unmöglich zu machen,
die sehr gewCholicb sind, mögen hier einige Worte Über die
historische Bedeutung der starken Persönlichkeit
eingeschaltet werden.
Die heroistische Schule, um ihre schwache Position zu
maskiereii, pflegt es nämlich so hinzustellen, als wenn die
kollektivistische Schule jede Bedeutung starker Persönlich-
keiten für die geschichtliche Bewegung überiia^t leugne.
Sie hat es dann leicht, den Gegner ad absurdum zu flibren,
wenn sie einen Julius Caesar neben einen slowaloBchen
Kesselflicker stellt, um sich über die dummen Kerls lustig
zu machen, die beide fUr gleichwertig erkllb-en.
Das ist ein selbstgeschaffener Popanz, den die bero-
isÜBche Schule zerfetzen kann, ohne dass es dOT kollektivisti-
schen wehe thut. Sie leugnet die Bedeutung der historischen
Persönlichkeit nicht im mindesten: sie weigert sich nur, ihre
Überschätzung mitzumachen.
Derjenige kollektivistische Forscher, der in einem Buche
jede Bedeutung der historischen Persönlichkeit leugnen wollte,
vUrde sich schon dadurch selbst widerlegen: denn er schreibt
ja sem Buch, um Massenvorstellungen und Massenhandlungen
auszulösen. Kael Ma&x, der erfolgreichste Vertreter der
koUektivistischen Auffassung, hätte gewiss weder die Inter-
nationale, noch die sozialdemokratische Partei begründet und
gefOhrt, wenn er der Ansicht gewesen wäre, dass seine eigme
Itistorische Bedeutung nicht grösser sei als die des dumpfesten
Proletariers.
n,g,t,7l.dM,.COOglC
334 Frani Oppanhainior:
Das also kann die kollektivistische Auffassung nicht
bedeuten. Was bedeutet sie in Wirklichkeit?
An<^ die stärkste Persönlichkeit, der Heroe, dessen
„Energie'' (das Wort deckt glOcklich physische und psychische
Seite der Gabe) die durchschnittliclie seiner Zeitgenossen am
das Vielfache Qbertrifft, kann nur dann Massenbewegung^
auslesen, wenn die Massen, nahe dem kritischen Punkte, im
labilen GHeichgewicbt ruhen, sodass ein kraftiger „Beiz" oder
„Anlass" sie in Bewegung setzt. Wo das nicht der Fall
ist, da bleibt die stärkste Persönlichkeit macbüos.
Diese ErwSgung fOhrt erst zu der rechten Schätzung
der „Genies". Sie erscheinen dem ersten Blicke als „sin-
gulare" Menschen, weil sich an ihren Namen gewaltige Ent-
ladungen lebendiger Kraft knüpfen. Wir mOssen aber an-
nehmen, dass Menschen von gleicher „Energie" sich
zu allen Zeiten in allen Völkern finden. Man sagt
gewöhnlich, wenn Julius Caesar zur Zeit der Pyrrhus-Kriege
gelebt hätte, wäre er ein ausgezeichneter Konsul und General
geworden; wenn Jesus Christus zur Zeit der Richter, oder
Martin Luther im 12. Jahrhundert gelebt hätten, so wären
sie vorzü^che Prediger oder Philanthropen oder Gelehrte
geworden. In diesem „Wennsatz" »scheint der Sachverhalt
in etwas kindlicher Form und stark Terschleiert. Man muss
statt dessen sagen: die Julius Caesar, die Jesus und Luther
in Zeiten mit kleinem „sozialen Gradienten" konnten die
Massen nicht bewegen, weil sie zu weit vom kritischrai
Punkte waren.
Dies» A.7iSaamng wint dadnroli gestfilit, disa in Zeiten mit growwB
Bosalem Ondientea die PenOnlicbkeiteD wild waohsBii, i. B. in d«t fi«-
naiMaiioe im Bömemioh. Heben Cmmi etehon Htriua, SulU, Pompeja^
Citiliiift, Sertorins: dan Oaaaar der badaatandata von allan war, i>t «äbr-
aofadnliah: abar aidier iat, daaa d« SohiokMl daa iftmisohaii Baidies in tat
HsaptUmoi ganz daasalbe ([eweeen wire, wann Caesar alB Kind gastoitaa
oder bei Oargorik fe&dten, oder bd der nebarfahrt naofa DjRhMdünm im
Stnrme nntoigagancan wkre, und wann statt einer joüeohan üne pompojiaak*
DTnastia das ante JahriinndeTt nnaerer Zeitreohnong beherrscht Utta. Dean
der Gradient war ao groea, daae der ESnsbin artolgan rnnssta.
Die heroistische Auffassung beruht, wie mir scheint,
auf zwei Fehlschlüssen: erstens, wir bezeichnen als
iM,Coo<^lc
Skiue der Boiial-9koDotiÜBidk«ii Oesohiohtsanffusong. 335
„Männer von G-enie" Menschen von starken Erfolgen,
Dod zwar täuschen -wir uns Über die Bedeutung des „Genies"
Infolge eines typischen Kreisschlusses. Zuerst schliessen wir
ans der OrQsse des Erfolges auf die Grösse der Eoergie,
und dann nennen vir die supponierte Energie die Ursache
des Erfolges. Und zweitens können wir uns von dem dy-
nastischen Gesichtspunkte nicht losmachen, verwechseln fort-
während das Schicksal einer Familie mit dem der YOlker.
Einige Beispiele flir die ersten Fehler: wir nennen
Karl: „den Grossen", weil er beispiellose Erfolge hatte, und
seine Nachfolger Schwächlinge, weil unter ihnen alles zu-
sammenfiel. Und gewiss war Karl von grösserer Energie,
als die Ludwige und Arnulf. Aber nichts desto weniger ist
sieher, dass bereits unter Karl, und ohne dass er es ver-
hindern konnte, jene Desorganisation des Reiches einsetzte
und fortschritt, die seinen Nachfolgern alle politische Macht
aus den HiUiden spielte, die Yerselbständigimg der grund-
gesessenen Beamtenschaft zur Qrundherrschaft und der
Niedergang der gemeinfreien Bauemschaft. Gewiss war
Otto v. Bismarck ein Überlegener .Mensch; aber nichts desto
weniger ist sicher, dass die wirtschaftlichen Interessen der
führenden Klassen West- und Ostdeutschlands: Grosskapitalis-
mns und Grosslandbesitz, zufällig gerade bis zu seinem
Sturze parallel liefen (Zollschutz), sodass die Begierung
Deutschlands ein leichtes Spiel war; und dass sie nach seinem
Storze auseinanderwichen, gegeneinander brandeten, so dass
von nun an ein fester Kurs vorläufig unmöglich wurde.
Dieser Interessengegensatz von FreihandelsbedärfDis und
verert^ktem Schutzbedürfbis entstand aber ganz unabhäi^ig
von den regierenden Männern durch die wirtschaftliche Ent-
wickelung. Bismarcks grösstes Glück war sein recht-
zeitiger Sturz!
Historische Misserfolge und Erfolge nur aof die per-
sönliche Energie der leitenden Persönlichkeit zurückfuhren,
heisst alle kausale Forschung durch eine Scheinerklärung
abschneiden.
iM,Coo<^le
386 Franz Oppanheimer:
Eid Beispiel für den zweiten Fehler: dass eine der zvei
Kolonialn^hte Deutschlands, Pret»sen oder Sachsen (Oster-
reich als Torriegend Blavisdie Macht schied aus), die Vor-
macht Deutschlands werden musste, war klar. Denn ihr aus
Gründen des politischen G-leichgewichts relativ gross ge-
schnittenes Qebiet musste, einmal mit Menschen aufgefOlll,
die kleineren Staatsbildungen des Stanunlandea überwiegen.
Dass in diesem Kampfe die HohenzoUern glücklicher, ge-
schickter und kräftiger waren als die Wettiner, ist gewiss;
aber ebenso sicher ist, dass die Geschichte Deutschlands in
den HaupÜinien ebenso verlaufen wäre, wenn die Wettiner
dem Protestantismus treu geblieben, und wenn August der
Starke die Kraft seines Landes nicht in den polnischen
Abenteuern verzettelt l^ltte: die Hauptstadt des durdi die
wirtschaftliche Blntwickelung ganz ebenso geeinten Deutsch-
luid wäre dann Dresden statt Berlin, und die Wettiner trügen
die Kaüerkrone. Die Völker aber, auch der Adel, wären
ebenso loyale Sachsen, wie sie heute Preussen sind. Italien
ward auch zum Einheitsstaat und hatte doch keinen Bismarck!
„Genies" sind also Männer von Brfolgl Der Mensch
ist der Anbeter des Erfolges.
Sie sind freilich Männer von Erfolg, weil sie Mämier
von Verdienst sind, von überdurchschnittlicher Energie, die
geborenen Führer. Ihre Energie kann der Anlass zu Massen-
bewegungen werden, die sonst später eingetreten wären.
Das ist Verdienst genu^ für Buhm und Ehre, das ist genug
von historischer Bedeutung.
Dass die Zeitgenossen und Volksgenossen solche
Männer ehren, ist sehr berechtigt Denn für sie ist es von
grtlsster Wichtigkeit, dass eine Massenbewegung früher ein-
tritt, als ohne den „Anlass", den die Energie ihres FObrers
gab; und für sie ist von noch grosserer Wichtigkeit, dass
sie im Zusammenprall der verschiedenen Massen Hammer,
und nicht Amboss spielen. Aber für das Geschick der
grossen, derart zusauunengeschweissten Massen aaf die
Dauer ist die Persönlichkeit ohne viel Bedeutung. ^
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
SkisEe der soüal-ökonomisoheii QMohiobtMnfEusmig. 337
Ettooeii ist eingeschrieben in einen venig elastischen Kreis,
den die Lagerung der Masse bestimmt; mid selbst ihr
Wollen, ihre Zielsetzmig, kami nur mn ein Oeringes weiter
spaimen, als die ihrer durchschnittlichen Zeitgenossen. Sie
sind nicht Schöpfer, sondern Geschöpfe ihrer Zeit.
Das ftnch für knnstlerisohe nnd wiasanaolianJiohe Oenies m be-
giSnden, wire eine rösroUa AoTgkbe. ladeesen gehört es nicht streng in
uusrer Aufgabe, die nus ja nur eiae Orandteriuig, nicht aber one Aw-
föhimig dar Oeschiohlsphiloaophie ala ^ema stulte.
Also um zusammenzufassen: die kollektivistische Ge-
schichtsauffassung denkt nicht daran, zu leugnen, dass durch
besondere „Energie" über den Durchschnitt ihrer Zeit-
genossen sich erhebende starke Persönlichkeiten existieren, die
ZQ Ftthrem der Masse prädestiniert sind. Nur ihre masslose
Überschätzung lehnt sie ab.
Und vor allem muss sie eine miabweisbare methodo-
logische Forderung •stellen: alle (Geschichtswissenschaft hat
die klare Au^be, zuerst und vor allem die kollektivistischen
Strömongen und Bewegungsantriebe genau zu erforschen.
Erst dann wird eine gerechte, wissenschaftliche, d. h. quan-
ÜtaÜve Bestimmung der Kraft und Leistung der historischen
Persönlichkeit zuerst möglich werden, wenn der Ralunen
genau bekannt ist, innerhalb dessen ihr eine gewisse Be-
wegungsfreiheit (im gewöhnlichen Sinne) vei^önnt war.
Diese Forderung wird auch derjenige Historiker als
berechtigt anerkennen müssen, der die Überzeugung hat,
dass die starke Persönlichkeit in unserer iElinschätzung allzu
niedrig bewertet worden ist. Die einzige Möglichkeit, diese
Schätzung zu widerlegen, ist der vorläufige Betrieb der —
kollefetiTistiachen Geschichtsauffassung.
Dritter und letzter Grund gegen die heroistische Ge-
schichtsdarstellung: sie widerstreitet der Lehre von der Un-
freiheit des Willens, dem Determinismus.
Es ist hier nicht der Ort, um die allgemein philoso-
phischen Grtlnde aufzuführen, die dazu zwingen, die mensch-
liche Handlung als streng determiniert, als in die allgemeine
KausaUtät eingegliedert, aufzufassen. Hier genfigt es, fest-
*. B. SodoL XXVQ. a 22
n,g,t,7l.dM,COOglC
338 Frans Oppenhaimer:
zastellen, dass eine nicht-determimsiische SozialwissenBcttaft
ein Unding wäre. Denn alle "Wissensehaft sucht GJeseta-
mässigkeit; und wie wäre eine Oesetzmässi^eit der mensch-
lichen Massenhandlung, das Thema der Sozifdwissenstdiaft,
möglich, wenn der menschUche Wille dem Kausalgesetz nicht
unterworfen w^eP Willkür und besetz sind kontradiktoriache
Gegensätze. Daher ist die Unfreiheit des Willens der Aus-
gangspunkt, das „Axiom" aller Sozialwissenschaft.
Unfreiheit des Willens hedeutet nichts anderes, als äan
der Wille, der unbewusste wie der bewusste, in strenger
Kausalität verursacht wird durch die gesamte Verumständimg,
d. h. das jeweilige „Milien" des Menschen samt seinen et-
erbten und erworbenen Charaktereigenschaften. Hätten wir
die UniTersalfonnel dra LAPLAoa'schen Welt^eistes, so konnten
wfr aus den Umständen Motiv und Handlung jedes einzelneo
Menschen berechnen. Davon sind wfr weit entfernt. Aber
wir sind durch unsere unabweisbare Fräinisse gezwungen,
anzunehmen, dass eine bestimmte Yerumständnng im durdi-
schnittlichen Menschen, d. h. im Bestandteil einer Mensch^i-
masse, ein bestimmtes Bedifrfius erzeugen wird, das wiedw
eine bestinunte Handlung auslöst.
Es ist klar, dass fOr eine solche Betrachtung das be-
wusste Motiv jede selbständige Bedeutung verliert Die
Soziologie interessi^ sich ausschliesslich für die menscb-
liche Handlung in ihrer Gesetzmäßigkeit. Wenn diese oi)-
jektiv determiniert ist durch die Yerumständung, so ist es
ihr gleichgültig, ob noch eine subjektive Spiegelung dieses
Prozesses im Bewusstsein nebenher geht, die ebenso streng
determiniert ist. Sie hat dieses Phänomen der Psychologie
zu tiberlassen. In ihrem eigenen Betriebe darf sie es ruhig
vernachlässigen. Sie darf ohne weiteres die VerumstäaduDg
als die Ursache, und die Handlimg als ihre Folge ansprechen,
ohne des bewussten Motivs fiberhaupt EntUhnung zu thun,
das für das Zustandekommen der Handlung ganz ohne seih*
ständige kausale Bedeutung ist.
iM,Coo<^lc
Skizze dei soü&l-ökonomiBohen ßesohichtMafhasang. 339
Dieser Auffassung widerstreitet freilich das Gefühl des
Uenschen auf das lebhafteste, der sich frei v&hnt und, aller
phüoBophischen Erkenatois zum Trotz, inuner frei wähnen
moss, weil ihm seine Selbstbeobachtung vorspiegelt, dass er
jeweils die freie Wahl zwischen mehreren objektiv mö^chen
Handlungen habe. Dass er thatsächllch nicht die freie Wahl
hat, dass nur eine Handlung objektiv und subjektiv möglich
ist, das kann er mit den Mitteln subjektiver Selbstbeobachtung
unmöglich erkennen, da er wenig oder nichts von der Ver-
umstfindung, der „Motivation", weiss, die seine iTim zum
BewusBtficiü kommenden Motive in ihrer relativen Kraft er-
regt; und da er gar nichts weiss von den stärksten Motiven
seiner Handlung, den unter- oder unbewussten. So erscheint
dem getäuschten Menschen die subjektive Begleit-
erscheinung eines objektiven Zwanges als bewusstes
Motiv einer freien ThatI
Und zwar wird der Mensch ganz gesetzmässig ge-
täuscht. Da er ein vernünftiges und sittliches (d. h. soziales)
Wesen ist, das sich frei wähnt, so erscheinen regelmässig
in seinem Bewusstsein diejenigen vermeintUchen „Motive",
die seine Handlung als vernünftig oder sittlich, oder beides,
rechtfertigen. Während er einem objektiven Bewegungs-
zwange folgt, glaubt er als freies Wesen bewussten ver-
nünftigen oder sittlichen Antrieben zu folgen, die ihm gerade
diesen Weg mit gerade diesen Mitteln und Zielen als den
besten erscheinen lassen.
Diese AaSaaBang ist von bo groBsei Bedentang fSr die gsBamte Bo-
lialwisBeiiBcluift und widerstreitet andererseits den menaohliohen Btolse so
■ehr, dsSB ich sie daroh sine Erfahmng der ezperimentellsn Psychologie
dem VeTBtindiiiB oShoi Itthren möohto.
Eb ist niotit selten inö^oh, ein empfindliohae IndiTidaom in post-
hfpnotisotier Suggestion in gewissen Eandlongen zu bringen. Es
eriUUt im Zustande der Hypnose den Befehl, neoh dem Erwachen, ohne
aieli dee Befehls zn erinneni, zn bestinater Zeit an einem bestimmten
Orte eine bestimmte Handlung aostuföhren, z. B. eineu Mord. 80 war ea
in einem berühmt gewordenen Experiment der Nanojer Bobnle, wo zwischen
Befehl und Ausfühmng eine lange Zeit, meiner Erinnerung nach 8 Monate,
TenfaicJieB. Das Versnohsobjekt, ein hannloser gntmiitiKet Hensoh, dai
irthrend der gesamten Friat tbatsloblicdi keine Spar einer Erinnemng an
den Befehl h^e, erschien wirklich loi beetimmten Zeit am feetgeaetitan
Orte nnd versuiiJite, die ihm beieiohnete, ihm bis dahin vüllig fremde
22«
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
340 FiBne Oppenheimer:
Peraon zu ersteohen. Festgehalten und nwih aeinen UotiTen befragt, er-
x&hlte er eine Qesohiohte von iwigjahriger Veifolgong n. s. w,, nnd Ewar
in der entachiadenen „A.atoeiiggeBtioii'', äam aia du Motiv seinee nüea-
g^äoiten Attentats sei.
Hier können wir den Meohaoismas, der nos intereesieit, klar ar-
kennen. Ein Hensob folgt önem Zwangeaatnebe dnroh untarbewnute Hottreu
vemreacht daroh eine Veramatändiing, von der bt uiohts weis. Er hu
kein nooh so eohwaohes verstandeemlBsiges oder dtdichea .MotiT' in det
gewöhnlichen Bedentnng dee Wortes als üisaobe sdner Handlang: abet
er moBs sieh solche Motive selbet eohnffen. MoesI denn er mnsste tnoh
selbst verlieren, sioh als Temünftiges, sittlichee Wesen aufgeben, wenn er
sioh — nicht anderen — lugeeteben mfieste, motiylos tu bandeln. &
mnsste sioh (Ar „geisteskrüik* halten: und dafSr hält sioli nioht einmal
der Qeisteskranke, so lange er krank ist, sondam hdohstens retroepekliv, wenn
er anf seine Mheren Handlungen KoräokUiokt.
Also ZwangBantrieb und Selbsttäuschung über das Motiv I
Das hat Ludvio Qdhflowioz in die knappe Fonnel geprfigt:
„Naturgesetzlich handelt der Mensch, und mensch-
lich denkt er hinterdrein!" Es heisst besser: „und
mensdüich denkt er nebenbeil", denn die Handlung als
objektiv sich äussernde Umsetzung psychischer Energie in
Muskelbevegung einerseits, und das bewusste Motiv als sub-
jeUive Spiegelung des Vorganges im Bevnsstsein anderer-
seits sind gleichzeitige Folgen derselben Ursache, des
BedOrfidsses, des Triebes.
Das bewusste Motiv ist also Oberhaupt nicht Ursache
von Handlungen. Das Menschenleben erschöpft sich nach
dem Worte des geistreichen Franzosen darin, „zu wollen,
was man nicht thut, und zu thun, was man nicht will".
Darum ist auch vom Standpunkte der Psychologie aus
die Behauptung der heroistischen Schule abzuweisen, dass
die bewussten Motive der „grossen Persönlichkeiten" dia
Ursache der Massenbewegung seien.
Die kollektivistische Auffassung, als streng deter-
ministische, kausale Wissenschaft von der Q^schichte, be-
trachtet natürlich die bewussten Motive der Masse als
ebenso irrelevant wie die der Einzelnen. Welche aittlicheo
oder verstandesmässigen Gründe eine durch den ZwangB-
antrieb eines MassenbedUrfaisses bewegte Masse sich auto-
SDggerierte, um vor sich selbst, die sich &^i handelnd w&hnt,
iM,Coo<^le
Sküie der sonal-ökonomiBohen OeedilohtBiiiSassaiig. 341
das nächste Mittel zur Befriedigung des MassenbedUrfnisses
za rechtfertigen: das notiert sie als historische Thatsache,
verläJlt aber nicht in den Fehler, es flir eine historische
Ursache zu Iialten.
Gerade dieser Fehler wird »bei g^enwSitig von HlatoiUeni, Sodologon
(nnd NatJonalökonomen) hSnfig beganeen, und znir njoht am von heroistüolL
gesiimten, soDdern auch von offen KoUeUtTiBtiBoheD nnd aolohen, die eine
Teimittelnde Btellimg einnehmen. Just die bewnssten Motive eisofaeben
Ihiien als die letzte Ursache des sozialen Oesohehens. loh werde mich
demi^tohBt in einer eigenen Arbeit mit den Tertreteru dieser Anfiasanog
kitisab aoeeinandecsetzen: hier mnas ioh mich darauf beechränken, die
pTinBpiellen Oeeichtsponkte zn skizzieren. Als Ausgan^poukt w&hla ich
eine nrzlioh erschienene, angenehm acbarf und präzis formulierte Dar-
stsllniig WERmR Sovubt's. Ei Bprioht eine weit verbreitete Anscbanoog
ans, wenn er in dem Qeleitwort zum ersten Baude seines „Modernen
EaptaliBmas* mit starkem Nachdrack betont, „dass wir aus niemals ver-
leiten lassen sollten, als letzte Ursache, anf die wir soziales Oesohahen
turfiokfSJtren wollen, etwas anderes anzusehen, als die Motivation lebender
Menaoheo' (p. XYIII'j). Er meint damit, dem gebiinohüohen Sinne des
Wortes zuwider (Hotiration bedeutet den psyohlaoheii ProEess, ans dem die
Hotive hervoreehen) die bewnssten „Motive oder Zweekieiheu", die alao
als sprimlre Uisaohan oder treibende Krflfte des menschlichen Handelns*
angesehen werden (p. XIX).
Als seine Gründe für dieses Verbot, weiter zurück za lorsohen, giebt
nnd der Qesetze, welche diese regeln, finden könnte*, 2. kkmen wir „an
die noch nicht flberbrückte Elnft der psjchologiBchen Vemrsaohnng, die
eine andere als die meohanische Eaasalit&t ist", 3. „gingen wir de« nn-
■chätzbareD Vorteils Terlojftig, von bekannten ErUten (den m der on-
mittelbaren Grfafamng gegebenen Motiven menschlichen Handelns) eo
unbekannten Erftften als bewirkenden Ursachen zurückzugehen". Sohbabi
meint natürlich: „wir hätten den grossen Nachteil u. s. w." »Als welches
alles elementare Feststsllongen sind, die mir der philosophisdie Leser ver-
zeihen möge''(l)-
SoMBABT hilt au dieser Vorschrift auch in einem Teile seines Werkes
fest; der .kapitalistische Geist*, dessen Entstebnng sehr geistreich verfolgt
wird, wird als eine der Ursachen dee Kapitaliünos ausgerufen. Merk-
würdigerweise aber übeisohreitet SoHBun seine eigene Wamongstafel sehr
wohlgemut, wo es Eich um den Antipoden des kapitAlistiBchen Geistes, nm
den ebenso sagenhaften „genmsenschaftlichen Geist" handelt Dieser wird
ganz korrekt nnd im vollen Einverständnis mit meinen Arbeiten über diesen
Gegenstand, nicht als Ursache, sondern als Folge der sozialokonomisohen
Temmständong nachgewiesen *). Und ich meine nun, was dem genossen-
sehaftliehen 6«st recht ist, sollte dem kapitalistisoheu nnd allen anderen
Geistam billig seinl Warum hier die Fnrcht vor einem .onbegrenztan
Begressns'T
'\ VierteljahrsBohrift fflr wiss. Philos. nnd Soziol. XXVI, 8. S2.
>) V^. meine Anzeige in der „Eoltur*, Söln 1903.
n,g,t,7l.dM,.COOglC
312 FitnE Oppanheimar:
Diese Foioht ist guu KMeosbudaloe. Man hat nii^t nötig, bü ul
die Bewegung der kleinätaa Teile und die Qesetie, wolohe dieee regsb,
miflokKngehea; and noch weniger an jene sohaDerüohe erkenntnistheoretucbe
Kluft, die die meohanisohe Eaasalität ran der psychalogischen Teraiwcliniig
trennt, sondern man hat nar anf die pejohologiadie TJisactie jeder mensdi-
Uchen Handlang znrückzngehen, and zwar ist das nicht das .Iwwnnte
UotiT, die Zweckreihe", sondern das Bedärfnis.
Das bewosste Motiv, die Zweokreihe ober ist überbaopt nicht ümdia
mensohlicher HaDdiun^r, sondern, wie wir wissen, nichts als ein begleitendn,
BnbjektJTea Spiegelbild der Handlung, ist Folge des Bedfirftüsses wie di«
Handlung selbst, and niemals UiBaohe der Handlang. „Als weldiee illei
eleventare Feststeltangen sind!"
WAre es aber aacb mehr, was wäre damit Kr das wissensabaHliche
Verständnis gewonnen? Worte anstatt der Begriffe, leere Tautologien I Wu
sagt es mir, wenn ich hSre, der Eipitaltsinas ist die Folge des kapitalistischen
QwsCes, die Genossenschaft des genossenschaftlichen, das Handwerk des
Handwerksgeistes, die Erobemng des kriegerischen Geistes?! Da ist ee gsnt
genaa dasselbe, wenn mir ein Theologe die Lasterhsfdgkeit einer üpochi
als FoUe der Sündhaftigkeit darstellt, and es kommt fast aaf Onkel Biaesi|S
nationalökononiiBohe Theorie binaos, dass die Armnt ron der Fowerthee
herstamme.
Es mass dieser Freade am Wort eatsohieden entgegengetreten werden.
weil sie sich in immer neaeo soziologischen Konstrnktionen aossprioht, die
oiobts rdrdern können. Wenn Knin Bbxtsio die ganie WeltgeecbiaUe
begreifen will als Kampf and Wechsel individnalistisaher and koliekonittiwiier
Eiwte nnd Epochen; wenn FassiNAmi Tounnes die beiden „Willen*, den
.Wesenswillen* der organiBoh nrwüohsigen „ Gemeinschaft", nnd lUe
.'Willkür" der meohanisch Easammengeschlossenen „Gesellschaft' xom Pol
and Antipol das sozialen Lebens macht; wenn Cial EixDEBiuinr nZwisg
und Freiheit* ab die Pole hinstellt, oder Heihbic& Dutzk. Bozialismns und
IndiTtdnalismus, so bleiben wir immer noch an der Oberfläche der G»-
Bchehnisse. Wobei übrigens allen genannten Denkern, wie auch Sombaih,
der Dank nnd die Bcwondernng des Yerfassets nicht vorenthalten sein soll
ISr das, was sie trotz ihrem nngiäoklichen Untersachnngsmittel geleistet
haben. Aber dase es nngläcklich ist, dass es die Forschung geiadeia
lähmt, weil es auf alle fragen eine bequeme Antwort hat, das moss mit
alter Kraft ausgesprochen werden, und dass ee keine „Wissenschaft* im
strengen Sinne ist, nicht minderl Wo steckt hier vor allem Kure's ,lbth«-
matik", die quantitsüve Bestimmtheit der Beziehungen?
Nein, man muss hinter die bewusstea Motive zurück,
die man allenfaUs, wenn auch mit grösster Yorsicht, alB die
Indikatoren der wirklichen Ursache, der Bedürfnisse, be-
nutzen mag. Tiefer kann mau dann nicht mehr schürfen,
aber so tief muss man auch schürfen. Es ist die klare
Aufgabe aller Sozialwisseoschaft, in den gesetzm&BBigeii
Teräaderungea der objektiven Daseinsbedingungen,
unter denen die Menschenmassen stehen, die Ursache
für die Q-esetzmässigkeit der Massenhandlungen zu
iM,Coo<^lc
Slöne der soiial-ökonomiBoheii OeeohüditsanffluBaDg, 343
entdecken. Jene Veränderungen erzeugen, vermehren,
hänfen, spannen gesetzmässig latente Energie, die Bedürf-
nisse; und diese verwandelt sich gesetzmässig in die lebendige
Kraft der Bewegung, in Massenhandlung, die sich wieder
streng gesetzmässig der verschiedenen Mittel der BedllrfiaiB-
befriedigung, als der Zwischenziele, bemächtigt, um zum
Endziel zu gelangen.
Damit ist das Problem nach der Ursache menschlicher
llassenbewegnng erledigt, und wir können uns jetzt dem
zweiten Problem der Geschichtsphilosophie zuwenden, der
Frage nach der Richtung menschlicher Massenbewegung.
B. Die Btehtang mensolillcher Musenbewegang.
Dass Massenbewegung ganz im allgemeinen Befriedigung
eines MassenbedUrfuiBBes anstrebt und dadurch zur Massen-
handlung wird, wissen wir bereits. Jetzt haben wir zu fragen,
welche Massenbedllrfhisse nach Befriedigung streben. Das
ist die Frage nach den Endzielen der Massenbewegung.
Und wenn wir das festgestellt haben, ersteht die zweite
Frage nach den Zwischenzielen der Massenbewegung,
d. h. mit anderen Worten, nach ihren Mitteln. Denn ein
Mittel ist immer Zweck zum Zwecke, seine Erlangung Ziel
zur Erlangung eines ferneren Zieles.
I. Das Endziel der Musenbewegnng,
(Die geschichtlich wirksamen Massenbedtirfiiisse.)
a. Das ökonomische Massenbedtlrfnis.
Das „primäre", d. h. lebenswichtigste und daher mäch-
tigste BedOrfnis des durchschnittlichen Menschen, dasjenige,
dessen Befriedigongsnüttel daher den grtfssten „Grenznntzen"
haben, ist das ökonomische nach Genussgütem zur Stillung
von Hunger und Durst, je nach Klima und sozialer Stufe
auch das nach Kleidung und Behausung. Es ist daher
a priori klar, dass es die weitaus mächtigste Ursache aller
Massenbewegung sein muss; und in der That wird dieser
Schluss durch die Thatsachen der Geschichte bestätigt
iM,Coo<^lc
344 Frani Oppenheimet:
(Wanderungen). Dieses Bedürfnis beansprucht daher die
erste nähere Betrachtung.
Es ist strenges Gesetz der wissenschaftlichen Methodik,
überall da, wo mehrere Kräfte bei einer Bewegung zu-
sammenwirken, sie einzeln zu untersuchen, um zu finden,
wie die Bewegung verläuit, wenn nur Kraft a, oder nur
Kraft b, u. s. w. wirkt. Diese „isolierende Methode" be-
dient sich womöglich des Experimentes; wo das unmöglich
ist, sucht sie wenigstens, soweit erreichbar, eine gedankliche
Isolierung durchzuführen, indem sie sich einer genauen In-
duktion der zugänglichen einschlägigen Thatsachen bedient.
Wo es festgestellt ist, dags eine der angreifenden Kräfte
die stärkste ist, beginnt man selbstverständlich mit ihrer
Isoherung. Sie erscheint dann als die eigentliche Ursache,
die übrigen als „SUfrungen". Ein solcher Fall liegt hier
vor. Psychologische Analyse und summarische Betrachtung
(Wanderungen!) haben uns gezeigt, dass das ökonomische
Bedürfiiis die wichtigste und mächtigste Triebkraft der ge-
schichtlichen Massenbewegung ist: daraus ergiebt sich metho-
dologisch die Forderung, es zunächst in isolierender Be-
trachtung als das einzige geschichtlich wirksame Massen-
bedUrfiais zu behandeln. Ich nenne diese methodologi&di
notwendige Torläufige Behandlung des Problems die „öko-
nomistische Geschichtsbetrachtung" zur Unterscheidung
von einer sich fUr endgültig haltenden Abart der koltektivi-
süschen Geschichtsphilosopliie, die ich als „ükonomistische
Geschichtsauffasssung" unten näher würdigen werde.
Das ökonomische Bedürfnis ist nicht das egoistische
Bedürfois. Beide unterscheiden sich sehr scharf.
Ich habe bisher immer von ludiTiduen als den Elemen-
ten der Menschemnassen gesprochen. Mit Recht! denn bis-
her handelte es sich um eine mechanisch-physikalische Auf-
fassung. So lange es sich um nichts anderes als die Be-
wegung schlechthin der Masse handelte, konnte keine
andere Auffassung Platz greifen als die atomistische: und
das Individuum ist das Atom einer Masse.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Skim der BOEial-5konoiniBidiea GeeohiobtaanfEMSoni;. 346
Sobald es sich aber wie hier in der Frage nach Art
und Bichtung der BedUrfnisee, nicht mehr um Bewegung
schlechthin, sondern um Bewegung zur Befriedigung eines
BedOrfiiissea handelt, also um „Handlung": von diesem
Augenblicke kommt man mit der atomisüachen Betrachtung
nicht mehr aus. Denn alle Handlung ist Thätigkeit eines
organischen Wesens, und das „Element" eines organischen
Wesens besteht nur aus Atomen, ist aber doch mehr als
nur ein Aggregat von Atomen, ist selbst eine lebende
Einheit, eine „Zelle".
Als lebende Einheit der Masse aber ist das Individuum
auch vom rein biologischen Standpunkte nicht anzusehen.
Es kann sich — als Säugling — nicht selbst ernähren, und
kann sich als Erwachsener nicht fortpflanzen. Die Fort-
pflanzung ist aber allen Lebens wichtigster Teil: die „Natur"
kümmert sich bekanntlich sehr wenig um die Fortexiatenz
des Individuums, sobald der Bestand der Art gesichert ist.
Die lebende Einheit der „Gesellschaft" — so nenne ich von
jefcst an die zur Befriedigung von Masseobedürfnissen han-
delnde Masse — ist nicht das Individuum, sondern die
Familie, nicht nur in ihrer engeren uns geläufigen, sondern
sogar in der weiteren Bedeutung der Bluts-, der Gross-
familie der primitiven Horde, des Urbildes von Feedisamd
ToEoraiBs' organisch gewachsener „Gemeinschaft", vonLoDwie
GüMPLowicz' „Gruppe"! Kur in solcher sozialer Einordnung
ist der Mensch als „Individuum" überhaupt denkbar; ohne
sie könnte er im Kampfe ums Dasein nicht bestehen. Und
ßo entsprechen dieser Bedingung des natürlichen Lebens
auch die natfirlichen BedUrfiiisse (Triebe), die wir ja nicht
anders verstehen kOnnen, denn als durch Anpassung und
Zuchtwahl erworbene zweckmässige Organe fttr den Kampf
ums Dasein. Sie gehen von Anfang an nicht nur auf die
Erhaltung des Individuums selbst, sondern auch auf Er-
haltung der Art, sind von Anfang an ebenso sozial wie
individuell, ebenso altruistisch wie egoistisch. Ich nenne
dieses auf Erhaltung des organischen Gesellschafteelementes
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
346 Fraas Oppeiili«im«r:
gerichtete Bedtirfius mit Jüliüb Lippikt das BedOrfiois (reep.
Trieb) der Lebensfflrsorge.
Dies BedUrfiiis äuBsert sieb also nicht nur in der nacktML
Ich-Sucht des ftittersuchenden Einzelvesens, nicht nur als
Hunger, Durst, FrostgfUhl, Mordgier und Trieb zur Flucht
vor dem stärkeren Feinde, sondern auch als Kindes-, V«^
wandten- und Stammesliebe, als OpferwilUgkeit für di«
anderen Mitglieder der „Gruppe" bis zum todverachteuden
Heldentum.
Man sieht, dass bei gehöriger Interpretatiou die „tSko-
nomistische" Betrachtung kaum noch etwas von dem „platten
MatehalismuB" Übrig behält, den man ihr so häufig nachsagt
Dieses Bedürfois der LebensfUrsorge fllr sich und die
Seinen, für Familie, Statmn und Volk ist, um es zu wieder-
holen, wenn auch vielleicht nicht die einzige, so doch gewiss
die mächtigste und überall wirkende Ursache der geschicht-
lichen Massenbewegung und namentlich der einflussreitdifitaD
von aJlen, der Wanderung. Das war auch häufig den
Wanderscharen selbst klar bewusst Die wandernden ger-
mantschen Völkerschaften, von den Cimbem an bis zu den
GoÜien, überschritten die Grenzen des rÖmjBchen Reiches
mit der klaren Bitte um Überweisung von Ackerland; und
die beiden Itiesenwanderungen der Neuzeit, transatlantische
Aus- und binnenländische Abwanderung erfolgen unbestr^t-
bar und kaum bestritten ganz Oberwiegend ebeofalls aus
dem Ökonomischen Bediir&us der Masse, ihre La^ zu rep
Aber auch den nicht friedlich „trekkenden", sonders
kriegerisch einfallenden Horden erschien mindestens in den
Anfängen ihre Handlungsweise von keinem andern BedDrfius
verursacht, als von dem ökonomischen. Sie waren und
nannten sich voller Stoiz „Räuber". Man wird weder Ge-
schichte noch Wirtschaftswissenschaft jemals verstehen, veno
man sich nicht klar macht, dass der Raub das erste und
vornehmste aller Gewerbe ist. Erst viel später, nach langer
Berührung mit der Kultur, maskiert sich der räuberiscbe
iM,Coo<^lc
Ski&se der soEkl-^konomisohea OeaohielitHKifbssiuig. 347
Erwerbstrieb mit „Motiven", die mittlerweile eine höhere
Schätzung erlangt haben, z.B. Kassenstolz, Heirschsuchtu.s.w.
Wir wifisen, was wir Ton diesen angeblichen MotiveD
zu halten haben. Sie sind, wenn nicht bewusste Vorspiege-
lung, unbewusste Selbsttäuschung. Und wir befinden uns
hier in glücklichster Übereinstimmung mit den Überfallenen
Grenzna^hbarn, die immer sehr genau wussten, dass die
Orenzbarbaren über sie herfielen, weil sie Beute machen
■wollten, selbst wenn sie andere Grilnde angeben 1 Die Fabel
von Wolf und Lamm.
Zwei BedfirMsse namenUich sind es, die zur Wider-
legung dieser Auffassung gewöhnlich Ton den „Idealisten"
als ebenfalls massenbewegend angeführt werden, ohne dass
sie dem ökonomischen Bedürfnis entsprängen: das Unab-
hängigkeitsbedOrfois, der „Freiheitsdrang" — und das reUgiOse
Bedürfnis.
Von diesen ist das erstgenannte zweifellos ein nur wenig
veränderter subjektiver Reflex der Lebensfürsorge, und zwar
sowohl der individuellen wie der sozialen LebensfUrsorge.
Denn Unfreiheit und ökonomische Ausbeutung sind nur zwei
Seiten desselben Phänomens. Brächte Oewaltherrschaft
keinen Gewinn, so hätte sie niemand jemals angestrebt trotz
der Last, den Kosten und den Gefahren ihrer Errichtung
und Erhaltung. Und forderte Gewaltherrschaft nicht den
Geld- und Btutzins, brächte sie gar statt dessen Geschenke
oder Schutz, so hätten die Dithmarschen gegen Herzog Erich,
und die Schweizer gegen Herzog Karl nicht so verzweifelt
geimpft. Die amerikanischen Kolonien fielen ab, weil das
Hutterland sie knechtete, um sie mit Zöllen und Industrie-
nnd Handelsmonopolen auszubeuten; die heutigen australischen
Kolonien sind loyal, weil Grossbritannien ihnen für den
schwachen Schatten einer ohnmächtigen Souveränetät die
Verteidigungslast abnimmt. Es ist das ein ähnliches Ver-
hältnis der „Oberhoheit", wie es einst zwischen den Kaisern
von Byzanz und den Königen der Gothen und Hunnen be-
stand, die in Form von HUlfsgeldem Tribut erhielten und es
n,g,t,7l.dM,.COOglC
348 Fianz Oppenheim er:
sich dafUr lachend gefallen liessen, dass der gekrönte Schvach-
kopf am Goldenen Hörn sie als Vasallen bezeichnete.
Von solchen scheinbaren Ausnahmen abgesehen, be-
deutet Unfreiheit geschichtlich immer Skonomiache Aus-
beutung: und daher ist der Freiheitedraug der Völker ein
sozial-ökonomischer Trieb, veredelt durch den altruisüsehen
Zug des „Einer fUr Alle!" Aber seine Wurzel hat das
grandiose: „Lever duad as Slav" des Friesen dennoch im
-wirtscfaafUichen „Egoismus" des Einzelnen für sich und seine
„Gruppe".
b) Das religiöse Massenbedflrfnis.
Nicht ganz sicher bin ich aber dieses Zusammenhanges
für das religiöse Bedürfiiis. Auf die Gefahr hin, von den
fanatischen Tempelfl^htem des Atheismus — es giebt
nämlich auch solche — der reaktionären Gesinnung als über-
fuhrt erklärt zu werden, muss ich meine Zweifel an der
Allgemeingültigkeit der ökonomistischen Auffassung in diesem
Punkte erklären.
Wir finden das religiöse BedUrfiiis und den daraus ent-
springenden AnstosB zu Handlungen bei den tiefstehenden
Primitiven, die wir noch beobachten können. Keine Jäger-
oder Fischerhorde ist religionslos. Ich weiss wohl, dass die
Religion vielen bedeutenden Kulturhistorikem als eine
Schöpfung der LebensfUrsorge, also als ein abgeleitetes
Motiv, erscheint; und ich selbst zweifle nicht daran, dass
hier thatsächhch ihre stärkste Wurzel steckt, nämlich in der
Sorge, Dämonen und Ahnengeister günstig zu stinunen. Aber
es will mir scheinen, als habe sie noch eine zweite selb-
ständige Wurzel in dem höchsten und edelsten BedUrMs des
aulrecht Schreitenden, das ihn vom Tiere allein unterscheidet,
im EausalbedUrfnisI Und dann käme ihr neben dem
ökonomischen Bedürfiois der LebensfUrsorge selbständige
Bedeutung als Ursache geschichtlicher Massenbewegung so-
DafUr spricht manches Positive wie Negative! Positivi
dass Religionsbedürfhis und Ökonomisches BedUrbis in i^
rmn-ii-.;Goog\c
SkiEze der sozial-ökonomiBohon OesohiohtmnSBSgaiig. 349
Weltgeschichte häufig als gegeEGiuanderspieleade, nicht als pa-
rallel wirkende Kräfte erscheinen. Wir finden auf frühester
Stufe über alle Welt verstreut die sogenannte „Wertvemichtung
durch den Totenkult", die Grabmitgift oder Scheiteriiaufen-
mitgift der Oestorbenen, dul-ch die Ansammlung von „Kapital"
auf dieser Stufe unglaublich aufgehalten wird: eine Hand-
lun^weise, die der ökonomischen Selbsterhaltung prima facie
geradezu entgegengesetzt ist, wenn sie natürlich auch aus
der LebensfUrsorge, aus der Angst vor den Geistern erklärt
werden kann. Wir finden ferner überall das Wesen der
religitlsen Büsser, Eremiten, Anacfaoreten, Klöster, das mit
seinem Zölibat dem Triebe der Arterhaltung zuwiderläuft.
Und schliesslich finden wir Überall, dass nur der Missbrauch
des religiösen Bedürfnisses durch Priesterschaften oder
priesterliche Patriarchen imstande ist, zu erklären, wie aus
der praktischen Anarchie des Jägerstammes die knechtische
Unterwerfung des Ackerervolkes unter einen tollen Despotismus
sii^ entwickeln konnte, die die unglaublichste wirtschaftliche
Ausbeutung ohne Murren erträgt.
Dies als Andeutung der positiven Gründe fUr die mög-
liche Annahme, dass dem religiösen Bedürfnis eine selb-
ständige Bedeutung als Ursache für geschichtliche Bewegungen
beizumessen ist. Ein negativer und nicht minder wichtiger
Orond ist, dass bb bis jetzt nicht gelungen ist, eine genügende
Parallelität zwischen den wirtschaftlichen und religiösen
Stufen aufzufinden, wie sie für die wirtschaftliche und poli-
tische Verfassung zweifellos existiert, und wie sie auch hier
nachweisbar sein müsste, wenn die ausschliesslich Okono-
mistjsche Auffassung zu Becht bestände, nach der, um den
Fachausdruck zu brauchen, einem bestimmten wirtschaftlichen
»Unterbau" immer ein bestimmter „ideologischer Überbau"
entsprechen sollte.
Hier harren also noch Probleme ihrer Lösung, und bis
dahin kann man nicht mit Sicherheit in Abrede stellen, dass
etwa in den Kreuzzügen und im Araberstunn das religiös«
Bedürfnis als selbständige Ursache geschichtlicher Massen
n,g,t,7l.dM,.COOglC
350 FrftDi Oppflnheimet:
bewegung mindeBtens mitgewirkt habe. Mitgewirkt insofern,
als es einen Teil der Kämpfer wirklich allein, ohne Wir
Wirkung der ökonomistischen Motive, in Bewegung setzte,
und bei anderen die Bewegimg verstärkte.
Dass etwa alle Mitziehenden dieser grossen Eampf-
zeit«D ausschliesslich von dem religiösen Bedtir&is in Be-
wegung gesetzt worden wären, ist nämlich nicht einmal fOr
den ersten Kreuzzug anzunehmen — in den späteren flbe^
wog das „Fürsorge-BedUrlhis" notorisch alle anderen sehr
bedeutend — , wenn auch alle von dem bewussten Moüt
religiöser Begeisterung getragen zu werden glaubten. Es
war diese Begeisterung gewiss bei vielen jener subjektive
Reflex, den wir kennen.
Du können wir mit Sioheiheit bob einom Teranok iaolieTender Be-
traohtoDg der eiiiBohUgigen hlBtorisohen Thalsuhen sohlieaBeu. Niemils
hat sich eine religiäse Hasaeabewegnng kriegeiiBoher Art gegen Asdan-
KÜnbige gerichtet, ohne dass ilire Q3tei oder die Mensohen selbst, ils
Sklaven, den Lohn dea Olanbenseifers gebildet bütten. Ton Bklaveiqigdeo
abgesehen, haben siah ferner die religiösen HaiSBenbewegnnfeo immer gagm
reichere Tälkerschaften, nie gegen trmere, ergossen. Das g&t fGi den
Aiaberstnrm so gnt wie für die Ereutiüge nnd (Üe ConqnistE von Xeiitai
nnd Peru, and wie für die Albigenaerkriege nnd den dreiäsigjftbiigen Kiieg.
Wanun hat das glanbenBeifrige Spanien wohl gegen die stidtebewohneodsB,
aokerbaoenden Inka, aber nidit gegen die nackten Fatagomer einen Kreu-
zQg nntemomtsen? Warum hab«i die Qentsohrittet iwar Preoteen, lithaosr
und Liren, aber nicht die wandernden, armseligen Lappen mit Heereema^
Eum Cbristentam geiwnngen?
Anderereeita hat die Qleichheit des fflanbens das Innere Volk niemsli
gehindert, das reichere weiter eq pltindem, wenn es möglich war. Dift
Beivsohotten haben sich dnioh ihre Bekehrung ebenso wenig von ihiui
Baouftgen in die Tiefebene abhalten lassen, wie die Normannen tob ihno
Hratenftdkrten; Wilhelm der Sroberer war kein «jhlediterer Katholik sl*
Harald! und ebenso wenig hat jemals ein ohristliohas Volk nach Unt«-
r Qegnei aioh mit ihrer Bekehrang begnügt, sondern hat
reohtung nnd ■" ■ . . . . , -.^ . . ^.
selbstreratlndlich fortbestehen
le Entrechtung nnd ökonomische Ansbeutong der BesiegteD wie
werinng
politisohf
"wer
Aus alledem darf man, wie ich glaube, schlieesen, dass,
wenn dem religiöseD BedUrMs als Ursache historisch^'
Massenbewegung Überhaupt eine selbständige Bedeutung zq-
kommt, dass es dann fllr sich allein nur kurz dauernde,
wenig folgenreiche Bewegungen auslesen wird. Wichtige
MasBenbewegoi^^en wird es wahrscheinlich nur im ZusammeD-
wirken mit dem mächtigen und nachhaltigen ökonomischen
n,g,t,7i.-JM,.COO<^le
8)d»e der sozUl-ölonomiBolieD OesohlohtsanfEusnng. 351
Bedürfnis verursachen, nnd zwar aach hier, wie mir scheint,
Torwiegead negativ, nnd zwar durch Forträumtiug von
Motiven, die vorher die schrankenlose Entfesselung des
kriegerischen Erwerbstriehes verhindert hatten. Wenn die
Kirche, die sonst gegen Christen Fehde und Raub verpönte,
sie in den Kreuzzfigen ftlr heilige Pflicht erklärte: wenn
Mohammed seinen gefallenen Glaubensstreitem den unmittel-
baren Eintritt ins Paradies versprach, wenn Thomas MOnzer
seinen Bauern und der Mahdi seinen Derwischen verkündete,
die (Gefallenen würden sofort durch götUiche Gnade wieder
erweckt werden, um fröhlich und gesund weiter zum Siege
zu schreiten: dann musste die Massenbewegung viel stärker
werden, als ohne diese Ausschaltung der stärksten entgegen-
stehenden Triebe, Gteisterfiirclit und Todesfurcht.
Aus diesen Betrachtungen ist man berechtigt zu
schliessen, dass die ökonomiBche Betrachtung imstande sein
wird, alle mächtigen und dauernden Bewegungen der Masse
mit genügender wissenschaftlicher Genauigkeit aus dem einen
Massenbedürfois der Lebensfürsorge zu erklären. Wenn ich
also auch nicht mit Sicherheit in Abrede stellen kann, dass
dem religiösen Bedürfnis eine selbständige Bedeutung bei-
zumessen ist, so könnte ich mich doch, so weit die Ursache
der geschichtlichen Bewegung in Frage steht, mit einer
kleinen reservatio mentalis mit der „ökonomistlBchen Q&-
schichtaauffassung" einverstanden erklären, die jene selbst^
ständige Bedeutung entschieden leugnet. Ich könnte es um
so mehr, als sehr wahrscheinlich ist, dass nur das Bedüräiis
derLebensfUrsorge eine „immanente psychologische Kategorie"
ist, während dasjenige der Religion höchst wahrscheinlich
eine „historische Kategorie" ist, soweit Beligion verstanden
wird als Furcht vor einer übernatürlichen Macht. Als solche
ist sie augenscheinlich auf dem Aassterbeetat und wird ver-
mutlich in absehbarer Zeit gänzlich aus dem Bewusstsein
der Kulturmenschfaeit verschwinden. Denn je mehr das-
Eansalbedür&is durch die positive Wissenschaft be&iedigt
wird, um so weniger wird das FürsorgebedUrfais durch di&
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
362 Franz Oppenheimer:
Sorge um die Gunst eines übernatürlichen Weeens zu
Handlungen gedrängt. So verkümmem beide Wurzeln der
„Superstition" (Dührikg) gleichzeitig, und es wird kaum
etwas anderes von ihr übrig bleiben, als das Sitteng^ek.
der reine Ausdruck des Ib^UrsorgebedUrMsses in seiner
sozialen, altruistischen Seite. Wenn diese Prognose richtig
iai, darf man mit der ökonomistischen Auffassung daB
ökonomische Bedürfnis nicht nur als die weitaus stärkste,
sondern sogar als die einzige immanente Triebkraft aller
denkbaren menschlichen Geschichte bezeichnen.
Diese Übereinstimmung erreicht aber ihr Ende, sobald
unsere Betrachtung den njLchstan Schritt macht, lämlich bei
der Frage nach den Zwischenzielen, den Mittein der
menschlichen Massenhandlung.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
I.
Besprecha&gen.
Stoleonun retenun fragmenta, eoUeglt Johannes ab Ar-
nim. Vol. n. Chrysippi fragmenta logica et physica.
Lipsia«, in aedibus B. G. Teubueri, 348 S.
Gme genaue, mi^liohBi votlet&ndige Sanunlnng der FngmeDte der
lüm Btoa ist ein driugendeB B«dtiifniB. Fäi Zano tmd KLUiTHn ezistieit
die dnnihanB anf deutschen Arbeiten, beeooden denen von Wicbbmcth nnd
WiLLHAnK tnhende, der TenoUst&ndigung noch sehr bedürftige Samm-
lung von Peabsoh. London 1U91, ror Csatiopp nur die gfimliah vendtate
Ton BieDR in den Annalee Aoademioe LoTanieosis, 1820 — 1S31. 3. vm
Abbu hat non untemomman, die Baste der alten Stoa vollat&ndig msaininea-
mtragen. Der vorli^ende Eweite Band, der Yor dem eraten ersobeint,
enthält die znr Physik und zur Lo^ Chrysipp's gehörigen Fragmente, der
dritte, der schon nnter der Fresse ist wird die aof die Moral DeziigUohen
Fragmente Chtysipp'e and seiner Nachfolger bis Pauaetins insammenfaBBea.
Der erste Band soll Ztso und ELkanthss ond ihre SchQler enthalten. Wie
so^fUtig der vorli^ende Band gearbeitet ist, geht daraos hervor, dasa
BOOT xa den Bäohem Cbiysipp's über die Voraehneg und Über das
SoUc^sal, deren Sporen Qebcxb (ChrTSippea, in den Jahrbb. für klass.
Phibl. 14. Sopplementband, I8S6) zusammengestellt hat, Abnoi noch neue
ütetlen gefunden bat So sind die Fragmente 916 nnd 1174 (bei Abhin)
TOD Oebch noch nicht angefahrt Dem sehr Terdienstlichan unternehmen
ABtnu'e ist der beste Fortgang ea wfinsohen.
Leipzig. Paul Barie.
Th. ChtmpeTz, Griechische Denker, eine Geschichte der
anöken Philosoptiie. 2. Band. 2. durchgesehene Auflage,
Leipzig, Veit & Co. Vin u. 61ö S.
Wer den ersten Band der „Orieohisohen Denker* von Th. Goxpbbe
Rannte, hat mit lebhaftem Verlangen den zweiten erwartet Lebendige aof
■nimeT Kenntnis bemhende Darstetlnng und die beetftndige Tergleiohong
der antiken Oedankeng&n^ mit den modernen geben dem ersten Bande
^en grosaen Reii nnd einen besonderen Wert Dieselben eigentnmlioheD
^M^jdnHbilR C wlMUtbaU, FUIm. n. 8oeloL XZVIL i. 2S
n,g,t,7l.dM,COOglC
354 Panl Barth:
Vorzüge zelohnsn den zweiten Band ans. Er behandelt BoknUeB and die
sogenannten einaeitigeD SokratikeT, d. h. die Eyniker, die Hegariker und di«
Eyieoaikei, zuletzt das ninfassende, keineswegB einseitige Hrstem Platw.
Q. beginnt mit einer sittengescbichtlicben Schildening des Zeitaltert,
von dem er handeln will. Die allni&hliche Vereittlichnog der hellenischen
Beligion, der Peesimismua des Eoripides, der homaniBierende Einfluss der
Aofklärnng, die torchtbaie Hftrte nnd Gransamkeit der Erlege und der Partei-
kämpfe, dies a]leH tritt in konkreten Zügen vor onsere Angan. — Für die
Darstellnng dea Sokrates befolgt G. die Methode, Ton Xenophons Berichten
allee, was der Weltansohannag AenophooB eigentünüich angehört, abnuiehen
nnd ihn durch die Bohriften der ersten Periode Flatoe sowie dnroli Aristo-
teles zu ergänzen. Sehr ansohanliob wird uns Bobratea' Leben geschildert,
der berühmte Prozees gegen die 10 Feldherm, in dem er so fest auf
Seiten der Gerechtigkeit stand, and sein eigener werden in allen Phasen
juristisoh and geschichtlich beleuchtet. Den Anstoss zum Philosophierm
fand Sokrates nach G. in der Eikeoutnis, dass „die Menschen in den unter-
geordneten Zweigen der Lebensführong klare Einaiaht in dos Terbältnia
von Zwecken und Mitteln teils besitzen, teils nnablässig erstreben, während
bei ihren obersten Anliegen, bei all dem, wovon ihr HeU nnd Unheil im
höchsten Masse bedingt ist, nichts Aehnliohes statthat.* Der Kern des
Sokiatismas liegt nach 0. in den drei Worten: „Niemand fehlt freiwillig.*
Der Intellektualismos desselben, die These von der Lehrbarkeit der TngNvl
sei deshalb tächter dorohführbar gewesen, weil der damaligen Denkart eine
strenge ünteraoheidung zwischen Individoal- nnd Sozial-Hoial gefehlt habe
(S. 60). Auch Xeuophona Weltansohanong wird aosföhrlich bwjudelt und
viel ünsokratischee in den Memorabilien aufgewiesen.
Die Geeohiohte der Eyniker, die nnn folgt, wird bis auf OenooiM)
von Gadara herab verfolgt. Die Ifegariker werden in ihrer Verwandtsduß
mit den Elaaten genan betrachtet, auch dnreh Vergleichung mit EaaaiET's
Realismus in neues licht gerückt Die ansfühiüohe AnflÖsnng ihrer
FangsohlüBse ist eine seht dankenswerte logische Absohweifnng.
Der so veisdiiedenartige Gesichte wie Ariatipp and Hegesiu
nK»#äfan)f darbietenden kyrenksohen Schnle ist ein langer Abschnitt g^
widmet Ihre Erkenntnistheorie wird wohl etwas nbereohätzt, ihre um Tel
wie bei Annikeria, trotz dem Eedonismos die Belbstaufopfening empfehlende
Moral sehr gut entwiokelt
Id der .Diatonischen Frage* d. h. in der Frage der Echtheit Tiai
der Folge der Swriften Piatos hILlt sich Gouprkz frei von einseitig«r Ten-
denz. Er benutzt mit grosser Sorgfalt die neueren nnd neaesten FoischungeB
nnd verwertet ihre Ergebnisse, die um so sieherer sind, da aie von vo-
sohiedenen Ausgangspaiikten aus, von einander unabhängig, nntemtunneii
wurden. Bie gehen im Gegensätze za Mbeteo Arbeiten, die innere Kri-
terien anwandten, von spraohliohen Eigentümlichkeiten aus. Zuerst änl
Lewig Camfheix, dess der Tirnftos, der Kridas nnd die Gesetze laianuneu
fast 1500 Worte enthalten, die in den übrigen Dialr^en fehlen, mit i^°^'
nähme des Sophiates, des Politious nnd des Philebns, die aber dadurch i"
ihrer Echtheit gesichert und zeitlich den oben genannten Dialogen '"''^^^
rüokt «erden. Aber auch den allen Dialogen gemeinsamen Spraoto^
venraudete CiJiFBELi. zur nntenochung, in dem er besondera die in ii?
BpKteren Dialogen hftofiget als in den früheren vorkommenden ^o*.."
<u«sen anfanohte and ihr Vorkommen in verhältnismllKig steigeaden -^"J^l!^
von den Werken der Jngend an bis zn denen de« Altera bestiminta. 0^
berSoksichtigte er aueh die Art des StoSes Jedes Dialogs, t. B., diM <"*
rmn-ii-.-i Google
Gompertz, Grieohisohe Danker. 355
Parmenides infolge der Abstraktheit des Ge^nstandes an Worten übertiatipt;
also mch an den seltenen Worten anf jeden Fall arm sein rnnsa, eeine
ohronologiBolie Stellang alao ans Heinem WortBobatae weniger sicher zn
folgern ist
Ohne Eenntuia Campbxli.'b oatersnohte dann bekanntlich DiMMmHom
die rhatoriaohen Frage- nnd üebergangsformelo und andere Partikeln, t-
Abhim, der Dtrhibibssb'b Brgebnisee kannte, die Vormein der Zutinuunng
und der Bqahnng. Alle drei Foraoher — nebst anderen, wie Sosinz, Sittkb,
SnBBcx — kamen im weeenUidien zn dem fibereinstimmenden Sohlnsse,
daas die früheaten Dialoge Flaio'b die .Sokratisahen'' sind, in denen die
Ideenlehre noch niobt votkonimt, deren Hittetponkt der Protagoras bildet
Eb folgen dann Qoigias, Heno, Symposion, Phaedon. Den Eöheponkt er-
reicht Plato im FhaedroB oud in der Repoblik. Omen sohliessen sich an
Pannenidee, Theaetet, Bophietea; endlich Politioos, ^maeos, Eritias, Philebos
and Oesetze bilden den Abeohlnn. Ee weicht diese Beibenfol^ — and
anoh diee dient ihr zar Stütze — nor teilweise, nimlioh in Beiug anf
Theaetet, Sophietes, Politioos, Pannenides, ab von derjenigen, die K. F.
Herhank als den geiatigen SntwiokelangBStnfen Platoe entsprechend annahm.
Anoh die amiFängliohen TJntersnohiuigen LmoBU.wsEi'B fähren diesen zu
einer Umliehen Reihenfolge, nur dose er Oorgiaa und Ueno nooh zni' sokra-
t^chen Periode rechnet Nor wenig abweichend isi: Blass anf Grund seiner
Beobachtong des HintnB. Er setzt den Theaetet nnd die Republik früher.
0. Bchliesst sich im allgemeinen der doroh die sprachliche Untere
Bochnng erschloesenen Reihenfol^ an, soweit sie nicht der ans iem Inhalt
eiaohloesenen inneren Wahrscheinlichkeit widerspricht. Damm setzt er z. B.
den Pliaedras nicht, wie Schleiermacher, üsensr, Inunisch, in die Sokratisohe
Zeil, den Kratylns nmnittelbar nach dem Theaetet. In der Frage der Echt-
heit ist er dorchauB konaervatiT. Die nau folgende Darstellung and
Charakterisierang der einzelnen Dialoge ist meisterhaft Sehr scharfsinnig
wird z. B. die politiBofae Tendenz des Qorgiaa anfgewiesen, seine psycho-
logische Feinheit nnd seine logische ünToUkommenheit beleachtet Ganz
besondere Aufmerksamkeit widmet Gouptsz mit Recht den .Gesetzen'.
Sie zeigen ans einen anderen Plato als fast alle anderen Dialoge, Dir
Pythagoreismns zwar ist ihnen mit dem IKmfias gemeinsam, aber ihr strenger
Dogmatiamas, ihre andaldsame Orthodoxie nnd die Xiehre von der bdsen
Weltseele, die freilich nni einmal anklingt, sind Erzeugnisse einer gewissen
Terknöchemng nnd eines gewissen PesaJinismas, dem selbst Platoe 4>olIi-
nischer Qeiet im Alter erlegen sein mnss.
Eän Torblick anf die Akademie nnd anf AngnstinnB, sowie eine Anf-
ztthlong deijmigen nnmittelbaren Schüler Piatos, die ab Staatsminnei uch
ansgezeichnet hid»en, und ein Rückblick sof die frühere helleniaobe Natur-
philosophie BtMessen den inhaltreichen Band.
Dieser zweite Bond des verdienstvollen Werkes lisst nnr einen
Wonach zurück: Höge es dem verdienten greisen Ter&user veigöunt b«ii,
sein Werk sn !Bnde za führen!
Leipzig. Faul BABra.
A. Eirseluiuuui, Die Dimensionen des Baumes. Eine
kritiBche Studie. Leipzig, Engelmann, 1902, 112 S.
(Sonderausgabe aus Wundt-Festsclirift, Phil. Stud. Bd. XIX).
„Nicht weS läe Hypothesen, Glaabenssaohe sind, verwerfen wir die
metageometrisohen Theorien, sondern wul sie anf widerspmohsvollen Bohein-
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
366 '• Bobulti: A. EaohnMiiii, Di« DimeDmoneo des Bmnea.
b^nffen imd nundo-üiitanoliMdDngAa anfgabaat Bad . . . IHe hoatige
Mwtenatik IKnft Q«falir, aioh in eine dem geaniidan HenaoheDToatandc
«itfrnndete analftiBidi-EonnaliBtiaohe S^rmbolik m Teriisren. Es ist dahn
«rwfinaobt, dfiSB den allni hock OiegüideD Spekalationeii die wiohMrna
ilögel «fai wBni^ B<4uiuli«ii, damit Bte aicli aiaht sa wait entfanen tdq
dem A.tiiging8gabiet allst ma&ematiBoheB Foraahimg, van dem OaUat, dam
•UainNobreudJÜikMtiiuwwoluit: dar Oeometriedea gegebenen Baames.'
— So die Ißieee des Tf. (S. 106), mit der det Beienaent Töllig äberobi'
atimmt Anob die BeweisfOhriuig im einselDaD scheint mix sohatfsiiuiig
und grftndlioti; wollte loh genaooi auf die entsoheidenden Punkte «ngehen,
so vürde die Anieige cor Abbandliuig anwachsen. Ebenso, wann idi nüt
gewissen eAenntnisuieoTetisohen Eenafttzen des Tt, die mii mindei plsn-
sibel als der Hanptinbalt der Schrift TOrkommen, mich polemiaoh aassin-
andersetsen wollte. — Dass über ein Kit hondert Jahren immer aals ame
beredetes Thema sich allznTlel anbedingt Nenes fiberbaapt ntobt sageft
liest, ist ja von vomher^ klar; doch findet aioh immerfain dies und jenw
Sigenartige: originell ist x. B. die Weise, wie das beieita von Kisr u-
geetannte HandeohnbpTobleia behandelt wird (5. 39ff.); K. wendet es
ntnlioh ins PhysikaUsche: wie Ulsst sieb die üntatehang enantiomoiphet
Kristalle erkliren? Da sie einander in allen Teilen sfmmeOrisoh etttefmuen,
eo weiss man nicht lecht, wodnroh die Unaohen mr BeehfBdi^iuw hiei,
IDT Unksdishung dort si<di von einander nntsraoheid«) aollaa; denn die
Begriffe Links and Rechts traten ein«n .nndeflnierbaien Chaiskter* (8. 36)
an Bjoh. und doch otilaete ea Untersohiede geben, wenn das TTrsat^^^tseti
nioht eine Ltioke haben soUte. .Hier stehen wir Yor dir
Alternative, entweder zom Wonder oder zu vierten Dimension nnsete
Znflnoht nehmen an müssen, sofern wir nioht ... die eioheitlühe ksusile
Ordnung preisgeben wollen" (S- 39). Steht es damit wirklich so sehlimm?
Dass em Sjstam nach reohta und ein aoderee nach links rotiert, daßi
sollte man deoh nosweidentige Begrfindnngen geben können -. man bat die
Kassenmittdpnnkte beider zn einem Koordinatensystem so in Betiehang in
setiea, dass die wirkende Kraft hier in n^tiver, drat in positiver Blohtimg
angreift Und ans der Botation mnss aioh ein kompUnerteret Fall, du
Swnmbeubewegiing ond das weitere, aualytiBoh ableite lassen. W«m
ich einen Draht im Sinn des Uhrzeigers anfwlakele nnd einen iwat» to
entgegVDgesetzten: so ist eben die omgekehrt gwichtete Bewegung tneiDU
Arme, mathematisch doroh das entgegangoaetete Toneiehen aosgedräokt,
die ansreiohende Ursache für die Entstdiuig der symmatrisobea Sduanbea
Aber die reohtsgedrehte kann in «ne Uuagediehte aiemala aber^efnbit
werden; wo bleibt da der Znaonuneiihaiig dar WMi Unaa man dia ent-
|M;engeBe>lzt8n ür- und Bwigkeltswirbel annehmen, nm unser doppslsaitiiw
PhSnomeusnerklärenT — Doch wamm? Wenn idi jenen reehtsgewrudeD«
Draht wieder stracke, kann ich ihn hernach andi links winden. Wwn
ich eine von zwd enantiomorphen Bobstanseii s, B. verdampfen msolu
nnd dann was weiss ich welchen Binflüasea aoBsetie, so Httre ea a& sie^
ganz gat denkbar, dass ioh sie in ihre Oegenanbetanz verwandeln kSnnte:
ob ea «oh empirisoh thnii l&sst, müssen die Chemiker erforschen. Allu
ist, wie billig, bäm Kriatsll verwickelter ds bd dM Drshlapii^i >^
irntionaler braucht es dämm nicht zu sein.
Wenn ich glaube, dass der Tf. in diesem ond anderen Punkten int,
so empfinde ioh doch überall eine frische, echt philaso[Aisohs Itt lU
Probleme aniapaoken. Aach die Spiaohe des Btlofaleins mntet nrapranglioii
an; man liest ee ohne Ijugeweile.
Berlin. Jvurm ScEDi.n.
iM,Coo<^lc
Angnflt Döngea: Brnst Cuarer, LeilmiE' System eto. 357
Cnwlm', Ernst, Lbibhiz' System in seinen wissen-
scliaftlichen Gruadlagen. Marburg, N. G. Elwert,
1902. XIV, 549 S.
Wemiger in den letzten abgeeohlonenen IRxienuuna als Tialmehr in
den QnmdlagKi und is seinei Entwiokeliing soll jenes [^osophisohe Systam,
das den Btffnfl des Werdens und der Eatwickelonc so besondere innig in
aiali udgenommen hat, hier dargeetellt werden. Dabei wird das msthema-
tJBohe MotiT der STSträtbildong an die erste Stelle gerockt Indem IxissJZ
die ÖledobsetzoDg von Logik ond Mathematik entrebt, will er die Logik
«ns einer 'Wiss^osohaft der Denkformen vor Wissensobaft gegenstXndliobBT
Erkenntnis ambildea. Die ijuil;8iB der läge nnterwirft dei It^ ein Qe-
Uet, ffir das dem ersten Anscheine nach die Mittel dee reinen Denkens
nnzngftnglioh sind. (S. 168). Die enge Benehung im MaÜtemBÜk tiitt
anoh in der Funmg dei KnttbtgäB» herrOT, .der amnet Definition nacih
nicbts anderes ist ala eine Ansfährnng nnd bestimmte OestaUung des
Difterentialbegriiliee." Der Dnaliamna von Kraft mid Stidl Ist in der Qnheit
des Grondpriiudps der phyaikalisohen EcMmng ftberwnnden. (B. S41). IKa
Monaden bedeuten niaht <Ue an awii bestehenden ürasohen der BnidieinnnvBn,
«ondem ,fiepr9sentationen ond Fiinöpien dei Phinomene* (8. S80J. Di»
gesamte 'Wirklichkeit atetlt äoh als em Inbagrül von ISnulsnlgekten dar,
die nach besonderen OesMzen beeondere Reihen bewusiter Inhalte ans sich
entwickeln. In der Ttennonff von Seele ond Körper wird ein ursprünglich
nnd begrifflich einfaches TerfaAltnis dorch die Beflezion in eine Verschieden-
heit von Momenten serlegt (B. 408). Schliesslich bnngt Vf. die Omndidee
f&r die Anordnong des zu bewAltigenden Stoffes in foliendeu Worten mm
Aoedmek: ,E^r das sachliche TerstSndnis der LnsNizWien Lehre war es
ecforderliuh, den B^riS des „E^nfaehen" znnlohst in seinen Leistimgen für
die wissensohaftlicheD EinEelgebiete zn verfolgeo. So ei^b sicJi der not-
wendige Fortschritt von der Mathematik zor Dynamik, von der Dynamik
ZOT Gmndlegnng der Lehre vom Bewnssteein, in der wiederum ein all-
gemdnei B^iff des loh von seiner Ansfühmog im Begriff des Individaams
zu Bcheidan war*. (S. 630). Aber niclut nur die Wurzel des SjBtems
SDcht Vf. Uossznlegen, sondern anoh seine grandlegende Bedentnög fär
sjAtere und selbst modernste Systeme nnd AnschannDgea zu beweisen.
Den erkenntniskritisahen Standpunkt hat Lzibniz in vielfacher Einsicht, vor
allem aber dnreh seine idealistische Aoffassnng von Raun nnd Zeit vor-
berütet oder geradecn vorweggenommen, .wenn er anoh die Einheit nnd
aoBScUieasende ISnsohiftnknng der transzendentalen FragesleUimg nirgends
erreiidtte*. Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft stützt ääi aof Qe-
danken, die bereitB von Tjxamz entwickelt sind (B. 311), in der Oebertra^g
der ContinnitStslehre aof die Ordnongen der Xatorwesen wird der Evolntion»-
theoris vorgearbeiteL (S. 421).
Eine ansffihrliohe Einleitung zn der eigentliohen Abhandlung b^
soh^fligt sich mit dem System DtscAsice', ein geeohichtüoher üeberbli^
'über die Entstehung dee Lsmmz'solien Systems und ein kritisober HaditiBg
beeohliessen das Werk.
Hom bei Detmold. Auodst DOnais.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
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- LIttm bobtmu.
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'(^«■latlwi o^U
" " " st o«t,„ „. _ _.,__
— FtnhNoflaal
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7 aad Oogaate Sn
e. T. Land, Diiaat OobUOI of tha Jlatlul 7taU<
~" ■ - - - rtiä^aj ;■
,_idI«c1m1 Id , — . -.
Lltantor» of Payoholoi; aad Oogaate 8nh]«eM for 1903.
UoobmIm aad Ropoitt. — FtnA<^laal Litaiatw«. — Naw Bcwka. — HqIm- -
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tattoni ftom tba Hurard PayokolofflaJ I^bontatr. Bditod br. H. 1" — '■■*"*
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iM,Coo<^lc
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anUassnng.
n.
Von Ftku Oppeib«liier, Berlin.
pdUdieliak Hlual dar BAdaifalibefrledl^tiiif. «) DL0 prliAltlTA OrgbdmtaD d«r
HUM IKiit^ nDd Buu). 9) Die EntlUliuic dM polUlHlKn MltMi ID— Fmdilws«
^_.— ,. j_ «. ...C. w_.. g^ !,„ gp,^ aw KrUte li — — — — —
n. Die Zwlsehenzlelfl der Musenbewegnng.
(Die Mittel der Massenhandiung.)
a) Darstellung der geltenden Lehren.
1. Die Okonomistische GescMchtsauffassung.
Die allgemeine Frage nach den Mittehi der Massen-
himdlung ist, soweit ich sehen kann, bisher noch niemals
einer eigenen Betrachtung unterworfen worden. Das wissen-
fichaftliche Nachdenken hat sich bisher nur mit ihren Ur-
sachen und Endzielen beschäftigt, und glaubte damit das
Problem der Zwischenziele implicite mit erledigt zu haben:
eine ai^e Verwirrung, die alle Soziologie bisher gelähmt hat.
Bin charakteristisches Zeichen dieser Verwirrung scheint
mir zu sein, dass man die Worte: poUtische Ökonomie,
Nationalökonomie, Sozialökonomie, Ökonomie, Yolkswirt-
nwMJAlMMft £ wlMnehilU. PUkc n. BadvL U.VU. 4. 24
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
370 Franz Oppeaheimer:
Schaftslehre, Sozialwirtschaftslehre u. s. w. ^emmnhin als
Synonyma braucht, obgleich Bie recht verschiedene BedeutuDg
erlangen, sobald mtut erst einmal darauf aufinerksam ge-
worden ist, dass die Massenhaadlung sich sehr Terschiedener
Mittel, politischer und Ökonomischer, zur Befriedigung des
MassenbedUrfnisaes bedient.
Wenn bisher nur ungenügend in der WirtschaitevisseD-
schaft (Cabbt, Rodbbbtdb, DOhhihs), und so gut vie gar
nicht in der Geschichtswissenschaft sich die Aufmerksamkeit
auf dieses Problem gerichtet hat, so glaube ich die Ursache
des folgenschweren Übersehens auf die Verwirrung dmth
ein vieldeutiges Wort zurÜckfUhreB zu dürfen, das Wort;
„ökonomistische GescbichtsaufTassung".
Indem man nämlich die kollektivistische Gleschichts-
auffassung, wie gezeigt, mit gutem Hechte als „Okoaomisti&che''
Geschichtsauffassung benannte, weil als Endziel der Massen-
handlung die ökonomische BedUrfiiisbefriedigung der Masse
erkannt war, lag die Versucbuug sehr nahe, nun auch ohne
weitere Prüfung anzunehmen, dass ausschliesslich oder vo^
wiegend auch ökonomische Mittel zur ErreichuQg desEad-
Zieles angewandt werden.
Von dieser freilich nirgends zur vollen Klwheit durch-
gedrungenen Vorstellung ist die Geschichtsschreibung über-
all, wenn nicht beherrscht, so doch stark beeinflusst. Ich
habe im ersten Kapitel des ersten Buches meines „Gross-
grundeigentum und soziale Frage" eine stattliche Anzahl
von Belegen dafUr zusammengetragen (S. 13ff.), die sich leicht
vermehren Hessen *)•
Es ist nicht leicht, den Gedankeninhalt dieser V(a<-
Stellung scharf wiederzugeben, da er nii^^d scharf gegeboo
ist Man muss ihn zusammensetzen aus verstreuten gelegenl-
llchea Bemerkungen, die sich zum Teil in Polemiken flndeo.
Er ist ungeföhr folgender;
0 Ygl. s. B. KmB, .OMohiehte des Altarttuna", dw danbnswutir
Weiae io der EinleitniiK inm 1. Bande seiaa PAmiMea «Äärf hinitellt
D)«Be fklaoha Pilmine irt aach danmtor.
iM,Coo<^lc
Skiue dar soül-ökonomisohen OaiohiohtoftalEusoiig, 871
Aus einem Zustande sozialer und Ökonomischer Gleich-
heit hat sich durch Ökonomische Differenzierung allmählich
ein Zustand politischer und ökonomischer Ungleichheit ge-
bildet Und zwar bedeutet „ökonomiscbe Differenzierung"
hier augenscheinlich Differenzierung durch ökonomische
Mittel: die höhere 'wirtschaftliche Begabung schwang sich
auf, die niedere sank. So entstanden die sozialen „Klassen",
deren Interessengegensätze den Verlauf der Geschichte be-
stimmen in einem Kampfe, der wieder mit Ökonomischen
Mitteln geführt wird. Loanirz ton Stein sagt klipp und
klar; „Mit der Entstehung des Einzeleigentums entsteht durch
die wirtschaftliche Kraft des letzteren der Prozess der
Klassenbildung, den die ältere Verfassung nicht kennt".
Das heisst scharf gefasst: aus wirtschaftlicher
Thatigkeit, d. h. durch den Gebrauch wirtschaft-
licher Mittel, entsteht VermOgensverschiedenheit;
aus VermOgensverschiedenheit Ktassenverschieden-
heit, d. h. Verschiedenheit politischer Rechte.
Die ADSuBDiig atiinmt mit den Beobcahtangen dM UgUdiaD Lebena
aDKez«iatuiat fiberain. Wenn eine Familie aoa der nntereten Bohicht des
Ttdües ndt nun Beiobttun erhebt, so steigt sie such in der Klasae, bis sie
xalfltit aoob geeellsehaftUoh die ToUe Ebeabürtigkeit wringt, wie i. B. die
NaAtaramen der ersten gToeaeo FabTikbeeitser ond Buikiers in ganz Saropa.
tTmgekdirt hat dar TeimllgeDSTerUI einei TOrDehmen Familie auch den
Termst dar Elase zai 9<Aga. ,Deklaa8lert' ist ein trefleoder Ansdraok dafär.
Welche ökonomischen „Kräfte" oder Mittel es sind, die ■
die Differenzierong vollziehen, auf diese Frage erhält man
keine rechte Antwort. Es bleibt hier alles in einem gewissen
Nebel der Worte, weil Begriffe fehlen. Es scheint, als wenn
die Historiker im allgemeinen ebenso viel an die sogenannten
GJesetze der „Verteilung", wie an die der „Erzeugung" ge-
dacht haben. Das „Gesetz der sinkenden Erträge" mit seinen
drei Konsequenzen, dem Bevölkerungsgesetz, dein Renten-
gesetz und dem „ehernen" Lohngeaetz, den „Gesetzen" der
volkswirtschaftlichen Verteilung, spielen hier in der Historik
eine bedeutendeBolle, beherrschen z. B. den gesamten Gedanken-
gang Thomas Buoxu's; dazwischen laufen dann, zum Teil
davon abhängig, nebulose Vorstellungen von der Grosse der
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
372 Frans Oppenheimer:
relativen Verschiedenheit der wirtschaftlichen Kraft und
2. Die materialistische Geschichtsauffassung.
Auf viel festerem Boden finden wir uns gegenüber der
„materialistischen" Geschichtsauffassung, der Schfipfung von
Marx und Ehöbls. Sie giebt die Kräfte der Wirtschaft un-
zweideutig an, die nach ihrer Ansicht die Geschichte be-
wegen. Es sind dies ausschliesslich die in der GOter-
erzeugung wirksamen Kräfte. Sie gestalten, indem sie
sich entfalten und vermehren, die wirtschaftliche Grundlage
der Gesellschaft um, namentlich die Gesetze der Ver-
teilung, die also als eine Punktion der Erzeugung aufgefasst
wird. Mit dem wirtschaftlichen „Unterbau" wälzt sich
gesetzmässig auch der „Oberbau" um, nämlich die politische
Verfassung und die „Ideologien"; Religion, Kunst, Wissen-
schaft, allgemeine Weltauffassung und Weltstimmung u. s. w.
Eine gewisse Milderung, die freilich auch ein wenig
Unklarheit in die lapidare Kraft der ursprünglichen Formel
bringt, erhält diese „produktionistische" Spielart der kollek-
tivistischen Geschichtsauffassung durch die berühmte Emoslb-
sche Fassung: „das bestimmende Moment in der Geschichte
ist die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren
Lebens". Hier ist, wie die Ausführungen ergeben, neben
die Gütererzeugung auch noch die Familienform als selb-
ständiges, aber augenscheinlich als parallel verlaufend ge-
dachtes, „bestimmendes Moment" gestellt.
Diese Theorie ist eine Konsequenz aus dem MAix'schen
„Gesetz der kapitalistischen Akkumulation". Mabx ist be-
kanntlich der Anschauung, dass im kapitalistischen Pro-
duktionsprozessdas gesellschaftliche „Kapitalverhältnis" selbst
immer wieder reproduziert wird, das Klassenverhältnis, das
zuerst durch „ursprüngliche Akkumulation", d. h. durch
Gewalt geschaffen wurde, und auf dessen Grundlage die
kapitalistische Wirtschaft allein entstehen konnte. Ich habe
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
Skiize der aozüd-SkoiioiiiiBobeii QesohiohtganSassQng. 373
mich neuerdin^ bemllht^), den NachweiB zu fuhren, dass
dieses Gesetz nicht existiert. Der von Marx dafUr geführte
deduktive Beweis ist formal unhaltbar; und die von ihm an-
gefahrten Thatsachen beweisen das Qegenteü seiner Behaup-
tung, während er keine Thatsache beibringt, die fUr seine Be-
hauptung beweisend wäre. NamentUch ist es nicht wahr,
dass „die Maschine in der Oesamt-Industrie Arbeiter frei-
setzt" ; und femer ist es unwahr, dass in der Landwirtschaft
der Konkurrenzkampf statt hat, der zur Ökonomischen Ex-
propriation der Elleineron im Preiskampfe, und somit zur
Akkumulation und Zentralisation des landwirtechafUichen
Kapitals führt Die kapitalistische Eotwickelung ist nicht
nur in ihren Axifängen von Art, Sichtung und Mitteln der
Produktion gänzhch unabhängig, sondern wird auch in ihrem
Fortgang „reproduziert" allein durch das Fortbestehen von
Institutionen, die durch die ursprüngliche Akkumulation ent-
standen sind, ist also nicht bestimmt durch die Produktion,
sondern durch die Distribution.
Damit ist der einzige geschichtliche Beweis, den Mabx-
Enqels fUr ihre spezifische Ausgestaltung der kollektivlstiBch-
ökonomistischen Geschichts-Philosophie beigebracht haben, als
widerlegt zu betrachten; und diese „produktionistiache" Spiel-
art steht ohne Stütze.
b) Die sozialökonomische Geschichtsauffassung.
Ich trete nunmehr den Beweis an, dass es nicht allein
„ökonomische" Kräfte oder besser Mittel sind, deren sich
das MassenbedürMs zur Erreichung seines Endzieles bedient.
Wenn mir das gelingt, so ist die ökonomistische, geschweige
denn die noch engere materialistische Geschichtsauffassung
als zu eng nachgewiesen.
Als herrschende Vorstellung der ökonomistischen Auf-
fassung imd ihrer Einschränkung, der materialistischea, haben
wir oben folgende These festgestellt.
') Das Qnuidgeaetz der Eabl Ifixx'Bchen OMellachaftdelireD, Dar-
utaüoDg und Eritit (Berlin, Georg Eeimer.) 1903.
iM,Coo<^lc
874 FraoE Oppso heimer;
„Aus virtsctiaftlicher Thätigkeit d. h. durch
den Gebrauch wirtBchaftlicher Mittel eutsteht Ver-
mSgeDsrerschiedenheit; aus VermOgeuBverBchieden-
heit entsteht Verschiedenheit politischer Bechte,
„Klassenversohiedenheit"
Die These ist an sich nicht falsch, wie oben schon
zugegeben, sie ist aber falsch, weil sie sich für allein-
und allgemeingültig erklört. Denn viel wichtiger für die
geschichtliche Bewegung ist der genau entgegengesetzte
Zusammenhang, den idi als erste These meinen folgenden
Ausführungen voranstelle:
„Aus politischer Thätigkeit d. b. durch den ge-
brauch politischer Mittel, entsteht Verschiedenheit
politischer Eechte: Klassenverschiedenheit. Aus
Klassenverschiedenheit entsteht VermCgensver-
schiedenheit"
Beide Arten der sozialen Differenzierung gehen nebeo-
einander her, durchdringen imd verschlingen sich. Aber die
letztgenannte, ich nenne sie von jetzt an die polttiscbe
Differenzierung, bildet die Voraussetzung und Be-
dingung aller Skonomischen Differenzierung, wie ich
die erste nennen will, ökonomische Differenzierung iigend
grösseren Umfangs und irgend längerer Dauer hätte sich
nicht entwickeln können ohne die Voraussetzung der
politischen Differenzierung.
Es werden in der G^eschichte offenbar zwei sehr ver-
schiedene Mittel gebraucht, am einer Menscfaenmasse die
ökonomischen GenussgOter zu schaffen. Das eine Mittel ist
die Gewalt: Baub, Krieg mit nachfolgender PlUndenuig
oder Unterwerfung zwecks dauernder Aneignimg eines Teils
der Arbeiteprodukte der Besiegten in den Formen des Tributs,
der Steuer, Grundrente etc. Das ist also BedUr£aisbeöie-
digung durch fremde Arbeit. Daneben findet sich von An-
fang an, und je höher in der kulturellen Entwicklung, um
so mehr vorwiegend als Voraussetzung der gewaltsamen
Aneignung, die BedtU-öüsbe&iedigung durch die eigene
iM,Coo<^lc
Sfclzia der soiial-ökoDomiMben OMidiiohtsaiifliwaDK. 37b
Arbeit, sei es durch SelbatTerbrauch oder durch friedlichen
Eintausch fremder Arbeitserzeugniase gegen Hergabe einer
im Wert gleicbgeschätzten, äquivalenten Menge eigener
Arbeitserzeugnisse. Dort Aneignung nach dem Bechte des
Stärkeren ohne Gegenleistung, hier Aneignung nach dem
Bechte der Gleichen fllr gerechte Gegenleistung.
Die beiden Mittel sind offenbar Pol undAntipol und
mOssen sorgfältigst unterschieden werden; zu dem Zwecke
ist eine tenninologiBche Verabredung nötig: ich nenne die
gewaltsame Aneignung ohne äquivalente Gegenleistung das
politische, — die eigene Arbeit und den äquivalenten
Austausch eigener gegen fremde Arbeit das ökonomische
Mittel der BedtirüdsbeMedigung.
1. Die politischen Mittel der Bedürfnisbefriedigung.
oc) Die primitive Organisation der politischen Mittel.
(Krieg und Staat).
Wir kennen das eine politische Mittel bereits aus vielen
Andeutungen über die internationalen Beziehungen der
verschiedenen menschlichen „Massen", namentlich aus ihren
wichtigsten, den durch die Wanderung verursachten, inter-
nationalen Beziehungen. Hier ist das politische Mittel: der
Krieg!
Aber nicht minder wichtig ist das politische Mittel in
den intranaUonalen Beziehungen einer i<nd derselben mensch-
lichen Masse. Hier tr^ es den Namen: der Staat!
Diese entscheidende Erkenntois verdankt die Wissen-
schaft namentlich Ludwig GontPLOWicz-Graz. Der Staat —
das ungeffihr ist der Inhalt der neuen Auffassung — ist
nicht das Ergebnis eines „Gesellschaftsvertrages" freier
gleicher Menschen; noch weniger die Verwirklichung einer
„staatenbildenden Idee" oder gar die SchOpfung eines „staaten-
bUdenden Volksgeistes", sondern er ist das „politische
Mittel" XBT* HSoxv*" ^^^ intranationalen Beziehungen innerhalb
derselben „Gesellschaft", ist das Mittel eines Teiles der
iM,Coo<^lc
376 Frans Oppenheim er:
Marae zur BeMedigung ihrer Skonomischen BedUrfoisse aul
Kosten eines anderen Teiles derselben Masse.
Und zwar entsteht der Staat, wie ich m. W. zueret
gezeigt habe'), indem die iaternationalen Beziehungen der
verschiedenen handebiden Menschenmassen aUmählich, durch
verschiedene Übergänge, zu intranationalen Beziehungen,
und die ehemalig selbständigen „Massen" nunmehr zu Be-
standteilen einer grösseren Masse, zu Schichten, Kasten oder
Klagen werden: der Staat ist SchOpfung des Krieges!
Der typische Verlauf ist folgender: Beisige, in der
Jagd gestählte, waffengeübte, in gemeinsamer Massenbewegung
straff organisierte Nomaden Überfallen ihre Grenznachbiuii,
friedliche, waffenentwöhnte, in loser Organisation staatenlos
lebende Ackerbauer zuerst in unregelmässigen Raubzügen,
bei denen rücksichtslos geplündert, gesengt und gemordet
wird. Das ist das erste Stadium der internationalen Be-
ziehmigen.
Allmählich wird den Hirten klar, dass dieses Vorgehen
nicht das zweckmässigste Mittel der BedUrftüsbefriedigung
ist, sintemalen ein totgeschlagener Bauer nicht mehr pflügen,
und ein abgehackter Fruchtbaum nicht mehr tragen kann.
Sie erkennen als ein zweckmässigeres Mittel, den Bauer
leben und den Baum stehen zu lassen. Sie erscheinen daher
fortan in regelmässigen Zwischenräumen nach der Ernte,
morden und sengen nur noch so viel, wie erforderUch, om
den nötigen Respekt zu erhalten und etwaigen Widerstand
niederzuschlagen, und nehmen nicht mehr die sämtlichen
Arbeitserzeugnisse der Bauernschaften, sondern lassen ihnen
Saatgut und notwendige Lebensmittel bis zur nächsten Ernte
und nächsten Schätzung. Gleicht der Hirte im ersten Stadium
dem Bären, der einen Bienenstock zerstört, indem er üin
plündert, so nähert er sich im zweiten dem Imker, der seinen
Stock pfleglich behandelt, um „das Volk" in seinem Bestände
nicht zu gefährden. Wir kennen solche internationale Be-
') Der BOzioIogiBche FeGsimismag. K. Fr. Fr. 1901.
n,g,t,7l.dM,COOglC
SUae der soaal-OkonomisoheD OesohiohtsaoffaBanng. 377
Ziehungen zwischen Komaden und Ackerbauern aus der Sa-
hara, wo der hackbauende Neger die Bolle der Bienen, die
hellfarbigen Fulbe berberischer Rasse den Imker agieren.
Schon in diesem Stadium entsteht eine Art von Schutz-
verhSltniB zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten. Der
Imker lässt natürlich den Bären nicht an „seinen" Stock,
der Hirtenstamm verteidigt „seine" Bauern nach Kräften
gegen andere Hirtenstämme, die Lust haben möchten, ibm
durch „unlauteren Wettbewerb" das Geschäft zu verderben.
Das dritte Stadium ist das der Zahlung von Tribut oder
Schutzgeldem, die den Herren in ihre Zeltlager gesendet
werden. Beide Teile haben nur Vorteile von dem Arrangement,
die Bauern, weil sie den kleinen Unregelmässigkeiten ent-
gehen, die früher mit der Ginziehung des Tributes durch die
gesamte Hand unvermeidlich verbunden waren: einige nieder-
gebrannte Hatten, ein paar Totschläge und Schändungen und
sehr viel rossezerstampfte Felder. Die Hirten aber können
sich der ihnen zugetragenen Güter erfreuen, ohne sich be-
mühen zu müssen; sie ersparen die „Geschäftsunkosten" oder
können das „Geschäft erweitem", indem sie ihre freigewordene
„Arbeitszeit" and „Arbeitskraft" auf die Unterwerfung neuer
Ackerervölker verwenden.
Das vierte Stadium endlich verwandelt die intematio-
naien in intranationale Beziehungen, wenigstens unter räum-
lichem Gesichtspunkte. Die Hirten setzen sich zwischen die
Ackerbauer, aus irgend einem Grunde, sei es, weil ihnen
ihre Heimat zu eng geworden ist, sei es, weil stärkere
Stämme sie aus der Steppe gedrängt haben, sei es, weil sie
die Aufgabe des Schutzes ihrer Tributpflichtigen gegen andere
Hirten auf diese Weise am besten erfüllen können, oder
schliesslich, weil sie ihre Tributpflichtigen überwachen wollen,
um die Organisation eines Aufstandes zu verhüten. Sie
lassen aber den Unterworfenen ihre alte Verfassung, ihre
BeligioD und Sprache und verlangen nichts als Zahlung des
Tributs. Solche Fälle kennen wir z. B. in Arabien.
iM,Coo<^lc
378 FraDi Oppanhaimer:
Das letzte Stadium ist die AuBgestaltimg des „Staates"
im eigeDtüchen Sinne, d. h. Ausbildung einer gemeinsamen
Verfassung, eines Staatsrechtes, einer Staatsreligion, die
sämtlich den ausgesprochenen Zweck haben, den Bezug des
Tributes (jetzt zur Steuer und Grundrente geworden) zu
gewährleisten, aber ajidererseits das Steuersubstrat, Land
und Leute, mindestens in seinem Bestände zu erhalten. Hier
ist die ursprunglich internationale Beziehung endlich in jedem
Sinne eine intranationale geworden: denn unter dieser Ver-
fassung verschmelzen die beiden stammverschiedenen Gruppen
zur Nation, zum Volke ein^ Staates.
Zwiavhen viertem nod letztem Stadiam kann es noch Zwisdiw-
gUeder geben: bo lebten die Biegreiohen Inka gemeioBam in dar Haoptotadt
als im wesentlichen kommunistiHclie Adelfiganoesensohaft von den Tribaten
der eroberten Slämma, die unter ihren angestanunten Fürsten, in ihrer
alten Verfassnng nod Religion weiter lebten wie vor der ünterwarfong.
Also viertes Stadium I Aber in innere Streitigkeiten der Stämme oder gu
in Streit! gkeiteu zwischen den Stämmen griffen die Inka sehticbtend und
richtend hinein, hatten aaoh für den Zweck eine Beamten hierarohie anter
dem Befehle des Eänigs organiaiert. Das weist aohon anf das fünfte Stadium
nnd zeigt anch an, ans welchen Gründen der «Elasaenfürsoi^e ' das vierte
Stadium den Birteu selbst als auf die Dauer unhaltbar erscheinen mnscts:
ce Beibung schwächt augenscheinlich die Stenerkraft der Staaar-
1 : nnd das dsrf nicht geduldet werden.
li anderen Staats bildnngen sind einzelne Zwisohanstufen ansgebtlMi,
roweilen sprang die Gntwickeluug ohne Uebergang vom eisten bis zun
letzten, sodass aas den BSuhern von gestern der Adel von heute wurde.
Beispiele r Meder, Ustgothen, Franken in Oallien, Normannen in Söditilien.
Aber, wo immer ein Staat entstanden ist, da entstautl
er als politisches Mittel einer Menschengruppe zur ge-
regelten Befriedigung ihrer ökonomischen Bedürfnisse mitt«ls
Aneignung von Äjbeitserzeugnissen anderer Menschengruppen
ohne äquivalente Gegenleistung. Das ist eine durchaus all-
gemeine Thatsacbe, eine Begel ohne irgend eine Ausnahme,
wie z. B. FaiBDBicH Batzkl feststellt Die geschilderte
Entstehung des Staates ist nicht ein Typus, sondern der
Typus schlechtweg.
Betrachten wir einen solchen Staat, so finden wir ein
bestünmtes Spiel der Kräfte. Einerseits haben wir einen
polaren Gegensatz in dem besonderen ökonomischen Be-
dOrfiiis der beiden Gruppen. Das Interesse der ausbeutenden
iM,Coo<^lc
Skisie der aoiial-dkoiiftmisoliBii OflBotdobtsanfbssnDg. 87Q
Gruppe geht dahin, das bestehende, ihr günstige Becht, das
sie einseitig auferlegt liat, zu erhalten: sie ist „konserTaÜT".
Das Interesse der ausgebeuteten Gruppe geht im Gegenteil
dahin, das bestehende Eecht aufzuheben und durch das
Recht der Oleichheit aller Hitglieder des „Volkes" zu er-
setzen: sie ist „liberal" und „revolutionär".
Hier steckt die Wurzel aller Klassen- und Parteienpsy-
chologie. Kraft der oben dargestellten Selbsttäuschung be-
ruft sich jede Gruppe auf Vernunft und Sittlichkeit, um ihre
Handlungen zu rechtfertigen. Die herrschende Gruppe
konunt überall schnell zu der Überzeugung, dass sie selbst
besseren Blutes, besserer Rasse ist als die unterworfene;
äaas diese, tftörrisch, tückisch, trag und feig, ganz unfähig
ist, sich selbst zu regieren und zu verteidigen; dass jede
Auflehnung gegen ihre Herrschaft dem göttlichen Willen
und dem göttlichen Sittengesetz zuwiderlaufe. Sie verbindet
sich daher Überall mit der Priesterschaft, die diese Religion
zu verkünden hat, die das „Tabu" auf das Becht des Staates
und den Besitratand der herrschenden Gruppe legt, wofür
sie einen Anteil au deren Rechten und GenussgUtem erhält
So entsteht die charakteristische Psychologie jeder Herren-
klasse: Bassenstolz, Verachtung der arbeitenden Unterschicht,
Oberzeugte oder wenigstens' äusserlich dokumentierte
Frömmi^eit. Dazu tritt eine Neigung zum Verschwenden,
die sich edler als Freigebigkeit darstellen kann: sehr be-
greiflich bei dem, der nicht weiss, „wie Arbeit schmeckt",
und als schönster Zug die persönliche todverachtende Tapfer-
keit, erzeugt durch die Notwendigkeit einer Minderheit, jeden
Augenblick ihre Rechte mit der Waffe zu verteidigen, und
begünstigt durch die Befreiung von aller Arbeit, die den
Körper in Jagd, Fehde und Sport auszubilden gestattet
Umgekehrt ist die unterworfene Gruppe natürlich
„liberal". Sie hält den Rassen- und Adelsstolz für eine
Änmassung, sich selbst fUr mindestens so guter Rasse und
guten Blutes, die Arbeit für die Quelle aller Ehre und allen
Glücks, ist häufig skeptisch gegenüber der Religion, die sie
rmn-ii-.-i Google
3gO Ifrans Oppenheim er:
mit ihren Ausbeutern verbunden sieht, und ist bei einiger
intellektueller Entwickelung ebenso fest, wie der Adel vom
Gegenteil, davon Überzeugt, dass die Privilegien der heir-
scheaden Gruppe gegen Recht und Vernunft verstoBsen.
Ihr steht es ausserhalb jeden Zweifels, dass nur die De-
mokratie das Gltlck der Völker gewährleistet, und dasanur
sie mit dem göttlichen Rechte, oder wenn sie diesen Anklang
an die Religion vermeiden will, mit dem „Naturrechte" ver-
einbar ist.
Unter diesem Widerstreite der Interessen mtlsste der
junge Staat alsbald auseinander fallen {oder vielmehr, er
könnte gar nicht erst zur Bildung gelangen, da die Aus-
gebeuteten nur durch nackte Gewalt in ihrer Abhängigkeit
gehalten werden könnten, sodass das vierte Stadium nie
überschritten werden würde), wenn dieser Gegensatz nicht
durch starke Gemeinsamkeiten der beiderseitigen Gruppen-
interessen gemildert, unter Umständen sogar überkompen-
siert würde.
Wir kennen dies Gemeininteresse bereits. Es beruht
darin, dass die herrschende Gruppe im Interesse der dauern-
den und reichlichen Versorgung mit ökonomischen Gütern
das stärkste eigene „FürsorgebedUrfiüs" hat, die beherrschte
Gruppe mindestens in ihrem Bestände, „prästations^hig",
zu erhalten. Zu dem Zwecke schützt sie sie nach aussen
gegen andere Ausbeuter: die militärische Aufgabe des
Staates; und nach innen gegen die Übergriffe ihrer eigenes
Mitglieder durch die „Satzung" eines beide Teile bindenden
Rechtes: der Staat als Rechtsstaat!
Dies gemeinsame Bedürfnis der Verteidigung und des
Rechtsschutzes ist in der Regel stark genug, um die zentri-
fugale Kraft des Gegensatzes zwischen Ausbeutern und Aus-
gebeuteten aufzuheben. Und dieses gemeinsame Bedürfnis
macht die beiden, ursprünglich nur mechamsch in und g^a
einander gepressten, häu£g stamm- und sprachfremden, Massen
nun zu einer organischen, „historischen" Masse mit einer
gemeinsamen Massenpsychologie, für die die oben für jede
iM,Coo<^le
BkiziB der sozial-3b)Doimsclisn Gesohiohtsaaffaasimg. gg^
menscbliche Masse eatvickelten Bewegtmgsgesetze natürlich
volle Geltung haben.
Dieser „primitiTe Staat", wie wir ihn nennen wollen,
macht fortan eine ganz geeetzmässige Bntwickelung durch,
deren HauptzUge durch alles Arabeskenwerk der individualen
— wenn das Wort hier gestattet ist — Schicksale deutlich
zu erkennen sind. Die Ursachen der Bewegung sind auch
hier Maseenbedlirfnisse, und sie bedienen sich sowohl der
politischen wie der ökonomischen Mittel. Die Qflschichts-
darstellung einer bescimmten Epoche wird daher genötigt
sein, das zeitliche und räumliche Nebeneinander aufzuweisen,
zu betrachten, wie das ökonomische und das politische Mittel
sich wechselseitig beeinflussen, wie sich „Staat" und „Wirt-
schaft" gegenseitig beeinflussen, rerschlingen, durchdringen,
sich fördern und lähmen. Dazu bedarf es aber als der un-
umg^glichen Voraussetzung einer isolierenden Vorarbeit, die
die verschlungenen Fäden aaseinanderwirrt, jede einzelne
Komponente für sich allein betrachtet und so dasjenige fest-
stellt, was die maraistischen Hegelianer die „innere Dialektik"
jedes der beiden geschicbtlicben „Mittel" nennen würden.
ß) Die Entfaltung des politischen Mittels.
(Das Feudalwesen).
Die Staaten werden erhalten durch das gleiche Prinzip,
durch das sie geschaffen wurden. Der primitive Staat wurde
geschaffen durch den Krieg: er kann nur erhalten werden
durch den Krieg.
Das ökonomische Bedürfnis hat keine Grenzen, kann
niemals voll befriedigt werden, der Reiche ist sich niemals
reich genug. So lange die herrschende Moral die des Faust-
rechtes ist, nach deren Codex jeder — ausserhalb des
„Priedenskreises" seiner Gruppe — jedem nehmen darf, was
er mag, wenn er kann: so lange muss Krieg aller gegen alle
bestehen. Und diese Moral des Faustrechtes ist in primitiven
Orappen wie bekannt die allein herrschende.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
382 PTtni Opp«nh»im«r:
Der „Adel" — bo werden wir von jetzt an die sieg-
reiche Gruppe des primitiven Staates nennen, empändet ein
starkes „BedUrfhis" nach den ArbeiterzeugnisseQ der benach-
barten, noch nicht onterworfeneu Ackerbaus. Dieses negative
„Bedürfnis" eines Mangels wird noch verstärkt durch das in
gleicher Richtung wirkende „positive" Bedürihis einer kräftigen,
im Übennass ernährten, arbeitsfireieu Masse, eine „innere
Schwüle" zu entladen, d. h. durch die „unruhige" (das Wort
deckt den Begriff vortrefflich) Thatenbegier und Kampflust
Der Erleg ist dem Adel nicht nur politisches Mittel, sondern
auch Seibatzweck, ntUnlich SportI
So greift der Krieg über die Grenzen, unterwirft Be-
zirk nach Bezirk der lose organisierten Ackerbauer, erweitert
den Staat — bis seine „Interessensphäre" mit der eines
anderen Staates gleicher Bildung zusammenstöast. Jetzt
wird aus dem kriegerischen Raubzuge zum ersten Male ein
wirklicher Krieg im engeren Sinne, da jetzt zum ersten Male
gleich organisierte Massen gegeneinander branden; das End-
ziel des Kampfes bleiben immer Tribut, Beute, Steuer, Gnmd-
rente: aber der Kampf geht nicht mehr zwischen der Gruppe,
die ausbeuten will, und dei^enigen, die »isgebentet werden
soll, sondern zwischen zwei ausbeutenden Gruppen um die
gesamte Beute, eine sehr wichtige neue Erscheinung der
internationalen Beziehungen, die sich auf höherer Stufe in
den intranationalen Beziehungen immer wieder reproduziert.
Das Ergebnis des Zusammenstosses ist immer das
gleiche: Entstehung eines Staates von grösserem Umfang and
grösserer Bevölkerung, Indem der eine der beiden um die
„Hegemonie", das „Prinzipat", kämpfenden Staaten den
anderen- angliedert. Welcher von beiden den anderen, das
ist für die HanptUnien der Entwickelung gleichgültig, und
darum — ich verweise auf die oben gegebenen AusfOhrungea
Über den Fehlschluss dynastischer Geschichtsaufbssong —
liegt fUr die wissenschaftliche GesohichtsaufTassung kein
Grund vor, den siegreichen Führer als Heros zu verehren;
wohl aber für die Zeit- und Volksgenossen I
iM,Coo<^lc
Skim der sozia] -ÖkoDomiiohBii OesohiQhtsaaffaasiiiiit. gg3
Denn fUr sie handelt es sich darum, wer Hammer
und wer Ambos spielen soll in diesem weltgeschichtlichen
SchweisBungBprozess. Am stärksten ist -^kr „Adel" an dem
Ausgange interessiert: für ihn handelt es sich nicht nur um
ein Mehr oder Minder an wirtschaftlichen GenussgtUem,
Bondem meistens um seine gesamte Existenz.
Denn hiofig wird die besieg AdelsklosM anigerottet (bayrisohsr
and sobw&btHher Yolksadel doroti die Franken); etienso h&ofi); la einer
Klüse mmderen Reobtes berabgedrnokt, entweder zu einer MittelUasae.
die noch einige Reite der alten Tribatrechte babäit Irömisohe Poaseesoren
in den TOlkerwaodenuigsstaateD, ugeLiftchsiBoher Adel naob der normannisolien
Eroberang Englands) oder ganz ins Proletariat herabged rückt. Nnr selten
-wird er als Tollberechtigt rezipiert, von den siegreiolien Adelsgruppen ins
Konnubium anfgenommen, Boznsagen adoptiert (Bäohsisoher Adel im Karolinger-
reich, einzelne tuskieche nnd latiniscbe Familien in Rom, einige nendisoba
Dynasten in Brandenburg, der alaTieobe Adel in Meoklenbnrg und Fommem).
Wie das im einzelnen ausläuft, ist nichts als eine Frage
der relativen politischen Macht, denn es handelt sich lun
Festsetzung tob Kechten, und jedes Becht im Staate ist
„die jedesmalige Grenze der erkämpften Machtsphäre"
(GdmfiiOWioz). Je gleicher die aufeinanderprallenden Kräfte,
umso gleichmässiger verteilen sich die Rechte im Friedens-
schluBS, je ungleicher die Eräfte, nm so bitterer btlsst der
Überwundene: vae victis!
Die „Plebs", wie fortan die unterworfene Gruppe ge-
nannt sein mag, ist an dem letzten Ausgang des Kampfes
der beiden Adelsklassen nicht interessiert; denn es ist ihr
sehr gleichgültig, an welchen Grundherrn oder KOnig sie
Rente und Steuern bezahlt, namentlich wenn der Kampf
zwischen rassen-, sprach- und etwa noch religionsverwimdtea
G^ppen spielt Wohl aber ist die Plebs sehr lebhaft inter-
essiert an dem Verlaufe des Krieges. Denn der wird auf
ihrem Rücken ansgefochten. Jede Addsklasse hat das leb-
hafteste Interesse, die andere „bis zur Weisse zur Ader zu
lassen", um ihre Kampfkraft zu schwächen. Diese Kraft
wurxelt in dem Steuerrecht auf die Arbeitserzengnisee der
Plebs: folglich gebietet die Logik der Dinge, diese Wurzel
auaEorotten, die Steuerffihigkeit der Plebs zu zerstören.
Daher die furchtbare Zerstörungswut der Kriege in dieser
iM,Coo<^lc
384 Frans Oppenheim er:
Epoche, das Niederbrennen der Hütten, das NiederBtempfeii
der Kornfelder, die Zerstörung der Weinstöcke und Frucht-
baume, das Niedermetzeb der Herden und der Menschen
selbst, soweit sie nicht als Sklaven fortgefDhrt werden können.
Darum hat die Plebs ein ungeheuer starkes Interesse daran,
den Krieg auf das Gebiet der Nachbarn zu verpflanzen; das
„G-emeininteresse" ist stark genug, um den Gegensatz der
Sonderinteressen zu Überwinden, und so lässt sich die Plebs
willig vom Adel in den Krieg führen, um das Vaterland zu
verteidigen, obgleich der Löwenanteil an der Beute dem
Adel zufällt.
Auf diese Weise wächst also der primitive Staat, oder
vielmehr, um die SpKNCBas'scbe Weltformel anzuwenden, eioe
Angflhl von primitiven Staaten, „integrieren" sich zu einem
grösseren Aggregat. Und im gleichen Schritt damit schreit«!
die „Differenzierung" voran. Dass die ursprüngliche Gliederung
in zwei Gruppen sich weiter unterghedem kann und häufig
wirklich untergliedert in mehr Gruppen, je nachdem die
relative Macht der kämpfenden Teile über ihr künftiges Recht
entschied, haben wir bereits gesehen. Das ist aber nicht
die einzige Kraft noch der einzige Grund der DUTerenziernng.
Je grösser das Staatsgebiet wird, umso weniger ist
es möglich, es zentraiistisch, von einem Punkte aus, zu ver-
walten, so lange Nachrichten- und Transportwesen so gut"
wie ganz unentwickelt sind. Die Tendenz zur ZentraUsatJon
durch den Krieg führt, als These, zu ihrer Antithese, der
Dezentralisation in ihrer Verwaltung. Mitglieder der
herrschenden Gruppe werden in den Provinzen als Satrapen,
Prokonsuln, Grafen, Herzöge, Governadoren etc. mit der
Vertretung der Gruppeninteressen betraut. So lange mangels
einer Geldwirtschaft ein geordnetes fiskalisches System nicht
mögUch ist, müssen diese Beamten mit ihrem Gebalt und
Etat auf das Steuersubstrat, Land und Leute, angewiesen
werden: sie ziehen sich ihr persönliches Deputat von den
allgemeinen Staatseinnahmen ab, disponieren selbständig Über
eüien anderen Teil für die Zwecke der Wehrkraft, des Becht»-
iM,Coo<^le
Bldzza der soiial-6k<moiiitscheii GwchiehtMnftosnng. 3g5
Schutzes, der Kirche imd der Woblfahrtspolizei, soweit sie
im Keime vorhanden ist, (Strassen- und Märktewesen etc.),
und liefern den Kest ab.
So beherrschen sie — der Himmel ist hoch und der
Zar weit — ihren Amtsbezürk mit sehr grosser Selbständig-
keit, und es kann nicht ausbleiben, dass sich in ihnen ein wirt-
schaftliches BedUrfius entwickelt, das dem der Q^samtheit
immer stärker entgegenläuft. Der an der Ostgrenze reperende
Machthaber ist wenig geneigt, seinen Kriegsschatz, seine
Qarde und seine Bauemtruppen an die Bekämpfung eines
Feindes zu setzen, der die ferne Westgrenze bedroht. Er
hat das Bedürfnis, das Steueraufkommen seines Bezirkes fUr
sich und die Erhöhung seiner Macht zu verwenden, statt es
für Gruppengenossen und andere Bezirke herzugeben; er
hat schliesslich das stärkste Interesse, eine höhere Macht
zu zerstören, die sich in die politischen Beziehungen zwischen
ihm und seinen Untertbanen mischt, als Appellationsinstanz
ihnen den EUcken steift, ihn auf Schritt und Tritt beengt,
ja in seiner Existenz bedroht. Denn natürlich kennt die
regierende Klique im Zenü-mn die Gefahren des Sstrapen-
wesens ebenso genau und ist ängstlich bemüht, die lokalen
Machthaber nicht zu gross werden zu lassen. So verwandelt
sich die Tendenz zur administrativen Dezentralisation in
die bewusste Tendenz zur politischen Dezentralisation: im
Gebäude des Einheitsstaates entstehen Bisse. Zuletzt zerßillt
er in eine Reihe von Kleinstaaten, die vielleicht noch durch
eine, fast nur noch formelle, ohnmächtige ZentraUnstanz zu-
sammengehalten werden, die aber dessenungeachtet mitein-
ander in unaufhörlichem Kampfe liegen. Von dem ersten
Stadium des Krieges aller gegen alle unterscheidet sich das
jetzige nur dadurch, dass Inzwischen die politische Diffe-
renzierung und die ökonomische Differenzierung, die uns sofort
beschäftigen wird, mehr Gruppen mit eigenen Interessen er-
schaffen haben, die auf die Masse in der lUchtung ihres Be-
dürfnisses wirken und das Spiel der Kräfte in einer anderen
Diagonale vereinen.
TIartaUabmiliilft f. irimmteimta. PUlo*. a. SodoL XXVU. l. ^
n,g,t,7i.-JM,.COO<^le
386 Fraoi OppeDhaimer:
Jedoch sind die geschilderten politischen Kräfte (Eriei
und Verwaltung) nicht die einzigen, die die Differenzierung
vollziehen. Es bestehen noch innerhalb der herrschenden
Gruppe selbst urwüchsige Verschiedenheiten, die Sonder-
Interessen, zentrifugale Tendenzen erzeugen. Auf diese ur-
wüchsigen Verschiedenheiten war bisher keine Bflckeicht zn
nehmen, da sie fUr die bisher g^chllderte Seite der Ent-
wickelung ohne Einfluss waren: jetzt ist es Zeit, säe in
Eecbuung zu stellen.
Der erobernde Hirtenstanun ist keine einheitliche Hasse
mehr, wenn er zur Staatsbildung schreitet. Er ist mindestens
schon, und zwar durch das politische Mittel des Krieges, in
zwei „Klassen", d. h. Bevölkerungateile verschiedenen Ver-
mögens und Rechtes, geschieden, in Freie und Sklaven. Diese
letztgenannten sind anfangs nur Kriegsgefangene, die von
der Hirtenstufe an nicht mehr geschlachtet, aber auch nicht
mehr als gleichberechtigt« Genossen adoptiert werden, wie
noch auf der Jägerstufe; und zwar, weil sie erst hier zn
einem Mittel der wirtschaftlichen Bedürfnisbefriedigung
werden, da allein ihre Arbeitskraft es dem Sieger erlaubt,
grössere Herden zusammenzuhalten und gegen menschliche
und tierische Feinde zu hüten.
Aus dieser Zweiteilung entwickelt sich sehr bald regel-
mässig eine Dreiteilung. Der grosse Herden- und Sklaven-
besitzer heinist die Beute an neuen Herden und neuen Weide-
knechten allein ein, wenn er auf eigene Faust mit sein^
Clan, seinen fireien Verwandten imd bewaffiieten Knechten,
auf Raub und Fehde auszieht; und er heimst einen grösseren
Teil ein, wenn er als Feldherr mit seiner Garde, seinein
„Gefolge", an der Spitze des ganzen Stammes siegte. So
akkumuliert sich das Vermögen der NomadeniUhrer; sie
werden zu Fürsten, „Fürsten der Stammhäuser", wie die
Bibel sie nennt. Unterstützt wird dieser Ausleseproiesfl
durch den Missbrauch des religiösen Bedürfuisses der Masse
als eines politischen Mitteis: der „Patriarch", der ■^terhche
Opferpriester, versteht es überall, das seiner Verwaltung
iM,Coo<^lc
Skizze der soual-ökonomiBohen QesohicLtsaDffassiuig. 367
anvertraute StammesvermOgen unmerklich in sein Privat-
vermögen zu verwandeln.
Diese Akkumulation drllckt zuweilen schon nach unteo
auf die kleineren, ärmeren Gemeinfreien durch. Sie sinken
ab und zu in eine geminderte Freiheit, in „OUentel" zur
Dienstpflicht, herab, namentlich nach Unglücksfällen (Krieg,
Seuchen, Dürre, Schneestürmen etc.), die mit ihrer kleinen
Herde ihre Existenzgrundlage vernichteten. Dann müssen
sie von dem Patriarchen, dem StammfUrsten oder dem ein-
fachen „Reichen" Vieh auf Darlehn nehmen, ein fee-od,
ein Vieh-Eigen: den Embryo aller „feodalen" Beziehungen;
denn der Entleiher wird für immer oder bis zur Abzahlung,
die meist mit schweren Wucherzinsen zu erfolgen hat, ein
abhängiger treueverpflichteter „Mann" des Darleihers. Solche
Verhältnisse wurden kaum als sehr drückend empfunden, da
sogar die volle Sklaverei im Hirtenstamme eine keineswegs
harte ist, noch auch dort sein kann, wo die Bewegungsfreiheit
der Weidesklaven so gross ist. Die Sklaverei zeigt ihr
schlimmes Wesen erst in der Geldwirtschaft, bei der kapi-
talistischen Ausbeutung der Unfreien für einen zahlungs-
kräftigen Markt.
Immerhin hält im Hirtenstamm die gemeinfreie Masse
in der Rege! noch das Heft in der Hand. Und so bildet
der primitive Staat mindestens dort, wo der ganze Stamm
als Eroberer auftrat, anfangs eine Art aristokratischer De-
mokratie, aus der sich einige reiche Geschlechtshäupter ein
wenig herausheben, ohne eine ausschlaggebende politische
Macht entfalten zu können. Sie sind zn den Heerführer-
und Priesterstellen ceteris paribus prädestiniert, zu den
ersteren ihrer kriegerischen Erfahrung und ihrer unentbehr-
lichen Gefolge halber, zu den letzteren durch ihren Reichtum
(Opfer): aber sie stehen als Beamte unter scharfer und wirk-
samer Kontrolle der vollfreien Heeres- und Ratsversammlung,
der sie z. B. mit dem Leben für die Gunst der Götter haften,
deren Dienst ihnen anvertraut ist: noch in historischer Zeit
wurden von germanischen Völkerschaften „Borkenkönige"
n,g,t,7l.dM,COOglC
888 Franz Oppenbeimer:
geopfert, imter deren Herrschaft das Volk Baumrinde hatte
essen müssen, weil Misswachs und Viehsterben heirscbteo.
So stehen die kleinen Gaukönige der primitiven Staaten
Die polnische Szlachta im 10. Jahrhundert gieht ein un-
gefÄhres Bild solcher adeligen Demokratie. Unter ihr, recht-
los, unpolitische Wesen, schmachtet die Plebs.
Ein wenig anders verUntt dio Entwickeluitg da, wo da vonäiEiui
«....__ _... ., ., — _,.__ Qg,riUir des StanuuM,
e Chlodwig in OaUieo.
I TOmharein viel fester eniotatet, yiel wtoigm
Die Bildung des „Staates" wird Ursache einer viel
stürkeren und folgenschwereren inneren Differenzierung der
herrschenden Gruppe, als zuvor möglich war. Der Stamm
mag die neugewonnene Beute, Acker, Land und Leute, sogu
gerecht teilen, jedem Krieger so und so viel Bauern: dennoch
entsteht sofort eine ungemein bedeutende G^undbe6itzye^
schiedenheit, denn dem FUrsten wird soviel Ackerland ao-
gewiesen, wie er für seine — eigentumsunfähigen — Weide-
sklaven braucht, die er mit in den neuen Zustand inferierte.
Da ein Begriff vom Werte des Bodens angesichts der un-
geheuren noch nicht umbrochenen Fläche nicht existi^tB
kann, geschieht diese Zuweisung oder Okkupation ohne jeden
Hintergedanken.
Fortan haben wir drei Hauptklassen zu unterscheidea:
den Grossgrund- und Grossherdenbesitzer, den Edeling oder
Flirsten des Gaus, mit zahlreichen zinspQichtigen Bauern
und persönlichen Dienern und Kriegern; zweitens die Ge-
meinireienmitkleinem Grundbesitz und wenigen Ackerknechten,
und zuletzt diese selbst, die in mehrere Klassen zerf^eii
können, wenn die miteingebrachten Weidesklaven ein anderes
Recht erhalten als die unterworfenen Ackerbauer, die wir
als „Hörige" bezeichnen wollen. Aber diese Unterteilung
ist fUr den grossen Gesamtverlauf ohne Belang.
Dieser zeigt folgende Hauptaüge: Aufstieg der grossen
Grundbesitzer und der Plebs, Niedergang der Zentralgewalt
und der Gemeinfreien.
iM,Coo<^lc
SUize der Bo^al-dkonoiniBobeii OesohiobtuDfEusDiig, 889
Die grossen Grundbesitzer, seieo es nun die reichen
Herdenbeeitzer der ersten staatsbildenden Okkupation, oder
seien es ihre Nachfolger im Besitz, die adeligen Beamten
aus der siegreichen Gruppe des durch den Krieg zusammen-
gescfaveissten Einheitsstaates, dehnen ihre lokale Macht durch
das politische Mittel mehr und mehr aus. Sie lassen durch
ihre Sklaven und Hörigen im noch nicht okkupierten'Lande
roden ; ihr vermehrtes Einkommen ermöglicht ihnen, ihr per-
sönliches „Gefolge", ihre Garde, zu verstärken: mit ihr
unternehmen sie immer weiter spannende Raub- und Er-
obemngszüge Ober die Grenzen imd wohl auch in die Inter-
essenfiphären benachbarter Beamten des gleichen Staats-
wesens, gewinnen neues Land zur Besiedeluug mit abhängigen,
zins- und heerdienstpflichtigen Männern, neue Mittel zur
Verstärkung ihrer militärischen Hausmacht. So werden sie
immer stärker und stärker.
Im gleichen Masse wird die Zentralgewalt schwächer.
Ihr entgleiten die Provinzen, die sich nun als selbständige
Mächte neben ihr und gegen eie behaupten. Um in den
Nöten der auswärtigen Verwickelungen, die kraft des inneren
Bewegungsgesetzes des politischen Mittels nicht aufhören
können, die Hilfe der lokalen Machthaber zu gewinnen, muss
die Zentralgewalt die Zukunft ftlr die Gegenwart verkaufen.
Sie sieht sich gezwungen, die faktische Gewalt der lokalen
Machthaber formell-rechtlich anzuerkennen, indem sie ihnen,
eines nach dem andern, die staatlichen Hoheitsrechte abtritt,
Die wichtigsten sind die Erblichkeit des Lehens, die Ge-
richtsbarkeit und die staatlichen Begalien, hier vor
^em die Verfligung über das noch unbebaute Land, das
nach gleichmassigem Volksrecht überall dem Stamme als
Gesamtheit gehört, dessen Verteilung dem Patriarchen, dem
Geschlechtshaupte, dem Kuni, zusteht.
Von diesem Augenblicke an sind die gemeinfreien
Bauernschaften geUefert. Ihre Macht war schon ohnehin
durch den Wechsel des Berufs geschwächt: sMä dem kampf-
frohen Hirtenkrieger war der waffenentwöhnte Bauer ge-
n,g,t,7l.dM,.COOglC
890 FrkDi Oppenhoimar:
worden, während der GaufUrst seine politische Macht, sein
Einkommen und seine Garde fortwährend verstärkte. Schon
stand die Wage der Macht gleich: der Verzicht der Zentral-
gewalt auf ihre Rechte ISsst die Schale der Gemeinfreibeit
emporschnellen. Schon die Übertragung der Gerichtshobeit
(Immunität) an den TenitorialfUrsten, der Verlust der Appet-
latioQ an die Zentralgewalt, war ein nicht zn verwindender
Schlag: er gab der Gewalt die Würde des Rechtes, deckte
sie niit dem Tabu der Supersütion. Aber noch viel ver-
nichtender wirkte der Verlust der noch freien Läudereien.
Der Machthaber sperrt sie fortan gegen die freie
Siedelung ab, erschliesst sie nur solchen SiedelungswilligeE.
die entweder schon seine HOrigen sind oder sich bereit
erklären, es zu werden. Jetzt, nach dieser mit emem Schlage
erfolgten ungeheuren Vermehrung des fürstlichen Qrossgnmd-
eigentums, das alles noch freie Land usurpiert, hat es eret
den Umfang erreicht, in dem es die ökonomische Differen-
zierung entscheidend zu beeinflussen vermag.
Bisher hat der Zugang zu freiem Lande die Ökonomisclie
and soziale Gleichheit den Gemeinfreien aufrecht erhalten.
Wenn em Bauer zwölf Söhne hatte, so Übernahm der ilteste
die väterUche Hufe, und die elf anderen rodeten sich nene
Hufen in der Gemeinen Mark. Das ist fortan unmöglicb,
denn die Mark ist gesperrt. Der Besitz von Bauemfamilies
mit zahlreichen Kindern zersplittert, der anderer akkumuliert
sich durch glückliche Heiraten und geschickte Darlehen:
kann auch mit den gemieteten Kräften der durch die Boden-
zersplitterung verarmten Dörfler fortan mit Erfolg bebanl
werden: und so entsteht eine Dorfaristokratie auf der einen,
ein Dorfproletariat auf der anderen Seite. Und das geschiehi
nicht, wie die „ökonomistische Geschichtsauffassung" es
regelmässig darstellt, weil das Land „voll besetzt", d. h. von
80 vielen Menschen braiedelt war, als es dem Stande der
Technik enUprechend ernähren konnte, sondern, weil es
durch das politische Mittel gesperrt war!
Damit ist der Ruin der Gemeinfreiheit entschiedeit.
iM,Coo<^lc
Skizze der aozial-ökoDomisohen GeBchiobtsaufTaasang. 391
Absolut geschwächt durch Verlust ihrer Wehrkraft, relativ
geschwächt im Vergleich zu der täglich wachsenden mili-
tärischen und moralischen Macht des zum höchsten Bichter
aufgestiegenen, zu ihrem erblichen Fürsten gewordenen
Orossgrimdherm, werden sie nun auch noch durch die
Spaltung in mehrere VermOgensklassen mit verschiedenen,
gegen einander streitenden Interessen gelähmt. Die Folge
ist ihr unaufhaltsames Versinken in die Hörigkeit, in die sie
teils freiwillig eintreten, um Land zu erhalten, teils halb
gezwungen, um den Chikanen des Oerichtsherm zu entgehen
oder in den ewigen Fehden einen Schutz zu haben, teils
gepresst durch brutale Gewalt und Missbrauch der Gesetze.
Der ewige Kriegsdienst im dynastischen Interesse, zu dem
sie jetzt gezwungen werden, während sie vorher nur im
Verteidigungskriege aufgeboten werden durften, legt durch
den wirtschaftlichen Verfall den noch aufrechten Best so
gut wie ganz nieder, und das allerletzte thut dann die Usur-
patJon der Gemeindemarken durch den zum Obermärker
emporgestiegenen Grundherrn, der das Rtlekgrat aller
Bauemwirtschaft, die Viehzucht, durch Beschränkung der
Weiderechte zerbricht
Wenn ich mich hier dor Aoadräolie dei deutschen Wirtsobaftslebeas
bediene, ao will ich durchaoa bo veretandea werden, dasa ioh ganz allge-
metne menBchiicba Oetiobicbta skizziere. Nicht nur in Europa, nein
«ach in Indien, JsTa, Japan ist der Prozees in den Haaptz&gen Töllig
gleich vertaofen.
Während die Freienschaft auf diese Weise sinkt, steigt
die alte Plebs ebeumässig empor. Denn in demselben Masse,
wie das wirtschaftlich-politische Interesse des Fürsten eich
gegen seine eigenen kleineren Stammesgenossen wendet, in
demselben Masse identifiziert es sich mit dem seiner un-
mittelbaren Unterthanen. Sie sind seine politische Macht;
ihre Arbeit schafft ihm die Mittel, seine Garde zu unter-
halten, ihre Arme schwingen seine Schwerter. Aber nicht
nur ihr Gedeihen ist seine Macht, sondern auch seine Macht
ist ihr Gedeihen. Die Interessengemeinschaft ist reziprok;
denn nur, wenn ihr „Herr" emporsteigt, können sie mit-
emporsteigen, sein Fall ist ihr Fall.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
392 FrBDi Oppenheimer:
Das gilt schon von den unfireiea Ackerbauern, Ober
die der Herr seine schützende Haad bSJt, aber vor ^em
YOD den unfreien Kriegern seines Gefolges. Sie haben als
Unfreie keine eigene „Ehre", nehmen nur au der Ehre des
Herrn teil. Ihr Hass gegen die hochmütigen Gtemeinfreien
ist echt und gründlich, die ihnen Verkehr, Gemeinsamkeit
des Gerichts und Konnubium versagen. Schon deshalb
folgen sie dem FQrsten mit Begeisterung in den Kampf
gegen die Bauern. Aber dieser Hass ist noch mehr als
bloss das „Keasentiment" des sozialen Pariah: er ist der
Ausdruck eines tiefen Interessengegensatzes. Die Plebs
kann nur empor, wenn die Gemeinfreiheit zertrQimnert vird,
sie muss sie zerstSren. Und daher die unzerbrechliche
Interessengemeinschaft mit dem Pursten, der allein das Zer-
störungswerk vollbringen kann.
Das ist die Interessenwurzel der sagenverklärten „Ge-
folgentreue", die darum übrigens nichts an ihrer menschlichen
Schönheit verhert, wie überhaupt nichts thörichter sein kann,
als die Verwechselung des historischen „Materialismus", wenn
das gebräuchliche Wort hier einmal gestattet ist, mit dem
Cynismus. Die Rose ist doch herrlich, wenn auch ihre
Wurzel in den Kot taucht 1
Der Fürst selbst weiss die Interessengemeinschaft mit
den kräftigen Eepräsentanten der Plebs Überall zu würdigen.
Als seine Geschöpfe sind sie ihm sicherer als die eigenen
Gruppengenossen, die durch ihren Stolz lästig und dnrcli
rechtliche Ansprüche auf Gleichheit, sowie durch ihre
Familienbeziehungen gefilhrlich sind. Darum steigt Überall
der Freigelassene am Fürstenhofe Über den Freien, der
Ministerial Über den Edeling. Und so tritt an Stelle des
alten Volksadels der siegreichen ethnischen Gruppe ein neuer,
ethnisch gemischter Hofadel, in den der Volksadel zum kleinen
Teil eingeht, während der grossere Teil in den Kriegen
der Feudalepoche zu gründe geht, oder — die kleinen Ge-
meinfreien — in die Plebs hinabsinkt Der sogenannte ü^
adel Deutschlands ist z. B. ein Gemenge von Germanen,
iM,Coo<^lc
Skiue der Bozikl-Ökonomisohen Oeeohiahfsanffassiuig. 393
Kelten, Romanen und „Mestizen des Rassenchaos" (Cham-
berlain), die am Karolingerhofe in die Hübe kamen; der
deutsche Sehwertadel zum grossen Teile Abkömmling un-
freier Ministerialen, die von den meist aus dem Uradel ent-
standenen TerritorialfUrsten beamtet waren. Und so Überall I
deht schon so durch die politische und die in ihrem
Rahmen sich abspielende Ökonomische Differenzierung die
primitive Klassenscbeidung nach ethnischen Merkmalen all-
mählich ganz verloren, bo thut die biologische Vermischong
der beiden uraprOnglicben Gruppen den Rest Die Herren
erzeugen mit den Frauen der Unterworfenen Bastarde, die
teils in die Herrenklasse rezipiert werden, teils als kriegerisch-
revolutionäre Elemente die Widerstandskraft der Plebs stärken,
ein Gesichtspunkt, auf den schon Graf Gobineau nachdrück-
lich hingewiesen hat.
Das Schlussergebnis ist eine völlige Verwischung des
alten Gruppengegensatzes und die Ausbildung neuer Gegen-
sätze. Die Oberschichten, d. h. die sozial und wirtschaft-
lich Privilegierten werden jetzt gebildet durch Teile der
alten Siegergruppe mit Teilen der alten Besiegtengruppe;
und die ausgebeutete, Steuer und Rente bezahlende Schicht
besteht jetzt aus den Resten der alten, nunmehr stark ge-
hobenen Plebs, die mit dem Hauptteil der Siegergruppe,
den Gemeinfreien, zu einer einheitlichen Klasse, den „Grund-
holden" des deutschen Rechts, verschmolzen ist.
Das verkeant Odhflowicz, für dan der Bp&tere Elauengegeiisatz sich
iDomer noch daretellt als fiaasengegeosatE, als .RassenkampC*: eine der
Haaptwnneln eeines soziologisctien PessimiBmosl Wir werden diesen Fehler
fortan ZB. Termeiden wissen.
Um zu rekapitulieren, es geht mit der Differenzierung
in neue Klassen an Stelle der alten ethnischen Gruppen der
Zerfall des Einheit^taates in selbständige Fürstentümer pa-
rallel, die um die Vorherrscliaft und Alleinherrschaft kämpfen
und kämpfen müssen, weil das innere Bewegungsgesetz des
politischen Mittels es so mit sich bringt; weil, wer nicht
Hammer sein will, Ambos werden muss; weil das BedUrfhis
nach arbeitsfreiem Eüikommen unbegrenzt ist! In diesen
iM,Coo<^lc
391 Fr«ni Oppenkeimer;
Kämpfen der Zentralisation werdea immer wieder neue Sisr
heitsstaaten unter neuen Dynastien gebildet, die immer
wieder au der Notwendigkeit administrativer DezeutraJisatioD
verbluteu, solange es uumOglicli ist, lokale Beamte auf fest«
Besoldung zu setzen, solange man sie mit Land und Leuten
belehnen muss.
Und so wtlrde denn alles Staatsleben in einem ewigen
Kreislaufe von Organisation und Desorganisation ablaufen
müssen, wenn nicht inscwischen in dem Rahmen, den das
politische Mittel schuf, im Staate, daa Ökonomisehe MiUel
neue Differenzierungen, neue Massen mit einheitlichen Be-
dürfnissen, d. h. neue Masseukräfte erzeugt hätte, die nun
endlich jenen cbcidus vitiosus sprengen.
2. Die Entstehung des ökonomischen Mittels.
Es kann an dieser Stelle nur eine ganz grobe Skizze
der wirtschaftlichen Entwicklung gegeben werden, wie sie
durch das ökonomische Mittel der BedUrfoisbeMedigung,
Arbeit und äquivalenten Tausch, erzeugt wird. Wir kennen
den Anfangszustand, der uns hier allein zu beschäftigen
hat, den bei der Entstehung des Staates: die primitive
Bauemwirtscbaft wird meist im Hackbau betrieben {so in
fast ganz Afrika), weil die Domestikation der grossen Hbob-
tiere und ihre Einstellung zur Ackerarbeit, als Püugtiere,
erst von den Hirten mitgebracht wurde. Die Stoffveredelung
ist noch durchaus auf Hausfleiss beschränkt (Töpferei
Weberei, Zimmerer- mid Schmiedewerk.) Hier imd da ist
der Dorfgemeinde wohl schon ein auf Naturaldeputat an-
gewiesener „artizan-staff" (Indien) angegliedert Der Handel
beschränkt sich auf den Austausch von Luxusprodukten,
seltener auf den Vertrieb der Erzeugnisse von Stamm- oder
Dorfgewerben (afrikanische Schmiede, polynesische Töpferei
und Schiffswerften etc.)
Allmählich verdichtet sich die Bevölkerung auf der
Flächeneinheit unter dem Friedensschutz des Staates, und
gleichzeitig dehnt sich sein Gebiet Beides
iM,Coo<^lc
Skisze dflt Boziil-ökonomisohen Qeaohiohtsaii&ssaiig. 395
genommeQ macht eine Vergrösserung des Marktes aus. Mit
dem Markte wächst nach dem bekannten Grundgesetze der
Ökonomik die Arbeitsteilung, da ein spezialisierter Beruf
genug Abnehmer üudet, um seinen Mann zu ernähren. Die
bäuerliche Naturalwirtachaft und die „Grossoiken Wirtschaft"
der grossen Grundherrschaften giebt einen Zweig ilirer alten
gewerblichen Eigenproduktion uach dem andern an die neu
entstehenden Gewerbe ab: die von mir sogenannte „primäre
Arbeitsteilung" zwischen Landwirtschaft und Industrie schreitet
inuner mehr voran. Die Gewerbetreibenden drängen sich teils
aus politischen Gründen(SchutzbedUrfluB) teils ausökonomiscben
Gründen (Märkte) in den Städten als BUrgerstand zusammen,
die zum Teil schon vorher als feste Plätze oder fürstliche
Hofhaltungen oder Kultstätten bestanden hatten. In ihnen
greift die sekundäre Arbeitsteilung Platz: der Zimmermann
spaltet sich in Wagner, Tischler, Drechsler, Zimmerling, der
Bclunied in Schlosser, Spengler, Huf-, Kupfer-, Grobschnded
etc. ; und zuletzt die tertiäre Arbeitsteilung, die Vereinigung
zahlreicher Arbeitskräfte in einem Betriebe, die das Maschinen-
wesen, den Grossbetrieb vorbereitet. In gleichem Masse
entfaltet sich der Handel, der, je grösser die Stadt mit dem
Wachstum ihres Marktes wird, um so mehr Rohstoffe und
Kahrungsmittel aus immer grosserem Umkreise heranzuschaffen
und immer mehr Gewerbserzeugniase in gleichem Umkreise
abzusetzen bat.
Gewerbe imd Handel können schon auf verhältnis-
mässig wenig entwickelter Stufe nicht mehr ohne einen be-
quemen Wertmesser auskommen: die Geldwirtschaft ver-
drängt in immer weiteren Kreisen den alten NaturaltauBch.
Sie entfaltet sich zunächst in den Städten zu immer grösserer
Reife; hier zuerst entsteht die moderne Steuerwirtschaft,
und hier zuerst das auf ihr beruhende Wesen modernen Be-
juntentums, besoldeter Bearatenl
Sobald sich Geldwirtschaft, Steuerwirtschaft und Be-
amtenbesoldung auch auf das Gebiet der TerritorialfUrsten-
tilmer erstreckt bähen, ist jener circulus vitiosus gebrochen,
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
396 Fr&DB Oppenheim er:
der die Einheitsstaaten der Naturalwirtschaftsepoche immer
■wieder zersprengte. Fortan kann die unentbehrliche admini-
strative Dezentralisation ohne Gefahr für die politische
Zentralisation ins Werk gesetzt werden; denn niemajid ist
anhängiger und bleibt abhängiger von der Zentralinstanz als
der von ihr besoldete Betimte. Selbst der Gedanke einw
Verselbständigimg kann ihm nicht kommen, im Gegenteil,
sein Interesse ist identisch mit dem seiner Auftraggeber.
Mehr nochl Die G«ldwirtschaft ermöglicht nicht nur
der Zentralinstanz, die leitenden Beamten der Provinzen fest
in der Hand zu behalten: sie vernichtet noch dazu alle
Eeime selbständiger Gewalten, die sich etwa in ihrem Macht-
bereich noch finden mochten, schneller und gründlicher, als
die furchtbarste Btutpolitik es hätte vollbringen können. Und
zwar folgendermassen:
Das Endziel aller Handlung der kleineren Grundaristo-
kraten, die in den Provinzen in halber Abhängigkeit, halber
UnablULngigkeit als kleinere Feudalherren sitzen, ist nach
wie vor möglichst ausgiebige und gesicherte Versorgung mit
Ökonomischen GenussgUtem. Das einzige praktikable Mittel,
um dieses Bedürfnis zu befriedigen, ist in der Natm-alwirt-
schaft die möglichst kräftige Ausbildung ihrer militärischen
Macht, mit der sie von der Zentralinstanz sowohl wie von
der Plebs alles erhandeln, erpressen, erzwingen können, was
sie begehren, mit der allein sie das, was sie bereits besitzen,
verteidigen können.
Sobald aber die Geldwirtschaft durchgedrungen ist,
können sie ihr Bedürfnis viel ausgiebiger mit dem neuen
Mittel, mit Geld, befriedigen. Viel ausgiebiger; denn wenn
sie die Naturalleistungen ihrer Hintersassen fortan an die
Städter verkaufen, statt die Hunderte von Mäulern ihrer
Kriegsknechte samt Familien und Streitrossen zu fUllen, so
sind sie für ihre Begriffe ungeheuer reich und können alle
die lockenden Luxuswaren des emporgeblOhten Handels er-
werben. Sie entlassen ihre Gefolge und scheiden somit als
politische Machtfaktoren aus, und so ist auch von dieser
iM,Coo<^lc
Skfm der Borial-SkonomiBohen GeeohichtsanSaBSuiig. 397
Seite her das Feudalsystem plötzlich in der Wurzel aus-
gerottet. Die Herren selbst aber „bewirtschaften" fortan
ihre QUter, d. h. sie pressen aus ihren Unterthanen heraus,
was sie irgend können, sei es Geldrente, sei es ungetohnte
Arbeit, und drücken sie schliesslich in die ToUe, kapita-
lisÜBche Sklaverei hinab.
Daraus ergiebt sich eine Tollkommen andere Kon-
stellation der Kräfte im ganzen Staateleben. Bie urwüchsige
Interessengemeinschaft zwischen balbfUrstlicbem, zum VoU-
fOrstentum strebendem Feudfüadel und seinen Hintersassen
ist in ihr Gegenteil, einen entschiedenen Interessengegensatz,
umgeschlagen. Bildete früher Zahl und Wohlstand der
Hintersassen den Reichtum des Herrn, so ist er jetzt um
80 reicher, je mehr er ihnen entpresst, d. h. je ärmer sie
sind, und je weniger er von semen Bobemten ernähren
muss, d. h. je weniger zahlreich sie sind. — Hatte früher
die Zentralinstanz in den kleinen Feudalherrn ihre natürlichen
Gegner erbüeken müssen, so werden sie fortan ihre natürhchen
Verbündeten, da sie jetzt die Macht der Zentrale nicht ent-
behren können, um ihre ausgebeuteten Bauern in Raison zu
halten und die formellen Gesetze durchzusetzen, die die volle
Expropriation erst ermöglichen. Darum wird aus dem einst
unversöhnlichen Grundadel in aristokratischen Stadtstaaten:
patrizischer Adel, der mit dem älteren Stadtadel zusammen
Bauernschaften und Kolonien ausbeutet; und in monarchischen
Staaten wird er zum Hofadel, der den Roi Soleil umgiebt
und ebenfalls das ganze Land als ein Rittergut betrachtet,
das der herrschenden Klasse möglichst viel Grundrente zu
Bteuem hat. — ■ Und schliesslich schlägt auch das Verhältnis
der Zentralinstanz zur noch freien Bevölkerung um. Bisher
stutzte sie sie nach Möglichkeit als die ihr noch verbliebene
ßekrutierungs- und Steuerquelle und als Hebel ihres Kampfes
gegen die immer mehr aufkommenden Feudalmächte. Jetzt,
wo diese Gefahr gehemmt ist, wird auch die Zentralinstanz
um so reicher und mächtiger, je mehr ihr Steuerflskalismus
die freie Bevölkerung auspowert. So sind alle alten Qegen-
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
898 Frftnt Oppenheimer:
Sätze Terschwunden und neue eotstanden, nur durch die Um-
wälzimg von der Natural- zur Geldwirtachaft.
Mehr als diese Andeutungen lässt sich hier kaum
geben. Kur eins darf man im allgemeinen betonen, dass
der Einiluss der ökonomischen Umvrälzungen unmöglich
überschätzt werden kann. So z. B. ist das Schicksal der
antiken Staaten ganz wesentlich dadurch bestimmt wordeo,
daas sie, um den grossen Binnensee des Mittelmeers gelagert,
schon in den frühesten Stadien ihrer Feudalentwiekelung,
ihres „Mittelalters", die Geldwirtschaft des Orients von den
HandelavSlkem Übernahmen. So kamen sie unmittelbar zur
kapitalistischen Sklavenwirtschaft, an der sie zu gründe
gehen raussten, ganz wie im Norden ein Jahrtausend später
Polen dfu'an zu gründe ging, dass es die Geldwirtechaft
erhielt, ehe seine Feudalentwickelung in der Bildung fester
BtaatUcher Territorialherrschaften und eines freien städtischen
Mittelstandes zur Reife gelangt war. Im westliehen Europa
aber fand die Einführung der Geldwirtschaft überall ein
solches voll entfaltetes Feudalsystem vor; und daher konnte
hier die Sklaverei überwunden und ein neuer Fortschritt der
menschhchen Gesellschaft angebahnt werden.
DasB zu diesem glöcklicheo Ausgange noch muicberlei mitwirkte:
die nngeheare Grösse des Siedüllandes im Vergleich mit der BevöHLeniDg,
das Christentnm mit seinem an zerstörbaren demokratiaclion Oleiobheitsbem.
das aber vor allem such die rolgeaschnere Spaltang der weitlichen and
geistlichen Macht erzeugt«, in deren "^'ettkampE die Völker den tertios
gaadens a^ertpu, veiL namentlich das Taba der Suporetition ins Wanken
gen'et; ferner der antike Hnmanismns mit seiner kosmopolitiBohen Wiesen-
sobaft und Philosophie, vielleicht auch ein Stück Rassenbegabang der
Oennanen: das soll wahrlich nioht verkannt werden Doch es ist hier nicht
der Ort, es in behandeln. Es gehört in eine spezielle Uesohiohtsdar-
Btellnng, nicht iu eine allgemeine Oesohiohtsphiiosphie.
3. Das Spiel der Kräfte im entfalteten Staate.
(Klassen, Klasseninteressen und Klassenkampf).
Nachdem wir so in einem, so weit es die enge Ver-
schlingung des Kausalkomplexes zuhess, isoherenden Ver-
fahren die beiden Mittel der Massenbedürfnisbefriedigung
einzeln betrachtet haben, ist es möglich, in einer kombi-
iM,Coo<^lc
Skizze der sozial-fikonemisohen OeachichtsanrfaHsting. 399
oiereDden Betrachtung eine allgemeine Darstellung der be-
wegenden Kräfte des entfalteten Staates zu skizzieren.
Es besteht ein fUr alle Staatsangehörigen ungefähr
gleiches Maesenbedürfinis, ich nenne es das „Oemeininter-
esse", das mit gleichen Mitteln gleiche Endziele erstrebt.
Es beschränkt sich ganz wie beim primitiven Staate auf
militärischeD Schutz nach aussen und auf Rechtsschutz und
etwas Wohlfahrtapolizei nach innen. Die Plebs muss tot
den äussersten Ausschreitungen der Herrenschicht, diese
vor Empörungen der Plebs geschützt werden, beide gemein-
sam haben das gleiche Interesse an der Vermeidung von
Bürgerkriegen mit ihren Verwüstungen, und ebenso daran,
die auswärtigen Kriege im Feindeslande auszufechten.
Neben dem Gemeininteresse wirken die SonderbedUrf-
nisse der verschiedenen Massen, die ich von jetzt an, da die
etimischen Gruppen nicht mehr existieren, als Klassen,
deren KlassenbedUrfoisse ich als Klasseninteressen be-
zeichnen werde.
Unter einer Klasse verstehe ich einen Teil eines im
Staate organisierten Volkes und zwar eine durch ein ge-
meinsames wirtschaftliches Bedürfnis zu gemeinsamer Hand-
lung gedrängte, und daher vermeintlich von gemeinsamen
bewussten Motiven geleitete Menschenmasse, die mit anderen
„Klassen", d. h. anderen, durch ein anderes gemeinsames
wirtschaftliches Bedürfois zu gemeinsamer, anders gerieb*
teter Handlung gedrängten Menschenmassen ein Volk zu-
sammensetzt (das, wie gesagt, auch wieder nichts anderes
ist, als eine grössere durch ein gemeinsames wirtschaftliches
Bedürfnis zu gemeinsamer Handlung gedrängte, entsprechend
„motivierte" Menschenmasse).
Wir erkennen jetzt die dritte Gliederung innerhalb der-
jenigen menschlichen Massen, die als geschichtlich handelnde
für unsere Betrachtung von Interesse sind. Ihr mecha-
nisches Element ist das Individuum, ihr organisches
dement die Familie, und schliesslich ihr politisches
Element die Klasse.
iM,Coo<^lc
400 Fiani Oppenheimer:
Die Feststellung ist sehr wichtig. Demi sie belehrt
uns über eine neue Bichtung des Bedürfnisses der Lebens-
ftirsorge. Wie der Mensch als G-eseUschaftsatom für Mch
selbst, die Erhaltung des individualea Lebens, handelt, wie
er für das organische Element, dem er angehört, i^mlich
flir seine Familie im weiteren Sinne, d. h. ausser für Weib
und Kind ßir die blutsverwandte Horde sich einsetzt, im
BedUrfiiis der „Erhaltung der Art", so identifiziert er auch
sein Interesse als politisches Wesen mit dem seines politischen
Elementes der Gesellschaft, der Klasse. Und zwar handelt
er derart aus einem Triebe, der gerade so wie die ersten
beiden als ein durch Anpassung und Selektion erworbenes
zweckmässiges Orgtm für den Kampf ums Dasein aufgefasst
werden muss. Denn der Mensch als pohtisches Wesen ist
ebenso undenkbar ohne die Emgliedenmg in eine Klasse,
die ihm im Kampfe um die Existenz den RUckea deckt, wie
als organisches Wesen ohne die EingliedOTung in die
Familie. —
Dass die ersten „Klassen" nlchte anderes sind, als die
bei der Bildung des Staates aktiv und passiv beteiligten
ethnischen „Gruppen", zeigt, durch welchen kontinuierlichen
Seelenprozess das Bedürfnis der „KlassenfOrsorge" entstanden
ist, das eine so mächtige Bolle in der Geschichte spielt
Wir werden fortan, da der ethnische (Gegensatz so schn^
verschwindet, nur noch von dem rein pohtischen Q«gensatz
der aus gleichen ethmschen Elementen gemischten Bang-
und Vermögensklassen handeln.
Das „Bedürfnis" jeder einzelnen Klasse stellt eine reale
Menge assoziierter lebendiger Kraft dar, die mit einer be-
stimmten Geschwindigkeit auf die Erreichung eines bestimmten
Zieles hindrängt. Die Klasaeuinteressen samt dem Gemein-
Interesse sind also in buchstäblichster, streng mechfuiiscfaer,
nicht etwa bloss bildlicher Darstellung, die bewegenden
Kräfte des Volks- und Staatslebens. Wenn wir vom
Gemeininteresse absehen, das in den bisherigen Geschichts-
auffassungen mehr als genügend berücksichtigt worden ist,
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
Ski US dar social-ÖkoiKimisalieii OaBohiohtsanRaSBDDg; 4OI
SO ergiebt uns die Betrachttmg der Klasseninteressen das
folgende Bild.
Alle KlasseüiuteresBen haben ein gemeinsames
Ziel, das Gesaraterzeugnis der auf die GUterher-
stellung; gewandten produktiven Arbeit aller Staats-
angehörigen, d. h. das Erzeugnis des „ökonomischen Mittels".
Mit anderen Worten: Jede Klasse erstrebt einen mSg-
lichst grossen Anteil am Nationalprodokt; und da alle das
gleiche erstreben, bildet der Klassenkampf den Inhalt aller
Staatengescbicbte (immer abgesehen von den Handlungen
des Gemeininteresses.) Wir haben zwei Gruppen zu unter-
scheiden: die der bevorzugten Klassen, die einen Anspruch
auf mehr Guter aus dem Natioualprodukt haben, als ihre
eigene Arbeit erzeugt hat; und die Gruppe der ausgebeuteten
Klassen, die einen Teii des Erzeugnisses üirer eigenen Arbeit
an jene abzutreten gezwungen ist.
In jeder Oioppe köonen noh mehrere reisohiedene ElasBeii finden.
Zum BeiapiEd haben wir im EeitgenSasisohea Deutsahluid mindesteuB drei
renchiedene bevoraogte KUsaen: die der groaaen Hagoaten, deren Inter-
etae ebenso aehr mit der Qnmdreote, wie mit der ^brik- nnd Hüttenrente
varknüpft ist; sweiteoa die der kleinen Landjunkar, die nur an der Omnd-
rente, und drittens die der Orosändaatriellen, die neu mit der Indnetrierente
vorknöpft sind. Ke ansgebeotete Klasse nmfaset mindesteoa die Klain-
bananiUaaae, die Landarbeiterklasse, die Indastriearbeiterkiasae and die
Uehnahl der niederen Staat»-, Gemeinde- nnd Privatbeamteu.
Dazwischen stehen Übergangsklassen, die nach oben
hin Tribut zu entrichten haben, ihn aber von unten her
wieder einziehen dürfen: Grossbauem, die zwar übermässig
zu den Steuern beitragen müssen, mit denen die privilegierten
Klassen ihre SonderbedürMsse befriedigen, die aber Land-
arbeiter ausbeuten; kleinere Industrielle \md Handwerker,
denen Industriearbeiter und Privatbeamte die Steuern er-
setzen müssen u. s. w. Ja, ein Individuum kann mehreren
Klassen angeboren: ein adeliger Subiütembeamter mag eine
Tochter im Adelsstift versorgen und als städtischer Haus-
besitzer seine Mieter ausbeuten.
Die Klassenangehörigkeit entscheidet auf die Dauv
über die Parteiangehörigkeit. Eine Partei ist nichts
n,g,t,7l.dM,COOglC
402 Frani OppODheimer:
anderes als die organisierte Vertretung einer Klasse.
Wo eine Klasse durch die ökonomische oder politische
Differenzierung in mehrere Klassen mit verschiedenen Sonder-
interessen zerfällt, zerMlt in KOrze auch die ent^recheode
Partei in mehrere junge Parteien. Wo ein alter Klassen-
gegensatz durch die soziale Differenzierung (darunter
fasse ich politische und ökonomische fortan zusammen) ver-
schwindet, da verschmelzen in KUrze auch die beid^ alten
Parteien zu einer neuen.
Alle Parteipolitik bat zum Ziele, ihrer Klasse einen
möglichst grossen Anteil am Nationalprodukt zu schaffen.
Das will sagen: die Gruppe der bevorzugten Klassen will
ihren Anteil mindestens auf seiner alten Höbe erhalten, wo-
möglich noch vermehren; das Ideal ist, den ausgebeuteten
Klassen nur gerade die Existenz und Prästaüonsßhi^eit
zu lassen und das ganze Mehrprodukt der mit wachsender
Volksdicbtigkeit und Arbeitsteilung ungeheuer vermehrten
Ergiebigkeit des ökonomischen Mittels zu beschlagnahmen.
— Die Gruppe der ausgebeuteten Klassen will ihren Tribut
höchstens in alter Höhe weiter entrichten, das gesamte
Mehrprodukt der entfalteten Wirtschaft aber unter sich zur
Verteilung bringen; womöglich i^er den Tribut auch noch
absolut vermindern. — Und die Gruppe der Übergangs-
klassen will nach oben hin höchstens gleichviel, womöglich
weniger abtragen, von unten aber mindestens gleichviel, wo-
möglich mehr erhalten.
Das ist Inhalt und Ziel des Kampfes. Sein Mittel ist
zunächst für Jahrtausende der Verfassungskampf. Nichts
ist den Beteiligten klarer, als dass das „Becht" die Ursache
der verschiedenen „Berechtigungen" ist. Die bevorzugten
Klassen sind bis fast auf unsere Zeit die rechtlich pri-
vilegierten Klassen. Um diese Privilegien dreht sich der
erste Kampf. Die Klasse der privilegierten Gruppen wollen
sie konservleren, sind „konservativ", die der ausgebeuteten
Gruppen wollen sich davon liberieren, sind „liberal''. Der
Yerfassungskampf wäre überall schnell entschieden ohne die
iM,Coo<^lc
Skizie der soiial-öbonomisohen OesohiobtaanlEassiuig. 4^
Taktik der Übergangsklassen. Diese sind als Yortruppeo
der Uberaleo Hauptmacht so lange liberal, bis sie ihre
Tributpf liebt abgeschüttelt haben; dann wenden sie die
Waffen gegen die alten Kampfgenossen, werden konserrativ,
um ihre Tributrechte zu verteidigen. Da die soziale Diffe-
renzierung immer neue Übergangsklassen erschafft, zieht
sich der Verfassung^ampf sehr in die Länge.
Je nachdem das nächste Ziel des Kampfes die Durch-
setzung oder Beseitigung eines ganz bestimmten Privilegs
ist, gruppieren sich die Parteien zum Kampfe. Die ver-
schiedenen EJassen der Gruppe der Privüegierten gehen
meist zusfumnen, kSimen sich aber auch heftig bekämpfen
und dabei ihre Bundesgenossen in den Übergangsklassen
oder gar den unteren Klassen suchen: hier reproduziert sich
der internationale Kampf der ursprunglichen Adelsgruppen
der primitiven Kleinstaaten um die Beute im intranationalen
Leben. — Die Übergangsklassen fechten bald gemeinsam in
einem Lager, bald spalten sie sich, um hier die oberen, dort
die unteren Klassen zu verstärken. Jedesmal wird die
Handlung durch das Klasseninteresse, das KlassenbedUrfiois,
gelenkt; nicht immer richtig, denn Parteien sind unter Um-
ständen ebenso km^sichtig, wie die Männer, die sie fahren,
können auch ebenso gut wie Einzelne für fremde Interessen
gemissbraucht, getäuscht werden. Aber auf die Dau^ fOhlt
doch der Instinkt jeder Klasse, wo sie -der Schuh am heftigsten
drttckt, und strebt nach Erleichterung.
Die antake Welt kommt über den politischen Ver-
fassungskampf nicht hinaus. Sie geht an der Sklavenwirt-
Bchaft, dem politischen Mittel xor' i^ox^v, zu gründe. Aber
in dem modernen YOlkerleben konunt einmal eine Zeit, wo
die alte Zwingburg des politischen Mittels bis auf wenige
Beste im Yerfaseungskampfe gebrochen ist, wo der „Libe-
ralismus" siegreich das Schlachtfeld behauptet. Und nun
zeigt sich, dass damit nicht alles, entfernt nicht alles, er-
reicht ist, was der Liberalismus sich und seinen Kämpfern
verheissen. Das Feudalwesen ist zerstört, die bUrgerliche
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
404 Frant Oppanheimei:
Gleichheit erfochten — und dennoch hat sich in der Ve^
teilung dea NationalproduktflB, dem Objekt des langen,
blutigen Verfas&ungskampfes, wenig oder nichts geändert.
Xach wie vor lebt die grosse Masse in bitterer Armut oder
karger Dürftigkeit, in harter, zermalmender, geisttßtendcf
Arbeit, in Dump(h«t and Stumpfheit — und nach wie tot
zieht eine schmale Minderheit, nur zum Teil aus anderen
BeTtSkerongselranenten gebildet, den ungeheuren Tribut
arbeitslos ein, um Terschwenderisch zu gemessen. Es giebt
keine Privilegien mehr, und dennoch Klassen, Rlasseninter-
essen, Klassenpolitik, Klassengesetzgebong, Klassat^ustiz,
KlasBenverwaltung. Und darum herrscht nach wie Tor der
Klassenkampf.
Aber er hat sein Angesicht geändert. Er ist nicht
mehr der politische Verfassungskampf, den der Liberalismos
fuhrt, sondern der soziale Klassenkampf, den der SooidismiB
itlhrt. Er geht noch um dasselbe Objekt, um die Antdie
am Nationalprodukt, aber mit anderen Mitteln. Der Kampf
um die Verfassung tritt zurQck, mit deren Umgestaltung man
bisher in eiüem Wahne geglaubt hat, die „Verteilung" (I^
tribution) entscheidend mitumzugestalten: an seine Stelle
tritt der direkte Lohnkampf zwischen Proletariat und £x-
ploiteuren, „Kapitalisten". Seine Waffe sind nicht mehr die
politische Demonstration, die Barrikade, der Stimmzettel,
sondern der Streik, die Gewerkschaft und die Genossen-
schaft. Statt der politischen wird die wirtschaftliche Orga-
nisation das Mittel des Klassenkampfes.
So hat uns unser Überblick bis zur Gegenwart geführt
— und hier hat die Geschichtsphilosophie ihr WwkzMg
niederzulegen. Die weiteren Aufgaben, die zu lösen sind,
fallen dem zweiten Hauptteile der Soziologie, der Wiaseo-
schaft von den Gesetzen der wirtschaftlichen Bewegong,
zu. Sie allein kaim die Aufgabe lösen, in der Veigimgui-
heit und Gegenwart die wirksamen Kräfte zu erkennen md
iM,Coo<^lL'
Skills der soasl-ikoiiomiaahen OeBohiohtaKaffaBBQDg. 406
VOR dieser Erkeantnis aus eine fundierte Prognoee der Zu-
kunft unserer Gesellschaft zn fonnulieren.
Dazu ist hier nicht der Ort. Ich kann daher nur
unter VerweiBung auf die daselbst gegebenen deduktiven
und induktiven Beweise den Hauptinhalt meiner früheren
Arbeiten hier in kurzen Worten wiederholen:
Es ist ein Irrtum, zu glauben, dasB der Kampf des
Liberalismus gegen das Feudalwesen bereits beendet ist.
Noch steckt, ökonomisch maskiert, die wichtigste SchOpfong
des politischen Mittels als Fremdkörper in dem vermeint-
lich gänzlich auf dem ökonomischen Mittel aufgebauten Or-
ganismus der modemrai Gesellschaft: das Grossgrund-
eigentum; und es wirkt als Fr^ndkörper, indem es eine
spezifische Krankheit erzeugt, den „Kapitalismus".
Das Grossgrundeigentum ist nämlich ein Gebiet, Über
dem der wirtschaftliche und soziale Druck konstant ist,
der auf der BevOlkerungsmasse lastet; infolgedessen strömt
von hier aus eine ungeheure Wanderung in diejen^en
Gebiete, wo mit der BeTölkenmgsvermehrung und Arbeits-
teilung der Druck regehnässig absinkt, in Städte und
Bauembezirke ; und nur dadurch stehen hier den Eigentümern
von „Kapital" jene „freien" Arbeiter der MABx'scben Ter-
minologie immer in ausreichender Zahl zur Verfügung, ohne
deren Vorhandensein nach Mabx selbst Produktionsmittel
nicht „Kapital" wILren, d. h. „Mehrwert heckender Wert".
Alle anderen Erklärungen der Herkunft dieser „freien" Ar-
beiter sind unhaltbar, sowohl die MAüTHUH'sche, aus dem
Gesetz der Bevölkerung abgeleitete, wie die MAsz'sche, aus
dem Wechsel in der organischen Zusammensetzung des Ka-
pitals abgeleitete. Deduktion, Statistik und geschichtliche
Beobachtung beweisen eindeutig, dass die einzige Quelle
dieser freien Arbeiterbevölkerung dag Orossgrundeigentum ist.
Kun geht dieser Feudalreat rettungslos zu gründe und
zwar an seiner eigenen Einwirkung auf die freie Wirtschaft,
an der Wanderung. Die Folge der Auswanderung über die
Ozeane ist ein Sturz der Froduktenpreise, und die Folge der
iM,Coo<^lc
406 FranE Oppenheimer:
Abwauderuiig das unaufhaltsame Steigen der Löhne. So
schrumpft die Grandrente, der letzte primäre Best des
politischen Mittels, und die Quelle aller sekundären Aaeig-
Dung ohne äquivalente Gegenleistung, des Zinses und Profites,
von zwei Seiten her zusammen, und wird in absehbarer
Zeit gänzlich mit seinem materiellen Substrat, dem Gross-
grundeigentum, verschwunden sein, womit dann auch die
übrigen „Qewaltanteile" an dem Ei^ebnis des ökonomischoi
Mittels verschwinden werden.
Denn es lässt sich nicht nur theoretisch-deduttiv er-
rechnen, sondern an einer ganzen Anzahl bedeutsamer Tbat-
sachen erweisen, dass Überall da, wo mangels eines Gross-
gnmdeigentums keine Grundrente gesteuert wurde, auch die
Übrigen arbeitslosen Einkommen fortfielen, sodass ein hoher
und gleichmässiger Wohlstand aller Schaffenden bestand.
Die geschichtliche Eutwickelung hat also die „Tendenz'
zur Ausstossung des letzten und wichtigsten Feudahrstes
und zur Herstellung eines Zustandes von Wohlstand und
Gleichheit, wie ihn der Liberalismus verheissen hat.
Diese Tendenz ist nichts anderes als die Fortsetzung
derjenigen allgemeinen Tendenz, als deren Verwirklichung
fast alle grossen Geschichtsphilosophen den Verlauf der
Weltgeschichte angeschaut haben: die allmähliche Ersetzui^
des Kriegs- oder Gewaltr oder „Nomaden''-Rechtes und
seiner Organisationen im politischen Mittel des Staates und
Gflwalteigentums durch das Frieden- oder Tausch- oder
Gleichheitsrecht und seine Organisationen im Okononüscheo
Mittel der Friedensgesellschaft und des auf eigener Arbeit
beruhenden Privateigentums. Das ist das „Wertresultat"
der Weltgeschichte, das alle bekannten Definitionen der Ge-
schichtsphilosophie zusammenfasst. Das bezeichnet den Qaug
der „Kultur": die Ausdehnung des Rechtes der Gleichheit
und des äquivalenten Tausches von der Horde auf befriedete
Märkte, Marktetrassen, Kaufleute, Städte; die Übernahme
des Stadtrechtes in das Staatsrecht, in das internationale
Recht, and schliesslich die Beseitigung des letzten Bestes
iM,Coo<^lc
Bkiiio der BOUftMkonomiMbeii Oesahiobtsanffssaaiig. 407
des Gewaltrechtes durch die Folgen des grundlegenden
Freiheitsrechtes, der Freizügigkeit.
Mehr als diese Andeutungen kann ich hier nicht geben.
Ich stehe am Ende meiner Darstellung einer allgemeinen
Geschichtsauffassung. Die wichtigsten allgemeinen Formeln
der geschichtlichen Massenbewegung hoffe ich entwickelt
zu haben.
Es ist Sache der speziellen G«schichtsdarstellung
der einzelnen Vtllker- und Staatenschicksale, die Entstehung
der Klassen aus den Klasseninteressen, dieser aus der so-
zialen (pohtischen und ökonomischen) Differenzierung, und
den daraus folgenden Klassenkampf selbst zu untersuchen
und das Ei^ebnis als die Diagonale aus dem Parallelogramm
der geschichtlichen Kräfte quantitativ zu begreifen, indem
man die Zahl, die örtliche Anordnung, die innere Gliederung,
die wirtschaftliche Ausstattung u. s. w. der einzehen Klassen
aufgrund möglichst genauer Erhebungen als bekannte oder
möglichst genau geschätzte Kräfte in die Rechnung einstellt.
Bleiben unerklärte Reste, d. h. wenn der Verlauf zweier
Völkei^eschichten unter sonst gleich erscheinenden Umständen
verschieden ist, so wird man mit äusserster Vorsicht zur
Theorie der Rassen seine Zuflucht nehmen dürfen, d. h. die
Annahme machen, dass von gewissen ethnischen Gruppen
oder Mischungen (Rassen) grössere Energiemengen zur Ent-
ladung kommen als von anderen. Man wird wahrscheinlicli
Recht haben mit der Annahme, dass die RUckständigkeit
von Negern oder Australiern nicht ausschliesslich auf der
geringen faktischen Entwickelung, sondern auch auf einer
geringeren Entwickelungsfähigkeit beruht: eine gleiche An-
nahme aber für die leibUch ähnlichen kulturtragenden Völker
der weissen Rasse darf jedenfalls nur als ultimum refugium
der Erklärung gemacht werden. Vielleicht besteben auch
hier gewisse, festgewordene Unterschiede des Charakters und
der geistigen Anlagen, die unter sonst gleichen Umständen
eine verschiedene Kraft und Richtung der Massenbandlung
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
408 Franz Oppenheimer:
Terursachen. Aber das kann nur a posteriori in einer eigenen
Disziplin, der TcrgleicbBnden Rassenpsychologie, festgestellt
werden, darf aber unter keinea Umständen als Voraussetznng
a priori zum Axiom der Untersuchung erhoben werden;
sonst wird die Theorie zur „Eselsbrücke" der Historik, wie
der pythagoreische Lehrsatz als Eselsbrücke der Mathematik
fungiert, nur mit dem Unterschiede, dass er wahr ist.
Und schliesshch, wenn auch diese HilfserklSrung ver-
sagen sollte, — was übrigens nicht der Fall sein wird, da
die sozial-ökonomische Auffa^ung allein alle HauptUnien
der Entwickelung erklärt — dann erst wäre es gestattet,
die überlegene Energie von „Heroen" zm- Erklärung der
letzt«n kleinen Differenzen zwischen Thatsacben und Rech-
nung heranzuziehen.
4. Zusammenfassung der sozial-Bkonomischen Ge-
schichtsauffassung.
Ich nenne die hier entwickelte Oeschichtsauflaasong
die „sozial-Ökonomische", um durch die Zusammensetzung
anzudeuten, dass nicht ökonomische Ki^fte allein das be-
stimmende Moment der G^e8chichte sind. Welche Faktoren
dazu treten, soll durch das Wort „sozial" ausgedrückt
werden, das in dieser Zusammenstellung mit „ükonomisch"
kaum eine andere seiner vielen Bedeutungen im Hörer an-
klingen lassen wird, als die hier beabsichtigte der sozialen
Rangstufen und Klassen. Dadurch aber, dass „ökonomiscb"
als Schlusswort drai Hauptton erhält, soll angedeutet werden,
dass das (fkonomische Bedth^s, der Monomische Trieb, die
entscheidende (eigenUiche) „Ursache" der geschichüidiffli
Bewegung ist.
In dieser letzten Auffassung ist sie idraidsch mit iet
bekannten „kollektiTistischen", „materialistischen" Gteschichts-
auffassung. Sie unterscheidet sich von ihr scharf durch die
strenge Unterscheidung der Mittel der Bedürfedsbefriedignng
in das politische und das ökonomische Mittel.
Wenn Karl Masx z. B. die Gewalt fUr eine „ök<no-
iM,Coo<^lc
Bkiize der soritl-ökonomisohen Oasohichtsanfbesnac. 409
miBcbe Potenz" oder die Sklaverei für eine „ökonomische
Kategorie" eiidärt, so spricht er eine Halbwahrheit aus, die
aOe Sozial'wisseaschaft ärger Terwiireu muss, als eine Ghinz-
Unwahrheit es vermöchte, die man bald genug ^s solche
erkennen würde. Die Sklaverei ist in der That „ökonomische
Kategorie", soweit es sich um das zu deckende Bedürfnis
handelt: aber sie ist „politische Kategorie", soweit es sich
um das Mittel handelt. Wenn man hier nicht Bch9rfstens
unterscheidet, so ist es unmöglich, die wichtigsten Zusammen-
hiinge der Sozialwissenschaft zu erkennen. Es ist unmö^ch,
die Geschichte zu verstehen, wenn man nicht erkennt, dass
sie zum hauptsächli^en Inhalt die Deckung ökonomischer
Massenbedürfbisse hat — das hat die materialistische G^e-
flchiehtsanffassung zuerst in den Vordergrund des historischen
Dmkens gestellt: aber es ist ebenso unmöglich, die Wirt-
schaft zu begreifen, wenn man nicht berücksichtigt, dass sie
im Rahmen des Staates undseinea Rechtes als der Schöpfungen
des politischen Mittels, der Gewalt, abläuft. Und wenn man
das nicht erfasst, ist es auch tmmöglich, Ober die allgemeinste
Auffassung der Historik hinaus zu einer befriecUgenden Dar-
Btellnng im einzelnen zu gelangen.
Kurz, um es m national-ökonomischer Terminologie
auszudrücken: man muss sich darüber klar werden, dass
alle Weltgeschichte, soweit sie Staatengeschichte nichts
anderes ist, als der internationale und intrauationale
Kampf um den Massstab der Verteilung des durch
das Ökonomische Mittel, die Arbeit, geschaffenen
Stammes von Oenussgüterni Die Wirtschaftswissen-
schaft sucht seit lange die „Gesetze der Verteilung", und
solche existieren auch, aber nicht, wie sie glaubte, als
kausale Naturgesetze, als ewige immanente „ökonomische
Kategorien", sondern als Normativgesetze, als mensch-
liche Satzmigen, den Besiegten vom Sieger auferlegt im
Becht und der V«^as&ung des Staates, in der ursprünglichen
Verteilung der Produktivmittel, also als historische, ver-
^gBche „politische Kategorien".
n,g,t,7l.dM,COOglC
410 Fr»iiz Opponheimer:
Das iet der Hauptinhalt der sozial-Okonomischeu Ge-
schichtsauffassimg und der Sozialwissensctiaft überhaupt:
denn Historik und Ökonomik sind nur zwei verschiedme
Ansichten desselben wissenschaftlichen Objektes, des menscb-
licheaKollektiTlebensJenestelltseineEntwickelungsgeschichte,
diese seine Physiologie dar, jene arbeitet sozusagen mit
Längs-, diese mit Querschnitten ; beide zusammen erst geben
die ToUe Elrkenntois.
Das G-nmdgesetz der Bewegung haben ältere ökoDo-
misten als das Prinzip des „self-interest" oder des „Eigen-
nutzes" oder des „kleinsten Mittels" u. s. w. benannt. Ich
habe es in meinen früheren Werken anders formuhert:
„Die Menschen strßmen vom Orte höheren Bozialwirtschaft-
lichen Druckes zum Orte geringeren sozial-wirtschaftlichen
Druckes auf der Lmie des geringsten Widerstandes." Ich
habe diese Fassung gewählt, um anzudeuten, dass es sich
lediglich um einen besonderen Fall des grossen allum-
fassenden Gesetzes handelt, dem die anorganische wie
die organische Welt gleichermassen unterworfen ist; nach
dem Gase und Flüssigkeiten sich bewegen, nach dem ebenso
das Magma des Erdinneren in zerstörenden Ausbrüchen
emportritt, wie das Blut in den Geffissen der Menschen oder
der Zellsaft in den zartesten Lücken seines Gewebes strSmt;
nach dem, wie Fbiedbich Ratzsl in seiner Studie: „der
Lebensraum" jetzt wieder in universaler Betrachtung gezeigt
hat, auch Pflanzen und Tiere wandern und sich verbreiten:
von ungünstigeren zu günstigeren Existenzbedingungen!
Um Missverstandnissen vorzubeugen, sei noch hinsa-
gefügt, dass, um menschhche Massenbewegung zu erzeugen,
der Druck sowohl wie der Druckunterschied psychologisch,
als Bedürfnis, empfunden werden müssen, und dass der
letztere stark genug sein muss, um ein „GefSlle" herzu-
stellen, das das natürUche Gesetz der Trägheit, des Be-
harrens, überwindet. Femer, dass natürlich keine Bewegung
stattfinden kann, wenn zwischen dem Ort, wo die Masse
ruht, und dem Minimmn sozial-wirtschaftüchen Druckes sich
n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL'
Skiue dei MiW-ökoDomisalien GeBohichtBwgMinng. iH
nur Orte noch hSheren sozial-wirtBchafÜichen Druckes finden.
In diesem Falle führt eben keine „Linie des geringsten
Widerstandes" vom Maximum zum Minimum, und die Masse
bleibt so unbewegt, wie ein Gebirgssee, der keinen Abfluss
hat; latente Energie kann sich nicht in lebendige Kraft ver-
wandeln, so lange die Barre nicht durchbrochen wird.
„Auf der Linie des geringsten Widerstandes" strQmt
die bewegte Masse, d. h. sie bedient sich immer des „kleinsten
Mittels", um zur Sättigung des Bedürfnisses zu gelangen.
Kaum ein Satz ist in der Wissenschaft so arg miss-
verstanden worden, als dieser. Wenn ihn der Wirtscbafte-
theoretiker an der Spitze seiner Ausführungen stellt, aia
grundlegendes Axiom, dann bricht sofort der Lärm los.
„Leere Konstruktion vom abstrakten Wirtschaftssubjekt."
„Economical man!", „homo sapiens lombardstradarius",
(Soxbabt), so schallt es von allen Seiten dem Thoren ent-
gegen, der eine „längst überwundene" Wirtschaftsauffassung
wieder aufwärmen will.
Diese Kontroverse gehört in eine national-Skonomische
Auseinandersetzung. Hier sei nur gesagt, dass das „Prinzip
des kleinsten Mittels" denn doch einen wesentlich anderen
Lihalt hat, als die „historische" und die „ethische" Schule
der deutschen Nationalökonomie glauben machen wollen.
Wir brauchen unsere Untersuchungsergebnisse in Bezug auf
das Bedürfnis der Masse und ihre Mittel zu semer Befriedigung
nur noch einmal zusammenzufassen, um das zu erkennen.
Erstens umfasst das „ökonomische Bedürfnis", der
Trieb der Lebensfürsorge, weit mehr als den Trieb der
individuellen Futtersuche oder gar den Gelderwerbstrieb.
Er ist Trieb zur Erhaltung nicht nur des mechanischen
Elements der Gesellschaft, des Individuum, sondern auch zur
Erhaltung der Art, d. h. des organischen Elementes, der
Familie, und des poliüscben Elementes, der Klasse.
Und das „kleinste Mittel" zur Befriedigung dieses
komplexen Bedürfnisses der Lebensßlrsorge ist durchaus
nicht immer und überall die exakte Kalkulation des kauf-
iM,Coo<^le
418 Prani Oppenheimer:
mScnischeo Hauptbuches, sondern das kleinste Mittel ist ver-
schieden je nach der objektiven Venimstandung, in der das
Individuum lebt, Dach der politischen Organisation nnd der
wirtechafüichen Stufe, in die es eingegliedert ist, nach der
Klasse, zu der ea gehOrt, nach dem strategischen Aufmarsch
und den relativen Kräften des Klassenkampfes.
Für Jt^er und Fischer ist das kleinste Mittel die okku-
pierende Arbeit und, wenn die Bevölkerung zu dicht wird,
die gewaltsame Usurpation benachbarter E^ch- und Jagd-
grOnde. Für Hirten ist das kleinste Mittel die kriegeriache
Eroberung benachbarter Weidegründe und Versklavung ihr«-
bisherigen Besitzer, die den Siegern fortan als Weideknechte
zu dienen haben. Wo Jäger oder Hirten an wohlhabende
Ackerbauer oder reiche Städter grenzen, ist das kleinste
Mittel der Krieg und Eanbzug oder die Beraubung oder Be-
steuerung der Handelskarawanen. Für den Ackwbauer ist
das kleinste Mittel die friedliche Besetzung oder kriegerische
Eroberung neuer Feldmarken, wenn die seinen menschm-
erfUllt sind, für den Städter die Eroberung der Stätten, wo
seine Handelswaren wachsen, und die Erpressung von Frohn-
diensten und Steuern von der einheimischen BevClkeroog.
Erst unter einer ganz bestimmten objektiven Verum-
ständung, d. h. im freien Verfassungsstaate, der die „Rente*
gewährleistet, in der „kapitalistischen Wirtachalt", ist das
kleinste Mittel der Einkauf der Waren und der Arbeitskraft
auf dem billigsten, und der Verkauf der Waren auf dem
teuersten Markte, d. h. die Glewinnung von Mehrwert im
Klassenkampf der freien Konkurrenz. Nur hier gedeiht der
homo sapiens lombardstradarius und auch hier nur, insowedt
er Wirtschafter, nicht aber, insoweit er Familienvater, Staats-
bürger, Religiöser, Glelehrter oder GeBchlechtswesen ist.
Insofern sich also die WirtschaftswiBsenschaft. mit dem
Menschen, soweit er Wirtschafter in der kapitalistischea Gle-
eellschaft ist, zu beschäftigen hat, bleibt ihr gar nichts anderes
Übrig, als nur den „economical man" zum Ausgangspunkt
ihrer Darstellung zu wählen, denn sie behandelt nur seine
iM,Coo<^le
Skizze der BOiisl-UoDomisclieii OesohiobtstnifFassiiiig. 413
wirtachaftliclie HaDdlung! Dass er keine anderen, als
wirtschaftliche Handlungen ausführe, hat sie nie behaupten
-wolleo: aber diese gehören nicht in ihr Thema, sondern sie
hat sie anderen Zweigen der Sozialpsychologie zu tiberlassen.
Wenn sie sich auch damit beschäftigen wollte, so ertrinkt
alle Wirtschaftawisaenachaft rettungslos im uferlosen Ozean
der Sozialpsycbologie, die Überhaupt erst fester Baugrund
werden kann, nachdem mittela des isolierenden Verfahrens die
sozialen Schöpfungen der einzelnen Motive herausgesondert
worden sind.
Nur hat freilich die nachklassische Ökonomik den
schweren Fehler begangen, die kapitalistische Wirtschaft
als die endgültige Form des Wirtschaftslebens, als letzte
denkbare Stufe zu proklamieren. Dieser Fehler muss aus-
gemerzt werden: aber er ist keine Folge der isolierenden
Methode, wie man bisher angenommen hat, sondern eines
selbständigen Rechenfehlers. Die vier Spezies stimmen,
aber der Ansatz des Eegeldetri-Exempels ist falsch. Es ist
die Aufgabe der national-ßkonomischen Wissenschaft, den
richtigen Ansatz aufzustellen; mir hat sich hier ergeben,
dass die Konstruktion des nach dem Prinzip des kleinsten
Mittels wirtschaftenden „economical man" als Prämi^e zu
Deduktionen führt, die mit der Wirklichkeit vollkommen
übereinstimmen.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Ober die zeitlichen TerhUtnisse in der Slnnes-
walirnelimiiiig.
Tod K«b»rt Mflller» Oiessen.
n. (SohliiBs).
Inhilt:
VgrvtBlhmc ws4«n knn bwprQclMk^
Wenn man die Terschiedenen Elemente, welche in einer
Wahmehmung enthalten sein kOanen, einzeln ermittelt, so
ei^ebt sich, dass dieselben nicht gleichartig sind, sondern
daes sich bestimmte derselben, v^che wir als Empfindungs-
äiaraktere bezeichneii wollen, von andern, den Wahmehmnngs-
charakteren, sondern lassen. Die Diskussion über Empfindung
und Wahmehmung soll zurückgestellt werden, da zu der-
Belben die Besprechung gewisser Punkte erledigt sein moss,
weldie im folgenden enthalten ist.
Es ist stets möglich, eine Wahmehmungsaussage so zu
transformieren, dass sie eine zeitliche und eventuell auch
räumliche Bestimmung enthält and diesen lässt sich die Be-
dentang einer Orientierung in der Ä.U38enwelt zulegen; es
wird dann die Wahmehmungsaussage in positiver Form aus-
zudrucken sein, der Inhalt derselben ist aber stets ein Za-
Banunenhang von Elementen (Zeiten, Räumen, tactilen and
Wärme-Empändungen u. s. f.). Es ist keineswegs wesentlich
und nötig, dass die Wahmehmung eine weitere Beihe von
Torgängen bei der aassagenden Person involviere, welche zur
VoTBtellang eines Dinges fuhren mtissten, vielmehr beziehen
n,g,t,7l.dM,COOglC
416 Bobert HQUer:
sich Wahniehmung und Empfindung in gleicher Weise auf
die ÄuBsenwelt und enthalten gleich viel davon, nämlich alles,
sodass hier eine Grenze von vornherein nicht vorhanden ist.
und es erst einer besonderen Darlegung bedarf, warum die
rämnlich-zeitliche DetenninierÜieit in der Wahrnehmung eine
Überwiegende Bedeutung gewinnt fllr die Beziehungen der
aussagenden Person zu aussenweltlichen Umgebungsbestand-
teilen. Die Wahrnehmung ist ebenso primär wie die Em-
pfindung und ebensowenig abgeleitet wie diese; mfui darf
auch nicht annehmen, dass durch die räumlich-zeitliche Be-
stimmtheit die Wahrnehmung nur irgend etwas mehr in
qualitativer Beziehung enthalte als die Empfindung, da Kauin
und Zeit nicht qualitative Inhalte der Wahrnehmung, sondern
extensionale Bestimmungen in derselben sind. Zwei Hammer
schlage, nacheinander gegeben in zeitlicher Folge als Wahr-
nehmung, enthalten nach Aitensität und Qualität um nichts
mehr, als dieselben einzehen Hammerschläge nach ihren
Merkmalen als EmpfindungeD betrachtet.
Es mögen nun mehrere aufeinander folgende Hammer-
sclilSge von verschiedener Beschaffenheit gegeben sdn, wir
können dann zunächst die Empflndungscharaktere in mehr-
facher Weise unterscheiden. Zunächst ergiebt sich die
Unterscheidung disparater Empfindungen, welche verschie-
denen Empfindungsgebieten angehören, auf Grund der Er-
regung verschiedenartiger Sinnessubstanzen. Sie ist fUr das
Individttum etwas primäres und bestimmt die Qualität der
Empfindung; so sind rot und grtln primär gegebene Ftfb^
qualitäten, der Geruch von NH| und Cg Hg NO, primSr
gegebene Geruchsqualitäteo. Die Empfindungsqualitäten sind
innerhalb der individuellen Erfahrung schlechterdings oiclit
weiter reduzierbar, sie bedeuten fflr das Individuum soeu-
sagen eine Art Präformationssystem, an das alle Empfiadtug
und Wahrnehmung gebunden ist. Es handelt sich hier aber
nicht um einen mystischen Apriorismus, sondern es ist mOgUcb.
auf Qrund einer bestimmten Betrachtungsweise, welche to"
dem Gegebensein der Empfindung zu den damit identisohen
n,g,t,7i.-JM,.COO<^lL'
Deb«r die leJUloheD Verhältnisse in der SUineswihnteluiiiuig. 417
Vorgängen in den Sinnesaubstanzen fortschreitet, einen E]inblick
in das Wesen desselben zu gewinnen. Indem die Beschaffen-
heit der Sinnessubstanzen gegeben ist, bevor das Individuum
Oberhaupt Erfahrungen gemacht hat, ist auch die (^laUt&t
der Empfindung vor aller Erfahrung determiniert und voll-
zieht sich in diraer vorherbestimmten Weise im einzelnen
Erleben der wahrnehmenden Person.
Die Empfindung ist nun nicht nur qualitativ determiniert,
sondern einer solchen kommt im allgemeinen eine bestimmte
Stärke, Intansität, zu. Diese sollte aber nicht, wie vielfach
geschehen, als Empfindungsquantität bezeichnet werden, wei!
dies die Quelle mannigfacher Irrtümer der „Psychophysik"
geworden ist. Der Begriff der Ikupfindungsintensität ist
keineswegs etwas primäres, sondern eine sekundäre begriff-
liche Bestimmung der gegebenen Empfindung. Wir kommen
zu derselben erst durch Yergleichung quaUtativ gleicher
Empfindungen durch eine gewisse Art der Wahmehmungs-
aussage, welche zunächst eine Beziehung darstellt von der
Form, die Empfindung a ist stärker, schwächer oder gleich
der qualitativ ihr gleichartigen Empfindung b. Damit diese
Aussage möglich sei, muss eine qualitativ bestimmte Empfindung
in ihren Abstufungen der Intensität, imd somit wiederiolt,
gegeben sein.
Bb warde gesagt, daas die Aussaga über die EmpGndaDgsHtärke eine
Bexiehangsaassoge sei, der eine VeigleiohuDg von EmpfindaDgeQ zu gninde
liege, sodass diaae Form der SiDDesaassage als Sinaesurteil zn bezeiohaen
wäre. Te^eiobt mao die St&rke zweier BammeTHoMage, Bo buiQ etwa die
AwaagB lauten, daaa der eine etärber sei als der andere und diese kann je
nach Dmetänden mit vollsr Sicherheit abgegeben werden. Sie ist nicht ab-
h&n^g von dem Betrage der SohaLlatärken, sondern nur von dem Verhält-
nisse derselben, während jener Betrag in weiten Orenien Tarieren kann.
Der Inhalt eines solchen Urteils ist die Feetlegnng eines IntenBitlUavarbält>
Disses zweier Empfindungen, und nicht, selbst nicht relatiT, eine QnantitatB-
beetünmong von aolchen. Dadurch aber, dasB daa Inten BitAtaverhältniB sieh
als ein ,,mehr" der einen Bmpfindang and als ein „weniger" der anderen
ao&ssen läsat, daas es femer mögt loh iat, aymbolisoh das IntensitatS'
TerbAltnia in einer ausgedehnten Uannigfaltigteit darzustellen, hat man die
BastimmnngdeBlntensitatsverhältniBseB^eineqaantitBtive von EmpGiidangeD
aof^fasst In diesem Sinne ist anoh von einer Mesabarkeit der EmpSndungs-
stärken die ßede. Die Berechtigung, von den Erapfindnngsintensit&ten als
Qnanta der Empfindung zn reden, gUt also nnr in diesem mittelbaren Sbne
nnd mag statthaft erscheinen unter Wahrung der nötigen Restriktionen:
VI«ieUaluMlirlfi f. trlmunluftl. PblUu. n. BodoL MVn. t. 27
D„:,iP<.-jM,CoO<^le
418 Bobeit Hüüvr:
denn, die BeBtinuuiiDg der Merkmile dar Brnpfindnag ist tat bmIl t^w-
NtiBohen BfldfliftiiiaeD erfolgt, erst die SiDiiesphysiologie hat gos^gt, «ü
I^beahAlligkdt und '^B**ig™'e *iaa afAart tmaohriebsM Badealaiw hälw.
Bo ist aaoh dw puiso Tonnokäte Lehncabbide der Mawoag der BMpfimtoay-
Btirka nioht munittdbar dem gewabnUcheii Denken gegeben, WDden beriuil
auf wdtUnfl^ theoratisdun Oberlegnagen, denn QraMUlgm nad Dnnh-
fährangeti einer fortgeaetsten Bevision bodürfon. Für di« gewöhalKha
AnfFusing ist die qualitativ ood intenaiT ohankterisierte Empfindung adbst
OMt ein <^ial«.
Der Bmpfindmig kommen non GigeDaabaften i^ nach ««lohen im
Urteil über IntenaitätSTerhUtiiisse uidit nur eine VediUtniaaDBsaKe ist,
acndem etwa» über BeMga der Bnpbidinigen annagt Teningert mn
den Betrag einer SohaUsttrke förtgeeetit, bo kmiunt man aoUieaaliah n
einer Orenie, vo dieselbe fiberhanpt moht mehr wahrgenommen wird, diese
bexmehnet man als BmpfindnngaMhweUe der 8diallst£to: sdehe Sohwalbn
existieren — die Verhlttnisse sind im einielnen liemlioh THMhieden —
für alle Empfindnn^gebiete, die IbdBtenE derselben bemht aof allgemeinen,
nAher angebbtuen Eigens^iaften der SinneatnbBtana«).
Sind zwei Schallstärken gegeben, von denen man die BtKAaie unver-
ändert ISsst, wahrend man die sohwücliere immer at&rker macht, so kommt
man sn einer Qcente, wo b«ds Sohallatttrken nk-Jit mehr ontersoheMbar aiBi;
auf diese Weise kommt man inm Begriff der TJatersohiedsemi^iMUiidih^
als derjenigen Orenie, welcher die TTnteisoheid barkeit iweler Empfindungen
entsprioht
Auf diese Weise gewinnt nun zwei, wie Qoanta forronliflrbare Be-
stimmongen der BmpfindnnKSintenBitftt, nftmlich einerseits die Empfindungs-
Bohwelle, andereraeitB die DntersohiedsBmpßndlinhkeit Anf der Kzistena
der letzteren beruhen dann die Massmethoden der JGmpfiudong, deren An-
wendung im Qebiet dar zeitliolien Verh&itnisse der Sinueswahmehronng nadi
der Beaprachong von Sinaesanssage and Sinnesnrteil noch sn betraohtM
sein wird.
Qualität uod Intensität lassen sich als Empfiodunga-
charaktere der Extension in der Wahrnehmung gegenU>w
stellen. Unter dieser Terstehen wir die Thateache und das
Merkmal, das jedem als Empfindung charakterlBierteD Ans-
sageinhalt zukommt, dass er zeitliche und eventuell auch
räumliche Ausdehnung besitzt. Wir wollen dwnit sa^en,
dass unsere Empfindung selbst das räumliche und zeitliche
Ausgedehnte sei. Das erscheint fUr den, der sieh gewöhnt
hat, die Empfindung als etwas „Psychisches" zu betrachten,
einfach paradox, und doch ist es die einzige MögUchkeii, die
Schwierigkeiten, die sonst für Wahmehmungs- und Proj^-
üonshypothesen besteben, zu vermeiden. Wenn ich ein
Ausgedehntes, etwa einen Baum, sehe, so ist die Empfindung
nicht in mir, etwa in meinem Auge oder in m^em Kopfe,
sondern sie ist dort, wo der Baum ist, den Eäiqiflndimgs-
iM,Coo<^lc
TJeber die leitliohan VeiUHniMe in der BiimeBwifamehmiiiig. 419
und Wahraehmnngskomplex ia. jener Stelle bezeichne ich
eben aSs Baom. I>«bgeniSS8 BAge ich, die Brnpflndm^ Ist
gar nicht in dem Sabjekt, Bondern sie ist drausseii und ich
beEdchne die GeBtunintheft diar am^^ehnten, ausser mir
li^enden Bmpflndungffli als Aussenwelt and es ist mt^Hch,
den ZnsammenhaDg der Srnpfindongen aoeser mir in der
absolaten Form der WahmehmnngBatissage, ToUstSndig un-
abhängig Tom Subjekt zd formuliereii, sodass meine Em-
pflndmigeQ als Btemente der Aussenvelt aoftreten. Die
ÄDBsenwelt sind meioe Empflndnngen und meine Empfindungen
^d die AuBsenwelt, erst^es nnr, insoweit als sie. zu mir als
aoB&^ender Penon in Beziehung steht, soweit ich sozusagen
gerade der Knotenpunkt der jeweilig gegebenen, dem un-
unterbrocbenen Wechsel ausgesetzten Elemente der Wahr-
nefimang bin. AJle Amsagen Aber die Aussenwelt, soweit
dieselben flbra-hanpt der rebien £!rfohrmjg angehören, gehen
auf die Sinnesaussage zurück und wir ziehen daraus den
SchlUBB, dass die Erregung der Sinnessubstanzen selbst so
boHshaffen sein muss, dass sie, von der aussagenden Person
erlebt, Ausdehnung besitzt. Mit dieser einfachen Annahme,
daBB die Simpfindung selbst das Ausgedehnte sei, Tersohwindet
eine Ffllle von Schwierigkeiten, mit denen sich die Erkennt
nistheorie seit jeher abgequält hat Die Empfindungen
exteäeren als Ausgedehntes nicht in der aussagenden Person,
de Bind darstellbar unabhängig ron ihr als Zusammenhang
der Elemente der Aussenwelt. Diese wird zum Knotenpunkt
der letzteren, indem lüe Ausdehnungen der Empfindung nach
den Verhältnissen der Erregung der Sinnessubstanzen, gemäss
den Eigenschaften derselben gegeben sind.
So wird die Ermittelung der Grandeigenschaften der
Sinnessubstanzen, welche sich in prinzipiell ziemlich einfacher
Weise leisten lässt, zur letzten Grenze, welche dem mensch>
liehen Erkennen gegeben ist, und die Eigenschaften von
Elmpfindnng nnd Wahrnehmung enthalten die gesamte Deter-
miniertheit der Aussenwelt. So sind in ihnen die letzten
Daten gelben, welche das menschliche Ejrkennen bestimmen
27'
iM,Coo<^lc
420 Bobart HflUar:
und da die Eigenschaften der Erregang der Sinnessobstanzen
vor aller Erfahrung, die im individaetlen Erleben mOglidi
ist, bereits vorbanden sind, so sind die al^meinen Eigen-
schaften unseres Elrkenneas apriorisch bestimmt. Damit ist
aasgesagt, dass nicht die ZufiUligkeit der individaelleD
EiXistenz alle Form und allen Inhalt der subjektiTen Er-
fahnmg bestimme, sodass diese Ton bidividuum zu IndiTi-
dnnm unTergleichbar vfire, sondern es lassen sich einfache
Momente angeben, die aller individuellen Erfahrung zugrunde
liegen. Weit Über die Betrachtung der menschlichen Sinnes-
wabrnehmi^ und des menschlichen Erkenntnisvermögens
hinaus läset sich zeigen, dass die Grundeigenscbaften iet
Sinnessubstanzen die gleichen sind, und dass sie schliesslich
zurückgeben auf die Eigenschaften der lebendigen Substanz
Überhaupt, sodass die Ekßrteruug dieses Begrilfs die funda-
mentalste und letzte Aufgabe ist, die wir zu leisten im
Stande sind.
Es wäre nun unstatthaft, auf grund dieses sinnesphy-
siologischen Äpriorismus so zu schliessen, dass mtm sagt,
dass, wenn alle Merkmale von Empfindungen und Wahr-
nehmungen durch die Beschaffenheit der Sinnessubstanzen
bedingt seien, die Komplementärbedingung nach Art eines
Dingbegriffs gedacht werden mflsste, der jeder positiven
Besümmung unzugänglich ist, da er selbst nicbt Gegenstand
der Erfahrung sein kann. Eine derartige Folgerung würde
dem Satz widersprechen, dass Wahrnehmung und Wahr-
genommenes schlechthin identisch sind, da sie das Wahr-
genommene um etwas vermehrt, was selbst niemals in die
Erfahrung eingehen kann. Indem wir aber den primären
Charakter des Dingbegriffes im Bereich der Erfahrung ah-
lebnen, indem wir also das primäre Gegebensein, die Irre-
duzibilität und Notwendigkeit eines ^ die Analyse des
aussenweltüchen Geschehens zu verwendenden Substanz-
begriJTes bestreiten, haben wir erst recht keinen Qrund,
denselben als ausserhalb aller Erfahrung liegenden Grenz-
begriff einzuiUhreu. Auch der Begriff der lebendigen Sab-
n,g,t,7l.dM,.COOglC
UvbsT die EeiUiohen VeriiAltniHBa in der Snueewtümiehiiniiig. 421
Btans wird sich als empirische Eegriffsbildung, die keine
irredosdbelen Bestandteile enthält, späterhin erweisen, und
vir huldigen nicht im geringsten Titalistischen Anschauungen.
Wir sind der Meinung, dass die gesamte Analyse des ausser-
veltlichen Geschehens im Bereich der Erfahrung eines dog-
matisch formalisierten SubstanEbegriffes (als Materie) wie
ebenso der Einführung eines Kraft- oder Bnergiebegriffes
vollständig entraten kann, dass weder der Physiker noch
der Chemiker derselben bedürfen. Wenn also im TOrliegenden
der transzendentale Bealismns abgelehnt wird, so sind vir
weiterhin dffl* Ansicht, dass der erkennbiistheoretische Idea-
lismus eines BKasBLBT ebenso abzulehnen sei; dieser ist
schliesslich gezwimgen, die G^emeinschaft aller menschlichen
ErkenntnisvennOgen in Gott zu Hilfe zu nehmen, um die
Identität des Erkennens bei verschiedenen Individuen über-
haupt zu begründen. G^ea diese Form des Idealismus
spricht nun, dass alle Empfindung und Wahmehmimg unter
einem absoluten Zwuige stehen. Dieser Zwang der Sinnes^
Wahrnehmung ist als ein letztes. Dicht weiter ableitbares
Faktum anzuerkennen und er ist es, an dem jede ideatütische
Philosophie zerschellt.
Dieser Zwang ist es «eiteihin, aof dem in Jedem einsolnen ge-
gabeneji FaUe von Wihrnehmong nnd Empfindnng die Uöglichkeit identisuw
SiDnesaiissagen Terachiedener Penonen beruht und ea erdSoet sieb hier
e gewaltige PerepektiTe, \tm der aoe die theoretieohe HQgliohkeit eine«
cenunerdoms von Henschen Teretaiidlitdi wird (theoretiaolie WiderIc«iiDg
dea SolipuBinas). Indem ich bei aei Wabmebmnog etwa «nee Olooken-
tonae anä Ornnd der Rmrthiffnnhntt mmner Sinnesenbetanxen nnd dea Qe-
gebenseins der Komplementirbedingnng nnter einem eindeutigen Zwange
ttebe, der meine Wehmehmong bestimmt, kann ich unter denselben Yer-
hUtninen Ki uaoh eine andere Penon eabetitnieren, welohe, da System-
beeobaffeDheit ond EomplemenUrbediogmig dieselben sind, notwendig die-
selbe TahiDehmnngmueaM produieren mnes, wie ich; oder ich kann
■odreneils die gegebene IdentitU der Sinneeanssage benatsen, nm die
Bjatembeadiaffeobert der SinneBBubetuuen, indem ich die mir alt selbst
^nagender Peiwm gexogene Grenze, übergehend auf eine andere ansaagenda
Penoo, Sbendireite, (eventiiell TarRleiohend) nntersnohen, oder ieh kann
«chliowlioh lUe Sinseaannage einer beuebigen Person snr Bn^ttelnng weiterer
VeAlhnieae der EomplementftrbediDgnne benatzen.
Hier Mbeint mir die Lteke in den Ansführon^ Haoss in seiner
Analyse der Empfindungen zu liegen, dass sieh, sowie man einmal Em-
pfindm^ und WaAmehmnng bezogen auf die mliniehmende Penon bei ihm
"■* Aoge fasat, dieselben siuh in rön subjektiTe Phänomene yerwandeln.
iM,Coo<^lc
422 Robert Malier:
■odaa dia gstegeotliotw Idsotifixienuv MineB BtaqdMUiktM mit im
BerkeleyB, Qber die er sieh beUagt, in der Hist maaäuul nihe liegend
BOnug lat
Der ZvangBcharakter in der eiiuelnen W^irnehmnng
isL im Ablauf derselbea gegeben und im Voratflllon und
Denken in keiner Weise vorausbeBtimmbar, ebenso wenig ist
er ableitbar aas der Beschaffenbeit der Sinnessubstanioi.
Wir ei^ennen diesen Zwang in nnserer Analyse der Wahr-
nehmung an, indem vir rein deskiiptiT die WahmehmuigB-
aoBsage als durcb einen ausserweltlichen Umgebungsbeetand-
teil bedingt darstellen, womit gesagt sein soll, dass wir die
Bedingungen eines bestimmten gegebenen WahmehnnmgB-
Torganges nicht auf Gnmd des Oegebenseins der aussagen-
den Person allein abzuleiten vermögen. Dass wir diese Be-
dingung selbst als einen ausserweltlichen Umgebungsbestaiid-
teil auffassen, ist, wie aus dem folgenden sogleich errä(^tlich
werden wird, durch die Beschaffenbeit der Wahm^nDang
selber bedingt, indem dM^elben die EJigenschaft der Extenson
zukommt. Indem wir die Wahrnehmung als in dieser Weise
bedingt beschreiben, behaupten wir keineswegs, dass ein reales
G^egebensein einer Aussenwelt Gtrund des Zwangschan^lers
der Wt^imehmung sei (Ablehnung des naiTeo RealinoDS).
Darüber etwas zu sagen bin ich ausser stände, da icti damit
die festgelegte Grenze des Standpunktes der reinen Erfahning
tlbwschreiten würde; ich sage vieiraehr nur, die Sinneewahi^
nehmung steht unter einem Zwang, dessen Bedingungen auf
Grund des Gegebenseins der wahrnehmenden Person avi
zum Teil, nämlich hinsichtlich der Eligenschaften ron Gdi-
pfindimg und Wahrnehmung, ableitbar ist Da der ^emiL-
niBtheoretische Idealismus alle Realität und alle ErkEumtois-
bedingungen dem Subjekt beilegt, lehnen wir ihn ab, da dff
erkenntnistheoretiscbe Realismus eine substantielle Existeni
der Aussenwelt in irgend welchM* Form behauptet, und vir
diese nicht anerkennen, ist unser Standpunkt auch von diesem
fundamental verschieden. Als gegeben seh«i wir nur die
Sinneswahmehmung in ihrem Ablauf an, welche ZwaogS'
Charakter besitzt. Ihr kommt in gewissem Sinne die Be-
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
üeber die leittiohan TeitiiltiüsM in der Snnaewalirnehmtuig. 423
deotang dar Aussenwelt eu, and sie ist mit dem auseerwelt-
iieben G^escb^en identisch, isdem eine Aussage desselben
eine Wahmehmungaaussage in positiver Form ist.
Wir kriirea zur Besprechung der Extension als Eigen-
schaft der Wahrnehmung zurück. Die zeitliche Ausdehnung
ist gegeben als Hertaual der Empfindungen aller Sinnesgebiete,
sodass die Erörterung derselben eine allgemeine Eigen-
sehaft jeglicher Empfindung zum .Gegenstand hat. Die räum-
liche Etxtensiou kommt vorwiegend nur bestimmten Sinnes-
gebieten, nämlich einerseits den Gesichtsempändmigen, anderer-
seits derHautsensibilitfttzu, ohne Übrigens den anderen durchaus
zu fehl«i, so vie es etwa mö^ch ist, G^ehOrsempfindungen
ungeführ nach ihrem Ursprungsort zu lokalisieren. Es möge
nun ein Druckpunkt, etwa am Fussrlicken, erregt werden.
Dann hat die mit der Erregung dieser taktilen Sinnessubstanz
identische Empfindung insofern eine extensiTe Bestimmung,
als ihr ein Ort im Baume zukommt; dieser liegt fin der
Grenze des aussenweltUchen Komplexes, den wir als unseren
Körper bezeichnen, und welchem die Sinnessubstanzen durch-
giogig angehören. Die Qesamtheit der taktilen Empfindungen
des ruhenden und bewegten Körpers bildet eine stetige, ebene
dreidimensionale Mannigfaltigkeit, die wir als Tastraum be-
zeichnen.
Der Erregung der Punkte der Betina des einzelnen
Auges kommt ein zweifacher Baum wert, und zwar ein
L&^Mi- und ein Breitenwert zu, während bei der Erregung
korrespondierender Stellen der Doppelnetzhaut die räumlichen
Tiefenwerte auftreten, sodass hiermit die Dreidimensionaütät
des Sebraumes gegeben ist. An der Orientierung im Baum
partizipieren femer wahrscheinlich die von den Bogen^gen
ansgelösten Ehnpfindmigen (MACH-BBBOEB'sche Hypothese)
und weiterhin die Sinnesempfindungen bei der koordinierten
Bewegung. Wie nun auch die Beschaffenheit von Empfindungen
nnd Wahrnehmungen im einzelnen Falle wechseln mag, so
sind diese Merkmale der räumlichen und zeitlichen Extension,
welche wir als Wahmehmimgscharaktere bezeichneten, doch
n,g,t,7i.-JM,.dOO<^IC
424 Bol)«rt Malier:
stete mehr oder minder ausgesprochen gegeben. Es hU diee
zu dem Irrtum geführt, dass sich bei einer gegebenen Em-
pöndimg eine Scheidung treffen liesse in Form und Inhalt.
So v&ren nach Kaht Raum und Zeit die aprioriBch ge-
gebenen AnschauuQgsfonnen, in welche das EmpändungB-
chaos sich einordnen würde. Diese Scheidung scheint mir
nicht haltbar; unter dem Inhalt von Wahrnehmung und
Empfindung kami nicbte verstanden werden als diese selbst
im gegebenen Falle, an ihr lassen sich wohl einzelne M^-
male aufweisen und diese lassen sich generell behandehi,
aber sie lassen sich nicht als formale Bestimmungen
loslösen, es konunt ihnen, wie sie m einer bestimmten Walu^
nehmung gegeben sind, die Bedeutung von Elemraiten zu.
Als eine sinnes-physiologische Formulierung der Lehre von
den Anschauungsformen lässt sich die Statuierung des Be-
griffs der Oen^alsinne betrachten, als welche man „Baum-
sinn" und „Zeiteinn" ansah (E. H. Webbr, N. Czbkiux).
Diese Meinung hatte zunächst das bedeutende Verdienst,
dass sie die Diskussion von Raum und Zeit dort einordnete,
wo sie hingehlfrt, nämlich in die Sinnesphysiologie. Es ist
auch angängig, Raum und Zeit, da sie Elemente der Wahr-
nehmung sind, als Empfindungen allgemein zu behandehi nnd
das wollten die Autoren besagen, welche jene Termini gebildet
haben. Der Ausdruck „Generalsinne" aber scheint uns irre-
führend und deshalb zu verwerfen zu sein. Eine Raom-
empfindung, die nur Baumempflndung ist, existiert ebenso-
wenig wie eine spezifische Zeitempflndung, die nur Zät-
empfindung wäre. Raum und Zeit sind nur Elemente der
Wahrnehmung, die allerdings unter Umständen als allün
wesentlicher Gegenstand der Amsage auftreten kOnneD.
Wenn man unter diesem Vorbehalte von Raum- und Zeit'
empfindungen sprechen will, so mag dt^egen nichts ein-
zuwenden sein. Dieser Terminus weist aber auf eineD
weiteren Punkt hin : räumliche imd zeitliche Extension als Wali^
nehmungscharaktere sind in den verschiedenen SinnesgebiebBi
identisch, während dieEmpfindungscharaktere disparat mnd. So
n,g,t,7l.dM,GOOglC
ü«bat die z^tijohen TerhUtoisM in der Sinneewahniehmimg. 42B
ist der Baum ab Wahmehmungamerkmal stets eine stetige,
ebene, dreidimeDsionale Mannigfaltigkeit, die Zeit eine ein-
dimensioDide, einerlei, ob es sich um die zeitliche Deter-
miniertheit eines visuellen oder akustischen oder anders-
artigen SinnesYorganges handelt Dagegen ist eine Tonhöhe
und eine Farbe qualitativ derart verschieden, dass eine un-
mittelbare Vergleichung ausgeschlossen ist. Weiterhin be-
sitzen Raum und Zeit als Extension der Wahrnehmung eine
Reihe gemeinschaftlicher Eigenschaften.
Es mOgen nun zwei aufeinander folgende Schall-
hammerachläge gegeben sein; es ist dann ersichtlich, dass
von zwei Schlägen überhaupt nur dann gesprochen werden
kann, wenn der folgende zu dem vorhergehenden in eine
Beziehong tritt, welche als Eelation der beiden Schläge be-
zeichnet werden soll. Diese ist im vorli^enden Falle keines-
wegs selbst Gegenstand der Wahrnehmung, sondern aus der
Analyse des vorliegenden Befundes erschlossen, zunächst
als ein rein formales Verhältnis der Möglichkeit, dass mehrere
voneinander getrennte Schalleindrtlcke Überhaupt Gegen-
stand einer Aussage werden kOnnen. Indem diese Relation
zwischen zwei Schalleindrücken, die Inhalt des Wahmehmnngs-
vorganges sind, besteht, ist sie ein rein der Wahrnehmung
aogehöriges Verhältnis, das demgemäss in seiner Analyse
um nichts mehr erfordert als die Analyse einer gegenwärtig
gegebenen Wahrnehmung, sodass durch Einführung dieses
B^iriffes eine Amplifizierung des vorliegenden Thatbestandes
(etwa um einen Faktor, welcher der ausstanden Person in
dem Ablauf ihres subjektiven (Jeschehens gegeben sei) nicht
stattflndet. Im vorliegenden Falle nun besteht die Relation
zwischen zwei Sinneseindrücken von verschiedener zeitlicher
Determiniertheit, welche beiden demgemäss als anteriorer
und posteriorer sich gegenüberstellen lassen. Indem nun
die zeitliche Determiniertheit der beiden einzelnen Schläge
in der Extension der Zeit gegeben ist, so ist sie eine extensionale
Beetünmung der einzelnen Eindrücke und demgemäss die
Relation eine Beziehung zweier extensional bestimmter
n,g,t,7l.dM,COOglC
436 Robert Ufiller:
SümeseiiidrUc^e und indem sie der beschreibeode Anadnick
des Aufeinaaderbezogeaseins der beiden HunmerediUge iat,
erweist sie sich als die Cnmale Beziefaun;, die erfffllt aaic
muss, dasB eine Aussage Über auImnandarfolgBiMie Stnaes-
eindrUcke mOglich sei, dass ein folgendes zum TOrhet^efaeod«
in Beziehung trete und dass somit die Besdnmumg dei
„ä^er" oder „später" im Ablaufe dm WahmehmoBgB-
TOrganges ausgesagt werden könne.
Wenn nun bei zwei aufeinanderfolgenden Hammw-
scblägen der posteriore Eindruck der gegenwilrtig gegeb^ie
ist, ist der anteriore für sich nicht mehr ablaufend, sonden
ein abgelaufener WahmehmnngsTorgang, der zeitJicb als der
Vergangenheit angebörig detenniniert ist. Indem ^>er beide
SchlÄge Gegenstand einer Wahmehmungsauasage werdeo
können etwa von der Form: „b«de Schläge folgen nscfa
nacheinander", so änd wir in diesem Falle berechtigt, aueli
den abgelaufenen Vorgang in der Aussage als Wahrnehmung
zu betrachten. Das ändert sieh aber weiterhin , indem in
dem stetigen Fortschreiten der Zeit das zeitliche Verhältnis
einer ablaufenden und abgelaufenen Wahrnehmung zu dem
gegenwärtig Q«gebenen sich ändert Daher ist es nidtt all-
gemein angängig, eine abgelaufene Wahrnehmung schlechthin
nach Art einer eben ablaufenden zu betrachten, da sie üdi von
dieser nicht nur in der zeitlichen DeterminierÜieit, sonden
noch in einem weiteren wesentlichen Merkmal, das in uvteran
implicite enthalten ist, unterscheidet, und dies ist, dass eine
abgelaufene Wahrnehmung als Inhalt einer Aussage niclit
gegenvrtbtig unter dem Zwang der Sinneswahmehmung steiri.
Wenn also Über eine abgelaufene Wahrnehmung gegenwärtig
ausgesagt wird, so ist der Inhalt der Aussage nicht in ooem
identiB(^en ablaufenden Vorgange der Auasenwelt gegebea
und bedingt, sondern Bedingung and Inhalt du- Aussage
änd in irgend welcher uideren Weise gegeben uad vir
wollen das Gegebensein einer derartigen abgelaufen«! Wahr-
nehmung als Inhalt einer gegenwärtigen Aussage als Vor-
stellung bezeichnen.
iM,Coo<^le
üebor die iMÜiohea TwUltaisw in ikr BiuMMraluneiuiiiiDg. 427
Dm bonct, (Jan dis VoraUlnag als laliaU einor gaganwirtig mfig-
liohen 4uu^ is dei Te^uueolimt als wahTDahmaiigBTorpogKegsbrä war,
dm Sit Boiflit m emar io der Tergüigeiihett Bbg«eoliloBsenen xritutmeoKiteiisioii
■Be lUifaflsle dar TabnMhioaDg, die KnpfinitauwschanUen von QnalWK
nnd lotenaiUtt, wie extenaieule Bwttramiingqii niksmeiL In der Tor-
atollang dagegen dnd die ' länpBndtmgaohankteTe der Vahrnahmtuig nicht
—fwaia^w ud es lUgt diea aoi dem Oegebenaein dar WahrndimnuR ab
mit dam snttjektiveii kleben identisohaB Geeohehen in der anEsenwaltliolwo
Umgebung, wdohes bei dam Ablmt dar Toistelliing nicht stattfindet Da
aber die Toratatlnng eine frOber atattgetaadana Tahraehtnimg i»t, so atawl
die Smpfindnngeoharaktere als insaagbaree in danelben Weise mSglioh wie
in der damals g^envtrtig gegebenen Tahrnehmnng, sodase «noh von dnem
yatgnkUstB der Em|>flndiuigBduuaktar etwa einer Farbe (.^rttn') soa-
gaeagt werden kann; man könnte also diese Knpfindongsohuaktere iex
wabnehmnng sie Torgeatellte bezeiahoen. Diese ontenehefdeo sloh aber
Ten den in dar Wabrnehmnng gSEebenea dadnnh, dass ate der aiiiinniwi
den Person »eibit als Teil oder Inh< der Aussage, niobt aber als von
■naaen bedingter, ablsnfender ErregnngsTorgang einer Sinneecabetani und
so ab ein damit identiaohas aossenweltliohee Itacbehen gegeben ist Un
TorgeBtelltes .Orän" entbehrt also jeglicher peripherogenen, sei es auuen-
weltlioh, aei es aas der Erregvig der tiianesorgane, bedingträi Ügentfimllciii-
kat ala Kmpfindong, die io einer Wahmehmnng gegebenen Empfindnnga-
Dhanktere können als solche nicht Gegenstand der Tontellnng oder UeA-
mala von Torgestelltem werden, sie treten nnr als Hö^iohkeit von einem
Anssagbaren eines Vorgestellten auf, als möglicher Inhalt einer gegenwärtigen
Anasage anf Qrund der frfiheren Wahmehmnng, sie sind sellwt als vor-
geatellte nnr anssagbar, ntoht inhaltlich adSqoat reproduzierbar.
Wenn zwei Hammerschläge, die Inhalt einer in der
Vergangenheit stat^efundenen Wahrnehmung waren, in ihrer
zeitlichen Abfolge vorgestellt werden, so enthält diese Vor-
stellung die zeitliche Determiniertheit der Aufeinanderfolge
der Sdiläge, wie sie in der Vergangenheit als extensiTes
begrenztes Verhältnis in der Zeit gegeben war. Wenn ich
mir zwei aufeinanderfolgende SchaUhammerschläge vorstelle, so
ist dieZeit, weiche zwischen den vorgestellten Hammerschlägen
verfliesBt, für mich in meiner Vorstellung gleich der Zeit,
welche zwischen den in der Wahrnehmung gegebenen Hammer-
schlägen verfioss. Nur dann, wenn diese Gleichheit der Zeit
zwischen den vorgesteUten und den frflher in der Wahr-
nehmung gegebenen Hammerschlägen für mich erfOUt ist, ist
es mjj^ch, das vorgestellte Zeitverhältnis als identisch mit
dem wahi^enommenen auszusagen. Wo immer eine Succession
von Watunehmungen vorgestellt wird, sind die zeitlichen
Verhältnisse des Vorsteliungsablaufes dieselben wie die der
n,g,t,7l.dM,.COOglC
428 Bobeit HQllet:
froheren Wahrnehmung und das bedeutet, dass die Y<N^
Stellung in zeitlich«- Beziehung identische YerhUtniBse auf-
weist mit det Wfüintehmung, beide unterscheiden sich in
keiner Weise hinsichtUch der exteosionalen Detenmni«theit
in der Zeit Dasselbe gilt fUr die räumliche Beschafleoheit
der Wahrnehmung. Daraus folgt, dass die extensiven ESgeoi-
Bchaften der Wahrnehmung, die zeitUche und im g^^benen
Falle auch die räumhche Bestimmung adäquat vorg^teUt
werden, dass eine vorgestellte Zeit and ein vorge^ellteB
^umliches dieselbe Beschaifenheit haben wie die ent-
^irechende wahrgenommene Zeit und die entsprechende
räumlich ausgedehnte Wahmehmui^. Man bezeichnet diese
Adäquatheit im Vorstellen von Räumlichem und Zdtlichem
als die Anschaulichkeit dieser Art von Vorstellungen.
(SohlnBB der Abhandimg.)
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Zi Herden 100. Todestage.,
Ton Pwü Bwrtk* Leipng.
Uhalt:
IHe AofUHraiiK M ntloiultatbeh, itafat uMr
Vttm ynm»tmiti»Hm. ianm altUt fjiiialittittb. Bardgr IM FnAolof«.
■aDdim bi tBtBMT*' warn, adn* p^dioliiglKlw Tksoite IM dto ti
UttBk n Kur* EiMk dar nten Vannuft lud n tean KitHk 4
TlMcicta d« DrQ>nm^ d« Spmiw. S«lB Stu^nrnkt !■ der UWmrUdMn ErMk.
Am 18. Dezember d. J. sind 100 Jahre Terflossen, seit
J. G^. Hmbsib gestorben ist. Je rascher das Leben und das
Denken unserer Generation vorwärts eilt, desto notwendiger
ist es, bisweilen an die Verdienste der Vergangenheit zu er-
innern, damit wir unserer Dankespflicht uns bewusst bleiben.
Die Aufklärung war bekanntlich durchaus synthetisch,
konstmktiT. Es herrscht in ihr das System der „natürlichen"
Wissenschaften, d. h. der „Ternünftigen", die nicht auf Offen-
barung oder Geschichte, sondern auf dem lumen naturale,
d. h. der menschlichen Vernunft beruhen wollten. Der über-
lieferten Religion mid den mannigfaltigen Konfessionen war
seit Thohab Mobub, noch mehr seit Bodinus und seit Hsbbebt
von Chsebobt, die eine „natürliche Religion" entgegen-
treten, deren Ideen: (5ott, Tugend, Unsterblichkeit, Vergeltung
nach dem Tode der menschlichen Vernunft angeboren waren
und angeboren sein muasten, da man sie ja vor der christ-
hchen Offenbarung, schon im hellenischen Altertume fand. In
Deutschland wurde diese natürliche Religion durch LEimnz
ond WoLFF identisch mit der rationalen.
Parallel mit der „natürlichen Religion" dringt — noch
deutlicher als diese eine Entlehnung aus dem Altertume —
n,g,t,7l.dM,GOOglC
430 Ponl B«rtli:
das „natürliche Becht" oder das „Naturrecht" sur Clelbmg
durch. Es ist ein ideales Becht der Gleichheit und Freiheit
aller Menschen als vemfinftäger Wesen, das man den be-
stehenden positiven Hechten entgegensetzt. Altbukius grttndet
darauf seiae Gint«ilimg des Bechts und seine Lehre von der
Souveränität und von der demokratischen Staatev^assmig,
die er allein anerit:ennt. Grotius benutzt dieses Naturrecht,
das ihm mit dem göttlichen und dem vemUnfÜgeD Rechte
identisch ist, als Qrundl&ge fUr seine Forderungen auf dem
(Gebiete des Volkerrechts und des Strafrechts. Und nach
allen drei Bichtungen, besonders der staatsrechtlichen, der
strafrechtlichen, weniger der vOlkerrechtiichen, arbeiteten
ihre Nachfolger: H^bbs, Looks, Putbndobf, THoiusnifi.
MoMTBBQinBr, Bbooabia u. a. weiter, in Ansgangspunkt
und Methode wesentlich gleich, weaa auch nicht in den
Frgebniseen.
Mae dritte „naturgemässe" Wissenschaft war die natiu^
gemässe Päd^ogik. Seitdem WoLFOAse Rates ansgOTifen
hatte: omnia juzta methodum uaturae I war das System ivBaer
Wissenschaft von CotcmniTB, Looks, BouBsiun, Basbdow nnd
vielen andern immer mehr ausgebildet worden. Hier galt der
Kampf der widernatürlichen, verkehrten, „unvemtlaftigeii''
Sk^ehungsmethode des Mittelalters.
Dieselbe Geistesströmung, wie in der natürlichen Beli-
gion, dem Naturrecht, der naturgemässen Pädagogik, findet
sich wieder im „System der natOrlichen Freiheit", in da*
nationalOkonomischen Lehre Adam Smiths und schon in d(f
Theorie der Fhysiokraten, die in zwiefacher Hinsicht die
Macht der Natur anerkaimt wissen wollten, enbena, indem
sie den Boden, das natüriiche SSement d«- Produktion, als
einzige Quelle alles Beichtums betrachtet^ zweitens, indw
sie allen Beschiünkungen der Handelsfreiheit das Laisser faire-
Laisser passer! Le moode va de M-mdmel entg^;cosetiten.
Bndlich gab es ~ freilich nicht in dem Sinne, dsffi
Natur und menschliche Vernunft identisch wären — ai"^
„natorgemilBBe Heilkunde". Nachdem schon aus Dsmustk'
iM,Coo<^le
Zq Herder'B 100. Todestice. 431
SoMe eiDe „utromeohamflclie'* Heilkunde im OegeoBatze
znr „iatrochemiBohen" herror^gangen war, wurde beeonderg
TM B. DB MAHSDvniL& imd andern Ärzten eine „natarHche"
HeUmethode vertreten, die nicht von den Medikamenten,
scmdem Ton der „Heilkraft der Natur" die Genesung er-
wartete *).
So will das achtzehnte Jahrhundert, das Zeitalter der
AoftUbrang, Überall auf eigenen lassen stehen, es fOhlt sich
als das weise, erleuchtete, gegentlber den dunklen, barbarischen
^ten der Tergangenheit. Es denkt logisch, vorwärts and
hat keine Zeit, sich in die Vergangenheit zu versenken. Es
ist dämm nicht psychologisch, es bemliht sich nicht, die Ver-
gangenheit EU verstehen.
HebDeb macht eine Ausnahme. Wie Lbbbino auf dem
Gebiete der Beligion, so findet er auf allen geistigen Ge-
binten in der Vergangenheit notwendige Vorstufen der Gegen-
wart, und die Barbaren, die noch in der Gegenwart leben,
betrachtet er in vieler Hinsicht als den Kulturvölkern eben-
bürtig. Das kommt daher, dass Hrbdbb nicht Radonaüst,
sondern Psycholog ist.
Freilich ist er nicht Systematiker der Psychologie. Er
verhält sich vielmehr durchaus intuitiT und er meint, „dass
HoMSB und SoPHOCLKS, Dantb, Shakbbfbabb und Klopstooe
an Psychologie und Menschenkenntnis mehr Stoff geliefert
haben als selbst die AniBTOTKLss' und Lbibnizb aller VOlkM*
nnd Zeiten"^). Was an systematischen Mementen sich bei
ihm findet, stajnmt von Lbibniz oder von Wolkp. Wie sehr
D So Riebt ea eine iatrophrsisohe, d. b. mechatiiBohe Schule der Heil-
innBt, ID AnkDÜpfniig &n Üwaoaaxs begriiadet durch des Schotten Flrtus-
"nn (PncAnn) Elements modioinse phjBioo-matfaematiak, Haag, 1718. Tergl.
R- SoiuBR, Die Botstahnng der mechanisohen Schule in der Bailkiuide,
Leiptig, 1889, S. 30, Und Bsskasd bk Mutobtillb, der berfichtigte Ter-
Tutel der „Bieoenfabel', sagt in einem medisiDisohen Dialoge vom Jahn
i'U wörtlich: ,Ioh will der Natnr nachhelfen, niohi ihr in den Weg treten.
Geheim mittel habe ich keinea.' Yergl. P. SiKKAuii, Bebmahd bb Mjjidcvillb,
Freihnrg i. B., 1897, S. 7. Der berühmteate Arzt dieser Kohtung ist der
PttT«iokral Qümbit.
„ 'l Tom Erkennen nnd Bmp&ndea der menecliliohen Beele. 1778, ed.
Bnphaa, VIH, 8. 171.
n,g,t,7l.dM,COOglC
432 Pa^t Barth:
er auch „die dunklen und klaren, deutlichen und verworrenen '
Ideen, das Erkennen in and ausser sicli, mit täcb und ohne
sich selbst", als „taube WOrter und Klassifikationen" der
liBiBHiz'schen Terminologie bezeichnet'), so bekennt er sich
doch zu derselben Klassifikation. „Man ist gewohnt, der
Seele eine Menge Unterkräfte zu geben, Einbildung and Vor-
aussicht, Dichtungsgabe und <3ed8chtniB; indessen zeigen
viele Erfahrungen, dass, was in ihnen nicht Apperzeption,
Bewusstfiein des SelbstgefUhls und der Selbstthäti^eit sei.
nur zu dem Meer zustrfimender Sinnlichkeit, das sie regt,
das ihr Materialien liefert, nicht aber zu ihr selbst gehöre ■)."
Also wie bei LsibmizI Einerseits Perzeptionen, d. h. £hn-
pfindungen und die Reste derselben, also der Inhalt, Stoff der
seelischen Zustände, andrerseits Apperzeption, d. h. wie
Leibmiz definiert, „la connaissance räfleuve de notre 6tat in-
törieor", d. h. Bewusstsein dieses Inhalts und auch Bewusst-
sein seiner Veränderungen, woraus sich dann im Laufe des
18. Jahrhunderts Apperzeption zur äleichbedeutung mit
„Selbstbewusstsein", (Bewusstsein des Selbstgefühls und der
Selbstthäügkeit, wie Hbrdbb an obiger Stelle sagt) entwickelt
Und wie bei Leibniz, so ist bei Hbbdxb das Wollen keine
besondere Qrundfunktion neben dem Erkennen. „Ist jedes
gründliche Erkenntnis nicht ohne Wollen, so kann auch kein
Wollen ohn' Erkennen sein: sie sind nur eine Energie der
Seele"'). Und wie bei Leibniz und bei Woup strenger
Determinismus herrscht, so bei Hhbobk: „Da ist's w^irlicli
der erate Keim zur JBVeibeit, fUhlen, dass man nicht frei
sei und an welchen Banden man hafte*)."
Am wenigsten ist Hbbdbb Erkenntnistheoretiker. Da-
rum versteht er nicht die Schwierigkeit, die für Leibniz zur
Annahme der „prästabilierten Harmonie" führte; es ist ibai
keine Unmöglichkeit, dase Körperliches auf Unkörperliches
') a. a, 0. S. 179/180.
•) a. a 0. S. 196.
■) a. a. 0. S. 199.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Zn HsiAm's 100. TMeeli«». 4SS
vUe, dm am Bewegin^eB tod Dingen Emj^biehuigeii
wvden, cbtaio wenig ekie TJmiiOf^ichkeit, irie iSe Eaietetxmg
emes MtteD Kdrpen aM svekn, die eeioe Btein mnd <).
MMer Haagcl erkenntBistheoretiBcber Fähigkeit Ter-
■cMJMPt ihm vOlHg das yentBndnis Kamt'b. Den Kaht der
TorkrHlsdieii Periode hatte er in Königsberg gehört and
noch i. J. 1796, mdir als SO Jahre apSter, gedenkt er seiner
teretarend mtd bevundemd^). Aber dw Kritlsinniis blieb
änn ein Buch mit neben Siegeh. Kaut woDte die formalen
Hemeate der Erkenntnis von den materiden trennm. In
der „transEendentalen Ästbedk" aondeTt er Bamn und Zeit ais
die reinen Fonnen der Anschauung von der Anscliammg
mAsI ab, in der „traassendentalen Aniüytik'* die aligemeinsten
Begriffs, die Kat^[orien, nach denen -wir die Anscbammgen
ordnen, ron diesen selbst Aber beides ist fUr HnsDiB ein
(dtles Bemtlhen, eine unmögliche AbstTakfäon. Der Baum
bleibt ihm „nna« toste E>fahrang''>), ein „schvansblaaee
Lufttdld*, ein „gemahesNiehts*^), (obgleich andrerseits das
KMita „ein Ünbegrifr* genannt wird*)). Aach die Zeit
stammt aus der Erfohnmg, sie wird durch das GehOr wahr-
>) k. A. 0. S. l?6f.
*) Terel. Briefe sor BeOrdemag der Hamuitlt, 6. Samnihmf;, Big»
lIBCk, S. 112f. (19. Brief): »loh bake dM Biflok geDOwen, einen Fhiloupheii
(a kenneo, der mein Lehrer wat. Er in seinen blühendaten Jahren hatte
dte frObliobe Hanterkeit eineB JÜDelii^eB, die, wie ich KlBQbs, ihn ancfa in
B«B gniMirtea Alter begieiM. Beüie oBa», snm Denkni gebante Bbni war
nn £ts nnMistörbarer Beiterknt nnd Freode. Die gedankenreiGhate Hede
Imb joa Minen Uppen; Bohera und Witz und Laune standen ihm ta Oe-
bot, und Hin lehreiider Tortng war der onterlialtendBte Umgang
(Br) kam immer zurück anf onbefanicene EenutniB der Natar nnd aof mo-
'alwohen Wert dee MenKhen. Uenachen-, Tölker-, NatnrgeHchicbte, Katar-
lehre, Hatbematik nnd Krtahning waren die Qnell>'n, me denen er Beinen
Vertrag nnd Umgang belebte, Nichts Wissens würdiges war ihm gleich-
ffltig. Keine Kabale, keine Bekte, kein Torteil, kein Namen- Ehrgeiz hatte
\a für ihn den mindesten Beis gegen die Erweiterung nnd Aafbellnng der
Wahrheit Er munterte anf und zwang angenehm zam Selbetdenken ; Des-
CiroB war seinem Gemnt fremde. Dieser Mann, den iob mit grossester
barkeit und Hochachtung nenne, ist ImumxL Kam; sein Bild atebt
»ngenehm vor mir."
■) Metakritik der Kritik dw reinen Temiwft, L Lnpeig 1799. 8.
100 (ed. Suphan, XXI, 8 61).
*) Ebenda, 8. 103 (ed. Bni^an, S. 62;.
*) 8. 131, (ed. Suphan, B. 63).
I SatM. IXVn. «. 28
n,g,t,7l.dM,GOOglC
434 Paul Bartb:
genommen 1), aber auch „ein langes Nichts" genannt, wie
der Raum ein „breiteB Nichts"*). Beide, Raum und Zeit,
Bind „Phantaonen"*) und doch wieder „diskursiTe Begriffe"*).
Ohgleich bisweilen eine lichtvolle Bemerkung aufblitzt, wie
die, dasB die Dauer nicht aua Augenblicken bestehe >), kommen
ihm doch die logischen Eigenschaftea des Raumes und Aer
Zeit, ihre Homogeneität und daraus folgende KontinaitSt als
logische nicht zum Bewusstsein, „Anschauung a priori,
Formen der Sinnlichkeit, TnuiBzendent^Ssthetik", bleibe
ihm darum „inhaltlose, sich selbst widersprechende, Hbelge-
formte Worte"'). Der Beweggrund Kamt's bleibt ihm ver-
borgen.
Ebensowenig ist ihm Kaite's transzendentale Analytik
einleuchtend. Sinnlichkeit und Verstand sind ihm untrennbar
verbunden^. Kein Verstand ist denkbar ohne Verständ-
liches"), (wobei er nicht bedenkt, dass auch Kaut die AfQnitSt
des Mannigfaltigen zur Voraussetzung der „Assoziation der Er-
scheinungen" und indirekt der Anwendung dw Kategorien
macht*)); die Kategorien sind fllr Hbbdeb nicht „reine" Be-
griffe, sondern ein nachtrSglich „aus menschlichen E^kennt-
niflseu abgezogenes Fachwerk", abgezogen durch die eine
Verstandeshandlung, die es giebt : das Eine in Vielem anzu-
erkennen^"). Und da er sich in Bezug auf empirische Begriffe
Hifmb's Verwerfung des „Schemas" zu eigen macht ")i 8o ist
es folgerichtig, dass ihm der „Schematismus der reinen Vw-
standesbegriffe" bloss „eine dritte Fiktion zwischen zwei
verschiedenen Fiktionen" ist'*). Dem „Fachwerk" der Kate-
■) S. 138f. (ad. Suptun, 8. S5j.
*) 8. 3941. Die Saitea der OriKinalaosKaba stahan bei Su^an un Banda.
') 8. 347.
*) 8. lOS, S. 128.
•) S. 323.
■) Ket&kritik I, 8. 129.
^ Sbenda S. 161. 226.
■) 8. 206.
^ Kritik der reineo Vernonft, ed. Kcbrsaoe, 8. 13&, 8. 132.
■*) Metakritik 1. 8. 196, 219, 249, 269,
») 8. 274.
'•) a 270.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Zu Heider'B 100. Todeatag;e. 435
goriea Kaut's stellt er ein eigenes entgegen. Seine Tier
„Ürbegrilfe" sind: Sein, Dasein (Raum), Dauer (Zeit), Kraft')-
Diese sind aber keineavega „Stammbegriffe des reinen Ver-
standes", sondern wie der Banm durcb das Qesicht, die Zeit
durch das Oehör, so ist die Kraft (zi^Ieich mit dem Begrilfe
der Ursache und Wirlomg) durch das GefOhl, d. h. deo
Tastsinn, gegeben*). Das Sein scheint eine letzte, aus diesen
drei „Urbegriffen" gebildete Äbstr^lion, die freilich nie, wie
man erwarten sollte, ihnen übergeordnet, sondern stets neben-
geordnet ist. Die Tier Urbegriffe wendet Hbkdvb dann auf
vier „Kategorien" an: Sein (in einem engeren Sinne), Eigen-
schaften, Kräfte, Mass. Den vier Kategorien entsprechen
vier Wissenschaften: Ontologie dem Sein, Naturkenntnis der
Qualität, Naturwissenschaft den Kräften, Mathematik dem
Masse. Der Verstand handelt immer nach einer Vierheit:
Thesis, Analyse (oder Disjunktion), die zwei Begriffe giebt,
Synthesis. „Das Vierfache ist ein Actus der Seele; wer diese
Tetraktjs trennt, vernichtete das Wesen des menschlichen
Verstandes"*). Zur Begründung dieser VerteÜimg stellt
HKBDaB die Vernunft (die nur graduell vom Verstände ver-
schieden ist) als Richterin dar. Als solche „vernahm sie:
den Grund des Anbringens, Partei und Gegenpartei und
entscheidet. Die Entscheidung kehrt zum Qnmde des An-
bringens zurück, der in beiden Mittelgliedern nur geweitet,
d. i. von beiden Teilen auseinandergesetzt ward. Die beiden
Extreme finden durch Ja und Nein ihre Mitte wieder."*)
Diese Vierteilungen sind aber bei weitem willkürlicher aia
die Dreiteilungen Kants. Man wird an die späteren Tetraden
des ScheUingianers J. J. Waonbb erinnert.
Die „Vernunft" ist bei Kant der Art, bei Hbbdbb nur
dem Grade nach vom Verstände verschieden, sie ist nur ein
„anwendend höherer Verstand""). Nicht zwei verschiedene,
>) MetkkTitik I, 8. 234, 260ff. and öfter.
*) Metakritik I, a 230ff.
■) A. a. 0. 8. 266.
*) Metakritik II, 8. 170 f.
') Metakritik 0. 8. 14.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
486 ^»■■al BkTth:
^chberechtigte Methoden der Venuinft Bind es, uifi deaao
mit gleicher Beweiabarkdt These und Antithese der Anti-
nomien herrorgehen, BtHideni nach H. die Einbilduigskraft
föneneits, der Verstan d anderwseitB. In Wahiiieh verfaUt es
sich nun so, dass die ABsehatniag, also aoch die BiBbüdmigB-
kraft, die doch von dttr Ansidiauang aufigehen moss, nur die
fiidlichküt der Welt in Zeit imd Baom, die findhehkeit der
Teilblriceit der Materie, und die Endlichkeit der KaosaJrcäbe
aanelimen moss. Drain die AnBchaQimg giebt ans inmer
etwas BegTMutes, AhferchloBseDes. Der Verstand taiugegaa,
das Denken ist ja HUi^eit, aktiv, während die Anschauung
immer passiv ist Daram ist der Verstand in keine Gh'enaeB
gebannt, sondern immer im stände, die Torl&nflg ai^enommonM
<h«nzen m überBchreiten. Bu TTaRTimt T«iiUt es sich om-
gekehrt. Die Einbildungskraft ist ihm das tätige Prinzip,
das die Idee der Unendlichkeit in den oben genannten drtä
Biohtongen: der seitlichen und ränmliohen Ansdehnong, der
Teilbarkeit der Matoie und der Kausalreihe erteugt'). Der
Vwstand hingegen lehrt nach ihm überall die Endlichkeit*).
Die Bestimmung Eabt's, dass die Ideen nicht konstitotiT,
sondern r^folatiT seioQ, dass die snbstantielle Einheit der
Seele, die TotalitiU. im Zusammenhange der Ersoheisui^en
der Welt, Gott als letzter Grund alles Seienden nur eän
nUtzUcher Schein seien — das alles ist ihm „WcrtgesehwUt
transzendentaler Grillen"'). „Der postulierte Gott der kri-
tischen Philosophie, er verde als ein Hoff* oder Schreck-
gespenst aufgelUhret, ist also ein Ungott fOr die MoralitU,
Hirem auseinander fallenden S^^stem ein erbettelter Notnagel"*).
Dagegen ist der Gott, den die wahre Vernunft lehrt, die
„gewisseste Idee", die ihr Uberhanpt erreichbar ist'). Wie der
') Dft^egen io dem sogleioK Doeh n DennendoD Dialog .Gott" vM
„(ÜtB Daeadliohe der Ternontt und das Endlose der ESnbildiinlakTaft'' nnter-
sohieden. Ed. Sufhak, XTI, S. 467.
>) Metakritik ]1, S. 86ff.
•) II, 8. 213.
*) Metakritik U, S. 266.
•>. II, 8. 182.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Zn Heidai^ 100. Todeetage. 437
Dialog „Gk)tt'' >) bewnst, ist ihm diese Idee, wie bei Svixobi.,
Anfui^ und Qnmdlage aller SrkeDiitiiiB.
So wenig eindringend dieae Kritik der KAitT'schen Sr-
kenntaifitheorie ist, in einer Hinaiolit leitet ihn ein richtiger
Instinkt, nämlich in der Besorgnis, die durch die auf Ka«t
fcdgende Spekulation leider gerechtfertigt wurde, es könnte
über dem Konstruieren die Solidität des Unterhaus, die
Onindlegung durch die Brgebmsse der Emzelwiasenschaften
amaer Acht gelaasen werden. „Mit jeder Entdeckung der
Naturgeschichte und Maturlehre, der Tergleidiendea Anatomie',
Astronomie, Chemie u. f. hat die falsche Yemunft von ihrem
TrüdeLkram einen Zierrat vra-loren, indeon die wahre Ver-
nunft eine neue Formel der Wahrheit gewann" 2). Dagegen
urteilt er vom Anhänge des EritizismuB: „ Allee a priori
habend, Gesetzgeber aller Natur und Schrift, verachtet er
fortan wirkliche zumal mühsame Kenntnisse und dflnkt
sich, leer wie er ist, einen kritischen Philosophen. Diese
kritische Leerheit, diesea Stolz, der sich mit Distinktionen
brUstet, diese ÄDmassung, Natur und Kunst aus sich eot-
springen zu lassen, diszipliniere man''^).
Berechtigter als Hsbdbb's Widerstand gegen die kri-
üache Ei^enntnistheorie ist seine Gegnerschaft gegen Kant'b
Ästhetik. Hier zeigte sich Kabt's Mangel an Psychologie,
besonders an Einsicht in die Natur des Gefühls. Jedes
OefUhl ist ihm sinnlich, gleichviel aus welcher Tätigkeit, ob
aus (äaw sinnlichen oder einer intellektuellen es hervorg^e.
Darum ist ihm „em intellektuelles GeflihI ein Widerspruoh"*),
d. h. eine contradictio in adjecto; allerhOchsteDS gibt er ein
intellektuell bemrirtes Gefühl zu, wie die Achtung*). Und
obgleich er — trote dem vermeintlichen Widerspruche —
BJ^Uer von „intellektusller Lust" redete), in der Kritik der Ur-
') Zaertt 1787 ersohieuwi, ed. SrpuH, XVI, Q. 40Sff. bee. S. 488ff.
*) Metakritik II. S. 212.
») L m. 0. 8. 214.
*) Kritik der pnktiwhoa Vemonft, ed. Eihruch, 3. 141.
*) Er. det pr. V. S 90; & 96.
') Uetkphywk det Sitten, ed. KiBDWUim, 8. 11.
iM,Googlc
438 P»ol Barth:
teilsiDtdt selbst von „Geistesgeftlbl" <), waren ihm in dieser doch
das Fühlen, d. h. Lust und UnluBt einerseits, das Denke«
oder Urteilen andererseit« noch ganz und gar getrennte see-
lische „Vermögen", das erste nach der herrschenden Woi>ft'-
schen Psychologie ein niederes, weil immer aiimlich bleibend;
das zweite ein höheres, weil über die Sinnlichkeit sieb er-
hebend. Und duiim konnte das Schöne nicht dem Kelche
des QefUhls, d^ niedrigen Welt angehören, es musste in
die Sphäre des Denkens, des Urteils erhoben, in die Kritik
der Urteilskraft eingeordnet werden.
Die Trennung vom Gefühle, das immer sinnlich ist*),
musste bei Käst scharf mid bestimmt sein, damit nicht Hohes
und Niederes fälschlich nivelliert werde. Daher die strenge
Scheidung zwischen dem Angenehmen und dem Schönen, die
aber zugleich jeder Möglichkeit einer genetischen Betrachtung
des Schönen den Weg versperrt. Denn in Wahrheit entsteht
das Schöne nicht plötzlich wie eine SchOpfimg aus dem Nichts.
E^ entwickelt sich aus dem subjektiv Augenehmen allmtUilicb
als das objektiv Angenehme. Dies fohlt Herder and er, der
in den bescheidensten Anfängen der Dichtung bei den Natur-
völkern, in den einfachsten Ornamenten des primitivsten
Kunstgewerbes das Schöne entdeckt hatte, musste mch gegen
diese schroffe Scheidung Kant's erklären. „Nicht Gegen-
sätze — sagt er — sind diese Begriffe, [„Angenehm" und
„Schön"], sondern Unterschiede, davon mehrere nicht nur
beisammen sein können, sondern in den angenehmsten Gegen-
ständen beisanmien sind" 3). Und mit Recht heisst es bei
Herder: „Interesse ist vrie des Guten und Wahren so auch
der Schönheit Seele"*). Denn wenn das Schöne gefiUlt, wie
Kant definiert, so muss es eben einem Interesse dessen,
dem es gefällt, entgegenkommen. Und die ganze Bedeutung
des Gefühls ist ihm so klar, dass er auch die Übertra^^ung
■) Kr. der UrteiUkraCt, ed. EiBcimuini, B. 31.
*) Kl. der pr. V. ed. EsBituoa, B. 98.
^ KuueoHB 1. Leipzig 1800, 8. ISSf. (ed. Sothah ZXIl).
*) A. 0. a. 19&.
n,g,t,7i.-JM,.COO<^IC
Zn Harder's 100; Todestage. 43g
des G^ftlhls vom Subjekte auf das betrachtete Objekt, die
Belebung desaelben, die so sehr viel zum Interesse beitrtlgt,
die gegenwärtig so viel besprochene „Einfühlung" wohl be-
merkt hat „Die spitzen Pfeiler des Himmels rOndet die
Zdt ab; sanfte Linien fliessen von Beiden zu Bergen. Man
reiset mit ihnen; das Auge htogt au ihnen und verfolgt sie^)".
Und noch deutlicher: „Nicht uiders ftUkleo wir den GemUtfi-
charakter jedes echt gebildetMi Werkes der Kunst, den Geist,
der es bewohnt; schnell und sanft gehet er in uns Über. Mein
Arm erhebt sich mit jenem Fechterarm; meine Brust schwillt
mit jener Brust, auf welcher Antäus erdrtickt wird. Meine
Gestalt schreitet mit Apollo oder lehnt sich mit ihm, oder
schaut begeistert empor*)."
Diese Subjektivität des ästhetischen Urteils macht
Herder skeptisch gegen die Grönde, mit denen Kant das-
selbe, obwohl es zunächst nur fUr den einen, der es fällt,
and nur für den einen Gegenstand, von dem es gefiUlt wird,
giltig ist, dennoch als allgemein und notwendig wie irgend ein
Satz der objektiven Wissenschaft zu erweisen sucht. FUr Kant
ist ja alle Wissenschaft allgemein und notwendig; nicht minder
aber ist das sittliche Urteil allgemein und notwendig, so aus-
oabrnslos und einleuchtend, wie die der Mathematik^). Kein
Wunder, dass nach dem alt«n Paralielismus des Wahren,
Guten und SchOuen ihm auch das Geschmacksurteil, ob-
^eich rein subjektiv, dem Schwanken und der Bnge der
Subjektivität entiückt sein musste. E^ gründete dies auf
die Gleichheit der Erkenntniskräfte aller Menschen, auf die
„zweckmässige Übereinstimmong eines [schönen] Gegen-
standes, (er sei Produkt der Natur oder der Kunst), mit
dem Verhältnis der Erkenntnisvermögen unter sich*)". „Auf
jener Allgemeinheit aber der subjektiren Bedingungen der
Beurteihmg der Gegenstände gründet sich allein diese all-
■) Kuueoin I, B. 69.
*} EALueon II, Lupiig ISOO, 134 f.
^ VergL Kritik der r. Veinnnfl, ed. KtHBuoH, 8. I
*) Kart. Eritib der ürtmlibaft, ed. KiaoHMuni, 8. £
iM,Googlc
440 P>B.l Barth:
gemeine Bubjaktiva OUtigfceit dw WoblgeltUeas*' ■). IteA
vas «0 allgemein ist, moes sehlieaslicli aocä notveidis ad».
BestjauBt^ ausgedrückt, „die ?i^!flwnm**'<rt« mm mg des Miinig-
üitigm zu EineiQ**, die Kakt bei jeder SohSnbfHt tedafc.
erleichtttl die Erkamtnifi, den Kusammenfasseaden ÜberfaMek;
sie ist krafter^areod (was Kant freilich oirgeods sagt); danna
geßUlt sie uns. Diese Erleicbtaruag aber geedüeht unbewvaat,
ohne daas vir, wie sonst bei einer ZuBaaimenfoasung, dwofa
bewusstes Denk^ einen Begriff des Gegenstandes oder «ümd
Zweek dess^en aufstellen und ihn daran zu mesBen, sie ge-
schidit durch die blosse Anschauung, daher „die AUgeneiD-
h^t des Geschmacksurteils ohne Begrifi^. der ZweckmiMig'
keit ohne Zweck", die Herder beide so widersinnig i>4eL
Die triuifizendentalen Ideen der reinem Vernunft sind bm
Kant Begriffe ohne Anschauung, die Geschmacksurteile da«
Gegenstück, nämlich Anschauungen <^e Begriffe. Beide
können keine volle Erkenntnis geben, zu der ebeuBow<^
Begriff als Anschauung g^ört, beide sind darum ein gewiaaes
Spiel der Erkenntniskräfte, ein Spiel, das sich Heroer
nicht so ernst denkt wie Kant und duum als solches be-
kämpft. Und da er „kein Ding an sich" im Gegensatce z«r
Erscheinung annimmt, so kann er auch das „UbersinnUche
Subatrat" des ästhetischen Geschmacks, von dem Kamt
spricht, nicht Terstebeo.
Berechtigter als die Einwände, mit denen EbDU>Bm dfo
Allgemeinheit und Notw«ndigkeit des ästbetisdieB üiteib
angreift, ist seine Kritik der DeAnitJonen, <üe Kamt tob 4ar
Beredsamkeit und von der Dichtkunst gibt Bride stad
so unzulän^ch, dasa es gentigt, sie anzuführen, um Hauna's
Angriff zu veratehen: „Beredsamkeit ist die Kunst «!■
G«BcUkft des Verstandes als ein freies Spiel der BiabildangB-
kraft zu betreiben; Diehtfamst, ein freies Spiel der Wai'
blldungskraft als ein Geschäft des Verstandes aoszufOhren"*).
'} Kurs Kritik 4ar Urtiilaknft, «d. Entcaifunf, S. 69.
*) Teigl. Ebenda, a 16t.
n,g,t,7l.dM,COOglC
Za Hsrder'B tOO. TodeataKs. 441
Aveb cHa Musik hat B^amt ia ihrer ganxea Bedeutang nicht
gewQrdigt. Br findet mit Lnsm in ihrer Aikh^^img ein
uabewusBtes Rechn«u, also vie auch sonst eine «iSnstlmiQang
des Mannigfaltigen'', aber ihre Beziehung zu den Gefühlen
und YorstdlungMi, zum menschlichen Innenleben, abersi^t
er ganz. „(IMe Empfindungen der Musik) »nd nur von tran-
aitorisobem Eindrucke; die Einhüdungskralt kann jene n-
rUckmfen (die Ideen der bildenden Kflnste) und sich damit
aagenebm unterlialten. Diese aber erlöschen entweder gänz-
lich, oder, wenn sie unwillkürlich von der ISnbihlungBkraft
wiederholt werden, sind sie uns eher ISstig als angenetua."*)
I^ese äuBBerMche, rein physikaliache Auffassung weist Hjerdhb
mit Becht zurück. Die rein sinnliche Musik ist auch ihm
werüos'), aber er kennt eben noch eine andere, die Ideen
Weniger treffend sind die Bemerkungen, die Hsbdbb
gegui Kamt's Theorie des Erhabenen richtet. Diese ist
IHfaudpiell gewiss nicht verfehlt. Kamt unterscheidet be-
kanntlich das mathematisch Erhabene und das dyniunisch
Elrhabene. Das erste schlägt unsere Einbildungskraft nieder,
die aber eine gewisse GrOsse hinaus dem Denken nicht
f(dgen kann, erweckt aber grade dadurch die ganze Über-
legudieit unsra^r Vernunft, die nun die Idee der Unendlich-
kdt bildet und dfunit unsere Macht als vernünftige Wesen
uns fühlen lässt. Das dynamisch Erhabene bedroht uns zu-
nächst durch Übennass an Kraft, erhebt uns aber zuf^eich
zur Besinnung auf die noch grossere Macht des Moralgesetzes,
das über jede Macht der Natur den Sieg davonträgt. In dieser
zweitfHi Erklärung liegt offenbar eine ESnseitigkeit. Denn
die ungeheure OrOsse der Natoimacht erinnert uns woU
nicht bloss an die Macht der Sittlichkeit, sondern an die
Macht des Geistes Überhaupt, die der Natur erfolgreidi
>) a. «. 0. & 197.
^ Briefe cni BefSrderniig der HnmanHU, TU, Hin 1798, B. bl
^83. Brief): .Behüte nna also die Hoee tot einer bloeaen PMtie des Ohrs
ohne BÜiehtigDiig der Oeetklten and ihres Muses durchs Aogs.*
iM,Coo<^lL'
442 I***)! Barth:
widersteht, und oft sie menBctüJclieD Zvecken nnt^iwft.
Aber Herder verkennt alles Wahre, das in Kant'b Dentiing
liegt. Er firgert sich nur gevissermassen darüber, dass der
Ursprung der Erhabenheit aus dem Objekt in das Subjekt
verlegt wird, dass die Gegenstände der \atur nicht an sich,
sondern erst durch ouseren Gedanken erhaben seien, dass
das Unendliche nicht objektiv existiere, sondern erst von
uns geschaffea werde')-
Fruchtbarer aber, als die Kritik, ist die positive An-
wendung, die Herder von seiner p^dLoiogischen Begabnng
macht. In erster Linie ist hier zu nennen seine Theorie des
Ursprungs der Sprache. DieSprache ist ursprünglich Int«r-
jektion, „Geschrei der Bmpändungen," das noch jetzt bei
den Wilden sehr häufig, aber dem Menschen mit dem Tierr
gemeinsam sei*}. Was diese tierische Sprache zur menscb-
lichen mache, das sei die Besonnenheit (Beflexion) des
Menschen, die bewirke, dass seine Seele „in dem ganzea
Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durch-
raiificht, eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie
anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten und sich be-
wusst sein kann, dass sie aufinerke''^). So werde eines
der Merkmale eines Gegenstandes anerkannt als „Mra'kmal
der Besinnung." „Dies erste Merkmal der Besinnui^ war
Wort der Seele. Mit ihm ist die menschliche Sprache er-
funden"-*). Bei allen tOnenden Dingen, wie etwa bei deo
blökenden Schafe, biete sieh von selbst der eigentOmlidie
Ton als Merkmal dar und werde ihr Name. „Das erst«
WUrterbuch war also aus den Lauten aller Welt gesanmüet.
Von jedem tönenden Wesen klang sein Name"*). Wo aber
kein Ton ertönte, sei die Verbindung zwischen dem anderen
Sinne und dem Ohre durch ein beiden Sinnen gemeinsames
M Kalusoni m. Lnptig, 1800 (Bomu«, XXII) 6. 67 ff and a eSt
*) ITab«r dan ünpniDg der Spnohe, 2. Augam, Berlin 1789. M
BüPiuN, T. S. 16 1.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
■) BboDdk S. 34/36.
') A. %. 0. 8. 36.
Zd Heidw'8 100. Todestage. 44S
„MittelgefUhl" hergestellt worden '). So sei „Blitz" ein Wort,
„das durch Hilfe eines HittelgefQhls dem Ohr die Empfin-
dnng des UrplötzlichschneUen giebt, die das Auge hatte"*).
Dass gerade das Ohr für die Bezeichnung der Dinge der
wichtigste Sinn wurde, das erklSre sich daraus, iasa das
GebOr in jeder Hinsicht der mittlere, darum am günsti^ten
auf die Seele wirkende Sinn sei: in Bezug auf räumliche
Ausdehnung seiner Sphäre, auf Klarheit und Deutlichkeit,
aof Lebhaftigkeit, auf die Länge der Zeit, während deren
er wirkt, auf die Ver^^chkeit seiner Gegenstände, die,
weil auf Bewegung beruhend, vorübergehen und darum aus-
gesprochen werden müssen, und endlich auch in Bezug auf
seine Stellung in der Entwicklung, da es nach dem Gefühle
(d. h. dem Tastsinn) und vor dem Gesichte den Menschen
in seine Schule nehme").
Auf diese Weise wird nach Herder die Sprache kon-
stituiert. Die empirische Methode lässt sich nicht ver-
kennen. Inuner wieder betont er, man dürfe sich nicht mit
psychologischen Abstraktionen begnügen, wie Witz, Verstand
und dergleichen, sondern müsse immer, bei jeder Äusserung,
die „ganze ungeteilte Seele" als Ursache voraussetzen*). Kein
Wunder also, dass seine Schrift über den Ursprung der
Spradie von W. Wundt, dem neuesten Bearbeiter dieses
Problems, ein sehr anerkennendes Zeugnis erhält^).
Auch Herder's Bemerkungen, die sich auf die Ent-
wicklung der Sprache beziehen, sind teilweise sehr treffend.
') A. a. 0. S. 63.
*) A. a. 0. Diese ErklSniiig der WortbedentnnK kommt aehr nahe
Ml V. yfasDi'a Theorie der „iMtmet^her." Vgl W. "Wtnror, Välket-
psydiologie 1, 1, S. 326 ff.
■) Ä. ». 0. 8. 64 ff.
*) A.. a. 0. S. 29f., S. 110.
*) W. Wühdt, TSlkenwyf^ologie I, 2, S. 690: .In dieser Sohrift
HusEB't webt yielleioht mehr als in den meisten spateren Werken Aber
den ^«ohen Oegenatand der Oeiot hentiger Ps^ohologie, das Streben, das
den wahren Psyahelogen kennieiobnet, sich selbst ganz zu veiaenken in
die VontelluDgeo nnd Oefohle des Handelnden, nicht diesem die eigenen
Ueinnngen nnd Beflezionen ununnsohieben. Was SiAtare im gleichen
Binne geleistet haben, das ist daher besten Falls iait nar eine nkhei«
iostSbrong der Gedanken Hebdb's geUieben.'
n,g,t,7l.dM,COOglC
444 P^ul Battit:
Uii Sat^t findet er in den ursprOnglicfeea SpraohM 4ie
Analogie der Sinne und GefUhle m«*Uiclm, ab in ita
modernen und l«tet er daraus Uire Ym^abe filr starke mat
kühne Metaphern, ihren „HetaphenigeiEit*' und ihren Reick.-
tum an SynimTinen ab. Nidit minder richtig i^ daaa itat
ursprüng^chen ^rächen venig Abstraktionen und desto
mehr GtefUhle hab«i>), dass bei ihnen eine leise Änderung
des Accents oft einer sehr grofisen Änderung der Bedeutung
uitBIK^cbe'). Andererseits irrt er, wie es leicht eikUrliok
i^ in Sinzelheiten, Über die erst die neaere Forschung
Licht verbreitet hat. So meint er fälschlich, daas »die
Verba einer Sfurache eher sind aia die von ihnen rund ab-
strahierten Nomina" und glaubt damit ehi allgemeines Oe-
eets auszusprechen, während tatsftchlich die primitiTeo
Sprachen kein Yerbum, sondern nur Komina haben, bei ihnen
also jedenfalls das Nomen das frühere ist*). Überhaupt ist die
Ansicht, dass — die Chinesen allein ansgKiommen — „unter
idlen Völkern der Erde die Gh^unmalik beinahe auf einerlei
Art gebaut"*) sei, eine sehr inige und nur aus xu engem
Umfange der Sprachstudien Hgrdbr's xu erklären.
Im allgemeineren Sinne bedeutsam aber ist die wissen-
schaftliche G^samÜialtung dieser Schrift „über den Urq>rong
der Sprache". Er verachmäht ganz und gar die Zoflucld
zu einem gtSttlichen Wunder. „Der höhere Ursprung ist in
nichts nütze, und äusserst schädlich. Sr zerstört alle WiA-
siunkeit der menschlichen Seele, erklärt nichts und maeht
alle Psychologie und alle Wissenschaftmi uneiklärlich"*).
Und nicht minder wichtig ist die schon oben «wähnte Ab-
lehnung psychologischer Abstraktionen, zu denen ja auch
„die Yemunft" gehört. Daher ist sc zu der Einsicht
gekommen, dass es einen Fortgang der Spnu^e durch die
') B. 70r. D«bM Uaf«D Midi MUgs Intfiowr oMtor, i. B. diM dv
Anber Bthr als tMaead WdTtat för daa Selmit liato. & 76.
•) 8. 87 f.
*) 8. 8S. Vgl. Wüimr, a. a. 0. I. 3, S. 138S.
*l & 18B.
'} S. 146.
n,g,t,7l.dM,COOglC
Zn Hvrder'B 100. Tndestage. 445
Ttfnn&ft, aber gMetawitig aueb dw Vernunft durch die
apraehe giebt^).
Eb zweite« OeUtt, «of dem w Mine Psychtdogle on-
vudte, ist das der literariaeben Kritik. Sb war eine tf^im
HrteBBtete der OeseUsebaft, tie Um hier leitete. Die vitale
Bedentimg des sorialan Lebens hatte er erbaut, «ie keia
Denku* des 18. Jahrbnnderte. „Der NatnrBtaad des Hensehen
nt der Stand iex G^esdlacbaft" i). „Er (der Menacb) wvd
(4me Geeellsdiaft immer auf gewisse Weise Terwildem"^).
Br apricht TOD „der Znsammenvirkmig der Lidividnen, die
ras allein za Menschen machte" *). Ilr kennt aadi die Braq>iete
von Menscben, die, als Kinder oatM' die Tiere gwateo,
wieder sd Tieren vurdeai'). Und die Sprache ist eben des-
halb ein wesenUicbes Hilibmittel der Ausbildung der Ver-
Qnnft., weil sie den Vei^ehr der ICenschen untereinander er>
mSglicbt. Die taubstunmi Oeb<venen bleib«a oft unver-
BOnftig „wie Kinder oder wie menschliche Tiere"').
Damm sehMzt er die natürliche Gesellschaft., das
V(dk, sehr hoch, also au(A das deutsche. „AJlratbalben
findet ihr altdeutschen Witz und Verstand in den kürzesten,
ungekünstelten Worten. Wer am Charakter der deutschen
Nation sweifelt, darf irgend nur ein (deutsches) WOrter- oder
^oiebwOrterbnch oder eine Sanmilung von Gescfaicbten,
LehrsprUchen, Liedern, Fabeln und ErzähhmgeD durch-
gehen"''). Und was das Volk fühlt und denkt, kommt kraft-
voll zu Tage, und ist darum künstlerisch wertvoll. Er
macht sich den Ausspruch Montaignes zu eigen : „Die Volks-
poeaie, ganz Natur, wie sie ist, hat Naivetäten und Eeize,
durch die sie sich der Hauptschönheit der künstlich voll-
*) Ideen sai Philoeophie der OeMfai(dite dei MenBohhait. 9. fineb,
Kap. IV.
*) Über den nrapraag der Sprache, ed. Sufkin T. S. 140.
*) Idera, 9. Baoh, Kap. I.
*) Ideen, 3. Bnoh, E^>. TT.
*| Ideen, 4. Bnch, Ekp. III, 9. Baoh. iMp. IL
*) Biiefe zni Baßrderniig der Hnnumilit, VUI, Bin 1796, 8. 118f.
(loa. Brief).
n,g,t,7l.dM,COOglC
446 F*al Barth:
kommensten Poesie gleichet" *). Nirgends ausserdem, bei
keinem noch so primitlTen Volke, fehlt der echte Keim der
Humanität*), also ist seine Poesie auch dem Inhalte nach
unserer Kenntnis nicht unwürdig. Ebenso scharf ausge-
prägt, wie sein Nationalismus, ist sein üniversalismus, der
ihn das Wort „Menschenrasse" nur ungern gebrauchen, und
einen spezifischen Unterschied zwischen „kultivierten und
uokultivierten Völkern" nichtänden lässt*). In den „ Stämmen der
Volker in Liedern" sammelt er daher tod jedem Zweige der
menschlichen Gattung, von den Peruanern bis zu den Mada-
gassen, von den Lappen biß zu den Spaniern Proben ihrer
Kirnst. Und es ist bekannt, wie er dem jungen Gobthb in
Strassburg für die eigentümliche Kraft und Schönheit des
Volksliedes die Augen öfbete und das Gefühl weckte*).
Und wie kein Volk, so schien ihm auch kein Abschnitt
der Geschichte von poetischer Kraft verlassen. In einer
Zeit, m der man dem Mittelalter im allgemeinen feindselig
gegenüberstand, in der auch der franzfisische Geschmack an
Form und Regel noch stark herrschte, verteidigte er trotE
ihrer Formlosigkeit, die er zugesteht^), die Poesie des
Mittelalters. Liebe, Tapferkeit und Andacht sind der Inbah,
den er in ihren Sagen findet^). Und im Gegensätze znr
Stimmung und zum Vorurteile der Aufklärung, die die he-
bräische Poesie als Äusserung jüdischen Aberglaubens be-
') Vorrede zu den Stimmen der Völker in liadem".
*} Ideen, 4. Bnoh, Kap. IV. 15. Bnob, Kap. I. 16. Baoh, Kap. I.
') Ideen, 4. Bnoh, Kap. T, 9. Buch, B^ap. 1.
*> QoBTHE {Aus mdoem Leben. WabtfaeJt and Dichtung, S. TnL
10. BdcJi) sagt in Bezng auf Ebbdeb: „Die bebiiisohe DiohtkaoBt, treldie
er naoh seinem Vorgänger Lowth geistreioh bebaadelte, die Volkspoeeid,
deren üeberUeFeruogen im EIbbsb atifzusochen er uns antrieb, die iltesten
ürhwden als Poesie gaben das Zengnia. dass die Diehtbuiat überhaupt
eine Welt- Tind Vältergabe sei, nicht ein Priraterbteil einiger fainen, ge-
bildeten HAnner."
*) Briefe zur Befärderung der Hamanität, VUl, lUga 1798, 91. Brief:
„Was der Poesie dea Hittelalters fehlte, war nicht Stoff und Inhalt, nidt
guter Wille und Endzweck; es fehlte ihr nieht an Idealen, auf vekdie ne
hinarbeitete nnd sich bemüh», aber Qeeohmack, inoere Norm nnd Begel
fehlte ihr.-
•) 89. Brief.
iM,Coo<^lc
Zn Harder's 100. Todestage. 447
trachtea und geringschätzen musste, weist er auch iu ihr
das ScbSne und Erhabene auf und verteidigt ihre Form,
den Parallelismug membrorum gegeu Spötter und Tadler'),
indem er ihn dem Reime als einen Reim der G^edimken
gleichstellt
Seine grosse Fähigkeit des NachfUlilens gab ihm einen
feinen Geschmack i^ das Echte und das Unechte. Bei
allem Universalismus betont er darum die Notwendigkeit des
Nationalcharakters, dessen Verlust er als den grOssten
Schaden für ein Volk erachtet*). Er sieht in Karl dem
(Crossen nicht einen Förderer, sondern einen Verderber des
deutschen Volkes, da er den deutschen Geist dem römischen
Papste unterworfen habe^). Besonders verbasst ist ihm aber
die noch in seinem Jahrhunderte bestehende Vorherrschaft
der lateinischen Sprache, die auch von Deutschen, zumtil
in den Schulen, geschrieben werde. Da jeder nur eine
Sprache beherrschen lerne, und zwar seine Muttersprache,
so beherrschen, „dass der ganze Umfang der Sprache so
unter ihm sei als das Feld von Gedanken"*), so kann nur
in der Muttersprache der Gedanke den Ausdruck formen.
In allen übrigen Sprachen stehen dem Schreibenden nie alle
Möglichkeiten des Ausdrucks zu Gebote, sondern nur einige
Phrasen, die er gelernt hat, die nun von ihm angewandt
werden und dem Gedanken Gewalt antun. „Wenn die
fremde Sprache nicht Gewalt leidet, so tut sie Gewalt an""*).
Unter dem Einflüsse des Lateinischen habe man die „alte
deutsche Kemsprache," wie sie bei den „schwäbischen
Sängern" des Mittelalters, bei Hjther, bei Optfz zu finden
sei, verachtet imd die lateinische Sprache hiU)e die unsrige
') In der Abhandlung „TOni Geiste der ebtUsohen Foeaie*, ed Sapliu,
XI, 8. 223 ff., bee. S. 238.
*) Von der neaeran römischen Litantur, üb den Fragmenten über
<tie neuere dentsofae Litentor, 3. Stunmlong, ed. Sophan 1, S. 366.
•) A. «. 0. 8. 366.
*) 8. 403.
») 9. 40t.
iM,Googlc
446 f *nl Bartb:
zarOcksehalten'). Und dodi ist die dentsche I^Hrache etae
„Schvetrter der griechlBChen^), eine Sprache der VeriHinft, der
Kraft flnd Waiirlieit'' "). Und wie es einoi echten Ansdnick
echter Qedanken giebt, so ancb eine echte metrische Fwin
fOr jeden dichterischen Inhalt. Mit Recht erhebt er g^ea
Denis, der die sogeiuuuiten OssiAN'scfaeD Lieder in deutsche
Hexameter übersetzt hatte, den Vorwurf, dass er dnrch die
Änderung des Metrums den ganzen Charakter dieser Dichtun-
gen entstellt habe*).
Die bedeutendste Frucht endlidi, die aus der viel-
eeitigeo Weltfaetrachtung und dem maDnigfidtigen '^Hssen
Herder's erwachsen ist, haben wir in seiner Philosophie
der Geschichte. Die Geschichte ist ihm die Fortsetzung
der Entwicklung, die an der Hand des SchSpfers in der
tierischen Welt von dran niedrigsten Wesen bis zum Menschen
geführt hat^). Diese Fortsetzung leitet nun den Menschen von
der Wildheit zur Humanität oder Tielroehr, da die Homaiiit&t
nirgends ganz fehlt, zu immer hShu^n Stufen dwselben.
Der höchste Zustuid der Menschen, die voUe Homanit&t,
ist das Ziel der Geschichte. Seine nähere Bestimmung ist sehr
mannigfaltig. Sie umfasst „des Menschen edle Bildung zur
Vernunft und Freiheit, zu feineren Sinnen und Trieben, zur
zartesten und stärksten Gesundheit, zu Erfüllung und Be-
herrschung der Erde""). Sie ist also dasselbe, was jetzt
Kultur und Zivilisation zusammengenommen, wenn man nach
dem herrschenden Sprachgebraucbe die erste als Beherrsdiung
der äusseren Welt, die zweite als Beherrschung der rfemen-
taren Triebe der inneren Welt versteht. Denn Humanität
■) 8. 873— 37B.
») Br, «ur ßef. der Hum. V, 8, 92, 8. 122, VUI, 8. JJ5.
■) Br. »nr Bef, dar Hum. V, 8. 146.
*) AoBEQgauseinemBriefwaoiiBelüberOBBUNiuiddie Lieder alter Toller,
ad. Snphmii T, 8. 160-162.
•) Vgl H. 0ÖT2, war Hebder ein Voi^inger Dabwins? In disMf
Zeitsohrin, 26. Jahrg., bes. B. 408. 8. 417 f Sehr beochtanswert nod schau
au Bphkicss Formel der Batwiaklnng anklingend ist aach folgender Satf
Hebdess: , Von einfBchaiiGasetEen.BOwieTOn groben Oeetalten.aatüwtetne (die
Hatai) ins Zusammengeeetztere, KünsUiche, Feine." (Ideen 8. Bncti, Eap. Ij.
■) Idean, Buoh 4. Eap. VI.
iM,Coo<^lc
Za Heido-'i 100. IMestage. 449
Mlili«Mt auch OtU« tbt*), und alobt minder di« Rdigion,
iet aber dieser 8berge«>dnet. Demi sie ist „der PrttbMn
selbst der Mythologie der veraehiedenen IMigtonen"').
So giebt es bei Herder eine relative HmnaaltU, die
jeweilige EaltorBtafe eines jeden Volkes. Baneben aber
flchvebt ihm ein absolutes Ideal der HomaniUU, vor, das
sich am drei Elementen zusammensetEt, dem Ohristentum,
der griechischen Kunst und der WiBsenschaft. „Die ReUgion
Christi, die er selbst hatte, lehrte und Qbte, war die Hn-
manlt&t selbsf^}. Die grieehlsche Plastik ist ihm „eine
^nrnme Schule der Humanität"*), tn den griechischen G^Htem
tmd Heroen findet er „dauerhafte Kategorien der edelsten
und schönsten MenscheneilBteM''"), imgestört und ungetrtbt
durch den „geringeren" Teil des menschlichen Wesfflis,
der „als Faunen- und Satyrennatur" abgesondert, und durch
Üerisdie Attribute (HOmer, Schwänzchen) „an die Greaae
der menschlichen Natur," in die Nähe der tierischen gerttckt
worden ist"). Darum, wie ihm das Ohristentum die reinste
BaUgion ist, „freiwiU^, bloss moraliscli''''),' so ist ihm das
Griecheotum „die Blüte der Uenschheif^). Und so kaau er,
dar christliche Theologe, sagen: „Mit heiligem Ernst treten
wir sum Olymp hinaof, und sehen Gfitterformen im Menschen-
gebilde Die Griechen allein . . . theifizierten die
Mensehheit. Andre Kationen erniedrigten die Idee Gottes
SU Ungeheuern; sie hüben das GdtUiche im Menschen sum
Gotte empor"*). Und das' dritte Element, die Wissenschaft,
Wtont er genug, wenn er die europäische Kultur eine Kultur
durch Betriebsamkeit, Wissenschaften und KUnste nennt ^o).
<) Br. int Bef. der H<un. U, B. 119.
•) A. a. 0. a ISl.
') Br. KU Bei. der Hon. H, 8. 128.
*) Br. tax Bef. der Eam. VI, B. 21 (64. Brief).
■) A. a. O. S. 30.
^ A. ft. 0. S. 63 &.
^) Ideen, 1£. Bnch, Ekp. HL
*) Br. tat Bet der Hnm. VT. 8. U.
*} A. «. 0. 8. mt.
'*) Ideen, BohloB.
1. rUlo*. n. BodoL X3.VD.
rmn-ii-.;GoOg\c
450 Favl Barth:
Durch Tradition, von einer Generation zur uidem,
verwirklicht sich dieses Ideal der Humanität. Es gibt „eine
Kette von Bildung, die durch das ganze GteBchlecht reichet" ■),
in der jeder ein Glied ist Und „die Philosophie der
Geschichte, die die Kette der Tradition verfolgt, ist eigent-
lich die wahre Menschengeschichte, ohne welche alle äusseren
Weltbegebenheiten nur Wolken sind oder erschreckende Misa-
gestalten werden" ^). Wie oben erwiesen, war Herder
Determinist. Mannigfache Momente: Klima, Lage, Rassen-
anlagen, zeitliche Umstände wirken auf die Schicksale eines
Volkes. Es giebt also eine strenge Notwendigkeit in der
Geschichte. „Keioe Weltbegebenheit steht allein da; in vor-
hergehenden Ursachen, im Geiste der Zeiten und Vßlker
gegründet, ist sie nur als das Zifferblatt zu betrachten,
dessen Zeiger von inneren Uhrgewichten geregt wird"*).
Aber diese Notwendigkeit ist zugleich der Weg, auf dem
Gott die gesamte Menschheit zur Humanität, als dem Elnd-
ziele der Geschichte führt.
Freilich alles bei Herder, selbst seine Geschichts-
philosophie, ist nicht so methodisch ausgearbeitet, dass nidit
Unbestimmtheiten und Fragen Übrig blieben. So würde
man in Bezug auf die absolute Humanität, deren einer Be-
standteil die griechische Plastik ist, fragen können, wem sie
ewig massgebend sein soll, da doch die Plastik der modernen
Völker keine Nachahmung der Alten sein darf, nach der so
oft wiederholten These, dass Nachahmung nicht wahre Kunst,
höchstens Nacheiferung möglich sei. Herder war über-
haupt mehr Anreger als Schöpfer. Aber sein Blick war
doch auf manchen Gebieten, in der Sprachpsychologie, in
der Ästhetik, in der Geschichtephilosophie so schu'f und
tief, dass auf diesen Gebieten seine Leistungen epoche-
') Ideen, 9. Buch, Smo. I.
») A. ». 0.
^ Ideen, SO. Bodi, Anfug. Ver^ P. Bunt, die PhiloMipbie dar
Oeaohiobte als SocJolofie, I, Leipzig, 1897, 8. 202, uoh 8. 226 S., 284 f., 362.
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
Zu Berder'B 100. IbdeBtage. 451
machend wurden. Zwei Eigenschaften aber sind es, die ihn
besondere auszeiclinen, sein universales Wissen und sein
fester Glaube an den Fortschritt der Humanität. Mögen
ihm viele menschliche Schwächen angehaftet haben, dm^h
diese beiden Eigenschaften kann er unser Vorbild sein.
n,g,t,7l.dM,COOglC
n,g,t,7l.dM,GOOglC
Bei^preeliuon'
CttDDkro SmAmlBf} La questione del negri nella Btoria
e nellft 80(»etJi aord-americana ooa prafauoqe dal J^f.
Bnrioo MorseUi Torino Fratelli Boccsa 18Ö8, VII u. 48B S.
Du Toilismnde Bach urAUt io 2 leil«: 1. dio Owoluchta der
snttUaoisohBD NwanblaTvei toil don eiitan jlDAngeu bis 1866^ dem
Jatas ihnr AoHtlDiiDg, tt. dia soziale Gotwiakolnn^ dar amaritaqiaohan
Kogw und dis kantige Nagering^ Ifu änawre Qniiide haben saiaa Be-
apretbniiK vanSgert
HoHDUta ztM tnaiebat, wie die «nglisohen Kolonien nicht diq «raban
waren, die KegsniltTsii bieUen, rialmekr »c^a tun IfiOO solche uis
Sfianieu in die apaniBobeii Kotooien «ngeffthit wunleo. ^tec gewbah dies
direkt TOn Afiibt, basondeis von ChiioeK ans. Wie £arl V. einein VWniaB
umens Bnea ^ Honopot Kr diesen Handel Toriiehen bette, so gab die
•ngUselie Begianing i. 3. 1618 ein solche« einem gewissen Bobert Bioh;
1^1 i'iu^, eine 6eeel)8ob&tt dafür gegi'äDdet. Im Assiento-Vertrage von
17^6 ferpSiohteta üoh die engUsohe Königin sogar auf 30 Jshre, die
panischen Kolonien mit je 1800 SUaven zn versorgen. Doch wurde der
Vertrsg nnr bis 1739 gehalten. In diesem Jdhra horte jedes Monopol für
den Negerhandel sof, er wnrde jedem freigegeben and nälun einen mssen
Aufschwang. I. 3. 1771 s. B. hatte Liverpool alleia 106 H^lsoUffe anf
dem Vaere, d(e 88 600 Sldaven naoh Amerika brachten.
Die iTe^r wardeo die Werkneoge des Plaotagenbaoes In dea SAd-
staatao- Tirginien bildete znerat ein beeonderee Sklavenreeht ans. das den
Naget ala Ba(£e bahjpidelte and tdd der englisohen B^Iening bestit^ wiinle.
Der VangtJ sd freien Ärbalten, wTa ar In einem nnbeaeczteo Boden
und Belbe:tandlgen Be^tz bietenden Lüde notwendig sioh e^ebt, bewirkte
aadk )m Horden trotz dem ffir die Neger verderblichen XiUma die ISnflUinmg
der Sklavusi, selbst in dem gebildetsten, gei|t)g'aia höchsten stehenden
Staate MsssaehoBSets. Schon 1641 wurde In seiner Verteanng, dem bov
of libertiea die Sklaverei wnktionlert, wenn der Varkaat der Smven reoht-
mbslg gesobeben war. Tiela ohristllabe Herren verweigerten ihren Bklavan
die Taaia, die sie bti (emaoht bUte. Immerhin gab es in VssaiohtissetB
wie Im gansan Norden nur wenige Sklaven. I. J. 1676 ztthlte man dort
n,g,t,7i.-JM,.GOO<^lL'
200, 1716 200D, 1775 3600. Im Staate Kew-Tott hingteen gab es dwM
i. J. ITlb 4000, i. 3, 1776 sohoD ISOOO, in PannBrlTUisD un letztgenuntM
Jahre 10000, und, wenn wir aiim SOdes nhan, m Vli^inia alldn 186000,
in Süd-Karolina 110000 n. b. w. In Maaaachnwete eritob uoh anoh die ente
Bewegung f9r Abeohaffinng der BUavereL Samuel Sewalt, ein frommar
Kditer, giÜI sie i. J. 1700 in «ner Solirift heftig an und eatsflndete danit
eioe lange Fehde tir nnd vider aie. Von dei Qeaeägebiiog von Maoaohnsnb
wurde sndk i. J. 1774 die erste BUl gegen die ^nWjiliHing von SUarai
angenommen, aber doroh das Veto dea eogUadien Oonvemems nnwUnm
graiaohL H. iweifelt, ob ee damals den Oesetagebetn von MaaiaehBMr
wlrUioti mit dei Beseitigang der BUaTsni enut war, ob ee nioht Ttdaeht
ihre Abnoht war, gegen die engÜBohe Begienmg, die so als Oegoeiin ja«
Beadtignng enohien, den Hssa der Neger in eiregen.
Naoh der EiA&mpfang der ünabh&agigkeit der Union nahm die
BIdaierei im Norden and im Süden einen s^ Teisohiedenen Verlauf. Im
Norden wurde die BeTölkenmc diohtei, datier der weisse LohoariMitsr
httußger, zumal dieser (ämehiu des Klimas wegen den N^er an Leistm^-
lUiigkeit seliT erheblioh übeiragte. Darum wurde 1780 Ton PenasylramBii
ein Oeeeti erlassen, dass die Sklaverei allmlUjlioh abgeeohaSt wüide, ud
i. J. 1790 gab ee keinen einsigen Sklaven metir in Hassaohossets. DU
anderen Stsaten des Nordens folgten dem Vorgänge PennsylTaniens.
Im BQden liingegen wnohs die SklaTsrei weiter. Der Anbao dv
Baumwolle wurde immer lohnender, seitdem Elia Whitney die saw-gin, nu
Hasohine zur Eteini^ung der rohen Wolle erfunden hatte, die die Frodoktintlt
des einselnen Arbeiteis nngehener steigerte. WUmnd bis dahin ein SkUn
tiglioh nur 5 oder B Pfand hatte reinigen können, bewUtigte «c jetit
tiglicb 1000 Pfund. Die Sudstaaten der Union worden dadurch die Bannt-
wwlenksmmer für die ganze Welt Der Export derselben betrug 1791 taa
189816, 179» schon 487 600, 1794 1610 760 Pfand und sti<« so auf 1400
HUlionen Pfand im Jahre 1869. Der Neger war der nuentbehrtiidie Ann
dieser Knltor. Die Plantagenbesitier des Südens wurden entweder SUarai-
EÜobter, die lebendige Waare verkauften, oder Baamw<^enpflanser. Be-
Bondsis in Maiyland, Yii^ia und Eentui'k; worden Sklaven geiöofate^ in
Carelina, Qeotgia, Tennessee, Loaiaiana, Hissisippi n. a. verbtanoht Dia
reehüiohe Grundlage lieferte die Verfassung der Union von 1^7, welche
die SklaTer« gant und gar der Geeetigebung der einzelnen Staaten fibedien'
Hit dieser Bestimmung sobien die SUavenfrage friedlich beigelegt.
Aller bei jedem Eintritt einee neuen TerritorinniB in die Union entatud
doob die Erage, ob dem neuen Staate die SkUverw erianbt oder veibotefi
werden sollte. Ee gab im Kongress awei stJiarf abgegraste Gruppen, die
.freien Staaten" und die aSklavenstaaten*, die eifersüohtig dai«nf hiettso,
dass das aieüdigewloht zwischen ihnen nioht aufgehoben wurde. Und et
begannen nun in weiterem Umfange als 100 Jahre früher die AgitatioDU
für .Abolition" der Sklaverei. Der Qo&ker Benjamin Lund; gründete 16S1
die erste abolitionistisohe Zeitsohrift Ihe Oenins of Universal Enundpalini,
10 Jahre später etwa trat Qarriaon in die Bewegung ein, die immer heftieer
wurde. Die Kirchen waren zum Teil Qegner der Aboliüon. Noch lw8
worden 600 Geistliche und 60000 QemüodemitgUeder wegen abolitionistisebv
Tendern ans der Presbrterianisdiea Kirche ausgeetosstti. Abw die Be-
wegnng ging weiter. 1836 erschien Channiu On SlaTen, 1886 Hildreth'i
fioman Arob; Moore, 1843 Longfellow's Poems on ^very, seit IMS
I^well'B Satiren, nnd 1861 der berühmte Roman von H. BeetAer-Ston,
Uncle Tom's Cabin. Im vorang^iangenen Jahre «uide trotzdem vom KoogreMe
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
Oonuaro Hondaini, La queetione dei negri. 455
to'Oweti Toa 1793, du den Hemn du Beoht gab, beim Fang tifiohtigei
SUaTen die BehSrden in AnBprnoh za nehmen, bedeutend venchSift, m*
dun a&di dar Bfiiger la einet' gewiesen DnteiBtntznng dieaeo Fkneee an-
gehalttn, TJutentätzong des FlfiohtigeD aber noch sträiger als frÖSer be-
straft wöide.
Der GegeoBati führte BchlieBalioh zum Kriege. Es ist bemerkens-
wert dasa, wie HoNninn beweist, die Nardataaten den Kampf nicht b^jannen,
nm die Sklaveni aaszorotten, sondern um die Union anfreoht eu erlialteti,
Ton d«r die Sädstaaten sieh trennen wollten, um in der SUsvenftsge freie
Band in haben (B. 194 n. 264). Die Aulhebong der Sklaverei, die im
Febmai 1866 dnroh Annahme des Amendements 13 znr Verfassnng geschah,
war ihrer Absicht nach mehr eine Beatrafong der rebelliaGhien Sndetaaten,
aia etD Akt der Hnmanität.
Ebenso aoig<ig, wie die Qeechiohte der Sklaverei ist die nnn
folgende DatsteUnn^ der Demographie der amerikanischen Neger nnd dar
Skräiomischen, iKditischen nnd eoiialea Probleme, die eich aas der Frei-
lassung der 4 Millionen Sklaven ergeben bebea.
Zanichst werden die statietisoheD IDiatBaohen gegeben über die natäi-
liohe VermehraDg nnd Bewegung der Bohwaraen Bevalksmng, woraus aiidt
eipebt, dass die Neger immer mehr das Land verlaeeen and sich in den
Sttdtsn konientaieren, in ihnen einen schwarzen Gürtel bildend, dass sie
aber den Sädan im tJlgemeinen nicht verlassen nnd im Prozenfsatze der
Tennehmng in jedem Staate den Weissen sehr nachatehen. Ebenso wird
die THalitAt der Neger nutetsocht, die sehr viel geringer ist als die der
Teiasen nnd schlieaalioh ihre HoralitSit, die, soweit sie mit gewissen Krank-
heiten znsammenh&ngt, erst recht die Inferiorität der schwarzen Basse zeigt
Zwar haben die Neger Ökouomiaohe Fortsohritte gemacht, sind seit dsi
Kmaoripafion wohlhabsnder geworden ; andi ihre Teilnahme an der Intelligenz
ist gewachsen (es erschienen 1898 etwa 60 Zeitongen für Neger): aber die
nutsachen der Horalstatistik sind immer noch sehr troatloa nnd zeigen
keine Tendenz znr Besserung (vergl. S. 372),
Danun acheint mir die Hofinang kaum berechtigt, die der Herr
Verfasser aoaapricbl, dasa es nämlich allmtthlioh zwar nicht zn physischer
Ifisohong, aber zu sozialer Amalgamiemng, d, h. zum (riedlicheii und gleich-
berechtigten Zusammenleben der weiaeen und der schwarzen Basse in
Amerika kommen werde. Ich bin mehr der Ansicht, die Hobsilij in seinem
dam Buobe vorgesetiten Geleilworte ausspricht, n&mlioh dasa der Neger
nie den Weissen, am allerwenigsten den Angelsachsen Amerikas, erreichen
wild, nnd dämm zn ewiger LiferioritAt ihm gegenüber verurteilt ist, die
ein niedliches Yerfaältnia zur andern Basse nnmögliob macht
Indessen, welche Folgerungen man auch für die Zukunft ziehen mag,
die Thatsaohen der Negeifrage sind bei Hondaiiii vollständig nnd kljff
nsammengeatellt Sein Bacb ist darnm sehr wichtig fnr den Soziologen.
Leipzig. PAin. Babth.
FaTre, Jj., L^organisation de la science, Paris, Reinvald,
1900. 400 S.
ünaere Zeit iat die der internationalen Kooperationen. Auf allen
Gebieten maoht rieh dies geltend, anoh auf wisaensohartlichem, Bieriier
gehört das vorliegende Buch fiber die Organisation dee Wissens. Högan
anoh bereits kleiners Tersuohe in dieser Hinaicht vorangegangen sein, m
gebtlhrt doch dem Verf. cUe Ehre, dass er zum ersten Male den Plan ta
«ner universellen Organisation des Wisssns entworfen hat.
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
469 Oitialor:
Sehoffl du Tomtt tntklU wtrtrrila Otdadua: In 4« Qtttith
(hr WiMwMliaft «Mt es ■WBoh« BlsaMote, wdoh* ^eldifH aud A
wiJw. nlmlkili dwiMüiaii, waloh« dit TanraiedeiMa TwIwmipwBhiflw
TVbJBdra. Statt dw HatMohw n ■tadianD. Uo« mü mw VoignlfH
daran findet, veriolmt «e 8ioh, die Oln^te des Stsdnuna s« wIUm, w dM
dU beafiglUian latdaokiusan der Bolidttlt de* aUgevMMB Tiwenaobaft-
IÜm Otbtada« m gota konaMii. llMiolu Artmtaa sv^ea daahalfc in
yainaaaanhait, wail nun niobt waiaa, mbin oao sie pUaiann acdl. Dia
Aibail mnit gaaohi«^ TWtoilt mü, ao daaa jeder dwijanicea Teil i» Ar-
beit ToUMngw kana, fSt da> et am gsMUuteatao ist, und waloher dw
A«d«n eine laiaUam libait aioharL iUa Mitarbeiter mtiaMB diaaalbe
Spiaoha haben, diaadben Methodra, InstmineBla, Dafioitioiwa, '^-^-Hr-
Ein gemeinBamee metriBohes ^vtem für die Heolutnik Hd Fhjiik exiatiart
bereits, nimlioh das Bretem OOB. Doch nfiasts ee solohe STSteiM Rr aUs
literaMoben ViaesnaAafteii, alle Indostrien und Kfiule geben. D« £s
QelshitaB TeitoUedene Instnunsnte benntssn, ae kann jeder nur eimB
kleinen Teil der Beeultate nsImnohtMi, welobe uder» Kiperimeslatonn ge-
fondan haben, üb jededk ein Biarentlndnia zwisahao den etnieloen
OelebrteneahaleD heriDBteUea, mfiBSteo tlbet^ diesofeBaanteB latermMajre's
eingifalut werden, wie nuui diee in Franknioh benita getban hat -r- Bban-
Bo wichtig wie die Organisation der Wiaeenswaft ist Mdi ii»
Organisatioii des WiMens, eo weit es geMtrt wird. Dar Leb-
Stoff mnas in beatiumtar Teiae uigeordnat werten, «e daaa m
leioht arfBMt nad dem BedhAtaia ain^piigt weiden kano. Twn das
Lebrgabftnda bidier noch nfiA hat dafiaiüT eigausiart werden kOnaeo, es
liegt diea darin, daaa vor allem die ntjnokigis BDd erperiweetaile
Psyohologie nooh niidit feet begründet sind. Von einer Befeatigang disMr
gnesialwiaseMBciurftep wärdan anoh andere, wie die d« s<di8nan Ktarte,
Nntaen dehen.
Speziell Bohildeit das Bnoh die Methoden fQi folgende Ttesen-
BohAften: Heohuik, FbjBik, Chemie, Biologie, Uicrobiologle, FliTsidogie,
AgTouomie, Hediiin and Sodologie. Da tod diesen ans Fhflosot^ea be-
sonders die Methoden für FhTsiologie, Fsjobologie nud Bodologie iotet-
euieren, so wollen wir ant diese hier genauer eingehen.
Die Ph^ologie ist nsoh Verf. das Stadiam der PunktioiMn der
lebenden Matene and der Ornniainen, welohe dar&as berro^ben. Tut
teigt, das« die Einteilung in Faoktianen der Emihrnng, Bemaa ood Be-
prodnktion nioht stiohhaltig üi iaoh mfissten die uiTSiologiBohen Lahr-
bäoher ein Kapitel enthalten aber die Mittel der Begiuienuig. ^obsatn als
üabeigug von der normalen lui pstbobipstdten Fhjsiologie. Die Wesen leben
nnr, weil die sohMlioben Effekte bei ihnen kompensiert werden, weniptaM
tarn Teil, dnroh nöttliahe. Bei der Anpassnng werden die achlauchea
Effekte dee nmcebenden Medinms kompenuert. Die Aehnliohkeit der aof-
einander folgenden Fennen Ist aaf täae dirigierende Aktion mrfiakintfihien,
Weldie huaerea finAfiasso gegenfiber kompeDsierend wirkt Ohne aeljifcs
Kompensationen entstehen teratolo^iisohe oder monstrOee Formen. Bs giebt
zwisohen der Form nnd der Fnnktion wne konstante BeaiehDiw. ao daaa die
•xistieiande ¥fna genau dirieniga ist, welaba aar IsiohtaiM ErfÜtaag der
FoDklion gsaflgt Diases Geseti dar Aapaaiang arlaabt «•■ 7vrmm tar-
kanasehoi, wenn nun bsstimmta Vnnktionea ksnat, and die ftwiktiOMW,
wenn man bestimmte Foim«D kennt. 80 hat ea CnvleT dit Fonaea mnimK
foBsUn Ilars TOcaDas^en laaaen. Jsdooh ist daa Qsaats aar aaniSaraafi
wnae Terwirkiieht Immerhin kBaaen wir anawe leraaiiuiigaa ao bagiaaaa.
iM,Coo<^le
L. Tkvre, L'o^kmtottkui da la soienoe. 457
all oh dl* AnpMiMj ala UiMotw ezittisTta. Biririlcb dar FngetMhuig
irt (Bau Oftan genötigt, sohwierige Fragen in einbdiere m Earlegen.
Dia PijdwUgie hxt ila Objekt das Btndinra dar Fh&noman dee Ba-
w—liuiM. £i aUan Tisiansobafteii, w aaoli iu der Pavobologia, ^ebt aa
•Ofanmita Hawiaoha Irrtämer, d. h, aoloha, daran Inhalt luge Zeit aaoli
TOD das badantaiidstaa OelabiW ala Wahriiait aogaaehan wurde. So z. B.
gaoble nun Upga Zait, man kfinate dia p^ohologiBcha Walt alleiu mit
fUfs dai BtnbiuoiigBkratt konitraiaTen. Zweitens legte man Eeitweiaa
m gnaaaii Tert anf das payoholorasohe fixperimentiena und TarnaobUBaigta
dabei dia laiDa BaobMOtaiDg. Drittens atallta man früher Tbeoriea aot
obsa ^ft^nd lltstaaolien beobaobtat m haben. Die Ursache der Irrtflinet
siad amaeitige DaflnitionaD, angeeohiokt geetallle Fragen, die Annalune «ner
OleiohlBimigiait des lAiifas der Natnr. So nahmen die Selbetbeobaohter
oft maahliaheiweise an, dass die psrcbologisohen Vorginge bei des rar-
■ohiedenan Manschen in ähnlitdiN' Weise ablauten. EHinflg wird die
Wiohtigkatt nea ealdeoktar Üliatsaohen in sehr nbertrieben. So snohte
man so einer baatinuutan Zait alle Empfiodongen, Bewegungen und Gefühle
Zeitwaiaa fibarsobtttzta man die Inatnunante and wollte
. Viele Irrtämer raanltiaren a
Tamptiamante der Beobachter.
Anf die Soiiologie wendet man am basten die Terglnohende Methode
an. und zwar kann man erstens die Thatsachen oder dia Din^ Tergleioheo
(im besondem die normaien ond pathologischen Thatsaohen, die Thatsaohen,
wdeha aioh anf ein Indtvidnnm in einem g^banen Moment bariehen mit
daigenlgen im andern Moment, oder swlsohen iwai Indlndnan, iwai Arten
von Indlvidaen, iwei Epochen. Mao kann iwdtms die UnaohMi nnd
TTmstlnde Te^aiöhen (die gewöhn! idien UrBaohan mit den Ansnahma-
nraaohen]. Man kann drittens die Qeaatiie ve^lmihen. Die Ter^riohemde
Methode (sei sie nnn historisoh, geographiaoh, pathologisch, paliontologisob,
embr^ologisoh n. s. w.) ist in du Biologie von Nutzen, sne Oeeellaohaft
ist ema Orappe TOn Menschen, in welcher uner auf den andern wirkt,
nachahnend oder zwangswnee. Die Soziologie ist das Btodinm der sosialen
Tbatsaehao, nlmliidi der aotialan 9onnan, der SntwiokelanR dlsaer Formen,
der sozialen Phinomena oder Fnnktionen und dar EntwicUoDg deraalban,
dar Badehnngen zwisohen Formen nnd Fnnktionen und der Entwloklnng
dar gagenaeitlgen Anpaarang dieser latctaren. Bei jeder dieaar 6 Abteünngen
«haidaB. Die Oeeohiohte hat ala Ziel das Btofinm aar Bntwiokelnng dar
Forman, FnnkUoDaD und der Anpaasong. Hiena ist niH^ daaa man die
namanta der Srappa, namntUch baaondera einfloasreioEie Indiridoan.
Die TOiliegende Arbeit dürfte mit viel grösserem Recht den Namen
ainea Bnobea derÜetboden verdienen als die vorangegangenen, und es ist
nicht zn lengnanjdass das Bnoh durch die goten Lehren, die es giebt,
baaw. docoh dia Waranngen, die es den Forschem zomft, manohen dai-
uthan TOT His^ptiren, Üntttnschungen nnd Zeitrergendungen zd bewahren
vermag.
n,g,t,7l.dM,COOglC
458 Oieasler:
Hdlpadl* Willy, DieGrenz-wissenschaften der Psycho-
logie. Mit 20 Abbildungen. Leipzig, Düas, 1902. 515 S.
Das Buch beabdchtigt, soloheo, die sich fär die psychologische TTliiiiiii
sohaFt in ihrem gaoieo Omfange interessiereD, aber nur in dem Teila dar-
aelbeo, der fcerade ihrem BerabEWNge nahe steht, geaügend untaniafatet
sind, dazu die notweadige Ei^nsung in bieten. Es wendet sich vor allem
an Fidsgogen, die in den Natarwissensohaften nnd an Ante, die in den
OeisteswiBseniKihaften Lücken empEnden. Naoh einem Iranen ÜI>eTUioke
üljer die Haaptergebnisse der modernen Psychologie, der sieh besonders an
Wuinit ansohtiesat, wird zon&chst die Anatomie des Nervensystems fNerren-
lelie, länbettong nnd änssere Gestalt des NerTensystams, Ban des Hacken-
marks und Oehirns) sbgehandelt. Ein Kapitel, welches sich mit Gehirn and
Seele beaohUtigt, unterzieht die Lokslisationstheorie nach FLscnaie lüiiar
scharfen Kritik. Daran sohliesst eioh eine Eotnickelnngsgeeehichte des
Nerv eney Stern 8, in welcher die Gültigkeit des biogenetisf^en Gesetzes von
Hakckei. auf für diesen speziellen Fall hervorgebobeu wird. Der nftohste
Abschnitt, die animaie Physiologie, betrifft die Lehre von der Bewsgnng,
die Sinnesphysiolugie und die Neireo Physiologie im allgemeinen. Die beiden
folgenden Abschnitte behandeln die Nenropatboiogie and PsyohopatholMe,
letztere vom Standpankte Kkaefcuns. Im letzten Absohnitte, der Kot-
wiokelnngspsyohologie, beenden sich folgende Kapitel: Das Seelenleben der
Tiere; Psychologie der Kindheit; Ursprung und Entwiokeluag der Spratdie;
die AufgatKn der Sozialpsychologie ; die Entwickelnng der wirtschaftlicheB
und geistigen Kultur; Oeuie und Entartnng.
Dieser mannigfaltige Inhalt des Buches ist in knappe und doch klare
Worte gefasst. Die Darstellung gewinnt an Lebendigkeit nnd IntereBB«
durch hfiufig eingeflochtene kurze DiskosBionen. Der allemeueste Standpunkt
der Forschong wird überall gebttbrend gewürdigt. Vielleicht wünscht*
mancher Leser, besondere in den ersten Abschnitten, noch mehr erl&ntemde
Illustrationen. Aber auch so wird das Buch den beabsiohUgten Zweck er-
füllen und selbst darüber hinaus Belehrung und Anregung bieten,
Hern bei Detmold. A. Düiran.
8. S. Laaiie^ Mptaphysica Nova et Vetusta, Tournai
1901. 328 S.
Verf. eetst sieh in dem vorliegenden Werke mit der Ifet^thysik
auseinander. Er verwebt alte nnd neue Qedanken, indem er dabei die
Tendenz verfolgt, seine Metaphysik auf psyohologiaohem Grunde anfnibaneD,
im Gegensätze zu Säst, welcher das Transzendentale zu Hülfe nahm. In
diesem eigenartigen Versuohe liegt der Wert des Buchee, dessen Laktöi*
den Philoeophen besonders empfohlen sein möge. Yarfolgen wir dia Ge-
danken^ge im Einzelnen:
BewQssteein ist die Thatsaohe, dass wir etwas f3hlen, was yod ans,
den Fühlenden, yersohieden ist. Das Bewasstsein zeigt veiBohiedene
Stufenfolgen. In der unorganischen Welt haben wir nur Aktion und Be-
aktion, bei Pflanzen und Tieren Beflexe als Antizipationen des TliiwiiiiHtuwiiii
Dieses Gefühl ist anfangs dunkel und tastend. Es ist zuerst nnr 0«fBU
im allgemeinen, SeuaibilitBt, sidter das Fühlen eines Olyektee. ISn höhmnr
Grad des Bewusstseins zeigt eioh in der Vereinheitlichung derGeIüliIe,wt»nit aüi
Objekt erfasst wird. Das Bewusstsein bildet hier eine Kollektion von En-
heiten. In diesem Stadinm tritt an die Stelle der vagen SenmUlitXt das
iM,Coo<^le
Laune, 8. S., KetapbTäoft Nota et Vetaitt. 459
OeAU für bestimmte Gegenatiude. Ee beeteht eine Syiiopus. Verf.
nennt die« hfihere Form des Bswuetseins die attnitiTe Cad-tnari). Du
nnmittelbare Oefühl ontei der Form der Attaition liefert one die reftien
Phänomene.
Das niohtrratiocelle Weeen vermag aof seine Sphäre beBohiinkt ta
einer leUiafteren Benaibilitlt ta gelangen als das ratiooelle and lolglioh an
einer leiohtaren Anpasanng an aeine eigenen ErfahmtigeD tuid an seine
Umgebung. Die Tenianft liindert uns darau, dies ihm gleicbinthaa.
Das Weien des menaohliohen Oeistea ist das Denken d. h. ein an-
geboroneB Streben naoh klarem und adlquatem Gifasaen der Dinge. Die
Teniuift ist eine Bewegung im bewoasten Geaohöpf oud von ihm emaDJerend,
welche den Zweck hat, die flnemge Materie im Sabjekt im Zostaude der
Attnition zu erhalten, un ans der einTachen Vergegenwirtigang eines
Objekts ein Tom Bnl^ekt bahensohtee Objekt ed maohen. In der Periode
der Attnition werden die Objekte als Tatalitaten gefasst und von einander
onteiBohiedeD. AllmShlich geht daa Sabjekt aus seinem passiT-aktiren
Veibalten herans. Eb wird frei handelnd. Nanmebr wird die Intelligenz
nicht mehr von den Objekten dirigiert, sondern sie ergreift letitere uaob
ihrem Belieben. Sie ontersoheidet dieeelben nicht nur von einander, aendera
sie stellt aiob ihnen gegeoäber als Ich dem Nioht-Ioh.
Biaher hatten wir die Gikenntnisse: A ist da und nicht dort. A ist
•in Nioht-Ioh. Jetat kommen neue Momente hinm, welche die Periode
der Temnnft kennaeiohaen. Der Wille erfaast die Dbge anter Anwendung
bestimmter Denkfonnen oder Oeaetze der Bewegung, nämlioh; 1. Fin,
8. Milieu exela, 3. ContradiotioQ, 4. Baison anffiiante, 6. £ltre oder Identite.
Die Fonnel A = A ist Zeichen für die Vollendung der Feneption. Der
Wille transformiert doroh den Akt der Affirmation das attoitiye tierische
Erkennen in die menschliche latelligenE. So bildet der Wille seiner Form
naoh das Wesen dar Tennnft, und das Wollen in seinem eisten Akt bildet
die Möglichkeit des Erkennena.
In dem vitalen Frozesa dee Denkens geht das Gesetz der Negation
dem Oesetxe der Identit&t voraua.
Um den Akt der Affirmation zu Tollenden, siebt sich der Wille ge-
nStigt, seinen Akt zu materialisieren und eine fühlbare oder materialisierte
Foim' zu finden, nAmlich die Worte. Die Wahmehmangen Tersinnlioben
noh in ortikulieTteti TSnen, Empfindung und Wahrnehmung unterscheiden
rieb dadnrci) von einander, dasa bei erslerer das Objekt das Subjekt zu
«ner rafiektorisohen Handlang anreizt, dass bei letzterer dagegen das
Subjekt als Wille das Objekt ergreift. Die Objekte bilden znent Komplexe,
welche noch nicht in ihre Elemente auflöst sind. Bisweilen jedoch üeht
eine herTorstechende Eigenschaft die Aufmerksamkeit besonders auf sicdi.
Dabei bleiben jedoch die anderen Eigensabaften nnterbewnsst Die Objekte
werden zuerst nur einseitig aof Grand einzelner Eigenaohaften mit «oander
vergUchen. Daher rühren die falschen VerallgemeinerangeD, Also der
Geist beginnt damit, dass er das Universelle unt« einer iritbem Form
ergrrift, sodann geht er auf das Einzelne aber, um das UnJTerselle von
neuem lu erhalten, aber diesmal ein rationeüea UniTerseUes.
Lanria betrachtet das attoitive Bewusstsein als zeitlich frfiher im
VerhUtnis tum peneptiven Bewasataein: A wird zuerst von anssen in der
Attuition aufgenommen nnd als Otyekt projektiert Die zweite Bewegung,
welche allein Peraeption und aus diesem Grunde Vernunft ist, ist die Ver-
sißhemng, daas dieses Olyekt A weder B, noch 0, noch D ist. Auf dieee
Weise erlange ich an dritter Stelle, daaa A = A ist. Dieses Werk dee
iM,Coo<^lc
460 OiesBlar:
Villvns ist die Anfmerkuiiikeit oder die iulfw. Dar Willq ^luU di*
ToislitU ig „lerbraebao" and di« wiütren SSgansohtftan d« DiOM n> er-
keoiiMi. Die Koniaption wird erreicbt doioh eine Beihe Tön 1Tnw4i>< n*
Uldet doe Byntbeae von aiutlTtiBohaii ürt^ten. Das Objekt diont nu >la
BHt^Bnkt Kl meine «genen ottnitioDelleti und r>t><H>eUe>i Aktitilitca. M
Uo^ ab Ton einer tfoiahl von x, die iah in j venrandle.
Sin Herknal dat Attait wird als gemaiagamaB fni nwbnra Attub
herrorgeiiobea, et wiid aiui dirigierondeB Bament. Auf den frötiena Ul
dec AffinnatioD (oltf der Akt der Tiennung and DüfereDtüemDg. D»f
Wille bfilt gewiBBe Elemente, welche sieh dem Bewosatsein iiiiBeotierao,
fest. Et achaSt doroh Sabaumptlon Oidonng in die groBBe Haue dar AtGr-
inalJonen. Die ohankteristlscheii Merkmale einer Qnipp« werden in Kn-
heifen, weldie den Oraod fSr AbstrakUoaen bilden. Dia Form der Vtt-
mittelnne bei der VeraUBemeinemiß ist folgende: Ich aage e. B., dav du
Heer nnd das Etsat Ähnlich sind mit Beiiehang aaf die £geD86h«ft ,grin*.
I)aa kteer sehe ich, tu das Emut denke ioh. Darob Tennitt«liuig der Kr-
nnemngsbilder .Krant" wird der Vergleioli bergeatallt. Also die Fom
der Termitteluog erscheint loerst in dem prirnftren Akt der einfacban Fer-
leption. sodann in der Abetraktion and Verailgeaieiaening, sodann im
dednktiTen SjUogiBmas, sodann im lodoktiTen SjllogJemns. DemnatA iit
die ganze Aktion des Tarstandes aiohts als eine Wiederhalong der entan
Art der Perzeption, and in dieser radimenttreD dialektisoheD Entwlokeliui;
ist das Oanie der fonnBleo Logik inbegriffen. Diese Dialektik ist d«t
UechapismuB, daroh welchen wir erkennen. Der Wille bat aonflohst ketii
bestimnites Ziel. Letiteres let jedooh impliclte ip der WUtensbewMmnf
entbatten. Die EifCllaDg der WiUensbeWBgnng ist ein Fereept — verf.
verlisst hiermit das PsycliologiBcbe and wendet sich dem elgsotliob Utta-
phjaisohen za.
Unter den DafioitioDen der Sobslani iit nach Verf. diejenige dia n-
nehmbante, weldie unter ihr das Sabstrat der BigenHdiatten venMiL Du
OafGU dea Beiaadan iai ein letstee nnd nunUtolbares Faktom daa Bevnsat-
seins. Daa Seiende tat etwas Notwendigen, das einsige Dni*«fadlt. Kt
ist einsig, einboh und immer daaselba, mien<Uioh, das PotantieUs fir <Ui
Baella. Die wahren FrSdikate des Seienden finden aich in 4er wn[findandii
Weit DsB wirUieha Universelle ist das Priua im Var^ei^ mit dem oni-
verssUan Endliohen. Dagegen erschaiDt daa empfiadande Cnendlidie nielit,
bevor daa Godliaha schon <U ist, nad zwar als OhankteriatikuBi maiMS 0»-
dsukans vom Endliahen. Es kann objaktiva WiiUiohkait baUn, bmubt
aber nicht. Ee bildet das nnTermeidlioha Besoltat des Zosammeatreff*»
TOn Dialektik und Materie.
Das Endliche ist nicht anr eine Reihe von gleiohieitig ezistlarendii
Baampnnkten. sondern eine Reihe von atomischeo Jstct. Die Mögl>iJ>kt>t,
dass man sich ein ^orher-Nsehher vorstellen kann, wird gafteben dnrdi
die Thatssobe eines permanenten KontiDaumB. Die Folge a, b, & welob«
sioh — so la sagen — über die OberQäche des permanenten Sabjekb ^
wegt, bringt 3 phSnomenologische Thatsaohen ins Bewosatsein: 1. Dia
EontinoitSt dee Seienden oder die Daner, ä. die Eonttnaitat der aoooeasiTeD
Teile dee kontiaalerllchen Wesens oder die Zeit Die Zeit als tnbjektiT)
ErfiÄrang hat also ihre Worael In eineni doppelten BeWoBstseln, In <1«zk
BswDBHtsein der Kontinuität des Seina des Ba^)}ekt& und der Bewagnof
oder Tetindeniag. Die Dtaet ist das konti)iiilerll<Äe Beiende. Die Z«t
ist dadoioh «ne nnivenrile Bedlnjong daa Bewnssfseiss. Die Daosi •>'
iM,Coo<^le
Lsnrie, 6. 8., MetsphTsica Von et Tetusta. 461
all Venn ebeiiBofat a posteriori wie t priori. Die Peneptton bat n. a.
«neh d»D liffekt, aus sie deo Flow der Zelt mhllt: a iat JeteL
Aosser dem Bebt imd der SobstaDi (riebt ea nooh ein noHrondlM
ünItMMHeB als Produkt dw Sobjekts, die Üisaohe. Daa kaosale PlUftat
UMet den Qrond für die ItOguahkrit Jeder phknomeoalen Belhe. Der
KaasalneKu dagegen Iteibt gatu im Bchosse der endliohen phSnomUialeit
Reihe.
tHe Beaohate, la deneo die DUlsktik gelangt, eiad bereits Im OefBU
entbaltan. Aber die DialekUh iat eine tTele BevegiUifCi welahe nicht von
dan FhlnomeneD des OefShls geliefert wird. Sohoti du Her mit ednem
prfaattDUeUeii Bewassbi^ wird dazu getrieben, nach A En geben und nicht
ssoh B. Dies eatsprloht dem Gesetze des ansgesdiloGBenen Dritten in der
DlalektllL Audt die Negation existiert s<^on In dem OefflUe des s
•eltfgen AoBgesohtoBBenstine TerBohledenei sensibleT Objekte. Der I
Uiuohe hat an den Bedehongen der PhanoDieoe Btln fUilbar Entsprwdiendee.
Die Dialektik Bohlieast nioht allein die nnte ErU&mng der Nabr in sich,
sondern den notwendigen Charakter der Natur als eoloben.
Die Kategorien Bind Vertdlgemeineraiigeii veniddedener Arten von
Fildlkaiea, Wir mösseo sie gleichzeitig onter den Slementen a posteriori
afld a priori Bnohen. Das Intelligible, das Nonmenon ist ein anderar Harne
für die BTothetisohBn Kategorien a priori. Es ist nss tu den Dingen ge-
Oniohb dnroh die Dinge. Duri^ das Honmenou emptBngt die Intelligent
t in das, was in Wiilliohkelt da ist Die Kategonen a posteriori
sind anoh Produkte der Ternnnft, aber aur insofern als sie Arflrmationen
rind. Die Üere Bind sich atluitlviBch der Kategorien a posteriori bewnsst,
aber sie Mnnen nicht kategorisferon, weil sie nicht bt^aben können. Die
Kategorien a posteriori bilden die Elassifiifenmg der empfangenen Attolts.
Sie sind die D^'^ersalien dar Sinoesdom&nan, nlmliob folgende: 1. Das
Sein, 8. die QaaDÜtAt im allgemeinen, d. h. Baam, Anadehnong, 3. die
Qnalit&t d. h. die qualifizierte Üoantjat, dnroh Figor, Farbe nsw., 4. Bnhe
nnd Bewegung der Individnen. 6. die Beziehnng der ludividoen: Wo, wie
wann? Bei tinar Erklftning duTcb diese Kategorien a posteriori wflide die
Natur nooh anarchistisch sein. Erst die Kategorien a priori bringen Ordnung
hinein. Die Eategorien a posteriori kSnnen die srnnma genera der Resep-
tivittt genannt weraen. Jedes Direkt kann dieselben liefern. Die Kategorien
a priori sind ; 1. Das nnlTeraelle Wesen als Orandlage von jeder mSflichen
BeetimmuDg. 2. dia HSgliahkeit, 3. die Negation, 4. der hinreichende Orund,
6. die Modalität, 6, die Identität, 7. der Zweck, 8. in diesen Kategorien
enthalten der iunerische Nisus a) Kausalnexus und b) der Begriff der
Organisatioo.
In dem ikte der Peneption ist bereits das einheitliche Erfassen der
Natur implioite enthalten, deegleioheii alle Kategorien a priori.
Erfurt. OnsaLkn.
l.MrinoDg. ÜberÄnnabmen. Leipzig, J. A. Barth 1902.
5T tmd 296 S. M. 8.
DasB es sieh hier nm die Arbeit eines eigenartigen Denkers handelt-
wird tnan bereits beim Lesen der enten Paragraphen fahlen. HuBOito be
iHat In ganz ausaerordentlichen Hasse die Gabe im scheinbar selbstTerstAnd-
Ud>en nobleme zu sehen — und das Torliegende Buoli legt davon du be-
Bonders eindringliches Zengnls ab. Es handelt sieh einfach um den pSTCho-
jogiaeben Thatbeetand, der den Jedermann wohlbekannten .Annahmen* zo
iM,Coo<^lc
Oroode liegt. Uan könnte gaaeigt uin, sie den Urteilen EaznroahiiM.
11. thnt das nioht and mit gutem Qnuide. Denn EWMflriei tat fSr ihn sun
Urteil unbedingt erforderlich: zoniolut eine bestimmte Steltdug innarlialb dee
Oegenaatses von Ja and Nein, dann aber vor allem 0eberaengnng, Qlwibeii,
Wahibeitabewnutsein. Beides aoheint nntartrennlioh verknOtrft: dfM diea
abet k^eswegs der Fall an sein branoht, das bewosen eben die AnntluBea.
In der Tbat kann ich ja etwas behaapten oder lengnen and dabei 4m^ das
BewuBsta«a haben, dasa ich es nnr .annehme*, dass es also gana snnm
nicht wahr ist Non kSnot« man die Annahmen fär blosse VontMRun-
verbindongen halten; indes, man tOhlt sogleich, anoh das sind sia niät.
und ea spritzt dafür □ooh der besondere Umstand, dass Annahmen oegatiT
sein können, nnd trots n^ativer Aasdröcke wie .nnklog*, ,lCesBw ohne
Klinge" u, s. w. dörten wir nicht von negatiren VoreteUangan reden. Ei
bleibt mithin nur übrig, den Annahmen eine Hittelstellong swindMn Tor-
itelluDgen nnd urteilen tuunweisen.
H. verfolgt nun sein Problem, man mSohte sagen dondi die gaue
Psyohologie bindun^ and bekommt so Oetegenheit, viele andere Tbatatdiu
von einem ganz oenen Oeeiohtspunkt ans au sehen. Besonders ist das
eigenartige Analogen mm Urteilsgegenstande, das von M. als Objektiv be-
zeichnet wird, gewiss der Baaohtang der Foisoher wert Auch die Aos-
fnhrongen zur Begehmngs- and Wertpeychologie, in denen der Terl^sser
■iemlich ansfQhrUoh zu den EKBxNFELSohen Ansohanaagen Stellang ninunt.
besitien eine weit über das Interesse am rorliegenden Problem hinausgehende
Bedeutung.
Eines iiioss nooh hervorgehoben werden; Oft wird fär denjenigen,
der M.'b Oedankengttngen femer steht, eine grondliohere Vertnotheit mit
ihnen voraasgesetzt us innftohst angeht, und oft sogar mehr als Uoss
dies; so z. B. wenn gesagt wird, es sei dnnih Witjlsik endgültig die
Meiunug widerlegt, dsss das Wesen der EinfüblnQg in aktuellen Oerahltn
Uge: das wird aber doch zam sllermindesten nur filr den Qeltnng hftbsB,
der überhaupt vorgestellte Gefühle annimmt. Und nooh mne Be-
merkung mag znm Schlosse gestattet sein. Wlre es nioht zweckmlasig, die
Ueberzeogtheit als Urteilscharakter ütierhaapt fallen za lassen und statt
dessen müa die Eigentämhchkeit der binären Zaordnnng oder Qliederung
in den Vordererood zu rücken? Dann liesseu sich die Ann^imen ange-
zwangen den Urteilen subsumieren, nnd überdies wäre die Adiqu^eit von
Satz nnd Urteil beeonders einleaohtend gemacht. Damit soll natüiüch am
allerwenigsten die Eigenart der Annahm ethatsache verkannt werden, aber
gerade dese Eigeaart scheint für eine solche AuSssaaug des Urteüa
zu spieahen.
Leipzig. Paul Linkb.
E. Hartbude. Psychologische Untersuchungen zur
Bedeutuiigslehre. Leipzig, J. A. Barth, 1901. VI und
98 S. 3 M.
Die Bemasiologie oder Wortbedentangslehte ist keine neue Wissan-
Bohan, neu aber ist der hier gemaohte Tersuoh ihrer genaueren p^i^o-
lopschen Begründung. So wendet aioh denn die vorliegende Sohrift gewiss
hnoh an den Linguisten, aber doch in erster linie an den Psydiologan
Denn das Wortbedeatangsproblem ist eben nur der SpaiialCall eines aooh
sonst bekannten pevidiologisohen Problems: des Problems des .Meineni".
Denke ich an die Bmpfindang süss, so meine ich nicht den mir dabei vor-
iM,Coo<^lc
E. Uartiiutk, Fsrohologisobe unten, z. BedeattmgBlahre. 463
•ohwebendan TonWllanpinlult, aondeni eban die Empfindang salbet,
der YoratoUnngBinlult ist nur Zelohen föi die Gmpfiudiuig and anoh du
Wort rB&BB" ist an aoldies Zeichen.
Oui aU^eiD«B onteiBcheidet H. lealee Bedeaten, das niohts anderes
snadrfiolt ala die Beziehiuig vom Ornnde lor Folfce — der rasoh imkeiide
Lnftdniok .bedeutet" Btnnn —■ und findes (fdr die Spruhlehie fkat ana-
BohliBBiliah in Vngfi kommendes) Bedentüi: Der ZuofaengebeT will im
Empflager eine beetinunte Absiolit etreiohen und hienn ist ihm das Haupt-
mittel dn Zetohen. Und wie ist Zeichen und BodeotnDg verkniiptt? Doroh
VentelloiigsaaaotuttioiiT Aber das triSt nur ecbeinbar sn. In Wahdieit
handelt es sich om Verknäpfon^ von ToisteUnug (dee ZeioheoB) und Urteil :
erst durch üebnng wird die aktiTs Urtsilstfaitigkeit allrolblioh meobantaiert:
ea entsteht blosBe TonteUnngBaBWciatioD, die doh dann sogar (wenn ich
E. B. jahrelang ein Wort in falscher BedeatnDg gebranoht habe) neben
der UrtMkassodation — also trotz besseren Wissens — bemerkbar machen
kann. Dieser Gedanke, dar sich an Aosfährnngen von HoEFLaa and be-
sonders von Wiuaix ansohliesst, dür^ der beaohtenswerteete ontei den
vielen beachtenswerten Qedanken des klar und anregend geechriebenen
Bflohieins sein.
£b sei noch bemerkt, dsss wertvolle ErgÜniODgen inr vorliegenden
BohriR sich im zweiten Kapitel der vorstehend besprochenen Hsnioiw-
sohen .Annahmen" finden.
Leipiig. Paul Links.
Boyee, Joafftb, Professor of the History of PhUosophy in
Harvard Univeraity. The World and the IndividuaL
Gifford Lectures Delivered before the University of Aber-
deen. Second Series: Nature, Man, And The Moral
Order. New York, The Macmillan Company. 1901.
(XX, 480).
Im ersten Bande des Werkes hatte Verfasser den Begriff des Seins
erörtert (vgl. meine Rezension in dieser Zeitschrift XXY, 3j. Ton seinem
dort gewonnenen Standpunkt ans bandelt E. nunmehr in diesem
xweiten Teile verschiedene SünselproblBme ab onter den Uebersobriften;
1. The Recognition of Facta, 2. The Liokage of Tsots, 3. Iba Tempora
and the Btemal, 4. Physical and Social Realitj, 6. The Interpretation oF
Natnre, 6. The Human Seif, T. The Place of tbe Seif in Being, 8. The
Moral Order, 9. The Strug^e with Evil, 10. The Union of Ood and Man.
Zonicbst nntersnoht der Autor, welches die weeentlichen Züge der
Welt seien, die wir als Natar (world of deeoription) auffassen. Solohe
seien ee, <Ue eistohtlidi nicht das innerste Wesen der Dinge aosdräoken
könoteü. Der wii^tigste Zng sei der, dass wir den Objekten der Nator,
d. L den OegenBttnden unserer möglichen Aufmerksamkeit, invariabelo
Oesatie lOBchriebeu. Woher das? In aller Erfabnmg sei onser Inter-
esse darauf gerichtet, Thatsachen als gleich oder verscbieden zu betrachten.
Wir unterschieden aber die Dinge in zweierlei Weise, einmal so, daas wir
durch nnonterbroohene Zwisohengtieder von dem einen zum anderen über-
gingen, zweitens so, dass wir sie als disitrete vrahlgaordnete IndividnalitAten
ansprSchen, ähnlich der wohlgeordneten Reihe ganzar Zahlen. In der ersten
Weise dar Betrachtung habe kein Glied ein nüchstas, in der zweiten habe
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
464 HerlBftia Bohwari:
iadM Qlbd ein nidist«. K« Kaga A Matnr befnoUn b^sM m» m 4at
«ntM T<lM b«MaUui. Nahir tti aln 8|ataa^ im hm mUImw IWkM
bastahs mit QUedun, dio dor^ tMuoad DeUigh^* «Mig vattotpft MiM.
Dia MataiCMMtM Boan dia nwimbtfe»' 0 M atii, in daovi aiab die Hö^-
lialilrüt ewiiiiiiilin. die Oliadar äfaiid tinai diasar irtatigen Baikai in du
von Mdäm ■» tnuforaiiaraa. Solohe Art der AnBwinng tühn n <ian
Oednken der Natur bU cdner ,Welt der Beaahreibang".
1
Dtuge.
ffHadeit in «inaader «ber, aaiidan Üben riik mes aiaudar ata dUiata
Kolieltsn nb, ale Stnlton, is denen aleh jaNa iofifiduUMi Übet innar na«
nd nnwiedarhilhar aomitgtan. Ton ebam Akt« aahreite daa nuwHBaHM
n einem niehsten AMa fort n. >. w. Di« Seit, Hefait B. im AM^n«e
hieran, sei Mrnden die n>rm aotober prektiaelian Akti*itit Owinar
Mi sie die Form der AUfiUt des aadlidian nnerfSUtam trUlena, dw bn-
Htladig des ,noeh nieht'' (not jret) bewnMt aai. Daa gOttÜaha DiPiiuataMn
sei von uderer Form. Dun Bai die Kanie nnendHooe c^tli<die Anfain-
nndarfolge de* Weitgeeohriwns in eiuem Akte gegenwärtig, ao wie
anob tuuaram Bewoa^eiii, frailioh nur in kfineÄan Spannu, laitliali*
Anfeiiuuid erfolgen (i. B. der Töne eines Rhjthmns) geganwftrtig sein könnan
(nKmlioh im rhvtluniBalien OuEen). Jene Gegenwart der gansen Zeitrmhe
in einem gOttliohen Denkftkte heiBse .Ewigkeit*.
Han könne eich anofa noch anderaa endlioluB Bawnaataein ala dae
imBero denken, aolohee, deBsen Akte nioht Seknadan, sondern nu^etch
längere Zeltrftnme, vielleiobt JehnnlJlJonen, nmfbnntnn Dnioh diesen Oa-
duken deutet eioh B. die onoigsnisohe Natu; LetitOFa sei daa Baioh der
mir und meinen UitmeosoheD gem«Diamen EtfihnuiKen. Sie Urnen
ans nioht so ertr dondi BiDnllöne, ab dorch aoiiala Notwendi^M snm
Erleben. Unsere sotialen Oewohnhelten und Kaditionen bombten ja anf
der Annahme einer invariabeln Oleichmlseigkeit der Dinge. Eben dämm
hielten wir letzteie Annahme eo gern and eohnaü bereit; nudtt minder awdi
dämm, weil nnser begrifflidieB Denken mit detaelban eifolgreiioh geong
duobkomme. Allein ea könne sein, daes den Nataigeaeti«! keine abaolato
Innrlabilitit inkomme. Die Nator erlaube iwar genannte, vnaerer Daeik*
gawobnheit entgegwkommmde Anffimmag. Sie «rhabe eie ebenso, wie aia
nneeren leibltohen BedSifmaew mit atloriei Vonttten an Kohlen, Bols, Kalmn^
n. B. w. entgegenkomme. Indanen dämm in Bohlieseen, die Natnr sei
eine invariabele Geaetdiobksit, wkre ebenso Abereilt, wie wenn man schUaae,
sie eei in ihrem tetiteo Wesen ein Warenhsos für nnaai« prahtiaafaen &•-
dirfniase.
0«unereB Stadium seige vielmeh^ daBB swisohen den oiiaaisiAeii
and den anorganischen Proieasen der Hatnt manoheriai AetantialikaMaB
Btattflbden. Diese (Ekitropie!) wie jene vertief«! in ni<it oinkekrtaraa
Beihen. Ferner die anbelebten Dinge (z. B. Aetherwallen) ambtaa aioh
ihrm Nacdkbam anin^eiohen, wie die ZnatOnde des Bewaastseins. Indüoli
den festen Terbahnngaweisen in der nnorganisehen Hatnr eatspAahan die
Gewohnheiten bei Lebeweseii. Die Nataigeaetia köantn fcisfBaalt aahr
w<dil ein nnr aehr langfristiger BbyttimtiB des KatnigeaohaliSBB sein, das
eobHeselieh doch eiiwa andwra wiche. Mit einsm Wort^ die UMMiaBha
Natnr könnte der Oedanhen> tmd Wülenaaoadraok aineB boaaeltsa waaaas
sein, deaaen BewnatsainsiAte unr in nnvei^ehlidi Uagaiar Zeit ala nmwn
iM,Coo<^lc
Boyce, Joaiah, Tb« World and the Indmdual. 405
weobselten. Dunit üeeseo sich auch die diffaieateD Batwiokelnagsreiheii
der oTgauisohen Wesen Tsretehen. Seien wir doch «lleMmt abbäogig von
der Natur, d. h. in du Leban der Natnr eiogeBobloesen. Nicbts hindere
tlao die AnnKlime, dua innerhalb diwea grosaen omfaBeeuden Seibat
irgandwaDn unaer eigaiies, irgendwann vorher das Selbst der anderen Oe-
adtopfe entspningeii sei. Aof solohee Eingebettetaein nnseres Beibat in das
höhere der Natur deute auoh der Umstand, dass mehrere Menachea Iden-
tJBohee erleben können. Oenaner wurde man sieh nach Hotce eu denken
haben, ia das Selbst der Natnr sei mit dem Beibat anderer tierischer Oattnngen
»noh das Belbst der mensabtiohen Baase und erst in letiterea die Selbstheit
der vielen eimelnen mensoblioben Individuen verwobeo.
Wie wir unseres Selbst etet nach der Erfahrung vom Selbst anderer
bewnast worden, so hingen überhaupt alle endlichen Seibert gegenseitig von
einander ab. Sie alle zusammen seien aber besohlossen im Selbst Oottea,
der die ewige Erfüllung des wahren, ethisoheu Selbst eines jeden
sei, und deeseu eigene Eatwickelong, ohne dass er die Znkanlt vorber
wttsate, durch das Leben der endliohen Seihst hindorohgeiie, ja deren Leben
sei. Aut diese Weise werde trot^ der Abhängigkeit der endlichen Selbst
von einander und von Qott freier Wille der Heosohen, dadurch Schuld und
Debel in der Welt, aber auoh der Kampf dagegen möglich.
Han sieht, es aind originelle and kühne, mauolünal gewagte Ideen,
die der Terfaeser entwickelt Beachtenswert erscheinen (net>en aeioer all-
gemdnen Theorie des Beins) vor allem die Reflexionen aber Wesen Tind
Oeaetzlichkeit der unorganisdien Natnr. lu den Ansfiihnmgea über freien
Willen, Schuld und üebel zeigt K. sich energisch bemüht, sein BTstem aus
der Nähe fatalisüsoher Weltacsohanangen wegzarücken. Hier häufen sieh
ihm freilich nach dem Gindracb des Referenten die Schwierigkeiten sehr.
Auf alle Fälle bietet der anregende anierikantsche Autor in seinem Werke
«twas, was in Deutaohlaod selten geworden ist: eine tiefstrebende Meta-
physik mit weiten Perspektiven, ihr Stndinm wird deoeo, die in den
grossen und letzen rragen nach FOrdening begehren, vielfältige Klärung,
jedenfalls reichste Anregung bringen.
Halle a. B. Hebuikh Schwarz.
SiUBel, Bertrkfld, Fellow of Trinity College. Cambridge.
A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz
witli an Appendix of Leading Passages. (XVIII, 311 S,)
Cambridge, At the University Press. 1900.
Der Verfasser stellt das System LEiBKtz' zwar anter genaaer Be-
rückaiohtigang der historischen Znsammenhänge dar. Aber er Uiut es nicht
80 sehr vom Standpunkt des Historikers, dem die Frage im Vordergrande
ateht, .wie sind die Gedanken meiues Autors entstanden?"; sondern er
will als kritischer Philosoph doo Inhalt des Systems auf seine Wahrheit
prfifen: er will Klarheit über den wissenacboftlioben Wert der dai^eatellten
Gedankengänge erlangen und verbreiten. Unter den vielen lichtvollen
Anaführungen sei vor allem auf den Nachweis aufmerksam gemacht^ wie
sich LciB.-nz' leitende Qedanken aus seinen Annahmen über das logische
Wesen der Aassagen entwiokeln. Alle Aussagen haben nach Iaibnce (nnd
nicht nnr nach Leibnizj die Subjekt-Prädikat form. Räumliche Aoaaagen
I. B. gehen nun aber nicht in diese ein-, daher das Bemühen LEmmz', den
Banmbegriff zu subjekti vieren. Iaibhiz kannte sodann die ayntheasobe
TlMMUahnKhrUl t «liwiiHluini. PtaUoi. n. BodoL XSVIL 4. 30
iM,Coo<^lc
466 Dt. 3. Sohnltit
Natur dar TbatsacheuanBSagsD ; diese seieu dunsh den Satz vom zoreiahendai
Grande, d. i. daroh du Prioiip von der Wahl des Besten (E^nalnraadifl)
bestimmt Femei and vor aUem ergebe Bich LiiBiaE' monadistisolier Sah-
atanibegriff aas seinen logischen tVämissen. SabstAnz aei das in der Zeit
behanenda Snbjefet; in dem Begriffe diesee Subjektes seien alle in der Zeit-
reihe an ilun anftretenden Pr&dikate analytJsoh enthalten. Damm könnten
die letzteren nicht von ansäen her in die Monade hineingesetzt worden sein,
sondern mnssten sich aas ihr selbst entwickeln: die Unabhängigkeit der
Uonaden von einander. Diese fundamentalen Qesichtspnnkte setze Lsmoz
im Discoon de H6thaphysiqae und in den Briefen an Abhaüld anseinuider.
Hier li^^ also der Sonlüssel seines Systems; die Monadologie sei davon nw
abgeleitet Ebenso scharhinnig fasst Rcbsbl die übrigen Theniate der
Ixcmnz'schen Philosophie an. Ich nenne die Kapitel ,the Anilysis of Ex-
tension; the Labyiinu of the Continniun, tbe Tbeory of Space and 13n»*.
A.nch hier ist überall das saohliohe Interesse in den Tordei^rnDd geetallL
Alles klar, anregend, lehrreich. Enrz, das Bnoh erreicht seinen Zweck,
den Leser so zu leiten, dasa er nicht nur in Leibniz' Oodanken, aondem
za allen ähnlicher Oeistesart (z. B. denen Lotze's) Stellung zn nehmen
vermag. Bo darf auob dies Bnch bestens empfohlen werden.
Der Anhang (S. 203— 306] bringt zahlieiohe aosföhriiche Bein-
stellen aus den verschiedensten Schriften LeiBNiz'. Wer eine Gesamtansgabe
derselben nicht besitzt, dem kann dieser Anhang schon für sich selbst Mue
erste vori&nfige Einführung in das System Lbibniz' bieten.
Halle a. S. Hbbmank Schwabs.
W. Freytag. Der Realismus und das Transzendenz-
problem. Versuch einer Grundlegung der Logik.
HaUe, Niemeyer, 1902, (164 S.)
Der Verfasser mischte von der iMffk aus den Realismus als die
vemSnftigBte Philosophie erweisen.
Der immanente Wahrheitsbegriff genügt nicht; an einem Gegenstande
will das Urteil gemessen werden (vgl. B. 118—130). Richtig! aber danns
folgt gegen den Idealismus nicht dss Mindeste; denn Gegenst&nde in irgend
einem Sinne erkennt ja jeder an. Dass die ganze Welt als Bewussteeins-
inhalt .gegeben" ist, weiss natürlich anch der Yeröisser (S. 130); wie onn
ans den psychischen Elementen der Kosmos mit seinem Oegansatx von
.Dranssen" nnd „Drinnen" sich erbaut, das interessiert den Idealisten, hänge
er Kant oder Eüue oder wem sonst an; den Verfasser interessiert ea niciit,
aber deshalb dürfte er seinen Gegnern doch nicht in die Schnhe schietwn,
dass sie anssenweltlos herumliefen. Das thut er indessen. Er schliesst
nttmltch 80; Alle Indoktion gründet sich auf das Prinrip von der Begel-
mäasigkeit des Geschehens; dasselbe hat Sinn und Gewissheit nor, aof^
eine erkennbare Aoseenwelt angenommen wird (S, 13,167 f.); wer demnach
überhaupt induzieren will, moss erkenntnistheo retisch er „Realist" werden.
Aber wann hat denn jemand behauptet, die Existenz der empirisohen Natnr
B« minder objektiv ^b die Gültigkeit des Indoktionsschlusses? Kaut trifft
der Pfeil BCbon gar nicht; der bezog ja sämtliche Denkfonnen anasdilieeslich
aat die „Erfabrong.* Damit die Argomente des Verfassers einen Idealisteo
widerlegten, müsste dieser eine Welt lehren, wo alle „pejobisohen labalte'
chaotjsch dnrchebander lägen: Liebesgedanken, Biatwüiste, Axiome, Ton-
leitern n. s. w. in wirrer Reihe. Aber die Empfindangskomplexe sind nns
ja bloss das primitive „Datum' j wir kommen von innen ans in einer
n,g,t,7i.-JM,.COO<^le
Vf. Fieitag, Dei fiealiemus imd das TranBEendeDEproblem. 467
aAneBenwelt*, in dar sicbs indozieren Ifisut, bo gatwie in der des BealiBten.
Und sie ist uoa kein llnombild, an dem wir .zweifeln" (8. 13). „Fbänomen''
ist ans gldohbedentend mit „empirisoher Wirklichlieit*; wir wollen mit dem
Tidbob missdeuMen Aosdrack doch lediglich sagen, dus gegenäbei dem
Tinmittelbar Gegebenen die SiDneoTelt aiB aolche dot eine Keäitit zweiten
Banges besitze; ^ BabBtrat aber der logiaoheii Operationen nnd der Natur-
wiaeensab&ft bleibt Natur Natur, ob wir sie fär transzendent oder ffir
phinomenal halten: trotz 8. 29,34 etc. moss die BeUngloeigkeit des
erkenntnisUieoretiscüen Standpankts für die Basis der Denklebre weiter be-
hauptet werden.
Alles Gegebene ist zunfiohst .psychischer Inhalt"; also sut^ekttv.
Das „also" leognet der Verfasser (8. 130 f.), indem er offenkundig das
„Subjekt* im 8iiine Eakts mit „EmzelperBöniiohkeit'' verweoheelt. Dase
Aber jener Tordetsats zu der an Edoh schon „idealistischen" Frage zwingt:
wie wir vom Subjektiven aofe Objektive übergehen; mitbin irgendeine der
sablreictiett ,idealutieohen" Antworten heraosfordert: das entgeht ihm; dafür
widerlegt er sorgfiUtigst (S. 34 S., 96 S.) ein paar ScheinbeweiBe gegen den
Realismus, die neilich nichts ausgeben. — Das Regelmässigkeitsprinzip moss
er aposteriori begründen; denn wäre es apriori, so könnte er den weiteren
Konseqaenzen EÄnts sich nioht entziehen; aber die Widerlegung seiner
apriorischen Natur (ß. 8j macht er sich aUznleicht Er liebt überhaapt das
Einrennen offener Tburen und das Umgehen der eigentlichen B^istiooen,
Elr k&mpFt anoh altzngeme mit Denteragonisten: möchten die Gegner dritten
bis sechsten Sanges, mit denen er sich henunBchlägt, auch sämtlich gegen
ibn Unrecht haben: die Festong des Idealismus bliebe stehen, wie sie etuid.
Und all das ist schade, denn das Buch ist sehr fleissig gearbeitet
nnd im einzelnen nicht ohne ScharfBinn. Anoh die Darstellong fesselt
anfaoBS, nachher erlahmt ^e an der innerlicheD Hoffnungslodgkeit der ganzen
Aollgaoe.
Berlin. Dr. J. Bchoiw.
Jollns TOD Ollrler. Was ist Baum, Zeit, Bewegung,
Masse? Was ist die Erscheinungswelt? 2. Aufl.
München, Finaterlin, 1902, (Vm und 163 S.).
Vf. ist anergetischer Atomist Masse eines Atoms ist ihm nichts als
die Summe der anf dieses Atom geriobteten Anziehongeo („Quantität
latenter kosmisoher Kraft", 8. 83). Damit zerflieest die Materie
in Energie; gut! non aber kommt die Hanptsohwierigkeit Jeder energetischen
Lehre: wie setzt man die Ene^eFonnen in einander um? Dass „freie
Eiütt" zu Wärme etc. wird (8. 53], wissen wir zwar; aber es bleibt sohlecht-
hin unbegreiflich, SO lange den Hsssenteilchen Gepnlsion abgeht; und von
dieser macht Vf. nirgends Gebrauch: seltsame Umkebmng der alten, ewig
eitlen Mähen, die Gravitation auf Druck oder Btoss zurückzufahren I Die
Unsicherheit in der Behandlung der ÄtherweUenlehre (S. 12S., 97) hängt
unmittelbar mit jener einseitigen Hasse ndeSnition zosamjuen.
Ein „Mqor a, D." den die Leidenschaft zur Wahrheit tief in Pbjsik
nnd Naturphilosophie treibt, der die Grundlagen der Mechanik selbständig
durcharbeitet, den auch die mathematische Sprache der Fachleute nicht
unbedingt zurückschreckte, ist gewiss eine seltene nnd Hochachtung
heischende Persänlichkeit; und das Persönliche interessiert denn anoh in
seiner Schrift am meisten. Zu einem klaren erkenntnistbeoretisohen Stand-
punkte ist er so' wenig gelangt, dass eine Besprechung seiner „philosophischen"
iM,Coo<^lc
468 A- DängOB:
BeBoltate aioh aiolit lohnt. Im ethischen AnbAnge dagSKen steht mMieheB
Originelle. Dar Tf. ist n. a. tapfer genug, mitten in nnaaier demokratiBcben
Zeit sioh gegenüber nnseier nnheimlioben und ihiltnrbedrohenden B«-
TölkaroofjBEmi^nie als Jäoger des veisUindigen, altao ICalthns la bekenoeB.
Berlin. Dr, Jcurs Schultz.
Behnppe, Wilhelm, Der Zusammenhang von Leib und
Seele. Das Gnindproblem der Psychologie. Wiesbaden,
J. F. Bkeqmaum, 1902. 67 S.
Das Babjekt besteht nur in dem Bioh seiner bewnsst sein. Dahar
Verf. die "Wörter Ich nnd Bewnastaam völlig promiseae gebraucht (8. Sbf.
Als primärer BewosstseinsiDhalt gilt die eigene kompakte Ansgedehnthatt
oder die eigene Baamerfätlane (S. 36). Der lebeodige Leib mit alleo
seinen Oeaehehnissen in seineo l^ilen nnd das luh sind dasselbe, indem das
Ich. sich anmittelbar als diese bestimmte Raamerfüllntig weiss (S. 40).
Das Ich könnte sich nicht als Ansgedehntas finden, wenn es nicht wirklidi
ausgedehnt wäre (3. 49). Ich sebe and höre, weil ich mein Auge und
mein Ohr bin \ß. 66). Mein motorischer Nerv will, weil ich will, weil ich
dieser motorische Nerv bin (8. 80). Somit ist das ßeheimuis des ZosanunaD'
hanp zwischeu Leib und Seele zoniükgeführt snf die Ürthstsache, dass
das loh sich als ein iftnmlioh Ausgedehntes beiw. als einen Leib flndat
nnd wriss (S. 61).
Hom bei Detmold. A. DtliraES.
V. Wnndta PhiloBophie und Fsjchologie. In ihren
Grundlehren dargestellt von Dr. Rddou Eislbb. Leipzig.
Job. Aubbobics Babth. IV und 210 S.
Das Buch ist für den berechnet, der Wdndts Lehren kennen lemaii
will, ohne an der Quelle schöpfen tu können; in zweiter Unie soll es cor
G^&nzung des Btodioms der Schriften WcKins oder zur Torber^tnog
darauf dienen. Es werden nach einander behandelt Psychologie, Eikanotnis-
lebre und Metaphysik, stets in engem AnsohLnsse an die Originaldantellnng
und mit Hinweisen zum Zwecke eingehenderen Stadioms. Dazu regt
EiSTjBS Buch vor allem an. Natürlich ist manches recht kurz behandalt
Thataaohe ist vielfach an Thatsaohe gereiht, wo der aufmerksame LaMr
Oenaueres zu erfahren wünsoht, teils wettere Ausführung, teils Begrämdoiig,
namentlich in der Metaphysik. Das tritt besonders da hervor, wo die
— übrigens sparsam geübte — Kritik einsetzt. Das CntorsoheideDde gegen-
äbei den Lebten anderer Philosophen wiid atüuni betent, besonden wn-
gehend ist die Auseinandersetzung mit E«nt.
Eingerahmt wird die Darlegong der Lehron Wuntits durch ein-
leitende Bemerkangen über Aofgaben and Methode der Philosophie über-
haupt and durch eine Zusammenfassung am Sohlusse. Wahrend die Ein-
leitung von dem Gedanken aasgeht, dass Eakts Temonftkritik nach W^er-
biidang verlangt, und dass Kritizismus mehr sein mnss, als kritikloses An-
lehnen an Kant, zeigt die Schlussziisammenfassung, dass Wusdis sx^to,
wissenschaftliche Philosophie als wirklicher Fortschritt befrachtet werden mnss,
Leipzig. W. P. 3chüiu.nk,
iM,Coo<^lc
W. Schoppe, Der Zusammenbang von Leib und Saele. 469
Talenttaier, Theodor, Immahubl Kants Kritik der
reinen Vernunft. 8. revidierte Au0age. 37, Band der
Klrchmannschen Philosophischen Bibliothek. Leipzig 1901
DuBEB. XX u. 769 S. 4 M.
Der neue Verleger der .Philosophisohen Bibliothelc ist bemüht, die
einzelnen Bände nach änsierei Oeatalt wie aneh nacb. innerem Geholte
wertrollor zn gestalten. Dieses Beatieben ist nun auoh der Kritik der
reinen Vemanft za Gate fekommen.
Die Eirchmannsohe Edition war, wie die Vorrede zugiebt, der Ver-
bessernng anaserordentlicL bedürftig nnd damit erledigt sich anoh die
Bechtfertigung nnd qoasi Entsohnliugiing, die der HeraaBgeber Tbsodor
TALsimMEB dem Bndie Toranssohickt. Leider ist für die ersten Bogen
die alte Anagabe als Mannakript betrachtet worden nnd erst später konnte
Yu.ermssR aosgiebiger die Toriiandene Literatur benntzen nnd vergleioben.
Der Text schlJesst sich wie früher an EiRRTeNSTEn an, geht also von der
2. Anfiage ans. Der Abdrnck, den ich mit dem Original von 1787 ver-
gleichen konnte, ist korrekter geworden, eine nochmalige Bevision ist aber
dnichaos notwendig, da immer noch störende Fehler und üngenauigkeitea
sich finden. Die Emendationen der veisohiedensten Art sind meistens in
den TcTt aufgenommen worden, ein Verfahren, das sich vielleicht recht-
fertigen lisst, wenn man bedenkt, dsaa die „Philosophische Bibliothek"
flixem weiteren Leserkreise dienen soll. An manohen Btellen hBtte der
Kantieohe Wortlaut ruhig beibehalten werden kSnnen, nnd für die Benutzung
zu akademischen Zwecken und zum Stndiam wäre es fiberhanpt vorteilhafter
gewesen, die Lesarten sämtlich den Anmerknogen Eozuweisen, wenn ich
damit anoh nicht etwa einer pedantiaohen ■Wiederholung der Druckfehler
und offenbaren Versehen das Wort reden will.
Leipzig. Wn^BELu Paul Schdiuhh.
Paligji, 1. Der Streit der Psychologisten und For-
malisten in der modernen Logik. Leipzig 1902. 93
Seiten. 2. Kant und Boi.zano. Eine kritische Studie.
Halle 1902. XI und 124 Seiten.
In der Binleitnug zur ersten Schrift stellt Verfasser die Bebauptong
auf, der logische Psychologismus sei eine FolgeerscbeinuDg der Vorhensohaft
der Physiologie innerhalb der philosophischen Betracbtungs weise. Der Phy-
tHologe sei nttmlioh geneigt, alle psyuhiechen Erscheinungen bloss als Schatten-
spiel za betrachten, welches die physiologifichen Vorgänge begleite. Diese
Betrachtungsweise fähre naturgeinäBS eqt Neigung, die Logik ganz in Psy-
chologie aufgehen zu laasea. Uebrigens habe der Psycbologismus auch
eine relativistische Weltantfassong nnd eine vollige skeptische Zersetzung
des Wahrbeitsbegii^ im Gefolge. Die formalistisch Tendenz in der Logik
wird dagegen nach FuJiaYi, durch die sich erstaunlich entfaltende moderne
Itathematik ermnntert und genährt. Die Hatbematik, der geborene Feind eines
jeden Belalivismns nnd Psych ologismus, wünscht die Logik ebensosehr anf-
lasangeo als die Psychologie die Logik absorbieren machte.
Verf ist demgegenüber der Ansicht, daas die Logik sich zwar nicht
in Mathematik anSösen lasse, dass aber insofern zwischen Logik nnd Ma-
thsmatik ein inniger Zusammenhang bestehe, als sich die matbematisohen
iM,Coo<^lc
470 Karl Uarbe:
Bezieliaiig«Q wie Oleichnisse nnd Metaphern beniitzeD laaaan, am lagtBcha
BeEishnDKen Binnßllig za maobeti. Nach ansföhrlicher PoLamik gefitn
Hl'hsibl and BoLZANO, vorüber man die Bemerkungen Husskbl'b in d«
Zeitsohrift für Fayoholo^o und Physiologie der Sinneeoiigane, Bd. 31 p.
28Tft. Tei^leiohen möge, ^ebt Verf. eine aoBföhrllohe syatematische Dir-
atellung seiner eigenen Anaiohtea über das Terh<nis von Psychologie
und L^k.
Dass zwisahen logischer und psychologiioher ForeohnngaTau m
Untereohied bestehe, ergiebt sich nnserm VerL Enfolge sogleich, wenn mio
die Ideale der Psychologie and Logik ins Ange taaat. Die Ambition jener
soll befriedigt sein, wenn wir für irgend eine beliebige Person P., welch«
in eine bestimmte Lebenslage L versetzt wird, angeben kQnnen, waldiM
payahische Verhalten V sie in jener Lebenslage bekundet Das Streben
des Logiker« hingegen geht dahin, die ErkenntnisthStigkeit durch Znniok-
wendung auf sich selbst ed lintem, zu kr&FÜgen und zu vertiefen, kon —
zu potenzieren. Verf. unterscheidet nun die pByohiaohen Fonktionen in
SonderfonktioneD (Empfinden, Fühlen nnd Wollen), denen es an der Fähig-
keit gebricht, sich auf andere psychische Funktionen oder aof sich selbst
zu beziehen und in die allgemeine oder abstrakte psychische Funktion d«
Wissens oder Erkennens, Letzteres kann sich auf alle anderen psychischen
Fonktionen und aaf sich selbst beziehen. Der Unterschied beider Clusen
von Fnnktioaen soll sioii besonders aus der Thatsache ergeben, dass mu
wohl sageo kann, .ich weiss, daaa ich fühle, will oder sehe*, and aoear
.ich weiss, das» ich weiss, dass ich weiss . . . .* nicht aber „ich seue,
dass ich sehe" oder ähnlicjies. Die ünteisnchung der genanntea Sonder-
fanktioneu d. i. des unrefleL'tierten Bewusstseins soll nun die eigentliche
DomKne der Psychologie sein j die tJnteranchung der allgemeinen, abstiakten
psychischen Fnnktion des Wissens d. i. des reflektierten Bewassteedns oder
des Verstandes ist Aufgabe Logik.
Li dem Begriff einer allgemeinen psychiaohea Funktion liegt es, dasa
sie in einer jeden besonderen psychischen Funktion gegenwärtig ist; so ist
denn auch in jeder besonderen psychischen Funktion sin Wissen enthatten;
wenn ich z. B. eine rote Farbe sehe, so habe lob in meiDem Sshen ein
Wissen nm die rote Farbe. Da anderarseita unser reflektierteB Bewontson
stets von einem unreflektierten durchdrungen ist, so stehen Psychologie
und Logik bei aller Verschiedenheit ihrer Gebiete im engsten Zasammen-
hang. Dabei lässt Verf. auch eine rein psychologische üntetanchong dei
firkenntnis zu: die Untersuchung der unreflektierteD oder wie Verf. aoch
sagt, der konkrete Seite des re&eklieiten Bewosstseins ist Aufgabe d«r
Psychologie.
Die zweite Schrift bildet gowissermassen eine Ergänzung znr arstes:
indem Pal^qt! die in der ersten Schrift mehr angedeuteten Ansichten tos
BoLziKO hier ansführlicher bebandelte. BoLzura's Lehre vom Satz an sich,
worunter dieser Denker den isolierten Sinn des Satzes versteht, sowie saüie
Lehre von der Wahrheit an sich, die sich aas Sätzen an sich zosammeo-
setzen soll, sowie endlich seine Tors teil ungstheorie wird aosführlicli er-
örtert Letztere nmfaast die Lehre von der .Vorsteliong an sioh*, d. h.
der Wortbedentnng, unabb&n^ davon, ob dsis Wort gedacht wird od«
nicht Pal 'oti sucht den Oegansstz dieser Lehren zu den grundlegendsii
Ansichten K^.vr's, von dem suh übrigens BoLzura auch teilweise be^D&nsit
erweist, herauszuarbeiten, und Bolzi^o mit Lzibniz in näherer VerbiadDug
EU liegen. Lbibhiz bekannte Lehre von den veritet de raison uod dn
verites de fait kehrt bei Bolzano als üntersoheidung zwischen BegiiEE>-
iM,Coo<^le
PftUg7<- ^B^ Streit d. Psyohologisten u. d. Formaliaten etc. 471
und üntersoheidnnges&tEen wieder, am der £AM'sohen üntersoheidong der
üneile a priori und a posteriori ge^nüber za treten.
PuuCqti'b eigene Ansichten über das Verhältnis von Psyoholt^e
und Lo^, stimmen, wie man sieht, im weseattichen mit jener sobolastisohen
"WoTtweiBheit überein, die in jedem Bewosatseiusatt ein Wissen erbUobt
und die sohon einer einfachen Betraohtang des Sinnes des Wortes HWissen"
gegenüber in sieh EOBammeoAllt. Die Aaefilhrangen des Verf. über die
Fsjoholofie machen ntoht den Sindraolt, dasa er diese Wissenschaft am
eigener Erfahrnog odoT anoh nni aas eigenen Stadien näher kennt
Wünborg. Karl U&rbe
J«aii Jadrtg, De la räalitä du monde sensible, Deuxiöme
fidition. Paris 1902. 429 Seiten.
Der Verieger Felix Aloan hat dem Rezensionsexemplar eine hekto-
graphierte kurze, ttheraos anerkennende Sezensioo beiget^ aus welcher
wir erfahren, dass die Bohrift tot einigen Jahren als Pariser Doktordiaser-
tation eiBohienen nnd dass ihr Verfasser mit dem bekannten Politiker
identisoh ist. Jaaree stellt sich die Frage, in welchem Sinne, auf welche
Weise ond bis 7q weloiiem Orade die Welt als real anzusehen ist. Indessen
führt er ohne erkenutnistheoretisohe Skmpel das Problem der Realität anf
das Problem des Seins zurück. „Um zn wissen, in welchem Sinne ond in
welohem Qrade die Welt real ist, muss man wissen, was das Sein ist nnd
in welchem Masse die Welt am aktuellen und poteotiellen Sein teilhat"
Das potentielie Sein ist für Jaores das Qabestimmte Bein, das aktuelle Sein
ist ihm das bestimmte einheitliche und nach Einheit strebende Sein. Da
Jaures jeder Sinn für Erkenntnistheorie zu fehlen scheint, setzt er den un-
endlichen, unwandelbaren und einen Aether (ether) gleich dem unendlichen
unwandelbaren and einen Sein (Stre). Dieses Sein ist, wenn nicht Qott in
Beiner Vollständigkeit, so doch wenigstens eine grossartige Seite der Qott-
heil. SiAter erfahren wir, dass das Licht die Funktion hat, die universeile
Identität ond Durch siohtigkeit dieses Seins sa bestätigen. Es ist ebenso
wie Wärme und Sahall eine ewige Funktion des Wettalls. Wohl zur Unter-
stützung dee mosaischen Sohöpfangsberiohtss lehrt der Verfasser, dass das
Licht, wenngleich ea za seiner Manifestation besonderer materieller Lioht-
Snellen bedaif. dooh wenigstens der Idee nach vor diesen existiert — In
ieser Art geht es weiter. Nachdem ich gegen die E&lfie des Baohea durch-
geloeeu hatte, habe ich die Ansicht gewonnen, dass eine weitere Fort-
setzung der Lektüre weder für die Leser dieser Zeitsohrift noch für mich
von Nutzen sein könne.
Würzburg. Eakl Marbe.
A. Dyrolf, Über den Existentialbegriff. Freibui-g 1. Br.
1902. VI und 94 Seiten.
Im gewähnliohen Leben nennen wir einen Gegenstand existierend,
wenn wir eagen wollen, dass er mehr als eine blosse Fiktion oder eiQ ein-
foches Qedankenerzengnis sei. In der Philosophie bezeichnen wir als
existierend alle Bewusstseinsin halte schlechthin, die sich dem Denken in
irgend einer Weise als gegenständlioh zeigen. In diesem Sinne existiert
auch die Vorstellung eines goldenen Berges, ein leerer Ranm, eine Fem-
kraft. Selbst die Vorstellung „Nichts" kano insofern als existisrend be-
zeichnet werden, als eie nicht von unserem Belieben oder unserer Phan-
iM,Coo<^lc
472 Karl Marbe:
taaie abhängt, aoodera in einer bestimmten GwetimKasigkait nDsereB Daik«Di
eine ihrer leilaisacheii bat Nach diesen grnndtegenden £iörteningeii be-
bandelt Verfasser das Terbälbiis des EEigteDÜalbegriOs gegeonber den Be-
griffen des Seins, der BealitSt, der Wirkliobkeit lud des Baseiiis, am sich
naoh eiDigen mehr benohtendeo AnsführungeQ über die metaphysiscka and
erkenntnistheoretisohe Deotang des ExisteutiaJbagriffes, dem eigaDttiahsD
Ibema, der Frage nach der Entstehung dw Eriatentialb^riffM losa-
venden.
Dtroff verwirft znafiohst die Htms'gche Lehre, dasa der EiisteDttal-
begriff unmittelbar in der Erfabrong und mit jeder Erfahrung gegeben sei.
Anch die Ansichten, dass der Existentialbegriff ausEotüiesslich durch Ver-
mitteLung der Erfahmng oder anmittelbar doroh die Ternanft odardena
Vermittelong zustande komme, wird abgelehnt, ebenso wie die Meinung,
dass der Existentialbegriff jedesmal zum Bewnsstsein komme, wenn Er-
fabrang und Denken irgendwie zusammen treffen. Terfassar vertiitt die
Ansii^t, dasB der Begriff dar Existenz von der Erfahmog aasgebe, indran
er sieh tuerst an den Inhalten der Sinnes wahniahmnDg entwickele nud
dann auf Inhalte der Selbst Wahrnehmung übertragen werde. Brsengt wird
der Begriff durch das Denken. Indem dieses Bewnsataeinainhalte nnter-
Hohaidet und gleioh fiudet und insbesondere zwischen Wahmehmang und
Erinnerung nnterscbeidet, gelangt ee an der Hand dieser Erbhningen nun
Kxistentialbegriff. Auch der Wille nnd das Gefühl haben Antml am Zo-
atandekommen des Bxistentialbegriffes, dessen letzter tlraprong im Oegen-
BtandB- und somit in letzter Linie im lohbewuastsein zu suchen ist
Die der Schrift in einem Anhange beigegebenen Anmerkongen ent-
halten umfangreiche, auch die schuIastiBohe Philosophie berüokaichtigend*
Literaturangaben.
Würzbui^. Eabl Hasbb.
Kant, Gesammelte Schriften; herausgegeben von der
Königlich preussi sehen Akademie der Wissen-
schaften. Bd. Xn, zweite Ähtflilung: Briefwechsel.
3. Baad. XVn und 466 S., geb. 11 Mk. — Band I,
erste Äbteilmig: Werke. 1. Band. Berlin, Reimer 1902.
XXI und 586 S., geb. 14 Mk.
Der dritte Band des Briefwechsels umfasst die Jahre 17d&— 180.?.
Sdion diese Zahlen sagen ans, dass sein Inhalt an «issenGohaftlioher E%i-
losopbie nicht so ergiebig sein kann wie der der früheren BAnde. Dennoch
bringt er über fünfzig eigene Briefe oder Brieten twürfe Kakt's, allerdings
meist von sehr Inirzein Umfang. Von den in den übrigen OesamtaoBKaben
nicht veröffentliohten Aeosserungen dea Philosophen, die an dies«r EÜell»
allein Interesse beanspruchen, sind zn erwILhnen: der Brief an HoRsiNSnBN.
in dem Kan (S. 36) dem Adressaten schreibt: „ich glaube an Ihnea flinait
Mann zu finden, der eine Oesohiohte der Philosophie nicht oaoh dw Zöt-
fclge der Bücher, die darin geschrieben worden, sondern nach der natflr-
lichen Oedan kenfolge, wie sie aioh nach nnd nach aus der mensoblioheit
Veranntt bat entwickeln müssen, abzufassen im stände ist, so wie die Bl^
mente derselben in der Kr. d. r. V. aufgestellt werden". Der Brief aa
SciLin (3. 87) belenobtet scharf Kakt's Stellung zu der Masaregelaog doroh
WöLLNKR, die AeDBserangeo über die Art und Grenzen des Lehrena nnd
n,g,t,7i.-JM,.COO<^le
E&nt, Oeeaminslte Schriften. 473
Lernens an Joüanh PLüciciit (B. 66/67) erinnern an die didabtiBolien Prin-
zipien des jongen Eura; in dem Schreiben an ScrOtz (S. ISOff.) ist liem-
lioh Bnsfährlicb von recbtuphilosophiBofaen Fragen die Bede. Aber damit
ist anob das philosophisch Interessante aas Kant's Briefen im wesenUicheo
eitoböpft. Fär den Charakter E^m'g bezeichnend ist das Scbmiben, in
dem et siob für den in den Terwaltangsdienst übertretenden Eiesewetter
beim Minister von STautssra verwendet (B. 137/38, Tgl. 6. 377); nicht
mindn der gsBohäftamlBBi^ kühle Brief, in dem Eakt seinem Bruder den
Tod üner SohweBter anzeigt (S. 139); auch die Anzeige der Sohwigerin,
die ihm den Tod seines Bmdeis meidet, lOsst er dnroh „einige Woohen"
unbeantwortet (S. 801]. Dagegen klingt naoh dieser Seite hin atwas ver-
aöhnliober der acböne Ansspra^ über die EUtem (S. 140) und der Schlnss-
brief der ganzen Sammlnng, in dem Kant im Namen seines veistorbenen
BrndeiB seiner Nichte nnd deren Brfintigam den väterlichen Segen erteilt
(S. 343). Die Briefe, die an Kant gerichtet sind, zeigen ans wieder ein
höchst interessantes Enlturbild der damaJigen Zeit nnd halten alles, was
man sich darüber nach den vorigen Bänden versprechen musete. Die
«Naohtr&ge", in denen noch 23 Nnmmem, darunter vier bisher un-
bekannte Briefe Kint's weh befinden, bieten keine besondere Ausbeute.
Der .Anhang" enthält; 1. Oeffentliche Erklärungen, in denen die auch
sonst bekannte Aensserung Kants in der ScHLBiTWEiH'soheii Streitsache zd
beachten ist: dass der Hofprediger Schih-tz der Mann sei, der seine
Bohiiften wirklich veretehe, „wie er sie veistanden wissen wolle" und dessen
(kflrzlicb neu aufgelegtes) Btiohleiib über die kritische Philosophie der
rechte Kommentar zu dieser Lehre (S. 393). 2. Hand Bcbriftli che Erklänngen
nnd letzter Wille, Hier wird der Abdruck des E&NT'schen Testameota
mit allen Kachtiägen und Etauaeln jedem Kantforscher willkommen nnd
ihm eine neue Beat&tignng sein für die Durchdringung dieser Persönlichkeit
mit strengen Ternnnftmäzimen. S. Denkverse zu Ehren verstorbener
Kollegen. 4. Zwei Gedichte, die Kant von seinen Zuhörern gewidmet
sind, deren erstes die seltene Terebrung zeigt, die Kant sohon im Jahre
1770 genoBs. 5. 10 Stamm buch verse, von denen die meisten sieb als
Mottos zur kritischen Philosophie verwenden Hessen. 6. AosgewUilte
Proben ans dem amtlichen Schriftverkehr, die uns Kaut in seinen offlziellen
Aeosserongeu an Uinisteriom, Senat, Fakultät, die Studenten n. a. vor
Augen führen. Zur weiteren Orientierung über diesen reichhaltigen XIL
Band sei, wie schon für die früheren Bände des Briefwechsels geschehen,
aat das eingehende Referat in den Kant-Studien hingewiesen. (Band VIII,
Heft 1, a 97—110).
Der erste Band der Werke enthält ESnächst ein anaftthriicfaes
Vorwort Dilthiiy's über die allgemeinen Prinzipien der neuen Ausgabe,
über die Eintwlung in die vier Ahteilongen (Werke — Briefwechsel —
NaehlasB — Vorlesungen); dann folgt das Terzeichais der Mitglieder der
Kant-Kommission, in der Vertreter der historischen, philologisoben, psvt^o-
It^isohen Richtung der Philosophie snfgenommec sind; derlieiter und Hit-
arbeiter an den verschiedenen Abteilungen, wo wir der gleichen Vielseitig-
keit begegnen, die ein schönes Gelingen des grossen Unternehmens in Aus-
sieht stellt Am SobJois des Bandes orientiert eine „Einleitung in die Ab-
tMloDg der Werke" (S. 507fF.) über die speziellen Grundsätze, naoh denen
diese Abteilung bearbeitet wird. Die Schriften bis 1781 erscheinen in streng
ohrenologiicher Folge; von 1781 ab folgen eist die grossen Werke, dann
die in EÄjrr'a Aottng veröffentlichten Voriesnngen; jede Omppe ist in sich
chioiiologisch geordnet Die Verteilung der Werke auf die IZ Btnie ist
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
474 Baoal Richter:
8. 508 angegeben. Blb auf eiaea Fall aiad die Ori^^ntldraoke dem Texte
zu Onrnde gelegt. Von dec Kritik der remen Temnnft ist die 2. Aiugabe
vollständig, die erste bU zu den Paralogismeii der reinen Ternanft (inkl.)
som AlHlruok gebracht, üeber Behandlung der Sprache, lateipankäoii,
Octhographie (Bearbeiter: Dr. Frej) geben S. 611S. aneführlich Beoheo-
whaft) Interpunktion nod Orthographie werden sich — nm empfindliche
Störungen zu vermeiden — nicht au das EAyr'Bolie Torbild halten; dagegon
wird die Sprache Kant'b in ihren Btehendeu Eigentäuiliohkeiteii geaioheTt
bleiben. Jeder Schrift Kant'b sind Eiuleitung, die das „ftoSBcre lliäswihen-
material' bringt, Haohliohe Erlänteningeu und ein TeneichuiN der Lesarten
beigegeben, die am Sohlnsa eineti Jeaen Bandes ihre Stelle &nd«D. Naoh
dieeen philolo^sch, hiBtoriBch und philceophisch maBtergiltigen Oondita-
pnnkten Bind denn anch die Werke der Jahre 1747 — 1756 in voiüegoidem
Baude heraoegegeben : alA ein neuer Stein an dem mächtigen Denkmal, das
die Berliner Akademie in jahrelanger Arbeit dem groaseu Philosophen er-
riohtet.
Leipzig. Eaoiil Bickter.
W. Ostwald. Vorlesungen über Naturphilosophie.
Leipzig, Veit & Co. 1902. 467 S.
Das voriiegende Werk bildet einen grossartigen Tersncfa, die Natur-
philosophie wieder xa Ehren zu bringen. Ostw^ld will dabei die Fehler,
an denen die fräbereu Naturphilcsophen scheiterten, vermeiden, indem er
„das Denken sorgfältig an der Erfahrung prüft* ond „nur sorgfältig ge-
prüfte, in ihrer Tragweite feBtftestellte YorBuasetznngen" verwendet Hierbei
kommen ihm die neuesten Forschuneen der Mathematiker und Naturwissen-
schaftler aber das Wet.en der von ihnen behandelten Erscheinungen an
statten. Die bezüglichen Ergebnisse werden mit feinem Urteil herangeiogen
und geschickt tu das energetische Weltbild, das Yerf. zu geben beabaichtigt,
eingefügt So bildet die Lektüre des Baches namentlitSi für den mathe-
matisch-naturwiBsensohaftlich gebildeten Fhilosophen einen Qenuss, und ee
ist sehr wohl zu verstehen, dass die Zuhörer in grcsser Zahl den intar-
essanten Verträgen, in denen die Quintessenz des Wissens geboten wird, lüs
zum Schlnaa beigewohnt haben. Allerdings kann nicht geleugnet werden,
dass der Standpunkt des Terf. auf die Deutung der Eischeinncgen und auf
iie Formuherung der Tbatssohen einen bemerkbaren Druck ausübt
In den gleichsam als TJuterbaa dienenden, einleitenden E^teln
entwickelt Verf. seine Ansichten über das Erfahrungswissen, die Sprache,
die Sinnes eindrücke und Begriffe, die Mannigfaltigkeiten bezw. Zahlen, dio
OrÖssen und SULrken, Zeit, Raum nod Substanz.
Der OrundbegrifF, mit welchem Ostwald's Naturphilosophie operier^
ist die bei vielen PhiloBophen so verpönte Energie. Ei sagt: „Mit Aus-
nahme der Energie finden alle die anderen Begriffe, deren Qrösse dorn
ErhaltuBgsgesetz anterliegt, nar auf begrenzte Oebiete der Natnmiecbeinniieen
Anwendung. Einzig die Energie findet sich ohne Ausnabme in allen b«-
kannten Naturerscheinungen wieder, oder, mit andern Worten, alle Natur-
ersohnnnngen lassen sich in den Begriff der Energie einordnen.* Der
Eoergiebegriff ist der allgemeinste. Er nrnfasst nicht nur das Problem der
Substenz, sondern auch das der Eausaiität.. Auch gewinneu wir dorob to
eoergetiache Darstellnug für die Thatsachen einen Anadruck, der vollkommen
frei von hypothetischen Annahmen iat. Denn jeder djasbezfigliohe Begriff
hat eine anfweisbare und messbare Grösse und Stärke. Verf. behanddt
iM,Coo<^le
W. Oetwald, YorlMnngeD über Nataq^iiloBophie. 475
naoheisander alle brtannteD Arten Ton Energien im AsBchloaB an die
neneaten Fonohnngeo der Speiialwisseiisohaften aud geht dann nber lom
Oeaeti des GeecbeheuH: .In jedem Qebilde geeohehea (U^euigeu Vorgfinge,
doiuk welche ee sich dem Zustande dea Qletohgewiahts n&hert. Ist ea in
dieaeiD Zustande, so geechieht nichts." „Damit etwaa geBohiaht, müsaen
lnteneitätsnDteiBobiede der anwesenden Energien roiiunden sein." Nor
Bolohfl Ehiergien kännen sich als rfiomlioh gesonderte ErBoheinnogea erhalten,
welche durch Verknüpfang mit anderen ein EosammeDgesetataa Gleich-
gewicht ergeben, in dem die IntenaitStasprünge der eiaea Form daroh gleich-
wertige Intensit&tHspriinge der andern Form kompensiert werden. Bin be-
Bonders wichtiget Zustand ibt der stationäTe, wie £. B. der einer Lampen-
flamme, Er unterscheidet sich von dem stabilen dadurch, dasa bei diesem
gar kein Energiewecbsel vorhanden ist. Wenigstens verläaft der in gewissem
Sinne vorhandene Energiewechaal mit konstanter Qescbwindigkeit, und des-
halb aehen die betreffenden Erscheinungen so aus, als seien sie onverändert,
Bolche stationäre Zustände berohen auf Selbatregolierung.
Maaae ist Eapazitftt für Bewegungsenergie.
Besonden bemerkenswert sind die Ansführungen über das Eiinsalititts-
gesetz: Indem RoumT Haveb als Definition der altgemeinen Ursache den
Salz aufstellte, dass die Ursache der Wirkung quantitativ gleich sei, nnd
dasB, wenn die Wirkung eintreten soll, dazu die Ursache aufhören, d. h. ver-
braucht werden mtisse, hat er das Kausalgesetz mit dem Gesetze von der
Umwandlung und Erhaltung der Energie identiflsiert. Das Kausalgesetz iat
kein Gesetz a priori, sondern „ein praktisohss Ergebnis unserer BemtihungeQ,
für die Beurteilung der Zukunft unsere Erfahrungen zu sammeln und in
Begriffe zu ordnen". Das Kausalgesetz besagt, .dass zwischen den Ur-
sachen, den Bedingungen und den Anläaaen der Oenilde eineraeita und dem
Ablauf der Erscheinungen an ihnen andererseits ein eindeutiger funkdoneller
Zosammenhang besteht, so dass bei Herstellung derselben Yoraussetznngen
auch derselbe Ablaut eintritt". Wie das Kausalgesetz sind auch Baum und
Zeit nichts als durch eine lauge Entwickelung emoTbene nnd durch Ver-
erbung gefestigte Denkmethodeu, die unter andern Umständen auch anders
hätten ausfallen können.
Das energetische Weltbild der nichtorgani sehen Welt darf als ein im
allgero^nen zutreffendes bezeichnet werden. Grössere Schwierigkeiten bietet
die organische Welt einer natnrphilosophi sehen Baarbeitung. In der
organischen Welt bildet der Stoffwechsel nur eine Begleiterscheinung des
Energiestromes. Die weaeatliohe Eigenschaft der Lebewesen iat in der
Selbsterhaltnng zu anchen. Damit diese letztere möglich wird, mnss die
andere Form der dauernden Existenz, die stationäre (im Gegensatz zur
stabilen) beetehen. Das faeisst, „das Gebilde mnss seine Beach^enheit da-
durch aufrecht erhalten, dass es nicht kompensierte Intensitätssprünge ver-
mittelst beständiger Nachlieferung der Energie, die zerstreut wurde, erhält".
„Durch die Wirkung dea Energieverbrauches wird die Zuführung weiterer
Energie so beeinflusst, dass immer annähernd der gleiche Zustand erhalten
bleibt." „Die Organismen haben aber auch die Fähigkeit, sich der Energie-
Vorräte selbständig zn bemächtigen, deren sie zur Anfreofaterhaltnng ihres
stationären Znstandes bedürfen.'' „Der Organismus ist wesentlich ein
Komples chemischer Energien, deren Umwandlung in andere Farmen sich
derartig regelt, dass ein stationärer Zustand entsteht." „Alle andern Ener^e-
fonnen riuiren von der Umwandlung uhemisoher Energien her." „Die
ohTomophjllhaltigen Pflanzen nähren sich von strahleDdei Energie, alle
iM,Coo<^lc
476 Giessler:
andern voa chemischer. Die ant der Erdrinde auffindbare ßreie Sne^»
rülut TOQ gegenwftttiger oder früherer Sammlang der strahlenden her**.
Dia Tempaiakir beeinausBt die Geschwindigkeit bestimmter chemischer
Beaktionen. Jedoch nur die Warmblüter besitsea Ginrichtiuigen zur Bam-
lianmg der Temperatur. Ein Eweites Mittel zur Begnlierong der 0»-
Bchwindigkeit liegt in den RaumvarhSltnissen dar reagierenden Stoffe.
„Ein Torgang verltLoft nm bo langsamer, je garingei die Mengen der be-
teiligten Stoffe Bind, die im Reaktionsgabiet zur Geltang kommen." Bn
drittes Mittal ist die Eatalyse. OewiBse Stoffe, ^e Eat^ysaforen, wirken
auf chemieohs Vorgänge verlagernd oder beschleunigend, wlhreud sie selbst
unverändert bleiben, z. B. in dem trocken aufbewahrten Gerstenkorn nifat
die Dnlösliche Stärke neben den gleichfalls in fester Gestalt Torhandenen
Keim bestand teil an, bei Zufähmng von Wasser von genügend hoher Tem-
peratnr jedoch beginnt eine Beihe chemischer Reaktionen, bei welchen die
Stärke dncch die vom Keime ansgwchiedenen Katalysatoren in lösliche
Formen übaigeführt wird.
Das Ergebnis einer ßeizwirkung im O^anismns besteht immer in
einer Änderung des EnergiestroDies. Dies kann eine Vennehmug oder
Terminderung sein. Jedenfalls wird durch den ßeiz keine Energie arzengt,
sondern nur vorhandene freie Energie in ihrer Bethätigong geändert. i.ach
die elektrische Energie der elektrischen Fisüha und die strahlende det
leuchtenden Insekten stehen onterm EinfluBS von Reizen, welche auf den für
gewöhnlich lauesam verlaufenden Vorgang potenzierend wirken. Unmittel-
bare Umwandlung chemischer Energie in mechanische findet durch
Aenderungen des osmotischen Druckes und durch Aendernngen der
Oberflächenspannung statt. Die wichtigBte Leistung ist die Umwandlnng
der verschiedenen chemischen Energien in einander. Das am meisten
angewandte Mittel ist hier wahracheiulich die katalytieche BeschleQQt^ong
der brauchbaren und die katalytisohe Verzägernng der an zweck mftBBigen
Reaktionen. In allen Organismen linden sich solche KatalTsaloren
(Encyma). Die Ausbildung eines bestimmten Katalysators kann unter
zahllosen möglichen StoiTen einen bestimmten in seiner Bildung so
beschleunigen, dasB er ganz vorwiegend entsteht Auf solche Weise wird
es verständlich, wie ein hoch zusammengesetzter Organismos, z. B. der
menschliche, aas der gleichen Nährflässigkelt, dem Blnte, in seinen tbt^
Bchiedenen Organen die mannigfaltigsten StoEFe bilden kann. Für das Oe-
däohtnis ist das Bild der ausgeschlilTenen Bahnen nicht zutreffend. Ostwuj»
nimmt statt dessen einen katalytischen Beschleuniger an, der in einer un-
wirksamen Form stets anwesend ist, und der durch den Reiz teilweise in
wirksamen Zustand tiberffthrt inrd, sogleich hintorher aber in den ouwirk-
Samen zurnckTerftllt. Etwas wie Gewöhnung, d. h. eine Erleiohtarang det
Wiederholung würde eintreten, wenn der Beschleuniger während seinee
wirksamen Zostandes noch die E^higkeit hätte, seine Hange aus der an-
wesenden ErnährungBflässigkeit zn vermehren.
Wie verhalten sich nun die geistigen Ersuheinangen zum Enugie-
begriff? Nii^ends findet ein geistiger Vorgang ohne Energieaufwand statt
Und zwar liegt Teranlaasang voi, ein seelenartiges AgenB ausadüieealidi
für die Lebewesen anzunehmen. Da der Oi^Hniamns ein im Btationänn
Oleiahgowicht stehendes Gebilde ist, so findet in ihm ein beständiger Eäiar^e-
nmsatz statt, womit die Möglichkeit der vorübergehenden Entstehung daer
beeonderen Energieart, nämlich der geistigen, gegeben ist Die ThatsMlw
der Reizleitnog verrät uns das Torhandenaein der Narveneneigi«. Dei
Reiz ist die äussere Energie, welche dandi den nervalen Apparat in die
iM,Coo<^le
W. Ostwald, YoTlsBiingeii über NatorphilosopMe 477
NerreDenergie des Eisdniohs verwandelt wird. Jade Fördenuig des Energie-
Stromes wird als angenebm, jede Störang desBefben als naaDgeaehm em-
pfanden. Das Bewnsetaeia ntui ist eine EigenschaFt der „Himeuergie",
□Kmliob derjenigen, welche im Zentralorgiui bethStigt wird. Damit die
ISndnicke zu bewasstea werden, ist noch ein neuer Energie Vorgang nötig.
Tom Denken ist das Wollen u. s. aaoh ioBofern zu nntersdieiden,
alB beide Th&tigkeiten des Zeiitralo^ans nioht nar inhaltlich von einander
vereohieden sind, sondern höchstwahrsoheiuljoh an verschiedenen Stellen
und in verschiedenen Oi^uen des Oehims stattfinden. Dies erkennt man
daraus, dass das WiUensorgan durch VerDacblgRaiKung and Niclitgebranch,
Krankheiten und Bchädignugen meist früher beeinträchtigt wird, als die
andern Organe des Gehirns. Danken nnd Wollen besitzen sogar eine
Tendenz, sieh gegenseitig zq hemmen. Eine Willensbethätignng tritt nor
dann ein, wenn ein vorhandener Zustand zum Bessern verändert werden
soll. ,^ der Behauptung der Wiltensfreibeit liegt nicht die Bebanptong
eingeechkiasen, dass es keine Faktoren giebt, welehe den Willen beeinflussen,
sondern nur die, dass es keine Beeinflussung des Willens giebt, die nicht
durch den Geist des Beeinflnssten hindurchgegangen ist." „Die Elemente,
welche zu einem Entschlüsse beitragen, liegen niobt alle in unserer Gewalt,
die Axt aber, in welcher vrir diese Eleniente zu dem schliesslioben Willens-
vorgange zusammenwirken lassen, ist eine Folge unseres eigenen Wesens."
Erfurt. GiESSLEK.
Sehlller, H. und Ziehen, Theodor, Sammlung von Ab-
handlungen aus dem Gebiete der pädagogischen
Psychologie und Physiologie. Berlin, Reuther und
Eeichard.
IV. Band, 3. Heft
Llebmun, Alb., Dr. med. Die Spraohatörungen geistig zurück-
gebliebener Kinder. 1901. 78 S. 1,80 M.
Die Spraohstärungen nehmen in der Beihe der Defekte geistig zu-
rückgebliebener Kinder eine hervorragende Stellung ein; denn sie geben
einen besonders tiefen Einblick in die geistige Struktur des Patienten, und
ihre Beseitigung bringt häuflg die stagnierende Entwioklung wieder in
Fluss, Sie sind in den meisten FlLllen sekundärer Natur, beruhend auf
geistiger Inferiorität, sie können aber auch das primäre Element sein, wenn
omanische AbncrmitSten (Schwerhörigkeit, Lähmungen, adenoide Wucher-
ungen) oder funktionelle Mängel die Sprache unverständlich machen, den
Patienten von der Umgebung iBclieren und so die geistige Entwicklung re-
tardieren. Die einzelnen Erecbeinungsformen werden durcb Fälle aus der
Praxis des Terfasseis illustriert und an ihnen auch die Wege der Heilang
gezeigt. Dadurch wird das Schriftchen im hüchsten Grade anschaulich nnd
instruktJT. In der Auffassung einzelner Sprachstörungen, so vor allem hin-
sichtlich des Stotlems, bin ich abweichender Meinung. Die als neu and
originell angegebenen pädagogisch-therapeutischen Massnahmen sind zom
grössten Taue altes Gut, sie entstammen der Taubstummen-Pädagogik, und
es wäre wohl ein Hinweis auf sie angezeigt gewesen. Bezweifeln muss
Ich such, ob die Erfolge bei der verhältnismässig kurzen Zeit der klinischen
Behandlung und der Unmöglichkeit, die Kinder andauernd zu beobachten
nnd zu baein&ossen, Bestand haben,
Leipzig. Wilhelm Paul Schuua.n>-.
n,g,t,7l.dM,.COOglC
Erklärung.
Im 24. Jahrgänge der Vierteljahnäohrift (S. 869ff.) ist wne BeMwal
TOD P. Natdrf, SozialpUagogik, Stuttgert 1899, enthalten, gegen dis Fn-
feeeoi Nitorp in der eben erschienenen S. AoSnge dieses Buchet fß. Vllil '
allerlei Oegenbemerkongen er}ioben hkt. Uiese zwingen mich, als dm V»
fisser jener Bezensiou, zu einer Erwidenmg.
1. Zonäohat behauptet Natobf, er hÄbe .den Verglraoh der OwO-
Bohaft mit einem Organismos abgeletint", gleiofawobl sohiiebe ich ibm if;
selben za. Daran ist so viel richtig, dass iob sage, Natobf betnchte loit
PLiTo „den Staat und woU auch (ohne sie wesentlioh vom Stwte n
scheiden) die Greaellschaft ata einen Hensohen im Grossen, als eines reil(>
Utgauismos' (8. 369). Wenn er mioh dagegen auf 8. 89f. der erateDA°<'
läge seines Boches verweist, so kann er ntu folgenden Bati meinen: ,fli"-
naoh hat man auch nicht mehr zu besorgen, daas, wenn von einem Willn
ond einer Yemnnft der QemeinBcbsft die Bede ist, diese zu einem a^
sehen Wesen ausser den Individuen gemacht werde." Aber ist <Ihi
mystisahss Wesen =: Organismus? Ist die organische Einheit di« ^
aus den ZeUen sufbaut, etwas HTstisobes? Und 8. 133, auf die Vi-vm
ebenfalls verweist, heisst es: „So aber giebt es notwendig ein TrieUebet
der Oemeinsohaft, einen Willen der Oemeinsohaft und eine Verannft ^
Oemeinsobaft, nicht als ob die Oemeinschaft ein selbständiges Weeeo vbf-
was keinen klar anadenkbaren 8inn hat, sondern indem man eiri^
welche Qestalt das Tiiebleben der Einzelnen in der Oemeinsohaft, nnW
der Bedingnng des Lebens in ihr, gesetim&saiger Weise aonehmBi. '■'"
wie der Wille, wie die Temunft unter der gleichen Bedingung sidi l^
stalten moss." Hit solchen Allgemeinheiten ist der Ver^ei(£ der 0«mU-
Bchaft mit dem Organismus, der für Futd's Tugendlehre fuudamesUl^
dessen man sich nach Kakt .sehr schicklich bedient hat' (Critik der ^^
teilakraft ed. Kdichxann, S. S49), den man also auch bei Natobf ^""^''^
mnss, weil er in der Tngendlebre von Plato, sonst von Kajr an>g»>'-
keineswegs abgelehnt, sumal den angeführten folgende S&tze Natobf's ent-
gegenstehen: „Dadurch mit eine vielfach neue Beleuchtung -
auf die Thatsachen des sozialen Lebens, das unter diesem QeeiciilsDUiitu
(der Wechselboziehnngen zwischen Erziehung nnd Oemeinsohaft) au «'"
gioaser Organismus (Organismus von mir gesperrt) zur Menaohenbildimj
tich darstellt" (Vorwort S. V). Ferner 8. 69 „der ainielns Mensch i»
eigentlich nur eine Abstraktion, gleich dem Atom des Ph^ikeis.* ^^1*
der einselne Mensch eine Abetiaktion ist, so mnss doch die '^■"^"^^^
ein reales Wesen sein, — denn was bliebe sonst übrig — und da ihre Tw
nsammen wirken und von onandet abh&ngig sind, wie Naiobp oft t*^
«0 ist sie eben ein realer Organismus. Kndlioh haisst ee 6. 79—80 w*
_die allgemeinen Bitdongsgesetie der Oemeinsohaft naoh der grosHo ^'
n,g,t,7i.-JM,COO<^lL'
P. Barth, ErklftniiiK. 479
Bioht Puto'h notwendig luletzt identisoh Bind mit den BildnDgBgeaetzen des
IndividnnmB." Ist in dieser Bebanptnng die AnSassnug des Staates als
eines Ifenschen im Grossen, die Plato dnrohfShit, niobt notwendig in-
begriffeoT
Es ist also IteiiieBwegs aioe „Uagmndlit^ait", wie Naiorf sagt,
wenn ioli eine Ablehnung dar organiBchen Gesellsctiaftstheoria bei ihm
nicht finden konnte.
2. Femer hmsst es in meiner Bezeasion (8. 373): „Dieao Oleiab-
giltigkeit gegen die enipirisohe Wirklichkeit venst Natorf, indem er sagt:
„daae sie (die Menschheit] thata&ohlioh fortsohreiteu müsse, folgt aas onserea
Prinzipien nicht nnd wlirde sich auch emptrisofa keineswegs begrüaden
lassen" (8. 188). (Falls der letzte Teil des Satzes die Raalit&t des sitt-
lichen Fortschrittes verneinen soll, scheint er mir dmchans urrtämlioh.)"
Dazn bemerkt Natohp (S. XII): „Aber leider besohränkt sich Barth, der
mich hier wieder besonders tadelhaft findet (S. 373), auf die nackte Er-
klArang, dsss meine Behauptung .durohaos irrtnmlioh" und nor ein Beweis
meiner nOIeichgiltigkeit gegen die empirische Wirklichkeit" sei."
Znnäcbst wo finde ich Natobp .tsdelhaft"? „Gtleichgiltigkeit gegen
die empirische Wirklichkeit" ist doch kein Tadel, sondern Konstatierung einer
Thatsache einom Buche gegenüber, dos eine Deduktion aus der Idee sein
will nnd anch in der zweiten Auflage „die Äblehnong der Psychologie als
piimftrar Omndloge der Pädagogik" festhält — Dann aber ist mein Urteil
über seine Ansicht Tom sittlichen Fortschritte nicht eine „nackte Brklftrang"
sondeni dorchaas hypothetisch: „Falls dar zweite Teil , . ."
Es ist mir eben nicht klar geworden, was Natorf über den sitt-
lioben Portschritt dankt. Seiner Ansicht, wie ich sie Terstaod, habe ich
hier wie sonst die meine entgegengesetzt. Wenn Natorf diee Verfohren
Hbelehren" nennt (S. VIT), so frage ioh ihn, welahen Zweck ohne dasselbe
das Besensieren wohl hätte.
3. Endlich hält mir Natorf vor, dass in mainer Bazension gesagt
ist, er nenne in dem Absohnitte über Religion Scbleierhaciieh nicht, während
er ihn thats&chlioh dreimal erwähnt. Dsa ist richtig, loh hätte nioht schreiben
sollen: „den Natorf nioht nennt", sondern ,den Natoiip als Pädagogen
nioht nennt". ,ln Bazng auf Schulvarfassnng and Wahl der ErziehungS'
mittel finden sich bei Natorp viele Anklänge an Scm^iERUACHEB". Dies
sage ich in meiner Bozenmon nnd hatte mir notiert, dass ScBumiufACHER
als Pädagoge nicht genannt ist Bei der Niederschrift der Bezension ist
mir dann das Veraehen begegset, dass ich sagte, Natobp nenne Schleier-
UACHEs überhanpt nicht Natürlich wollte ich damit nicht, wie mir Natorf
(8. X) unterlegt, .rügen", wie ans meinen Worten wohl deutlich hervor-
geht: „Diese (die Religion) führt er, wie mir scheint, mehr noch an
Schlsurmacbeo, den Natorf allerdings nicht nennt, als an Kant, ao-
schliessend aaf das Gefühl inriick, das keine Grenze kenne, immer zum Un-
endlichen dränge (S. 328). Denn die Religion ist nach Natorf das Er-
leben des Uiibedingtan, Unendlichen (8. 337). Schon aus dieser Inhalts-
angabe dürfte bervoigehen, dass es — von einigen bowosaten oder un-
bewuBsten Anklängen an Scm-EüstucHER abgesehen — durchaus der Qeist
Darin ist nur aosgesprochen, dass ioh nicht weiss, ob die Anlehnung
an BCBI.BIBRMACHBR bewusst oder nnbewusst ist. Nstürlich habe ioh meinen
Iirtom, so gleiohgiltjg auch dar Fonkt ist, den er betrifft, sehr bedauert
und in meiner Antwort auf eine Hitteilung, in der mich Natobp nach dem
iM,Coo<^lc
480 P' Barth, Erblftrang.
Eisoheinen der BeienBion daraaf kufmerksam luaobte, mioh sofort berat
erkJftit im uttcbsteD Hefte, aUo in damselben Bande der VierteljahiMohrift,
der die Beienaioo enth<, eine berichtiKeiide Erkläroug za bringen. Da-
tSDf antwortete Nitosp woctlioh: „Verehrter Herr KoUwe, beetan Dut
für Ihre Zeilen. An der £rkl&nuig liegt nicbt Tiel; entsoheidea Sie iielbfit,
ob SB Ihnen der Leeer nnd Ihretwegen wichtig genug eraoheint* Im
weiteren giebt er zu, daea Schleiebh&cheb ala Fftdagoga in der
„Sozialpädagogik" nicht genannt ist, nur in Mheren Sobriften, die
er zitiere. Da icb aber doch nicht das OeringBta , gerügt* hatte, so sdüen
ee mir gleichgiltjg, ob die Erwähnnng ScBLEtsaRACBEa's in der Religion oder
in der I^agogik unterlassen war, nnd die Erkl&mng nnterhlieb. Hätte ich
geahnt, für wie wichtig Natobf einet diese Sache halten würde, so hätte
ich sie gebracht
Beeondeni auf 1. und 3. der hier erwähnten Ponlrte grändet NitOBP
jetzt (8. X) folgendes Urteil: „Die ganze Berichteistattang Bahtb's ist toq
einer nicht leicht zn überbietenden Ungrändliahkeif. Diese Beaohnl'
dignng weise ich ala durchaus unbegröodet zarück. Das [errara
hnmauum nehme ich aäah für mich in Anspruch, zumal in einer in jeder
Hinsicht unerheblichen Eünzelheit Von dieser abgesehen hat Natobt mir
in meinem Berichte, der drei eng gedruckte Seiten beträgt, kein Versehen
nachweisen können. Dagegen moss ich zu meinem Bedanem feststellen,
daas Natorp meine Bezension vielfach entstellt hat, („ragen", „tadelhaft
finden", gbelehren*} nnd in sie einen Ton hineingelesen hat, der darin
ebenso wenig zu finden ist, wie in meiner Bezension einer seiner froheren
Schriften (im Literarischen Zentralblatt 1895 No. 44, S. 1&80), dass er
ferner es angemessen gefunden hat, auf diesen Ton seine Erwlderaog zu
stimDien.
Leipzig, im Deierabet 1908. P. Babth.
n,g,t,7l.dM,GOOglC
n.
PhflosophisGhe ZeitBChrlftan.
AkUt fir PUloBoyU«, I. Abteihug (BeiUn, Etsimei).
Bi. 13, Heft 1 (N. F. Bd. 1», Heft 1).
C. H«bl*r, hWMUg. T. A. TimkrklB, Dabw dU AilMoUllMha DaanttiaB in
TtuBdlfl.
Bliär«, Zv Dtaawd««!* FlMwoha TNi 0?^<
K. Wllian, Di* Satas«rl«a im AifMoMlM
Kmi, (London, BdiDbnrgb, Oxfoid, WilliuiB and Norgata.)
New Seiies, No. 48.
Zettiekrift fir PUlMOflile und pUIoiorUuke Eiitlk (Laipag, HUob).
Bd. US, Hm 1.
W. T. Xiehloh, Du QrandKaMti if L«bm. (Sehlua).
V. Pleklsi, üntar wdahen phfloMphlMtaw TonuMtnucin fcit Hab Ml Btftl
diaWartMUtniudM8tutMutwlakdttBdwl*litdliMnb«irt«llMl (■oUwn).
H. Bslehal, DanUlng BDd Kritik TflB J. Bt. MUl'i TtaMri* i*t iadaktttM He-
K. Bokolowakr, Km n«B«r baclMkw 1
H. 8l*b«*k, RsÜsloB nnd EDtwIsktlaBff.
9. Fall, - ^^- ■ - =^-
ik, RalUaa nnd EDtwIsktlaBff.
iB, Puäuallimu odar WaBhaalwliknit
in. -- BalbatanialcaB. — HatlaaB. — Km
B«TMe FUloaoyUqMe (Parie, ALoan.)
BS. Annde, No. 8.
e. RasaDt, Itm toimaa almplaa da l'i
H. Fl*Ton, l/awBHWio* n«l»U.
IL llasilaB. Laa UteMti at l'trelntloB da bt mmUU (I. ■
Dr. mnah, Fhlaoa ' -
ABalnaa al
E%iloeophis<Ae Zeitsohriften.
Ho. ».
j>«, Pnsboloilg d'oa toiiTmin ii
_ _ l|t, LldM da anuiUU.
>r. WfjBftandti Frkncktn, P*]
I. Airtftt, ObMmtiDii ni nna n
F. B. HkOI«, LIdM da muiUU.
-n- ""'--iiidti Fr»iiefc«tt, PardiolotU da 1» aroraBM «n riUBWtalfU.
No. 10.
B. PkDlhkD, L> 8lnDl*tloii duu 1« ewMtire. — Qnelqn«! fonaaa parthnlltna da
■Im«lUion.
B. Soblot, L« flBBUU « Moloila.
"' ■ ~ ■ '■ * llDBtmoiftnd, L , .^
t«a ranilni' — BaTii* dta pirlodlqnaa. — Htarolofla.
Tt«. Bi«iii«r da Hontmoikiid, L'Aratommiil« d«« myMiqiiM ehrttiaBi.
iattymtm at omiiptaa Tandni- — BaTii* dta pirlodlqnaa. — Hl
LiTiM. NonTaliM '
;, Da Ift aanntlon i rintclUaaioa (1. mitielU.
. T . .^j ^ologj —
I, Lft pndeir: Mnda payebolöglqn*.
B. !•■ uubaTty, La omoaiit ioelaloglqB« da iimis.
F. Panlhkn, La ifmDlstlon dmna le BantUre. (Flu).
Anklywa at eonptei lendu. — Sara« daa pttiodlqnas «tiugan. — UTrea nomTMBx
Tke Fhlloaopklc«! BevUw (New-Tork aod London, The Hkomillan Comp.)
Toi. xn, No. s.
V. SMlltll, Ttl« IdM Of SpMO.
J. ElBK, Fncmatlnii u k PhUoaaphia aathod.
Ch. M. ^kkavall, Th* FUloMphj of EnwaM.
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